Raumschiff Monitor Geheimer Start 1. Start ins Abenteuer „Hier dürft ihr nicht baden“, sagte Herr Bertrand zu seinen Kin...
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Raumschiff Monitor Geheimer Start 1. Start ins Abenteuer „Hier dürft ihr nicht baden“, sagte Herr Bertrand zu seinen Kindern. Sein Zeigefinger glitt über die Landkarte: „Dieser Teil der Küste, ob Strand, ob Klippe, ist gesperrt!“ Henri machte ein langes Gesicht. Gérard konnte es ihm nicht gleichtun, da sein Kopf wie ein Fußball war. Prosper zog eine „Schluppe“, das heißt, er ließ die Mundwinkel hängen. Die zwölfjährige Tatjana, genannt Tati, maulte: „Schade, ausgerechnet da ist´s schön leer. Ich hätte dort so gerne meine Ballettübungen gemacht.“ Der kleine Micha hielt sich die Ohren zu und stampfte mit dem Fuß auf. „Quatsch, Quatsch, Quatsch!“ rief er. „Ich will als Indianer zelten und mag nicht sehen, wie Tati Ballett übt! Sie soll überhaupt nicht mit! Wir geben sie einem Zirkus und kaufen uns dafür ein großes Lagerfeuer!“ Tati nahm den vier Jahre jüngeren Bruder die Hände von den Ohren: „Mein Ballett ist kein Quatsch“, zürnte sie. „Außerdem: Kennst du einen Supermarkt, in dem man ein ´großes Lagerfeuer´ kaufen kann?“ Alle lachten. Auch Herr Bertrand schmunzelte. Er hatte Verständnis für seine Kinder. Obwohl „seine“ Kinder gar nicht seine Kinder waren. Bertrand und Frau leitetet an der Biskaya ein Ferienlager, in dem es von Jugendlichen aus aller Welt wimmelte. Henri, Gérard, Prosper, Tati und Micha hatten keine Unterkunft mehr gefunden, weil die Gendarmerie nur zehn Prozent Überbelegung duldete. Und die Gendarmerie machte keine Ausnahme - weder mit dem großen 13 Jahre alten Henri und seiner tanzenden Schwester Tati noch mit dem frechen kleinen Bruder Micha oder mit Henris gleichaltrigen Schulfreunden Gérard und Prosper. Die fünf waren übrigens nicht die einzigen, die abgewiesen worden waren. Doch gerade sie hatten die Bertrands in ihr Wohnhaus genommen: Micha und sein Zwergpudel Loulou taten ihnen leid. Nach wenigen Tagen sagte Frau Bertrand zu ihrem Mann: „Hör mal, Bertrand, der Größte, dieser Henri, ist sehr gewissenhaft.“ „Sehr!“ nickte Herr Bertrand. „Er sorgt für die anderen wie ein kleiner Vater oder ein kleiner Onkel!“ „Vielleicht noch wie ein kleiner Großonkel!“, lachte Herr Bertrand. „Ich will auf etwas anderes hinaus“, fuhr die Frau unbeirrt fort. „Henri fühlt sich nicht wohl in seiner Rolle. Er will mit den anderen nicht im Haus bleiben. Schließlich sind Ferien. Henri möchte mit ihnen am liebsten irgendwo am Strand zelten. Abseits von den anderen.“ „Verboten!“ erklärte Bertrand „Nicht im Hochmoor vom Bauern Dix!“ sagte die Frau. „Da kommt keiner hin, das ist abgezäunt; und in der Ruine gibt´s immer frisches Quellwasser.“ „Ich werde den Bauern Dix fragen, ob er die Bande im Hochmoor zelten läßt“, sagte Herr Bertrand. „Nicht nötig“, erwiderte die Frau. Er hat´s schon erlaubt. Ich habe ihn heute auf dem Fischmarkt in Marac getroffen.“ „So! Und daraufhin hast du den Kindern auch schon erlaubt...“, begann Herr Bertrand „Gewiß!“ nickte seine Frau. „Du warst ja den ganzen Tag im Ferienlager.“ „Gut“, seufzte der Mann. „Sollen die fünf ihr Vergnügen haben. Aber ich muß sie gründlich ermahnen...“ So kam es, daß Herr Bertrand noch am gleichen Abend mit den Kindern über ihr Vorhaben sprach. „Und wir dürfen weder an den Strand noch an die Klippen?“ fragte Tati.
„Bei den Heulenden Steinen, wie sie heißen, ist´s zu gefährlich“, erklärte Herr Bertrand. „Wer da runterfällt, wird von der Brandung zerschmettert. Und der Flachstrand ist für Badende wegen des Sogs gesperrt!“ „Sog?“ fragte Micha großäugig. „Ist das ein Tier, das Leute frißt?“ „Jetzt meinst du das Ungeheuer im schottischen Loch Ness“ , sagte Herr Bertrand. „Nein, nein. Sog ist die rückflutende Tiefenströmung. Sie zieht den Menschen in den Tod.“ „An einen Todesstrand gehen wir nicht“, sagte Henri stirnrunzelnd. „Ich kann mir was Schöneres vorstellen. Zelten wir im Hochmoor! Frau Bertrand sagt, da hat man von früh bis spät Sonne und kann sich dunkelbraun braten lassen Ihr habt einen riesigen Fußballplatz, könnt eure Modellflugzeuge ausprobieren oder wie die Prärieindianer leben. Gérard, du hast die Reisekasse! Morgen früh kaufen wir ein, was wir noch alles brauchen!“ Am folgenden Nachmittag fuhr Herr Bertrand die ganze Bande mit Sack und Pack ins Hochmoor. Die Ruine, vor der sich Micha ein wenig gefürchtet hatte, war kein gespenstisch-riesiger Bau, sondern der klägliche Rest einer Bruchsteinkapelle. Einst war sie dort wohl errichtet worden, weil an der Stelle ein kristallklares Quellchen entsprang. Das Wasser sickerte heute über eine Steinrinne, verlor sich dann aber im Gelände. „Hier ist ein guter Platz“, meinte Herr Bertrand. Er half beim Aufstellen des Dreierzeltes für Henri, Gérard und Prosper und des Zweierzeltes für Tati und den kleinen Micha. Wenn man den letzten beiden Loulou, den schwarzen Zwergpudel, hinzurechnete, war das Zweierzelt natürlich auch ein Dreierzelt. Doch Gérard, meinte grinsend: „Micha und Loulou sind sowieso nur halbe Portionen!“ Herr Bertrand fuhr ab, um sich den großen Ferienlager zu widmen. Vor Freude über die gewonnene Freiheit außer sich, tobten die fünf mit Loulou um die Zelte herum. Plötzlich ertönte eine schaurige Stimme „Wer stört mich hier? Wer stört mich hier?“ „I-i-in d-d-der Ru-ru-ruine ...“ stammelte Micha. Er warf sich mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Das letzte teilte er den Gräsern mit. „Da i-i-ist ein G-g-geist - ich hab's geahnt!“ Waff! machte Loulou. Waff, waff... Henri blickte unerschrocken hoch, Tati stemmte die Fäuste in die Seiten, Gérard und Prosper hatten Konservendosen in der Hand, um nach dem Geist zu schmeißen. Der Geist war ein spindeldürrer Junge mit flachsblondem Haar und einer riesigen Brille. Er sag auf dem Rand der breiten Mauer und äugte mißfällig auf die fünf und den Pudel herunter. „He!“ rief Henri. „Wo kommst du denn her?“ „Aus meiner Heimatstadt - genau wie ihr“, sagte der Spindeldürre. Er sprach jetzt mit normaler Stimme. „Was ich hier will? Zelten! Ich hab meinen Bau in der Ruine. Und meine Bibliothek!“ „Deine was...?“ fragte Tati. „Na, rate mal, was eine Bibliothek ist“, lachte der Junge. „Das weiß doch jeder Bücherwurm und jede Spinne!“ „Ach so“, meinte Gérard. „Du hast dich verkrochen, um in Ruhe Krimis zu lesen?“ „Ich lese was über Solarkonstante.“ „Was für ´ne Tante?“ krähte Micha. Der spindeldürre Junge beachtete den Kleinen nicht „Außerdem hab ich was über Druckschleusen, Koppelmechanismus, Antriebseinheiten - und ähnliche Kinderbücher“, fuhr er höhnisch fort. „Ein Verrückter!“ bemerkte Prosper. „,Nimm deine Brille ab!“ schrie Gérard. „Warum?“ „Ich will dir meinen Fußball an den Kopf schießen, damit du normal wirst!“ „Wir holen ihn runter und vermöbeln ihn“, entschied Henri. „Dann verjagen wir ihn mitsamt seiner komischen Bibliothek!“ „Bin auch dafür!“ rief Tati kriegerisch. Prosper ließ seine Muskeln spielen, und Gérard fauchte vor Eifer.
Waff! machte der Pudel Loulou. „Haut ihn!“ krähte Micha. „Haaalt“, sagte der spindeldürre Junge auf der Mauer, „Hört mich erst an. Kommt in die Ruine und seid meine Gäste. Ich mache euch etwas vor. Geht nur um die Ruine herum, da ist der Eingang! Ihr seid doch nicht etwa feige?“ Feige wollte selbst der kleine Micha nicht sein. Im Inneren des verfallenen kleinen Gebäudes sahen sie ein einfaches Zelt. Der Junge war von der Mauer heruntergekommen. Er begrüßte die fünf mit Handschlag, „Marcel, mein Name. Alter: vierzehn. Beruf: Schüler. Mein Hobby: Raumfahrttechnik.“ „Also, ich hab ja schon viele Irre gesehen“, empörte sich Tati. „Aber ein Junge, der in einer alten Ruine Raumfahrtforschung betreibt, ist mir noch nicht vorgekommen! Los, wir verhauen ihn gleich und jagen ihn davon!“ „Warte doch erst mal, was er zu bieten hat“, sagte Gérard neugierig. Der Spindeldürre holte einen Stoß Bücher aus seinem Zelt. „Diese Papierschwarten?“ rief Henri enttäuscht. „Das soll alles sein. „Das ist viel“, sagte Marcel. „Ich kann in 60 Sekunden 1290 Wörter lesen. Macht mir das einer nach?“' „In 60 Sekunden ...“ Tati überlegte. „Du hast ja einen Knall! Das kann kein Mensch!“ „Ich kann es“, lächelte Marcel. „Schlagt eins von den zehn Büchern auf. Gebt mir zwei Seiten zu lesen, und seht auf die Uhr, wie lange ich dazu brauche. Ich wiederhole den Inhalt!“ „Du kannst alles auswendig?“, vermutete Prosper. „Zehn Bücher auswendig!“ Marcel lächelte noch immer. Henri entschied: „Wir machen die Probe. Wenn er uns veralbert, kriegt er Kloppe!“ Er griff nach einem der Bücher. „Ich schlage es einfach irgendwo auf. So. Hier hast du's, Marcel! Nun zeig uns deine Kunst! Gérard, wo ist die Stoppuhr?“ „Schon in meiner Hand“, grinste der Freund. „Und ich drücke zu, darauf könnt ihr euch verlassen!“ „Zwei Seiten sind gerade 1290 Wörter, das weiß ich natürlich“, erklärte Marcel. „Was sie enthalten, weiß ich jetzt noch nicht!“ „Los!“ befahl Gérard. Er blickte mit Stielaugen auf die Stoppuhr, während der dürre Junge wie rasend las. Er bewegte die Lippen nicht, doch seine Augen flitzten von links nach rechts, von rechts nach links, von links nach rechts ... „Noch zehn Sekunden“, mahnte Gérard, „noch fünf Sekunden - Schluß“' Henri riß dem Schnelleser rasch das Buch aus der Hand und blickte hinein. „Nun, was steht auf den Seiten, Marcel?“ Marcels Worte knatterten wie Geschosse aus einer Maschinenpistole. „Die Masse des Mondes ist 81mal geringer als die der Erde. Die Entfernung beträgt zwischen 363 300 Kilometer und 405 500 Kilometer. Im Jahr 1840 machte ein Amerikaner das erste Mondfoto, seitdem ließ Gedanke die Forscher nicht los, Raumschiffe zu bauen, um auf dem Mond zu landen. Seine Oberflächentemperatur auf der Tagseite mißt 58 bis 101 Grad.“ „Halt!“ schrie Tati. „Mensch - hast selber ´ne Oberflächentemperatur von 101 Grad! Wie soll man die Zahlen behalten? Hör auf, hör auf, du hast gewonnen!“ „Kannst du auch aus anderen Büchern Texte mit Zahlen so schnell wiederholen?“ staunte Henri. „Kinderleicht!“ entgegnete der dürre Junge. „Das kommt vom sogenannten dynamischen Lesen!“ „Wovon...?“ Gérards rundes Gesicht schien sich jetzt nun doch in die Länge zu ziehen. „Dy-dydynamisches Lesen? Blödsinn“ Man liest laut oder leise, man liest anderen was vor ...“ „Und man liest neuerdings auch dynamisch“, zwinkerte der spindeldürre Marcel. „Das ist keine Zauberei, sondern Methode - eine besondere Art zu lesen. Aber ich will euch nicht langweilen. Also - habe ich nun bei euch Familienanschluß?“ „Klar, du dynamische Tüte!“ rief Henri. „Ich bin der Papa. Das ist meine Schwester Tati, Ballettprinzessin. Der Grashüpfer heißt Micha - unser Bruderherz! Und Gérard und Prosper sind Schulfreunde, einer immer dümmer als der andere!“
„Schmeichelhaft für die beiden“, grinste Marcel. „Und das vierbeinige Wesen ist ein Zwergpudel, wenn ich nicht irre?“ „Er ist einer, obwohl er es selber nicht weiß“, lachte Henri. „Marcel, du darfst jederzeit an unserem Lagerfeuer sitzen! Tati wird für dich mitkochen!“ „Ich bin auch ein Küchenmeister“, behauptete der dürre Junge. „Aus Chlorophyll und Meersalz mache ich euch Pfannkuchen, die sich gewaschen haben!“ „Pfannkuchen?“ rief Micha begeistert. „Die esse ich gern“ Tati, bau den Kocher auf! Marcel macht Pfannkuchen mit Chloroformfüllung und Meersalz!“ „Erst lade ich euch zu einer tüchtigen Portion Kakao ein“, sagte Marcel. „Holt eure Becher.“ 2. Superhirn Henri, Tati, Gérard, Prosper und sogar Micha fanden ihren neuen Freund sehr lustig. Auch Loulou der Pudel, schien sich rasch in ihn gewöhnt. Marcel schien überhaupt alles zu können - oder doch wenigstens zu wissen „Der Kerl ist ein Superhirn“, sagte Gérard zu Henri. Henri grinste. „Gut, nennen wir ihn so! Nennen wir Marcel von jetzt ab Superhirn!“ „Soll mir recht sein“, lächelte Marcel. „Ich nehme das gern als Titel an. „Schnell noch ein paar Testfragen“, rief Gérard. „Was ist eine Rakete? Ich zähle bis drei und dann mußt du die Erklärung...“ Lachend unterbrach Marcel: „Das Wort kommt vom italienischen ´rocchetta´ und bedeutet soviel wie Spindel. Wir verstehen darunter einen Flugkörper mit Rückstoßantrieb, der von der Umgebung unabhängig ist und deshalb auch im luftleeren Raum benutzt werden kann“ „Hör auf!“ sagte Prosper fassungslos. „Mir scheint, du hast eine Wunderbrille auf!“ Alle lachten. „Das wäre zu schön, um wahr zu sein“, sagte Marcel. „Und das hast du alles vom dünnasigen Lesen?“ fragte Micha. „Vom dynamischen Lesen“, verbesserte Marcel höflich. „Ich sagte schon, 'ne besondere Methode, schnell zu lesen und doch alles Wichtigste zu behalten. In der Wissenschaft gibt´s von Tag zu Tag so viel Neues, daß die Professoren kaum hinterherkommen. Da bleibt ihnen gar nichts weiter übrig, als zu lernen, in kürzester Zeit einen Haufen von Heften, Broschüren und Büchern durchzustudieren. Wohlgemerkt: Nicht einfach durchblättern!“ „Ich wollte, beim Ballettanzen könnte man auch was erfinden, um schneller voranzukommen“, seufzte Tatjana. „Also, Marcel heißt jetzt ´Superhirn´. Hat jemand Einwände?“ „Ich!“ rief Micha. „Er soll den Namen erst kriegen, wenn er Pfannkuchen gebacken hat!“ „Ich Weiß was Besseres!“ sagte Superhirn. „Ich hab mir auf der Bruchsteinmauer einen Backofen gebaut, und da ihr nun schon mal bei mir Kakao getrunken habt, könnt ihr auch zum Abendessen bleiben. Es gibt Fisch!“ „Fisch esse ich nicht!“ maulte Micha. „Meinen schon“, beruhigte ihn Superhirn. „Das heißt, es sind mehrere. Ich hab sie mir heute mit dem Fahrrad frisch vom Fischer geholt. Und die nötigen Zutaten... „ Staunend beobachteten die fünf, wie ihr neuer Freund das Essen bereitete. Geschickt nahm er die Fische aus, wusch sie im Quell und beträufelte sie mit Zitronensaft. Dann rieb er sie mit Salz und Pfeffer ein. „Was ist das?“ fragte Tati, als er aus einer Mauernische eine Dose mit Drehverschluß hervorholte. „Kräuterbutter“, sagte Superhirn. „Kräuterbutter?“ schrie Micha begeistert. „Ich weiß: Da hast du das Kräutlein Wahrheit drin!“ „Kräutlein Wahrheit?“ Prosper machte große Augen. Henri grinste: „Ach, so ´n Aberglaube. In Märchen steht, wer das Kräutlein Wahrheit gegessen hat, muß unbedingt immer die Wahrheit sagen, auch wenn er's nicht will. Nimm mal an, ich denke, Tati ist eine dumme Ziege, und sie wird niemals richtig Ballett tanzen können. Nun trau ich's mich aus Höflichkeit nicht zu sagen. Im Gegenteil, ich tu ganz falsch und schmeichle ihr dauernd...“
„Du!“ warnte Tati. „Du kriegst gleich ein paar geklebt!“ „Ist ja nur ein Beispiel“, erwiderte Henri. „Also, weiter: Ich schmeichle ihr dauernd und versichere ihr: Tati, du aber fabelhaft tanzen; ich tue also, als sei ich restlos hingerissen, und Tati freut sich wie eine angetüterte Bachstelze.“ „Und?“ fragte Prosper. „Hab ich aber das Kräutlein Wahrheit gegessen, gelingt mir´s nicht mehr, aus Höflichkeit zu schwindeln“, erklärte Henri. „Ich muß meine Gedanken aussprechen, ob ich will oder nicht! Statt: Tati, du kannst fabelhaft tanzen, sag ich gegen meinen Willen auf einmal: Tati, du hopst wie eine einbeinige Krähe!“ „Du Satansbraten!“ rief Tati . „Du tust wahrhaftig so, als hättest du das Kräutlein Wahrheit schon gegessen!“ Gérard und Prosper grinsten. Doch Micha fragte: „Superhirn, hast du nicht doch das Kräutlein Wahrheit in der Butter drin?“ „Wer weiß?“ schmunzelte der Junge mit der Brille. „Gibt´s das nun - oder gibt´s das nicht?“ bohrte der kleine Micha weiter. „Wirst ja sehen!“ sagte Superhirn. Mit einem tüchtigen Holzfeuer wärmte er seinen „Backofen“ in der Mauer an. Dann wickelte er die Fische in Alu-Folien, die er sich ebenfalls aus Marac mitgebracht hatte, und schob sie in das heiße Loch. Nach zwanzig Minuten holte er die verpackten Fischbraten mit einer Holzzange wieder heraus. Inzwischen hatten die anderen Luftmatrazen, Campinggeschirr und eine Flasche Traubensaft herbeigeschafft. „Superhirn bewirtet seine ihm superlieb gewordenen Freunde mit einer Supermahlzeit“, sagte der dünne Junge feierlich. Er sprach wie ein Indianerhäuptling. „Mög´s euch allen wohlbekommen!“ „Tatsächlich“, lobte das Mädchen. „Superhirn ist ein großartiger Koch! Sag mal, hast du etwa auch Kochbücher - hm - dynamisch gelesen?“ Superhirn lachte. „Na, das gerade nicht. Beschäftige mich am liebsten mit Physik - am allerliebsten mit Raumfahrttechnik. Das wird ´ne angehende Tänzerin wenig interessieren!“ Der kleine Micha hatte den Fisch zunächst etwas kalt werden lassen und ihn dann sorgfältig abgeschleckt. „Damit mir kein bißchen von der zerlassenen Kräuterbutter entgeht“, erklärte er eifrig. Er ließ sich von Tati den Fisch zerteilen. Und vor lauter Neugier, zu erproben, ob in der Butter nicht doch das Kräutlein Wahrheit sei, aß er sogar den Fisch mit Appetit. „Den widerlichen kleinen Micha, diesen miesen Zwerg, den hätten wir doch lieber zu Hause lassen sollen“, meinte Gérard plötzlich. „Was wollen wir den mit dieser idiotischen Maus? Stört uns doch nur! Gehört in den Kindergarten, der ekelhafte Wicht. Aber da nehmen sie nur nette Zwerge! Leider!“ Micha starrte Gérard an. „Ich - ich - bin ...“, schluckte er, „ein - ein - mieser Zwerg?“ „Klar“, sagte Henri, „du bist wie Tatis scheußliche Puppe, von der sie sich genauso trennen kann wie von dem vermotteten Pudel Loulou.“ „Mein Pudel ist vermottet? „ rief Tati. „Und Micha soll ´ne idiotische Maus sein? Euch Knallköpfen haben wohl die Bratfische in die Zungen gebissen...“ „Dir hätte dein Fisch in die Zunge beißen sollen“, ließ sich Prosper hören. „Du redest zuviel, TatiUnd deine Stimme klingt wie eine Sirene!“ „Ich habe Gesangsunterricht!“ verwahrte sich Tati. „Ja, bei der Funkstreife“, grinste Gérard. „Wenn Tati singt, lassen sogar die Geldschrankknacker ihr Werkzeug fallen!“ „Superhirn!“ rief Micha kläglich. „Es war doch das Kräutlein Wahrheit in der Butter! Hör doch mal, was sie alles sagen!“ Superhirn schmunzelte ungerührt. Auf einmal war es ganz still. Erst nach einer ganzen Weile wiederholte der kleine Micha, was er vorhin gesagt hatte: „Es war doch das Kräutlein Wahrheit in der Butter!“ „Hi, hi, hi...“, begann Henri. Doch sein Gelächter brach ab. Bestürzt blickte er in die Runde: „Gérard hat mit dem Quatsch angefangen! Ich - ich dachte, er macht wirklich nur einfach Unsinn!“
„Und ich - ich dachte, ihr beide macht Unsinn“, sagte Prosper. „Da hab ich eben mitgemacht!“ „Ja. So ging´s weiter“, meinte Henri. Er blickte immer noch bestürzt. „Wir wollten so tun, als hätten wir das Kräutlein Wahrheit geschluckt!“ „Und habt doch ein ganz, ganz klein bißchen die Wahrheit gesagt“, grinste Superhirn. Ihr habt euch vorgestellt: Wie könnte das sein, wenn wir dieses Kräutlein wirklich gegessen hätten? Und dann habt ihr euch in den Gedanken verbissen, wie ´ne Katze in die Maus. Schon mal was von der Autosuggestion, also Selbstbeeinflussung, gehört? Na, egal. Und ihr wart so echt in eurem Eifer, daß Micha und Tati ganz erschrocken gewesen sind.“ „Was? Autodingsbums war in der Butter?“ fragte Micha. „Ist das ´n anderes Wort für das Kraut? Oder was ist das sonst?“ „Für euch jedenfalls ein Geheimnis!“ lächelte Superhirn. Inzwischen war es dunkel geworden. „Es ist schon reichlich spät“, sagte Tati energisch. „nehmt eure Luftmatratzen - und dann hopp, hopp, in die Zelte! Superhirn, du besuchst uns morgen zum Frühstück, ja? Aber wenn du mir den armen Micha noch mal so foppst, tanze ich auf deinen Nerven Ballett!“ „Träumt schön“, lachte der spindeldürre Junge. „Wenn ihr in euren Zelten liegt, verwandle ich mich in eine Fledermaus und fliege um euer Lager herum!“ Henri, Gérard und Prosper grinsten. Micha aber sagte: „Du, Tati - dem Superhirn traue ich alles zu! Ich werde heute nacht den Pudel ganz dicht an mich drücken!“ Am nächsten Morgen argwöhnte Prosper, Superhirn habe sich aus dem Staub gemacht. „Der hat uns ein bißchen hochgenommen, und nun ist er weg“, meinte auch Gérard. Micha hielt Ausschau nach Fledermäusen. Henri lachte. „Glaubst du wirklich, er könnte sich in so ein Biest verwandelt haben?“ Er runzelte die Stirn. „Aber Loulou macht so einen komischen Eindruck. Er ist so dünn geworden, findet ihr nicht. He - und er hat ´ne große Brille auf...!“ „Wo?“ Gérard fuhr herum, als hätte ihn jemand gepiekt. Micha klammerte sich an Tati. Henri bog sich vor Lachen. „Kinder! Superhirn hat euch wahrhaftig um den Verstand gebracht. Man macht einen Witz - und gleich meint ihr ernsthaft, er könnte über Nacht in unseren Pudel gefahren sein. Hahaha - wie so ´n Geist!“ „Ich würde mal in der Ruine nachsehen, ob Superhirn noch da ist“, schlug Tati vor. „Wir sind hier, um Ferien zu machen, und nicht, um uns dauernd gegenseitig zu veralbern!“ „Na schön. Ihr versteht eben keinen Spaß...“ brummte Henri. „Ich geh jetzt in die Ruine und hole Superhirn. Wir hatten ihn ja zum Frühstück eingeladen!“ Er ging um die Mauer herum. „He, Superhirn!“ rief er. „Aufstehen! Waschen! Frühstücken! Es gibt Kalorien!“ Das Wort hatte er in der Schule gelernt, und er war stolz darauf, Superhirn damit zu imponieren. Plötzlich stand ein hageres Männchen mit schäbigen Hut, grüner Brille und ausgefranstem Backenbart neben ihm. „Wenn du jemanden suchst, Junge“, krächzte der Mann, „hier ist niemand! Die Ruine ist leer!“ „Wie bitte? Guten Morgen!“ erwiderte Henri verwirrt. Dann sagte er: „Natürlich ist die Ruine leer, das heißt, es wohnt keiner ständig drin. Nur ein Freund von uns, vorübergehend, wissen Sie? Er zeltet hier und übt - äh - dynamisches Lesen!“ Henri achtete nicht weiter auf den Fremden. Er spähte in das Innere des Gemäuers. Es war leer. „Hab ich dir nicht gesagt, hier wohn niemand“, krächzte die Stimme neben ihm. „Aber...“ Henri tappte in die Ruine hinein. „Da ist der Backofen! Gestern hatten wir Fische darin. Und hier, hier haben wir gegessen. Und dort, in der Nische, war sein Zelt!“ „Wessen Zelt?“ fragte das Männchen lauernd „Superhirns Zelt - wessen Zelt denn sonst?“ rief Henri. „Marcel heißt der Junge! Er wollte mit uns frühstücken! Wir hatten ihn eingeladen!“ „Vielleicht hat er sich aufgelöst?“ überlegte der Fremde.
„Quatsch!“ polterte Henri aufgebracht. „Ausgerissen ist er! Wir waren ihm zu langweilig. Das ist es. Wie kann sich einer einfach so auflösen? - Wer sind Sie denn überhaupt?“ „Ich bin der Hochmoor-Schäfer“ hüstelte der Mann. „Ich passe auf fünfhundert Schafe auf.“ „So?“ Henri spähte weiter umher, ohne sich um das Männchen zu kümmern. Doch er entdeckte keine Spur von Superhirn. „Wo sind denn Ihre Schafe?“ fragte er zerstreut. „Eins steht neben mir. Das ist das Leitschaf“, krächzte der Alte. „Vier und ein ganz kleines sind jenseits der Mauer, und die anderen ziehen über das Meer.“ Henri drehte sich flüchtig um. Durch den Eingang der ehemaligen Kapelle sah er ein weites Stück Landschaft, doch nicht ein einziges Schaf. „Soso“, murmelte er verwundert. Der Mann war anscheinend verrückt! Sogar das Leitschaf konnte Henri nirgends entdecken, und die „vier und ein ganz kleines jenseits der Mauer“ waren sicher auch nicht vorhanden. Wo zum Teufel war Superhirn? „He!“ rief Henri. „Hast du dich in einer Ritze verkrochen?“ „Er hat sich vielleicht verflüchtigt“, meinte der Mann. „Im Morgengrauen sah ich ´ne Rauchwolke in Menschengestalt übers Moor fliegen, ´ne ziemlich dünne Rauchwolke. Und, meiner Treu, es war, als hätte sie ´ne Brille auf!“ „Wer?“ fragte Henri. „Die Rauchwolke“, kicherte der Alte. „Sicher war das der Junge, den du suchst. Wenn ich recht überlege, flog der Schatten gar nicht - er fuhr!“ „Er fuhr?“ rief Henri, immer noch umherspähend. „Ja. Auf einem Schattenfahrrad. Oder - ob´s Rauch gewesen ist? Ich weiß nicht.“ „Schönen Dank!“ sagte Henri ärgerlich. „Ich denke mir, Ihre Schafe warten auf Sie. Sie sollten sich nicht so lange aufhalten!“ „Die Schafe machen Ferien und gehen nicht vom Hochmoor runter“, erwiderte der Alte grinsend. Er schneuzte sich in ein riesiges Taschentuch. Dann deutete er auf einen Mauerteil. „Da ist ja dein Freund!“ Henri war baff. An der Mauer - in Lebensgröße - prangten die schwarzen Umrisse einer Menschengestalt, spindeldürr die Figur, der Kopf lang und schmal, die Gesichtsfläche von einer enormen Brille fast verdeckt. „Ja, das ist alles, was an solch einem Ort übrigbleibt“, hüstelte der Mann. „Ich meine, von einem, der hier gezeltet hat.“ Als sich Henri umwandte, war der Mann weg. Ächzend sank Henri zu Boden. Wie soll ich das nur den anderen erklären? dachte er. Die halten mich doch für wahnsinnig. Ich muß den Schäfer erwischen. Aus der Ruine rennend, schrie er: „He, Schäfer! Schäfer! Wo sind Sie? - Verflixt, ich sehe nicht mal ein Schaf!“ „Aber wir sehen eins!“ ertönte die kreischende Stimme von Tati. Und Henri sah, wie sich alle vor Lachen im Moor wälzten. Und nicht nur seine Schwester! Auch Gérard, Prosper, Micha und sogar der Pudel Loulou. Ohne zu wissen, worum es ging, nahm er an dem Spaß teil. „Du bist das Schaf!“ schrie Tati. „Nun seid doch mal vernünftig!“ schimpfte Henri erbost los. „Was soll denn das? Hört mich gefälligst an. Ich wollte Superhirn zum Frühstück holen, aber die Ruine ist leer! Seine Sachen sind weg, sogar das Zelt und das Fahrrad! Statt dessen sah ich ´ne unheimliche Zeichnung an der Mauer, eine Zeichnung mit Brille! Ein alter Mann sagte, mein Freund hätte sich verflüchtigt - so erginge es jedem in der Ruine. Jetzt such ich diesen Mann. Er hat behauptet, er sei Schäfer!“ „Wenn du ihn sprechen willst - da sitzt er“, quietschte Tati und deutete zwischen die Zelte. „Wir hatte ihn doch zum Frühstück eingeladen. Er ist gerade dabei, Eier in die Pfanne zu schlagen.“ Während sich die anderen wieder vor Lachen wälzten, rannte Henri zur Kochstelle. Und dort fand er - Superhirn. „Guten Morgen, Henri“, grüßte der Junge mit der Brille freundlich. „Möchtest du zwei oder drei Eier? Ich esse nur eins!“
„Wo kommst du her?“ erkundigte sich Henri. „Ich?“ fragte Superhirn scheinheilig zurück. Aus der Ruine! Ich habe wunderbar in meinem Zelt geschlafen, war schon viel früher auf als ihr und habe mein Rad geputzt!“ „Ich habe weder ein Zelt noch ein Fahrrad gesehen“, erwiderte Henri wütend. Dagegen habe ich dein Ebenbild an der Mauer bewundern dürfen. Wirklich, es war zum Verwechseln ähnlich! Eine dürre Jammergestalt mit einem Birnenkopf und einer Idiotenbrille. Du hast Unfug gemacht! War der alte Mann dein Onkel?“ „Mensch, Henri!“ brüllte Gérard. „Ahnst du noch immer nichts? Der alte Schäfer war er selber. Er, Superhirn! Und es war Tatis Idee. Sie hat´s mit ihm noch in der Nacht ausgeheckt, um dir einen Streich zu spielen!“ „Henri ist der Reingefallene!“ jubelte Tati. Henri starrte Superhirn an, der in seinem Trainingsanzug an der Kochstelle saß. „Wo ist denn dein Zelt?“ fragte er verblüfft? „Dein Rad - all dein Zeug?“ „Hinter der nördlichen Kapellenmauer“, grinste Superhirn. „Brauchst bloß andersherum zu gehen.“ „Ja, aber...“, Henri überlegte, „... hm. Die Zeichnung hast du mit einem Stück verkohltem Holz gemacht! Aber die Sache mit dem alten Mann...?“ „Der Alte war ich selbst“, lachte Superhirn. „Bart, Hut und grüne Brille gehören zu meinen Scherzartikeln, weißt du. Ich laufe gern mal verkleidet rum. Den alten Mantel gebrauch ich als zusätzliche Decke. Na, und alles andere...“ Henri setzte sich hin. „Alles andere!“ Nun mußte er auch lachen. „Alles andere, das sagst du so einfach! Junge, wie du deine Stimme verstellt hast! Ha, und dein Hüsteln und Krächzen! Mensch, du bist ein Tausendsassa!“ „Nein“, erwiderte Superhirn ernst. Du bist nur ein schlechter Beobachter! Ich hab zum Beispiel zwei schöne, lückenlose weiße Zahnreihen, die so ein alter Stromer gewöhnlich nicht hat - und die konnte selbst der Bart nicht verdecken. Außerdem hatte ich meine Trainingshose unter dem Mantel und meine Sportschuhe an. Und dann mußt du Tomaten auf den Ohren gehabt haben, daß dir die verstellte Stimme nicht aufgefallen ist!“ „Mag sein, wie´s will“, murrte Henri. „Ich hab Hunger, und wenn auch die Pfanne nicht groß genug ist, ich schätze, ich hab auf den Schreck drei Eier verdient!“ Beim Frühstück unterhielten sich die Gefährten lebhaft über Superhirns Streich. „Ich bin kein schlechter Beobachter“, verwahrte sich Henri. „Ich war nur verblüfft über die leere Ruine und die unheimliche Zeichnung.“ „Superhirn nickte. „Siehst du! Deshalb hast du ganz blöd reagiert! Das darf in unserer technischen Welt nicht passieren. Nimm an, du lenkst ein Flugzeug, und dein Kopilot verwandelt sich in einen Schimpansen. Wenn du darüber deine Reaktionsfähigkeit verlierst, schrammt die Maschine ab!“ Henri feixte: „Kluger Lehrer, was?“ Die anderen lachten mit. Und somit war der Streich ausgestanden. Nach dem Frühstück berieten sie, wer nach Marac fahren sollte, um Brot, Gurken und Zahnpasta zu besorgen. „Superhirn bleibt besser hier“, meinte Henri. „Der käme am Ende als siamesischer Zwilling wieder. Aber er könnte Gérard das Rad pumpen!“ „Womit du sagen willst, daß ich zu doof bin, mir einen Streich auszudenken?“ fragte Gérard. „Na, warte mal!“ Gérard fuhr also nach Marac. Micha hatte gewettet, Gérard würde Superhirn nacheifern oder ihn übertrumpfen wollen: „Bestimmt kommt er als alte Frau zurück!“ schwor der Kleine. Doch Gérard kam als Gérard zurück. Schon von weitem erkannt man über der Lenkstange seinen kugelrunden Kopf. Michas Enttäuschung wich, als er hörte, daß Frau Bertrand dem radelnden Einkäufer außer dem Gemüse sechs Koteletts mitgegeben hatte, und zwar kostenlos. Und für Loulou brachte er eine Tüte voller Hundefutter. Inzwischen war Superhirn mit seinen Sachen wieder in die Ruine gezogen. „Ich stellte der Hausfrau meinen Backofen zur Verfügung“, verkündete er feierlich.
„Danke!“ Tati machte einen graziösen Tanzschritt. „Aber ich bitte mir aus, daß mir keiner der Herren in die Töpfe guckt. Ich will euch mit einem Salat überraschen. Ihr könnt unterdessen Feuerholz suchen!“ „Tati mit ihrem Ballett-Salat“, maulte Micha, der an die Bonbons dachte. „Na, komm, Loulou suchen wir Holz!“ Auf dem Hochmoor gab es nur vereinzelte Bäume, die der Seewind krumm und schief geweht hatte. Zum Feuern mußte man sich mit den zähen Zweigen der vielen, sich dicht über den Boden windenden, fast blattlosen Büsche begnügen. Bald hatte Superhirn das meiste Holz gesammelt. „He, wie machst du das?“ rief Prosper. „So, ohne Beil und Säge...?“ „Ich sehe mir jeden Zweig genau an, bevor ich ihn abbreche“, lachte Superhirn. „Das spart eine Menge Zerren und Drehen, und ich komm noch dazu ohne Hautabschürfung davon!“ Das war das letzte, was Henri hörte. Er hatte noch auf die Armbanduhr geblickt: 1 Uhr mittags, also 13 Uhr! Sein Magen knurrte sehr, und sie hatten ihr Feuerholz noch nicht bei Tati abgeliefert. Er ging auf den nächsten Krüppelbusch zu, kam aber nicht an. Er merkte nicht einmal mehr, daß er vornüberfiel - geschweige denn, daß die anderen ebenfalls lautlos zu Boden sanken. Sogar der Hund Loulou lag bewußtlos auf der Seite... 3. Unheimliches Hochmoor Henri setzt sich auf und rieb sich die Augen. Wo bin ich denn nur? dachte er. Erstaunt blickte er um sich: Überall Moos - vereinzelte, schiefe Bäume - hier und da krüppelförmige, fast blattlose Büsche. Der Himmel über ihm war sehr blau, die stand noch fast senkrecht über ihm... Also war´s kurz nach Mittag. Dann fiel sein Blick auf die abgebrochenen Zweige zu seinen Füßen. Im gleichen Moment ertönte von der Ruine her lautes Rufen: „Henri! Gérard! Prosper! Wo bleibt ihr den mit dem Holz? Ich will die Koteletts braten!“ Der Junge erkannte seine Schwester Tati. Und nun mußte er lachen. „Wahrhaftig“, murmelte er vor sich hin, „ich bin eingeschlafen! Mitten beim Holzsuchen!“ Während er die Zweige aufsammelte, bemühte er sich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Allmählich fiel ihm alles wieder ein. Kopfschüttelnd stapfte er zur Ruine. Ich bin ein Idiot! dachte er. Schlafe am hellichten Tag und vergesse, wo bin ich... „Entschuldige, Tati, daß ich als letzter komme“, sagte er. „Aber ich hab wohl heute nacht nicht gut geschlafen, die Müdigkeit muß mich umgehauen haben. Sind die anderen schon wütend?“ „Wütend?“ Das Mädchen starrte ihn aus großen Augen an. „Wie soll ich das wissen! Sie sind nicht da! Du bist der erste!“ Beide schwiegen. Dann räusperte sich Henri: „Willst du damit sagen...“, er räusperte sich wieder, „willst du damit sagen, daß dir noch keiner Holz gebracht hat?“ Tati blickte sich verwirrt in der Ruine um. „Ich glaube nicht, nein, niemand hat was gebracht!“ Tati strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie biß sich auf die Lippen, als müsse sie eingehend nachdenken. Henri blickte auf das Brett, das Superhirn als Ersatz für einen Küchentisch über zwei Steine gelegt hatte. „Wolltest du nicht Salat machen?“ fragte er. Die Schwester folgte seinem Blick. Die grüne Gurke war säuberlich geschält und zur Hälfte in dünne Scheiben geschnitten. Die Scheiben lagen schon im Gefäß. Die besten Tomaten hatte Tati ausgelesen, die grüngelben und mißförmigen dagegen bildeten einen Haufen auf einem Mauervorsprung. Gewürzbeutel, Zitronen, Essig- und Ölfläschchen lagen und standen bereit. Aber eine Folie, offenbar mit Fleisch gefüllt, war noch nicht geöffnet. Wieder starrten sich die Geschwister an. „Du blutest ja am linken Arm!“ stellte Henri fest. „Nein“, sagte Tati, „wieso ... ?“ Sie betrachtete den Arm und blickte erstaunt auf: „Tatsächlich! Ich muß mich geschnitten haben! Aber wo ist das Messer?“ „Es liegt vor deinem komischen Küchentisch“, sagte Henri.
Als Tati es aufhob, bemerkte Henri: „Du hast auf einer Tomate gesessen!“ „Iiih!“ Die Schwester nahm einen Lappen, und Henri half ihr, die Reste von der Bluse zu entfernen. „Unmöglich kann ich auf der Tomate gesessen haben“, betonte Tati. „So hoch oben hab ich mein Sitzfleisch nämlich nicht!“ „Noch höher, nämlich am Hinterkopf, hast du Sand!“ sagte Henri. Bist du hingefallen?“ Tati fuhr herum: „Mensch, ja, ich fühl mich so! Mir schmerzen die Glieder, und es ist mir, als hätt ich ein paar blaue Flecken unter dem Stoff! „Wie lange kannst du gelegen haben?“ fragte Henri rasch. „Das weiß ich nicht“, sagte Tati. „Mir ist nur in Erinnerung, daß ich plötzlich nicht mehr wußte, wo ich war. Hm. ich bin vom Boden aufgestanden - ja. Dann hab ich mich umgesehen und mich daran erinnert, daß ich Essen machen wollte. Dann seid ihr mir wieder eingefallen, und als ich begriff, daß ich euch zum Holzholen geschickt hatte, bin ich aus der Ruine gelaufen und habe gerufen!“ „Ja - und gerade zu diesem Zeitpunkt war ich auch wieder einigermaßen klar“, überlegte Henri. Seine Stimme klang heiser. „Tati, bist du dir klar darüber, daß hier irgendwas vorgegangen sein muß? Was Unerklärliches?“ „Wenn du mich das nicht fragen würdest, würde ich glauben, ich träumte im Stehen“, hauchte die Schwester. „Wo sind denn - wo sind denn die anderen?“ Plötzlich wurde sie sehr aufgeregt: „Micha!“ rief sie. „Micha! Ach, Henri, wenn bloß der Kleine hier wäre!“ „Komm“ befahl Henri. Sie liefen hinaus ins Moor. „Micha! Gérard! Prosper! Superhirn!“ gellten ihre Schreie durch die Mittagsstille. „Noch nicht mal der Pudel meldet sich“, keuchte Tati. „Es sieht ihm gar nicht ähnlich, so lange wegzubleiben, wenn ich Essen mache! Meist kommt er betteln!“ Plötzlich stolperte Henri über ein Bündel Holz. „Hallo, Tati!“ rief er. „Hier ist einer! Gérard! Er schläft wie ein Murmeltier!“ „Und hier liegt Prosper!“ meldete die Schwester. „Er reibt sich gerade die Augen und blinzelt!“ „Was ist denn los?“ Eine dürre Gestalt mit einem zusammengerafften Haufen krüppliger Zweige unter dem Arm taumelte auf Henri zu - Superhirn! „Was los ist?“ empfing ihn Henri beinahe höhnisch. „Ich dachte, dein Gehirn arbeitet am schnellsten! Und wo hast du deine Brille? „Brille?“ fragte Superhirn verdutzt. „Die muß ich - ja, die muß ich verloren haben, als ich einschlief. Ich glaube, der Unsinn - heute morgen - mit dem Elefanten auf Rädern!“ „Du meinst, mit dem alten Schäfer?“ fragte Henri. „Mensch, du bist ja superverwirrt!“ Während der dürre Junge seine Brille suchte, standen Gérard und Prosper verständnislos bei den Geschwistern. „Ich schwöre, daß ich nichts weiß!“ beteuerte Gérard. „Ich muß mit meinem Holzbündel gestolpert und mit der Stirn auf einen Stein geknallt sein. Dadurch wurde ich ohnmächtig.“ „An deiner Stirn ist aber keine Beule“, sagte Henri. „Ich dachte, ich wär zu Hause im Bett“, erklärte Prosper. Superhirn, die Brille wieder auf der Nase, kam zurück. „Heißer Tag heute“, meinte er. „Ich muß mich wohl erst an das Klima gewöhnen. Nehme an, ich hatte einen Klimaschock. Wußte tatsächlich nicht, daß ich geschlafen hatte, ich wußte überhaupt nichts. Wie verwirrt ich war, erkennt ihr daran, daß ich meine Brille einfach liegenließ. Entschuldigt! Habt ihr mich schon lange gesucht?“ „Hatte keine Zeit, jemanden zu suchen“, murmelte Gérard. „Du wirst lachen - ich habe auch gepennt!“ „Ich auch“, gestand Prosper, sich die Stirn reibend. „Himmel! Ich muß umgefallen sein wie ein entwurzelter Baum. Und hier liegt das gesammelte Holz!“ „Was war denn mit den beiden?“ fragte Superhirn aufhorchend. „Ging's denen genau wie mir?“ „Und wie uns“, erklärte Henri. „Während ich im Moor schlief, lag Tati in der Ruine! Und wir wissen nicht, wo Micha und Loulou sind.“ „Micha?“ Superhirn wurde augenblicks hellwach. „Vergeßt ihr den Kleinen? Los, laßt alles stehen
und liegen, grübelt nicht nach, was war - sucht Micha! Henri, du kommst mit mir nach links, Gérard, du nimmst die Mitte, und Prosper und Tati halten sich rechts!“ Eilig schwärmte die Gruppe aus. Es dauerte nicht lange, da fanden sie den Kleinen schlafend in der Nähe eines ausbetonierten, in die Erde eingelassenen Wasserbehälters. „Micha!“ rief Tati erleichtert. Sie beugte sich über ihn und schüttelte ihn kräftig. Der Kleine erwachte und fing sofort an zu weinen. „Still, still!“ beruhigte ihn Tati. „Wir sind ja so glücklich, daß wir dich wiederhaben! Hör auf zu weinen!“ „Bonbons?“ Micha richtete sich rasch auf. „Von Bonbons hab ich geträumt! Aber jetzt hab ich so einen komischen Geschmack auf der Zunge Wo ist denn mein Schlafsack? Wo sind Mami und Papi?“ „Zu Hause“, grinste Henri. „Du warst wohl müde?“ erkundigte sich Prosper, während er selber einen Gähnkrampf unterdrückte. „Wie kam denn das?“ forschte Superhirn. „Hast du dich gemütlich hingelegt, oder bist du gefallen?“ Der Kleine zögerte. Dann fiel sein Blick auf den rechteckigen kleinen Teich, den niemand hier vermutet hatte. „jetzt weiß ich's wieder!“ rief er. „Ich bin gefallen! Denn ich hab noch gedacht Mensch, Micha, hoffentlich plumpst du da nicht rein!“ Die Größeren sahen einander an. „Hm. Eins steht fest“, überlegte Superhirn. „Wir müssen allesamt ungefähr zur gleichen Zeit zusammengebrochen sein. Freiwillig hat sich niemand hingelegt. Oder? Also, freiwillig nicht. Ist vielleicht ein Düsenjäger dicht über das Moor gesaust?“ „Wieso?“ fragte Tati verständnislos. „Weil das eine Erklärung sein könnte. Durch den Überschall-Knall hätten wir einen Schock bekommen und dadurch ohnmächtig werden können.“ „Also - keine Lebensmittelvergiftung“, stellte Superhirn energisch fest. „Wäre es nämlich eine gewesen, so hätten wir gestern abend oder heute morgen Hunderttausende von Gästen haben müssen!“ „Hunderttausend Gäste?“ fragte Henri. „Was soll das nun wieder? Was willst du damit sagen?“ ,Daß die Vögel erst jetzt wieder in der Luft herumfliegen“, antwortete Superhirn. „Auf der Suche nach Micha entdeckte ich einen Adler am Boden, ich dachte, er sei tot. Als ich mich nach einer Weite zufällig umsah, flatterte er gerade wieder auf. Zunächst hatte er ein wenig Schlagseite, aber allmählich zog er wieder munter seine Kreise. Etwas später sah ich einen ganzen Schwarm von kleinen Vögeln auffliegen ... Und vorher, als ich meine Brille gefunden hatte, bemerkte ich eine Menge regloser Käfer! Die hätten uns sonst bestimmt alle besucht und wären zumindest über uns gekrabbelt. . .“ Gérard sperrte den Mund auf, ohne ein Wort zu sagen. Prospers Nasenflügel bebten, so eifrig dachte er nach. „Du meinst, du meinst...“, begann Tati entsetzt. „Du meinst...“, vollendete Henri, „das - das Unerklärliche, das uns traf, könnte auch andere Lebewesen erwischt haben? Nicht nur uns Menschen, sondern auch Insekten, Kriechtiere, Vögel.“ „Der Pudel war der erste Beweis dafür, daß nicht nur wir Menschen betroffen waren“, sagte Superhirn ernst. „Wir“, schluckte Micha, „wir - wir müssen von hier weg. Wir müssen sofort weg von hier, wir müssen „Wir müssen uns das alles erst noch einmal in völliger Ruhe überlegen“, schlug Superhirn vor. „Es ist nicht meine Art, einfach wegzurennen, wenn irgendwas geschieht, das ich mir nicht erklären kann!“ „Meine auch nicht!“ sagte Henri entschieden. „Und auch meine nicht!“ rief Gérard. Prosper nickte bekräftigend. „Ich denke, ich mache jetzt so schnell wie möglich das Essen fertig“, entschied Tati. Sicher seid ihr genauso hungrig wie ich. Ein gesättigter Magen beruhigt die Gemüter!“
„Da hat sie recht!“ lachte Superhirn. „Aber ist das nicht komisch: Ich habe einen Hunger, als hätte ich seit gestern früh nichts gegessen!“ „Merkwürdig - ich auch!“ meinte Henri. „Das kommt von diesem unheimlichen Schlaf“, behauptete Gérard. „Scheint mir auch so“, bestätigte Prosper . Als die Gefährten in der Ruine waren, sagte Henri: „Übrigens fällt mir ein, ich habe vor dem Ohnmächtig werden auf die Uhr geguckt: Es war genau dreizehn Uhr! Und jetzt ist es zwölf Minuten nach zwei! Da können wir nicht lang geschlafen haben!' „Waaas?“ Auch Superhirn blickte auf seine Armbanduhr: „Zwölfeinhalb Minuten nach zwei, genau! Nicht lange geschlafen, sagst du? Ich würde meinen, kaum - wir haben kaum geschlafen!“ Tati, die auf ihrem Küchenbrett herumwirtschaftete, drehte sich um. „Kaum? Mir kam es wie ‚ne Ewigkeit vor! „Nein! Superhirn hat recht!“ rief Henri wie elektrisiert. „Denk doch mal, Tati: Bevor ich im Moor hinfiel, war's eins. Nach dem Aufwachen hab ich eine ganze Weile dagesessen und überlegt, wo ich war. Dann hast du gerufen, ich bin zu dir in die Ruine gelaufen, und wir haben gemeinsam nachgedacht. Schließlich sind wir die anderen suchen gegangen. Als Gérard, Prosper und Superhirn wach waren, redeten wir alle miteinander. Superhirn holte seine Brille. Und wir schwärmten aus, um Micha zu finden. Fehlte noch Loulou. Am Ende folgte eine lange Beratung. Schließlich gingen wir hierher zurück!“ „Ich habe mir ausgerechnet, daß das alles zusammen über anderthalb Stunden gedauert haben muß“, nickte Superhirn. „Demnach müßte es jetzt halb drei sein, und wir könnten überhaupt nicht geschlafen haben.“ „Im Gegenteil, es fehlt uns über eine Viertelstunde in der Rechnung“, stellte Henri fest. Prosper schüttelte den Kopf, und Gérard meinte: „Aber das ist doch einfach unmöglich!“ „Habt ihr automatische Armbanduhren wie Henri und ich?“ forschte Superhirn. „Ich habe eine“, erklärte Prosper, „sie zeigte die Zeit an, die du uns genannt hast! Superhirn trat an das „Küchenbrett“ und betrachtete die grüne Gurke - jedenfalls den Rest, den Tati wohl schon geschält, aber noch nicht aufgeschnitten hatte. „Hast du die Gurke gewaschen?“ fragte er. „Nein“, antwortete Tati, „nur geschält. Man wäscht geschälte Gurken nicht, man schneidet sie gleich in Scheiben! „ „Nun, ich sehe es! Das restliche Stück ist sehr trocken reichlich trocken, möchte ich meinen!“ Er spähte in das Salatgefäß, in das Tati soeben Essig und Öl gießen wollte. „Stop!“ befahl er. „Fällt dir nichts auf, Superhausfrau?“ „Doch, aber ich kann's nicht begreifen“, erwiderte Tati. „Auch die Tomaten- und Gurkenscheiben sind trocken, obwohl sie vorhin beim Schneiden noch ganz saftig waren!“ Superhirn wandte sich um. „Leute“, sagte er düster, „ich habe die Erklärung für die verkehrte Zeitrechnung! Wir sind nicht heute mittag in Schlaf verfallen, sondern gestern mittag! Deshalb haben wir auch alle solchen Hunger!“ Superhirn schlüpfte in sein Zelt; gleich darauf kam er mit einem Büchlein zurück. „Mein Tagebuch“, erklärte er knapp. Er schlug es auf. „Unter dem zwanzigsten fehlt jede Eintragung, und ihr könnt mir glauben, ich schreibe stets alles ein. Dagegen zeigt mein Uhrkalender auch den einundzwanzigsten!“ Er klappte das Büchlein zu. „Wir waren fast vierundzwanzig Stunden bewußtlos!“ Wieder herrschte Schweigen. Er spähte in die Runde. „Wollen wir unser Zeug zusammenpacken und das Hochmoor verlassen?“ „Unbedingt!“ rief Tati. „Hier bleibe ich keine Minute länger! An einem Ort, an dem man mittags auf die Nase fällt und vierundzwanzig Stunden schläft? Nie ... !“ „Hatschi“, nieste Micha wie zur Bekräftigung. „Der Kleine ist erkältet, ihm ist die Nacht im Freien nicht bekommen ... Da seht ihr's!“ fuhr Tati fort. „Nein, nein da kann ja sonst was passieren! Das laß ich einfach nicht zu... Der Kleine, der fürchtete' allein „abgeschoben“ zu wer den, wurde sehr aufgeregt. „Ich will aber
hierbleiben“, schrie er, „ich bin nicht erkältet, ich hab auch nicht geniest! Das war Loulou!“ Henri lachte. Doch dann fragte er ernst: „Ihr habt Superhirns Frage und Tatis Ansicht gehört: Wollen wir unsere Zelte hier abbauen und verschwinden? Sicher weiß Herr Bertrand einen anderen, weniger unheimlichen Platz!“ „Herr Bertrand wird nicht mal wissen, daß diese Stelle hier unheimlich ist“, meinte Gérard. „Auch der Bauer Dix wird keine Ahnung haben. Die beiden hätten uns sonst niemals hergeschickt!“ Prosper nickte: „Ich schlage vor, wir bleiben. Wir müssen unbedingt rauskriegen, was hier vorgeht! Ich käm mir ganz und gar dämlich vor, wenn ich jetzt abhauen würde.“ „Ach auch“, sagte Gérard. „Nicht wahr, Henri?“ „Klar“, erwiderte der. „Selbst wenn ihr gehen würdet - ich bliebe auf alle Fälle hier!“ erklärte Superhirn fest. „Henri, Gérard und Prosper haben sich auch dafür entschieden - und Micha ist zwar klein, aber ich glaube, wenn's not tut, recht tapfer. Den Pudel brauche ich nicht zu fragen. Also, Tati, wie ist's?“ „Wenn ihr bleibt, bleib ich natürlich auch. Ich bin ja keine Zuckerpuppe! Nur müssen wir auf Micha aufpassen, und zwar alle miteinander!“ forderte Tati. „Jeder muß auf jeden aufpassen“, bestimmte Superhirn. „Wer die Gruppe verläßt, muß sich abmelden. Und von jetzt an darf uns nicht die geringste Kleinigkeit entgehen, keine scheinbar noch so nebensächliche Veränderung im Gelände. Jetzt, Freunde, jetzt habt ihr Gelegenheit, eure Beobachtungsgabe zu schärfen ... !“ Die Koteletts, in Dosenbutter gebraten, hatten vortrefflich geschmeckt. Essig, Öl und Gewürze ließen das verhutzelte Aussehen der Gurke und der Tomaten vergessen. Als Nachtisch gab es Kakao mit Kondensmilch - und zum Abschluß Bonbons. Superhirn starrte nachdenklich in seinen Becher. Plötzlich hob er den Blick. Seine Augen hinter den Brillengläsem blitzten. „Der betonierte Teich! Dieser sonderbare kleine Swimmingpool oder was es war! Die Stelle, an der wir Micha fanden! Die anderen horchten auf. „Richtig!“ bestätigte Henri. „Komische Anlage, mitten im Moor! Vorhin waren wir zu abgelenkt, uns das Ding genau anzusehen . . .“ „Ich bin Superhirns Meinung“, erklärte Gérard eifrig, „nichts im Hochmoor darf uns entgehen! Los, auf! Hin zu dem Wasserbecken! „Ihr meint, da ist Schlafwasser drin“, grinste Prosper. „Und das macht alles bewußtlos, was in seiner Nähe kreucht und fleucht? Na, dann würd ich der Stelle lieber fernbleiben!“ Aber er stand auch auf und schloß sich den anderen an. Das betonierte, rechteckige Becken in der Moorlandschaft, über das sich die Gruppe beugte, hatte sandigen Grund, der mit verschiedenen Wasserpflanzen bedeckt war. „Fische“, bemerkte Gérard enttäuscht, „ganz gewöhnliche Fische, wie sie in jedem Teich vorkommen. Die Stelle hat man gewählt, weil hier ein winziges Rinnsal ist. Wenn man die Klappe links hochzieht, wird der Zufluß frei. Und das da rechts ist der Abfluß!“ „Ein Zuchtbecken?“ fragte Prosper. Superhirn griff blitzschnell in die ein wenig trübe Brühe und zog ein zappelndes Etwas heraus. „Wer ißt Goldfische?“ murmelte er. Der Fisch platschte ins Wasser zurück. Henri krempelte seinen Ärmel auf und faßte ebenfalls in das Becken hinein. Auch er holte ein Tier heraus, doch als er es betrachtete, wurden seine Augen starr. Tati, Gérard, Prosper und Micha wichen zurück. Waff! machte Loulou. „Haltet den Hund fest!“ befahl Superhirn atemlos. „Und du, Henri, wirf das Tier nicht ins Wasser! „Aber...“, stammelte Henri. Er preßte die Hand um seinen Fang und wendete den Kopf ab. „Mir wird schlecht... Verflixt, ich, ich...“ Platsch - ließ er die Beute zurückfallen. Dann hob er den Blick. Er war sehr blaß. „Ich glaube, unsere Augen sind noch voller Traumbonbons“, sagte Gérard. „Das war doch nie im Leben ein Fisch!“
„Nicht mal ein Goldfisch“, betonte Prosper. „Es war...“, er sah Superhirn an, als wage er nicht, es auszusprechen. Ruhig sagte Superhirn: „Nein. Es war tatsächlich kein Fisch. Es war ein Goldhamster!“ „Ich glaube, wir sind allesamt verrückt geworden“, meinte Tati. „Wir hätten doch nach dem Essen abhauen sollen!“ Superhirn runzelte die Stirn. „Wenn du dir vormachst, du seist verrückt, wirst du's bestimmt werden! Wir haben festgestellt, daß hier im Moor was Unerklärliches vorgeht, und unsere Abmachung lautete, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist so was wie ein selbst verliehener Forschungsauftrag, verstehst du das?“ „Halb und halb“, gab Tati zu. „Ich will, daß du es ganz und gar verstehst“, fuhr Superhirn unerbittlich fort. „Wir haben mit unseren Forschungen begonnen, ist das klar?“ „Ja natürlich - klar - wieso nicht - na, weiter“, murmelten die anderen. „Das heißt, wir sind Forscher“, erklärte Superhirn eindringlich. „Forscher müssen mit Überraschungen rechnen! Nach dem, was uns bereits zugestoßen ist, darf uns nichts mehr verblüffen auch nicht, wenn einer von uns statt eines Fischs einen lebenden Goldhamster aus dem Wasser holt. Wir haben zu prüfen, warum dieses Nagetier nicht ertrinkt.“ Er griff in das Becken und holte den Goldhamster wieder heraus. „Überzeugt euch, daß es wirklich ein Goldhamster ist!“ befahl er. Alle beugten die Köpfe über das zappelnde Wesen. „Es ist ein Goldhamster“, sagte Henri. „Da ich zu Hause selber einen habe, täusche ich mich bestimmt nicht. Ein typisches Nagetier! Aber ausgeschlossen, daß es sich im Wasser aufhalten kann! Es würde verzweifelt herumpaddeln und ertrinken; ja - zwischen dem ersten und dem zweiten Herausholen müßte es schon ertrunken sein!“ „Aber es ist nicht ertrunken“, stellte Superhirn fest. „Dagegen benimmt es sich sehr merkwürdig in meiner Hand. Seht mal! „Der G-g-goldhamster z-z-zappelt ja so schrecklich“, hauchte Micha schaudernd. „Und er schnappt so furchtbar nach Luft!“ „Werfen wir das Tierchen mal einen Moment ins Wasser zurück, damit es sich erholen kann“, brummte Superhirn. Platsch - der Goldhamster verschwand wieder im Wasser, als sei das sein Element. „Nun? Was vermutet ihr?“ erkundigte sich Superhirn. „Das ist eine Kreuzung“, meinte Gérard. „Tja, ...“, überlegte Prosper, „was sollte es sonst sein? Ich hab noch niemals einen Goldhamster gesehen, der statt im Trockenkäfig unter Wasser lebt!“ Er hat aber gezappelt und geschnappt wie ein Fisch, der Kiemen hat und an der Luft verschmachtet“, bemerkte Superhirn. „Kiemen ... ?“ rief Gérard. „Du meinst, das ist eine besondere Art von Goldhamster mit Kiemen?“ „Es gibt keine Kiemen-Goldhamster“, erwiderte Superhirn. „Merkt euch das! In keinem biologischen oder zoologischen Fachbuch der Welt werdet ihr etwas über Kiemengoldhamster lesen können. Wir haben hier also keine besondere Art entdeckt, sondern was ganz Grausiges. Kommt, laßt uns in unser Lager gehen. Dieser Platz gefällt mir nicht!' In der Ruine angelangt, lauschten die Gefährten Superhirns Erklärung: „Hier, auf dem einsamen Hochmoor, führt jemand Versuche durch. Das, was wir am eigenen Leibe erlebt haben, war ein Strahlenexperiment; wahrscheinlich galt es den Insekten und Vögeln, und wir sind nur zufällig mit hineingeraten. Nun, darüber kann ich zunächst nur Vermutungen anstellen. Was aber das Becken mit dem Goldhamster betrifft“, er dämpfte die Stimme, „so bin ich mir völlig im klaren. Wir sahen einen Hamster, den ein Forscher zu einem Aqua-Nagetier, also zu einem WasserNagetier, machen will! ‚ „Wozu?“ fragte Tati mit schreckgeweiteten Augen. „Es versucht jemand, ein Nagetier, das bisher an der Luft lebte, zu einem Unterwassergeschöpf werden zu lassen!“
„Aber man kann doch nicht einfach einen Goldhamster oder eine Maus ins Wasser werfen und rufen: Nun schwimm mal schön! Werd ein Fischchen, kleines Biest!“ empörte sich Henri. „Es kann aber jemand einem Hamster Fischkiemen oder Plastikkiemen einoperieren“, entgegnete Superhirn. In Amerika werden solche Versuche gemacht, und zwar an der medizinischen Forschungsanstalt in Chikago. Dort lebte eine Ratte mit Kunstkieme bereits über eine Woche lang im Wasser. Den neuesten Stand der Dinge kenne ich nicht. Ich habe nur kürzlich was darüber gelesen.“ „Das ist ja scheußlich!“ rief Tati. „Was soll denn das Experiment?“ „Man will vielleicht später einen Unterwassermenschen schaffen, einen Homo aquaticus', erklärte Superhirn. ,Aber alle Versuche, die am Ende auch an den Menschen ausgeführt werden sollen, beginnen zunächst einmal bei Mäusen, Ratten, Hamstern und Affen.“ „Ein Unterwassermensch mit Kiemen!“ Tati schüttelte den Kopf. „Selbst wenn ich glauben könnte, daß man so ein Ungeheuer schaffen wollte, welchem Zweck sollte es dienen?“ „Nur 29 Prozent der Erdoberfläche bestehen aus Land“, belehrte sie Superhirn. „71 Prozent sind von Wasser bedeckt. Die Menschheit vermehrt sich rasend schnell. Vielleicht wollen die Forscher neue Lebensräume erschließen!“ „Aber man kann doch auch Land gewinnen, Wüsten fruchtbar machen oder mit Raumschiffen neue Gebiete im Weltall suchen!“ rief Henri. „Gelehrte denken an vieles“, unterbrach Superhirn, „auch an die Schaffung unterirdischer Lebensmöglichkeiten. So, aber nun Schluß damit. Ich höre ein Auto kommen!“ Waff! machte Loulou. Waff, Waff! Die sechs „Moorforscher“ liefen aus der Ruine ... 4. Die unsichtbare Falle In seinem klapprigen alten Auto näherte sich Herr Bertrand. Neben ihm saß der Bauer Dix, dem das Hochmoor gehörte. Die Jungen und Tati blickten ihnen gespannt entgegen. „Ob die uns holen wollen?“ fragte Henri. „Wir haben noch nicht daran gedacht, daß die komischen Schlafstrahlen - oder was das war - auch über Stadt, Land und Hafen hingegangen sein könnten!“ meinte Gérard. „Vielleicht herrscht ne Riesenaufregung in Marac“, grübelte Prosper. „Stellt euch vor, die Leute wären auf den Straßen bewußtlos geworden! Am Strand und auf den Brücken von Marac! In Autos, Bahnen, Cafés und auf den Schiffen!“ „Still!“ mahnte Superhirn. „Wenn Herr Bertrand und Herr Dix nichts sagen, plappern wir auch nicht! Verstanden!“ Das Auto hielt. „Hallo!“ rief Herr Bertrand vergnügt. „Wie geht es meinen bevorzugten Kindern? Schmecken die Ferien noch?“ „Die haben ja eben erst angefangen!“ antwortete Henri. Er bemühte sich, ein richtiges „Feriengesicht“ zu machen. „Einfach prima hier!“ rief Tati ein wenig zu schrill. „P-p-prima...!“ stotterte Micha. „Fehlt nur ne flotte Bademöglichkeit!“ ergänzte Gérard. Prosper nickte nur. Herr Bertrand und Herr Dix stiegen aus. „He!“ lachte Herr Dix. „Und da ist ja auch mein Freund, der Bücherwurm! Wie viele Wörter hast du denn heute gefressen?“ „Noch keins“, lächelte der „dynamische Leser“. „Dafür habe ich eine Menge Freunde gekriegt!“ „Also vertragt ihr euch. Das ist nett“, meinte Herr Dix. „Ich dachte, du wärst so´n einzelgängerischer Professor.“ „Nee, der ist eher so was wie ein Transistor, der dauernd Schulfunk durchgibt“, grinste Henri. „Wir
werden von Minute zu Minute schlauer.“ „Tja...“, begann Herr Bertrand, „wir sind eigentlich nur gekommen, um mal nach dem Rechten zu sehen. Aber weil Gérard eben was vom Baden gesagt hat - wie wär's, wenn ich euch morgen an den Strand von Marac fahren würde? Da könnt ihr euch den ganzen Vormittag nach Herzenslust am Strand tummeln!“ „Au ja!“ Tati machte vor Begeisterung einen Luftsprung. Die anderen hatten rasche Blicke getauscht. Marac? Strand? Nach Herzenslust tummeln? Das klang wahrhaftig nicht so, als sei in der weiteren Umgebung etwas Unheimliches vorgefallen.. . „Kommst du auch mit, Marcel?“ fragte der Bauer Dix. „Er heißt nicht mehr Marcel, er heißt Superhirn“, erklärte Micha wichtig. „Na ja, der scheint einen Computer im Kopf zu haben, nach allem, was ich höre“, lächelte Herr Bertrand. Superhirn grinste. „Klar komm ich morgen mit! Aber meine Einmann-Freiluft-Universität“, er wies auf die Ruine, „möchte ich nicht missen. Vor allem, weil ich ja jetzt fünf Gasthörer habe. Rechne ich den Pudel dazu, so sind's sogar sechs!“ „Von mir aus kannst du hier auch überwintern“, sagte Herr Dix. „Ich fürchte nur, die anderen werden nicht mitmachen.“ „Und meine Eltern sicher auch nicht“, lächelte Superhirn. Und so nebenbei meinte er: „Fast ´n Wunder, daß das Hochmoor so menschenleer ist! Das wäre doch ein günstiger Grund und Boden für ein riesiges Campinglager.“ „Denkst du“, sagte Herr Dix, „aber die Gendarmerie ist nicht dieser Meinung. Das Gelände fällt fast senkrecht zum Meer ab. Und unten sind die ´Heulenden Steine´, die Todesklippen, links und rechts davon liegt der sogenannte ´Verbotene Strand´, der wegen des Sogs gesperrt ist. Außerdem ist ein Teil des Geländes verkauft, der Rest, auf dem ihr sitzt, ist optiert.“ „Operiert?“ fragte Micha, der an den Kiemenhamster denken mochte. Tati kniff ihn leicht in den Arm. „So gut wie verkauft“, erklärte der Bauer. Henri und Superhirn beobachteten ihn scharf. Wußte der Mann etwas von den - grausigen Versuchen? Doch Herr Dix - so schien es - blickte arglos und freundlich drein. Herrn Bertrand war erst rechts nichts anzusehen. „Freut mich, wenn's euch hier gefällt“, meinte er aufgeräumt. „Also dann bis morgen, wenn ich euch zum Schwimmen abhole. Um neun Uhr, pünktlich! Wiedersehen!“ „Wiedersehen!“ rief die Feriengruppe im Chor. „Übrigens“, Herr Dix saß schon im Auto, „übrigens, Kinder, das wollte ich euch noch sagen: Bleibt immer hübsch im östlichen Teil des Moores, also diesseits der Ruine, zur Straße hin. An der Seeseite ist doch nur Geröll, und bei den Kalkfelsen habt ihr nichts zu suchen!“ „Da spukt´s!“ zwinkerte Herr Bertrand. Er warf Micha einen Blick zu. Dann setzte er sich ans Lenkrad und startete. Tati und die jungen schwiegen, bis das Auto in der Ferne verschwunden war. „Was haltet ihr davon?“ fragte Henri aufgeregt. „Wir sollen auf der anderen Seite des Moores rumlaufen“, rief Gérard, „da, wo wir vermutlich nichts Verdächtiges finden!“ „Er wollte uns von dem widerlichen Becken fernhalten“, meinte Prosper. „Er hat keine Ahnung, daß wir's schon entdeckt haben!“ „Die sind miteinander im Bunde, Bertrand und Dix“, behauptete Tati. „Sie kamen unter einem Vorwand. Sie wollten nur sehen, ob uns die Schlafstrahlen - oder was das war - geschadet haben!“ „Und zu sagen, daß es bei den Felsen spukt!“ rief Micha. „Da wohnen Gespenster! Ja! Die spielen uns dauernd Streiche! Das sind überhaupt alles nur die Gespenster gewesen. Sie haben auch den Hamster. . . „Ruhe!“ unterbrach Superhirn. „Ich glaube nicht, daß Bertrand und Dix auch nur das Geringste wissen. Sieht einer von ihnen wie ein Hydrologe - ich meine Wasserforscher - oder gar wie ein Strahlenforscher aus? Die beiden haben sicher noch nicht einmal eine Ahnung von dem Becken im Moor. Ihre Warnung war ganz allgemein. Es ist klar, daß es bei den Klippen gefährlich ist. Und wenn
Herr Bertrand was von Spuk' gemurmelt hat, so war das bestimmt ein Scherz. Er wollte höchstens Micha ein bißchen Angst einjagen, weil so ´n Kleiner die wirkliche Gefahr meist unterschätzt.“ „Leuchtet mir ein“, meinte Henri. „Wenn Bertrand und Dix nicht wollten, daß wir hier was herausfänden, hätten sie uns das Zelten ja von Anfang an verbieten können.“ Der Vormittag am Strand von Marac war herrlich gewesen. Die Jungen und Tati hatten ausgiebig geschwommen; und Micha und Loulou hatten sich im Brandungsschaum am Ufer getummelt. Schließlich hatte die ganze Bande bei Frau Dix gesessen (der Pudel natürlich unter dem Tisch), und Herr Bertrand hatte alle in seinem Kombiwagen wieder ins Hochmoor gebracht. „Ich fühle mich so erfrischt, daß ich auf der Ruine Ballett tanzen könnte!“ rief Tati. „Dann fliegst du runter, brichst dir das Genick, und wir errichten dir da oben ein Denkmal“, wieherte Gérard. „Wie ich höre, bist auch du sehr munter, mein Junge“, grinste Superhirn. „Das trifft sich gut. Wir werden jetzt eine kleine Entdeckungsreise machen!“ „Reise?“ fragte Micha. „Oder einen Entdeckungsgang“, verbesserte sich Superhirn. „In Marac, am Strand und bei Dix haben wir nichts gehört oder gesehen, was auf etwas Besonderes hätte schließen lassen. Die unheimlichen Vorgänge beschränken sich also auf das Hochmoor, meine ich. Deshalb durchstreifen wir heute nachmittag das Gelände.“ „Ist das nicht zu auffällig?“ wandte Prosper ein. „Es könnte uns jemand beobachten. Vielleicht gehen immer zwei und zwei abwechselnd Streife!“ „Das wäre erst recht auffällig!“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Nein, wir bummeln alle durchs Gelände. Ihr treibt euren Fußball vor euch her, Tati macht ab und zu ein wenig Gymnastik, und ich nehme meinen Feldbogen mit.“ „Feldbogen?“ Micha machte Augen, als müsse das auch was Unheimliches - möglicherweise mit Kiemen! - sein. „Ein Flitzbogen ist das“, erklärte Superhirn. „Aber kein selbstgemachter, sondern einer mit Visier, mit Zielvorrichtung. Hat ‚ne fabelhafte Treffsicherheit!“ „Na, dann brauchen wir ja unsere Hinterteile nicht zu panzern.“ Gérard. grinste. „Tröstlich. Hoffentlich bist du auch ein guter Schütze!“ „Ich denke, es wird nichts zu schießen geben“, erwiderte Superhirn. „Das Ding dient nur zur Tarnung. Wir sind für einen, der uns sehen könnte, nichts als ‚ne lustige Feriengruppe. Vergeßt eure Fotoapparate nicht. Micha und Loulou kommen auch mit - das wirkt noch harmloser.“ „Und wohin gehen wir?“ wollte Henri wissen. „Zu den Klippen!“ rief Superhirn. Die kleine Gesellschaft gab sich den Anschein, als wolle sie wirklich nur absichtslos herumbummeln. Henri, Gérard und Prosper spielten sich den Fußball zu. Micha pflückte wahllos Heidekräuter, und Tati machte von Zeit zu Zeit Radschlagen oder lief mit dem Pudel um die Wette. Superhirn legte den Feldbogen öfters auf ein unsichtbares Ziel an, als übe er sich in der Armhaltung; dabei spähte er jedoch aufmerksam durch das Visier. „Puh!“ stöhnte Tati. „Laß mich mal einen Moment verschnaufen! Ihr geht nur auf den Füßen, aber wer alle paar Meter auf den Händen hopst, braucht mehr Puste!“ Die Jungen warfen sich neben ihr ins weiche Moos. „Fußball bringt einen auch ganz schön in Schweiß“, beteuerte Gérard, „besonders in diesem Gelände. Da braucht man nicht erst auf den Händen zu hopsen! Nur Superhirn ist ausgeruht wie immer!' Die vier sahen zu dem dürren Jungen hoch. „He ... !“ Henri richtete sich auf. „Superhirn! Was hast du denn? Wie stehst du denn da ... ?“ Superhirn stand wie eine Bildsäule. Sein Blick war starr. Er sah über die anderen hinweg, als seien sie nicht vorhanden. „Superhirn!“ rief Henri. „Träumst du im Stehen?“ „Im Gegenteil“, sagte der Angesprochene ruhig. „Ich beobachte etwas! Merkwürdig . . .“ Er bewegte
sich jetzt, blieb aber sehr ernst. „Sag mal, Tati, hat Micha auch ein paar Ballettschritte gelernt? Ich meine, versucht er manchmal, dich nachzumachen?“ „Wieso?' fragte das Mädchen gedehnt. „Spinnst du?“ wunderte sich Gérard. Fast zugleich sprangen Henri und Prosper auf die Füße. „Er spinnt überhaupt nicht!“ schrie Henri. „Seht doch mal! Seht!“ Er zeigte auf das Gelände jenseits des Baches. „Da tobt Micha herum, als hätt ihn eine Wespe gestochen! Nein, als als ...“ Er schwieg, denn er fand offenbar keine Worte mehr. Jetzt standen auch Tati und Gérard auf. „Was...“, begann Gérard, doch auch ihm verschlug der Schreck die Sprache. Tati rang nach Worten: „Das - das ist doch kein Tanz, was Micha da macht. Er tritt mit dem Fuß in die Luft, er fuchtelt mit den Fäusten. Jetzt lehnt er sich vornüber und strampelt mit den Beinen!“ „Das wollte ich hören!“ sagte Superhirn rauh. „Er strampelt mit den Beinen! Wie kann man sich auf freier Fläche stehend vornüberlehnen und mit den Beinen strampeln?“ „Nun schiebt er was mit flachen Händen vor sich her!« meldete Henri aufgeregt. „Vor sich her? Was schiebt er?“ fragte Gérard, der plötzlich ganz blaß war. „Es gibt doch nichts zu schieben als Luft!“ „Aber es sieht so aus, als stemme er sich gegen etwas“, murmelte Prosper. „jetzt hämmert er mit den Fäusten gegen nichts!“ „Und die Grimassen, die er zieht!“ rief Tati. „Er ist verzweifelt! Er weint!“ „Micha!“ schrie Henri. „Micha, was machst du da?“ „Micha!“ brüllten Gérard und Prosper. „Micha!“ kreischte Tati. „Ihr müßt doch sehen, daß er euch nicht hört!“ sprach Superhirn düster. „Achtet auf seine Miene! Er macht ein angestrengtes Gesicht. Er hat alles um sich vergessen. Er kämpft wie in einem abgeschlossenen Raum! Kein Laut dringt an sein Ohr!“ „Woher willst du das wissen?“ Henri war außer sich. „Schnell, wir müssen ihm helfen!“ „Wartet!“ befahl Superhirn scharf. „Seht mal, was der Hund macht!“ „Er steht auf den Hinterbeinen und zappelt mit den Vorderpfoten!“ jammerte Tati. „Er will zu Micha...“ „... aber es geht nicht!“ vollendete Superhirn hart. „Wir hören Loulous Bellen - aber das Schreien Michas hören wir nicht!“ „Loulou, komm her!“ lockte Tati. „Komm her!“ Winselnd gehorchte das Tier. Micha aber kam nicht von der Stelle. Superhirn sprang über den Graben. „Henri, du folgst mir!“ rief er. „Ihr anderen bleibt drüben und holt Hilfe, wenn wir nicht wieder rüberkönnen!“ „Wen? Wen sollen wir holen?“ erkundigte sich Gérard. „Meinetwegen die Feuerwehr aus Marac - oder Soldaten!“ erwiderte Superhirn. Henri dicht hinter sich, rannte er auf Micha zu. Plötzlich sagte er: „Nanu, ist das Wind?“ Henri prallte auf ihn. „Weiter doch!“ rief er ungeduldig. „Mensch, ich laufe gegen Watte! Nein, au!“ Superhirn drehte sich um und rieb sich die Stirn. Er blickte hoch. „Ist von oben irgend etwas runtergekommen?“ „Nein!“ antwortete Henri. Aber auch er blieb so plötzlich stehen, als sei er gegen eine Wand geprallt: Er federte sogar zurück! Beide Jungen starrten einander an. „Was macht ihr denn da?“ hörten sie Tati rufen. „Helft Micha! Micha ist hingefallen!“ „Hingefallen?“ Superhirn sah zu dem Kleinen hin. „Er sitzt erschöpft auf der Erde. - Hallo! Micha! Kannst du mich denn nicht hören?“ Der Kleine, das sah man am Zucken seines Körpers und an seinem verzerrten Gesicht, atmete schwer; er war am Ende seiner Kraft. „Er antwortet nicht auf unser Rufen“, stellte Superhirn fest. „Er kann uns nicht hören, das sag ich ja die ganze Zeit!“
Wieder versuchte er, auf Micha zuzuschreiten. Doch jedesmal prallte er gegen eine unsichtbare Wand. Henri erging es ebenso. Gérard, Prosper, Tati!“ schrie Superhirn. Kommt über den Bach! Hier ist eine Sperre, die keiner sehen kann! Wir müssen versuchen, sie zu durchstoßen!“ Die drei kamen angekeucht. „Unsichtbares Hindernis?“ zweifelte Gérard. „Tatsächlich!“ schnaufte Prosper. „ich komme einfach nicht weiter! Ich renn wohl gegen ´ne Glaswand an. Aber erst ist's wattig, dann verdichtet es sich; zuletzt ist's wie ´ne Mauer!“ „Aber man sieht nichts!“ rief Henri. „Wenn's wenigstens Glas wäre! Glas würde spiegeln! Aber ich kann von oben nach unten gucken, von links nach rechts, wie immer ich will - ich sehe den Widerstand nicht!“ Plötzlich stand Micha dicht vor ihnen: er machte ein hoffnungsvolles Gesicht, als glaubte er, daß die Gefährten ihn aus der merkwürdigen Falle befreien könnten. „Sein Mund bewegt sich, er redet!“ bemerkte Gérard. „Er ist nur eine Armlänge von uns entfernt, aber wir hören ihn nicht!“ „Micha - verstehst du uns?“ schrie Tati so laut sie konnte. „Wenn du uns verstehst, ruf ´ja´! Ruf ganz laut ´ja´!“ Der Kleine schrie anscheinend verschiedenes. Die anderen lauschten. Doch es herrschte tiefe Stille. Dabei bewegte sich Michas Mund wie rasend, und sein Gesicht lief rot an. Offenbar brüllte er wie ein Verrückter. „Fauler Zauber!“ wiederholte Prosper außer sich. „Ruhig“ sagte Superhirn: „Das ist alles andere, mein Junge, nur nicht faul! Das ist was Teuflisches! Los, versuchen wir gemeinsam, ein Loch in die unsichtbare Wand zu brechen. Werfen wir uns dagegen! Eins, zwei - los!“ Die vier Jungen und das Mädchen durchbrachen den unsichtbaren Watteschleier und prallten gegen das sonderbare Nichts wie gegen eine Stahlplatte. Gérard rutschte zu Boden. Ächzend rieb er sich die linke Schulter. Prosper massierte sich den schmerzenden rechten Arm. Tati hielt sich wimmernd die Stirn. „Und ich hätt mir beinahe die Zähne eingerannt“, murmelte Henri. Superhirn stieß noch einmal mit dem Fuß gegen die unsichtbare Wand. „Zwecklos“ meinte er. „Ich hole meinen Bogen und Pfeile. Vielleicht kann ich damit etwas anfangen!“ Während der Pudel bellend an der unheimlichen Absperrung hochsprang, lief Superhirn zu der Stelle zurück, an der sie gerastet hatten. „Was Neues?“ fragte er, als er wiederkam. „Nichts. Henri hat festgestellt, daß man weder links noch rechts an dieser - Glaswand vorbeikann“, berichtete Tati. „Das sehe ich“, entgegnete Superhirn. „Micha rennt ja jetzt dahinter wie´n kleiner Tiger hin und her. Und Loulou, davor, tut das gleiche!“ „Was willst du mit dem Pfeil?“ erkundigte sich Henri. „Mal sehen, wie hoch diese unsichtbare Wand ist“, sagte Superhirn. Er legte den Bogen an und schoß. Sein Feldbogen war ein erstklassiges Sportgerät. Der Pfeil schoß mit großer Gewalt schräg empor. Doch seine Bahn wurde in etwa zwanzig Meter Höhe jäh beendet. Fassungslos spähten die Gefährten hoch. „Er hängt einfach in der Luft!“ murmelte Prosper. „Er steckt in der wattigen Außenschicht von der unsichtbaren Wand“, verbesserte Superhirn. „Wattige - was?“ fragte Gérard. „Ich sehe nichts, nichts! Nur den Pfeil!“ „Mensch, du merkst auch alles!“ wetterte Henri. „Diese Watte ist genauso unsichtbar!“ „Werdet nicht nervös!“ mahnte Superhirn. „Reizt euch nicht gegenseitig, weil ihr das alles nicht versteht! Wir müssen klaren Kopf behalten.“ Er spähte wieder empor. „Seht! Auch die Vögel prallen gegen den Widerstand!“ „Ja - ist das möglich...“ Tati reckte den Hals.
„Menschenskinder, der Micha wird uns noch verrückt!“ drängte Henri. „Wir müssen was tun!“ Der Kleine stand wieder dicht vor ihnen, er stemmte sich gegen die unsichtbare Wand, sein Gesicht war krebsrot. Aber alle Anstrengung nutzte ihm nichts. „Ausschwärmen!“ befahl Superhirn. „Prosper und Tati, ihr geht mit mir nach links, Henri und Gérard, ihr lauft nach rechts! Tastet euch immer an der unsichtbaren Wand entlang, vielleicht findet ihr eine Lücke!“ Doch die Gefährten fanden keine. Sie merkten bald, daß das Hindernis bogenförmig verlief. Nach einer Weile trafen die Gruppen zusammen: sie waren im Kreise gelaufen. Die komische Glaswand ist wie eine riesige Röhre über Micha gestülpt worden“, meinte Superhirn. „Nein“, verbesserte er sich, nachdem er hochgeblickt hatte, „wie eine gläserne Glocke. Oben, auf der Kuppe, sitzt ein Seeadler!“ Verzweifelt beobachtete Tati, wie Micha unter dieser „gläsernen Glocke“ hin und her rannte. „Man müßte versuchen, sich von unten durchzugraben“, überlegte Superhirn. „Was glaubst du denn überhaupt, was das Ganze bedeuten soll?“ fragte Henri heftig. „Ich mach mir ja schon Gedanken!“ herrschte Superhirn ihn an. „Die unsichtbare Glocke ist eine Abschirmung, eine riesige Abschirmung! Hier hat jemand ...“ Er unterbrach sich, denn plötzlich, ganz plötzlich, hörten sie Michas heiseres Geschrei: „Hilfe! Hilfe! Henri, Tati, helft mir doch ...“ Henri sprang vor. „Die Wand ist weg!“ schrie er. „Die Wand ist weg ... !“ Alle rannten auf den Kleinen zu, auch der Pudel. „Was macht ihr denn mit mir?“ ächzte Micha. Tati nahm ihn rasch in die Arme. „Ist ja schon gut. Es war, na ja - es war ...“ „Ein kleines Naturwunder!“ half Superhirn. „Der Wind, weißt du? Wir sind ja dicht an der See...“ „Quatsch!“ sagte Micha mit verblüffender Sicherheit. „Das war was anderes. Ich bin dauernd gegen ‚ne Wand gerannt!“ „Man bildet sich manches ein, wenn man zu lange am Strand in der Sonne gewesen ist“, fuhr Superhirn fort. „Ein kleiner Sonnenstich...“ Es war klar, daß er Micha von der Last des Unheimlichen befreien wollte. Das begriffen auch die anderen. Alle sprachen noch beruhigend auf den Kleinen ein, als plötzlich wie aus dem Boden gewachsen eine hagere Gestalt vor ihnen stand. Es war ein alter Mann mit schmalem, gelbem Gesicht und einem schwarzen, dünnsträhnigen Kinnbart, der länger war als seine Jacke. 5. Professor Charivari „Was sucht ihr hier?“ fragte der unheimliche Mann mit einer nahezu zitronengelben Glatze. Seine leise Stimme war sanft und schmeichelnd, doch das konnte den erschreckenden Eindruck nicht mindern. Die schmalen Augen wirkten fast schwarz, sie glänzten wie im Fieber. Und vor seinem Blick fühlte man sich so klein, daß man meinte, von den Pupillen förmlich aufgesaugt zu werden. „Nun ... ?“ wiederholte der Unheimliche. „Ich habe euch etwas gefragt: Was sucht ihr hier?“ Die Gefährten waren noch zu verblüfft, um antworten zu können. Einen Mann, so groß und so mager, dachte Henri, hab ich noch nicht gesehen. Tatis Blick war auf den kahlen, gelben Schädel des Fremden gerichtet. Er erschien ihr beinahe so schmal wie eine Salatgurke. Prosper und Gérard starrten auf den armlangen Bart. Es war, als seien dem Riesen ein paar lackschwarze Schnüre am Kinn festgewachsen oder als habe er den Seidenschwanz eines fremdartigen Tieres an seinem Unterkiefer befestigt. Übrigens war der Bart so schwarz wie seine Augen und seine Brauen. Michas Staunen galt den Schuhen. Sie waren schmal, aber langgebogen wie zwei kleine Kanus. Superhirn aber betrachtete den Stock, den der Mann trug. War das ein Stock oder war es ein Gerät? Als der Anblick des gespenstischen Hochmoormenschen genügend auf die Gefährten gewirkt hatte, blickte Tati zu Superhirn, als wolle sie sich vergewissern, ob der Junge ihnen vielleicht wieder einen Streich spielte. Doch hier, natürlich wußte sie das längst, war nichts zu hoffen. Eine Gestalt wie die,
die jetzt vor ihnen stand, konnte selbst der geübteste Verwandlungskünstler nicht so schnell annehmen. Merkwürdig war Loulous Verhalten. Der Zwergpudel hockte friedlich neben Micha und betrachtete den unheimlichen Hochmoormenschen mit schiefem Kopf, als erwarte er von ihm einen Keks. Er knurrte, schniefte und zitterte nicht. „Was hat euch denn die Sprache geraubt?“ erkundigte sich der Mann mit dem gelben Kahlschädel. Wieder klang seine Stimme sanft und einschmeichelnd. Es war wie ein leiser Gesang. Sein Blick ruhte jetzt auf Micha. Der Junge trat von einem Bein aufs andere. „Na ja...“, begann er, „diese komische Wand aus Luft oder was das war. Superhirn sagt, der Wind vom Meer ist hier so stark, weil wir am Meer sind. Aber ich weiß, daß es eine Wand war, die ich nicht sehen konnte. Ich bin immer dagegengelaufen. Die anderen auch! Die sind. ..“ „Der Kleine versteht nichts von Meteorologie“, unterbrach Superhirn rasch. „Wir sind wohl in eine Turbulenz, einen Luftwirbel, gekommen, das hat ihn verwirrt!“ „Aber...“, sagte Tati. Doch sie schloß den Mund sogleich. Sie begriff, daß Superhirn dem Fremden nichts von seinen Beobachtungen mitteilen wollte. „Der Pfeil ist ganz oben in der Luft steckengeblieben!“ rief Micha. Schon fragte der Unheimliche: „Welcher Pfeil?“ „Ich habe mit meinem Feldbogen auf einen Vogel geschossen“, log Superhirn. „Der Pfeil ist hier irgendwo zu Boden gegangen - na, ich werde ihn schon finden.“ Es war ja klar, daß der Pfeil nach Auflösung der Abschirmglocke den Halt verloren hatte und auf die Erde gefallen war. Die schwarzen Augen des Kahlschädligen musterten die Gefährten: „Seid ihr aus Marac?“ „Wir sind Freunde der Familien Bertrand und Dix“, erwiderte Henri. „Herr Bertrand hat Herrn Dix gebeten, uns hier zelten zu lassen.“ „Hier?“ fragte der Mann. „Nun ja“, Henri kratzte sich unbehaglich hinterm Ohr, „nicht direkt hier. Den westlichen Teil des Moores sollten wir meiden. Ebenso die Klippen. Herr Dix hat auch gesagt, dieses Land sei verkauft.“ Der Kahlschädlige strich sich den Bart. „Ja“, nickte er, „und der Eigentümer bin ich. Hat euch Herr Dix nie etwas von mir erzählt?“ Die Freunde starrten einander an. „Von Ihnen?“ rief Henri. „Nein! So wahr ich lebe! Keiner von uns wußte, daß es hier einen - einen Mann gibt, der der...“ „Der so einen Stock in der Hand trägt, wie?“ lächelte der Unheimliche. „Was ist denn das für´n Stock?“ fragte Micha ängstlich. „Ein Zauberstab, mit dem Sie Schlafstrahlen...“ Sofort gab ihm Henri einen Rippenstoß. Der Kleine verstummte. Die „Schlafstrahlen“ schien der alte Mann überhört zu haben. Er lachte. Er lachte so wohltönend und herzlich, daß er den anderen plötzlich ganz normal erschien. Sie begriffen nicht, warum sie sich eben noch vor ihm gefürchtet hatten. Mochte hier auch Seltsames geschehen sein - warum sollte es sich um ein Gespenst handeln? Der oft so furchtsame Pudel lief sogar zu ihm hin und beschnupperte seine Schuhspitzen! Nein, der alte Mann war sicher nur ein Kauz, ein menschenscheuer Eremit, ein Einsiedler, der sich in das einsame Moor zurückgezogen hatte. Wahrscheinlich, weil ihn die Leute wegen seines kahlen Schädels und seiner merkwürdigen Erscheinung immer verspotteten. „Das, was ich in der Hand halte, ist kein Zauberstab“, lächelte der hagere Riese. „Es ist ein Feldstock, ein wissenschaftliches Gerät zur Entnahme von Bodenproben.“ Er wies zu den Klippen hinüber: „Das ist mein Arbeitsgebiet!“ „Sind Sie Bildhauer?“ fragte Gérard einfältig. „Ach, du meinst, ich forme Köpfe oder Tiergestalten aus den Felsbrocken? Nein, nein. Ich bin Geochronologe!“ „Geochrono ...“, begann Henri.
„Spezialist für die Altersbestimmung von Steinen“, erklärte der Mann. „Brutto Charivari ist mein Name, Professor Doktor Brutto Charivari. Ich führe hier Probebohrungen und chemische Tests durch.“ „Chemische Bodentests, wollten Sie sagen?“ fragte Superhirn. Er betonte das Wort „Boden“. Professor Charivari warf ihm einen raschen Blick zu. Ja, natürlich“, erwiderte er. „Selbstverständlich. Bodentests ...“ Einen Moment schien er etwas verwirrt, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Liebenswürdig sagte er: „Wenn ihr hier im Hochmoor zeltet, sind wir ja eigentlich Nachbarn. Darf ich euch zu einer Tasse Tee einladen?“ Micha blickte auf seine Hände, als erwarte er, daß der Professor ein Tablett mit Tassen, Kanne, Löffeln und Zuckerdose aus der Luft herbeizaubern würde. „Gehen wir in meine Hütte!“ forderte Charivari die Gefährten freundlich auf. Er wandte sich um und ging voran. „Am Hinterkopf hat er keinen Bart“, flüsterte Gérard kichernd. „Still!“ zischte Superhirn. „Will der uns wirklich zum Tee einladen?“ wisperte Henri. Ebenso leise meinte Prosper: „Die Sache kommt mir nicht geheuer vor. Er tut ja sehr nett, dieser Stradivari ...“ „Charivari“, verbesserte Superhirn, kaum die Lippen bewegend. „Ich warne euch! Zeigt ihm nicht das geringste Mißtrauen! Tati, mach nicht so ein besorgtes Gesicht!“ „Mir fallen die Schlafstrahlen ein, der Kiemenhamster, und wenn ich an die unsichtbare Wand denke hauchte Tati. „Ich wette, der hat gar keine Hütte!“ sagte Henri gedämpft. „Er führt uns an ein tiefes Loch und läßt uns hineinstürzen!“ „Er weiß, daß wir Bekannte des Bauern Dix sind, der ihm dieses Gebiet verkauft hat“, erwiderte Superhirn. „Da wird er uns nicht so leicht verschwinden lassen.“ „Tatsächlich, da ist eine Hütte!“ rief Gérard laut. Es war ein windschiefes, niedriges Bretterhaus mit einem Moosdach. Zwischen einigen Büschen fiel es kaum auf. Professor Charivari blieb stehen. „Mein Traumschloß“, lächelte er. „Es ist kaum länger, breiter und größer als ich, aber da stört mich niemand, wenn ich meine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Papier bringe.“ Er öffnete die windschiefe Tür. „Bitte einzutreten! Herzlich willkommen!“ Da der Pudel furchtlos hineintappte, als vertraue er dem Mann - und als habe er die Aufforderung verstanden, drängte Micha auch gleich in die Hütte. Die anderen folgten. Das Heidehaus - wenn man's so nennen konnte - bestand aus einem einzigen Raum, der zugleich Küche, Schlafzimmer, Empfangsraum und Studio war. Nur Arbeits- und Waschraum schienen sich im angrenzenden Schuppen zu befinden. Man sah ein Feldbett, einen Schaukelstuhl, eine Art Seemannskiste, einen schmalen Schrank, einen Hocker, einen Schreibtisch aus roh zusammengefügten Brettern und Wandborde, auf denen alles mögliche stand: Konservendosen, Geschirr, ein Fernglas, Kerzen, verschiedene Schachteln aus Holz und Blech, vor allem aber Bücher, Bücher, Bücher... „Tja“, lächelte Professor Charivari. „Hier lebe ich nun. Sicher hättet ihr euch die Behausung eines Gelehrten moderner vorgestellt!“ „Das will ich nicht sagen“, erwiderte Superhirn höflich. „Viele Forscher müssen sich zurückziehen, um nicht gestört zu werden. Es kommt ja nur darauf an, was sie entdecken wollen.“ „Recht hast du, recht hast du!“ sagte Charivari schnell. „Es kommt darauf an, was ein Gelehrter macht! Ja, und meine Gesteinsforschungen...“ „Wo sind denn Ihre Proben davon?“ erkundigte sich Superhirn. „Nicht in dieser kleinen Hütte!“ lächelte der Professor. Er strich sich hastig über den kahlen Schädel.
„Bei den Klippen benutze ich eine Höhle; sie liegt allerdings ziemlich weit nördlich von hier. Eine Höhle, in der ich das Gefundene analysiere, das heißt untersuche. Meine Beobachtungen beschreibe ich dann in einer wissenschaftlichen Abhandlung, so nennt man das.“ Er wies auf einen Stoß vergilbten Papiers. Ehe Superhirn noch etwas fragen konnte, sagte er rasch: „Aber nun bereite ich uns den Tee. Es ist sehr nett von Herrn Dix, daß er euch nichts von mir erzählt hat; meine Anwesenheit soll sich nicht herumsprechen. Ohnehin habe ich Glück mit diesem Plätzchen, denn es gilt als verrufen. Der Todesstrand, die Heulenden Klippen, die turbulenten Winde... Aus Marac wagt sich jedenfalls niemand hierher.“ Henri und Tati blickten Superhirn an. Es schien ihnen, als habe Charivari das letzte absichtlich betont. Superhirn machte ein Gesicht, als habe er den gleichen Eindruck. „Drei Aluminiumbecher habe ich, drei Tassen - zwei allerdings ohne Henkel - und eine kleine Tonvase. Aus der werde ich trinken.“ Er schob den Hocker mit dem sonderbaren Teegeschirr heran. „Drei von euch können auf dem Feldbett sitzen, den anderen muß die Seemannskiste genügen. Den Schaukelstuhl hätte ich gern der jungen Dame angeboten, aber ich habe leider so lange Beine...“ Bald unterhielten sich die jungen Gäste so lebhaft mit dem Professor, als kannten sie ihn seit Jahren, ja, als sei er ihr liebster, väterlicher Freund - und als habe sie seine Erscheinung niemals erschreckt. Wenn Marcel ein „Superhirn“ war, so konnte man den Professor Doktor Brutto Charivari nur als ein „Super-Superhirn“ bezeichnen. Er gab auf jede Frage eine Antwort. Doch als Micha wieder von der unsichtbaren Wand im Freien anfing, von der riesigen Glasglocke, in der er wie ein Gefangener umhergestolpert war, veränderte sich Charivaris Gesicht. Sich hastig den fadendünnen schwarzen Bart streichend, sagte er: „Euer Superhirn hat schon etwas Richtiges geahnt, als er von einer Winderscheinung sprach. Wind ist ja auch unsichtbar, nicht? Wind ist bewegte Luft - und Luft kann man nicht sehen! Paßt auf, für mich als Gelehrten ist das ganz einfach, ich will es euch erklären: Der Wind hat über die Klippen geweht, aber die erwärmte Luft hat einen Wirbel ausgelöst, dessen Ränder wie eine Wand wirkten. Ich könnte euch das mit Pfeilen und Wellen auf einem Stück Papier aufzeichnen, aber ihr würdet euch nur langweilen. Es muß euch genügen, daß ich mich vor solchen Selbstverständlichkeiten an dieser Steilküste nicht fürchte. Ich bin schließlich ein Wissenschaftler. Ihr könnt also beruhigt sein.“ Der Pudel Loulou sprang auf Charivaris Schoß, als sei er für seinen Teil schon völlig beruhigt, und der alte Herr streichelte ihn. Das lenkte die anderen ab, so daß sie Superhirns argwöhnisches Gesicht nicht sahen. Superhirn dachte über die Erklärung des Professors nach. Und wenn einer die entdeckten Unstimmigkeiten an Superhirns Stirnfalten hätte ablesen wollen, wäre er gewiß erschrocken. Doch Tati rief munter: „Seht mal, wie zutraulich Loulou ist! Er tut, als sei der Professor sein bester Freund!“ „Hunde haben ein feines Gespür, einen ausgezeichneten Instinkt“, lächelte der alte Herr. Superhirn griff nach einem der vielen Bücher. „Gehört das zu Ihren Arbeitsunterlagen, Herr Professor?“ fragte er. „Gewiß, mein Sohn!“ Während Charivari sich mit seinen übrigen Gästen unterhielt, nahm Superhirn ein Buch nach dem anderen von den Borden. Endlich sagte Tati: „Ich glaube, es ist Zeit, daß wir gehen. Es war furchtbar nett, Herr Professor, daß Sie uns eingeladen haben! Kommen Sie auch mal zu uns? Wir zelten bei der Ruine! Vielleicht besuchen Sie uns mal zum Mittagessen?“ „Mit Vergnügen, mit Vergnügen“, erklärte Charivari. Er erhob sich mit einem Seufzer, den Pudel noch im Arm. „Seht euch nur vor, und geht nicht zu den Klippen“, mahnte er. „Wie gesagt, ich mache auch hier im Moor meine Tests. Das ist mit gewissen Gefahren für Nichteingeweihte verbunden, Wenn ihr etwas von mir wollt, bleibt jenseits des Baches und ruft nach mir, ich höre euch schon, wenn ich da bin. Also, auf gute Freundschaft, aber ich hoffe, daß ihr meine einzigen Besucher bleiben werdet!“ „Klar, es soll Sie niemand stören, wir verraten nichts!“ rief Gérard.
„Auf gute Freundschaft - und auf Wiedersehen bei uns!“ lächelte Tati. „Komm, Loulou“, sagte Micha. Er nahm Charivari den Pudel ab. „Das ist ein netter Onkel. Du siehst ihn ja bald wieder!“ Prosper machte eine respektvolle Verneigung. Als letzter verabschiedete sich Superhirn. Die Freunde liefen zum Bach, nahmen ihre Sachen und schlugen den Weg zur Ruine ein. „Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann“, lachte Tati. „Dieser Herr Charivari sah aus wie´n Geist aus dem Pulverfaß. Ich hab gedacht, er verwandelt mich auf der Stelle in eine Hexe! Dabei ist er ein Gelehrter, der Steinchen sammelt und in einem Vogelfutterhäuschen wohnt! Und daß er ein gutes Herz hat, merkte man an Loulous Verhalten. Er hat nicht ein einziges Mal geknurrt!“ „Ja, aber davon haben wir uns ablenken lassen“, meinte Henri. Wir hätten genauer fragen sollen - der Professor hätte uns sicher noch einiges erklären können.“ „Ja“, ging Gérard sofort darauf ein, „zum Beispiel wegen der Schlafstrahlen und wegen des Kiemenhamsters.“ „Das alles hat bestimmt viel mit Gesteinsforschung zu tun!“ unterbrach ihn Superhirn spöttisch. „Wie paßt denn das zusammen? Kinder, Kinder - ihr seid mir scharfe Beobachter!“ Alle blieben stehen und blickten ihn an. Auch Superhirn war stehengeblieben. „Stimmt nun doch etwas mit Professor Charivari nicht?“ wollte Henri wissen. „Die Sache mit der angeblichen Glaswand hat er uns doch erklärt!“ „Als ich Micha tröstete und mir was von Windwirbeln ausdachte, hat's der Kleine nicht geglaubt“, entgegnete Superhirn ernst. „Quatsch, hat Micha gesagt. Und ich meine, Micha hatte recht.“ „Der Professor hätte uns belogen?“ Gérard machte große Augen. „Er hat eine Ausrede gebraucht“, erwiderte Superhirn vorsichtig. „Wahrscheinlich vertraute er darauf, daß wir den Worten eines Gelehrten Glauben schenken würden. Dabei war die Erklärung völlig unwissenschaftlich.“ „Wieso?“ fragte Henri. „Durch einen Wirbel tritt keine Luftverfestigung ein“, sagte Superhirn. „Ich hatte mir gleich gedacht, diese unsichtbare Glocke müsse eine künstliche Abschirmung völlig neuer Art sein. Na, und was hörte ich noch, als ich mich schon verabschiedet hatte? Ich habe übrigens sehr feine Ohren!“ „Na?“ fragte Tati gespannt. „´Verflixt, der Schirm ging zu spät runter!´, das murmelte Charivari, bevor er hinter uns die Tür schloß“, sagte Superhirn bedeutsam. „Der Schirm ... ?“ fragte Micha verständnislos. „Kein Regenschirm“, fuhr Superhirn ärgerlich fort, „sondern ein riesiger, unsichtbarer Schutzschirm, der Unbefugte von der Hütte fernhalten soll. Er stülpt sich wie eine Glocke über die Umgebung, sobald sich jemand nähert!“ „Ja!“ rief Henri. „Das unsichtbare Ding soll einen Elektrozaun oder ähnliches ersetzen. Eine Steinmauer oder ein gewöhnliches Gitter wäre zu auffällig, es würde unerwünschte Besucher erst recht neugierig machen - hm. Was man nicht sieht, was man sich nicht erklären kann, ist leicht zu wie soll ich's ausdrücken?“ „Ist leicht auf eine Sinnestäuschung abzuschieben“, half Superhirn. „Selbst die gesamte Feuerwehr von Marac würde sich für besoffen halten, wenn sie nicht durch ein Hindernis käme, das keiner sehen kann.“ „Der Professor ist also kein Gesteinsforscher?“ fragte Gérard. „Die Altersbestimmung von Steinen und die Entnahme von Bodenproben sind keine Geheimnisse, die man auf so höllische Weise schützen müßte“, erwiderte Superhirn. „Wer eine unsichtbare Abschirmung solcher Art erfindet, überläßt Steinchenforschung getrost anderen Professoren. Übrigens: Die Luftverhärtung an sich wäre eine Weltsensation!“ „Aber er behält die Erfindung als sein Geheimnis zurück!“ sagte Prosper. „Warum wohl?“ „Weil er mit diesem Geheimnis ein weit größeres Geheimnis zu schützen hat“, vermutete Superhirn.
„Auch mit den Schlafstrahlen schützt er dieses unbekannte Geheimnis!“ „Meinst du den Kiemenhamster?“ fragte Micha. „Ach wo! Landtiere in Wassertiere durch KiemenverpfIanzung zu verwandeln, das versucht man seit Jahren schon in Amerika“, sagte Superhirn. „Sicher gehört das auch zu dem Rätsel im Moor. Aber es ist nicht das ganz große Geheimnis!“ „Das wir noch nicht kennen?“ überlegte Tati. „Vielleicht finden wir es in der Höhle, die er uns nannte.“ „Nie!“ lachte Superhirn. „Er hat von einer Höhle weiter nördlich gesprochen. Ich nehme an, da können wir suchen, bis wir schwarz werden. Auch das war weiter nichts als ein Ablenkungsmanöver!“ „Aber warum lebt ein Mann, der ein ganz großes Geheimnis zu hüten hat - also ein Weltgeheimnis, nicht? -, warum lebt so ‚n Professor in einer Bettelhütte?“ fragte Henri. „Gerade darum!“ rief Superhirn. „Er tarnt sich! Er täuscht einen menschenscheuen Gelehrten vor, der nach Steinchen bohrt oder an den Klippen rumkratzt! Ebensogut könnte er behaupten, er sei Schmetterlingssammler! „Meinst du, er ist ein schlechter Mensch?“ überlegte Tati. Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht glauben!“ „Ja, und er meinte es sogar ehrlich“ , erklärte Superhirn. „Das macht die Sache ja nur noch verzwickter! Sicher haben weder Herr Bertrand noch Herr Dix den leisesten Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Ich möchte wetten, sie ahnen nicht im Traum, was hier los ist. Dabei zeigten mir allein seine Bücher. . - „ „Was zeigten sie dir?“ rief Gérard begierig. „Eben daß die Sache mit den Gesteinsproben nur Tarnung ist. Sein Feldgerät, der Stock, war echt. Alles andere halt ich für Mumpitz. Ihr wißt, ich kann dynamisch lesen, also hab ich mir sehr rasch eine Vorstellung von seiner Bücherei gemacht.“ „Und was kam dabei heraus?“ fragte Tati. „Während ihr euch unterhalten habt, schnüffelte ich Buch für Buch durch“, fuhr Superhirn fort. „Ich fand alles mögliche, nur nichts über Gesteine, Meteorologie, oder gar über Strahlen und Organverpflanzung. Statt dessen blätterte ich in einem alten Kochbuch, in einem dicken Briefmarkenkatalog, einer total veralteten Schwarte über Großturbinen, also Kraftmaschinen, verschiedenen, längst nicht mehr gültigen Reiseführern, in Büchern über Gartenkunde - und in zerfledderten Ausgaben der Dramen großer Dichter. Kurz, ich fand dasselbe, was man in einem Ramschladen findet.“ „Mensch, das könnte mit zu dem Geheimnis gehören“, vermutete Henri. „Dachte ich auch!“ nickte Superhirn. „Ich achtete darauf, ob Buchstaben unterstrichen, bestimmte Stellen durchstochen seien, ob manche Seiten Eselsohren hätten - ich habe nichts bemerkt. Nur eins, und das mit Sicherheit. Die Bücher waren so verstaubt, als seien sie monatelang nicht angerührt worden. „Was schließt du daraus?“ fragte Prosper. „Daß die alten Schmöker auch nur zur Tarnung da sind. Charivari verläßt sich darauf: Wenn wirklich ein Besucher kommt - Herr Dix zum Beispiel -, guckt der nicht in die Bücher hinein. Er sieht nur, daß da ein Haufen Lesbares steht und liegt, wie's sich eben für einen komischen Professor gehört. Er hat auch einen anderen Fehler gemacht!“ Tati runzelte die Stirn. „Welchen?“ fragte sie. „Ihr seid mir gute Beobachter, ich sag's ja!“ spöttelte Superhirn. „Denkt mal nach! Ist euch nichts aufgefallen?“ „Wüßte nicht...“, murmelte Gérard. Die anderen schwiegen. „Er hat den Teekessel auf seinen Schreibtisch gestellt, auf den Bretterschreibtisch - seit wann ist das ein Herd? Dann hat er den Teebeutel reingehängt - fertig war das Getränk! Und schön heiß, nicht? Micha hat sich die Zunge verbrannt!“
„Junge, Superhirn, du hast recht!“ rief Tati fassungslos. „Aber kann er das Wasser nicht vorher warm gemacht haben?“ „Womit und worauf?“ erwiderte Superhirn. „Ich habe mich überall umgesehen. Ich habe den Ofen angefühlt, er war kalt. Und der Teekessel kann vorher nicht heiß gewesen sein, sonst hätte Charivari ihn nicht mit beiden Händen angefaßt. Ist euch an dem Ofen nichts aufgefallen?“ „Es war so´n alter, runder, eiserner Ofen, wie man ihn manchmal im Film sieht, im Wildwestfilm“, meinte Henri. „Er sah so aus!“ berichtigte Superhirn. „Aber er schien ziemlich neu zu sein - und für die kleine Hütte war sein Durchmesser reichlich groß!“ „Rätsel, Rätsel, nichts als Rätsel!“ seufzte Prosper. „Ja, wahrhaftig“, nickte Superhirn. In dem Bretterschreibtisch könnte ein Mikrowellen-Herd verborgen sein. Wir sind einem Geheimnis auf der Spur - ich nehme an, einem ganz, ganz großen Geheimnis! Wollt ihr immer noch, daß wir im Hochmoor bleiben?“ „Ja!“ sagten alle wie aus einem Munde. Sogar Micha hatte zugestimmt. „Gut“, erklärte Superhirn befriedigt. „Ich wäre nicht ,Superhirn', wenn es mich nicht reizen würde, dieses Geheimnis zu lüften!“ „Und ich wäre nicht Gérard, wenn ich jetzt nicht Hunger hätte“, lachte Gérard. „Los, Kinder, gehen wir in unser Lager!“ 6. „Lauft um euer Leben!“ Um die Gemüter wieder ins Gleichgewicht zu bringen, kochte Tati an diesem Abend eine große Menge Mandelpudding mit Rosinen. Nach dem Essen lagen die Gefährten in einer Sandmulde behaglich um ihr kleines Lagerfeuer. Micha streichelte Loulou, Gérard spielte Gitarre, Prosper, Henri und Tati sangen leise mit. Plötzlich richtete sich der Kleine auf. Er lachte. Er lachte, als habe jemand etwas Lustiges gesagt. Gérard setzte die Gitarre ab, Prosper, Henri und Tati hörten auf zu singen. „Was hast du denn?“ fragte Tati erstaunt. Ach weiß nicht, mir kommt's vor, als hätte ich das alles nur geträumt!“ kicherte Micha. Henri wollte eine scharfe Bemerkung machen, doch Superhirn sagte ruhig: „Der Kleine hat recht. Wenn ihr ehrlich seid, werdet ihr zugeben müssen, daß ihr das gleiche denkt. Unwahrscheinliche Dinge wollen einem einfach nicht in den Kopf.“ „Ich weiß, was du meinst“, nickte Tati. „Wir sitzen hier am Lagerfeuer, Gérard spielt Gitarre, Micha streichelt Loulou. „Und ich hab den herrlichen Nachgeschmack des Puddings auf der Zunge“, grinste Prosper. „Eben!“ Superhirn richtete sich auf. „Gitarre, Pudding, Lagerfeuer, Pudel - da haben wir wieder unsere gemütliche Welt. Muß einem da nicht alles andere wie ein Traum vorkommen?“ „Vielleicht war's doch nur Einbildung“, sagte Tati, nur zu bereit, das Unheimliche zu verdrängen. Sie lachte. „Superhirn hat uns durcheinandergebracht. Sein Kopf ist ne Giftküche, und wir atmen dauernd giftige Gedanken ein!“ „Bravo!“ rief Gérard. „Weshalb sollte das mit den Windwirbeln nicht stimmen? Und wie wäre denn die rätselhafte Abschirmung überhaupt ausgelöst worden?“ „Der Pudding macht aus Forschern Schwachköpfe!“ erwiderte Superhirn verächtlich. „Vorhin wart ihr noch Feuer und Flamme, das Geheimnis zu lüften, und jetzt streicht ihr euch über eure vollen Bäuche. Ich meine: Der Professor läßt den unsichtbaren Schirm herunter, sobald sich jemand der Hütte nähert. Diesmal hat's nicht geklappt - oder doch erst so spät, daß Micha in die komische Glocke kam. Wie die Luft verfestigt wird, weiß ich nicht. Zur Auslösung der Sicherheitsvorkehrung dient wahrscheinlich ein Dopplerradar. So ‚n Dopplerradar besteht aus Sender und Empfänger wie das übliche Radar. Es ist dazu geeignet, bewegliche Objekte - Menschen, Tiere, Autos etwa wahrzunehmen. Es löst Alarm aus oder setzt eine Art Schalthebel - man nennt sie Relais - in Bewegung, oder es tut beides. Wie gesagt, diesmal hat diese Anlage zu langsam gearbeitet, und der
Professor mußte wohl oder übel Gastgeber für uns spielen.“ „Wenn du das so erklärst, leuchtet einem das immer ein“, meinte Prosper. „Denke ich aber daran, wie still und leer das Hochmoor ist und daß man nirgends einen Draht, einen Mast, ein Transformatorenhäuschen, ein Kanalisationsrohr, einen Vermessungsstab sieht, also nichts, was auf Technik hindeutet - dann möchte ich wirklich glauben, die Einsamkeit hat mich zum Spinner gemacht!“ „Ach, wir sehen Gespenster“, meinte Tati unwillig. „Stimmt schon, was Prosper sagt. Die Gegend ist einsam. Der Professor wird gewiß ein harmloser Mann sein. Zugegeben, er sieht merkwürdig aus. Aber das ist kein Grund, ihm ein Riesengeheimnis anzudichten. Übrigens leben wir ja alle noch!“ „Und der Kiemenhamster lebt vielleicht auch noch“ erinnerte Superhirn düster. „Ihr habt daß Wasserbecken vergessen!“ Tati stand rasch auf. Ja! Das ist der blödeste Alptraum, den ich je gehabt habe! Wir haben uns da allesamt verguckt! Möchte wetten, es gibt gar kein Wasserbecken - geschweige denn einen Kiemenhamster, der darin mit den Fischen lebt!“ Superhirn schoß hoch. „Ihr seid verwirrt! Nehmt eure Taschenlampen! Wir gehen sofort zu dem Becken hin, und ich zeige euch den Goldhamster im Wasser! Ich will, daß ihr euren Eindrücken traut und ihnen treu bleibt. Sonst ist ja nie im Leben etwas mit euch anzufangen! „Ich bin dabei!“ erklärte Gérard. „Ich auch!“ sagte Henri entschlossen. „Na, allein mit Micha und Loulou bleibe ich nicht hier“, seufzte Tati, als sie sah, daß auch Prosper aufgestanden war. Alle holten ihre Taschenlampen, dann setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. „Keine Angst, ich hab mir die Richtung gemerkt“, beruhigte Superhirn. „Da ist der verkrüppelte Baum, daneben das niedrige Buschwerk. - So, da wären wir!“ Die Lichtkegel der Lampen huschten über den Boden. Nach einer ganzen Weile räusperte sich Henri: „Und wo ist das Becken?“ fragte er. Die Gefährten starrten auf eine sandige Fläche. „Ich hätte schwören mögen, daß es hier war“, murmelte Superhirn. „Also doch ein Alptraum“, meinte Tati. „Einer hat sich was eingebildet und hat die anderen damit verrückt gemacht. Und dann haben wir fleißig davon geträumt.“ Sie lachte. Superhirn beugte sich nieder. „Leuchtet mal alle her!“ befahl er. „Was sind das für Spuren?“ „Von Panzern, würde ich sagen“, bemerkte Henri verdutzt. „Meinst du, daß es so kleine Panzer gibt?“ fragte Superhirn Das müßten dann schon Spielzeugpanzer gewesen sein!“ Er nahm sein Taschenmesser und stach ein paarmal in den Boden. Plötzlich sagte er: „Das Becken war hier!“ Er scharrte eifrig mit der Klinge. „Da, ein Stück vom Rand . . .“ Sich aufrichtend, fügte er hinzu: Jemand hat die Anlage vernichtet, entweder, weil er sie verraten glaubte, oder weil er fürchtete, sie könne noch entdeckt werden!“ „Das Rinnsal fließt jetzt anders!“ stellte Henri fest. „Und hier ist eine Mulde! Da kommt bestimmt der Sand her, mit dem das Becken zugeschüttet wurde.“ „Ich begreife ja, daß der Kiemenhamsterbesitzer mit seinem Unfug unentdeckt bleiben wollte“, meinte Prosper. „Ob er uns belauert hat? Er könnte das Becken vernichtet haben, als wir beim Professor waren!“ „Wenn ich nur wüßte, was das für Spuren sind“, überlegte Superhirn. „Hier sind Spatenkratzer!“ entdeckte Gérard. „Oder Abdrücke von einem anderen Gartengerät!“ „Streitet euch jetzt nicht darum“, mahnte Tati. „Ehrlich gesagt, bin ich froh, daß das scheußliche Becken weg ist. Der Besitzer hatte vielleicht Angst, wir könnten ihn dem Tierschutzverein melden. Kommt! Micha muß in den Schlafsack! Er lehnt sich schon ganz schwer an meine Schulter.“ „Pst!“ machte Gérard plötzlich. „Hört ihr was?“ „Wo ist eigentlich Loulou?“ fragte Henri rasch. „Ich denke, in westlicher Richtung“, meinte Superhirn, nachdem er eine Weile gelauscht hatte. „Er
bellt! Ist es das, was du gehört hast, Gérard?“ „Klar“, erwiderte Gérard. „Ich wunderte mich nur, warum er davongelaufen ist! Das Bellen klingt ziemlich entfernt!“ „Loulou ... !“ schrie Micha, der auf einmal hellwach war. „Wir rennen ihm nach!“ entschied Tati. „Ich will nicht, daß er Professor Charivari stört!“ Hastig sprangen die Gefährten über das Hochmoor. „Etwas nach rechts!“ rief Tati. „Da muß Loulou sein. Ich höre das Bellen deutlich!' „Wartet!“ jammerte Micha. „Ich bin hingefallen! So wartet doch! Ich komme nicht nach!“ „Hab ihn schon aufgehoben!“ meldete Gérard. Plötzlich hörten die beiden letzten irgendwo vorn eine gellenden Aufschrei. „Das war Tati!“ keuchte Gérard. „Schneller, Micha schneller!“ Sie erreichten die Spitzengruppe, aber nicht indem sie sie einholten. Sie stolperten über Henri und Superhirn, die im Heidekraut lagen, und flogen längelang hin „Liegenbleiben!“ zischte Superhirn. „Seht euch das an. Seht, was da vorbeizieht!“ Auch Tati lag auf der Erde. Nur der Pudel, ein schwarzes Etwas, hopste wie wild im fahlen Licht der Nacht umher Und nun sahen auch Gérard und Micha, was den Hund so sehr erregte: Durch die Gräser ratterten auf Raupenketten seltsame kleine Gebilde; sie waren etwa so groß wie Hocker, hatten Türme und kastenförmige Aufsätze mit je einem Scheinwerfer zuoberst und je zwei bläulich schimmernden, metallumrandeten Stiel- oder Glotzaugen darunter. Da sich die schaurigen Dinger auf ihrem unebenen Weg ab und zu gegenseitig beleuchteten, sah man, daß an Kugelgelenken ausfahrbare „Nürnberger Scheren“ befestigt waren. Diese trugen vorn jeweils einen Greifarm, einen Bohrer, eine Schaufel, einen Bagger oder andere Geräte. „Ein Trupp von kleinen Robotern“, flüsterte Superhirn. ,Er ist ausgesendet worden, um das Becken zu vernichten!“ „Von wem?“ hauchte Henri. „Das können wir feststellen“, meinte Superhirn. Wir brauchen den ferngesteuerten Apparaten nur nachzugehen.“ Plötzlich stieß er einen Laut der Überraschung aus. „Was ist denn?“ fragte Tati. „Einer von den Roboterkästen begann Superhirn. Seine Stimme klang gepreßt: „Einer hält mit der mechanischen Greifhand ein kugelförmiges Fischglas am Henkel hoch über dem Turm!“ „Wieso hoch über dem Turm?“ murmelte Henri. „Um den Scheinwerfer und die bläulichen Fernsehaugen nicht zu verdecken“, sagte Superhirn. „Aber guckt doch, was in dein Fischglas ist!“ Wortlos starrten die Gefährten auf den Roboter mit der zweigliedrigen Greifhand. Auf und nieder, auf und nieder gingen die Scheinwerfer der surrenden, ratternden Kästen, und plötzlich wurde das Fischglas in der Greifhand des einen beleuchtet: Man sah das Wasser in dem Glas schwappen. Durch das Rütteln des Kastenroboters auf seinen Ketten wurde ein schattenhaftes Wesen im hochgereckten Behälter mitgeschüttelt. „Der Kiemenhamster!“ schluckte Henri entsetzt. „Die Roboter haben das Becken vernichtet, den Kiemenhamster aber geborgen. Sie bringen ihn zu Professor Charivari, und damit ist bewiesen...“ „Nichts ist bewiesen!“ sagte Superhirn entschlossen. Er stand auf. „Aber ich gehe der Sache jetzt auf den Grund!“ Henri hielt sich neben ihm. „Die Roboter muß der Professor ja in die Hütte lassen“, überlegte er. „Da kann die Abschirmung nicht runtergehen, und wir schmuggeln uns mit in das Schutzgebiet ein. Dann stehen wir arglos vor der Hütte und fragen den Professor, was das alles bedeuten soll. Umbringen kann er uns ja nicht!“ „Denke ich auch“, murmelte Superhirn. Sie hatten die letzten Roboter erreicht, und Superhirn schaltete die Taschenlampe an. Im gleichen Moment vermischte sich Loulous jaulen mit Henris Gebrüll. Superhirn stieß vor Schreck nur ein Ächzen aus.
Die Roboter schwenkten die Türme mit den bläulichen Glotzaugen herum und starrten die Verfolger an. Die Lichtkegel der Scheinwerfer tasteten über das Moor. Einer strahlte Henri voll an. Aber das war noch nicht das Schlimmste! Die Roboter wendeten auf ihren Ketten, als wollten sie zum Angriff ansetzen. In den Scheinwerfern sah man das Fischglas mit dem schrecklichen Inhalt. „Weg!“ brüllte Superhirn. „Lauft! Lauft um euer Leben!“ Mit hochgejagten Motoren und rasselnden, klirrenden Ketten rasten die Roboter hinter den Fliehenden her. Vor Superhirn und Henri lief der Pudel. Tati, Gérard, Prosper . er und Micha flitzten aus ihren Deckungen hervor, „Sie holen uns ein!“ schrie Micha. „Langsam“, keuchte Superhirn, „ich glaube, die Gefahr ist vorbei. Sie sind umgekehrt! Sie wollten uns nur verjagen!“ „Nur!“ japste Tati. „Nur!“ Die Gefährten erreichten das niedergebrannte Lagerfeuer. Während sich die einen hinhockten, um zu verschnaufen, stocherte Henri stirnrunzelnd in der Glut. Endlich sagte Superhirn: „Glaubt ihr jetzt, daß wir uns nichts eingebildet haben? Alles, was bisher geschah, reimt sich irgendwie zusammen! Irgendwie! Ich bin davon überzeugt, daß der Professor die Roboter von der Hütte aus ferngelenkt hat, und ich wette, sie sind auch dahin zurückgekehrt!“ „Zwölf Schnackel-Apparate in der kleinen Hütte?“ rief Gérard. „Du machst mir Spaß. Ich habe keinen einzigen Roboter gesehen, als wir dort Tee tranken! Oder meinst du, Charivari hat die Einzelteile in seiner Seemannskiste verwahrt und baut sie zu wandernden Maschinen zusammen, wenn er sie braucht?“ „Was ich meine, ist im Augenblick gleichgültig“, sagte Superhirn ärgerlich. Jedenfalls ist uns noch einmal bestätigt worden, daß das Hochmoor ein schreckliches Geheimnis birgt! Niemand von uns kann jetzt noch daran zweifeln!“ „Genau!“ rief Tati wütend. „Aber das verbessert unsere Lage nicht. Im Gegenteil! Geheimnis? Gut und schön! Auch merkwürdige Erlebnisse will ich gelten lassen, wenn ich sicher bin, daß ich heil davonkomme. Diese Geschichte mit den Robotern ändert alles. Sie haben gefährliche Geräte, sie können ferngesteuert werden, wie du sagst, und sie hätten uns beinahe angegriffen!“ „Wer bürgt uns dafür, daß sie uns heute nacht nicht im Schlaf überfallen?“ fragte Gérard düster. „Wenn sie uns was tun wollten, so wär vorhin Gelegenheit genug gewesen“, entgegnete Superhirn. „Charivari oder wer immer diesen Trupp gesteuert hat - betrachtet uns nicht als Feinde.“ „Als was denn dann?' erboste sich Gérard. „Als Trottel, die sich alles gefallen lassen? Erst legt er uns für vierundzwanzig Stunden schlafen, ohne daß wir wissen, wie er das gemacht hat. Dann dürfen wir uns über seinen Kiemengoldhamster vor Ekel schütteln; schließlich sperrt er Micha in eine unsichtbare Riesenglocke, beschwindelt uns nach Strich und Faden und jagt uns mit ´ner Horde von Robotern übers Moor! Geht man so mit seinen Freunden um?“ „Also, ehrlich gesagt“, begann Prosper, „ich zweifle daran, daß wir das Rätsel lösen können. Wir sollten unser Zeug zusammenpacken und in aller Stille abhauen!“ „Das ist doch nicht dein Ernst?“ rief Henri. „Wenn es nicht sein Ernst ist, dann ist es meiner“, erklärte Tati entschieden. „Wir legen uns jetzt hin, schlafen ein paar Stunden, und in der Frühe holt jemand Herrn Bertrand, damit er uns im Auto von hier wegfährt. Irgendwo hinter Marac werden wir sicher einen besseren Zeltplatz finden. Und wenn er nicht besser ist, so wird er wenigstens nicht so unheimlich sein!“ Superhirn nickte. „Gut, wenn ihr wollt. Vielleicht seht ihr die Dinge bei Tage ganz anders. Wenn nicht, so weiß ich zur Not ein hübsches Plätzchen: in Monton, im Park meines Onkels. Da gibt's sogar einen Teich, auf dem man Kahn fahren kann. Schlaft schön! Henri, du bleibst hier! Wir entfachen das Feuer neu und halten abwechselnd Wache!“
7. Das Geheimnis der alten Hütte Als es Tag wurde, herrschte über dem westlichen Teil des Hochmoores Nebel. Tati, Micha und Loulou schliefen in dem einen Zelt, Gérard und Prosper in dem anderen. Henri war nach seiner letzten Wache am Feuer eingenickt. Superhirn bemühte sich, ein paar Zweige von den knorrigen Büschen zu brechen. Als er genügend Holz im Arm hatte, trat er den Rückweg an. Plötzlich blieb er wie erstarrt stehen. Wie sah denn die Nebelwand vor der Steilküste aus? Daran, daß es natürlicher Nebel war und kein künstlicher Hokuspokus, zweifelte Superhirn nicht. Doch der Nebel wurde hier und da gleichsam durchlässig. Nicht etwa, daß er ins „Ziehen“ gekommen wäre oder sich unregelmäßig aufgelöst hätte, beispielsweise in Schleier, Fetzen oder traumgleiche Zufallsgebilde . Nein! Superhirn runzelte die Stirn. „Das sieht aus wie Tunnels“, murmelte er vor sich hin, „wie Röhren, die mit riesigen Trinkhalmen in die Nebelwand hineingeblasen wurden!“ Er stand und überlegte. Unbekannte Strahlung? Oder unsichtbare Infrarotscheinwerfer, die mit ihrer Wärme den Nebel auflösen sollten? Aber wem konnte es nützen, Nebel über dem Klippengebiet zu beseitigen? Das Hochmoor war doch kein Flugplatz! In Gedanken versunken, ging Superhirn zum Lager zurück. Eben lief Tati mit ihren Waschsachen zur Nische in der Ruine, in der die Quelle floß. „Ich habe den Wasserkessel gefüllt!“ rief sie. „Weck bitte Gérard und Prosper! Sie sollen schon mal anfangen, Frühstück zu machen. je eher wir von hier wegkommen, desto besser!“ Superhirn erwiderte nichts ... Er beobachtete den Nebel, der sich immer mehr lichtete: Es bestand für ihn nicht mehr der geringste Zweifel daran, daß die Wand sich nicht von selber auflöste. Doch was hätte es für einen Zweck gehabt, den Freunden seine Beobachtungen mitzuteilen? Sie hatten die Nase voll, sie wollten das Hochmoor verlassen. Und schon sagte Tati: „So, nun wird gepackt! Superhirn, bist du so nett und fährst mit dem Rad zu Herrn Bertrand, damit er uns abholt? ,Aber wo soll er uns hinbringen?“ fragte Henri. „War das dein Ernst, Superhirn? Ich meine, daß wir in Monton bei deinem Onkel . . .“ „Klar!“ erwiderte der Freund. „Was ich gesagt habe, hab ich gesagt! Ich schwinge mich jetzt also auf mein Stahlroß und schnappe mir Herrn Bertrand!“ Doch die Gruppe saß bis zum frühen Nachmittag auf ihrem Gepäck, und Superhirn war längst wieder zurück, ehe Herr Bertrand kam. Er schaukelte und knatterte auf einem alten Motorrad heran. „Kinder“, rief er. „Ausgerechnet heute wollt ihr weg? Was ist denn los? Habt ihr euch gezankt?“ „Nein“, rief Tati rasch. Superhirn wird Ihnen ja erzählt haben, daß er uns zu seinem Onkel nach Monton eingeladen hat!“ „Sicher, sicher!“ rief Herr Bertrand bestürzt. „Aber muß das gerade heute sein? Mein Kombi ist kaputt, den kleinen Wagen hab ich verborgt, und auf dem Motorrad kann ich keine sechs Personen mit drei Zelten befördern!“ „Es geht ein Bus nach Monton, auf halber Strecke nach Marac ist die Haltestelle“, sagte Superhirn. „Der nimmt auch mein Rad mit!“ „Ach ja, das Rad wär ja auch noch mitzunehmen“, überlegte Herr Bertrand. „Wollt ihr nicht doch lieber so lange bleiben, bis mein Kombi wieder heil ist?“ „Nein“, entgegnete Tati entschieden. „Wir bedanken uns sehr, Herr Bertrand, es war schrecklich schrecklich nett hier, aber Micha ist ein bißchen erkältet, und da uns Superhirn nun mal eingeladen hat. . .“ „Verstehe, ihr wollt auch etwas Abwechslung in den Ferien haben“, nickte Herr Bertrand. „Hm, junge Leute sind schnell in ihren Entschlüssen.“ Er lachte. „Gut, dann schick ich euch meinen Freund
Richard, der wird euch das Gepäck zur Bushaltestelle fahren. Aber ihr kommt doch von Monton aus noch mal bei uns vorbei?“ „Natürlich“, lächelte Tati. „Wir müssen uns ja noch bei Ihrer Frau bedanken - und bei Herrn Dix!“ „Also, dann - macht's gut!“ rief Herr Bertrand. Er wendete das Motorrad und fuhr der fernen Umzäunung zu. Die Freunde sahen noch, wie er den Kopf schüttelte. „Soll er denken, was er will“, erklärte Tati. „Hauptsache, wir kommen hier weg! Wir wollen auch niemandem etwas von unseren Erlebnissen erzählen! Ich möchte nämlich nicht, daß uns einer für verrückt hält!“ In diesem Augenblick erscholl hinter ihnen ein Getöse, ein Brausen und Donnern, als flögen die Klippen zum Himmel. Der Zwergpudel verschluckte sich vor Schreck, so daß er mehr hustete als bellte. Tati und die fünf Jungen drehten sich um. Sie sahen eine Feuerzunge über dem Meer in die Höhe schießen. Der Nebel hatte sich völlig gelichtet, Hinter dem höher und höher sausenden Feuerschweif bildete sich im blauen Himmel eine immer länger werdende weiße Säule. „Ein Seenotsignal!“ hauchte Gérard. „Quatsch“, räusperte sich Henri. „Hast du schon mal so ein Notsignal gesehen, so ein...“ Er suchte nach Worten. „Die weiße Säule bleibt in der Luft stehen!“ staunte Prosper. Micha klammerte sich an Tati, und Tati rief Superhirn fast vorwurfsvoll zu: „Was ist denn das nun wieder?“ „Auf jeden Fall kein Kiemenhamster“, murmelte Superhirn spöttisch. Er beobachtete die Erscheinung angespannt. „Du weißt doch sonst alles!“ ärgerte sich Tati. „Jetzt, wo wir den Spuk hinter uns bringen wollen, stehst du da wie diese Säule. Nur kleiner und dünner! Ach, ich wollte, Herrn Bertrands Freund käme schnell mit dem Wagen!“ „Und ich wollte, er käme nicht“, sagte Superhirn mit verblüffender Entschiedenheit. „Was da eben hochging, muß eine Rakete, ein Raumschiff, gewesen sein! Und solche Dinge sind mein Hobby!“ „Dein Hobby!“ rief Gérard. „Du meinst, deinem Hobby zuliebe hätte hier einer ‚n Raumschiff gestartet? Bist wohl größenwahnsinnig!“ „Außerdem ist im Hochmoor keine Abschußrampe!“ setzte Henri hinzu. Prosper grinste, obwohl er noch ganz bleich war. Ruhig erklärte Superhirn: „Daß im Hochmoor keine Abschußrampe ist, hab ich auch schon bemerkt. Ihr seid reichlich schlau, Freunde. Der Kondensstreifen, also die weiße Säule, steht etwa dreitausend Meter über dem Wasser, soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Der Streifen endet schätzungsweise in zwölftausend Meter Höhe - hm.“ Er überlegte einen Moment und fügte hinzu: „Wäre nicht auch eine unterseeische Abschußrampe denkbar?“ Henri, Gérard und Prosper machten große Augen. Auch Tati gewann plötzlich ihre Neugier zurück. „Meinst du etwa, das könnte das große Geheimnis sein?“ „Der Gipfel des Geheimnisses“, nickte Superhirn. „Der Hauptpunkt, dem alles, was wir hier erlebt haben, zuzuordnen ist. Wie, das weiß ich allerdings noch nicht!“ „Aber ich will es rauskriegen!“ rief Henri. Seine Augen funkelten wieder vor Unternehmungslust. „Nehmt´s mir nicht übel, ich bleibe hier!“ „Wenn's ein Raumschiff war meinte Gérard. „Hm. Tja. Das ist was Wichtigeres als Superhirns Onkel! Ich schätze, im Teich von Monton gibt es keine unterseeische Abschußrampe!“ „Das möcht ich wetten!“ sagte Prosper. „Wir hätten unsere Zelte nicht abbrechen sollen. Ich würde jetzt auch gern bleiben!“ „Was?“ rief Micha. „Ich soll wohl allein nach Monton? Kommt nicht in Frage! Ich will das Raumschiff von nahem sehen!“ Superhirn lachte. „Ob dir dieser Wunsch in Erfüllung geht, weiß ich nicht. Aber wir behalten dich gerne hier. Die Frage ist: Was beschließt Tati?“
„Ich füge mich der Mehrheit“, sagte Tati. Sie lächelte sogar. „Soviel Schneid wie ihr hab ich schon lange. Dumm ist nur, daß Herrn Bertrands Freund unser Gepäck bald holen wird!“ „Quatsch! Rein mit dem Gepäck in die Ruine! Wir verbergen es in einer Nische!“ schlug Superhirn vor. „Ich lege meine alte Mütze vor den Eingang und steck einen Zettel rein: , Vielen Dank, Herr Richard, wir haben zufällig einen Lastwagen gefunden, der uns nach Monton bringt. Grüßen Sie Herrn Bertrand und Frau, Herrn Dix - und so. Sollen sie denken, wir seien über alle Berge. Ich will unbedingt zu den Klippen, jede Sekunde scheint mir wichtig. Und ich möchte vermeiden, daß uns jemand nachläuft!“ Plötzlich hatten alle ihre Ängste, ihre Bedenken und ihren Abfahrtsentschluß vergessen. Eilig folgten sie Superhirns Vorschlag, das zusammengeschnürte Gepäck und das Rad in der Ruine und in hohen, dichten Büschen zu verbergen. Superhirn schrieb die Nachricht an Herrn Bertrands Freund, steckte sie in seine alte orangefarbene Mütze und legte sie - mit einem Stein beschwert - vor die Ruine. „Und was nun?“ fragte Henri begierig. Jetzt gehen wir schnurstracks zu Professor Charivari“, grinste Superhirn. „Hat er nicht gesagt, wir dürften ihn jederzeit besuchen? Ich möchte sehen, was er für ein verdutztes Gesicht macht . . .“ Die sechs Freunde mit ihrem Pudel erreichten den kleinen Bach. „Professor Charivari!“ riefen sie im Chor. „Pro-fes-sor Cha-ri-va-ri ... !“ Doch sie mochten schreien, so laut sie konnten - der Mann mit dem Fadenbart und dem gelben Kahlschädel ließ sich nicht blicken. „Er hat doch aber gesagt, wir sollen am Bach nach ihm rufen, wenn wir ihn sprechen wollen“, meinte Micha. „Wenn er da ist!“ fügte Gérard bedeutsam hinzu. „Kinder! Könnte er nicht in dem Raumschiff geflogen sein?“ fragte Prosper in plötzlicher Eingebung. „Der Pudel!“ rief Henri. „Er läuft ins westliche Moor, als gab’s keine unsichtbare Wand!“ „Stimmt“, nickte Superhirn. „Möglicherweise hat Charivari es nicht mehr nötig, die Stelle abzuschirmen, und vielleicht ist er wirklich nicht mehr da!“ „Na und? Was sollen wir dann noch hier?“ erkundigte sich Henri. Seine Stimme klang enttäuscht. „Wir könnten alles in Ruhe erforschen“, meinte Tati, „und wir brauchten uns vor unheimlichen Überraschungen nicht zu fürchten!“ „Das wäre immerhin auch etwas wert!“ sagte Superhirn. „Kommt, wir gehen zur Hütte!“ Ohne auf ein sichtbares oder unsichtbares Hindernis zu stoßen, erreichten die sechs das windschiefe Bretterhaus mit dem Moosdach. Es stand da so still und einsam zwischen den Sträuchern, als hätte niemals jemand darin gewohnt. „Herr Professor Charivari! Hallooo!“ krähte Micha. In der Hütte regte sich nichts. Henri klopfte mit dem rechten Zeigefinger an die Tür. „Au!“ rief er, die Hand erschrocken zurückziehend. „Was hast du?“ fragte Tati erstaunt. Henri steckte den Fingerknöchel in den Mund. „Es war, als hätt ich gegen eine Panzertür geschlagen“, knautschte er. „Aber das ist doch ein morsches Holzding“, rief Gérard. „Da pfeift der Wind durch alle Ritzen!“ Er hob die Faust und schlug gegen die Bretter. Nun schrie auch er: „Au! Au! Verflixt!“ Sich die rechte Faust mit der linken Hand reibend, hüpfte er auf einem Bein umher. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Superhirn stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Sofort sagte er: „Zwecklos. Sieht zwar aus wie brüchiges Holz, ist aber hart wie Tresorstahl. Da kommen wir nicht hinein!“ Er ging zum Fenster. Von der anderen Seite meldete Gérard: „In den Schuppen kann ich auch nicht rein, dabei hängt die
Tür in den Angeln! Sieht sogar aus, als sei sie einen Spalt breit offen!“ „Hier liegt eine Axt!“ rief Gérard. „Bring sie her!“ befahl Superhirn. Alle versammelten sich vor dem Fenster. „Was willst du tun?“ fragte Tati. „Etwa die Scheibe einschlagen?“ Schweigend nahm Superhirn Gérard, die Axt ab und drückte den Stiel gegen das Glas. Was denn? Das geht nicht kaputt?“ wunderte sich Micha, der schon öfter mit seinem Ball Fensterscheiben eingeworfen hatte. „Ist es aus Plastik?“ fragte Henri. Er befahl den anderen, zurückzutreten, faßte die Axt am Stiel, holte aus und ließ die schwere Klinge gegen das Fenster sausen. Der massive Stiel zerbrach, der Stumpf mit der Klinge wirbelte durch die Luft! Waff! Waff! bellte Loulou erschrocken. Aber das Glas in dem schiefen, kleinen Fenster war heil geblieben. Keuchend brachten Gérard, Henri, Prosper und Micha einen großen Ast geschleppt. „Den fanden wir unter einem Baum!“ prustete Henri. „Wir benutzen ihn als Ramme.“ „Gebt euch keine Mühe“, erklärte Superhirn. „Die Hütte ist uneinnehmbar!“ „Uneinnehmbar?“ rief Tati. „Wie der Stahlschrank der Bank von England“, grinste Superhirn. Alle betrachteten die windschiefe, jämmerliche Hütte. „Dieses Häuschen - wie der Stahlschrank der Bank von England!' Prosper schüttelte den Kopf. „Vergleiche hast du, Superhirn!“ „Ich könnte auch sagen: widerstandsfähiger als ein Panzerschiff!“ erklärte Superhirn ungerührt. Doch kaum hatte er das gesagt, geschah etwas völlig Unerwartetes: Jeder Gewalt hatte das klägliche Brettergebäude mit dem lächerlichen Dach getrotzt. An der Fensterscheibe war sogar der Axtstiel zerbrochen. Da brachte der Zwergpudel die Hütte durch einen leichten Nasenstüber zum Einsturz. . . Ja! Alle sahen es! Der Zwergpudel Loulou schnüffelte an der Bretterwand herum, kam mit der Nase dagegen - und die Hütte brach wie ein Kartenhaus zusammen! Eine Reihe von knirschenden Geräuschen, eine Wolke von Staub - alles, woraus das kleine Gebäude einmal bestanden hatte, lag in Trümmern über- und untereinander! Henri und Superhirn räumten als erstes die Moosfetzen Ziegel, Schindeln und Bretter beiseite. „Professor Charivari!“ rief Superhirn. „Sind Sie da? Hören Sie uns? Brauchen Sie Hilfe?“ „Wer da drunterliegt, braucht keine Hilfe mehr!“ meinte Gérard. Doch Superhirn befahl: „Packt alle mit an! Schafft einen Gang durch die Trümmer!“ Tati half - aber der Zweck der Arbeit leuchtete ihr nicht ein: „Charivari ist sicher weg“, meinte sie. „Und was in der Hütte drin war, kennen wir! Oder suchst du den widerlichen Kiemenhamster?“ „Ich suche den Schlüssel“, keuchte Superhirn, in Schweiß gebadet, „den Schlüssel zum großen Geheimnis! Und der ist in der Hütte - oder in den Trümmern. Wäre der jämmerliche Bau sonst durch Panzerstrahlen geschützt gewesen? ich nenne diese zweite Abschirmung innerhalb der ersten, die wir erlebt haben, jetzt einmal so. Außerdem habe ich im Sand vor dem Eingang wieder die Spuren gesehen. . „Welche Spuren?“ fragte Tati. „Die mir am zugeschütteten Kiemenhamster-Becken auffielen. Es sind die Kettenspuren der Roboter!“ Tati richtete sich auf. „Der Ro...“ Sie unterbrach sich und fuhr hastig fort: „Und trotzdem suchst du hier noch herum?“ „Wenn die Roboter da wären, hätten sie uns längst verjagt“, erklärte Superhirn. „He, was ist das da? Ach, der sonderbare Ofen!“ Er betrachtete das freigelegte Ding, das nicht umgefallen war, genau. Plötzlich griff er zu und klappte die Oberfläche wie einen Deckel zurück. Ein paar Herdringe kamen zum Vorschein.
Superhirn nahm die Herdringe heraus. „Eine Leiter!“ stellte er fest. „Im Ofen. . .?“ rief Henri. Neugierig stapften die anderen heran. Gérard blickte über den Rand des runden Ofens. „Kinder, das Ding ist hohl - und wirklich, drinnen ist ‚ne Leiter, die in die Tiefe führt!“ „So“, sagte Superhirn fest, „jetzt heißt es sich entscheiden. Hier ist der Zugang zum Geheimnis, dessen bin ich sicher: Der Zugang zu dem ganz großen Geheimnis, das außer ein paar Leuten noch kein Mensch auf Erden kennt. Überlegt es euch, aber Überlegt es euch gut! Habt ihr den Mut, mir zu folgen?“ Eine Weile herrschte spannungsgeladenes Schweigen. Endlich sagte Micha: „Ich komme mit! Aber wer trägt den Pudel? „Ich!“ Tati nahm das Tier auf den Arm. 8. Monitor Gérard stieg als letzter die Leiter hinab. Er hatte Anweisung, die Herdringe, so gut es ging, wieder zurechtzurücken, vor allem aber, den Deckel zu schließen. Die Freunde erwarteten, in ein Gewirr natürlicher Höhlen zu gelangen, in ein Felslabyrinth, das zu den Klippen führen würde. Statt dessen standen sie am Fuß der Leiter vor einem eichenen Schrank. Als Superhirn ihn mit seiner Taschenlampe anstrahlte, öffneten sich die schweren Türen lautlos nach hinten und gaben einen langen, schmalen Gang frei. Aber nicht etwa einen modrig riechenden, feuchten Höhlengang, sondern einen blitzsauberen, modernen Flur mit Kunststoffboden, glatten, metallisch schimmernden Wänden und kühlem, indirektem Licht. „Sind wir hier“, Micha schluckte, „sind wir hier in einem Kaufhaus?“ „Scheint so“, grinste Superhirn. „Bloß die Ware fehlt! Los, folgt mir!“ Die Freunde und Loulou tappten dem Anführer nach. „Ist da nicht eine Tür?“ fragte Henri, Superhirn über die Schulter spähend. Er hatte kaum ausgesprochen, als sich die Tür von selber öffnete. Dahinter war niemand. Der Gang machte einen Knick. Und wieder sprang eine Tür auf. „Halt!“ befahl Superhirn. „Dort ist eine Falle! Oder das Sicherheitssystem ist gestört!“ Sie blickten in einen großen Raum, der gleißend hell erleuchtet war. Decke, Wände und Fußboden bestanden aus Kunststoff. Alles war so sauber, als hätten erst kürzlich zwei Dutzend Putzfrauen hier gewirkt. Doch man sah kein Möbelstück, statt dessen aber technische Teilchen, Bruchstücke, Plastiktrümmer, kleine Nieten, Schrauben, Federn, Röhren, Antennen - und Werkzeuge, die den sechs „Forschern“ eigentümlich bekannt vorkamen. Die Roboter! Die haben sich wohl gegenseitig vernichtet. - Seht! Da ist auch das Fischglas - es ist leer - und da liegt der Kiemenhamster - tot ... !“ „Wollen wir nicht doch lieber umkehren?“ fragte Tati. „Micha fürchtet sich!“ Doch der Kleine hatte ausgerechnet hier unten keine Angst. „Es ist ja helles Licht!“ erklärte er. „Ich fürchte mich nur im Dunkeln oder im Freien.“ Das Ganze erinnerte ihn so sehr an ein hochmodernes Kaufhaus, wie er meinte, daß er sogar die Trümmer ringsum nicht weiter beachtete. Wahrscheinlich hoffte er, irgendwo auf eine Spielwarenabteilung zu stoßen ... „Also weiter!“ murmelte Superhirn. Sie stiegen über die Teile der zerstörten Roboter und gelangten in einen zweiten Raum. Hier glaubten sie in einer Schaltzentrale zu sein, wie sie sie vorher nur in Science-fiction-Filmen gesehen hatten: Decke und Fußboden waren glänzend weiß. An den Wänden befanden sich Metallschränke, in denen es fortwährend knackte. Doch was die Blicke am stärksten fesselte, waren die fernsehähnlichen Bildschirme zwischen zwei Schränken.
„Runde Bildschirme?“ staunte Prosper. „Und sie schimmern grünlich! Manche haben ein quadratisches Linienmuster!“ Gérard. blickte an den Schränken hoch. „Spulen mit Tonbändern, die sich vor- und rückwärts drehen! Mal laufen sie langsam, mal schnell, mal bleiben sie stehen!“ „Was leuchtet denn da überall auf?“ fragte Micha.. „Orange, grün, violett, rot, blau, gelb...“ Er starrte auf eine Schrankwand. „Signallampen“, sagte Superhirn. Tati stieß einen leisen Schrei aus: „Seht - das eingebaute Bord...!“ „Was ist da?“ Henris Kopf fuhr herum. „Schreibmaschinen!“ meldete Tati. „Die Typenhebel bewegen sich wie wild, fast geräuschlos, aber sie bewegen sich - ohne Bedienung! Alte drängten heran, nur der Pudel kümmerte sich um nichts. „Wie verhext!“ murmelte Prosper. „Die Typenhebel rasen! Aber ich sehe kein Tipfräulein!“ „Was schreiben die Maschinen denn?“ wollte Gérard wissen. „Zahlen“, sagte Superhirn, „ganze Zahlenkolonnen, unendliche Reihen von Zahlen!“ „Guckt mal!“ Micha hatte etwas entdeckt. Er deutete auf die runden Bildschirme. „Da erscheinen plötzlich wilde Kurven!“ stellte Henri fest. „Wo mögen wir hier sein, Superhirn?“ „Das Ganze ist eine elektronische Anlage“, erklärte der Freund. „Zum Teil ein sogenannter Rechner alles zusammen ein riesiges Elektronengehirn!“ In einer Ecke befand sich unter Glas ein Plattenstapel. Von Zeit zu Zeit klappte eine Platte herunter, und ein Doppelarm, der wie eine Zange aussah, fuhr in die Lücke hinein. „Wo sind denn die Menschen, die alles ein- und ausschalten?“ erkundigte sich Micha. „Hier braucht man keine“, sagte Superhirn. „Los, gehen wir weiter!“ Wieder öffneten sich die Türen vor ihnen von selber. Und auf einmal befanden sie sich in einem großen Raum. Er unterschied sich von allen bisherigen, weil er nicht eckig, sondern eiförmig war. Die indirekt, also unsichtbar beleuchteten Wände schienen aus Silber zu sein. Der sonderbare Saal wirkte auf den ersten Blick völlig leer. Vielmehr: es hätte so wirken können, wäre nicht der Schreibtisch - ein merkwürdiger Schreibtisch mit Tastaturpulten - in der Mitte gewesen. Nach allem hätte dieser Tastaturschreibtisch in dem eiförmigen Riesenraum die Besucher auch nicht mehr allzu sehr beeindruckt, wenn nicht... „Da liegt der Professor!“ hauchte Tati. Professor Charivari lehnte mit geschlossenen Augen und offenem Mund in einem Drehsessel. Seine Stirn war blutig, seine Arme hingen schlaff über die Seitenlehnen. Auch auf seinem weißen Kittel, den er jetzt trug, sah man rote Flecke. Der erste, der Worte fand, war Superhirn: „Offenbar ist er überfallen worden und hat sich im letzten Augenblick zu den Tastaturen geschleppt. Dann ist er ohnmächtig in den Sessel gefallen!“ Er schritt zum Schreibtisch, die anderen folgten ihm. Der Zwergpudel winselte leise. Superhirn untersuchte die Wunde des Professors; dann drehte er den Stuhl und stellte fest: „Er hat auch einen mächtigen Schlag auf den Hinterkopf gekriegt! Tja, was machen wir? Er braucht dringend Erste Hilfe!“ „Vor allem muß er ins Bett!“ sagte Tati. „Aber wo ist hier ein Bett?“ Zum Entsetzen der Gefährten ertönte auf Tatis letztes Wort eine schleppende Maschinenstimme: „Taste Zero-zero-zero-zero-drei-eins-sieben...“ Waff! machte Loulou. „Zero?“ schluckte Micha. „Das heißt Null“, erklärte Superhirn rasch. Er blickte über die Tasten. „Das ist die obere Reihe, hier, rechts...“ Er drückte mit dem Zeigefinger und wiederholte dabei: „Zero-zero-zero-zero-drei-einssieben...“ Klapp, machte es an der gegenüberliegenden Wand. Man sah eine Lücke - und davor ein Bett. „Nicht wundern, sondern zupacken!“ befahl Superhirn. Mit vereinten Kräften schleppten sie den
Professor hinüber und legten ihn vorsichtig auf das Bett, Dann ging Superhirn zum Schreibtisch zurück. „Ich möchte wissen, weshalb Tatis Frage beantwortet wurde. Das war kein Mensch, das war ein Apparat! Aber wie bedient man den, wie funktioniert der?“ Er sah sich um. „Es kann kein Zufall sein, daß dieser Raum eiförmig gebaut ist. Was heißt eiförmig - elliptisch! Das muß einen Grund haben!“ Tati trat näher. „Es ist jetzt keine Zeit, das zu untersuchen. Was machen wir mit Charivaris Stirnwunde?“ Wieder ertönte die Maschinenstimme: „Liegen lassen! Nicht rütteln, da Gehirnerschütterung! Auch nicht wecken und ansprechen! Gedankenarbeit könnte zu Spätschäden führen! Für Behandlung der Stirnwunde Taste acht- achtneun-sechs-a-b-k!“ Superhirn wurde furchtbar aufgeregt. „Kinder, das ist eine Entdeckung! Was da antwortet, ist ein elektronischer Sprachanalysator! Ein tolles Gerät, das auf menschliche Worte anspricht! Es kann uns Fragen beantworten! Habt ihr gemerkt wie es auf Stichworte reagiert?“ Nun stellte Gérard einige Fragen - aber ohne Erfolg. Der Sprachanalysator schwieg... „Er antwortet nur, wenn man auf einem ganz bestimmten Punkt steht“, behauptete Superhirn. „Warum ist der Raum elliptisch? Weil man zwei Brennpunkte gebraucht hat, damit der Sprachanalysator funktioniert. Im ersten Brennpunkt ist der Fragepunkt, im zweiten der Hörpunkt! Micha! Stell dich mal dorthin, wo Tati eben gestanden hat. Und dann frag etwas!“ „Wo kann ich endlich was zu essen kriegen?“ rief der Kleine. Er hatte das Wort „essen“ kaum ausgesprochen, da tönte es schon aus dem Lautsprecher: „Taste B-b-b-y-2-9-x-x...“ Micha wollte sich fast über die Tastatur werfen, so begierig war er, eine Mahlzeit zu erhalten. Doch Tati zog ihn zurück. „Ich brauche Anweisungen, wie ich die Wunde des Professors behandeln soll!“ Sie stellte sich an den erprobten Punkt, und der Lautsprecher beantwortete viele der gegebenen Stichworte. Er nannte die Taste, die den Arzneimittelschrank öffnete: Tupfer, keimfreier Verbandsmull, Pinzette, Schere und Wundbinden glitten wie von selbst in Kästchen oder auf Tabletts aus der Wand. „Kümmert ihr euch um alles andere“, befahl Tati. „Ich versteh was von Erster Hilfe.“ Gérard wollte jetzt vom Sprachanalysator wissen: „Was ist hier geschehen? Was sollen wir tun?“ „Schleppend erwiderte die Maschinenstimme: ,Abschirmglocke Feld und Wasser bedienen! Taste ein und Taste zwei!“ Superhirn kam dem Befehl sofort nach. „Keine Hilfe holen!“ tönte es aus dem unsichtbaren Lautsprecher. „Abwarten, bis Professor wieder bereit ist!“ Und dann folgte ein besonders merkwürdiger Befehl „Seine Augen nicht berühren - seine Augen nicht berühren - seine Augen nicht berühren...“ Der Sprachanalysator schwieg. Tati hast du das gehört?“ rief Henri. „Seine Augen nicht berühren! Was soll das heißen?“ „Das werden wir noch erfahren!“ meinte Superhirn, nun wieder ruhiger. „Eins ist klar! Wir sitzen hier bombensicher! Von außen, weder von der See noch vom Hochmoor her, kann irgend jemand an uns heran! Wir haben die ,Abschirmglocke ausgelöst, gegen die wir gestern selber angerannt sind. Es scheint, als sei Charivari jetzt ganz auf uns angewiesen; wir müssen warten, bis er wieder richtig ansprechbar ist!“ „Ich möchte was essen!“ erinnerte Micha, „Da muß man auch eine Taste drücken...“ „Ja, ich habe mir gemerkt, welche es war“, sagte Gérard großspurig. „Mein Gedächtnis ist ja schließlich auch nicht von Pappe!“ Doch er drückte die falsche Taste, und plötzlich brach die Hölle los. „Alarrrm!“ tönte die Maschinenstimme. Eine Sirene gellte durch die Flure, Klingeln schrillten, das Licht ging aus, Fotoblitze flammten auf, und irgendwo begann ein Computer zu rattern. Der Pudel bellte sich in diesem wilden Durcheinander heiser.
Superhirn tappte umher und versuchte die Brennpunktstelle für den Sprachanalysator zu finden. „Wie hört das wieder auf?“ brüllte er. „Wie kann man den Alarm abstellen? „Hebel am Schreibtisch - rechts“, kam es seelenlos aus dem Lautsprecher. Superhirn fand den Hebel und drückte ihn hinunter. Sofort herrschte Stille. Das Licht ging wieder an. „Gérard, du Idiot!' schimpfte Superhirn. „Dein Gedächtnis, ha! Wirst uns allesamt noch in Kamele verwandeln, wenn du noch ein paarmal auf falsche Tasten drückst! Und du, Micha, nerv uns nicht dauernd mit deinem Ich-will-was-essen! Wir haben im Augenblick Wichtigeres zu tun. Wir müssen den Professor...“ „Er kommt zu sich!“ rief da Tati, die dem Professor soeben einen Kopfverband angelegt hatte. Henri! Superhirn! Gérard! Prosper! Kommt schnell! Der Professor hat die Augen geöffnet - er will mit uns sprechen!“ Der Professor mit seinem verbundenen Kahlschädel lag noch immer auf dem Bett. Doch er hatte die Augen offen. Er war bei vollem Bewußtsein. Mit schwacher Stimme, aber in herzlichem Ton, begrüßte er die sechs: „Da seid ihr ja, meine Freunde! Ein Glück! Ihr wart meine letzte Hoffnung!“ „Aber wir konnten nicht in die Hütte!“ sagte Superhirn. „Das Ding war plötzlich so hart wie ein Panzer. „Ja, die Hütten-Abschirmung...“, ächzte der Professor. „Ich habe mehrere Sicherheitsvorkehrungen. Wenn die Luftglocke ausfällt, schütze ich die Hütte selbst gegen Eindringlinge.“ „Wie denn?“ fragte Henri. „Und warum gegen uns, wenn Sie doch froh waren, daß wir kamen?“ „Unterbrich den Professor nicht!“ mahnte Superhirn. „Ja, der Reihe nach. Ihr sollt alles hören!“ Charivari, schien sich erstaunlich rasch zu erholen. Mit fester Stimme fuhr er fort! „Zunächst müßt ihr wissen, wo ihr seid . . „In einem Kaufhaus“, meinte Micha immer noch. Professor Charivari lächelte. „Das wäre recht gemütlich, ja! Nun, ihr befindet euch in einer unterirdischen Raumschiff- Bodenstation!“ „Aber...“, begann Henri. „Du willst sagen, so etwas müsse staatlich sein?“ fragte Charivari. „Du kennst nur staatliche Raumfahrteinrichtungen, Raumfahrtbehörden. Dies ist die erste private Astro-Zentrale. Sie ist mein Werk, mein Geheimnis. In der Garage auf dem Meeresgrund, die bis zur unterseeischen Abschußrampe führt, liegen zwei Superraumschiffe. Besser gesagt: Allzweckfahrzeuge. Sie können sich im All, im Meer und zu Land bewegen. „Die liegen hier? Hier, unter der Zentrale?“ rief Prosper. „Ja. Die Raumschiffe Meteor und Monitor.“ Wieder lächelte der Professor. Doch es war kein freundliches Lächeln. „Im Augenblick ist nur der Monitor noch da. Mein Personal hat gemeutert und ist mit dem Raumschiff Meteor geflohen!“ „Das war der Start, den wir gesehen und gehört haben!' rief Superhirn. „Deswegen sind wir überhaupt hiergeblieben. Wir wollten das Geheimnis ergründen, das große Geheimnis...“ „Daß du alles ergründen willst, sieht man dir an der Nasenspitze an“, sagte der Professor. „Bestimmt bist du zuverlässiger als mein Chef-Astro Dr. Muller und die Burschen vom wissenschaftlichen, technischen und fliegenden Personal zusammen.“ Er schwieg eine Weile, dann atmete er tief und berichtete weiter: „Chef-Astro Muller - mein Assistent - stiftete die Meuterei an. Der ewige Traum von der Weltbeherrschung spukte plötzlich in seinem Kopf. Ich aber bin der Meinung, daß man der Menschheit meine Erfindungen noch nicht zugänglich machen darf, solange sie damit andere Zwecke verfolgt als friedliche.“ „Friedliche?“ fragte Superhirn gespannt. „Wozu sind denn Ihre Raumschiffe konstruiert?“ „Zur Beeinflussung von Meeresstürmen, zur Eindämmung von Flutkatastrophen, Verhinderung von Erdbeben, zur Abwehr von Asteroiden, Aufhellung von Schlechtwetterzonen, zur Urbarmachung von Wüsten und zur Erforschung des Meeresgrundes und des Weltalls“, zählte
Charivari auf. „Doch meine Leute brannten darauf, die Welt mit den Superraumschiffen gewaltsam zu beherrschen, sie als Machtmittel zu benutzen ... Schon gestern, bevor ihr kamt, hatten wir hier unten einen heftigen Streit. Ich drückte hier Taste eins und zwei, um die Abschirmungen über der Hütte und über der unterseeischen Rampe herunterzulassen, damit die Meuterer nicht starten könnten. Es gelang mir noch einmal Chef-Astro Muller zur Vernunft zu bringen. Aber bei dem vorhergehenden Handgemenge war eine Isolierung im Gerät gebrochen. Das führte zu Kriechströmen, die die Abschirmung unzuverlässig machten. Sonst wäret ihr nicht über den Bach gekommen. Die Abschirmung wird von einem Supergelator erzeugt und besteht aus verfestigter Luft.“ „Ach, und weil - weil diese künstliche Glocke kaputt ist, gelang es den Meuterern, auszureißen?“ erkundigte sich Tati. „Der Supergelator funktioniert wieder“, erklärte Charivari. „Die Meuterer schlugen mich vorhin nieder, öffneten die Abschirmung und starteten mit dem Meteor. Ich konnte mich gerade noch zum Sessel schleppen ... Dort wurde ich wieder bewußtlos ... Als ich kurze Zeit zu mir kam, hörte ich eure Stimme durch den Warnverstärker. Ich versuchte, den kleinen Gelator zu bedienen, der die Hüttenabschirmung aufheben sollte. Ich drückte in meiner Schwäche die falsche Taste . . .“ „Und dadurch konnten wir nicht in die Hütte?“ fragte Gérard. „Hm. Aber warum brach das Ding dann plötzlich auseinander?“ „Weil ich die Luftfestigungstaste nicht nur fälschlich, sondern auch zu oft gedrückt habe“, antwortete Charivari. „Dadurch wurde die Luftpanzerung zu spröde, sie platzte und zerstörte das Bretterhaus. Nun, das Versehen hat sich gelohnt. Ihr seid jetzt hier. Ich traue euch, wie ich keinem Erwachsenen trauen und vertrauen dürfte: Denn bei jedem müßte ich einen Mißbrauch meiner Erfindungen befürchten.“ Superhirn ging auf die letzten Worte nicht ein. Ihn beschäftigten die übrigen, ungelösten Fragen. „Wir haben neulich einen Tag im Moor verschlafen . . .“, begann er. Charivari unterbrach ihn: „Unsichtbare Wellen zur vorübergehenden Lähmung des Zentralnervensystems, ja ... Das galt aber nicht euch. Ich habe im Freien heimlich Versuche an Tieren angestellt, weil ich die Meuterei längst kommen sah. Aber das Gerät versagte beim ersten Notfall.“ „Beim allerersten Mal hat's jedenfalls nicht versagt“, stellte Tati trocken fest. „Was sollten aber die Versuche mit dem schrecklichen Kiemenhamster bedeuten?“ „Die Idee vom Homo aquaticus, dem Wassermenschen, dem man künstliche Kiemen einsetzt, ist nicht neu“, erklärte Charivari. „Ich wollte zunächst Tiere in meinen Unterwasserstationen aussetzen; aber ich hütete mich, die Anfangsversuche in dieser Zentrale zu machen. Mein Assistent, Dr. Muller, hätte auch diese Ergebnisse mißbrauchen können. So hielt ich sie geheim und errichtete das Becken im Moor. Als aber zu befürchten war, daß ihr es entdecken würdet, schickte ich die Roboter aus, um die Anlage zu vernichten, den Kiemenhamster aber zu bergen. Am Steuerpult vor dem Bildschirm sah ich, daß ihr die Roboter verfolgtet. Nun, ich richtete es so ein, daß sie euch verjagten.“ „Hm... Superhirn überlegte. „Warum haben die Meuterer nur das eine Raumschiff genommen? Weshalb ist der Monitor noch in der Garage?“ „Weil ich beim Monitor einen kleinen Schalter, ein winziges Startrelais herausnahm“, erklärte Charivari. „Beim Meteor gelang mir das nicht mehr, denn es waren Leute vom Bodenpersonal in der unterirdischen Garage. Natürlich haben die Meuterer die ganze Zentrale nach dem Relais durchsucht. Sie befragten sogar den Antwort-Apparat, doch der kann nur Fragen beantworten, mit denen ich ihn gefüttert habe. Da die Zeit drängte - sie wollten ja so schnell wie möglich weg -, begnügten sie sich mit dem einen Raumschiff. Das winzige Startrelais für den Monitor habe ich in einem Geheimfach, das die anderen nicht kannten. Ich habe verschiedene Raumstationen bauen lassen, die meine Brüder und ich auf dem Mond, auf dem Meeresgrund und hier an der Küste leiten. Sie sind jeweils von den späteren Besatzungen einer anderen Basis errichtet worden - aus Sicherheitsgründen.“ „Keiner sollte sich wohl auf seiner eigenen Station ganz genau auskennen?“ fragte Superhirn. „Raffiniert fein ausgeklügelt! Nur eins wundert mich noch: Warum haben die Meuterer Sie nicht getötet?“ „Das ist es ja!“ seufzte Charivari. „Ich fürchte, sie werden mit Meteor einen Angriff auf meine
Bodenstation unternehmen. Dann haben sie die Anlage beseitigt, die für sie eine große Gefahr darstellt - und mich gleich mit. Danach werden sie wahrscheinlich die Mondstation mit all ihren Anlagen als Stützpunkt erobern. Dort ist kein Raumschiff. „Angriff auf die Bodenstation?“ fragte Prosper entsetzt. „Können wir dem denn standhalten?“ „Wenn die Abschirmung ordnungsgemäß arbeitet, ja“, hoffte Charivari. „Wir haben den Supergelator jedenfalls bedient“, sagte Henri, „und zwar auf Anweisung des Sprachanalysators! Wenn das okay ist, müßten wir jetzt unter der unsichtbaren Glocke sitzen. Auch die unterseeische Rampe ist auf Anweisung aus dem Lautsprecher blockiert worden.“ Plötzlich begann eine Alarmsirene zu heulen. Und wieder ertönten überall Klingelzeichen. Der Professor richtete sich stöhnend auf. „Helft mir zum Schreibtisch, an die Tasten!“ Als er im Sessel saß, ließ er durch einen Fingerdruck einen riesigen Bildschirm an der Gegenwand aufleuchten. „Was ist das?“ fragte Superhirn. „Mein elektronisches Astro-Teleskop“, erklärte der Professor. „Wir sehen den Himmel über dem Hochmoor, also über der Tarnungshütte - über dieser Zentrale, in der wir jetzt sitzen!“ Über die Wände zuckten grüne, gelbe und rote Blitze. „Gefahrenzeichen hundert hoch hundert“, murmelte Charivari. „Meteor' greift an!“ „Er durchbricht den Luftpanzer!“ schrie Superhirn. Tati und Micha standen vor Schreck wie erstarrt. Charivari schaltete die Alarmanlagen aus. Die Blicke aller hafteten gebannt am Bildschirm. „Warum wird es auf dem Bild so rot?“ hauchte Prosper. „Die Abschirmung glüht“, sagte Professor Charivari. „Der Angriff des Raumschiffs ist sehr stark. Ich muß die Luft supragelieren, noch mehr verfestigen, Es gibt fortwährend Teilexplosionen, weil die Energiebelastung für die supragelierte Luft zu stark wird. Damit die Glocke nicht Platzt, ist dauernde Nachregulierung nötig!“ Atemlos verfolgten die Beobachter die nächsten Angriffe des feindlichen Raumschiffs. „Es kommt nicht durch die Abschirmung“, murmelte Superhirn. „Aber es strahlt ungeheure Mengen von Mikrowellen aus“, erklärte der Professor. Seht ihr die Fieberkurve unter dem Bildschirm?“ „Fieber?“ wunderte sich Micha. „Ich nenne die Kontroll-Leiste so, weil sie einer Fieberkurve ähnelt“, sagte Charivari. „Wenn diese Mikrowellen uns schutzlos träfen, wären wir auf der Stelle hitzetot!“ Er unterbrach sich: „Meteor dreht ab...!“ „Wird er einen zweiten Angriff versuchen?“ fragte Prosper. „Ich denke nicht“, erklärte Professor Charivari. „Das würde Zeit und Energieverlust bedeuten. Sie müssen die Mondstation erreichen, bevor ich die Besatzung dort gewarnt habe und sie sich auf Verteidigung vorbereitet.“ Er lachte bitter. „Warnen kann ich die Mondstation - aber sie ist nicht gerüstet wie wir hier unten. Und sie hat kein Raumschiff, das den Meteor abfangen könnte!“ „Fliegen Sie mit dem Monitor nach! Verfolgen Sie den Meteor!“ rief Superhirn erregt. „Nehmen Sie uns mit! Sie sagten doch, Sie hätten das Startrelais! Warum steigen wir nicht auf?“ „Eine planmäßige Verfolgung wäre nur möglich, wenn die Zentrale besetzt bliebe , erwiderte der Professor bitter. Ich kann nicht zu gleich hier - und im Raumschiff sein!“ „Aber wir ... !“ rief Superhirn fast außer sich. „Wir könnten im Raumschiff sein, und Sie könnten uns von hier aus leiten! Meteor' muß verfolgt werden, das ist klar, Sie sagten es selbst! Ihr ehemaliger Chef-Astro würde die Welt zerstören, wenn man ihn nicht einholte ... !“ „Lassen Sie uns mit dem Monitor' aufsteigen!“ bat auch Henri erregt. „Superhirn ist ja fast ein Raumfahrer, bestimmt aber ‚n Raumfahrtkenner! Und wenn Sie uns von hier unten leiten . . .“ „... dann kann doch nichts schiefgehen!“ rief Gérard. „Ich würde den Gedanken für verrückt halten, wenn er mir nicht den letzten, den allerletzten Ausweg weise“, überlegte der Professor. Plötzlich sah er auf. „Meine Linsen! Meine telepathische Augenhaftschalentschalen!“
Die Gefährten starrten ihn an. Sie erinnerten sich nur daß die Lautsprecherstimme befohlen hatte, Charivaris Augen nicht zu berühren! „Mit den Haftschalen ginge es!“ fuhr Charivari fort. Es sind Kontaktlinsen, wie sie manche Leute statt einer Brille tragen. Doch sie haben eine besondere Bewandtnis - es sind telepathische Haftschalen, mit denen ich euch mein ,Gedanken übertragen könnte! Im Raumschiff Monitor ist ein Gerät, ein Telepathor, der nimmt die ausgestrahlter Gedanken auf und überträgt sie auf den, der davor sitzt!“ „Was denn?“ fragte Superhirn. „Sie können durch Augenhaftschalen Gedanken ins Raumschiff senden? Warum machen Sie das nicht mit dem Meutererfahrzeug?“ „Weil der Meteor im Gegensatz zum Monitor' dieses Gerät nicht hat“, erwiderte der Professor. Aber das ist jetzt nur günstig! So könnten die Verfolgten ja meine Leitgedanken' an euch nicht empfangen. Meine Haftschalen, die Gedankensender, sind eine Erfindung, die den Meuterern nicht bekannt ist.“ Zwanzig Minuten später waren die Gefährten mit Professor Charivari in der Garage - oder richtiger: der Werft für die Allzweckfahrzeuge, von denen nur der Monitor noch dalag. „Ich baue jetzt das Startrelais ein“, sagte der Professor. „Ihr könnt das Raumschiff schon betreten!“ Die Kommandozentrale des Monitor war ein recht ungewöhnlich ausgestatteter Raum. Er schien auf den ersten Blick nur aus Drehknöpfen, Schaltern, Tasten, Hebeln, farbigen Wandmeßgläsern, Bildschirmen zu bestehen. Was aber vor allem das Auge fesselte: ein schwarzgläserner Befehlstisch mit lichtblauen Drehsesseln. „So“, sagte Charivari hastig. „Rechts neben dem Kommandosessel ist der Telepathor. Wenn du den roten Knopf drückst, Superhirn ...“, er deutete auf den schwarzgläsernen Tisch, leuchtet eine gleitende Wandzeile auf, die in Stichworten jede schwierige Aufgabe, jedes Problem enthält, das ihr lösen wollt. Erscheint dieses Problem-Wort, drückst du wieder auf den Knopf. Dann ertönt eine Maschinenstimme, die die nötigen Antworten gibt. Ähnlich wie in meiner Zentrale.“ Er erklärte Superhirn, wie er den Start vorzubereiten habe. Ach lenke euch von der Zentrale aus“, sagte er zum Schluß. „Zunächst habt ihr weiter nichts zu tun als das, was ich euch eben sagte. Das ist dank meiner Geräte in der Bodenstation nicht viel. Nach dem Start nehmen wir für eine Weile Funkverbindung auf. Im übrigen hilft euch der Telepathor. Viel Glück!“ Ein wenig schwankend verließ er den Kommandoraum. Es herrschte tiefe Stille. „Kinder, seht mal!“ rief Micha plötzlich. „Die schwarze Glasplatte - der runde Tisch - er ist - er ist...“ „Er ist nicht mehr schwarz“, grinste Superhirn. „Wir haben den unterseeischen Gang zur Startrampe durchquert und sind auf dem Weg nach oben! „Ja!“ staunte Tati. „Die Tischplatte ist blau!“ „Das ist nämlich ein Himmelsvisor und keine Tischplatte, lächelte Superhirn. „Sind wir denn - sind wir denn etwa schon gestartet?“ fragte Henri verblüfft. Und schon meldete sich die Stimme des Professors: „Position des Verfolgten erscheint jetzt backbords auf Bildschirm drei - in Zahlen! Die gleichen Zahlen im Lenkcomputer einstellen!“ „6-1-0-6-5-5“, vermerkte Superhirn. „Los, Henri, tipp auf die Tasten unter Bildschirm drei!“ Jetzt erschien das Gesicht des Professors auf Bildschirm zwei. „Start geglückt!“ lächelte Charivari. Seine Stimme ertönte aus einem unsichtbaren Lautsprecher. „Bitte, wiederholen!“ „Start geglückt!“ riefen alle im Chor.
Ende
Raumschiff Monitor Verfolgungsjagd im Weltall 1. Tolle Ferien „Leute!“ murmelte Henri. „Leute! Ich kann´s kaum fassen! Das ist alles so - so gespenstisch!“ Er schluckte. Dieses Abenteuer war einfach toll. Die Gefährten des Dreizehnjährigen waren die gleichaltrigen Freunde Gérard und Prosper, Henris zwölfjährige Schwester Tati und der kleine achtjährige Bruder Micha. Zu der Feriengemeinschaft gehörte auch ein Junge, der erst später hinzugekommen war, dann aber die wichtigste Rolle übernommen hatte: Marcel, vierzehn Jahre alt, spindeldürr, ein blonder „Eierkopf“ mit großen, dicken, runden Brillengläsern. Weil er so viel wußte und so unwahrscheinlich gescheit war, nannten ihn die anderen nur Superhirn. Michas winziger Hund, der Zwergpudel Loulou, zählte wohl oder übel auch zu Henris Begleitung. Er hatte das Glück, nicht zu wissen, worum es eigentlich ging. „Hm.“, brummte der stämmige Gérard, „ich zwicke mich dauernd in den Arm und meine, ich müßte unten im Hochmoor aufwachen - an der Bruchsteinkapelle, bei unseren Zelten.“ „Zwick dich nicht, präg dir lieber genau ein, wo du bist!“ mahnte Prosper. „Es wäre nicht gut, wenn jemand in einem Raumschiff auf die Idee käme, er träume. Spinnen kann ansteckend sein!“ Henris Schwester Tatjana, genannt Tati, blickte sich schweigend um. Alle saßen sehr bequem, ja fast gemütlich, in schrägen, hochmodernen Drehsesseln. Micha hielt den Pudel an sich gepreßt. Henri und Superhirn - der eine auf dem Platz des Bordkommandanten, der andere auf dem des Flugingenieurs - starrten gespannt auf eine sonderbar flimmernde glatte und runde Fläche, die wie eine Tischplatte wirkte. Das war der Himmelsvisor; er ermöglichte ihnen aus dem sausenden Raumschiff heraus einen Ausblick ins All. Wie gesagt - die sonderbare Besatzung saß bequem, gar nicht eingeengt wie die Astronauten in den bisher der Öffentlichkeit bekannten Kapseln. Niemand trug einen Raumanzug. So, wie sie im Hochmoor gezeltet hatten, in Pullis, Jeans und Trainingsanzügen, waren sie durch eine Reihe von unheimlichen Zufällen an Bord des Superraumschiffs Monitor gelangt. Doch die Umgebung - sie schien auf den ersten Blick nur aus Drehknöpfen, Schaltern, Tasten, Hebeln, Wandmeßgläsern, Bildschirmen und anderen rätselhaften Dingen zu bestehen - war kalt und unwohnlich. „Nein, träumen darf hier keiner“, murmelte Henri gepreßt. „Bei dem Tempo...“ „Genau 7 750 Meter in der Sekunde!“ sagte Superhirn gleichmütig. „In der Sekunde?“ krähte der kleine Micha. Fassungslos fügte er hinzu: „Wie schnell ist denn das?“ Jetzt grinste Henri. „Schneller, als dein Pudel Männchen machen kann - das heißt, bevor das Biest die Vorderpfoten richtig hoch hat, sind wir über sieben Kilometer geflogen!“ „Aber davon merke ich nichts!“ rief Micha ärgerlich. „Ich will merken, wie schnell wir fliegen! „Sei froh, daß du nichts davon mitbekommst“, fuhr ihn Prosper an, „und daß du nicht wie ein verschnürtes Paket in einem Schutzanzug im Konturensessel liegen mußtest, um die Beschleunigung beim Start von der Erde zu überstehen!“ „Und den fürchterlichen Druck in den gewöhnlichen Raumschiffen“, fügte Gérard hinzu. „Das Ding, in dem wir sitzen, ist das reinste Wolkenkuckucksheim!“ „Na, ich danke!“ widersprach Tati. „Ich bin aus der Ballettschule manches gewohnt, aber da berührt man wenigstens noch mit den Fußspitzen den Boden! Ach - ich hätte nicht gedacht, daß unsere Ferien so enden würden!“ „Was heißt enden?“ ließ sich Superhirn hören. „Die Ferien haben kaum begonnen! Und wenn ihr mich fragt, sie sind immer mehr nach meinem Geschmack!“
Das Wort Ferien begeisterte Micha. „Klar!“ rief er. „Superhirn hat recht! Die Ferien haben erst angefangen, und sie dauern noch lange!“ Sein Jubel verriet, daß es ihm gleichgültig war, wohin die Reise ging. Hauptsache: Ferien ... ! Wie zur Bekräftigung bellte der Pudel Loulou vergnügt: Wuff, wuff ... Doch Prosper meinte: „Ferien? Ha! Daß ich nicht kichere! Unter Ferien stell ich mir was Schöneres vor, Faulenzerei in der Sonne, Zelten und so - na, wie wir es am ersten Tag gehabt haben, als wir noch im Hochmoor waren. Aber so eine Verbrecherjagd ...“ Und was für eine Verbrecherjagd das war! Sie hatten nämlich die Aufgabe, Piraten im Weltall zu verfolgen! Piraten, die das Schwesterschiff des Monitor, nämlich den Meteor, entführt hatten. Ohne Professor Charivari, der die Verfolgung von der Bodenstation aus leitete, hätten sich die Gefährten nie auf dieses Abenteuer eingelassen. Auch nicht ohne Superhirn. Der spindeldürre blonde junge mit der Brille war in jedem seiner Hobbys beinahe schon ein Fachgelehrter. Besonders verstand er sich auf die Wissensgebiete der Weltraumfahrt. „Achtung - Bildschirm zwei!“ rief Henri erregt. Alle starrten auf die linke Seite des Kommandoraums. Plötzlich -sah die Mattscheibe wie ein Fenster aus, durch welches das leibhaftige Grauen hereinblickte. Tati stellte sich vor, sie säßen in einer einsamen Hütte in den Bergen, mitten im Winter, abgeschnitten von aller Welt, und auf einmal preßte ein Ungeheuer seinen Kopf an die eisüberzogene Fensterscheibe ... Einem Nichteingeweihten hätte das Blut in den Adern erstarren können. Aus Halbschatten, Schatten und Zwielicht entwickelte sich immer deutlicher ein Gesicht. Erst flackerte es. Das heißt, es schien, als strebten Nase, Kinn und Stirn in verschiedene Richtungen. Plötzlich zog sich die Mundpartie ganz widerwärtig in die Breite, während die Ohren die Schläfen und Wangenknochen einzudrücken drohten. Dann war das Bild auf einmal klar. Doch auch jetzt erschien das Gesicht nicht viel menschlicher. Die Umrisse des Kopfes erinnerten an eine Salatgurke. Der spitze Schädel war völlig kahl. Die Augenbrauen des Mannes wirkten wie zwei starke schwarze Striche, unter denen die sonderbar flimmernden Augen fast verschwanden. Das Auffallendste aber waren der dünnsträhnige schwarze Kinnbart und die bartlosen, eingefallenen Wangen unter hohen Backenknochen. Übrigens trug der schaurige Geisterkopf einen fleckigen Stirnverband. Man sah, wie er den Mund öffnete. Aus dem unsichtbaren Lautsprecher tönte seine Stimme: „Nun, meine Freunde? Wie steht's?“ Der Klang war sanft, fast schmeichelnd, wenn auch etwas verzerrt. Er paßte gar nicht zu dem schrecklichen Anblick. „Hallo, Professor Charivari!“ meldete sich Superhirn. Ach gebe die Bahndaten durch ...“ Rasch blickte er auf den Bildschirm drei und auf den Kursrechner neben sich. „Die Piraten haben ihren Kurs geändert. Wir hatten 6-1-0-6-5-5, dann mehrere Zwischenwerte, im Augenblick sind wir bei 0-0-0-0-0-0!“ „Aha“, erwiderte die Stimme des Kahlschädels auf dem Bildschirm. „Meteor ist in die Erdumlaufbahn eingeschwenkt. Stellt den Steuer-Computer auf 0-0-0-0-0-1, dann unterlauft ihr seine Bahn etwas. Drückt die Differenztaste auf X minus 5 000! So bleibt ihr automatisch in gefahrlosem Abstand!“ „Und?“ rief Henri. „Das Raumschiff der Meuterer wird bald wieder auf dem Himmelsvisor sichtbar werden, auf dem Befehlstisch vor euch.“ „Was sollen wir dann tun?“ fragte Superhirn sachlich. „Ihn beschatten“, klang es aus dem Lautsprecher. „Auf der Erde würde man sagen: Bleibt ihm auf den Fersen! Die Piraten wissen nicht, wer und wie viele ihr seid, deshalb geht nie auf Bildfunk!“ „In Ordnung“, bestätigte Superhirn. „Auf jeden Fall“, tönte die Stimme des Professors weiter durch den Kommandoraum, „auf jeden Fall
habt ihr das stärkere Fahrzeug für Angriff und Abwehr. Die Piraten werden sich überlegen, ob sie nicht besser zur Station zurückkehren sollten, um sich zu ergeben. So, ab jetzt seid ihr auf euch gestellt. Superhirn kennt die Geräte. Jeder Funkverkehr wird abgebrochen, damit die Fliehenden im unklaren bleiben.“ Superhirn wiederholte die Befehle. Der Kahlschädel mit dem Strippenbart verschwand von Bildschirm eins. Ein unheimliches Gesicht, gewiß, auch wenn man es vom direkten Ansehen kannte. Doch alle - selbst der kleine Micha - waren inzwischen überzeugt, daß Professor Dr. Brutto Charivari der gütigste Freund war, den sie haben konnten. „Wo ist der Professor jetzt?“ fragte Micha verwirrt. „Unser Professor sitzt tief unten an seinem Schreibtisch“, beruhigte ihn Tati, „in den Felsgängen von Marac am Atlantischen Ozean! Er hat nur über seinen Fernsehsender zu uns gesprochen.“ „Über seinen Fernsehsender?“ wiederholte er mit aufgerissenen Augen. „Warum spricht er dann nicht weiter? Ich will, daß er weiterspricht! Wenn er schon auf der Erde geblieben ist, soll er sich dauernd zeigen, damit wir wissen, daß er uns nicht vergißt!“ „Er wird uns schon nicht vergessen, Micha“, murmelte Superhirn. „Aber er hat davon gesprochen, daß wir um die Erde kreisen“, beharrte der Kleine. „Das Piratenschiff saust um die Erde, und wir sausen immer hinterher, ist es nicht so?“ „Vorläufig“, versuchte Henri zu beschwichtigen, „vorläufig.“ „Vorläufig?“ empörte sich Micha. „Wie kommen wir wieder runter, wenn uns der Professor nicht hilft? Wie hoch sausen wir denn?“ „Du meinst: in welchem Abstand von der Erde“ ergänzte Superhirn seelenruhig. Superhirn hielt es für falsch, den Kleinen zu täuschen. In der Eile war es nicht möglich gewesen, Henris Schwester Tati, Micha und den Pudel zurückzulassen. Tati und Micha hätten sich auch heftig dagegen gewehrt. Und sie würden sich auch nie von Loulou getrennt haben. So mußte man sich hier im Raumschiff auf die beiden Geschwister einstellen, so gut es ging. Tati stand ihren „Mann“, das hatte sie schon bewiesen. Auch Micha war wenn's darauf ankam - sehr mutig. Vielleicht konnte sogar der Pudel unter Umständen nützlich sein. „Wir sind in zweihundertachtzig Kilometer Abstand von der Erde in die Kreisbahn eingeschwenkt“, fuhr Superhirn fort. Falls die Piraten keine Kursänderung vornehmen, weil sie uns ihr Ziel nicht verraten wollen, bleiben wir auch auf der Erdumlaufbahn. Dann kreisen wir an einem Tag - in vierundzwanzig Stunden - sechzehnmal um den Globus.“ „Sechzehnmal um die Erde - an einem Tag ...?“ wiederholte Micha staunend. „Ja! Das bedeutet: in jeweils eineinhalb Stunden einmal herum!“ „Hm!“ Prosper runzelte die Stirn. „Da fällt mir was Ungemütliches ein: Was ist, wenn die Piraten über der anderen Erdhälfte, wo uns selbst Charivaris Funkanweisung nicht erreichen könnte - also, wenn sie da blitzartig zum Angriff übergehen würden ... ? Genug Treibstoff für solche Ausfälle haben sie doch? He, Superhirn! Warum schweigst du? Die haben doch mehr Treibstoff als gewöhnliche Raumschiffe?“ „Besseren, meinst du“ erwiderte Superhirn kaltblütig, „besseren Treibstoff, der bei sehr geringer Menge enorm lange vorhält! Hm, sicher. Aber den haben wir auch. He ...!“ Seine spitze Nase schoß vor. „Ich sehe Meteor auf der Platte!“ „Das Pi-pi-piratenschiff?“ stotterte Micha aufgeregt. Alle beugten sich über die Platte. Krrr - wuff! machte der Pudel. Ihm behagte die Unruhe der Zweibeiner nicht. Winselnd stupste er sein kleines Herrchen. Superhirn erläuterte rasch: „Auf der Platte seht ihr den Himmel, richtiger: den Weltraum. Wir sausen mit der Bugnase voran. Und das da“, er deutete mit dem Leuchtstab auf ein graues Etwas, „ist das Raumschiff Meteor, das wir verfolgen. Es hat die Triebwerke abgeschaltet und läßt sich auf der Erdumlaufbahn treiben, genau wie wir es tun. Paßt auf! Ich tippe die Werte X minus 5 000. So, nun behalten uns die Piraten fast wie im Schlepp. Der Abstand bleibt immer gleich. Meteor kann uns nichts anhaben.“
„Er kann uns nicht abschütteln oder angreifen?“ fragte Prosper. „Dazu müßte er enorm viel Treibstoff aufwenden“, erwiderte Superhirn. „Solange er auf der gleichen Kreisbahn wie wir um die Erde treibt, hat er dieselbe Geschwindigkeit. Wenn Meteor jetzt seine Raketen zündet, um schneller zu werden, steigt er sofort unausweichlich in die Höhe. Und wenn er mit seinen Raketen bremsen will, sinkt er näher zur Erde hinunter. Es ist also nicht so einfach für ihn, kehrtzumachen und uns entgegenzukommen...“ „Das möchte ich hoffen“, sagte Tati trocken. „Aber...“, Micha verschluckte sich vor Eifer, „wie melden wir dem Professor, daß wir Meteor auf der Platte haben? „Wenn wir nicht funken dürfen?“ fügte Gérard mißmutig hinzu. Superhirn blickte auf, er lachte zuversichtlich. „Habt ihr den geheimen Gedankenstrahler vergessen? Den Telepathor, der Gedanken zur Erde leiten kann? Niemand auf der Welt kennt dieses Gerät sogar die Kerle im Meteor wissen nichts davon ... Und nur der Professor ist in der Lage, ausgestrahlte Gedanken mit seinen telepathischen Augenhaftschalen aufzufangen! Mit Hilfe dieser Augenhaftschalen kann er auch auf dem gleichen stillen Weg antworten! Diese Art von Funkverbindung' ist von fremden Stellen nicht abhörbar!“ „Klar!“ rief Henri. „Der Telepathor! Kinder, wie konnten wir den vergessen! Schnell, Superhirn, schalte ihn ein!“ Das Gesicht des spindeldürren Jungen wurde ernst. „Setzt euch in die Sessel! Micha, nimm den Pudel, und sorg dafür, daß er nicht bellt, knurrt oder winselt! Auch ihr seid bitte mucksmäuschenstill!“ „Du machst es aber spannend“, brummte Gérard. „Was bleibt ihm anderes übrig?“ meinte Tati. „Ein Telepathor ist doch kein Fernschreiber! Wer Gedanken aussendet, muß sich sehr zusammennehmen!“ „Konzentrieren nennt man das!“ bemerkte Prosper vorlaut. „Still!“ forderte Superhirn. Er griff nach einer ausziehbaren Halterung, an der ein Gerät mit einer Art Lupe befestigt war. Superhirn drehte so lange an einem Knopf, bis auf der geheimnisvollen Lupe vor ihm ein grelles Lichtpünktchen erschien. Es wirkte wie ein Brennpunkt. „Darauf sammeln sich jetzt seine Gedanken, die er dem Professor runterschickt!“ murmelte Tati. Erst als sie Henris scharfes „Psst!“ hörte, begriff sie, daß sie gesprochen hatte. Es waren schrecklich spannende Augenblicke. Die schlimmste Probe hatte natürlich Superhirn zu bestehen. Sicherheitshalber faßte er alles, was er Professor Charivari gedanklich mitteilen wollte, in stumme Worte und Sätze. So ging es besser. „Professor Charivari!“ meldete er, den gleißenden Punkt im gewölbten, dicken Glase anstarrend. „Meteor in Sicht! Wir folgen mit Differenz X minus 5 000 auf befohlenem Kurs. Aber warum kreisen die Piraten wie normale Astronauten um die Erde? Ich dachte, sie wollten Ihre Stützpunkte auf dem Mond und auf dem Meeresgrund erobern?“ „Siehst du den Professor mit dem komischen Fernrohr?“ krähte plötzlich Micha in die spannungsgeladene Stille hinein. Mit einem Seufzer wandte Superhirn sich um. Doch schon hatte Tati dem Kleinen einen Klaps gegeben., Wuff! machte der Pudel vorwurfsvoll. Er litt es nicht, wenn sein Herrchen unsanft behandelt wurde. Tati gab ihm ebenfalls einen Klaps. Nun dauerte es einige Zeit, bis wieder völlige Stille herrschte. „Ach will jetzt hören oder sehen oder vielmehr zu spüren versuchen, was für Gedanken Charivari mir sendet“, erklärte Superhirn. „Vor allem - ob das überhaupt mit diesem Telepathor klappt!“ Wenn's nicht klappt, na, dann gute Nacht! stand in Gérards Augen zu lesen. Doch er behielt seine Zweifel lieber für sich. Alle beobachteten Superhirn. Der Junge starrte so angespannt auf das Glas, daß er blasser und immer blasser wurde. Auch schien es, als würde seine Nase spitzer und spitzer. Nach einiger Zeit atmete er tief auf, schob das Gerät zurück und schwenkte mit seinem Drehsessel herum.
„In Ordnung!“ triumphierte er. „Ich habe Professor Charivaris Gedanken empfangen!“ „Hurra!“ schrie Micha. Er sprang auf und lief, gefolgt von dem bellenden Loulou, rund um die Befehlsplatte. „Der Professor hat Superhirn mit seinen Gedanken eingesprüht! Hurra, hurra!“ „He!“ rief Prosper. „Eingesprüht? Mir scheint, du hast eine Prise Juckpulver im Fell! Setz dich hin, Micha! Nimm den Hund hoch! Wir sind in einem Raumschiff und nicht im Kasperletheater!“ Als der Kleine, den Pudel neben sich, wieder im Sessel hockte, fragte Henri gespannt: „Was hat Charivari dir mitgeteilt, Superhirn?“ „Und wie?“ erkundigte sich Tati atemlos. „Ja, wie ging das vor sich? Wie ist es, wenn man Gedanken empfängt?“ fragte Gérard begierig. „Tja - das war sehr sonderbar ...“ Superhirn rieb sich eifrig die spitze Nase. „In meinem Gehirn funkte etwas auf ...“ Er rieb sich wieder die Nase. Offensichtlich überlegte er, wie er den Freunden das seltsame Erlebnis am besten klarmachen sollte. „Das komische ist“, fuhr er fort, „daß ich den Professor zwischendurch immer sah - aber nicht etwa im Glas, sondern so, als träumte ich von ihm bei vollem Wachsein.“ „Saß er am Schreibtisch in der Bodenstation?“ forschte Henri. „Ja“, nickte Superhirn. „Und es gibt keinen Zweifel, daß er meine Gedanken empfangen hat. Durch seine Augenhaftschalen und durch das Telepathor-Gerät teilte er mir folgendes mit: Ihr habt bisher alles richtig gemacht. Wie ihr Meteor zur Rückkehr zwingen könnt, erfahrt ihr zeitig genug durch den Gedankenstrahler. Es sieht so aus, als erwarteten die Piraten irgendein überstürztes oder unbedachtes Vorgehen. Laßt euch nicht verleiten! Bleibt auf Sicherheitsabstand!“ „Na, das klingt erfreulich!“ rief Tati erleichtert. „Sicherheitsabstand! Man braucht weder ein Professor noch ein Superhirn zu sein, um zu merken, daß das was Vernünftiges ist! Aber sollen wir inzwischen dauernd herumsitzen?“ Superhirn, aus dessen Gesicht die Blässe gewichen war und dessen Nase auch nicht mehr so schrecklich spitz wirkte -, lachte herzlich. „Nee, Tati!“ rief er. „Das brauchen wir wahrhaftig nicht! Und wenn ich Micha und Loulou sehe - die halten es keine paar Sekunden mehr aus!“ Ernsthaft fügte er hinzu: „Aber wir wollen endlich die Mannschaft einteilen. Daß ich der Flugingenieur bin, steht fest auch daß Henri den Posten des Bordkommandanten hat. Prosper und Gérard sind Erster und Zweiter Astronaut „Ich bin Erster Astronaut!“ unterbrach Gérard. „Nein, ich!“ verwahrte sich Prosper. „Von mir aus seid ihr beide Chef-Astronauten!“ erklärte Superhirn ärgerlich. „Also: Bordkommandant ist Henri, Flugingenieur bin ich, Chef-Astro ist Gérard und ebenso Prosper. Tati wird Stewardeß, meinetwegen Chefstewardeß - und Micha ist Assistent!“ „Assistent?“ rief der Kleine. „Was ist das?“ „Ein Beistand, ein Gehilfe, ein Helfer“, versuchte Tati zu erklären. „Prima!“ Micha war zufrieden. „So fuhr Superhirn fort, „nun wird Henri die Wache im Kommandoraum übernehmen. Für uns andere weiß ich was Besseres: Der Professor hat das Freizeit-Center hier an Bord empfohlen!“ „Freizeit-Center?“ Gérards Augen weiteten sich. „So was gibt's hier? Kinder, hoffentlich ist da eine Gitarre!“ „Auf jeden Fall wird es da ein bißchen Abwechslung geben“, antwortete Superhirn. „Und das ist wichtig. Schon bei normalen Raumflügen fragt man sich immer wieder, wie man die Astronauten ab und zu auf andere Gedanken bringen kann, damit sie nicht den Bordkoller kriegen.“ Mittels Tastendruck ließ er darauf Stichworte über eine Tafel laufen. Als das Wort „Freizeit-Center“ erschien, drückte er die Taste wieder, so daß das Wort stehenblieb; dieses Anhalten löste eine Maschinenstimme aus, die nun in schepperndem hohlen Klang den Hinweis gab: „Freizeit-Center roten Knopf an rückwärtiger Wand drücken!“ Kaum schwieg die Stimme, als Micha auch schon mit der flachen Hand auf den genannten Knopf gepatscht hatte. Lautlos öffnete sich eine runde Tür. Superhirn voran, krochen sie alle - bis auf den wachhabenden Henri - hindurch. Micha und Loulou folgten als letzte. So neugierig der Kleine war -
da er noch nicht genau Wußte, was ihn hinter der Tür erwartete, überließ er den Vortritt doch lieber den anderen. Doch die Enttäuschung war groß. Wenn die Gefährten gedacht hatten, einen Raum mit Turngeräten, Brettspielen, Büchern und Schallplatten vorzufinden, so sahen sie statt dessen nur eine runde Polsterbank und ein paar Hocker in Würfelform - sonst aber nichts als kahle, indirekt beleuchtete Wände. „Das soll ein Freizeit-Center sein?“ entfuhr es Micha. „Nee, Superhirn, das ist ja noch viel langweiliger als ein Lehrerzimmer! Ich kenne nämlich das Lehrerzimmer in unserer Schule - da muß ich immer Blumen gießen. Aber hier sind ja noch nicht mal Blumen!“ „Trostlos!“ murrte Gérard. „Wenn das eine Abwechslung sein soll! Da wäre ich aber lieber unten im Hochmoor geblieben!“ „Sieht aus, als gäb´s hier auch keine Gitarre, Gérard“, bemerkte Prosper traurig. „Hier kann Tati allenfalls ihre Ballettsprünge machen! „Danke, die vollführe ich auch lieber auf richtigem Erdboden“ sagte das Mädchen. „Wahrscheinlich soll man mit diesen Polsterhockern Medizinball spielen, damit man in Form bleibt! Was meinst du, Superhirn?“ Der spindeldürre junge mit dem scharfen Verstand hatte die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt erklärte er: „In gewöhnlichen Raumschiffen mangelt es an Platz und an Schwerkraft. Da liegen die Leute angeschnallt nebeneinander wie die Heringe in einer Büchse, und wenn sie sich losbinden, schweben sie.“ „Na, was hat das denn mit diesem langweilen Freizeit-Center zu tun?“ unterbrach Prosper. „Abwarten“, fuhr Superhirn unbeirrt fort. „Aus dem, was ich angedeutet habe, ziehe ich meine Schlüsse!“ „Jedenfalls von weit her“, meinte Gérard kopfschüttelnd. „Nichts ist von weit her, wenn es dazu dient, einer Sache auf den Grund zu gehen“, mahnte Superhirn. „Paßt auf: Ihr wäret imstande, euch hier ein paarmal umzugucken, in den Kommandoraum. zurückzusteigen und Henri zu melden: Fehlanzeige! In diesem Freizeit-Center ist überhaupt nichts los! Stimmt´s?“ „Klar!“ rief Micha ungebärdig. „Was sollen wir denn hier? Wenn wenigstens eine große Schere da wäre, damit ich mit Tati Friseur spielen könnte!“ „Untersteh dich!“ Der bloße Gedanke entsetzte das Mädchen. „Nun hört zu!“ mahnte Superhirn wieder. „Ich gehe davon aus, daß Charivari die knifflige Frage der künstlichen Schwerkraft gelöst hat. Wir bewegen uns hier wie auf der Erde, nicht wahr? Zweitens: Es ist nicht einzusehen, warum der Professor in diesem Monitor sinnlos Raum verschwendet haben sollte: Bisher war alles, was wir sahen, vollständig zweckberechnet. Weshalb sollte das hier anders sein?“ Gérard kratzte sich am Kopf. „Klingt ganz überzeugend, hm. Aber ich sehe nichts Überzeugendes!“ „Dann sperr mal die Augen auf, ob du überhaupt was siehst“, sagte Superhirn und grinste. „He, ja - da!“ rief Prosper. „Ich sehe was!“ Er deutete auf das Wandstück neben der Tür. „Eins, zwei - vier sechs kleine Schubladen!“ Alle liefen darauf zu. Die kleinen Schubladen ragten aus der Wand; sie waren kaum größer als Zettelkästen. „Spielkarten!“ stellte Micha enttäuscht fest. „Noch dazu ganz blöde“, grollte Gérard. „Ganz und gar unbrauchbar für einen ordentlichen Skat! Sie sind ja alle durchlocht!“ „Das ist was für Kleinkinder!“ empörte sich Tati. „Nicht mal Micha würde damit spielen!“ „Hihi!“ kicherte Prosper. Er schüttelte den Kopf. „Hihihi!“ „Scheint ein Quartettspiel zu sein“, meinte Gérard mißmutig. „Hier ist eine Karte mit Elefanten, Löwen und Giraffen drauf. So was Albernes...“ „Gib mal her!“ sagte lächelnd Superhirn. Blitzschnell nahm er dem Freund die Karte aus der Hand und steckte sie in einen schmalen Schlitz über den Schubladen.
Plötzlich war in dem eben noch so langweiligen Freizeit-Center der Teufel los. Ja - befanden sich Superhirn, Gérard, Prosper, Micha, Tati und der Hund Loulou überhaupt noch im Freizeit-Center? Waren sie denn noch an Bord des Raumschiffes Monitor? Ober ihnen war keine Decke mehr, sondern lichtblauer Himmel, und die Sonne stach auf sie herab. Über ihre Köpfe schossen bunte Vögel mit schrillen Schreien dahin. Die Wände waren zurückgewichen. Sie standen in einer weiten afrikanischen Landschaft, umgeben von fliehenden Giraffen, rüsselschwenkenden Elefanten und brüllenden Löwen. Plötzlich fuhr den Freunden ein jäher Buschwind durch die Haare. Sie sahen, wie sich die Gräser bogen und wie die Zweige schwankten. Der Zwergpudel Loulou geriet fast außer sich. Und Micha war wie von Sinnen. „Die Löwen fressen den Hund!“ schrie er. „Superhirn, nimm ein Gewehr! Schnell, Superhirn, schnell!“ Irgend etwas künstlich Rotes schwebte in Griffhöhe über einem Zweig, auf dem sich soeben ein entsetzenerregend widerwärtiger Geier niedergelassen hatte. Unerschrocken streckte Superhirn seine Hand aus und drückte auf das Rote, Schlagartig war der afrikanische Busch mit all seinen Eindrücken ausgelöscht, die Gefährten standen wieder in dem kahlen Raum. „Haben wir das alles nur geträumt?“ schluckte Prosper. „Ganz und gar nicht“, amüsierte sich Superhirn. „Es hatte auch nicht das geringste mit Spuk zu tun. Erst habe ich die Karte mit den afrikanischen Tieren in den Schlitz gesteckt - und als euch vor Schreck das Herz bis sonstwohin rutschte, tippte ich auf die sichtbar gewordene Kontaktplatte. Da war der Film aus!“ „Film?“ fragte Tati verständnislos. „Ja“, nickte Superhirn. „Gewissermaßen. Auf jeden Fall, Freunde, ist dies kein langweiliges Lehrerzimmer öder noch weniger - wie Micha gemeint hat -, sondern der abwechslungsreichste Raum der Welt. Alles, was ihr auf den angeblichen Spielkarten seht, spiegelt euch ein programmierter 3-DEffekt im Großen vor, sogar mit Originalgerüchen verbunden. Ihr braucht nur in den Karten zu wühlen, das Gewünschte herauszusuchen und das Blättchen in den Schlitz zu stecken. Dann habt ihr alles, was euch interessiert, und vergeßt eine Weile, daß ihr im Monitor seid.“ „Hm, na ja...“, murmelte Prosper beeindruckt, „großartige Sache ... Wäre nicht im Traum darauf gekommen, daß sie hier so 'ne Art Rundum-Kino haben. Dabei ist uns nicht mal aufgefallen, daß wir immer noch auf dem glatten Boden zwischen den Hockern und der Polsterbank standen. Die Geräusche und auch das plastische Sehen laß ich mir gefallen! Na ja, ist nichts Neues: Tonfilm gibt's ja schon ewig, Stereo ist auch ein alter Hut. Aber die Gerüche und w' der Wind . . „Duft-Kinos sind auch schon ausprobiert worden“, erklärte Superhirn, „sie sollten die Illusion, also die Einbildung, steigern, mit allen Sinnen dabeizusein.“ Gérard, Tati und Micha sortierten nun eifrig die gelochten Bildkarten. „Ha, hier“, Micha deutete auf seine Bildkarte. „Autorennen!“ „Halt!“ rief Tati. „Ich wollte eine Modeschau sehen!“ „Und ich ein Fußballspiel!“ schrie Gérard. Nacheinander landeten alle drei Karten im Schlitz. Gegen das, was nun folgte, war Afrika mit seinen wilden Tieren harmlos. Die Automatik hinter der Wand geriet in schreckliche Verwirrung. Die Freunde standen in einem Höllenwirbel. Tatis Modeschau kam mitten in das Fußballspiel hinein, dazwischen rasten mit donnernden Motoren Michas Rennautos. Es roch nach dem Parfüm schöner Damen, nach dem Schweiß der Fußballspieler und nach Benzin. „Aufhören!“ gellte Michas Wutschrei. „Was sollen die ollen Kleider zwischen meinen Rennautos?“ „Und was sollen deine blöden Rennautos zwischen meinen schönen Kleidern?“ rief Tati. „Tor!“ jubelte Gérard. Doch dann beschwerte er sich lautstark: „Verflixt! Steht da so ein affiges Modeweib vor dem Torhüter!“ Das Geschrei der Zuschauer, das Heulen der Motoren, die Musik zur Modeschau - das alles vermischte sich zu einem irrsinnigen Konzert.
Superhirn berührte die rote Kontaktplatte. Sofort standen alle wieder zwischen den matt erleuchteten Wänden in tiefer Stille. „Einigt euch gefälligst darüber, wer was sehen und erleben will! Vor allem, werdet euch über die Reihenfolge klar! Wenn ihr alle Karten zugleich in den Schlitz sausen laßt, seid ihr am Ende reif fürs Irrenhaus. Das ist nicht der Sinn der Sache!“ Er ließ die streitenden Gefährten stehen und ging wieder hinüber in den Kommandoraum, um nach Henri zu sehen. Der kam ihm schon entgegen. Er war kreidebleich. „Es ist was Furchtbares passiert...“, sagte er heiser. „Was?“ fragte Superhirn kurz. „Der Professor ist tot!“ schluckte Henri. 2. Alarm im Weltall Superhirn hatte sich mit Henri in den Kontrollraum zurückgezogen, damit die anderen nichts hörten. Auch er war blaß aber er hatte längst gelernt: Gerade der allerschlimmsten Nachricht soll man mit der allergrößten Fassung begegnen. „Der Professor ist tot?“ fragte er ruhig. „Woher weiß du das? Wie gelangte die Nachricht hierher?“ Erst jetzt merkte er, daß der Freund nicht im Sessel des Bordkommandanten, sondern in dem des Flugingenieurs saß. „Warum hockst du auf meinem Platz?“ fragte Superhirn, „Ich habe den Gedankenstrahler benutzt“, erwiderte Henri. „Nach genau neunzig Minuten gab ein Kontrollgerät an, daß wir die Erde zum erstenmal völlig umkreist hatten. ich schaltete Erdsicht auf Schirm sechs und sah am Rand Westeuropa. Ja, ich habe sogar die Gegend von Marac am Golf von Biskaya erkannt. Da kam ich auf die Idee, in diese komische Telepathor-Lupe zu gucken. Ich dachte mir, jetzt könnte ich Charivaris Gedanken besonders gut auffangen, obwohl ...“, Henri schluckte, „...obwohl ich's vorher schon mal probiert und was Wichtiges empfangen hatte...“ „Der Reihe nach!“ befahl Superhirn. „Aber laß mich erst mal in meinen Sessel!“ Henri und Superhirn tauschten die Plätze. Superhirn setzte sich und zog den Telepathor heran. „Ich sah in den Brennpunkt des Glases“, berichtete Henri, „wobei ich stark überlegte, wie die Piraten im Meteor wohl aussähen. Wir kennen sie ja noch nicht. Bald aber hatte ich eine klare Vorstellung von den Burschen. Daran merkte ich, daß mir der Professor ihre Bilder ins Gehirn strahlte. Ja, er tat es so deutlich, daß ich danach Zeichnungen anfertigen konnte. Ich war ganz verblüfft, wie rasch das ging, und ich habe über meine Zeichenkunst ganz schön gestaunt: Die Bilder wirken wie Fotos!“ „Du hast doch hoffentlich keinerlei Funk dazu benutzt?“ fragte Superhirn schnell. „Diese Bilder - ich sehe sie mir gleich an - sind nicht etwa Funkfotos?“ „Nein“, beeilte sich Henri zu versichern. „Ich bin doch nicht blöd! Was denkst du denn? Ich weiß sehr wohl, daß Charivaris Bodenstation und wir keine Funkverbindung aufnehmen dürfen, damit die Piraten nichts abhören oder mitsehen könnten.“ „Gut. Nun zum Professor!“ Superhirn rückte das Glas zurecht, um Henris Meldung zu prüfen. „Was war weiter?“ „Ich sagte schon - nach der ersten Erdumkreisung benutzte ich den Gedankenstrahler noch einmal. Charivaris stumme Antwort war: ich halte mich kaum noch aufrecht. Die alte Wunde und die Gehirnerschütterung - es geht zu Ende! „Mensch“, rief Superhirn, „Wir hätten das mehr beachten sollen! Die Piraten hatten ihn übler zugerichtet, als wir dachten! Statt dessen sind wir Hals über Kopf in das Raumschiff gerannt, um seine meuternden Leute zu verfolgen! Ich glaubte, er sei wenigstens fähig, uns von der Bodenstation aus zu lenken!“ Henri nickte trübe. „Wir waren voreilig. Tati hätte ihn erst gesund pflegen sollen. Den Meteor hätten wir auch später noch jagen können. Was machen wir nun?“
„Vor allem geraten wir nicht in Verzweiflung“, erwiderte Superhirn. „Und noch eins, Henri: Was immer geschehen sein mag - es bleibt unser Geheimnis. Die anderen dürfen kein Sterbenswort davon erfahren. Wenn sie auftauchen, scheuchen wir sie ins Freizeit- Center zurück - oder in die Bordküche. So, nun still. Diese Gedankenlupe zeigt einen schwachen Brennpunkt!“ Superhirn starrte auf das dicke Glas und bemühte sich, seine Gedanken in stumme Sätze zu fassen. „Hallo, Professor! Professor Charivari“, dachte er Wort für Wort. „Henri sagt mir, Sie melden sich nicht mehr! Hallo! Hören Sie mich noch? Empfangen Sie diese Gedanken?“ Eine bange Weile verging. Aber kein fremder Gedanke strahlte in sein Hirn. Also mußten die Lebensgeister des Professors tatsächlich erloschen sein. Die telepathischen Augenhaftschalen, die Charivari für diese Art von Nachrichtenübermittlung trug, hätten sonst wenigstens noch Gedankenfetzen gesendet. Eben wollte er das Gerät abstellen, als der Brennpunkt etwas schärfer wurde. Gleichzeitig hatte Superhirn eine Vision des Professors: Charivari lag reglos über seinem Schreibtisch. Und es kam ein Gedanke: bin so schwach, so schwach...“ Superhirn zuckte vor Freude zusammen. Der Professor war also doch nicht tot! Aber bevor Superhirn hoffnungsvoll aufatmen konnte, verblaßten Vision und Gedankenbruchstücke. Der Junge nahm nur noch seine eigenen Gedanken wahr. Ober den Telepathor kam nichts mehr, nichts, nichts. Auf der anderen Seite des Sendeweges, unten in Charivaris Bodenstation, hinter den Augenhaftschalen des Professors, war sozusagen alles dunkel. „Was ist?“ fragte Henri bedrückt. „Nichts“, sagte Superhirn tonlos. „Du hast recht, es ist aus. Er ist zwar noch einmal aus der Bewußtlosigkeit erwacht, aber es war wohl ein letztes Aufflackern. Seine Haftschalen strahlen nichts mehr aus, und unser Telepathor schweigt!“ „Jetzt haben wir keine Verbindung zur Erde mehr“, murmelte Henri. „Wer leitet uns hinunter?“ Superhirn lachte trocken. „Das frage ich mich auch! Dies ist zwar keine gewöhnliche Raumkapsel, die umständlich aus dem Meer geborgen werden muß, sondern ein nahezu ortsunabhängiges Allzweckfahrzeug. Wir können damit fliegen und aufsetzen wie mit einer Verkehrsmaschine, über den Ozean rutschen wie mit einem Luftkissenboot und tauchen wie mit einem U-Boot. Aber wir sind an diesem Ding nicht ausgebildet, und ohne den wahren Lenker, den Professor, sehe ich schwarz!“ „Der eine Bruder Charivaris leitet die Mondstation“, überlegte Henri, „der andere die Unterwasserstation auf der Erde. Wenn wir uns nun mit einem der beiden in Verbindung setzten?“ „Der Professor muß einen Grund gehabt haben, daß er uns dazu mit keiner Silbe und keinem Gedanken riet“, meinte Superhirn stirnrunzelnd. „Vielleicht hat er gefürchtet, die Besatzungen der Mond- und Unterseestation könnten ebenfalls verrückt spielen und seine Brüder genauso überwältigen, wie es die Meuterer mit ihm taten. Sicher hat er fest damit gerechnet, daß wir Meteor mit Hilfe seiner Gedankenleitung zum Aufgeben zwingen würden.“ „Aber die Gedankenleitung besteht nun nicht mehr“, stellte Henri fest. Superhirn nickte. „Und jetzt erst sind wir wirklich ganz und gar auf uns allein gestellt und können uns bei niemandem mehr einen Rat holen...“ „Und wenn wir nun doch versuchten, die Mondstation zu erreichen?“ überlegte Henri. „Dann stürzt sich der Meteor auf die Unterwasserstation, meinte Superhirn. „Schätze, die Meuterer warten bloß darauf, daß wir abdrehen und uns einem der beiden Stützpunkte zuwenden. In diesem Augenblick würden sie Kurs auf den anderen nehmen. Daß wir ihnen so dicht auf den Fersen sind, paßt ihnen bestimmt am wenigsten. Sicher beobachten sie uns dauernd auf ihrem Himmelsvisor.“ Henri lachte bitter. „Nur den Gedankenstrahler hatten sie nicht! Das Gerät, mit dem nur unser Raumschiff ausgestattet war, der einzige Apparat, dessen Bedeutung nicht mal Charivaris Chef-Astro kannte! Es ist zum Heulen!“ „Nana!“ beschwichtigte Superhirn. „Vergiß nicht: Wir haben immer noch unverschämtes Glück. Unser Monitor ist stärker als das Piratenfahrzeug. Hätte Charivari nicht ein Startrelais aus dem Monitor genommen, so wären die Burschen natürlich mit diesem Raumschiff geflohen.“ „Ach ja ...“ Henris Gesicht verdüsterte sich noch mehr. „Das bringt mich auf die Bilder, die mir
Charivaris Gedanken eingaben und die ich angefertigt habe - die Verbrechertypen...“ Er ließ eine Art Pult am Tischrand hochschnappen, öffnete den Deckel und zog etwa ein Dutzend Zeichnungen heraus. „Die hab ich auf telepathische Anweisung gemacht. Gewöhnlich kann ich nicht so rasch und so gut zeichnen.“ Du hast sogar die Namen daruntergeschrieben.“ Superhirn grinste schwach. „Hm. Aber wenn man sich die Gesichter der Kerle betrachtet, kann einem angst und bange werden!“ „Das fand ich auch“, bestätigte Henri rauh. „Chef-Astro Dr. Muller, das war Professor Charivaris Erster Assistent, der tückischste Verräter, ein von Ehrgeiz nahezu zerrissenes Gesicht - Junge, Junge! Und wen haben wir hier? Systemspezialist Prof. Viechsbrunn. Viechsbrunn, na, ein ungemütlicher Mann. Dann: Die Astros Dr. Dr. Capuso und John Bart sowie Jan Eikkoonen, die Ingenieure Smith, Krachuwitsch, Villeneuve und Mayersmann und drei Kerle, unter deren Bilder du Raumfahrttechniker geschrieben hast: Dirk Luns, Fürst Pitterich und Valdez Fadango.“ „Ganz schöne Sammlung, was?“ fragte Henri. „Viechsbrunn, Capuso, Villeneuve und Fadango sind sehr berühmt gewesen“, erklärte Superhirn. „Aber sie waren so eigensinnig, daß man sie in staatlichen Raumfahrtzentren nicht mehr brauchen konnte. Zusammenarbeit - Teamwork - ist dort alles. Wer die Disziplin bricht, fliegt raus. So ging es diesen Männern, und so wird es auch den anderen gegangen sein. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich Professor Charivaris Vorhaben anzuschließen.“ „Ich lege die Bilder lieber in das Pult zurück“, meinte Henri. „Den anderen könnte bei dem Anblick schlecht werden. Aber jetzt wissen wir wenigstens, wen wir im Meteor vor uns haben - na, ich danke!“ „Ich auch“, murmelte Superhirn, der sich wieder dem Himmelsvisor zuwandte. Plötzlich fuhr er hoch. Er starrte entgeistert auf einen der Bildschirme, der eingeschaltet war und über den in wilden Kurven weiße Zeichen zuckten. „Mensch, Henri!“ „Was ist?“ fragte der Bordkommandant. „Wer hat den Außenfunk eingeschaltet?“ Superhirn, sonst die Ruhe selbst, schrie das beinahe. „Außenfunk?“ Henris Augen weiteten sich. „Das ist der Kontrollschirm für Außenfunk!“ rief Superhirn. „Die Anlage ist in Betrieb!“ „Was heißt das?“ Doch der Bordkommandant sah den Flugingenieur ahnungsvoll an. „Meteor hat alles mithören können, was wir gesprochen haben“, zischte Superhirn. Er suchte die Taste auf einer Dreistufenleiste vor dem Befehlstisch und drückte darauf. Sofort wurde der Kontrollschirm für den Außenfunk dunkel. Superhirn fiel in den Sessel zurück. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. „Henri!“ hauchte er. „Überleg mal! Ich flehe dich an, denk scharf nach, so scharf du irgend kannst! Wann meinst du - hast du den Außenfunk versehentlich eingeschaltet? Mit Absicht wirst du es sicher nicht getan haben!“ „Gewiß nicht!“ schwor Henri. Dann sagte er mit zitternder Stimme: „Ich muß die Taste berührt haben, als wir die Plätze wechselten!“ „Dann haben die Piraten alles mitgehört!“ stöhnte Superhirn. „Sie wissen jetzt, daß der Professor tot ist und daß wir keine Mannschaft von Erwachsenen sind. Das kann die furchtbarsten Folgen haben!“ Henri, den diese Erkenntnis wie ein Schlag vor die Stirn getroffen hatte, erwiderte schwach: „Es war doch nur Hörfunk, nicht?“ „Bildfunk wäre allerdings noch viel hübscher gewesen!“ lachte Superhirn grimmig. Superhirn war nicht gewohnt, sich trüben Gedanken hinzugeben. Er schaltete die Informationstafel an der Wandleiste ein und ließ die Stichworte darüber hinweglaufen, die für den Monitor-Betrieb gespeichert waren. Bei „Abwehrbereitschaft“ drückte er die Taste wieder, und schon ertönte die Maschinenstimme hohl und schleppend: „Hitzeschilde in Betrieb nehmen - Knopf B an Backbord bis zum Anschlag drehen - an Außenhaut des Raumschiffes bildet sich Geliermasse, die jedem Angriff mit Strahlen oder Hartgeschossen
widersteht.“ „Du meinst, Meteor wird uns doch angreifen?“ fragte Henri. „Ich bin jetzt überzeugt davon“, versetzte Superhirn knapp. „Schnell, dreh den Knopf B an Backbord bis zum Anschlag. Die Kühlanlage für die Hitzeschilde war ja zum Glück noch in Betrieb. Und nun kümmere dich um deine Geschwister und Freunde. Lenk sie ab, lag sie nichts merken! Seht euch den Wohnteil des Raumschiffs an! Ich gebe erst Alarm, wenn's nicht mehr zu vermeiden ist!“ Henri fand die Gefährten im Freizeit-Center, wo sie sich eben einen Wald mit all seinen Gerüchen vorspiegelten. Es duftete köstlich nach Tannennadeln, Kräutern und modrigen Holz. Man sah ein Rudel Rehe, und der Pudel Loulou war ganz außer sich, als er einen hoppelnden Hasen bemerkte. Henri, der das Freizeit-Center ja noch nicht kannte, stand eine Weile wie gebannt. Wahrhaftig - hier konnte man vergessen, daß man an Bord eines Raumschiffes war! Doch dann erinnerte er sich an den Tod des Professors, an die Panne mit dem Außenfunk, an Superhirns Alarmvorkehrung - und vor allem an die teuflischen Gesichter der Piraten auf den Bildern... „Kinder“, sagte er entschlossen. „Ich muß euch leider unterbrechen. Ihr werdet bestimmt Hunger haben. Wir müssen also erst mal erkunden, wo die Bordküche ist. Außerdem müssen wir rauskriegen, wo unsere Schlafzimmer und die übrigen Räume sich befinden!“ „Au ja!“ krähte Micha. „Wo sind denn die Toiletten? Der Pudel braucht eine Hundetoilette!“ „Na, da wird sich schon was finden lassen“, lachte Gérard. Er drückte die rote Kontaktplatte, so daß der Wald ringsum und über ihnen samt seinen köstlichen Gerüchen verblich. „Wir kraxeln jetzt mal durch den ganzen Monitor!“ Zuerst fanden sie tatsächlich die Küche. Dann kamen sie durch einen Wohnsalon, in dem sich ein langer, flacher Tisch mit mehreren Sesseln befand. Die vier Schlafräume glichen Kabinen. Ihre Ausstattung bestand hauptsächlich aus je zwei Betten und einer Liege. „Tati, ich und Loulou schlafen zusammen“, rief Micha. „Der Pudel kriegt das Notbett!“ Danach tappten sie durch eine Schleuse in den Lastenraum. Das war eine glattwandige Höhle, die sichtlich den Zweck hatte, Sachen zum Transport durchs All aufzunehmen. „Hier hat Loulou Auslauf“, meinte Henri. Einen richtigen Platz oder eine Straße können wir ihm nicht herzaubern“ Um die Hundesorgen kümmerte sich Gérard nicht. Er blickte auf die beiden festgelaschten Apparate inmitten der Halle. „He, was ist das ...“, rief er verblüfft. „Ein kleines Raumschiff!“ staunte Prosper. „Ein Hilfskäfer, würde ich sagen. Ich meine, eine Art Beiboot wie auf einem Seefahrzeug! Fehlen nur die Rettungsringe!“ „Und das da?“ schrie Micha. „Ein Auto! Ein todschickes Auto ...“ Enttäuscht fügte er hinzu: „Aber es hat keine Räder !“ „Das ist ein fliegendes Auto“, stellte Henri fest. „Ich nenne es so, weil es eins von den Dingern ist, die sich auf Luftkissen oder Strahlenpolstern über dem Boden fortbewegen können.“ „Dient sicher zur Erkundung unbekannter Landgegenden“, meinte Gérard. „Und was mag hinter diesem Raum sein?“ fragte Tati. „Der Geräte- und Antriebsteil vom Monitor“, meinte Henri. „Was sonst? Aber den lassen wir lieber. Ich schätze, nur die Kommandozentrale, die Aufenthaltsräume und der Lastenraum haben künstliche Schwerkraft. Im Geräteteil könnte es passieren, daß wir herumschweben wie Kissenfedern.“ „Auch Loulou?“ fragte Micha. „Klar!“ erwiderte Prosper. „Wenn es keine Anziehungskraft gibt - wie zum Beispiel auf der Erde -, schwebt alles frei im Raum, sogar eine Tasse, ein Bleistift, ein Hammer oder ein Kochtopf - alles, was nicht ordentlich befestigt ist!“ „Denk doch nur an die Filme aus dem Inneren gewöhnlicher Raumschiffe“, erinnerte Gérard. „Da schweben die Astronauten doch immer schwerelos herum. Bei der Arbeit sind sie angeschnallt.“ Plötzlich brach ringsum die Hölle los. Eine Sirene heulte, Klingeln schrillten, an den Wänden erschienen zuckende Lichtpfeile, die in Richtung des Kommandoraums wiesen. Loulou bellte wie besessen. Seine jammervolle Hundestimme wurde durch das schaurige maschinelle Gebrüll übertönt:
„Alarm ...!“ Henri stand einen Augenblick wie erstarrt. Er begriff: Superhirn hatte den Alarm ausgelöst. Es war soweit! Meteor griff an! 3. Großeinsatz im Hochmoor Der Professor war nicht tot, wie Henri und Superhirn geglaubt hatten. Doch zu ihrem Unglück, zum Unglück der ganzen Besatzung, konnte er nicht helfen. ja, der Professor ahnte nicht einmal, was im Weltraum geschehen war. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, fand er sich am Tastenschreibtisch im silbrig schimmernden, eiförmigen Befehlsraum der geheimen Bodenstation. Allmählich fielen ihm die Geschehnisse der letzten Tage und Stunden wieder ein: Sein Chef-Astro Dr. Muller und die Männer vom fliegenden, technischen und wissenschaftlichen Personal hatten gemeutert. Sie hatten ihn niedergeschlagen und waren mit dem Meteor geflohen - mit dem Meteor, weil der besser ausgerüstete Monitor nicht startbereit gewesen war. Im Trubel der Meuterei und der Flucht hatte Professor Charivari einige Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt. So waren ihm Superhirn, Henri, Gérard, Prosper, Tati und Micha auf die Spur gekommen: zu seinem Glück, denn sie hatten ihn gerettet. So unglaublich es schien: die Feriengruppe, die ins Hochmoor gezogen war, um bei der Bruchsteinkapelle zu zelten, bildete jetzt des großen Gelehrten einzige und letzte Hoffnung. Wobei diese Hoffnung weniger auf die Ferienkinder als vielmehr auf Superhirn gegründet war. Und natürlich auf die Gedankenverbindung mittels seiner Augenhaftschalen und des Telepathors an Bord des Raumschiffs Monitor. Der Telepathor war stark. Die Gedankenströme mußten auch durch geschlossene Augenlider über die Haftschalen ins Gehirn dringen. Professor Charivari hatte das an dressierten Hunden erprobt: Der Gedankenstrahler konnte sie aus Schlaf und Betäubung wecken, so daß sie die erteilten Befehle ausführten. Stöhnend faßte sich der Professor an die Stirn. Die Wunde, die von den Meuterern stammte, mußte wieder geblutet haben. Die häßlichen Flecke auf den Tasten wiesen darauf hin. Wie lange mochte er besinnungslos gewesen sein? Gleichgültig, dachte Charivari. Mit Monitor ist alles in Ordnung! Hätte der Telepathor etwas ausgestrahlt - die Augenhaftschalen hätten es aufgefangen und meinen Geist geweckt. Professor Charivari wußte nicht, wie tief seine Ohnmacht gewesen war. Monatelange Überarbeitung, die Aufregung des Überfalls, die Verletzung, die Anspannung beim Start der jungen Freunde, das Wachen am Befehlstisch, das Absichern der gesamten geheimen unterirdischen Bodenstation mit den Raumschiffgaragen und der Abschußrampe im Meer - diese mörderische Belastung hatte sich plötzlich gerächt. Charivari war völlig weg gewesen, weg wie ein Stein in einem tiefen, tiefen Brunnen. Selbst ein doppelt starker Telepathor oder doppelt starke telepathische Augenhaftschalen hätten dem Ohnmächtigen keinen Gedanken zuführen können. Doch der Professor murmelte: „Alles in Ordnung, gewiß, gewiß. Hätte ich im Schlaf Alarmgedanken empfangen, so würde wenigstens eine schwache Erinnerung in mir aufblitzen.“ Wie gesagt: Charivari täuschte sich. Benommen taumelte er in sein Badezimmer, nahm den blutigen Verband von seinem Kahlschädel, tupfte die Wunde vorsichtig ab und klebte ein gepolstertes Pflaster darauf. Das Sausen, Summen und Brummen in seinen Ohren störte ihn. Eine Folge der tiefen Bewußtlosigkeit. Bevor er die Augenhaftschalen unter den brennenden Lidern hervorzog, stand er still und konzentrierte sich. Er sendete noch einmal Gedanken zum Monitor - sicherheitshalber. Ausgerechnet während des Waschens konnte ja etwas passieren. Und da er wegen der Meuterer jeden Funkverkehr hatte einstellen lassen, war dies die beste und zuverlässigste Verbindung, auch die unmittelbarste. „Alles in Ordnung, Superhirn und Henri?“ strahlte Professor Charivari aus. „Ihr sendet nicht!
Demnach ist Meteor immer noch auf Erdumlaufbahn? Es kann sein, daß sich die Meuterer untereinander zerstritten haben.“ Charivari wartete eine Weile, doch es kam keine Gedankenantwort. Nun, dachte er, nichts los. Sonst säße einer am Telepathor. Wahrscheinlich werden sie in der Bordküche, im Freizeit-Center oder in den Kabinen sein. Vorsichtig tat er die kostbaren Augenhaftschalen auf ein Taschentuch. In diesem Moment tönte es durch den Warnverstärker der Bodenstation: „Professor! Professor Charivari! Wo sind Sie?“ Der Professor erstarrte. Das Sausen und Summen in seinen Ohren hatte sich gegeben. Auf einmal unterschied er eine Fülle von nahen und entfernten Stimmen und Geräuschen. „Professor!“ Das war der Bauer Dix, der ihm diesen westlichen Teil des Hochmoors mit der Steilküste verkauft hatte. Aber nicht nur Dix lief da oben über der geheimen Bodenstation herum, in seiner Begleitung befanden sich eine Menge Leute, wie die Lautsprecher-Warnanlage verriet. Soldaten, Feuerwehr, Polizei - das hörte er an den Anreden. Man suchte etwas! Eisig durchzuckte es den Professor: Hatte man etwa Verdacht geschöpft? War man ihm auf die Spur gekommen? Ahnte man das Vorhandensein der geheimen unterirdischen Station und der Raumschiffgarage vor der Küste?“ Jahrelang hatte Charivari den günstigsten Platz für die geplanten Anlagen gesucht, und er hatte ihn hier im verrufenen Hochmoor, nahe den Todesklippen, gefunden. Die Leute im Badeort Marac hielten ihn für einen harmlosen gelehrten Kauz, einen reichen alten Mann, dessen Hobby es war, in den Höhlen Bodentests durchzuführen, Gesteinsproben zu sammeln und ein Buch darüber zu schreiben. Kaum jemals kam einer zu der armseligen Hütte, die zwischen Büschen über der supermodernen Bodenstation ihr windschiefes Dasein fristete - und in der der menschenscheue Gesteinsforscher zu wohnen vorgab. „Professor Charivari!“ gellte es wieder durch die Warnanlage. Der Rufer - und die übrigen Sprecher dort oben hatten keine Ahnung, daß ihre Stimmen über viele Verstärker durch die Bodenstation hallten. Der Professor hörte an ihren Worten, daß sie zum Glück noch nicht wußten, wo sie ihn suchen sollten. Trotzdem dachte er fieberhaft: Ich muß hinauf, muß den Ahnungslosen spielen. Hastig steckte er das Taschentuch in die Kitteltasche. Dabei entglitten ihm die telepathischen Haftschalen, und knacks, knirsch, trat er darauf. Ächzend bückte er sich. Als er sich wieder aufrichtete, sah er sein totenblasses Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Er hatte allen Grund, so bleich zu sein: Die kostbaren kleinen Plättchen, die Haftschalen, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes mit der Besatzung des Monitors“ verbanden, waren unter seinen Füßen zersplittert. Er würde den Funkbetrieb wiederaufnehmen müssen, und die junge Mannschaft des Raumschiffes würde die Sende- und Empfangsanlagen auch wieder einschalten, wenn sie merkte, daß über den Telepathor keine Gedankenvermittlung mehr möglich war. Aber Charivari mußte die Station verlassen. Man suchte ihn. Oben im Hochmoor und bei den Klippen schien der Teufel los zu sein. In das Stimmengewirr mischte sich das Geräusch von Automotoren und das Knattern von Hubschraubern. Der Professor streifte den weißen Kittel ab, lief in den Nebenraum und zerrte eine speckige, alte Jacke aus einem Schrank. Dann nahm er den Stock, den er stets trug, wenn er übers Hochmoor nach Marac ging. An der Tür stutzte er. Rasch ging er noch einmal zum Schrank, kramte nach einem flachen Kästchen, öffnete es und entnahm ihm eine Brille - richtiger: zwei Teile einer Brille, denn das linke Glas war aus der angeknacksten Fassung gesprungen. Besser als nichts, dachte er verzweifelt. So gut wie die Haftschalen ist das kaputte Ding nicht, aber es wird die einzige Möglichkeit sein, mit Monitor in Verbindung zu treten, wenn ich oben im Freien bin. Die Brille war zu telepathischen Zwecken zu gebrauchen wie die Augenhaftschalen, nur war sie alt. Sie stammte noch aus der Zeit der Versuche. Das dümmste war, daß man mit dem
herausgesprungenen Glas und dem Gestell jonglieren mußte. Das würde die erforderliche geistige Anspannung beeinträchtigen. Eilig durchquerte der Professor die gleißenden, leeren Räume der Bodenstation. Er lief durch Gänge, Schleusen, Kammern und wieder durch Gänge, bis er eine Art Schrank erreichte. Hier endete der blitzsaubere Kunststoffußboden, hier endeten auch die glatten, metallisch schimmernden Wände mit ihrem künstlichen, kühlen, indirekten Licht. Hinter der Schranktür befand sich eine Leiter, die in die Ofenattrappe der alten Hütte hinaufführte. Mochte die Hütte jetzt auch ein Trümmerhaufen sein, weil der Professor sie nach dem Kampf mit den Meuterern durch versehentlichen Tastendruck zerstört hatte, der Eingang war uneinnehmbar. Er war durch verfestigte Luft gegen jede Menschengewalt geschützt. Charivari sprach einen Wort-Code in ein verstecktes Mikrofon, so daß sich die Schranktür öffnete. Zum Schließen benutzte er auf der anderen Seite - am Fuß der Leiter dieselben Worte. Ebenfalls mit einem Wortschlüssel öffnete er die Verfestigung des Ausgangs oberhalb der Leiter. Er sagte zwar nicht „Sesam öffne dich“ wie Ali Baba im Märchen, aber er gebrauchte eine Wortfolge, die er einmal vorwärts und einmal rückwärts sprach. Die Luftpanzerung wich auch nicht durch „Spuk“, sie wurde durch einen eingebauten Sprachanalysator gelöst. Mit dem Stock stieß er die Herdringe hoch und zur Seite - und stieg durch den Ofen in die Trümmer der Hütte. Das erste, was er sah, war ein Feuerwehrmann, der ihn anstarrte, als sei er ein Geist. „Guten Tag“, lächelte der Professor. Mit geübten Griffen hob er die Herdringe auf, rückte sie auf dem Ofen zurecht und setzte das runde Mittelstück ein. Rasch sprach er die Verfestigungsformel. Das eingebaute Mikrofon löste daraufhin über den Sprachanalysator die neuerliche Luftpanzerung rund um den Eingang aus. „Was ist das?“ stammelte der Feuerwehrmann. „Himmel, wer?“ Doch schon bahnte sich der Bauer Dix einen Weg durch die Hüttentrümmer. „Herr Professor!“ Er lachte beinahe närrisch. „Was meinen Sie, wie lange wir Sie suchen! Mir fällt ein Stein vom Herzen - so schwer wie der größte Felsen von Marac!“ Er wandte sich an den Feuerwehrmann, der noch immer wie angewurzelt dastand: „Haben Sie den Professor gefunden?“ „Ich?“ Der Feuerwehrmann strich verwirrt über sein Lippenbärtchen. „Ja - nein! Ich habe ihn nur als erster gesehen! Ich sah, wie er aus dem Ofen stieg.“ „Aus dem Ofen?“ lachte der Bauer Dix. „Mann, mir scheint, hier spinnt allmählich jeder! Seit die Küstenwache gestern ihre komische Meldung gemacht hat, sieht alle Welt in Marac Gespenster! Ein Sturm hat die Hütte vernichtet, was sonst? So ein Sturm im Hochmoor ist kein sanftes Lüftchen - wer wüßte das besser als ich, der das Gelände an den Professor verkauft hat! Ich habe ihn oft genug gewarnt, und ich habe ihm auch immer wieder gesagt, daß die Steilküste und der Strand wegen ihrer Todesgefahren verrufen sind. Aber das hat ihm nichts ausgemacht. Nicht wahr, Herr Professor?“ „Gewiß, lieber Dix, gewiß!“ lächelte der Professor. Er gab sich den Anschein der Schüchternheit und Weltfremdheit. „Mir lag daran, meine Studien so ungestört wie möglich durchzuführen, deshalb wählte ich diesen Platz...“ Ein wenig täppisch drehte er sich nach allen Seiten und betrachtete die Trümmer. „Ein Wirbelsturm, nicht wahr ... Ich muß wohl sehr lange bewußtlos unter den Brettern gelegen haben.“ „Unmöglich!“ meldete sich der Feuerwehrmann nun ganz entschieden. „Wir haben jedes Brett umgedreht, den Möbelkram auf einen Haufen getan und überhaupt kein einziges Trümmerstück auf dem anderen gelassen. Es kann nicht sein, daß der Professor darunter lag. Er ist aus dem Ofen gestiegen - aus diesem Ding, das als einziges so fest steht, als sei es hundert Meter tief in die Erde gerammt!“ Wieder lachte der Bauer Dix. „Ich sage ja, alle Welt sieht Gespenster! Woher sollte denn die Wunde am Kopf des Professors stammen, wenn nicht von einem Balken, der ihn unter sich begrub?“ „Der Balken hat wohl auch gleich das Pflaster mitgeliefert“, versetzte der Feuerwehrmann schlagfertig. Charivari faßte sich an die Stirn. „Wie man's nimmt“, lächelte er. „Als ich hinter dem Ofen wieder zu
mir kam, fühlte ich den Schmerz. Noch am Boden habe ich mich selber versorgt. Ein Gesteinsforscher, dessen Hobby es ist, in den Klippen herumzusteigen, trägt vorsichtshalber immer ein Pflaster in der Tasche!“ „Na, klar!“ rief Dix. „Ich möchte nur wissen, wo das Aufräumungskommando seine Augen gehabt hat!“ Der Feuerwehrmann murmelte etwas. Er trat an den Ofen heran und versuchte ihn zu öffnen. Als ihm das nicht gelang, schüttelte er den Kopf. Dann sah er den Bauern an und lachte. „Sie haben recht. Hier im Hochmoor sieht man Gespenster. Das hat meine Großmutter schon immer gesagt.“ Er zog ein Päckchen aus der Tasche, wickelte ein Butterbrot aus und biß kräftig hinein. Die rätselhafte Sache war für ihn erledigt. Professor Charivari atmete auf. Doch der Mann war nicht die einzige unangenehme Überraschung, die ihn hier oben im Hochmoor erwartete. Andere Feuerwehrleute durchsuchten die knorrigen Büsche. An den Klippen wimmelte es von Soldaten. Am Bach parkten Polizei-, Sanitäts-, Militär- und Privatwagen. Hubschrauber der Luftwaffe kurvten über Hochmoor, Steilküste und See. Draußen - weit vor den tückischen Klippen - kreuzten Schnellboote der Küstenwache. Ein hochbordiges rotes Schiff hatte geankert. Am Horizont sah man die Umrisse eines Kriegsschiffs. Den Professor befiel die schreckliche Gewißheit: Das alles galt seiner unterirdischen Bodenstation und seiner unterseeischen Abschußrampe. Ihn, den alten Mann, hatte man nur so nebenbei in den Trümmern der Hütte gesucht. Wäre er von den Folgen der Meuterei nicht so benommen und verwirrt gewesen, hätte er den Start des Monitor nicht zu leiten gehabt und wäre er danach nicht vor Erschöpfung wieder bewußtlos geworden, so hätte er das alles, was sich jetzt hier abspielte, voraussehen müssen. Beide Raumschiffe, das der Piraten und das der Verfolger, waren ohne abschirmende künstliche Nebelwände gestartet. In Marac mußte man das Brausen und Donnern der Starts gehört und die Feuerschweife beobachtet haben. Die Piraten hatten versucht, die Bodenstation mit Mikrowellen zu vernichten. Wenn ihnen das auch nicht gelungen war, so konnten diese Wellen auf einem Wach- oder Wetterschiff oder bei einer Küsten-Warnanlage alarmauslösend gewesen sein. Der Professor richtete seinen Blick auf eine Gruppe von Männern, die aus Zivilisten und Uniformierten bestand. Derjenige' ' der da das größte Wort führte, war ein elegant gekleideter Mann mit sorgfältig frisiertem, weißem Haar. „Der Innenminister“, sagte Herr Dix, auf dem Mundstück seiner erloschenen Tabakpfeife kauend. Er kam mit dem Flugzeug. Und er hat den Chef der Spionageabwehr und den Leiter des Zivilschutzes mitgebracht. Zwei Generale und ein hoher Polizeibeamter sind auch dabei. Der dahinten ist Vizeadmiral Tombe. Die übrigen sollen Wissenschaftler sein, Atomfachleute oder Strahlenforscher.“ Professor Charivari verriet nicht einmal durch ein Wimpernzucken, wie sehr er erschrak. jetzt begriff er auch, was das verankerte hochbordige Schiff vor den Klippen zu bedeuten hatte. Man prüfte die Radioaktivität. Und der Kastenwagen, der über das Hochmoor gerumpelt kam, war mit Antennen gespickt: ein Peilwagen, der womöglich schon seit Stunden hier herumfuhr, um Funkwellen oder Strahlen aufzufangen. Charivari war froh, daß er jeden Funkverkehr mit Monitor abgebrochen hatte. Sicher, niemand hätte das Verschlüsselungssystem, in dem die Sprüche die geheime Station verließen, enträtseln können die Funkwellen selbst würde der Peilwagen aufgefangen haben. Die Raumschiffe waren wegen ihrer besonderen Außenhaut von keiner Sternwarte ortbar, von anderen Raumfahrzeugen nur in unmittelbarer Nähe. Und die Anlagen der Bodenstation waren unter der Erde von sprengstoffsicheren Abschirmungen genauso umgeben wie die Raumschiffgarage und die unterseeische Abschußrampe. Ohne daß die hohen Herren es wußten, stand hier in Gestalt dieses so weltfremd wirkenden „Gesteinsforschers“ der bedeutendste Strahlenfachmann der Welt. „He, wer ist denn der ]komische Vogel da?“ fragte der Leiter der Spionageabwehr. Der Minister und sein Gefolge blickten verwundert auf den Professor, dessen ungewöhnliche
Körpergröße in keinem Verhältnis zu seiner Hagerkeit stand. Der ovale Kahlschädel war annähernd zitronengelb. Um so schwärzer wirkten die Augenbrauen. Der lackschwarze Schnürenbart reichte bis an den Saum der Jacke. In der rechten Hand trug der Sonderling einen Schlaufenstock, der anscheinend mit einem Gerät gekoppelt war. „Das ist Herr Professor Brutto Charivari“, erklärte ein Ortspolizist. „Ihm gehört das Gelände hier, er hat in der zerstörten Hütte gewohnt.“ „Interessant!“ rief der Minister. „Ach, das ist der Mann, den der Bauer mit den Feuerwehrmännern gesucht hat?“ Von den anderen Herren begleitet, trat er auf den Professor zu. „Jean Kleber, Minister des Inneren stellte er sich vor. „Sie sind der einzige Bewohner dieser Gegend, Herr - Herr...“ „Charivari“, erwiderte der Professor mit seiner sanften Stimme. Er verneigte sich höflich. „Ich bin Geochronologe, Fachmann für die Altersbestimmung von Gesteinen. Es tut mir leid, daß ich die Herren nicht zu einer Tasse Tee einladen kann ...“ Er lächelte trübe. „Aber Sie sehen ja selbst. Ein Wirbelsturm hat mein Haus zerstört. Übrigens wäre es sowieso zu klein gewesen, um Sie alle aufzunehmen.“ „Danke, danke“, sagte der Minister. „Was ich fragen wollte: Waren Sie die ganze Zeit hier?“ „Aber natürlich! Wo sollte ein alter Gelehrter sein, wenn nicht an der Stätte seiner bescheidenen Forschungen? Allerdings - nach dem Wirbelsturm muß ich lange bewußtlos gewesen sein.“ „Wirbelsturm?“ rief einer der Regierungsbeamten. „Herr! Sind Sie Meteorologe, daß Sie das so ohne weiteres behaupten können? Fragen Sie die Küstenwacht und andere Beobachter! Erkundigen Sie sich beim Leiter des Zivilschutzes oder beim Chef der Abwehr, was die zu Ihrem Wirbelsturm meinen!“ Ho, das klang gefährlich - doch Charivari begriff, daß es nicht gegen ihn, sondern gegen seine Ansicht gerichtet war. Im übrigen sah man, die Herren waren schlechter Laune. Anscheinend hatten weder der Peilwagen noch die Schiffe, noch die Hubschrauber irgendeine aufschlußreiche Meldung machen können. „Lassen wir Vermutungen aus dem Spiel“, begann der Leiter des Zivilschutzes, nachdem er sich vorgestellt hatte. „Als einziger Bewohner dieser hochgelegenen Stelle wären Sie der beste Zeuge für die Vorgänge von gestern. Haben Sie nichts Auffälliges bemerkt?“ Professor Charivari tat, als dächte er nach. „Nein“, sagte er dann. Er bemühte sich, seiner Stimme einen entschuldigenden Klang zu geben. „Ich war wie immer in meine Arbeit vertieft. Die Ergebnisse meiner Gesteinsforschungen schreibe ich nämlich täglich auf.“ Einer der Beamten unterbrach ärgerlich: „Natürlich! Immer dasselbe mit den Gelehrten! Wenn sich so einer in seine Arbeit vergräbt, kann die Welt untergehen! Wahrscheinlich hat er noch nicht mal den Einsturz seiner Hütte gemerkt!“ „Ehrlich gesagt - nein“, lächelte der Professor sanft. „Aber wenn ich auch einmal etwas fragen darf: Was soll denn eigentlich gewesen sein?“ „Recht eigenartig, wenn der sonderbare Sturm und das andere zwei Dinge waren“, meinte der Leiter des Zivilschutzes. „Nun ja - aber davon verstehen Sie nichts. Sie sind ja nur Gesteinsforscher.“ „Einen Moment“, unterbrach ein schmaler, kleiner Herr. „Mein Name ist Roger Chambre, vielleicht kennen sie mich, Herr Professor. Ich bin der Direktor des Staatlichen Strahlenforschungs-Instituts. Haben Sie an Ihren Gesteinsproben jemals Radioaktivität festgestellt?“ „Das war mir mit meinen bescheidenen Mitteln nicht möglich“, erwiderte Charivari scheinbar verlegen. Einige der Männer grinsten verstohlen. Dieser Kahlschädel mit dem Strippenbart und dem komischen Stock sah wirklich nicht aus, als könne er mit modernen Geräten umgehen. Der Minister lächelte nicht. Er musterte den Professor eine Weile schweigend. Plötzlich sagte er: „Charivari - Professor Doktor Brutto Charivari! - Ihr Name war vor Jahren in allen Zeitungen. Haben Sie nicht im Himalaya-Gebiet, am Südpol und irgendwo in den Weltmeeren Forschungen angestellt? Ich erinnere mich - es hieß sogar, Sie hätten die Schätze versunkener spanischer Schiffe gehoben!“ „Nicht ich, sondern meine Brüder“, erklärte der Professor schnell. „Ja, ich hatte zwei Brüder:
Doktor Bianco Charivari und Dr. Enrico Charivari. Das waren berühmte Abenteurer. Vor einigen Jahren sind sie im Himalaya verschollen.“ Das war eine glatte Notlüge. Charivari konnte dem Minister ja nicht verraten, daß er die gehobenen Schätze für den Bau seiner Stationen verwendet hatte - genau wie das am Südpol gefundene Gold und daß Bianco Charivari den geheimen Stützpunkt auf der Rückseite des Mondes leitete, während Enrico Charivari die Erdunterwasserstation im Stillen Ozean befehligte. „Tja, aber - um auf Ihre Frage zurückzukommen, Herr Professor“, sagte der Minister höflich. „Ihre Hütte scheint wirklich einem Sturm zum Opfer gefallen zu sein. Ich höre den ganzen Morgen nichts anderes von den Einheimischen, als daß das Hochmoor ein meteorologisch sehr merkwürdiges Gebiet ist. Ein örtliches Gewitter mag ein übriges getan haben. An einigen Stellen ist das Gras stark versengt. Zudem machen auch die vielen Mulden, die wie frische Krater wirken einen verblüffenden Eindruck.“ Wieder zuckte der Professor mit keiner Wimper. Die versengten Stellen und die frischen Krater stammten vom Angriff der Meuterer den sie mit dem Meteor gleich nach dem Start unternommen hatten - noch bevor Superhirn und die anderen im Monitor saßen. „Ich bin der Meinung, daß wir uns zu sehr mit diesen Hochmoor beschäftigen“, ließ sich der Vizeadmiral unwillig hören. „Selbst eine Gruppe von Fachleuten kann harmlose Zeichen falsch deuten, wenn sie von haarsträubenden Geschichten zu sehr beeinflußt ist. Die Bevölkerung von Marac meidet die Gegend wie einen Hexentanzplatz. Diese Hütte da - ich meine, es bedurfte keines Wirbelsturms, um sie umzuwerfen, eine Bö hat genügt, Und solche Krater finden Sie in ähnlichen Küstengegenden überall. Sie gehören zur natürlichen Bodenbeschaffenheit. Versengtes Gras habe ich auch schon gesehen, ohne mir darüber Gedanken zu machen. Wir sollten den albernen Platz jetzt verlassen.“ „Und weiter?“ fragte der Chef der Spionageabwehr. „Seepatrouillen verstärken“, erklärte der Vizeadmiral. ,Ich habe es von Anfang an gesagt: Hier ist nichts anderes passiert, als daß ein fremdes U-Boot vor der Küste mit Übungsraketen geschossen hat. Die Dinger haben den Alarm ausgelöst. Das U-Boot wird schleunigst Kurs auf hohe See genommen haben.“ Am liebsten hätte Professor Charivari gerufen: Ja, so war es! Ein U-Boot hat mit Übungsraketen geschossen! Inzwischen ist es hundert Meilen weit weg, und es ist unsinnig, die vielen Leute hier ihre Zeit vergeuden zu lassen! Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit höflich-verständnisloser Miene dazustehen und den altmodischen Gelehrten zu spielen. Innerlich brannte er vor Ungeduld und Sorge. Die supermoderne Bodenstation unter der öden, struppigen Gras- und Krüppelsträucheroberfläche, auf der sich der Minister, die Beamten, Experten und Soldaten ahnungslos bewegten, stand leer... Selbst wenn er mit Monitor in Funkverbindung hätte treten wollen - er hätte es nicht gekonnt. Es war unmöglich, vor den Augen des Ministers und seiner Herren in den Ofen zu klettern. Außerdem saß da jetzt der mißtrauische Feuerwehrmann auf der Ringplatte. Charivari tastete nach der schadhaften Brille, die er als Ersatz für die Haftschalen mitgenommen hatte. Er klemmte die Bügel des angeknacksten Gestells hinter die Ohren. Das lose Glas hielt er mit Daumen und Zeigefinger vor das linke Auge. „Hallo, Superhirn dachte er angespannt, während er das Gesicht unwillkürlich zum Himmel wandte. „Superhirn, Henri, Gérard, Prosper, Tati, Micha...“ Er wartete, doch er empfing weder von Superhirn noch von einem der Gefährten irgendeinen Gedanken. „Monitor“, dachte er beschwörend, „Monitor melden. Gebt Lagebericht über Gedankenstrahler. Superhirn - was macht das Piratenschiff Meteor? Superhirn! Ich verlasse mich auf dich! Du bist meine letzte Hoffnung! Monitor- melden! Melden!“ Eben wollte er das Brillengestell und das lose Glas von den Augen nehmen, als ihn ein Gedanke förmlich durchzuckte. Kein eigener, sondern ein fremder. Ein Gedanke Superhirns aus dem Weltall. „Professor Charivari“, blitzte es im Hirn des Professors. „Hier ist Superhirn aus Monitor auf elfter Erdumlaufbahn. Kampf mit Meteor auf zweiter und dritter Umlaufbahn bestanden ... Wir dachten, Sie
sind tot!“ „Nein!“ rief der Professor ganz laut. „Ich lebe! Ich lebe aber ich kann mich nur noch telepathisch mit euch verständigen. Hört ihr?“ „He, Professor!“ ertönte die entsetzte Stimme des Bauern Dix neben ihm. „Was ist denn? Ist Ihnen nicht gut?“ Charivari riß sich das Brillengestell von der Nase und steckte es mit dem losen Glas in die Jackentasche. Er wandte sich um und sah die erstaunten Blicke des Ministers und seines Gefolges auf sich gerichtet. Blitzartig begriff er, daß er sich in der Aufregung vergessen hatte. Statt nur zu denken, mußte er gesprochen, ja, geschrien haben. „Herr Professor, ich glaube, Sie haben beim Einsturz der Hütte doch ganz schön was mitgekriegt“, rief der Bauer Dix besorgt. „Sie sollten sich irgendwo ins Bett legen.“ „Das meine ich auch“, sagte der Minister. „Sie sehen elend aus, Charivari. Einen stillen Gelehrten muß dieses Getümmel hier verwirren! Ich lasse einen Rettungswagen kommen, der wird Sie nach Marac fahren.“ „Danke“, murmelte der Professor. Er griff sich an den Kopf, als sei ihm schwindlig. „Danke, Herr Minister. Sie haben recht. Man soll seine Kraft nicht überschätzen. Tatsächlich bin ich auch solche Aufregungen nicht gewohnt. Sie sind sehr gütig.“ Doch innerlich erfüllte ihn Triumph, ja beinahe Jubel! Er hatte Gedankenkontakt mit Monitor! Also hatte er sich doch nicht in Superhirn getäuscht! Kampf mit Meteor auf zweiter und dritter Erdumlaufbahn bestanden? Das klang zufriedenstellend. Demnach war von dem jungen Zufallsastronauten wohl kein Fehler gemacht worden. Jetzt befand sich Monitor also bereits auf der elften Umlaufbahn. Das konnte nichts anderes heißen, als daß das Bordleben wieder völlig normal war. Ja, und das Wichtigste, die telepathische Behelfsbrille funktionierte! Glück im Unglück, dachte Professor Charivari. Er stieg in den Rettungswagen. Mochte die Bodenstation im Augenblick auch nicht benutzbar sein - Hauptsache, er hatte die alte Brille! „Bringt den Herrn Professor ins Hotel Zu den Drei Enten“, hörte er den Bauern Dix sagen. „Ich werde dafür sorgen, daß seine Hütte wieder aufgebaut wird. Vorher lag ich ihn nicht wieder ins Hochmoor!“ Auch gut, dachte Charivari. Inzwischen waren die Spürkolonnen mit ihren Fahrzeugen abgezogen. Er legte sich erleichtert auf das Bett im Wageninneren und nickte dem Sanitäter freundlich zu. Er war beruhigt. Und er ahnte ganz und gar nicht, daß nach Superhirns Lebenszeichen ein Unglück im Monitor geschehen war ... 4. „Hilfe, wir schweben!“ Daß Superhirn trotz seines festen Glaubens, der Professor sei tot, doch noch einmal den Telepathor eingestellt hatte, war Micha zu verdanken. Er und Henri hatten es nicht übers Herz gebracht, den Gefährten die - vermeintliche - Wahrheit zu sagen. Völlig auf sich gestellt, hatte Monitor auf seiner zweiten Erdumlaufbahn den ersten Angriff der Piraten erfolgreich abgewehrt. Der meuterische Chef-Astro Muller und seine Kumpane, die im Meteor Saßen, wußten sehr wohl, daß das andere Raumschiff besser ausgerüstet war. Doch über den versehentlich angestellten Funk hatten sie gehört, daß die Verfolger Jugendliche waren, demnach also nach menschlichem und technischem Ermessen ohne Hilfe von Charivari Bodenstation nicht auskommen konnten. Und nun erfuhren sie auch noch durch Henris Unvorsichtigkeit, daß der Professor tot war. Was da im verfolgenden Monitor vom Gedankenstrahler geredet wurde, begriffen die Piraten freilich nicht. Ein solches Instrument lag für Dr. Muller auch jenseits alle Vorstellungen. Doch eins schien ihm klar zu sein: Eine ungeübte Besatzung - dazu ohne Hilfe von der Bodenstation würde, ja mußte Fehler machen, die die Überlegenheit ihres Raumschiffs ausglich
Also ließ er Alarm geben und die Triebwerke zünden. Unter Vollschub strebte der Meteor auf eine höhere, langsamere Bahn, um sich vom Monitor einholen zu lassen. „Nun paßt auf, Männer!“ grinste Chef-Astro Muller kalt. Wieder wurden seine Raketen gezündet. Dr. Muller ließ sein Raumschiff so heftig auf den Monitor herabstürzen, daß er noch einmal mit dem Haupttriebwerk gegensteuern mußte. „Ein riesiger, unvernünftiger Energieaufwand“, murmelte einer seiner Leute. Doch es war gelungen, den Sicherheitsabstand vom Monitor zu durchbrechen. Superhirn hatte die Zündung auf dem Himmelsvisor beobachtet und mit Hilfe der Stichworttafel alle Vorkehrungen getroffen, Der Alarm rief die Gefährten in den Kommandoraum. „Meteor greift an!“ meldete Superhirn. „Schnell, auf deinen Platz, Henri! Gérard und Prosper, ihr achtet auf die Instrumente! Tati und Micha - wartet auf meine Befehle!“ Micha blickte verwirrt zum Bildschirm zwei. „Ich sehe den Professor nicht!“ jammerte er. „Wo ist Professor Charivari? Er muß wieder reingucken und uns sagen, was wir machen sollen, wenn die Piraten angreifen!“ „Das finde ich auch!“ meinte Tati. „Selbst wenn du auch alles weißt, Superhirn, im Ernstfall brauchen wir Charivari!“ „Henri und ich schaffen es schon“, murmelte Superhirn. Er glaubte ja zu der Zeit noch immer, der Professor sei tot! Auch Henri war davon überzeugt. Mit einem Blick auf den Himmelsvisor stellte er fest: “Meteor fliegt eine Schleife! Was wird er tun?“ „Sie werden uns doch nicht rammen?“ fragte Prosper käsebleich. „Um sich in Atome aufzulösen?“ rief Henri. Doch dann schrie er: „Superhirn, wir müssen was tun! Sieh - er unterläuft uns! Er schießt mit Strahlen!“ Heftig regten sich die Instrumente an den Wänden. Plastikspiralen füllten sich mit Leuchtflüssigkeit. Der Zeiger einer Meßuhr pendelte fortwährend über einen roten Warnstrich. Ein Gerät strömte anund abschwellende Summtöne aus. „To-to-todesstrahlen!“ bibberte Micha. „Sie schießen mit Todesstrahlen! „Still! Noch bist du kein Geist!“ herrschte Tati ihn an. Aber auch ihr war nicht wohl zumute. Was für Strahlen mögen das sein, Superhirn?“ fragte sie. „Wärmestrahlen! Eine unerhörte Menge von Wärmestrahlen! Ich sehe das am Warngerät, rechts.“ „Das heißt, unsere Hitzeschilde werden glühen - ebenso die Gelator-Panzerschicht, die wir um das Raumschiff gelegt haben?“ erkundigte sich Henri. Superhirn nickte. „Aber keine Bange! Verlassen wir uns auf die Gelator-Schicht. Die verdampft durch die Wärmestrahlen - und im Dampf zieht die Wärme ab. Das erlebst du bei jedem Kaffeewasser, es wird nicht heißer, wenn es erst mal kocht. Die übrige Hitze zieht mit dem Wasserdampf ab.“ „Hm“, überlegte Prosper. „Die Piraten müssen doch wissen, daß Monitor unangreifbar ist. Wieso versuchen sie es dann doch?“ „Sie hoffen, daß wir einen Fehler gemacht haben“, erklärte Superhirn. „Eine für uns kaum wahrnehmbare Kleinigkeit.“ „Du hast jedenfalls an alles gedacht?“ forschte Prosper. „Ich denke schon“, sagte Superhirn. Plötzlich ertönte die Maschinenstimme - unheimlicher als sonst, denn niemand hatte die Stichworttafel bedient: „Achtung - Achtung! Fremdes Raumschiff versucht anzukoppeln!“ Superhirn sprang auf und starrte Henri an. Auch die anderen saßen und standen wie Wachsfiguren. „Ankoppeln?“ rief Superhirn verblüfft. „Wie könnte Meteor das gelingen?“ Er drückte nun wie rasend die Stichworttaste und lies das Wort „Ankoppeln“ auf der Tafel stehen. Sofort gab die Maschinenstimme Auskunft: „Tragflächenstutzen backbords und steuerbords sind hohl - sie enthalten Schleusen, durch die man von einem Raumschiff zum anderen kriechen kann!' „Sie sind rechts von uns!“ brüllte Henri. „Die Piraten liegen mit uns Bord an Bord!“ Er zeigte erregt
auf den Himmelsvisor. „Triebwerke zünden!“ befahl Superhirn geistesgegenwärtig. „Kein Schiff kann am anderen anlegen, wenn es ausweicht!“ Henri drückte die entsprechende Taste, unmittelbar danach flammte eine Reihe von Kontrollampen auf. Zugleich geschah etwas Unerwartetes: An der Stirnwand sprangen die Hälften einer bisher nicht bemerkten Tür zur Seite, es wurde ein Cockpit wie das eines Flugzeuges sichtbar. Statt der Kanzelscheibe sah man einen Panoramabildschirm. „Automatische Umschaltung auf Handlenkung!“ begriff Superhirn. „Die Piraten kommen herein!“ schrie Micha. „Ich sehe ein Gesicht!“ Prosper blickte sich um. „Bin ich verrückt?“ japste er. Gérard klammerte sich an einen Sessel. „Unser Raumschiff löst sich auf!“ „Quatsch!“ rief Superhirn. Die Wände werden durchsichtig, weiter nichts ... Das muß eine Sichterleichterung sein. Seht nur! Ihr könnt überall hingucken, als schwebtet ihr in einem gläsernen Schiff! Nur die Armaturen, die Geräte im Lastenraum und die Triebwerke sind sichtbar!“ Er lief mit Henri ins Cockpit, beide setzten sich in die vorhandenen Pilotensessel, und Superhirn ergriff das Handsteuer. Er zündete die Triebwerke und ließ den Monitor aufwärtsschießen. „Was macht Meteor?“ rief er Henri zu. Henri blickte zurück. Aus dem Piratenfahrzeug, das so plötzlich neben ihnen aufgetaucht war, hing eine Gestalt im Raumanzug an einer langen Leine. Dieser Bursche hatte bei abgeschaltetem Triebwerk auf den Monitor umsteigen wollen. In seinen Händen sah man Werkzeug - offenbar zum Öffnen der Seitenschleuse. Jetzt wurde er durch den Tragflächenstutzen zurückgezogen, die Luke schloß sich. Ein Feuerstrahl verriet, daß Meteor die Verfolgung aufzunehmen versuchte. „Durch das Sichtfenster in seinem Schutzhelm sah ich eine scheußliche Fratze“, wimmerte Micha. „Hoffentlich kommt der fliegende Mann nicht noch mal!“ „Die haben gemerkt, daß wir nicht schlafen“, meinte Henri erleichtert. „Kinder, wenn unser Raumschiff jetzt durchsichtig ist“, rief Tati, „dann haben die doch gesehen, daß wir Jugendliche sind! Jugendliche, ein Kind und ein Zwergpudel!“ „Das halte ich für ausgeschlossen“, bemerkte Superhirn. „Die Außenwand wirkt wie ein präparierter Spiegel, denke ich. Von der einen Seite, also von innen, kann man durchgucken, von der anderen nicht!“ „Hoffentlich“, brummte Gérard. „Aber was machen wir jetzt?“ „Wir warten ab, bis Meteor wieder unter uns vorbeitreibt“, entschied Superhirn. „Er wird sich bald entschließen müssen, wo er hin will.“ „Möglicherweise wählt er die Erdunterwasserstation“, meinte Henri. „Ja und wenn er das tut, dürfen wir nicht auf dein Weg zum Mond sein“, erwiderte Superhirn. „Wir müssen ihm zuvorkommen, sobald wir seine Absicht erkennen. Henri, klär doch mal auf der Stichworttafel, was das für eine automatische Alarmstufe war, die der Ankoppelungsversuch ausgelöst hat. Ich möchte zurückschalten!“ „Hochalarm!“ meldete Henri. Er drückte die angegebenen Tasten, nachdem sich Superhirn aus dem Cockpit zurückgezogen hatte. Die Wände wurden undurchsichtig wie zuvor, und alle setzten sich wieder in die Sessel. „Wir bleiben auf Alarmzustand geschaltet“, erklärte Henri. Superhirn nickte. „Mir ist vorhin übrigens etwas aufgefallen, und das könnte für uns sehr günstig sein: Ein Triebstrahl kam immer unregelmäßiger und versiegte schließlich ganz!` „Ein Triebstrahl - doch nicht von uns?“ fragte Prosper entsetzt. „Quatsch, er meint - vom Meteor!“ rief Gérard hoffnungsvoll. Henri fuhr vom Sessel hoch. „Klar! Seht mal! Superhirn hat recht! Sie versuchen das eine Triebwerk zu zünden, sie probieren´s aus! Und es spuckt nur. Dadurch hüpft der Meteor wie verrückt!“ Alle umringten den Befehlstisch. Bange zehn Minuten vergingen. Endlich sagte Superhirn erleichtert: „Panne! Meteor hat Triebwerkschaden! Eine richtige Weltraumpanne!“
„Fliegen wir nun wieder runter und erzählen es dein Professor?“ fragte Micha eifrig. Henri murmelte: „Lieber nicht, Micha. Das da vorn ist kein Hund, den man von der Leine läßt! Die Piraten werden sich Mühe geben, den Schaden zu beheben!“ „Und inzwischen müssen sie dauernd um die Erde kreisen?“ erkundigte sich Prosper. Superhirn nickte. „Natürlich, wenn sie keine neue Energie zuführen, bleiben sie dauernd auf ihrer Bahn. Inzwischen haben wir Zeit, uns auszuruhen. Tati, mach mal ein anständiges Essen für uns!“ Während die Gefährten im Monitor sich über die von Tati zusammengestellten Speisen machten, war den Piraten im Meteor der Appetit vergangen. Chef-Astro Dr. Muller, Professor Viechsbrunn, die Astros Dr. Dr. Capuso und John Bart, der Hilfs-Astro Jan Eikkoonen, die Ingenieure Smith, Krachuwitsch, Villeneuve, Mayersmann, die Raumfahrttechniker Dirk Luns, Fürst Pitterich und Valdez Fadango stritten sich heftig im Kommandoraum. Dr. Dr. Capuso - die Fratze, die Micha gesehen hatte wurde von dem bulligen Professor Viechsbrunn wenig freundlich behandelt: „Idiot!“ schimpfte er. „Sie hätten zehnmal Zeit gehabt, die Schleuse zu öffnen. Charivari hat uns eine Hilfsbesatzung nachgeschickt. Es wäre ein leichtes gewesen, sie zu überrumpeln!“ „Diese Hilfsbesatzung macht uns aber ganz hübsch zu schaffen!“ schrie der Ingenieur Smith mit seiner Fistelstimme. „Kein Fehler in der Abschirmung!“ erboste sich Valdez Fadango, der fast zwei Köpfe kleiner war als Dr. Muller. „Hochalarm, Handlenkung - eine gekonnte Sache, möchte ich meinen!“ „Und doch haben wir gehört, wie sich zwei junge Burschen unterhielten“, meinte der bedächtige Krachuwitsch. „Der Sprachanalysator hat gezeigt, daß es Kinder sein müssen. Da ist kein Zweifel möglich!“ „Kinder!“ zeterte Villeneuve. „Wollt ihr euch immer noch einreden, daß Charivari uns ein fliegendes Kinderzimmer an die Fersen geheftet hat? Womöglich sausen die mit Schnullern durchs Weltall, um uns zu verfolgen?“ „Der Sprachanalysator ist in Ordnung, und ich habe die Kinderstimmen selber über Funk gehört“, sagte Mayersmann ruhig. „Das Gespräch, vergeßt das nicht, Leute, ist auf Tonband festgehalten!“ „Hm. Da war viel Unsinn dabei“, murmelte Chef-Astro Muller finster. Aber lassen Sie das Band noch mal laufen, Villeneuve!“ Sie hörten noch einmal das Gespräch zwischen Superhirn und Henri, das durch ein Versehen über den Außenfunk zu den Piraten hinübergedrungen war. „Das ist die Stimme eines Jungen - ganz unverkennbar!“ beharrte Krachuwitsch, als sie Henris Worte vernahmen. „... ich sah in den Brennpunkt des Glases, wobei ich stark überlegte, wie die Piraten im Meteor wohl aussähen.“ Professor Viechsbrunn grinste böse. „An was für ein Glas mag der Junge gesehen haben, in ein Goldfischglas?“ grinste Villeneuve. „Ruhe!“ gebot Dr. Muller. Jetzt kam Henris Bericht über die Telepathor-Verbindung und wie Charivari ihm die Bilder der Meuterer so klar ins Gehirn gestrahlt habe, daß die Anfertigung von Zeichnungen ein leichtes gewesen sei. „Ich halte das für albernes Gewäsch“, erklärte Fürst Pitterich. „Charivari will uns an der Nase herumführen. Möglicherweise lenkt er den Monitor fern, vielleicht über die Unterwasserstation seines Bruders. Dieser Schlauberger hatte ja selbst vor seinen engsten Mitarbeitern Geheimnisse. Im Monitor wird nichts sein als ein Tonbandgerät!“ Jetzt hörte man die aufgezeichnete Stimme Superhirns. „Das ist kein Gewäsch!“ warnte Mayersmann. Sein Gesicht verzerrte sich vor Spannung. „Der Kerl, der jetzt spricht, mag auch ein Bengel sein - aber er ist teufelsgescheit, so, wie er seine Worte setzt!“ „Aber da hört ihr's: Charivari ist tot - die Besatzung im Monitor war auf seine Lenkung angewiesen!“ triumphierte der Raumfahrttechniker Dirk Luns. „Ich möchte nur wissen, was das Gerede über diesen Gedankenstrahler soll!“ überlegte Chef-Astro
Dr. Muller. „Wahrscheinlich wissen die mit den Geräten nicht Bescheid, zumindest kennen sie die richtigen Bezeichnungen nicht.“ Aber jetzt kam die Stelle, an der Superhirn die Bilder betrachtet hatte: „Chef-Astro Dr. Muller - der tückischste Verräter ... Professor Viechsbrunn - ein ungemütlicher Mann...“ „Schluß!“ tobte Viechsbrunn. Er schlug mit der Faust auf das Bandgerät. „Wer auch immer im Monitor sitzt, dem werde ich es zeigen! Wir kriegen die Bande, wir kriegen sie! Und wenn ich mich in ein Triebwerk verwandeln müßte!“ „Triebwerk!“ sagte Chef-Astro Muller eiskalt. Als Systemspezialist würde ich mich erst einmal daranmachen, das ausgefallene Triebwerk zu reparieren! Los, an die Arbeit! Nehmen Sie sich Smith, Krachuwitsch und Luns mit, Viechsbrunn ... !“ Muller trat mit Dr. Dr. Capuso an den Himmelsvisor, während die übrigen Piraten sich im FreizeitCenter des Meteor vergnügten. Im Kommandoraum fragte Dr. Dr. Capuso den Chef-Astro: „Was machen wir mit Monitor, wenn unser Triebwerk wieder heil ist?“ „Wir führen ihn in die Irre“, erwiderte Muller eiskalt. „Mir wird schon etwas einfallen. Soll die Bande auf dem Sirius oder auf einem unbekannten Planeten landen! Inzwischen überfallen wir Enrico Charivaris Unterwasserstation. Da liegt ja auch ein besseres Raumschiff in seiner Meeresbodengarage, nämlich der Rotor. Den müssen wir kriegen...“ Auf dem achten Erdumlauf war im Monitor noch immer nichts davon zu erkennen, daß das Meutererfahrzeug seinen Kurs ändern würde. „Die Reparatur macht ihnen Schwierigkeiten“, meinte Superhirn. „Trotzdem müssen wir auf den nächsten Alarm gefaßt sein. Ich schlage vor, zwei von uns halten im Kommandoraum Wache, die anderen hauen sich aufs Ohr. Superhirn überprüfte die Sicherheitsvorkehrungen, dann wies er Gérard und Prosper in ihre Aufgaben ein und zog sich mit Henri in eine der Doppelkabinen zurück. Tati, Micha und Loulou suchten die Kojen im Nebenraum auf. Der Zwergpudel streckte sich behaglich auf der Liege aus. „Ob es gut ist, Prosper und Gérard allein im Kommandoraum zu lassen?“ wisperte Henri. „Schön, es ist alles abgesichert, wir fliegen in Alarmbereitschaft. Und wenn sich Meteor zum Ankoppeln nähert, tritt automatisch Hochalarm ein. Das haben wir erlebt. Aber ...“ Er zögerte. „Aber?“ wiederholte Superhirn ernst. „Prosper und Gérard wissen nichts von Professor Charivaris Tod“, murmelte Henri. „Ebenso wie Tati und Micha.“ Superhirn rieb sich die Nase. „Du meinst, Gérard und Prosper wird es sonderbar vorkommen, daß der Telepathor so lange nicht in Betrieb war? Sie könnten an dem Ding herumfingern und Verdacht schöpfen, falls es nichts ausstrahlt?“ „Eben!“ nickte Henri. Auch Superhirn nickte. „Ist mir klar. Es muß immer ein Eingeweihter mit im Kontrollraum sein. Leg dich jetzt hin. Ich schicke dir Prosper. Dann schlafe ich eine kleine Runde und stecke Gérard in die andere Koje, während du mit Prosper im Kommandoraum bist. Ich wollte sowieso gleich wieder nach vorn, aber ich mußte erst mit dir sprechen. Selbst wenn wir den beiden die größte Sicherheit vorgaukeln, ich sorge mich vor allem um Tati und Micha. Der Kleine wird bestimmt durchdrehen, wenn er den Professor nicht endlich wieder auf dem Bildschirm sieht. Und wenn Tati mißtrauisch geworden ist? Du weißt, Mädchen sind schlau! Die können die reinsten Hellseher sein!“ „Spiel ihnen vor, daß du Charivaris Gedanken im Telepathor empfängst“, meinte Henri. „Es wird mir nichts anderes übrigbleiben“, seufzte Superhirn. Und richtig: Es war während der elften Erdumkreisung da kam Micha in den Kommandoraum gestapft und verlangte entschieden, den Professor auf dem Bildschirm zu sehen oder, wie er sich ausdrückte, seine Gedanken zu lesen. Die anderen saßen bereits wieder in ihren Sesseln. Henri hatte den Platz des Bordkommandanten inne, Superhirn den des Flugingenieurs.
„Nimm das Telepatsch-Rohr - oder wie das Ding heißt“, krähte Micha, „und ruf den Professor an! Loulou hat seit Stunden keinen Hundekuchen gehabt, nur immer so feine Sachen, die bestimmt nicht gesund für ihn sind! Ich will den Professor fragen, ob es nicht Kraftfutter für Hunde an Bord gibt!“ „Später, später“, sagte Superhirn. „Loulou sieht prächtig aus. Er fühlt sich pudelwohl!“ „Aber ich fühle mich nicht wohl, wenn ich den Professor nicht sehe“, jammerte Micha. „Stell wenigstens die dumme Gedankenmaschine an, sonst habe ich es satt!“ Widerwillig zog Superhirn den Gedankenstrahler heran. Er glaubte ja, daß eine Verbindung mit dem Professor nie mehr zustande kommen könne. „Seid still!“ heuchelte er. „Ich stelle meine Gedanken jetzt ganz auf Charivari ein!“ Wie konnte er ahnen, daß der Täuschungsversuch, zu dem der kleine Micha ihn zwang, ein Lebenszeichen des Professors bringen würde? Die Gefährten sahen, daß Superhirns Augen starr wurden. Und Superhirn glaubte sich selber nicht zu trauen. Er hatte auf einmal eine Vorstellung von Professor Charivari - mehr noch, der Professor schien inständig an die Monitor-Besatzung zu denken, bevor noch Superhirn seine eigenen Gedanken gesammelt hatte. Das war in dem Moment, als Charivari mit dem Minister und dessen Gefolge im Hochmoor über der geheimen Bodenstation stand und die angeknackste Behelfsbrille vor die Augen hielt. Superhirn erwachte schnell aus seiner Verblüffung und meldete: „Hier ist Superhirn aus Monitor auf elfter Erdumlaufbahn. Kampf mit Meteor auf zweiter und dritter Umlaufbahn bestanden ... Wir dachten, Sie sind tot!“ Worauf Charivari drunten seine Gedanken richtig herausgeschrien hatte: „Nein! Ich lebe! Ich lebe, aber ich kann mich nur noch telepathisch mit euch verständigen. Hört ihr?“ „Ja!“ dachte Superhirn angestrengt. Ja! Aber in Ihre Gedanken mischen sich andere Eindrücke, Professor! Sind Sie nicht im Inneren der Bodenstation? Es scheint, als spukten viele Gestalten durch Ihren Kopf - Soldaten, Polizisten, der Bauer Dix! Einer der Männer sieht aus wie der Innenminister! Auch gibt der Telepathor schwache Eindrücke von technischen Dingen: von Militärautos, Funkpeilwagen, Hubschraubern.“ Doch darauf kam keine Antwort. Der Professor mußte den Gedankenverkehr rasch eingestellt haben. Superhirn sank erleichtert in den Sessel zurück. „Charivari hat sich gemeldet“, sagte er. Es war, als fiele ihm ein Stein vom Herzen, und Henri sah ihm an, daß er nicht log, sondern daß aus dem Täuschungsversuch für Micha eine gänzlich unerwartete Überraschung geworden war, die sie wieder hoffen ließ ... Die Eindrücke, die den Professor bewegten und die er zwangsläufig mit übertragen hatte, behielt Superhirn lieber für sich. Für eine Erklärung wäre ihm auch keine Zeit geblieben, denn ausgerechnet jetzt, auf der zwölften Erdumlaufbahn, zündete Meteor unversehens wieder und durchbrach aufs neue den Sicherheitsabstand. Die Piraten griffen zum zweiten Mal an! „Gleich auf Hochalarm gehen!“ befahl Superhirn. „Wir wollen diesmal nichts riskieren!“ „Die Instrumente benehmen sich wie toll!“ rief Gérard, „Und warum ist auf dem einen Schirm so ein unheimliches Sichtzeichen?“ „Sieht aus wie ein Gespensterkopf!“ schauderte Tati. „Ein Warnzeichen - es tut dir nichts!“ rief Henri. „Es ist wie eine Lichtreklame!“ Rein äußerlich betrachtet, hatte Henri recht. Doch die Bedeutung des gruseligen Zeichens kannte niemand. „Stichworttaste drücken!“ schrie Superhirn, der wieder an der Handsteuerung im Cockpit saß. Doch in diesem Moment geschah es: Mit unerhörtem Schub hatte das Piratenschiff den Monitor angesteuert. Plötzlich gab es einen kleinen, kaum merklichen Ruck - auf einmal verlor die Monitor-Besatzung den Boden unter den Fügen oder die Polster unter ihrer Sitzfläche und schwebte schwerelos durch den Kommandoraum. Auch für Superhirn war alles so rasch und unerwartet gekommen, daß er die Steuerung losgelassen hatte. Schräg ruderte er in der Luft des Kommandoraums zwischen Cockpit und Befehlsplatte herum. Eine unbedachte Bewegung die Brille rutschte ihm von der Nase, doch sie fiel nicht zu Boden,
sondern schwebte im Raum. Ebenfalls mitten im Raum schwebend, bellte Loulou hilflos. Er winselte sein in der Luft schwimmendes Herrchen an, dem aber die Sprache vergangen war. Tati ruderte in ihrem Hosenanzug hoch über dem Fußboden herum, als hätte sie im Ballett einen Engel besonders echt darzustellen. Prosper hing wie eine Vogelscheuche dicht unter der Decke. Gérard versuchte, sich an einen Sessel zu klammern. „Hilfe...“, japste Prosper. „Hilfe... Was ist los? Was ist bloß los? Ich schwebe, habe aber trotzdem das Gefühl, daß ich falle!“ „Durch den Angriff fiel die künstliche Schwerkraft aus“, ächzte Superhirn. Er wußte: Schweben bei gleichzeitigem Gefühl des Fallens war hierfür typisch. Wissenschaftler hatten Schwerelosigkeitsversuche mit beliebigen Personen angestellt und sich diese sonderbare Fallangst von ihnen schildern lassen. Verzweifelt ruderte er durch die Luft, um seine schwebende Brille zu erreichen. Dabei berührte er nur kurz mit der Fußspitze einen Sessel. Sofort schnellte er hoch und bumste mit dem Kopf gegen die Decke des Kommandoraums. „Was ist ausgefallen?“ jammerte Micha. „Die Anziehungskraft“, keuchte Henri. „Die Anziehungskraft, die uns bisher auf dem Fußboden hielt. jetzt gibt es kein Oben und kein Unten mehr, wohin man etwas fallen lassen kann!“ „Meteor hat eine schwache Stelle in unserer Abschirmung getroffen“, meinte Superhirn und griff nach seiner Brille. „Kinder, bewegt euch sowenig wie möglich! Seht, wie Henri es macht! Setzt eure Muskelkraft ganz vorsichtig ein!“ „Ja, wenn schon, wir können doch nicht ewig frei im Raum rumschweben wie Trockenfische im Trockenaquarium!“ rief Prosper. Niemand lachte über den Witz. „Versuch. mal, ob du zum Telepathor schweben kannst, Superhirn!“ rief Tati. „Du mußt den Professor erreichen!“ Jetzt fiel Superhirn aber dem berühmten Korkenzieher-Effekt zum Opfer. Wenn man im schwerelosen Raum nämlich etwas dreht, einen Hebel, eine Schraube oder ähnliches, so dreht man sich selbst nach der Gegenseite, weil man sein Gewicht nicht gegen das Gerät anstemmen kann. Am besten ist das mit einem Versuch zu vergleichen, auf Schlittschuhen über blankes Eis eine Kiste schieben zu wollen: Wegen der mangelnden Bodenhaftung der Füße wird man von der Kiste richtig zurückgestoßen. Doch nach einer Weile hatte Superhirn den Trick heraus. Er drehte das Gerät auf Sendung und rief um Hilfe. 5. Verirrt im All? Genau zu dieser Zeit stieg Professor Charivari mit dem Sanitäter und dem Fahrer in Marac aus dem Rettungswagen, um ein Zimmer im Hotel „Zu den Drei Enten“ zu beziehen, Wie es ihm der Bauer Dix geraten hatte. Die telepathische Behelfsbrille hatte er sorgfältig in seine Jackentasche getan. Er folgte dem Wirt die Treppe hinauf und sah sich in dem kleinen, recht gemütlichen Raum um. „Wäre das so recht?“ fragte Herr Leclerc eifrig. Der Professor nickte lächelnd. Er konnte zufrieden sein! In diesem Hotel wirkte er als „erholungsbedürftiger alter Gelehrter“ bestimmt unverdächtig! Wer ihn hier sah, würde niemals auf die kühne Idee kommen, er sei der Leiter einer geheimen unterirdischen Weltraumstation. Hier konnte, hier mußte er den Abzug der Spürkolonnen aus dem Hochmoor abwarten. Inzwischen würde er sich erholen und zu Kräften kommen. Ja, das war die beste Lösung, die einzige Lösung! Solange die Männer über der Station herumliefen, konnte er dort sowieso nicht hinein. Außerdem hatte er ja die telepathische Behelfsbrille! Erleichtert aufseufzend, legte er sich so, wie er war, auf das Bett. „Empfehle mich!“ dienerte Herr Leclerc. „Meine Frau wird sich um alles kümmern!“ „Danke, danke, mein Guter“, ächzte Charivari, der kaum erwarten konnte, daß der Wirt ihn allein
ließ. „Zunächst brauche ich Ruhe, nichts als Ruhe.“ Herr Leclerc verschwand. Sofort holte der Professor die Brillenteile aus der Tasche, setzte das angeknackste Gestell auf die Nase und hielt sich das herausgebrochene Glas vor das linke Auge. So, nun war er allein. Keine äußere Einwirkung wie der Trubel im Hochmoor mischte sich in seine gezielten Gedanken. „Monitor!“ sendete er. „Monitor, melden! Superhirn, ist alles in Ordnung? Was macht Micha? Wie geht es dem Pudel? Irgendwelche Anzeichen von Raumkoller vorhanden?“ Es vergingen qualvolle zwanzig Minuten, bis Charivari Superhirns Antwort in seinem Gehirn spürte. „Hier Monitor“, drang es durch die telepathische Brille. „Hier Flugingenieur Superhirn. Zweiten Angriff der Meuterer überstanden - immer noch auf Erdumlaufbahn - brauchen dringend Ihre Hilfe...“ Der Professor fuhr hoch und setzte sich auf den Bettrand. Er rückte das kaputte Brillengestell zurecht und hielt das einzelne Glas dichter ans linke Auge. „Was ist?“ strahlte er aus. „Wir schweben im Kommandoraum herum“, kam Superhirns Antwort. „Nach Meteors letztem Angriff merkten wir einen leisen Ruck, danach verloren wir den Boden unter den Füßen und hoben uns von den Sesseln!“ „Die künstliche Anziehungskraft im Monitor fiel durch den Angriff aus!“ gab Charivari eilig zurück. „Versucht, in den Geräteteil zu gelangen. Dort ist eine rote Sicherung! Wenn ihr den Knopf wieder hineindrückt, funktioniert die Anziehungskraft wieder! Seht aber zu, daß ihr vorher einen Halt erwischt, sonst stürzt ihr wie die Säcke auf den Boden, wenn die Schwerkraft jäh wieder da ist!“ Die zwanzig Minuten, die der Professor nun zu warten hatte, vergingen womöglich noch qualvoller. Endlich meldete Superhirn: „Hier Monitor! Alles in Ordnung - wieder mit den Füßen auf dem Boden!“ Superhirn wollte nun alles über die letzten Stunden erfahren. Charivari setzte ihn genau ins Bild. „Ich habe zur Zeit nichts als eine schadhafte telepathische Brille“, ließ der Professor wissen. „Ihr müßt den Gedankenstrahler in kürzeren Zeitabständen einstellen. Und zwar mit dem Verstärker, da meine Behelfsbrille nicht so praktisch, und deshalb auch nicht so sicher ist, wie es die Haftschalen waren.“ „Verstärker einschalten“, bestätigte Superhirn. „Du weißt ja, er funktioniert nach dem Lautsprecherprinzip“, gab der Professor zurück. „Wenn ihr den Metallring um das Lupenglas dreht, verstärken sich meine Gedanken bei euch noch weiter. Dann kann jeder von euch meine Gedanken empfangen - auch der, der nicht in den Telepathor blickt! „Verstanden. Was sollen wir mit Meteor machen?“ Der Professor lauschte zunächst dem Bericht des jungen Flugingenieurs über den beobachteten zeitweiligen Triebwerkausfall nach dem mißglückten Koppelungsversuch. „Legt das Haupttriebwerk des Piratenschiffs gänzlich lahm!“ befahl er. „Die Stichworttafel wird euch über die Maschinenstimme Auskunft geben, was ihr zu tun habt, wenn ihr das Wort Raumkampf stehen laßt. Die Piraten werden dann hilflos um die Erde kreisen, bis man sie herunterholt. Das wird mein Bruder mit Raumschiff Rotor von der Unterwasserstation aus besorgen. Wenn es soweit ist, bekommt ihr weitere Befehle!“ Superhirn mußte jetzt genau wissen, was zu tun war. Charivari hatte nichts vergessen, und schon hoffte er, daß nun alles nach Plan gehen müsse. Leider verhinderte ein dummer Zufall, daß der Professor Superhirns Antwort noch aufnahm. Diese Antwort war beängstigend genug: „Professor! - Professor! - Stichworttafel auch ausgefallen - Taste funktioniert nicht! Tafel bleibt leer! Maschinenstimme meldet sich nicht! Wie können wir Haupttriebwerk der Piraten lahmlegen?“ Sekundenbruchteile, bevor diese Schreckensmeldung kam, und als Charivari die Brille noch vor den Augen hatte, um Superhirn die letzte Anweisung zu geben, flog die Tür des Hotelzimmers auf. „Also, da ist der berühmte Gelehrte aus dem Hochmoor!“ dröhnte eine mächtige Stimme. Ober die Schwelle stürmte ein dicker, schnauzbärtiger Mann, dessen runde, helle Äugelchen den Professor neugierig anblickten.
„Ich bin der Arzt von Marac“, rief er. „ D e r Arzt, sagte ich, denn es gibt mehrere, aber das sind Pfuscher und keine richtigen Doktoren. Also, Sie sind der Einsiedler aus der Hütte? Professor Doktor Netto oder Bianco Charivari oder vielleicht Bancrotto?“ „Brutto, Brutto“, verbesserte Charivari sanft. Nach dem ersten Schreck hatte er sich sofort wieder in der Gewalt. „Professor Doktor Brutto Charivari, ja. Gesteinsforscher. Richtiger: Spezialist für die Alterserforschung von Steinen. Aber was verschafft mir die Ehre, Herr Doktor - Doktor...“ „Pont!“ rief der Schnauzbärtige. Er warf seine Arzttasche auf den Schreibtisch und ließ sich in den Sessel plumpsen Pontpont Pont, wenn Sie es genau wissen wollen - haha - mein Scherzname in Marac! Die Leute lieben mich sehr! Nun aber mal Spaß beiseite, Professor! Die Wirtin hat mich angerufen. Ich hörte da was von Rettungswagen, Innenminister, Ohnmacht unter den Trümmern Ihrer Hütte - lauter krauses Zeug. Die Vorfälle im Moor müssen Sie arg mitgenommen haben!“ „Ein Wirbelsturm, nicht der Rede wert“, erwiderte Charivari lächelnd. „Was da draußen alle Welt alarmiert hat, soll ein fremdes U-Boot gewesen sein, das mit Übungsraketen schoß. Ich denke, man wird sich bald beruhigen. Der Vizeadmiral hat sich schon über das alberne Theater im Hochmoor geärgert.“ „Soso!“ grunzte der schnauzbärtige Arzt. „Wie dem auch sei - Sie haben jedenfalls etwas abgekriegt, Professor. Das sehe ich!“ Er versorgte die Platzwunde an der Stirn. „Die ist nicht das Schlimmste. Aber immerhin waren Sie bewußtlos, wie ich hörte - nun, es ist ja schließlich auch kein Kartenhaus gewesen, das da über ihnen einstürzte. Ihre Gesichtsfarbe gefällt mir nicht. Hatten Sie bis jetzt noch keinen Hunger?“ „N-n-nein ...“, gab Professor Charivari zögernd zu. Er war so sehr mit Wichtigerem beschäftigt gewesen, daß er an seinen Magen überhaupt nicht gedacht hatte. „Ha!“ rief der Arzt fast triumphierend. „Ein sicheres Anzeichen für einen starken Schock! Sie sind total durcheinander, verehrter Professor, total! Ihre äußere Ruhe täuscht mich nicht darüber hinweg, mich nicht, nicht den Arzt von Marac!“ „Ihre Bemühung ist sehr freundlich“, lächelte Professor Charivari. „Ich brauche nur ein wenig Ruhe, und ich bin davon überzeugt, daß weder ich noch die Wirtin heute abend über meinen mangelnden Appetit klagen werden!“ „Schön!“ Der Arzt erhob sich und öffnete seine Tasche. „Haben wir irgendwo ein Wasserglas? Ja, da - im Halter am Waschbecken. Einen Moment - so...“ Er nahm das Glas, träufelte aus einem Fläschchen mehrere Tropfen einer stark duftenden Kräuterarznei hinein, ließ Wasser aus dem Hahn dazufließen und schüttelte das Ganze. „Trinken Sie!“ befahl er in seiner rauhbautzig-freundlichen Art. „Das wird Ihnen guttun! Ein Stündchen Schlaf - und Sie erwachen wie neugeboren!“ Der Professor legte das Brillengestell und das lose Brillenglas auf den Nachttisch und griff seufzend nach dem Glas. „Ärzten soll man gehorchen“, sagte er lächelnd. Er tat, als nähme es einen Schluck. „Holla, nicht schummeln!“ rief Doktor Pont. „Trinken, richtig trinken! Sie sind doch kein Kind mehr, Herr Professor, daß Ihnen bitterer Pflanzensaft widersteht! Das Zeug ist sowieso harmlos genug. Wenn Sie's nicht einnehmen, machen Sie alles nur noch schlimmer! Ich bin ja nicht dumm, he? Als ich hereinkam, war ich entsetzt!“ „Entsetzt?“ fragte Charivari ahnungsvoll. „Über Ihren starren Blick!“ rief der Doktor. „Sie haben die kaputte Brille vor Ihre Augen gehalten wie ein Menschenaffe ein Spielzeug. Entschuldigen Sie den Vergleich. Aber Sie wirkten wie ein Irrer, Herr Professor!“ Charivari wußte jetzt, daß er dem Arzt nicht ausweichen konnte. Lachend sagte er: „Wenn einem Forscher die Lesebrille kaputtgeht, ist das ein Unglück. Es ist, als zerbräche einem Jäger das Gewehr - oder Ihnen ein ärztliches Instrument. Stimmt, ich war verzweifelt, als ich die Brille betrachtete!“ „Solange sie entzwei ist, können Sie sowieso nicht arbeiten“, meinte der Arzt. „Trinken Sie das Säftchen, und schlafen Sie sich erst einmal aus.“ Um keinen Verdacht zu erregen, mußte der Professor wohl oder übel den Kräutertrank schlucken. Es dauerte kaum drei Minuten, und er lag mit friedlichem Gesichtsausdruck tief schlafend auf dem
Bett. „Der Mann muß total erschöpft gewesen sein“, murmelte der gute Doktor Pont. Vorsichtig griff er nach dem Gestell und dem losen Brillenglas auf dem Nachttisch. So - und das bring ich jetzt zum Optiker Long, dachte er. Professor Charivari wird mir dankbar sein, wenn er morgen seine Lesebrille heil zurückbekommt. Ohne daß Charivari es ahnte, nahm der Arzt - der auf seine Weise nicht weniger ahnungslos war - die telepathische Brille mit sich, die einzige Verbindungsmöglichkeit zwischen dem Professor und der jungen Besatzung des Monitor ... Im Raumschiff Monitor herrschte große Aufregung über den Ausfall der Stichworttafel und über das neuerliche Schweigen des Telepathors. „Kaum ist man mit den Füßen auf dem Boden, schon passiert wieder was!“ schimpfte Gérard. „Superhirn! Der Professor hat doch Befehl gegeben, den Gedankenstrahlverstärker einzustellen! Vielleicht hast du das Ding kaputtgemacht!“ „Ich habe den Ring in Pfeilrichtung gedreht“, erwiderte Superhirn. „Wenn Charivari uns was zu sagen hätte, würdet ihr es jetzt alle merken!“ Plötzlich schlug in der Backbordwand eine Glocke an: „Bing!“ Knapp, echolos und schaurig: „Bing bing - bing - bing - bing...“ „Die Piraten klingeln an der Raumschifftür!“ gellte Michas Schrei. „Quatsch!“ brüllte Henri in Michas Geheul und Loulous Gebell hinein. „Das ist ein Warnzeichen! Seht doch - seht!“ Er deutete auf eine Stelle an der Wand. Mit jedem Glockenschlag leuchtete - gräßlich grün auf schwarzem Grund - ein sonderbares Gebilde in einem Rundrahmen auf. „Eine Schlange“, schluckte Micha. „Schlangen-Warnung! Die Pi-pi-piraten werden einen Sack Schlangen auf uns abgeschossen haben!“ „Unsinn!“ sagte Henri. „Dieses Zeichen ist ein bestimmtes Symbol! Verflixt, ich habe es schon hundertmal in den Städten gesehen - aber wo nur und in welchem Zusammenhang?“ „Bing - bing - bing - bing - bing. Das Zeichen der Schlange, die S-förmig um einen Stab gewunden war, hörte nicht auf, gespenstisch grünlich zu zucken. „Moment!“ rief Tati. „Die um den Stab gewundene, züngelnde Schlange - Kinder, das ist doch das Sinnbild, das man auf Papier oder Metallplaketten an manchen Autos sieht! Das Arztzeichen! Symbol der Medizin, nach dem Gott der Heilkunde, Äskulap, benannt - ein Äskulapstab!“ „Fliegen wir etwa schon zwischen den griechischen Göttern rum?“ fragte Gérard. Tati fuhr hoch. „Sieht denn keiner, daß Superhirn leblos über dem Befehlstisch liegt?“ rief sie entsetzt. „Jetzt weiß ich, warum das Zeichen dauernd warnt! Es fängt Krankheitswellen auf! ja, starrt mich nicht so ungläubig an! Ich habe einen Erste-Hilfe-Kursus gemacht, und da habe ich davon gehört: Körperstrahlen können Krankheiten verraten, und zwar die von der Haut ausgehenden Wärmestrahlen.“ „Dann ist das ein eingebauter Röntgenapparat?“ fragte Prosper, auf die Wand blickend. „Nein, ein Thermograph“, sagte Tati hastig. „Superhirn muß eine starke Blutleere im Gehirn haben, wahrscheinlich Überanstrengung. Prosper, stell das Gerät ab, es wird ja wohl ein Knopf dran sein. Henri und Gérard, bringt Superhirn in seine Koje. Er muß erst einmal liegen!“ Prosper brachte das häßliche Glockengeräusch zum Schweigen und löschte das gespenstische Schlangenbild durch den Druck auf einen Knopf. Die Gefährten waren jetzt alle im Kabinenteil, auch Micha und der Pudel. Prosper wollte ihnen folgen, doch er zögerte unwillkürlich. Einer mußte ja im Kommandoraum bleiben. Zwar war der Sicherheitsabstand eingestellt, und sie folgten dem Piratenschiff noch immer auf der Erdumlaufbahn, aber der Professor konnte sich über den Telepathor melden. Unschlüssig blickte Prosper auf den Himmelsvisor. Auf einmal stutzte er: Der kleine Gegenstand, der den verfolgten Meteor angezeigt hatte, war weg - statt dessen sah man auf dem Befehlstisch eine riesige, angeschnittene Scheibe ... Wie rasend drückte Prosper auf die Stichworttaste. Auf der Tafel flimmerten einige Buchstaben auf,
aber sie bildeten keine Wörter - die Apparatur schien Wackelkontakt zu haben. Prosper gab darauf Vollalarm. „Herkommen!“ schrie er. „Alle Mann in den Kommandoraum! Wir landen auf einem fremden Stern! Wir sausen darauf zu und werden zerschellen!“ Totenblaß stand Henri plötzlich neben ihm. Jeder wußte, was der andere dachte: Ausgerechnet jetzt fehlt Superhirn! Immerhin hatte der kluge Junge nicht umsonst gerade Henri zum Bordkommandanten ernannt. Nach ihm wußte Henri am besten in Raumfahrtdingen Bescheid. „Wo soll denn auf einmal ein fremder Stern herkommen?“ fragte Henri verdutzt. „Ich könnte beschwören, wir waren auf Erdumlaufkurs! Superhirn hätte doch längst etwas bemerkt!“ Wie Prosper vorher, so drückte auch er verzweifelt die Stichworttaste. „Mensch, Prosper“, hauchte er. „Wenn das Gebilde da vor uns eine Art Erde mit einer Lufthülle ist, verglühen wir, falls wir nicht den richtigen Eintrittswinkel fliegen!“ „Die Tafel zeigt Wörter an!“ meldete Prosper. Gérard und Micha starrten ratlos auf die Wände. „Es blinkt und blitzt und zuckt auf allen Geräten“, rief Gérard. „So was Dummes, wenn man ohne Funkkontakt und ohne Hilfe von einer Bodenkontrollstation durchs Weltall gurkt!“ „Stichwort Landung!“ schrie Prosper. Henri drückte die Taste, das Wort blieb stehen, und die Maschinenstimme erklang scheppernd: „Achtung - Lufthülle um Planeten - grüner Zeiger auf Landeuhr muß in Deckung mit rotem Zeiger gebracht werden - es erfolgt automatisch richtige Winkeleinstellung für den Eintritt in die Atmosphäre - Bremsraketen zünden ...“ Die Maschinenstimme wurde wackelig und verebbte mit einem scheppernden Geräusch. Wieder hatte das Gerät ausgesetzt. Henri achtete darauf, daß der grüne und der rote Zeiger der Landeuhr genau übereinander lagen. Die Bremsraketen waren gezündet, und nach einer Weile öffnete sich automatisch das Cockpit für die Handsteuerung. Selbstverständlich waren die Hitzeschilde geschlossen. Nur auf dem Panoramabildschirm vorn und auf dem Himmelsvisor konnte man sehen, daß man sich einer Wolkendecke näherte. „Wir landen auf einem fremden Stern?“ rief Micha. Er vergaß das Unheimliche. Der Gedanke schien ihm sogar zu gefallen. „Ein Weihnachtssternchen wird das nicht sein!“ murmelte Gérard. „Wie konnten wir nur so weit vom Kurs abkommen und in so kurzer Zeit?“ fragte Prosper, der neben Henri im Cockpit saß. „Das frage ich mich auch“, brummte Henri. „Es gibt nur eine Möglichkeit: Die Piraten haben uns zum Teufel sausen lassen!“ Und damit hatte Henri recht! Meteor hatte seinen Verfolger abgeschüttelt! Im Raumschiff der Piraten herrschte grimmige Freude. Chef-Astro Dr. Muller grinste kalt vor sich hin, während er den Monitor absinken sah. „Wette, die Instrumente dieser Halbwüchsigen spielen jetzt verrückt“, meinte er, wobei er allerdings nur die halbe Wahrheit traf. Dr. Dr. Capuso, Professor Viechsbrunn und die anderen brüllten vor Lachen. „Die sind wir los!“ wieherte Fadango. „Haha, Professor mit Ihrem Narrenpositor haben Sie die ganz schön in die Irre geschickt!“ „In die Irre?“ lachte Viechsbrunn. „Sie meinen, in die Hölle! Haha, hoho - und wir nehmen uns jetzt die Unterwasserstation vor! 6. Das Raumschiff löst sich auf Als Professor Charivari im Hotel „Zu den Drei Enten“ erwachte, schien die Abendsonne in den Garten. Charivari brauchte nicht lange, um sich zu besinnen, wo er war. Er erinnerte sich auch daran, daß der
Arzt ihm einen Schlummertrunk gegeben hatte, damit er nach all den Aufregungen für ein paar Stündchen zur Ruhe käme. Nun, das war nicht zu vermeiden gewesen. Er tastete auf der Nachttischplatte nach der telepathischen Behelfsbrille - dem Gedankenstrahler, der über das Schicksal des Monitor entschied. Ihn durchzuckte es eiskalt. Soviel er auch tasten mochte - seine Finger glitten ins Leere! Die Brille war weg! Wie von einer Wespe gestochen, fuhr er hoch. Kein Zweifel, das Gestell und das lose Glas lagen nicht mehr auf dem Nachttisch! Hätte der schnauzbärtige Arzt den Professor jetzt beobachtet - er hätte meinen müssen, sein Patient sei tobsüchtig geworden. Charivari riß die Nachttischschublade heraus, fand sie leer und ließ sie einfach zu Boden fallen. Er schüttelte Bettdecke, Laken, Kissenrolle, kroch auf der Erde herum, blickte unter das Bett und kehrte Teppich und Läufer um. „Die Brille!“ ächzte er. „Die Brille! Tod und Teufel Monitor ist verloren ... Ohne die Brille keine Verbindung mit den Kindern!“ Er griff in sämtliche Taschen seiner Jacke und seiner Hose. Er fand die für Monitor so lebenswichtige Brille nicht, nicht einmal das eine herausgebrochene Glas. „Das kann doch nicht sein!“ rief er laut, wobei er verzweifelt die Arme zur Zimmerdecke reckte. „Was kann nicht sein?“ ertönte es mißtrauisch von der Tür her. „Und mit welchen Kindern haben Sie keine Verbindung? Wo sind denn Superhirn und die anderen, die im Hochmoor gezeltet haben?“ Professor Charivari traute erst seinen Ohren und dann seinen Augen nicht. Es war noch hell genug im Zimmer, um zu sehen, daß jemand in der Tür stand. „Gérard!“ rief der Professor. „Du bist es? Wo kommst du - ich, ich dachte, du seist noch im Monitor! Seid ihr gelandet? Wo denn - und wie? Und wo hast du Superhirn, Prosper, Henri, das Mädchen und den Kleinen mit dem Hund gelassen?“ „Sie sind wohl sehr durcheinander?“ fragte der stämmige Junge. „Sonst würden Sie mir nicht mit einer Frage antworten, die ich Ihnen gestellt habe! Was führen Sie denn da für einen Affentanz auf? Reden Sie sich ja nicht heraus! Sie haben sich längst verraten! Sie wissen, wo die verschwundene Feriengruppe ist! Sie kennen jeden einzelnen! Sie haben mich Gérard genannt!“ „Ja, bist du denn nicht...?“ „Ich bin Gérards Vetter und sehe ihm allerdings zum Verwechseln ähnlich“, erwiderte der Junge. „Darf ich reinkommen und die Tür zumachen? Oder wollen Sie, daß ich die Polizei hole?“ „Nein - äh, ja. Nicht die Polizei. Komm herein, schnell! Und schließ die Tür.“ Charivari war vollkommen verwirrt. „Also, du bist ein Vetter von Gérard?“ Er musterte den stämmigen Jungen mit dem kugelrunden Gesicht: Gewiß ein netter Kerl - nicht weniger nett als sein Gegenstück im Monitor. Doch der Bursche war mit Mißtrauen geladen. „Mein Name ist Martin“, sagte er. „Ich bin mit dem Rad nach Marac gekommen, um Gérard im Ferienlager zu besuchen. Ein Herr Bertrand und ein Bauer Dix erzählten mir, Gérard wäre mit seinen Schulfreunden Henri und Prosper, mit Henris Schwester Tati und dem kleinen Bruder Micha ins Hochmoor zur Ruine gezogen. Da hätten sie einen Jungen mit dem komischen Spitznamen Superhirn kennengelernt. Und nun sollen sie alle zusammen bei Superhirns Onkel in Monton sein.“ „Nun, nun“, meinte der Professor. Er versuchte seine Gedanken zu sammeln. „Sie werden dem Bauer Dix eine Nachricht hinterlassen haben.“ „Ja, aber sie sind nicht in Monton!“ beharrte Martin. „Ich habe heute morgen mit Superhirns Onkel telefoniert. Er weiß von nichts! Dann bin ich zur Ruine gegangen. Und was meinen Sie, was ich gefunden habe?“ „Nun?“ drängte Charivari. „Die versteckte Zeltausrüstung und ein Fahrrad“, erwiderte Martin düster. „Der Bauer Dix sagte aber, sie hätten alles nach Monton zu Superhirns Onkel mitgenommen. Und er sagte weiter, daß noch jemand die Feriengruppe gekannt habe, nämlich Sie, Herr Professor! Deshalb bin ich hier!“ „Moment, Moment...“ Charivari setzte sich auf die Bettkante. Langsam gewann er seine Fassung wieder. „Hast du den Suchkommandos im Moor gesagt, was du bei der Ruine gefunden hast?“
„Nein. Die waren anscheinend auf eine Atombombe aus! Blinder Alarm! Ein Riesenquatsch. Außer Herrn Dix hat sich keiner um mich gekümmert. Er nannte mir Ihren Namen, zeigte mir die Stelle, wo Ihre Hütte vor dem Wirbelsturm gestanden hat, und gab mir Ihre Adresse.“ „So, und da bist du nun!“ Der Professor atmete auf. „Setz dich in den Sessel, Martin. Du bist sicher genauso zuverlässig wie dein Vetter Gérard. Wie die Dinge stehen, kommst du mir wie gerufen. Ich brauche dich!“ „Erst will ich mal wissen...“ „Du erfährst alles, aber der Reihe nach“, unterbrach Charivari. Er berichtete Martin, wie sein Vetter und die anderen, allen voran Superhirn - ihn gerettet und ihm auf so abenteuerliche Weise geholfen hatten. Er hätte ein anderer als der Professor Doktor Brutto Charivari sein müssen, um den Jungen jetzt - da er sich wieder völlig in der Gewalt hatte - nicht zu überzeugen. Martin hörte die sanfte, einschmeichelnde Stimme des kahlschädeligen Riesen, dessen Worte und Blicke ihn regelrecht bannten. Im Zimmer wurde es allmählich dunkel, doch die Augen des seltsamen Professors schienen zu schimmern. Als Charivari endlich von der abhanden gekommenen Brille erzählte, die die einzige Verbindung zum Monitor ermöglicht hatte, war Martin weit davon entfernt, das Ganze für Unsinn zu halten. Aber kein Junge sollte ohne weiteres eine Abenteuergeschichte glauben, mag sie zehnmal aus dem Munde eines Professors kommen! Deshalb sagte Martin: „Ich will sehen, was sich machen läßt. Die Wirtin wird mir sicher erlauben, daß ich mein Zelt im Garten aufbaue. Aber bevor ich der ganzen Sache traue, will ich diese - diese Gedankenbrille finden, sie aufsetzen und ausprobieren, ob ich mich mit den Freunden im Raumschiff verständigen kann! Charivari erhob sich rasch. „Das ist es ja! Dazu müssen wir die Brille ja erst wiederhaben! Du mußt mir suchen helfen! Du mußt mir nun helfen herauszufinden, wer mir die Gläser entwendet hat! Wir haben nicht viel Zeit...“ Nein, der Professor und sein neuer Helfer hatten nicht mehr viel Zeit. Abgeschnitten von jeder Verbindung, einen kranken Flugingenieur an Bord, war Monitor auf unbekanntem Boden gelandet. Zuletzt hatte Henri die Handsteuerung im Cockpit benutzt und eine tanzende Zeichnung des Monitors immer auf einem Fadenkreuz gehalten. Dadurch konnte sich das Raumschiff während des Abstiegs selbständig regeln. Der Kursrechner gab die Steuerbefehle an die Landeautomatik weiter. Schließlich zeigte ein Leuchtsignal auf dem Schaltbrett ein waagerecht zum Boden befindliches Raumfahrzeug den Monitor - in Umrissen an. Das Fahrzeug schien auf vielen Beinen zu stehen. Diese Beine, so begriff Henri schnell, stellten Hubtriebwerke auf der Unterfläche des Monitor dar. Henri brachte das Schiff in entsprechende Lage und drückte die Taste. Jetzt stand der Monitor auf den Feuerbeinen, die sich langsam, langsam einzogen, das heißt, die Strahlen wurden dünner und kürzer, und das Raumschiff landete weich. „Landungsvorgang abgeschlossen“, seufzte der Bordkommandant. Er wendete sich um. Sein Gesicht war sehr blaß. „Wie geht es Superhirn?“ „Tati meint, er ist vollkommen überanstrengt“, meldete Prosper. „Er muß schlafen!“ „Wir brauchen ihn aber!“ rief Gérard. „ Wir wissen gar nicht, wo wir hier sind! Es kann ein Weltraumungeheuer über uns herfallen, das den Monitor wie eine Wanze zerknackt! Und wie wollen wir einen Schnellstart ohne Superhirn machen?' „Ein kranker Flugingenieur nützt uns nichts“, meinte Prosper. „Das ist Tatis Ansicht, und ich denke, sie hat recht. Lassen wir ihn wieder zu sich kommen, dann ist er um so besser auf Draht!' „Ich möchte wissen, was draußen los ist!“ verlangte Micha. „Sind wir nicht auf einem anderen Stern? Ein Stern ist bestimmt nichts Schlimmes...“ „Du hast doch gehört, daß du dir einen fremden Himmelskörper nicht wie einen Weihnachtsstern vorstellen sollst“, meinte Gérard. „Außerdem zeigen dir der Panorama-Frontschirm und die Seitenbildschirme genug!“ „Felsen und Berge“, rief Micha. „Ja, die sehe ich! Aber ich kann nicht glauben, daß das alles ist!
Man müßte eine Entdeckungsfahrt machen! Wir haben doch ein Auto im Lastenraum!“ „Wir bleiben erst einmal hier drinnen“, entschied Henri. „Ich sehe an den Kontrollampen, daß im Inneren des Monitor alles in Ordnung ist, Die Sauerstoffversorgung funktioniert. Mit der Schwerkraft haben wir auch keinen Ärger mehr.“ „Aber was ist mit dem Telepathor? Er steht die ganze Zeit auf verstärkt, und trotzdem hat sich Professor Charivari nicht gemeldet“, wandte Gérard, ein. „Ich werde mal versuchen, ob ich eine Verbindung bekomme“, sagte Henri. Er setzte sich in den Sessel am Befehlstisch, zog das Glas heran und stellte auf Gedankensendung. Eine halbe Stunde bemühte er sich, den Professor zu erreichen. Vergebens. Erschöpft stellte er den Telepathor wieder auf Hochempfang und beschloß: „Wir müssen warten, bis Superhirn wieder auf dem Damm ist! Vor allem erst mal essen und schlafen! Etwas anderes bleibt uns nicht übrig!“ Henri, Prosper, Gérard, Tati und Micha - und nicht zuletzt der Pudel Loulou - waren jetzt kaum weniger erschöpft als ihr Flugingenieur, der schon in seiner Koje lag, Und als es der Professor bei seiner Ankunft im Hotel irgendwo, weit, weit weg, in Marac, im guten alten Erdteil Europa gewesen war. So taumelten sie in ihre Kabinen und fielen sofort in tiefen Schlaf. „Als Henri erwachte, teilte ihm Tati mit, daß sie - nach Borduhr und Bordkalender - mehr als vierundzwanzig Stunden geschlafen hatten. Das Mädchen sah blitzblank und munter aus. „Ich habe geduscht, meine Sachen durch Schnellwaschmaschine und Schnelltrockner gezogen und sogar meine Haare geföhnt!“ meldete sie vergnügt. Der Bordkommandant gähnte. „Selbst in der Hölle würde ein Mädchen an nichts anderes denken, schätze ich! Hast du Frühstück gemacht?“ „Frühstück ist gut“, Tati lachte. „Nach den Sichtbildern zu urteilen, herrscht draußen Nachmittag. Über dieser komischen Mondlandschaft, in der wir stecken, liegt Sonnenschein mit langen Schatten!“ Henri seufzte. „Was das für eine Sonne sein mag? Vielleicht sind wir über ein Zeitloch in ein ganz entferntes Sonnensystem geflogen? Aber das kann uns nur Superhirn enträtseln. Wie geht es ihm?“ „Er hat eine Tasse Brühe getrunken und ist wieder eingeschlafen“, berichtete Tati. „Ich denke, in ein paar Stunden wird er sich völlig erholt haben. Aber nun marsch, ins Badezimmer! Die anderen sitzen schon im Speiseraum!“ Die köstlichen Speisen, die die Bordküche hergab, verscheuchten alle düsteren Gedanken. Mit Plastikbeuteln voller Bonbons, Schokolade, Erdnüssen und Keksen kehrten die fünf dann mit Loulou in den Kommandoraum zurück. „Ich bin dafür, daß wir die Raumanzüge herausholen, aussteigen und die Umgebung erkunden“, schlug Gérard ,vor. „Wir können ja auch das Auto aus dem Lastenraum nehmen oder das kleine Beiboot-Raumschiff. Jedenfalls habe ich keine Lust, in diesem geschlossenen Ding hier tagelang untätig rumzusitzen!“ „Steht der Telepathor noch auf verstärkt'?“ erkundigte sich Prosper. „Ja“, sagte Henri. „Ich werde gleich wieder auf Sendung gehen, vielleicht antwortet Charivari jetzt.“ Eine Weile herrschte tiefe Stille. Schließlich schüttelte der Bordkommandant den Kopf. „Nichts. Wenn ich den Strahler auf Empfang stelle, blitzt kein fremder Gedanke in mir auf, keine Antwort des Professors kommt. Möglicherweise kann er uns auf diese große Entfernung weder empfangen noch erreichen!“ „Dreh den Verstärkerring, so weit du kannst“, forderte Tati. „Schon geschehen“, murmelte der Bruder. „Gérard hat recht“, ließ sich Micha hören. „Wir müssen endlich aus dem ollen Raumschiff raus! Ich will den fremden Stern sehen! Vielleicht ist das eine wunderbare Gegend, in der man alles findet, was man sich wünscht!“ „Eine Art Schlaraffenland?“ lachte Prosper. „Du hast Nerven, Kleiner! An den Sichtschirmen sind noch keine gebratenen Tauben entlanggeflogen!“ „Wenn sich der Professor nicht meldet, müssen wir abwarten, bis Superhirn aufwacht“, sagte Henri entschieden.
Aber da - wo waren auf einmal die Wände des Raumschiffs? Wo befanden sich die Gefährten unversehens? „Schnee? Mir wirbelt Schnee ins Gesicht Hilfe! Wo seid ihr?“ schrie Micha verblüfft. Und schon brüllte auch Gérard: „Der Wind weht mich weg. Ich sehe euch nicht mehr. Monitor hat sich in Luft aufgelöst und überall ist Schnee!“ „Micha!“ rief Tati verzweifelt. „Micha! Ich weiß nicht, wo Himmel und Boden ist! Der Sturm! Micha, wo bist du?“ „Mir nach!“ forderte Henri sie auf. „Ich höre Loulou winseln. Dahinten muß so was wie ein Wald sein!' „Halt, halt!“ keuchte Prosper. „Es ist auf einmal so dunkel! Die Nacht kommt verdammt plötzlich hier! Trotzdem sehe ich einen Schatten im Schnee!“ „Loulou!“ schnaufte Micha. „Nein – nein...“ stammelte Gérard. „Wölfe! Das da ist nicht Loulou, sondern ein großer Wolf! Und dahinten ist ein ganzes Rudel! Ich weiß, wie sie das machen: Sie schwärmen aus, sie umkreisen uns. Es ist hier furchtbar einsam und furchtbar kalt, und sie müssen schrecklichen Hunger haben!“ Ein gespenstisches Heulen, erst aus einer, dann aus vielen Kehlen, bestätigte Gérards Worte. „Tati befahl Henri. „Steig ins Raumschiff und hole alles, was die Küche hergibt, alles, was die Viecher fressen könnten! Wir müssen sie ablenken!“ „Es gibt kein Raumschiff mehr!“ rief Tati verzweifelt. „Es muß zerplatzt sein! Wir kriechen durch eisigen Schnee!“ „Steht da nicht noch der Gedankenstrahler?“ schrie Prosper. „Ja, aber es lauert ein großer Wolf davor“, wimmerte Micha. „Und wo ist Superhirn? Wo ist Superhirn?“ 7. Geheimer Start von Basis 2 „Wir müssen die Brille finden“, hatte Professor Charivari zu Gérards Vetter gesagt. „Die Tür zu Ihrem Hotelzimmer war nicht abgeschlossen“, erinnerte Martin. „Als ich geklopft hatte und Sie mich nicht hörten, brauchte ich nur auf die Klinke zu drücken. Und Sie hatten vorher geschlafen, nicht wahr?“ „Ja, ja.“, überlegte Charivari. „Moment - den Arzt, diesen Doktor - Doktor Pontpont Pont habe ich schon nicht mehr weggehen sehen. Und während ich schlief, hat die Wirtin die Sachen hereingebracht! Komm, wir fragen sie mal. Aber gib acht, ich nehme die Brille immer nur als Lesebrille!“ „Verstehe!“ nickte Martin. Sie gingen in die Wirtsstube. „Ah, Frau Leclerc!“ rief Charivari. „Sie sehen, ich bin wieder wohlauf, und ich habe sogar schon Besuch: einen Jungen, der sich für Gesteinskunde interessiert! Sicher erlauben Sie ihm, sein Zelt im Garten aufzubauen - nun wir werden sehen. Ach ja - äh - haben Sie zufällig meine Lesebrille gesehen? Ich meine, ich hätte sie vor dem Einschlafen auf den Nachttisch gelegt. Doch als ich aufwachte, fand ich sie nicht ...“ „Ihre Lesebrille?“ Frau Leclerc lachte freundlich-ahnungslos. „Wenn man das Ding überhaupt noch Brille nennen konnte! Der Doktor hat das Gestell mitsamt dem losen Glas zum Optiker gebracht.“ „Optiker?“ fragte Charivari. Er wußte nicht, ob er einen Wut oder einen Freudeanfall bekommen sollte. „Dieser Doktor - Doktor Pontpont Pont hat...“ „... die Brille zum Optiker getragen“, lächelte die Wirtin. „Morgen mittag bekommen Sie sie wieder!“ „Morgen?“ murmelte der Professor entgeistert. „Morgen!“ Und er dachte: Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde ist kostbar! Doch es half nichts, daß er mit dem Brillengeschäft telefonierte. Der Optiker Long war nicht in Marac. Er und seine Frau waren nach Ladenschluß zu Verwandten in die nächste Stadt gefahren. Sie würden erst nach Mitternacht zurückkehren ...
Gleich am nächsten Morgen stand Professor Charivari im Laden des Optikers. Ein Fräulein im weißen Kittel erklärte ihm höflich, Herr Long säße hinten in seiner Werkstatt und arbeite. Wenn die Brille mittags fertig sein solle, dürfe er nicht gestört werden. Er müsse sich ja auch noch um andere Aufträge kümmern. Der Professor lief ungeduldig vor dem Ladentisch hin und her, während Martin draußen wartete. „Mein Herr“, sagte das Fräulein. „Es hat keinen Zweck, hier auf und ab zu gehen! Vielleicht warten Sie lieber in einem der Cafés.'' Da ertönte von der Tür her eine wütende Männerstimme: „So, und ich soll wohl auch in einem Café warten, he? Gestern haben Sie mir eine reparierte Damenbrille aushändigen wollen; meine Lesebrille war nicht zu finden! Die Folge Ich saß wie blind in der Schloßbibliothek! Wo sind meine Augengläser jetzt?“ Der zornige Mann war fast so groß wie Charivari, nur viel breiter. Sein Kopf auf dem kurzen Hals war kantig wie ein Felsbrocken. Und vor seinen Pranken hätte man sich fürchten können. „Ich bin der Bibliothekar des Grafen Duprechine“, stellte er sich dem Professor grollend vor. „Ich soll in dem einsamen schloß die Bücherei durchsehen. Wie kann ich das ohne Lesebrille? Charivari wollte sich mit dem groben Menschen nicht in ein langes Gespräch einlassen, und so ging er schnell zu Martin hinaus. „Junge“, sagte er bitter lachend. „Der Herr Optiker Long scheint ein Muster an Promptheit zu sein! Und ich bin nicht der einzige, dessen Brille in seinen Händen ist!“ Doch pünktlich um zwölf Uhr bekam der Professor zwei Augengläser in einer schönen, neuen Fassung. Im Hotel angelangt, bestellte Charivari Kaffee und Kekse auf sein Zimmer, und als die Wirtin gegangen war, setzte er die Brille hastig auf. „Nun wollen wir mal sehen, wo Monitor ist“, murmelte er. „Ich hatte Befehl gegeben, den Telepathor zu verstärken, damit die Gedankenströme alle Insassen erreichen könnten.“ „Ich möchte mich mit Gérard unterhalten“, forderte Martin. „Sie wissen, was ich gesagt habe! Wenn das alles Unsinn ist, hole ich die Polizei!“ „Still!“ befahl Charivari. „Ich muß mich konzentrieren!“ Doch er mochte sich konzentrieren, wie er wollte, durch die neugefaßte telepathische Brille drang keine Antwort aus dem Raumschiff in sein Gehirn. „Was ist?“ fragte Martin mißtrauisch. „Ich sitze hier wie ausgestopft, der Kaffee ist längst kalt, ich wage keinen Keks zu kauen, um Sie nicht zu stören, und Sie machen ein Gesicht, als stimmte etwas nicht mit der Brille!“ „Mein Gott!“ rief Charivari und sprang auf. „Das ist ein Gedankenstrahler, ein Strahler und Empfänger. Ich müßte längst einen Gedanken von Superhirn, Henri, Gérard oder von Tati oder Micha aufgenommen haben! Ich verstehe das nicht!“ „Na, dann gute Nacht!“ sagte Martin finster. „Vielleicht kann die Polizei einen Gedanken von Ihrem komischen Raumschiff empfangen! Ich gehe jetzt!“ „Bleib!“ rief Charivari. „Warte!“ Er zog hastig sein Notizbuch hervor und blickte durch die Brille auf eine beschriebene Seite. „Dachte ich es mir doch! Das sind nicht meine telepathischen Gläser! Das ist eine stark vergrößernde, ganz normale Lesebrille! Verflucht - der Optiker hat mir eine falsche Brille gegeben!“ „Und wer hat die richtige?“ fragte Martin. Ja, wer hatte Charivaris telepathische Brille? „Essen wir erst einmal“, sagte der Professor düster. Doch schließlich, als Martin die dritte Portion Süßspeise vertilgt hatte und es draußen schon fast dunkel war, kam Charivari der rettende Einfall. „Dieser Bibliothekar!“ zischte er Martin zu. „Der Büchermann! Wo war der her? Richtig: Aus dem Schloß des Grafen Duprechine! Der hatte seine Brille ja auch beim Optiker. Long wird ihm meine und mir seine gegeben haben! Los, wir müssen sofort zum Schloß!“ Der Weg zum Schloß Duprechine war weit. Der Bibliothekar hatte ein Auto benutzt, Charivari und Martin aber gingen zu Fuß. Als das düstere, von verwilderten Hecken umgebene Gebäude vor ihnen
auftauchte, war es eine Stunde vor Mitternacht. „Der Mann hat im Laden gesagt, er ist allein im Schloß“, flüsterte der Professor. „Aha - und da ist noch Licht. Das scheinen die Bibliotheksräume zu sein. So ein Bücherwurm arbeitet meistens nachts.“ Sie blickten durch hohe Fenstertüren in das Innere des Schlosses. Da saß der breite, stämmige Mann in einem Sessel vor einem Riesenregal und las ein Buch. „Warum klingeln wir nicht am Tor?“ fragte Martin. „Weil ich sehen will, wie dieser Mensch die Brille aufhat“, erwiderte Charivari. ,Hm. Er trägt sie weit vorn auf der Nase, ein Zeichen dafür, daß sie nicht stark genug für ihn ist. Er muß sich mächtig konzentrieren, aber das hat er lieber in Kauf genommen, als noch einmal zum Optiker zu gehen. Scheint ein sehr eigenwilliger Mensch zu sein!“ Der Professor klopfte an die eine Fenstertür. Er und Martin sahen, wie sich der massige Bibliothekar erhob. schwungvoll riß er den Türflügel auf. „Wer ist da?“ dröhnte seine Stimme durch die Nacht. Dann erkannte er im herausdringenden Lichtschimmer, wen er vor sich hatte. „Ach! Sie sind es? Der Mann, dem ich in dem Brillengeschäft begegnet bin? Was wollen Sie denn so spät hier? Noch dazu mit einem Jungen! Meinen Sie, ich hätte Lust, mit Ihnen Karten zu spielen?“ „Auf ein Wort, Herr Bibliothekar“, sagte der Professor. „Wenn wir einen Moment eintreten dürften? Danke. Der Junge hat mich begleitet, weil ich nicht so gut zu Fuß bin!“ „Dann hätten Sie fahren sollen“, erwiderte der massige Bibliothekar ärgerlich. „Und zwar bei Tage. Übrigens sehen Sie sehr beweglich aus - für Ihr Alter. Also, was gibt es! Fassen Sie sich kurz, wenn ich bitten darf. Ich vergeude nicht gern meine Zeit!“ „Eben davor wollte ich Sie bewahren“, sagte Charivari. „Es ist nämlich Zeitvergeudung, sich mit einer fremden Brille herumzuquälen - und sie dann doch zum Optiker zurückbringen zu müssen!“ „Brille?“ fragte der Bibliothekar wütend. „Ich will nichts mehr von Brillen hören! Dieser Long ist ein Idiot! Erst hat er mir eine Damenbrille andrehen wollen, und nun gab er mir die her! Ich sehe damit zwar nicht allzugut, aber es geht! „Mit dieser wird es besser gehen“, lächelte der Professor, indem er ihm die vertauschte hinhielt. „Dies ist die richtige! Und Sie haben meine auf der Nase!“ „Herr!“ rief der Mann. Sein Kinn schob sich vor, und sein Brustkorb schwoll wie der eines Preisringers. „Wollen Sie mich zum Narren halten? Mitten in der Nacht soll ich mir wieder eine Brille verpassen lassen, womöglich eine Schielbrille, he? Machen Sie, daß Sie davonkommen!“ Dabei schwenkte er das Buch, in dem er gelesen hatte. Blitzschnell erkannte der Professor zweierlei: Die ungeheure Energie dieses massigen Mannes und eine Gefahr, die aus dem Buch kam, zusammen mit der Tatsache, daß er die telepathische Brille trug. „Was lesen Sie da?“ herrschte er den Bibliothekar an. Auf einmal klang seine Stimme nicht mehr freundlich. Martin bemerkte zu seiner Verwunderung, daß Charivari plötzlich viel gefährlicher als der Bibliothekar wirkte. Ehe der begriff, was das zu bedeuten hatte, riß ihm der Professor die Brille von der Nase und das Buch aus der Hand. „Wölfe in der Winterwildnis“, las Professor Charivari. Er schleuderte den Band weit von sich. „Hier ist Ihre Brille, Herr Bibliothekar, die richtige Brille! Sie sollten ein Buch mit so kleiner Schrift nicht mit einer falschen Brille lesen. Komm, Martin!“ Eilig liefen sie zur Straße. „Ich begreife nicht...“, keuchte Martin. „Daß ich das Buch weggeschleudert habe? Ich tat es mehr vor Schreck“, unterbrach der Professor. „Das mit der kleinen Schrift war eine Ausrede, aber der Kerl wird sie glauben, wenn er durch seine richtige Brille guckt. Ich meinte etwas anderes: Wenn die andere Brille wirklich meine telepathische Brille ist, so hat der Mann - ohne es zu wissen - die ganze Zeit eine grausige Geschichte durch die besonderen Gläser in sich aufgenommen, sich Wölfe vorgestellt und die Gedanken unwillkürlich durch die Strahler wieder von sich gegeben. Wenn im Monitor nun der Gedankenverstärker
eingestellt war, werden alle Gehirne der Insassen von der Wolfsgeschichte überflutet worden sein!“ Der Professor wartete nicht erst, bis sie wieder in Marac waren. „Dort ist eine Bank“, sagte er. „Setzen wir uns! Sei still, und stör mich nicht! Ich will Monitor anstrahlen... Hoffe mit mir, daß dies nun endlich die richtige Brille ist!“ Er starrte in den fahlen Nachthimmel. „Monitor!“ dachte er inständig, „Monitor, melden! Hier Professor Charivari...“ Auf ihrem unbekannten Landeplatz traf Henri, Prosper, Gérard, Tati und Micha dieser Anruf wie ein Schlag. „Verflixt, wo sind wir denn?“ stammelte Henri. „Das möchte ich auch wissen“, rief Prosper. „Wette, ich hatte eben noch kalte Füße“, staunte Gérard und sah sich um. „Da ist Tati - und Micha he, und der Pudel! Mir war, als hätte jemand nach ihm gerufen!“ „Aber Superhirn fehlt!“ stellte Micha entsetzt fest. „Quatsch, der schläft in der Kabine!“ sagte Tati und blickte ihrerseits verwundert um sich. „Versteht ihr das? Wir sind im Raumschiff, hocken gemütlich in den Sesseln mit Bonbontüten und anderem Zeug auf den Knien - und eben noch waren wir in der grausigen Schneewildnis und ...“ „Und wo sind die Wölfe?“ fragte Micha bibbernd. „Ich habe bestimmt gehört, daß es Wölfe waren! Sie haben sogar schrecklich geheult!“ Das war der Moment, in dem Charivaris Gedankenstrahl über den Verstärker kam und in aller Gehirne drang. Tati begriff am schnellsten. „Schluß!“ rief sie. „Was auch war - egal! Spürt ihr nicht! Der Professor sendet über Telepathor!“ Jetzt saßen sie wie die Wachsfiguren und lauschten. Die Geschichte, die Charivari mitzuteilen hatte, war lang und merkwürdig. Ebenso lang war Henris Antwort. Henri stellte den Strahler bald auf Sendung, bald auf Empfang, so daß ein Zwiegespräch zustande kam. „Wir sind auf einem fremden Planeten gelandet, nachdem wir das Piratenschiff auf der Erdumlaufbahn aus der Sicht verloren hatten“, meldete Henri. „Die Stichworttafel funktionierte nicht mehr, Superhirn wurde krank, dann erschien ein Teil einer Scheibe auf dem Himmelsvisor. Mit Hilfe der Handsteuerung gelang mir eine weiche Landung auf einer Felsplatte. Die Außensichtschirme zeigten kahles, teils schneebedecktes Gebirge. Die Antwort des Professors war verblüffend: „Unmöglich! Bitte die Daten der Instrumente. Was zeigt der Außendruckmesser? Wie sind die Außen-Anziehungskraftwerte?“ „Was will er?“ fragte Prosper. „Durch die Instrumente erfahren, welcher Luftdruck auf diesem Planeten herrscht und wie seine Anziehungskraft ist“, erklärte Henri. Er gab die gewünschten Daten an. Wieder kam die Antwort: „Unmöglich. Wartet, bis Superhirn wieder auf ist. Bis dahin bleibt im Raumschiff! Versucht weder zu starten noch das Fahrzeug zu verlassen!“ Zuletzt bat Charivari Gérard an den Telephator, um ihn mit seinem Vetter Martin zu verbinden. Das war eine Überraschung! „Martin!' jubelte Gérard laut. „Junge, eine tolle Geschichte! Das größte Abenteuer der Welt! Da müßtest du dabeisein!“ „Ich bin ja dabei - nämlich hier unten beim Professor“, kam Martins Antwort, die Gérard den anderen sofort weitergab. Danach meldete sich Charivari noch einmal für den Bordkommandanten Henri. Zuletzt schob Henri das Gerät zurück, nachdem er es wieder auf verstärkten Empfang gestellt hatte. „Ich könnte vor Freude kopfstehen“, rief er, „daß wir endlich wieder mit Professor Charivari in Verbindung sind. Aber eins ist dumm...“ „Was?“ fragte Tati. „Charivari ist unser Landeplatz unheimlich, das habe ich deutlich gespürt!“ „Wegen der Wölfe?“ schluckte Klein-Micha.
„Unsinn!“ sagte Henri ärgerlich. „Die Wolfsgeschichte ist über den Hochverstärker in unsere Köpfe gedrungen, weil ein Mann von großer Energie das Buch „Wölfe in der Winterwildnis“ versehentlich mit Charivaris telepathischer Brille gelesen hat. Worum es aber jetzt geht, das ist eine Gehirnspiegelung!“ „Sondern?“ fragte Prosper. „Der Professor hält es für unwahrscheinlich, daß unsere Instrumente die Außenwerte, also Außendruck, Außentemperatur, Außenschwerkraft, richtig anzeigen. Er meint, wir säßen wahrscheinlich auf einem luftlosen, kahlen, fremden Mond, und wenn wir die Luke öffneten, würde der Druckabfall unser Blut sofort zum Kochen bringen, und wir müßten sterben. Wir könnten uns höchstens in Raumanzügen durch die Seitenkammern schleusen.“ „Aber die Sichtschirme zeigen ziemlich hohe Bergspitzen an“, meinte Tati. Ich glaubte sofort Schnee zu erkennen! Gibt es Schnee auf einem fremden Mond?“ „Was weiß ich, ich bin nicht Superhirn“, erwiderte Henri ungeduldig. „Charivari sagt - und das ist das Wichtigste, den Piraten sei alles zuzutrauen! Sicher hätten sie so einen Narrenpositor konstruiert, ein Kursablenkungs- oder Irreführungsgerät, dem wir zum Opfer gefallen seien. Haben wir nicht viel zu plötzlich den Rand dieses fremden Himmelskörpers gesehen?“ „Welcher Himmelskörper ist der Erde näher als unser guter alter Mond?“ fragte Gérard kopfschüttelnd. „Wir sind doch gar nicht lange unterwegs gewesen!“ „Ich hatte schon mal die Idee - aber Charivari hat sie für unsinnig gehalten, das Piratenschiff könnte uns über ein Zeitloch, eine Zeitschwelle, geschickt haben. Ober eine Kosmosgrenze, deren zeitliche Breite unsere Uhren nicht vermerkt haben. Das wäre, als würde man eine Treppe nicht Stufe für Stufe hinaufgehen, sondern an einer Stelle ganz flink drei oder vier Stufen überspringen. Schlechter Vergleich, aber mir fällt kein besserer ein!“ „Du meinst...“, Prosper räusperte sich, „du meinst, wir sind womöglich Lichtjahre weit von der Erde entfernt? Meteor hat unsere Instrumente zerstört und uns trügerische Bilder auf den Himmelsvisor und die Sichtschirme gefunkt, die nun wie Fernsehtestbilder unentwegt draufbleiben?“ „So ähnlich“, murmelte Henri. „Komisch nur“, fuhr er nachdenklich fort, „daß die Außensichtschirme jetzt Dunkelheit anzeigen. Der Professor hat mir befohlen, die Länge der Dunkelheit an unseren Uhren zu messen. Ich soll ihm auch den Sternenhimmel beschreiben, den ich auf dem Himmelsvisor sehe. Vor allem sollen wir warten, bis Superhirn wieder völlig wach und gesund ist.“ Schon am Morgen war Superhirn so weit, daß man alles mit ihm besprechen konnte. Er fühlte sich noch ein wenig schwach, doch je mehr ihm Henri berichtete, desto schneller schien er seine Kräfte zurückzugewinnen. „Ich spreche sofort mit dem Professor“, entschied er, wobei er die Verbindung über den Telepathor meinte. Der Professor war ja immer noch nicht in seiner Bodenstation. „Alle Bordaggregate abstellen!“ befahl er danach. „Wir müssen prüfen, ob sich die Instrumente festgerannt haben. - Nein, sie reagieren! Aggregate wieder anstellen! Henri, gib mir die Werte!“ Und Superhirn teilte dem Professor mit: „Außendruck am Innenmesser abgelesen: 760 Millimeter Quecksilbersäule, Prüfanalysator zeigt Zusammensetzung der Außenluft, etwa 21 Prozent Sauerstoff, 78 Prozent Stickstoff und unbedeutende Beimischungen. Fallbeschleunigung des fremden Planeten: 9,81 Meter pro Sekunde im Quadrat. Man müßte hier ohne Raumanzug aussteigen können!“ Professor Charivari befahl dagegen, Monitor nur im Raumanzug zu verlassen. Henri, Prosper und Gérard sollten im Luftkissenauto einige Runden um das gelandete Schiff unternehmen. Während die drei sich eilig umkleideten, probierte Superhirn die Stichworttafel aus. Anscheinend hatte das Ab- und Wiederanstellen der Aggregate den Schaden behoben - die Maschinenstimme meldete sich wieder. Tati und Micha waren schrecklich enttäuscht, daß sie die abenteuerliche Autofahrt auf dem fremden Stern nicht mitmachen konnten, besonders als die begeisterten Schreie der Erkunder im Bordlautsprecher zu hören waren. „Kinder!“ erklang Henris jubelnde Stimme, „Das ist ein Wolkenritt! Herrlich liegt Monitor da auf der Felsplatte in der Morgensonne. Und die Schneespitzen der Berge funkeln im Licht!“
„Wir haben die Schutzhelme abgenommen!“ hörten sie Gérard. „Eine köstliche Luft - viel besser als auf der Erde!“ „Kann ich bestätigen!“ drang Prospers Schrei ins geschlossene Innere des parkenden Raumschiffs. „Seid ihr verrückt!“ wollte Superhirn schon nach draußen rufen, doch dann schwieg er und blickte auf die Befehlsplatte. „Hm - am Himmel sehe ich Wolkenformationen. Quellwolken, Höhenwolken hm. Die Berichte der drei von draußen, die Werte der Instrumente und das, was hier sichtbar ist alles stimmt miteinander überein. Ich werde die Außentüren öffnen, und wir werden ein paar Schritte vor unser Haus treten!“ „Heija, hurra!“ schrie Micha. Wuff, wuff! bellte der Pudel Loulou, als habe er verstanden, daß er seinen Spaziergang heute nicht im Laderaum, sondern im Freien machen dürfe. Über die Backbord-Seitentreppe verließen Superhirn, Tati und Micha mit dem Hund den Monitor. In einiger Entfernung sahen sie das Luftkissenauto mit den drei Erkundern dicht über dem Boden hin und her flitzen. „Aaahhh!“ Tati sog die frische Luft gierig ein. „Viel köstlicher als auf der Erde! Wahrhaftig, hier ist von Umweltverschmutzung noch nichts zu merken!“ Laut bellend hopste der Zwergpudel davon. Superhirn sah sich prüfend um. „Wir müssen Gesteinsproben sammeln. Ich muß mit einem senkrechten Stab und der Schattenbewegung - im Vergleich mit unseren Uhren herausfinden, wie schnell sich dieser Planet dreht. Mit Winkelmessungen kann ich auch noch sehr viel mehr feststellen.“ In diesem Augenblick kam der Pudel zurück. Er war kurz hinter einem Felsen verschwunden gewesen. „Was bringt er denn da im Maul?“ Tati kniff die Augen zusammen. Loulou bellte freudig, als er Micha seinen Fund vor die Füße legte. Superhirn bückte sich rasch und hob das rote, stockähnliche Bruchstück auf. Es war eine Art Ring daran. Er und Tati tauschten einen Blick. „Das...“, begann Superhirn mühsam, „das - das ist das abgebrochene Ende eines ganz gewöhnlichen Skistock!“ „Und hier ist ein Papierkorb, und dahinten ist ein Skilift, aber der ist jetzt nicht in Betrieb.“ In diesem Moment landete das Luftkissenauto neben Superhirn und Tati. Die drei Entdecker sprangen heraus. „Auf diesem Stern gibt es Bäume!“ meldete Prosper atemlos. „Wir müssen unbedingt ein paar Fotos von ihnen machen. Die Naturforscher auf der Erde werden sich wundern!“ „Wundern?“ Superhirn lachte so laut, als wäre er niemals schwach und erschöpft gewesen. „Was für Bäume, ihr Helden? Ja - in der Schule ein bißchen besser aufpassen! Das kann nie schaden! Nadelhölzer, wahrscheinlich, nicht? Wenn in deren Rinden auch noch eingeprägt wäre - wie hier auf diesem Skistockteil: Made in USA - dann hättet ihr wohl eher gemerkt, daß wir nicht auf einem fremden Stern, sondern auf unserer Erde gelandet sind - und zwar, wie es aussieht, auf einer Felsplatte der Rocky Mountains!“ Alle schwiegen verblüfft, und keiner von ihnen hätte zu sagen gewußt, ob nach Superhirns Worten die Enttäuschung oder die Erleichterung größer war. Ein Hubschrauber vom Aufklärungsdienst der amerikanischen Luftwaffe, der plötzlich über eine Kuppe schnurrte und immer engere Kreise um den Monitor zog, beseitigte jeden Zweifel. „Das Auto auf die Laderampe! Klappe dicht!“ befahl Superhirn. „Alle Mann an Bord! Fertigmachen zum Schnellstart!“ Er schaltete die Hubtriebwerke ein, die sie zur Landung benutzt hatten. Einige Meter über dem Boden stellte er sie wieder aus und zündete die Haupttriebwerke. Monitor jagte donnernd davon. Die Männer im amerikanischen Hubschrauber meldeten ihrer Bodenstation: „UFO gesichtet. Objekt
ist gestartet. Schubkraft weist darauf hin, daß es die Erdatmosphäre verlassen wird.“ An UFOS waren die Amerikaner seit Jahrzehnten gewöhnt. Die Nachricht würde keine Schlagzeile in den Zeitungen machen. Jeden Tag berichtete irgendein „Spinner“ der Presse und den Funk- und Fernsehanstalten in allen Teilen Amerikas, er habe eine „fliegende Untertasse“, eine „fliegende Zigarre“ oder irgendein anderes Ding von einem fremden Stern gesehen. Sogar die Hubschrauberbesatzung zweifelte daran, daß man ihrer Meldung Glauben schenken würde. Keine Sternwarte hatte dieses Raumschiff gesichtet, kein herkömmliches Warnsystem hatte es geortet. Superhirn hatte wieder Verbindung mit Charivari. „Dachte ich es doch!“ kam die Antwort. „Euer Stern schien mir gleich sehr merkwürdig. Aber nun paßt auf! Lauft die Unterseestation an, die mein Bruder, Professor Enrico Charivari befehligt! Ich gebe euch bis zur Unterwasserlandung alle Lenkhilfe!“ „Und wenn die Piraten die Station inzwischen erobert haben?“ strahlte Superhirn zurück. „Ich halte das für unwahrscheinlich“, ließ der Professor wissen. „Basis 2, also die Unterseestation, hat ein starkes Allzweckraumschiff, den Rotor. Er ist dem Meutererschiff überlegen. Meteor hatte Triebwerkschaden, wie ihr festgestellt habt. Wahrscheinlich wollte man euch nur abschütteln, um auf bequemen Erdumkreisungen eine gründliche Reparatur vorzunehmen. Bleibt also auf Erdumlaufbahn.“ Nach drei Stunden Bordzeit konnte Superhirn über den Telepathor melden: „Hier Monitor! Anscheinend haben Sie recht, Professor! Meteor kreist antriebslos. Ich denke, die Piraten werden alles genau für einen Angriff auf Basis 2 überprüfen. Inzwischen müßten sie sich eigentlich darüber klar sein, was sie wollen.“ „Ich gebe euch die Zahlen für den Anflug auf Basis 2 laufend durch!“ kam Charivaris Antwort. Henri tippte sie in den Kursrechner, der die automatische Steuerung übernahm. Kurze Zeit später flammte das Schild „Anflug“ auf. Zugleich empfing Superhirn die Botschaft des Professors: „Ihr müßt jetzt hundert Meilen von der kalifornischen Küste über Basis 2 im Stillen Ozean sein. Nehmt Bildfunk- und Hörfunkkontakt mit meinem Bruder auf. Das Kennwort für „Gut Freund und Landeerlaubnis im Auftrag Brutto Charivaris erbeten“ heißt Terra Nova. Viel Glück!“ „Der Professor ist auf Bildschirm zwei!“ schrie Micha begeistert. Tatsächlich - man hätte glauben können, der Kahlschädel, der sich so unvermittelt auf der Scheibe im Monitor, zeigte, sei niemand anderer als ihr guter Freund aus Marac Doch seine befremdete Miene zeigte sogleich: Er kannte die Besatzung des Monitor nicht. Superhirn nannte die Parole und berichtete dem Leiter der Unterseestation knapp von den Geschehnissen. Fast eisig im Ton kamen nun die Befehle von Professor Enrico Charivari: „Lenkungshinweise von Basis 2 ausführen, silberne Astro-Taste hochziehen, blaue Aquataste drücken. Auf die Sessel setzen! Alle Selbsthilfe unterlassen! Abwarten! Abwarten! Unterwasserlandung geschieht automatisch!“ „Dieser Enrico Charivari scheint längst nicht so nett zu sein wie sein Bruder in Marac“, meinte Tati. „Hoffentlich gehört er nicht auch schon längst zu den Meuterern“, überlegte Prosper. „Brüder sind manchmal die schlimmsten Feinde!“ Und schon kam der Befehl über Hörfunk: „Aussteigen! Alle verlassen das Schiff! Wer sich versteckt, wird bestraft!“ „Hier sind wir verratzt!“ murmelte Gérard. Nur Superhirn blieb ruhig. „Abwarten“, sagte er. Als die Gefährten nacheinander durch die geöffnete Tür des Monitor die Treppe hinabstiegen, waren sie wie geblendet. Dies sollte eine Unterseestation im Stillen Ozean sein? Es schien ihnen, als seien sie in einer riesenhaften modernen Werkhalle gelandet! Bevor sie sich genauer umsehen konnten, zog ein großer, schlanker Mann ihre Blicke auf sich. Er trug einen weißen Kittel - und bis auf die Tatsache, daß sein langer Fadenbart nicht lackschwarz, sondern seidig-silbern war, glich sein Kopf dem des Professors Brutto Charivari wie ein Ei dem anderen. Neben ihm standen ein paar Leute in Froschmänneranzügen, allerdings ohne Kappen. „Was?“ rief Enrico Charivari, als er die Ankömmlinge gemustert hatte. „Kein Erwachsener dabei?
Na, dann muß es ja schlimm mit meinem Bruder stehen. Haben alle Astros gemeutert?“ „Nur die von Basis 1 bei Marac“, berichtete Superhirn. „Von der geheimen Mondbasis liegen keine Nachrichten vor. Basis 1 mußte Funkstille wahren. Auch wir waren dazu gezwungen, und jetzt ist die Bodenkontrollstation bei Marac außer Betrieb. Wir haben uns mit Ihrem Bruder über einen Telepathor verständigt. Sie sollen das Raumschiff Rotor klarmachen und Meteor auf Erdumlaufbahn verfolgen. Wie wir wissen, ist ein Übersteigen möglich. Ihre Leute können die Piraten lebend überwältigen.“ „Du sprichst, als seist du der Chef einer Weltraumbehörde“, lachte Professor Enrico. „Und was ist das da? Ein Pudel? Hat der auch etwas mitzubellen?“ „Er hat uns als Testhund einen guten Dienst erwiesen!“ grinste Superhirn. „Er zeigte uns, daß wir nicht auf einem fremden Planeten, sondern in Amerika gelandet waren!“ „Aber nun seid ihr in meiner Unterseestation“, erklärte der Professor herzlich. „Hier könnt ihr bleiben, bis die Basis bei Marac wieder benutzbar ist.“ Er gab einige Befehle, die den Start des Raumschiffs Rotor betrafen. Dann sagte er: „So, nun zeige ich euch erst einmal mein Reich!“ „Wie haben Sie denn die Station unter Wasser abgestützt und mit Luft gefüllt?“ wunderte sich Tati. „Nach der Art einer verankerten Glocke“, antwortete Professor Enrico. „Ihr seid mit dem Monitor unter dem Rand hindurch geschlüpft.“ „Und was machen Ihre Astronauten hier?“ wollte Prosper wissen. „Wir nennen sie Aquanauten, obwohl sie auch hervorragende Astros sind“, erklärte der Professor. „Die Station ist weniger ein Raumfahrt- als ein Seelabor. Wir beschäftigen uns mit der Meeresbodenfauna und -flora und mit der chemischen Zusammensetzung des Meeres. Außerdem wissen wir bereits, daß im Ozeanboden wichtige Energiequellen vorhanden sind, wie Kohle und Öl. Auch gibt es Gold, Kupfer und andere Bodenschätze, deren Nutzung der Menschheit dienen würde.“ „Was sind das da für Fahrstühle?“ rief Micha verblüfft. „Werden damit die Schätze gehoben?“ Professor Enrico Charivari lachte. „Nein. Aber wir werden mal eine Etage höher fahren; ich zeige euch eure Gästekabinen!“ „Kinder, das ist ja hier wie in einem Palasthotel!“ wunderte sich Gérard, als sie in ihre Räume geführt wurden. Gewiß, sie waren nicht groß, aber sie enthielten alles, was man brauchte. Es gab sogar Zimmertelefone auf den Nachttischen. Plötzlich ertönte eine Stimme, offenbar durch Stationslautsprecher: „Professor! Chef-Aquanaut mit Rotor zur Verfolgung der Piraten startbereit!“ „Ich komme!“ sprach Enrico Charivari in ein Wandmikrofon. Zu den Jungen sagte er: „Wir sehen uns nachher beim Essen. Neben jedem Telefon liegt eine Speisekarte. Ruft vorher die Küche an, und bestellt euch, was immer ihr wünscht!“ Die Gefährten verlebten in der Meeresstation sechs herrliche Tage. Es gab eine Sporthalle, einen echten, kleinen Park mit sonnengleichem Kunstlicht, ja sogar ein Unterwasser-Schwimmbecken mit gereinigtem Wasser. Nichts wies darauf hin, wo sie sich befanden. Micha, der sich anfangs vor Haifischen gefürchtet hatte, war bald enttäuscht darüber, daß er nirgends einen sah. Am Abend des sechsten Tages meldete Professor Enrico, dem Superhirn von dem Telepathor hatte berichten müssen, daß er in der Unterwassergarage im abgestellten Monitor die Gedanken des Bruders empfangen habe. Sie enthielten den Befehl: „Rückkehr nach Marac! Geheime Bodenstation im Hochmoor bald wieder benutzbar.“ Superhirn wollte Genaueres wissen. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und bediente den Telepathor. Alsbald meldete sich Professor Dr. Brutto Charivari aus Marac: Der Bauer Dix habe mit seinem Freund Bertrand und einer Pfadfindergruppe ein neues Bretterhäuschen im Hochmoor aufgebaut. Der „obdachlose, alte Gelehrte“ könne nun wieder eine eigene Behausung beziehen. Die Spürmannschaften seien auch abgezogen, das Hochmoor liege verlassen wie eh und je. „Was wird mit den Piraten?“ fragte Superhirn an. „Rotor hat sie noch nicht erwischt! Ihr Bruder empfing nur eine Meldung, daß das Triebwerk des Meteor wieder in Ordnung sei!“ „Es ist jetzt Rotors Sache, Meteor außer Gefecht zu setzen“, kam Charivaris Antwort aus Marac. „Ihr
habt eure Aufgabe erfüllt, und zwar ganz großartig, ihr Freizeit-Astronauten. Nun schlaft euch noch einmal tüchtig aus - und dann macht euch auf den Rückweg! Martin wartet, und ihr müßt auch mal mit euren Eltern telefonieren!“ Wer von den sechs Freunden freute sich nicht wieder auf Marac? Zwölf Stunden später sagen sie wieder im Kommandoraum auf den lichtblauen Sesseln. Superhirn blickte auf den Himmelsvisor. Auf Bildschirm zwei erschien das lächelnde Gesicht ihres neuen Professor-Freundes. „Fertig zum geheimen Start von Basis 2“, meldete Superhirn. „Viel Glück!“ tönte die Stimme Professor Enricos. „Grüßt meinen Bruder, und vergeßt nicht, ihm zu sagen: Rotor kümmert sich um die Mondstation!“ „Wir fliegen schon!“ rief Micha, auf die Kontrollampen blickend. „Ja, vorläufig durchs Wasser!“ grinste Prosper. Doch schon wurde die Befehlsplatte hell. „Kinder“, seufzte Tati. „Wie freue ich mich auf den Badestrand von Marac!“ „Meinst du, ich nicht?“ brummte Henri. „Mensch, und was ich Martin alles erzählen werde“ triumphierte Gérard. „Daß wir die gute alte Erde für einen fernen Stern, gehalten haben, wirst du ihm natürlich nicht verschweigen nicht wahr?“ sagte Superhirn und grinste. Alle lachten.
Ende
Raumschiff Monitor Raumschiff verschollen 1. Eine Heimkehr, aus der nichts wird „Kinder”, meinte Prosper hoffnungsvoll, „bald haben wir wieder Erdboden unter den Füßen! Richtigen guten, festen Boden! Ich kann's noch gar nicht glauben!” „Ich auch nicht”, brummte der stämmige Gérard. „Wenn ich bedenke, daß wir noch immer im Raumschiff Monitor sind! Wir schwenken eben in zweihundertachtzig Kilometer Abstand von der Erde in die Kreisbahn ein!” „Na und? Das ist doch nötig zur Landung, oder?” erkundigte sich die zwölfjährige Tatjana, genannt Tati. „Wir sind auf der Parkbahn.” Ihr Bruder Henri nickte. „Gleich wird Professor Charivari auf dem Bildschirm erscheinen und uns in seine geheime Bodenstation einweisen.” Tati seufzte erleichtert. „Hach, dann kommen wir endlich zurück nach Marac! Wir können unser Zeltlager wieder aufbauen, im Café Eis essen und am Badestrand faulenzen!” Mit einem Blick auf ihren kleinen Bruder Micha und den Pudel Loulou fügte sie hinzu: „Besonders die beiden müssen sich mal wieder tüchtig austoben.” „Nur nicht nervös werden, Schwesterchen”, sagte Henri. „Das Schlimmste liegt hinter uns. Die Luftpiraten sind wir los, unser Auftrag ist erfüllt. Die Kerle werden mit dem Raumschiff Rotor von der Unterseestation aus weiterverfolgt. Nun haben wir so viel erlebt, daß es auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht ankommt.” Die Gefährten des dreizehnjährigen Henri - die gleichaltrigen Freunde Gérard und Prosper, seine zwölfjährige Schwester Tati und der achtjährige Bruder Micha - befanden sich auf der abenteuerlichsten Ferienfahrt der Welt. Zu ihnen gehörte übrigens auch ein junge, der als letzter hinzugekommen war, bald aber die wichtigste Rolle übernommen hatte: Marcel, vierzehn Jahre alt, spindeldürr, ein blonder „Eierkopf” mit großen, dicken, runden Brillengläsern. Weil er so viel wußte und so unwahrscheinlich klug war, nannten ihn die anderen Superhirn. „Ich für meinen Teil habe genug erlebt”, sagte Tati. „Das mit den paar Stunden mehr oder weniger ist 'n schöner Trost! In ein paar Stündchen kann in einem Raumschiff mehr geschehen als in ein paar Jahren auf der Erde! Ich wollte wirklich, ich wäre schon unten!” „Ein bißchen dauert es noch”, erklärte Superhirn. „Wieso?” begehrte Tati auf. „Du hörst doch: Ich habe genug!” „Erst muß Marac in Position kommen. Du weißt doch, daß sich die Erde dreht. Sie dreht sich auch unter uns. Erst wenn sie sich so weit gedreht hat, daß wir auf unserer Umlaufbahn Marac überfliegen würden, können wir hinabtauchen. Wenn wir aber jetzt zum Landen ansetzen wollten, würden wir in Asien herunterkommen, nicht aber in Frankreich, wo wir hinwollen!” „Schön, das weiß ich - aber wie lange dauert das noch?” wollte Tati wissen. „Beim nächsten Umlauf ist es soweit”, antwortete Superhirn. „So in anderthalb Stunden sind wir in Marac.” Henri und Superhirn - der eine auf dem Platz des Bordkommandanten, der andere auf dem des Flugingenieurs - blickten auf eine sonderbar flimmernde glatte und runde Fläche, die wie eine Tischplatte wirkte. Das war der Himmelsvisor. Er ermöglichte ihnen indirekt aus dem lautlos dahinsausenden Raumschiff heraus einen Ausblick ins All. Die ganze Besatzung saß bequem, fast gemütlich in gewaltigen Drehsesseln. Da das Raumschiff mit künstlicher Schwerkraft ausgestattet war und alle betretbaren Räume an Bord immer waagerecht blieben - wie sich das Raumschiff auch wenden mochte -, konnten sie sich so frei bewegen wie in einer Bodenstation. Aber das Gefühl des Unheimlichen blieb.
Wohl trug niemand einen Raumanzug wie die Astronauten in den bisher bekannten Kapseln. So, wie sie im Hochmoor gezeltet hatten, in Trainingsanzügen, in Jeans und Pullis, waren sie durch eine Verkettung sonderbarer Geschehnisse an Bord des Superraumschiffs Monitor gelangt. Micha hielt den kleinen Pudel auf dem Schoß, als säße er irgendwo in einem fremden Haus. Denn die Umgebung hier war kalt und unwohnlich. Sie schien auf den ersten Blick nur aus Drehknöpfen, Schaltern, Hebeln, Tasten, farbigen Meßgläsern, Bildschirmen und anderen rätselhaften Dingen zu bestehen. Nein, die fünf Jungen, das Mädchen und der Pudel Loulou saßen wahrhaftig nicht in einem Kinderzimmer. Und das Ganze war auch kein Traum! Nichtsahnend hatten sie im Hochmoor bei Marac an der Atlantikküste gezeltet, als ihnen der Professor Dr. Brutto Charivari begegnet war. Nichts weiter als ein kauziger Privatgelehrter dafür hielten ihn die Leute. Er bewohnte eine Hütte bei den Klippen, zu denen sich niemand hinwagte. Er behauptete, ein Gelehrter zu sein, der das Alter von Gesteinen bestimmte. In Wahrheit leitete er seine eigene geheime Raumfahrt-Bodenstation, die sich unter dem Hochmoor befand. Seine beiden Brüder befehligten die ebenso geheimen Untersee- und Mondstationen. Charivaris Mitarbeiter in der Geheimbasis Marac hatten gemeutert und waren mit dem Schwesterschiff des Monitor, dem Meteor, geflohen. Der Professor - im Kampf mit den Meuterern verletzt - war nicht in der Lage gewesen, die Piraten selbst zu verfolgen. Gestützt auf Superhirns Klugheit und auf die Lenkhilfen seiner Bodenstation, hatte er den Monitor zur Jagd auf die Piraten angesetzt, eine Verfolgungsjagd, die nun das Raumschiff Rotor von der Unterseestation übernommen hatte. „Achtung - Bildschirm zwei!” meldete jetzt Gérard. Schnell hoben Kommandant Henri und Flugingenieur Superhirn ihre Blicke von der Sichtplatte. Alle starrten wie gebannt auf die linke Seite des Kommandoraums. Nun, das kannten sie inzwischen: Die Mattscheibe wirkte auf einmal wie ein Fenster, durch das das leibhaftige Grauen hereinschaute. Aus Halbschatten, Schatten und Zwielicht entwickelte sich immer deutlicher ein Gesicht. Die Umrisse des Kopfes erinnerten an eine Salatgurke. Der spitze Schädel war völlig kahl. Die Augenbrauen des Mannes schienen zwei dicke schwarze Striche zu sein, unter denen die gespenstisch flimmernden Augen fast verschwanden. Das Sonderbarste aber waren der dünnsträhnige schwarze Kinnbart und die eingefallenen Wangen unter den spitzen Backenknochen. So schrecklich der Mann - besonders auf dem Bildschirm - wirkte: Die Gefährten wußten, sein geheimes Werk sollte später einmal der gesamten Menschheit zu friedlichen Zwecken dienen. Vor allem war dieser Professor Charivari ein guter Freund. „Hallo, Professor!” krähte Micha begeistert. „Holen Sie uns jetzt runter? Prima! Wir können was erzählen! Hat das andere Raumschiff die Piraten geschnappt?” „Professor Charivari!” meldete sich auch Superhirn erfreut. „Monitor auf Parkbahn. Weisen Sie uns zur Landung ein?” Zum Entsetzen aller erwiderte der Professor: „Landung fürs erste ausgeschlossen. Bleibt auf Erdumlaufbahn. Geduld! Geduld! Melde mich später...” „Später... ?” schrie Henri. „Was soll das heißen? Wann ist das? In dreitausend Jahren vielleicht... ? Dann können Sie uns als Geister runterholen! Aber dann sind Sie selber längst ein Geist! Hallo, Professor... !“ Doch der Bildschirm wurde dunkel. Charivari hatte nicht mehr geantwortet. Wuff, wuff, wuwuuu, kläffte und winselte der Zwergpudel leise. Er spürte den eisigen Schrecken, der die Besatzung befallen hatte. „Was”, japste Prosper, „was war denn das? He, Superhirn! Ich dachte, wir wären auf dem Heimflug! Na ja - Heimflug, ich meine: Rückflug. Hatte der Professor nicht gefunkt: Auftrag beendet, zur Basis Marac zurückkehren oder so ähnlich? Er schien uns nicht schnell genug wieder unten haben zu können. Und nun?” „Das Abenteuer war doch beendet!” maulte Gérard.
„Dachte ich auch!” rief Tati schrill. „Es hatte auch nie anders geheißen!” „Vie-vie-vielleicht sind die Pi-piraten dem Ras-Raumschiff der Unterseestation entwischt”, stammelte Micha. „Sie ha-haben unsere Bo-bodenstation überfallen!” „Und der Mann am Bildschirm wäre nicht Professor Charivari gewesen?” höhnte Henri. „Quatsch! Außerdem ist die Basis in Marac so sicher, daß keine Macht sie erobern könnte.” „Du könntest dich irren”, zweifelte Gérard. „Mir ist ziemlich ungemütlich zumute, wenn ich daran denke, daß mein Vetter Martin beim Professor in der Bodenstation sitzt!' „Immer mit der Ruhe”, sagte Superhirn. „Ich schlage vor, wir bleiben erst mal auf Parkbahn, genau wie es Charivari befohlen hat.” „Wann können wir dann runter?” erkundigte sich Prosper. „Erst wieder in vierundzwanzig Stunden - das heißt, wir müssen noch sechzehnmal um die Erde kreisen.” „Und wenn uns der Professor so lange kreisen läßt, bis wir schwarz geworden sind?” rief Tati. „Dann kämen wir als Kaminkehrer zurück”, meinte Superhirn mit Galgenhumor. „Hör mal”, ereiferte sich Henri. „Dies ist doch kein gewöhnliches Raumschiff, sondern ein Allzweckfahrzeug. Zur Not braucht es keine Lenkhilfe von einer Bodenstation. Außerdem kann es sich zu Land, zu Wasser und in der Luft bewegen wie ein Luftkissenfahrzeug, ein Schiff oder ein Flugzeug. Ja, es kann sogar tauchen wie ein U- Boot und in die größten Tiefen vorstoßen. Machen wir uns doch selbständig! Gehen wir runter! Schwimmen wir den Golf von Biskaya entlang, oder kurven wir wie ein Hubschrauber über dem Hochmoor herum! Dann sehen wir vielleicht sogar, was mit der Bodenstation los ist!” Superhirn lachte. „Ihr wißt, ich trage ein kluges Köpfchen auf dem Hals”, erwiderte er pfiffig. „Und ich bin ein Lernphänomen und ein Kombinationsgenie. Außerdem haben wir hier an Bord die tollsten Hilfsmittel für den Fall des Versagens der Bodenstation. So weit ist die gewöhnliche Raumfahrt noch nicht. Trotzdem sitzen wir hier in keinem Omnibus. Und solange ich mich an Professor Charivari halten kann, werde ich nichts Übereiltes tun. Das wäre tollkühn. Und mit Tollkühnheit erreicht man in der Raumfahrt rein gar nichts.” „Da hat Superhirn recht”, sagte Tati auf einmal sehr ruhig. „Bleiben wir auf der Erdumlaufbahn - und warten wir ab. Charivari wird sich schon melden.” Superhirn nickte. „Es braucht gar nichts Schlimmes zu sein, was ihn davon abhält, uns herunter zu holen. Vielleicht herrscht an der Küste ein starker Sturm...” Doch es war noch nicht einmal das. Ein Sturm wäre sogar ein geringeres Übel gewesen als die fast albernen Vorgänge im Hochmoor, die Charivari bewogen hatten, Monitor vorläufig auf der Erdumlaufbahn kreisen zu lassen. Das Gebiet vor Charivaris Küstenbesitz war nämlich plötzlich von Touristenströmen überflutet worden. Mit Wohnwagen, mit Autos und Anhängern, mit Zelten, Luftmatratzen, Liegestühlen, Hockern, Klapptischen, Grills und anderen Geräten hatten sich die Leute wie ein Heuschreckenschwarm auf dem südöstlichen Teil des Hochmoors bei der Bruchsteinkapelle niedergelassen. Der Bauer Dix war mit Herrn Bertrand in der Hütte des Professors erschienen. Dort saßen, durch Lichtschranke, Horchgerät und Bildfunk-Warngerät schon alarmiert, der Professor und Martin scheinbar arglos beim Tee. Der Eingang zur unterirdischen Geheimstation - ein runder eiserner Ofen war durch Auslösung des Gelators mehr als panzerhart verschlossen. Keine Macht der Weit würde ihn öffnen können. Charivari hatte einen Haufen alter Bücher neben sich, und Martin tat, als könne er nicht genug über die Altersbestimmung von Gesteinen hören. „Entschuldigen Sie, Herr Professor“, sagte Herr Bertrand. „Wir alle in Marac wissen, daß Sie nur Ihre Arbeit kennen - nur Ihre Arbeit und sonst nichts. Deshalb läßt Sie jedermann gewöhnlich in Ruhe. Nur...“ Er schwieg verlegen.
„Es ist so“, erklärte der Bauer Dix, „in diesem Jahr haben wir einen Zustrom von Fremden wie noch nie. Es ist zum Verrücktwerden, Herr Professor. Auf Herrn Bertrands Campingplatz kann sich keine Maus mehr rühren, so voll ist es da. Nun hat mich der Bürgermeister gebeten...“ „Ich verstehe.“ Professor Charivari unterbrach ihn. „Sie sollen Ihren Teil des Hochmoors den Feriengästen zur Verfügung stellen.“ „Bei der Bruchsteinkapelle ist klares Wasser, dort wäre die Errichtung sanitärer Anlagen eine Kleinigkeit“, erklärte Herr Dix. „Ehrlich gesagt, die Arbeiten sind schon im Gange. Wir wollten uns nur bei Ihnen entschuldigen, daß Sie durch die ganze Sache in Ihrer Einsamkeit gestört werden. Im nächsten Sommer werden wir eine andere Lösung finden.“ „Sicher!“ sagte der Professor lächelnd. „Aber setzen Sie sich doch, meine Herren!“ Gérards Vetter Martin staunte. Charivari erwartete doch das Raumschiff Monitor! Gerade hatte er in der Bodenstation die Landung einleiten wollen - da war das Heer der Campingleute aus Marac heraufgezogen. Nun verkündeten Herr Dix und Herr Bertrand, daß diese Leute bis zum Herbst bleiben würden: eine Menge ungebetener Zeugen für vieles, das unbedingt geheim bleiben mußte! Und der Professor lächelte! Er lächelte so sanft, als hätte man ihm keine Zeltreihen mit schnatternden, neugierigen hin und her laufenden Menschen ins Hochmoor gepflanzt, sondern stumme, schöne Blumen! „Machen Sie sich keine Gedanken, meine Herren“, sagte er. „Sie waren stets freundlich zu mir, und Sie haben mir so oft geholfen! Mögen Sie vielleicht eine Tasse Tee?“ „Danke, danke“, lehnte Herr Dix höflich ab. Herr Bertrand murmelte: „Wir wollen Ihnen keine Umstände machen.“ „Der Martin hilft Ihnen doch hoffentlich?“ erkundigte sich der Bauer Dix. „Er soll mal zu uns hereinschauen, ob wir etwas für Sie haben. Gemüse, Fleisch, na, und was Sie brauchen...“ Er sah sich um. „Hm! Die Hütte ist ja sehr gemütlich geworden. Wie gefallen Ihnen außen die Kunstfaserplatten? Schön weiß, nicht? Diese rohen Holzbretter waren ja ein häßlicher Anblick.“ Er runzelte die Stirn, als fiele ihm plötzlich etwas ein. Dann sah er zum Ofen. „Ach ja“, sagte er. „Das ist merkwürdig! Als ich mit meinen Hilfskräften - diesen Pfadfindern - hier alles in Ordnung gebracht habe, wollte ich den Ofen gegen einen besseren auswechseln. Aber glauben Sie, wir hätten das Dings da...“, er wies in die Ecke, „... wir hätten diesen Ofen auch nur um Haaresbreite verrücken können? Bevor wir die letzte Wand bauten, bin ich mit meinem Trecker dagegengefahren! Der Trecker bekam eine Beule, der Ofen stand wie eine Eins!“ Professor Charivari ließ sich nichts anmerken. „Der stammt aus dem vorigen Jahrhundert, Herr Dix“, sagte er schnell. „Da hat man solche Öfen für die Ewigkeit gebaut!“ Der Bauer Dix lachte. „Sie mögen recht haben, Herr Professor. Und wegen der Zeltleute nichts für ungut! Wie gesagt, die bleiben nur ein paar Wochen...“ Als er mit Herrn Bertrand gegangen war, stand der Professor eine Weile schweigend da. Alle Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen. „Was machen wir jetzt?“ drängte Martin. „Haben Sie nicht mal gesagt, Sie könnten Ihr Gelände unter eine himmelhohe Glocke aus verfestigter Luft setzen? Dann könnten die Leute gar nicht erst in unsere Nähe kommen! Sie würden sich ewig vor dem unsichtbaren Hindernis abzappeln! Oder?“ Charivari nickte bedächtig. „Stimmt! Ich kann das ganze Gebiet über der Bodenstation so abschirmen wie diesen Ofen. Ich hätte es längst tun können. Doch nach allem, was sich seit der Meuterei hier abgespielt hat, wollte ich bei den Einwohnern von Marac kein Mißtrauen erwecken. Daß Herr Dix etwas Besonderes an dem Ofen aufgefallen ist, ist schon schlimm genug. Touristen sind besonders neugierig...“ Er schwieg und strich sich den dünnen Bart. „Der Funkverkehr zwischen uns und Monitor würde zum Beispiel ihre Transistorradios stören“, überlegte Martin. „Nein, das nicht“, murmelte Charivari. „Aber diese Leute filmen und fotografieren alles. Ich
könnte das durch eine Strahlenkanone verhindern. Doch dann würden sie mit ihren verdorbenen Filmen allesamt nach Marac rennen und den Fotohändler verantwortlich machen. Hm! Ich muß mir etwas ausdenken, das die Leute zwingt, von selber das Feld zu räumen. Eine dumme Kleinigkeit. Aber an Kleinigkeiten hängt jetzt alles. Paß auf! Du gehst in das Zeltlager und siehst dich da ein bißchen um.“ „Und was tun Sie inzwischen?“ fragte Martin. „Ich steige in die Bodenstation hinunter, befehle Monitor, sich auf Erdumlaufbahn zu halten, und hole mir etwas aus meinem Labor.“ „Was denn?“ forschte Martin neugierig. „Das wirst du bald sehen“, antwortete der Professor und blinzelte. 2. Das Hochmoor wird belagert Bevor Herr Dix die Hütte des Professors umgebaut hatte, war sie nur eine windschiefe Bretterbude mit einem Moosdach gewesen. Zwischen zerzausten Büschen an die grasige Erde geduckt, hätte sie keine bessere Tarnung haben können. In der Mitte des Hochmoors standen zudem Schilder „Halt! Privatbesitz! Betreten des Steilufers lebensgefährlich!” Der Strand darunter galt als „Todesstrand”. Dort, bei den unheimlichen „Heulenden Steinen”, war das Baden wegen des Sogs im Wasser polizeilich verboten. Auch darauf wiesen Schilder hin. Die Bevölkerung von Marac hatte sich stets danach gerichtet. Das Hochmoor, besonders der Küstenteil, war verrufen. Die Alten wußten Geschichten zu erzählen, die sie schon von ihren Urgroßeltern gehört hatten: Spukgeschichten, die selbst den Jüngeren kalte Schauer über den Rücken jagten. Nicht der Wind, so hieß es, heule durch die Felslöcher. Vielmehr höre man das Gejammer ertrunkener Fischer. Auch die Strömung sei nicht so zu erklären, wie es die Lehrer immer täten. Meeresgeister, glaubten die Alten, zögen den Schwimmenden hinaus auf See und drückten ihn unter Wasser. Die Gefährlichkeit des Ufers und der Aberglaube der Bevölkerung hatten Professor Charivaris geheimes Werk geschützt. Doch nun sah Martin buntgekleidete Zeltlager-Touristen unbekümmert um die Schilder über den Bach hüpfen und auf die Hütte zustreben, die der Bauer Dix mit weißen Kunstfaserplatten verkleidet hatte. „He, du da! Junge!” rief ein Mann. „Ist das ein Lokal?” „Ein - was?” fragte Martin. Er legte die Hand hinters Ohr und tat, als höre er nicht recht. „Wunderbar, wie das Häuschen da so strahlend weiß in der Abendsonne liegt”, schnaufte eine dicke Frau. Sie ließ sich von ihrem riesigen Mann hinterherziehen. „Ach, so ein Ferienhaus! Das wäre was!” Alle blieben einen Augenblick stehen. „Die Wände sind so leuchtend blau!” rief eine andere Frau mit ihrer meckernden Stimme begeistert. „Blau? Was ist blau, wer ist blau?” spottete ein dicker Mann mit einem Notizbuch in der Hand. „Vielleicht haben Sie eine blaue Brille auf, wie? Das Haus ist rot! Leuchtend rot! In der Sonne glühen die Wände wie Rubin. ja, sie funkeln richtig! Haha, man will mir einreden, da wohne ein armer Forscher! Ein Millionär hat sich dort niedergelassen! Wahrscheinlich ein Scheich! Wer kann sich denn solche leuchtenden Hauswände leisten?” „Schwarz!” widersprachen zwei junge Mädchen wie aus einem Munde. Danach rief die eine: „Die Wand ist kanarienvogelgelb!” und die andere: „Silbern ist sie! Sie ist silbern!” Statt kopfschüttelnd das Weite zu suchen, rannte die ganze Gruppe direkt auf die Hütte zu. Dort standen mittlerweile schon andere Leute aus dem Zeltlager. Auch sie stritten sich über die Farbe der Außenwände! Opas, Omas, Eltern, Tanten, Onkels, Mädchen und Jungen ... „Orange!” - „Rot! Tomatenrot!” - „Meergrün!”
In einem Augenblick, in dem das Gezanke durch eine allgemeine Atempause unterbrochen wurde, ertönten die ruhigen Worte: „Aber meine Herrschaften! Worum geht es denn hier? Streit? Streit an einem so herrlichen Feriennachmittag? Vielleicht gestatten Sie mir, daß ich den Vermittler spiele. Charivari ist mein Name. Dr. Brutto Charivari, Professor, Geochronologe...” Alle anderen überragend, stand der kahlschädelige Professor mit seinem lackschwarzen dünnen Kinnbart zwischen den Leuten. „Sie sind der Besitzer?” fragte ein junger Mann mit erstaunten Augen. „So. Dann werden Sie uns sagen können, welche Farbe Ihre Hauswände haben! Bitte, äußern Sie sich! Äußern Sie sich über die Farbe jeder einzelnen Wand!” Der Professor lächelte heiter. Mit sanfter, fast einschmeichelnder Stimme erklärte er: „Ich wüßte nicht, was ich mich da viel zu äußern hätte, junger Mann. Das Haus ist weiß! Es ist rundherum weiß! Daran gibt es überhaupt nichts zu zweifeln! Fragen Sie den Bauern Dix, der hat die Faserplatten angebracht!” Wie vor den Kopf geschlagen, entfernten sich die Leute. Der Professor lachte leise. „Die werden schon wieder gesprächig werden”, meinte er. „Spätestens am Abend, wenn sie den Schreck verwunden haben. Sie werden sich wieder streiten. Bis morgen mittag brechen sie das Lager ab und verschwinden. Das heißt allerdings, ich muß da noch ein bißchen nachhelfen.” „Nun erklären Sie mir bitte, wie Sie das gemacht haben!” bat Martin. „Ich falle sonst vor Spannung um!” „Mit einem besonderen Apparat habe ich einfach das Farbensehen der Leute durcheinandergebracht“, erklärte Charivari. „Du weißt doch, daß wir Farben so empfinden, wie wir sie für echt halten. Dabei ist das angeblich weiße Glühlampenlicht eigentlich rötlich, wenn man es auf einer korrekten Farbaufnahme einfängt. Aber das ist nur ein einfaches Beispiel. Lassen wir das. So - jetzt gehe ich noch einmal hinunter in die Bodenstation und rufe das Raumschiff Monitor. Wie ich eben hörte, ist an Bord alles in Ordnung. Unsere Freunde müssen noch ein Weilchen auf der Erdumlaufbahn bleiben.” „Aber was ist, wenn wir die Leute nicht wegkriegen?” wollte Martin wissen. „Verlaß dich darauf, es klappt”, beruhigte der Professor den besorgten Jungen. Martin schlenderte über das Hochmoor und beobachtete das Gewimmel bei der alten Bruchsteinkapelle. Mit Hilfe zweier Arbeiter aus Marac waren viele Touristen dabei, das Quellwasser in eine lange Holzrinne zu leiten. Etwas weiter entfernt wurden Holzkabinen errichtet. Aha, dachte Martin, die Häuschen! Na, das sah aber wirklich so aus, als richte man diese Campingstelle nicht nur für ein paar Wochen ein. Der Bauer Dix mochte sagen, was er wollte: Aus diesem Ausweichplatz konnte für das nächste Jahr sehr leicht ein festes Campinglager Der Himmel war mittlerweile so hell geworden, daß Martin die Wagen und Zelte genau sah. Noch regte sich darin keine Menschenseele, aber probeweise konnte man ja ruhig mal den Knopf des kleinen Kästchens betätigen. Einen Augenblick später unterdrückte Martin einen Ausruf der Verblüffung: Autos, die vorher blau gewesen waren, erschienen ihm auf einmal gelb. Gelbe wurden rosa oder rot. Ein orangefarbenes Zelt bekam das Aussehen eines schmutzigen Lappens, ein anderes wurde giftgrün. Auch das Gras hatte sich verwandelt; eben noch grün, schillerte es gespenstisch silberviolett. Und die Bruchsteinkapelle wirkte plötzlich wie das Wrackstück eines zinnoberroten Dampfers, das eine Gigantenfaust hierhergeworfen haben mochte! Martin ließ den Knopf des Kästchens hin und her spielen. Die Farben wurden dichter, wechselten, begannen zu schillern und zu flackern. Er sprang auf, lief einmal um das Lager herum und suchte sich einen gut geschützten Beobachtungsposten vor dem Gelände des Professors. Und schon kam eine dicke Gestalt aus einem der Zelte gekrochen, um sich in der Holzrinne zu waschen. Martin erkannte den Mann, der gestern das Notizbuch geschwenkt hatte. In welchen
Farben mochte er die Umwelt jetzt wohl erblicken? Der Dicke blieb stehen und rieb sich die Augen. Er drehte sich im Kreise und griff sich an den Kopf, völlig verwirrt von dem, was sich vor seinen Augen abspielte. Da ertönte ein schriller Schrei. Eine Frau stand plötzlich neben dem Dicken. Ihr Blick war auf einen Wagen gerichtet, der sich in Martins Augen hellgelb darstellte. „Mein Auto ist schwarz!” schrie sie. „Gestern war es noch kornblumenblau! Wer hat das gemacht? Und wer hat die Ruine grün angemalt? Hilfe - Hilfe! Eine Bande von Farbklecksern hat das Lager überfallen!” Martin konzentrierte sich auf die Frau und drehte heftig an dem Steuerknopf des Kästchens. Auf einmal erschien ihm die Frau von Kopf bis Fuß lila. Ganz anders wirkte sie auf den Dicken. „Was ist denn mit Ihnen los?” brüllte er. „Sie sind ja rot wie eine Flamme! Auch Ihre Haare sind rot! Sie kommen wohl geradewegs aus der Hölle!” Martin beäugte den Dicken. Der war plötzlich türkisblau. Doch nicht für die Meckerziege, die im nächsten Augenblick schrie: „Halten Sie den Mund, Sie flaschengrüne Melone! Wahrscheinlich sind Sie der Witzbold, der uns alle zum Narren macht! Sie erschienen mir schon gestern verdächtig!” „Was erlauben Sie sich!” tobte der Dicke. Nach und nach krochen alle Leute aus ihren Wohnwagen und Zelten. „Überfall!” schrie ein Bursche. „Ein paar Verrückte haben uns den ganzen Abend mit dem Farbenspuk bei der Hütte gelangweilt. Und da wir's nicht geglaubt haben, wollten sie's uns zeigen! Einer hat wohl verdünnten Autolack in der ganzen Gegend herumgekleckert...” Martin drehte noch einmal am Steuerknopf, so daß sich die Menge, aufheulend vor Schreck, von dem Mann abwandte. Sein Gesicht schillerte in den scheußlichsten Farben. „Der Teufel persönlich!” rief eine Frau, bevor sie ohnmächtig wurde. Martin lief zur Hütte zurück. Professor Charivari empfing ihn, als habe er einen harmlosen Spaziergang gemacht. Er stieg in die Bodenstation hinunter, um das Störgerät wieder ins Labor zu bringen. Als er wiederkam, sagte er: „Nun will ich erst einmal einen herzhaften, guten Tee zubereiten. Ich glaube, wir haben ihn nötig.” Kurz darauf setzte Martin die Teetasse ab und hob wie lauschend den Kopf. „Es regnet”, bemerkte er. „Und wie! Das ist ja, als käme eine Sintflut vom Himmel herab! Warum lachen Sie, Herr Professor?” „Ich habe mich ein bißchen als Regenmacher betätigt”, berichtete Charivari verschmitzt lächelnd. Aber nicht mit Hokuspokus - eins, zwei, drei, sondern mit meinen Mitteln. Durch künstlichen feuchten Aufwind habe ich eine riesige Wolke über dem Hochmoor erzeugt. Alle waren so mit sich beschäftigt, daß keiner gemerkt hat, wie ich ein paar kleine Raketen in die Wolke geschossen habe. Die Raketen haben Silberjodid ausgestreut. Das genügte, um die Wolke zu melken. Dadurch der gewaltige örtliche Regen, den du eine Sintflut vom Himmel nennst. Die Leute werden alle Hände voll zu tun haben, ihre eingestürzten Zelte zusammenzuraffen, und sie werden versuchen, mit den Autos davonzukommen, bevor sie im Morast versinken.” Eine halbe Stunde später versiegten die herabstürzenden Wassermassen. Als Martin hinausging, sah er, daß sich der friedliche Bach in ein strudelndes Wasser verwandelt hatte. Ach, und wie sah das Zeltlager aus! Die Leute patschten in tiefen Pfützen herum. Schimpfend versuchten sie, die triefenden, schmutzigen Zelte zu bergen. Sicher war keiner mehr unter ihnen, der noch Lust hatte, sich über Farben zu streiten ... Zwei Stunden später holperte das letzte Auto zur Straße, und das Hochmoor lag einsam wie zuvor. So, nun kann der Professor das Raumschiff Monitor auf Landekurs bringen, dachte Martin erleichtert. Er freute sich, seinen Vetter Gérard wiederzusehen - und Superhirn, Henri, Prosper,
Tati, Micha und den Pudel Loulou kennenzulernen. Doch kaum hatte er die Hütte betreten, als Charivari bleich aus der geheimen Bodenstation heraufgestiegen kam. „Das Raumschiff meldet sich nicht mehr”, sagte er heiser. „Monitor ist verschwunden...” 3. Monitor auf Tiefseefahrt Der Professor und Martin saßen jetzt in der geheimen Bodenstation unter dem Hochmoor. Seit seine Chefastronauten und die Techniker gemeutert hatten und mit dem einen der beiden Raumschiffe geflohen waren, mußte Charivari ohne Personal auskommen. Superhirn und die anderen, die ihm so wertvolle Hilfe geleistet hatten, gaben keine Antwort aus dem Weltall. Gérards Vetter Martin war nun der einzige, mit dem er seine Sorgen teilen konnte. Der „kauzige Gelehrte” wirkte hier unten an seinem hochmodernen Tastenschreibtisch ganz anders als oben in der bescheidenen Hütte. Gab er sich den Leuten gegenüber freundlich und versponnen, so war er jetzt energisch und angespannt. Sein Gesicht drückte eine unheimliche Tatkraft aus. Er betätigte eine Reihe von Tasten und wiederholte fortwährend: „Hier Bodenstation Marac, Professor Charivari! Monitor, bitte melden! Bitte melden!” Martin wandte sich in seinem Drehsessel um. An den Wänden flimmerten Mattscheiben, über die Kurven, Zickzacklinien, verschlungene Kreise und ineinander verschachtelte Quadrate liefen. Aber es gab keine Bildfunkverbindung mit den Freunden im Monitor. „Ob die Piraten das Raumschiff geschnappt haben?” erkundigte sich Martin heiser. Charivari schüttelte den Kopf. „Ich hatte vorhin über Funk ein Gespräch mit meinem Bruder Bianco Charivari, der die geheime Mondstation leitet. Er berichtete mir, daß das Raumschiff der Unterseestation - die mein anderer Bruder befehligt - die Piraten gefangen habe. Außerdem sind unsere neuen Nachrichtensatelliten in Betrieb. Sie werden von der Mondstation aus kontrolliert, und sie haben weder die Position des Monitor dorthin gestrahlt noch irgendeine Bildaufzeichnung weitergegeben. Solche Signale oder Aufzeichnungen können übrigens auch hier und in der Unterseestation meines Bruders Enrico Charivari empfangen werden.” „Aber wenn nun eine Weltraumbehörde davon Wind bekommen und sich eingeschaltet hat?” überlegte Martin laut. Wieder schüttelte der Professor den Kopf. „Wir senden nach einem Sprech- und Bildfunksystem, das keine normale Bodenstation und keine Sternwarte enträtseln kann. Unsere Raumschiffe sind nur voneinander und von unseren privaten Geheimstationen aus ortbar. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was mit dem Monitor passiert sein sollte. Zuletzt hatte ich eine nahezu optimale Bild- und Sprechfunkverbindung mit Henri - das war, als du hinausgingst, um den Abzug der Leute zu beobachten. Henri meldete, er sei als Wache im Befehlsraum. Das war das letzte, das ich hörte.” „Und Sie sahen Henri auf dem Bildschirm?” fragte Martin. „So deutlich, wie ich dich jetzt sehe!” erwiderte Charivari. „Jetzt habe ich sämtliche Geräte und Instrumente überprüft. Sie sind alle in Ordnung. Nun hilft nur noch eins: Ich muß meine Gedankenstrahlerbrille aufsetzen und Gedanken aussenden! Gedankenübertragung zwischen mir und dem Monitor - ich meine, zwischen mir und der Raumschiffbesatzung - ist stets das letzte, manchmal sogar das beste Mittel. Außer meinen Brüdern weiß niemand, daß dieses Raumschiff einen Telepathor, ein Gedankenempfangs- und - ausstrahlungsgerät, hat.” Er setzte die telepathische Brille auf, die sich äußerlich nicht von einer gewöhnlichen Lesebrille unterschied. Martin beobachtete ihn gespannt. Charivari hatte sich in seinem Drehsessel zurückgelehnt und starrte mit geweiteten Augen ins Leere. Der junge wußte: jetzt sendete er seine Gedanken aus. In ungeheurer Konzentration formte er die ungesprochenen Fragen: „Monitor... Was ist los? Empfangt ihr meine Gedanken?
Warum meldet ihr euch nicht über Bild- und Sprechfunk? Weshalb seid ihr nicht zu orten? Wie ist eure Position? Was zeigen die Instrumente an?” Nun runzelte er die Stirn. Seine Augen schienen hinter den Brillengläsern zu blitzen. Und es war nicht schwer zu erraten, daß er den Gedankenbefehl gab: „Meldet euch über euren Telepathor!” Es vergingen etwa fünf Minuten. Charivari nahm die Brille ab. Er war total erschöpft. „Keine Antwort”, seufzte er, „Und das heißt?” fragte Martin bange. „Daß auch der Gedankenstrahler an Bord gestört ist”, erwiderte Charivari tonlos. „Vielleicht sogar zerstört!” „Dann...“ Martin schluckte, „dann wäre Monitor vielleicht doch ge-geplatzt...” Der Professor antwortete nicht. Wie Charivari zu Martin gesagt hatte: Während der letzten Bild- und Sprechfunkverbindung war an Bord des Raumschiffs noch alles in bester Ordnung gewesen. Henri saß im Kommandoraum vor dem Himmelsvisor, seine Schwester Tati, der kleine Bruder Micha und die Freunde Prosper und Gérard hockten im Kasino und aßen die leckersten Sachen, die die automatische Bordküche hergegeben hatte. Der Zwergpudel war damit beschäftigt, eine riesige Leberwurst zu verschlingen. Und Superhirn lag nebenan in seiner bequemen Schlafkoje. „Ich möchte ja gern wieder im Hochmoor zelten”, sagte Micha, „aber die Bordküche würde ich gern mitnehmen!” „Ich möchte lieber mal selber was zubereiten”, meinte das Mädchen. „Ich freue mich richtig, wenn wir wieder in Marac sind.” „Du kannst sagen, was du willst!“ krähte Micha. „Wenn wir erst wieder auf der Erde zelten, kann ich weder Zitrone- noch Sahne- oder gefüllte Bonbons von den Bäumen schütteln!” Da wurde Tati energisch. „Micha bekommt bis zur Landung keinen einzigen Bonbon mehr. Er hat heute mindestens schon ein halbes Pfund vertilgt.” „Ach, Tati!” jammerte der Kleine. „Bitte!” „Du hast gehört, was ich gesagt habe!” Tati blieb unerbittlich. „Geh mit dem Pudel nach hinten in den Lastenraum. Er braucht ein bißchen Bewegung!” Und damit nahm das Unheil seinen Anfang. Mißmutig stapfte Micha, den Zwergpudel im Arm, an den Schlafkabinen und Waschräumen vorbei. Durch die Schleuse tappte er in den Lastenraum des Schiffes. Dieser Lastenraum war glattwandig und diente vor allem als eine Art von Raumgeräteschuppen. Im Augenblick befanden sich nur zwei festgelaschte Apparate darin: ein Luftkissenauto und ein kleines Hilfsraumschiff, als Erkundungs- und im Notfall auch als Rettungsfahrzeuge. Die kannte Micha schon, denn in der öden Halle mußte er den Pudel Loulou sowieso von Zeit zu Zeit „ausführen”. Es gab ja keine Straßen mit Bäumen an Bord. Er setzte den Pudel auf den Boden und rief: „Nun lauf! Lauf schon, marsch!” Während das Tierchen um die festgelaschten Fahrzeuge herumsauste, blickte Micha in eine Wandkabine, der er bisher noch keine Bedeutung beigemessen hatte. Sie war hell erleuchtet. An ihrer Breitwand befand sich eine mattschimmernde Tafel, die mit Knöpfen in allen Farben übersät war. Micha ärgerte sich noch immer, daß seine große Schwester ihm verboten hatte, sich weitere Bonbons aus der automatischen Küche zu holen. Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf: Wenn das nun auch ein „Freßautomat” war, so einer wie im Wohnteil des Raumschiffes? Ein Hilfsautomat vielleicht, falls der andere kaputtging? Ein Versuch kann nichts schaden, dachte der Kleine. Eilig huschte er in die Kabine. Wahllos drückte er auf alle Knöpfe, die er erreichen konnte. Zu seiner Enttäuschung fiel keine Klappe mit einem Kuchentablett herab, die Wand gab nirgends einen Hohlraum frei, aus dem man Rollmöpse in Folien oder Kekse oder gar Bonbons hätte nehmen können. Aber da war noch ein besonderer Knopf, ein großer, silberner. Während Micha die fünf Finger
seiner linken Hand und vier seiner rechten auf neun bunten Knöpfen liegen hatte, betätigte er mit dem rechten Daumen den großen silbernen Knopf. In diesem Augenblick gab es eine Salve von Knallgeräuschen. Fast gleichzeitig flogen ihm einige Sicherungen gegen Stirn, Nase, Kinn - und an den Ohren vorbei. Der silberne, der das bewirkt hatte, saß fest. Aber das merkte Micha vor Schreck nicht. Selbst wenn es ihm aufgefallen wäre, er hätte doch nicht begriffen, was hier geschehen war. Nach einem Augenblick stummen Entsetzens schrie er laut auf und rannte aus der Kabine. Plötzlich ging ein furchtbarer Stoß durch das ganze Raumschiff. Micha stürzte zu Boden. Wuff, hörte er das verstörte Bellen des Pudels, wuff, wuff! „Hilfe!” schrie Micha. „Hilfe!” Er konnte nicht aufstehen. Es schien ihm auf einmal, als klebe er am Fußboden. Er versuchte, Arme und Beine zu rühren, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Neben ihm lag der winselnde Pudel. Jetzt ahnte Micha, daß etwas Furchtbares passiert war. Durch den Druck auf die Knöpfe hatte er das Unheil ausgelöst! Womöglich ist das Raumschiff auseinandergebrochen, dachte er. Es wurde ihm vor Angst eiskalt. Vielleicht rasten die anderen mit dem Wohn- und Kommandoteil durchs All, während er und der kleine Hund allein im Lastenraum weiterflogen? Doch da schwankte der Boden unter ihm und Loulou. Fast schien er zurückzuweichen. Gleichzeitig legte er sich in Flugrichtung schräg nach unten, und Micha und der Pudel rutschten gegen eine Trennwand. Wau-au - Loulou jaulte laut auf. Micha aber stieß sich den Kopf so sehr an, daß er bewußtlos wurde. Im Vorderteil des Raumschiffs war die Hölle los. Eine Sirene heulte schauerlich, Klingeln schrillten, an den Wänden blitzten Lichtzeichen auf. Die Maschinenstimme des Sprachanalysators ertönte: „Alarm, Alarm, alle Mann auf Position - auf Position...” Henri war vom Sessel vornüber auf den Himmelsvisor gefallen. Anscheinend funktionierte der Mechanismus nicht mehr, der das Innere des Monitor künstlich im Lot hielt. Wenn das aber so war, dann schoß das Raumschiff in die Tiefe, auf einem Kurs, den niemand eingestellt hatte! Aus der Küche kamen Prosper und Gérard mit ihren angebissenen Tortenstücken gerutscht. Tati folgte mit einem zerdrückten Pappbecher. „Was ist denn los?” versuchte sie den Lärm zu übertönen. Gérard hielt sich an einem Sessel fest. „Das künstliche Schwerkraftzentrum ist gestört!” brüllte er. „Merkt ihr es nicht? Einmal sind wir zu schwer, einmal zu leicht! Da ist was kaputt!” Peng! zerplatzte ein Bildschirm in der Wand. Eiskalt und blechern verkündete die Maschinenstimme: „Landung auf Fremdplaneten - Landung auf Fremdplaneten ...“ „Superhirn!” schrie Prosper. Doch der spindeldürre Junge war schon da. „Kann man nicht mal 'n Momentchen ausruhen in diesem Wahnsinnsschiff?” fragte er. „Komisch”, rief Henri. „Das Gleichgewicht ist wieder da! Auch die Schwerkraft hat sich reguliert. Aber was hat den Alarm ausgelöst?” „Hast du irgendeine Taste gedrückt?“ fragte Superhirn. Henri schüttelte den Kopf. „Es kam alles von selbst. Gérard hatte mir was zu essen gebracht und war wieder in die Küche gegangen.” Superhirn sah die Splitter des zerbrochenen Bildschirms. Er hob den Kopf und lauschte stirnrunzelnd dem eintönigen, unaufhörlichen Plärren der Maschinenstimme: „Landung auf Fremdplaneten - Landung auf Fremdplaneten! - Landung auf Fremdplaneten ... !” „Stell diesen blechernen Schreihals ab”, befahl Superhirn Henri. „Wie sind die Mess- und Positionswerte? Was zeigt der Himmelsvisor? Wann hast du Sprech- und Bildfunkverkehr mit der Bodenstation in Marac gehabt?” „Alle Werte sind gespeichert”, erwiderte Henri. Er drückte auf einen Knopf und wies zur Wand. Zur Verwunderung aller erschien statt der von Henri erwarteten Leuchtnotiz die
folgende: „Provari Cherfessor Uhr 11111111 111 gemeldet. Wasserung Ramac 10.8. Zeitsort 19 999 vorsichtlichraus. Nähen warabten.” „Wenn man einen Automaten durcheinanderschüttelt, kommt nur dummes Zeug heraus”, begriff Superhirn sofort. „Wir müssen mit einem Meteoriten zusammengestoßen sein.” Er blickte wieder auf die Tafel und las schnell die aufscheinenden Positionsdaten ab. „Danach müßten wir auf der Venus sein!” sagte er. „Unsinn!” Er setzte sich neben Henri an den Himmelsvisor. „Der ist tot. Zeigt nichts an. Schwarz, völlig schwarz! Sieh, ob du Verbindung mit dem Professor bekommst!” „Sprechfunk ausgefallen!” meldete Henri. Gérard und Prosper beobachteten die Bildschirme. „Nichts!” stellten sie fest. „Wir befragen die Maschinenstimme, den Sprachanalysator”, entschied Superhirn. Er drückte auf eine Taste und ließ die gespeicherten Stichworte über eine Tafel laufen. Als das Wort „Zusammenstoß” erschien, drückte er die Taste wieder. Dann suchte er das Wort „Meteorit”. Jetzt mußte der Analysator eigentlich Bescheid wissen. Er würde sagen, was nun zu tun sei. Doch die Maschinenstimme begann auf einmal gräßlich zu fauchen, „Todknopf...”, schepperte sie. „Himmelsplatte umdrehen - alle hinlegen - alle hinlegen - Küche klarmachen zum Absprung... Bildschirm eins essen, essen - essen...“ „Hu!” schrie Tati. „Schaltet das Ding ab, ich werde rasend!” Die schaurige Stimme schwieg. Henri und Superhirn blickten einander schweigend an. Schließlich sagte Superhirn: „Also ist auch der Analysator kaputt!” Er blickte prüfend zur Wand. „Hoffentlich stimmt wenigstens die Anzeige, daß sich die Hitzeschilde automatisch geschlossen haben und daß die Kühlanlagen in Betrieb sind, Sonst würden wir, falls wir in die Erdatmosphäre oder in die mögliche Atmosphäre eines Fremdplaneten einträten, verglühen!” „Die Anzeige scheint zu stimmen”, sagte Henri gepreßt. „Zweit- und Drittkontrolle gleichlautend. Außentemperatur nicht feststellbar, Instrumente ausgefallen.” „Die Sauerstoffversorgung funktioniert noch”, überlegte Gérard laut. „Und das Licht ist nicht überall ausgegangen.” „Die Triebwerke hat doch niemand gezündet, oder?” wollte Superhirn wissen. Anscheinend war er mißtrauisch geworden. „Auf Ehre, nein!” rief Henri. „Denkst du, wir sind wahnsinnig?” „Bildfunk ebenfalls tot”, bestätigte Henri. „Wir müßten demnach weiter auf der Erdumlaufbahn sein“, meinte Superhirn. „Wir haben nichts getan, was gegen die Anweisungen des Professors gewesen wäre.” „Andererseits haben sich die Hitzeschilde automatisch geschlossen”, erinnerte Henri. „Irgendwas könnte uns in die Erdatmosphäre gestoßen haben. Aber was?” „Wenn man wenigstens aus einem Fenster sehen könnte!” seufzte Tati. „Aber vor den paar, die das vermaledeite Schiff hat, sind jetzt die Hitzeschilde. Und die vielen Bildschirme sind schwarz. Selbst der Himmelsvisor zeigt nichts mehr an. Könnte jemand beschwören, ob wir steigen oder zur Erde sausen?” „Hol mir schnell ein Glas Apfelsaft, Tati” bat Superhirn. „Ich habe eine furchtbar trockene Kehle. Und ich glaube, ich muß gleich eine folgenschwere Entscheidung treffen. Hoffentlich aber keine falsche...” In der Küche hörte man Tatis Aufschrei. Mit einem Becher kam sie zurück. „Ich weiß genau, daß ich Apfelsaft gewählt habe”, jammerte sie, „statt dessen gab der Automat Öl her, dünnes Öl!” Superhirn horchte auf. Er hatte plötzlich aus mehreren Gründen keinen Durst mehr. „Manches funktioniert - und manches nicht!” murmelte er. „Sonderbar, höchst sonderbar! Künstliche Schwerkraft, Sauerstoffversorgung, Innentemperatur das ist alles in Ordnung. Dagegen kommt aus dem Automaten statt Apfelsaft Öl – Salatöl, Tati?” „Ja” sagte das Mädchen, am Glas schnuppernd. Sie ging in die Küche zurück. Nach einer Weile
meldete sie: „Der Getränkeautomat gibt nur noch Öl her!” Da geschah schon wieder etwas Ungewöhnliches: Plötzlich schien sich der ganze Raum schräg zu legen. Nach hinten zu mußte man auf einmal bergan steigen, während es nach vorn bergabwärts ging. Die Instrumente schienen plötzlich schief zu hängen. Die ganze Besatzung fühlte, wie ihre Glieder schwerer wurden, es war anstrengend, bloß die Hand zu heben, und die Beine wollten nicht mehr gehorchen. Und dann erfolgte ein Ruck, als säße man in einem Aufzug, der plötzlich nach unten schießt. Superhirns Gesicht verriet äußerste Anspannung. „Ich werde den Professor mal über den Gedankenstrahler anrufen”, sagte er. „Wenigstens der Telepathor wird uns nicht im Stich lassen.” Er griff nach einer ausziehbahren Halterung, an der ein Gerät mit einer Lupe befestigt war. Er drehte an einem Knopf, um den Brennpunkt erscheinen zu lassen - ein grelles Lichtpünktchen, auf dem sich seine Gedanken sammeln mußten. „Still!” befahl Tati unwillkürlich. Und sie wiederholte, was Superhirn einmal erklärt hatte: „Ein Telepathor ist kein Fernschreiber! Wer Gedanken aussendet, muß sich sehr konzentrieren! Das wissen wir doch alle!” Niemand hatte in der Verwirrung gemerkt, daß Micha und Loulou fehlten. Im Geiste formte Superhirn bereits die Meldung, die er stumm über das sonderbare Lupenglas durchzugeben hatte, damit sie der Professor durch seine telepathische Brille klar empfing. Doch plötzlich fuhr er auf, als hätte ihn eine Natter gestochen. „Verflixt!” rief er. „Bin ich blöd? Da drehe ich hier an dem Gedankenstrahler herum und merke nicht, daß das Glas herausgefallen ist!” Henri, Tati, Gérard und Prosper standen wie erstarrt, Das Glas - das geheimnisvolle Lupenglas - war herausgefallen? Wahrscheinlich durch die Erschütterung des Raumschiffs vorhin! Das hieß, daß der Gedankenstrahler unbenutzbar war! Die letzte Verbindung mit der Bodenstation nach Ausfall der Funkanlagen! Das konnte das Ende bedeuten... „Wahrscheinlich habe ich dem Ding einen Tritt gegeben, als ich über die Befehlsplatte fiel”, murmelte Henri. Er bückte sich. „Hier ist das Glas!” „Aber der Haltering ist verbogen”, stellte Superhirn fest. Er versuchte, die dicke Gedankenstrahlerlupe in die Ringfuge hineinzudrücken. „Geht's?” fragte Prosper bange. „Nicht auf Anhieb”, knurrte Superhirn. „Und schließlich sitzen wir nicht im Bastelkeller, sondern in einem Raumschiff mit unbekanntem Kurs. Kein Gerät sagt uns mehr, wo wir sind, ob in Mond- oder in Erdnähe, von einem fremden Planeten ganz zu schweigen. Während ich versuche, dieses Ding in Ordnung zu kriegen, brummen wir womöglich irgendwo auf und zerplatzen!” Tati stieß einen gellenden Schrei aus: „Die silberne Astro-Taste geht hoch! Die blaue AquaTaste geht runter! Seht doch, seht!” Die Aqua-, also die Wassertaste, mußte betätigt werden, wenn das Raumschiff ins Meer tauchte; daraus erfolgten dann automatisch die notwendigen Umstellungen auf U-Boot oder Tiefsee-Tauchboot. „Wir haben einen Unsichtbaren an Bord!” stammelte Prosper. „Mir ist, als hätte mich eine Geisterhand gestreift!” jammerte Tati. Prosper schüttelte sich. „Quatsch!” rief Superhirn ärgerlich. „Dreht jetzt nicht durch! Unsichtbare gibt es nicht! Die Tarnkappe ist ein Märchen! Wenn hier zwei Figuren nicht zu sehen sind, dann sind es Micha und der Pudel! Aber ich glaube nicht, daß sie sich unsichtbar gemacht haben! Henri, gehe sie mal suchen!”
Sein Blick glitt über die Wände. „Aber wer hat die blaue Aqua-Taste gedrückt?” wollte er wissen. „Wahrscheinlich eine Notautomatik - das heißt eine Sicherheitsvorrichtung, die in Tätigkeit tritt, sobald ein Kursprüfgerät feststellt, daß das Raumschiff nicht mehr programmgemäß gesteuert wird.” „Verstehe ich nicht, ist mir zu hoch!” meinte Gérard, der sich inzwischen in einen Sessel gesetzt hatte. „Ganz einfach zu erklären”, sagte Superhirn. „In Eisenbahnloks gibt es einen Totmannknopf, eine Totmannkurbel oder ein Totmannpedal. Wenn der Fahrzeugführer so ein Ding nicht regelmäßig bedient, weil ihm schlecht ist - oder wenn er ohnmächtig ist -, dann wird automatisch alles ausgeschaltet und die Bremsung ausgelöst. Der Zug hält, bevor ein Unglück passieren kann. Das ist die einfachste Form von Sicherheitsautomatik. In einem so komplizierten Allzweckfahrzeug wie unserem Raumschiff wird sie entsprechend raffinierter sein.” „Aber - die Aqua-Taste!” erinnerte Prosper. „Das würde doch bedeuten, daß wir ins Meer gestürzt sind!” „Moment, ja!” fuhr Superhirn hoch. Jetzt begreife ich das von vorhin auch! Unser Raum hat sich so komisch benommen, weil wir nur grob gesteuert in die Atmosphäre eindrangen und unterschiedlichen Bremskräften ausgesetzt waren. Der Ruck muß erfolgt sein, als wir auf das Wasser platschten. Dann wären wir jetzt also wirklich irgendwo im Meer! Aber, he - was ist das?” Er starrte zur Wand. „Da leuchtet ein Lichtsignal auf”, sagte Gérard heiser. „Komisch, eine grüne Gabel!” „Ja, eine Gabel mit drei Zinken!” rief Tati. „Was soll denn das nun wieder heißen?” „Mit dieser Gabel würde ich nicht essen”, murmelte Prosper. „Die hat ja Widerhaken, seht ihr das nicht?” „Das soll ein Dreizack sein”, erklärte Superhirn, „Symbol für den Meeresgott Poseidon!” „Den schwenkt uns der Meergott zum Gruß, he?” fragte Prosper spöttisch. „Unsinn! Mach jetzt keine Witze. Siehst ja, es leuchtet auf wie im Auto eine Warnlampe für Öl oder Wasser oder Batterie. Es zeigt uns den Beginn einer Tauchfahrt an. Wenn nur die verdammte Maschinenstimme nicht kaputt wäre! Sie könnte uns Auskunft geben!” Superhirn drückte auf die Stichworttaste und ließ die gespeicherten Worte über die Informationstafel gleiten. Bei „Dreizack” tippte er ein zweites Mal, so daß das Wort stehenblieb. Nun hätte die Maschinenstimme die nötigen Hinweise liefern müssen. Scheppernd ertönte sie: „.. . verstellbare Flügel - Arbeitsgang gegenlaufend. Ochsenfrosch als Versuchstier nie mit Sumpffrosch zusammenbringen, da Ochsenfrosch kleineren Sumpffrosch auffrißt Stromquelle - Fußleiste - Flaschen - Flaschen - Flaschen...“ „He, still, du dämliche Klapperstimme!” rief Gérard. „Wir sind keine Flaschen!” „Der Analysator hat sicher Flaschenzüge gemeint”, sagte Superhirn. „Die verstellbaren Flügel waren bestimmt der Hinweis auf einen bestimmten Flugzeugtyp. Aber mit alldem ist uns nicht geholfen. Der Apparat ist total durcheinander.” Er stellte ihn ab. „Da kommt eine Rolle aus der Wand!” rief Tati. „Mit Notenlinien!” staunte Prosper. „Sollen wir jetzt ein Lied singen?” fragte Gérard höhnisch. „Halt!” rief Superhirn. „Das sind keine Notenlinien. Das ist die Einteilung eines Echogramms! Und das Geschmier da - das sind keine hingesauten Noten! Das ist - - .” Er beugte sich vor und betrachtete die schwarzen, ineinander verfließenden Gebilde auf den waagerechten Linien zwischen den senkrechten Strichen. „Die Linien sind Tiefenmarkierungen. Das ist ein Schwarm von Fischen! Ein sogenannter geschlossener Fischschwarm! Ich denke nicht, daß dieses Gerät uns narrt. Wir sind im Wasser! Das Echolot funktioniert!” Tati schüttelte sich. „Nur gut, daß alle Bildschirme ausgefallen sind! Ich könnte es nicht ertragen, Kraken vorbeischwimmen zu sehen!”
„Anscheinend sinken wir langsam”, meinte Superhirn. „ich lese hier: hundert Meter. Zu dumm, daß der Analysator kaputt ist, er nimmt offenbar keinen Befehl mehr an!” „Ja, willst du uns denn immer tiefer sinken lassen, wenn wir wirklich im Meer sind?” rief Tati. „Was ist, wenn uns Klippen die Bordwand oder den Boden aufreißen? Dann ertrinken wir jämmerlich!” „Oder der Wasserdruck klatscht uns flach wie einen Pfannkuchen!” warf Prosper schluckend ein. In diesem Augenblick kam Henri mit Micha. Winselnd folgte der Zwergpudel den beiden Jungen. „Micha ist noch ganz verstört”, berichtete Henri. „Im Lastenraum ist anscheinend irgendwas explodiert. Der Kleine war ohnmächtig. Er hat eine tüchtige Beule am Kopf.” Tati überzeugte sich davon, daß Micha nichts Schlimmeres passiert war. Superhirn aber drängte: „Was ist explodiert? Was heißt irgendwas? Hast du Splitter, Trümmer oder Rauch gesehen?” „Da ist so 'ne komische Kabine”, berichtete Henri. „Darin hat's ein paar Knöpfe aus der Wand gehauen. Es sieht nach nichts aus. Sogar das Licht brennt noch. Trotzdem...” „Trotzdem bedeutet das was! Es kann sogar alles bedeuten!” sagte Superhirn rasch. Er wandte sich an Micha: „Warst du in dieser Kabine?” „Ich wollte Bonbons haben”, jammerte der Kleine. „Ich dachte, das wäre wie in der Bordküche! Ich hab auf ein paar Knöpfe gedrückt, und da sind sie mir um die Ohren geflogen!” Superhirn packte ihn an den Schultern. „Denk nach, was weiter geschah! Hat es daraufhin den Ruck im Schiff gegeben?” „Ja”, sagte Micha kläglich. „Ich fiel hin und konnte erst nicht aufstehen!” Superhirn blickte auf. „Das war die Störung der künstlichen Schwerkraft- und Gleichgewichtszentren. Irgendwas hat dann den Monitor aus der Erdumlaufbahn geworfen. Die Notautomatik sorgte dafür, daß wir in der Atmosphäre nicht verglühten und daß das Raumschiff ins Meer tauchte! Los, zur Kabine! Dein Bonbonautomat ist nichts anderes als die Zentralsteuerung!” Allen voran rannte Superhirn in den Lastenraum. „Da haben wir die Bescherung!” rief er fast erleichtert. „Ich hätte es mir denken sollen! Die Knöpfe, auf die Micha patschte, hatten alle einen bestimmten Vorgang auszulösen. Er hat ein tolles Durcheinander getippt. Henri, siehst du? Und dann hat er den silbernen Knopf gedrückt, der die Ausführung dieser Vorgänge auslöste! Stellt euch vor: alle auf einmal, natürlich auch solche, die sich gegenseitig wieder aufheben oder sich widersprechen! Dadurch hat er eine solche Verwirrung in die Zentralsteuerung gebracht, daß sich die Automatik sinnlos gebärdete! Richtiges und Falsches kreuz und quer durcheinander! Deswegen kam auch aus allen Getränkehähnen Salatöl!” „Und wie biegen wir das wieder zurecht?” fragte Henri. „Laß mal sehen”, murmelte Superhirn, schon wieder in Überlegungen vertieft. „Das da unten, das könnten Rückstellknöpfe sein. Die leuchten zwar ebenfalls wirr durcheinander, aber vielleicht ist das nur irgendeine Anzeige, aus der man im Augenblick noch nicht schlau wird... Micha, sag mal, du hast doch ganz ohne Überlegung die Knöpfe gedrückt, nicht wahr?” „Ja!” rief der Kleine jämmerlich. „Das war's!” triumphierte Superhirn. „Los, an die Arbeit. Wir müssen die Rückstellknöpfe drücken, wo sie leuchten. Henri, sieh nach den Sicherungen! Es werden wohl einige herausgeflogen sein. Kontrolliere das mal. Auf allen Sicherungen scheint das gleiche Symbol wie auf den Steuerknöpfen zu sein. Sicherungen für Bildschirme backbords tragen ein Viereck mit Pfeil an der linken Seite, hast du es? Gib her! Jetzt Bildschirme rechts! Cockpit-Automatik mit Handsteuerung; Zeichen: halbes Lenkrad! Himmelsvisor: Kreis mit Punkten, die Sterne symbolisieren...” Henri zog aus der Reserveleiste die entsprechend gekennzeichneten Sicherungen und reichte sie
Superhirn. „Fertig”, keuchte der Flugingenieur. „Jetzt nach vorn in den Kommandoraum! Nachsehen, ob alles wieder funktioniert.” Da schrie Micha gellend: „Wasser! Wasser im Schiff!” Gleichzeitig schrillten Alarmsirenen und Klingeln. Superhirn fuhr herum. Die Worte: „Auch das noch!” blieben ihm in der Kehle stecken. Durch ein kopfgroßes Loch in der Wand schoß ein Wasserstrahl in den Lastenraum. Das Meerwasser, schaurig dunkel in der grellen Beleuchtung der Lastenhalle, drang schäumend herein, aber es stürzte nicht senkrecht wie ein Wasserfall, sondern heckwärts im Bogen. Ein Zeichen dafür, daß Monitor in schräger Fahrt in die Tiefe fuhr. Knirschend erweiterte sich das Leck immer mehr. Einen Moment verebbte das Wasser, aber das war nicht etwa ein Hoffnungszeichen. Im Gegenteil! „Was ist das?” brüllte Gérard in Todesangst. „Leute, was ist das?” Der Schreck verschlug ihm die Stimme. Doch was er dachte, dachten die anderen auch: Etwas so Furchtbares hatte keiner von ihnen je gesehen. Durch das Loch ragte ein schauderhaftes Wesen, das sich zähnefletschend bemühte, ins Innere zu gelangen. Sein Kopf schillerte in allen Farben. „Ein Ungeheuer!” schrie Tati. „Raus!” befahl Superhirn. Er packte Micha. „In den Kommandoraum! Macht die Schleuse zu!” Mit einem furchtbaren Klatsch fiel das Ungeheuer in den Lastenraum. Das Wasser umspülte bereits das festgelaschte Luftkissenauto und das blockierte Beibootraumschiff. „Ein Glück”, keuchte Prosper, als sie im Kommandoraum waren. „Die Schleusentür läßt kein Wasser durch!” „Beim Bau dieses Raumschiffes”, japste Henri, „ist alles eingeplant worden. Sonst hätte es ja nach Ausfall so vieler Sicherungen völlig zerstört sein müssen! Aber wenn das Wasser in die Zentralsteuerungskabine dringt?” „Ja, was dann?” stammelte Tati. Gérard schaltete den Fernsehschirm zum Lastenraum ein. Gebannt starrten alle darauf. „Das eindringende Wasser drückt die Kontaktplatte vor der Kabine herunter. Dadurch wird sie automatisch abgeschirmt erklärte Superhirn. Alle blickten nun auf die Kontaktplatte vor der Zentralsteuerungskabine. Sie sahen, daß das Wasser vor dem Gehäuse höher stieg, die Wandtafel und der Kabinenboden jedoch trocken blieben. Aufatmend murmelte Superhirn: „Selbst der stärkste Wasserdruck kann der Zelle nichts anhaben!” Wie er aber die Kabine je wieder öffnen könnte, wußte er nicht. Das war im Augenblick auch gleichgültig. Auf dem Bildschirm gab es Schreckliches zu sehen. Im Lastenraum neben Auto und Miniraumschiff wälzte sich das Untier. Noch stand das Wasser nicht so hoch, daß es schwimmen konnte. Sein Anblick aber hätte Leute mit schwachen Nerven in Ohnmacht fallen lassen können: Dieser ungefüge Fisch hatte große runde und glasige Augen. Aber wo waren seine Flossen? Wenn er sich herumwälzte, glaubte man eher, Arm- oder Beinstümpfe zu erkennen. „Das ist kein Hai”, schluckte Prosper. „So ein Vieh habe ich noch auf keinem Bild gesehen. Von so etwas habe ich immer nur schlecht geträumt!” Superhirn schaltete den Bildschirm aus. „Hauptsache, wir sind hier sicher. Beruhigt euch erst einmal!` meinte er. Micha, der weder etwas von dem Wasser noch von dem Untier sah, fragte sofort treuherzig: „Krieg ich jetzt Bonbons aus der Küche?” „Prügel kannst du kriegen”, sagte Gérard. „Die Beule an deinem Kopf ist ja nur eine kleine
Strafe für das, was du angestellt hast. Oder denkst du etwa, die Gefahr ist vorüber?” „Sei still, Gérard”, mahnte Superhirn. „Gib ihm Bonbons! Es kann uns nur nützen, wenn er abgelenkt wird!” „Die meisten Instrumente funktionieren wieder”, meldete Henri. „Der Himmelsvisor ist zum Aquavisor geworden. Die Umstellung auf Unterwasserfahrt ist tatsächlich automatisch erfolgt. Auf der linken Wand siehst du eine Meeresbodenkarte!” Diese Karte hatte die Form einer riesigen Leuchttafel. Superhirn prüfte die deutlich erkennbaren Grundlinien und Erhebungen. „Ultraschall-Ortung”, stellte er fest. „Diese sogenannte Karte verändert sich je nach unserem Aufenthaltsgebiet. Wären wir jetzt im Mittelmeer, würde der dortige Grund als Leuchttafel erscheinen.” „In welchem Meer sind wir denn?” fragte Prosper. „Ist das der Atlantik?” Superhirn lachte. „Du hast wohl nicht aufs Echogramm gesehen? Die Tiefe dieser Meeresgegend beträgt über elftausend Meter. Wir sind also über dem tiefsten Gebiet unserer Ozeane überhaupt, dem sogenannten Marinen-Graben bei Guam im Westpazifik.” „Ich will nicht in einen Graben, der mehr als elftausend Meter unter dem Meeresspiegel liegt”, protestierte Tati, „noch dazu mit einem Ungeheuer an Bord! Habt ihr die Schleuse auch fest genug geschlossen?” „Hast du Funkverbindung mit Marac - oder mit Charivaris Bruder in der Unterseestation?” fragte Superhirn Henri. „Nein”, erwiderte der. „Immer noch keine Basisverbindung über Sprech- oder Bildfunk. Auch der Fernschreiber rührt sich nicht! Aber wirf mal einen Blick auf die Sichtplatte!” Der runde, tischähnliche Himmelsvisor, die Befehls- oder Sichtplatte, hatte sich ja auf Tiefseesicht umgestellt. Superhirn beugte sich darüber. „Fische”, murmelte er. „Fische, Junge, Junge, in einer Farbenpracht...” Doch sofort blickte er zur Wand, wo anstelle des Luft- und Weltraumhöhenmessers ein Meerestiefenmesser seine Aufmerksamkeit erregte. Sämtliche Weltrauminstrumente waren hinter Klappen verschwunden. Dagegen hatten sich alle für die Unterwasserfahrt notwendigen Geräte herausgeschoben. Neben dem Tiefenmesser zum Beispiel auch ein Gerät zum Messen des Sonnenlichteinfalls im Wasser. „Wir sind noch nicht tief!” rief er. „Monitor entfernt sich in spitzem Winkel von der Oberfläche!” „Das heißt flach?” fragte Tati verständnislos. „Auf keinen Fall senkrecht”, half Prosper. „Wir fallen nicht wie ein Stein in die Tiefe. Auch verringert sich die Fahrt kolossal, wie der Aquavisor zeigt!” Superhirn tippte auf die Platte. „Die Farben der Fische sind noch im einfallenden Sonnenlicht erkennbar. Henri, hast du das Schiff gestoppt?” „Wie denn?” fragte der Kommandant. „Ich habe ja immer noch keine Lenkhilfe über Funk! Die Geräte und Instrumente sind zwar ausgewechselt, wir empfangen alle möglichen Daten. Aber ich weiß nicht, welchen Kurs ich programmieren soll - vor allem weiß ich nicht, wie!” „Donnerwetter!” murmelte Superhirn beeindruckt. „Diese Notautomatik! Unser Schiff wartet! Versteht ihr? Es wartet, daß es gelenkt und beschleunigt wird, es wartet auf den neuen Kurs! Bis dahin treibt es nur langsam.” „Um so schneller wird das Wasser im Lastenraum steigen!” rief Tati. „Und das Ungeheuer ist noch drin!” „Das kommt nicht durch die Schleuse”, meinte Superhirn. Er wandte sich an Henri: „Hast du die Maschinenstimme befragt, was zu tun ist?” „Ich hab's versucht. Aber die ist auch noch nicht in Ordnung”, erwiderte Henri. Plötzlich wurden Gérards Augen groß. „Wasser!” stammelte er. „Aus dem Lastenraum sickert Wasser herein! Die Schleusentür ist undicht!” 4.
Abenteuer unter Wasser Über die neuen Nachrichtensatelliten war Professor Charivari dauernd mit der Unterseestation seines älteren Bruders Enrico und mit der Mondstation seines jüngeren Bruders Bianco in Verbindung. Aber weder die eine noch die andere Basis wußte etwas vom Verbleib des Monitor. Von Enrico erhielt der Professor eine wichtige Meldung: Das Raumschiff Meteor der Piraten war vom Raumschiff Rotor von der Unterseestation zwar gekapert worden, doch beide Fahrzeuge kreisten mit Triebwerkschaden auf Erdumlaufbahn. Die Reparatur konnte noch Tage dauern. Nun stand kein Raumschiff mehr zur Verfügung, den verschollenen Monitor und seine jugendliche Besatzung zu suchen. Inzwischen war im Monitor die Hölle los. Erst war das Wasser durch die Ritzen der Schleusenplatte in die vorderen Räume gedrungen, winzigen Strudeln und Rinnsalen gleich dann aber barst die Platte mit mörderischem Krachen. „Wir ertrinken!” schrie Tati. Durch den Gang ergoß sich eine schäumende Flutwelle in Wohnräume und Kommandozentrale. Um die Füße der Besatzung quirlte gischtendes Wasser, tanzten Muscheln, Schnecken, Seeschwämme, Algenstücke und kleine Fische. Gérard sprang auf eine Wandleiter. Tati hob Micha auf die Sichtplatte, dann nahm sie den Pudel und hopste auf einen Sessel. Prosper krallte sich an eine Wandverstrebung und zog die Knie zum Bauch. Nur Superhirn und Henri stapften unerschrocken durch das steigende Wasser. Sie betätigten jeden Hebel, jede Taste, jeden Knopf, den sie in der Eile erreichen konnten. „Da schwimmt ein Fisch, der andere auffrißt!” heulte Micha. Superhirn wandte sich um. Sein Gesicht wirkte käsig, die Augen hinter den Brillengläsern waren größer als sonst, und die Nase schien noch spitzer geworden zu sein. Doch er beherrschte sich musterhaft. „Daß nicht alle Fische Pflanzenfresser sind, lernt man schon in der Schule”, sagte er so ruhig, als säße er auf dem Trockenen. „Aber merkt ihr nicht, daß das Wasser nicht weitersteigt? Die Schleuse ist wieder zu!” „Aber die Tür - diese Platte - war doch geborsten!” rief Gérard, der sich wie ein Affe an die Leiter klammerte. „Das ist sie wohl noch”, erklärte Superhirn. „Anscheinend ist da aber ein Sperrvorhang gefallen, der weiteres Einfluten verhindert.” Henri stapfte durch das fast kniehohe Wasser zum Gang. Plötzlich hörte man sein Gebrüll: „Superhirn! Ich gucke hier in ein Aquarium! Wir sitzen in einem riesigen Fischglas!” „Quatsch!” meinte Superhirn. Er stapfte Henri nach, durch die Bordküche, das Kasino, an den Kabinen und Waschräumen vorbei. Stumm stellte er sich neben Henri. Was die beiden sahen, war verblüffend. Die Schleusentür lag, in Stücke gerissen, am Boden. Zwischen den Trümmern tummelten sich kleine Fische. Davor aber, den Gang nun vom meerwassergefüllten Lastenraum trennend, befand sich eine unsichtbare Sperre von offenbar unerhörter Stärke. „Etwas Ähnliches dachte ich mir!” murmelte Superhirn. „Der Auto-Gelator! Die Luftpanzerung, wie sie der Professor zur Abschirmung seiner Bodenstation anwendet! Hat von selbst funktioniert!” „Hm ...” Henri blickte durch die durchsichtige Sperre wie durch ein dickes Glas in den Lastenraum, der tatsächlich wie ein Aquarium wirkte. „Schön und gut”, meinte er. „Wie kriegen wir aber das eingedrungene Wasser da heraus? Vor allem aber dieses schauderhafte Seeungeheuer? Es schwimmt wie verrückt um unser Beibootraumschiff und das Luftkissenauto!” „Komm”, sagte Superhirn knapp. „Erst mal zurück in die Befehlszentrale!” Auch Gérard und Prosper hatten sich von ihren unbequemen Plätzen auf die Sessel begeben.
Prosper deutete auf ein Wandstück. „Wird da signalisiert, was uns erwartet?” fragte er heiser. Durch das Wasser, das in den vorderen Räumen in Kniehöhe stehengeblieben war, stapften Superhirn und Henri heran. Beide betrachteten erstaunt die Wand. Da sah man in grünen Umrissen seltsame Gebilde: blumenähnliche Figuren mit schrägen Stengeln und Kelchen, solche, die die Form von Blättern, Gräsern, Pilzen, Knollen und verschlungenen Röhren hatten. Aber auch Seesterne, Seeigel und Meeresschnecken waren zu erkennen. Das ging alles noch. Aber die grünleuchtenden Umrisse von Fischen wirkten zum Teil schauderhaft: Da gab es torpedoförmige, pfeilförmige und ovale, solche, die wie Schlangen und andere, die wie Drachen aussahen. Einige hatten sehr viele Flossen. Und einer schien sogar einen Bart und Kopfantennen zu haben.” „Was ist das?” wunderte sich Henri. „Eine Umrißtafel”, sagte Superhirn prompt. „Ähnliches gibt es ja auch in jeder Schule. Jeden Fisch, den man beim Tauchen auf der Sichtplatte sieht, braucht man nur mit dieser Tafel zu vergleichen. Erkennt man seine Umrisse an einer dieser Figuren, hat man sofort seine Bezeichnung oder seinen Namen!” „Unter jedem dieser Leuchtzeichen müßte doch eine Bezeichnung sein”, wunderte sich Henri. Er berührte mit dem Zeigefinger zufällig das Umrißgebilde einer Fischdarstellung, die auf der Signalwand allerdings nicht größer als ein Hering war. Unerwartet ertönte die scheppernde Automatenstimme: „Dieser Fisch ist ein Hai. Haie haben folgende Merkmale: Sie sind mehr oder weniger spindelförmig. Die großen Arten erreichen eine Länge von sechs, sieben oder sogar über fünfzehn Meter. Der Riesenhai ernährt sich aber hauptsächlich von winzigen, planktonischen Tieren. Andere können dem Menschen gefährlich werden.” Alles weitere, mochte es noch so unheimlich spannend oder auch lehrreich sein, kümmerte die Besatzung des Monitor nicht. „Die Maschinenstimme!” rief Prosper. „Sie geht wieder!” jubelte Tati. „Los, ran!” brüllte Gérard begeistert. „Superhirn, drück auf die Taste!” „Wir müssen auf der Informationstafel die richtige Taste finden, dann haben wir's!” sagte Henri voller Eifer. Wuff, bellte der Pudel, wuff, wuff! „Fliegen wir jetzt wieder in die Luft?” krähte Micha. „Ja, wenn du von der Sichtplatte runtergehst”, erklärte Superhirn. Er setzte sich auf die Sessellehne und drückte auf die Stichworttaste für den Analysator. Sofort eilten Worte in Leuchtbuchstaben über die Informationstafel hoch über den Köpfen der Kinder. Das Wort „Tauchvorgang” ließ Superhirn durch einen weiteren Tastendruck stehen. Dann drückte er wieder und nun erschienen sämtliche gespeicherten Begriffe, die damit zusammenhingen: „Leck im Schiff”, „Lastenraum...“ Das waren die Stichwörter, die sie brauchten! „Genügend Auftrieb vorhanden”, schepperte die Maschinenstimme. „Größter Teil des Schiffes enthält Luft. Sinken unmöglich.” „Hurra!” schrien Prosper und Gérard. „Aber wenn uns diese Stimme beschwindelt?” rief Tati. „Vorher hat sie alles durcheinandergebracht! Ich begreife nicht, weshalb sie plötzlich wieder heil sein sollte!” „Abwarten”, erwiderte Superhirn. „Micha hat doch die Zentralsteuerung blockiert! Wer sagt uns eigentlich, daß es dabei nicht auch ein paar Kurzschlüsse gegeben hat? Wegen nichts und wieder nichts fliegen keine Sicherungen heraus. Vielleicht ist bei so einem Kurzschluß sogar einmal ein Lichtbogen entstanden, durch den die Raumschiff wand beschädigt wurde. So könnte nämlich das Loch im Lastenraum entstanden sein!” Er sah einen Augenblick angestrengt vor sich
hin und fuhr fort: Ja, und jetzt klappt fast alles wieder. Wir haben ja gesehen, wofür hier vorgesorgt worden ist. Warum eigentlich nicht auch für einen Schaden in der Steuerung selbst? So muß es wohl sein: Die Steuerung ist so gebaut, daß vieles doppelt vorhanden ist. Geht etwas entzwei, kann das Ersatzteil sich einschalten. Nur dauert das diesmal länger, weil Micha zuviel unvorhergesehenes Durcheinander geschaffen hat. Nun scheint der Schutz gegen unangenehme Überraschungen wieder einigermaßen zu funktionieren. Die Steuerung heilt sich sozusagen selbst. Darum glaube ich auch, daß bald alles wieder in Ordnung ist!” „Gut”, nickte Henri. „Wir wissen nun, daß wir nicht sinken können. Aber wie bringen wir das Wasser aus dem Lastenraum heraus - samt dem abscheulichen Ungeheuer! Und wie kriegen wir wieder trockene Räume, Wohn- und Kommandoteil? Außerdem schwimmt ja auch hier noch allerlei herum!” Eine ganze Weile betätigte Superhirn die Stichworttaste, bis die nötige Kombination eingestellt war. Die Maschinenstimme erteilte Auskunft: „Knopfreihe backbords in Reihenfolge x-m-ny-e-f-o-o-o-b-1-99-54-a-z-t-n betätigen. Kreiselpumpen in Wohnteil arbeiten dann. Unrat wird in Seitenspalten abgesogen. Ersatzluft bläst automatisch ein. Dazu Reihenfolge n-p-f-g-k-3-48-1-e.” Superhirn ließ die Maschinenstimme das Ganze noch einmal wiederholen, während Henri auf die Knöpfe drückte. „Halt den Zwergpudel fest, Tati”, warnte Prosper. „Er könnte sonst mit in den Ozean hinausgezogen werden!” Plötzlich erscholl ein Geräusch, als brausten irgendwo verborgene Motoren. An den Seiten des Kommandoraums bildeten sich Strudel; der Wasserspiegel sank rasch und stetig. „Schnell, alles auf die Stühle!” rief Superhirn. Im nächsten Augenblick klappten die Bodenränder auf, und die Fische und Algen, die in den Wohnteil des Monitor gedrungen waren, verschwanden, als seien ganze Breitseiten von Staubsaugern in Tätigkeit. Frischwasser brauste über den Fußboden, eine Föhnanlage surrte: Vor den Augen der erstaunten Besatzungsmitglieder verwandelte sich der schmierige, feuchte Untergrund wieder in eine saubere, trockene Fläche. „Noch mal!” rief Micha begeistert. „Bitte, Henri, laß noch mal ein bißchen Wasser und ein paar Fische rein! Ich möchte...“ „Du möchtest jetzt still sein!” befahl Tati. „Wir haben sicher noch mehr Wasser im Schiff, als uns lieb ist. Oder ist der Lastenraum auch schon leer? Und was macht dieser scheußliche Riesenfisch?” Prosper schaltete den Fernsehschirm zum Lastenraum ein. „Der Panzerglasvorhang - oder wie man das Ding nennen will - ist immer noch da. Und der Lastenraum gleicht nach wie vor einem Aquarium: Er ist voller Wasser. Außer dem komischen Ungeheuer schwimmen viele kleinere Fische um das Miniraumschiff und das Luftkissenauto herum!” „Fragen wir doch mal unser sprechendes Lexikon - die Maschinenstimme -, wie wir das Wasser aus dem Lastenraum rauskriegen können und wie das Leck zu stopfen ist”, meinte Gérard. Superhirn drückte die Informationstaste und kombinierte die ihm nötig scheinenden Stichworte. Es dauerte eine ganze Weile, dann hatte er das Ergebnis. „Also”, faßte er zusammen, wenn ich die Angaben der Maschinenstimme richtig deute, ist ein Unterseestart in den Weltraum unmöglich: Wir haben zuviel Wasser an Bord. Nun könnten wir zwar wie ein U-Boot auftauchen, einen kleinen Flug versuchen und dabei durch die geöffneten Ladeklappen das Wasser herauslassen - aber mit dem Leck will ich lieber nicht in der Luft herumschwirren.” „Die Maschinenstimme sprach doch immerzu von einem Hilfstorpedo mit ausfahrbarem Greifarm, der eine Stahlplatte vor das Leck bugsieren soll”, erinnerte Henri. „Und zwar von
innen. Verstehst du das?” Superhirn nickte. „Einer von uns muß das Loch im Schiff mit einer Platte verschließen, ja.” „Ich verstehe davon nichts”, mischte sich Tati ängstlich ein. Ich höre nur, daß da einer von uns zu dem Ungeheuer in den Lastenraum soll!” „Nicht ungeschützt”, grinste Superhirn. „Henri! Laß dir von der Maschinenstimme noch mal die Daten für das Unternehmen Hilfstorpedo geben!” Henri tat es. Danach drückte Gérard weisungsgemäß die Tasten der roten „Gefahrenplatte 11”. Rechts über dem Eingang zum Freizeit-Center - oberhalb einer Wandleiter - Öffnete sich eine mehr als zwei Meter lange Klappe. Ein torpedoförmiges Einmann-U-Boot mit ausfahrbarem Greifarm über der Plastikkanzel wurde sichtbar! „Kinder!” staunte Gérard. „Ein tolles Ding! Damit würde ich gern ein bißchen im Lastenraum herumkurven!” „Achtung!” ertönte die Maschinenstimme. „Platte unter Verstrebung drei im Lastenraum greifen, vor das Leck stellen, mit Quetschpistole Dichtungsmaterie gegen den Rand schießen.” „Was soll das heißen? Was ist eine Quetschpistole?” wunderte sich Prosper. „Die Maschinenstimme redet mal wieder Blech!” „Im Gegenteil”, erwiderte Superhirn. „Die Auskunft war verflixt genau! Eine Quetschpistole ist übrigens nichts Besonderes: Das Ding hat keinen Abzug, du kannst den Griff zusammenquetschen wie eine Plastiktube. Das ist alles! Also los! Laßt mich das Unternehmen Hilfstorpedo durchführen! Henri, bleib an der Gefahrenplatte 11, außerdem an der Taste für den Analysator. Die Maschinenstimme muß uns lenken! Im Torpedo wird Funk sein wie an Bord überall, so daß wir uns verständigen können!” Er kletterte die Wandleiter empor, klappte die Kanzel des Einmann-U-Boots auf und legte sich bäuchlings hinein. Er schloß die Kanzel und machte sich mit den Geräten vertraut. „Greifarmbedienung - klar!” meldete er über Funk. .Eingebaute Quetschpistole - okay! Aber wie komme ich aus dieser Klappe in den Lastenraum? He, Henri - befragte den Analysator!” Superhirn wartete in dem engen Torpedo, während Henri ihm die Daten weitergab. „Ich gehe das Leck von innen an”, sagte er dann. „Laß mich jetzt starten!” Superhirn merkte, wie er mit seinem Torpedo über ein Rollband in das Innere einer Schleuse geschoben wurde. Sein Fahrzeug befand sich jetzt offenbar auf einem „Drehteller”. Hinter ihm schloß sich die Klappe. Die Schleuse füllte sich mit Wasser. Die Platte unter ihm drehte sich, bis der Torpedo mit der Nase vor der entgegengesetzten Schleusentür stand; sie öffnete sich - und Superhirn blickte aus seinem Plastikgehäuse in den wassergefüllten Lastenraum. Henri meldete sich über Bordfunk: „Knüppelsteuerung ausprobieren! Antrieb, Bremsung und Stop durch Trittleiste im Heck!” „In Ordnung”, gab Superhirn zurück. Im nächsten Augenblick glitt sein Fahrzeug durch die Startröhre in den Lastenraum hinein. Es war ein schauriger Moment. Superhirn kam sich vor wie ein Fisch in einem Aquarium. Er lag auf dem Bauch, den Kopf etwas angehoben, so daß er durch die Bugkanzel seines engen Gehäuses blicken konnte. Durch das eingedrungene Wasser schimmerten die immer noch beleuchteten Wände des Lastenraums gespenstisch. Superhirn sah einen ganzen Schwarm bunter Fische. Zuerst lenkte er auf die Kabine zu, von der alles Unheil seinen Anfang genommen hatte. Sie war unversehrt. Der Wasserdruck hatte die Kontaktplatte heruntergedrückt und auf diese Art den fugendichten Verschluß bewirkt. Vorsichtig schwamm Superhirn nun mit seinem Einmann-U-Boot um das Miniraumschiff und das Luftkissenauto herum. Beide Fahrzeuge waren noch festgelascht. Doch da! Plötzlich, ganz plötzlich prallte Superhirns Torpedo gegen das eingedrungene Ungeheuer! Das Monstrum hatte sich zwischen den Fahrzeugen versteckt und war unversehens
hervorgeschossen. Aber sein Schreck war größer als der des Jungen, denn es zog sich sofort wieder zurück. Diesmal hatte Superhirn die sonderbaren Stummelflossen genau gesehen. Was würde Charivari, was würde die Gelehrtenwelt darum geben, dieses Ungeheuer zu Gesicht zu bekommen! Während ihm das alles durch den Kopf ging, ertönte Henris Stimme über Funk: „Superhirn! Etwas Schreckliches ist passiert!” „Was denn schon wieder?” fragte Superhirn ärgerlich. „Der Gedankenstrahler ist weg! Er war doch entzwei? Wahrscheinlich ist die Strahlerlupe wieder auf den Fußboden gefallen und dann mit dem Wasser und den Fischen vorhin abgesaugt worden!” „Verflixt!” entfuhr es Superhirn. „Alles geht heute schief! Und warum müßt ihr mir das gerade jetzt melden? Ich spiele zur Zeit ´Hasch mich´ mit dem Seeungeheuer!” „Waaa... ?” hörte Superhirn Henri schlucken. „Na, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich wollte, wir könnten das Tierchen behalten! Mensch, würden wir berühmt werden! So, und nun paß auf: Bleibt an der Gefahrenplatte! Ich steuere jetzt auf das Leck zu!” „In Ordnung!” erwiderte Henri. „Greifarm ausfahren! Mit Zange Stahlplatte unter Verstrebung drei hervorziehen! Vor das Leck legen!” Superhirn durchkreuzte langsam mit der Stahlplatte die Lastenhalle und näherte sich dem dunklen Loch in der Seitenwand. Er stoppte den Torpedo. Nun bediente er die Hebel des Greifarms und bugsierte die Platte vor das Leck. Dann schoß er aus der eingebauten Quetschpistole Dichtungsmaterial auf die Ränder ab. Die Wirkung war verblüffend: Die Platte saß fest, als wäre sie angeschweißt. „Arbeit beendet”, meldete Superhirn stolz. Doch statt einer begeisterten Antwort erreichte ihn ein ,neuer Hilfeschrei. „Superhirn!” ertönte Henris Stimme. „Micha hat wieder irgendwelche Tasten gedrückt. Die Motoren sind in Betrieb! Himmelsvisor hat sich eingeschaltet. Wir sausen nach oben in die Luft!” „Aber doch nicht mit dem Wasser im Lastenraum!” schrie Superhirn entsetzt. „Öffne sofort die Ladeklappen, damit es entweichen kann!” „Geht nicht!” tönte Henris Stimme zurück. „Wenn wir das machen, verlieren wir dich ja!”
5. Die Insel der Fliegenden Fische Zwei Tage und zwei Nächte hatte der Professor abwechselnd mit Martin in der geheimen Bodenstation vor den Geräten gewacht. Sie hatten nichts gehört als die Notrufe Enrico Charivaris, der die Unterseestation leitete. Wenn Professor Enrico Charivari aber auf dem Bildschirm in Marac erschien, so konnte er nichts über den Verbleib des Monitor berichten. Im Gegenteil, er drängte immer wieder: „Wo ist Raumschiff Monitor? Es muß meinem Rotor zu Hilfe kommen, der mit Triebwerkschaden auf Erdumlaufbahn treibt!” Der Professor erklärte Martin das weitere beim Frühstück im unterirdischen Kasino: „Das Raumschiff Rotor meines Bruders hat unserem Monitor die Verfolgung der Piraten abgenommen. Der Meteor der Verbrecher ist geschnappt worden. Es hat ein Ankoppelungsmanöver stattgefunden; die Leute meines Bruders sind in das verfolgte Raumschiff umgestiegen und haben die Meuterer überwältigt. Doch als sie mit den Gefangenen zur Erde zurück wollten, versagten die Triebwerke. Nun kreist das Raumschiff Rotor mit Bewachern und Gefangenen fortwährend um die Erde. Wir können ihm nicht helfen, denn außer dem verschollenen Monitor gibt es kein weiteres Raumschiff auf unseren Stationen.”
„Können sich die Leute im Rotor nicht selber helfen?” fragte Martin. Professor Charivari seufzte. „Eben nicht! Ihnen fehlt ein wichtiges Ersatzteil, eine Treibstoffpumpe, und ausgerechnet die hat weder der verfolgte Meteor noch der Verfolger Rotor in Reserve gehabt. Nur unser Monitor verfügt über solche Teile im Bordlager. Wenn er also nicht zurückkommt, sind wir gleich alle drei Raumschiffe los. Das Piratenfahrzeug hatte ja auch schon einen Schaden, als es gekapert wurde, ihm fehlen Spezialschrauben.” „Hm”, Martin überlegte. „Wenn der Rotor wieder in Ordnung wäre, könnte er zur Station Ihres Bruders hinunter, die Piraten dort abliefern und wieder aufsteigen, um Superhirn und die anderen zu suchen!” „Statt dessen setzt mein Bruder die Hoffnung auf unseren verschollenen Monitor, der seine Leute und die Gefangenen herunterholen könnte”, rief der Professor. „Es ist zum Verrücktwerden!” Plötzlich ertönte eine Maschinenstimme, ähnlich der, die der Monitor an Bord hatte: „Bildschirm eins, Zentrale, Bildschirm eins, Zentrale...” Charivari und Martin liefen in den ovalen Befehlsraum. „Professor!” schrie Martin außer sich. „Auf dem Bildschirm ist Gérard!” Rasch nahm der Professor am Tastenschreibtisch Platz. Der Junge setzte sich auf einen Hocker. Beide starrten auf das Bild. „Hier Besatzung Monitor-, erklärte Gérard grinsend. „Henri und Superhirn haben mich erst sprechen lassen, damit ich meinen Vetter Martin begrüßen kann. Der ist doch hoffentlich noch da?” „Klar!” rief Martin. Und der Professor sagte: „Er wird auch bleiben, bis ihr wohlbehalten in Marac gelandet seid! An deinem Gesicht sehe ich, daß es euch offenbar nicht schlecht geht! Aber wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt? Und wo seid ihr jetzt?” Auf dem Bildschirm erschien nun Superhirn. Auch er grinste. „Hallo, Professor! Wir sind auf einer winzigen, unbewohnten Insel im Westpazifik gelandet. Vorher waren wir bei den Fischen!” Er gab nun einen ausführlichen Bericht. Zuletzt sagte er: „Henri hat mich per Fernsteuerung mit dem Torpedo zurückgeholt. Dann sind wir aus dem Meer im hohen Bogen in die Luft geschossen, nachdem die Ladeklappen noch eben vor Erreichung des Wasserspiegels geöffnet werden konnten. Aus dem Lastenraum entwich das eingedrungene Wasser mitsamt dem Urweltfisch. Henri schloß die Ladeklappen. Jeder Zug und jeder Schub war abgestellt. Wir klatschten auf die Wellen wie eine Ente. Es gelang uns, Monitor auf eine Art Motorboot umzustellen. Wir liefen eine Insel an und begannen mit den Reparaturen.” Professor Charivari atmete erleichtert auf. „Achtet nun aber darauf, daß Micha nicht noch einmal mit irgendwelchen Tasten, Hebeln oder Knöpfen spielt.” Und er betonte: „Der Monitor muß klar auf die verschiedenen Möglichkeiten: Raumfahrt, Luftfahrt, Seefahrt oder Tiefseefahrt programmiert sein. Als ihr in die Tiefe gingt, war er das nicht, und zwar wegen des Durcheinanders in der Zentralsteuerung. Da hat euch die Notautomatik vor dem Schlimmsten bewahrt.” „Ist mir völlig klar!” erwiderte Superhirn ruhig über Bildschirm eins. „Was ist an Bord jetzt noch nicht in Ordnung?” erkundigte sich der Professor. „Die Schleusentür zum Lastenraum”, erwiderte der Junge. „Der unsichtbare Sperrvorhang hat sich von selber aufgehoben, als das Wasser entwichen war. Die Trümmer der zersprungenen Platte sind durch die geöffneten Ladeklappen in die Tiefe gesaust.” „Wenn ihr wieder auf Erdumlaufbahn seid, müßt ihr für kurze Zeit die künstliche Schwerkraft aufheben. Dann zieht ihr eine Ersatztür aus dem Bordlager und hängt sie ein. Anweisungen gebe ich. Noch etwas?” „Das Telepathorglas - die Gedankenstrahlerlupe - ist aus dem Haltering gesprungen und beim Reinigen des Wohnteils abgesogen worden“, antwortete Superhirn. „Gibt es an Bord ein
Ersatzglas?” „Ja, aber sein Versteck kann euch auch die Maschinenstimme nicht verraten. Das ist ein Geheimgerät, von dem sogar meine ehemaligen Mitarbeiter nichts ahnen. Doch das wißt ihr ja. Ihr findet das Ding in der Bodenplatte des Kommandosessels. Tipp mit dem Fingernagel auf die Schraffierungen der Zierleiste links in der Reihenfolge 88-6-S8-5-88-4 und dann so lange 32, bis sich die Sesselplatte herausschiebt. Darin eingebettet liegt das Glas. Setzt es in den Haltering ein. Das ist leicht. Dazu braucht ihr nur ein bißchen Zeit und Ruhe.” „Gut!” erwiderte Superhirn. „Die Insel hier ist das reinste Paradies; ich glaube, da haben wir die nötige Ruhe. Ich checke dann alles durch, melde mich wieder und erwarte Ihre Starterlaubnis!” „Du machst deinem Namen wieder einmal Ehre, Superhirn”, erklärte Professor Charivari befriedigt. „Noch eins: Wenn wir über Funk nicht zu erreichen sind, stellt den Telepathor an. Repariert ihn sofort! Martin und ich müssen uns unbedingt in Marac blicken lassen. Ich behalte unterwegs die telepathische Brille auf, um mit euch in Verbindung zu bleiben!” „In Ordnung!” bestätigte Superhirn, „Viele Grüße von den anderen!” Er lachte. Langsam verblaßte das Bild. Der Professor setzte sich daraufhin sofort mit der Unterseestation in Verbindung und berichtete seinem Bruder Enrico von dem Lebenszeichen der Monitor-Besatzung. „Sagt der Besatzung, sie möge sich beeilen!” erwiderte Enrico Charivari. „Ich brauche dringend Hilfe für die beiden defekten Raumschiffe Meteor und Rotor. Im Meteor ist nur noch ein Mann, alle anderen braucht der Rotor, um die gefangenen Piraten zu bewachen. Kommandant Rollins funkt, die Stimmung sei sehr schlecht, weil ohne die Treibstoffpumpe keine Rückkehr zur Erde möglich ist! Und der Meteor braucht Spezialschrauben!” „Monitor hat eine jugendliche Besatzung”, erwiderte Professor Brutto Charivari seinem Bruder, dem Professor Enrico Charivari. „Ich will sie endlich wieder hier haben. Danach werden wir weitersehen!” „Monitor braucht nichts weiter zu tun, als die Ersatzteile auf Erdumlaufbahn zu übergeben”, drängte der Mann auf Bildschirm zwei. „Die Anweisungen zum Ankoppeln gibt Kommandant Rollins vom Rotor über Funk. Das Manöver ist leichter als das Übersteigen von einem Motorboot zum anderen bei Seegang!” „Ich werde mit Superhirn sprechen”, sagte Professor Brutto Charivari. „Dann rufe ich die Unterseestation wieder! Ende!” „Ende!” Das Bild des silberbärtigen Bruders verschwand. Gleich darauf rief der Professor anhand der von Monitor durchgegebenen Positionsdaten noch einmal seine jungen Freunde im fernen Stillen Ozean. Superhirn meldete sich sofort. Charivari schilderte ihm die Lage, in der sich das Raumschiff Rotor befand, und er fügte hinzu, daß auch der Meteor der überwältigten Meuterer Ersatzteile brauche. „Mein Bruder möchte, daß ihr die Pumpe und die Spezialschrauben auf Erdumlaufbahn übergebt”, sagte er. „Kommandant Rollins vom Rotor würde das Koppelungsmanöver im Weltraum leiten. Wollt ihr diese eine Aufgabe noch übernehmen?” „Mich brauchen Sie nicht zu fragen”, erklärte das Gesicht auf dem Bildschirm. „Ich würde von hier aus zum Mars fliegen! Aber Micha ist noch sehr verstört, und das wirkt sich vor allem auf Tati aus. Wir müssen mindestens einen ganzen Ruhetag auf dieser Paradiesinsel einlegen. Und vergessen Sie nicht: Hier ist es jetzt Nacht. Lassen Sie mich ein paar Stunden schlafen, dann halte ich Kriegsrat mit Henri.” „Gut!” erwiderte Professor Charivari. „Zum Checken der Geräte, das vergaß ich, müßt ihr die Tafel der Zentralsteuerung zurückklappen.” „Ach ja!” erinnerte sich Superhirn. „Der Schutzschirm der Zentralsteuerung versperrt immer
noch den Eingang. Wie hebt man die Blockierung auf?” „Blaue Gefahrentaste im Kommandoraum auf Platte A 19 zweimal drücken!” antwortete Charivari. „Und nun, gute Nacht! Ich gehe mit Martin ein wenig spazieren.” „Auf einer Insel im Stillen Ozean sind die.” staunte Martin. „Was gäbe ich darum, wenn ich jetzt auch dort wäre...” Die Insel, auf der die Monitor-Besatzung rastete, war winzig. Sie war nicht rund wie die kleinen Eilande, die in Witzblattzeichnungen den Schiffbrüchigen im Nachthemd rettende Zuflucht bieten. Sie hatte die Form eines zusammengedrückten Hufeisens, wobei man sich die eng beieinanderliegenden Enden als Einfahrt in eine Bucht vorstellen muß. Darin, auf märchenhaft blaugrüner Wasserfläche, lag Monitor jetzt wie ein Schiff vor Anker. Am Morgen machte Gérard das Luftkissenauto klar und schwebte mit Prosper, Tati, Micha und dem Pudel zum Strand. Bald hallten die Freudenschreie des Kleinen und Loulous Gebell über die Bucht. Superhirn und Henri waren an Bord des Monitor geblieben. Die beiden, Flugingenieur und Kommandant, besprachen das Hilfsvorhaben, um dessen Durchführung der Professor gebeten hatte. Sie saßen in ihren Sesseln an der Befehlsplatte im Kommandoraum. „Bevor wir diese Bucht verlassen”, sagte Superhirn nachdrücklich, „müssen wir das Leck gründlich auch von außen reparieren. Vor allem müssen wir wissen, ob durch Erschütterung und Fehlprogrammierung keine Instabilität im Schiffskörper aufgetreten ist. So etwas könnte das Fahrzeug nach einem Raumstart zerreißen. Oder wir könnten einen unerwünschten Drall bekommen. Dann würden wir nicht in die Erdumlaufbahn einschwenken, sondern sonstwohin trudeln und am Ende vielleicht im Himalayagebiet zerschellen.” „Klar”, nickte Henri. „Aber nimm an, wir probieren alles an Bord idiotensicher durch, immer mit Hilfe des Professors. Der Funk ist ja wieder in Ordnung, und den kaputten Bildkasten haben wir ausgewechselt. Die Ersatzlupe des Telepathors sitzt fest im Haltering. Die Schleusentür zum Lastenraum können wir erst nach Aufhebung der Schwerkraft ersetzen. Wenn wir aber sonst davon überzeugt sind, daß wir den Start wagen können...” „... dann bleibt uns noch, die anderen zu überreden”, vollendete Superhirn. „Mit Tati ist nicht zu spaßen, wenn sie nicht will. Sie möchte längst zurück nach Marac. Und Gérard hat seinen Vetter Martin dort, den er die ganzen Ferien über noch nicht gesehen hat!” Henri rieb sich die Nase. „Hm! Aber vergiß nicht, ich bin Tatis und Michas älterer Bruder. Ich kann besser auf sie einreden. Prosper macht das, was wir beide tun, sowieso. Na, und dann ist es nicht schwer, auch Gérard zu beschwatzen.” Superhirn putzte seine Brille und setzte sie bedächtig wieder auf. „Dem Raumschiff Rotor das Ersatzteil zu übergeben, ist nicht das Schlimmste. Rotor muß ja auch den defekten Meteor zurückführen. Ich denke jetzt nur daran, daß die gefangenen Piraten an Bord des Rotor sind.” „Na und?” fragte Henri. „Die werden mit Handschellen im Lastenraum sitzen! Macht uns das was aus?” „Uns beiden nicht”, bestätigte Superhirn grinsend. „Aber die anderen könnten kalte Füße bekommen - bei dem bloßen Gedanken, daß wir uns wieder einem Raumschiff nähern, in dem die Schreckenskerle sitzen!” „Aber sie sind doch Gefangene!” rief Henri. „Das wissen wir doch längst! Selbst Micha hat keine Angst mehr vor ihnen!” „Auch gefangene Meuterer sind für zarte Gemüter was Unheimliches”, meinte Superhirn. „Das ist das einzige Hindernis, wenn sonst auch alles klappen mag. Ich denke, wir erwähnen die Schurken gar nicht mehr. Wir reden immer nur von der Hilfe, die wir Meteor bringen müssen. Abgemacht?” „Abgemacht”, sagte Henri entschlossen. Aus dem Luftkissenauto tönte Gérards Stimme über Sprechfunk durch den Bordlautsprecher: „Hallo, Superhirn, hallo, Henri!”
„Was ist?” erkundigte sich Superhirn. „Wir sind auf der Insel gelandet! Kinder, ist das hier prima! Der Sand ist so weiß wie Zucker, das Wasser durchsichtig wie Glas! Micha und Loulou toben um die Kokospalmen herum, Tati macht Ballettsprünge, Prosper und ich wollen baden!” „Nehmt eure Zehen und Fußsohlen in acht”, erwiderte Superhirn, „Es dürfte da genügend scharfe Muschelschalen und dergleichen geben! Und, he: Nur in der Bucht baden, verstanden? Wir rufen euch, sobald wir hier mit der Reparatur fertig sind!” Nun konnten Superhirn und Henri in Ruhe darangehen, das Leck von außen zu dichten und alle Funktionen des Monitor für einen möglichen neuen Raumstart zu Prüfen. Mit Preßluft und Heißluft hatten sie den Lastenraum von den Rückständen des Wassereinbruchs befreit, kleinere Fische und Meerespflanzenteile zum Vertrocknen gebracht und weggeblasen. Nach den Anweisungen des Professors hatte Henri die Isolierung der Zentralsteuerung aufgehoben. Er und Superhirn klappten die Tafel zurück, um die vorgesehene Kontrolle durchzuführen. „Mensch, was ist denn das?” rief Henri staunend. Sie sahen ein naturgetreues Modell ihres Raumschiffs in einem durchsichtigen Kunststoffbehälter - wie ein beleuchtetes Kleinod in einer Vitrine. „Ein Simulator-Modell!” Superhirn hatte es sofort begriffen. Es dauerte nur einige Sekunden, und schon hatte er den Kasten geöffnet und das Raumschiffmodell an einem Dreharm ausgeschwenkt. Er studierte eine Informationstafel. Dann murmelte er: „Aha! Sieh mal. Ich klappe das Ding jetzt um seine Längsachse auf! So!” „In dem Modell ist alles vorhanden, was wir an Bord haben!” rief Henri. „Da, der Kommandoraum mit dem Himmelsvisor! Die Küche! Mensch, da haben wir endlich mal einen richtigen Überblick!” „Am Luftkissenauto und an der Schleusentür brennen zwei stecknadelkopfgroße Lampen”, sagte Superhirn. „Das bedeutet, daß da etwas nicht in Ordnung ist. Genau! Das Luftkissenauto fehlt ja zur Zeit, und die Schleusentür können wir erst später einsetzen. Im Kommandoraum scheint alles in Ordnung zu sein: Im Simulator brennt kein Warnlämpchen.” Mit einem Blick auf die Tafel fügte er hinzu: „Blau würde Bildfunk bedeuten, Violett Hörfunk...” Er betrachtete das Heck des Modells. „Geräteteil und Triebwerke sind auch in Ordnung!” „Ebenso Hub- und Zugdüsen”, stellte Henri fest. Superhirn klappte das Modell zu, schob es in die Wand zurück und verschloß den durchsichtigen Kasten. Er hatte wieder auf die Informationstafel geblickt. Nun sagte er: „Jetzt machen wir den Simulations-Test unter Raumflugbedingungen. Hier, ich setze durch Tastendruck das Modell zunächst mal der Luftreibung aus, anschließend simulierten Bedingungen, die denen der Schwerelosigkeit gleichen. Siehst du irgendwo eine Warnlampe aufleuchten?” „Nein”, murmelte Henri. „Also ist das künstliche Schwerkraftzentrum des Monitor in Ordnung. Jetzt zünde ich nacheinander die Trieb- und Strahlenwerke. Simulierte Feuer- und Strahlenbündel zucken auf!” Wieder näherte er seine Nase der Tafel: „Wenn statt dessen oder zugleich Warnlämpchen blinken würden, hieße das, daß unser Treibstoff verbraucht wäre oder bereits gefährlich abgenommen hätte. Im Auto leuchtet ja auch eine Warnlampe auf, wenn die Lichtmaschine nicht in Betrieb ist und die gesamte Stromversorgung auf der Batterie lastet.” Superhirn führte noch die „Trimm-Probe” durch. „Die Erschütterung und unsere Leckabdichtung haben der Flugtüchtigkeit auch nichts geschadet”, erklärte er befriedigt. „So, nun funken wir diese Ergebnisse nach Marac und lassen uns von Gérard zum Strand holen. Ich denke, wir haben uns ein paar Sonnenstrahlen redlich verdient!” Im Kommandoraum erschien das Gesicht Professor Charivaris auf Bildschirm eins. „Gute Nachricht!” meldete Superhirn. „Das Simulator-Modell gibt keine Warnung. Es scheint
alles wieder in Ordnung zu sein.” „Dann ruht euch aus”, erwiderte der Professor. „Wenn es Abend ist, gebt uns euren Entschluß durch. Falls ihr euch einigt, müßt ihr am Morgen starten, um Kommandant Rollins die Ersatzteile für Rotor und Meteor zu bringen!” „Ich denke, wir werden uns rasch einig sein, Professor”, meinte Superhirn zuversichtlich. „Die Besatzung muß sich nur ein paar Stunden erholen!” „Das will ich ihr nicht mißgönnen!” erklärte Charivari lächelnd. „Nehmt nur den silbernen Drehknopf aus der Zentralsteuerung mit an Land, damit kein Fremder etwa mit Monitor starten kann!“ „Wird gemacht”, sagte Henri. „Unsere Verbindung ist ab jetzt über das Luftkissenauto!” Kurz erschien noch Martins Gesicht auf dem Bildschirm. „Viel Vergnügen!” rief er. „Gérard soll mir eine Kokosnuß mitbringen!” Micha stand auf der höchsten Stelle der hufeisenförmigen Insel. In den Trikotfetzen, aus dem ihm Tati eine Art Insulaner-Bekleidung gemacht hatte, sah er aus wie Robinson. „Leute!” schrie er begeistert. „Da hopsen immer so komische Vögel aus dem Wasser!” Tati, die sich am Strand sonnte, hob den Kopf und blickte über die märchenhaft blaugrüne Bucht. „Wo?” Prosper und Gérard, patschten dicht am Strand im seichten Wasser. Auch sie entdeckten nichts. Henri und Superhirn saßen mit baumelnden Beinen auf dem Heck des Luftkissenautos. Sie reckten den Hals. „Quatsch!” widersprach Gérard lachend. „Fliegende Fische! Die heißen nur so, weil sie ab und zu mal ein paar Meter weit über die Oberfläche hopsen! Aber höher als einen halben Meter kommen sie nie! Das habe ich gelesen!” Im gleichen Moment ertönte Michas banger Schrei. Im Nu waren alle auf den Beinen und erklommen die Höhe. Micha saß auf dem Hinterteil und hielt sich die blutende Nase. „Ein Vogel hat mich gebissen!” schrie er. Nun war es Superhirn, der lachen mußte. „Der ist dir nur zufällig ins Gesicht geklatscht!” „Da!” rief der Kleine. „Da liegt er! Das war er!” „Das ist kein Vogel, das ist ein Fliegender Fisch.” Superhirn grinste. „Und dahinten zappeln noch mehrere auf dem Trockenen. Aber sie kamen nicht, um dir weh zu tun. Glaub mir, alle zusammen sind noch ängstlicher als du! Sie wollten sich nur vor einem Verfolger in Sicherheit bringen. Deshalb sind sie aus dem Wasser geschossen. Nur durch Zufall sind sie hier gelandet!” Gérard meinte: „Ob die Viecher nun hopsen oder richtig fliegen, das weiß ich nicht. Aber ich weiß zufällig, daß sie gut schmecken. Das ist ja wie im Schlaraffenland! Man braucht sie nicht zu angeln.“ „Aber grillen wird man sie müssen. Denn obwohl sie einem fast in den Mund fliegen, sind sie noch lebendig und roh!” unterbrach Prosper. „Ihr seid selber roh!” schimpfte Tati. „Der Kleine weiß immer noch nicht recht, was geschehen ist.” Sie wandte sich um. „Und Loulou verkriecht sich in ein Zelt!” Micha schüttelte sich. „Ich bade hier jedenfalls nicht mehr!” erklärte er entschieden. Prosper war recht enttäuscht, als er sich einige gestrandete Fische näher besah. „Sehen nach nichts aus! Und wiegen tun sie auch nicht viel - vielleicht zweihundert oder dreihundert Gramm. Aber das ist das Äußerste!” „Ich zähle fünf Stück!” sagte Superhirn. „Das dürfte für eine leckere Abendmahlzeit reichen.” Er faltete die Brustflossen eines schon recht müden Fisches auseinander. „Jetzt siehst du die länglichen Flügel. Sie schimmern bläulich und orangefarben!” Während Prosper und Tati die Fische einsammelten und zum Grill hinuntertrugen, den sie mitgebracht hatten, um sie dort in ein schattiges Wasserloch zu legen, kletterte Gérard wie ein stämmiger Affe an einer Kokospalme hoch.
Es gab nicht viele Palmen auf dem winzigen Eiland, und die wenigen wirkten ziemlich zerrupft und trugen nur ein paar reife Früchte. Immerhin erntete Gérard insgesamt zwölf. Mindestens eine davon wollte er seinem Vetter Martin mitnehmen. Mit Trockenspiritus und einigen Stücken Treibholz entfachte Prosper ein Feuer unter dem Grill. Als sie später die Fische aßen, bekam der Pudel Loulou Kokosmilch. Das hatte er sich sicher nicht in seiner Hundewiege träumen lassen. Über den Sprechfunk im Luftkissenauto nahm Superhirn noch einmal mit Marac Verbindung auf. Dann setzte er sich zu den anderen vor die Zelte. „Hast du mit dem Professor gesprochen?” fragte Micha. „Ja”, sagte Superhirn. „Wenn die Weltuhr im Kommandoraum Sieben zeigt, müssen wir starten.” „Zurück nach Marac?” erkundigte sich Tati. Superhirn schwieg, und Henri stieß ihn heimlich an. „Also, ich könnte es gut und gern noch ein paar Tage hier aushalten”, meinte Prosper. „Wenn Martin nicht in Marac warten würde, ich auch!” fügte Gérard hinzu. „Aber ich nicht!” rief das Mädchen. Jetzt ist es ja hübsch kühl, aber bei Tage ist die Hitze unerträglich. Ach, wenn ich an die milde Luft in Marac denke...” „Ich möchte endlich wieder mal mit Loulou übers Hochmoor laufen”, krähte Micha. „Kokosnüsse kann man auch in Marac auf dem Markt kaufen. Da braucht man nicht auf Palmen zu klettern wie hier. Und wenn man auf dem Hügel steht, sieht man nichts als Wasser, Ich habe nie gedacht, daß es so viel Wasser gibt!” Er schluckte und plapperte eifrig weiter: „Außerdem habe ich genug von Fischen! Von Fischen auf Wandtafeln, auf der komischen Sichtplatte, im Lastenraum, pfui Deibel, nein! Und dann fliegt mir hier noch einer ins Gesicht!” „Wer weiß, was noch passieren würde, wenn wir länger hierbleiben”, meinte Tati. „Wenn ihr mich fragt: Ich möchte zehnmal lieber wieder in den Weltraum als noch einmal ins Meer!” „Da oben kann kein Ungeheuer einbrechen”, sagte der kleine Bruder. „Alles ist schön sauber, und der Bonbonautomat ist da!” Plötzlich kam ihm ein Gedanke: „Du, Superhirn! Ob wir in Marac den Bonbonautomaten ausbauen dürfen?“ „Nein”, entgegnete Superhirn lachend. „Wenn wir erst einmal in Marac sind, ist es aus mit dem Bonbonregen! Aus mit allen Herrlichkeiten der Monitor-Küche! Dann werden wir uns wieder Salatgurken und Tomaten und alles mögliche vom Markt holen müssen. Auch Kokosnüsse, wie du schon gesagt hast!” „Sind wir denn sehr schnell wieder in Marac?” fragte Micha beinahe enttäuscht. „Ich würde gern den Bonbonautomaten noch leer machen. Das kann mir der Professor nicht übelnehmen, wo mir doch der Fisch gegen die Nase geknallt ist.” Jetzt lachten alle. „Nun”, sagte Superhirn scheinbar nachsinnend. „Wir müssen sowieso zunächst auf Erdumlaufbahn gehen. Und wenn wir dem Rotor und dem Meteor Ersatzteile übergeben würden - hin, dann hätten wir abschließend noch Gelegenheit, ein kleines Bordfest zu veranstalten!” „Bordfest?” rief Gérard begeistert. „Prima! Ein Abschiedsfest im Weltall!” „Das ist eine Idee!” Prosper sprang auf. „Die beste Idee des Jahrhunderts!” „Du brauchst nicht wie ein Medizinmann zu tanzen, auch wenn wir auf einer Kokosinsel sind”, mahnte Superhirn. „Setz dich hin, Prosper!” Er wandte sich an Henri: „Und was meinst du?” „Unsere Reise muß einen zünftigen Abschluß haben”, sagte Henri scheinheilig. „Wir übergeben die Ersatzteile und feiern vor dem Rückflug zur Erde ein Abschiedsfest im Bordkasino!” „Mit Bonbons!” jubelte Micha. „Ich höre da dauernd was von Ersatzteilen”, mischte sich Tati ein. „Was soll denn das? Kreisen denn die beiden Raumschiffe immer noch?” „Haben wir dir das nicht gesagt?” fragte Superhirn im Ton der Verwunderung. „Ja, Rotor und Meteor brauchen Ersatzteile. Der Professor meint, die Übergabe sei eine Kleinigkeit. Kommandant Rollins würde das Manöver per Funk leiten. Na ja, und dann...” Er brachte das
Gespräch gleich wieder auf das Bordfest. „Gewonnen!” flüsterte Henri Superhirn ins Ohr. Doch plötzlich fragte Micha: „Sind im Rotor nicht die gefangenen Piraten?” „Die? Ja - ach so...” Henri tat, als müsse er sich erst erinnern. „Die sitzen gefesselt im Lastenraum des Rotor. Die tun niemandem mehr etwas.” „Ich dachte, sie wären geköpft worden!” rief Micha. „Piraten werden doch immer geköpft!” „Ja, im Märchen”, meinte Prosper. „Nein, nein, die gewiß nicht. Wahrscheinlich wird man die Gruppe auflösen, ein paar der Meuterer auf der Mondstation und ein paar in der Unterseestation beschäftigen. Für Marac wird Charivari Männer von den anderen Stationen anfordern. Diese Meuterer wissen zu viel, als daß man sie einfach entlassen könnte!” „Also, wenn die Piraten wenigstens gefesselt im Lastenraum vom Rotor sitzen, soll's mir recht sein”, meinte Micha nach einigem Bedenken. „Hauptsache, sie stören unser Abschiedsfest nicht!” „Worauf du dich verlassen kannst”, erklärte Superhirn. Und während die anderen in die Zelte krochen, gab er über Sprechfunk im Luftkissenauto die Meldung nach Marac. „Entscheidung gefallen! Monitor wird Ersatzteile im Weltraum übergeben.” 6. Überfall im Weltraum Am Morgen verließ Monitor die „Insel der Fliegenden Fische”, wie Superhirn das Eiland getauft hatte. Das Luftkissenauto stand wieder festgelascht an seinem alten Platz im Lastenraum, die Gerätschaften waren wieder in der Material- und Vorratskammer verstaut. Die jugendlichen Raumfahrer saßen im Befehlsraum auf ihren Plätzen. Auf Bildschirm zwei erschien das Gesicht Professor Charivaris. „Achtung”, ertönte seine Stimme. „Ich gebe jetzt die Anweisungen für den Kursrechner.” Der Monitor” erhob sich waagerecht über der Bucht, schwebte zum Strand und ließ sich noch einmal nieder, und zwar auf einer ebenen Stelle. jetzt wurden seine Hubtriebwerke eingeschaltet, dann einige hundert Meter über dem Boden die Haupttriebwerke. Donnernd jagte Monitor in den unendlich weiten Himmel über dem Stillen Ozean. „Alle Instrumente funktionieren”, meldete Henri nach Marac. „Lenkkorrektur nötig”, hörte man den Professor, dessen unbewegliches Gesicht auf Bildschirm zwei zu erkennen war. Folgende Zahlen unter Scheibe drei tippen: 6-1-6-6-4-8-1...” Gérard wiederholte die Reihenfolge und drückte auf die Tasten. Nach einer Weile kamen weitere Befehle. Schließlich verkündete Professor Charivari: „Ihr seid auf Erdumlaufbahn. Es wird drei Stunden dauern, bis die Raumschiffe Rotor und Meteor an euch vorübertreiben. Damit der Abstand zwischen euch und ihnen verkürzt wird, müßt ihr mehrmals Bremsraketen zünden und den Kurs korrigieren. Ich gebe euch die Anweisungen rechtzeitig. Der Befehlsraum darf vom Flugingenieur und vom Bordkommandanten nicht verlassen werden.” „Aber von den anderen?” fragte Superhirn rasch. „Ja”, erwiderte die Stimme des Professors. „Nur bei Alarm müssen alle vorn sein.” „Versteht sich. Ende!” sagte Superhirn. Er atmete erleichtert auf. Also, Tati und Micha - und ihr, Prosper und Gérard, kümmert euch jetzt um das Frühstückt!“ „Ich muß erst mal unter die Dusche”, erklärte Tati. „Ich habe immer noch Meersalz im Haar, und ich möchte nicht wie eine Schreckschraube in Marac landen!” „Dann spielen wir mal Bordhausfrau, was, Prosper?” meinte Gérard grinsend. „Wir machen im Kasino ein Frühstück, das sich gewaschen hat - auch ohne Dusche!” „Ich will rohe Haferflocken mit Sahne!” krähte Micha. „Und Loulou braucht ein saftiges Stück Schinken! Er hat ja gestern fast gar nichts gehabt!” Schwatzend schoben sie ab, gefolgt von dem Zwergpudel. Superhirn und Henri blieben allein
im Kommandoraum zurück. Aufmerksam sah Henri den Freund an. „Du hast die anderen absichtlich hinausgeschickt?” fragte er. „Es kam dir sehr gelegen, was der Professor sagte, nicht wahr?” Superhirn nickte. Rasch ließ er eine Art Pult am Tischrand hochschnappen, öffnete den Deckel und nahm etwas heraus. Henris Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Die Bilder!” stieß er heiser hervor. „Die Bilder der Piraten! Wir haben vergessen, sie zu vernichten. Und wenn - und wenn...” Er suchte nach Worten. „Und wenn einer der anderen sie finden sollte, könnte es im letzten Augenblick noch eine Panik geben”, vollendete Superhirn. „Bei dem bloßen Gedanken, daß diese Schreckensmänner - wenn auch gefesselt - im Raumschiff Rotor sitzen, würden Micha und Tati verrückt spielen.” Superhirn betrachtete die Bilder. Es waren Charakterstudien, die Henri gezeichnet hatte. Sie gaben also nicht nur das Äußere der Gesichter wieder, sondern auch die schlimmen Leidenschaften dieser Männer, die gemeutert hatten, um die Erde vom Weltraum her zu beherrschen. Nun der Rotor der Unterseestation hatte ihr Raumschiff gekapert, sie waren von der Besatzung des Rotor überwältigt worden Aber immerhin, sie lebten, und sie schwebten in einem manövrierunfähigen Raumschiff, gefolgt von ihrem ebenso schadhaften ehemaligen Meutererfahrzeug auf Erdumlaufbahn. Ihren Bewachern würde man die Ersatzteile übergeben müssen. „Chef-Astro Dr. Muller...”, sagte Superhirn nachdenklich. „Das war Charivaris Assistent - der tückischste der Verräter, ein von Ehrgeiz zerrissenes Gesicht. Hm! Und dann dieser Systemspezialist Professor Viechsbrunn, kein gemütlicher Mann!” Sein Blick streifte die übrigen Bilder. „Die Astros Dr. Dr. Capuso und John Bart, sowie Jan Eikkoonen; die Ingenieure Smith, Krachuwitsch, Villeneuve; die Raumfahrttechniker Dirk Luns, Fürst Pitterich und Valdez Fadango...” „Galgengesichter”, murmelte Henri. „Kaum zu glauben! Gelehrte - daß ich nicht lache!” „Ich habe dir früher schon mal gesagt, Macht kann den gelehrtesten Menschen verderben”, erinnerte Superhirn. „In diesen Burschen ist das Unterste zuoberst gekehrt. Das drückt sich auch in den Gesichtern aus.” „Wohin jetzt mit den Bildern?” fragte Henri. Aber da stand Gérard in der Tür, und Superhirn blieb nichts anderes übrig, als sie rasch wieder in das Schnappult zu tun. „Müssen wir nicht die neue Schleusenplatte zum Lastenraum einsetzen?” fragte Gérard. ”Nach dem Frühstück”, erwiderte Henri. „Die Platte ist schwer, und wir müssen kurz die künstliche Schwerkraft aufheben. Du willst doch nicht, daß das ganze Frühstück durch die Gegend wirbelt!” „Ach nein - richtig!” grinste Gérard. Dann fragte er neugierig. Was habt ihr da eben vorgehabt?” „Nichts, nichts”, versicherte Henri allzu rasch. Gérard wurde mißtrauisch. „Was ich gesehen habe, da habe ich gesehen! Es waren Zettel oder? Etwa geheime Aufzeichnungen?” „Speisekarten für das Frühstück!” witzelte Superhirn „Troll dich in die Küche! Und vergiß nicht, uns zwei große Becher Kakao und ein paar Stücke Kuchen zu bringen!” Gérard verschwand. Superhirn und Henri atmeten auf. Nach dem Frühstück setzte sich Superhirn noch einmal mit Marac in Verbindung. Er wollte das Einhängen der Schleusentür auf keinen Fall Prosper und Gérard allein überlassen. „Gut, aber seht euch vor!” erwiderte Charivari über Bildschirm zwei. „Wenn ihr die Schwerkraft aufgehoben habt, schwebt ihr frei im Schiff, das wißt ihr doch! Stoßt euch nirgends ab, vermeidet heftige Bewegungen! Es ist dann nämlich nichts mehr da, das euch bremsen könnte; ihr würdet hart an Decken und Wände prallen! Es gibt dann kein Oben und kein Unten
mehr!” Henri rief Tati und Micha in den Befehlsraum. „Setzt euch in die Sessel, und schnallt euch an! Tati, du hältst Loulou fest!” „Und was sollen wir machen?” fragte Gérard, der mit Prosper im Kücheneingang stand. „Ihr geht zum Ersatzteillager”, erklärte Superhirn. „ich folge euch. Henri betätigt den Griff zur Aufhebung der Schwerkraft, und wir drei bugsieren dann die Schleusentür an ihren Platz!” Im Lagerraum war ein Signalknopf. „Ruf - Befehlszentrale” stand in Leuchtschrift darunter. Superhirn drückte auf den Knopf. Wenige Sekunden später ging eine Erschütterung durch das Schiff, und er und die beiden Freunde vermeinten zu fallen. Den falschen Eindruck, bei Auflösung der Schwerkraft fallen, hat übrigens jeder Raumfahrtanwärter. „So, jetzt ziehen wir die Schleusenplatte aus dem Fach”, sagte Superhirn. Aber Vorsicht! Sie ist zwar schwerelos, aber sie ist und bleibt massig! Wenn einer sie zu stark durch die Luft stößt, könnte sie den anderen rammen und an der Bordwand zerquetschen!” Das Bugsieren der Tür und das Einhängen in die Patentscharniere zwischen Lastenraum und Gang war ein Alptraum. „Puh!” stieß Prosper hervor. „Kinder, das wünschte ich kein zweites Mal machen!” Immer noch aller Schwere enthoben ruderten die drei durch die Luft in den Kommandoraum. „Fertig!” meldete Superhirn. „Henri, du kannst die künstliche Schwerkraft wieder einschalten!” Wieder gab es einen Ruck, Superhirn, Prosper und Gérard landeten unsanft auf dem Fußboden. Die anderen lösten ihre Anschnallgurte. Micha lachte. „Haha, das war ulkig!” rief er. „Sei froh, daß du angeschnallt warst”, murrte Prosper. Seine Augen wurden groß. „He, was flatterte da rum? Hat uns jemand Flugblätter ins Raumschiff geworfen? Oder Spielkarten? Was ist das?” „Liegen lassen!” schrie Henri entsetzt. Doch schon hatten sich Tatis, Michas, Gérards und Prospers Hände nach den Blättern ausgestreckt. Es waren die Bilder. Die Bilder mit den teuflischen Gesichtern der Piraten. Beim Aufheben der Schwerkraft war der Pultdeckel hochgesprungen, die Seite des Kastens war heruntergeklappt, und die Bilder hatten sich „selbständig” gemacht. Tati war starr vor Schreck. Sie blickte auf das Bild, das den ehemaligen Chef-Astro Dr. Muller darstellte. Da der Name darunterstand, begriff sie sofort. „Dieses menschliche Ungeheuer sitzt in dem Raumschiff, dem wir die Ersatzteile bringen wollen?” stammelte sie. „Und hier - hier - Professor Viechsbrunn! So sehen die Kerle also aus? Nicht mal im Traum möchte ich die auch nur in meiner Nachbarschaft wissen!” „Bei dem da fehlen nur noch die Hörner”, kreischte Micha, das Bild von Dr. Dr. Capuso betrachtend. Dann sah er das Bild von John Bart, warf es aus der Hand und hielt sich die Augen zu: „Sofort zurück nach Marac!” schrie er. „Ich will sofort zurück! Die brauchen keine Ersatzteile! Die sollen immer kreisen!” „Sie sind wehrlos!” herrschte Superhirn den Kleinen an. „Kommandant Rollins und seine Besatzung würde es schließlich auch treffen, wenn wir die defekten Raumschiffe im Stich ließen!“ „Auf dem Himmelsvisor nähern sich Rotor und Meteor!” rief Henri. In diesem Augenblick meldete sich Professor Charivari: „Monitor fertigmachen zum Ankoppelungsmanöver! Kommandant Rollins vom Raumschiff Rotor übernimmt jetzt die Leitung!” Und schon wurde der Kommandant des Rotor auf Bildschirm fünf sichtbar. „Hallo, Monitor! Bleibt auf eurer Bahn! Rührt kein Instrument ohne Weisung an! Wir setzen Seitenstutzen an Seitenstutzen. Ist das Manöver ausgeführt, können die Außenschleusen und Außenluken geöffnet werden! Dann ist es möglich, ohne Raumanzug vom Rotor auf den Monitor
überzusteigen!” „Verstanden!” erwiderte Superhirn. Rollins Gesicht verschwand vom Bildschirm. „Die Sache gefällt mir nicht!” rief Tati in höchster Angst. „Wir kennen doch diesen Rollins gar nicht! Habt ihr sein verzerrtes Gesicht gesehen?” „Das kommt wahrscheinlich von der Anspannung!” meinte Superhirn betont ruhig. Er wechselte einen Blick mit Henri. Henri schaltete „Bodenstation Marac”. Doch der Professor meldete sich nicht. „Was ist?” fragte Gérard rauh. „Rotor muß beim Ankoppeln unsere Funkanlage außer Kraft gesetzt haben”, erwiderte Henri zögernd. Doch da begannen die Geräte wieder zu arbeiten. Rollins Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm. „Koppelung durchgeführt. Backbordstutzen Monitor an Steuerbordstutzen Rotor. Öffnet die Schleuse und die Einstiegsluke!” „Halt!” zischte Superhirn, der Rollins Miene scharf beobachtet hatte. Doch es war zu spät. Prosper meldete: „Schleuse und Einstiegsluke geöffnet!” Die Seitenschiebetür war lautlos in die Wand zurückgeglitten. Wuff! machte der Pudel. Er schnüffelte und sprang schnell durch die Luke in das andere Raumschiff hinüber. Noch einmal war Kommandant Rollins auf dem Bildschirm zu sehen. „Schickt zwei Jungen eurer Besatzung herüber, damit ich ihnen genau erklären kann, welche Ersatzteile wir brauchen. Wegen der Piraten verlassen wir den Rotor nicht!” „Versteht sich”, murmelte Gérard. Er grinste. „Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Ich nicht! Ich gehe hinüber! Wer kommt mit?” „Je eher wir die Sache hinter uns haben, desto besser”, meinte Prosper. In diesem Augenblick rannte Micha seinem Pudel nach. „Bleib hier!” schrie Tati. Sie griff nach ihm, erwischte ihn aber nicht mehr - und verschwand in der Luke. Gérard und Prosper folgten ihr ohne Besinnen. „Kein Funk mit Marac!” flüsterte Henri verzweifelt. Er ging zum Kommandotisch, während Superhirn sich der Luke näherte. „Die haben unsere Anlage wieder außer Kraft gesetzt!” „Ruf den Professor über den Gedankenstrahler”, sagte Superhirn leise. „Das Gerät kennen die da drüben ja nicht!” Henri blickte angespannt auf den Glühpunkt in der Telepathorlupe und bündelte seine Gedanken zu der Meldung: „Professor! Rotor hat angekoppelt, vier von uns sind drüben. Doch es scheint, als hätte Rotor unseren Außenfunk unterbrochen. Kommandant Rollins Gesicht wirkte verzweifelt auf dem Bildschirm! Irgendwas scheint nicht zu stimmen.” Das alles dachte er schneller, zehnmal schneller, als er es hätte aussprechen können. Und wie der Blitz kam Charivaris Gedankenstrahl zurück: „Wer hat verzweifeltes Gesicht festgestellt?” „Tati und Superhirn”, funkten Henris Gedanken in das dicke Glas. Der Telepathor erwiderte stumm: „Wenn Tati und Superhirn es bemerkt haben, besteht wirklich Gefahr. Womöglich hat man euch eine Falle gestellt. Die Piraten sind möglicherweise frei, haben ihre Bewacher überrumpelt und Rollins gezwungen, euch Anweisungen zu geben. Sie werden euer Raumschiff kapern wollen.” Das alles raste in irrsinniger Schnelligkeit durch Henris Augen in seinen Kopf hinein. Er starrte wie gebannt auf den Gedankenstrahler. Falls die Piraten den Monitor besetzen, lockt sie in das Freizeit-Center”, gebot Charivari über den Telepathor. „Dann sprich auf der Wand-Koordinate 6 in das verborgene Mikrofon die Worte: Das Vorsegel muß ausgebessert werden - worauf sich der Mutgeberknopf drehen läßt. Dreh ihn nach links, nicht nach rechts! Nach links, nicht nach rechts! Nach links, nicht nach rechts. - Dreh ihn, sobald die Piraten in das Freizeit-Center gelockt worden sind. Dreh den Knopf auf keinen Fall nach rechts!”
„Was denn für einen Mutgeberknopf?” Vor lauter Verblüffung hatte Henri das laut gesprochen. „Und warum nach links - und wie?” Er wandte sich rasch um und begegnete Superhirns angespanntem Blick. „Wir sollen einen Mutgeberknopf...”, begann er. Doch Superhirn unterbrach ihn: „Still! Es kommt jemand! Ganz ruhig bleiben, hörst du? Laß mich reden!” Der Mann, der den Monitor als erster betrat, war tatsächlich nicht Kommandant Rollins. Es war der meuterische Systemspezialist Professor Viechsbrunn. „Hahaha!” lachte er ebenso böse wie dröhnend. „Haben wir eure Kinderschaukel endlich! Wo ist denn das Superbaby, he? Ach, der Schlingel, da - den erkennt man gleich! Alle Achtung, Bürschchen, du hast deine Sache gut gemacht. Aber du solltest doch lieber Spielzeugraketen fliegen lassen!” Und plötzlich standen einige andere Piraten im Kommandoraum. Wenn man ihre Bilder gesehen hatte, waren sie genau zu unterscheiden: der ehemalige Chef-Astro Dr. Muller, die Astros Dr. Dr. Capuso und John Bart und der zwergenhaft kleine Raumfahrttechniker Valdez Fadango. „Prügel solltet ihr bekommen! Prügel, allesamt!” zischte Fadango. „Aber jetzt ist Schluß mit eurer Schnüffelei. Wir werden euch am Südpol absetzen; dann haben wir die drei Raumschiffe, und eurer Charivari kann in Marac Käfer sammeln!” „Still!” gebot Chef-Astro Muller mürrisch. „Was ist das da für ein Gerät, du Laus?” Er blickte auf Henri und den Telepathor. „Ein Gerät zur Selbstvernichtung des Raumschiffes!” log Superhirn ruhig. „Wenn Sie es bis zum Anschlag verstellen, zerplatzen wir sofort wie eine Bombe!” „Weg von dem Ding!” befahl der bullige Viechsbrunn Henri. „Stell dich da an die Wand! Rühr dich nicht!” Henri bereute bitter, daß er Superhirn nicht wenigstens noch den Hinweis gegeben hatte, die Piraten in das Freizeit-Center zu locken. Wie sollte er die Befehle des Professors jetzt ausführen? In seiner Verzweiflung griff er zu einem ausgefallenen Mittel: Er starrte Superhirn an - und redete mit ihm in der Taubstummensprache! Henri hatte eine taubstumme Tante, die er oft besuchte und der er ab und zu im Garten half. So hatte er ganz unwillkürlich gelernt, sich mit ihr zu unterhalten. Er bewegte die Lippen und formte stimmlos die Worte. Und so wiederholte er einige Male: „Piraten in das Freizeit-Center locken!“ Nach dem zweiten Mal zündete es bei Superhirn. Wahrhaftig, der spindeldürre Junge mit dem scharfen Verstand machte seinem Namen immer von neuem Ehre! Aber selbst der schärfste Verstand hätte ihm nichts genützt, wenn er nicht so viel gewußt und sich nicht für alles interessiert hätte. Superhirn wußte in etwa, wie die Taubstummensprache ging. Er begriff. Doch Viechsbrunn schien etwas mitbekommen zu haben; er sah sich verwundert um. „Was ist das? Was macht ihr da?” Gelassen log Superhirn: „Im Freizeit-Center ist mein jüngerer Bruder! Und übrigens gibt es dort auch ein Selbstzerstörungsgerät. Ich hoffe nicht, daß der Junge daran herumdreht!” „Was?” schrie der Meuterer Dr. Dr. Capuso. Allen voran stürmte er in das Freizeit-Center, dessen Tür nur angelehnt gewesen war. Henri sprang zur Wand. „Koordinate 6”, murmelte er fieberhaft. Ein roter Punkt leuchtete auf: das eingebaute Mikrofon! Schnell, aber deutlich sprach Henri die Worte hinein: „Das Vorsegel muß ausgebessert werden!” Geräuschlos schob sich ein Drehknopf heraus. Daneben wurden der Reihe nach ein paar bunte Quadrate auf der Wand sichtbar. Auf der Stelle drehte Henri den Knopf nach links. Geistesgegenwärtig schloß Superhirn die Tür zum Freizeit-Center. Dann flitzte er zu Henri und betrachtete mit ihm die Erscheinungen der Wand. „Diesen sogenannten Mutgeberknopf sollte ich nach links drehen”, berichtete Henri in großer Hast. „Die Gedanken Charivaris kamen sehr eindringlich: Nach links, nicht nach rechts! Nach
links, nicht nach rechts! Was soll das bedeuten? Was bedeutet dieser Mutgeberknopf?” „Na ja, er strahlt offenbar Mut in das Freizeit-Center” meinte Superhirn. Er sprach genauso hastig wie Henri. „Aber Mut ist das letzte, was diesen Piraten eingeimpft werden müßte! Ich denke, wenn man den Knopf nach links dreht, ruft das die gegenteilige Wirkung hervor: Die Meuterer werden entmutigt, bis sie keine Gefahr mehr für uns bilden!” Henri stand starr vor Staunen. Er blickte zur Tür: Im Freizeit-Center war alles ruhig geworden. Die Kerle hätten sich längst wieder melden müssen. Superhirn mochte also recht haben! „Nervengas?” fragte Henri. Superhirn schüttelte den Kopf. „Professor Charivari arbeitet nicht mit unmenschlichen Mitteln. Es gibt ganz natürliche Mischungen, die den Menschen mutlos machen. Dazu gehört sogar Zigarettenrauch. Einfach verbrauchte Luft, vielleicht mit einer Beimischung: Sie setzt die Entschlußkraft herab, das Urteilsvermögen, die Reaktionsfähigkeit, die Tatenfreude. Frische Luft, wahrscheinlich auch mit einer Beimischung, bewirkt das Gegenteil. Hättest du den Knopf nach rechts gedreht, wären die Burschen zehnmal gefährlicher zurückgekehrt.” „Und was machen sie jetzt?” „Wahrscheinlich hocken sie stumpfsinnig herum, wissen gar nicht mehr, was sie eigentlich im Monitor wollten. Alles ist ihnen gleichgültig geworden!” „Scheint so”, murmelte Henri. „Aber die Piraten-Ingenieure Smith, Krachuwitsch, Villeneuve und Mayersmann habe ich hier nicht gesehen! Die sind noch im Rotor!” Er hatte kaum ausgesprochen, als Smith erschien. „Was ist hier los?” schrie er mit einer unangenehmen Fistelstimme, „Wo ist unser Chef-Astro Muller? Wo sind Professor Viechsbrunn und die anderen?” Er drehte sich einmal um sich selber - und ging in die Küche. Und schon kamen Krachuwitsch, Villeneuve und Mayersmann durch die Einstiegsluke. Ihre Gesichter drückten Besorgnis aus. Krachuwitsch sah Smith in der Küche und folgte ihm; schließlich gingen auch die beiden anderen hinein. Superhirn blickte auf die bunten Quadrate. Unter ihnen stand der Reihe nach in winziger Leuchtschrift: „Kommandoraum”, „Kasino”, „Kabine l“, „Kabine 2”, „Küche”. Für jeden Raum, für jede Kammer des „Monitor” gab es ein Leuchtquadrat. Superhirn begriff: Kontaktplatten für den Fall, daß man den Mutgeberknopf nicht nur für das Freizeit-Center betätigen wollte. Er drückte auf das Quadrat „Küche” - und zwar anhaltend. Plötzlich hörte man, wie die Stimme des Piraten Smith weinerlich wurde. Auch Krachuwitsch, Villeneuve und Mayersmann begannen zu klagen: „Was sollen wir eigentlich hier? Mir ist die Lust vergangen. Ja! Setzen wir uns auf den Fußboden! Einfach hinsetzen!” „Mach die Tür zur Küche zu!” zischte Superhirn. „Sonst kriegen auch wir noch einen Entmutigungsanfall!” Henri schloß die Tür. Dann krochen beide in den Rotor hinüber. Dort im Kommandoraum saß geisterbleich der gefesselte Kommandant Rollins. Und auf dem Boden hockten sichtlich eingeschüchtert Tati, Gérard, Prosper, der kleine Micha und der Pudel Loulou. „Ihr macht Gesichter, als hättet ihr auch eine Mutlosigkeitsdusche gekriegt”, rief Superhirn den Gefährten grinsend zu. „Hoch mit euch! Die Gefahr ist vorbei!” Henri band Kommandant Rollins los. „Wo ist die Besatzung?” fragte er. „Gefesselt im Lastenraum!” ächzte Rollins, sich die Arme reibend. „Die Piraten haben uns überrumpelt und mich gezwungen, euch über Bildfunk Anweisungen zu geben. Ich mußte mich verstellen und durfte kein Wort einer Warnung anklingen lassen. Sie haben aufgepaßt wie Schießhunde!” „Was Henris Schwester und ich an Ihrem Gesicht gemerkt haben”, erklärte Superhirn. Schnell berichtete er dem Kommandanten, was sich im Monitor ereignet hatte. Er fügte hinzu: „Befreien Sie Ihre Leute! Unsere Besatzung geht inzwischen wieder hinüber und paßt auf, daß die Burschen keine Dummheiten machen!”
Die Sache mit dem Mutgeberknopf begriffen Tati, Gérard und Prosper zunächst nicht. Nur Micha machte es sich leicht. Er hielt das Ganze für Zauberei. „Setzt euch in die Sessel an der Sichtplatte”, sagte Superhirn. „Tati, nimm den Pudel hoch. Verhaltet euch still, und zeigt vor allen Dingen keine Angst!” „Was willst du tun?” fragte Tati besorgt. „Henri und ich holen die Piraten”, erklärte Superhirn entschlossen. „Wenn wirklich die ganze Zeit ein Entmutigungsstrahler auf sie eingewirkt hat, müßten sie jetzt halb ohnmächtig sein.” Und so war es auch. Henri stellte den Drehknopf auf Null. Als Superhirn die Tür zum Freizeit-Center öffnete, sah er die Astros Dr. Dr. Capuso und John Bart wie Betrunkene übereinanderliegen. Der kleine Raumfahrttechniker Valdez Fadango lehnte an der Wand und winselte vor sich hin. Nur der bullige Professor Viechsbrunn stand noch auf den Beinen. Aber er war entmutigt wie ein kleines Kind, das sich im Wald verlaufen hat. Weinend stolperte er in den Kommandoraum. Und die Besatzung glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als der fürchterliche Pirat mit Jammerstimme rief: „Ich will zu meiner Mama! Ich fürchte mich so sehr.” Schluchzend näherte er sich dem Befehlstisch: „Huhuhuhuuu. Wo ist meine Mama? Der arme kleine Viechsbrunn hat so 'ne große Angst! Huhuhuhuuu.” Henri gab ihm einen Stups. „Zurück!” befahl er. „Zurück! Merken Sie nun, daß Professor Charivari tausendmal schlauer ist als Sie?” Durch die Einstiegsluke kamen Kommandant Rollins und seine befreiten Männer aus dem Raumschiff Rotor. „Mit den Meuterern werden Sie keine Schwierigkeiten mehr haben”, erklärte Superhirn lachend und deutete auf die entmutigten Kerle. „Nehmen Sie sie aber schnell rüber! Wir müssen Sauerstoff in das Freizeit-Center und in die Küche blasen!” Die Piraten wurden an Bord des Rotor geschleppt. Man hörte noch das Geschrei des ehemaligen Chef-Astros Dr. Muller: „Ich will´s ja auch nie wieder tun! Ich will nie wieder meutern!” Grinsend meldete sich Kommandant Rollins über Bildfunk: „Eure Anlagen sind entstört. Mein Flugingenieur holt jetzt noch die Pumpe und die Schrauben. Wir verteilen Wachmannschaft und Gefangene auf Rotor und Meteor. Rotor fliegt zur Unterseestation Meteor liefert seine Piraten auf der Mondstation ab. Ich glaube, sie werden wieder brave Mitarbeiter werden. So - und euer Monitor kann auf Heimatkurs gehen!” „Hurra!” krähte Micha. Und der Zwergpudel machte wuff, wuff, als freue er sich auf einen Spaziergang im Hochmoor von Marac. Marac! Nach allem, was geschehen war, hatte die jugendliche Besatzung keine sonderliche Lust mehr, ein Abschiedsfest an Bord zu feiern. Mit Hilfe von Charivaris Anweisungen kehrte der Monitor so schnell wie möglich zur Erde zurück. Und endlich - kaum konnten es die Gefährten begreifen - stand das Raumschiff wieder in seiner Seegarage an der europäischen Atlantikküste unter dem Hochmoor von Marac. Gérard begrüßte seinen Vetter Martin, der so tapfer bei Professor Charivari die Stellung gehalten hatte. Er überreichte ihm die erbeutete Kokosnuß. Micha erzählte von dem Ungeheuer im Lastenraum und von dem Fisch, der ihm gegen die Nase geprallt war. Ernst hörte sich der Professor den umfassenden Bericht Superhirns an. Dann sagte er: „So, meine Freunde, das Piraten-Abenteuer ist nun beendet.”
Ende
Raumschiff Monitor Start zur Unterwasserstadt 1. Ein rätselhafter Brief „Ich bin hier, um ein Geheimnis zu klären“, murrte Henri. „Und wir? Wir etwa nicht?“ riefen Prosper und Gérard. Henris jüngere Schwester Tatjana - genannt Tati schüttelte den Kopf. „Dazu habt ihr Ferien! Ferien, ha die bedeuten für euch nichts weiter als Geheimnisse, Abenteuer, Piratenjagd und andere ausgefallene Sachen. Aber mittlerweile seid ihr vierzehn. Ihr solltet wirklich mal versuchen, euch was Vernünftiges einfallen zu lassen!“ „Blödsinn!“ rief Henris und Tatis neunjähriger Bruder Micha. „Ich will nicht andauernd nur was Vernünftiges tun. Ich will genau wie die anderen was Spannendes erleben.“ Waff, waff! bellte Michas Zwergpudel Loulou. „Der Hund hat immer das letzte Wort“, meinte Henri und lachte. Tatjana blieb gelassen. Sie lächelte nur, als sie sagte: „Ihr täuscht euch, Sportsfreunde! Das letzte Wort hat kein Pudel. Das letzte Wort habe ich! Denn wer müßte wohl Micha und Loulou zurückhalten, wenn ihr auf richtigen Pferden Reiterkämpfe veranstalten wolltet? Oder wenn ihr auf die Idee kämt, ein Wettessen mit Händen voller Pfeffer zu machen?“ Henri blieb stehen. „Also, mit deinem Pfeffervergleich kannst du dich ins Pfefferland scheren“, sagte er wütend. „Warst du vielleicht nicht mit Micha und Loulou in der geheimen Raumfahrtstation unterm Hochmoor?“ setzte Prosper hinzu. „Hast du damals etwa Micha und den Pudel zurückgehalten?“ „Und im Raumschiff Monitor!“ schloß sich Gérard, an. „Ob in der Luft, ob im Weltraum, ob im Meer - nie bist du da ein Spielverderber gewesen, wenn's richtig gefährlich wurde! Und wenn du uns jetzt zu vernünftigen alten Herren machen willst - damals hast du dich jedenfalls nicht wie eine dumme Gans benommen, die um Brüderchen und Hundchen bangt.“ Scharf sagte Tati: „Wollt ihr hier auf der Straße alles ausposaunen? Ja, wir haben im vorigen Jahr Abenteuer erlebt, um die uns alle Schüler in der Welt beneiden würden. Keiner von uns hat durchgedreht, selbst Micha nicht. Aber diesmal wird's eben nichts mit Abenteuer und Nervenkitzel und so - unser Professor Charivari hat das Hochmoor verlassen, allein dürfen wir dort nicht mehr hin - und Marcel, das Superhirn, der Junge, ohne den ihr nicht bis drei zählen könnt, kommt diesmal auch nicht her.“ „Das ist noch lange nicht raus“, murmelte Prosper. Alle schwiegen. Ein Zeichen dafür, wie sehr sie den Jungen vermißten: Marcel, in diesem Jahr fünfzehn, war ein spindeldürrer, blonder Eierkopf mit großen, dicken, runden Brillengläsern. Weil er so viel wußte und so unwahrscheinlich treffsicher urteilen konnte, nannten ihn die anderen Superhirn. „Wir müssen uns eben selber was einfallen lassen!“, fuhr Tati fort. „Vielleicht gibt's hier eine Ballettschule, dann könnte ich täglich meine Übungen machen...“ „Und Micha und Loulou gibst du inzwischen im Kleintierzoo ab, wie?“ höhnte Prosper. „Henri, Gérard und ich spielen dann so lange ´Backe, backe Kuchen´ am Strand!“ „Quatschkopf“, antwortete Tati, aber sie lachte. Doch dann wurde auch sie schweigsam. Und so wanderten die fünf, ihr Badezeug schwenkend, durch das Seebad Marac am Golf von Biskaya. Die Vormittagssonne stand am sonderbar silbrigen Himmel, ständig wehte vom Meer eine sanfte Brise. Der Atlantische Ozean, der hier wahre Tobsuchtsanfälle bekommen kann, zeigte sich - im Gegensatz zu Tatis Begleitern - in bester Ferienlaune. Wer aber die Gruppe mit dem feingeschorenen Zwergpudel nur nach dem Äußeren beurteilte, mochte
meinen, sie sei mit sich und ihren Ferien sehr zufrieden. Kein Wunder: Henri und Prosper trugen flotte, ärmellose Westernanzüge zu leichten Pullis; der stämmige Gérard hatte sich für einen gelben Sportanzug entschieden, so daß er mit seinem Rundkopf wie die Lockfigur einer lustigen Zitronenwerbung aussah. Micha steckte in blauer Farmerkluft und Tati in einem lustig gestreiften Zigeuneranzug. Loulou schnüffelte mißmutig in die Luft. Auf dem Markt roch es nach Fisch, aber schließlich war er keine Katze. Was Henri ein Geheimnis genannt hatte, war das Verschwinden eines Mannes - des von Tati erwähnten Professors. Durch ihn - und mit Superhirns Hilfe - hatten die fünf im vergangenen fahr tolle Weltraumabenteuer erlebt. Im Hochmoor bei Marac waren sie dem kahlschädeligen, strippenbärtigen Professor Doktor Brutto Charivari - den alle Leute für einen harmlosen Gelehrten hielten - zum erstenmal begegnet. Und nur sie hatten erfahren, wer der Mann wirklich war: der Chef einer geheimen unterirdischen Raumfahrtstation, ein Wissenschaftler, der die Ideen einiger der kühnsten Zukunftsforscher bereits in die Tat umzusetzen begann. In seinen Raumstationen, ob auf der Erde, ob auf dem Mond, waren seine Leute längst dabei, der Menschheit neue Lebensräume zu erschließen. Merkwürdige Umstände hatten die Freunde in die geheime Raumfahrtbasis unter dem Hochmoor geführt, und von der „Unterwassergarage“ aus waren sie mit dem Raumschiff Monitor gestartet. „Das waren Zeiten!“ seufzte Prosper. „Vielleicht liegt der Professor erschossen in seinem Befehlsraum!“ meinte Micha. „Quatsch!“ antwortete Henri. Er blieb stehen und zog einen Briefumschlag aus der Tasche. „Und das hier? Habt ihr das vergessen?“ Er entnahm dem Umschlag ein weißes Blatt. „Professor Charivari hatte diese Nachricht beim Bauern Dix hinterlegt: Er ist in unerreichbarer Ferne', heißt es. Wir sollen das Hochmoor nicht betreten, weil dort noch Gefahren lauern, die er nicht eindämmen kann. Weiß er denn, in welchem Zustand das Abwehrsystem über der verlassenen Raumstation ist? Auf jeden Fall geht aus dem Brief hervor, daß er lebt und im Weltraum herumschwirrt. Was hätte die unerreichbare Ferne' denn sonst zu bedeuten?“ „Gib mal her!“ bat Gérard. „Ich möchte den Brief mal selber lesen!“ „Den hast du in voller Länge und Breite vor deinem Mondgesicht!“ erklärte Henri unwillig. „Verlangst du noch eine beglaubigte Abschrift?“ „Eine Schrift würde mir genügen!“ murrte Gérard. „Aber auf diesem Papier er drehte es um, „ist noch nicht mal ein Fliegenklecks, geschweige ein einziger Buchstabe zu sehen!“ Prosper riß ihm das Blatt aus der Hand. Henri blickte verblüfft in das leere Kuvert. Ein unbeschriebener Bogen“, überzeugte sich Tati. Prosper meinte: „Henri hat den Brief wahrscheinlich aus Versehen weggeschmissen und ein leeres Blatt in den Umschlag getan!“ Es steht nichts drauf, überhaupt nichts!“ rief Micha, gemeinsam mit Loulou neben Tati hochhopsend. Der Pudel, der doch gar nichts begriff, knurrte wie ein Rechtsanwalt, dem der Inhalt eines Schriftstücks nicht geheuer vorkommt. Aber war es denn ein Schriftstück - dieses leere Blatt? „Eine dumme Verwechslung“, ärgerte sich Gérard. „Der Brief des Professors liegt wahrscheinlich in unserer Scheune, und du trägst ein Nichts mit dir herum!“ „Mensch, Henri, wo hast du nur deinen Kopf gehabt?“ fragte Prosper. „Dort, wo du ihn hast: auf dem Hals!“ erwidert Henri. Er war jetzt ganz ruhig. „Versehen und Verwechslung kommen überhaupt nicht in Frage. Woher sollte ich so schnell ein blütenreines Blatt gehabt haben, um es anstelle des Briefes in den Umschlag zu tun?“ „Ja“, meinte Tati gedehnt, „das war doch so: der Bauer Dix hat dir das verschlossene Kuvert gegeben, du hast es vor unseren Augen geöffnet, den Brief vorgelesen und sofort wieder in den Umschlag getan. Ich erinnere mich. Und dann stecktest du ihn gleich in die rechte Schrägtasche deiner Weste.“
Gérard lachte trübe. „Ein Geist, so ein winziger Taschenkobold, wird ja wohl nicht am Werk gewesen sein, obwohl es jetzt beinahe so aussieht!“ „Was das Papier betrifft, hat kein Kobold seine Hände im Spiel gehabt - sofern solche Biester überhaupt Hände haben“, meinte Henri bitter. „Seht euch das Blatt mal an! Ist das etwa gewöhnliches Schreibmaschinenpapier, ein Originalbogen oder ein Durchschlag, wie man ihn im Laden kaufen kann?“ Prosper krümmte seinen langen Hals zu annähernder Bananenform. Der kleine Micha reckte sich. Tati und Gérard schoben die Köpfe vor. Sie betrachteten den leeren Bogen. Eine Weile herrschte gespanntes Schweigen. „Laß mich mal fühlen“, forderte Tati. Sie rieb eine Ecke des leeren Blattes vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. „Dünn wie Seidenpapier, aber es fühlt sich steifer an!“ „Das ist kein Papier, sondern ein papierähnlicher Werkstoff“, meinte Gérard jetzt. „Ich brauche nicht Superhirn zu sein, um euch das zu erklären: Papier wurde früher aus Baumwollumpen und Leinenfetzen hergestellt. Heute nimmt man gewöhnlich Kiefern-, Fichten-, Pappel-, Buchen- und Espenhölzer dazu. Trotzdem werden selbst die finnischen und sogar auch die kanadischen Wälder in Zukunft nicht mehr ausreichen, um den Papierbedarf der Welt zu decken.“ „Ja, aber was hat dein gelehrter Vortrag mit dem Blatt zu tun?“ unterbrach Prosper. Gérard nahm es in die Hand. Und mit noch größerer Entschiedenheit erklärte er: „Das ist kein gewöhnliches Papier. Das ist irgendein Kunststoff, den man präpariert hat. Paßt mal auf. Kommt rasch in den Hausflur!“ Die Gefährten und Loulou folgten ihm eilig. „Hier ist's dunkel - jedenfalls schattig genug“, fuhr Gérard fort. „Jetzt will ich euch etwas zeigen! Seht!“ Er legte das Blatt gegen die hölzerne Tür, zog einen Ärmel seines wollenen Pullis herunter und hielt das Ende in der Hand fest. Dann begann er, mit dem gespannten Pulloverärmel über das Papier zu reiben. Als Prosper ungeduldig zu werden begann, ließ er von seinem Zauber ab: „So, und jetzt tippt mal vorsichtig drauf!“ Micha zuckte zurück. „Ich hab einen Schlag gekriegt!“ „Ach wo, das war nur ein leises Knistern“, meinte Tati. Henri streckte den Zeigefinger aus und tippte auf das Blatt. Er zuckte zusammen. „Es hat einen Funken zwischen Fingerspitze und dem Bogen gegeben!“ bemerkte er. Tati kam ganz nahe heran. Plötzlich sträubten sich ihre Haare in Richtung des Blattes. Gérard ließ es los. Schon klebte es an der Haustür! „Henri, gib mir mal das Kuvert!“ bat er. Er sperrte es so weit auseinander, daß es gerade nicht zerriß. Dabei blickte er lange und aufmerksam hinein. „Ha, da habt ihr's!“ rief er. „Das, was uns der Professor geschrieben hat, liegt in Form von schwarzen Pulverkörnchen in der unteren Falte.“ Er schüttete die winzigen Teilchen auf die Hand und näherte sich dem leeren Blatt an der Tür. Sofort wurden die Körnchen wie magnetisch von dem Bogen angezogen und blieben auf ihm haften! „Ich habe das ganze Blatt gerieben, und jetzt hält das Pulver überall. Wenn ich einen Reibschreiber hätte, würde es nur dort haften, wo ich geschrieben hätte“, fügte Gérard erklärend hinzu. „Aber diese - diese Pulverschrift des Professors ist doch wieder abgefallen“, hielt ihm Prosper entgegen. „Was heißt denn da haften?“ „Schließlich sind wir hier an der Küste“, sagte Gérard. „Aber der Reihe nach: Eben habe ich nichts anderes getan, als das Blatt durch Reibung elektrisch aufgeladen. Man nennt diese Erscheinung Reibungselektrizität. Daher auch die Funken und die gesträubten Haare von Tati. Elektrisch geladene Dinge üben Anziehungskraft aus. Man kann sogar einen dünnen Wasserstrahl dadurch ablenken, der aus dem Hahn rinnt. Wegen dieser Anziehungskraft haben auch die Pulverkörnchen gehaftet. In der feuchten Luft schwindet die Anziehungskraft wieder. Vielleicht hat das schon angefangen, als wir den Brief geöffnet haben. Und dann in der Tasche: Bei diesem Wetter schwitzt man, das ergibt einen Dunst in der Kleidung, Nun, da ist die Schrift eben abgefallen. Das hat der Professor sicher vorausgesehen und auch beabsichtigt.“
„Jetzt wird mir alles klar!“ rief Prosper. „Das Schreiben war präpariert!“ „Das Blatt war präpariert“, bestätigte Henri. „Es blieb uns Zeit genug, den Inhalt zu lesen, dann hat sich die Schrift vernichtet, wie Gérard es uns erklärte!“ Er blickte auf das Kuvert, dessen Anschrift lautete: „An Henri, Tatjana, Gérard, Prosper, Micha - oder den von der Feriengruppe, der zuerst eintrifft. Zu Händen des Herrn Landwirts Dix.“ Die Adresse war seltsam genug, vor allem, weil Superhirn nicht erwähnt war, mit dem sich die fünf doch hatten treffen wollen. Die Gruppe, gefolgt von Loulou, ging wieder auf die Straße hinaus. „Die Adresse ist mit Schreibmaschine geschrieben, und der Brief kam über Paris“, meinte Prosper. „Das will nichts heißen. Es würde niemanden auf die Spur des Professors bringen. Er wollte den Inhalt auslöschen.“ „Aber in dem Brief stand doch nichts Besonderes!“ rief Micha verständnislos. „Glaubst du?“ Henri lachte leise. „Meine jungen Freunde, hieß es da - oder so ähnlich - hm. Aber zur Hauptsache: bin in unerreichbarer Ferne! Stimmt´s?` „Ich erinnere mich!“ bestätigte Tati. Henri legte den Finger an die Nase. Er dachte nach. „Ja, und dann: Diesmal haltet Euch in Marac an den Bauern Dix und an den Campingverwalter Bertrand.“ Prosper nickte. „Vergeßt alles, was Ihr im Hochmoor erlebt habt.“ fuhr Henri fort. „Vergeßt die geheime Bodenstation und die Raumschiffe vor der Todesküste. Ja, und vor allem, und zwar dreimal dick unterstrichen: Betretet das Hoch-Moor nie wieder, sucht auch meine Hütte nicht! Zum Schluß dann: Wenn Euch Euer Leben lieb ist! Wir sehen uns nie wieder, aber ich werde immer an Euch denken. Euer getreuer Freund Charivari. Stand das in dem Brief oder nicht?“ „Ziemlich genau“, erwiderte Gérard stirnrunzelnd. Schon bei der Begrüßung am Vortage, war der Bauer, Herr Dix, damit herausgerückt, daß sie in diesem Sommer nicht mehr im Hochmoor zelten dürften. Und er bestand auch im folgenden Gespräch darauf. „Wie bitte?“ fragte Henri erstaunt Herrn Dix „Damals hatten Sie's uns doch extra erlaubt! Wir wissen doch, daß wir nicht an die Steilküste und zu den Todesklippen dürfen! Aber bei der Bruchsteinkapelle ist es schöner als am überfüllten Badestrand oder auf dem Campingplatz von Marac!“ „Das weiß ich“, sagte der Bauer lächelnd. „Und bisher kam dort auch kaum jemand hin. Aber wenn man nicht aufpaßt, wird bald auf jeder Wiese rund um Marac ein Campingwagen stehen. Außerdem habe ich dem Professor meinen Anteil am Hochmoor verkauft!“ „Dem Professor Charivari?“ rief Micha hoffnungsvoll. „In Paris ist er? Kommt er nicht her? Wenn ihm jetzt das Land gehört, wird er uns bestimmt hinauflassen!“ Henri dachte an die geheime Raumstation unter dem Hochmoor und gab Micha einen Rippenstoß. „Wenn der Professor über einen Rechtsanwalt mit mir verhandelt, braucht er selber nicht im Lande zu sein, Micha“, sagte Herr Dix. „Ich hörte, er hat sich nach Kanada zurückgezogen“, mischte sich die Bäuerin ein. „Da, in der Wildnis, will er wohl seine Gesteinsforschungen fortsetzen.“ „Und Sie haben seine Adresse nicht?“ fragte Gérard niedergeschlagen. „Nein. Und auch der Rechtsanwalt wollte sie nicht nennen“, erwiderte Herr Dix. „Ich bekam den Kaufpreis und eine Summe, um das Gelände einzäunen zu lassen. Ich habe auch Schilder aufgestellt: Vorsicht, Steilküste! Betreten verboten! Lebensgefahr!“ Henri und Tati wechselten einen Blick. „Na ja“, sagte der Bauer arglos. „Wir wollen ja nicht, daß Leute von der Steilküste ins Meer stürzen.“ „Hat sich unser Freund Superhirn gemeldet?“ erkundigte sich Prosper. „Nein. Darüber wundern wir uns auch“, meldete sich Frau Dix. „Im vorigen Jahr war er viel früher in Marac als ihr. Aber sie schwieg, denn ihr Mann hatte sich geräuspert.
„Eure Campingausrüstung ist noch auf dem Dachboden“, fuhr der Bauer fort. „Eßt erst mal hier, dann blast eure Luftmatratzen auf und seht zu, wie ihr für die Nacht in der Scheune zurechtkommt. Morgen sprecht ihr mit dem Campingplatz-Verwalter Bertrand. Der ist ja auch ein alter Freund von euch. Diesmal wird er ein hübsches Zeltplätzchen freihaben, denn das Lager ist bedeutend erweitert worden.“ „Ferien in Marac - ohne den Professor und ohne Superhirn“, murmelte Micha bald darauf beim Einschlafen. „Na, das wird langweilig werden.“ 2. Das Gespenst von Marac „Gehen wir zu Herrn Bertrand, der angeblich ein hübsches Zeltplätzchen für uns übrig haben soll!“ sagte Tati. Sie bogen in das riesige Campinglager vor dem Badestrand ein. „Das ist, als hätte man einen riesigen Malkasten in die Gegend geknallt“, murmelte Gérard. „Seht! Die Zelte und Wagen kleben fast aneinander.“ Der Anblick des Campingplatzes war tatsächlich hübsch. Aber die Freunde, an die Freiheit im Hochmoor gewöhnt, sahen das alles jetzt mit anderen Augen. „Wo soll ich hier meine Ballettübungen machen?“ seufzte Tati. „Wenn man hier ein Bein schwingt, reißt man gleich drei Zelte um!“ „Und wie wird's erst am Strand sein!“ maulte Micha. „Da kriegt man bestimmt nur noch Stehplätze!“ „Ich will nicht wie in einem Bündel Spargel meine Ferien verbringen“ sagte Prosper. Nach einer halben Stunde, als ihnen der Schweiß fast in die Augen rann, trafen sie endlich den Verwalter des Campingplatzes, ihren alten Freund, Herrn Bertrand. „Diesmal bleibt euch wohl nichts anderes übrig, als hier zu zelten“, begrüßte er die fünf, während Loulou freudig an ihm hochsprang. „ich weiß, im Moor geht's nicht mehr; na, ich habe euch ein hübsches Plätzchen reserviert.“ „Puh!“ stöhnte Micha. „Aber wir müssen doch die Sachen nicht gleich herschleppen?“ „Nein, nein“, meinte der Verwalter lächelnd. „Geht erst mal an den Strand, und verschnauft ein bißchen.“ Henri blickte sich um. „Komisch“, sagte er, „ich sehe da überall Gestalten, die ich noch nie auf einem Campingplatz bemerkt habe...“ „Was denn?“ rief Micha neugierig. „Ritter!“ erwiderte Henri. „Lauter Ritter! Vor, neben oder hinter jedem fünften, sechsten Zelt steht ein Ritter!“ „Ein Ritter?“ fragte Gérard verständnislos. Im grellen Sonnenlicht hatte er dauernd die Augen zugekniffen, als er durch das Lager gegangen war. Doch Prosper staunte. „Klar! Henri hat recht! Ich habe mich auch gewundert!“ „Ja!“ schrie Micha. „Da! Jetzt sehe ich auch einen! Ich dachte, das ist ein Taucher, der nachher ins Meer springen will!“ „Ritter?“ Tati drehte sich fassungslos im Kreise. „Wahrhaftig! Man könnte glauben, die Sonne hätte unsere Gehirne zum Schmelzen gebracht. Was sollen Ritter auf einem Campingplatz? Jahrhundertealte Spukgestalten in Lebensgröße - am hellichten Tag in einem modernen Ferienlager?“ Herr Bertrand lachte. „Das ist jetzt hier große Mode!“ sagte er. „Natürlich laufen hier keine Ritter herum - das sind nur aufgestellte Ritterrüstungen. Und auch keine echten, Ich meine: große Souvenirs.“ „Lebensgroße Andenken!“ rief Prosper. Es klang, als meine er: Wer so etwas kauft, hat einen Klaps! Wieder lachte Herr Bertrand. „Ein findiger Kopf macht aus dem Wappenzeichen von Marac viel Geld. Und wißt ihr, wo er die Figuren herstellt?“ „In der Schmiede!“ meinte Gérard. „Nein!“ Bertrand grinste. „Auf dem Schrottplatz! Auf dem Autofriedhof von Marac!“ „Wollen Sie damit sagen, die Ritter sind aus Autoblech?“ rief Prosper.
„Genau! Mit Schneidbrenner, Blechsäge, Meißel, Hammer und Bohrer beschafft sich der Meister Duval die Teile die er für die Ritterrüstungen braucht. Dann lötet und schweißt er sie zusammen, schraubt, was zu schrauben ist und bespritzt das Ganze mit Grausilberlack.“ „Aber wieso macht er ausgerechnet Ritterrüstungen?“ Tati schüttelte den Kopf. „Die passen doch nicht ins Ferienlager! Hätte er aus dem Autoblech nicht Fische machen können?“ Herr Bertrand blinzelte. „Ritter sind beliebter! Die stellen sich die Touristen zu Hause gern neben die Eingangstür. Auch hat die Wappengestalt von Marac besonderen Wert.“ „Und warum?“ fragte Micha. Herr Bertrand erwiderte in fast geheimnisvollem Ton: „Auf den westlichen Hängen steht das Schlößchen Roche Clermont; ein kleiner, fast völlig zugewachsener Bau, der nur mühsam zu erreichen ist. Touristen gehen da nicht mehr hin, denn die Wege sind steil, und unten ist kein Parkplatz.“ „Ja und?“ drängte Micha. „Dort oben soll das Gespenst von Roche Clermont hausen - eine alte Spukgestalt, der Ritter Marmozan! Das ist die Wappengestalt von Marac, die sich Herr Duval zum Vorbild genommen hat!“ „Den, den Ritter...“, stotterte Micha. „Marmozan!“ sagte Herr Bertrand. „Zwar hat Duval ihn nie gesehen. Kein Mensch hat ihn je erblickt - außer einer alten Dame, die behauptet, sie sei mit ihm Omnibus gefahren.“ Tati und die älteren jungen lachten. Doch Micha stand da mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen. „Der Ritter Marmozan, so geht eine alte Sage“, berichtete Herr Bertrand weiter, „ist einst von seinem Bruder eingesperrt worden und verhungert. Als Gespenst klappert er nun da herum.“ „Am Schloß?“ vergewisserte sich Micha. „Nur im Schloß, keine Bange“, beruhigte Herr Bertrand. „Vergiß nicht, Kleiner: Auch das ist nur ein Märchen. Mancher Heimatforscher hat das Gemäuer seit Jahren durchsucht, von unten bis oben, von hinten bis vorn, bei Tag und bei Nacht.“ „Und keiner hat was von diesem - diesem Ritter Marmozan bemerkt?“ fragte Prosper. „Keiner. Vor vielen Jahren war sogar eine Küstenstation in Roche Clermont untergebracht“, fügte Herr Bertrand hinzu. „Allerdings war da das Schloß noch nicht so überwuchert. Nun, die Wachen, die dort wohnten, begegneten dem Ritter nie. Trotzdem - die Einwohner von Marac meiden das Schloß. Sie sind abergläubisch.“ Micha war neugierig genug, sich nach dem Schrottplatz zu erkundigen. Ach will sehen, wie Herr Duval aus kaputten Autos Schrottritter macht!“ verlangte er. Tati hatte keine Lust, an Sagen, Schrott und Schweißgeräte zu denken. Es war auch ohne Schweißgeräte heiß genug. Sie wollte an den Strand. Auch die Älteren hatten jetzt nichts anderes im Sinn, und so vergaß Micha vorübergehend den Ritter Marmozan. Niemand ahnte, daß sie ihm bald begegnen sollten, aber nicht nur einer Rüstung aus Autoblech sondern dem lebendigen Ritter von Roche Clermont. Es war, wie Micha befürchtet hatte: Am Strand sah es tatsächlich so aus, als fände man wegen des Gedränges nur Stehplätze. „Seit wann liegt das Meer in der Luft?“ spottete Prosper. „Die Leute gucken alle in die Höhe, als schwärmen die Fische in den Wolken!“ Ein donnerndes Brausen verschluckte seine Worte. Loulous verängstigtes Winseln war nicht mehr zu hören. Und nun bemerkten die fünf, was das Publikum so fesselte: Über der See, parallel zur Küste, schoß eine Flugzeugstaffel dahin. Doch sie verfolgte offensichtlich kein Ziel. In dauernd wechselnden, staunenswerten Formationen - wie an der Schnur gezogen - blieb sie stets in Sichtweite. Einmal bildete sie ein rundum sausendes, senkrechtes Rad über dem Wasser, dann wieder ein waagerechtes Karussell. Bevor man dazu kam, die tollen Flugfiguren richtig zu betrachten, lösten sie sich auch schon wieder auf und überraschten mit einer blitzschnellen Umgruppierung. Sie formierten sich Tragfläche an Tragfläche zu einer Reihe und kamen wie ein „fallender Vorhang“ herabgestürzt. Schreckensrufe
erklangen. Micha quietschte vor Entsetzen. „Ist das ein Luftkampf?“ kreischte er. Die Flugzeuge waren im Augenblick hoch in der Luft, das Dröhnen wurde schwächer. So hörte man Henris Antwort: „Luftkampf? Quatsch! Hast du nicht gesehen, daß das ein fabelhafter Ringelpiez war? Das ist die Kunstflugstaffel der französischen Luftwaffe!“ „Jetzt weiß ich!“ Gérard patschte sich an die Stirn. „Die macht hier Zirkus zur Unterhaltung der Fremden!“ „Natürlich!“ rief Prosper. „Jedes Flugzeug hat an Rumpf und Tragflächen die Farben der Trikolore, aber in Zebrastreifen! Das ist die Kunstflugstaffel der Aérobats.“ „Ach so“, sagte Tati. „Ich kenne allerdings nur die britischen Flugakrobaten, die Red Arrows; diese roten Pfeile habe ich vor zwei Jahren in England gesehen. Das sind wohl die berühmtesten.“ „Stimmt“, bestätigte Prosper, „aber die Aérobats sind auch nicht zu verachten „Alles nichts gegen Raketen!“ rief Micha aufgeregt. „Alles nichts gegen Professor Charivaris Raumschiffe, die in der Luft, im Weltraum und im tiefen Meer...“ Henri hielt ihm rasch den Mund zu. „Bist du blöde?“ Doch plötzlich imponierte auch ihm die tolle Vorführung der Aérobats nicht mehr; er wußte: Micha hatte recht. Was war das alles hier - im Vergleich mit einem Flug im Raumschiff Monitor? „Freunde“, sagte er, „versuchen wir da irgendwo am Rand einen Platz zu finden. Ich will wenigstens mal kurz ins Wasser gehen!“ Das war den anderen recht; sogar Loulou tapste in den letzten, seichten Ausläufern der Brandung umher, dort, wo die Muschelschalen lagen. Bald aber erinnerte sich Micha wieder an den Ritter Marmozan. Er wollte unbedingt die Werkstatt des Meisters sehen, der aus Autoblech Rüstungen machte. Die Geschichte vorn Ritter Marmozan spukte ihm buchstäblich im Kopf herum. Er hoffte wohl, in der Werkstatt einen gefahrlosen Abglanz des Grauens zu finden - und in dem Rüstungsmacher fast so etwas wie ein gutmütiges Gespenst. Doch Meister Duval war ein moderner junger Mann, und sein Arbeitsplatz war ein eher trostloses Gelände am Ortsrand. Hier häuften sich Autos aller Typen und Marken so, wie sie in der Umgebung liegengeblieben oder aus der Ferne herangeschafft worden waren. Ober dem Zauntor hing ein Schild mit der Aufschrift: „Kaufe Autowracks zu Höchstpreisen! L. Duval, Kunstversand.“ „Kunstversand!“ las Tati laut lachend vor. „Das Zeug aus zurechtgehämmertem Autoblech versendet er wohl auch noch ins Ausland?!“ Der junge Duval bestätigte das kurz darauf: „Ich kriege Bestellungen aus aller Welt“, behauptete er, „Da, aus diesem Kotflügel hämmere ich ein Visier. Der Helm stammt aus zusammengeschweißten Stücken einer Kofferraumklappe, der Brustpanzer aus einem Stück Bus-Seitenteil!“ Die Gefährten bestaunten die fertigen, grausilber lackierten oder angespritzten lebensgroßen Rüstungen. „Glauben Sie an den Ritter Marm... Marm... ?“ fragte Micha, der sich trotz seiner Neugier den Namen noch immer nicht richtig gemerkt hatte. „Marmozan auf Schloß Roche Clermont!“ Meister Duval lachte und fuchtelte mit seinem Hammer herum. „Wenn ich die Rüstungen verkaufe, muß ich wohl daran glauben“, sagte er. „Ich muß wenigstens daran glauben, daß an der Sage etwas Wahres ist, oder?“ „Na ja“, meinte Prosper und grinste dabei, als sie sich verabschiedet hatten. „Das ist eben Herrn Duvals Art, mit dem Müllproblem fertig zu werden. Ganz natürlich! Immerhin besser, als wenn der Schrott auf Wiesen oder an Waldrändern herumliegt!“ „So, Micha, bist du nun beruhigt?“ fragte Tati. „Ach wäre erst beruhigt, wenn ich wüßte, wo der Professor ist“, jammerte Micha. „Daß wir ihn nie wiedersehen sollen, ist zum Heulen! Auch, daß wir nichts von Superhirn wissen!“ „Meinst du, uns gefällt das?“ brummte Gérard. „Guck dir die Gesichter von Henri und Prosper an!“ Tati warf dem älteren Bruder einen prüfenden Blick zu. „Hm“, murmelte Henri, „wir hatten uns für gestern beim Bauern Dix verabredet. Superhirn ist nicht
nur klug, er ist gewöhnlich fast noch pünktlicher als eine elektronische Armbanduhr! Ich denke, wir werden wenigstens einen Brief von ihm kriegen.“ Sie gingen noch einmal durchs Campinglager; sie wollten sich jetzt ihren Zeltplatz zeigen lassen, um ihre Sachen dann vom Bauern Dix zu holen. „Ihr habt euch doch vorhin nach Schloß Roche Clermont erkundigt - und nach dem Ritter Marmozan?“ fragte Herr Bertrand. „Jaja“, bestätigte Tati. „Aber wir haben das Blechzeug inzwischen gesehen, aus dem Herr Duval seine Figuren macht. Wenn ich mir´s recht überlege, ist gegen dieses unedle Material nichts zu sagen. Sogar der berühmte Picasso hat für seinen Büffelkopf eine alte Fahrradlenkstange als Hörner verwendet.“ Jedenfalls ist dieser Ritter Marmozan eher etwas zum Lachen“, kam Gérard auf das Thema zurück, „Hm...“ Herr Bertrand rückte an seiner Baskenmütze. Vielleicht seht ihr das bald ganz anders!“ meinte er. „Aber jetzt lauft zum Bauern Dix!“ Der Bauer Dix wartete schon an der Gartenhecke. „Tja“, empfing er die Gruppe, „mit dem Zelten, fürchte ich, wird es diesmal nichts - weder im HochMoor noch im Campinglager!“ „Aber“, rief Tati, „Sie haben doch gesagt ...“ „Hatte ich“, unterbrach der Bauer mit Grabesstimme. „Das gilt nicht mehr! Auch in meinem Haus werdet ihr nicht bleiben!“ „Wa-wa-was haben wir denn getan?“ rief Prosper. „Die Po-polizei will uns doch nicht etwa wegschicken?“ „Weshalb auch?“ keuchte Gérard trotzig: „Das wäre ja noch schöner!“ Standhaft erklärte Henri: „Ein gegebenes Wort gilt! Auch für Sie und Herrn Bertrand!“ „Daß wir Ihnen im Haus zuviel Arbeit machen würden, begreife ich“, mischte sich Tati ein. „Ebenso, daß uns das Hochmoor versperrt ist. Aber Sie hatten uns dafür versprochen, daß wir auf Bertrands Campingplatz zelten könnten!“ „Ich weiß das alles, ebenso wie Herr Bertrand“, brummte der Bauer. „Doch inzwischen hat ein anderer ein Machtwort gesprochen, einer, dem wir beide schlecht widerstehen können.“ „Etwa - etwa der Ritter Marmozan?“ hauchte Micha entsetzt. Einen Augenblick war Herr Dix ganz offensichtlich verblüfft. Dann sagte er gedehnt: „Wenn du mich so fragst, Micha - dann ja.“ Er holte seine Tabakspfeife aus der Tasche und schob sie zwischen die Zähne. „Der Ritter Marmozan erwartet euch auf Schloß Roche Clermont!“ murmelte er. Die fünf erstarrten. Endlich, nach ein paar Sekunden, lachte Tati. Doch es klang ziemlich verkrampft. „Der Herr Ritter erweist uns die Ehre einer Einladung?“ spottete sie. „Das Gespenst von Roche Clermont? Womöglich sollen wir die Ferien über bei ihm wohnen?“ „Du hast mich richtig verstanden“, bestätigte der Bauer. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und stopfte sie mit Tabak aus einem Lederbeutel. „Roche Clermont ist von heute euer Ferienaufenthalt!“ „Bis - bis wir selber Gespenster geworden sind?“ rief Prosper. „Nee, Herr Dix! Kein Mensch kann uns zumuten, mit Micha in einem Spukschloß zu hausen. Das - das ist geschmacklos!“ „Unverschämt ist das“, grollte Gérard. „Wer hat sich denn so was ausgedacht? Ich möchte in meinen Ferien nicht von Angstschreien geweckt werden!“ Ungerührt paffte der Bauer vor sich hin. Henri beobachtete sein Gesicht genau. Plötzlich gab er Prosper einen Stoß in die Rippen. Doch er mußte erst tief atmen, bevor er es herausbrachte: „Mensch, begreifst du nicht, wen Herr Dix mit Marmozan meint?“ „Was ist?“ wisperte Gérard, sich vorbeugend. „Was hast du zu Prosper gesagt?“ „Der Ritter Marmozan ist eine Tarnung“, behauptete Henri. „Tarnung?“ rief Micha. „Wofür? Für wen?“ „Für den Professor!“ zischte Henri. „Für unseren Professor Doktor Brutto Charivari!“
Herr Dix hatte die Jungen und das Mädchen an der Hecke stehenlassen und war zum Haus geschlendert. Anscheinend wollte er sich in ihre Überlegungen nicht einmischen. „Charivari? Charivari im Schloß Roche Clermont?“ stammelte Prosper. „Du glaubst, er hat seine Raumstation in die westlichen Felsen verlegt? Im Schutz der alten Sage - und weil das alte Gemäuer schwer zu erreichen ist - fühlt er sich dort sicherer als im Hochmoor?“ „Klar, das meint Henri!“ sagte Gérard hastig. Von seinem runden Gesicht waren alle Sorgenfalten auf einmal wie weggewischt. „Bertrand und Dix werden auch jetzt noch nicht wissen, was Charivari wirklich macht und welche Mittel er hat, Raumstationen so schnell zu errichten wie Fertighäuser, unbemerkt wie Spinnennetze - im Weltall, auf dem Meeresgrund oder hoch zwischen Felsen!“ „Sie werden denken, was sie immer gedacht haben“, meinte Tati, „nämlich, daß der Professor über seinen Gesteinsbüchern sitzt und sich um die Welt nicht kümmert. Wahrscheinlich nehmen sie an, er hat sich nach Roche Clermont verzogen, um ungestörter zu sein!“ „Ja, weil die angebliche Spukgestalt Marmozan die Einheimischen davon abhält, ihn zu belästigen“, meinte Gérard und grinste. Der Bauer kam, aus seiner Pfeife paffend, zurückgeschlendert. Er kniff ein Auge zu. „Nun, was habt ihr beschlossen?“ fragte er listig. „Erst einmal, daß wir Ihnen nicht auf den Leim gehen, Herr Dix!“ erklärte Prosper lachend. „Von wegen Ritter Marmozan! Wer uns da nach Roche Clermont eingeladen hat, ist kein Geist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut!“ „Der Professor!“ strahlte Micha. „Das glaube ich auch! Wenn der Professor Charivari im Schloß ist, habe ich keine Angst! Der beschützt uns vor allen Geistern der Welt! Bitte, bitte, Herr Dix, fahren Sie uns gleich hin!“ „Wir können die Zelte, Luftmatratzen, Schlafsäcke und all das andere Zeug nicht die Felsen hochschleppen“, erklärte Tati. Der Bauer stieß eine besonders große Rauchwolke aus seiner Pfeife aus, als er sagte: „Eure Sachen sind längst nicht mehr hier - außer einem Schuh, der der Größe nach Loulou gehören muß.“ Er verbesserte sich: „ich meine natürlich Micha.“ Mit hochgezogenen Brauen fragte Henri: „So, so - unser Zeug hat wohl auch der Ritter Marmozan geholt - wahrscheinlich mit einer Maschine der Kunstflugstaffel?!“ „Das nun gerade nicht“, antwortete Herr Dix lächelnd, „mein Schwager hat alles im Kombiwagen bis zum Berghang gefahren. Für den steilen Pfad zum Schloß hat er sich die beiden Eselchen vom Bauern Cambronne geborgt.“ „Und wie kommen wir nach Roche Clermont?“ erkundigte sich Henri. Und er wollte noch etwas anderes wissen: „Sie haben uns noch nicht gesagt, wem das Schloß nun wirklich gehört, Herr Dix“, erinnerte er. „Wie steht's da mit Wasser und elektrischem Licht? Mit Kochgelegenheit, mit Heizung und so weiter?“ „Kann man von Roche Clermont überhaupt noch aufs Meer schauen?“ fragte Prosper. „Da soll ja mal eine Küstenstation drin gewesen sein, aber das Schloß ist jetzt so zugewachsen, daß man vorn Strand aus keine Turmspitze mehr sieht!“ „Halt, halt, nicht alle Fragen auf einmal!“ wehrte Herr Dix lachend ab. „Zuerst das Wichtigste, aber das dürfte inzwischen wohl klar sein: Das Schlößchen Roche Clermont gehört eurem Freund, dein Professor Charivari.“ „Hurra!“ schrie Micha. „Ja“, fuhr der Bauer fort, „der Professor hat das Schloß dem letzten Herrn von Clermont abgekauft und zwar über einen Pariser Notar. Die Hütte im Moor ist ihm zu klein geworden.“ „Aber Ihre Frau meinte, Professor Charivari sei in Kanada!“ rief Tati. „Und in dem Brief stand nichts von Roche Clermont!“ Herr Dix sagte augenzwinkernd: „Glaubt, was ihr selbst seht! Um die übrigen Fragen zu beantworten: Das Schlößchen war tatsächlich vor vielen Jahren Küstenstation. Zu diesem Zweck hatte man's innen etwas umgebaut. Elektrisches Licht ist vorhanden. Ebenso Wasseranschluß aus einer reinen Quelle. Eine Kochplatte habe ich mit hinaufgeschickt, denn es gibt dort auch Netzanschluß. Hm - und sonst?
Für einen Tennisrasen verbürge ich mich nicht, auch nicht für einen Fußballplatz.“ Gérard machte ein Gesicht, das für die anderen etwa ausdrückte: Jede Erklärung ist unnötig. Wenn Charivari sich da eine Raumfahrtbasis gebaut hat, wird alles vorhanden sein, was man sich wünschen kann! Wir werden ein technisches Schlaraffenland vorfinden, genau wie wir's unter dem Hochmoor gesehen haben. Und es wird genauso raffiniert getarnt sein! Aber es ist gut, daß wir uns dumm stellen ... Trotzdem fragte er: „Wissen die Leute in Marac, daß das Schloß dem Professor gehört?“ „Außer mir und meiner Frau, den Bertrands, meinem Schwager Victor und dem Bauern Cambronne ahnt niemand was“, erwiderte Herr Dix. „Alle anderen mögen glauben, Roche Clermont sei verwaist. Seit Jahrzehnten kümmert es sowieso keinen mehr.“ 3. Eine neue Raumfahrtstation? Das Gebäude auf den zerklüfteten, verkrauteten, von Krüppelbäumen bedeckten Felsen war alles andere als ein Märchenschloß. Es verdiente die Bezeichnung Schloß oder Schlößchen gar nicht. Es ähnelte auch nicht im entferntesten einem prunkvollen Residenzsitz mit Gartenanlagen, Marställen, Statuen, künstlichen Teichen, Pavillons und Freitreppen - noch weniger war es ein malerischer Sommersitz mit Blumenrondells, steinernen Vasen und Gartenbänken. „Das ist ja nur eine olle Burg!“ ächzte Micha. Aber zu einer Burg fehlten die Mauern mit ihren Zinnen, die Söller, die Wehrgänge ... „Sieht aus, als hätte hier ein Riese Murmeln gespielt“, keuchte Gérard. „Nee - Pfefferkuchenstücke aufeinandergeklebt“, meinte Tati. „Die Steine haben jedenfalls diese Farbe. Der Turm ist rund und plump und sieht richtig gequetscht aus, als hätte jemand draufgesessen: wahrscheinlich Gérards Riese. Das Wohnhaus wirkt wie in den Turm reingeschoben.“ „Nichts als eine große Hundehütte für den Ritter Marmozan“, witzelte Prosper. „Aber im Ernst“, fügte er hinzu, „das hat Professor Charivari wieder mal genial hingekriegt! Oben ein Steinhaufen, darunter die modernste Weltraumstation! Los, gehen wir rein!“ in diesem Augenblick bog der Bauer Cambronne mit seinen beiden Eselchen um die Ecke des Hauses. „Seid ihr die Feriengäste?“ rief er. „ja!“ erwiderte Gérard mit Schauerstimme. „Der Ritter Marmozan hat uns eingeladen!' Herr Cambronne war ein kleines, altes Männchen, knorrig wie die vom Wind gekrümmten Krüppelbäume. „Ich danke für den Ritter Marmozan“, krächzte er, „hier hielten mich keine zehn Esel, selbst wenn sie viel störrischer wären als meine beiden.“ Er musterte die Gruppe, wobei er sich sein stoppliges Kinn rieb. ,Na ja“, meinte er, „ängstlich seht ihr nicht aus. Und es ist ja nicht bekannt, daß der Ritter jemandem was getan hätte. Trotzdem ist es kein gemütlicher Ort. Der ganze Berg scheint mir nicht geheuer. Habt ihr gesehen, wo das Flugzeug abgestürzt ist?“ „Welches Flugzeug?“ fragten Henri, Gérard und Prosper wie aus einem Munde. Herr Cambronne strich sich wiederum das stopplige Kinn. „War da nicht so eine Kunstflugvorführung am Strand?“ „Von der französischen Staffel!“ rief Tati. „Aber da ist kein Flugzeug abgestürzt!“ „Doch!“ behauptete Herr Cambronne. „Der Schwager vom Bauern Dix, Victor, der hat's gesehen! Das heißt eigentlich seine Frau. Als wir euer Zeug vom Kombiwagen auf die Esel verluden, erzählte sie's uns. Ihr Garten liegt am Fuß des Felsbergs. Da hat sie gestanden und hat die Vorführung mit angesehen. Die Flugzeuge sind dann wie ein Keil nach Süden abgedreht und weggeflogen anscheinend zu ihrem Heimatflugplatz.“ „Der ist in Point Blanc“, sagte Prosper. „Wir haben sie nach der Luftschau abfliegen sehen, genau in diese Richtung, und zwar vollzählig.“ „Eins ist aber hier aufs Felsmassiv gestürzt', beharrte Cambronne. „Victors Frau kann sich das nicht ausgedacht haben. Sie sagte, eine Tragfläche hätte den Berg gestreift. Das Ding muß irgendwo im
Unterholz runtergegangen sein. Landeinwärts. Weiß der Teufel, wie man da hinkommen soll!“ „Ausgeschlossen!“ rief Henri. Er blickte in die angegebene Richtung, aber dort sah er nichts als natürliches Geröll, ein Auf und Ab von Felsbuckeln und Mulden, zähe, schiefgewachsene Bäume und undurchdringliches Gestrüpp. Nichts deutete darauf hin, daß hier ein Unglück passiert war. „Da müßte doch etwas brennen! Zumindest wäre eine Rauchwolke zu sehen!“ sagte er. „Und die übrigen Maschinen der Staffel würden über der Absturzstelle kreisen“, fügte Tati hinzu. „Wir haben erlebt, welch großartigen Kontakt sie hatten! Wäre da eine Maschine runtergegangen, hätten es die anderen sofort bemerkt!“ „Tati hat recht!“ rief Micha. Er beschattete die Augen mit der Hand. „Ich sehe nichts! Kein Suchflugzeug kreist in der Luft! Ich höre auch kein Motorengeräusch!“ „Victors Frau hatte mit der Feuerwehr telefoniert, und da waren schon zwei Meldungen eingegangen!“ berichtete Cambronne stolz. „Was sagt ihr nun?“ „Auch eine Feuerwehr haben wir nicht gesehen“, erklärte Gérard. „Auf dem Pfad waren wir die einzigen menschlichen Lebewesen.“ „Die Feuerwehr kann hier nicht herauf“, belehrte sie der Bauer. „Sie hat ja keine Esel wie ich; sie ist vollmotorisiert. Sie wird sich zehn Kilometer weiter über einen breiteren Weg voranzukämpfen versuchen. Wenn der Gendarmerie-Hubschrauber von Süden käme, könnte man ihn hier nicht hören. Der Wind weht von See. Und der Hubschrauber fliegt womöglich sehr tief. Aber wenn keine Explosion stattgefunden hat, ist die Unglücksmaschine vielleicht gut zu Boden gekommen. So schneeweiß, wie sie ist, wird man sie gleich erkennen!“ „Schneeweiß?“ fragte Henri verblüfft. „Wer war schneeweiß?“ „Na, dieses - dieses Staffelflugzeug!“ stotterte Herr Cambronne. Prosper lachte. „Nichts gegen Herrn Victors Frau!“ rief er. „Der ist bei der Hitze wahrscheinlich eine weiße Maus über die Augen gelaufen! Die Maschinen der Kunstflugstaffel der Aérobats sind nicht schneeweiß. Sie haben an Rumpf und Tragflächen die blau-weiß-roten Farben der Trikolore! Unter einem schneeweißen Flugzeug stellt man sich so eine Art fliegenden Schwan vor!“ „Klar!“ Auch Gérard grinste. Tati runzelte die Stirn, als fürchte sie jetzt, der Bauer habe am hellen Tage zuviel Wein getrunken. „Vielleicht hat die Frau eine Wolke gesehen“, meinte Micha. Altklug fügte er hinzu: „Frauen verstehen sowieso nichts von der Technik!“ Tati gab ihm einen leichten Klaps. „Hm!“ Herr Cambronne hörte nicht auf, sich das stopplige Kinn zu reiben, während seine Eselchen weltvergessen staubiges Gras rupften. Es schien ihnen zu schmecken wie den Menschen das feinste Gemüse. „Hin, ich werde ja erfahren, was die Feuerwehr festgestellt hat. Nun muß ich mich aber auf den Weg machen. Ich wünsche euch alles Gute. Eure Sachen habe ich erst mal in den Schuppen gelegt!“ „Schuppen? In welchen Schuppen?“ rief Micha. „Hinterm Haus“, erwiderte Cambronne. „Ins Schloß wollte ich nicht.“ Er kicherte. „Hatte keine Lust, den Ritter Marmozan zu stören!“ Als der Bauer mit den beiden Eseln auf dem Pfad verschwunden war - buchstäblich schlugen die Zweige hinter ihm und den Tieren zusammen -, rief Micha: „Ich will zum Professor!“ Das wollten die anderen auch. Sie eilten zur schiefen Tür des Wohnhauses. Henri klopfte an. „Stärker!“ rief Prosper. „Die Tür ist ja so dick wie eine Schiffswand!“ Henri und Gérard schlugen mit den Fäusten dagegen. Drinnen blieb alles still. „Vie-vie-vielleicht ist der Professor Charivari doch nicht in der Burg?“ stammelte Micha. „Wenn uns nun“, er schluckte, „der Ritter Marmozan eine Falle gestellt hat?“ „Unsinn!“ murmelte Henri. Er blickte auf das Türschloß. „Seht mal, der Schlüssel steckt! Und was für ein Schlüssel! Das ist ja schon eher eine Brechstange mit einem Ring dran!“ Ächzend drehte er ihn um. Es rumpelte gewaltig im Schloßwerk. Dann ließ sich die schwere Tür mit
vereinten Kräften öffnen. Sie knarrte allerdings schauerlich in den Angeln. Sie betraten einen winzigen, dunklen Vorraum, nicht größer als ein alter Fahrstuhl. Durch eine zweite Tür gelangten die fünf in einen kahlen Gang. Der Fußboden bestand aus rohen Brettern. Eine alte, geborstene Wandtafel stammte wohl noch aus den Zeiten, als Roche Clermont Küstenstation gewesen war. Eine Glühlampe hing von der Decke herab. „Da sind überall Türen!“ sagte Henri. „Die führen in die vorderen Räume mit Blick zum Meer“, meinte Tati. „Aber rechts entlang muß es zum Turm gehen“, drängte Prosper. „Dort wird Charivari seine Raumstation haben!“ „Aber wo sonst?“ murmelte Gérard. „Puh - wenigstens ist's hier angenehm kühl“, flüsterte Tati, als sie den Gang entlangtappten. Die wiederum sehr starke Tür zum Turm ließ sich leicht aufstoßen. Verblüfft standen die Freunde in einem riesigen, dämmrigen, fast völlig runden und gänzlich leeren Raum. „Das Untergeschoß des Turms“, sagte Henri. Auch er dämpfte unwillkürlich seine Stimme. „Sieht nicht gerade nach einer Raumstation aus“, brummte Gérard enttäuscht. „Mensch, sein Geheimnis bindet Charivari doch den Leuten nicht auf die Nase. Das weißt du doch!“ ereiferte sich Prosper. „Erinnerst du dich nicht an die Hütte im Moor? Da drin sah´s aus, als hause ein Verrückter zwischen kaputten Möbeln und Kisten. Und wo war Charivaris Arbeitsplatz wirklich?“ „Tief drunter in der Erde“, sagte Tati nachdenklich. „Und so wird's auch hier sein“, hoffte Henri. Im vergangenen Jahr hatten die Freunde unter der erwähnten Hütte nichts anderes erwartet als ein Gewirr von Felsgängen, die zur Steilküste führten. Statt dessen hatten sie supermoderne, blitzsaubere Räume angetroffen wie in einem gewaltigen Werkbüro: alles war durch indirektes Licht erhellt, die Zimmer waren durch Schleusen voneinander getrennt; es gab Türen, die sich automatisch öffneten, ein Selbstbedienungskasino, in dem das fertige Essen portionsweise auf Automatikklappen aus der Wand glitt. Schließlich waren sie in die Schalt- und Befehlszentrale der fortschrittlichsten Raumfahrtbasis der Welt gelangt: fernsehgerätähnliche Bildschirme, rund, mit grünlichen Mattscheiben, auf denen quadratische Linienmuster zu sehen waren - Spulen, die sich wie rasend drehten - orangefarbene, rote, grüne, violette, blaue und gelbe Signallampen füllten die Räume der Zentrale. „Eine elektronische Anlage“, hatte ihnen Freund Superhirn damals erklärt; der äußerst schnell und scharf denkende Junge war bei jenem Abenteuer zum Glück von Anfang an dabeigewesen. Und in einem ellipsenförmigen Riesenraum befand sich der gewaltige Tastenschreibtisch des Befehlshabers der geheimen Erd-, Untersee- und Mondstützpunkte mit den Allzweckfahrzeugen Monitor, Meteor und Rotor. Der unterirdische Befehlssitz des mächtigen Professors. „Charivari wird schon kommen“, beschwichtigte Henri die anderen. „Wahrscheinlich hat er uns drunten in seiner Befehlszentrale längst auf dem Bildschirm gesehen, und er wartet nur noch ein Weilchen, bis er den Bauer mit den Eseln weit weg weiß.“ Das leuchtete allen ein. „Komisch, daß in diesem Turm noch nicht mal eine Ritterrüstung oder eine Nachbildung vom Ritter Marmozan steht“, wunderte sich Prosper. „Das wäre doch eine herrliche Abschreckung für abergläubische Leute, vor allem für Kinder! Stellt euch vor, es käme eine Jugendgruppe auf die Idee, sich hier einzunisten - hier, über der Weltraumzentrale. Dann würde es Charivari wieder so ergehen wie voriges Jahr mit uns im Hochmoor! Nur womöglich schlimmer - ach, was sage ich! Wir haben ihn ja gerettet, andere aber könnten ihn verraten!“ „Also, jetzt sollte Charivari sich allmählich melden“, brummte Gérard ungeduldig. In diesem Augenblick hörten sie einen schrillen Schrei. Er kam aber nicht aus der Tiefe des Felsmassivs unter der Burg, sondern von oben. Und er klang nicht etwa durch eine Lautsprecheranlage, sondern durch eine Lücke in der Holzdecke über den Köpfen der fünf Gefährten.
Der fünf? Micha fehlte! Und Tati hatte das Winseln des Pudels nicht bemerkt. Waff, waff! bellte Loulou jetzt laut. Waff, waff „Micha ist über die Leiter nach oben gestiegen!“ rief Prosper. Aus dem Kleinen wurde man niemals klug. Manchmal war er furchtbar ängstlich, zuweilen aber kletterte er den anderen voran wie eine tollkühne kleine Wildkatze. Henri rannte zur Leiter, reckte den Hals und schrie: „Was ist los, Micha? Was siehst du denn da oben?“ „Die Station!“ klang Michas aufgeregte, vorn Echo seiner eigenen Stimme bekräftigte Antwort. „Nichts wie rauf!“ drängte Gérard. Die drei Jungen und das Mädchen hasteten die Leiter hoch. Auf der Plattform des oberen Turmstockwerks standen sie starr wie Salzsäulen. Aber ihre Köpfe drehten sich beinahe auf den Hälsen. Dumpf, wie durch zwei Taschentücher hindurch, murmelte Gérard: „Das ist die neue Raumstation?“ Durch die Mauerlöcher drangen rötliche Sonnenstrahlen von Westen her in den runden Raum, genügend Licht, um zu überblicken, was hier vorhanden war. Der Raum war fast völlig mit verstaubten Regalen, alten Holzschränken, Tischen und Pulten vollgestellt. In einer Ecke stand ein riesiger Kasten mit Drehknöpfen, den ein großer Speichenrahmen überragte. Ober ihn - ringsherum - waren Drähte gezogen. Daneben sah man etwas, das an eine riesige, zweistöckige Glühlampe erinnerte... Rechts davon lagen gewaltige Spulen aus lackiertem Draht, vor denen Eisenstäbe mit kugeligen Enden sich beinahe berührten. Henri sah sich das ganze Gewirr aufmerksam an. „Die Anfänge der Telegrafie, Freunde!“ behauptete er. „Urgroßvaters Küstenwachstation!“ rief Prosper enttäuscht. „Wir denken, wir finden hier das Modernste - und kommen in eine technische Rumpelkammer“, maulte Henri. Überall hingen uhrenähnliche Zeigerinstrumente an den Wänden, aber am sonderbarsten schien eines: Es war zwischen den beiden kleinen Fenstern zum Meer angebracht. Man hätte es für eine braunlackierte Kiste mit einem aufgesetzten Barometer halten können - wenn die zifferblattähnliche Skala um den Zeiger herum nicht aus Buchstaben bestanden hätte. „Also, ich habe alle möglichen Instrumente im Physikunterricht gesehen“, meinte Henri. „Mit diesem Buchstabenbarometer werde ich allerdings nicht fertig!“ Doch eines erkannten alle sofort: Dies war eine Station, eine Anhäufung von technischen Geräten, von elektrischen und sonstigen Apparaturen - auf gar keinen Fall aber eine Zentrale, wie die Gefährten sie von der geheimen Raumfahrtbasis unterm Hochmoor gewohnt waren. „Was soll denn das alles?“ fragte Tati unwillig. „Ich denke, das ist die neue Raumstation?“ Henris, Prospers und Gérards Gelächter klang schaurig. „Neu!“ höhnte Prosper. „Hier hast du das Vermächtnis von Edison, Morse und Marconi in greifbaren Stücken!“ „Und von Raumstation, Raketenbasis, chemischen oder biologischen Labors keine Spur!“ fügte Gérard hinzu. „Guck mal, die Spinnweben! Auch die stammen aus Großmutters Zeiten!“ Tati wich zurück. Es war schrecklich still in dem unheimlichen Rund des oberen Turmstockwerks. „Aber...“, begann Tati, „das kann doch unmöglich der Befehlsraum des Professors sein! Mit diesem furchtbaren alten Zeug kann er doch keine Raumschiffe vom Boden aus leiten!“ „Nein, haha, allerdings nicht!“ lachte Gérard düster. „Ich würde nicht spotten“, meinte Henri, der sich aufmerksam umgesehen hatte. „Einige dieser Sachen stammen aus der Zeit der großen Erfindungen.“ „Na ja“, murmelte Prosper. „Da hat Henri recht. Auf diesem ungefügen Zeug haben ja nicht nur neue Erfindungen aufgebaut, sondern das Klotzige ist immer mehr verfeinert und verkleinert worden.“ „Superhirn würde das den Miniaturisierungs-Prozeß nennen“, erinnerte sich Gérard, ernsthaft. „Die
Technik bemüht sich eben fortwährend, mit immer kleineren Geräten immer mehr zu leisten. In den ersten Fotoapparaten hätte Micha bequem Platz gehabt, in den neuesten kann sich keine Fliege mehr regen!“ „Still!“ rief Henri. „Da schlägt eine Glocke an!“ Er wandte sich um. „Da, auf dem Buchstabenbarometer der komischen Zeigertafel!“ „Der Zeiger bewegt sich!“ rief Tati entsetzt. „Er zeigt mal auf diesen, mal auf jenen Buchstaben!“ „Henri!“ sagte Prosper hastig. „Das ist ein uralter Zeigertelegraf. Der sendet nicht lange und kurze Töne wie ein Morseapparat, sondern Buchstaben, die man zu Wörtern zusammensetzen muß!“ „Hat jemand einen Notizblock?“ fragte Henri aufgeregt. „Kugelschreiber habe ich!“ Er sauste zur Wand mit dem Zeigertelegrafen. „Wie lautet die Nachricht?“ erkundigte sich Tati. „Den Anfang habe ich versäumt“, sagte Henri. „Da! Der Zeiger ruckt wieder!“ „Aufschreiben, aufschreiben!“ drängte Gérard. Alle starrten auf die Buchstabenuhr mit dem einen, von einem Buchstaben zum anderen ruckenden Zeiger. „Da verulkt uns einer“, meinte Prosper. Nach einer Weile rührte sich der Zeiger nicht mehr. Es ertönte auch kein weiteres Glockenzeichen. „Hm!“, Henri blickte auf seine Aufzeichnungen, Aber unbekannte Telegrafist gibt folgendes durch soweit ich richtig mitgeschrieben habe: Nicht Ritter Marmozan suchen. Lebensgefahr! - Hier fehlt ein ganzes Stück. Weiter: Richtet die Zimmer ein. Wartet auf mich. Bei Angriff im unteren Turmteil. Verrammelt euch. Und nun kommt das Eigenartigste!“ „Was?' fragte Tati erschrocken. „Achtet auf weißes Flugobjekt. Ich suche es!“ Tiefe Stille herrschte. Man hörte nur noch Loulous leises Winseln am Fuß der Leiter. Schließlich räusperte sich Gérard und wiederholte: „Nicht Ritter Marmozan suchen? Lebensgefahr?“ „Die Zimmer sollen wir einrichten?“ rief Tati. Henri blickte auf die Notiz: „Er wird Schlafräume gemeint haben - sicher hat der Zeiger versagt. Hm. Wir sollen auf ihn warten. Aber auf wen eigentlich? Und aus dem übrigen geht hervor, daß wir uns auf einen Angriff gefaßt machen müssen.“ „Und daß wir die Türen verrammeln sollen“, vollendete Prosper gedrückt. Er - der Nachrichtengeber - sucht inzwischen den weißen Flugkörper!“ „Die abgestürzte Maschine!“ Tati schrie es fast. „Das Ding, von dem Herr Cambronne immer gefaselt hat!“ „Hörst ja, es war vermutlich keine Faselei“, bemerkte Gérard. „Was hast du aufgenommen, Henri? Achtet auf weißes Flugobjekt? Das kann soviel bedeuten wie: Hütet euch vor diesem Ding!“ Henri erhob sich. „Die Nachricht kommt von Professor Charivari“, behauptete er. „Er ist irgendwo in der Gegend, um den Landeplatz des Flugkörpers festzustellen. Ich schätze, es ist ein feindliches Raumschiff. Die Besatzung will diese Station ausheben!“ Wieder schwiegen alle. „Willst du mir mal erklären, was es hier auszuheben gibt?“ versuchte Prosper zu spotten. „Etwa Urgroßvaters Kabelsalat da? Oder die Radioröhren für eine Rummelplatzbeleuchtung? Wo ist denn die Station hier?“ „Auf jeden Fall scheint mir das mit dem Ritter Marmozan kein Spaß zu sein“, erwiderte Henri ernst, „ebenso, wie es bestimmt kein Zufall ist, daß der Geister-Telegrafist von einem weißen Flugobjekt spricht. Der Bauer hat was von einem schneeweißen Flugzeug erzählt. Das gibt doch zu denken!“ „Ich will sofort nach Marac!“ forderte Tati. „Hier bleibe ich keine Minute länger, keine Sekunde:“ „Du willst dir wohl auf dem Pfad das Genick brechen?“ rief Prosper. „Vergiß die Abendschatten nicht! Ein ganzes Stück ist Hohlweg durch den Fels!“ „Vor allem herrscht draußen die meiste Gefahr, wenn wir die Nachricht nicht falsch deuten“, meinte Henri. „Die Leute aus dem gelandeten Raumschiff - so verstehe ich das - könnten uns angreifen! Warum sollten wir sonst die Türen verrammeln?“
Tati schwieg. „Aber wir müssen unsere Sachen aus dem Schuppen hereinholen“, fiel Micha ein. „Los!“ befahl Henri. „Bevor es einer so mit der Angst kriegt, daß ihm die Knie zittern! Überlegen wir nicht lange - holen wir unser Zeug!“ „Die neue Weltraumstation liegt unter diesem alten Kasten!“, lenkte Gérard ab. „Ich lasse mir das nicht ausreden. Das Felsmassiv wird bis hinab in Meerestiefe von Stollen und Gräben, von Fahrstühlen und Rolltreppen durchzogen sein. Wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht den Zugang? In der unterirdischen Zentrale sind wir bestimmt sicherer als hier!“ „Da ist eine Tür! An den Seiten schimmert Licht hindurch!“ rief Prosper. Henri hatte sagen wollen: Eine Tür im ersten Stockwerk kann nie ins Felsmassiv führen! Wenn schon, dann müssen wir unten nach einer Bodenklappe suchen! Doch es ging alles so schnell, daß niemand ein vernünftiges Wort herausbrachte. Der gemeinsame Ruf der anderen war eher ein Angstschrei: „Haaalt...!“ Prosper hatte die Tür in der Mauer schwungvoll aufgestoßen: Nicht künstliches Licht, sondern die nachmittägliche Helligkeit des der Sonne abgewandten Teils des Burggeländes drang herein. Die Tür führte nach draußen. Und Prosper sauste über die Schwelle ins Freie! Doch er fiel nicht in die Tiefe hinunter. Wie ein Fisch am Haken, so zappelte er an der Riesenklinke. „Hilfe!“ brüllte er. „Hilfe!“ Henri und Gérard gelang es langsam, die Tür so weit zuzuziehen, daß der Freund ins Turminnere zurückspringen konnte. Niemand beglückwünschte ihn zu dieser Meisterleistung. „Auch ohne Herrn Marmozan und ohne merkwürdige Flugkörper und andere geheimnisvolle Dinge scheint es hier gefährlich genug zu sein“, schalt Tati. „Man rennt doch nicht wie ein Blödsinniger auf eine Tür zu, wenn man nicht weiß, wo sie hinführt! Noch dazu in einer alten Burg!“ „Dein Vorstoß in die Meerestiefe hätte beinahe im Krankenhaus von Marac geendet“, brummte Gérard. „Auf der anderen Seite ist noch eine Tür!“ meldete Micha. „Die geht nach innen auf“, stellte Henri fest. Sie führt auf einem Gang!“ Er öffnete dabei schon die nächsten Türen. „Kinder!“ hörte man ihn rufen. „Lauter ordentliche Zimmer; Fenster alle zur Seeseite!“ Waff! bellte Loulou am Fuß der Leiter verzweifelt. Doch selbst Tati war neugierig auf die Zimmer, so daß sie die jämmerlichen Laute nicht beachtete. „Prima“, staunte Prosper im ersten Raum, der an den Turm angebaut war. „Aber komisch - hier sieht's fast wie in einer Amtsstube aus!“ Gérard blickte aus dem Fenster. „Ich sehe so eine Art Terrasse mit einer Mauer! Dahinter Busch und Kraut - und wenn mich nicht alles täuscht, glitzert in der Ferne, ganz tief unten, das Meer!“ „An diesem Zimmer war die alte Küstenwachstation“, vermutete Henri. Er blickte nach oben: „Die Wendeltreppe führt zu einer Dachluke, ich nehme an, auf die Turmplatte!“ Tati hatte in die Nebenräume geblickt und festgestellt, daß dort einfache Eisenbetten standen. Dort mochte die Wachmannschaft geschlafen haben, und diese Zimmer mit der schönen Aussicht waren sicher für die Gäste bestimmt. Doch Henri öffnete bereits die Dachluke. „Kommt schnell mal rauf!“ forderte er. „Wie ich sehe, ist alles abgesichert! Die Turmplatte dient als Ausguck!“ Prosper und Gérard, begriffen, was er meinte. Den Ausguck hatten die Küstenwächter vom Dienstzimmer aus benutzt. Von dort oben hatten sie den Schiffen Signale gegeben - oder Signale von See her empfangen. jetzt würde man vielleicht Professor Charivari im Gelände herumpirschen sehen und das geheimnisvolle weiße Flugobjekt entdecken können ... Schließlich standen alle auf der Dachplatte des Turms. Die Ringmauer ging Henri bis an die Hüfte und Micha bis zu den Schultern. Also bestand für den Kleinen 'keine Gefahr, hinabzustürzen.
„Durch die Zweige und Blätter sieht man ein Stück von Marac!“ sagte Prosper begeistert. „ja, und da das Meer! „ „Ich kann sogar das Hochmoor erkennen, wo wir im vorigen Jahr gezeltet haben!“ rief Tati. Gérard blickte zur Mitte der Turmplatte. „Was sind denn das für komische Geräte?“ fragte er staunend. „Abgebrochene, stillgelegte Signalmasten“, erklärte Henri. „Und natürlich alte Signale. Das sind Semaphoren, Flügelsignale zur Handbedienung. Daneben, die Gestelle mit den halbblinden SpiegelDrehtellern, sind Heliographen, Sonnenlicht-Telegrafen, ebenfalls Handsignale. Die hat man bei Tage verwendet, ganz früher, als es noch nichts anderes gab. Natürlich nur bei geeignetem Wetter.“ „Und wie hat man nachts signalisiert?“ fragte Tati. „Na, mit Lampen, du Schaf“, antwortete Henri lachend. „Entweder mit Fackeln oder mit Petroleumlampen.“ Sie blickten über die Ringmauer hinab auf den Pfad. „Und wo ist der Draht, den der Professor durchs Gelände gezogen hat, um uns Zeichen zu geben?“ wunderte sich Gérard. Henri spähte über die Mauer. „Er führt dicht unter uns aus dem Turm heraus - da, über diesen pfahlartigen Baum - und weiter landeinwärts ins Gestrüpp hinein. Charivari muß einfach ein Zweitgerät und eine Rolle Gärtnerdraht mitgenommen haben. Mit so einem Packen dicker Kabel, wie wir sie im Turm sahen, würde er nicht weit kommen.“ „Nee“, meinte Prosper. „Er kann ja nicht wie ein Seekabelleger im Gestrüpp rumschwanken.“ Plötzlich reckte er den Hals. Es schien, als wollten sich seine Haare sträuben: „Da steht - steht ...“ „Ja!“ hauchte Prosper fassungslos. Und Henri sagte wie im Traum: „Wo kommt der denn her ... ?“ 4. Ein Auftrag für Superhirn Vor der Burg Roche Clermont stand Superhirn, der von Anfang an so sehnlich herbeigewünschte, fast schon aufgegebene Freund, der spindeldürre „Eierkopf“ Marcel mit den dicken, runden Brillengläsern - der Retter aus vielen Nöten. „Superhirn!“ schrie Tati begeistert. Sie war die erste, die die Sprache wiederfand. „Wo kommst du denn her? Bist du vom Himmel runtergefallen?“ „Ich nicht“, rief der dünne Junge zurück. Niemand achtete auf die sonderbare Betonung. „Aber ich merke, ihr habt das Schloß noch nicht erforscht, sonst hättet ihr längst meinen Schlafsack und all mein Zeug gefunden!“ „Wo ist der Professor?“ brüllte Gérard. „Er hat uns Nachrichten gefunkt! Wir sollen die Türen verrammeln - oder was er da meinte. Jedenfalls besteht Gefahr!“ „Nicht mehr!“ erwiderte Superhirn, so laut er konnte. Das Schreien strengte ihn an. „Der Mann mit den Nachrichten war ich!“ Er schwenkte einen Gegenstand, der unschwer als ein zweites Zeigerkästchen zu erkennen war. Den Draht hatte er wohl inzwischen abmontiert. „Ist die Tür offen?“ „Schlüssel steckt noch!“ rief Henri. „Komm rein!“ Schnell wie die Feuerwehr eilten alle ins Erdgeschoß, wo zuerst einmal der Pudel begrüßt werden wollte. „Kommt, wir gehen in den Rittersaal, da ist's gemütlich!“ rief Superhirn. Zu diesem Raum, den die fünf noch nicht kannten, weil sie gleich zum Turm gelaufen waren, führten drei Türen im Erdgeschoß. Der Saal war dunkel getäfelt. Er enthielt eingebaute Bücherschränke und einen gewaltigen Kamin. Die Fenster zur Seeseite waren hoch und schmal. In der Mitte stand ein rechteckiger, für seine Länge ziemlich schmaler, schwerer Tisch. Die dazu passenden Stühle hatten fast senkrechte Rücklehnen. „Was sind denn das alles für geheimnisvolle Sachen?“ drängte Prosper. „In Marac finden wir keine Nachricht von dir vor, dann heißt es, der Professor bestelle uns aufs Schloß. Kaum sind wir da, fängt so ein alter Apparat in dem Fledermausturm an zu klingeln. Wir hören was von Rittern, Lebensgefahr,
von einem weißen Flugobjekt und so weiter - und dann stehst du plötzlich vor der Tür!“ Superhirn lachte. Er legte das Zeigerkästchen auf den Tisch. „Euch eine Nachricht zu geben, war ein rascher Einfall von mir. Ich kenne das technische Gerümpel im Turm nämlich schon. Ich bin ja den dritten Tag hier.“ „Den dritten Tag?“ Tati war empört. Doch Superhirn fuhr unbeirrt fort: Als ich in Marac ankam, übergab mir Herr Dix einen Brief von Professor Charivari. Darin stand, daß er Roche Clermont gekauft habe und daß wir alle dort seine Gäste sein dürften. Aber der Text enthielt etwas Sonderbares. Deshalb bat ich Herrn Dix und seine Frau - und auch Bertrands - euch noch nichts zu verraten. Ein Satz enthielt die klare Anweisung: Superhirn! Geh erst allein ins Schloß hinauf und nimm des Ritters Augen. Dann erst übermittle deinen Freunden die Einladung.“ „Des Ritters Au-au-augen?“ fragte Prosper. Superhirn lachte ärgerlich. „Seit zweieinhalb Tagen bin ich damit beschäftigt, zu erforschen, was Charivari meinen könnte. Heute vormittag bin ich nur mal schnell nach Marac hinuntergelaufen, um mir eine Tragtasche voller Proviant zu holen. Dabei habe ich Victor gebeten, Dix und Bertrand Bescheid zu sagen, daß ihr heraufkommen sollt. Vielleicht könnt ihr mir helfen!“ Ja, und was war das für ein weißes Flugobjekt?“ Superhirn winkte ab. „Geklärt und doch wieder nicht geklärt! Ich habe dieses Flugobjekt gefunden. Das war ein Ding, wahrhaftig - ich habe gedacht, ich träume . . .“ Er schüttelte sich. „Trotzdem scheint es mir jetzt mehr ein Rätsel als eine Gefahr zu sein. Von Robane her sah ich Feuerwehrleute kommen, vor allem kreiste ein Hubschrauber über der Schlucht landeinwärts. Aber er flog bald wieder ab. Er muß über Point Blanc die Meldung bekommen haben, daß kein Flugzeug vermißt wird. Wir brauchen hier also keine Spürhunde zu befürchten, denke ich.“ „Hat Herr Cambronne auch dir was von diesem schneeweißen Flugzeug vorgefaselt?“ erkundigte sich Gérard. „Ich habe den komischen Flieger gesehen“, behauptete Superhirn grinsend. Doch sein Grinsen wirkte alles andere als vergnügt. „Ich sagte ja: das war ein Ding!“ „Eine Rakete? Ein fremdes Raumschiff?“ rief Henri. „Nein“, erwiderte Superhirn düster, „eine Möwe! Ihr habt richtig gehört“, ächzte er. „Der Apparat, der da runterging - groß wie ein Flugzeug -, war nichts als eine riesige gewöhnliche Möwe! Habt ihr je etwas von Alteration gehört?“ „Du meinst Mutation?“ fragte Tati. Superhirn wehrte ab: „Nein, das meine ich nicht. Mutationen sind mehr oder weniger plötzliche Änderungen der Eigenschaften lebender Wesen durch Wandlung des Erbguts. Mutationen können aber auch durch Strahlen, Hitzeschocks und Chemikalien bewirkt werden. Manche Wissenschaftler erhoffen sich zum Beispiel von chemikalischen Mutationen eine neue Art von Menschen, einen, der Vernunft und Klugheit von zehn Nobelpreisträgern in sich vereinigt, einen, der ohne jeglichen Egoismus, ohne persönlichen Ehrgeiz nur dem Wohl der Menschheit dient.“ „Einen Typ wie Superhirn“, spöttelte Prosper. „Nein, wie Professor Charivari!“ rief Micha. „Unsinn“, sagte Superhirn ärgerlich. „Es geht um den Zukunftsmenschen, nicht um einen mehr oder weniger genialen oder gescheiten Kopf der Gegenwart. Charivari kommt diesem Typ allerdings ziemlich nahe.“ „Was hat das mit deiner Möwe zu tun?“ fiel Tati ungeduldig ein. „Mutationen, also Abänderungen von Eigenschaften lebender Wesen, sind ein Erbprozeß oder die Folge von künstlichen Einwirkungen“, fuhr Superhirn ungerührt in seinem Vortrag fort. „Doch man hat noch nie aus einer Mücke einen Elefanten machen können - das wäre eine Alteration. Eine Möwe in der Größe und mit der Spannweite eines Seeadlers wäre schon ein kleines Alterationswunder und nun gar eine, die die Ausmaße eines Sportflugzeugs hat!“ Er wischte sich wieder die Stirn. Dann sagte er: „Aber die, die ihre Bruchlandung auf dem Felsmassiv gemacht hat, war so groß! Das kann ich beschwören!“
„Du nimmst an, der Vogel war kurze Zeit vorher ein Tier wie alle anderen seiner Art?“ fragte Henri. „Denn darauf willst du doch mit deiner Alterationsidee hinaus!?“ „Du merkst aber auch alles“, meinte Superhirn lächelnd. „Vor allem glaube ich mit Bestimmtheit, er war noch heute morgen, ja bis kurz vor seinem Flug hierher nicht größer und nicht kleiner als seine Artgenossen. Etwas muß ihn ganz plötzlich verändert, ins Riesenhafte vergrößert haben.“ Bedeutungsvoll fügte er hinzu: „Wir hätten es also mit einer explosiven Alteration zu tun, deren Ursache wir nicht kennen. Darüber sind wir uns doch einig?“ „Ob noch mehr von diesen Vergrößerungsviechern vorhanden sind?“ überlegte Gérard laut. „Cambronne sprach nur von einem schneeweißen Flugzeug, das die Schwester vom Bauern Dix gesehen hätte. Er sagte auch was von Anrufen bei der Feuerwehr - aber die schienen sich alle nur auf das eine Flugobjekt zu beziehen.“ „Meinst du, ein Wissenschaftler hätte was mit der Sache zu tun?“ fragte Henri. „Professor Charivari vielleicht?“ rief Tati schnell. „Wo ist er eigentlich? Erst meint Dix, er sei in Kanada, dann kriegen wir einen Brief - und dann . . .“ dann denken wir, er erwartet uns auf Roche Clermont fuhr Gérard fort. „Und schließlich bilden wir uns ein, er sei der Telegrafist im Busch“ ' sagte Prosper. „Charivari leitet eine neue Meeresbodenstation“, erklärte Superhirn. „Richtiger: er macht Versuche einer Besiedelung des Meeresgrundes. Das heißt, er will die Voraussetzungen dazu schaffen.“ „Hier, vor der Felsküste?“ fragte Micha hoffnungsvoll. „Oder bei den Steilklippen hinterm Hochmoor?“ „Blödsinn“, meinte Gérard. An dem Brief stand ja, wir würden ihn nie wiedersehen, er sei in unerreichbarer Ferne! „ „Und was stand in deinem Brief, Superhirn?“ wollte Henri wissen. Der dürre Junge zog ein Kuvert von der Art hervor, wie es die anderen auch erhalten hatten. Er nahm das Blatt heraus und sagte: „Also, hier steht . . .“ Selten hatten die Gefährten Superhirn so verblüfft gesehen wie in diesem Augenblick. Er wendete das Blatt immer wieder und beendete den Satz kaum hörbar: „ ... hier steht nichts!“ Dann rieb er sich erregt die Nase. „Nicht möglich!“ „Oh, du größtes aller Superhirne von Marac bis zu den Sternen!“ wieherte Prosper vor Lachen. „Bist du nie auf den Gedanken gekommen, ihn ein zweites Mal zu lesen? Du hättest wahrhaftig früher bemerken können, daß das Blatt präpariert war! Auch die Schrift auf unserem Brief hat sich schnell in Wohlgefallen aufgelöst!“ Henri berichtete von der bösen Überraschung am Vormittag. „Ja, aber wir wissen immer noch nicht, was das alles bedeuten soll!“ sagte Gérard. „Ins Hochmoor sollen wir nicht, wenn uns unser Leben lieb ist. Wir dürfen auch die Hütte nicht mehr aufsuchen, in der Charivari zum Schein gewohnt hat. Die Angst vor Ritter Marmozan nutzt er aus, damit die Leute von Roche Clermont fernbleiben. Für uns aber kann hier keine Gefahr bestehen, sonst würde er uns nicht eingeladen haben. Und doch hat er das im Brief an Superhirn gestanden.“ Superhirn nickte. „Ja. Darin stand: Geh erst allein ins Schloß und nimm des Ritters Augen! Wie ich Charivari einschätze, ist das ein lebenswichtiger Befehl. Und wie er mich einschätzt, müßte ich den Sinn dieses Satzes begreifen. Aber ihr könnt mich kopfstellen - da bin ich überfordert!“ „Es ist also doch was dran an der Sache mit dem Ritter Marmozan!“ sagte Tati. „Das steht im Widerspruch zu dem angeblich albernen Spuk!“ „Im Gegenteil“, murmelte Superhirn. „Es reimt sich mehr und mehr zusammen: Ich sollte hier eine Aufgabe lösen, die mit dem Ritter zusammenhängt, und erst danach sollte ich euch nach Roche Clermont holen. Ich habe eigenmächtig gehandelt, in der Hoffnung, ihr könntet mir helfen!“ „Klar! Wir werden dir helfen!“ betonte Henri. Superhirn achtete nicht darauf, sondern dachte nach. Dann sagte er: „Geheimdienstleute und alte Kriminalbeamte behaupten, wenn kurz nacheinander an einem verdächtigen Ort zuviel Merkwürdiges geschieht, so besteht zumeist ein Zusammenhang.“ „Welchen verdächtigen Ort meinst du?“ fragte Prosper. „Roche Clermont?“
„Marac!“ erwiderte Superhirn. „Ich meine den ganzen, hübschen Küstenort mit allem Drum und Dran, Drüber und Drunter. Das Verdächtige ist die nur uns bekannte Tatsache, daß im Hochmoor die verlassene Weltraumstation liegt. Da könnten zum Beispiel - trotz bester Absicherung - ein paar Apparate verrückt spielen. Und nun weist Charivari sogar noch brieflich auf die Gefährlichkeit dieser Gegend hin! Gleichzeitig benutzt er die Rittersage als Abschreckung für sein neuerworbenes Schloß, schreibt mir aber, ich solle mir Marmozans Augen nehmen. Ein Geist aus Dunst - oder ein rostiger Ritter aus vergangenen Jahrhunderten - hat keine Augen! Weiter: Ihr habt mir von der Kunstflugstaffel erzählt. Die Maschinen habe ich auch ein paar Minuten vorn Turm aus beobachtet. Ich sah sie abschwirren, kurz bevor der weiße Riesenvogel kam. Ich sehe, nein, ich ahne da Zusammenhänge.“ „...die bis auf den Meeresgrund zurückgehen?“ unterbrach Henri. „Bis zur fernen UnterseeBodensiedlung Charivaris?“ „Genau!“ nickte Superhirn. „Und die Schlüssel zu dem Rätsel sind die Augen Ritter Marmozans!“ 5. Verbindung mit geheimer Tiefseestadt Als die Sonne hinter dem Felsmassiv verschwunden war, kamen Superhirn und Henri aus dem Gelinde zurück. Sie brachten eine für die Jungen enttäuschende Nachricht mit. Nur Tati und Micha waren erleichtert. Der unheimliche Riesenvogel war zu seiner Normalgröße zurückgeschrumpft, berichteten sie. Henri hatte das Monstrum fotografieren wollen, aber in der muldenartigen Höhle hatten Superhirn und Henri nichts anderes gefunden als eine tote, ganz gewöhnliche Möwe. „Die Alteration ist zu rasch erfolgt“, versuchte Superhirn sich die Sache zu erklären. „Ein Umstand, nennen wir ihn den Faktor X, ist offenbar nicht berücksichtigt worden, wenn es sich um eine wissenschaftlich gesteuerte Alteration gehandelt hat. Ich würde sagen - der Zeitfaktor.“ „Zeit?“ Prosper verstand das nicht. „Was hat die Zeit mit Chemie zu tun? Wenn der komische Vogel ein paar Pillen geschluckt hat, dann wird er davon groß oder nicht. Zeit ist doch keine Kraft oder Gegenkraft!“ „Zeit ist etwas Entscheidendes. In der Schule lernt man zuerst, daß ein Raum in Länge, Breite und Höhe bemessen wird. Das ist aber noch nicht alles. Denn was auch immer geschieht, geschieht auch in der Zeit. Wenn ich einen Stein werfe, war er eben noch bei mir - und dann ist er anderswo. Das heißt, daß zwischen dem Hier und dem Anderswo nicht bloß der Meterabstand, sondern auch der Zeitunterschied liegt. Deshalb kann ohne die Zeit nichts passieren: Ohne sie ist alles tot und bewegungslos! Und man kann die Zeit ebensowenig überspringen wie einen Abstand (ohne dadurch den Zwischenraum aus der Welt zu schaffen). Von vier bis fünf Uhr dauert es nun eben mal eine Stunde - genau wie zwischen meinem Kopf und meinen Füßen eineinhalb Meter Abstand sind, na, und ein paar Zentimeter mehr. Die Zeit ist also für die Forscher sehr wichtig, wenn sie etwas exakt erkennen und beschreiben wollen. Um es mal ganz platt auszudrücken: Wenn also mit der Möwe, sagen wir, eine Alteration passiert ist, so ist die Vergrößerung zu Lasten der Lebensdauer gegangen. Verstehst du? An einem Tag wird man nicht fett! Du kannst das auf ganz primitive Weise selber ausprobieren!“ „Weil du gerade von fett sprichst“, mischte sich Tati ein. „Wir essen! Wo ist die Küche?“ „Direkt am Turm, unterhalb des alten Stationsraums“, sagte Superhirn. „Kommt, ich übernehme die Führung!“ Superhirn erhob sich. „Aber“, begann Prosper erneut über die Möwe zu sprechen, „warum ist das Tier zurückgeschrumpft?“ „Weil sich die Aufbaustoffe im Augenblick des Todes ebenso rasch zurückgebildet haben, wie sie das Tier vorher vergrößerten“, vermutete Superhirn. „Anders kann ich es mir auch nicht vorstellen.“ Nun blickten alle auf Tati, die die Schloßküche kritisch musterte. „Also, der Herd ist stabil und in Ordnung“, stellte Henri fest. „Holz haben wir genug im Schuppen.“ „Und was ist dort hinter dem Bretterverschlag?“ fragte Tati.
„Eine Dusche“, sagte Superhirn. „Und du wirst lachen, Tati: sie funktioniert sogar! Da können wir gleich mal hineinmarschieren, um uns den Staub abzuspülen!“ Frau Dix hatte durch Schwager Victor und Herrn Cambronne Verpflegung für eine ganze Woche heraufschaffen lassen. Während die Jungen das ganze Schloß nun nach Geheimtüren abklopften, um des „Ritters Augen“ zu finden, kochte Tati das Essen. Das Abendessen bei Kerzenschein am langen Tisch im Saal von Roche Clermont wurde zum Festmahl. Danach rückten alle ihre Stühle vor das lustig flackernde Kaminfeuer. Wohlig ausgestreckt, lag Loulou Micha zu Füßen. „Tja“, murmelte Superhirn. „Herrlich! Mal was anderes als in einer geleckten Raumstation oder im Kommandostand von Monitor! Aber daß wir noch nicht heraushaben, was Charivari gemeint hat, raubt mir die Laune!“ „Ich denke“, sagte Henri, ein Holzscheit in die Flammen werfend, „der Professor hat nur geblufft!“ „Er wollte uns nur ablenken“, spann Henri den Gedanken fort. „Einmal, weil wir auf keinen Fall mehr ins Hochmoor sollen - zum anderen, weil er uns in seine neuesten Pläne nicht einweihen will.“ „Vielleicht ist er gar nicht in unerreichbarer Ferne am Grund des Meeres!“ rief Prosper. „Kinder, ich hab's! Er hat uns bestimmt getäuscht! Ich wette, er sitzt mit seinen Leuten noch immer - oder schon wieder - in der unterirdischen Zentrale bei den Todesklippen!“ „Im Hochmoor?“ fragte Micha aufgeregt. „Dann müssen wir dorthin. Gleich! Heute nacht noch! Er ist ein guter Mann, und er wird uns nicht wegschicken.“ Die Gefährten - außer Superhirn - steigerten sich derart in diese Vorstellung hinein, daß es für sie schließlich feststand: Der Professor war in der Gegend von Marac. Er war dort, wo sie ihn zum letztenmal gesehen hatten. in der Befehlszentrale tief unter dem Hochmoor. „Der Ritter! Der Ritter Marmozan!“ Prosper schnellte hoch. „Wo?“ Gérard, Tati und Micha saßen starr wie Wachspuppen. Waff, waff! Der erschreckte Pudel lief ziellos um die Stühle. „Der Ritter!“ rief Superhirn wieder. Er schrie es fast. „Da!“ Er zeigte ins Feuer, als sehe er Marmozan darin verbrennen. Auch Prosper starrte jetzt in die Flammen. „Ich sehe nichts, ich sehe nichts!“ stammelte er. Tati wandte ihr Gesicht Superhirn zu, als wolle sie prüfen, ob der Junge jetzt verrückt geworden sei. Superhirn ließ sich jedoch nicht beirren. „Henri!“ befahl er auf einmal ganz ruhig. „Leg schnell zwei trockene Scheite auf! Laß das Feuer auflodern!“ Prosper reckte den Hals: „Sag mal, Superhirn - du sprichst wie ein Henker, der den alten Marmozan auf dem Scheiterhaufen verbrennen will. Oder jedenfalls als wolltest du ein bißchen nachhelfen? Wo soll der Bursche sein? Im Kaminfeuer?“ „Achtet auf das Muster des Kamingitters!“ gebot Superhirn. „So, und nun schaut in den Saal, auf die tanzenden Schatten! Was seht ihr da?“ „Unsere eigenen Schatten“, erwiderte Tati verständnislos. „Wir sitzen doch vor dem Feuer!“ „Nein!“ gellte Michas Schrei. „Nicht nur unsere! Nicht nur unsere Schatten! Da ist noch einer dabei! Der von einem Ritter!“ „Wahrhaftig!“ brummte Gérard. Er stand auf. Im selben Augenblick verschwand der Schatten des unheimlichen Gebildes. „Setz dich!“ herrschte Superhirn ihn an. „Da ist die Schattenfigur wieder! Erkennt ihr sie? Sie wird durch das mannshohe, seitliche Ziergitter des linken Kaminrandes erzeugt! Das schmiedeeiserne Muster stellt eine Ritterfigur gar, und sein Schatten gleitet teils deutlich, teils undeutlich auf dem Fußboden hin und her!“ Schweigend blickten alle auf die unerwartete Erscheinung. Endlich sagte Gérard, und es klang beinahe enttäuscht, „So ein Schatten ist doch nichts Besonderes! Ist ja klar, daß Kamingitter auf alten Schlössern bestimmte Muster oder Ornamente haben. Und dieses Geschlinge wirft im Flammenschein
seine Schatten auf den Boden wie ein windzerzauster Busch bei Sonne!“ „Dabei ist wirklich nichts Unheimliches!“ bemerkte Tati. Superhirn lächelte. „Ihr denkt, darauf wäre ich nicht schon längst von allein gekommen? Und ihr haltet euch natürlich für mächtig schlau? Na, dann will ich euch mal ein paar Fragen stellen. Erstens: Behaupten die Leute in Marac denn nicht, es hätte bisher kein Mensch den Ritter Marmozan jemals gesehen?“ „Stimmt! Weder den Männern von der Küstenstation noch den Heimatforschern ist er begegnet!“ stimmte Prosper zu. „Zweitens: Dennoch hält sich die Sage hartnäckig - und Herr Marmozan ist die Wappengestalt von Marac!“ „Ja!“ nickte Gérard. „Auch das wird nicht bestritten.“ „Drittens: Der Professor fordert mich auf, die Augen des Ritters zu nehmen - aber wir finden nichts, obwohl wir das Schloß vom Dachboden bis hinab in den letzten Winkel durchsucht haben!“ „Ja, und was schließt du daraus?“ fragte Henri. „Daß wir uns nach dem einzigen Hinweis richten müssen, der in die genannte Richtung zielt, und das ist der Schatten!“ erklärte Superhirn. „Aber der Schatten hat doch keine Augen, die du dir nehmen kannst“, rief Micha. „Meinst du?“ Superhirn lachte kurz. Er klatschte in die Hände. „Henri, steig ins obere Turmstockwerk und sieh zu, ob da etwas Ähnliches wie ein Stemmeisen liegt! Tati, wirf tüchtig Holz ins Feuer, damit der Schatten nicht verblaßt! Gérard, hilf mir.“ Eine halbe Stunde später hatten die Jungen in Reichweite des hin und her schwankenden Schattenmusters die Bodenbretter im Saal herausgehoben. Dort, wo der Ritterschatten am weitesten in den Raum hineinragte, also wo das Visier war, fand Superhirn zwischen den freigelegten Balken und dem Felsboden, auf dem das Schloß stand, eine Vertiefung. „Da!“ keuchte er. Er richtete sich auf und trug einen Holzkasten zum Tisch. „Da haben wir Marmozans, oder besser: des Professors Geheimnis!“ „Laß mich sehen!“ rief Micha. Superhirn klappte den Deckel zurück, nahm ein Lederetui heraus und zog aus diesem - eine Brille! im hellodernden Schein des Kaminfeuers schillerten die Gläser eigenartig, - doch das Gestell war modern, beinahe schick. „Was sollen wir denn mit diesen ulkigen Gesichtsschaufenstern?“ murrte Gérard enttäuscht. „Eben!“ stimmte Prosper ihm bei. „So ein Nasenfahrrad hätten wir uns auch vorn Optiker in Marac besorgen können!“ Henri wollte nach der Brille greifen, doch Superhirn hielt sie rasch hoch: „Vorsicht! Die Gläser sind ein Schatz!“ „Ein Schatz!“ maulte Micha. „'n Schatz stell ich mir anders vor! Besonders Piratenschätze. Die sind in großen, alten Kisten und bestehen aus Gold und Silber und Edelsteinen!“ „Und trotzdem würde Charivari diese Brillengläser nicht gegen alle Piratenschätze der Welt eintauschen!“ behauptete Superhirn. „Weißt du, Gérard, was die Gesichtsschaufenster, wie du sie nanntest, darstellen?“ „Nein.“ Gérard schüttelte den Kopf. „Ritter Marmozans Augen!“ triumphierte Superhirn. „Wir haben sie gefunden! Der Kopf des tanzenden Schattens aus dem Kamingitter hat uns die Stelle gewiesen!“ Schlagartig war es nun Gérard und den anderen klar: Das war eins von des Professors telepathischen Instrumenten - jener Art, wie sie sie bereits im vergangenen Sommer kennengelernt hatten: eine Gedankenlesebrille. Mit ihrer Hilfe würde man Charivaris Gedanken von jedem Punkt der Erde, aus dem Weltall oder von den Tiefen aller Meere her empfangen - und mit eigenen Gedanken beantworten können. Der Professor selber benutzte entweder telepathische Augenhaftschalen, eine große telepathische Lupe oder ebenfalls eine solche Brille. Die Verbindung zu ihm war jetzt möglich! „Ich will gleich mal sehen, ob er uns was zu melden hat!“ sagte Superhirn. Er setzte das Gestell mit
den telepathischen Augengläsern auf. Dann lehnte er sich gegen den Tisch, scheinbar jeden Gedanken abschaltend. In Wahrheit konzentrierte er sich auf den Empfang der etwa von fern herkommenden Gehirnstrahlen Professor Charivaris. Es war so still im großen Saal von Roche Clermont, daß man nur das Knistern der Scheite im Kamin hörte. „Blitzt was in deinem Kopf?“ hauchte Micha nach einer Weile gespannt. Superhirn winkte ab, doch plötzlich wurde er sehr aufgeregt. Die Worte sprudelten nur so von seinen Lippen: „Kinder! Ich erkenne genau, was Charivari macht! Ganz klar! Er sitzt mit seinem Team in der F-Siedlung im Atlantischen Ozean! Sie haben eine neue Probestadt gebaut - fangen an, die Meeresbodenschätze auszubeuten.“ Er lehnte den Kopf zurück, als wolle er sich sonnen, hier, im geschlossenen Raum, bei annähernder Finsternis. Doch er funkte mit geraffter Energie seine eigenen Gedanken zum Professor in der FSiedlung irgendwo auf dem fernen Meeresboden. Micha rief ärgerlich: „Was ich nicht selber sehen kann, ist mir zu langweilig. Hast du dem Professor durchgegeben, was hier in Marac los war? Hast du Grüße von mir bestellt?“ Ja, auch von Loulou!“ witzelte Superhirn. Er wurde nachdenklich: „Von der Riesenmöwe habe ich ihm allerdings nichts telepathiert!“ Er verstaute das kostbare Gerät wieder im Etui und steckte es behutsam in die Brusttasche. Henri meinte: „Du hättest unbedingt melden müssen, daß du Zusammenhänge zwischen einigen Vorfällen ahnst! Ist die Bodenstation im Hochmoor stillgelegt? Hast du wenigstens das gefragt?“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Der Professor hat mich so mit Neuigkeiten eingedeckt, daß ich gar nicht dazu kam! Charivari läßt euch alle grüßen. Wenn wir mit ihm in Verbindung treten wollen, sollen wir die telepathische Brille benutzen. Dadurch will er uns die Ferien hier ein bißchen interessanter machen. Nach einigen Wochen verlieren die Augengläser ihre Wirkung.“ „Was“' rief Prosper wütend. „Wir sollen hier nichts weiter sein als Zuschauer? Und wenn die komische Brille sich in Wohlgefallen auflöst, erfahren wir überhaupt nichts mehr?“ „Charivari kann nicht riskieren, daß das Instrument ewig benutzbar ist!“ sagte Tati beschwichtigend. „Stell dir vor, es käme in fremde Hände!“ „Aber ich will in meinen Ferien gefälligst was erleben!“ meinte auch Gérard. „Setz die telepathische Brille noch mal auf, Superhirn!“ drängte Henri. „Gib dem Professor durch, ob wir nicht doch in die Hochmoorbasis gehen dürfen! Dann können wir ihn auf Bildschirmen sehen!“ Seufzend nahm Superhirn das kostbare Brillengestell aus dem Etui. Doch kaum hatte er es mit seiner gewöhnlichen Brille vertauscht, fuhr er hoch, als wäre er von einer Tarantel gestochen worden. „Was ist das?“ stammelte er. „Im Gehirn Charivaris drehen sich die tollsten Gedanken - Gedanken, die sicher nicht für uns bestimmt sind...“ Er stand wie erstarrt. Unheimlich funkelte die Brille im Widerschein des Kaminfeuers. „Aus“, sagte er tonlos, „aus!“ „Ist - ist die Unterwasserstadt zusammengebrochen?“ fragte Tati heiser. „Nein.“ Superhirn nahm das telepathische Instrument vorsichtig ab. Er zwang sich zur Ruhe, doch seine Stimme bebte: „Wahrscheinlich wollte der Professor uns noch irgend etwas durchgeben, denn er war für Gedankensendungen und -empfang noch bereit. Das heißt, er hatte seine Augenhaftschalen noch auf. Da muß ihm wohl ein Alarmsignal dazwischengekommen sein, das seine Gedanken ablenkte. Unbewußt strahlte er die Bilder, die ihm durchs Hirn blitzten, aus. Dann hat er um so schneller abgeschaltet.“ „Damit wir nichts mitkriegen?“ forschte Henri. „Genau!“ bestätigte Superhirn. „Wo sind die Taschenlampen? Los, rauf auf den Turm! Im Hochmoor, in der verlassenen Station, ist der Teufel los!“ „Weshalb vermutest du das?“ keuchte Gérard, als die vier großen Jungen durch den Gang hetzten. Micha, Tati und Loulou hatten sie zurückgelassen. „Charivaris Gedanken spiegelten die alte Hütte wider!“ sagte Superhirn hastig. Auch die Unterwassergarage und die geheime Bodenstation - sogar unser Raumschiff ,Monitor' unter dem
Moor von Marac.“ Als sie die Leitern hochgeklettert waren, standen sie unter mondhellem Himmel auf der weiten Turmplattform. Henri wies mit seiner Hand nach Osten. „Dort liegt das Moor!“ sagte er. Man brauchte weder Superhirns dicke Normalgläser noch die telepathische Brille, um zu sehen, daß dort etwas los war. „Ich sehe Irrlichter!“ meinte Prosper. „Quatsch!“ brummte Gérard. „Böse Kobolde, tanzende Geisterchen, was? Haha!“ „Selbstzündendes Erdgas!“ vermutete Henri. „Nein, das ist nichts Natürliches!“ murmelte Superhirn. „Seht, zwei dicht aneinandersitzende Leuchtsignale! Ihr Zwischenraum wird nicht größer und nicht kleiner!“ „Zwei grünblaue Signale von gleichbleibender Helligkeit“, stellte Henri jetzt fest. „Ob das ein Gefahrenzeichen ist? Ein Hilferuf wie SOS oder May-Day?“ ,Aber ich denke, die Geheimstation im Hochmoor existiert nicht mehr?“ rief Prosper. „Jedenfalls soll sie doch unbesetzt sein!“ „Siehst du nicht? Da läuft einer rum!“ sagte Henri ärgerlich. „Sperr deine Augen auf! Das grünblaue Doppellicht bewegt sich so, als schwenke es jemand auf einer Tafel hin und her!“ „Freunde“, erklärte Superhirn gepreßt, „ich habe euch noch nicht alles verraten! Charivaris Gedanken haben noch viel mehr widergespiegelt! Und was ich da sehe...“ Er gab sich einen Ruck: „Wir müssen sofort ins Hochmoor!“ „Um die Lichter auszuknipsen?“ fragte Gérard. „Um eine Art Weltuntergang zu verhindern!“ erwiderte Superhirn. 6. Wieder im Raumschiff Monitor Als Henri, Gérard, Prosper und Superhirn über den Zaun am Hochmoor stiegen, war es genau vierzig Minuten nach Mitternacht. „Überlegt es euch noch einmal“, sagte Superhirn. „Wenn ihr wollt, könnt ihr umkehren! Noch ist Zeit!“ „Bevor du uns nicht erklärst, was Charivari zuletzt ausgestrahlt hat, weiche ich dir nicht von der Seite!“ antwortete Henri verärgert. „Ich auch nicht!“ schloß sich Prosper an. „Und erst recht nicht ich!“ brummte Gérard. „Was schleppst du da übrigens in deinem Brotbeutel mit?“ „Einen Klingeltrafo“, antwortete Superhirn und kicherte dabei. „Denn wenn ich mir alles richtig zusammengereimt habe, was ich durch die telepathische Brille empfing...“ Er schwieg. Sie waren an der Ruine der Bruchsteinkapelle vorbeigelaufen und hatten den kleinen Bach erreicht. „Die Hütte liegt weiter links!“ schnaufte Gérard. Er meinte das kleine Haus, das den Eingang zur geheimen Bodenstation tarnte. „Ich wundere mich, daß das Gelände nicht abgeschirmt ist“, sagte Henri. „Vergangenes Jahr hatte Charivari eine himmelhohe Glocke aus gepanzerter Luft darübergestülpt - diesmal stoßen wir auf keinen Widerstand!“ Er hatte kaum ausgesprochen, als Prosper vor Schreck in die Knie ging. Vor ihnen erhob sich ein Monstrum mit grünblau schimmernden Augen. Henri blieb jäh stehen. Superhirn riß Gérard zurück. „Weg!“ befahl das schreckliche Wesen. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem rostigen Trichter, „Weg! Ich bringe den Toood!“ Die grünblauen Augen gingen auf - zu - auf - zu - auf - zu - auf ... Und nun entrang sich der Kehle des Monstrums ein Fauchen, das einem die Haare zu Berge stehen ließ. „Hilfe!“, stammelte Prosper. „Leuchte den Kerl mal an, Henri!“ zischte Superhirn.
Der zitternde Strahl der Taschenlampe fiel auf die menschenähnliche Figur. „Teufel!“ Niemand wußte, ob Gérard mit diesem Schrei Schreck oder Wut ausdrückte: Die Gestalt war ein Ritter! Oder vielmehr: Sie trug eine Ritterrüstung! „Was soll denn dieser endlose Blödsinn mit dem alten Marmozan?“ murmelte Henri. „Im Campinglager, auf dem Schrottplatz, im Brief, auf Roche Clermont - nichts wie Marmozan, Marmozan, Marmozan! Und jetzt gehen wir hier im Hochmoor einem automatischen Gespenst auf den Leim!“ „Weg!“ fauchte die Gestalt wieder. Nun sah man, daß die Augen unter dem Visier nicht auf- und zuklappten, sondern aufleuchteten und erloschen und wieder aufleuchteten. „Lämpchen, relaisgesteuert“, erklärte Superhirn, während er sich in weitem Bogen vorsichtig um die Figur herumbewegte. „Sind das etwa die Augen, die Charivari zu suchen befahl?“ fragte Gérard spöttisch. „Im Gegenteil!“ sagte Superhirn mit Nachdruck. „Von diesem Kerl hier wollte er uns fernhalten! Nur die Brille sollte ich finden, nichts anderes! Und wir sollten unsere Ferien in hübscher Abgelenktheit auf Roche Clermont verbringen!“ „Aber was soll dieser Quatsch?“ rief Prosper, sich aufrappelnd. „Kein Quatsch!“ warnte Superhirn. „Das ist schrecklicher Ernst.“ Er näherte sich der Figur, plötzlich stolperte er und fiel bäuchlings hin. Im gleichen Augenblick setzte sich das Monstrum in Bewegung: Schritt für Schritt, Schritt für Schritt ging es auf die alte Hütte zu. „Der Kerl schleift ihn mit! Er schleift Superhirn mit!“ schrie Prosper. Aber Superhirn rollte eher. Er versuchte sich zu fangen; endlich stemmte er sich - rückwärts tappend - gegen etwas Unsichtbares an, machte eine Art Flanke und kam zu den Freunden zurück. „Das ist ein Roboter!“ berichtete er schwer atmend. „Er hat eine unsichtbare Stolperschwelle um sich, damit niemand an ihn heran kann. Legt euch hin! Paßt auf, was er macht! Vielleicht habe ich durch die Berührung einen Gegenangriff ausgelöst!“ „Stolperschwelle?“ wiederholte Gérard. „So 'ne Art unsichtbarer Schutzring, In den bin ich hineingeraten“, erklärte Superhirn rasch. Sie lagen alle vier im Heidekraut und beobachteten den Roboter. „Er geht in die Hütte!“ raunte Prosper. „Hast du die Brille bei dir?“ fragte Henri. „Gib dem Professor durch, daß hier ein Roboter - getarnt als Rittergespenst - Menschen tödlich bedroht! Superhirn lachte leise. „Das weiß Charivari längst! Der Roboter ist von ihm selber geschickt!“ „Das ist doch nicht dein Ernst!“ zischte Prosper. „Charivari ist unser Freund! Wie kann er uns einen gefährlichen Roboter senden?“ „Mein voller Ernst!“ beharrte Superhirn. „Der Professor hat gar nicht damit gerechnet, daß wir im Hochmoor sein könnten. Ich sagte ja, er wollte uns von hier fernhalten!“ „Wir sollten dem Roboter nicht begegnen?“ überlegte Henri laut. „Wir durften nicht einmal was von seiner Anwesenheit wissen?“ „Damit uns die Neugier nicht etwa hertriebe!“ vermutete Superhirn. „Der Roboter ist aus der Meerestiefe geschickt worden, um die Bodenstation hier zu vernichten, die Charivari jetzt entbehren kann!“ „Aber wieso in Form eines alten Ritters?“ Prosper konnte sich nicht beruhigen. „Erstens ist der Roboter in Rittergestalt nicht aus Eisen, sondern aus Plastik, wie ich gemerkt habe“, flüsterte Superhirn. „Und Charivari hat gerade diese Figur gewählt, die Wappengestalt von Marac, weil er mit dem Aberglauben der Leute rechnet. Wer hier der Spukgestalt von Roche Clermont begegnet, reißt bestimmt aus. Um diese Zeit treibt viele Leute sogar ein harmloses Nebelgebilde in die Flucht.“ „Also, der Roboter soll die Bodenstation von Marac vernichten“, kam Gérard auf den Hauptpunkt zurück. „Wie mag er her gelangt sein?“ „Mit unserem damaligen Raumschiff Monitor das jetzt in der Unterwassergarage vor den Todesklippen liegt“, entgegnete Superhirn. „Das erfuhr ich durch die telepathische Brille. Das
Raumschiff und der Roboter sind programmiert. Trotzdem scheint da was schiefgegangen zu sein. Charivari muß ganz plötzlich automatische Warnsignale aus dem Bordcomputer erhalten haben, daß die Dinge verkehrt laufen. Die Gedanken, die durch sein Hirn blitzten - und die nicht für mich bestimmt waren deuteten darauf hin.“ „Wieso?“ fragte Henri, atemlos vor Spannung. „Was hat er gedacht?“ „Dem Gedankendurcheinander Charivaris entnahm ich, daß er fürchtet, der Roboter könne Marac vernichten ... Seht! Der Roboter wirkt wie betrunken! Offenbar findet er den Eingang zur Hütte nicht mehr!“ Superhirn sprang rasch auf und fuhr fort: „Irgendwas in dem Elektronengehirn hat ausgesetzt! Das Kontrollgerät an Bord von Monitor' wird ihn nicht mehr lenken können . Plötzlich ging ein Ruck durch die schattenhafte Figur - der Roboter kam auf die Freunde zugestelzt! „Achtung!“ mahnte Superhirn scharf. „Das kann ein Gegenangriff sein. Er wird außer der Stolperschwelle auch noch andere Schutzmaßnahmen haben!“ Die vier schnellten hoch und rannten ein Stück zurück. Prosper drehte sich um. „Er ist weg!“ rief er verblüfft. Ruhig sagte Henri: „Er ist hingefallen. Er kommt nicht mehr hoch!“ Das stimmte. Als sei er schwer angeschlagen, stellte sich der Roboter doch wieder schwankend auf seine Füße. „Das eine Licht funktioniert nicht mehr!“ bemerkte Superhirn. „Wahrscheinlich sind auch die unsichtbaren Strahlen ausgefallen, mit denen er die Umgebung abzutasten hatte. Jetzt läuft er im Kreis!“ Plötzlich schrie Prosper: „Ich bin getroffen! Er hat geschossen! Au, au, mein Kopf!“ Superhirn verspürte einen Schlag gegen die Schulter. „Luftkugeln!“ brüllte er. „Kugeln aus geballter Luft - wie geschmetterte Tennisbälle! Deckung!“ Er wußte, schon ein Schmetterball beim Tennis konnte einen Menschen außer Gefecht setzen. Doch der Roboter und die ihm eingespeicherte Selbstverteidigung schienen überhaupt nicht mehr zu funktionieren: er drehte sich bebend um und schoß seine Luftkugeln nun gegen die alte Hütte. „Der hat überhaupt keine Orientierung mehr!“ rief Henri. „Superhirn, Superhirn! Jetzt läuft er in Richtung Straße!“ Die Straße war weit, aber im landeinwärts gelegenen Teil des Hochmoors hatte der Roboter gewiß nichts zu suchen. „Dachte ich mir´s! Der ist durchgedreht“, murmelte Superhirn. „Das habe ich den Gedanken Charivaris entnommen.“ Er kramte in seinem Brotbeutel. „Was willst du mit dem komischen Klingeltrafo?“ rief Gérard. „Soll das eine Waffe sein? Deine Batterie hat doch höchstens viereinhalb Volt!“ „Trotzdem“, erwiderte Superhirn hastig, „so ein alter Wachmann auf Roche Clermont hat sich da was zurechtgebastelt. Und das habe ich schon bei meiner ersten Durchsuchung gefunden. Die Funken aus dem lachhaften Kästchen geben immerhin ein paar tausend Volt Hochspannung.“ Er rannte jetzt dem schwankenden Roboter nach. „Was will er tun?“ fragte Prosper. „Eine Funkstörung im Gehirn des Roboters erzeugen“, meinte Henri. Superhirn „befunkte“ in vollem Lauf die unheimliche Figur, die weiter landeinwärts schwankte. Die Wirkung hatte keiner vorausgeahnt. Der Roboter gab sämtliche Abschreckungsschreie her, die seiner Maschinenstimme eingegeben waren. Auf einmal flogen Teile durch die Gegend. „Deckung!“ schrie Superhirn wieder. „Er reißt sich die Beine aus.“ Im Mondlicht sah man die künstlichen Gliedmaßen durch die Luft fliegen. „Die Arme lösen sich von selber!“ brüllte Superhirn. Und plötzlich sauste der Kopf des Roboters etwa hundert Meter in die Höhe. Ein kurzes, geräuschloses, grünblaues Aufflammen - dann bewegte sich nichts mehr.
„Der ist futsch!“ stellte Superhirn erleichtert fest. „ich habe seine Selbstzerstörung ausgelöst. Seht mal, wie die Teile kalt erglühen!“ Prosper atmete auf. Trotzdem fragte er: „Na, und was hätten wir damit erreicht?“ „Daß dieser Automat nicht etwa in den Ort taumelte“, entgegnete Superhirn ernst. „Weißt du denn, was er dort hätte anrichten können? Ich meine: der Roboter sollte die unterirdische Bodenstation vernichten - doch dann torkelte er von seinem Aufgabenplatz weg! Wer weiß, was er anderswo zerstört hätte!“ „Dann hättest du Marac gerettet?“ meinte Henri. „Ich nicht, sondern du!“ widersprach Superhirn. „Du hast mich ja gedrängt, die Brille in Roche Clermont noch einmal aufzusetzen. He, wo ist sie überhaupt?“ Er tastete seine Brusttasche ab. „Auch das noch!“ seufzte er gleich darauf. „Bei dem Sturz über die Stolperschwelle des Roboters ist mir das Ding zerbrochen!“ „Keine Verbindung mit dem Professor mehr hauchte Prosper entgeistert. Aber dann kam ihm die rettende Idee: „Wenn der Roboter mit Monitor' gekommen ist, muß das Raumschiff in der Unterwassergarage vor der Küste liegen! Und im Kommandostand ist eine große Gedankenleselupe! Versuchen wir, Charivari damit zu erreichen!“ Die Freunde liefen zur Hütte. Die Tür ließ sich leicht öffnen; anscheinend hatte der Roboter alle Sicherungsmaßnahmen außer Kraft gesetzt. „Wenn ich mich nicht irre“, brummte Gérard, „bin ich draußen über einen Schlauch gestolpert!“ „Du bist über ein Kabel gestolpert!“ verbesserte Superhirn. „Die Lage scheint mir brenzlig! Der Bursche hatte bestimmt schon einiges zur Vernichtung der Basis - und auch der Hütte - vorbereitet!“ Durch den eisernen Ofen stiegen sie in die geheime Weltraumbasis unter dem Hochmoor hinab. Die mattschimmernden Wände waren noch immer indirekt beleuchtet; die Automatik der Türen und Schleusen funktionierte, und die Befehlszentrale mit dem riesigen Tastenschreibtisch schien unverändert. „Niemand da!“ stellte Prosper fest. „Rein in den Fahrstuhl, runter in die Garage!“ befahl Superhirn. „Monitor“ lag tatsächlich auf seiner Gleitrampe. Allen voran kletterte Superhirn durch die Einstiegsluke. Rasch blickte er im hell erleuchteten Kommandostand umher. „Da haben wir's“, sagte er. Er deutete auf eine Leuchttafel. „Seit Vormittag liegt Monitor hier - genau seit neun Uhr vierzig. Der Zeiger steht bei der roten Markierung. Und dort: die Schaltuhr! Daran könnt ihr ablesen: Alle Instrumente schweigen bis Mitternacht. Danach sollte der Roboter wohl aussteigen und die Station vernichten.“ Superhirn prüfte alle Instrumente und die Zahlenkolonnen, die von winzigen Leuchtpunkten an den Wänden gebildet wurden. Den anderen war nicht klar, was er suchte. Doch Superhirn war eben Superhirn - er begriff die Zusammenhänge, die sogar die meisten Erwachsenen nicht erkannt hätten. „Hier hat ein Impulsgeber zu früh eingesetzt“, erklärte er mit Entschiedenheit. Der Roboter hat die von der Schattenuhr festgesetzte Frist nicht abgewartet! Er ist sofort ausgestiegen.“ Plötzlich durchfuhr Superhirn eine Frage: Wann bloß, wann...? „Hier ist es registriert!“ beantwortete er laut seinen Gedanken. „Um zehn Uhr früh war der Roboter im Freien! Wann ist die Kunstflugstaffel an den Küsten von Marac entlanggedonnert?“ „Kurz danach!“ erwiderte Henri. Er riß verblüfft die Augen auf. „Meinst du etwa...“ „Ich meine, was ich irgendwie schon längst ahnte: Zusammenhänge. Jetzt weiß ich, welche es sind: Solche Kunstflugzeuge stecken voll Elektronik. Wichtige Messungen werden ständig automatisch an die Bodenstation gefunkt. Die Piloten haben Radiohöhenmesser, die unaufhörlich Mikrowellen senden, und sie haben auch Radar an Bord! Die unaufhörlichen Mikrowellensendungen haben dem Roboter wohl einen Stich versetzt. Sein Elektronenhirn ist durch die Sendungen zerstört worden. Der Professor konnte ja nicht ahnen, daß hier soviel gesendet wird, und sogar auf einer Wellenlänge, die die Robotersteuerung beeinflußt. Als die automatischen Befehle wieder ungestört kamen, leistete er nur noch verkehrte Arbeit. Die Kontrollanlagen müssen in der F-Siedlung falsch angezeigt haben bis zu dem Moment, als der künstliche Kerl seine Augenstrahler immer in die verkehrte Richtung
lenkte und landeinwärts ging!“ „Was ist das da für eine Formelreihe auf dem Kommandopult?“ fragte Henri. Superhirn beugte sich darüber. Die Zahlen und Buchstaben waren winzig, kaum noch mit dem bloßen Auge zu erkennen. Sie blinkten in kurzen Abständen feuerrot, und zwar so, daß das Licht wie bei einer Leuchtreklame von einer Lämpchenfigur zur anderen glitt, nur viel, viel schneller. „Doch nicht etwa Treibstoffverlust?“ murmelte Superhirn. „Aber die Zahlenreihe besteht fast nur aus Nullen! Hier sehe ich sogar abgekürzt: 10-18 - und das bedeutet achtzehn Nullen hinter dem Komma.“ Er blickte angestrengt auf das Pult mit den seltsamen, schreckerregenden Zeichen. Also doch: „Treibstoffverlust etwa ein Attogramm“, sagte er schließlich. „Atto ... was?“ fragte Gérard. „Ein Attogramm“, erklärte Superhirn, „das ist der milliardste Teil eines milliardstel Gramms. Das kann für das hochempfindliche Raumschiff immerhin soviel bedeuten, als habe ein Ozeanschiff dreitausend Liter Dieselöl verloren.“ Prosper lauschte. „Da ist jemand! Draußen, in der Garage!“ Die drei anderen fuhren herum. „Henri!“ ertönte es vor der Einstiegsluke. Es war Tatis Stimme. 7. Die Superhaie greifen an „Was wollt ihr denn hier?“ schimpfte Superhirn, als Tati und Micha in den Kommandoraum kamen. „Meint ihr, wir konnten schlafen, als ihr weg wart?“ gab Tati zurück. „Micha ließ mir keine Ruhe. Ich fand´s ja auch nicht fein von euch, uns allein zu lassen!“ „Den Grund dafür hättest du begriffen, wenn ihr eine Viertelstunde früher gekommen wärt“ brummte Gérard. „Hier ist nämlich die Hölle los!“ „Weil's in der leeren Raumstation so heiß ist?“ fragte Micha. Superhirn blickte auf. „Heiß?“ rief er „Na, wie in der Wüste!“ erklärte Tati. „Oder fast schon wie in einem Bratofen. In der Zentrale bekamen wir kaum noch Luft!“ „Raus hier!“ schrie Prosper, der Superhirns Erbleichen bemerkt hatte. „Die Garage füllt sich auch schon mit Heißluft! Merkt ihr's nicht? Sie kommt schon zur Luke herein! Schnell, wir müssen nach oben ins Freie!“ „Halt!“ befahl Superhirn. Er warf einen raschen Blick auf die Innenskala des Außenthermometers. „Die Temperatur steigt wie verrückt! Es ist zu spät!“ „Was? Soll das bedeuten, wir sind im Raumschiff gefangen? Wir kommen nicht mehr heraus?“ rief Tati. „Luke schließen!“ sagte Henri ruhig. Auf einmal war er wieder der besonnene Bordkommandant an der Seite seines Chefingenieurs Superhirn. „Wir müssen weg, und zwar mit dem Raumschiff!“ erklärte Superhirn. „Ob ihr nun müde zum Umfallen seid oder nicht, es gibt kein Zurück oder Hinauf. Der Roboter hat einen Teil seiner Arbeit geleistet. Diese Bodenstation und ihre Wassergarage werden verglühen. Schnell, fertigmachen zum Start!“ „Raumschiff ist programmiert, und zwar zur Meeresbodenstation F-Siedlung im Atlantik“, stellte Henri fest. Er hatte aufs Geratewohl die Taste „Zielposition“ gedrückt. An der Backbordwand erschien die Reliefkarte des Meeresbodens zwischen Afrika und Amerika von der eisfreien Region südlich Grönlands bis zur Höhe von Feuerland hinab. Im Nordatlantik leuchtete ein grüner Punkt. Superhirn sah auf. „Stimmt“, bestätigte er. „Wir brauchen nichts zu machen, als Monitor in Bewegung zu setzen. Verflixt“, er blickte auf das gewaltige, lupenartige Glas neben dem Kommandotisch, „der große Gedankenleseapparat!“ „Was ist mit dem?“ fragte Henri ahnungsvoll. „Trüb, völlig trüb! Kaputt. Dieser Roboterkommandant scheint noch mehr Mist gemacht zu haben, als ich dachte. Prosper, schalte Bildfunk Zielposition F-Siedlung. Laß den Kennwortsprecher laufen, der die Stichworte gespeichert hat!“
„Auch kaputt!“ meldete Prosper. „Mensch, Superhirn! Guck mal auf die Skala des Außenthermometers! Wir kommen nicht mehr aus der Garage raus! Gleich bricht die Decke ein!“ „Bild auf Schirm sechs, steuerbords!“ rief Henri. Wie gebannt starrten alle darauf. Nein, das war nicht Charivaris ferne Meeresstation - das war die Basis von Marac, in der sich das Raumschiff noch immer befand! Was man sah, war die Befehlszentrale unterm Hochmoor, die sie vor kurzem noch durchmessen hatten. Aber sie sah auf einmal nicht mehr so geleckt aus. „Ich muß mein Urteil über den Roboter dauernd ändern“, murmelte Superhirn. „Zwischen dem Stich, den er heute vormittag gekriegt hat, und seiner Vernichtung, heute nacht, hat er seine Arbeit großenteils programmgemäß verrichtet. Draußen hat er Kabel gelegt, und die wird er an die Hauptkraftzentrale der Bodenstation angeschlossen haben. Und in die Befehlszentrale strömt Luft mit Zusatzstoffen durch die Klimaanlagen: Seht ihr die schleierartigen Wolken? Die Temperatur erhöht sich. Sie hat sich stufenweise erhöht, damit er Gelegenheit gehabt hätte, ins Raumschiff zurückzukehren und zu starten. Aber da hat ihn sein Elektrogeist wieder verlassen, und er ist ins Moor hinausgelaufen.“ „Und wir sitzen jetzt hier!“ brummte Gérard. „Warum brausen wir nicht ab?“ „Alle Hebel sind bereits auf Start, du Schaf!“ sagte Henri ruhig. Inzwischen vollzog sich vor den Augen der Besatzung - im Bild genau sichtbar - die gespenstische Auflösung der Raumfahrtbasis Marac. „Mensch, daß die Kunststoffe überhaupt glühen!“ wunderte sich Prosper. „Wenn Metall glüht, zerfließt und zerfällt der Kunststoff mit“, erklärte Superhirn. „Seht mal - die Schuppen auf den Eisenteilen! Das nennt man verzundern. Aus Aluminium wird Tonerde und...“ Er unterbrach sich, denn das Bild begann zu wandern. „Monitor bewegt sich auf der Rampe seewärts!“ meldete Bordkommandant Henri, ein SilhouettenSichtzeichen beobachtend. „Monitor jetzt auf Drehplatte. Das Schiff richtet sich auf zum Senkrechtstart!“ Davon merkte freilich niemand etwas. Denn Monitor besaß ein künstliches Schwerkraftzentrum, so daß im Kommandoraum und Lastenteil „oben“ und „unten“ sich nicht veränderten, also für die Insassen alles gewissermaßen stets waagerecht blieb, wohin auch immer die Spitze des Raumschiffs wies. Alle Nutzräume, auch die Messe, die Küche, das Freizeit-Center, das Bordlabor und die Schlafkabinen, waren wie die Luftblase in der Wasserwaage. Die Waage konnte man drehen, wie man wollte, die Luftblase veränderte ihre Lage nicht. Die jungen Raumfahrer saßen jetzt bequem, fast gemütlich, in schrägen, drehbaren Sesseln. Micha hielt den Hund an sich gepreßt. Henri und Superhirn - der eine auf dem Platz des Bordkommandanten, der andere auf dem des Flugingenieurs - starrten gespannt auf eine sonderbare, runde Fläche, die wie eine Tischplatte wirkte. Das war der Himmelsvisor. Er sollte ihnen einen Blick ins All ermöglichen. „Aber ich denke, wir wollen runter in die Meerestiefe!“ rief Micha. „Der Professor wird das berechnet haben!“ antwortete Henri. „Wir machen einige Erdumkreisungen, dann tauchen wir wieder in die Atmosphäre und an der vorgesehenen Stelle ins Meer ein.“ Superhirn warf Henri einen Blick zu, dann sagte er leichthin: „Legt euch lieber ein Stündchen aufs Ohr. Ihr könnt uns ja nachher ablösen!“ Nach einigen Minuten war Superhirn mit Henri in der Kommandozentrale allein. Alle übrigen schliefen im Wohnteil. „Du hast doch was, oder?“ fragte Henri. „Und ob!“ murmelte Superhirn. „Ich will nur die anderen nicht kopfscheu machen. Wir sitzen hier in einem Pulverfaß!“ „Im Augenblick läuft doch alles prima!“ Doch Superhirn tippte auf das Pult mit den winzigen, unaufhörlich blinkenden Ziffern und Buchstaben: „Treibstoffverlust!“ sagte er ernst. „Monitor fliegt ja nicht mit Treibstoffen gewöhnlicher Raumschiffe. Es benutzt Hyperkomprimate, deren Zusammensetzung Charivaris Geheimnis ist. Normale Treibstoffe könnten Monitor weder die unerhörten Reichweiten noch seine Verwendung als Allzweckfahrzeug gestatten.“
„Hyperkomprimate?“ „Na ja - auf engstem Raum zusammengedrückte Energien“, erklärte Superhirn. „Kraftpakete, die automatisch in den Antriebteil gefördert werden und trotz ihrer Winzigkeit einen irrsinnigen Schub entwickeln.' „Der scheinbar lächerlich geringe Verlust, der auf dem Pult signalisiert wird, könnte also trotzdem höchste Gefahr bedeuten?“ fragte Henri. Superhirn nickte. „Das Komische ist nur: Der Start ist gelungen, und der Treibstoffverlust erhöht sich nicht. Ich schätze, das Leck ist automatisch behoben worden. Mich wundert nur, daß die Schrift nicht verschwindet!“ „Vielleicht hat der Roboter falsch reagiert“, vermutete Henri. „Ja“, Superhirn runzelte die Stirn, „und das hat er sicher mehrfach getan.“ Er sah Henri lange an. Sein Gesicht wirkte fast käsig. „Wenn das nicht der erste Treibstoffverlust war? Wenn die Formelreihe vielleicht falsche Werte angab?“ „Dann - dann kreisen wir bis zum jüngsten Tag im All!“ murmelte Henri. „Verflixt, wir hätten auf dem alten Schloß bleiben sollen!“ „Noch etwas stimmt mich nachdenklich“, fuhr Superhirn heiser fort. „Professor Charivari hat doch alle Möglichkeiten, Monitors Kommandoraum mit sämtlichen hier vorhandenen Geräten zu kontrollieren. Es gibt doch eine Längswellenverbindung zwischen Meeressiedlung und Monitor!“ „Wie meinst du das?“ Henri hob die Brauen. „sollte sich der Roboter über die Mattscheiben mit ihm unterhalten haben?“ „Quatsch“, sagte Superhirn rauh. „Der Roboter hat hier gesessen wie ein Elektro-Affe, nur so weit ansprechbar, wie es die Aufgabe erforderte. Aber der Kasten neben mir, der im vorigen Jahr noch nicht eingebaut war, ist sein Kontrolleur gewesen - koordiniert mit dem künstlichen Gehirn dieses Burschen. Steht doch dran: Achtung! Gefahr! Robot spezial! Was kann das denn anderes bedeuten?“ „Aha, und die beiden Gesellen, der Kasten und der Plastik-Ritter, haben sich nicht immer verstanden?“ „Jedenfalls nicht so gut wie wir!“ erklärte Superhirn grinsend. Er wurde aber gleich wieder ernst. „Aber es muß doch eine zusätzliche Verbindung zwischen Monitor' und der Meeresbodenzentrale Charivaris gegeben haben“, wiederholte er seine Gedanken, „Als ich in Roche Clermont die telepathische Brille aufhatte, wurde mir das deutlich klar: Der Kasten neben mir, also der Wächter, hat dem Professor entsprechende Signale gegeben, und der Professor hat durch Strahlenstöße diesen Robot-Aufpasser überwacht. Er teilte ihm die Befehle mit, die das Ding an unseren künstlichen Ritter weitergab.“ „Ich weiß!“ rief Henri aufgeregt. „Der automatische Aufpasser hat eine Art - na, beim Menschen würde man sagen: Doppelspiel getrieben. jedenfalls hat der Professor manche Werte nicht richtig empfangen!“ „So ähnlich!“ meinte Superhirn. ,Aber der Professor hätte den Roboter auf dem Bildschirm in der Meeressiedlung beobachten können!“ „Eben!“ Superhirn rieb sich die Nase. Ich habe alle Geräte auf Sendung gestellt, Der Professor müßte längst wissen, wer jetzt hier drinnen sitzt!“ „Und doch bleiben die Bildschirme in unserem Kommandoraum dunkel“, bemerkte Henri. „Auch haben wir nicht mal ein Räuspern des Professors gehört!“ Superhirn blickte schweigend auf den Himmelsvisor und auf einige andere Geräte. „Wir sind auf Erdumlaufbahn“, sagte er endlich. Seine Stimme klang erleichtert. „Die Instrumente bestätigen es.“ Henri antwortete nicht. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt. Er war in seinem Drehsessel eingeschlafen. Nach einer Weile fielen auch Superhirn die Augen zu. Er und Henri wurden erst durch Tati wieder geweckt. „Ihr seid mir schöne Lokführer!“ rief das Mädchen lachend. „Pennt hier im Führerstand und überfahrt womöglich jedes Signal!“
Superhirn sprang auf. Er war sofort hellwach. Eilig schritt er an den Wänden entlang und prüfte die Instrumente. „Sind wir noch im Weltraum oder in der Luft?“ fragte Tati, auf den Himmelsvisor blickend. „Ja, wenigstens gehe, ich keine Fische! Das Ding hat sich noch nicht auf Unterwassersicht umgestellt!“ Superhirn wandte sich zu Henri um. „He, Kommandant, reiß die Augen auf! Siehst du irgendwo eine Warnlampe?? „Nein.“ Henri, jetzt ebenfalls wach, schaute aufmerksam umher. „Sogar die blinkenden Formelzeichen für den Treibstoffverlust sind jetzt dunkel. Man sieht nur noch eine Platte, die mit winzigen Glasperlen bestückt ist“ „Sonst kein Warnzeichen? Nichts?“ wollte Superhirn bestätigt wissen. „Keins!“ erklärte Henri. „Auch Signale, die Gefahren melden sollen, können ausfallen“, murmelte Superhirn. „Sieh mal! Die Meeresbodenkarte mit dem grünen Zielpunkt ist verschwunden! Anscheinend funktioniert die Zielprogrammierung nicht!“ „Aber wir trudeln doch nicht!“ rief Tati, die Superhirns Sorge nicht begriff. „Die Automaten in der Küche funktionieren jedenfalls! Die Verpflegung ist also gesichert!“ Daß die Verpflegung an Bord gesichert war, sah man der Bordküche zunächst freilich nicht an - sie war völlig leer. Lediglich eine Reihe von farbigen, durchsichtigen Leuchttafeln lenkte das Auge auf sich: die Speisekarten. Man brauchte nur auf Zahlen vor den einzelnen Gerichten oder Leckerbissen zu tippen. Sofort wurde hinter der Wand alles fix und fertig zubereitet und schließlich auf Tabletts aus Fächern herausgeschoben - ähnlich wie in einem Automatenrestaurant. Nur daß dort dienstbare Geister aus Fleisch und Blut dahinter standen. Wenig später hatte Tati den Frühstückstisch in der Messe gedeckt. Micha hockte strahlend vor einer Portion Spiegeleier, Gérard aß ein saftiges Steak, Prosper hatte sich heiße Würstchen gewählt. „Ihr seht mir viel zu frisch aus!“ tadelte Henri die beiden großen Jungen. „Ihr schlaft, geht unter die Dusche und laßt euch zum fröhlichen Picknick nieder! Los, Ablösung vor!“ Als Henri und Superhirn ebenfalls geduscht und gefrühstückt hatten, fanden sich alle Besatzungsmitglieder in der Kommandozentrale zusammen. Superhirn war sehr nervös. Er drückte auf alle möglichen Tasten und Knöpfe. „Was ist das, was da aufleuchtet?“ fragte Tati. Ein roter Blitz war über die ganze Bordwand gezuckt. „Henri, schnell in den Lastenraum! Sieh nach, ob das Schaltmodell von Monitor funktioniert!“ rief Superhirn. Henri kam zurück. „Nein“, meldete er. „Komisch! Das Raumschiff gleitet gleichmäßig - so scheint es. Aber die meisten Armaturen spielen nicht mit!“ „Dann öffne das Pult! Wenn schon das Schaltmodell und die Maschinenstimme sowie jede Orientierungs- oder Befragungsmöglichkeit ausfallen, muß uns wenigstens ein lumpiger Schaltplan aus Papier helfen können!“ „Oder ein Heft mit Zeichenerklärungen!“ fügte Henri hinzu. Er fand auch wirklich ein Signalbuch. Superhirn riß ihm das Buch aus der Hand. „Der Blitz“, sagte er hastig, „was bedeutet der Blitz?“ „Sag schon - was steht da? Lies vor!“ drängte Micha. „Lieber nicht“, ächzte Superhirn kaum hörbar. Als Erklärung für das unheimliche Zeichen stand nämlich in dem Heft: „Raumschiff Monitor löst sich auf!“ Henri hatte Superhirn über die Schulter geblickt. Seine Augen weiteten sich. „Raumschiff Monitor löst sich auf?“ Sollte das heißen, daß das Raumschiff gleich zerplatzen oder mit allen, die in ihm sitzen, lautlos in ein Nichts zergehen würde? Der Gedanke war unfaßbar. Vor Henris Blick verschwamm alles. Er hatte den Eindruck: Jetzt, jetzt
ist es soweit! Doch ein gellender Schrei von Prosper brachte ihn zu sich! „Achtung, linke Seite, Bildschirm eins!“ Alle starrten auf die angegebene Mattscheibe. Sie wirkte plötzlich wie ein Fenster, durch das das leibhaftige Grauen hereinblickte. Aus Halbschatten, Schatten und Zwielicht entwickelte sich immer deutlicher ein Gesicht. Erst flackerte es. Es schien, als strebten Nase, Kinn und Stirn in verschiedene Richtungen. Dann zog sich der Mund ganz widerwärtig in die Breite, während die Ohren, die Schläfen und Wangenknochen schrumpften. Endlich war das Bild klar. Die Umrisse des Kopfes erinnerten an eine Salatgurke. Der spitze Schädel war kahl. Die Augenbrauen des Mannes wirkten wie zwei starke Striche, unter denen die sonderbar flimmernden Augen fast verschwanden. Das Auffälligste aber waren der dünnsträhnige, schwarze Kinnbart und die bartlosen, eingefallenen Wangen unter hohen Backenknochen. „Professor Charivari!“ jauchzte Micha. „Professor! Wir sind alle da! Wir kommen Sie besuchen! Wir...“ Er schrie vor Begeisterung alles mögliche. Denn wenn der Mann auch unheimlich wirken mochte - eins wußte Micha nur zu gut: Professor Dr. Brutto Charivari war der treueste Mensch, den man sich vorstellen konnte. „Still!“ herrschte Tati den kleinen Bruder an. „Halt die Klappe, Micha!“ rief Gérard, „Nimm den Pudel auf den Arm. Siehst du nicht, daß Professor Charivari zu uns sprechen will?“ .Seid gegrüßt, meine Freunde!“ kam die sanfte, fast schmeichelnde Stimme des Professors aus einem Lautsprecher. Sie paßte ganz und gar nicht zu dem schrecklichen Eindruck. „Ich wußte längst, daß ihr an Bord seid. In der Meeresstation erreichten mich ein paar Wortfetzen von euch. Doch bisher hat die Verbindung nicht geklappt, obwohl meine neuen Nachrichtensatelliten um die Erde kreisen. Superhirn, bitte schnell einen Bericht!“ Der junge Flugingenieur meldete dem Professor alles, was sich seit der telepathischen Verbindungsaufnahme zwischen Roche Clermont und der Meeresstation ereignet hatte. Er schilderte auch seine Vermutungen über das Durcheinander, den der Roboter-Kontrollkasten und der Roboter selbst verursacht haben mußten. „Die Signale kamen hier unterschiedlich an“, bestätigte Professor Charivari. Im großen und ganzen schien die Programmierung zu klappen. Auf Monitors Reise nach Marac gab es zwar die ersten Störungen, so daß ich auf dem Bildschirm das Verhalten des Roboters nicht sah. Erst als das Schiff in Marac angelangt war, hatte ich wieder Kontakt. Ich glaubte, es ginge alles nach Plan.“ „... bis sich der Roboter plötzlich selbständig machte“, vollendete Superhirn. „Herr Professor, ich habe mir das ungefähr zusammengereimt. Das Ding, das den Roboter von hier aus überwachte, hat einen Dachschaden. Es hat den Kerl erst mal zu früh ins Hochmoor geschickt.“ Er berichtete jetzt von den mutmaßlichen Beeinflussungen durch die Kunstflugstaffel. „Dann ist der Roboter statt zurück zur Station in Richtung Marac gestelzt. Vor allem muß er aber schon auf dem Herflug samt seinem Kontrolleur verschiedenes durcheinandergebracht haben.“ „Die telepathische Lupe ist trübe, die Maschinenbefehle sind verstummt, die Geräte funktionieren, wann sie wollen, bloß nicht, wenn man sie braucht“, erklärte Henri. „Vor allem leuchtete hier eine Zahlen- und Buchstabenreihe über Treibstoffverlust auf!“ sagte Superhirn. Das Gesicht des Professors auf dem Bildschirm verzerrte sich. „Treibstoffverlust?“ Seine Stimme klang plötzlich nicht mehr so ruhig. „Wieviel ungefähr?“ Superhirn nannte ihm die Werte. „Wo mag das passiert sein?“ fragte Charivari hastig. „Etwa in Marac?“ „Wir haben nichts gemerkt“, meinte Tati ahnungslos. „Es hat weder nach Benzin noch sonst irgendwie chemisch gerochen!“ „Ist euch irgend etwas aufgefallen, irgend etwas schrecklich Sonderbares, das scheinbar überhaupt nicht mit ,Monitor' oder dem Roboter zusammenhing?“ bohrte der Professor. „Der rote Blitz an der Wand!“ rief Micha. „Blackout!“ erwiderte der Professor. Nur Superhirn und Henri verstanden, was er damit meinte. Die
anderen sollten es sicher nicht verstehen. Aber diese Schreckensmeldung schien Charivari im Augenblick weniger zu kümmern. Wird ein besonders böser Relaisschaden gewesen sein. Blinder Alarm. Habt ihr draußen etwas Seltsames bemerkt?“ „Die Möwe!“ Superhirn schrie es fast. „Daß ich daran nicht gedacht habe! Bei Roche Clermont ist eine Möwe abgestürzt, die so groß wie ein Sportflugzeug war!“ „Was hat denn die mit uns zu tun?“ wunderte sich Gérard. Doch das Gesicht des Professors auf dem Bildschirm wurde zu einer Fratze. In seiner Stimme schwang unverhohlenes, ja rasendes Entsetzen. „Eine Möwe?“ ächzte er. „Ein vergrößerter Seevogel? Und ihr habt euch nicht geirrt?“ .Nein“, erwiderten Superhirn und Henri wie aus einem Munde. „Superhirn! Genau zuhören! Schalte den Roboter-Kontrollkasten ab! Ich denke, die Instrumente werden dann wieder funktionieren. Schnell, ich warte!“ „Anweisung befolgt!“ meldete der junge Flugingenieur. „Testet alle Geräte, die ich jetzt nenne“, fuhr der Professor fort. Bildschirm drei leuchtete auf. Ebenso begann der Kursrechner zu summen. Er zeigte die Bahndaten. Superhirn blickte zwischen Bild und Kursrechner hin und her: Professor! Ich habe unsere Flugbahn! Ich gebe die Bahndaten durch: 0-0-0-0-0-0! Sechsmal die Null!“ „Erdumlaufbahn“, bestätigte Charivari. Seine Stimme klang erleichtert, sein Gesicht entspannte sich. „Zielprogrammierung ist durch Ausschaltung des Kontrollkastens aufgehoben. Bleibt auf der Bahn und wartet auf weitere Befehle!“ Auf Bildschirm zwei sah man, wie sich ein Mann über den Professor beugte - der Spezialbekleidung nach war es ein Laborant. „Superhirn!“ Charivari hatte die Mitteilung des Mannes entgegengenommen. Jetzt starrten seine fast fiebrig glänzenden Augen wieder geradeaus: „Superhirn! Ihr bleibt auf jeden Fall auf Erdumlaufbahn. Handle jetzt ganz schnell: Nimm die Fahrtenschreiber-Rolle aus dem Kursfach 2200312!“ Henri drückte die Zahlentasten auf dem Kommandotisch. In der Wand blinkte ein Signallämpchen, daneben fiel eine Klappe herunter. Sofort war Superhirn zur Stelle. Im frei gewordenen Fach bewegte sich eine Rolle. Die Spule wirkte wie eine senkrecht rotierende Trommel. Das sichtbar gewordene Band zeigte Leuchtschrift. „Laß es zurücklaufen bis zum Countdown!“ ertönte die sich fast überschlagende Stimme des Professors aus dem Lautsprecher. „Was hat er nur?“ flüsterte Tati. „So aufgeregt war der Professor ja noch nie!“ „Countdown!“ meldete Superhirn. „Uhrzeit - Ortszeit - F-Siedlung - Zielpunkt!“ „Weiter!“ schrie der Professor. „Treibstoffverlust!“ stellte Superhirn fest. Er stockte. „Demnach hat es zweimal Treibstoffverluste gegeben?“ rief er. Die Werte stimmen nicht mit denen überein, die ich auf der Pulttafel sah. Sie sind höher!“ „Höher - um wieviel?“ Superhirn ließ den Fahrtenschreiber noch einmal zurücklaufen. Exakt gab er die Zahlen und Buchstaben durch. „Das genügt!“ sagte der Professor hoffnungslos. Doch nun schien er sich wieder aufzuraffen. Sein Gesicht wurde hart, als er befahl: „Ihr bleibt auf Erdumlaufbahn, wie ich gesagt habe! Wenn ihr das nicht tut, muß ich Monitor vernichten! Superhirn, verstehst du?!“ Superhirn überlegte einen Augenblick, dann sagte er zur Verblüffung aller seelenruhig: „Nein!“ „Ich gebe dir den ausdrücklichen Befehl...“ Das Gesicht Charivaris verzerrte sich wieder. Superhirn unterbrach ihn - ruhig, wie zuvor: „Sie geben mir eine Erklärung, Professor. Sonst lande ich dort, wo ich will - und wo ich es kann!“ „Es ist nicht möglich, dir jetzt etwas zu erklären!“ rief Charivari in höchster Erregung. „Doch!“ Superhirn ließ sich nicht beirren. „Den Grund, weshalb wir dies oder jenes tun sollen! Sie werden doch einen Grund für Ihre Anweisung haben!“ „Es könnte euch maßlos erschrecken!“ sagte der Professor etwas gemäßigter.
„Sie haben uns schon genug erschreckt“, gab Superhirn kühl zurück. „Hier an Bord sind Henri und ich verantwortlich für die Besatzung!“ „Nun gut!“ Man sah, wie der Professor sich mit einem Tuch die Stirn trocknete. Hastig erklärte er. „Nach dem Fahrtenschreiber habt ihr schon beim Start Treibstoff verloren. Das heißt, frisches Hyperkomprimat ist ins Meer geflossen, und zwar in weit größerer Menge als bei Marac.“ „Was bei Marac ausgeflossen ist, weiß ich nur von der Pulttafel her, aber das kann ja eine Falschanzeige gewesen sein!“ unterbrach Superhirn. „Die Werte waren fast Null!“ „Und doch haben sie gereicht, eine Möwe zu verändern!“ erklang die Stimme des Professors schneidend. „Das paßt genau ins Bild! Die bei der Bremszündung ungenutzt entwichene Treibstoffmenge war mikroskopisch klein. Sie reichte aus, einen Seevogel, der sie durch Zufall berührte, ins Riesenhafte zu vergrößern!“ „Ich begreife!“ sagte Superhirn tonlos. „Vergrößert der komische Treibstoff etwa alle Lebewesen?“ fragte Prosper. „Alle!“ entgegnete Charivari, nun wieder fast außer sich. „Ich wiederhole: Der erste Treibstoffverlust ist hier nach dem Start erfolgt, als Monitor mit dem Roboter zur Meeresoberfläche emporschoß - eine erhebliche Menge Hyperkomprimat, mit dem wir unsere geheimen Raumschiffe antreiben!“ „Und?“ fragte Superhirn ahnungsvoll. „Seit etwa dreißig Stunden wundern wir uns, warum die Haie größer und größer werden und in Tiefen vorstoßen, in denen selbst U-Boote schon zerdrückt worden sind! Es ist dasselbe Vergrößerungsphänomen wie bei der Möwe. Nur handelt es sich hier um Fische, die ganz anders reagieren. Und nicht um ein Einzelexemplar, sondern um ganze Rudel! Ich bekam die Meldung, daß sie sich unserer F-Siedlung nähern! Sie haben die Größe von Walen und die Angriffskraft von enormen Torpedos! Sie können die Station zerreißen!“ „Dann müssen wir ihr zu Hilfe kommen!“ rief Superhirn entschlossen. „Die Ungetüme haben bereits ein Tauchboot geknackt!“ erwiderte Charivari. „Ich befahl, die Kraftstation gegen sie zu mobilisieren. Elektrizität schreckt sie ab. Euer Eintauchen ins Meer könnte wiederum mit Treibstoffverlusten verbunden sein, das würde Erfolge zunichte machen!“ „Aber wir können doch nicht um die Erde sausen, während uns das Komprimat zu den Düsentriebwerken rausfliegt!“ meinte Henri. „Mit dem ersten Treibstoffverlust hat sich die defekte Düse von selber geschlossen“, erklärte Charivari. „Das ist ein automatischer Vorgang. Dann, in Marac, hat die Bremszündung noch den Verlust eines einzigen, ungenutzten Partikelchens bewirkt. Aber ich weiß nicht, wie ich euch jetzt helfen soll, totale Sicherheit festzustellen. Und die wäre für die Wasserung nötig! Isoliert Triebwerke und Treibstoff-Hauptlager mit der Strahlenpanzerung! Ihr erkennt die Knöpfe an den Sichtzeichen und Beschriftungen in der Steuerungskabine! Schaltet Hilfsaggregate im Lastenraum ein, Kabine gleich neben dem Labor! Wenn die Anlage funktioniert, leuchtet grünes Licht auf, und eine Stimme tönt fortwährend: Keine Gefahr! Keine Gefahr! Keine Gefahr! „Mit den Hilfsaggregaten kommen wir zur Not herunter?“ fragte Prosper. „Ihr kämt damit sogar noch ein paarmal zum Mond und zurück“, sagte Charivari. Henri wollte noch etwas fragen, doch da verschwand der Kopf des Professors von der Mattscheibe. Das Bild wurde plötzlich dunkel. „Verbindung wieder abgebrochen“, sagte Gérard. Superhirn ging darauf sofort in die Steuerungskabine und isolierte Triebwerke und TreibstoffHauptlager mit der Strahlenpanzerung, wie Charivari befohlen hatte. Während Henri probierte, ob das Schaltmodell des Monitor wieder in Ordnung war, setzte Superhirn die Hilfsaggregate in Tätigkeit: Das grüne Licht - ersehntes Zeichen dafür, daß alles klappte - leuchtete auf! Henri meldete: „Schaltmodell zeigt wieder an; läßt keine Mängel erkennen!“ In der Aggregatkabine ertönte die Maschinenstimme. „Keine Gefahr! Keine Gefahr! Keine Gefahr!“ „Keine Gefahr - für uns!“ sagte Superhirn grimmig. „Aber ich möchte nicht wissen, was jetzt in der F-Siedlung am Meeresgrund los ist.“
Sie hatten die Erde ein weiteres Mal umkreist. Die Besatzung sag wieder im Kommandoraum und blickte auf die Sichtplatte. „Professor auf Bildschirm!“ meldete Henri, der kurz aufgesehen hatte. Charivaris Gesicht wirkte steinern. „Elektrische Stromstöße haben die vergrößerten Haie in Richtung Oberfläche vertrieben!“ hörte man seine Stimme. „Ihr müßt sie jetzt ablenken und vernichten!“ „Vernichten?“ rief Prosper. „Wie denn? Mit der Angel?“ „Nein, mit Blutplasma“, erwiderte der Professor ungerührt. „Superhirn, geh ins Labor und nimm die Blutplasma-Behälter heraus!“ „Sollen wir damit etwa die Haie anlocken?“ fragte Gérard. „Ja“, kam die Antwort des Professors. „Aber dazu müssen Superhirn und Henri Monitor aus der Erdatmosphäre herausbringen und das Raumschiff auf Flugzeug umprogrammieren. Dann fliegt ihr dicht über die Meeresoberfläche - und lockt die Riesenbestien an. „Achtung! Ich gebe euch Kursbefehle!“ „Also ist die Meeresbodenstation in großer Gefahr, wenn der Professor zu solchen Maßnahmen greift“, murmelte Henri. „Wahrscheinlich sind die Riesenbestien nach der Alteration den Tauchbooten der F-Siedlung nachgeschwommen. Wenn das mit dem Blutplasma nun nicht klappt?“ Superhirn runzelte die Stirn. „Den Versuch zumindest müssen wir machen , sagte er entschlossen. „So, ich kümmere mich jetzt um das Blutplasma im Labor!“ Prosper und er holten die Behälter heraus. Und schon kamen neue Anweisungen des Professors, den Eintritt in die Erdatmosphäre betreffend. „ Stichwort Landung!“ schrie Henri. Die Maschinenstimme an Bord erklang scheppernd zur Einweisungshilfe: „Achtung, Lufthülle! Grüner Zeiger auf Landeuhr muß in Deckung mit rotem Zeiger gebracht werden. Es erfolgt automatisch richtige Winkeleinstellung für den Eintritt in die Atmosphäre. Bremsraketen zünden!“ Nach einer Weile öffnete sich das Cockpit für die Handsteuerung. Die Hitzeschilde draußen, an der Außenhülle des Raumschiffes, waren geschlossen. Nur auf dem Panoramabildschirm vorne und auf dem Himmelsvisor konnte man jetzt sehen, daß man sich der Wolkendecke näherte. Henri und Superhirn - Pilot und Kopilot - benutzten jetzt die Handsteuerung im Cockpit. Dabei hielten sie eine Umrißzeichnung ihres Schiffes immer auf einem Fadenkreuz. Dadurch konnte sich das Raumfahrzeug während des Abstiegs selbständig regeln. .Hitzeschild vor Cockpit geht hoch!“ bemerkte Henri. Sie bewegten sich wie ein Flugzeug dicht über der Meeresfläche hin. Nun brauchten sie bugwärts keinen Panoramabildschirm mehr: Sie blickten wie aus einer großen Flugmaschine hinaus direkt aufs Wasser. Prosper und Gérard hatten zusätzliche Befehle des Professors entgegengenommen. „Monitor“ machte jetzt ganz, ganz langsame Fahrt dicht über der Meeresfläche. „Blutplasma aus vorgesehenen Schächten im Lastenraum ins Wasser schießen!“ kam eine weitere Anweisung. Henri ließ Monitor langsam über der vom Professor angegebenen Position kreisen. Die Geräte zeigten an, daß sie sich über der F-Station befanden. „Atom-U-Boote!“ kreischte Micha, der sich im Kommandostand über den Himmelsvisor gebeugt hatte. Tati zog ihn rasch zurück. „Haie!“, stammelte sie. „Haie, größer als Wale! Himmel, diese schrecklichen Zähne!“ „Geht in die Messe!“ brüllte Prosper. „Seht euch das nicht an!“ Er war schreckensbleich. Ob das Dutzend irrsinnig vergrößerter Bestien nun tatsächlich dem Blutgeruch gefolgt war oder nur irgend etwas, das sich bewegte, wie zum Beispiel einem Tauchboot der F-Siedlung, wußte keiner mit Sicherheit zu sagen. Jedenfalls war das ganze Rudel an der vom Professor vorgesehenen Stelle zusammengetroffen. Dort aber hatten die furchtbaren Monstren nichts anderes vorgefunden - als ihresgleichen. Und nun begann ein Kampf zwischen den Tieren, so, wie es ernsthafte Taucher glaubhaft zu schildern pflegen.
Tati zerrte Micha, der den Pudel an sich gerissen hatte, durch die Küche in die Messe. Prosper wandte sich ab. Nur Gérard sah schluckend auf der Sichtplatte in das von kämpfenden Ungeheuern aufgewühlte Meer. Immer, wenn sie die Stelle anflogen, sahen auch Henri und Superhirn im Cockpit das entsetzliche Bild der gegenseitigen Zerfleischung. „Das sagen alle Seeleute und Forscher übereinstimmend“, murmelte Superhirn, „wenn die mal angefangen haben, geraten sie in Raserei! Aber was machen wir jetzt?“ Er sprach durchs Mikrofon mit Prosper. Gleich darauf kam die Antwort: „Ultraschall aus den Sonaren abstrahlen“, befahl Charivari. „Gehirne von Haien sollen empfindlich sein, und mit diesen „Ultraschall-Gehirnschüben“ werden die Viecher nicht fertig. Sie sterben und schrumpfen auf normale Größe zurück!“ Nach zwanzig Minuten regte sich nichts mehr an der bisher vom Kampf aufgewühlten Stelle der Meeresoberfläche. „Cockpit schließen!“ wies Charivari sie an. Seine Stimme klang erleichtert. „Platte im Kommandoraum umstellen auf Unterwassersicht. Scheinwerfer an! Eintauchen ins Meer nach meinen Datenangaben.“ „Tati, Micha und Loulou erschienen wieder im Befehlsstand von Monitor. „Wenn...“, begann Micha mit schreckgeweiteten Augen, „wenn uns aber so ein Ungeheuer gefolgt ist - eins, das wir nicht erwischt haben...?“ Der Gedanke war nicht nur ihm unbehaglich. „Selbsthilfe zur Einfahrt in F-Siedlung unterlassen!“ meldete sich der Professor jetzt mit freudigem Gesicht auf dem Bildschirm. „Ruht euch aus.“ Aufatmend fiel Prosper in seinen Drehsessel. „Das war das richtige Wort!“ schnaufte er. „Ich bin bedient.“ Als die Besatzung den Monitor auf dem Meeresboden-Flughafen der F-Siedlung verließ, glaubte sie zu träumen. Nein, das war nicht die erwartete Unterseestation, wie sie Charivaris Bruder im Pazifik leitete, das hier war eine richtige Meeresboden-Metropole mit U-Bahnen, Kränen, Autos, Arbeitsfahrzeugen jeder Art und Größe. Die Beleuchtung glich der eines Flughafens irgendeiner großen Stadt bei Nacht. Dazu ging auch von dem aus Kuppeln zusammengebauten „Himmel“ der in unfaßbarer Tiefe liegenden Meeresstadt ein künstliches, gleißendes Licht aus. Micha war so beeindruckt, daß er den Professor nicht bemerkte, der am Fuß der Ausstiegsleiter stand. Auch seine engsten Mitarbeiter hatten sich zur Begrüßung ihrer jungen Retter eingefunden. „Herr Professor!“ schrie Micha begeistert. „Was für ein Glück, daß Sie nicht aufgefressen worden sind!“
Ende
Raumschiff Monitor Auf neuem Kurs 1. Ein geisterhafter Ruhetag „Wie hab ich mich danach gesehnt, mal wieder richtig zu schwimmen!“ rief der vierzehnjährige Henri, wobei er im Wasser prustete. „Ich auch“, antwortete lachend der gleichaltrige Gérard, dessen Kopf fast einem Wasserball glich. Ihr Freund Prosper, ebenfalls vierzehn, sonst recht ungeduldig und zapplig, paddelte mit vor Behagen geschlossenen Augen auf dem Rücken. Der neun Jahre alte Micha, der kleine Bruder von Henri, spielte abwechselnd Eichhörnchen und Fisch: So hurtig und mutig, wie's ihm keiner zugetraut hätte, erklomm er immer wieder das Einmetersprungbrett und hechtete ins Becken. Dabei kreischte er wie ein Kakadu. Tatjana, genannt Tati, Henris und Michas dreizehnjährige Schwester, übte sich in Kunstsprüngen vom Dreimeterbrett. Als leidenschaftliche Ballettänzerin war sie sich auch im Wasser besonders kunstvolle Übungen schuldig. Nur Michas Zwergpudel Loulou wollte nicht ins Schwimmbecken. Er liebte Wasser nur in winzigen Mengen, am besten in einer Schüssel, wo nur seine Zunge feucht werden konnte. Zu der Gruppe der Geschwister und Freunde gehörte noch jemand: Marcel, fünfzehn, der spindeldürre „Eierkopf“ mit den großen, dicken, runden Brillengläsern. Weil er soviel wußte und so unheimlich schnell und sicher urteilen konnte, nannten ihn die anderen Superhirn. Superhirn ruhte knochentrocken in einer Liege am Rande des Schwimmbeckens. „He!' rief Gérard keuchend, mit seinen munteren Knopfaugen auf den Spindeldürren blickend. Du bist genauso wasserscheu wie der Pudel, was?“ Prospers Gelächter schallte durch die Halle: „Stimmt! Und ein Automat darf nicht naß werden!“ „Ja, trocken funktioniert er!“ rief Tati, während sie ihre Glieder auf dem Dreimetersprungbrett lockerte. „Gleich mal probieren: Hallo - Superhirn! Wieviel wiegt unsere Erde?“ Der spindeldürre Junge war auf diese Frage nicht gefaßt. Etwas anderes, im Augenblick viel Interessanteres, schien ihm Gedanken zu machen. Trotzdem erwiderte er wie aus der Pistole geschossen: „Die Erdkugel hat eine Masse von 5 977 Millionen Tonnen. Und ihr Rauminhalt beträgt 1 083 319,7 Millionen cbkm. Aber das ist eine Kinderfrage und eine Lehrerantwort. Um euch diese Zahlen zu nennen, braucht mein sogenannter Automatenkopf nicht trocken zu bleiben. Was ich die ganze Zeit beobachte, hängt mit eurem Schwimmen und Springen zusammen!“ Micha kletterte eben wieder die Leiter hinauf. Verdutzt blieb er auf der letzten Sprosse stehen. Auch Tati beendete ihre Lockerungsübungen auf dem Dreimeterbrett und sprang. Henri, Prosper und Gérard kamen neugierig aus dem Becken. „Was meinst du denn?“ fragte Henri gespannt. „Ja“, murmelte Gérard, „was?“ Prosper rieb sich angestrengt die Stirn. Er, wie jeder der Freunde- und Geschwistergruppe, wußte: Wenn Superhirn etwas beobachtet hatte, handelte es sich meistens um eine ganz tolle, oft sogar gespenstische Sache! Der dünne Junge legte den Kopf in den Nacken, spitzte den Mund und äugte durch seine dicke Brille zum gewaltigen Plastikdach der Schwimmhalle empor. „Fliegen da gebratene Tauben rum?“ erkundigte sich Prosper ungeduldig. „Willst du Löcher in die Decke starren, damit Meerwasser auf uns runterprasselt? Vielleicht gar mit ein paar gräßlichen Tiefseefischen?“ fragte Gérard. „Wie hoch ist die Halle?“ kam Superhirns knappe Gegenfrage. Jetzt lehnten alle die Köpfe zurück. Eine Weile herrschte Schweigen.
„Seltsam, daß mir das noch nicht aufgefallen ist!“ erklärte Henri staunend. „Sie mag etwa- zwanzig ach, was sage ich: fünfzig Meter hoch sein, wenn nicht mehr. Das ist merkwürdig! Wir sind doch in einem Schwimmbad, nicht in einem Stadion!“ „Aber in einem Schwimmbad mit etwa zwanzig, dreißig und fünfzig Meter hohen Sprungbrettern!“ erwiderte Superhirn. Das habt ihr nicht bemerkt, weil ihr alles nur aus der Froschperspektive saht. Außerdem reicht das Kunstlicht oben nicht aus, um Einzelheiten genau zu erkennen. Aber da: Sessellifte führen zu den höheren Sprungbrettern. Ich denke, wenn man sich in einen der Sitze klemmt, geht oben die entsprechende Beleuchtung von selber an. Ich will das mal versuchen!“ „Und vom Fünfzigmeterturm springen?“ fragte Tati entsetzt. Superhirn lächelte. „Warum nicht?“ fragte er. „Hier, Gérard, nimm solange meine Brille!“ Tati kam eilig vom Dreierbrett. Micha stieg vom Einmeterbrett. Mit Tati rannte er zu den heftig widersprechenden Henri, Prosper und Gérard. „Mensch, wag so etwas nicht!“ beschwor Henri seinen Freund Superhirn. „Du bist kein Kunstspringer, noch weniger ein Todesartist, der sich im Heringsfaß den Niagarafall runterkullern läßt!“ „Fünfzig Meter!“ Prosper patschte sich an die Stirn. „Denk doch mal! An allen Hochbrücken gibt es besondere Schutzgitter, damit sich niemand hinunterstürzen kann.“ „Bei einem Sturz von solcher Höhe ist die Wasseroberfläche hart wie Beton!“ rief Gérard. „Als Superhirn solltest gerade du das wissen!“ betonte Tati. Micha beschränkte sich darauf, „Tu´s nicht! Tu´s nicht!“ zu schreien. Der spindeldürre Junge ließ sich nicht umstimmen. „In Professor Charivaris Unterseestadt hat alles seine Bedeutung“, erklärte er lächelnd. „Auch diese Schwimmhalle.“ „Was - was willst du damit sagen?“ fragte Henri. „Wir stehen wieder mal einem Geheimnis gegenüber“, meinte Superhirn. „Dem möchte ich auf den Grund gehen. Aber ob ich's euch erklären kann, weiß ich natürlich nicht.“ Micha schluckte. „Habe genug von Geheimnissen!“ stammelte er. „Ich will raus aus diesem - diesem Geisterbad!“ „Die einzigen Geister sind wir“, erwiderte der Spindeldürre spöttisch. Er ging zum Lift des höchsten Sprungturms und setzte sich in den Sessel. Sofort erstrahlte hoch oben Licht wie in einer Zirkuskuppel, nur daß es aus den Wänden drang und nicht aus Scheinwerfern. Kaum lastete das Gewicht des Körpers auf dem Sessel, als er sich in Bewegung setzte. Im Senkrechtstart, wie von einer Sehne geschnellt, sauste Superhirn in die Höhe. Gleich darauf stand er auf dem obersten Sprungbrett. „Haaalt!“ schrie Tati. „Wenn das Wasser nicht tief genug ist, zerschmetterst du dir den Kopf am Bassinboden!“ Da kam Superhirn schon in wohlabgemessenem Schrägsprung, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf voran, herabgesegelt. Kurz bevor er die Wasserfläche berührte, hatte er noch die Geistesgegenwart, die Handflächen zusammenzulegen und das Kinn ans Schlüsselbein zu pressen. Mit Entsetzen sahen die anderen, wie seine Körperumrisse in der Tiefe verschwanden. Der Zwergpudel winselte leise. Da! Die Konturen näherten sich wieder der Oberfläche. Plötzlich - und fröhlich prustend - tauchte Superhirns Kopf über dem Wasserspiegel auf. Wuff! machte der Hund. Henri, Prosper, Gérard und Micha glotzten, als hätten sie nicht erwartet, den tollkühnen Springer jemals wiederzusehen - noch dazu vergnügt und offensichtlich ohne jede Platzwunde oder auch nur die geringste Benommenheit. Mit flotten Schwimmstößen näherte er sich der Leiter. „Dachte ich mir´s doch!“ rief er. Er griff nach seiner Brille, die Gérard ihm reichte. Dann warf er sich in eine Liege. Die anderen zogen Hocker heran.
„Was denn ... was dachtest du ... nun sprich doch schon ... was hat das alles zu bedeuten“ scholl es durcheinander. Superhirn setzte die Brille auf und rückte sie umständlich zurecht. Endlich begann er: „Das Geheimnis ist geklärt, Freunde!“ „Ja, aber welches?“ drängte Micha. „Über-flüssiges Wasser!“, sagte Superhirn bedeutsam. „Über-flüssiges...?“ fragte Prosper verständnislos. .Du meinst, mehr als flüssig? Also ganz dünnes Wasser?“ „Vielleicht sogar elastisch?“ rief Tati. „Dehnbar, wie? Ha! Ich kenne alle möglichen Kleidungsstücke, die elastisch sind, zum Beispiel unser Badezeug! Aber Wasser? Verstehe ich nicht!“ „Ach so - ich weiß!“ meinte Prosper. „Enthärtetes oder weiches Wasser! Da ist ein Mittel drin, wie's meine Mutter in die Waschmaschine tut!“ Superhirn lachte laut auf: „Mit Waschhilfen gibt sich ein Mann wie Professor Charivari nicht ab, so wichtig sie für die Hausfrau auch sind. Hier geht's bestimmt um Versuche, inwieweit man Wasser verändern kann, und zwar nicht durch bloße Zutaten, sondern durch Verschiebungen in den kleinsten Teilen, den Molekülen.“ „Versteh ich zwar nicht“, murmelte Gérard. „Aber ich weiß, daß Wasser im normalen Leben - und, na ja: für besondere Dinge eine große Rolle spielt. Angefangen von der Trinkwasseraufbereitung bis zum destillierten Wasser - und nicht zuletzt bis zum schweren Wasser.“ „Destilliertes Wasser ist chemisch reines Wasser, das braucht man in Labors“, erinnerte Tati. „Und schweres Wasser' hat man aus normalem Wasser für Atomreaktoren gewonnen, das weiß ich aus der Physikstunde“, fügte Henri hinzu. „Aber was soll überflüssiges Wasser? Bei starkem Aufprall aus großer Höhe besser nachgeben?“ „Daß es das tatsächlich tut, habe ich ausprobiert“, stimmte Superhirn zu. „Dabei ist merkwürdig, daß Tragfähigkeit oder Auftrieb fast normal geblieben sind. Ich denke, Professor Charivari will eine bessere Wasseru29 für Raumschiffe erreichen, die senkrecht von oben her die Meeresoberfläche durchstoßen und schnellstens zur Unterseestation gelangen, müssen.“ „Und das Schwimmbad - hier - soll die Landungsstelle sein?“ fragte Micha verwirrt. „Nein“, sagte Henri. „Hier wird wahrscheinlich nur eine geringe Versuchsmenge des veränderten Wassers aufbewahrt. Schwimmanstalt mit Sprungbrettern, Sprungtürmen - hm - dabei kann man ganz nebenbei erproben, wie der Aufprall auf Testpersonen wirkt!“ Er wurde durch Micha unterbrochen. Micha schrie nicht. Er gab nicht einmal einen Laut von sich. Doch sein Gesicht drückte Grauen aus. „Was ist denn?“ rief Tati erschrocken. Alle blickten jetzt auf den Jüngsten. Der aber hatte seine Hand zur gegenüberliegenden Wand ausgestreckt, als wollte er sagen: Da! Da seht! Superhirn, Henri, Prosper und das Mädchen fuhren hoch. Nur Micha schien keine Kraft in den Knien zu haben. Auch Gérard blieb offenen Mundes auf seinem Hocker sitzen. Das Bild, das sich ihnen bot, war unvorstellbar: In der eben noch glatten, indirekt erleuchteten Wand war plötzlich ein gewölbtes Riesenfenster aus dickem Lupenglas - so schien es wenigstens. Dahinter aber erkannten die Kinder ein wütendes Gesicht mit seltsam vorgewölbtern Maul und furchtbaren Eckzähnen. Tati schrie gellend ... „Hinlegen! Alle hinlegen!“ rief Superhirn. „Deckung! Werft euch hinter die Hocker!“ Tati schrie noch immer so, daß die anderen ihn nicht verstanden. Das Mädchen hatte nur einen Gedanken: Weglaufen! Raus aus der Schwimmhalle! In den Schutz des Professors! In der Verwirrung, und um das Gesicht im Fenster nicht sehen zu müssen, drehte sie sich um sich selbst - und fiel ins Wasser. „Hinlegen! Deckung! Hinter die Hocker!“ befahl Superhirn wieder. Ehe den anderen klar war, daß Superhirn bestimmte Folgerungen mit dem Sichtbarwerden des Gesichts dahinter verband, begann
der Schrecken schon. „Au!“ brüllte Prosper. Er vollführte einen Luftsprung. „Es hat mich was - au, au...“ „... getroffen!“ heulte Micha auf. „Aua!“ schrie nun auch Gérard. Aus der Wand sprühten weiße, rote, grüne, blaue und gelbe Funken, gezielte Garben, die sich gegen jeden einzelnen richteten. Sie piekten nur immer für den Bruchteil einer Sekunde, aber der Schmerz machte einen blind. Mit einem Schrei sprang Henri ins Wasser - wo Tati schon wie verrückt herumpaddelte. Prosper und Gérard flüchteten ebenfalls ins Becken. Superhirn versuchte, die automatische Tür zu erreichen, neben der die roterleuchtete Ruftaste für den Professor war. Er wollte „Chef-Alarm“ geben. Wann und wo auch immer in der riesigen Unterseestation eine „Chef-Taste“ gedrückt wurde, kam Charivari dank eines ausgeklügelten Blitzfahrstuhls in Sekundenschnelle zum Gefahrenort. In einem Funkenhagel, den das Ungeheuer hinter dem Wandfenster auf ihn richtete, lief Superhirn am Becken entlang. Ein Hilferuf ließ ihn herumfahren. „Das Wasser wird heiß!“ schrie Tati. „Kommt heraus!“ rief Superhirn zurück. Wieder ahnte er Schlimmes. „Schnell heraus!“ Tati, Henri, Prosper, Gérard und auch Micha schwammen statt dessen zur Mitte. „Herauskommen, habe ich gesagt!“ brüllte Superhirn. „Am Rand ist es am heißesten!“ jammerte Micha. „Am Rand verbrüht man sich bald!“ „Quatsch! Was auch ist - ihr schafft es noch!“ rief Superhirn. Nun sprang auch er ins Wasser. Er meinte, er könnte die Bande zur Vernunft bringen. Superhirn trug seinen Spitznamen wirklich nicht zu Unrecht! Wieder begriff er sofort, was hier mit großer Schnelligkeit geschah. „Köpfe über Wasser halten!“ befahl er. Im Nu konnten sich alle sechs im Wasser nicht mehr bewegen! Soweit es überhaupt möglich war, trafen sich ihre hilflosen Blicke: Eingefroren ragten ihre Hälse aus - festem Eis. Aber nun war es ganz klar: Um normales Wasser, um gewöhnliches Eis handelte es sich natürlich nicht, sonst wären sie zerquetscht worden! In der Arktis gingen ja sogar stabile, große Schiffe bei Eineisung kaputt! „Was machen die denn mit uns?“ rief Prosper. „Erst zeigt sich das Ungeheuer auf dem Vergrößerungsbildschirm, dann hagelt es Glühbonbons...“ „Und im Becken wird aus heißem Wasser plötzlich so was wie Eis!“ zeterte Tati. „In der Hallen-Schaltkabine muß es eine Panne gegeben haben“, murmelte Superhirn. „Meine Vermutung stimmt also: Das Schwimmbad dient auch als Wasser-Labor!“ „Aber das kann uns der Professor nicht zumuten!“ rief Tati. „Dachte er nicht wenigstens an Micha? Wenn wir nicht bald wieder aufgetaut werden...“ ,Ach sage ja, es ist eine Panne!“ erklärte Superhirn. „Professor Charivari würde sich nie solche Scherze erlauben.“ Er drehte den Hals und blickte zur rotleuchtenden Alarmtaste, die nun für alle unerreichbar war. „Ich will nicht als Eiszapfen geborgen werden“, ächzte Gérard unter vergeblichen Versuchen, sich aus der Klemme zu befreien. „Kinder, ich hab einen schrecklichen Verdacht!“ „Welchen?“ fragten Tati und Micha. „Daß wieder Meuterer am Werk sind! Sie haben den Professor eingesperrt, uns hier festgeleimt und fliegen mit den Raumschiffen Monitor, Meteor und Rotor davon! „Meuterer!“ stammelte Micha. „Piraten - Raumpiraten - ja! Der Kerl mit dem fürchterlichen Gesicht, der auf dem Bildschirm war - das war der Anführer!“ „Unsinn, die Weltraumpiraten hat Charivari doch schon vor Ewigkeiten auf den Mond geschickt“, meinte Henri. „Und er war bestimmt nicht so dumm, ihnen eins der Schiffe zu lassen.“ „Ich hab eine Idee, wie wir hier rauskommen“, sagte Superhirn. „Der Pudel muß uns helfen!“ „Der Hund?“ Trotz ihrer unglücklichen Lage mußte Henri lachen. „Soll der uns freiknabbern?“
„Dazu ist er wohl 'n bißchen zu klein!“ spottete Gérard. Tati rief begeistert: „Superhirns Idee ist gut. Ich weiß, was der Pudel machen kann! Loulou, Loulou! Komm mal her! Komm zu Frauchen!“ Winselnd stand das winzige Hündchen verstört am Beckenrand. Loulou begriff: Wasser war es nicht mehr, aus dem die Köpfe seiner großen Freunde ragten. Auf Tatis Befehl hopste er vom Beckenrand auf die erstarrte Fläche. Er rannte um Tati herum, stupste ihre Ohren, ihren Kopf und ihr Gesicht mit der Pudelnase. „Laß das!“ befahl Tati. „Bist ein gutes Tier, jaja!“ Doch plötzlich, aufmunternd und rasch, versetzte sie den Hund in Aufregung: „Gassi gehen! Such Leine!“ Daraufhin schoß Loulou wie der Blitz aus dem Becken heraus, auf die automatische Tür zu, neben der sich die Ruftaste befand. „Such Leine!“ rief Tati fortwährend. „Such Leine!“ Nun hing da zwar keine Leine. Doch Loulou war von zu Hause gewohnt, den Lederriemen neben der Tür zu suchen, dort, wo Schalter und Schlüsselhaken waren. Unter Tatis Schnellfeuer-Befehlen sprang er ohne Besinnen an der Wand hoch. „Was macht er?“ rief Micha, der nichts sehen konnte. „Warum bellt er wie verrückt?“ „Such Leine! Such Leine!“ rief Tati immer dringlicher. Aufgeregt hopste Loulou höher und höher. ja, wo war aber da ein Haken, wo war denn das Lederband? Der Pudel sprang noch einmal hoch gegen die Wand - dann gab er den Versuch auf. Ratlos kam er zu Tati getrabt. Doch Superhirn hatte längst einen Triumphschrei ausgestoßen: „Geschafft!“ jetzt sagte er ruhig: „Gut gemacht, Tati! Ich trete meinen Spitznamen gern an dich ab. Fabelhafte Idee von dir. Wir sind gerettet!“ „Wieso?“ rief Prosper ungeduldig. „Mensch, weil Loulou gegen die Alarmtaste geraten ist!“ rief Henri. „Wer kann die Lichtzeichen an der Wand gegenübersehen?“ „Ich nicht!“ heulte Gérard. „Alle neune, was ist denn nun schon wieder?“ Was in diesen Sekunden vor sich ging, kann gar nicht so schnell beschrieben werden. Der Hund war gegen die rote Alarmtaste gesprungen. Im Augenblick leuchtete auf der gegenüberliegenden Wand eine riesige, gläserne „Stadtkarte“ der weitverzweigten Tiefseebasis Charivaria auf. Superhirn erkannte Straßen, Gebäude, Bergwerke, Felder für Meeresboden-Landwirtschaft, Unterseehäfen, Schleusen, Kraftwerke, die Raumschiff-Garagen und vieles andere, was zu dem gigantischen Unternehmen unter der künstlichen Riesenglocke im Ozean gehörte. Das Ganze war in blaue, grüne, gelbe, graue, violette, orangefarbene und zinnoberrote Bezirke eingeteilt und nummeriert. Eine zweite Stadtkarte, daneben, bezeichnete offenbar das Verkehrsnetz mit den „Alarmwegen“. Innerhalb dieses Verkehrsnetzes bewegten sich Leuchtfiguren in Form der verschiedenen Transportmittel, z. B. Hubschrauber, Luftkissenfahrzeuge, Züge - vor allem aber Kabinenkapseln durch die Rohre. Auf einer dritten Karte sah man das nicht wie im Grundriß, sondern in räumlicher Darstellung. Superhirn erfaßte das, wie gesagt, sehr schnell. Er ahnte auch, was der besonders ins Auge fallende, sich am schnellsten über die Karte bewegende Leuchtpunkt bedeutete. Ein Summen schwoll an und wurde ohrenbetäubend. Als es abbrach, gab es hoch oben auf dem Sprungturm ein knackendes Geräusch. Eine sanfte, freundliche Stimme sprach durch Lautverstärker: „Hier bin ich. Was gibt's, meine Freunde?“ Professor Charivari war „per Rohrpost“ gekommen. Hätten Henri, Tati, Micha und die anderen nicht von früheren Erlebnissen gewußt, daß sie in Professor Dr. Brutto Charivari einen unwandelbar treuen, zutiefst verläßlichen Helfer besaßen, so wären sie bei seinem Anblick erschrocken. Der Mann, der hoch oben seine Rohrkabine verlassen hatte, mit dem Lift heruntergerast kam und nun an den Beckenrand trat, wirkte unheimlich genug: Die Umrisse seines Kopfes erinnerten an eine Salatgurke. Der spitze Schädel war völlig kahl. Die
Augenbrauen des Mannes wirkten wie zwei starke Striche, unter denen die sonderbar flimmernden Augen fast verschwanden. Das Auffälligste aber waren der dünnsträhnige, lackschwarze Kinnbart und die bartlosen, eingefallenen Wangen unter den Backenknochen. Professor Charivari trug heute keinen Laborkittel, sondern einen schneeweißen Werkanzug, der an die Bekleidung eines Olympiatrainers erinnerte. Die auffällig vielen dünnen, bunten Streifen waren keine Verzierung, sondern eingewebte Kabel. Das, was wie Reißverschlüsse wirkte, waren Funkempfangs- und Funkbefehlsskalen, die von Impulsen andernorts „angesprochen“ werden und Impulse überallhin geben konnten. Der Mann im „Trainingsanzug“ war eine wandelnde Befehlszentrale, die das Schicksal der UnterseeGeheimbasis buchstäblich am Leibe trug. Er warf nur einen kurzen Blick auf die im Becken festsitzenden Kinder: Ein rascher Zug am Reißverschluß der linken Brusttasche - und die Geschwister, deren Freunde und der arme Loulou schwammen wieder im Wasser wie in einem gewöhnlichen Schwimmbad. „He, Herr Professor“, schnaufte Superhirn. Er schwang sich über den Rand des Beckens: „Was war denn das für ein Spuk?“ Henri, Tati, Gérard, Prosper und Micha redeten aufgeregt auf Charivari ein. Loulou, den Micha herausgehoben hatte, schüttelte sich heftig. Zum Bellen kam er vor lauter Husten nicht. „In so ein Schwimmbecken schicken Sie uns!“ rief Tati vorwurfsvoll. „Sie sagten, wir sollten ein bißchen planschen und faulenzen, gut essen, ins Kino gehen - und was nicht noch alles...“ „Ja, und statt dessen saßen wir in dieser Gruselhalle fest“, fuhr Prosper ärgerlich fort. „Das Schwimmbad ist gar kein Schwimmbad, sondern ein Wassertest-Labor! Über-flüssiges Wasser Superhirn hat uns alles schon erklärt!“ „Erklärt nicht“, berichtete der spindeldürre Junge. „Ich habe nur etwas vermutet, das einzig Sie erklären können! Der letzte Teil des Spektakels begann mit einem riesenhaft vergrößerten Gesicht, das in der Wand sichtbar wurde - besser gesagt: aus einer Art Funkkabine heraus. Dieser Teufelsmensch beschoß uns mit bunten Funken! Ziemlich schmerzhaftes Feuerwerk! Und sicher hat der da auch an der Wasserschaltung gedreht und uns das alles eingebrockt!“ „Du meinst, er hat uns in die Suppe gebrockt“, warf Gérard ein. „Wie die Brocken staken wir ja da im Becken!“ Nur Superhirn fiel auf, daß der kahlköpfige Professor plötzlich blaß war. Auch schien er zu überlegen, was er antworten sollte. „Nun“, versuchte er mit seiner sanften Stimme zu beschwichtigen. „Das Gesicht, das ihr auf dem Wandbildschirm gesehen habt, ist euch - äh - wahrscheinlich nur wegen der Vergrößerung so schrecklich vorgekommen. Es - es ist ein Hilfslaborant gewesen. Eine Art Bademeister...“ „Aber“, protestierte Michael, „Bademeister sehen ganz anders aus. Bei dem kann man ja vor Schreck ertrinken!“ Wieder schien Charivari verlegen: „Ich nehme an, der - der Mann war wahnsinnig erschrocken, als er euch hier schwimmen sah. Etwas an der Anlage war gestört. Das merkte er an der Kontrollampe und schaute nach, ob die Schwimmhalle leer sei. Und da hat er in seiner Verwirrung alles noch schlimmer gemacht.“ ,Aber warum hat er Sie nicht alarmiert?“ fragte Henri rasch. „Der Bademeister dachte wohl, er könnte mit der Sache allein fertig werden“, erwiderte Professor Charivari stirnrunzelnd. „Schließlich ist er ein erfahrener Mitarbeiter!“ Jetzt schwiegen Henri, Tati, Micha, Prosper und Gérard. Und sie sahen nicht mehr den Professor an, sondern Superhirn. Hier stimmte doch etwas nicht! ahnten alle. Superhirn war dem Professor als einziger gewachsen. Superhirn räusperte sich. „Herr Professor“, begann er, „in dieser Station ist doch alles mehrfach abgesichert. Das Wasserversuchsbecken war auf Schwimmbad umgeschaltet - und zwar ohne jede Pannengefahr. Sonst hätten Sie uns nie hineingelassen.“ „Stimmt“, gab Charivari lächelnd zu. Er strich sich nervös den Bart. „Aber was willst du, damit sagen?“
„Daß etwas gegen Ihren Willen geschehen ist. All das war doch keine Panne?“ Charivari blickte scheinbar überlegen auf Superhirn herab. Aber seine Augen verrieten Unsicherheit. „Was - was meinst du damit?“ fragte er, sich den Bart streichend. „Sie selber hätten uns nie einer solchen Gefahr ausgesetzt“, erwiderte Superhirn ruhig. „Was ist das mit dem seltsamen Wasser?“ bohrte Henri weiter. „Ich merke, Superhirn hat sich schon genug Gedanken gemacht“, wich Charivari aus. „Die Hauptsache, ihr seid frei. Und ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich nicht längst nach euch geschaut habe. Ich werde es wiedergutmachen, meine Freunde.“ „Warum ist das Eis heiß geworden und nicht geschmolzen?“ beharrte Prosper auf einer Antwort. „Es gibt Zweckforschung und reine Forschung“, erwiderte der Professor. „Die eine will etwas bewirken, zum Beispiel: die verschiedensten Energiequellen für den Fahrzeugantrieb nutzbar machen. Die reine Forschung hat zunächst keinen praktischen Zweck. Sie dient der Erkenntnis. Wozu eine solche Entdeckung nützlich ist, diese Frage stellt sich erst später.“ Die Kinder hatten jetzt keine Lust, sich Vorträge anzuhören. „Ich habe Hunger“, wechselte Gérard das Thema. „Geht in die Ankleideräume“, riet der Professor. „Ich lotse noch zwei Kabinen her, dann sausen wir durch das Rohrnetz zum Raumschiffhafen. Dort werden wir gemeinsam essen.“ Superhirn und Henri standen nebeneinander vor dem Warmlufttrockner im Dusch- und Ankleideraum. „Die Sache gefällt mir nicht“, flüsterte Henri. „Denkst du, mir?“ flüsterte Superhirn zurück. „Irgend etwas macht dem Professor mehr Sorge als die sogenannte Panne hier!“ „Was meinst du damit?“ „Etwas, das die ganze Unterwasserstadt bedroht“, murmelte Superhirn düster. Henri starrte den Freund fassungslos an. „Du - du rechnest mit einer Katastrophe?“ fragte er heiser. „Still!“ mahnte der andere. „Wenn du's wissen willst: Ja! Mir scheint aber, der Professor ist noch im Zweifel. Mehr darüber sage ich dir später!“ „In Ordnung“, flüsterte Henri. „Na, das kann ja was werden!“ 2. Rätselhafte Tiefseestadt Als die Gefährten aus den Ankleideräumen kamen, lachte Micha hell auf. „Seht mal den Professor! Er klopft an, sich herum, als wäre er in einen Mückenschwarm geraten!“ rief er. „Es sieht eher aus, als würde er sich entlausen“, fügte Gérard grinsend hinzu. ,Richtig“, meinte Superhirn. „Aber ihr habt anscheinend noch Wasser oder warmes Eis in den Ohren. Sonst würdet ihr etwas hören!“ Tatsächlich! Mit etwas Greifbarem hatte es Charivari nicht zu tun. Wohl aber war er in eine „Wolke“ von Stimmen und Summtönen gehüllt. „Das sind Nachrichten aus den Kommandostellen der Stadtbezirke“, erklärte der Professor, als er die erstaunten Blicke der sechs bemerkte. „Die meiden sich in den eingenähten Mini-Empfängern meines Befehlsanzuges alle zugleich.“ Man hörte das schreckliche Durcheinander - noch dazu in verschiedenen Sprachen. „Rang 1 - automatische Schleuse defekt“, verstand Superhirn. „Rang 2 - Atomzeituhr hat Abweichung von 0,0000001. Rang 12 - Gehirnforschungsabteilung beendet Versuch X 23!“ Charivari drehte an einer Brustplakette, die wie ein Sportabzeichen aussah. Sofort war es still. „Die Meldungen werden in dieser Plakette gespeichert und nach Wichtigkeit geordnet. In der neuen Reihenfolge kommen sie dann noch einmal wieder, und ich entscheide und bestätige dann.“ erklärte er. Die meisten Meldungen bestätigte er, während er seinen Finger mit einer Art Siegelring vor den Mund hielt. Bei der Ansprache setzte er jedesmal den Bezirk des Geschehens voran, woraufhin der Siegelring sofort die dem Bezirk entsprechende Farbe zeigte. „Mit so einem Ring möchte ich mal meine ganze Schule durcheinanderbringen“, wünschte sich
Micha. „Achtung - Hitzeferien! Weiße Mäuse im Lehrerzimmer! Turnhalle unter Wasser!“ Jetzt lachte auch der Professor. „Na, so ein Befehlsanzug ist eine anstrengende Sache, Micha. Im Grunde trage ich damit nicht weniger mit mir herum als mein Arbeitszimmer, meine Kommandozentrale und das Zentralnervensystem der Unterseestadt. Wenn ich mein Hauptquartier verlasse, muß ich weiterhin über alles Bescheid wissen, damit ich sofort eingreifen kann - ganz gleich, wo ich mich befinde.“ „Und wenn Chef-Alarm ist?“ fragte Henri. „Wenn irgendwo was ganz Schlimmes eintritt und jemand die rote Taste drückt, wie wir - wie unser Pudel - vorhin?“ „Dann blinken winzige, in den Anzug eingenähte Lämpchen auf, und ich sehe aus wie ein wandelnder Weihnachtsbaum. Gleichzeitig nimmt der Ring an meiner Hand die Farbe des Alarmbezirks an, das heißt: Nur der Stein am Ring beginnt zu leuchten. Aber Schluß jetzt damit! Ich habe Hunger, und ich glaube, Abwechslung wird euch guttun. Außer euren Zimmern und dem Schwimmbad habt ihr ja von der Unterseestadt Charivaria noch nicht viel gesehen. Kommt mit zum Raumschiffhafen! Wir nehmen den Weg über den höchsten Sprungturm. Dort starten wir.“ Mit dem Sessellift fuhren nun alle zu einer Sprungturm-Plattform empor. Hier stand das Kabinengeschoß, das den Professor durch das Rohrleitsystem aus der Wand in die Halle geschoben hatte. Es wirkte wie eine Flugzeugkanzel ohne Tragfläche, Rumpf und Fahrgestell. „Aber da passen wir doch nicht alle rein!“ rief Tati, die den Pudel trug. Charivari deutete auf die nächste höher gelegene Plattform. „Die hat wohl selbst Superhirn nur für eine Verzierung gehalten“, witzelte er. Er drückte auf einen Knopf. Gleich darauf glitten drei Türen der Wand am Plattformende beiseite. Dahinter schimmerten die Kabineneinfahrten. Greifarme hatten zwei weitere Kapseln herausgeschoben. „Da ist eine Leiter“, sagte Charivari. „Steigt da oben ein. Ich setze mich wieder in diese Kabine und löse den Mechanismus aus. Dann fahren die Kapseln in die Schächte ein, und zwar in kurzem Abstand hintereinander.“ Tati, Micha, Gérard und der Pudel hopsten in die erst Kabine, Prosper, Superhirn und Henri in die andere Kaum hatten sie sich in den Liegesesseln ausgestreckt, als automatische Sicherheitsbügel ihre Körper umspannten „Fertig!“ meldete sich der Professor über Funk. „Fertig!“ antworteten Gérard und Superhirn in ihren Kapseln. „Wir fahren!“ stellte Prosper fest. Er blickte aus dem Gewölbefenster. „Ich sehe nichts als silbriges Flimmern!“ „Die Leuchtwand des Stollens“, erklärte Superhirn. „Da! Jetzt münden die Einfahrten ins Hauptrohr! Der Professor und die Kabine mit den anderen sind vor uns.“ „Aussteigen!“ kam die Stimme des Professors über Funk. „Was denn?“ rief Prosper. Schon wieder was kaputt? Kaum abgefahren, stecken wir fest!“ „Irrtum“, erklärte Superhirn grinsend. „Wir sind am Ziel! Alle Achtung! In vier Sekunden durch die halbe Unterseestadt! Die Rohre sind luftfrei, deshalb kann man beliebige Geschwindigkeiten erzielen. Es gibt hier keine Schallmauer mehr. Ein wanderndes Magnetfeld hat uns gezogen!“ Auch Gérard, Tati und Micha machten betroffene Gesichter, als sie auf dem Bahnsteig standen. „Und da sagt man immer, Geschwindigkeit sei keine Hexerei!“ rief Tati. Sie betraten vorn Stollen aus einen Raum, den der Professor als Raumschiffhafen-Restaurant bezeichnet hatte. Es war die Kantine auf dem Gelände der Unterseegaragen, innerhalb der ungeheuren künstlich geschaffenen Luftblase, in der die Meeresstadt lag. „So, hier sind wir ungestört“, sagte Professor Charivari. „Ich habe den Raum frei machen lassen.“ „Aber da sitzt ein Mann!“ rief Micha. Es schien ein Ingenieur zu sein. Sein Gesicht war hübsch, wenn auch ernst. Übrigens trug auch er einen weißen Anzug, der an eine Trainerkombination erinnerte. Und jetzt geschah etwas, das selbst in Charivaris Versuchsstadt verwundern mußte. Hatte sich der sonst so ruhige Professor schon in der Schwimmhalle nur mühsam beherrschen können, so geriet er beim Anblick des jungen Mannes außer Fassung. Seine Stimme klang alles andere als sanft: „Was
suchst du hier, Marco?“ donnerte er. „Habe ich dir nicht gesagt, alle Stationsleiter bleiben auf ihren Plätzen? Raus mit dir! Wenn du deine Verantwortung nicht kennst, versetze ich dich auf die Mondstation! Dort arbeiten alle die, die gegen mich gemeutert haben!“ ,Aber, Onkel, ich wollte doch nur...!“ versuchte sich der junge Mann zu verteidigen. Henri, Superhirn und die anderen tauschten Blicke. Onkel? Es war ihnen neu, daß Professor Charivari einen Neffen hatte. Die Vorwürfe Charivaris sollten noch rätselhafter werden. „Ich habe Achtung vor dem Menschenleben!“ rief er. „Ein Affe kann kein Mensch sein, auch ein Menschenaffe nicht. Und wenn du tausend Jahre an Affenhirnen manipulieren würdest! Das ist eine Fehlidee amerikanischer Professoren! Sie lassen außer acht, daß zum menschlichen Hirn auch menschlicher Charakter gehört! Den Charakter des Affen kannst du nicht ändern! Du kannst ihm kein verantwortliches Denken beibringen! Hatte ich dir nicht verboten, Mr. Rollins unbeaufsichtigt zu lassen?!“ „Mr. Rollins ist beurlaubt. Er schläft in seinem Zimmer“, erwiderte der junge Mann. „So.“ Die Stimme Charivaris klang ruhiger. „Übrigens, das sind meine Gäste.“ Er stellte Superhirn, Tati, Henri und die anderen vor, „Und das ist mein Vertreter Marco Charivari, Gehirnforscher, Zoologe und Leiter der Gedankenauswertung.“ „Gedankenauswertung?“ fragte Superhirn neugierig „Ich zeige euch die Gedankensammlungsstation später“ erklärte der Professor. Er wandte sich wieder an Marco „Geh zurück ins Hauptquartier! Ich funke jetzt Bezirkssperre für die ganze Stadt. Niemand darf seinen Arbeitsbereich verlassen. Du weißt, wenn jemand in einen anderen Bezirk - zum Beispiel von dem blauen in den violetten - hinüber wechselt, gibt es Alarm! Verkehr zwischen den Bereichen nur noch über Funk! Ich erwarte, daß alle Chefs auf ihren Posten bleiben.“ Wortlos verließ der junge Wissenschaftler die Kantine. Charivari sprach ein paar Befehle in sein siegelringähnliches Instrument. Micha wisperte: „Mir schwirrt der Kopf. Was ist bloß hier los?“ Nicht Superhirn, sondern Henri antwortete: „Ich wußte, da stinkt was im Lande Charivaris“, flüsterte er. „Jetzt habe ich die Antwort darauf!“ „Was?“ würgte Prosper. Er blickte dem Professor nach, der mit den anderen auf einen Tisch zusteuerte. Dann flüsterte er aufgeregt weiter: „Mir reimt sich überhaupt nichts zusammen. Ich begreife die ganze Aufregung nicht - und ich sehe auch keinen Zusammenhang mit dem Rummel in dem Schwimmbad!“ „Aber ich“, murmelte Superhirn. „Mir fällt´s wie Schuppen von den Augen! Wir alle sind in größter Gefahr!“ Da rief der Professor. Er saß schon mit den anderen an einem der sonderbar schimmernden Tische, während Loulou erwartungsvoll zu Michas Füßen hockte. „Habt ihr keinen Hunger, ihr zwei?“ „Nichts anmerken lassen!“ flüsterte Superhirn rasch Prosper zu. „Charivari soll selber damit rausrücken!“ Als die beiden auf ihren Stühlen saßen, war ihnen nichts von den Gesichtern abzulesen. Vor jedem erschien jetzt eine Leuchtschrift-Speisekarte auf der Tischplatte. Man brauchte nur mit dein Finger auf das Wort „Kirschsuppe“ oder „Schildkrötensuppe“ oder „Kraftbrühe“ zu tippen, schon fiel in der Wand eine Klappe, ein Tablett schob sich darauf, und eine Maschinenstimme schepperte- „Für Platz eins - für Platz zwei - für Platz drei“ und so weiter. Tati, Prosper und Henri spielten Kellner. Die Freunde hatten in Professor Charivaris früherer Raumstation und in seinem Raumschiff Monitor ähnliche Automaten-Schnellrestaurants kennengelernt. So griffen sie tüchtig zu. Allein Superhirn begnügte sich mit Kraftbrühe, Milchreis und etwas Obst. Er brauchte jetzt den Kopf und nicht den Magen. Ihm war klar: Die geheime Unterseestadt barg nicht nur eine Fülle von hervorragenden wissenschaftlichen und technischen Erfindungen. Nein - zusätzlich gab es das Geheimnis einer schrecklichen Bedrohung von innen. Und Charivaris Neffe mußte etwas damit zu tun haben! Der Professor tat, als sei nichts weiter geschehen. „Mein Neffe ist sehr tüchtig“, sagte er. „Aber als
Zoologe beschäftigt er sich allzuviel mit weißen Mäusen.“ „Mit Mäusen?“ rief Tati. „Sie haben ihn doch nicht wegen ein paar weißer Mäuse angepfiffen?“ „Na, es ging doch um Affen, oder?“ fragte Prosper um sich blickend. Jetzt lachte Charivari. „Nun, ein Affenvergleich liegt nahe. Besonders, wenn man wütend ist. Ich - ich wollte ihm nur klarmachen, daß der Sinn der Tierforschung die Erkenntnis des Menschen ist. Affe bleibt Affe. Ja. In meinem Zorn bin ich wahrscheinlich zu weit gegangen. Ihr verzeiht mir die Abschweifung.“ Superhirn biß sich auf die Lippen und dachte: Weiße Mäuse! Abschweifung! Der Professor hat eben mehr verraten, als er ahnte! 3. Der neue Monitor Nach dem Essen ging Professor Charivari mit seinen jungen Freunden zu den Raumschiffgaragen. „Ich habe eine Überraschung für euch“, sagte er augenzwinkernd. „Sind Monitor, Meteor und Rotor zusammen hier?“ erkundigte sich Henri. „Nein, Meteor und Rotor befinden sich in den Mond- und Erdstationen meiner Brüder“, entgegnete der Professor. „Nur der Monitor ist hier, mit dem ihr ja gekommen seid!“ „Aber ich sehe zwei Raumschiffe!“ rief Micha aufgeregt. „Eins davon ist nur größer!“ „Genaugenommen um ein Drittel größer als das andere“, verriet der Professor lächelnd. „Und das ist die Überraschung: Es ist der neue Monitor.“ „Monitor II?“ fragte Prosper. „Das größte Schiff soll niemals anders heißen als nur Monitor. Dem Namen des anderen wurde ein A vorangesetzt. Unser eigentlicher Monitor ist von jetzt an dieser!“ sagte Charivari: „Kommt, laßt uns das Raumschiff gleich mal ansehen!“ Im Kommandoraum blickten sich die jungen Gäste ein paar Minuten später staunend um. Alles war hier noch raffinierter, bequemer und scheinbar noch einfacher als in den anderen Raumschiffen. Hinten, im riesigen Lastenteil, führte der neue Monitor sogar vier Mini-Monitore mit! Die Gefährten hätten sich am liebsten alles ganz genau angesehen. Doch Charivari sagte: „Dazu habt ihr später noch Zeit genug.“ Er schien wieder nur mit Mühe eine unklärliche Unruhe zügeln zu können. „Ihr werdet sowieso vom Gästehaus hierher umquartiert. Das ist - das ist mir sicherer.“ Henri warf Superhirn einen Blick zu, doch Superhirn gab den Blick mahnend zurück, als wolle er sagen: Frag nicht! Wir lösen das Geheimnis! Die anderen waren so abgelenkt, daß sie weder Charivaris Unruhe, noch den Blickwechsel zwischen Superhirn und Henri bemerkt hatten. Dann forderte der Professor sie auf: „Ich möchte, daß ihr euch umzieht. Im Bordmagazin sind nicht nur Raumanzüge, Taucherausrüstungen, Schwimmwesten und dergleichen, sondern auch FreipaßKleider.“ „Was ist das?“ fragte Prosper. „Das sind All-Round-Dresses“, erklärte Charivari. „Weiße Trainingsanzüge, wenn ihr so wollt. Weiß wie meiner, nur ohne die Befehlsausrüstung. In Weiß kommt ihr durch alle Zonen der Stadt, durch die blauen, die roten, die violetten und alle anderen Bezirke, die ich vorhin voneinander absperren ließ.“ „Verstehe ich nicht!“ rief Micha. „Warum gerade in Weiß? Wird man denn unterwegs kontrolliert?“ „Alle Stationsausgänge kontrollieren sich selbst“, sagte Charivari. „Am Anbaugebiet tragen die Männer grüne Anzüge. Wollen sie ins Kraftwerk, gibt es bei der augenblicklichen Sperre automatisch Alarm, denn das Kraftwerk hat nur Männer in roten Kombinationen. Gehen die Rotgekleideten zum Fischgrund, also zu den Violetten, lösen sie unwillkürlich Signalanlagen aus. Nur die leitenden Ingenieure, Aquanauten und Astronauten sowie die Chefs der Forschungs- und Betriebsabteilungen dürfen in ihrer weißen Kleidung überall hin. Auf den besonders präparierten weißen Stoff spricht keine Alarmanlage an.“ „Jaaa, aber...“ begann Tati, noch immer ein wenig verständnislos, „Sicherheitsmaßnahmen in einer
Geheimstadt - gut. Nur, wieso dürfen wir überall hin? Obwohl wir keine Forscher sind? Und gibt es denn hier im Bordmagazin All-Round-Dresses für unsere Größen, besonders für Micha?“ „Wir müssen für alles vorsorgen“, beantwortete Charivari Tatis letzte Frage. „Auch, daß wir eines Tages einen Junggelehrten unter uns haben könnten - oder ein sogenanntes Wunderkind. Ihr braucht ja nur an Superhirn zu denken“, fügte er hinzu. „Übrigens benötigt ihr das weiße Zeug für die Stadtbesichtigung. Allein soll keiner von euch durch Charivaria laufen.“ „Charivaria - der Name macht mir Spaß“, sagte Prosper. Der Professor meinte lachend: „Die Besatzung der Tiefseebasis hat sich diesen Namen ausgedacht. Ich kann nichts dafür!“ Sie folgten dem Professor durch den Kabinengang des Raumschiffes. Vor der Schleuse zum Lastenteil blieb Charivari stehen. „So. Hier drinnen ist das Magazin.“ Er tippte gegen einen schwarzen Punkt. Die Tür glitt leise beiseite. „Herr Professor“, meldete sich Henri mit besorgter Stimme. „Wir laufen hier einfach so herum wie auf einem eingemotteten Kahn. Haben Sie keine Angst, daß jemand mit dem neuen Monitor davonbraust?“ „Nein. Um dieses Schiff in Betrieb zu setzen, braucht man keinen Steuerungsknopf mehr für die BordKraftzentrale. Eine Lochkarte genügt. Dann spricht man seine Befehle auf eine Kontaktplatte. So, aber nun sieh mal nach, Tati, was euch paßt. In den Wohnkabinen könnt ihr euch umziehen!“ Im Garagenvorbau, der wie eine gigantische Flughafen-Empfangshalle wirkte, trafen die neu eingekleideten Kinder ein paar Männer. „Astronauten, Bordingenieure, Elektroniker“, erklärte Charivari. „Wir haben Raumschiff A-Monitor durchgesehen“, meldete der Chefingenieur. „Wartung beendet.“ „Gut“, lobte der Professor. „Dann bringen Sie den Steuerungsknopf meinem Neffen ins Hauptquartier, damit keiner unbefugt starten kann. Vorher schicken Sie bitte jemand auf die Absperrbrücke; lassen Sie die „rasende Wache“ in Tätigkeit treten!“ „Rasende Wache?“ fragte Micha, als sie weitergingen. Er klammerte sich an Tatis Arm. „Sind das Verrückte?“ „Nein.“ Der Professor lachte. „Aber diese Wache heißt absichtlich so. Sie soll abschrecken, damit sich niemand in die Nähe der Garage traut. Ihr wißt, ich wechsle meine Abwehrmethoden oft.“ Plötzlich gab es mehrere furchtbare Schläge hinter ihnen, als klirrten und prallten Metallpfeiler fortwährend mit großer Wucht aneinander. Wuff, wuff, hörte man das klägliche Bellen des Pudels. Vor den Raumschiffgaragen bewegten sich „Wachtposten“ in Form von senkrecht heruntergelassenen, dicken Metallstangen, die so schnell wie ein Trommelfeuer gegeneinanderschlugen. Superhirn faßte sich als erster. „Wozu denn das?“ fragte er. „Da haben Sie doch schon ganz andere Sicherungsmittel entwickelt! Unsichtbare, unzerstörbare Luftbarrieren! Lichtschranken - ach, ich könnte mir noch alles mögliche vorstellen!“ „Und der Lärm!“ schrie Henri. „Wo hier sonst alles lautlos vor sich geht! Krach- und Prallgeräusche sind doch ganz unmodern!“ „Du hast recht! Ihr beide habt recht!“ rief der Professor. Er strich sich den lackschwarzen Strippenbart. „Aber ein Punkt in jeder fortschrittlichen Rechnung bleibt immer ein bißchen unmodern - und das ist der Mensch! Lärm flößt ihm Unbehagen ein. In solcher Stärke steigert er sich zum Schrecken! Und diese Pfeiler sind im Tempo so eingestellt, daß sie nicht einmal dem Pudel Zeit lassen würden hindurchzuflitzen. Wer das sieht und die Wucht des Zusammenpralls hört, fühlt sich schon seelisch halb zerquetscht! Er geht also gar nicht erst näher heran!“ „Hm. Psychische Abschreckung“, murmelte Superhirn. Waren diese „rasenden Wachtposten“ wirklich zur Abschreckung von Menschen gedacht? fragte er sich. Wieder ein Rätsel! „Wir nehmen jetzt die Magnetschienenbahn“, sagte der Professor. Er deutete auf einen gläsernen Waggon ohne Räder. „Das Fahrzeug gleitet auf einer Magnetschiene. Einen Fahrer gibt es nicht mehr,
ich muß nur auf einem Innenpult die Weichen stellen, indem ich das Magnetfeld verändere.“ Während sie in die U-Bahn einstiegen und der Professor sich an dem Leuchtpult zu schaffen machte, raunte Superhirn Henri zu: „Sag es Prosper und Gérard ganz leise. Die beiden sollen es Tati und Micha zuflüstern: Augen auf! Nur harmlose Fragen stellen!“ Unmerklich setzte sich die Bahn in Bewegung. Vom Getöse der „rasenden Wache“ vor den Raumschiffgaragen hörte man nichts mehr. „Wir fahren jetzt durch die Blauzone“, erklärte er. „Hier finden Wohnanlagen-Versuche statt. Seht ihr die Häuser?“ „Kein einziges“, sagte Micha. „Da ist ein weißer Telegrafenmast - oder ein Fernsehturm! Das andere Riesending sieht aus wie gestapelte Teller - und dahinter stehen lauter Pilze übereinander!“ „Sehr große Pilze!“ meinte der Professor belustigt. „Und nicht zum Essen! Alles, was du siehst, sind Wohneinheiten verschiedenster Form, in die die Bevölkerung ganzer Erdstädte hineinpassen würde.“ „Sie wollen hier ausprobieren, welche Wohnform für eine ständig zunehmende Bevölkerung am zweckmäßigsten ist?“ fragte Superhirn. Ja. Und wo hätte ich so viele Versuchsgelände wie auf dem Meeresboden!“ entgegnete Charivari. „Ziemlich schnell entstanden, diese Riesenstadt“, meinte Superhirn. „Wo sind denn die Baukräne, Gerüste, die Bagger - und die Tausende von Arbeitern? Ich sehe nur ein paar Leute im blauen Dreß!“ „Meine Baumethode besteht aus Reißbrett, Kleinmodellen und Plastographie“, berichtete der Professor. „Knete?“ fragte Micha, der an Plastilin dachte. „Plastographie ist Fotografie“, erklärte der Professor zur Überraschung seiner jungen Gäste. „Die Wohnheime, die ihr seht, sind - riesenhaft vergrößert - hart- und formgewordene Fotografie!“ „Was - und darin kann man rumlaufen? In einem Foto-fotohochhaus?“ Prosper verschluckte sich vor Verblüffung. „Das Einfachste, was es gibt“, meinte der Professor lächelnd. „Man muß nur darauf kommen! Es ist denkbar einfach. Da konnte ich mir jedes Baugerüst und tausend Bauarbeiter sparen. - So, nun kommen wir in die Grünzone zu unseren Gemüsefarmen. Hier wird Versuchsgemüse gezüchtet, das dazu beitragen könnte, einer hungernden Menschheit zu helfen. Ihr wißt, schon heute wird in vielen Teilen der Welt der Hunger immer größer.“ Unter einem künstlich sonnenhellen Unterwasserhimmel breiteten sich endlos weite Felder mit merkwürdigen Ackerfrüchten aus. „Das sind die vorhin erwähnten Kohlradieschen-Kulturen“, erläuterte der Professor. „Aber die Dinger sind größer als Kohlköpfe und haben kein Radieschenrot“, rief Tati. „Und wieso Kohlradieschen'? Konnten Sie nicht Getreide anpflanzen?“ Kopfschüttelnd beobachtete sie die Feldaufseher, die mit ihren Luftkissen-Autos zwischen den Äckern umherfuhren. „Getreide verarmt den Boden, weil es ihm wichtige Düngemittel entzieht“, antwortete Charivari. „Nein, Tati. Es kam mir auf etwas Besonderes an: Ein Ackerprodukt zu schaffen, an dem alles eßbar ist - die Wurzeln und die Früchte! Wir haben auch schon Pflanzen entwickelt, die man mit Salzwasser gießen kann. Mit solchen Versuchen hatte übrigens der süßwasserarme Staat Israel begonnen. Nimm die übliche Kartoffel: Kartoffelkraut ist ungenießbar, völlig überflüssig, ja sogar giftig! Hier wäre eine Kartoffel mit eßbarem Gemüsekraut zu erfinden - erst dann wären die Anbauflächen voll ausgenutzt. - So, nun steigen wir in den U-Bus um.“ Es war ein Boden-, Schwimm- und Luftfahrzeug. Sie besichtigten den Bezirk der Öl- und Erzgewinnung aus dem Meeresboden, sodann das gewaltige Süßwasserbecken der Fischaufzuchtfarmen im violetten Distrikt. Wie ein gläsernes U-Boot schwamm das Fahrzeug zwischen den Fischern in ihren Taucheranzügen - vor allem zwischen den vielen, vielen Fischen. „Die Süßwasser-Fischfarm unter der Luftglocke im Ozean“, sagte Charivari, „ist auch ein Beitrag zur Lösung des Nahrungsproblems.“ Er verständigte sich mit den Schwimmern über die Funkanlage seines Befehlsanzuges. Als der U-Bus das Süßwasserbecken verlassen hatte und sich wieder unter der Luftglocke der Stadt Charivaria befand, ließ der Professor das Fahrzeug höhersteigen.
„An einem natürlichen Meeresboden-Gebirgshang liegen die Kraft- und SüßwasserAufbereitungswerke. Das ist der Rotbezirk“, erklärte er. Den Gefährten schwirrte der Kopf, als sie endlich - und diesmal wieder mit Rohrkabinen - in das Hauptquartier einfuhren. .Die Grauzone, das Gehirnforschungslabor, erspare ich euch“, murmelte der Professor. „Es könnte Micha zu unheimlich sein.“ „Aber die Gedankensammlungsstation wollten Sie uns zeigen“, sagte Superhirn. „Bitte - die möchte ich unbedingt sehen!“ Der Professor schien zu bereuen, das Versprechen gegeben zu haben. „Schön“, sagte er zögernd. „Micha kann solange im Unterhaltungsraum bleiben. Da gibt es Automatenspiele, Schallplatten und vieles andere. Zweite Tür rechts, Micha!“ „Prima!“ rief Micha. Er blickte auf die Kontaktplättchen der Gangwand. „Ich finde schon!“ Er stapfte los, und niemand ahnte, in welches Abenteuer hinein! 4. Die Gelbdreßleute spielen verrückt Der Professor mußte ein paar Meldungen beantworten, die ihm sein Befehlsanzug übermittelte. Es war ihm entgangen, daß Micha seiner Schwester den Zwergpudel mit den Worten in die Arme gereicht hatte: „Der stört mich nur beim Spielen! Nimm du ihn solange!“ „Das also ist die Gedankenauffang- und -auswertungszentrale“, sagte der Professor. „Aber hier brauche ich einen Schlüssel, damit die Wand zur Seite gleitet.“ „Schlüssel?“ fragte Tati verständnislos, als er eine kleine, silberne Lochkarte aus einer seiner Taschen zog. „Ganz recht. Das Plättchen hat denselben Zweck. Sieh: Ich stecke es in diesen Schlitz - und schon schiebt sich die Wand zur Seite.“ Im Nu war der Blick auf einen gespenstisch wirkenden kreisförmigen Raum frei geworden. Acht Männer im Gelbdreß und mit geschlossenen Raumfahrerhelmen standen in gleißendem Licht an Wandgeräten. Sie drückten Tasten, sobald diese aufleuchteten Es herrschte ein ununterbrochenes Blinken an den Wärt den, und die Fingerbewegungen der behandschuhte N4änner wirkten sonderbar mechanisch. Immer wen einer jeweils eine Reihe von Tasten gedrückt hatte, entnahm er einem Fach eine Anzahl von Papierstreifen drehte sich um und ging auf einen großen, frei stehender Kasten zu. Dort warf er sie in das offenbar vorgeschriebene Fach. Tati, Henri, G6rard, Prosper und Superhirn schwiegen - so eigentümlich berührte sie dieser Anblick. „Aber die Wand ist zur Seite geschoben“, wunderte sich Tati, und trotzdem ist der Zugang nicht frei!“ Vor dem Raum sind dicke Glasscheiben“, erkannte Prosper. „Panzerglas? Dazu noch mit breitem Zwischenraum. Ist das eine Schleuse?“ Ja“, erklärte Professor Charivari. „Man kann die zweite Glaswand 'nur öffnen, wenn sich die erste wieder hinter einem geschlossen hat. Nun, ich denke, ihr habt genug gesehen. . .Im Gegenteil!“ rief Gérard, „Was nützt mir 'n Blick durch zwei Schaufensterscheiben?“ „Du bist aber wissenshungrig!“ wunderte sich der Professor. „Das hätte ich zuallererst von Superhirn erwartet!“ Superhirn war merkwürdig still. Er betrachtete die „Gelbmänner“ bei ihrer eintönigen Arbeit. Auch Henri hielt sich zurück. Er wußte - Superhirns Schweigen hatte etwas zu bedeuten. „Warum gehen diese Leute so eigenartig?“ fragte Prosper. „Und weshalb tragen sie AstronautenKombinationen? Dies ist doch nichts anderes als ein Büro!“ Charivari zögerte einen Augenblick. Die Fragen schienen ihn aber davon zu überzeugen, daß er den jungen Freunden mehr mitteilen mußte. Ungestillte Neugier ist eine gefährliche Sache; sie kann zu höchst unerwünschten Vermutungen führen, dachte er sich. „Gut“, sagte er, „ich nehme jetzt das Silberplättchen - und stecke es in das Metallviereck seitlich der ersten Glaswand...“ „Funktioniert ja wie geschmiert“, freute sich Gérard, als das erste durchsichtige Schleusentor zur
Seite wich. „Nun kommt alle in den Zwischenraum!“ befahl der Professor. Mit Hilfe seines silbernen Schlüsselkärtchens bewirkte er das Schließen der einen und das Öffnen der zweiten Trennscheibe. Seine jungen Gäste und der Hund befanden sich jetzt in dem gewaltigen ovalen Raum. „Die gelben Männer watscheln wirklich komisch!“ wunderte sich Prosper. „Und ich weiß noch immer nicht, warum sie wie Weltraumfahrer gekleidet sind! Dabei braucht man doch sogar in Ihren neuen Raumschiffen längst keine Schutzanzüge mehr!“ Charivari räusperte sich. „Sie tragen besondere Strahlenschutz-Kombinationen. Dieses Gedankenempfangs und -auswertungszentrum ist ein gefährlicher Raum! Für den, der eben mal so hineingeht wie wir, kann kein Schaden entstehen. Wer aber viele Stunden am Tag hier arbeitet, muß unbedingt einen Spezialanzug mit Helm und Gesichtsschutz anhaben!“ „Sogar die Hände der Männer sind geschützt“, sagte Gérard. „Und daß sie so - so eigenartig gehen...“ „... hat mit den Schutzkombinationen zu tun“, vollendete der Professor hastig Gérards Bemerkung. Auch die Art, in der er sich seinen langen lackschwarzen Strippenbart strich, verriet Unruhe. Henri schielte zu Superhirn. Superhirns Gesicht blieb ausdruckslos. Er spitzte nur den Mund. Das konnte alles mögliche bedeuten: Sehr interessant! Oder: Still, Henri! Ohren auf, Augen auf! Oder: Tu, als glaubtest du alles - glaub aber manches nicht! Die Arbeiter im gelben Dreß mit den Astronautenhelmen kümmerten sich weder um den Professor noch um seine jungen Gäste. „So 'ne Arbeit wäre nichts für mich“, murmelte Tati. Sie setzte den zappelnden Pudel ab. „Stundenlang Leuchttasten drücken, Lochkarten nehmen und von einem Geräteschlitz zum anderen tragen zu müssen - nee, ich danke!“ Professor Charivari lächelte zerstreut. Er strich sich immer noch den Bart. Nur seine Augen zeigten einen wachsamen, mehr noch, einen hochgespannten Ausdruck: Er beobachtete die stur arbeitenden Gestalten der Reihe nach scharf. Und ohne daß er es merkte, tat jemand in seiner Begleitung dasselbe. Auch er war ein guter Beobachter: Superhirn! Prosper reckte seinen langen Hals. „Können wir uns nicht mal das ganze Büro ansehen?“ fragte er. „Ich sehe, dahinten scheint auch noch was los zu sein. Und dann gibt's da wohl auch Nebenräume. Möchte wissen, warum das eine - wie haben Sie gesagt? - eine Gedankenempfangs- und auswertungsabteilung ist! Was für Gedanken? Wo kommen sie her? Wie funktioniert das alles hier? Und wessen Gedanken werden ausgewertet?“ „Und zu welchem Zweck?“ rief Gérard. „Ach ja, natürlich“, antwortete der Professor zerstreut. .Ich habe mir nur erst hier vorn einen Oberblick verschaffen wollen. Jetzt zeige ich euch alles andere. Kommt mit.“ Er schritt den jungen Gästen voran. Der Pudel hielt sich dicht an Tati. Unversehens blieb Charivari stehen, als gälte es, wie ein Polizist den Straßenverkehr zu regeln. Vor der rechten Arbeitswand streckte er seine Arme aus. „Lauft vorbei, fix!“ rief er. Die vier Arbeiter in ihren Schutzanzügen, vier auf dieser Seite, standen eben an den Tastenwänden. Superhirn stellte rasch fest, daß sie Namensschilder sogar auf dem Rücken trugen, Und die Namen waren reichlich sonderbar! Es handelte sich eher um Bezeichnungen: „Mr. VIP Primrose“, „Mr. VIP Primsmith“, „Mr. VIP Primpan“, „Mr. VIP Primchief“. „So. . .“, sagte Charivari befriedigt. Alle waren an den Gelbdreßmännern vorbei. Der Professor hoffte wohl schon, der kleine „Durchmarsch“ sei störungslos verlaufen. Doch plötzlich brach die Hölle los. Wuff! bellte der Zwergpudel, wuff-wuff-wuff-waffwaff-wäff-wäff-wiff-wiff! Das Bellen wurde immer schriller. Der Hund verschluckte sich. Man sah, er war rasend vor Angst - aber auch vor Angriffslust: Er sprang einen der Männer an! Aber wie benahm der sich denn?
Und wie benahmen sich die anderen? Meinten sie, in dem kleinen Pudel stecke der Teufel? Mr. VIP Primsmith legte sich auf alle viere nieder, wehrte das Tierchen mit unbeholfenen Patschbewegungen ab. Mr. VIP Primrose tat einen Satz und sprang zu einer Wandverstrebung. Auch auf der anderen Seite tobten die Gelbgekleideten in ihren Schutzanzügen und Raumfahrerhelmen wie besessen. Am schlimmsten war der größte: Mr. VIP Primchief, ein Kerl, der nicht nur wegen seines Namens als Chef der übrigen zu erkennen war. Dieser Mr. VIP Primchief haschte nach dem Zwergpudel! Die gelben Burschen stießen heftige Laute aus, die unter ihren Schutzhelmen mit der Gesichtsverkleidung besonders unheimlich klangen. Dabei tobten sie immer heftiger! Ehe der Professor eingreifen konnte, lief Tati auf den Chef der Gelben zu: „Entschuldigen Sie!“, begann sie. „Ich wollte nicht, daß Loulou stört.!“ Sie nahm den hustenden, knurrenden, japsenden Pudel auf und blickte dem erbosten VIP Primchief ins Gesicht. Im gleichen Augenblick stieß sie einen gellenden Schrei aus. Sie sah kein Männergesicht hinter der Schutzmaske - sondern ihr eigenes, verzerrtes Gesicht! Jetzt war Charivari zur Stelle. „Zurück!“ Er zog Tati zur Seite und herrschte den Chef der Büromänner an: „Wo ist Ihr Platz, Mr. VIP Primchief?“ Gehorsam - und so, als sei überhaupt nichts gewesen, stellten sich die Gelbgekleideten wieder an ihre Tastaturen. „Mr. VIP Primchief“, sagte Charivari in ruhigerem Ton. „Ich nehme an, es hat Sie verärgert, daß wir den Hund hier hereingebracht haben. Und ich sehe ein, Ihre Nerven sind überreizt. Mein Neffe muß Ihnen mehr Freizeit geben. Außerdem werden Sie Essenszulage, vor allem Aufbaustoffe und Leckereien bekommen. Ich erwarte, daß Sie sich nicht noch einmal so albern gebärden, während meine Gäste hier sind! Ihr Benehmen war die lächerlichste Form der Aufsässigkeit, die ich je erlebt habe! Ich hoffe, Sie sehen das ein.“ Der Bursche im gelben Schutzanzug verneigte sich. Dann wandte er sich, genau wie die anderen, wieder seiner Arbeit zu. Der Professor erklärte den jungen Gästen: „Eine Art Bürokoller. Tati hatte schon recht, als sie von der eintönigen Arbeit sprach. Überreizte Leute benutzen oft den kleinsten Anlag, um verrückt zu spielen. Na, nun schämen sie sich um so mehr! Tati, behalte den Hund auf dem Arm! Es war dumm von mir, nicht auf ihn zu achten!“ Charivaris Neffe kam eilig aus einem Nebenraum. Stirnrunzelnd sagte der Professor: „Du solltest auf deinem Platz sein, sobald die Außenwand geöffnet wird. Nicht umsonst bist du mein Vertreter im Hauptquartier und oberster Leiter des Gedankenzentrums!“ „Entschuldige, Onkel“, murmelte Marco. „Lege jetzt Schichtwechsel ein. Die VIP´s sind nervös. Sie brauchen Ruhe, wir haben sie verwirrt.“ Marco drückte auf einen Knopf. Sofort wechselten die Farben der gleißenden Beleuchtung. Es war, als zuckten bunte Blitze durch den kreisförmigen Raum. Mr. VIP Primchief wandte sich um und steuerte stracks auf eine Tür zu, die sich vor ihm automatisch öffnete. Mr. VIP Primsmith, Mr. VIP Primpan, Mr. VIP Primrose und die anderen vier folgten ihm. Fast gleichzeitig öffnete sich eine zweite Tür: Acht Männer im Gelbdreß mit Schutzhelmen und Handschuhen kamen herein. Sie nahmen die Plätze der vorigen Belegschaft ein. „Das ist die Ablösung“, erklärte der Professor. „Mr. VIP Primchief II“ stand auf dem Namensschild auf Brust und Rücken des neuen Schichtführers. „Was bedeutet denn VIP?“ fragte Prosper. „Yery important person“, erwiderte Charivari. „Das kommt aus dem Amerikanischen und heißt: ´sehr wichtige Person' oder ´prominente Persönlichkeit'. Die Männer sind sogenannte Verschlußsachenbearbeiter. Einfacher ausgedrückt: Geheimnisträger. Was sie hier an Gedanken aus aller Welt empfangen, darf außer mir und Marco niemand wissen!“
Tati beschäftigte etwas anderes: „Warum habe ich mein Gesicht im Schutzhelm dieses - dieses Misters gesehen?“ „Der Gesichtsschutz ist von außen ein Spiegel“, sagte der Professor. „Von innen jedoch kann man hindurchsehen wie durch eine Glasscheibe. Das ist eine alte, ganz einfache Sache! Vielleicht werdet ihr von solchen Spiegeln schon einmal gehört haben.“ „Klar“, nickte Superhirn. „Und diese - hm - spiegelnde Gesichtsmaske dient auch dem Strahlenschutz?“ „Äh - ja, ja“, versicherte Charivari. Er warf dem Neffen einen Blick zu, den Superhirn und Henri sehr wohl bemerkten. „Aber wir wissen noch immer nicht, wie das hier alles läuft!“ rief Gérard. „Was für Gedanken werden empfangen? Wie? Warum?“ „Gedanken von Wissenschaftlern, wo immer sie sich auch befinden mögen: in Europa, Asien, Afrika, Nordamerika, Südamerika, Australien, Ozeanien, am Nordpol, in der Antarktis, zu Schiff auf den Weltmeeren, in Tiefsee-Tauchbooten, in Raumschiffen oder Raumstationen...“ Professor Charivari schritt mit Marco und seinen jungen Gästen zum hinteren Teil des Raums: „Seht die Kugel dort auf dem Podest! Sie ist fest montiert!“ „Und durchsichtig!“ fügte Superhirn hinzu. Er sprach mehr zu sich selber. „Aus Glas oder Kunststoff .“ „Aber sie ist leer!“ staunte Tati. „Es ist nichts drinnen oder darauf! Wenn das ein Riesenglobus sein soll - warum hat man die Erdteile und Meere nicht aufgemalt?“ „Du denkst wahrscheinlich an euren Schulglobus, Tati.“ Professor Charivari lächelte mild. „Nun, dieser gewaltige durchsichtige Ball ist der Gedankensammler. Winzige Satelliten sausen rund um die Erde, durch die Meere und durch das Weltall. Sie fangen Gedanken auf und senden sie hier in diese Kugel!“ „Ach, ich begreife!“ ließ Superhirn sich hören. Im Sockel der Kugel sind lauter Kabel! Die münden in den Wänden, an denen die Gelbdreßmänner stehen! Dort kommen die Gedanken an, werden auf Lochkarten aufgezeichnet...“ „...und von den VIPs in den Auswahl-Apparat gesteckt“, vollendete der Professor. „In das Ding da, das wie ein riesiger vierseitiger Briefkasten aussieht.“ „Auswahl?“ fragte Gérard. ,Der Gedankensammler ist bereits darauf eingestellt“, sagte Charivari, auf die große Kugel weisend, „nur überragende, weltbedeutende Ideen aufzunehmen. Der Auswähler, in die die VIPs die Lochkarten stecken, sortiert alle Gedanken aus, die nicht wissenschaftlicher Art sind. Er bringt Gedachtes auch in die richtige Folge. Denn kein Mensch - auch kein Gelehrter - denkt so, wie er schreibt. Gedanken sind wirr, gehen durcheinander, vermischen sich mit Bildern und nicht zur Sache gehörenden Eindrücken. Hat also der Kasten dort vorn seine Arbeit getan, läuft das Geordnete über das Pult meines Neffen.“ Alle starrten auf einen kleinen, schrägen Tisch, der an der Kante viele Auffangfächer hatte. „Über die Platte sind dünne, farbige Drähte gezogen!“ meinte Henri. „Röhren!“ berichtete der junge Marco. „Durch jede laufen die Gedanken aus entsprechenden Erdteilen - oder solche, die sich Wissenschaftler in den Luft-, Meeres- und Weltraumabschnitten machen.“ „Es sieht aus, als sausten Flüssigkeiten durch die Röhren-, bemerkte Superhirn. „Aber sonst rührt sich nichts! Gibt's so wenig neue Gedanken in der wissenschaftlichen Welt?“ Professor Charivari lachte. „Nein! Aber wenige, die ich nicht schon gehabt hätte! Die laufen hier einfach durch. Das End-Kontrollpult meldet sich nur, wenn jemand irgendwo eine Idee hat, die ganz neu ist. Oder wenn bereits Bekanntes möglicherweise zum Schaden der Welt weiterentwickelt werden könnte. Das muß ich wissen, um der kriegsgefährdeten Menschheit immer voraus zu sein.“ Plötzlich leuchtete eine der Röhren auf. „Europa“, murmelte der Neffe. Aus dem Auffangfach spulte sich ein dünnes Folienband. Als es stillstand, zog es Professor Charivari heraus. Es trug eine leuchtende Klartext-Schrift.
.Hier haben wir so einen Fall“, brummte er. „Ein Wissenschaftler hegt den Gedanken, neue Lichtkanonen zu entwickeln. Lege das in den Tresor, Marco. Wir müssen aufpassen, was daraus wird!“ „Fangen Sie hier auch die Gedanken Ihrer eigenen Leute auf, Herr Professor? Ich meine die der Ingenieure aus den verschiedenen Stationen dieser geheimen Unterseebasis?“ fragte Superhirn. „Ich bin kein Gott und kein Gedankenspitzel“, sagte der Professor. „Was ich brauche, sind wissenschaftliche Informationen.“ Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Außerdem ist die Gedankensammler-Kugel auf große Entfernungen eingestellt, nicht auf allernächste Umgebung. Mit Nichtigkeiten kann ich mich nicht aufhalten. Durch die Nähe würde jeder unwichtige Gedanke die viel wichtigeren Gedanken aus der Ferne überlagern.“ „Ich verstehe“, sagte Superhirn. „Wenn mir zwei Leute in die Ohren husten, kann ich nicht hören, was drei Meter vor mir gesprochen wird!“ Charivari nickte. „Nimm an, hier im Kraftwerk hätte sich jemand über irgendeine Kleinigkeit geärgert. Ihm würde durch den Kopf gehen: Jetzt reicht´s mir! Ich spreng den ganzen Laden in die Luft!' Nur ein alberner Wutgedanke, der nichts auf sich hat. Was aber nun, wenn das oder ähnliches in der Gedankenzentrale ankäme? Es könnte Alarm auslösen: Ich wüßte ja schließlich nicht, ob es der Betreffende im Ernst meint?“ Auf einmal lächelte Superhirn pfiffig. „Sie wollen wohl auch nicht, daß Ihre Gedanken aufgefangen werden, Herr Professor?“ Charivari zwinkerte mit den Augen und sagte: Natürlich nicht, Superhirn. Du hast es erfaßt. Du machst wieder einmal deinem Namen Ehre...“ Er strich sich den lackschwarzen Strippenbart. „Und du würdest das doch von deinen Gedanken auch nicht wollen, wie? Dabei gäbe ich was darum, zu erfahren, was jetzt in deinem Kopf vorgeht! Du siehst aus, als überlegtest du pausenlos. Ja! Irgend etwas scheint dich fortwährend zu beschäftigen!“ Superhirn lächelte. „Tja, aber das halte ich geheim. Wenn es Ihnen nicht möglich ist, meine Gedanken aufzufangen...“ „0h, Augenblick!“ unterbrach der Professor lachend. „Ich habe ein Extra-Gedankenerforschungsgerät, vor das du dich freiwillig setzen kannst! Du brauchst nur in die abgeschirmte Kabine dort zu gehen! Er wies auf eine Seitentür. Jetzt machte Superhirn ein langes Gesicht. „Er will nicht, daß man seine Gedanken erfährt!“ rief Prosper. „Seht sein Gesicht! Freiwillig gibt er sich nie dazu her!“ „Zwingen kann ich ihn nicht“, sagte der Professor freundlich. „Ich habe es ja gesagt: Ich bin kein Gedankenspitzel. Es wäre ein Spielchen zum Spaß.“ „Spaß? Dafür bin ich immer!“ meldete sich Gérard. „Ich möchte zu gern mal in Superhirns Gehirnkasten gucken!“ „Au ja“ rief Tati begeistert. „Ich will endlich erfahren, was Superhirn über mich denkt!“ In ihrem Eifer übersah sie den warnenden Blick des Jungen. Auch Prosper und Gérard begriffen nicht, daß ihr kluger Freund es für geraten hielt, seine Gedanken für sich zu behalten. Nur Henri gab Tati einen leichten Rippenstups. Er sagte: „Superhirns Gedanken sind sicher zu hoch für uns. Das wäre ein langweiliges Spiel! Ich finde, wir sollten jetzt nachsehen, was Micha im Unterhaltungsraum treibt!“ Doch vor lauter Neugier beharrte Tati darauf. „Erst will ich wissen, was Superhirn denkt! Das ist eine einmalige Gelegenheit, in seinen Kopf zu schauen! Die dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Los, Superhirn! Sei nicht feige!“ „Du hast doch nichts zu verbergen?“ rief Prosper. Diese Frage war die dümmste, die er hätte stellen können. Henri bemerkte, daß Superhirn Über die Begriffsstutzigkeit der anderen innerlich fast kochte. Durfte er denn verraten, daß er tatsächlich etwas zu verbergen hatte? Und sah denn niemand das gespannte Gesicht des Professors? Ein „Spiel“ sollte das werden? Ja, so hatte Charivari es bezeichnet. Aber seinem Blick sah Henri an: Der Professor brannte darauf,
Superhirns Gedanken zu erfahren! „Nun?“ fragte er. In Henris Ohren klang es beinahe lauernd. „Du hörst, Superhirn, alle hätten Spaß an der Sache! Ich wiederhole. Es ist freiwillig. Aber es wäre eine nette Abwechslung, nicht? Na, nun unterziehe dich schon dem kleinen Gedankentest!“ Auf Superhirns Stirn standen Schweißperlen, als er in die Kabine ging. Professor Charivari schloß die Tür zur Gedankenlesekabine rasch hinter Superhirn. Teufel, hat's der Professor aber eilig! fuhr es Henri durch den Kopf. Er hatte gerade noch einen Blick ins Innere der Kabine werfen können. Die vielen großen und kleinen Rundgläser in der Wand - sie wirkten wie Lupen - waren sicher die Telepathoren, die Gedankenaufnehmer und Gedankenübertrager. Etwas Ähnliches kannten sie ja schon vom Raumschiff A-Monitor her. Das System in dieser Station mochte noch raffinierter sein. „Wir bleiben draußen“, sagte Charivari. „Was Superhirn denkt, kommt gleich auf einem Leseband mit leuchtendem Klartext durch den Schlitz neben der Tür.“ Alle drängten heran. Nur der Neffe Marco, der das Ergebnis des „Spaßes“ wohl zu gern miterlebt hätte, war zurückgeblieben. Er konnte von seinem Pult nicht weg. „Ich will Superhirns Meinung über mich wissen!“ rief Tati begierig. „Mir scheint es nämlich manchmal, als hielte er Mädchen in seiner Superwelt für überflüssig!“ „Manchmal“, wiederholte der Professor lächelnd. „Manchmal, Tati, Da magst du recht haben. Ha!“ Er zog den Lesestreifen mit dem Text, der jetzt aus dein Wandschlitz kam, über Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. „Hier steht zum Anfang was über dich!“ „Was denn, was denn?“ wollte Prosper wissen. „Vorlesen!“ verlangte Gérard lautstark. „Also, das wäre ein bißchen unhöflich“, murmelte Charivari. „Es mag wohl ein augenblicklicher Ärger sein...“ Doch Prosper reckte den Hals und erspähte die Schrift. „Hi-hi-hi!“ kicherte er. „Da steht: Tati ist eine dumme Ziege!' Hi-hi-ha-ha-hä-hä...“ Er krümmte sich, als hätte er Bauchschmerzen. „Das ist gut!“ japste er. „Tati - eine dumme Ziege!“ „Lach nicht zu früh!“ triumphierte Tati. Auch sie verfolgte den laufenden Streifen in des Professors Händen: „Prosper ist noch dämlicher“, denkt Superhirn eben. Und weiter: Ich könnte ihm vor Wut ein paar runterhauen!“ Gérard quiekte vor Schadenfreude, doch er wurde sogleich still, als Tati verkündete: „Und Gérards Rundkopf ist wohl nur zum Fußballspielen zu gebrauchen!“ Ja, aber warum denn?“ fragte er verblüfft. „Was hat Superhirn denn auf einmal gegen uns? Denkt er auch von Henri und Micha so schlecht?“ „Nur Henri hat Grips im Kopf. Er ahnt, warum der Professor meine Gedanken nicht erfahren darf“, las Tati noch immer lachend vor. „Wir hätten zu Micha in den Freizeitraum gehen sollen, anstatt uns hier aufzuhalten! Das einzige Wesen, das hier was gemerkt hat, ist Loulou! Der Pudel scheint klüger zu sein als Tati, Prosper und Gérard zusammen. Es droht Gefahr, höchste Gefahr!“ „Nun spinnt er!“ meinte Prosper. „Entweder haben sich seine Gedanken verwirrt - oder die Geräte in der Kabine sind nicht in Ordnung! „Das scheint mir auch so!“ murmelte der Professor nervös. „Seltsam, was er alles denkt - ich meine: was dieser Streifen Sonderbares meldet. Wartet. Nehmt eure Köpfe zurück! Ich lese das erst einmal allein. Der Unsinn würde euch furchtbar erschrecken.“ Nun wurden die anderen erst recht neugierig. Gérard öffnete schon den Mund, um etwas zu fragen, doch Henri machte warnend: „Ssst!“ Hastig öffnete Charivari die Kabinentür; den Streifen mit Superhirns aufgezeichneten Gedanken hatte er abgerissen und zerknüllt in die Tasche gesteckt. „Komm heraus!“ rief er in einem Ton, der anzeigte, daß dies alles für ihn kein Spaß war. Tati, Prosper und Gérard wunderten sich über Superhirns ungewöhnliche Blässe ebenso wie über des Professors nur mühsam unterdrückte Aufregung. Nur Henri machte nach wie vor ein Gesicht, als erwarte er Schlimmes.
„Du bist sehr klug, Superhirn!“ sagte Professor Charivari. „Aber du darfst dir auch nicht zu klug vorkommen! Du hast dich da in eine Idee verrannt, die - die...“ Zum erstenmal, seit ihn die Gefährten kannten, fand Charivari keine Worte. Kalt und ruhig sagte Superhirn: „In welche Idee sollte ich mich verrannt haben, Herr Professor? Wenn Sie meine Gedanken richtig aufgenommen haben, würde ich gern hören, was daran Tatsache ist - und was nicht!“ Fast befehlend fuhr er fort: „Antworten Sie, Herr Professor!“ Der Professor wußte nur allzugut, daß er Superhirn nicht ausweichen konnte. Zumindest mußte er ihm etwas entgegnen. „Also gut“, sagte er ruhiger. „Was ich meine, ist folgendes: Du bringst alles, was ihr heute in der Unterseestadt erlebt habt, in einen bestimmten Zusammenhang!“ „Stimmt!“ Superhirn nickte. „In einen falschen Zusammenhang!“ rief Charivari. Sein Gesicht verzerrte sich: „In einen völlig falschen Zusammenhang!“ „Was haben denn die beiden nur?“ raunte Tati ihrem Bruder Henri und dessen Freunden zu. „Weiß nicht!“ flüsterte Prosper verdattert. „Weisen Sie mir einen Denkfehler nach, Herr Professor“, sagte Superhirn. Wieder wich Charivari aus. Sich heftig den birnenförmigen Kahlschädel reibend, antwortete er. „Das Schwimmbad war dir bereits verdächtig. Du meinst, es birgt ein Rätsel, das unvereinbar mit den übrigen Dingen dieser Unterseestadt ist. Der Beschuß mit Funken, das Eis, das Gesicht des Bademeisters, die abschreckende Sicherung bei den Raumschiffgaragen, der Ärger über meinen Neffen im Kasino, einige meiner Anweisungen - alles war dir unheimlich.“ „Genauso unheimlich wie Ihnen, Herr Professor!“ antwortete Superhirn scharf. Jetzt dämpfte Charivari die Stimme; er bemühte sich merklich, seinen Worten einen spöttischen Klang zu geben: „Und jetzt glaubst du, hier in diesen Räumen die Lösung des Rätsels gefunden zu haben!“ „Ja!“ sagte Superhirn. „Wenn Sie meine Gedanken kennen, wissen Sie doch, daß Sie entlarvt sind! Sie haben uns heute fortwährend getäuscht, dauernd Ausreden gebraucht. Geben Sie sich keine Mühe, Herr Professor!“ Charivaris Kinn bebte, daß der lackschwarze Strippenbart ins Zittern geriet. Er streckte den Arm aus, als wolle er irgendwo einen Halt suchen. Empört rief Tati: „Superhirn! Wie redest du denn mit dem Professor? Prosper hat recht! Du spinnst! Nicht genug, daß du mich in Gedanken eine dumme Ziege nennst, ihn für noch dämlicher hältst - und meinst, Gérards Kopf sei nur zum Fußballspielen zu gebrauchen. Nun fühlst du dich sogar noch von unserem Gastgeber getäuscht!“ Schnell sagte der Professor: „Ach, das nehme ich Superhirn nicht übel - nein, nein, das nicht!“ Er lächelte wieder freundlich: „Superhirn ist überreizt. Er sieht Gespenster! Wir müssen das verstehen. Er ist ganz einfach überreizt! Erinnert euch daran, welche Verantwortung er auf dem Flug und auf der Tauchfahrt von eurem Ferienort Marac bis in diese Unterseestadt hatte!“ Und bevor Superhirn etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „Vergessen wir das Spielchen. Ich kann dich beruhigen, Superhirn: Deine Gedanken sind zu einem falschen Ergebnis gelangt, zu einem völlig falschen! Schweigen wir, schweigen wir darüber! Ihr wolltet doch sicher noch den Raum sehen, in dem die Fernseh- und Hörfunknachrichten aus aller Welt einlaufen! Also folgt mir in den nächsten Raum.“ Unter anderen Umständen hätte sich gerade Superhirn für die Speicherstation aller amtlichen Weltnachrichten interessiert. Doch auch Henri - hellhöriger als die anderen - merkte: Professor Charivari wollte jetzt nur ablenken. „Ach ja!“ rief Tati. „Sind da drinnen viele Bildschirme? Vielleicht wird irgendwo Ballett gesendet.“ Sie unterbrach sich und stieß einen Schrei aus. Patsch! Mit dem Zwergpudel im Arm lag sie auf dem Rücken. Der Fußboden war überall rutschfest, nur im Durchgang zum Fernseh- und Hörfunkraum nicht, und zwar aus technischen Gründen: Hier schirmte ein Strahlungsrahmen den Gedankensammler vor störenden Funkeinflüssen ab.
Tati war auf der Bodenleiste, die etwa die Breite von einen, Meter hatte, ausgeglitten. „Wünsche, gut gelandet zu sein!“ spottete Prosper. „Oh“ sagte Charivari, Tati hochhelfend, „das tut mir leid!“ Doch als sie mit dem vor Schreck schniefenden Pudel wieder auf den Füßen stand, ließ er sie sogleich los und bückte sich wieder. Diesmal war Superhirn schneller. „Gib her!“ befahl der Professor. „Gib das sofort her!“ „Wieso denn?“ fragte Superhirn. Er tat völlig arglos. Aber Henri merkte, daß hier wieder etwas im Gange war. „Kleinigkeit!“ sagte Superhirn. „Das stecke ich solange ein, bis ich irgendwo einen Müllschlucker finde!“ „Her damit!“ rief der Professor. Wie schon mehrmals, seit sie in der Unterseestadt waren, blickten die anderen verblüfft auf den Mann. Diese Gereiztheit, diese plötzlichen Ausfälle - die hatten sie an ihm früher nie erlebt! „Aber es ist doch nur eine Bananenschale!“ bemerkte Superhirn sanft. „Zugegeben, Bananenschalen soll niemand auf den Boden werfen - wo auch immer. Trotzdem, es kann ja mal vorkommen. Hauptsache, Tati hat sich nichts getan. Also, Herr Professor - kein Grund zur Aufregung!“ „Was hält der denn für scheinheilige Vorträge?“ murmelte Gérard. Wäre es möglich gewesen, so wären seine Augen in den nächsten Minuten noch runder geworden. „Her damit, sage ich!“ rief Charivari, und jetzt überschlug sich seine Stimme fast. Er riß Superhirn die Bananenschale aus der Hand. Superhirn lächelte nur. Der Professor drehte sich wutbebend um und rief seinem Neffen Marco zu: „Habe ich dir nicht tausendmal gesagt, du sollst die Schalen nicht einfach auf den Fußboden werfen, wenn du eine Banane gegessen hast?“ Marco, der am Pult saß, blickte fassungslos auf seinen Onkel. „Iiich?“ fragte er. Doch Charivari fuhr wie rasend fort: „Ja, du! Wenn du schon fortwährend Bananen ißt, dann sei wenigstens nicht so nachlässig mit den Schalen! Womöglich hast du noch andere einfach so in die Gegend geworfen!“ Der Professor fand kein Ende mit seinen Vorwürfen. Während er immer noch schimpfte, rannte Tati zu Henri, Gérard und Prosper: „Die Luft in der Unterseestadt ist offenbar nichts für überkluge Köpfe! Erst spinnt Superhirn - und nun spinnt Professor Charivari! Er tut ja so, als sei er ausgerutscht und nicht ich!“ . „Schlimmer!“ meinte Gérard. „Er benimmt sich, als wäre jemand auf eine Klapperschlange getreten, statt auf eine lumpige Bananenschale!“ Superhirn wandte sich grinsend an Tati: „Damit du siehst, daß wenigstens ich nicht spinne! Sieh mal, meine Hände sind leer. Ich balle die Rechte zur Faust. Und mit dem, was ich jetzt sagen werde, löse ich Charivaris nächsten Tobsuchtsanfall aus!“ „Nicht!“ warnte Henri. „Ich weiß zwar nicht, was du bezweckst, Aber laß das besser!“ Superhirn wurde ernst. „Ich bezwecke, euch allen beizubringen, daß ich nicht spinne, Henri! Das ist wichtig. In den nächsten Stunden vielleicht sogar das Allerwichtigste! Einen müßt ihr ja haben, dem ihr vertrauen könnt. Und so, wie die Dinge liegen, muß ich derjenige sein!“ Charivari kam schwer atmend zurück. Er hatte Marco die Bananenschale gegeben. Superhirn streckte ihm die geballte Faust hin: „Ich habe auch noch ein Stück Kokosnuß auf dem Fußboden gefunden!“ sagte er ruhig. Charivari stand wie eine Bildsäule. „Wa-wa-was... ?“ kam es stammelnd über seine Lippen. „Ja! Und wenn ich mich nicht irre, liegen da im Funkempfangsraum auch noch Reste von getrockneten Früchten herum! „ Diese harmlose Bemerkung schien den Professor zu treffen wie ein Schlag ins Gesicht. „Marco!“ brüllte er. „Ich schicke dich auf die Mondstation! Du bist wohl wahnsinnig, deine Nüsse und Früchte hier überall zu verstreuen! Meine Geduld mit dir ist zu Ende! Wenn du schon dauernd dieses Zeug essen mußt, dann hast du gefälligst Ordnung zu halten! Ich verbiete dir ein für allemal...“ „... Bananen zu essen?“ unterbrach Superhirn scharf. „Aber wer sagt denn, daß Marco Bananen,
Kokosnüsse und andere tropische Früchte gegessen hat?“ Er öffnete die Hand und sagte: „Ich habe nur Spaß gemacht, Herr Professor! Hier, sehen Sie selber. Nichts! Und die Funde in anderen Räumen habe ich mir ausgedacht! Ein Scherzchen, weiter nichts! Sonderbar, daß Sie darauf hereinfallen.“ Schweigend, mit bebenden Lippen, musterte der Professor den Jungen. Superhirn hielt seinen Blicken unbeirrt stand. „Gut“, sagte Charivari nach einer Weile. Er wirkte erschöpft, und seine Stimme klang heiser: „Ich sehe, ich kann dir nichts vormachen. Ich merke aber auch, daß du deine Gedanken bisher keinem verraten hast. Jedenfalls glaube ich, das den verständnislosen Gesichtern der anderen abzulesen.“ Superhirn nickte. Er lächelte wieder. „Bitte...“, Charivaris Stimme klang jetzt fast flehentlich, „bitte, behalte alles weiterhin für dich, wenigstens vorläufig! Bedenke, daß wir gute Freunde sind!“ „Das sollten aber auch Sie bedenken“, erwiderte Superhirn höflich, aber nachdrücklich. „Ich finde es nicht richtig, daß Sie mich an der Nase herumgeführt haben!“ „Wovon redet ihr denn?“ rief Prosper unwillig. „Es genügt, wenn Professor Charivari und ich es wissen“, sagte Superhirn. „Ich habe keine Lust, in diesen Räumen zu bleiben. Ich will raus! Ich will zu Micha!“ verlangte Tati. 5. Micha verdoppelt sich Der Professor nestelte an einem Knopf seines Befehlsanzugs. „Sonderbar!“ murmelte er. „Was ist denn nun schon wieder?“ rief Tati. „Im Fitness-Center sind plötzlich ein paar Apparate in Betrieb“, sagte Charivari. Er sprach mehr zu sich selber. Prüfend blickte er auf die rechte Wand des Flurs und murmelte: „Ob Micha die Türen verwechselt hat? Er sollte in den Freizeitraum gehen, aber dort scheint niemand zu sein, sonst würde am Eingang die rote Lampe leuchten!“ „Sie leuchtet doch!“ meinte Henri. Ja, aber neben der falschen Tür!“ Henri warf Superhirn einen besorgten Blick zu. Wirklich erwartete sie eine neue Überraschung, doch diesmal sollte sie mit Spaß verbunden sein. Charivari tippte mit dem Finger auf eine Kontaktplatte. Die Tür des Fitness-Centers öffnete sich. „Ach, eine Turnhalle!“ meinte Gérard. Blitzschnell erfaßte Superhirn die Art der Gegenstände. In gewisser Weise hatte Gérard recht: Dies war eine Turnhalle, aber eine besonders ausgeklügelte. Man sah Leitern mit bunten Sprossen, verschiedene Klettergeräte - von der Stange bis zur Spirale, eine Reihe von Sachen, die eher für einen Kindergarten geeignet schienen, wie zum Beispiel Wippen und Schaukeln. Im Gegensatz dazu aber auch richtige Trainingsanlagen mit Punchingbällen, Sandsäcken, Trockenruderkästen und vielen anderem. Was Superhirn auf den ersten Blick hier bemerkte, paßte zu all seinen bisherigen Beobachtungen. Doch es blieb ihm keine Zeit, Einzelheiten zu betrachten, Wie seine Freunde, so starrte auch er nun in die Mitte des Raumes. Von dorther kam Michas Angstgeschrei. „Da“, schluckte Prosper. Er schwieg vor Staunen und Schrecken. Tati, Gérard und Henri ging es nicht anders. Nur Superhirn versuchte sofort, zu begreifen: Auf einem grünen Fahrrad strampelte Micha wie besessen durch die Halle. Er mühte sich kreischend, einen Verfolger abzuschütteln - aber dieser Verfolger war er selber! Es waren zwei Michas, die da auf grünen Fahrrädern herumsausten! Tati blickte den Professor ratlos an. Dann fuhr ihr Kopf in Richtung des schreienden Micha und seines Ebenbilds. Wer wußte, welcher von beiden der echte war? Der Verfolger sah aufs Haar so aus wie der Verfolgte! Nur grinste der eine vergnügt, während der andere ein puterrotes, schreckverzerrtes Gesicht hatte! „Micha!“ rief Henri. „Was machst du denn? Seit wann habe ich Zwillingsbrüder?“
Wuff! bellte Loulou wie zur Bekräftigung. Wuff, wuff! „Hilfe!“ schrie der von Micha verfolgte Micha. „Hinter mir fahre ich noch einmal! Ich sehe genau, daß ich's bin, aber ich kann mich nicht abhängen! Professor! Professor, helfen Sie mir!“ „Ausscheren!“ befahl Charivari. „Komm her! Laß dein zweites Ich einfach weiterstrampeln!“ Micha blickte sich ängstlich um. Er schrie noch einmal laut auf; dann schwenkte er ab, verließ die Bahn und kam keuchend auf Charivari, die Gefährten und den Pudel zu. „Ein Spuk!“ japste er. Er sprang vorn Sattel und ließ das Fahrrad fallen. „Wer ist denn dieser zweite?“ rief Prosper ärgerlich. „ich dachte, das hätte vielleicht was mit Spiegeltricks zu tun - aber nun sehe ich, der andere Micha radelt immer noch!“ Charivari schien es nicht so eilig zu haben, den Spaß zu beenden. Er ließ das Ebenbild noch eine letzte Runde drehen. Dann nahm er seine silberne Lochkarte aus der Tasche und hielt sie kurz in einen der vielen Schlitze neben der Tür. Sofort war der andere Micha samt Fahrrad verschwunden. „Das ist kein Zauber“, erklärte Charivari lächelnd. „ich sehe an Superhirns Miene, das er euch alles darlegen könnte. Wenigstens so ungefähr ... Also: Micha ist nicht in den Unterhaltungsraum, sondern ins Fitness-Center gegangen. So fängt´s erst einmal an. Sobald sich hier irgendein Gerät eine Weile bewegt, schalten sich Decken-, Boden- und Wandkameras ein. Sie nehmen den Vorgang von allen Seiten und von oben und unten auf - entwickeln ihn und strahlen ihn durch besondere Projektoren in den Raum.“ „Rundum-Farbfilm ohne Leinwand!“ meinte Superhirn. „Die Luft, die ja Lichtstrahlen zurückwerfen kann, stützt das bewegliche Bild. Man braucht keine Leinwand mehr und kann die gefilmte Person plastisch sehen. Ich denke mir, das dient dazu, die Tauglichkeit der Sportgeräte - oder deren richtige Bedienung zu testen.“ „Sicher, sicher“, unterbrach Charivari rasch. Es war, als wolle er den Zweck der Sache nicht weiter erörtern. „Superhirn hat recht. Plastischer Farbfilm ohne Leinwand! Aber ich merke schon, das Ganze bleibt Micha und Tati unheimlich, wie immer es auch erklärt werden kann. Ich werde dafür sorgen, daß ihr euch künftig über nichts mehr zu wundern oder gar zu erschrecken braucht. Ihr geht jetzt an Bord des neuen Monitor. Da fühlt ihr euch bestimmt sicher, denn so ein Raumschiff ist für euch schon eine gewohnte Umgebung. Ich werde euer Gepäck aus dem Gästehaus dorthin schaffen lassen. Morgen wird euch mein Neffe zum Seebad Marac zurückbringen, damit ihr den Rest eurer Ferien in Ruhe genießen könnt.“ Henri sah Superhirn an. Durch seine große, runde Brille blickte der dünne Junge nachdenklich auf die Fitness-Geräte. Professor Charivari öffnete mit Hilfe seiner Schlüsselkarte eine Schiebetür. „Hier steht ein Schnellbus“, sagte er. „In den passen wir alle rein. Der bringt uns zum Raumschiffhafen.“ Auf die Gefährten machte es kaum noch Eindruck, als sich das räderlose Transportmittel geisterhaft leise in Bewegung setzte, sobald sie mit dem Professor eingestiegen waren. Wieder nestelte Charivari an seinem Befehlsanzug. „Marco!“ rief er über Sprechfunk seinen Neffen. „Die Werte des W-Anzeigers . „Achtzig!“, kam die Antwort. „Der Wutanzeiger in der Gedankenzentrale steht auf achtzig!“ „Benütze bitte die Abkürzungen!“ mahnte der Professor mit einem erschreckten Blick auf die jungen Gäste. Tati, Prosper, Gérard und Micha unterhielten sich. Doch Superhirn und Henri hatten die Worte „Wutanzeiger in der Gedankenzentrale auf achtzig“ sehr wohl gehört. Während Charivari seinem Neffen über Sprechfunk weitere hastige Fragen stellte, wisperte Henri Superhirn ins Ohr: „Was bedeutet das: Wutanzeiger?“ „In jedem Bezirk, in jeder Station der Unterseebasis hängt so ein Ding“, erklärte Superhirn ebenso rasch wie leise. „Wir haben so was bisher nur als Silvester- oder Faschingsscherz gekannt - z. B. das Stimmungsbarometer: Zeiger auf 12, Achtung! Großtante kommt, bringt Ärger mit, oder so ähnlich.“ „Jaja! Aber hier sind es richtig funktionierende Geräte mit einem ernsthaften Zweck?“ Superhirn nickte. „Wahrscheinlich ist Professor Charivari davon ausgegangen, daß die oft im
übertragenen Sinn erwähnte dicke Luft oder die bis zur Explosion mit Spannung geladene Atmosphäre' sich messen läßt. Gar nicht so abwegig: Bei Leuten, die wütend sind, funktionieren Drüsen und Blutkreislauf anders. Das wirkt sich auf die Haut und die Körperausstrahlung aus.“ Superhirn machte noch ein paar zusätzliche Bemerkungen: Er habe die Zeiger überall auf Null oder verhältnismäßig kleinen Werten stehen sehen. Charivari wäre beim Betrachten dieser sonderbaren Geräte immer sehr erleichtert gewesen, außer im Gedankenzentrum bei den Gelbdreßmännern. „Dort stand der Zeiger vorhin schon auf fünfzig. ich bemerkte das, ohne zu wissen, was es bedeutete“, raunte Superhirn. „Die Skala geht bis hundert.“ „Und was ist bei hundert?“ fragte Henri. „Vermutlich Aufstand, Revolte - schlimmstenfalls mit dein Ziel: Zerstörung der Unterseestadt!“ Die beiden konnten nicht weitersprechen, denn der Bus hielt nun im menschenleeren Raumschiffhafen. Es war hier jetzt totenstill. Die „rasenden Wachtposten“ hatte Charivari durch Fernbefehl einziehen lassen. Die Gefährten kletterten mit dem Pudel in den neuen Monitor. Zunächst zogen sie wieder ihre eigenen Sachen an. „Ja, hier fühle ich mich sicher!“ rief Micha erleichtert. Während Tati nachsah, ob in den Duschräumen nichts fehlte, tummelten sich Gérard und Prosper in den Wohnkabinen. Superhirn besichtigte gemeinsam mit Henri die Kommandozentrale des Raumschiffs eingehend. „Wo ist der Professor?“ fragte Henri verwundert. Jm Steuerungsraum-, erwiderte Superhirn. „Merkst du etwas?“ Henri blickte sich nach allen Seiten um: „Nein! Was sollte ich merken?“ .Daß wir Startbereit sind!“ sagte Superhirn. Henri setzte sich in einen der Drehsessel: „Und was heißt das?“ wollte er wissen. „Woran siehst du überhaupt die Startbereitschaft?“ „An dem grünen Leuchtstreifen, der sich plötzlich über die Wände zieht. Vormittags war er nicht da! Und was das sonst noch bedeuten könnte? Ganz einfach: erhöhte Gefahr! Charivari will uns mit diesem Raumschiff eine Fluchtmöglichkeit schaffen, falls es in der Unterseestadt zum Aufstand kommt!“ Bevor Henri eine weitere Frage stellen konnte, erschien der Professor. Er war sehr blaß. „Ich muß mit dir sprechen, Superhirn“, sagte er. „Henri, der neben dir der verläßlichste ist, mag dabeisein. Wenigstens euch beiden darf ich die Wahrheit nicht länger verschweigen. Superhirn hat sich ja bereits zusammengereimt...“ Er zögerte. Ruhig führte der dürre Junge den Satz zu Ende: „... daß Ihre Gelbdreßmänner keine Menschen sind!“ Henri riß die Augen auf: „Keine Menschen? Was sind sie denn?“ „Affen!“ sagte Superhirn. „Affen??“ Henri starrte erst den Professor, dann den Freund an. Manches schien ihm klar zu werden. „Deshalb das Theater mit der Bananenschale! Die Schale war für dich des Rätsels Lösung!“ „Eigentlich war sie nur ein Beweis mehr!“ meinte Superhirn. „Auf alles Unerklärliche war die Bananenschale sozusagen der letzte Reim. Denk nur an den Affenvortrag im Kasino. Und schon in der Wassertestanlage im Schwimmbad, als der greuliche Bademeister durch die Wand blickte, ahnte ich etwas.“ „Mr. Rollins, der Bademeister, ist ein Affe“, bestätigte Charivari müde. „Ein besonderer Freund meines Neffen. Leider hat er in der Aufsichtskabine Unfug getrieben. Gewöhnlich hat er die anderen Affen beim Springen und Schwimmen im Testwasser zu überwachen und Funken auf sie abzuschießen, wenn sie sich raufen. Der ganze Feuerzauber traf nun ausgerechnet euch.“ „Wie viele Affen haben Sie in der Unterseestadt?“ warf Henri ein. „Sind es Schimpansen oder Gorillas?“ „Schimpansen“, beantwortete Charivari Henris letzte Frage zuerst. „Sie sind nur im Hauptquartier. Der eine - wie gesagt - als Bademeister, die vierundzwanzig anderen als Gedankenauswertungsraum
als Sachbearbeiter.“ „Aber man benutzt diese Tiere zusätzlich auch zur Verhaltensforschung, nicht?“ erkundigte sich Superhirn. „Ich denke jetzt an das sonderbare Fitness-Center mit den eingebauten Filmkameras!“ Professor Charivari nickte. „Aber davon weiß niemand etwas außer Marco und mir. Die gelben Schutzanzüge sind natürlich nicht dazu da, um vom Strahlen zu schützen. Das brauche ich Superhirn nicht erst zu sagen, er weiß es längst. Der Dreß ist Tarnung, ebenso wie die Spiegelschilde vor den Gesichtern!“ „Sind es dressierte Menschenaffen?“ fragte Henri. „Unglücklicherweise nicht“, betonte Charivari. Seufzend fügte er hinzu: „Es sind manipulierte Affen! Es war dumm von mir, meinem Neffen zu gestatten, sie hier einzufliegen. Marco ist von der Idee besessen, aus Schimpansen, die biologisch wie die Menschen zu den Primaten, also zu den Herrentieren, zählen, eine niedrige, dienstbare Menschenart zu machen. Ich halte nichts davon.“ „Und warum sehen Sie dann ruhig zu?“ fragte Superhirn. „Ich sehe gar nicht ruhig zu“, erwiderte Professor Charivari ärgerlich. „Neue Manipulationen dulde ich nicht. Wohl oder übel beschäftige ich Marcos hochgeschraubte Primaten als VIPs, very important persons - das sind sogenannte sehr wichtige Personen. Ihr habt sie ja im Gedanken-Center erlebt!“ „Können Sie diese Burschen nicht mal in die Gedankenlesekabine stellen, wie Sie's mit mir getan haben?“ „Eben nicht, das ist ja das Gespenstische!“ murmelte der Professor. „Ich lasse die ganze Bande täglich nacheinander in die Gedankenlesekabine marschieren, aber der Gedankenaufzeichner, der bei dir soviel gemeldet hat, gibt bei den Affen gar nichts her.“ Charivari fügte hinzu: „In diesen Tieren geht etwas vor, das wissen wir, Besonders in Marcos gehirnmanipulierter Affenbande. Gerade aus den übrigen Versuchen mit Mr. VIP Primchief eins erkennen wir dessen Fähigkeit, Zusammenhänge zu erfassen. Geistig verschließt er sich uns. Was mir Sorge macht“, fuhr Charivari fort, „ist der Wutanzeiger im Gedanken-Center. Er steht seit Wochen über der Gefahrenmarke. In den letzten Tagen sind die Werte ungewöhnlich stark angestiegen. Der Siedepunkt des Wutausbruchs kann überdies bei Affen niedriger liegen als bei Menschen. Und er schwankt natürlich, je nach Person oder Exemplar.“ „Mit dem Wutanzeige-Gerät messen Sie doch nur die allgemeine Zornstrahlung“, meinte Superhirn. „Wäre e nicht besser gewesen, Sie hätten jedem einzelnen so ein Ding in Form einer Armbanduhr verpaßt? Daran hätte Sie doch sehen können, welcher der Affen die größte Wut hat!“ „Ich glaube, das weiß ich“, murmelte Charivari. „Also Ich fahre jetzt zu Marco. Ihr seid hier sicher!“ 6. Rettet Charivaria! Im Raumschiffhafen herrschte gespenstische Stille. Gegen Morgen, als sich Professor Charivari über Bildschirm meldete, fragte Henri an, warum die bewegliche Absperrung nicht in Betrieb sei. „Sie funktioniert nicht mehr!“ lautete die Antwort. Nach dem Frühstück kam Charivari mit einem Ingenieur und einer Gruppe von Facharbeitern. Der Ingenieur und die Leute bestiegen sofort die Absperrbrücke, der Professor besuchte seine jungen Gäste im Raumschiff. „Was gibt's?“ erkundigte sich Superhirn. „Nichts Gutes!“ Der Professor ließ sich in einen Drehsessel fallen. „Ich habe Streit mit Marco. Er behauptet, die Prims seien arbeitsam, folgsam und gut gelaunt. Der Wutanzeiger spiele verrückt; das Ding sei sowieso eine Einrichtung für Menschen und nicht für Affen.“ Er schwieg und blickte irritiert auf Tati, Micha, Prosper und Gérard. „Ich glaube, wir unterrichten jetzt die anderen über die Vorgänge“, schlug Superhirn gelassen vor. Und er begann: „Die Gelbdreßmänner mit den Helmen sind manipulierte Affen. Der Professor fürchtet seit einiger Zeit, sie könnten einen Aufstand beginnen und möglicherweise die Unterseestadt vernichten. Es hat keinen Sinn, euch das jetzt noch zu verschweigen oder umständlich und schonend beizubringen“, fuhr Superhirn fort. „Dazu ist die Lage zu ernst geworden. Wie hoch ist die
Wutmarkierung im Affenzentrum?“ „Seit einer Stunde fast hundert!“ antwortete Charivari. .Dabei ist den Prims überhaupt nichts anzumerken. Sie verrichten ihre Arbeit wie immer. Marco meint, sie hätten gestern nur durchgedreht, als sie euch und vor allem den Hund erblickten. Sie sind Gäste nicht gewohnt, besonders kein fremdes Tier.“ Gérard. meinte: „Ist es möglich, daß der Wutmesser falsch anzeigt?“ „Eben, ja!“ rief Charivari. „Wer weiß, was die Gehirnoperation bei diesen Affen bewirkt hat! Marco meinte, der Wutmesser registriere keinen Zorn, keinen Überdruß, keine böse Absicht, sondern Arbeitseifer!“ „Könnte wirklich Arbeitseifer die Ursache für die hohen Gefahrenwerte sein?“ forschte Superhirn. Wieder rief Charivari: Ja! Ich sage doch: Wer kennt sich in diesen Affenhirnen aus! Marco schwört natürlich auf seine Helfer. Das grenzt schon an Besessenheit!“ „Ich will hier weg!“ maulte Micha. „Bitte, Herr Professor, bringen Sie uns nach Marac zurück!“ Charivari erhob sich. „Ihr werdet allein starten. Das neue Raumschiff ist einfacher zu lenken als der alte ,Monitor'. Hier, auf dem grünen Sessel ist der Platz des Kommandanten: deiner, Henri. Auf dem roten sitzt Superhirn als Ingenieur und Navigator. Vor euch habt ihr die Sichtplatte. In ihrem Rand befinden sich eingebaute Mikrofone. Das Pult neben dem roten Sessel hat nur einen Knopf: Damit wird das gesamte Raumschiff gelenkt, ebenso werden sämtliche Funktionen an Bord hier ausgelöst.“ „Und wie?“ fragte Prosper. „Über Ansprache“, erklärte Charivari. „Wenn die Kontrollampe aufleuchtet, muß sich jemand über das Befehlspult beugen und erst einmal die Apparaturen auf die gewünschte Sprache einsteuern, also auf Englisch, Französisch, Spanisch oder Deutsch. Zum Beispiel: Ich spreche Französisch. Danach nehmen alle Geräte französische Kommandos an und führen sie aus!“ Superhirn blickte wie gebannt auf den Professor. Mit gepreßter Stimme fragte er: „Meinen Sie, daß wir jetzt noch wegkommen?“ Sämtliche Lämpchen am Anzug des Professors hatten auf einmal zu blinken begonnen. „Was - was ist denn?“ Er blickte bestürzt an sich hinunter. „Zu spät!“ sagte Henri dumpf. Die Lämpchen - und auch der mächtige Siegelring des Professors - alles blinkte gelb! Die Prims mußten ausgebrochen sein ... „Marco!“ rief der Professor verzweifelt über Sprechfunk „Marco, was soll das? Melde dich! Hallo Hauptquartier Unterseestadt! Marco - sofort antworten!' Doch alles blieb still. „Kraftwerk eins!“ befahl Professor Charivari. „Kraftwerk eins! Hier spricht der Chef! Offenbar Aufstand im HQ! isolieren Sie die Befehlszentrale einschließlich der Gelb-Sektion mit gepanzerter Luft!“ „...im Hauptquartier müssen alle entsprechenden Geräte zerstört worden sein“, erwiderte eine Stimme in Charivaris Empfänger. „Luftpanzerung funktioniert nicht! Hier ist eine ganze Reihe von Sicherungen durchgebrannt!“ „Danke!“ murmelte der Professor. Er sprang mit einem Satz ans Befehlspult des Raumschiffs. „Wenn die Prims Marcos Schlüsselkarte an sich gebracht haben ächzte er, „dann können sie überall hin!“ Er sprach auf die siebartige Platte des Befehlspultes. Erst steuerte er mit langsamen Worten ein, dann befahl er: „Trans-pa-renz!“ Im nächsten Moment waren die Raumschiffwände so durchsichtig, als wären sie aus Glas. „Die Affen kommen!“ schrie Micha. „Keine Angst!“ sagte Charivari heiser. „Hier können sie nicht hinein. Bei Inbetriebnahme des Befehlsgeräts schließen sich die Luken.“ Aber genau wie die anderen, so beobachtete nun auch er, was draußen vor sich ging. Vier hohngrinsende Schimpansen, in den bekannten Gelbdreßanzügen, aber diesmal ohne Helm, sprangen nacheinander aus einem Zubringerauto. „Sie schleppen Marco mit!“ rief der Professor.
Es mußte ein Kampf stattgefunden haben, denn Marcos Haare waren zerzaust; er hatte nur noch einen Schuh an, und sein Anzug wies Risse auf. Er war offenbar zu erschöpft, um sich zu wehren. Drei der Affen trugen ihn fast. „Wo bringen sie Marco hin?“ fragte Gérard leise. Bis auf einen Teil des Raumschiffhecks und die wichtigsten Verstrebungen waren die Wände noch immer durchsichtig. Im gleißenden Licht der Halle sah man die schaurige Gruppe sehr deutlich. ,Absperrbrücke!“ rief Charivari über Sprechfunk. „Hier spricht der Chef. Hören Sie mich?“ „Ja!“ kam die Antwort. „Reparatur noch nicht beendet! Eben sind zusätzlich ein paar Relais zerplatzt!“ „Lassen Sie das! Kommen Sie mit Ihren Leuten herunter und halten Sie die gelben Kerle auf! Retten Sie meinen Neffen Marco!“ „Bedaure“, erwiderte der Ingenieur. „Wir sitzen alle in der Sperrschaltkabine fest! Die Türen gehen nicht auf!“ „Das habe ich mir fast gedacht“, sagte Charivari mit zitternden Lippen. „Die Primaten sind mit Marco in der Befehlszentrale gewesen! Sie haben Marco gezwungen, jeden Raum im und beim Raumschiffhafen zu isolieren.“ „Herr Professor!“ rief Micha entgeistert. „Der größte Affe trägt den Raumschiff-Sicherungsknopf. Das Ding kenne ich!“ „Also wollen sie hier herein?“ fragte Tati. Ihre Stimme zitterte. „Nein. Sie laufen zum alten Raumschiff!“ rief Superhirn. „Anscheinend wissen sie, daß man für das neue keinen Knopf, sondern eine Lochkarte als Zündschlüssel braucht!“ Fieberhaft verständigte sich Professor Charivari mit allen Bezirken der Unterseestadt. Den Antworten war zu entnehmen: Überall herrschte Verwirrung. Charivari drehte hastig an seinem Mikrofonring: „Wo sind die Prims jetzt?“ „In der anderen Garage!« erwiderte Henri. Jetzt ist die Wand dazwischen. Wahrscheinlich klettern sie ins andere Raumschiff!“ „Ich muß sie hindern!“ murmelte der Professor. Er hastete zum Befehlspult. „Halt!“ riet Superhirn. „Lassen Sie die Luken noch geschlossen! Es sind erst vier vorbeigelaufen: Mr. Primchief, Nummer eins und drei seiner Arbeitsgruppe. Aber wo sind die anderen? Wenn Sie jetzt rausgingen, Herr Professor...“ „... dann würden Sie ihnen vielleicht in die Arme laufen!“ vollendete Prosper entsetzt Superhirns Gedanken. „Ihr habt recht!“ gab Charivari zu. „Ihr habt recht. Wir haben fünfundzwanzig Primaten auf der Station. Wer weiß, was der größere Teil schon alles in Gang gesetzt hat - einige Lämpchen an meinem Befehlsanzug blinken nicht mehr. Sie flackern nur!“ „Die Affen haben in ihren manipulierten Hirnen offenbar eine Menge Wissen gespeichert, ohne sich's anmerken zu lassen!“ sagte Superhirn nachdenklich. „Woran hast du denn das erkannt?“ fragte Tati ungläubig. ..An der Zielstrebigkeit, mit der die vier hier vorbeigingen“, antwortete Superhirn. Charivari lief zum Befehlspult, sprach ein paar Kommandos und wendete den Blick zu dem Gerät, das wie eine riesige runde Tischplatte aussah. Diese Sichtfläche kannten die jungen Gäste schon aus dem anderen Raumschiff. „Das alte Raumschiff A-Monitor startet!“ rief der Professor fassungslos. „Dachte ich mir!“ sagte Superhirn. „Fragt sich nur, wohin! Zum Mond?“ Charivari verlor den letzten Rest von Selbstbeherrschung. „Zurückholen!“ stammelte er. „Zurückholen! Wir sind verloren! Die ganze Menschheit ist verloren! Meine Kraftbatterien auf dem Kleinplaneten Ikarus - sie dürfen sie auf keinen Fall in ihren Besitz bringen!“ „Ich denke, wir müssen jetzt erkennen, was das Wichtigste ist“, sagte Superhirn entschlossen. „Bitte helfen Sie uns dabei! Nur so können wir auch Ihnen helfen! Was sind das für Batterien? Und wo liegt der Kleinplanet? Das heißt: Welchen Kurs muß man einschlagen, um dorthin zu kommen?“ Charivari gewann einen Teil seiner Selbstbeherrschung zurück. „Der Kleinplanet Ikarus, Asteroid
Nummer 1566, kreist mit einer Umlaufzeit von 1,12 Jahren um die Sonne“, erklärte der Professor. „Auf diesem Kleinplaneten gewinne ich eine Energie, die der Wasserstoffkraft, der Licht- und Atomenergie sowie allen bisher bekannten Energien überlegen ist: die Kraft des Nichts.“ ,Des Nichts?“ fragte Micha, als habe er nicht recht gehört. „Mit nichts kann man nichts anfangen! Meine Lehrer sagen immer...“ „Sei still!“ unterbrach Tati. Hastig fuhr Professor Charivari fort: „Ich will euch keine langen Vorträge halten. Jedenfalls habe ich nur mit dieser Energie vom Kleinplaneten Ikarus die Unterseestadt hier so schnell errichten können. Wie ich Superhirn kenne, hat er sich ständig darüber Gedanken gemacht.“ Der Junge nickte. „Wenn ich keine Energie vom Kleinplaneten Ikarus, dem Asteroid 1566, mehr bekomme, muß ich alle meine Pläne aufgeben!“ sagte Charivari. Und schlimmer noch: Wer sich in böser Absicht der Batterien auf dem fremden Himmelskörper bemächtigt, kann die Erde zerstören!“ „Sie meinen“, fragte Henri mit vor Schreck geweiteten Augen, „Sie meinen, das haben die vier Prims vor? Mit Hilfe Marcos, den sie zwingen werden...“ Er stockte. Superhirn drängte: „Wir müssen etwas tun, Herr Professor! Langes Überlegen kostet uns nur Zeit!“ Plötzlich sagte der Professor ruhig: „Verfolgt das andere Raumschiff und zwingt es zur Aufgabe! Inzwischen versuche ich, die Herrschaft über die Unterseebasis wiederzuerlangen!“ Durch ein Kommando auf die Platte des Befehlspultes Öffnete er die Ausstiegsluke und sagte: „Die Maschinenstimme gibt euch stets Auskunft. Das technische Hirn des Raumschiffes reagiert auf eure Worte und bringt sie in den richtigen Zusammenhang, damit die nötige Wirkung erfolgt. Superhirn! Als erstes befiehlst du: Start durch Schleuse!“ „Start durch Schleuse!“ wiederholte Superhirn, bevor der Professor draußen war. „Noch eins!“ Der Professor rief von außen durch die Luke: „Der neue Monitor hat viele Besonderheiten! Ihr könnt es mit dem Affenschiff zehnmal aufnehmen, auch wenn ihr keinen Funkkontakt mit mir habt!“ „Affenschiff!“ Micha mußte lachen. „Sagen wir doch gleich: Affenschaukel!“ Von diesem Augenblick an sollte das alte Raumschiff kaum noch anders genannt werden. 7. Affenschaukel auf Kurs Asteroid 1566 Superhirn, Henri, Prosper, Gérard - und selbst Tati und Micha wußten schon, daß Charivaris Raumschiffe ein künstliches Schwerkraftzentrum hatten. Also brauchten sie sich nicht anzuschnallen. Wie sich der Rumpf des „Monitor“ auch drehte, Kommando-, Wohn- und Lastenkapsel blieben stets waagerecht. Superhirn setzte sich in den roten Sessel des Navigators und Chefingenieurs, Henri in den grünen des Bordkommandanten. Die anderen, Tati mit Loulou im Arm, nahmen die übrigen Plätze an der Sichtplatte ein. „Ich verstehe euch nicht“, sagte Tati. „Erst haltet ihr den Professor zurück, weil er den Affen im Hauptquartier in die Arme laufen könnte und nun fahren wir ohne ihn ab!“ „Er hat es nicht anders gewollt“, erwiderte Henri. „Außerdem wird ihm längst wieder eingefallen sein, was er in solcher Lage zu tun hat!“ „Start durch Schleuse!“ sprach Superhirn auf die Platte des Befehlspultes. .Start - durch - Schleuse wiederholte die schnarrende Maschinenstimme. Die Luken waren längst geschlossen und die Wände nicht mehr durchsichtig. „Achtung,“ sprach der junge Navigator und Flugingenieur das technische Hirn des neuen Raumschiffs an: „Wichtigste Start-Umstände melden“ Die Apparatur brauchte kaum eine Sekunde, um den Befehl zu begreifen. Exakt sagte die Maschinenstimme alle Einzelheiten an. Plötzlich aber kam etwas Merkwürdiges: „Stop! - Mikro-fi-zie-ren!“ klang es schaurig durch den Kommandoraum. „Stop! - Mi-kro-fi-zie-ren!“
„Was?“ rief Micha. Alle blickten auf Superhirn. “Mikrofizieren“, wiederholte Superhirn tonlos. Die Augen des dürren Jungen hatten sich geweitet. „Gibt's was Besonderes?“ fragte Tati unruhig. „Du machst ja so´n komisches Gesicht!“ Superhirn beugte sich über die Befehlsplatte. Heiser gab er Anweisung: „Vorgang genau erklären!“ Die Maschinenstimme schwieg. „Vorgang erklären!“ wiederholte Superhirn. „Ebenso könntest du fragen: Wo kriegt man in Paris 'ne eisgekühlte Limonade?“ meinte Gérard. „Die Maschinenstimme ist doch nicht auf jede Frage vorbereitet!“ Doch Superhirn ließ nicht locker. Er stellte die gleiche Frage in immer anderer Form, und auf einmal ertönte es: „Raumschiff Monitor wird in der Schleuse verkleinert - für Auge nicht mehr erkennbar - nicht mehr erkennbar - nicht mehr erkennbar.“ Die Stimme verstummte. „Heißt das...“, räusperte sich Prosper, „heißt das, wir alle sind jetzt nur noch Stäubchen in einem Staubkorn?“ „Weniger“, sagte Superhirn. „Ich schätze, man könnte unser Raumschiff nicht mal durch ein Elektronenmikroskop erkennen. Wir haben uns im gleichen Verhältnis wie das Raumschiff verkleinert, deshalb merken wir nichts!“ Die Maschinenstimme meldete jetzt den Start und in schneller Folge die zurückgelegten Kilometer durchs Wasser. Endlich erscholl es - „Atlantik verlassen - Eintritt in die Atmosphäre.“ Gleichzeitig sah man auf der Sichtplatte den Himmel. „Sind wir immer noch verkleinert?“ fragte Micha. „Scheint so', murmelte Henri: „Seht mal: In der Wand leuchtet ein Zeichen auf. Es hat die Umrisse eines Mikroskops - mit einem Minuszeichen davor!“ Superhirn nickte. „Ein Kontrollsignal! Es weist auf unsere gegenwärtige Größe - besser gesagt: Winzigkeit - hin.“ „Ich war so froh, daß ich im letzten Jahr wieder ein paar Zentimeter gewachsen bin!“ maulte Micha. „Was für einen Zweck soll die Verkleinerung haben?“ fragte Gérard. Bevor Superhirn antworten konnte, ertönte die Maschinenstimme: „Kurs angeben! - Kurs angeben!“ „Was denn?“ rief Prosper. „Diese blöde Stimme antwortet nicht nur auf Fragen, sie gibt sogar Befehle!“ „Also ist sie gar nicht blöd“, meinte Superhirn grinsend. „Sie macht uns darauf aufmerksam, was wir tun müssen! Fabelhafte Einrichtung!“ Er beugte sich über die Pultplatte: „Fliehendem Raumschiff folgen - Kurs wie das Raumschiff vor uns.“ „Das versteht der unsichtbare Sprechmaxe nicht“, behauptete Prosper. Und wirklich schwieg die Stimme. „Das technische Hirn läßt jetzt den Himmel vor uns abtasten, wie viele Raumschiffe etwa unterwegs sind“, erklärte Superhirn. „Dann nennt es uns alle georteten, und ich gebe das richtige an!“ „Möchte wissen, woher du deine Weisheiten immer beziehst!“ sagte Tati wütend. „Ich komme mir vor wie ein Schaf! Der Gedanke, mikrofi... - also zu 'ner Mikrobe verkleinert, hinter einer Affenschaukel herzufliegen und auf eine scheußliche Maschinenstimme angewiesen zu sein, ist alles andere als gemütlich!“ Superhirn antwortete schmunzelnd: „Laß dich trösten, Tati. Von technischen Dingen hast du zwar nicht viel Ahnung, aber dafür verstehst du eben viel mehr vom Tanzen. Ich gehe immer davon aus, daß Professor Charivari die perfektesten Lösungen gefunden hat, solche, von denen gewöhnliche Forscher nur träumen! So begreife ich sehr schnell, wie alles funktioniert!“ „Still!“ rief da Henri. Die Maschinenstimme nannte die Position der „Affenschaukel“. Gleichzeitig erschienen die Umrisse des verfolgten Raumschiffes auf der Wand. Kein Zweifel: Man war dem Ausreißer auf den Fersen.
Dahinter aber blitzte ein winziges Fünkchen, dessen Abstand zum Raumschiff immer kleiner wurde. „Sind wir dieses Fünkchen?“ fragte Gérard. „Offenbar!“ bestätigte Superhirn. „Aber was den Zweck der Verkleinerung betrifft: Ich denke' wir sind so winzig, damit wir durch jedes Hindernis glatt hindurchkommen!“ .Achtung!“ meldete Henri. „Verfolgtes Raumschiff erscheint auf der großen Platte!“ Er las die Zahlen und Stichworte, die über das rundtischförmige Gerät glitten. .Kein Weltraumkurs, Superhirn! Die Affenschaukel saust wie ein gewöhnliches Flugzeug durch die Luft - über die Erde hin! Wir überqueren jetzt Nordamerika!“ „Hm.“ Superhirn dachte nach. Marco wird versuchen, die Affen zu überlisten. Die Viecher mögen ja noch so klug sein - aber sie sind eben manipuliert und haben keinerlei Erfahrung. Mit Raumschiffen schon gar nicht. Sie sind auf Marco angewiesen!“ Die nächsten Stunden brachten nichts Neues. Die verfolgte Affenschaukel“ umkreiste die Erde, aber sie blieb nach wie vor im Luftraum. Offenbar vereitelte Marco erfolgreich den Weltraumkurs zum Planeten Ikarus. Tati, Micha, Prosper und Gérard hatten sich für ein Weilchen in ihre Kabinen zurückgezogen. Superhirn und Henri saßen im Kommandoraum allein, als plötzlich das Gesicht Professor Charivaris auf einem bisher verborgenen Wand-Bildschirm erschien. „Hier Hauptquartier Unterseestadt!“ ertönte seine wohlbekannte Stimme. Es spricht der Chef!“ Schnell schaltete Superhirn die Geräte an der Sichtplatte ein, so daß der Professor sie sehen und hören konnte. „Hallo! Was gibt's?“ rief er erleichtert. „Die meuternden Prims im Hauptquartier sind größtenteils unter Kontrolle!“ berichtete Professor Charivari. „Wie haben Sie denn das geschafft?“ staunte Henri. „Mit Hilfe des Bademeister-Affen“, erwiderte der Professor. „Das ist der gewisse Mr. Rollins, den ihr vom Schwimmbad aus gesehen habt.“ Superhirn meldete seine Beobachtungen. Henri nannte danach die Kursdaten, die laufend vor ihm über die Sichtplatte glitten. „Wie sollen wir die Affenschaukel herunterholen?“ fragte Superhirn. „Ich meine das Raumschiff mit Marco und den Prims? Ich glaube, daß Sie uns nicht umsonst mikrofiziert haben!“ „Gewiß nicht!“ erklärte Charivari. „Das ist ein Teil meines Plans! Hört genau zu: Ihr könnt euch selber wieder zur ursprünglichen Größe verhelfen, indem ihr dem technischen Hirn den Befehl Makrofizieren! gebt. Das ist wichtig für eine mögliche Landung! Vorerst bleibt aber im gegenwärtigen Zustand!“ Charivari gab den beiden Jungen eine ganze Reihe von Anweisungen und Erläuterungen und beantwortete viele Fragen, Doch als Superhirn sich erkundigte: „Und was machen wir jetzt mit dem Affenschiff?“ - brach die Verbindung plötzlich ab. Die beiden jungen warteten eine halbe Stunde, ohne daß sich der Bildkontakt wieder herstellen ließ. ,Ach habe es satt“, sagte Superhirn. „Hole die anderen her, Henri! Wir müssen handeln!“ Als die Freunde im Kommandoraum versammelt waren, entschied er: „Wir greifen die Affenschaukel an! Dazu fahren wir die vier Mini-Monitore im Lastenraum aus und bilden eine Fünferstaffel!“ „Du - du willst die anderen vernichten?“ fragte Gérard. Superhirn runzelte die Stirn, als er sagte: „Das Wort ,vernichten' steht weder auf Charivaris noch auf meinem Programm. Wenn möglich, will ich die Prims, und vor allem Marco, unversehrt in die Unterseestadt zurückbringen. Wir zerstören nur die Bordküche der Ausreißer, die Lebensmittel- und Getränkevorräte und die automatischen Zubereitungsanlagen!“ „Ich verstehe!“ rief Prosper begeistert. „Wir sind doch noch verkleinert, nicht wahr? Also durchstoßen wir mit den Beischiffen die Wände der Affenschaukel und schwirren bei denen in der Küchenautomatik herum! Wir bringen alles durcheinander! Öl, Trinkwasser, Hühnerbrühe, HirnbeerEis, Kakao, Essig, Milch . . .“ „Prosper hat's erfaßt!“ sagte Superhirn grinsend. Die Prims haben sowieso einen Fehler gemacht: Sie kümmerten sich nicht um ihre Verpflegung! Ha, ha! Ich wette, sie durchstöbern das Raumschiff schon
längst nach Bananen und Nüssen! Das, was die Küche automatisch hergibt, muß ihnen gründlich verleidet werden! Selbst ein Prim wird wieder zum Affenkind, wenn er Durst hat! Dann wendet er sich hilflos an seinen Wärter Marco!“ „Mensch - eine fabelhafte Idee!“ fand Tati. „Da mache ich mit! Schließlich kenne ich die Küche in der Affenschaukel von früher recht gut!“ Henri blieb mit Micha und Loulou im Kommandoraum des Mutterschiffs, um Superhirn, Prosper, Gérard und Tati in den „Mini-Monitoren“ aus dem Lastenteil hinauszuschleusen. Die Einzelanweisungen gab Henri die Maschinenstimme. „Aber wenn die Mini-Monitoren auch so wahnsinnig verkleinert sind, können sie doch nichts kaputtmachen!“ rief Micha. „Doch! Sie haben ja ihre Strahlungskanonen!“ erklärte Henri. Er schaltete den Sprechfunk ein. Nacheinander meldeten sich Superhirn, Tati, Prosper und Gérard. „Handsteuerung funktioniert prima!“ ertönte Tatis Stimme. „Gut!“ hörte man Superhirn sagen. „Ich fliege zur Backbordseite der Affenschaukel; ihr folgt mir gestaffelt! Achtung, wir sausen jetzt durch die Raumschiffwand!“ „Hoffentlich landen sie nicht im hohlen Zahn eines Affen!“ meinte Micha ängstlich. Nach bangen zehn Minuten meldete sich Superhirn wieder: „Küchenautomatik völlig zerstört! Trinkwasser ungenießbar gemacht! Befinden uns auf dem Rückflug zum Mutterschiff! Alles zur Aufnahme vorbereiten!“ Micha hopste vor Ungeduld mit dem Pudel um die Wette, während Henri das technische Hirn des Monitor' befragte. Endlich begann das Rückschleusen der Miniraumschiffe in den Lastenteil. Als der Vorgang abgeschlossen war, dauerte es nicht lange, und Superhirn, Tati, Gérard und Prosper kamen atemlos in den Kommandoraum. „Das war ein Spaß!“ rief Tati, als hätte sie einen harmlosen Ausflug gemacht. „Kinder, wir sind durch die Tiefkühlanlage geschwirrt wie durch eine Tüte Motten!“ Gérard feixte: „So was von Umweltverschmutzung könnt ihr euch nicht vorstellen! Schätze, die an feine Speisen gewöhnten Prims kriegen Krämpfe, wenn sie einen Schluck aus der Leitung nehmen!“ „Was heißt Leitung?“ fragte Prosper. „Da ist wohl alles durchsiebt!“ „Ich hatte den Sichtschirm in meinem Mini so eingestellt, daß ich die Besatzung sehen konnte“, berichtete Superhirn. „Bist du durch die Befehlszentrale geflogen?“ fragte Henri. Ja! Marco sitzt an der großen Platte, Mr. Primchief hockt im Sessel neben ihm. Mir ist jetzt klar, warum die so ziellos dahintrudeln! Mr. Primrose und Mr. Primsmith benehmen sich ja noch einigermaßen. Aber Mr. Primpan rennt wie verrückt herum. Es sollte mich nicht wundern, wenn er auf jeden Knopf drückt, den er sieht!“ „Was werden sie deiner Meinung nach jetzt machen?“ „Ich bin fest davon überzeugt“, sagte Superhirn, daß auch in manipulierten Affen die Affennatur stärker ist als das hineinmanipulierte Menschliche. Affen haben einen guten Sinn dafür, daß sie ihrem Wärter gegenüber ,unartig' waren. Wenn der Übermut verraucht ist - und er verraucht ganz schnell bei Hunger und Durst -, werden sich die Prims wie kleine Kinder an ihren Herrn und Meister Marco wenden. Marco wird sie beruhigen, wird ihnen Berge von Bananen in der Unterseestadt versprechen. Dann sind sie still, und er kann das Raumschiff seelenruhig zur Basis zurückführen!“ „Und falls du dich irrst, was dann?“ fragte Gérard. Superhirn schwieg. Er versuchte' Bild- und Hörfunkverbindung zum Hauptquartier der Unterseestadt herzustellen. Vergeblich! Endlich sagte er: „Wir nehmen Kurs auf Asteroid 1566, den Kleinplaneten Ikarus. Wenn sich die Prims wider Erwarten nicht so verhalten, wie ich denke, und wenn sie Marco doch noch zwingen, dieses Ziel anzusteuern, dann - hm, dann sind wir jedenfalls eher da!“ Superhirn ging zum Befehlspult und sprach auf die Kontaktplatte: „Kurs Asteroid Nummer 1 566 Asteroid Nummer 1566 - Kleinplanet Ikarus!“ „Kurs Asteroid Nummer 1566, Kleinplanet Ikarus!“ wiederholte die Maschinenstimme laut und
vernehmlich. Henri beobachtete die rasch über den Visor gleitenden Daten. „Wir sind jetzt im Weltraum“ meldete er nach einer Weile. „Das ist mir egal“ maulte Micha. „Ich habe Hunger! Unsere Küche ist doch hoffentlich nicht kaputt?“ „Zum Glück nicht!“ beruhigte ihn Tati. „Komm, wir werden uns eine besonders leckere Mahlzeit zusammenstellen!“ Als sie zurückkamen, herrschte überall ein blaues Licht. „Und was soll das scheußliche Blaulicht?“ fragte Micha im Kommandoraum. „Die Raumschiff-Automatik, das technische Hirn, hat durch die Maschinenstimme zum Makrofizieren geraten“, erklärte Henri. „Superhirn hat eine Anweisung auf die Befehlsplatte gesprochen, und daraufhin leuchteten alte Innenwände, Böden, Decken und Abrundungen blau auf.“ „Auf der Wand siehst du ein Sichtbild in Form unseres Monitor“, ergänzte Superhirn. „Die Maßstabsangabe daneben zeigt dir, daß das Schiff seine ursprüngliche Größe wiedererlangt hat! Kein Zweifel: Dieser Vorgang hängt mit dem blauen Licht zusammen.“ „Und wir sind auch wieder so groß wie vorher?“ vergewisserte sich Micha. „Und Loulou ebenfalls!“ feixte Gérard. „Das Blaulicht verblaßt!“ stellte Prosper fest. „Zum Glück!“ meinte Superhirn. „Die Rück-Vergrößerungsstrahlung dürfte auf die Dauer gefährlicher sein als alles, was man an Strahlen in der Medizin verwendet.“ Er beugte sich über die große Sichtplatte. „Wir umkreisen den Asteroiden Ikarus. Aber ich erkenne keinen Landeplatz!“ Tati schauderte. „Das sieht ja gräßlich aus da unten Und das soll ein Planet sein - also etwas Ähnliches wie unsere Erde?“ Superhirn lachte trocken. „Die Ähnlichkeit erschöpft sich darin, daß der Asteroid Nummer 1566 auch Kleinplanet Ikarus genannt - ebenfalls um die Sonne kreist. Seine Umlaufzeit beträgt 1,12 Jahre, und er nähert sich unserer Sonne bis auf die verhältnismäßig geringe Entfernung von 28,5 Millionen Kilometer!“ „Gering!“ murmelte Gérard. „So eine geringe Entfernung möchte ich nicht zu Fuß zurücklegen!“ „Wenn der Asteroid 1566, also dieser Ikarus, der Erde nahe kommt, wirkt er von da aus nicht ganz so hell, wie ein Stern 12. Größe. Das heißt: Er ist von der Erde her mit bloßem Auge nicht erkennbar. Übrigens hat er eine Neigung von 23 Prozent gegen die Erdbahnebene, er läuft außerordentlich steil durchs Sonnensystem Was Superhirn da sagte, kümmerte Micha und Tati nicht. Sie blickten wieder auf die Informationswand, auf der neue Sichtzeichen und Zahlen erschienen waren. „He!“ bemerkte Prosper erstaunt. „Was ist denn das schon wieder?“ Superhirn studierte die Zeichen eine Weile. Dann sagte er: „Symbole für Außentemperatur, atmosphärische Außenwerte und Schwerkraftverhältnisse auf Ikarus!“ „Ach ja!“ rief Micha freudig. „Wieviel Grad Wärme? Und schöne, klare Luft vielleicht? Schwerkraft ist Anziehungskraft, oder? Können wir nach der Landung herumhopsen wie auf der Erde? Das wäre herrlich! Loulou braucht Auslauf! Das Raumschiff-Heck ist für Hundespaziergänge ziemlich langweilig!“ „Ich fürchte, ich muß dich und Loulou enttäuschen“, sagte Superhirn. Jeder Quadratzentimeter der Ikarus-Oberfläche erhält pro Minute 25 Kalorien - also Wärmeeinheiten -, das sind (in Wärmegraden gemessen) irrsinnige Hitzewerte. Wenn du hier zur Schule gehen könntest, Micha, würdest du, falls du die Hitze überlebst, stets und ständig gleich zigmal hitzefrei kriegen!“ „Was denn - bei der Landung verbraten wir?“ fragte Gérard. „Da brauche ich ja wohl nach Luft und Schwerkraft nicht mehr zu fragen!“ „Richtig!“ Superhirn grinste. „Selbst ohne die mörderische Sonnenhitze ist der Kleinplanet kein idealer Campingplatz! Er hat keine Atmosphäre, und seine Anziehungskraft ist kaum spürbar. Beim Aussteigen gab´s für uns kein Oben und kein Unten, wir würden wie Papierschnitzel umeinander herumfliegen!“ „Aber was sollen wir denn auf so einem - so einem Himmelsbrocken?“ erkundigte sich Tati. Sie
starrte auf die runde Sichtplatte: „Ich sehe nur Steinwüsten, Krater, Buckel - alles kahl! Nirgends ein bißchen Grün, keinen noch so vertrockneten Wald, keinen See und keinen Fluß!“ „Der ganze Ikarus ist ein einziger Felsbrocken“, erklärte Superhirn, „und er hat nicht einmal ein Hundertstel der Größe unserer Erde. Aber ihr vergeßt eines: Wir sind nicht gestartet, um uns in einem Weltraumparadies zu tummeln. Wir wollen nur sehen, ob Charivaris Energiestation genügend abgesichert ist!“ „Nun umrunden wir Ikarus zum soundsovielten Mal“, brummte Gérard, und auf der Sichtplatte ist aber auch nichts von einer Station zu erkennen!“ „Die Energiesammlungsanlagen werden in den Kratern getarnt sein“, meinte Superhirn. „Das Kraftwerk selbst Mit den Speicherbatterien befindet sich verständlicherweise unter der Oberfläche, also im Inneren des Kleinplaneten!“ Plötzlich ertönte die Maschinenstimme: „Energiestation verlangt Erkennungsdaten - Energiestation verlangt Erkennungsdaten . . .“ „Was heißt denn das nun wieder?“ rief Tati unwillig. „Nichts Besonderes!“ beschwichtigte Superhirn. „Wir müssen über Mikrofon eine Kennziffer funken, sonst wehrt sich die Stationsautomatik gegen unsere Landung. Das ist doch klar!“ „Klar?“ fragte Micha. „Ich höre nur: Wehrt sich! Soll das heißen, daß wir in den Weltraum zurückgeschleudert werden, wenn wir die Erkennungsnummer nicht wissen?“ „Kluger Junge!“ murmelte Superhirn. „Machst du aber Fortschritte! Im Ernst - deine Lehrer würden staunen!“ Er wandte sich an die anderen: „Um zu verhindern, daß andere als Charivaris Raumschiffe hier landen und so etwa die Station entdeckt wird, leitet die Stationsautomatik den Landevorgang nur nach Angabe der Kennziffer ein!“ Er beugte sich über das Befehlspult: „Erkennungsdaten für Landung auf Asteroid Nummer 1566! - Benötige Erkennungsdaten für Landung auf Asteroid Nummer 1566 Ikarus!“ Das technische Hirn des Monitor spurte wieder überraschend schnell. Auf der Wand erschien eine lange Leuchtziffer-Folge. Henri sprach sie ganz langsam und deutlich in sein Tischmikrofon. „Die Stationsautomatik hat angesprochen! Sie funktioniert!“ rief er danach. Vor Eifer berührte er die Sichtplatte fast mit der Nase. Mit Spannung verfolgten jetzt auch die anderen, wie die Oberfläche des Kleinplaneten näher und näher kam. Bei der überaus starken Sonnenhelligkeit erkannten sie immer deutlicher die Einzelheiten einer trostlosen Felslandschaft. „Wir stehen über einem gewaltigen Krater!“ meldete Henri. „Und jetzt senken wir uns langsam hinab wie ein Hubschrauber! Wahrscheinlich sind wir in einem Strahlenfang!“ Er kicherte: „Unsichtbare, liebevolle Arme empfangen uns und leiten uns in die Tiefe!“ Auf einmal wurde die Sichtplatte dunkel. „Was ist nun?“ fragte Micha. Nicht lange, und die Maschinenstimme gab Auskunft: „Monitor auf Fahrstuhl - gleitet ins Innere Schwerkraftkleidung anziehen - Schwerkraftkleidung . . .“ im Bordmagazin fand die Besatzung die durch Aufschrift gekennzeichneten Anzüge. „Damit wir uns so bewegen können wie auf der Erde“, erklärte Superhirn. „Raumfahrerhelme, Sauerstoffmasken und -flaschen brauchen wir nicht. Wie ich an der Signalwand eben sah, herrscht in diesen Höhlen ein für uns gewohntes Klima. Selbstverständlich eine künstlich geschaffene Einrichtung!“ Der Pudel mußte, weil es für ihn natürlich keine Spezialanfertigung gab, zurückbleiben. Pausenlos ertönte die Maschinenstimme: „Landevorgang beendet - Ausfahrt aus Fahrstuhl auf Hohlschiene - Schiff steht - Schiff steht - Besatzung kann von Bord - Besatzung kann von Bord...“ Erst als Superhirn die Luken öffnen ließ, schwieg die Stimme. „Hoffentlich sind hier keine Affen als Ingenieure - oder als sonstwas!“ ängstigte sich Micha. „Im lkarus-Inneren findest du bestimmt kein Lebewesen“, beruhigte ihn Superhirn. „Meinst du, Charivari ließe jemanden ständig unbeaufsichtigt bei seinen kostbaren Batterien?“
Über die automatisch ausgefahrene Treppe verließen die jungen Raumfahrer den Monitor. Verblüfft sahen sie sich um. „Ach dachte“, begann Tati, „in diesen unterirdischen...“ Sie verbesserte sich: „... in diesen Räumen unter der Ikarus-Oberfläche würden wir auch nur kahle Felsen vorfinden. Und höchstens die Batterien, um die sich der Professor vor Sorge fast den Bart abgerupft hat!“ „Das ist ja hier wie in einem Park, einem botanischen Garten oder einem Treibhaus!“ rief Prosper, „Freunde, seht mal den riesigen Fahrstuhleingang, aus dem der Monitor auf eine breite, eingleisige Hohlschiene in die Station geglitten ist!“ ,Die Hohlschiene hat sogar eine Weiche für ein zweites Raumschiff!“ stellte Henri fest. Superhirn spähte nach allen Seiten. „Ha!“ triumphierte er. „Ich komme dem Professor auf die Schliche! Er hat hier nicht nur eine Energiestation, sondern auch Versuchsplantagen!“ In dem gewaltigen Treibhaus, das sich irgendwo in der Ferne verlor, sah man tatsächlich Bäume, Büsche und Pflanzen. Vorsichtig traten die sechs mit dem Hund ihren Erkundungsgang an. „Mit den riesigen Kästen da, die wie Transformatorenhäuser aussehen, wird künstliches Erdklima erzeugt!“ vermutete Superhirn. „An der Oberfläche dieses Kleinplaneten wäre das nicht möglich! Da ist auch eine Berieselungsanlage. Natürlich ist das Wasser mit Raumschiffen eingeflogen worden; oben würde es verdampfen.“ Er lachte wieder. „Was kicherst du denn so albern?“ fragte Gérard „Weil ich sehe, daß Professor Charivari hier versucht, der Schwerelosigkeit ein Schnippchen zu schlagen!“ erklärte Superhirn grinsend. „Aber das ist ihm nur zum geringsten Teil gelungen! Gut, der Raumschiffbahnhof und vieles andere steht. In unseren Schwerkraftanzügen bewegen wir uns ganz normal. Aber seht doch mal, wie seltsam die Bäume und Pflanzen wachsen!“ „Die Gartenerde zieht sich in komischen Kästen immer an den Wänden entlang“, stellte Henri fest. „Die Dinger sind geschlossen, und sie sind aus besonderem, fest verankertern Glas; Luft und Wasser werden in Röhren eingeschleust und durch Düsen und Siebe verteilt!“ ,Sonst würden sämtliche Sandteilchen frei im Raum stehen!“ nickte Superhirn. „Die Bäume kleben richtig an den Felsen! Auch die Früchte haben eine gewisse Neigung wandwärts!“ „Früchte!“ rief Micha. „Riesige Apfelsinen! Und Zitronen! Sogar Kokospalmen sind da!' „Dahinten beginnen Bananenhaine!“ erkannte Tati. „Die scheinen überhaupt kein Ende zu nehmen!“ „Aber wie wachsen die denn, wenn's mit der Schwerkraft nicht klappt?“ wunderte sich Prosper. „Na, warum sind alle Kulturen an den Wänden?“ fragte Superhirn zurück. „Eben deshalb: Der Ikarus ist ein Kleinplanet. Wenn er sich dreht, macht sich die Fliehkraft verhältnismäßig stark bemerkbar. Das heißt: Sie wirkt. Sie wirkt als eine Art Ersatz-Schwerkraft. Und das genügt für die Obstkulturen, da ja die klimatischen Bedingungen künstlich gegeben sind!“ „Ich will eine frische Apfelsine essen!“ verlangte Micha. „Erst suchen wir die Batterien, in denen Charivari die kostbare Energie aus dem Nichts speichert“, entschied Superhirn. Sie brauchten nicht weit zu gehen. Gleißende Helligkeit, die aus einer Höhlennische kam, wies ihnen den Weg. Plötzlich standen sie vor einer Panzerglaswand. „Ich schätze, die durchbricht nicht einmal ein Kanonengeschoß - ganz gleich, welchen Kalibers und welcher Durchschlagskraft!“ staunte Henri. „Ha, und dahinter stehen die Wunderbatterien!“ „Sieht aus wie ein x-beliebiger Maschinenraum, bloß daß sich nichts bewegt!“ sagte Gérard enttäuscht. „Und doch wird hier eine Energie gespeichert, von der ein Kilogramm genügen würde, unsere Erde zu verwüsten!“ mahnte Superhirn. „Das dahinten sind die Ladewerke. Hm.“ Er betrachtete den Rahmen der Panzerscheibe: „Selbst die modernsten, technischen Mittel können dieses Energiewerk nicht knacken!“ „Aber warum hat Professor Charivari dann solche Angst gehabt?“ wunderte sich Tati. „Weil seine eigenen Raumschiffe Strahlungskanonen besitzen, denen die Einrichtung hier nicht gewachsen wäre“, entgegnete Superhirn. „Unbefugte, besser gesagt Verbrecher, die in einem der
beiden Monitore hier landen würden, könnten die Tür mit einem ausgebauten und hertransportierten Strahler durchbrechen!“ Micha war zu den Plantagen gelaufen. Plötzlich tauchte er atemlos neben den anderen auf und rief: „Die Hebebühne ist nach oben geglitten!“ „Welche Hebebühne?“ fragte Gérard verdutzt. „Na, die Plattform in dem Schacht, in dem wir heruntergeschleust worden sind!“ Tati und Prosper begriffen nicht. Doch Henri machte große Augen. Und Superhirn rief: „Das kann nur bedeuten, daß ein zweites Raumschiff gelandet ist! Die Stationsautomatik hat den Fahrstuhl nach oben gehen lassen, um dieses Raumschiff aufzunehmen und herunterzubringen! Kommt - los - beeilt euch! Wir müssen in unseren Monitor'!“ Die sechs rannten durch die künstlich angelegten Haine. „Zu spät. japste Tati. Den anderen verschlug es die Sprache. Sogar Superhirn stand starr vor Schreck. Neben den neuen Monitor hatte sich über die Weiche der alte A-Monitor geschoben. Die Luken waren bereits geöffnet. Eben stieg Charivaris Neffe Marco mit den gelbgekleideten Menschenaffen aus. Superhirn, der meist die richtigen Folgerungen traf, hatte sich einmal geirrt - allerdings ein entscheidendes Mal! Die Prims waren auf ihrem Raumflug nicht verzweifelt. Nahrungs- und Trinkwassermangel hatte sie nicht zum Aufgeben gezwungen. Zumindest der zähe Primchief mußte dem Neffen von Professor Charivari wie der Teufel im Nacken gesessen haben, um das begehrte Ziel - die Batterien auf Ikarus - zu erreichen! „Das ist das Ende!“ stammelte Prosper. „Noch nicht!“ sagte Superhirn. „Seht!“ Wenn die Affen nun auch wirklich „Übermenschliches“ geleistet hatten, wenn es dem Primchief auch gelungen war, Marcos Ablenkungsmanöver zu durchschauen und ihn zur Aufnahme des richtigen Kurses zu zwingen: Eines konnten sie durch nichts wettmachen, nämlich - daß der alte Monitor keine Schwerkraftanzüge mitführte! Gleich, als sie die Ausstiegsleiter losließen, sausten sie wie zappelnde Riesenfische durch die Luft, zwischen den beiden Raumschiffen, den Klimaerzeugungshäusern, den Wänden und den Bäumen hin und her. Für sie gab es keinen „Halt“, wie für die Gefährten in ihren Schwerkraftanzügen! Selbst Marco trieb hilflos inmitten der schwerelosen Affengruppe. Doch er schrie mit äußerster Anstrengung: „Lauft zu eurem Monitor! Im Geräteraum ist ein rotes...“ „Ein was?“ schrie Henri, dem der Affe Primrose gefährlich nahe über dem Kopf herumruderte. „Rotes Kästchen!“ ächzte Marco, sich an einem Baumstamm festhaltend. „Sieht aus wie ein Filmapparat! Damit könnt ihr mein Raumschiff mikrofizieren!“ „Die Affenschaukel verkleinern - ja!“ begriff Superhirn. Er eilte unter den wild über ihm strampelnden Affen hinweg zum neuen Monitor. Als er wieder in der Luke erschien, trug er einen Handapparat, der tatsächlich einer Filmkamera ähnelte. Schnell trat er vor die zweite Hohlschiene hinter der Weiche, zielte auf den alten Monitor, als wollte er ihn filmen - und schwupp, war das Raumschiff verschwunden! „Mikrofizierung gelungen!“ brüllte Superhirn Marco zu. „Bring den Verkleinerungsapparat schnell in euren ,Monitor!“ befahl Marco, der sich immer noch an dem Baum festhielt. „He, ihr anderen! Versucht, mich hier abzupflücken und ins neue Raumschiff zu bugsieren!“ „Verstehe!“ keuchte Henri, der dem baumelnden Marco am nächsten stand und ihn bereits geschnappt hatte. „Die Prims sollen hierbleiben, aber sie dürfen weder ihr Schiff noch ein Gerät daraus benutzen können! Schwerelos und nur auf Arme und Beine angewiesen, kommen die nie ins Kraftwerk hinein!“ „Ebensogut können Schmetterlinge hier rumfliegen“, sagte Gérard. „Ist mir völlig klar!“ Mit Henri und Tati hängte er sich an Marco. Prosper und Superhirn kamen hinzu. „Los! Schleppt ihn zum Schiff!“ ächzte Henri. Während die vier Jungen und Tati an Marco zerrten wie an einem mit Gas gefüllten Luftballon,
wurden die frei herumzappelnden Affen immer wütender. Auf Schwerelosigkeit waren sie nicht wie Astronauten trainiert. Primchief hatte nach einer Kokosnuß gegriffen. Sogleich hielt er sie in der Affenfaust. Da aber bei Schwerelosigkeit jede heftige Bewegung eine Gegenbewegung auslöst, segelte die Kokosnuß verhältnismäßig gemütlich herab, während Mr. Primchief mit voller Wucht gegen die Wand prallte. Den Affen Primsmith, Primrose und Primpan erging es nicht anders. Sie stießen im freien Raum gegeneinander und flogen zurück wie federnde Bälle. Trotz dieser häßlichen Erfahrung kam keiner auf die Idee, sich ruhig zu verhalten und mit mäßigen Ruderbewegungen auf irgendeinen Gegenstand zuzusteuern, der ihm als Anker hätte dienen können. Primrose schwebte in Michas Gesichtshöhe. Er holte aus, um dem Jungen eine Ohrfeige zu versetzen. Micha schnellte beiseite - und der Affe drehte sich, als sei er eine Kurbelwelle. „Micha!“ tönte es vom Raumschiff her. „Micha, komm! Wir starten!“ Micha wich dem herabfedernden und über den glatten Fels rutschenden Primchief aus und rannte mit letzter Kraft zur Einstiegstreppe. Ein paar Minuten später hörte er Marco im Raumschiff sagen: „Start von Station Ikarus geglückt!“ „Und die Affen bleiben in den Höhlen?“ fragte Tati. „Fürs erste ja!“ entgegnete Charivaris Neffe. „Das alte Raumschiff ist mikrofiziert; sie haben keine Möglichkeit, es zu vergrößern! Und mit ihrer Körperkraft allein schaffen sie nie und nimmer den Einbruch in die Energiezentrale! Die Schwerelosigkeit macht ihnen genug zu schaffen. Bis man sie zurückholt, dürften sie nur eine einzige Sorge haben: ihre Ernährung!“ „Früchte gibt's ja in den Ikarus-Höhlen genug!“ sagte Gérard grinsend. Als Marco sich geduscht, umgezogen und in der Bordküche gestärkt hatte, berichtete er, mit welcher List und Ausdauer der Primchief all seinen Manövern gefolgt war. „Er hatte die Nummer des Asteroiden im Kopf. Er kannte sogar die Lande-Erkennungsdaten, die sonst nur mein Onkel und ich kennen und die in eurer Automatik programmiert sind. Dieser Teufelsbursche muß in seinem manipulierten Gehirn seit langem vieles aus unseren Fachgesprächen gespeichert haben!“ „In Zukunft werden Sie wohl doch lieber weiße Mäuse züchten, wie?“ fragte Superhirn lachend. „Das ist sicherer!“ „Ich bin geheilt!“ seufzte Marco. Endlich war es kurz nach diesem Gespräch wieder möglich, einen Funkkontakt zur Tiefseebasis herzustellen. Auf dem Wandbildschirm erschien das vertraute Gesicht des Professors. „Hallo, meine Freunde! Hier unten alles wieder in bester Ordnung!“ „An Bord auch!“ meldete Henri. „Marco wohlauf!“ „Energiestation auf Asteroid Nummer 1566 unversehrt!“ fügte Superhirn hinzu. „Affenschaukel mikrofiziert, Prims schweben ohne jedes Gerät hilflos im schwerelosen Raum!“ „Ihre Tiefseebasis ist gerettet!“ quietschte Tati, „Wann dürfen wir in unseren Ferienort zurück?“ fragte Prosper. „Nach der Begrüßungsfeier in der Tiefseestadt“, kam die Stimme des Professors. „Feier!“ rief Micha begeistert. „Im Kasino? Da mache ich mit!“
Ende
Raumschiff Monitor Landung auf der Raumstation 1. Wo ist der Professor? „Ich versteh das nicht“, maulte Micha. „Wir sind pünktlich gewesen. Zwei Tage hocken wir nun hier...“ „... und die, die uns eingeladen haben, lassen sich nicht blicken“, vollendete sein älterer Bruder Henri mißmutig. „Na und? Was kümmert uns das?“ seufzte deren Schwester Tati behaglich. Sie war aus dem Swimmingpool geklettert. Jetzt rückte sie ihre Luftmatratze in die Sonne. Als sie sich ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte, murmelte sie: „So ein Ferienparadies - einfach traumhaft.“ Tati - eigentlich Tatjana - war nur ein Jahr jünger als Henri. Wenn es aber galt, eine Lage zu beurteilen, sprach sie oft am vernünftigsten. Monton, am Golf von Biskaya, oberhalb einer Steilküste jener weiten atlantischen Bucht zwischen der gebirgigen Nordküste Spaniens und der flachen Westküste Frankreichs gelegen, war diesmal der Ferienort der Geschwister. Die Umgebung bestand aus einem großen Park mit herrlichen alten Bäumen, Blumenrondells, Brunnen, Statuetten, Grotten, einem gepflegten Golfplatz, einer „Trimm-dich- Wiese“ mit modernsten Sportgeräten und dem erst in diesem Frühjahr angelegten Swimming-pool. Wenn man nicht auf der Luftmatratze liegen wollte, konnte man auf Stühlen an runden Tischen sitzen wie in einem Gartenrestaurant, sich in buntgestreiften Hollywoodschaukeln räkeln oder von erhöht stehenden Bänken aus in den Fischer- und Segelsporthafen Monton hinuntersehen, weit übers Meer oder hinauf in den hohen, silbrigen Himmel. Das war einfach ferienhaft! So hatte Tati sich's gewünscht. Das der Graf von Monton - übrigens kein Mann mit Helmbusch und Schwert, sondern eine Seifenfabrikant - nicht da war und auch sein Neffe Marcel noch nicht, das kümmerte Tati wenig. Henris Schulfreunde Prosper und Gérard würden noch früh genug kommen. Die ließen sich keine Einladung entgehen. Es genügte ihr, daß sie und ihre Geschwister von Madame Claire, der Wirtschafterin, auch in Abwesenheit der Gastgeber herzlich empfangen worden waren. Es genügte ihr genauso wie dem vierten Feriengast, dem schwarzen Zwergpudel Loulou, der die drei auf Reisen stets begleitete. Loulou lag im Schatten und ließ seine rosa Zunge heraushängen, die aussah wie ein kleines Stück gekochten Schinkens. Er fühlte sich so recht pudelwohl. Doch Tatis jüngerer Bruder fing wieder an zu jammern: „Einen Tag lebe ich mal ganz gerne so wie 'n Rentner im Kurpark. Aber dann will ich was erleben. Ein großes Abenteuer - oder wenigstens ein paar lumpige kleine Abenteuer hintereinander!“ „Diesmal sollst du mit Sommersprossen nach Hause kommen - und nicht so käsebleich wie voriges Mal nach dem Besuch in der Unterwasserstadt“, sagte Tati, ohne die Augen zu öffnen. Henri lachte. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Rasen, pendelte mit dem Oberkörper hin und her und ließ einen Wasserball auf seinem Kopf hüpfen. Jede Robbe im Zirkus hätte ihn um seine Kunstfertigkeit beneidet. „Tati hat recht“, meinte er. „An Abenteuern haben wir mehr erlebt als sämtliche Schüler Europas zusammen.“ „In Marac!“ rief Micha hitzig. „In Marac, aber nicht in diesem langweiligen Monton hier!“ „Von Marac aus“, berichtete Henri. „Im Hochmoor von Marac haben wir Professor Charivari getroffen, unseren Freund, der uns zuerst so unheimlich war ... Dort haben wir seine unterirdische Geheimstation entdeckt ... Von da aus sind wir mit Raumschiff Monitor' ins All und zur Unterwasserstadt gestartet. Aber du weißt, daß der Professor die Station in Marac zerstört hat, weil ihm der Platz an den Todesklippen zu unsicher wurde. Jetzt sitzt er in seiner Versuchsstadt auf dem Meeresgrund, an der tiefsten Stelle des Atlantischen Ozeans. Seine Brüder beherrschen die geheimen
Basen im Pazifik und am Mondpol, vorausgesetzt: Man hat inzwischen nicht neue, größere Pläne verwirklicht.“ „Du meinst, in Marac ist nichts mehr zu holen?“ fragte Micha aufmerksam. Henri beendete seine Kopfballnummer. Er ließ den Ball einfach über den Rasen trudeln, streckte sich aus und sagte: „Genau das meine ich! Sonst hätten wir bestimmt einen leisen Wink gekriegt. Daß unser Freund Marcel seinen Onkel beschwatzt hat, uns hierher einzuladen - zwanzig Kilometer von der vernichteten alten Geheimstation entfernt -, wird seinen Grund haben. Sicher hat Marcel Verbindung mit dem Professor. Ich schätze, wir sollen nicht mehr nach Marac, damit uns keiner über irgend etwas ausfragen kann!“ „So ist es!“ ertönte eine Stimme über den Geschwistern. Wuff, waff ... ! machte der Pudel. Er war so erschrocken, daß er sich noch im Liegen überschlug. Tati fuhr hoch, wie von einer Schlange gebissen. Auch Henri stand blitzschnell auf. Nur Micha hockte noch am Boden, aber wie erstarrt. Aus der dichten, vielfach verästelten Krone eines uralten niedrigen Baums sprang Marcel auf den weichen Rasen herab. Er trug einen schicken schwarzen Traningsanzug mit weißen Streifen. Der Neffe des Grafen von Monton war nicht zu verkennen: spindeldürr, flachshaarig, das Brillengestell mit den riesigen kreisrunden Gläsern auf der Nase. Für die Gefährten - aber auch für den schon erwähnten Professor Charivari - galt Marcel als ein Wunder an Wissen, Beobachtungsgabe und Urteil. Er interessierte sich nicht nur für die neuesten Ergebnisse der menschlichen Forschung auf allen Gebieten, er konnte das meiste sogar erklären und sich vieles mit bewundernswertem Scharfsinn zusammenreimen. Besonders wegen der letzten Fähigkeiten nannten ihn seine Freunde Superhirn. „Ein schwarzer Trainingsanzug!“ rief Tati lachend. „Schwarz! Typisch für dich! Siehst aus wie Hamlet, der Prinz von Dänemark!“ - Tati verstand außer von ihrem geliebten Ballett auch viel vom Theater. Auch der kleine Micha hatte die Sprache wiedergefunden. Er sprang auf. „Seit wann bist du unter die Baumaffen gegangen?“ rief er wütend. „Wir mopsen uns hier auf dem Rasen, langweilen uns, und du du...“ „Ich mache mir eben einen Spaß daraus, euch zu belauern“, antwortete Superhirn grinsend. „Na, Kinder, ihr kennt doch meine Scherze!“ Er blickte sich um. „Gérard und Prosper sind noch unterwegs?“ „Scheint so“, erwiderte Henri. Er grinste nun auch, als er sagte: „Hauptsache, du bist da! Wie du gekommen bist: als Rauch aus dem Schornstein - und wann: vor drei, zwei Tagen oder eben erst jetzt - das soll uns schnuppe sein! Wichtig ist, daß wir dich leibhaftig vor uns haben. Und daß wir dich tüchtig ausquetschen können!“ „Ja! Weshalb sind wir hierher eingeladen worden?“ fragte Micha sofort. „Sollten wir wirklich nicht mehr nach Marac? Professor Charivari weiß doch, daß wir seine Geheimnisse nicht verpfeifen! Ich habe das ganze Jahr über dichtgehalten in der Schule! Keinen Piep habe ich über die Mond- und Meeresstationen gesagt! Nichts davon, daß wir allein im Raumschiff Monitor rumgekurvt sind und was wir sonst noch alles erlebt haben!“ „Verschwiegen wie ein Grab!“ sagte Superhirn mit tiefer Stimme; er furchte die Stirn und blinzelte Micha über die Ränder seiner riesigen Brillengläser hinweg an. „Bildest dir wohl etwas darauf ein, daß du nichts ausgepetzt hast, was? Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Schließlich hat uns unser lieber Professor Doktor Charivari mehr Vertrauen geschenkt als manchen seiner erwachsenen Raumfahrt-Mitarbeiter!“ „Und trotzdem fürchtete er, wir könnten in Marac plappern!“ erboste sich Micha. „Das meintest du doch auch, als du wie Fallobst aus dem Baum gesaust kamst!“ Jetzt mußten die anderen lachen. Der Pudel, auf den Fröhlichkeit immer ansteckend wirkte, sprang voller Wiedersehensfreude an Superhirn hoch.
„Nun macht's euch erst einmal wieder gemütlich“ sagte Superhirn. Er setzte sich ins Gras. Die Geschwister folgten seinem Beispiel. Auch Loulou. Er blickte den spindeldürren jungen so gespannt an, als wollte er dasselbe wissen wie die anderen. „Über eine Pariser Adresse hat mir Professor Charivari schon vor Monaten einen verschlüsselten Brief geschrieben“, erklärte Superhirn. „Verschlüsselt insofern, als er in unverfänglichen Worten anfragte, wo wir uns denn in den nächsten, also in diesen Ferien träfen.“ „Aha!“ sagte Tati. „Daraus hast du geschlossen, daß ihm der alte Schauplatz nicht recht sein würde!“ Superhirn nickte. „Das war nicht schwer zu erraten! Die Frage klingt doch recht eigenartig, nicht? Besonders wenn man bedenkt, daß Marac schon fast ein zweiter Heimatort für uns war! Charivari wußte das!“ „... und trotzdem stellte er sich ahnungslos“, überlegte Henri laut. „Hin! Leuchtet mir ein! In Marac hat man den Professor für einen gutmütigen alten Kauz gehalten, einen Gelehrten, der das Alter von Gesteinen bestimmt. Der Bauer Dix wird ihn bestimmt vermissen, und wenn wir nach Marac kämen, würde er uns immer wieder fragen, ob wir von Charivari etwas gehört hätten! Für Micha wäre es bestimmt schwer, dauernd ,nein' zu sagen - oder bestimmt nicht, Herr Dix!“ Tati nickte und bestätigte: „Micha sieht man an der Nasenspitze an, ob er die Wahrheit sagt!“ „Das ist es nicht allein!“ gab Superhirn zu bedenken. „Aber vergeßt nicht: Auch wir, dazu noch Prosper und Gérard, sind zweimal recht plötzlich von der Bildfläche verschwunden: bei den geheimen Starts mit Raumschiff Monitor aus der Seegarage vor dem Hochmoor. Falls uns der Professor wieder so rasch riefe, und wir müßten ein drittes Mal bei Nacht und Nebel aus Marac raussausen, nützte uns gewiß keine noch so stichhaltige nachträgliche Ausrede mehr. Aus diesen Gründen schrieb ich Professor Charivari über die angegebene Pariser Adresse, wir würden uns in Monton bei meinem Onkel treffen. Seine Einladung hatte ich längst und auch die Erlaubnis, euch und Prosper und Gérard hier einzuquartieren.“ „Moment, Moment“, unterbrach Micha verwirrt. „Du meinst, Professor Charivari könnte uns wieder brauchen? Wir müßten plötzlich wieder wegsausen? Womit denn? Hier ist doch kein Raumschiff Monitor, oder? Hast du die Gegend nach einer neuen Geheimbasis schon abgesucht? Klar! Deshalb bist du erst mal überall rumgeschlichen! Du wolltest uns mit einer Nachricht überraschen!“ Superhirn lachte und gab zu: „Gar nicht so dumm. Stimmt! Ich habe Madame Claire gesagt, sie soll euch nicht verraten, daß ich längst da sei. Ich habe so getan, als wollte ich euch verblüffen, nur so aus Albernheit. Die gute Frau hat zwar den Kopf geschüttelt, aber sie hat's geglaubt. Jungenstreiche!“ Er kicherte. Doch schnell wurde er wieder ernst: „Ich habe eine Nachricht für euch“, betonte er. Aber dieser Nachricht fehlt die Ergänzung, die nach des Professors Andeutung hier in Monton sein müßte. Also habe ich mich umgesehen. Bei der Suche wollte ich ungestört sein, zweitens wollte ich euch keine halbe, sondern eine ganze Meldung bringen!“ Superhirn zog einen zerknitterten Brief aus der Brusttasche seines Trainingsanzugs. „Hier, lest selber“, sagte er. „Das ist der letzte Brief, der mich über die Pariser Adresse erreichte!“ Henri und Tati steckten die Köpfe zusammen. Micha reckte sein Kinn abwechselnd über die linke Schulter des Bruders und über die rechte der Schwester. Halblaut las Henri folgenden Inhalt vor: „Viel Vergnügen im schönen Monton. Oft bin ich dort auf den höchsten Felsberg gestiegen, um mir die verlassene alte Fischerkirche anzusehen. Durch das kunstvoll verglaste Südostfenster dringt vormittags das Sonnenlicht wie ein scharfer goldener Strahl. Manchmal habe ich eine meiner Gesteinsproben unter diesen Strahl gehalten. Selbst wertlose, wenn auch hübsche Stücke schienen sich dabei in Juwelen aus Ali Babas Schatzkammer zu verwandeln.“ „Märchen!“ maulte Micha. „So etwas Albernes! Denkt der Professor, ich bin immer noch so dämlich wie damals, als er mich zum erstenmal sah?“ Auch Tati war ratlos. „Das klingt nach Erinnerung. Hm! Wirklich! Scheint weiter nichts zu sein. Aber Superhirn, du sprachst was von Ergänzung dieser angeblichen Nachricht!“ „Lies den letzten Satz!“ erklärte Superhirn ernst. „Vielleicht findet ihr in Monton etwas, das ihr auch in den Sonnenstrahl der kleinen Fischerkirche
halten könnt“, murmelte Tati. Sie blickte auf. „Soll das etwa der ganze Hinweis sein?“, fragte sie. „Tja.“ Superhirn zuckte die Achseln. „Ich dachte. Und wenn ich ehrlich bin: Ich denke es noch. Ein Mann wie Professor Charivari verliert keine Zeit, wie ein Urlaubsreisender in schönen Erinnerungen zu schwelgen! Andererseits...“ „Andererseits?“ wiederholte Henri wachsam. „Ich war zwei Tage bei der verlassenen Kirche auf dem Felsen“, berichtete Superhirn. „Sowie an den beiden Vormittagen der erste Sonnenstrahl das bezeichnete Fenster erreichte, hopste ich wie eine Kirchenmaus an der gegenüberliegenden Wand herum. Ich habe jede Stelle abgeklopft, über die der Strahl gewandert ist - so lange, bis er verschwand.“ „Du dachtest, der Strahl würde auf eine Ritze, ein Loch oder eine Nische weisen, in der eine Ergänzungsnachricht verborgen sein könnte!“ begriff Henri. Superhirn nickte. „Aber ich fand nichts. Und eigentlich hatte ich auch nichts anderes erwartet.“ „Wieso?“ fragte Micha gedehnt. „Ha, ich weiß!“ rief Tati. „Wahrscheinlich, weil ein Mann wie Professor Charivari niemals zweimal mit den gleichen Mitteln arbeitet!“ „Du verdienst einen Orden“, erklärte Superhirn grinsend. „Du kannst nicht nur tanzen, kochen und ärgerlich sein - du kannst auch kombinieren! Sicher, ganz sicher hast du recht! Das letzte Mal benützte Charivari den Schatten eines Kamingitters, um uns auf einen verborgenen Gegenstand und ein Dielenbrett aufmerksam zu machen. Das mit dem Sonnenstrahl wäre im Grunde nichts anderes.“ Henri rieb sich das Kinn. „So wäre der Brief an dich vielleicht doch nichts anderes als ein - hm - ein Feriengruß?“ fragte er langsam. „Ich fürchte“, murmelte Superhirn. „Aber ich will keine Ferien ohne Geheimnisse!“ klagte Micha. „Ich langweile mich hier grün und gelb!“ „Und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mich mal eine Zeitlang gründlich zu langweilen“, murmelte Tati. Superhirn lächelte, als er sagte: „Langeweile ist längst nicht das, was du darunter verstehst, Tati!“ Er wurde unterbrochen, denn am Rand des Swimmingpools läutete das Telefon: Als Tati den Hörer am Ohr hielt, richtete sie sich ruckartig auf. Ihre Augen wurden groß. „Wer ist da? Hallo!“ Sie lauschte. Ihr Gesicht drückte wachsendes Erstaunen aus. Die anderen beobachteten das Mädchen gespannt. „Ja“, sagte sie verwirrt. „ja, gut! Ich werde es Superhirn sagen. Aber wer...“ Sie unterbrach sich, wackelte hilflos mit dem Hörer in der Luft und richtete ihren Blick auf Superhirn. „Aus! Der Mann hat aufgelegt!“ „Du solltest mir was mitteilen?“ fragte Superhirn. Tati - noch etwas benommen - legte den Hörer zurück auf die Gabel. „Ja“, erklärte sie, wobei man ihr ansah, daß sie sich bemühte, den Wortlaut der Nachricht wiederzugeben: „Er hat behauptet, Gérards Vater zu sein. Und er sagte: Superhirn soll aufpassen, daß der Wasserball nicht platzt, falls wir einen haben.“ „Na, wir haben doch einen!“ rief Micha. Tati sah den jüngeren Bruder von der Seite her an. „Meinst du, das weiß ich nicht?“ fragte sie fast verächtlich. „Aber solche dämlichen Nachrichten gibt doch kein ernsthafter Mensch per Telefon durch!“ „Außerdem ist Gérard noch gar nicht hier“, ergänzte Henri. „Aber davon mal abgesehen: Gérards Vater, genau wie Prospers, ist uns bekannt. Gérard und Prosper gehen ja in meine Klasse, und die Väter haben öfter bei uns angerufen, um nach ihren Sprößlingen zu fragen.“ Tati nickte. „Eben! Aber die Stimme, die ich hier am Ohr hatte, war nicht die von Gérards Vater!“ Superhirn legte sich auf den Bauch, stützte das Kinn in die Hände und betrachtete den vierfarbigen Wasserball. „Das ist doch ein ganz gewöhnliches Ding aus einem Kaufhaus? Habt ihr was Besonderes an ihm bemerkt? Ist er schwerer? Oder habt ihr ihn unterwegs mal für ein Viertelstündchen vermißt?“
„Nein!“ sagte Henri entschieden. „Ich hatte ihn ohne Luft, also zusammengefaltet, im Rucksack. Da ist kein Mensch drangewesen. Der Ball ist weder ausgetauscht worden, noch kann jemand einen Zettel oder was auch immer - hineingetan haben. Und seit Tati ihn hier aufgepustet hat, war er nur in den Händen von uns dreien.“ „Die beiden Nächte, die wir in der Villa Monton verbracht haben“, fügte Tati hinzu, „verliefen ungestört. Hätte jemand versucht, in die Gästekammern einzudringen, würde Loulou wie verrückt gebellt haben!“ Micha nahm den Ball und entfernte den Stöpsel. Blupp! machte es. Schschschsch! entwich die Luft. Micha quetschte die zusammengefaltete Hülle mit den Händen. Er betrachtete sie dabei genau. „Nichts drin, nichts dran!“ murrte er. Henri blickte forschend auf Superhirn und forderte ihn auf: „Willst du dir die Wasserballhülle nicht mal ansehen?“ „Nein“, erwiderte Superhirn zum Erstaunen aller. „Ich glaube, dieser Wasserball, so, wie er da ist, hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Er diente nur als Tarnwort in der sonderbaren Meldung.“ „Möglich!“ rief Tati lebhaft. „Kinder, da fällt mir ein: Der Mann am Telefon meinte, wir sollten darauf achten, daß der Wasserball nicht zu früh platzt, falls wir einen haben!“ Superhirn sprang rasch auf. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging mit gesenktem Kopf am Schwimmbecken auf und ab. „Zu früh“, murmelte er. „Hm - das ist ein Schlüssel: ´Falls wir einen haben' - das mag auch etwas bedeuten. Nun, wir haben einen, aber an dem ist nichts. Das rieche ich. Der Nachrichtenvermittler rechnet offenbar damit, daß wir uns Gedanken machen. Wie, wenn das bedeuten sollte: ... falls ihr n o c h einen Ball bekommt ...?“ „Mensch“, staunte Henri. „Immer wieder beweist du uns, daß du deinen Spitznamen nicht zu Unrecht trägst! Vielleicht bringen Gérard und Prosper einen zweiten Wasserball mit, einen, den man ihnen unterwegs irgendwie in die Hände gespielt hat und der die erwähnte Ergänzungsnachricht Professor Charivaris enthält!“ „Kann sein“, gab Superhirn zu. Er lächelte Micha an und sagte: „Die komische Telefonwarnung zeigt uns jedenfalls: Wir sind wieder mitten in einem neuen Geheimnis drin!“ 2. Großes Rätselraten Micha war über Superhirns Erklärung begeistert. Auch Henris Augen leuchteten vor Spannung. „Wenn doch Gérard und Prosper schon hier wären!“ meinte er ungeduldig. Nur Tati gefiel die Sache nicht. Die Geschwister saßen jetzt mit Superhirn auf der Terrasse des Wohnhauses unter dem vorgezogenen Dach. Sie genossen den Platz hoch über dem Meer. Die freundliche Wirtschafterin hatte ihnen Kaffee und Kakao zubereitet und eine große Silberschale mit selbstgebackenen Keksen hingestellt. „Der Anruf zeigt, daß wir bespitzelt oder beschattet werden begann Tati. „Das ist eine miese Sache. Ich mag es nicht, daß man uns nachspioniert. Auf solche Weise will ich nicht in Geheimnisse hineingezogen werden.“ Superhirn runzelte die Stirn und stimmte dem Mädchen zu: „Du hast recht, Tati. So was liegt mir auch nicht. Nur, verwechsle unsere Freundschaft mit dem Professor nicht mit Geheimbündelei - und halte die Leute, die für ihn arbeiten, nicht gleich für Dunkelmänner. Es sind sicher glaubwürdige Vertrauensleute. Keine lichtscheuen Zuträger, sondern sehr vorsichtige Informanten“ „Wer gibt sich schon dazu her, Informant zu sein!“ sagte Tati verächtlich. Superhirn antwortete lachend: „Ich hoffe, du meinst das nicht grundsätzlich! Damit würdest du unzähligen Menschen bitter unrecht tun. Denn, lassen wir mal Professor Charivari einen Augenblick beiseite: Wir leben im sogenannten Informationszeitalter. Auch Schulunterricht zum Beispiel ist Information!“ „Ach, Kinder, eßt lieber Kekse!“ knautschte Micha mit vollem Mund. „Superhirn wird superlangweilig!“ „Im Gegenteil, hoffe ich“, widersprach der spindeldürre Junge grinsend. „Unsere Zivilisation kommt
ohne Informationen, ohne Informationsdienste nicht mehr aus. Angefangen beim Telefondienst: Der informiert dich von der Zeitansage bis zur Wettervorhersage über alles mögliche. Die Zeitansage ist kein Luxus, wenn es gilt, einen bestimmten Zug zu erreichen. Und auf dem Land ist der Bericht Aktuelles aus dem Gesundheitswesen' berufsnotwendig, wenn nicht gar lebenswichtig bei Seuchengefahr. Denk nur an Landwirte, Inhaber von Jagdrevieren oder auch nur an gewöhnliche Hundebesitzer.“ Henri nickte zustimmend. „Und die vielen Service-Wellen im Radio hat man bestimmt auch nicht zum Spaß eingerichtet. Da werden fortwährend Straßenzustandsberichte, Mitteilungen über Stauungen auf Autobahnen sowie Umleitungshinweise durchgegeben.“ „Alles unerläßliche Informationen!“ betonte Superhirn. „Es werden schon Autoradios gebaut, die sich für Durchsagen automatisch einschalten. Und die Seefahrt braucht ihre eigenen Meldungen, die Wirtschaft ist auf den Börsenbericht angewiesen, der Sportler will wissen, wie die Schneeverhältnisse in den Bergen sind, der Reisende möchte was über die Lage auf den Flughäfen hören, zum Beispiel bei Streiks.“ „Ihr wißt genau, daß ich das alles nicht meine“, unterbrach Tati ärgerlich. „Ich meine Geheimschnüffler! Alle, die heimlich in irgendeinem Nachrichtendienst stehen. Ober solche Leute liest man dauernd etwas in den Zeitungen. Und für ihre Auftraggeber, denen sie nützen, sind das auch Vertrauenspersonen.“ „Sie denkt wahrscheinlich an staatliche Sicherheitsdienste“, half Henri. „Und an Wirtschaftsspionage!“ Superhirn nickte. „Was das erste betrifft, so gibt es darüber zwei Ansichten“, behauptete er. „Die Staatsschutz-Organisationen arbeiten sicherlich mit Mitteln, die gerissen und teilweise niederträchtig sind. Wir brauchen dabei nicht mal an Erpressung, Mord und Totschlag zu denken. Ich glaube, das machen die Spionagefilme zu billig. Die Abhör-, Ablichtungs- und sonstige Methoden - und alles, was dazu gehört - das reicht dem ehrlichen Zeitgenossen schon. Aber während viele Experten darin eine Gefahr sehen, sehen andere darin sogar die Gewähr für ein gewisses Maß an öffentlicher Sicherheit.“ „Sicherheit? Für wen?“ fragte Tati staunend. „Für den Weltfrieden, ob du's glaubst oder nicht“, entgegnete Superhirn. „Wenn eine Militärmacht durch ihr geheimes Nachrichtensystem darüber informiert ist, daß die andere über eine Rüstung und Organisation verfügt, wird sie sich hüten, sie anzugreifen. Viele frühere Kriege sind vom Zaun gebrochen worden, weil der Angreifer die Kraft des Gegners unterschätzt hat - mangels ausreichender Information. Und nur der beginnt einen Krieg, der ihn zu gewinnen hofft. Ich will damit die modernen Nachrichtendienste nicht verteidigen. Es wäre schön, wenn man sie nicht bräuchte!“ „Und was sagst du zur Wirtschaftsspionage?“ wollte Henri wissen. „Die ist doch nun wirklich eine Schweinerei sondergleichen! Da schleichen sich gemietete Agenten in ein Autowerk ein, oder in ein Versandhaus, und berichten der Konkurrenz, wie's dort gemacht wird - also das Know-how.“ „Weniger aus vorbedachter Gemeinheit, sondern um wirtschaftlicher Vorteile willen“, erwiderte Superhirn. „Aber das kann man nicht dulden!“ rief Tati. „Auf keinen Fall“, versicherte Superhirn. „Ich wollte euch ja auch nur die Gründe klarmachen!“ Micha mit seinen zehn Jahren der Benjamin unter ihnen, hatte von all dem immerhin so viel verstanden, daß er etwas unsicher fragte: „Professor Charivari ist doch aber für eine Welt, in der so was nicht mehr zu sein braucht! Oder?“ Superhirn und Henri mußten lachen. „Charivari ist sogar noch für viel mehr“, erklärte Superhirn. „Deswegen möchte ich meinen, daß wir seine Verbindungsmänner nicht zu fürchten haben. Im Gegenteil. Das war's eigentlich, was ich Tati klarmachen wollte. Aber jetzt genug davon.“ „Mensch, da fällt mir was ein!“ rief Henri wie elektrisiert. „In deinem Brief von Charivari, Superhirn, steht doch: Vielleicht findet ihr in Monton etwas, das ihr auch in den Sonnenstrahl in der kleinen Fischerkirche halten könnt!' Vielleicht war der Telefonanruf die Ergänzungsnachricht: Wir
sollen unseren Wasserball in den Sonnenstrahl halten! Na klar! Weshalb hat der Anrufer denn gesagt: ´Achtet darauf, daß er nicht zu früh platzt!´? Wann könnte denn ein prall gefüllter Wasserball platzen, he? Wenn man ihn zu lange der Sonne aussetzt!“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Im Freien, in stechender Mittagssonne platzt ein Wasserball vielleicht - aber doch nicht im Vormittagssonnenstrahl, der durch ein Fenster in die kühle Fischerkirche bricht! Das Fensterglas dort oben ist kein Brennglas. Ich habe es genau geprüft. Nein, Wasserball ist nur ein Tarnwort für etwas, das wir noch zu erwarten haben. Ich wette: Das nächste Ereignis gibt uns den Reim auf Brief und Telefonat. Bis dahin müssen wir uns gedulden.“ Wuff! machte der Pudel. Waff, wuff! Er sprang zum rechten Terrassengeländer. Dort war auch die Wendeltreppe, die außen entlang in den Park hinabführte. Micha flitzte Loulou nach. „Hurra!“ schrie er. „Gérard und Prosper sind da! Ha, und sie haben was mit, das die Lösung ist! Das da - das komische Ding, das müssen wir in die Fischerkirche bringen!“ „Welches?“ riefen Tati und Henri wie aus einem Mund. Zusammen mit Superhirn beugten sie sich über das Seitengeländer. Von unten grinste der stämmige Gérard herauf. Die Stirn seines runden Kopfes glänzte vor Schweiß. Der im Gegensatz zu ihm besonders schlaksig wirkende Prosper schien erschöpft zu sein. Geschafft, Freunde!“ krächzte er. „Ein Glück, daß wir endlich da sind! Jetzt ein Glas Wasser. Die Fahrt war wirklich alles andere als ein Honiglecken.“ Tati kringelte sich vor Lachen. „Das glaube ich. Hättet ihr euch nicht lieber auf einem Mühlrad hierhergerollt? Was ist denn das für ein Ungetüm?“ Sie meinte den fahrbaren Untersatz, mit dem die beiden gekommen waren. „Ein Tandem“, erklärte Superhirn grinsend. „Ein Doppelfahrrad! Zwei Räder, zwei Paar Pedale, zwei Sättel und eine Lenkstange - das alles an nur einem Rahmen! Hintermann auf diesem Ding möchte ich nicht sein!“ „Ich auch nicht“, seufzte Prosper. „Aber es war Gérards Idee, und ihr wißt: Gérard hat einen Dickschädel. Er denkt, er kriegt einen Lorbeerkranz von seinem Radfahrklub, wenn er das alte Ding wieder zu Ehren bringt!“ Henri wandte sich seinem jüngeren Bruder zu. „Sag mal, Micha, dich hat wohl eine Tüte voll Mücken gestochen! Meinst du, dieses Monstrum von Fahrzeug hätte was mit Professor Charivari zu tun?' „Warum nicht?“ antwortete Micha. „Das - das ulkige Doppelrad ist so auffällig! Und Superhirn hat mal gesagt, wen man 'n Geheimnis klären will, muß man auf alles Besondere achten!“ „Richtig“, feixte Superhirn. „Aber dann müßte Charivari den beiden das Vehikel untergejubelt haben - und nicht Gérards Radfahrerklub! Meinst du, wir sollen das Ding mit einem Flaschenzug zur Fischerkirche hochhieven - und den Sonnenstrahl durchs Fenster etwa auf die Klingel fallen lassen?“ „Na, warum nicht?“ verteidigte sich Micha. „Dadurch könnte zum Beispiel ein Tonband im Klingelgehäuse ausgelöst werden, das uns neue Anweisungen gibt.“ Superhirn stutzte einen Augenblick. „Gar nicht so dumm!“, murmelte er. „Ich meine, an der Idee ist etwas dran, aber bestimmt nicht, was das Tandem betrifft.“ Tati, Henri und Loulou waren die Wendeltreppe hinuntergesprungen. Begrüßungsworte und Begrüßungsgebell klangen wild durcheinander. Gérard sagte auf Henris Frage verblüfft: „Mein Vater soll angerufen haben? Quatsch! Der ist in Afrika. Habt ihr was von Professor Charivari gehört?“ fragte er dann. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wuchtete zusammen mit Prosper das Doppelrad gegen einen Baumstamm. Auch für Prosper schien im Nu die Anstrengung der Fahrt vergessen zu sein. „Hat sich der Professor gemeldet?' fragte er. „Steckt er noch immer in seiner geheimen Unterseestadt? Ich kann's kaum erwarten, ihn wiederzusehen!“ „Der Reihe nach!“ beantwortete Superhirn die Fragen der zwei gerade angekommenen Freunde. „Nur so viel: Ich denke, ihr werdet nicht enttäuscht werden. Aber was ich wissen möchte: Habt ihr auf eurer Fahrt irgend etwas Auffälliges bemerkt? Hat euch jemand unterwegs einen Zettel zugesteckt,
eine unverständliche Parole genannt - oder einen Wasserball verkauft?“ Gérard und Prosper sahen sich an. Sie wußten schon: Superhirn pflegte zwar sonderbare, aber niemals unwichtige Fragen zu stellen. Schließlich antwortete Gérard: „Kann mich nicht entsinnen, was Auffälliges bemerkt zu haben. Ist was im Gange?“ „Ja“, erwiderte Henri. „Aber das erzählen wir euch beim Abendbrot. Erst müßt ihr euer Quartier beziehen. Madame Claire hat das hölzerne Gartenhaus für euch vorgesehen!“ Im Gartenhaus war's womöglich noch schöner, als in den Mansardenzimmern, die Tati mit Micha und Loulou mit Henri und Superhirn bewohnten. Eine Lebensbaumhecke überragte die eine Seitenwand des Gartenhauses. Der einst wohlgepflegte Küchengarten glich einem Dschungel; die Bruchsteinmauer dahinter - sie trennte Obstplantage und Weinhang vom übrigen Grundstück - war schief und bemoost. Neben dem Gartenhaus lag ein geborstener Leiterwagen im kniehohen Gras. „Hier darf man nicht Raumfahrer, Ballettänzer oder Geheimnissucher sein“, meinte Tati. „In diesem Winkel lohnt sich nur ein Beruf: Maler!“ „Oder Siebenschläfer!“ ergänzte Gérard grinsend. „Huah.“, gähnte Prosper. „So müde, wie wir sind. Allerdings muß ich zugeben, daß meine Kehrseite schonungsbedürftiger ist als mein Kopf. Zur Rückfahrt benutze ich lieber ein Tretauto als das verflixte Tandem!“ Später - es dunkelte schon - saßen alle auf der überdachten Terrasse, blickten auf die Leuchtfeuer, Blinklichter und Positionslampen in der Bucht von Monton und tauschten Erinnerungen an vergangene Ferienabenteuer aus. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Professor Charivari. Das war kein Wunder. Durch ihn hatten die Gefährten in vergangenen Ferienzeiten tolle Weltraum- und Tiefseeabenteuer erlebt. Im Hochmoor bei dem zwanzig Kilometer entfernten Seebad Marac waren sie dem kahlschädeligen, strippenbärtigen Professor Doktor Brutto Charivari zum ersten Mal begegnet. Und nur sie hatten erfahren, wer der Mann wirklich war: Der Chef einer geheimen unterirdischen Superraumfahrtstation und ein Wissenschaftler, der die Ideen einiger der kühnsten Zukunftsforscher bereits in die Tat umgesetzt hatte. In seinen Versuchsstationen, ob auf dem Meeresgrund, ob auf dem Mond, waren seine Leute längst dabei, der Menschheit völlig neue Lebensräume zu erschließen. Merkwürdige Umstände hatten Henri, Tati, Micha, Superhirn, Gérard und Prosper - und nicht zuletzt den Zwergpudel Loulou - in die geheime, mittlerweile vernichtete Raumfahrtbasis unter dem Hochmoor geführt. Von der Unterwassergarage bei Marac aus waren sie mit dem Raumschiff Monitor gestartet, zur Verfolgung meuternder Wissenschaftler, zum Besuch der atlantischen Tiefseestadt Charivaria, in der sie nicht nur atemberaubende Neuerungen gesehen, sondern auch eine Reihe von grauenhaften Überraschungen erlebt hatten. Doch überstandene Schrecknisse verlieren mit der Zeit ihre Wirkung und dienen dann um so mehr munterem Geplauder. 3. Post aus dem Nichts Doch die Geschwister und ihre Freunde mußten sich gedulden. Erst am übernächsten Tag traf Superhirns Prophezeihung ein. Dieses Eintreffen geschah wortwörtlich: denn die Überraschung kam mit der Post. Morgens waren alle sechs mit Loulou nach Monton hinuntergegangen, um sich die malerischen, plump wirkenden Fischerboote und die um so rassigeren Sportjachten anzusehen. Als sie gegen Mittag die hochgelegene Villa Monton wieder erreichten - dem Pudel hing die Zunge zum Hals heraus -, kam ihnen die freundliche, dicke Wirtschafterin in der Halle entgegen. „Post für euch! Briefe für Tati, Henri und Micha - und ein Päckchen für Marcel!“ Während Tati einen Brief ihrer Mutter - und Henri ein an ihn und Micha adressiertes Kuvert mit den
Schriftzügen des Vaters ausgehändigt bekamen, war Superhirn mit seinem Päckchen bereits verschwunden. Erst beim Mittagessen fiel den anderen Superhirns Abwesenheit auf. Sein Platz war leer. Teller, Glas und Messer waren blank und unbenutzt. „Er hat wohl keinen Hunger“, meinte Micha. „Oder der Pudel hat ihn gefressen“, frotzelte Prosper. „Mensch, Micha - hast du nichts gemerkt? Superhirn ist gar nicht erst mit uns auf die Terrasse gekommen!“ „Klar! Er verschwand gleich mit seiner Post!“ sagte Gérard. „Die dicke Madame gab ihm doch auch einen Brief!“ „Ein Päckchen!“ berichtigte Tati. „Madame Claire reichte ihm ein Päckchen, bevor sie mir und Henri die Briefe der Eltern gab! Das habe ich genau gesehen!“ jetzt sagte Henri: „Klar! Und ob! Kommt, wir suchen ihn! „ Die Gruppe stob durch alle Räume der Villa, die ihnen zugänglich waren. Madame Claire kam verwundert aus der Küche und fragte: „Sucht ihr Marcel? Der ist im Garten!“ Loulou, sonst eben kein Gebrauchshund, betätigte sich als Spürnase. Er führte die Gefährten stracks zum Gartenhäuschen, in Gérards und Prospers Quartier. Dort drinnen, im Halbdunkel unter einem fast blinden Fenster, lag Superhirn rücklings auf Gérards Schlafsack. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte angespannt zu den Dachsparren empor. „Studierst du Fledermäuse?“ fragte Henri atemlos. „Ich überlege“, entgegnete Superhirn, ohne sich zu rühren. „Das fehlende Glied in der Informationskette ist da!“ Nun wurden die anderen sehr aufgeregt. „Wie? - Was denn? - Welches? - Woher weißt du das? - Was für eins!“ scholl es durcheinander. „Eine Kugel!“ erklärte Superhirn. Er richtete sich auf und zog eine würfelförmige Schachtel unter einer Falte des Schlafsacks hervor. „Eine Kugel, kleiner als ein Tischtennisball - nur schwerer. Sie kam in dieser Schachtel per Post, eingewickelt in gewöhnliches Packpapier. Die Marken tragen den Stempel von Lyon.“ „Und der Absender? Lag wenigstens ein Zettel dabei?“ fragte Prosper. „Der Name des Absenders ist völlig verwischt“, sagte Superhirn. „Ich nehme an, absichtlich. In der Schachtel lag nur die Kugel, sonst nichts. Ich überlege die ganze Zeit, wie ich das Ding in einen Zusammenhang mit dem Brief und mit dem Telefonanruf bringen kann.“ „Laß mal sehen!“ rief Micha ungeduldig. Trotz des matten Tageslichts, das in der Hütte herrschte, glänzte die Kugel milchig gelb. Superhirn ließ sie von Hand zu Hand gehen. „Eine Murmel“, meinte Tati. „Eine schön geschliffene, seltsame Murmel.“ „Ich komme mir vor wie der Froschkönig“, murmelte Gérard, das Gebilde in der Hand wiegend. „Ganz schön schwer.“ ,Tatsächlich!“ bestätigte Prosper. „Sehr schwer sogar. Ist das ein Edelstein?“ „Zeig mal.“ Henri griff danach. Er war ein wenig enttäuscht. „So schwer ist dieses komische Dingsbums nun auch wieder nicht. Superhirn, könnte es nicht sein...“, er zögerte, „... daß Charivari uns die Kugel geschickt hat, um uns und anderen vorzutäuschen, er sei wieder in Kanada oder in Amerika auf Gesteinssuche?“ Er schwenkte die Kugel. „Man kann nicht hindurchschauen. Aber man sieht Schleier!“ Superhirn meinte: „Daß Charivari uns irreführen will, glaube ich nicht. Man läßt seine Weltpläne nicht im Stich, um in irgendeinem Indianergebiet nach Steinen zu forschen, die da vermutlich schon längst als Souvenirs an Fremde verkauft werden. Wenn ich eine Kugel zugeschickt bekomme, muß ich von der Kugel ausgehen - und von nichts anderem.“ „Einleuchtend“, murmelte Henri. „Ist denn wirklich keine Gebrauchsanweisung dabei?“ fragte Micha. Alle lachten, nur Superhirn nicht. „Doch! Wenigstens etwas Ähnliches: Vor Witterungseinflüssen
schützen! Hier, es wurde mit einem Gummistempel auf den Deckel der Schachtel gedruckt. Auf anderen Kästchen steht: ,Vorsicht, Glas' - oder sonst was dieser Art. Dem gewöhnlichen Betrachter fällt da nichts auf, Und vielleicht paßt dieser Hinweis besser zu Brief und Telefonat als jede Überlegung, die Kugel auf gut Glück herumtrudeln zu lassen!“ Er hatte das kaum ausgesprochen, als die Kugel Michas Hand entglitt und über den schrägen Fußboden zur Tür hinausrollte. Wuff ... ! Mit einem Satz war der Pudel hinterher. „Loulou!“ schrie Tati. „Komm her! Laß ab! Bring sie Frauchen sofort her!“ Aber den Pudel ärgerte offenbar, daß das runde Ding ein ganz klein wenig zu groß für seine Schnauze war - vor allem zu schwer! So stupste er die Kugel mit der Schnauze wie wild hin und her - und als die Freunde aus dem Gartenhaus hinter dem Pudel hergesaust kamen, war sie weg. „Um Himmels willen!“ ächzte Superhirn. Ihm war etwas eingefallen, Seine Nase war plötzlich kreideweiß. „Was hast du denn?“ fragte Tati erschrocken. Auch die anderen hörten auf, die weggerollte Kugel zu suchen. Sie starrten Superhirn an. Die Augen hinter seinen dicken runden Brillengläsern weiteten sich. „Ich begreife . . .“, murmelte er heiser. „Ich begreife jetzt den Zusammenhang! Im Brief schrieb Charivari, wir würden sicher etwas finden, was wir vor den Sonnenstrahl in der verlassenen Fischerkirche halten könnten! Die Kugel ist dieses Etwas'!“ „Hm! Aber warum hat er uns nicht einfach ein Tonband geschickt?“ fragte Prosper. Superhirn warf einen kurzen Blick auf Prosper: „Eben! Erst denken, dann sprechen! Ich Idiot habe auch gegen diesen Grundsatz verstoßen. Es scheint, als hätte mich Charivari diesmal überschätzt! Selbst Micha war nicht dumm, als er vermutete, in eurer Tandem-Klingel könnte das Rätsel stecken und als er meinte, wir sollten das Vehikel in die alte Kirche schleppen. Professor Charivaris Brief meint die Kugel, die wir in den Sonnenstrahl halten sollen. Jedenfalls, mir ist das jetzt völlig klar!“ „Los, dann suchen wir sie!“ rief Tati ungeduldig. „Halt!“ gebot Superhirn. „Du vergißt den Anruf, der zwischen Brief und Kugelsendung lag. Die Stimme am Telefon sagte, wir sollten den Wasserball nicht zu früh platzen lassen, falls wir einen haben'. Mir war gleich klar, daß der Ball ein Tarnwort für etwas anderes war!“ „Wofür?“ fragte Prosper verständnislos. „Na, Mensch, für die Kugel!“ rief Henri. Er patschte sich vor die Stirn. „Der Beweis ist der Aufdruck auf der Schachtel: Vor Witterungseinflüssen schützen!“ „Heißt das - heißt das...“, fragte Tati mit bebender Stimme, „... wir sollten die Kugel in der Schachtel lassen, bis wir in der Kirche angelangt wären, um sie in den Sonnenstrahl vor das bestimmte Fenster zu halten?“ Dumpf sagte Superhirn: „Ja! Wer Professor Charivari und seine ungewöhnlichen Einfälle kennt - für den ist jeder Irrtum ausgeschlossen!“ „Aber was soll uns denn die Kugel verraten - da oben in der alten Kirche?“ rief Micha. „Ob sie ein getarnter Bild- oder Tonrekorder ist, der nur in dem Gemäuer funktioniert?“ „Das ist jetzt gleichgültig!“ sagte Superhirn hastig. „Erst müssen wir sie finden und schnellstens in die Schachtel zurücktun. Sonst platzt sie uns womöglich unter den Händen, bevor wir den Kirchenfelsen erreicht haben. Los! „ Die Gefährten begannen wie die Wilden zu suchen. Daß der Pudel die Kugel zur Tür hinausgestupst hatte, darüber gab es keinen Zweifel. Aber es konnte kein unübersichtlicheres Gelände geben als den verwilderten Küchengarten rings um die Hütte und den Schuppen. Wohl führte ein schmaler Pfad etwas bergab zu einer Steintreppe in Richtung des Parks und der Villa, aber links und rechts war das kniehohe Gras durchsetzt von Brennesseln, die teilweise sogar mehr als hüfthoch waren. Micha, der auf der Suche der Länge nach in diese Nesseln hineinplumpste, heulte laut auf. „Schadet dir gar nichts!“ rief Prosper. „Warum hast du die Kugel fallen lassen? Und warum hast du auf den dummen Köter nicht aufgepaßt!“
„Hier!“ schrie Micha auf einmal. „Ich habe sie!“ Alle schlurften durch das Unkraut eilig zu ihm hin. Aber es war nur ein rostiger, an einer Stelle noch blanker Dosendeckel. Enttäuscht ließ Micha das Ding fallen. Eine Weile schwiegen die Gefährten mutlos, so daß man nur das Schnüffeln des Hundes hörte. Loulou suchte eifrig - aber es fragte sich wahrhaftig, wonach. Die Kugel hatte sein Hundehirn bestimmt längst vergessen. „Man müßte eine Wünschelrute oder so was Ähnliches haben“, meinte Henri. Wenn man nur wüßte, worauf diese verwünschte Kugel anspricht!“ Alle sahen Superhirn erwartungsvoll an. „Was, meinst du, geschieht mit dem Ding, wenn wir es heute nicht mehr finden?“ fragte das Mädchen bange. „Es zerplatzt“, murmelte der spindeldürre Junge. „Wartet eine Sekunde.“ Er lief in das Gartenhaus und kam mit der Schachtel zurück. Er öffnete den Deckel. „Da!“ „Ich denke, es lag keine Nachricht dabei?“ wunderte sich Gérard. „Es gibt Sachen, die für sich selber sprechen“, brummte Superhirn. „Wenn man einen Dreihunderttausendtonnen-Tanker sieht, kann man sicher sein, daß er nicht von einer Taschenlampenbatterie angetrieben wird.“ Aus dem Kästchen hatte er einen Ballen schwarzes Papier gezogen. Aber war das wirklich Papier? „Eine Schutzfolie“, erklärte Superhirn. „Ehrlich gesagt, ich habe das nicht gleich begriffen. Es gibt ja neuerdings so viele Arten von Verpackungsmaterial. Erst hier draußen, beim Suchen, erinnerte ich mich an die sonderbare Verpackung. In diese Schutzfolie und in dieses zerdrückbare Kästchen hätte ich die Kugel zurücktun müssen - bis zu dem Augenblick, in dem wir das Kirchenfenster erreicht haben würden!“ Er biß sich auf die Lippen und fügte hinzu: „Ich bin ein Esel! Gérard und Prosper haben recht! Ich verdiene die Bezeichnung Superhirn nicht mehr! Diesmal hat mich der gute Professor überschätzt!“ „Was heißt denn das?“ rief Tati ermunternd. „Alle bedeutenden Männer tippen mal daneben! Liest du keine Zeitung?“ „Wir gehen jetzt mal ganz systematisch und gründlich vor!“ entschied Henri. „Wir teilen uns in zwei Gruppen und kämmen das Gelände durch.“ Doch die Freunde suchten bis zum Abend. Ob sie nun, soweit das wegen der Brennesseln ging, über den Boden krochen, ob sie mit den Harken aus dem Schuppen durch das Unkraut streiften, ob sie vom Dach des Gartenhauses oder von der Mauer her versuchten, etwas Blinkendes in dem KüchengartenDschungel zu erspähen - jede, aber auch jede Mühe blieb ohne Ergebnis. „Ob die Kugel vielleicht schon längst lautlos zerplatzt ist?' fragte Gerard. „Das glaube ich nicht“, meinte Superhirn. „Es wäre zumindest unwahrscheinlich, daß uns Professor Charivari nicht eine gewisse Sicherheitszeit gelassen hätte. Aber ob diese Sicherheitszeit noch die ganze Nacht und vielleicht noch einen Vormittag einschließt - dafür möchte ich meinen Kopf auf keinen Fall verwetten!“ Prosper rieb sich das Kinn. Er überlegte. „Wer sagt, daß die Kugel lautlos platzt?“ überlegte er. „Charivari mag auch dafür vorgesorgt haben. Aber es könnte was Unvorhergesehenes auf die Kugel einwirken, das sie wie eine Bombe explodieren läßt l“ Superhirn brummte: „Ich laß mich pensionieren, Prosper! Dein Gedanke verrät mehr Superhirn als alles, was ich vorhin zusammengesponnen habe! Wir müssen also auch in der Nacht weitersuchen!“ 4. „Achtung! Hier Raumstation Monitor“!“' Vom Meer wehte eine tüchtige Brise. Schwarze Wolken flogen rasch über Park und Villa Monton, von Zeit zu Zeit kam der Mond hervor und warf gespenstische Schatten. „Ich kann mir nicht helfen“, wisperte Gérard. „Hier ist's mir unheimlicher als in einem von Charivaris Raumschiffen!' „Ja! Und die Unterseestadt war ein Kurort gegen diesen Park in der Nacht“, murmelte Prosper.
Die Gefährten stapften mit Taschenlampen um das Gartenhaus herum. Kurz vor dem Abendessen war ein Gärtnerehepaar gekommen und hatte mit Madame Claire Arbeitszeiten für die nächsten Tage ausgemacht. Die Leute waren zum Glück bald wieder gegangen, doch am Vormittag wollten sie zurückkommen. Bis dahin mußte die Kugel gefunden sein.. . Als Superhirn, Henri, Tati und Micha die Wirtschafterin im Bett glaubten, schlichen sie hinunter. Die beiden Freunde warteten schon. Der Zwergpudel beteiligte sich an der Suche nach einem Gegenstand, den er längst vergessen hatte. Doch Tati wollte das Tierchen nicht allein in der Mansarde lassen. „Ich hatte gehofft, die Kugel würde im Dunkeln leuchten, etwa wie ein Glühwürmchen“, meinte Henri. „Oder wie eine Puppe Mama schreien“, spottete Tati „Wartet mal...“ Superhirn leuchtete vom Gartenhaus aus über den schmalen, abschüssigen Pfad, der auf die Treppenstufen zuführte. „Sicher ist sie dort hinuntergerollt!“ Er ging den ziemlich festgetretenen Weg entlang und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Felsboden unterhalb der letzten Stufe. „Hier, eine Vertiefung, eine Regenabflußrinne Er wendete sich nach links, dem Rand des Steilhangs zu. „Dahin führt die Rinne!“ stellte er fest, indem er die Lampe schwenkte. „Wenn's regnet, fließt das Wasser über den Hang in die Bucht.“ Die anderen waren ihm gefolgt. „Denkst du, die Kugel ist über den Pfad und die Treppe gehopst - und von der Rinne aufgefangen worden?“ fragte Micha. „Und in ihr weitergerollt?“ fügte Prosper hinzu. „Dann wäre sie über die Kante des Steilhangs gesaust und die Felsen entlanggekurvt - bis hinunter nach Monton“, überlegte Gérard. „Na, wenn ihr das mal gut bekommen ist!“ „Ich frage mich, wie es dem Ort bekommen könnte“, sagte Prosper. Er sprach wie von einer Zeitzünderbombe. Am Hang zur Bucht, wo die Rinne endete, war ein Schutzgeländer angebracht. Vorsichtig beugten sich alle darüber. „Also eine Glühwirkung scheint die Kugel nicht zu haben - vorausgesetzt, sie hätte sich etwa im Felsgestrüpp verfangen“, bemerkte Henri. „Ich sehe nichts!“ Superhirn hatte das erstaunlich knautschsichere Kästchen mit, um die Kugel, falls man sie fände, sofort wieder in die schwarze Isolierfolie zu wickeln und in den Behälter zurückzutun. „Halt mal einen Augenblick“, bat er Gérard. „Und gib mir deine Lampe!' Gérards Stabscheinwerfer war das stärkste und schärfste Licht, das sie hatten. Während Gérard das Kästchen nahm, leuchtete Superhirn den Hang hinunter. Auch er hegte die leise Hoffnung, die Kugel könne irgendwo aufblitzen. Neben ihm beugten sich die anderen über das Geländer. Da ertönte eine Stimme: „Wer ist da?“ Wuff! Waff! bellte Loulou. Und ein anderes Geräusch! Gérard war das Kästchen die Böschung hinuntergefallen. „ Still!“ rief Micha mit gedämpfter Stimme. Doch schon rief die Stimme wieder. „Kinder! Was macht ihr denn da?“ In der Villa Monton war ein Licht angegangen. Man sah Madame Claires Schatten am Fenster ihres Zimmers. Wie auf Kommando knipsten die Gefährten ihre Taschenlampen aus. Superhirn rief sofort: „Es ist gut, Madame Claire!“ Er versuchte die Wirtschafterin zu beruhigen. „Alles in Ordnung! Wollte meinen Freunden nur mal die Nachtstimmung über der Bucht zeigen! Wir passen schon auf!“ Madame Claire schloß beruhigt das Fenster. Sie vertraute dem Neffen ihres Chefs, so wie alle, die Superhirns Intelligenz und Wissen, sein ausgeprägtes Gefühl für Verantwortung und seine Kameradschaftlichkeit kannten. Von den Eltern der Gefährten bis zu einem Wissenschaftler vom Range Professor Doktor Brutto Charivaris, ganz zu schweigen von den Geschwistern und den Freunden selber- jeder verließ sich getrost auf Superhirn.
„Kommt ins Gartenhaus!“ sagte Superhirn. „Wir haben getan, was wir konnten. Ist die Kugel wirklich über den Hang gerollt, und hat sie sich im Felsgestrüpp verfangen, so wäre es unsinnig und lebensgefährlich, sich nachts abzuseilen, um sie zu suchen.“ Sie kauerten sich alle auf Gérards und Prospers Schlafsäcke. Micha hielt Loulou im Arm. „Wenn wir die Kugel wirklich in den Sonnenstrahl in der Fischerkirche halten sollten“, begann Henri, „und der Professor, wo immer er sein mag, merkt, daß wir es nicht tun, wird er uns sicher eine zweite schicken. Vielleicht weiß er bereits durch irgendeinen seiner Vertrauensleute, was uns mit dem vermaledeiten Ding passiert ist!“ Düster klang Prospers Stimme aus dem Dunkel: „Ich erinnere noch einmal daran: Die Kugel gehörte in die Schutzfolie und in das besondere Kästchen! Irgendwas, möglicherweise Luftelektrizität, Bodenstrahlen, Erdgasausströmung, Quetschung usw. könnten das Ding auf ungeahnte Weise hochgehen lassen!“ Er sprach jetzt nicht mehr wie von einem Sprengkörper von der Größe einer Handgranate, sondern wie von einer Megatonnenbombe. „Du meinst, Marac und Monton, die ganze Küste, ach, was sag ich, halb Frankreich finden sich morgen früh als Wolke im Himmel wieder?“ scherzte Gérard, Doch es klang ziemlich gepreßt. „Quatsch!“ rief Tati. „Regt Loulou mit diesem Unsinn nicht auf. Ich meine Micha“, verbesserte sie sich verwirrt. „Professor Charivari wird der Post eine Kugel anvertrauen, die außerhalb der Verpackung zur Riesenbombe werden könnte! Ha! Daß ich nicht lache! Heutzutage muß jeder damit rechnen, daß Post geöffnet wird, auch in einer Demokratie. Schließlich gibt es überall Feinde. Nicht wahr, Superhirn?“ Doch Superhirn schwieg. Er war zu tief in seine Überlegungen versunken. Dann schliefen alle ein. Als Superhirn aufwachte, erfüllte fahler Dämmerschein das Innere des Gartenhauses. Die Gefährten kauerten mit geschlossenen Augen auf den Schlafsäcken, zurückgelehnt, Rücken und Köpfe gegen die Wandbretter gestützt, als säßen sie in einer unbequemen Reisekutsche. Als Superhirn aufstand, regte sich Tati. Sie blinzelte - und war sofort hoch. „Weck Henri und Micha“, flüsterte Superhirn. „Wir gehen hinauf, waschen uns und ziehen uns um. Noch vor dem Frühstück suchen wir weiter nach der Kugel.“ Als die vier mit dem Pudel zurückkamen, waren auch Gérard und Prosper munter. Die beiden hatten sich in der Waschküche der Villa Monton erfrischt. Gérard rubbelte sich gerade die Haare trocken. „Was nun?“ fragte er. Prosper machte ein Gesicht, als wolle er nicht glauben, daß er noch mit dem Füßen auf dem Erdboden stand. „Na, wenn bis jetzt nichts passiert ist, können wir die Kugel ruhig sausen lassen“, meinte er. Doch Superhirn stapfte unbeirrt durch das hohe Kraut. „He“, rief Tati plötzlich. „Wo ist der Hund?“ „Wo soll er sein, so klein, wie er ist?“ foppte Gérard. „Er hat sich in einem Blumenkelch verkrochen!“ „Es ist, als hätte er sich aufgelöst!“ rief Micha. „Eben hat er noch an meinem Fuß geschnüffelt, und schwupp - war er weg!“ „Und er ist nicht ins Gras gehopst!“ behauptete Tati. „Was machst du denn da?“ Ihre Frage galt Micha, der plötzlich auf allen vieren am Gartenhaus entlangkroch. „Hier ist ein Loch, ein kleiner Eingang!“ meldete Micha. „Ich höre Loulou husten!“ Wie ein Blitz kam Superhirn angesaust. Das Unkraut klatschte nur so um seine Knie. „Wo ist ein Loch?“ rief er. „Hier, neben der Gartenhaustür!“ meldete Tati. „So 'n kleiner hufeisenförmiger Extraeingang. Zwerge bitte Nebeneingang benutzen! - so sieht das aus!“ Superhirn blickte auf eine dünne, verrostete Kette, die aus dem etwa flaschenhohen, kaum mehr als zweihandbreiten, bogenförmig ausgesägten „Nebeneingang“ rechts von der großen Tür herausragte. „Eine eingebaute Hundehütte“, stellte er fest. „Drinnen im Gartenhaus wirkt sie wie ein Tischkasten; das Ding, auf dem Gérards Fotoapparat, seine Schmöker und seine Kaugummis liegen.“ „Na und?“ fragte Prosper. „An dieser Kette hat sicher mal so ein kleiner, kläffender Spitz gelegen,
einer von der Sorte, wie man sie hier zu Dutzenden sieht!“ „Ja!“ meinte Henri. „Als der Küchengarten noch in Schuß war! Bei Regen und in der Nacht ist das Biest in die eingebaute Hundehütte gekrochen. Was ist daran so sonderbar?“ Die Antwort, wenn auch auf seine Weise, gab Loulou. Sein Kopf erschien in der Öffnung - nein, zuerst sah man etwas anderes, etwas, das der Pudel vor sich herstupste: Es war eine Kugel! Ihrer Größe nach hätte man nicht folgern können, es sei die verlorengegangene. Jene nämlich war kleiner als ein Tischtennisball gewesen - und diese hier war so groß wie eine mittlere Weihnachtsbaumkugel. Aber das merkwürdige matte Schillern ließ selbst Micha nicht daran zweifeln: Das mußte die Kugel sein, die sie so lange gesucht hatten und die sich außerhalb der Isolierfolie und des Spezialkästchens verändert, das hieß hier zunächst einmal: vergrößert hatte. Superhirn hob sie rasch auf. „Das ist sie!“ sagte er voller Bestimmtheit. „Seltsam! Sie spiegelt einerseits - ich sehe mein Gesicht gewölbt, aber wie in einem Zerrspiegel -, andererseits scheint sie in ihrem Inneren Bilder einzufangen. Bilder vom Himmel! Ich sehe ein Flugzeug! Ja, eine Passagiermaschine der Air France!“ „Zeig mal!“ forderte Micha ungeduldig. Alle streckten ihre Hände aus, um nach der Kugel zu greifen. Doch Superhirn hielt sie mit rascher Bewegung hoch. „Schnell, ins Haus!“ rief er ungewöhnlich aufgeregt. Und er stürzte fast in die Gartenhütte. Die anderen folgten ihm. Superhirn drehte sich mit der Kugel wie auf einer heißen Herdplatte. So hatten ihn die Freunde noch niemals gesehen. „Wir müssen was tun!' schrie er. „Die Kugel dehnt sich weiter aus! In der Sonne, in meiner Hand, ist sie fühlbar größer geworden! Mensch, Gérard, daß du das Kästchen verlieren mußtest!' „Was würde das jetzt nützen?' verteidigte sich der stämmige Junge. „Die Kugel paßte ja nicht mehr hinein!“ „Aber die Schutzfolie hätte noch ausgereicht!“ rief Superhirn. Er nahm Prospers Windjacke vom Haken, wickelte die Kugel sorgfältig darin ein und legte sie unter den Schlafsack. „So, da ist es wenigstens dunkel. Wäre das Ding nicht in der Hundehütte gewesen und wäre die Nacht nicht gekommen, so hätten wir jetzt vermutlich einen unheimlichen Fußball am Bein!“ „Oder einen Wasserball!“ erinnerte Henri ernst. „Denk an den Anruf: Stichwort Wasserball! Vielleicht war das ein Hinweis darauf?“ „Daß die Kugel so groß wie ein Wasserball wird!“ ergänzte Tati. „Und dann erst zerplatzt!“ ließ Micha sich atemlos hören. „Was machen wir nun?“ fragte Prosper. „Zieh dir feste Schuhe an“, sagte Superhirn. „Gérard, du auch! Wir klettern sofort zur Fischerkirche hoch!“ „Noch vor dem Frühstück?“ fragte Gérard. „Du kannst ja bei Madame Claire bleiben und essen, bis du platzt!“ schimpfte Henri. „Hauptsache, die Kugel platzt nicht, bevor wir oben sind!“ Superhirn nahm die Windjacke behutsam auf, in die der geheimnisvolle Gegenstand eingewickelt war. Tati hatte sich draußen noch einmal umgesehen. „Mir ist alles klar“, berichtete sie. „Loulou hat die Kugel gestern rausgestupst; sie ist unter der offenen Eingangstür durchgerutscht, in die kleine Sandmulde daneben gerollt - und von da aus in die eingebaute Hundehütte. Die Haupttür hat keine Sperre mehr. Als wir rausliefen und suchten, haben wir sie bis an die Hauswand gestoßen, wodurch das Loch verdeckt war.“ „Sicher, so war's!“ stimmte Henri zu. Haha! Micha hat die Kugel fallen lassen, Loulou hat sie in das komische Versteck gestupst. Dafür haben sie beide als erste wieder den richtigen Riecher gehabt!' „Der Winter hat's genommen, der Frühling hat's gebracht!“ sagte Superhirn in spöttischer Ungeduld. „Darüber können wir uns später unterhalten! Seid ihr fertig? Dann los!“ Um neun Uhr morgens erreichten die Freunde die einsame Fischerkirche hoch über der Bucht und
hoch Über dem gräflichen Anwesen und der Bergstraße von Monton. Der Pfad hinauf war so verwittert und verwildert, daß sich das kleine Gebäude nicht einmal mehr als Ausflugsziel lohnte. Die einzigartige Schönheit des Platzes, die unverwechselbare Merkwürdigkeit des Baus und die kaum zu Übertreffende Aussicht über die Küstenfelsen, die Bucht mit ihren malerischen Ufern, Dörfern, Fischer- und Sporthäfen, vor allem aber über die glitzernde See, auf der weit entfernt die riesigen Tanker zogen – das alles lockte wegen seiner Unbequemlichkeit niemand mehr an diesen Platz. In früheren Zeiten, als es noch keinen Seewetterdienst, kein System von automatischen Blinkfeuern, Leuchtschildern und anderen Hinweislichtern gab, keinen Funk und keine Motoren, waren die Fischerfrauen an sturmverdunkelten Tagen zu dieser Kirche emporgestiegen, um für ihre Männer, Brüder, Söhne und Väter zu beten. Hier auf dem höchsten Platz über den Klippen, standen sie und hielten Ausschau nach den Booten ihrer Männer. Und oft hatten sie ganze Nächte lang hier oben ausgeharrt. Das alles hat sich längst geändert. Wenn die Frauen heute für ihre Angehörigen beteten, so taten sie es in der bequem erreichbaren Hafenkirche Saint Pierre de Monton. Dennoch war das alte Gebäude oberhalb der Steilküste zwar verlassen, aber nicht verfallen. Das Dach war dicht, die Tür saß gut in den Angeln. Kein Fenster zeigte einen Sprung. Im Inneren stand nichts als eine roh gehobelte Holzbank, und der Fußboden war sauber. Die Freunde hatten für all das keinen Blick. Sie hatten es eilig, denn die Kugel hatte sich beim Aufstieg - trotz der schützenden Windjacke - noch weiter vergrößert. Als Superhirn den Stoff von ihr nahm, glich sie einem goldrot schimmernden Luftballon. „Mensch, die reißt dir den Kopf ab, wenn sie platzt“, japste Prosper erschrocken. „Rückt die Bank nach vorn, schnell“, sagte Superhirn, zu den Fenstern hochblickend. „Die Sonne fällt noch ziemlich flach ein. Aber ich muß es jetzt schon versuchen...“ Als er mit dem „Ballon“ auf die herbeigeschobene Bank gestiegen war, fügte er hinzu: „Am besten, ihr geht alle hinaus!“ „Kommt nicht in Frage!“ rief Henri. „Weil Prosper Angst um seine Eselsohren hat, sollen wir uns verkriechen? Beim Aufstieg habe ich die ganze Zeit nachgedacht: Es ist ausgeschlossen, daß Professor Charivari uns mit diesem Ding in Gefahr bringt! Es ist überhaupt nicht seine Art, jemanden ohne Not zu gefährden!“ „Denke ich auch!“ murmelte Superhirn. Jäh wurde seine ganze Aufmerksamkeit von einer Erscheinung in Anspruch genommen. „Ich sehe etwas!“ hallte seine Stimme durch den kahlen Kirchraum. „Wieder deine eigene Fratze?“ fragte Gérard. Superhirn ging auf den Spott des Freundes nicht ein. „Der Spiegeleffekt schwindet. In der Kugel ist was los! Ich sehe das Gesicht des Professors!“ Henri und Tati kletterten zu Superhirn auf die Bank. „Der Professor?“ schrie Prosper. „In dem Ballon?“ Er reckte den Hals und vollführte wahre Bocksprünge, um etwas zu sehen. „Es ist, als hätte ich einen runden Fernsehapparat in den Händen!“ meldete Superhirn. „Vielleicht ist es einer!“ meinte Gérard. „Nein!“ rief Superhirn. „Ich weiß jetzt, was diese Kugel ist: ein Hologramm. Das Ding hat ein winziges gitterähnliches Punktmuster. Die kleinen Punkte werden bei der Herstellung mit Laserstrahlen aufgezeichnet. Wenn man das richtige Licht hindurchfallen läßt, entsteht das Aufgezeichnete als ein körperliches Bild wieder! Deswegen mußten wir auch diesen bestimmten Sonnenstrahl suchen, weil er das richtige Licht hat!“ „Ein Bildfunk-Empfangsgerät?“ staunte Micha. „Das Hologramm ist eine eingefrorene Bildnachricht“, murmelte Superhirn. „Aber dieses eingefroren' darfst du nicht wörtlich nehmen, Micha. Ich meine damit, es ist ein starres Bild. Hologramme sind eigentlich die Wiedergabe von bestimmten Lichtwellenmustern. Bei der Herstellung teilt man das Licht eines Lasers (genauer: eines einfarbigen Lichtverstärkers) in zwei Strahlen. Der erste fällt auf eine Person, einen Gegenstand oder eine Schrift - und wird von diesen
angestrahlten Objekten auf eine Fotoplatte zurückgeworfen. Der zweite fällt direkt auf die Fotoplatte. Dabei entsteht das Lichtwellenmuster, das Hologramm! Wird das dann später vom Licht der gleichen Farbe wie bei der Aufnahme durchstrahlt, so werden die Lichtstrahlen so gebeugt, daß sie die festgehaltenen Objekte wieder sichtbar werden lassen.“ „Man sieht hinter der Kugelhaut, was längst vorher auf genommen wurde?“ vergewisserte sich Gérard. Superhirn nickte kurz. Er hielt den Kugelball hoch, so das die Sonneneinstrahlung nicht durch seinen Kopf verdeckt wurde. Tati und Henri, die neben ihm auf der Bank standen, sahen das Bild jetzt so gut wie er. Im Vordergrund der Innenseite wie unter eine gekrümmten Farbfolie schien sich ein greulicher Anblick auszubreiten. Es war, als hätte die Kugel ein menschliches Ungeheuer eingefangen. Und wäre Professor Charivari den Beobachtern nicht als ihr bester Freund bekannt gewesen - sie wären von der Bank gesprungen und schreiend ins Freie gelaufen. im Flimmern des Sonnenlichts entwickelte sich immer deutlicher das Gesicht. Erst flackerte es. Es schien, als strebten Nase, Kinn und Stirn in verschiedene Richtungen. Die Mundpartie zog sich ganz widerwärtig in die Breite, während die Ohren die Schläfen und Wangen einzudrücken drohten. Als Superhirn das Bild richtig ins Licht gedreht hatte, machte er kaum einen menschlicheren Eindruck: Der spitze Schädel war völlig kahl. Die Augenbrauen wirkten wie zwei starke, dunkle Striche, unter denen die Augen fast verschwanden. Das Auffallendste aber waren der dünnsträhnige, lange Kinnbart und die bartlosen, eingefallenen Wangen unter hohen Backenknochen. „Warum hören wir nichts? Warum spricht der Professor nicht?“ rief Micha. „Hast du nicht begriffen?“ sagte Henri unwillig. „Das ist kein gewöhnliches Fernsehgerät! Die Kugel zeigt uns ein Bild. Wenn Superhirn sie etwas dreht, sehe ich auch eine Tafel mit starrer Schrift. Aber keinen Film! Und Ton liefert das Hologramm nicht!“ .Dreh doch mal die Schrifttafel!“ rief Prosper, der hinter der Bank auf Zehenspitzen stand und seinen langen Hals reckte. „Superhirn, was erkennst du?“ „Hier Professor Doktor Brutto Charivari“, las Superhirn laut ab, „ich hoffe, Superhirn hat alles folgerichtig kombiniert. Hier habt ihr meine Nachricht!“ „Was für eine Nachricht?“ fragte Gérard, vor Spannung schnaufend. Superhirn las die folgenden Sätze vor: „Ich befinde mich auf meiner neuen Raumstation im Weltall.“ „Raumstation!“ jubelte Micha. „Mal was anderes! Was ganz, ganz Großes! Nicht mehr Bodenstation, Unterwasserstadt oder Stützpunkt auf dem Mond!“ Superhirn verfolgte die Schrift im Innern der ballonähnlichen Kugel mit Argusaugen. „Die Orbitalstation heißt Monitor - nach dem ersten Raumschiff, in dem ihr manches Abenteuer bestanden habt. Sie kreist ständig um die Erde, nicht nur ein paar Monate wie die gewöhnlichen Besatzungen in ihren Weltraumlabors. Sie ist mit den üblichen Mitteln der Astro-Technik nicht zu orten - und außerdem unangreifbar. Kein Unbefugter weiß von ihrer Existenz, weil die Radarwellen aufgesogen und nicht zurückgeworfen werden. Unsere Station ist auch kein Versuchsobjekt mehr. Hier wird geforscht und produziert. Hier wird nicht mehr nur beobachtet, sondern Einwirkung auf die Erde genommen.“ „Das verstehe ich nicht!“ maulte Micha. „Wart´s ab!“ zischte Tati. Superhirn, auf die Schrift blickend, murmelte etwas von „Himmelserkundung, Ausbeutung der Sonnenenergie, Vermessung der Wüsten, Beseitigung von Umweltverschmutzung, Friedenslenkung, Kriegsverhinderung“ und anderem, das für Micha langweilig war. Aber das nächste ließ ihn aufhorchen: „Geht noch heute nachmittag nach Monton. Bereitet Euch auf eine Reise vor. Steigt in den letzten Waggon auf dem alten Verladebahnhof für Austern...“ „Weiter!“ forderte Gérard mit vor Spannung bebender stimme. Austern-Verladebahnhof? Ja und? Und?“ „Und!“ rief Superhirn wütend. „Wie soll ich das je erfahren? Siehst du nicht, daß meine Hände leer
sind?“ Ja! Er hielt die Arme wohl noch ausgestreckt - aber er hielt keine Kugel mehr. Auf seinen leicht gekrümmten Handflächen lag nur noch etwas Staub. „Wo - wo ist die Ku-kugel - dieser Ba-ba-ballon?“ stammelte Prosper. Die anderen blickten sich entgeistert an. „Geplatzt“, schimpfte Superhirn. Er stieg von der Bank. „Lautlos geplatzt. Wie eine Seifenblase! Hat sich in Staub aufgelöst, ohne daß ich das geringste gespürt habe! Charivari hat nicht damit gerechnet, daß die Kugel so lange ungeschützt den Witterungseinflüssen ausgesetzt sein könnte. Vielleicht bestand sie aus einem der modernen Kunststoffe, die im Licht zerfallen. Nun, kein Fremder dürfte ja auch nur ein Stück des Hologramms finden! Denn jedes Stück hätte das ganze Bild gezeigt - wenn auch mit eingeengtem Einblickwinkel.“ „Jetzt stehen wir hier, wie bestellt und nicht abgeholt“, ärgerte sich Gérard. „Auf was für 'ne Reise sollen wir uns vorbereiten? Und wohin sollen wir steigen? In einen Eisenbahnwagen auf dem Austern-Verladebahnhof? Wir sind doch keine Nahrungsmittel!“ Für Superhirn antwortete Henri, der mit Tati ebenfalls von der Bank gesprungen war: „Ich schätze, die Reise, auf die wir uns gefaßt machen Sollen, läuft auf eine Einladung hinaus!“ „Einladung?“ wiederholte Gérard. „Wohin?“ „Na, in die Weltraumstation!“ begriff Micha. Begeistert schrie er: „Klar! Wohin sonst? In Charivaris neue Raumstation Monitor!“ 5. Ab Austernbahnhof ins All? So schnell sie konnten, liefen, kletterten und rutschten die sechs mit dem Hund den verwilderten Zickzackpfad zur Villa Monton hinunter. „Wenn das wirklich eine Einladung zur Raumstation war“, keuchte Henri, der sich dicht hinter Superhirn hielt, „wie kommen wir dann dahin? Doch nicht mit einem Güterwagen der Austernfischerei!“ Superhirn lachte und antwortete nur: „Bestimmt nicht!“ „Ob das wieder eine getarnte Nachricht war, wie die in dein Telefonanruf?“ ließ Henri nicht locker. „Wir werden sehen“, gab Superhirn zurück. Vielleicht kriegen wir noch einen Hinweis, einen, der uns völlige Klarheit gibt!“ Henri rief den anderen Superhirns Vermutung zu ohne zu ahnen, daß das mehr eine Hoffnung des gescheiten Freundes war. Superhirn rechnete im Grunde mit keiner Botschaft mehr. Er war davon überzeugt, daß er von jetzt an ganz auf seinen Verstand angewiesen war ... Auf der Straße am Fuße des Fischerbergs stand vor dem Eingang zum Park der Wagen des Supermarktes im Ort. Es war ein großer Lieferwagen. Zu bestimmten Zeiten in der Woche erschien er vor einsamen Anwesen, um vom Scheuerlappen bis zum Frischfisch alles überhaupt nur Denkbare für Haushalt und Küche anzubieten. Die Seitenwand des Wagens war heruntergeklappt und hatte sich in eine Art Ladentisch verwandelt. Davor sah man Madame Claire, die soeben Verschiedenes in zwei große Einkaufstaschen stopfte. „Ssst!“ Prosper blieb stehen. Auch die anderen verharrten. „Was ist denn?“ fragte Henri. „In dem Supermarktauto, könnte eine Vertrauensperson des Professors sitzen! Ich meine, er hat längst heraus, daß uns die Kugel geplatzt ist!“ „Und du willst dir in dem rollenden Laden eine neue ,Holo-Kugel' kaufen?“ feixte Gérard. „Bitte dann vergiß aber nicht, das Ding in eine Schutzfolie wickeln und in ein Patentkästchen stecken zu lassen!“ „Ich werde sogar sagen, daß du der Idiot warst, der beides verloren hat!“ murrte Prosper. „Macht euch nicht lächerlich!“ mahnte Tati. Doch auch Micha gab keine Ruhe.
„Wir können ja mal hingehen, ein paar Bonbons verlangen“, schlug er vor. „Wenn der Verkäufer uns nichts anderes gibt, na, dann haben wir uns eben geirrt.“ Superhirn schüttelte den Kopf. Aber er ließ dem Jüngeren seinen Willen. ,Ach, da seid ihr ja!“ rief Madame Claire erleichtert. „Ich habe mich schon gewundert! So spät zu Bett - und dann noch vor dem Frühstück auf die Wanderschaft!“ Sie lachte. „Nennt ihr das Ferien?“ „Na, aber gerade!“ betonte Superhirn, als sei das das Selbstverständlichste der Welt. „Die Nacht war herrlich, und den Sonnenaufgang hätten Sie sehen sollen, Madame! So was hat man in der Stadt nicht!“ „Sehr richtig“, murmelte Gérard. mit einem Gesicht, als habe er seinem Magen den Befehl gegeben, nicht zu knurren. „Dafür wird euch das Essen jetzt um so besser schmecken“, meinte Madame Claire, wobei sie lächelte. „Ich habe vorsorglich einen Imbiß bereitgestellt!“ „Prima!“ rief Prosper. Doch er schielte erst einmal zu den weißbekittelten Leuten, einem Mann und einer Frau, die im Inneren des Wagens hinter dem heruntergeklappten Ladentisch standen. Micha verlangte Bonbons - und er bekam sie zu seiner Enttäuschung auch. Da fiel der Blick der Verkäuferin auf Prosper, „Und du?“ fragte sie. „Siehst nicht aus, als hättest du Appetit auf Bonbons! Ein Glas Gurken gefällig?“ Prosper kramte wie wild in seiner Tasche. „J-j-ja - ein G-g-glas Gurken!“ stammelte er erwartungsvoll. Er legte ein paar Münzen auf die Platte - und bekam einen gewölbten, mit einem Metalldeckel versehenen Glasbehälter voller kleiner Gürkchen. „Hier, du kriegst noch Geld heraus!“ rief die Verkäuferin. Tati nahm es, denn Prosper strebte mit seinem Schatz bereits durchs Gartentor. „Meint er wirklich, das sei auch so eine Sichtkugel?“ flüsterte Henri. „Der narrt sich doch selber!“ „Er hat sich in die Idee versteift!“ bestätigte Superhirn mit unterdrücktem Lachen. Doch Micha schwor darauf: „Die Frau war eine Vertrauensperson! Sie hat so vertraulich geguckt! Und das Gurkenglas ist gewölbt!“ „Pssst!“ mahnte Gérard. Er trug Madame Claires Einkaufstasche und schwenkte mit ihr in Richtung des Hauses ab. Die anderen liefen zur Gartenhütte. Prosper hockte auf dem verrotteten Leiterwagen und hielt das Glas in die Sonne. Ich seh was!“ rief er. „Professor Doktor Gurkiwurki mit seinen Gurkinauten, Gurkingenieure, Gurko-Laboranten, Gurkographen, alle in der Weltgurkenstation Gurkitor, wie?“ spottete Superhirn. „Nein, da schillert was! Zwischen den Gurken schillert was!“ beharrte Prosper. „Ja, er hat recht!“ schrie Micha, kaum daß er Prosper erreicht hatte. „Zeig mal!“ sagte nun auch Henri interessiert. Superhirn blieb stirnrunzelnd stehen. „Es ist nicht wissenschaftlich, ein Phänomen nach dem anderen zu erwarten, und zwar blindlings sozusagen über den Daumen der Phantasie! Das haben die alten Goldsucher in Amerika so gemacht, und sie sind dabei verhungert! Einbildung ist ein schlechter Detektiv!“ „Aber der Professor bringt alles fertig!“ verteidigte Micha Prosper und sein Gurkenglas. „Sicher nicht alles!“ ergriff Tati Superhirns Partei. „Was ich da sehe, sind ganz gewöhnliche Gurken!“ „Und gestern hast du eine ganz gewöhnliche Murmel in der Hand gehabt!“ rief Prosper wütend. „Stimmt“, beschwichtigte Superhirn. „Nur muß man die Zeichen richtig deuten. Die Kugel war an mich adressiert, und ihr waren zwei Hinweise vorausgegangen. Wenn das Supermarkt-Auto von Wichtigkeit gewesen wäre, hätte es der Professor in seiner Nachrichtenschrift noch vor der Aufforderung erwähnt, uns auf eine nachmittägliche Abreise vorzubereiten. Schon vom zeitlichen Ablauf her! Außerdem hat die Frau dir das Gurkenglas mehr aus Spaß angeboten, weil du - im Gegensatz zu Micha - keine Bonbons kaufen wolltest und sie trotzdem so scharf angepeilt hast!
Ebenso hätte sie sagen können: Willst du ein halbes Kilo Erdbeeren haben?“ Da ertönte Gérards Stimme: „He, Kinder! Kommt zum großen Frühstück! Madame Claire hat Kakao aufgewärmt!“ „Gib her, Prosper“, sagte Tati lachend. „Die Schiller-Gurken werden wir uns jetzt schmecken lassen!“ Und sie marschierten alle zur Terrasse. Als sie zum Imbiß auch die Gurken verzehrten, lenkte Prosper ein: „Hm! Ich sehe, Superhirn hat wieder mal recht. Mir ist nicht so, als würde ich Geheimsender oder in Essig gelegte Roboter verschlucken. Und was da im Glas rumschwimmt, ist nichts als die übliche Gurkenbrühe. Es ist mir jetzt auch klar, weshalb uns der Professor zum Austern-Verladebahnhof schickt! In dem abgestellten Waggon wird die nächste Nachricht sein!“ „Klar, was die Reise betrifft!“ stimmte Henri zu. „Wahrscheinlich werden wir erfahren, wo das Boot anlegt, das uns mitnehmen, aufs Meer hinausfahren und zu einem wartenden Raumschiff bringen soll!“ „Aha!“ brummte Gérard, heftig mit Weißbrot und Käse beschäftigt. Micha stellte seine Kakaotasse hin und wischte sich den Kakaorand am Mund ab. „Aber wenn wir einfach abschwirren - was sagen wir Madame Claire? Die Wahrheit darf sie doch nicht wissen!“ Listig fügte er hinzu: „Und es heißt doch immer: Kinder dürfen nicht lügen!“ Tati biß sich auf die Lippen. Ja, Michas Frage war ein Volltreffer, peinlich für die Großen. Alle blickten wieder auf Superhirn. Der dünne Junge, der so leicht um keine Antwort verlegen war, rückte heftig an seiner Brille. Da half ihm Tati aus der Klemme. „Man ist nicht verpflichtet, alles zu sagen, was man weiß“, erklärte sie. „Es gibt auch Dinge, die man aus guten Gründen verschweigt.“ Superhirn warf Tati einen dankbaren Blick zu. „Du sagst es! Also ist es völlig selbstverständlich, daß wir unser Ziel keinem Menschen auf die Nase binden. Für Madame Claire machen wir eine Busfahrt auf die Ponyfarm bei Fleur au Tranc; sie gehört dem Vater meines Freundes Richard. Ich rufe Richard nachher an.“ „Und ich wasche unser schmutziges Zeug und hänge es im Trockenkeller an die Leine“, sagte Tati. „Wir lassen unser Hauptgepäck hier, zum Zeichen, daß wir wiederkommen. Das Tandem können wir sowieso nicht mitnehmen.“ „Mehr als vier, fünf Tage wird uns Charivari sowieso nicht auf der Raumstation behalten“, vermutete Henri. „Dazu ist er viel zu vorsichtig.“ Bereits um fünfzehn Uhr waren die Gefährten mit dem Pudel unten im Ort. Sie trugen Jeans und Pullis oder Trainingsanzüge und nur das nötigste Gepäck. Das, was sie unbedingt brauchten, hatten sie in Rucksäcke und Badebeutel gestopft. Für einen Start zu Charivaris Weltraumstation war bestimmt alles Notwendige vorhanden. „Gut, daß wir unsere Ansichtskarten für zu Hause schon geschrieben haben“, sagte Tati, als sie dem alten Verladebahnhof zuwanderten. „Und ich glaube, Madame Claire ist ganz froh, uns eine Weile los zu sein.“ „Bin neugierig, was für eine Nachricht wir in dem abgestellten Eisenbahnwagen finden werden“, murmelte Gérard. „Vielleicht Tauchflossen, Kappen, Schutzbrillen - möglicherweise auch Atemgeräte. Charivari könnte eine Unterwasser-Abschußrampe in der Bucht haben!“ „Zu der wir schwimmen sollten?“ fragte Prosper. Superhirn schüttelte den Kopf. „Ihr wißt, Charivaris neue Raumschiffe brauchen keine Rampen. Es sind Mehrzweckschiffe, die sowohl als Tiefsee-, Überwasser-, Luft- und Weltraumfahrzeuge funktionieren. Start und Landung gehen ohne den altmodischen Aufwand vonstatten. Ich denke mir das so: Wir sollen uns im abgestellten Eisenbahnwagen verstecken. Bei Anbruch der Dunkelheit kommt ein Astronaut des Professors, der uns abholt. Er wird uns in einem Schlauchboot dorthin bringen, wo in der Finsternis ein Monitor-Raumschiff wie ein normales Seeschiff vor Anker liegt. Natürlich unbeleuchtet „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Raumschiff und einer Raumstation - außer daß
die Raumstation größer ist?“ fragte Micha. „Das hast du heute morgen schon gehört“, erinnerte Henri. „Du kennst die ersten Weltraumlabors doch aus den Fernsehübertragungen!“ „Halt!“ unterbrach Superhirn. So wird Charivaris Orbitalstation bestimmt nicht aussehen: torpedooder libellenförmig mit den starren, mühlenähnlichen Flügeln, den Sonnenpaddeln und dem komischen Sonnenschirm! Die Skaylab-Station dient hauptsächlich immer noch dazu, die Wirkung des Alls auf die Insassen zu erproben. Wie uns die Schrift in der Kugel mitteilte, ist Charivari längst darüber hinaus. Wenn ich ihn recht verstanden habe, ist er bereits dabei, aus dem Weltraum Nutzen zu ziehen. Seine Station ist eine kreisende Himmelsstadt - und danach wird sie auch aussehen. Aber das werden wir ja bald wissen.“ Prosper blieb stehen und starrte nach vorn. Staunend fragte er: „Was ist denn da los? Mir scheint, da ist die Welt mit Brettern vernagelt!“ Zuletzt waren die Freunde neben den Schienen hergegangen, und sie hatten auch ein altes Schild gesehen: „Zum Austernbahnhof“. Aber nun waren sie um eine Kurve gebogen - und sahen vor sich eine Bretterwand. „Es ist was mit Farbe draufgeschmiert“, entdeckte Henri. „Ob das schon die Nachricht für uns ist?“ „Unsinn!“ rief Tati. „Der Professor wird geheime Botschaften an Bretterwände kleckern lassen! Da steht ganz einfach Gesperrt' drauf. Da, schaut!“ „Außer Betrieb!“, las Gérard. „Na klar! Austern werden in Kühlautos abtransportiert!“ „Ja! Das sind die riesigen, silberfarbenen Lastwagen, die man so oft auf den Landstraßen sieht“, sagte Prosper. „Das hätten wir uns denken können! Wir hätten wissen müssen, daß hier nichts mehr los ist!“ „Das habe ich längst gewußt“, gab Superhirn lachend zu, „Meinst du, Charivari würde uns sonst gerade hierherbestellt haben? Übrigens ist hier die Welt nicht mit Brettern vernagelt. Man kann um das Hindernis herumgehen!“ „Oooh“ machte Micha staunend. „Da sind ja noch mehr Brennesseln als im Küchengarten bei der Villa Monton! Ich finde, das sieht eher nach einem Unkraut-Verladebahnhof aus!“ Tati nahm den Pudel auf den Arm. Sie stiegen eine wacklige Holztreppe hoch und wanderten über die verwitterte Bahnsteigrampe. „Mindestens seit zwei Jahren nicht benutzt“, bemerkte Gérard. „Woran siehst du das, an der Bahnhofsuhr?“ fragte Henri. „Die Güterwagen sehen aus, als hätte schon Noah die Tiere darin zu seiner Arche gebracht“, witzelte Tati. „Und Methusalem hat zur Abfahrt gepfiffen!“ feixte Prosper. „Kaum zu glauben! In diesen eckigen kleinen Rostkästen soll man Austern nach Paris transportiert haben? Höchstens ihre Bärte!“ „Bärte?“ fragte Micha verständnislos. „Die Auster ist eine Muschel-Art, ein schalengeschütztes Weichtier“, warf Superhirn ein, „aber sie wächst mit sogenannten Byssusfäden auf dem Meeresboden fest, und zwar seltsamerweise meist mit ihrer linken Seite. Diese Fäden nennt man auch Bärte. Natürlich werden sie nicht gegessen, denn von Austern verzehrt man ja nur das Innere aus den Schalen.“ Er spähte umher. „Seht mal - die alte Lok da drüben auf dem Abstellgleis!“ rief Prosper. „Die hat ihren letzten Schnaufer längst getan!“ brummte Gérard. Ich kann mir nicht helfen: Das alles paßt nicht gerade zu einem Weltraumabenteuer!“ „Es paßt mehr zu Prospers Gurken!“ sagte Henri. „Die Gurken sind euch ins Gehirn gestiegen!“ rief Prosper. Ain mal neugierig, wie viele ich davon noch zu hören kriege!“ Entschlossen sprang er von der Rampe und stapfte unter Umgehung der größten Brennesselkolonie auf einen kuriosen alten Personenwaggon zu. „Sind die Austern auch zweiter oder erster Klasse gefahren?“ spottete Gérard. „Nee, aber an die Güterzüge waren immer auch Eisenbahnwagen für Personenverkehr angehängt“, gab Prosper humorlos zurück. „Das kannst du dir zusammenreimen! Stünden sonst hier solche
Waggons herum?“ „Hm“, meinte Tati. „Ich denke nicht, daß Charivari uns in so einer stinkigen, alten Austernkiste auf Rädern rumkriechen lassen wollte! Er wird einen Personenwagen gemeint haben!“ „Den letzten!“ erinnerte Superhirn. „Den hintersten am Ende der Gleise!“ Zwischen den Schienen, Weichen und den auf verschiedenen Abzweigungen geschobenen Waggons wuchs nicht nur Unkraut; viele reichlich verwilderte Büsche machten das alte Bahngelände sehr unübersichtlich „Hier ist die Schiene zu Ende!“ meldete Micha aufgeregt. „Und hier steht ein Personenwagen.“ Von der bröckligen Bahnsteigkante aus erkletterte er die Plattform und verschwand im Inneren. „Siehst du da was?“ rief Prosper begierig. „Nichts!“ meldete er nach draußen. „Da sind sogar die Bänke rausgenommen. Habe nichts gesehen als Wände, Fenster und Türen!“ Waff! Wuff! Auch der Zwergpudel schien enttäuscht zu sein. Gérard prüfte die alte Lok. Henri lief ungeachtet der Brennesseln zwischen den Güter- und Personenwagen herum. „Der Heizkessel läßt sich öffnen!“ verkündete Gérard. „Aber da steckt Professor Charivari nicht drin. Und der Dampfreglerhebel sitzt fest wie eine Maus in der Falle. Nee, hier ist nichts zu holen...“ „Hier auch nicht!“ hörte man Henris ärgerliche Stimme. „Dieser Personenwagen ist abgeschlossen, und die Fenster sind blind!“ Superhirn war auf eine vergessene Bauleiter gestiegen, die am Bahnhofshäuschen lehnte. Nun konnte er das ganze Rangier- und Depotgelände jenseits der Hauptschienen überblicken. „Ganz dort hinten“, rief er, „auf dem seitlichen Nebengleis, vor dem Prellbock, steht noch ein Waggon! Tati nahm Loulou wieder auf den Arm. Alle stapften über rostige Schienenschwellen, durch das hohe Unkraut und um die verwilderten Büsche herum auf die angegebene Stelle zu. „Hier braucht man wahrhaftig einen Kompaß!“ meinte Henri. Schließlich erreichten sie den von Superhirn entdeckten Personenwagen. Henri, Gérard, Prosper und Micha stürzten darauf zu. „Die Türen sind abgeschlossen!“ rief Gérard. „Verflixt! jetzt macht mir die Sache aber bald keinen Spaß mehr!“ „Die Klinken lassen sich nicht mal bewegen!“ schnaufte Micha. „Hm! Aber der Wagen ist anders konstruiert als die übrigen!“ bemerkte Superhirn. „Er hat keine Plattformen mehr. Die Abteile sind von der Seite her zu erreichen. Die Fenster der Türen, an denen ihr gerüttelt habt, sind blind. Mir scheint, nicht vor Alter!“ Er stieg auf die Waggonstufe vor der mittleren Tür - und öffnete sie. „Das ging ja wie geschmiert!“ meinte Tati staunend, die hinter ihm stand. „Und hat sich da nicht was bewegt?“ Gleich trat Micha zwei Schritte zurück. „Bewegt?“ fragte er argwöhnisch. „Ein Mann?“ „Ein Gespenst!“ witzelte Gérard und grinste dabei. „Quatsch! Mach Micha keine Angst!“ herrschte Tati ihn an. „Euch wäre auch nicht wohl, wenn ihr Gespenstern begegnen würdet, wette ich! Nein, da hat sich was Blinkendes zur Seite geschoben!“ „Eine Schleusenwand!“ vermutete Superhirn. Furchtlos kletterte er in den Wagen hinein. Von innen tönte seine Stimme vergnügt, fast begeistert: „Kinder, das ist er! Das ist Charivaris Waggon! Schnell! Kommt nach!“ Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen. Sie drängten sich in das Innere des Eisenbahnwagens. Aber war das überhaupt einer? „Die Wände schimmern so komisch!“ sagte Henri. „Ich sehe keine Fenster, keine Türklinken, nichts, was nach Bahn aussieht!“ „Wir sind in einer Flugzeugkabine!“ stammelte Prosper verblüfft, „Aber wo - wo ist die Pilotenkanzel?“
Plötzlich erklang von irgendwoher, ja eigentlich von überallher der schaurig dröhnende Befehl: „Hinsetzen!“ Wuff! Wuff! Erschrocken bellend, sprang der Pudel von Tatis Arm. „Halt ihn fest, Micha!“ befahl Tati. Sie warf sich in einen der bequemen, modernen Sessel. „Micha, du kommst mit Loulou neben mich!“ Doch da die Lehnen wie riesige halbe Eierschalen gebaut waren, konnte sie nicht sehen, ob der jüngste ihrer Aufforderung folgte. „Alles an Bord?“ ertönte die schaurige Stimme. Sie kam offensichtlich durch mehrere eingebaute Lautsprecher. „Alles an Bord!“ rief Prosper. Er hatte Tatis an Micha gerichtete Worte gehört und nahm an, daß jeder in einem der sechs Sessel sag. Neben ihm hatte Gérard Platz genommen. Vor den beiden machten es sich Henri und Superhirn bequem. Tati befand sich in der letzten Zweisitz-Reihe. Und Micha und Loulou - so nahmen alle an - ebenfalls. Das Licht wirkte auch ungünstig auf die Augen, nachdem sie eben noch durch hellen Sonnenschein gewandert waren. Alle Wände des röhrenförmigen Gebildes, in dem sie sich jetzt befanden, schimmerten schwach. Es war, als befände man sich in einer riesenhaften, besonders eigenartigen Mattglühlampe, die auf „Notausgangbeleuchtung“ herabgeschaltet war. Aber das Licht war nicht rot oder gelb, sondern silbrig. „Willkommen an Bord des Zubringers zur Monitor-Raumstation“, ertönte die Stimme durch die unsichtbaren Lautsprecher. „Ihr werdet ferngesteuert. Ihr braucht auf nichts zu achten. Seht euch nicht nach Instrumenten, Apparaten oder Geräten um. Es ist zwecklos. Ihr werdet außer den Sesseln nichts, aber auch gar nichts im Inneren der Raumkapsel bemerken. Alle Aggregate befinden sich in den Wänden. Es gibt auch keine Sichtmöglichkeit nach außen. Wundert euch nicht. Der Flug wird kurz sein. Ihr startet schon. . . „ Da ertönte Tatis gellender Schrei: „Micha! Micha ist nicht mit!“ 6. Entsetzen Das war wirklich ein schlechter Start! „Auch der Hund fehlt!“ rief Prosper. „He, Superhirn! Halt die Rakete an! Sag, was los ist! Man muß uns hören! In den Wänden sind verborgene Mikrofone!“ Daran konnte kein Zweifel sein: Prospers Antwort auf die Sprechfunkfrage „Alles an Bord?“ war von der Fernsteuerungsstelle verstanden worden. Doch gerade Prosper hatte voreilig die Bestätigung gegeben. „Zu spät!“ brüllte Gérard. „Hast du nicht begriffen? Wir starten! Wir sind gestartet!“ Doch Tati kümmerte das alles nicht. Sie war so aufgeregt, daß sie gegen jede Einsicht verlangte: „Superhirn! Bring das Schiff zum Stehen! Lenk es zurück auf den Bahnhof! Ich kann Micha nicht allein lassen! Superhirn! Tu doch was!“ In dem unheimlichen, aus den Wänden dringenden Lichtschimmer lief Henri durch die Kabine. „Die Schiebetür ist zu! Hermetisch verschlossen! Es ist weder eine Klinke noch ein Drücker, Drehknopf oder sonst irgendein Öffnungshebel dran! Himmel! Loulou muß noch mal rausgesaust sein und Micha hinterher, um ihn zu fassen - im gleichen Augenblick hat die Stimme des Unsichtbaren angefragt, und Prosper, der Trottel, hat prompt gekräht: Alles an Bord!' Darauf hat sich die Tür automatisch geschlossen, und der ferngesteuerte Start ist erfolgt! Micha und Loulou hocken jetzt vermutlich völlig verdutzt in den Brennesseln auf dem Austernbahnhof und sehen uns in den Wolken verschwinden!“ „Und die Stimme, die da angefragt hat, war eine Maschinenstimme“, behauptete Gérard. „Sicher ist sie nur auf bestimmte Anfragen und Antworten programmiert!“ .Nein!“ rief Tati. „Das war keine scheppernde Automatenstimme, wie wir sie aus Charivaris Großraumschiffen kennen! Das war eine menschliche Stimme! Dieselbe, die ich neulich am Telefon
gehört habe! Die sogenannte Vertrauensperson des Professors hat uns in Monton beschattet, und sie leitet wahrscheinlich auch von irgendwoher unseren Aufstieg!“ „Das bezweifle ich!“ widersprach Superhirn entschieden. „Charivaris Gewährsleute werden aus Sicherheitsgründen keinerlei Zusammenhänge kennen. Der Mann, der uns aus Lyon die Kugel geschickt hat, kannte deren Bedeutung nicht, und er wußte ganz sicher nicht, was ich damit anfangen sollte. Der Telefonanrufer hatte sicher auch keine Ahnung vom Sinn seiner Durchsage. Und wenn wir wirklich von einem Vertrauensmann im Küstengebiet ferngesteuert werden, so hatte der lediglich den Teilauftrag, diese Zubringer-Rakete starten zu lassen, nachdem wir sie betreten hatten.“ Prosper rieb sich heftig die Nase. Er überlegte eine Sekunde und fragte: Aber wieso denn diese Umstände?“ „Ich sagte: aus Sicherheitsgründen!“ rief Superhirn. „Ich wette, unter Charivaris Gewährsleuten auf der Erde kennt einer den anderen nicht! Wäre ein einziger voll eingeweiht, so könnte er möglicherweise unbefugten Personen auch alles gleich vollständig verraten! Ich denke, unser Starthelfer sitzt in einer provisorischen Lenk- und Kontrollstation auf einer Felsinsel in der Bucht. Er hat keinen Sichtfunk ins Innere dieses Zubringers, er überwacht und steuert über Impulsempfänger und Impulsgeber alle Geräte, die sich in den Wänden unserer Röhrenkapsel befinden!“ Tati tastete verzweifelt die festverschlossene Schiebetür ab. „Ich kann's nicht glauben, daß wir gestartet sind!“ begann sie aufs neue zu jammern. „Mir ist, als ob ich träume! Der verlassene Austern-Verladebahnhof - das Unkraut - die rostigen Schienen und die alten Waggons . Wir sind doch in einen abgestellten altmodischen Eisenbahnwaggon gestiegen.“ Sie wiederholte schreiend: „In einen abgestellten altmodischen Eisenbahnwaggon!“ Henri tastete ebenfalls an den Wänden umher. Er war genauso in Sorge um Micha und natürlich auch um den kleinen Hund, doch er bemühte sich, besonnen zu bleiben. „Wenn der Mann, der uns fernsteuert, auch keinen Blick zu uns hereinwerfen kann, so muß er wenigstens das Bahngelände vielleicht über einen geheimen TV-Außensender - geprüft haben. Er hat auch die Waggontür ferngeöffnet, und zwar für uns. Andere, die sich zufällig hier herumgetrieben hätten, wären niemals in dieses getarnte Zubringerschiff reingelassen worden!“ „Stimmt!“ Superhirn war plötzlich auffällig schweigsam. „Nun sag doch endlich was!“ rief ihm Tati zu. „Ich glaubte bisher, du weißt immer alles! Diesen Sommer scheinst du unter der Hitze gelitten zu haben! Ich halt´s für ausgeschlossen, daß wir mit den ollen Wagenwänden um uns herum, mit den rostigen Rädern, mit den komischen Puffern und dem albernen gewölbten Waggondach einen Weltraumstart gemacht haben sollen! Wie stellst du dir das eigentlich vor, Superhirn?“ Noch ehe er antworten konnte, fuhr sie außer sich fort: „Wir sind in eine ganz blöde Falle gelaufen! Jemand, der weiß, daß wir mit Charivari befreundet sind, hat uns zum Narren gehalten! Er hat uns angerufen und uns die Kugel zugeschickt! Und wir, wir sind ihm auf den Leim gehopst! Dies hier ist nichts als ein frisierter Wagen, wahrscheinlich mit einem Einbau vom Rummelplatz in Monton! Bestimmt sitzen wir eingesperrt noch immer zwischen den Brennesseln! Und Loulou hat den Braten gerochen und ist vorher rausgesaust! Hunde sind manchmal schlauer als Menschen! Micha sah, wie der Hund sich benahm, und sprang schnell hinterher. Bevor er uns zurufen konnte ´Ich traue dem Frieden nicht!´, hat der unbekannte Witzbold den Laden dichtgemacht.“ Superhirn hatte sich inzwischen eilig, aber gründlich umgesehen. Er hatte die Wände nicht nur mit den Händen geprüft, sondern vor allem mit den Augen - und mit dem Köpfchen! Jetzt sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: „Wenn wir uns über unsere Lage klar werden wollen, dürfen wir nicht wild drauflos vermuten! Dies ist kein - wie Tati es nennt - frisierter alter Eisenbahnwagen. Jedenfalls nicht mit Mitteln vom Rummelplatz in Monton! Und hier hinein hat uns nie und nimmer ein Witzbold gewiesen! Es sei denn, dieser Witzbold hätte sich seinen Scherz eine unglaubliche Menge Geld kosten lassen!“ Tati preßte ihr Ohr an die Schiebetür. „Wenn uns jemand hier reingelockt hat, wird er wohl einen Knüppel in der Hand gehabt haben, um Micha wegzujagen!“ Auch Prosper suchte in der unheimlichen Kabine nach einem Beweis für „Raumfahrt“ oder „Betrug“.
Aber er wußte in seiner Verwirrung nicht, wo er anfangen sollte. Er stieß während seiner ziellosen Suche mit Gérard so heftig zusammen, daß beide hinfielen. Superhirn hatte wieder unentwegt auf die schimmernde Innenhülle geblickt. Er wandte sich um und herrschte seine Freunde an: „Benehmt euch nicht wie gerade eingefangene Affen, die der Tierfänger in eine Kiste gestopft hat!“ mahnte er scharf. „Setzt euch jetzt mal auf eure Plätze, so schwer´s euch fallen mag, und hört mir genau zu: Ich habe schon gesagt, daß Tatis Witzbold-Vermutungen falsch sind. In der Holo-Kugel sah ich einwandfrei den Professor. Die Schrift war klar und nicht zu mißdeuten. Sie wies uns in dieses kleine Zubringer-Raumschiff, das zur Tarnung in den alten Waggon eingebaut worden war. Ihr wißt, was für technische Möglichkeiten Charivari hat. Meint ihr, ich hätte mich so einfach verladen lassen, wie Tati in ihrer Aufregung glaubt?“ „Aber woher willst du wissen, daß wir gestartet sind?“ verteidigte sich das Mädchen. „Ich habe keinen Ruck verspürt, ich habe keine Treibstoffdüse donnern hören! Dein angeblicher WeltraumZubringer hat nicht mal leise vibriert!“ „Auch nicht, als ihr aufgeregt herumgetobt seid!“ betonte, Superhirn. „Das müßte dich nachdenklich machen! Wäre das ein innen verkleideter gewöhnlicher Eisenbahnwagen, so würde sein Boden allein unter Gérards Elefantengetrampel erbebt sein!“ „Freunde, ja - das stimmt!“ staunte Prosper. „Was Superhirn alles merkt! Darauf wäre ich in der Eile nicht gekommen!“ „Aber, aber wie war das dann mit dem Start?“ fragte Gérard, nachdem er seinen vor Verwunderung aufgerissenen Mund endlich wieder zugeklappt hatte. „Mit der Waggonhülle - oder ohne sie? Meinst du, das Zubringerschiff hat sie abgesprengt? Davon müßten wir doch etwas bemerkt haben! Da hat Tati recht, meine ich. Ich komme mir auch nicht so vor, als schwirrte ich dem Weltall entgegen.“ Superhirn sah auf seine Armbanduhr. „Aber du kannst dich darauf verlassen, wette ich! Es ist eine Viertelstunde vergangen. Das ist die Zeit, die gewöhnliche, herkömmliche Raumkapseln brauchen, um die Erdumlaufbahn zu erreichen. Dieser Zubringer wird schneller gewesen sein. Wo auch immer die große Weltraumstation Charivaris ist - wir werden bald da sein!“ „Mit dem Eisenbahnwagen um uns herum!“ rief Tati zornig. „Wie bei uns die Glühlampe Wärme erzeugt, die nichts nützt und die man in zusätzliches Licht umwandeln will, weil sie den meisten Strom verbraucht“, sagte Superhirn, „so bemüht sich Professor Charivari seit Jahren darum, Lärm in nutzbare Energie, in Lärmenergie, umzusetzen. In seiner Versuchsstadt auf dem Meeresboden gelang ihm das bereits. Was wir gemacht haben - oder was mit uns gemacht wurde - war ein Leisestart mit dem neuesten Monitor-Treibstoff, der uns ja auch nicht unbekannt ist! Die Waggonhülle ist natürlich lautlos zu einem Nichts zusammengefallen - und wir sind mit dem Zubringer davongeschwebt.“ „Und Micha sitzt auf dem Bahnhof und reibt sich die Augen!“ rief Tati schrill. „Und - und - Loulou, der hustet sich vor Angst die Kehle aus seinem Schnäuzchen!“ „Achte lieber darauf, daß du dir nicht vor Angst die Kehle aus dem Schnäuzchen hustest“, sagte Henri. Aber er sagte es freundlich und gefaßt. „Micha ist kein Dummkopf, auch wenn er von uns allen der jüngste ist. Er wird sich erinnern, was er mit Professor Charivaris Erfindungen schon alles erlebt hat!“ „Er wird warten!“ meinte Tati verzagt. Er wird sich die Augen aus dem Kopf gucken und den Hals verrenken! Und bei jedem Schatten am Himmel, sei's ein Flugzeug oder eine Möwe, wird er denken: Jetzt kommen sie zurück! Superhirn hat den Zubringer kehrtmachen lassen.“ „Und wenn's dunkel wird? Oder wenn ein Gewitter kommt?' unkte Gérard. Er sah auf einmal nicht nur schwarz, sondern sogar bedrohliche Wolken und knatternde Blitze. „Dann läuft er mit bibbernden Knien zu Madame Claire! Na, was wird die sagen! Sie wird ihn doch aushorchen, wie es kam, daß er den Bus versäumt hat! Und sie ruft am Ende bei Superhirns Freund an! Ho, nein, das gefällt mir nicht. So dumm ist Madame Claire nicht, daß sie Michas Aufregung nicht merkt! Ich glaube auch kaum daß der Kleine immerfort schwindeln kann! Ich sehe schon eine Polizeifahndung nach uns anlaufen!“ Wieder wurde Tati sehr unruhig. „Gibt's denn keine Möglichkeit, umzukehren?“ fragte sie Superhirn. Superhirn schüttelte den Kopf. „Hier ist nichts zu machen“, erklärte er. „Dieses Zubringerschiff
verzichtet auf jede, aber auch jede Selbstbedienung. Ich denke mir, daß der Professor zum Beispiel neu verpflichtete Gelehrte oder Techniker in solchen Zubringern zu seiner Weltraumstation holt. Er läßt die Zubringer fernsteuern, damit die Fahrgäste nicht unerwünschte Kurse fliegen - oder womöglich ganz und gar abhauen. Aber seid beruhigt: die Fahrt wird gleich zu Ende sein!“ „Fahrt...“, seufzte Prosper. „Ich merke nur davon nichts. Ich spüre weder eine Aufwärtsbewegung noch eine Winkeldrehung der Kapselspitze himmelwärts!“ „Wir sehen ja auch nichts draußen“, erklärte Superhirn. „Sicher hat der Professor Aufstiegsbahn und Antrieb so abgestimmt, daß die Fliehkraft mit dem Antriebsdruck zusammen eine Kraft ergibt, die unsere Körper genau nach unten drückt. Wir meinen, das ist noch die Schwerkraft - aber es ist etwas anderes!“ „Ich will nicht wissen, was da alles einwirkt“, unterbrach Tati gereizt und besorgt. „Ich will wissen, warum sich die Stimme von vorhin nicht mehr meldet! In der Weltraumstation müßte man doch unsere Unterhaltung abhören können! Man müßte uns längst zurückgelenkt haben, um Micha nachzuholen.“ Superhirn hatte sich schon die ganze Zeit darüber Gedanken gemacht. Doch er hatte geschwiegen, um Tati nicht noch mehr zu verängstigen. Ihm war klar: Mikrofone brauchte er nicht zu suchen. Die gesamte Innenhülle nahm Stimme und Geräusche auf. Genau wie die Anweisung vorhin von überallher gekommen war. Und er hatte anfangs, während der allgemeinen Aufregung, an mehreren Stellen mit der Nase an der Wand geklebt und scharf und deutlich - wenn auch gedämpft - gefordert: „Fernsteuerung, bitte melden! Wir gaben Abfahrtbereitschaft zu früh! Ein Passagier fehlt! Achtung, Achtung! Hier Zubringer aus Waggontarnung Verladebahnhof Monton! Bitte melden: Fernsteuerung, melden!“ Er hatte sogar immer an den Wänden entlang angerufen, den Professor selbst, die Weltraumstation aber ohne Erfolg. Als Superhirn jetzt schwieg, ahnte Tati sofort die schreckliche Wahrheit: Hier war auch der Klügste ihrer Gruppe ratlos! „Wenn...“, sie schluckte, „wenn nun alles so ist, wie du meinst: Könnte Micha nicht in letzter Sekunde hinausgelockt worden sein? Vielleicht haben wieder einmal Mitarbeiter des Professors gemeutert! Es ist denen ja bekannt, daß wir in einigen Dingen besser Bescheid wissen, als sie selber - wegen all der Zufälle damals! Nun haben sie erfahren, wir sind in Monton - vielleicht ist das Vertrauensnetz auf der Erde doch nicht so dicht gewesen, wie wir dachten -, und nun wollen sie Micha aushorchen! Den Fernsteuerer auf seiner Felseninsel in der Bucht haben sie womöglich schon geschnappt - und nun lassen sie uns fünf in diesem Zubringer-Gefängnis zum Mars sausen!“ Alle schwiegen. Es war, als verbreite sich Eiseskälte in dem Raumflugkörper. „Pi-pi-piratenfalle!“ stotterte Prosper erschrocken. „D-d-das wird es sein!“ 7. Wo die Zukunft schon Wirklichkeit ist Superhirn teilte die Besorgnisse der anderen nicht, soweit sie Meuterer oder Piraten betrafen. Aber ihn beunruhigte der Zwang zur Untätigkeit in diesem Zubringer. Außerdem sorgte er sich um Micha auf der Erde. Er wußte ja nicht, was der Junge der Wirtschafterin erzählen würde. Vor allem war die herrschende Funkstille - wenn nicht gar unheimlich, so doch zumindest ärgerlich, Tati schwieg, Henri schwieg, Prosper und Gérard hegten weiterhin im Flüsterton die wildesten Vermutungen. Plötzlich ertönte eine fröhlich Jungenstimme: „Na? Worauf wartet ihr noch? Wollt ihr nicht aussteigen?“ Der Frage schloß sich lebhaftes, freudiges Gebell an: Wuff, wuff, waff, waff! „Micha! Loulou!“ Tati sprang auf. Prosper hopste auf den Sessel und starrte über die gewölbte Lehne. Gérard kam nur langsam hoch. Doch es schien, als wolle er gleich wieder in die Knie gehen. Henri stürzte fast über Superhirns Füße. „Ist das denn möglich?“ stammelte er. Die Kabinenschiebetür des Zubringer-Raumschiffs war offen! Und im Rahmen stand - Micha! Er grinste von einem Ohr zum anderen.
Der Zwergpudel hatte sich an ihm vorbeigezwängt und war auf Tati zugeschossen. Sie nahm ihn rasch auf den Arm und liebkoste ihn. Die Erleichterung verschlug ihr die Sprache. Schließlich rief sie: „Wie hast du die Tür aufgekriegt, Micha?“ Und auf einmal kam ihr ein Verdacht: „Ach! Du hast sie vorhin zugeschoben! Es hat dir Spaß gemacht, uns hier drinnen zappeln zu lassen, wie? Und inzwischen bist du über den ollen Bahnhof gestromert und auf der Lok herumgeklettert? Na, warte!“ .Micha hat uns in diesem komischen Ding hier eingesperrt?“ japste Prosper. „Du, das ist 'n starkes Stück! Mensch, was meinst du, weiche Angst deine Schwester hatte. Wir dachten außerdem, wir flögen schon im All herum.“ „Du kleiner Teufelsbraten!“ brummte Gérard ärgerlich. „Aber nun. Nichts wie raus! Zurück zu Madame Claire! „Was? Zurück wollt ihr?“ erklang eine zweite Stimme - tief und freundlich, ja, man konnte fast sagen: melodisch und sanft. Hinter Micha erschien eine lange, hagere Gestalt in einem weißen, sonderbar abgesteppten Trainingsanzug. Der Mann war kahlschädelig; von seinem Kinn hing ein langer, dünner, lackschwarzer Strippenbart herab. „Professor Charivari!“ begrüßte Superhirn freudestrahlend den Mann. „Das habe ich mir doch beinahe gedacht!“ „Wie - wie kommen Sie denn auf den Austernbahnhof ?“ fragte Prosper verwundert. Tati setzte verblüfft den Pudel ab. Gérards Augen weiteten sich zur wahren Suppentellergröße. Henri kicherte in sich hinein. Genau wie Superhirn hatte er das Wichtigste längst begriffen. „Du bist nicht mehr im Eisenbahnwaggon auf dem Austernbahnhof von Monton“, sagte Charivari zu Prosper. „Ich hätte auch keine Zeit dazu, dort aus den Brennesseln zu wachsen, ähnlich wie der Geist aus der Flasche.“ Lächelnd begrüßte er Tati: „Du bist noch größer und hübscher geworden, seit ich dich das letzte Mal sah! Gérard scheint mir stämmiger - und Prosper länger. Henri ist auch gewachsen! Na, und Superhirn? Was macht die Weisheit?“ „Sie hätte beinahe etwas gelitten in der letzten halben Stunde!“ antwortete der spindeldürre Junge grinsend. Er drückte an seiner großen Brille und ergriff die Hand des Professors. „Willkommen, Freunde!“ rief Professor Doktor Brutto Charivari. „Herzlich willkommen! Wie freue ich mich, euch hier begrüßen zu können!“ „Entschuldigung“, sagte Tati verwirrt. „Wenn Superhirns Geist nicht gelitten hat, dann aber meiner um so mehr! Wo sind wir willkommen? Und was heißt: ´...hier begrüßen zu können´? Was, bitte, bedeutet ´hier´?“ Betont deutlich - fast triumphierend - erwiderte der Professor: „Hier - das ist meine große Weltraumstation! Willkommen also in der Weltraumstation Monitor!“ „Wir sind . ..“ Prosper konnte es nicht fassen. „Wir sind in einer Weltraumstation? Wirklich im Weltall? Ja, aber...“ Gérard nahm ihm das Wort aus dem Mund: „Aber wie kommen Micha und Loulou hierher? Die waren uns doch unten auf der Erde von der Schippe gehopst? Wir sind ohne sie gestartet!“ „Ich dachte - sie säßen noch in Monton zwischen den Brennesseln! Oder...“ Hilflos blickte Tati zwischen Charivari und Superhirn hin und her. „Bestimmt, Irrtum ausgeschlossen!“ versicherte Prosper. „Micha und Loulou sind in Monton geblieben!“ Darüber mußte nun auch Tati lachen. Loulou strich ja um ihre Füße herum, und Micha, der „Vergessene“, stand vor ihr! „Na ja!“ rief Micha. „Ich bin aus dem Zubringer gesprungen, weil der Hund rausgehopst war und ich ihn einfangen wollte. Ihr seid ohne mich gestartet. Das stimmt. Und ich habe einen gehörigen Schreck gekriegt. Plötzlich aber stieg einer von Professor Charivaris Weltraum-Männern aus einem anderen getarnten Waggon. Der hat mich und Loulou mitgenommen!“
„Der Fernsteuerer?“ fragte Superhirn rasch. Es versteht sich, daß gerade er die genauen Einzelheiten wissen wollte. .Ja!“ bestätigte Professor Charivari: „Der Spezial-Orbital-Navigator Körner. Er sollte euch mit seiner Einmann-Steuerungskapsel zur Weltraumstation bugsieren. Mit dieser Steuerungskapsel kann man übrigens ein ganzes Geschwader von Zubringern lenken. Nur ist die Kapsel nicht für Passagiere eingerichtet, nicht mal für einen Zehnjährigen und einen Zwergpudel. In dem engen Raum hat der Pudel herumgestrampelt und dabei den Notschalter ´Alarm - Funkstille!´ gestreift. Das ist ein Berührungsschalter, der sonst nur angetippt wird, wenn Abhörgefahr von fremder Seite besteht. Er hat automatisch den Funkverkehr zu und von euch - und zu mir und von mir - stillgelegt.“ „Und?“ drängte Superhirn gespannt. „Der Orbital-Navigator hatte euch die ganze Zeit im Visier. Er konnte aber nicht in den Zubringer hineinsehen. Er hörte euch nicht mehr - auch mich nicht -, und er begriff in der Eile nicht, was der Pudel angerichtet hatte. So überholte er euch, nahm euch gewissermaßen ins Schlepp, um eher hier zu sein.“ „Damit Sie uns über Orbital-Sprechfunk Bescheid sagen könnten?“ fragte Superhirn. „Ach, und hier haben Sie erst rausgekriegt, was geschehen war! Der Pudel wird Ihnen das wohl kaum verraten haben!“ „Ich brauchte Micha nur zu fragen, wo Loulou herumgestrampelt hat“, erzählte Charivari. „Na, nun seid ihr hier - und die Überraschung ist jetzt um so größer!“ Er ging zum Ausstieg. Die Gefährten drängten sich in der kleinen Luke. Sie konnten es kaum erwarten, den ersten Blick in Charivaris Weltraumstation zu werfen. Zu ihrer Verwunderung sahen sie Zeltdach-Konstruktionen, hochstöckige Schwarzglasbauten, ein weites Werksgelände hinter grüner Rasenfläche - scheinbar unter einem golden durchsonnten künstlichen Himmel. Sonderbar! Wie kam das? Im Weltall war's doch von Natur aus stockdunkel! zwischen Hallen, die wie Flugzeughangars wirkten, wimmelten Männer in verschiedenfarbigen Kombinationen herum wie auf einem Flugzeugträger. „Kinder, hier ist's ja so hell wie...“, staunte Prosper. „Ich sehe da ganz hinten eine Menge Raumschiffe parken! Es sieht aus, als wären wir im Freien, auf der Erde! Ich dachte, wir wären in einer eng begrenzten Weltraumstation gelandet. Durch eine Schleuse sind wir in eine richtige kleine Stadt gekommen . . .“ „Das seid ihr auch“, erklärte der Professor. „Das, was wie ein Himmel aussieht, ist durch eine spiegelnde Decke begrenzt. Seht ihr die roten Kästchen? Von da führen Preßluftlifts in die höher liegenden Abteilungen. Ebenso, wie man per Schnellfahrstuhl unter dieses mit Rasen bepflanzte Lande-, Werkhallen- und Freizeitfeld in andere Teilstationen gelangen kann. - Auch die Horizontlosigkeit täuscht. Wir sind in einem von Wänden umgebenen Großraum. Es ist meinen Mitarbeitern gelungen, künstliches Licht, ähnlich dem der Sonne, zu erzeugen. Es wird durch elektrische Lichtbögen in Röhren erzeugt, die Edelgasmischungen enthalten. In kleineren Verhältnissen werden solche Lampen zum Beispiel längst für die Projektionsgeräte in Kinos verwendet: Man nennt sie Xenon-Hochdruck-Entladungslampen. „ Gérard murmelte: „Hin! Ich war ja auf manches gefaßt. Und trotzdem habe ich mir vorgestellt, man würde hier gleich Wände mit Leuchttafeln sehen, Luken, Leitern, Geräte, Sichtschirme, Kameras, und so weiter - alles, was zu einer richtigen Weltraumstation gehört!“ „Du willst sagen, zu einer veralteten“, erklärte Professor Charivari lachend. „Nun, zunächst einmal ist meine Weltraumstation Monitor' viel, viel größer, als es den Wissenschaftlern auf der Erde auch nur im Traum einfallen könnte, so etwas in diesem Ausmaß zu bauen. Sie ist ein vielverzweigtes Gebilde mit einem zentralen Hauptteil, dazu sternförmig angegliederten Nebenrümpfen und einer Reihe von Auslegern. Und natürlich verfügen wir in allen Abteilungen über künstliche Schwerkraft, genau wie im Zubringer. Daher wußtet ihr auch nicht, ob ihr nur eingesperrt wart oder durch den Weltraum saustet!“
„Aber ihre Station müßte doch von Erdsternwarten oder Raumschiffen geortet werden, wenn sie so groß ist“, fragte Tati verwundert. „Ich habe ein besonderes Material für die Außenwände benutzt“, erklärte Charivari, „nämlich Absorbit. Absorbit verschluckt jede Strahlung. Wird die Station angepeilt, dringt kein Echo zurück. Auch Radar wird absorbiert. Deshalb kann auf fremden Radarschirmen nichts erscheinen. Für mich hat das noch den Vorteil, daß die verschluckten Strahlungen, auch die des Weltalls, unsere Stationsaußenwände erhitzen. Ich führe die Wärme in die Kraftwerke - und wandle sie dort in elektrischen Strom um.“ „Und was schützt vor Zusammenstößen mit Raumflugkörpern von der Erde?“ fragte Superhirn. Der Professor erwiderte: „Wir bestrahlen sie mit Schwerewellen, wenn sie uns zu nahe kommen. Das fremde Raumschiff verhält sich dann so, als ob es für einen Augenblick stärker von der Erde angezogen würde. Dadurch verändere ich seinen Kurs. Die Besatzung des betroffenen Raumschiffs merkt das meistens gar nicht.“ „Dann müssen sie aber bereits in großer Entfernung abgelenkt werden!“ meinte Superhirn. „Natürlich“, gab der Professor zu, „aber Bahnberechnungen sind für unsere Computer ein Kinderspiel, auch auf größere Entfernungen! Wir überwachen automatisch alle Bahnen, die nahe an unserer Station vorbeiführen. Dann können wir die Ablenkung in aller Ruhe steuern. Es genügt ja auch, wenn das fremde Raumschiff nur ein paar hundert Meter von uns entfernt vorbeizieht. Sehen kann uns die Besatzung nicht, und es ist ja stets nur eine sekundenschnelle Bewegung.“ „Wieso das?“ wollte Henri wissen. „Ganz einfach“, sagte der Professor. „Alle Raumschiffe werden nach Osten gestartet, weil sie dann die Geschwindigkeit der Erddrehung dazugeschenkt bekommen. Diese Station läuft aber in westlicher Richtung um. Unsere Geschwindigkeit in bezug auf die Erde liegt bei nahezu 28.000 Kilometer in der Stunde. Andere Raumschiffe kommen uns mit ungefähr der gleichen Geschwindigkeit entgegen. Dann ist das wirklich nur so etwas wie ein Vorbeihuschen.“ Henri blickte zu den Zeltdächern und Hangars. „Unsere Raumschiffe!“ begeisterte er sich. Alle unsere - ich meine - Ihre Raumschiffe! A-Monitor, Monitor, Raumschiff Meteor, Raumschiff Rotor...“ „Da sind noch mehr!“ rief Prosper. Charivari nickte. Doch dann sagte er: „Nur in einem muß ich euch enttäuschen: Was ihr da seht, sind nicht die alten Schiffe, die ihr kennt. Es ist eine neue, um sieben Stück vergrößerte Flotte. Und jedes einzelne heißt Monitor - mit einem Buchstaben vor dem Namen.“ Der Professor sprach ein paar Worte in seinen Siegelring, der ein Mini-Sprechfunkgerät verbarg genau wie seine einem Trainingsanzug ähnelnde Bekleidung innen mit winzigen Empfangstransistoren und widerstandsfähigen, stark leuchtenden Melde- und Warnlämpchen gespickt war. Hier handelte es sich um die verbesserte Ausführung des Befehlsanzugs, den die Gefährten schon kannten. Der Professor war dadurch seine eigene wandelnde Kontrollzentrale. Von den Hallen her näherte sich ein Luftkissenbus. Der Fahrer war der Orbital-Navigator Körner, der den Zubringer gelotst und Micha und Loulou im letzten Augenblick noch aufgestöbert hatte. „Na, da ist ja alles noch einmal gutgegangen“, begrüßte der Navigator lächelnd die Kinder. Er sprach mit einem österreichischen Akzent. (Charivaris Wissenschaftler und Techniker kamen aus allen Teilen der Erde.) „Laßt uns zum Gästehaus fahren“, forderte Charivari die Gruppe auf. Er stieg mit den Gefährten und dem quietschvergnügten Zwergpudel in den Bus. Sie sausten auf ein rechteckiges Gebilde zu, das von fern wie ein Swimmingpool aussah. Aber es war ein Fahrstuhl. Er war in die weite Rasenfläche eingebaut und führte „tiefer“ in die Weltraumstation hinein. Das Gästehaus stand in einer Gegend, die wie eine Fußgängerzone in irgendeiner Stadt auf der Erde aussah. Aber die Läden“ waren Labors und Büros, Archive und Bibliotheken. Der Professor führte die Geschwister und ihre Freunde in vorbereitete Zimmer. „Tati erhält ein Appartement für sich“, sagte er. „Micha kann mit Loulou in den Raum daneben ziehen - und ihr anderen sucht euch aus, wo ihr wohnen wollt.“
Gérard wählte ein größeres Zimmer mit Vorraum und Bad für sich, und Prosper, Superhirn und Henri mieteten sich Wand an Wand mit ihnen ein. Jetzt erfrischt euch erst einmal - und kommt dann hinunter ins Restaurant!“ sagte der Professor. „Kinder“, staunte Gérard. „Ich kann's noch nicht fassen! Kaum sind wir auf dem Verladebahnhof zwischen Brennesseln herumgekrochen, kaum sind wir aus der vermaledeiten Zubringerkiste raus und schon fühlt man sich wieder wie im Schlaraffenland!“ Micha wollte natürlich so schnell wie möglich zum Essen. Als alle endlich geduscht und angezogen waren, sausten sie im Fahrstuhl hinunter. Wieder - wie schon in der Tiefseestadt - konnten sie bei Tisch jede Speise, jedes Getränk automatisch ordern. Ein Knopfdruck auf der Speisekarte genügte. Hier brauchte man weder Madame Claire noch das Supermarktauto aus Monton. Als Micha die dritte Portion Eis verzehrt hatte, drängte der Professor zum Aufbruch. Mit einem Lift vor dem Gästehaus sausten sie wieder hoch, diesmal in einen matt erleuchteten Raum, dessen Decke einem gewölbten Sternenhimmel glich. „Unser Planetarium“, erläuterte Charivari. „Ihr seht die Sterne so deutlich, wie sie nur unsere schärfsten Außenkameras wiedergeben können. Wir haben den Vorteil, keine Wolken über uns zu haben - wie zum Beispiel die Erdsternwarten. Und keine Lufthülle stört!“ „Vermessen Sie die Himmelskörper?“ fragte Superhirn. „Das auch, ja!“ bestätigte Charivari. „Aber ich tue noch mehr: Ich suche mir die Sterne heraus, die mir aus vielen anderen Gründen besonders wichtig sind.“ Er führte die Gäste zu einem Gerät, an dem einige Männer beschäftigt waren. Sie trugen praktische, ebenfalls sportlich wirkende Anzüge. „Das sind meine ADVs“, stellte er zwei von ihnen vor. „Astro-Daten-Verarbeiter Don Ramiro und O'Hara. Und das Gerät ist eine Art Computer. Aber es ist ein besonderer Computer: Nicht die Männer, sondern die Sterne füttern ihn! Ja, Tati, guck nicht so ungläubig! Die Sterne erzählen! Sie teilen dem Apparat mit, aus was für Stoffen, ob aus fester Materie oder Gasen, sie bestehen.“ Micha öffnete staunend den Mund. Er wollte gerade fragen, doch Superhirn kam ihm bereits mit der Erklärung zuvor: „Die Sterne reden natürlich nicht mit Stimmen - so wie bei einer KindergartenTheater-Aufführung zu Weihnachten! Das, was sie ausstrahlen oder was als ,Echo' der Sonnenstrahlen von ihnen zurückkommt, gelangt als Information in dieses Gerät!“ „Stimmt!“ bestätigte der Professor. „Das Licht gibt uns wichtige Aufschlüsse über das, was ein Himmelskörper enthält. Die Zusammensetzung des Lichts wird hier untersucht. Was sich an Informationen festhalten läßt, geben Don Ramiro und Mister O'Hara an die Auswertungsabteilung weiter. Dort wird alles sorgfältig gesammelt, was wir über einen bestimmten Himmelskörper herausgefunden haben - natürlich auch seine Bahn, damit wir ihn jederzeit wiederfinden können.“ „Und was machen Sie dann?“ erkundigte sich Prosper. „Ich hebe dieses Wissen zunächst einmal auf, bis es gebraucht wird“, sagte Charivari. „Himmelskörper könnten wichtige Rohstoffquellen für die Menschheit werden, wenn die irdischen Vorräte einmal zu Ende gehen sollten. Kometen, zum Beispiel, bestehen unter anderem aus dem Erdgas Methan, aus Wasserstoff und aus Ammoniak. Methan und Wasserstoff sind ausgezeichnete Energieträger, aber auch Grundstoffe für die Kunststoffindustrie. Ammoniak wird für Düngemittel gebraucht, mit denen mehr Nahrungsmittel für die Menschheit gewonnen werden sollen. Asteroiden enthalten viele wertvolle Metalle. Der Weltraum hat unendlich vieles zu bieten, was wir auswerten könnten. Wenn ich Nickel und andere Metalle aus den Asteroiden hole, brauche ich nicht einmal die Erde durch Bergwerke zu verschandeln!“ „Ja, aber da muß man doch erst einmal rankommen“, sagte Henri zweifelnd. „Gewiß“, bestätigte der Professor wieder, „aber das ist im Grunde auch nicht unmöglich. Ich muß die entsprechend starken Raketen haben. Die trage ich mit meinen Raumschiffen zu den Kometen oder Asteroiden. Dort werden sie angesetzt. Nun brauche ich nur noch im richtigen Augenblick zu zünden. Dann werden diese Himmelskörper zur Erde hingedrängt! Sind sie erst einmal nahe, kann man sie in eine Umlaufbahn um die Erde steuern und in aller Ruhe ausbeuten. Ich könnte Asteroiden sogar in der
Antarktis abstürzen lassen. Dort würde man sie in aller Ruhe zum Teil im Tagebau abbauen können wie jedes andere Vorkommen unter dem Erdboden. Professor Charivari zeigte den Freunden sodann die ökologische Überwachungsstation. Hier stellte er einige Mitglieder des wissenschaftlichen Teams vor: „Meine Ökologen!“ sagte der Professor. „Die überlegen sich schon, was man alles mit dem Wasserstoff aus dem Weltraum anfangen kann. Es ist außerordentlich viel. Du weißt ja, Superhirn, wenn ich Wasserstoff verbrenne, erhalte ich Wasser und Wärme. Mit der Wärme kann man elektrischen Strom erzeugen. Und der wird für den Umweltschutz sehr, sehr wichtig werden. Wir brauchen zum Beispiel viel elektrischen Strom, wenn wir Abfall wieder in Rohstoff für die Industrie zurückverwandeln wollen. Auch werden die Menschen dafür sorgen müssen, daß Luft und Wasser nicht mehr mit allen möglichen Schmutzstoffen oder sogar Giften verseucht werden. Technisch ist das alles möglich, aber dafür muß eine völlig neue Industrie aufgebaut werden, die ihr euch in allen Einzelheiten vielleicht gar nicht richtig vorstellen könnt. Man kann sogar den gefürchteten Smog auflösen, der sich oft über den Städten bildet. Dafür gibt es ganz spezielle Kraftwerks-Kühltürme, deren warme Dämpfe so hoch steigen, daß. sie diese Schicht von gefährlichen Gasen durchbohren. Damit kommt wieder eine Luftbewegung in Gang, die die Dunstglocke zerteilt. Aber wir müssen auch versuchen, daß erst gar kein Smog mehr entsteht. Wir von hier oben können das alles überwachen und Alarm schlagen, wenn eine smogverdächtige Wetterlage entsteht. Wir können auch die Behörden verständigen, wenn irgend jemand irgendwo Öl oder Gifte ins Meer oder in die Flüsse gießt. Wir können von hier aus sogar messen, wieviel Schmelzwasser in den Atlantik strömt. So können wir voraussagen, ob der Sommer sich verspäten wird. Die Landwirte können sich danach richten, aber auch vielleicht die Urlauber. Was Wissenschaftler voraussagen und was man daraufhin alles tun kann, ist so phantastisch, daß ich selbst manchmal nicht weiß, ob ich meinen eigenen Hoffnungen trauen darf. So. Aber nun geht für ein paar Stündchen ins Hotel. Später gibt es etwas sehr Wichtiges zu besprechen.“ 8. Geheimauftrag Als sich die Freunde ein paar Stunden ausgeruht hatten, ließ sie der Professor durch seinen italienischen Sekretär, Dr. Bossini, in seine Chefzentrale holen. Staunend blickte sich Micha um. „Ich komme mir hier vor wie auf einem Fernsehturm“, meinte er. „Ja, fast wie in einem Dreh-Restaurant!“ „Fehlen nur die Tische und Stühle und natürlich die Kellner!“ ergänzte lächelnd Professor Charivari. „Der scheinbare Ring von Fenstern an der Rundwand besteht natürlich aus Bildschirmen. Sie erlauben mir Einblick in alle Abteilungen.“ Er nahm an seinem Tasten-Schreibtisch Platz. Die Gäste setzten sich in bequeme Knautschsessel. Loulou sprang vertrauensselig auf Charivaris Schoß. Doch der Herr der großen Raumstation hatte nichts gegen den kleinen Kerl. Während er sprach, kraulte er ihn zärtlich zwischen den Ohren. „Also“, sagte er, „ich habe euch nicht nur zum Spaß aus Monton ins Weltall geholt. Superhirn wird das längst gewußt haben. Ich habe euch erzählt, daß wir im Gegensatz zu den bisherigen Orbitalstationen, in denen zweckfreie Forschung betrieben wurde, zweckgebunden arbeiten. Das heißt in unserem Fall einfach ausgedrückt: Wir beobachten die konkreten Sorgen und Nöte der Menschheit. Und wir setzen unsere Mittel bereits direkt, wenn auch von der Erdbevölkerung unbemerkt, zur Behebung von Katastrophen ein - oder zur Verhinderung drohenden Unheils.“ „Auch zur Verhinderung von Kriegen?“ fragte Prosper. „Genau das meine ich“, antwortete Charivari. Und wie zur Bekräftigung drückte er ein paar Tasten auf seinem Schreibtisch, worauf vor ihm auf einer Mattscheibe mehrere Reihen Leuchtschrift sichtbar wurden. „Dies anstelle von Akten“, erklärte er. Und nun berichtete er ausführlich. Er sprach so lange, daß der Pudel auf seinem Schoß einschlummerte. Tati, Gérard und Prosper wurde das Ganze allmählich langweilig. Es ging immer um einen „General, der eigentlich gar keiner war“, ja, der sich neuerdings sogar zum Präsidenten gemacht hatte und in Afrika sein Unwesen trieb. Warum erzählte Charivari das seinen Gästen?
Superhirn, Henri und Micha hörten jedoch um so aufmerksamer zu. Micha hatte das Wort „Unwesen“ gehört. Das kam ihm gespenstisch vor. Und alles Gespenstische interessierte ihn sehr. „Dieser Präsident von eigenen Gnaden“, sagte Professor Charivari gerade, „ist - man glaubt es kaum - vor einigen Jahren noch Bananensortierer gewesen. Wie meine Vertrauenspersonen mitteilen, hat er mehrere Autodiebstähle in Hamburg auf dem Gewissen. Vom Handel mit gestohlenen Autos hat er dann auf den Waffenschmuggel umgesattelt. Vorübergehend verlor sich dann seine Spur. Plötzlich aber tauchte er in Afrika wieder auf, schloß sich einer Revolte in der westafrikanischen Küstenprovinz Katherinia an, entmachtete mit einer Gruppe von Verbrechern und Abenteurern die rechtmäßige Regierung und ernannte sich selber zum Präsidenten. Jetzt bedroht er vier afrikanische Nachbarstaaten: Er will eine Tagung mit den Staats- und Ministerpräsidenten sowie mit den Außenund Verteidigungsministern dieser Länder herbeiführen. Dabei will er diese Männer erpressen, ein Bündnis mit ihm einzugehen, was aber auf eine Unterwerfung hinausläuft. Er, der Usurpator, möchte letzten Endes die alleinige Macht über den afrikanischen Erdteil.“ „Die übliche Masche“, meinte Superhirn zu den Ausführungen des Professors. „Solche größenwahnsinnige Gestalten hat es immer gegeben, auch die Ohnmacht der Geschädigten aber ich will dem sauberen Herrn einen Strich durch die Rechnung machen.“ „Welches Druckmittel hat er denn eigentlich für seine Erpressung?“ fragte Superhirn. „Warum greifen die Großmächte nicht ein? Und was tun die Vereinten Nationen?“ „Das ist es ja gerade“, seufzte Charivari. „Du hast eben bemerkt: Die übliche Masche! Ja, das kann man sagen! Hier kommt etwas dazu: Atomare Erpressung. Er behauptet, Atombomben zu haben.“ „Quatsch!“ murmelte Henri. „Es ist tatsächlich Quatsch!“ betonte Charivari, indem er sich vorbeugte. „Aber der verbrecherische Bursche handelt nach dem üblen Grundsatz: Scheinbare Macht ist auch Macht! Die großen Staaten sind in der Zwickmühle. Sie glauben zwar nicht daran, aber sie wissen es auch nicht genau: Hat er nun Atombomben - oder hat er sie nicht? Selbst wenn man es für unwahrscheinlich hält, muß man an die verhängnisvollen Folgen eines Irrtums denken. Eine einzige, kleine Atombombe im Besitz dieses Verbrechers könnte schlimmes Unheil anrichten und durch eine Kettenreaktion zur Vernichtung eines großen Teils der Menschheit führen. Deshalb halten sich sogar die bisherigen Atommächte zurück. Man versucht sogar, den Erpresser an den Verhandlungstisch zu bekommen. Bisher ergebnislos. Der Präsident von eigenen Gnaden, General Alec Glory, wird immer dreister.“ ,Alec Glory?“ überlegte Superhirn laut. „Wohl ein Engländer?“ „Ein Deutscher“, sagte Charivari. „Bananen-Bubi hat man ihn in der Hamburger Markthalle genannt. Mit Nachnamen heißt er angeblich Rumpel. Daraus soll er erst Ruhm gemacht haben - und schließlich wurde das englische Wort Glory daraus.“ „Und was haben wir mit dem sauberen Herrn zu tun?“ erkundigte sich Superhirn gespannt. Der Professor hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Nun beugte er sich plötzlich vor. „Ihr sollt die Tagung mit den Regierenden der bedrohten Nachbarstaaten platzen lassen! Ihr werdet eingreifen und den Herrn Präsidenten wieder zum Bananen-Bubi machen! Lieber soll er sonstwo Bananen sortieren als die Welt in einen Krieg stürzen.“ Jetzt wurden auch Prosper und Gérard hellwach. Und Tati rief: „Aber Micha und ich bleiben hier! Und Loulou auch!“ „Gerade Micha soll nicht hierbleiben“, widersprach der Professor. „Ich möchte, daß er mit Superhirn in einem zielprogrammierten Klein-Monitor hinunterfährt. Die beiden sollen die Konferenz sprengen.“ „Sprengen?“ rief Tati entsetzt. „Auseinandertreiben“, beschwichtigte Charivari. „Und zwar ohne Gewalt! Nur mit List - und ein paar harmlosen kleinen Tricks . . Tati hatte wohl ein dutzendmal „Nein, kommt gar nicht in Frage!“ gesagt, und sie hatte sogar mehrere Mal mit dem Fug aufgestampft, um ihrer Weigerung Nachdruck zu verleihen. Micha - in der Höhle des Löwen? im Palast eines Machtwahnsinnigen? Das wollte sie nie und nimmer dulden!
Micha und Superhirn mußten daran denken, als sie bereits am folgenden Tag durch die Gänge des Regierungsgebäudes von Katherinia City schlichen - der Tagungsstadt, die Bananen-Bubi in seinem Hochgefühl des Besitzers der Macht umbenannt hatte. Sie hieß jetzt Bubianca. Und es störte den selbsternannten General-Präsidenten nicht, daß sich die Zeitungen der ganzen Welt darüber lustig machten. Keinen Diktator hat es jemals gestört, daß man andernorts über ihn lachte. Hauptsache, in seiner Umgebung lachte keiner! Dem wäre es schlecht bekommen! Und die hinter ihm stehende Verbrecherorganisation störte der Spott der Welt am allerwenigsten. Die herumeilenden Sekretäre, Minister, die Dolmetscher, Presseleute und Botschafter - und wer und was auch immer die vielen dunkel- und hellhäutigen Herren in den feinen Anzügen oder kostbaren Stammesumhängen waren -, niemand bemerkte Superhirn und Micha. Kein Wunder, die beiden waren - unsichtbar! Sie trugen zwar keine Tarnkappen, die es nur in Märchen, Sagen und Wunschträumen gibt. Sie hatten auch nur Trainingsanzüge und gewöhnliche Turnschuhe an. Aber das, was die Unsichtbarkeit bewirkte und das Wagnis möglich machte, war eine Erfindung des Professors - nämlich optische Konverter. Die hatten selbst Tati überzeugt, und sie hatte endlich ihr Einverständnis zu der wichtigen Blitztour gegeben. Jeder der beiden jungen trug einen dieser optischen Konverter, an einem Hosengürtel befestigt. Die Dinger waren flach wie Pocketkameras. Aus ihnen ragten Doppeldrähte und Temperaturfühler, mit denen die Konverter den der jeweiligen Temperatur entsprechenden Luftbrechungsgrad erzeugten. Dadurch waren Superhirn und Micha in den Augen der Fünfstaatenversammlung - Luft! Ebenso wie das programmierte Mini-Monitor-Raumschiff mittels eines Riesenkonverters unsichtbar in der Nähe der draußen abgestellten Staatsautos „parkte“. Professor Charivari hatte Micha aus zwei Gründen gewählt: Einmal, weil er klein und flink war. Zweitens, weil der brutale General-Präsident eine Schwäche hatte - er konnte keinem Kind etwas zuleide tun. Das war im Falle einer Panne wichtig. Superhirn war mit, um darauf zu achten, daß Micha keinen Unfug mit dem Konverter anstellte. Als die beiden Jungen den großen Sitzungsraum erreichten, schwang ein spitznasiger, sommersprossiger Mann in Adjutantenuniform soeben eine Glocke. Dieser Bursche war ohne Zweifel der Hauptkumpan des Präsidenten. Wer der Präsident war, daran bestand schon auf den ersten Blick kein Zweifel. Bananen-Bubi saß in einer Phantasieuniform, die von Rot und Gold nur so strotzte, in einer Art Thronsessel. Nach dem Glockengebimmel herrschte überall im Saal gedrücktes Schweigen. Man sah die sorgenvollen Mienen der Konferenzteilnehmer. Superhirn hatte Micha gerade noch zugewispert: „Paß auf! Ich habe ein Thermometer an der Wand gesehen. Wegen der Klimaanlage herrschen hier nur 19 Grad! Faß nicht mit deinen schwitzenden Händen an die Temperaturfühler deines Konverters! Wenn der Konverter eine andere Temperatur bekommt als die Luft im Saal, wirst du als Umriß sichtbar! Und vergiß nicht: Auch wenn wir unsichtbar bleiben, greifbar sind wir immer Wir sind zwar durch den Luftbrechungsgrad unsichtbar, aber wir haben uns nicht in Luft aufgelöst wie Märchengestalten!“ Schon ertönte des Präsidenten herausfordernd unverschämte Stimme. Er sprach in Englisch, und er sprach so langsam, daß Superhirn im Wisperton übersetzen konnte: „Meine Herren Kollegen, meine ehrenwerten Freunde, die mit mir das Bündnis eingegangen sind . . .“ Es erhob sich ein teils erstauntes, teils bestürztes und unwilliges Gemurmel. Niemand hatte bisher einen Vertrag unterschrieben! Auch die plumpe Anrede schien den Staatsmännern nicht zu gefallen. Doch Präsident Bubi fuhr ungerührt fort. „Ich höre, Sie zollen mir Beifall. Um so besser. Dann können wir es kurz machen. Wie Sie wissen, stehen alle vier Nachbarstaaten unter meinem Atomschutz. Die Unterschrift unter die Brüderschaftsverträge, die mir die Würde des Oberhaupts der Union einräumen, ist also nur noch Formsache.“ „Frechheit!“ entfuhr es Micha. Doch die nun aufkommende Empörung unter den Konferenzteilnehmern ließ Michas Ausruf untergehen.
Der Adjutant des Präsidenten schwang die Tischglocke. Und Bananen-Bubi höhnte: „Wer Lust hat, sich die Sache zu überlegen, wird genügend Zeit zum Nachdenken in meinen Gefängnissen dafür bekommen!“ Einige der Teilnehmer gingen unter Protest zum Ausgang - aber dort standen plötzlich schwerbewaffnete Soldaten. „Ha, ha!“ lachte der Herrscher von eigenen Gnaden. „Sie sehen, das sind keine Hotelboys! Also los. Ich will zum Golfspielen. jetzt wird unterschrieben! Und zwar fix, fix!“ „Los!“ raunte Superhirn. Unsichtbar, wie er war, rannte Micha um den Hauptkonferenztisch herum, auf den Präsidentenstuhl zu. In der Hand hielt er eine Spraydose, die Charivari ihm mitgegeben hatte. In dieser Dose befand sich Angsthasen-Spray. Wer es einatmete - und mochte er eben noch der brutalste, verwegenste, mutigste Kerl gewesen sein -, fürchtete sich plötzlich vor einer winzigen Maus. Es war eine Verbesserung jenes Mittels, das die Gefährten früher bei den Raumpiraten erfolgreich eingesetzt hatten. „Wer mich nicht anerkennt“, rief der ehemalige Banariensortierer in seiner albernen Paradeuniform, „der wird mit Blut statt mit Tinte unterschreiben müssen!“ Micha drängte sich am Adjutanten vorbei, doch der hatte sich erhoben. Sein Stuhl glitt zurück - und Micha direkt vor den Bauch. Die Lehne drückte die Temperaturfühler in den optischen Konverter hinein, und augenblicklich stieg die Temperatur des Apparates auf Michas Körperwärme. Das waren etwa 37 Grad Celsius! Im Sitzungsraum aber, und darauf hatte Superhirn warnend hingewiesen, herrschten wegen der Klima-Anlage nur 19 Grad. So veränderte sich der Luft-Brechungswert, der den Kleinen bisher geschützt hatte. Und der Tyrann Alec Glory, ehedem Bananen-Bubi, sah plötzlich einen Schatten auf sich zuspringen. „Was ist das?“ brüllte er. „Wache! Hier hat sich ein Zwerg eingeschlichen! Ein Agent! Fangt ihn!“ Und schon packte er mit seinen gewaltigen Pratzen selber zu und erwischte Michas Arm. „Au!“ schrie der Kleine auf. „Ich habe ihn!“ donnerte der Präsident. „Er entwischt mir nicht!“ Rings um die beiden entstand ein Getümmel, woraus die Temperatur in unmittelbarer Nähe des Konverters weiter stieg. Micha wurde sichtbar! „Ein Junge!“ stammelte Bananen-Bubi fassungslos. „Wo kommt der her? Wer hat ihn eingeschmuggelt? Ich werde den Betreffenden an den Galgen bringen!' Da gelang es Micha, sich loszureißen. Und ehe der Präsident ihn aufs neue packen konnte, machte es Schschschschscht! Und er hatte eine Ladung Angsthasen-Spray im Gesicht! Die Wirkung war mehr als verblüffend. Der riesige Bursche begann sich auf der Stelle zu drehen. Erst stieß er noch einige drohende Worte aus. Er gab auch noch ein paar großsprecherische, ja, großmäulige Befehle. Aber dann brach der Mut des Mannes wie ein Kartenhaus zusammen. Micha fühlte ein Zupfen an seinem Arm. Es war Superhirn. „Weg hier!“ tönte seine Stimme an Michas Ohr. „Weg von der Menge! Zum Eingang, los!“ Sogleich wurde auch Micha für die Leute wieder unsichtbar, denn Superhirn und er standen im Wirkungsbereich der Klimaanlage, abseits der anderen. Sie beobachteten gespannt, was der eben noch so größenwahnsinnige Bursche machen würde. „Warum sind hier so viele Männer?“ wimmerte der Präsident plötzlich gänzlich verstört. „Was wollen die von mir? Ich habe ihnen nichts getan! Die paar Bananen, die ich in Hamburg geklaut habe, könnt ihr mir nicht anrechnen, nein, nein! Und für die Autodiebstähle habe ich meine Strafe abgesessen! Ihr könnt meine Entlassungspapiere sehen. Bitte, bitte, laßt mich doch frei.“ Er rang flehentlich die Hände. Schnell trat ein beherzter Mann an den Platz des Präsidenten. Er wandte sich an die Versammlung: „Mister Alec Glory scheint geistesgestört zu sein! ja, Sie sehen, er ist wohl schwachsinnig geworden.“ Das war allerdings nicht zu übersehen, denn der eben noch so selbstherrliche Bursche kroch wie ein
Kind, das noch nicht laufen kann, unter dem Tisch herum. Der Redner, ein höherer General und Feind des Usurpators, nutzte die Lage unverzüglich aus: „Die Sitzung ist geschlossen!“ rief er. „Ich rate den Anwesenden, sich schnellstens in ihre Länder zu begeben und auf die Bildung einer neuen Regierung in Katherinia City zu warten!“ Jetzt wollten die Wachsoldaten in den Saal dringen, doch Superhirn empfing sie mit einer gehörigen Dosis Angsthasen-Spray. Die Männer warfen ihre Waffen weg. Der Chef der Garde greinte: „Ich will auch wieder ganz artig sein - ich will ganz, ganz artig sein!“ Der Adjutant, kreidebleich, wollte sich an den Fenstern entlang zu einer Seitentür schleichen, doch er wurde von Freunden des Generals überwältigt. „Sie rufen den Flugplatz an und lassen dort die Wachen zurückziehen!“ erklärte der General jetzt. „Wer nicht unverzüglich seine Waffen ablegt, kommt ins Gefängnis!“ Die Reporter und Korrespondenten stürzten aus dem Saal, um ihren Redaktionen und Studios in der Welt die verblüffenden Neuigkeiten mitzuteilen. Das letzte, was sie von dem umherkrabbelnden Bananen-Bubi hörten, war: „Ich habe nie eine Atombombe geschält, immer nur Bananen! Ich habe keine Atombanane! Ich habe geschwindelt!“ Dies bestätigten noch am selben Tag die Wissenschaftler aus dem Atomforschungszentrum in einer Pressekonferenz, „Das genügt!“ meinte Superhirn kichernd beim Anblick des Präsidenten. „Die Ratten, die bisher zu dem Kerl gehalten haben, werden sich schleunigst verkriechen. Nach allem besteht hier nicht mehr die geringste Gefahr eines Machtkampfes!“ Er und Micha drückten sich hinaus ins Freie. „Wo ist das Mini-Raumschiff?“ keuchte Micha. „Hinter den drei großen Palmen, zwischen den Zierbüschen!“ erwiderte Superhirn. Sie tasteten an dein ebenfalls noch unsichtbaren Fahrzeug herum. Superhirn erwischten den LukenÖffnungskontakt. „Rein!“ befahl er. „Wir nehmen Funk mit Charivari auf. Der Monitor' ist rückprogrammiert! Er findet sein Ziel von selber!“ Auf dem Landeplatz der Orbitalstation wurden Superhirn und Micha fast wie Olympiasieger empfangen. „Wir bekamen die komische Versammlung auf dem Bildschirm zu sehen!“ berichtete Henri lachend. Junge, Micha, das hast du fabelhaft gemacht!“ „Geheimagent Micha!“ witzelte Gérard. „Schade, daß die Sache nicht in ein Geschichtsbuch kommen kann!“ „Geschichtsbuch!“ feixte Prosper. „Unsinn! Einen Film müßte man danach drehen!“ Tati runzelte die Stirn. Der Professor wurde auf einmal sehr ernst: „In Geschichtsbüchern würde so eine HintertreppenStory der Zeitgeschichte höchst unglaubwürdig klingen. Sogar in einer gut redigierten Tages- oder Wochenzeitung. Menschliche Worte reichen nicht aus, um den Unfug mancher Staatsstreiche zu schildern. Präsident Alec Glory, ehemals Bananen-Bubi, entmachtet! Das wäre höchstens eine Schlagzeile für die Sensationspresse. Zum Kopfschütteln für den Leser. Leider aber auch zum Kopfverlieren für den, der an solchen Unglaublichkeiten beteiligt war. Hm, und so was verfilmt? Die Zuschauer würden ihr Eintrittsgeld zurückverlangen bzw. den Fernseher abstellen!“ Die weiteren Nachrichten von der Erde verrieten den Freunden in der Weltraumstation, daß Bananen-Bubi mit seinen Kumpanen hatte fliehen können, aber auch, daß in den betroffenen fünf afrikanischen Staaten wieder Frieden herrschte. Dagegen hatte Charivari bald Sorgen mit seiner Raumstation. Wieder rief er die Gefährten in seine Chefzentrale. „Ich muß euch eine betrübliche Mitteilung machen“, erklärte er. „Gern hätte ich euch noch einige Tage hierbehalten. Nicht nur, um euch Abwechslung zu verschaffen, weil ihr meine bewährten jungen Freunde seid. Ich habe ja die Hoffnung, ja fast die Gewißheit, daß Superhirn eines fernen Tages in meine Fußstapfen tritt; daß er meine Vorhaben nicht nur zu Ende führt - denn der
Fortschritt kennt kein Ende -, sondern den Aufgabenkreis erweitert. Und ihr anderen, wenn ich mal von Loulou absehe ...“, er lächelte, „... würdet Superhirn gewiß dabei unterstützen. Leider ist im Augenblick ein kritischer Zustand eingetreten. Das Absorbit, die Schutzhülle um meine Station, hat sich verändert, sie erfüllt ihren Zweck nicht mehr vollauf. Ich muß die Raumstation weiter weg von der Erde verlagern, damit ich die Reparatur durchführen kann, ohne dabei geortet werden zu können.“ „Sie wollen auf eine andere Bahn?“ begriff Superhirn. Charivari nickte. „Ich gehe auf eine Sonnenbahn - auf der ich erst in dreizehn Monaten wieder in Erdnähe gelange. Ich habe es immer wieder durchdacht: Es ist das vernünftigste, euch vor der Kursänderung wieder nach Monton zu schicken.“ Gérard, Prosper, Henri, Micha - selbst Tati - zogen enttäuschte Gesichter. Der Pudel verstand von allem sowieso nichts. Superhirn antwortete mit ruhiger Stimme. „Vor Ihren Sorgen müssen unsere Wünsche zurückstehen. Das ist klar! Wir können uns ja auch nicht beklagen! Haben wir nicht wieder genug erlebt?“ Der Professor stand auf. Er blinzelte Micha zu. „Natürlich feiern wir erst einmal Abschied im Automatenrestaurant.“ Wuff! Waff! bellte der Pudel freudig, als habe er dies nun auch verstanden. Die Gefährten kamen vom Austern-Verladebahnhof zur Villa Monton herauf, so, wie sie vor nicht allzu langer Zeit hinuntergeeilt waren. Das Gärtnerehepaar sah sich kaum nach ihnen um. Und Madame Claire rief: „Als ob ich eure Heimkehr geahnt hätte! Ich habe einen großen Korb süßer Kirschen für euch!“ Sie stieß einen Schrei aus, als sie die Kirschen auf die Terrasse brachte: Der Korb wurde ihr von unsichtbaren Händen weggenommen! Und wie von Geisterkraft bewegt, stand er auf einmal auf dem Tisch. „Ich bin wohl ein bißchen durcheinander wegen der Hitze“, murmelte Madame Claire. Doch kaum war sie im Haus verschwunden, als Superhirn scharf befahl: „Micha! Mach dich gefälligst sichtbar! Es ist nicht anständig von dir, daß du das Konverter-Gerät, ohne den Professor zu fragen, mitgenommen hast!“ Micha tauchte verlegen „aus dem Nichts“. Tatsächlich trug er das Gerät am Gürtel. Superhirn nahm es ab und warf es in hohem Bogen über die Terrassenbrüstung den Felshang hinunter, ins Meer. „So was brauchen wir nicht!“ sagte er nachdrücklich. „Finde ich auch!“ bestätigte Tati. „So, nun lassen wir uns aber die Kirschen schmecken.“ Am Abend, als die Sterne am Himmel flimmerten, saßen die Gefährten wieder auf der Terrasse. Superhirn blickte zum Himmel empor. „Der Professor wird auf seinem Reparaturkurs bis an die Marsbahn gelangen“, meinte er. „Aber eines Tages wird er wiederkommen“, murmelte Henri. Prosper, Gérard und Micha schwiegen. Es schien, als seien sie traurig. Da sagte Tati überzeugt: „Sicher wird Professor Charivari wiederkommen! Ganz gewiß! Er wird uns nicht vergessen!“
Ende