Giganto meldet: Vorstoß in die Erde 1. Das Ferienabenteuer beginnt „Schwül, heute abend“, pustete Henri, „ich glaube, vo...
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Giganto meldet: Vorstoß in die Erde 1. Das Ferienabenteuer beginnt „Schwül, heute abend“, pustete Henri, „ich glaube, vor dem Abendessen spring ich schnell mal ins Schwimmbecken!“ „Aber sieh erst nach, ob das Wasser nicht abgelassen ist“, sagte Tatjana. Tatjana, genannt Tati, war Henris Schwester. Ein Jahr jünger als er, sah sie zu seinem stillen Ärger älter aus. Daß sie sehr hübsch, schlank und sportlich war, kümmerte ihn dabei nicht. Für Micha, den kleinen Bruder der beiden, gab es einen Trost: Es war ja noch der Zwergpudel Loulou da, auf den er seinerseits herabgucken konnte. Zu den drei Geschwistern zählten als Abenteuergefährten noch zwei von Henris Schulfreunden. Vor allem aber darf die Hauptperson dieser unvergleichlich geheimnisvollen, spannenden und aufregenden Ferien nicht vergessen werden: Marcel. Der spindeldürre, flachsblonde Junge mit der Riesenbrille. Wegen seiner Blitzgescheitheit hieß er bei den anderen immer nur „das Superhirn“. In Monton, am Golf von Biskaya, oberhalb jener weiten atlantischen Bucht zwischen der gebirgigen Nordküste Spaniens und der flachen Westküste Frankreichs, besaß Superhirns Onkel einen Landsitz mit einem malerischen Schloß am Steilhang. Der Onkel war nicht da. Er würde wohl noch eine lange Zeit wegbleiben. Was die jugendlichen Gefährten nicht störte. Sie konnten sich zwanglos in dem unheimlich schönen (oder schön unheimlichen) Schlößchen tummeln. Die nähere Umgebung bestand aus einem Park mit herrlichen alten Bäumen, Blumenrondellen, Brunnen, Steinfiguren, Grotten, aber auch aus einem Golfplatz, einer „Trimm-dich-Wiese“ mit modernsten Sportgeräten und dem neuen Swimming-Pool. In diesem Grundstück konnte man sich nach Herzenslust austoben, oder man konnte perfekt faulenzen oder über Felsmauern in die Fischer- und Segelsporthäfen der winzigen, tief unten liegenden Bucht von Monton sehen. Den heutigen Tag aber hatten die Gefährten im Ort unterhalb des Steilhangs verbracht, um an den Vorbereitungen für ein Volksfest teilzunehmen. „Was mich betrifft“, sagte Tati noch zu ihrem Bruder Henri, „ich schwimme heute nicht mehr. Ich bade inwendig. Mit Limonade. Ich habe Durst wie ein Kamel.“ „Du bist zwar ein Kamel“, grinste Henri, „aber ein Kamel hat selten Durst!“ „Sehr schlau!“ verteidigte sich Tatjana. „Auch wenn du dich nicht zu den Kamelen rechnest, läufst du wie ein Trampeltier. Wo du hinstapfst, wächst kein Gras mehr!“ „Olle Kamelie!“ frotzelte Henri. „Danke“, lächelte Tatjana. Sie machte einen beneidenswert anmutigen Knicks. „Eine Kamelie ist eine japanische Rose.“ „Merkst du was?“ feixte Superhirn. „Die japanische Rose pikt wie 'ne Distel!“ „Hau ab, geh schwimmen, Henri“, riet Gérard seinem Klassenkameraden. Madame Claire, die Wirtschafterin, hatte den Tisch auf der Terrasse bereits gedeckt: „Na, habt ihr was erlebt? Ihr seht ganz so aus!“ „Und ob!“ rief der kleine Micha. „Morgen fängt in Monton die Festwoche an. Na - und was da schon alles aufgebaut ist!“ Madame Claire lachte. „500-Jahr-Feier! Daß ich nicht lache. Dabei haben zur Zeit meiner Großmutter erst drei Fischerhäuser an der Bucht gestanden!“ Superhirn grinste. „Es gibt keinen Ort auf der Welt, der nicht irgend´nen Anlaß zum Feiern sucht und auch findet. Der Bürgermeister stützt sich auf die Ausgrabungen angeblicher Grundmauern, auf ein zerfleddertes Buch des Pfarrers - und auf die Familie meines Onkels, der das Gut und ein Stück Ufer schon seit langer Zeit gehört.“
„Die Hauptsache ist der Jahrmarkt!“ ereiferte sich Micha. „Die Geisterbahn, das Autodrom, das Pony-Karussell, das Gondelrad, die Stände, Buden, Kapellen, der Fesselballon, der morgen steigen soll, das Feuerwerk - und vor allem... Fußball!!!“ Waff, waff! bellte der kleine Pudel wie zur Bekräftigung. Nach dem Essen, bei dem Henris Gesicht besonders reinlich glänzte, wollten Gérard und sein Klassenkamerad Prosper Steine in den Brunnen auf der Wiese werfen. Sie stritten sich seit zwei Tagen, ob der Plumps nach fünf oder sechs Sekunden erfolgte. Wenn einer warf, bediente der andere die Stoppuhr. Und jeder beschuldigte den anderen, nicht rechtzeitig zu „schalten“. Die Stoppuhr gehörte Henri, aber sein kleiner Bruder Micha sauste sofort nach oben, um sie zu holen: eine Gelegenheit, das teure Ding auch mal in der Hand zu haben. Er war noch nicht wieder da, als ein Blitz wie ein himmelhoher Speer in Madame Claires Küchengarten fuhr und einen Obstbaum buchstäblich in Stücke zerschlug. Wer draußen war, dem war zumindest der Donnerschlag in die Knochen gefahren. Hustend vor Schreck, raste der Zwergpudel Loulou ins Haus zurück. Dort lief er den sprachlosen, ebenfalls geflüchteten Geschwistern und Freunden wie verrückt um die Beine. „Wo ist Micha?“ fragte Tati heiser. Alle, außer dem Kleinen, standen im Kaminzimmer. „Hier, hier bin ich“, bibberte Michas Stimme. „Aber die Stoppuhr ist kaputt.“ Henri wollte etwas sagen, doch Superhirn kam ihm zuvor: „Immer noch besser, als wenn wir dich als Schmorpflaume vom zertrümmerten Obstbaum hätten klauben müssen.“ „Es war ein Kirschbaum“, stellte Tati richtig. „Wenigstens hat er nicht angefangen zu brennen. Es stinkt nur furchtbar nach Schwefel.“ Man hörte Madame Claires Zetergeschrei. „Hört mal!“ murmelte Prosper. „Es regnet, als schütte einer Erbsen aufs Dach!“ „Das Volksfest beginnt!“ grinste Gérard. Es war plötzlich sehr dunkel geworden. Henri knipste die Lampen an. „Machen wir's uns hier gemütlich“, schlug Superhirn vor. „Entfachen wir ein Feuer im Kamin!“ Das war mit Hilfe der jammernden Wirtschafterin bald geschehen. „Der schöne Baum! Er war mir so ans Herz gewachsen! Die Blüten jedes Jahr! Und er hat im Wind geflüstert wie ein lebendiges Wesen!“ Dabei blieb sie. Und sie wiederholte es wie ein eintöniges, trauriges Lied. Tati setzte sich an ein Tischchen und schrieb an die Eltern. Loulou blickte mißtrauisch ins Kaminfeuer. Wenn ein Scheit knackte oder ein Funken stob, machte er drohend waff oder wuff. Das klang sehr komisch. Superhirn hockte mit gekreuzten Beinen auf einem Tigerfell und trug etwas in ein Tagebuch ein. Die mächtige Stehlampe mit dem enormen Schirm goß ihr Licht auf seine strohblonden Haare. Wenn er aufblickte, funkelte seine Brille. Noch im Lichtkreis dieser Lampe lagen Henri und Gérard wie zwei müde Krieger auf dem Teppich und spielten mit winzigen Figuren auf einem entsprechend kleinen Brettchen Schach. Im angrenzenden Raum versuchte Prosper mit Micha Billard zu spielen. Es klang aber eher wie eine Mischung aus Vorwürfen, Verhöhnungen, Durcheinanderschmeißen von Bällen und Fechten mit Stöcken. Madame Claire kam mit einem Tablett herein. „Tee für euch“, sagte sie. „Tee beruhigt. Mir scheint, das Gewitter kommt noch mal zurück. Ein unheimlicher Abend.“ Tati bedankte sich für den Tee und half ihr, die Kanne und das übrige Geschirr auf die Anrichte zu stellen. ,Ach, die Löffel, Moment!“ rief Madame Claire. Sie lief in die Küche. Aber sie brachte auch eine Zeitschrift mit. „Mein Kreuzworträtsel von gestern“, sagte sie. „Ich werde doch nicht damit fertig! Mexikanischer Gott mit zwölf Buchstaben. Was kann das sein?“ „QUETZALCOATU“, half Superhirn, ohne aufzublicken.
Madame Claire verschlug es die Sprache. Seelenruhig buchstabierte Superhirn. „Spricht sich ´ketsallkoti´. Schreiben Sie's getrost hin.“ Die Wirtschafterin fügte an Tatis Tischchen einen Buchstaben nach dem anderen in die vorgesehenen Kreuzworträtsel-Kästchen. „Und was ist die arabische Bezeichnung für den Fluß Tigris?“ fragte sie - immer noch mit großem Staunen in der Stimme. „Didschla“, lächelte Superhirn, so, als hätte sie nur gefragt: Wie viele Beine hat ein Pferd? Henri hob den Kopf vom Schachspiel. „Haben Sie das noch nicht bemerkt, Madame? MarcelSuperhirn ist sein eigener Computer. Bei dem können Sie sich das Kochen sparen. Füttern Sie ihn nur mit Fragen!“ „Ich glaube, der braucht nicht mal sein Gehirn“, brummte Gérard. „Wette, er denkt mit Augen, Ohren, Nase, Mund . Oder mit dem linken kleinen Finger Wenn Sie wissen wollen, wieviel 12+12 ist, sagt er Ihnen das im Schlaf.“ „Zu leicht!“ rief Henri. „5555 X 5555!“ „Ergibt 30 858 025“, erwiderte Superhirn prompt. Madame Claire nahm ihr Kreuzworträtsel und lief kopfschüttelnd aus dem Raum. „Daß er klug ist, wußte ich“, hörte man sie brabbeln, „aber daß er hexen kann...“ Gérard, Henri und Tati lachten. „Vorsicht“, meinte Gérard. „Am Ende denkt sie noch, dieser Kopf zieht Blitze an. Dann sind wir am längsten hier Feriengäste gewesen.“ „Könnte schon sein“, überlegte Tati. „Die gute Claire ist sowieso ein bißchen abergläubisch.“ Sie schenkte Tee ein und brachte zwei Tassen ins Billardzimmer für Prosper und Micha. Henri, Gérard und Superhirn gingen zur Anrichte, um sich selbst zu bedienen. Als Tati aus dem Billardzimmer zurückkam, stand Superhirn vor dem Kamin. Er hatte seine Tasse in der Hand und blickte verblüfft auf den Sims. Neben ihm kauerte der Pudel sprungbereit. Er knurrte. „Das Feuer tut dir nichts. Und das Gewitter entfernt sich“, lachte Tati. Ohne sich etwas zu denken, ging das Mädchen zu Henri, Prosper und Gérard. Sie trank auch einen Schluck Tee. Plötzlich hörten sie vom Kamin her einen leisen Schreckensschrei. Ein Plumps und ein Klirren folgten. Superhirn lag bewußtlos auf dem Boden. 2. „War was?“ fragt Superhirn Entsetzt sahen Tati, Henri und Gérard auf Superhirn. Teetasse, Untertasse und Löffel waren ihm aus der Hand geglitten. Auf dem Blech vor dem Kamin breitete sich eine Teepfütze aus. „Was ... was ist denn los?“ hauchte Tati. „Mensch, Superhirn!“ begann Henri. „Ist dir schlecht?“ rief Gérard. Mit ihren Billardstöcken kamen Prosper und Micha aus dem Nebenraum. Sie machten große Augen. Doch Superhirn blieb nicht lange liegen. Er erhob sich merkwürdig rasch und forsch, als wäre er überhaupt nicht bewußtlos gewesen. „War was?“ fragte er gleichgültig. Er rückte seine Brille zurecht. Auf das Geschirr hinunterblickend, fügte er ebenso gleichgültig hinzu: „Ach so, ich bin ausgerutscht.“ „Wie kann man im Stehen ausrutschen?“ schluckte Tati. Sie starrte Superhirn fassungslos an. Bevor Tati weiter sprechen konnte, erschien Madame Claire wieder mit ihrem Kreuzworträtselheft. „Mon Dieu!“ rief sie. „Mein Gott! Ein kleines Unglück!“ Sie meinte die Scherben. „Moment, ich bringe einen Lappen!“ (Das galt dem Teefleck.) Schweigend hob Tati die Scherben und den Teelöffel auf Schweigend blickten die Freunde auf Superhirn. Nur der Pudel Loulou kam auf den dürren jungen zu und ließ sich streicheln. Niemand hatte an dem
Benehmen des Hundes etwas Unheimliches wahrgenommen. Selbst Superhirn zermarterte sich den Kopf Was war eigentlich passiert? Er konnte sich nur noch erinnern, vom Boden aufgestanden zu sein. Die Ursache des Sturzes, die kurze Ohnmacht: Er konnte sich an nichts erinnern. Weshalb waren die anderen so entsetzt? Madame Claire kam mit einer Kehrichtschaufel für die Scherben und einem Lappen für den vergossenen Tee zurück. „Wenn's weiter nichts ist?!“ rief sie. Sie schwatzte ununterbrochen. Mit ihrem Kreuzworträtsel war sie auch noch nicht fertig: „Wasserfall, vier Buchstaben ... Da fällt mir überhaupt nichts ein!“ Alle grübelten. Henri schielte verstohlen auf Superhirn. Der wußte doch sonst alles. Superhirn schwieg. „Dann brauch ich noch einen Bezirk im Schweizer Kanton Wallis - auch vier Buchstaben“, seufzte Madame Claire. Superhirn schwieg. Prosper warf ihm einen Blick zu, der besagte: Dir ist wohl dein Gehirn abhanden gekommen? Dann erklärte er: „Kanton Wallis? Gibt's drei Bezirke mit vier Buchstaben: Orbe, Oron und Nyon.“ Und er grinste triumphierend. Endlich einmal hatte Superhirn etwas nicht gewußt. Micha sperrte vor Staunen Mund, Augen und sogar die Nasenlöcher auf. Superhirn putzte seine Brille. Zwinkernd, aber so ganz nebenbei, sagte er zu Madame Claire: „Prospers Weisheit schreiben Sie lieber nicht auf. Damit lösen Sie Ihr Rätsel nie. Seine Bezirke gehören nämlich nicht nach Wallis, sondern in den Kanton Waadt.“ „Und was gibt's in Wallis mit vier Buchstaben?“ rief Prosper ärgerlich. Er war furchtbar enttäuscht, das sah man ihm an. „Die Bezirke Brig und Visp“, lächelte Superhirn. Madame Claire richtete sich schweratmend, aber strahlend auf: „Visp! Natürlich. Das paßt! Und der Wasserfall, auch mit vier Buchstaben?“ „Tosa!“ erwiderte Superhirn. Diesmal gab er die Antwort, bevor die Wirtschafterin die letzte Silbe ihrer Frage ausgesprochen hatte. „Der Tosa-Fall in Italien, 160 m Sturz.“ „Ich schreib mir das auf!“ rief Madame Claire. Sie nahm Kehrichtschaufel und Lappen und verschwand eilig. Die Gefährten waren um eine weitere Erfahrung klüger - oder dümmer. „Sag mal, Superhirn“, staunte Gérard, „mußt du von Zeit zu Zeit mal auf den Kopf fallen, damit dein Gehirn auf höhere Drehzahlen kommt???“ „Scheint wahrhaftig so!“ meinte Henri. „Ich hab' mal eine Uhr gehabt“, lachte Micha. „Die blieb ab und zu stehen: Wenn man sie hinschmiß, rasten die Zeiger wie verrückt!“ „Spar dir deine albernen Vergleiche“, mahnte Tati. Sie hatte sich zu sehr erschrocken. Außerdem war Superhirn bestimmt nicht ausgerutscht! Er war bewußtlos zusammengebrochen, mochten die anderen und Superhirn selbst jetzt tausendmal an seine Erklärung glauben. Das, was geschehen war, war zutiefst unheimlich. Darüber kam Tati nicht hinweg... Madame Claire brachte eine neue Tasse. „Nun brauche ich nur noch ein Wort für mein Rätsel, dann ergibt sich das andere ganz von allein!“ „Na, woran knobeln Sie denn noch herum?“ fragte der dünne Junge ruhig, fast gemütlich. Er nahm die Tasse und goß sich Tee ein. „Was für Geld gibt's in der Mongolischen Volksrepublik?“ erkundigte sich die Wirtschafterin. „Gar keins!“ fuhr Prosper dazwischen, „In der Mongolei tauscht man Waren aus. Da macht man keine Geldgeschäfte!“ Alle beobachteten nun Superhirn. Würde er wieder schweigen wie zu Anfang? Würde er Prosper recht geben und sich eingestehen müssen, daß der andere schneller gewesen war? Oder würde er sofort die richtige Antwort wissen?
„Wie jedem bekannt ist“, sagte Superhirn, „besteht der amerikanische Dollar aus 100 Cents, der französische Franc aus 100 Centimes und die Deutsche Mark aus 100 Pfennigen.“ Er trank einen Schluck und beendete den Satz: „... in der Mongolischen Volksrepublik zahlt man mit Tugrik und Mongo.“ „Sind das Schafe und Ziegen?“ rief Micha. „Unsinn. Geld! Ein Tugrik hat 100 Mongo!“ „Werd sehen, was paßt!“ Madame Claire verschwand. „Tugrik und Mongo!“ Prosper rieb sich heftig seine lange Nase. „Ich radle morgen zur nächsten Bank und erkundige mich.“ „Da würdest du dich aber hübsch blamieren!“ Tati lachte auf einmal. Superhirn blieb Superhirn. Das Unheimliche war weggewischt. Nur die enorme Gescheitheit und das verblüffende Wissen waren da, also gerade das, was das „Normale“ an dem jungen ausmachte. Aber sie erinnerte sich, daß der väterliche Freund der Gefährten, Professor Charivari, ihr einmal eine Intelligenzaufgabe gestellt hatte. Von der konnte Superhirn nichts wissen, denn er war zu dieser Zeit unendlich weit von ihnen entfernt gewesen. Rasch nahm sie ihren Kugelschreiber und setzte zwei Zahlenreihen auf ein Blatt ihres Briefblocks: 335577 244668 „Was fällt dir daran auf?“ „Sehr viel“, lachte Superhirn. „In der oberen Reihe sind von den sechs Zahlen drei doppelt: Die 3, die 5, die 7. In der unteren ist nur die 4 und die 6 doppelt. 2 und 8 haben in keiner Reihe eine Wiederholung.“ „Sieht jedes Kind auf den ersten Blick“, behauptete Micha. „Na, ich weiß nicht“, murmelte Gérard. „Möchte sogar wetten, in diesen. Zahlenreihen stecken viele Teufelshörner.“ Kopf an Kopf beugten sich alle über das Blatt. 335577 244668 „Gérard hat recht“, nickte Superhirn. „Zähl mal immer zwei Zahlen der beiden Reihen zusammen.“ Er drehte das Blatt um und nahm Tatis Kugelschreiber: „3 + 3 = 6, 5 + 5 = 10, 7 + 7 = 14, das heißt, von jedem Ergebnis zum nächsten ist die Differenz eine 4.“ „6, 10, 14.“ Prosper rieb sich wieder heftig die Nase. „Stimmt.“ „Mit der unteren Reihe ist's genauso“, erklärte Superhirn. „2 + 4 = 6, 4 + 6 = 10, 6 + 8 = 14.“ „Aber wie siehst du das so schnell?“ rief Micha, „Ich sehe noch mehr“, lächelte Superhirn. „Zähl mal die Ziffern von links nach rechts, jeweils zwei von oben und unten zusammen.“ Er schrieb auf den Zettel in Sauseschrift:
3 3 5 5 7 7 +=5 +=7 +=9 += 11 +=13 +=15 2 4 4 6 6 8 „Die Ergebnisse differieren stets um 2, also laufend zwischen 5, 7, 9, 11, 13, 15. Und rechnet man
die Zahlen beider Reihen zusammen, so lautet das Resultat für oben und unten übereinstimmend 30.“ Er warf den Kugelschreiber auf den Tisch: „Seht zu, was ihr sonst noch rauskriegt!“ Tati sah Superhirn an, als wollte sie sagen: Ich zweifle jetzt jedenfalls nicht mehr daran, daß du wieder auf Draht bist! Keine Spur von Erschöpfung! Hm ... vielleicht bist du wirklich nur gestolpert! Es war gut, daß Superhirn sich nicht noch einmal dem Kaminsims näherte, auf dem eine überzählige Schachfigur stand. Er hätte sonst wohl doch begriffen, daß sich die Gefährten bereits mitten in einem Abenteuer befanden. Einem welterschütternden Abenteuer, zu dessen Bewältigung nicht mal die UNO imstande gewesen wäre. Die kurze Ohnmacht hatte Superhirn die Schachfigur auf dem Sims vergessen lassen. 3. Komische Figuren Die Geschwister und ihre Freunde wollten noch nicht schlafen gehen. Es war erst 20.30 Uhr. An einem klaren Abend hätte man sogar noch im Freien lesen können. Die Schlechtwetterwolken und dichter Regen machten die hohen Fenster dunkel. Es blitzte und donnerte noch in der Ferne. Ein Grund mehr, in gemütlicher Kaminnähe und im Billardraum zu bleiben. In den Schlafräumen, dicht unterm Dach, hätten sich zumindest Tati und Micha nicht wohl gefühlt. Überdies hatte man ja Ferien. Tati schrieb weiter. Micha seufzte. „Wenn das Wetter so bleibt, fällt das Volksfest morgen ins Wasser.“ Er ging mit Prosper in das Billardzimmer. Gérard und Henri lümmelten sich wieder auf dem Teppich zu beiden „Fronten“ ihrer Schachpartie. Superhirn saß wieder frisch und munter auf dem Tigerfell. Er beobachtete die beiden Schachspieler. Er dachte nicht im geringsten mehr daran, was ihn vorhin zu Boden geworfen hatte. Die Schachfiguren fand er ulkig. Er wußte, es gab welche aus billigem, roh geschnitztem Holz, einfach weiß und schwarz gebeizt kostbare, üppig und kunstvoll gedrechselte Figuren aus seltenen Edelhölzern, Elfenbein und Horn, Figuren aus Silber und Gold, besetzt mit Juwelensplittern. Aus dem Besitz des letzten indischen Großfürsten hatte eine einzige „Schachkönigin“ auf einer Versteigerung in London einen ganzen Sack voller Geld erbracht. Sie bestand aus einem hellen Edelstein mit roter Edelsteinkrone. Natürlich gab es auch billiges Plastikzeug für den „Hausgebrauch“. Und - größer als Kegel - für das auf Fliesen in Kurparks, Seebädern und öffentlichen Freizeitplätzen. Hier aber war jede Schachfigur, ihrer Bedeutung entsprechend, genau zu erkennen, und zwar in der Art von winzigem Trapper-Cowboy - und Indianerspielzeug. Jede war hübsch bemalt, aber so, daß man sie nach ihren Parteien „Schwarz“ und „Weiß“ erkannte. Die „Schachspringer“ waren Pferdchen, die sich mit flatternder Mähne aufbäumten - tatsächlich sprungbereit. Zierliche Fächer hielten die „Schachdamen“. Die „Läufer“ hatten die Arme angewinkelt und ein Bein in der Luft, als liefen sie im Stehen. Auf den „Türmchen“ sah man winzige Wetterfahnen. Besonders lustig waren die „Bauern“ dieses Schachspiels. Sie steckten in schwarzen oder weißen Stiefeln (je nach Partei). Ihre hellblauen Anzüge zierten breite schwarze oder weiße Kragen. Sie hatten die Näschen in der Luft und eine Hand schützend über gekniffenen Augen an der Stirn: Na, ob das Wetter schlechter wird? schienen sie zu denken. Superhirn konnte verstehen, daß die Freunde sich gerade dieses Schachspiel und kein anderes, aus dem Nebenzimmer geholt hatten. „Woraus besteht dann das Brett?“ fragte er. „Die schwarzen und weißen Felder schimmern wie AluFolie! Kann man das knicken oder rollen?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern rief: „Henri! Was machst du denn da? Du schlägst ja eine deiner eigenen Figuren! Mensch, das geht nicht! Auch, wenn's vielleicht später einen Vorteil für dich bringt!“ „Ach“, brabbelte Henri. „Gérard ist hoffnungslos im Vorteil. Ich habe keine Chance. Wenn du übernehmen willst?“ „Soll mir recht sein“, sagte Gérard.
„Mir auch“, erklärte Superhirn. „Aber das mach ich von hier.“ Er überblickte die Positionen der „schwarzen“ Gegner und nannte die Bezeichnungen der Felder, wenn „Weiß“ am Zuge war. Henri zog für ihn die Figuren und Gérard war im Handumdrehen „matt“. „Das gibt's doch nicht!“ staunte Gérard. „Mensch, ich glaube, du kannst das sogar im Dunkeln.“ „Warum nicht?“ lachte Superhirn. Tati hob den Kopf. Sie hatte ihren Brief beendet. „Schluß jetzt!“ rief sie. „Hört auf, euch gegenseitig die Köpfe zu zerbrechen. Es ist schon viel zuviel geknobelt worden, heute abend.“ Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, denn unwillkürlich war ihr Superhirns „Sturz“ wieder eingefallen. „Schluß für heute. Sonst müssen wir den Rest der Ferien allesamt in die Klapsmühle. So. Ich führe Loulou noch mal vors Haus. Prosper und Micha sollen mit ihrem Billard aufhören. Bringt das Schachspiel nach nebenan!“ Micha hörte wohl auf. Er war zornrot über Prospers fortwährendes „Geklotze“, wie er es nannte. Sofort nahm Superhirn den Stock, den er richtig „das Kö“ nannte, zielte - und traf nach kurzer Winkelberechnung prompt mit dem „Spielball“ die beiden anderen Kugeln. Als Tati zurückkam, war eine heftige Partie zwischen Superhirn und Prosper im Gange. ,Also, das ist die Höhe“, japste sie. „Da peilt und zielt ihr ja wieder, daß euch der Rauch aus den Ohren kommt! Marsch, ins Bett. Der Pudel sitzt auf der Schwelle und will euch schon gar nicht mehr sehen!“ Die Gefährten knipsten die Lampen aus und gingen in ihre Mansardenzimmer. Loulou, der vor Tatis und Michas Zimmer in seinem Körbchen lag, winselte und schniefte angstvoll die ganze Nacht hindurch ... Das arme Tier wußte nicht, was es bedrückte. Und Superhirn hatte durch seine kurze, aber abgrundtiefe Ohnmacht die überzählige Schachfigur auf dem Kaminsims vergessen: „einen Bauern“, von dem etwas Furchtbares ausgegangen war! 4. Tolles Fest! Aber auf einem Volksfest - was da auch immer Erstaunliches geschah - sollte alles, aber auch alles, mit rechten Dingen zugehen. Am darauffolgenden Morgen war es noch ein bißchen kühl. Aber der Regen hatte aufgehört. Hell schien die Sonne zwischen vereinzelten Wolken auf das Schloß und die Bucht von Monton. Das schwarze Lotsenschiff verließ zur Feier des Tages ausnahmsweise seinen „Dienstplatz“ vor der Küste, näherte sich den Molen und leitete mit einem Böllerschuß aus seiner Signalkanone die Feier ein. Vergessen war der vom Unwetter zerstörte Obstbaum in Madame Claires Küchengarten, vergessen auch Superhirns rätselhafter Zusammenbruch (den er selber kaum vermerkt und nur mit einem „Stolpern“ hatte erklären können). Tatis dunkle Gefühle waren verflogen. Sie dachte: Die schwüle Gewitterluft - und später das Blitzen und Donnern haben uns zugesetzt. Wir waren alle überreizt. Wetterfühligkeit ist wahrscheinlich doch etwas Ärgeres, als manche Leute denken. Im kleinen Ort, eigentlich nur einer hufeisenförmigen Kante zwischen Hafen und Steilhängen, schoben sich Henri, Gérard, Prosper, Superhirn, Tati und Micha mit ihrem Zwergpudel durch das Gedränge. Loulou war wieder munter. Er hopste und bellte so lustig, als hätte er nicht noch vor Stunden eine Todesangst vor etwas Unbestimmbarem gehabt. Die Glocken der Hafenkirche läuteten. Vor dem kleinen Rathaus stand eine Tribüne. Von seinem Platz aus hielt der Bürgermeister eine Rede, wobei er seinen Hut schwenkte, als wollte er Schmetterlinge einfangen. „Fünfhundert Jahre Monton!“ rief er triumphierend ins Mikrofon. Die Fischer, Bauern, Steinbrucharbeiter, Beamten, Ladenbesitzer, alle Bürger von Monton mit ihren Kindern, die Touristen und Besucher aus den Nachbarorten - alle jubelten und klatschten. Denn die „Fünfhundert Jahre“, die sowieso keiner ernst nahm, bedeuteten billigen Wein, Bonbonregen, Bratfisch,
Preisschießen, Platzkonzert der Feuerwehr, Tanz, ach, und noch alles mögliche. „Wir wollen feiern!“ rief der Bürgermeister. Wieder schrien die Leute freudig auf. Solange sie im Chor das verheißungsvolle Wort „feiern“ wiederholten, dröhnte und röhrte die Kapelle mit all ihren Pauken, Trommeln und Trompeten. „Unser Völkchen von Monton“, hob der Bürgermeister wieder an, „arbeitet hart. Aber es ist ein fröhliches Volk. Und wie klein Monton auch sein mag - es steht, dessen bin ich sicher, unter einem Glücksstern.“ Das war „blumig“ gesagt. Aber woher sollte der Bürgermeister wissen, daß er ausgerechnet den falschen, gegenteiligen Vergleich gebraucht hatte! „Stern“ war wohl richtig. Doch „Glücksstern“ stimmte keinesfalls. Wenn einer von einem „Stern über Monton“ hätte ernsthaft sprechen wollen, so hätte er das Wort „Unstern“ oder „Unglücksstern“ benutzen müssen. Und dieser jemand müßte den Arm ausgereckt zum Steilhang, auf das kleine Schloß gedeutet haben: „Da ist der Unstern der Vernichtung! Der Vernichtung Montons, der Vernichtung der ganzen Menschheit! Ha, aber was heißt hier Stern oder Unglücksstern? Ist die Hölle ein Licht am Himmel? Nein, das Verhängnis dringt aus dem Trüben, durch Dunkelheit, Schwefel, feurige Ströme! Es kommt aus dem Erdreich! Sein Vorbote ist schon da! Er ist im Schloß! Dort, wo Superhirn, Gérard, Prosper und die drei Geschwister ihr Ferienquartier haben!“ Na, was hätte das genützt? Nichts. Viele Leute wären in panischer Furcht nach Hause gelaufen, die Abergläubischen voran. Andere hätten gedacht, der Bürgermeister wäre schon vor dem Fest „ins Weinfaß gefallen“. Die Touristen hätten die Köpfe geschüttelt und gemeint: Ein komisches Nest! Ein verrückter Bürgermeister! Eröffnet ein Volksfest und schnappt vor lauter Eifer gleich über! Und Superhirn, Henri, Tati und die anderen? Sie hätten das Schloß und den Park durchsucht und nichts mehr gefunden. Tati und Micha schleckten Eis, die Jungen aßen leckere Bratfische, und Loulou bekam zur Feier des Tages einen großen Waffelkeks. Dann fuhren sie mit dem Lift am Nordosthang hoch, zur alten Seewarte. Hier parkten Autos aus der ganzen Umgebung, denn auf dem flachen Gelände, auf dem gelegentlich Sport- und Seenotflugzeuge landeten, sollte ein Fesselballon steigen. Die Gefährten hatten riesiges Glück. Der Ballonführer, Herr Berry, war ein Vetter von Madame Claire. Er lud die ganze Bande ein, den Aufstieg mitzumachen. So kletterten mit Loulou auch seine Freunde „ins Körbchen“, den Korb zur Aufnahme der Passagiere. Dieser offene Behälter war allerdings ziemlich groß, denn es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen, runden Freiballon, der vom Wind über Felder und Dörfer getrieben wird, sondern um einen Parsevaldrachenballon. Das Gebilde mit dem Auftriebsgas, dem Luftbehälter und dem „Steuer“ glich eher einer gewaltigen, prallen Wurst. Das „Steuer“ diente nur dazu, dem mit dem Boden verankerten „Wurstballon“ durch Drehung gegen den Wind eine ruhige Lage zu verschaffen. Das „gefesselte“ Ballon-Luftschiff hieß „Toulon II“ und diente sonst der Beobachtung von Seeschiffen im Küstenbereich. Heute war er für einen großen Bonbonregen ausgeborgt worden. Er schwebte nun zweihundert Meter über dem Volksfest. Herr Berry und seine jungen Passagiere hätten hundert Hände und Tausende von Bonbons haben müssen, um die Kinder unten auf dem Volksfest zufriedenzustellen ... Eifrig warfen sie die eingewickelten Dinger über Bord, sahen, wie Gestalten hurtig umherliefen und sich bückten. Die Triumph- und Enttäuschungsschreie hörte man recht deutlich. Loulou, der nicht wußte, was das alles zu bedeuten hatte (er konnte ja nicht über den Korbrand lugen), bellte aufgeregt. Gérard war wütend. „Nun seht euch das da unten an!“ rief er. „Da wirft und wirft und wirft man Bonbons! Und wer stürzt sich am wildesten darauf?“ „Die Erwachsenen“, sagte Tati. „Man mü ... mü ... müßte ihnen Knallerbsen auf die Köpfe schmeißen!“ fauchte Prosper.
Micha meinte: „Wir werfen keine Bonbons mehr runter. Wenn wir wieder unten sind, verteilen wir sie an die Kinder ganz gerecht!“ Herr Berry lachte. „Das wär aber kein Bonbonregen mehr! Der Spaß besteht doch gerade darin, daß der Segen von oben kommt, nämlich aus dem Ballonkorb! Und manche müssen sogar leer ausgehen, wie bei der Lotterie. Sonst wär's doch schrecklich langweilig! Ja, ja. Auch in den Erwachsenen steckt ein kindlicher Jagd- und Besitztrieb, der besonders bei Umsonst-Veranstaltungen plötzlich erwacht. Dazu bedarf es keines Gold- oder Silberregens, da genügen lumpige Bonbons. Das muß man schon so hinnehmen!“ Er blickte auf die Möwen, die in immer größeren Scharen den Ballon umkreisten. Sie hatten bemerkt, daß da etwas geworfen wurde, und aufgeregt kreischend versuchten sie zu ergründen, was das war. Aber allein die Bonbonpapiere verhießen ihnen nichts Besonderes für ihre Schnäbel und Mägen. Sie schnappten erstaunlicherweise nicht einmal danach, und bald verzogen sie sich wieder hinunter zum Hafen, wo es Fischgrills, Brot- und Käsebuden und andere Verkaufsstände für Eßbares gab. „Die haben einen Spürsinn für ihre Nahrung!“ staunte Henri. „Und eine Beobachtungsfähigkeit, die jeden Nachrichtendienst blamiert“, fügte Superhirn hinzu. „Sogenannte echte Möwen- nicht das Möwchen, das eine Haustaube ist - sind Raubvögel. Auf See können sie sogar erschöpften Schiffbrüchigen gefährlich werden. „Danke“, sagte Tati. „He, Micha! Stopf dir nicht so viele Bonbons in die Taschen. Was sollen die Kinder denken, wenn wir wieder landen...“ Am Nachmittag beteiligte sich Henri am Tontaubenschießen, Tati bummelte mit Loulou über den „Flohmarkt“, wo es von Sicherheitsnadeln über Taschenspiegel, Kugelschreiber, Töpfe, Hosenträger, Modegürtel, alte Sofas und einzelne Stühle bis zum reifenlosen Auto buchstäblich alles (jedenfalls die verwunderlichsten Dinge) gab. Micha hockte erst zwischen quietschenden Kindern vor dem Marionettentheater, bis er zur Geisterbahn ging. Prosper sah den Wettanglern am Südbollwerk zu, und Gérard machte den Rasenplatz beim stillgelegten Werkbahnhof unsicher. Dort wurde noch für das morgige Fußball-Freundschaftsspiel zwischen der Jugendmannschaft von Monton gegen die des Nachbarortes Segerac trainiert. Superhirn aber interessierte etwas anderes. Der Bürgermeister von Monton, Herr Ney, spielte vor den Tribünen beim Rathaus öffentlich Schach gegen den Lehrer Colinou. Dazu benutzten sie große, hohle Kunststoff-Figuren, die ihnen bis zum Bauch gingen, aber sehr leicht anzuheben waren. Dieses Gartenschach hatten sie gewählt, damit Neugierige jeden Zug und Schlag genau beobachten konnten. Als „Spielfeld“ dienten zweifarbige Gartenfliesen, die man entsprechend zusammengesetzt hatte. Die Umstehenden wetteten, wer gewinnen würde. Zwar war der Bürgermeister von Monton gleichzeitig Schachmeister, aber der Lehrer hatte sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, ihm diesen Titel abzunehmen. Das erkannte man an seinem verbissenen Gesicht. „Herr Colinou verliert“, meinte ein dicker Mann, indem er sich den Schweiß von der Glatze wischte. Eben tat der Bürgermeister einen Zug und bewegte eine seiner Figuren auf ein anderes Feld. „Hab ich's nicht gesagt?“ rief der dicke Zuschauer. Im Eifer stieß er Superhirn an. „Der Lehrer ist geliefert!“ „Nur, wenn er jetzt den entscheidenden Fehler macht“, erwiderte Superhirn. „Wenn nicht, bricht die Stellung des Gegners zusammen.“ Der Lehrer blickte erstaunt auf die Umstehenden. „Welchen entscheidenden Fehler sollte ich denn machen?“ fragte er ärgerlich. „Und wieso könnte er mich schlagen?“ rief der Bürgermeister. Beide Spieler waren ziemlich ratlos. Sie wendeten die Köpfe hin und her und prüften ihre Chancen. Dann sahen sie sich an. „Na, Junge!“ lachte schließlich der Bürgermeister. „Vielleicht zeigst du uns mal, wie du meine Stellung knacken kannst!“ „Ihrem weißen König ist jede Flucht abgeschnitten, obwohl er scheinbar unangreifbar verteidigt ist“,
erklärte Superhirn ruhig. „Hilft Ihnen dieser kleine Hinweis?“ Tatsächlich staunte der Lehrer nach einer Weile. „Das hab ich noch nicht so überschaut, und ich hätte mich beim nächsten Zug um alle Vorteile gebracht. Aber nun ist die Partie natürlich ungültig, weil der Junge reingeredet hat!“ „Er kann ja mal gegen mich spielen!“ rief der Bürgermeister. „Komm, komm!“ Mit dröhnendem Gelächter stellte er die Figuren zurecht, wobei ihm der Lehrer half. Dem Bürgermeister verging das Lachen. Sehr schnell hatte Superhirn das wichtigste Ziel einer Schachpartie erreicht, nämlich den gegnerischen König „im Griff“, also „im Schach“ zu halten. Der Bürgermeister fand kein Feld mehr, um seinen König aus dem Schach wieder herauszuziehen“, weil er, wohin er ihn auch setzen wollte, immer durch Superhirns „Schachgebot“ seitens einer anderen Figur bedroht wurde. Die Umstehenden klatschten Beifall. Der Bürgermeister machte Stielaugen und überließ das nächste Spiel dem Lehrer. Aber auch den schlug Superhirn. Er lächelte. „Das kann ja mal vorkommen.“ Und er wandte sich den nächsten Gegnern zu. Als der Flohmarkt abgebaut wurde, um einer überdachten Tanzfläche Platz zu machen, hatte Superhirn vier weitere, geübte Schachspieler überlegen geschlagen: den Pfarrer, den Hafenkapitän, einen deutschen Touristen, von Beruf Rechtsanwalt, und den Polizeichef von Monton. Tati und Micha waren mit Loulou bei den Fischhallen Autoscooter und Gondelrad gefahren, Henri hatte zuletzt den Abtransport des Fesselballons beobachtet, und Gérard war es gelungen, als Reservespieler in die Jugend-Fußballmannschaft von Monton aufgenommen zu werden. Eine Aussage, die aus allen Lautsprechern über Hafenränder und Bucht dröhnte und von den Steilhängen widerhallte, ließ sie allesamt zu den Tribünen drängen. „Wer spielt gegen Marcel, den Schach-Wunderknaben?“ rief ein Mann vom Festkomitee. „Er hat den Schachmeister von Monton entthront und alle erwachsenen Spieler geschlagen! Anmeldungen für morgen erbeten!“ Superhirn war der Held des Tages. Als das goldene und silberne, blaue und violette Feuerwerk mit Pfeif- und Knalleffekten über der alten Bastion landeinwärts zum Abendhimmel emporschoß, zickzackte, perlte, vielfarbige Riesensträuße bildete oder sich springbrunnenhaft verbreitete - da war es, als feierte man Superhirns Sieg. Tati gabelte im Gedränge Madame Claire auf und ging mit ihr ins Tanzzelt. Die Jungen aßen noch ein paar Leckerbissen an einer Bude, wobei auch für den Pudel gesorgt wurde. Dann traten sie den Rückweg an. Tati und Madame Claire würden schon rechtzeitig mit dem Gärtnerpaar folgen. Unterwegs lachte Micha: „Also ist Superhirn jetzt Schachmeister von Monton! Warum wird er dann nicht auch gleich Bürgermeister?“ „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, erwiderte Superhirn ernsthaft. „Es hat bestimmt schon Schachweltmeister gegeben, die für ein Bürgermeisteramt zu zerstreut gewesen wären.“ „Na, ich weiß nicht“, meinte Micha. „Ich verstehe ja auch überhaupt nichts vom Schach. Ich kann keinen König von 'ner Dame unterscheiden. Und die Spielregeln könnte ich niemals lernen.“ In dieser Nacht heulte der Pudel nicht. Er war satt und müde, und der Tag mit seinen Eindrücken hatte ihn genauso abgelenkt wie die Geschwister und ihre Freunde. Ins Kaminzimmer des Schlosses ging keiner mehr. Trotzdem sollten die vertrackten Schachspiele, die mit den winzigen Figürchen im Salon -und die mit den großen auf dem Volksfest-, ein grauenvolles Nachspiel haben. Superhirn war schon selber im Schachmatt einer Gewalt, die der ganzen Erdbevölkerung unbekannt war. Unauffällig zwischen den vielen Gegenständen auf dem Kaminsims, ja, sogar für Madame Claire wie eine festgefügte Verzierung, stand die unheilvolle, überzählige Schachfigur: Der Bauer mit der Hand über den Augen und dem hochgereckten Gesicht - wie angeschmiedet oder in den Sims eingefügt. Und es strahlte jetzt nichts mehr von ihm aus. Doch das sollte nicht so bleiben.
5. Gérards Fußballtag Am folgenden Tag, der so schrecklich enden sollte, gab es für Gérard eine freudige Überraschung: Herr Limmat rief in der Villa Monton an. Herr Limmat war der Trainer der JugendFußballmannschaft: Er teilte Gérard mit, sein Linksaußen sei über irgend etwas verärgert, und er, Gérard, dürfe für ihn einspringen. Auch Micha war so begeistert, daß er deckenhoch sprang - und mit ihm Loulou. Obwohl doch der dumme Pudel gar nicht wußte, worum es eigentlich ging. Der Gärtner fuhr die Gefährten samt Hund in seinem klapprigen, offenen Geräte-Auto schleunigst hinunter. Es war Eile nötig. Die gegnerische Mannschaft war schon in ihrer Baracke am Platz. An beiden Seiten des Spielfeldes hatte man Bretterbänke aufgestellt. Auf einem rostigen Signalmast der stillgelegten Eisenbahnanlage hockte ein Junge mit einem Mikrofon. Der Kampfverlauf sollte durch Lautsprecher in jeden Winkel der kleinen Stadt und des Hafens übertragen werden. Zuschauer, Kinder und Jugendliche, viele mit ihren Vätern - schrien aufgeregt durcheinander. Manche drehten Handrasseln, andere bliesen in komische Tuten. Es hörte sich wie Schafsgeblöke an. Mit der gegnerischen Mannschaft waren auch Schlachtenbummler aus Segerac gekommen. Beide Zuschauerpartelen erkannte man nicht nur an ihren Ausrufen, sondern auch an kleinen Fähnchen, die die Farben der Orte Monton oder Segerac trugen. Gérard trabte in die Monton-Baracke zum Trainer Limmat und dessen Elf, wo er seinen Dreß - und natürlich noch einige Anweisungen - verpaßt kriegen sollte. „Wie wir erfahren“, hallte die Stimme des Jugendreporters durch den Lautsprecher am Spielfeld, „hat Segerac seinen Bomber mitgebracht, Pascal Didier. Damit hatte Monton nicht gerechnet, denn gestern abend hieß es noch, dieser spielwütige Napoleon sei verreist. Seine Beteiligung vermindert die Chancen Montons beträchtlich.“ „Napoleon?“ fragte Micha verwundert. Er saß, mit dem Pudel auf dem Schoß, in der ersten Reihe zwischen Prosper, Tati, Henri und Superhirn. „Na, das ist der Bomber, eine Spielkanone - hast du doch gehört!“ belehrte ihn Henri. „Napoleon ist bestimmt deshalb sein Spitzname, weil er ein Draufgänger ist.“ Die Ungeduld erreichte den Höhepunkt. Im Chor brüllten die Zuschauer: „Anfangen ... anfangen ... anfangen ... !!!“ „Also, ich weiß nicht“, meinte Tati. „Ich versteh überhaupt nicht, warum die so außer Rand und Band sind. Eigentlich bin ich nur wegen Gérard mitgekommen. Dieses Gebolze mit dem blöden Ball reizt mich wenig.“ „Na, hör mal!“ verwahrte sich Prosper. Eifrig fuchtelnd setzte er Tati auseinander, daß Fußball eine große Kunst sei. „Wenn's gute, aufeinander abgestimmte Spieler sind, die auf eine gleichwertige Gegenmannschaft stoßen, ja!“ nickte Henri. „Wenn man die Regeln nicht kennt und nicht weiß, was die markierten Linien auf der Spielfläche bedeuten, versteht man allerdings recht wenig.“ „Dann begreift man höchstens, was ein Tor ist!“ rief Micha verächtlich. Und er ließ auf seine arme Schwester Begriffe einprasseln, wie: Pfosten, Latte, Torraum, Torlinie, Eckball, Strafraum, Abseits, Mittellinie, Mannschaft, Mittelstürmer, Libero, Verteidiger ... „Aber ich weiß nie, woran ich erkenne, was ein Stürmer und was ein Läufer ist“, unterbrach Tati. Und sie erinnerte sich wieder an das Schach: Beim Schachspiel merkt man sogar im Dunkeln, ob man einen Springer oder einen Läufer in der Hand hat. Superhirn lachte still in sich hinein. „Na ja“, fuhr Tati fort. „Wie kann sich Fußball mit Schachspiel messen. Außer daß beide Kampfspiele sind. Schach gilt als das Spiel der Könige. Fußball ist nur groß in Mode.“ Jetzt geriet Prosper vor Aufregung ins Stottern: „Hast du noch nie von Au-Au-Ausgrabungen gehört?“ „Jedenfalls noch nie was davon, daß Archäologen einen Fußball ausgebuddelt hätten. Uralte, verschüttete Städte mit kostbaren Hausgeräten und Schmuckstücken, ja. Sogar Wikingerschiffe holt man vom Meeresboden rauf. Fußbälle kauft man im Sportgeschäft.“
„Irr-Irr-Irrtum!“ fauchte Prosper. „Auf Reliefs der ollen Römer kannst du schon Fußballer sehen! Geh mal in so´n Museum!“ „Stimmt das, Superhirn?“ fragte Tati verblüfft. „Hm. Wenn ich mich nicht irre, fand man sogar altägyptische Darstellungen vom Fußballspiel. Und bevor Kolumbus Amerika entdeckt hatte, kickte man in Florenz. Hundert Jahre später, aber so ganz genau weiß ich das nicht, gab es die ersten Spielregeln“, murmelte Superhirn. Henri wußte noch mehr: „In England traten Mannschaften schon im dreizehnten Jahrhundert gegeneinander an. Das ist sogar schriftlich erhalten!“ „Aber nicht mit der Schreibmaschine“, lachte Tati. „Und wie ging das weiter, Superhirn?“ Superhirn zuckte die Achseln. Da er niemals Lust gehabt hatte, einen Fußball etwa an seinen empfindlichen Kopf - womöglich auf die Brille - geschmettert zu kriegen, waren ihm Herkunft und Entwicklung dieses Spiels nicht so wichtig. Tati atmete auf. Sie lachte. „Endlich mal etwas, das Superhirn nicht weiß! Kinder, dafür gibt's heute Kuchen!“ „Na, und wenn du denkst, Fußball wäre auf dem Schulweg erfunden worden, mit 'ner getrullerten Konservenbüchse, bist du auf der falschen Hochzeit, Tati“, grinste ihr Bruder. „Obwohl es was mit Schule zu tun hat - sogar mit, mehreren: piekfeinen, zum Beispiel Eion und Harrow in England. Da haben sie Fußball als Freizeitgestaltung neu entdeckt. Denke mal: Noch bevor es eine Eisenbahn gab!“ „Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr“, staunte Tati. Bevor sie noch etwas sagen konnte, verstärkte sich das Zuschauergebrüll. Von beiden Seiten trabten die Jugendmannschaften auf das Feld: Von links kam die Monton-Elf im grünen Dreß, von rechts die aus Segerac in Gelb. Gérard sah in seiner Hemdbluse, seiner kurzen Hose und den Strümpfen an den drallen Beinen sehr komisch aus. Und sein Kopf war fast so rund wie der Fußball, den der Schiedsrichter in der Hand hielt. „Hoffentlich hat man ihm passende Fußballschuhe gegeben“, brummte Henri besorgt. „Die sind wichtig! Spezialschuhe mit Knöchelschutz, besonderen Kappen und genau vorgeschriebenen Sohlen!“ Tati hatte Gérard immer für ein Trampeltier gehalten, und sie zog ihn gern damit auf: „Wo du hintrittst, wächst kein Gras mehr!“ Aber als das Spiel im Gange war, wunderte sie sich doch: Wie er flitzte und federte! „Die Gäste...“, so wurden die Gegner aus Segerac vom schreienden Reporter genannt, „... retten sich in den Angriff! Irgend etwas macht sie nervös! Wahrscheinlich, weil sie auf einem fremden Platz spielen! Sie ergreifen die Flucht nach vorn! Kommen dem Tor gefährlich nahe! Da ... da ... der Bomber Napoleon! Erwischt er den Ball?“ Man sah den stiernackigen Spieler aus Segerac herumfliegen. „Schuß! Tor!“ Aber Napoleon hatte über die Latte hinweggekickt. Enttäuschungsschrei auf seiten der gegnerischen Schlachtenbummler, Jubel bei den Zuschauern aus Monton. „Wieder Napoleon! Herrlicher Schuß aus der Drehung!“ schrie der Reporter ins Mikrofon. „Leider noch mal über das Tor!“ Hohngebrüll des einheimischen Publikums. Micha sprang auf die Bank. Der Pudel sauste zu Boden und überschlug sich kläffend. Tati hielt sich die Ohren zu. Prosper klatschte fortwährend die Hände über dem Kopf zusammen, Henri rief durch die hohlen Hände: „Gérard ... Gérard ... Gérard ...“ Superhirn grinste nur. Aber er beobachtete die Spieltechnik der beiden Parteien höchst aufmerksam. Das eine begriff er besser als jeder andere Zuschauer, nämlich das, was mit Entfernungsberechnung, Winkelzuspielung und jeder Art von Kalkulation zusammenhing. Schneller als der Reporter hatte er heraus, daß die Mannschaft von Monton besser aufeinander „eingespielt“ war - obwohl die Gegenseite über den „Bomber Napoleon“ verfügte und die Jungen von Monton Gérard als Fremden in ihren Reihen hatten.
„Jemand aus Segerac hat mit seinen Dribblings kein Glück!“ schrie der Junge ins Mikrofon. „Die Spieler werden immer nervöser! Monton dagegen hält zwei starke Leute hinter dem Kampfgeschehen! Und da ... da . . . der Ersatzspieler Gérard ist zur Stelle. Schuß ... Schuß ... !!!“ „Tooor!!!“ quietschte Micha. Sein Schrei ging im Freudengeheul auf der einen - und im Enttäuschungsgeheul der anderen Seite unter. Aber nun gab es eine furchtbare Aufregung. Was tat der Schiedsrichter? Er ließ die Spieler nicht in ihren jeweiligen Spielplatzhälften antreten, wie es nach einem Torschuß üblich ist. Statt dessen ging er zum Tor der Segeracer Mannschaft, prüfte, fragte, ließ sich von den erregt fuchtelnden „Kämpfern“ etwas erklären, das er nicht gesehen hatte!!! Wohl war es richtig: Gérard war unvermutet schnell gewesen, sein Ball war wie ein Pistolenschuß ins gegnerische Tor gesaust. Der Torwart hatte sich im Reflex längelangs zurückgeworfen und den Ball erwischt, jedoch zu spät - und bereits hinter der Torlinie! „Es scheint, als will der Schiedsrichter den Schuß nicht anerkennen“, übertönte der Lautsprecher das Pfeifen, Tuten und Schimpfen des Publikums. „Es war ein Parade-Tor! Der Ball ist ganz glatt über die Torlinie unter der Querlatte und zwischen den Pfosten hindurchgegangen! Genau, ganz genau nach der Regel!“ „Unglaublich“, erboste sich Henri. „Die Schiedsrichter kommen mit dem modernen, schnellen Fußballspiel einfach nicht mehr mit! Oft sind sie bei Elfmeter-Entscheidungen gar nicht auf Ballhöhe!“ „Aber wozu gibt's die Li-Li-Linienrichter ... ?“ schrie Prosper. „Wozu haben sie ihre Fähnchen? Damit sie winken! Und nicht, damit sie einen schönen Eindruck machen!“ Was Prosper sagte, war eine Tatsache: Das Fußballspiel wird immer „rasanter“, immer perfekter. Der eine, einzige Schiedsrichter, dessen Entscheidung sich die Parteien zu beugen haben, ist der unerhört ausgebauten Technik und Taktik oft nicht mehr gewachsen. Linienrichter sollen ihm helfen, aber sie können ihre Beobachtung mitteilen, ohne daß sie der Schiedsrichter sich zu eigen machen muß. Es gibt wahrhaftig noch so selbstherrliche Schiedsrichter, die die Linienrichter in unklaren Fällen nicht einmal fragen! Schließlich wurde das Tor aber doch anerkannt. Die Leute aus Monton schwenkten die Fähnchen. Und alle Freunde, auch Tati, schrien im Chor: „Gérard ... Gérard ... Gérard ... !“ Dann gab es sogar noch ein „Eigentor“ durch einen Querpaß von „Bomber Napoleon“. Zweimal zwanzig Minuten dauert ein Jugendspiel (das der Erwachsenen zweimal fünfundvierzig Minuten). Bei Spielunterbrechungen kann die verlorene Zeit noch extra zugegeben werden. Zuletzt stand es 4:3 für Monton. Das letzte, entscheidende Tor hatte Gérard geschossen. Er war der Held des Platzes - und schwitzend wie eine Bratkartoffel in der Pfanne - mußte er vielen kleineren Zuschauern Autogramme geben. ' „Mensch, warst du prima“, beglückwünschte ihn Henri. Prosper kickte vor Begeisterung mit den dünnen Beinen nach unsichtbaren Fußbällen, Micha und Loulou sprangen um ihn herum - und Tati gab ihm sogar einen Kuß auf die breite Stirn. „Wenn ich auch nichts von Fußball verstehe“, lachte sie. „Aber eins ist mir doch aufgefallen: Du bist ganz große Klasse!“ Gérard schielte zu -Superhirn. Superhirn lächelte: „Bin durchaus Tatis Meinung! Am erstaunlichsten finde ich, daß du dich ohne Vorbereitung so glänzend auf die eigene und auf die gegnerische Mannschaft eingestellt hast!“ „Womit du den Nagel wieder mal auf den Kopf triffst!“ grinste Gérard stolz. Der „Sieger“ wurde von Herrn Limmat und der Mannschaft zu einer kleinen Feier eingeladen. Tati und die Jungen gingen in den Ort, um etwas zu essen. Sie schwatzten die ganze Zeit über das Spiel, und der Pudel hopste so freudig, als hätte er das letzte Tor erzielt. Am frühen Nachmittag trennten sich die Wege der Freunde. Tati wollte mit Micha zum Ponyreiten, Prosper schnappte sich den Hund und machte mit ihm einen Erkundungsgang durch die Felsgrotten
von 4 Monton. Das eigentliche Fest begann erst jetzt. Die meisten Einwohner hatten ja vormittags arbeiten müssen. Superhirn ging zum Bürgermeisteramt, denn dort wurde er zum Schachspielen erwartet. Er war erstaunt, als ihn ein Polizist in den Ratssaal hineinführte. Man wollte ihn doch nicht etwa verhaften, weil er den Bürgermeister und den Polizeichef gestern besiegt hatte? 6. Ein Großmeister wird klein Superhirn wurde nicht festgenommen oder verhört oder ins Ortsgefängnis abgeführt. Gedämpftes, keineswegs unfreundliches Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Der Ratssaal war rammelvoll. Kaum konnte man den mit grünem Filz bedeckten Tisch übersehen. Auf einer Klappleiter stand der Stadtfotograf vor der altmodisch hohen Fensterfront. Trotz des hellen Sommernachmittags brannte der riesige Kronleuchter. Außerdem hatte man Lampen an Kabelgerüsten in die Ecken gestellt. Männer in Arbeitshemden liefen zwischen Ratssaal und Nebenräumen hin und her. Sie riefen sich technische Ausdrücke zu, aus denen hervorging, daß sie vom Fernsehen waren. „Unser Gast“, grinste der Polizist, Superhirn durch die Reihen der Erwachsenen geleitend. Ein paar Leute, klatschten. Dann war es plötzlich atemberaubend still. Wie durch einen Schleier erkannte Superhirn den Bürgermeister, den Lehrer, den Pfarrer, sogar den deutschen Rechtsanwalt, alle, die er gestern im Schach auf eine für sie so verblüffende Weise geschlagen hatte; auch den Hafenkapitän und den Chef der Polizei. Doch ihre Blicke waren nicht ärgerlich, sondern eher wohlwollend, auf alle Fälle jedoch gespannt. Überhaupt lag „knisternde“ Erwartung über dem langen Tisch unter dem hellen Kronleuchter. Unverhohlene Neugier ging von den Frauen und Männern des Festkomitees aus, ebenso von allen anderen, die die Schachleidenschaft hierhergetrieben hatte - und die nun froh waren, noch Einlaß gefunden zu haben. Die Leistungen des flachshaarigen, spindeldürren Jungen hatten sich mit geheimnisvoller Schnelligkeit herumgesprochen. Zudem war ja von der Festleitung die Aufforderung an jeden Schachbegeisterten ergangen, ihn zu einer Partie zu fordern. „Ist das der Wunderknabe?“ hörte Superhirn jemand raunen. Der Bürgermeister antwortete laut und fügte gleich eine Ansprache an. „Das ist er. Marcel, Neffe des Grafen Monton, der die Villa am Steilhang besitzt. Der langen Ansässigkeit dieses Geschlechts verdanken wir es mit, daß wir diese Feier begehen können. Leider ist Marcels Onkel geschäftlich in Amerika, doch er hat uns eine - wie sich herausstellte - besondere Ferienüberraschung gemacht: seinen Neffen, das Schachwunder. Er hat gestern mich und drei der besten Leute des Schachclubs Monton geschlagen. Noch gestern abend telefonierte ich mit dem Departementsbund. Ja...“ Er schwieg und deutete auf die eine Längsseite des grünen Sitzungstisches: „Aus dem Departementsbund ist Monsieur Paul de la Motte hervorgegangen.“ „De la Motte?“ rief eine Frau vom Festkomitee. Es klang wie ein Jubelschrei. „Der französische Großmeister im Schach? Mitglied des Weltschachbundes, der mit Spassky gespielt hat?“ Superhirn wurde an die andere Längsseite des Tisches geschoben. Hinter einem großen Schachbrett sah er sich gegenüber einen sportlich gekleideten Mann mit auffallend unbewegtem Gesicht in einem altmodischen Ratsstuhl lehnen: Herrn de la Motte, den Großmeister . . . der sogar Aussicht auf die Weltmeisterschaft hatte. Superhirn kannte ihn von Zeitungsfotos und aus Fernsehsendungen. Er war enttäuscht. Die Augen des Großmeisters wirkten wässerig. Der ganze Mann sah eigentlich recht unbedeutend aus. Doch im nächsten Moment war sich Superhirn darüber klar, daß er sich getäuscht hatte: de la Motte beeindruckte nichts. Weder die Umgebung noch die Ansprache des Bürgermeisters. Noch nicht mal das Volksfest in Monton. Das merkte man an seiner unsagbar gelangweilten Miene. Auch, daß Superhirn noch ein junge war, kümmerte ihn nicht. Denn er sagte, und zwar mit tonloser Stimme: Jugendliche Schachwunder gibt's viele. Ganz wenige
entsprechen den Erwartungen. Die meisten bleiben später in einer gewissen Durchschnittlichkeit stehen.“ Superhirn hatte sich inzwischen „gefangen“. „Warum sind Sie dann hergekommen?“ fragte er genauso ungerührt. „Schach ist nur ein Neben-Hobby von mir. Ich interessiere mich eigentlich nur für Weltraumfahrt!“ „Und doch hast du deine geübten Gegner erstaunlich geschickt geschlagen, wie mir der Bürgermeister telefonisch mitteilte.“ Der berühmte Schachspieler blickte auf das Brett. „Das ist der Grund, warum ich jetzt hier bin. Ich will mich davon überzeugen, ob dir gestern der Zufall half oder ob man in dir eine Entdeckung gemacht hat! Setz dich! Wir spielen eine Partie.“ Ein Raunen der Anerkennung, ja, Bewunderung ging durch den Saal. Superhirn nahm die Einladung an. Ohne Scheu, ohne Befangenheit oder Verlegenheit. Er setzte sich dem Großmeister gegenüber vor das quadratische Brett mit den vierundsechzig Feldern und den zweiunddreißig Figuren, als wolle er mit dem gefürchteten Mann keine Schlacht schlagen, sondern eben mal einen Teller Suppe essen. Die sogenannte Eröffnung begann schleppend. Der Großmeister ließ Superhirn nach jedem Zug Zeit zur Überlegung. Währenddessen lehnte er sich zurück und betrachtete den Kronleuchter, der ihn tausendmal mehr zu kümmern schien als sein jugendlicher Gegner. Superhirn nutzte die Zeit gut. Er vermied jeden überflüssigen Zug, um dem Feind keine Möglichkeit zum Vorantreiben zu geben und ihn vernichtend in seine Linien einbrechen zu lassen. Denn darauf wartete der Großmeister sicherlich! „Herr de la Motte schont den Jungen“, flüsterte eine Dame. Allerlei Voraussagen wurden jetzt hörbar. „Der Junge spielt vorsichtig, aber der Meister wird ihn gleich attackieren, daß die Steine nur so fliegen!“ „Ja! Herr de la Motte ist bekannt dafür. Er entdeckt jede Blöße. Und dann schlägt er zu.“ Doch der Großmeister „schlug“ zwar, aber nicht zu seinem Vorteil. Das Spiel war immer noch ausgewogen. Zu Beginn des Finales gähnte Herr de la Motte. Er reckte sich dabei wie ein Löwe, der aufgewacht ist und sein Opfer sucht. Als er seinen König verschoben hatte, schien er wieder mit offenen Augen zu schlafen. Diesmal blickte er ausdruckslos zum Fenster. Da sagte Superhirn: „Herr de la Motte! Wollen Sie ihren letzten Zug nicht noch einmal überdenken?“ Das war unerhört! Zwar kann man, solange man die Hand noch auf der Figur hat, selbst auf dem neuen Feld noch überlegen, welche Gefahr ihr drohen könnte - und sie dann wieder in die Ausgangsstellung bringen. Doch hat man die Figur gezogen und losgelassen, gibt's bei richtigen Schachturnieren kein Zurück. Nur unter guten Freunden kann man sagen: „Du - das ist doch nicht dein Ernst? Was machst du denn da? Guck dir das noch mal genau an!“ Und man gibt dem Freund anstandshalber die Möglichkeit, die schon losgelassene Figur wieder zurückzunehmen. Dies hier aber war keine Privatpartie, kein Gnadenakt. Und der Großmeister nahm ja nicht bei dem Jungen Unterricht! Die Zuschauer hielten den Atem an. Was würde der Großmeister auf Superhirns Angebot erwidern? Herr de la Motte wandte nicht einmal den Kopf Er tat, als sei er taub. „Wenn Sie Ihren König so stehen lassen, sind Sie schon jetzt ein toter Mann!“ warnte Superhirn. Jetzt warf der Großmeister ein „lässiges Auge“ auf seine Stellung. Er lächelte müde. „Mach dir um deinen Kopf Gedanken - nicht um meinen“, murmelte er. „Gut!“ sagte Superhirn. Nach zwölf weiteren Zügen war der Großmeister geschlagen. Nun starrte er auf das Brett, als wollte er den ganzen Vorgang im Geiste noch einmal zurückdrehen. Die Zuschauer begriffen zunächst nicht, was da geschehen war.
„Na, nanu?“ stammelte der Bürgermeister. „Wie konnte der Junge den Fehler so früh erkennen und alles andere vorausberechnen?“ „Das gibt's nicht!“ meinte der Hafenkapitän fassungslos. Doch der deutsche Rechtsanwalt und der Pfarrer waren sich darüber einig, daß ein hervorragender Schachspieler sehr wohl verzwickte Situationen ziemlich weit vorausberechnen kann, und daß alles mit rechten Dingen zugegangen war. Auch der Großmeister de la Motte sah das ein. Aber er lächelte, als habe er kaum aufgepaßt, nur, um Superhirn eine Chance zu geben. „Fordern Sie Revanche?“ fragte Superhirn. „Sie spielen jetzt Schwarz!“ Die Stille im Saal war nahezu unerträglich. Die Umstehenden glotzten wie im Traum auf das Brett. Ebenso forsch wie scheinbar lässig, in Wahrheit aber merklich angespannt, beobachtete Herr de la Motte jetzt seine Chancen. Aber dann setzte er seine Dame unvorsichtig, versuchte mit dem Springer die Rettung, was ihm jedoch nicht gelang. - und Superhirn schlug ihn nach weiteren acht Zügen. Mit zitternden Fingern zündete sich der Großmeister, Mitglied des Weltschachbundes, eine Zigarette an. Verloren? Er? Er sollte gegen einen Jungen zwei Partien verloren haben? Schweiß trat auf seine Stirn. Als die starken Scheinwerfer auf den Tisch gerichtet wurden und die Fernsehkamera heranfuhr, winkte er unwillig ab. Welche Blamage für den berühmten Mann! Doch er konnte nicht verhindern, daß er als Verlierer aufgenommen und interviewt wurde. Superhirn dagegen als Sieger. Von allen Seiten prasselten nun Fragen auf die beiden herab. Der Stadtfotograf machte hastig eine Aufnahme nach der anderen auf seiner Leiter am Fenster. „Ich bin müde!“ erklärte Großmeister de la Motte mit gequälter Stimme. „Ich hatte eine schwere Woche, und es liegt noch allerlei vor mir. Lassen Sie mich nach Hause fahren!“ Er war aber nicht müde. Das sah man ihm an. Er platzte fast vor Wut. „Jedenfalls habe ich ein junges Schachwunder entdeckt“, sagte er herablassend. „Sie wissen, ich bin ein Nachwuchsförderer!“ Trotzdem war er heute doppelter Verlierer gewesen, und das war jetzt jedem klar. Siegesgewißheit und Hochmut hatten ihn den jungen Gegner unterschätzen lassen. Zum Abschied gab er Superhirn nur flüchtig die Hand. Um so herzlicher wurde Superhirn von den Zuschauern beglückwünscht. Der Lehrer und der Bruder des Hafenkapitäns trugen ihn auf den Schultern ins Freie. Dort war das Ergebnis schon durch Lautsprecher bekanntgegeben worden. Viele Leute klatschten, schrien „Bravo“, und einige brüllten sogar: „Hoch, hoch, hoch Kaum stand Superhirn wieder auf den Füßen, als er Tati, die Freunde und den Hund vor sich sah. „Schnell!“ rief Tati. „Sonst holen die dich noch zu 'ner Siegesfeier! Aber ich hab heute den Kuchen spendiert und Sahneeis dazu! Madame Claire wartet mit dem Gärtner und seiner Frau am Hang!“ Auf dem offenen, alten Geräte-Auto fuhren die Freunde über die gewundene Straße hoch zur Villa Monton. „Ich glaub, Superhirn muß sich erst mal ausruhen“, meinte Tati nach dem Abendessen. „Nee, ich bin taufrisch“, grinste Superhirn. ..Zwei Sieger an einem Tag - toll!“ sagte Henri. Er blickte auf Gérard. „Wirklich, da vergeht einem sogar der Neid!“ bekräftigte Prosper ehrlich. „Fußball leuchtet mir noch ein. Aber, daß man als Junge einen Schach-Großmeister besiegen kann, zweimal nacheinander, ist für mich nicht zu fassen!“ „Ich möchte auch mal gewinnen“, maulte Micha. „Ich komme mir schon ganz dämlich vor!“ Superhirn lachte. „Wie wär's denn mit Schwarzer Peter oder mit Quartett?“ Er verließ die Veranda und ging durch das Kaminzimmer in den Billardraum. Dort waren in Wandschränken, in hohlen Klapptischen und auf Wandborden verschiedene Spiele untergebracht. Superhirn wollte Micha einen Gefallen tun. Der .jüngste sollte seine Chance bekommen . . . Zwei lustige Kartenspiele fand er schnell: Die „Schwarze Ente“ (dem „Schwarzen Peter“ ähnlich) und ein Quartett: „Beruf und Zubehör“. Da mußte man die Karte mit dem Förster zu denjenigen mit
der Flinte, dem Hirsch und dem Fernglas legen. Oder die mit dem Feuerwehrmann, zu denen, die Schlauch, Einsatzwagen und Stichflamme zeigten. Superhirn grinste still in sich hinein. „Hirsch“ als ..Zubehör“ zum Förster war komisch. Ebenso die Stichflamme für den Feuerwehrmann. Na ja. Weder der eine noch der andere konnte ohne das, was er zu jagen oder zu bekämpfen hatte, auskommen. Superhirn ging durch das Kaminzimmer zurück. Dort stand das Schachspiel mit den sonderbaren Figuren noch auf dem Tisch. Ebenso die unverrückbare kleine „Statue“ auf dem Kaminsims, die wie ein überzähliger Bauer wirkte. Superhirn war das egal. Er hatte genug vom Schach. Er wollte Micha aufheitern. Plötzlich vernebelten sich seine Gedanken. Er brach in die Knie. Irgendeine Macht drückte ihn zu Boden. Dunkel hatte er das Gefühl, er läge unter einer Decke, die komischerweise schwer wie Stein war. Auf einmal, so schnell, wie er gekommen, wich der Druck. Superhirn sah wieder klar. Er lag auf dem Teppich im Kaminzimmer. Was da geschehen war, wer oder was ihn umgeworfen hatte ... das konnte er sich nicht erklären... Er sammelte die Spielkarten auf, gab sich einen Ruck und ging in die Veranda. Die anderen schwatzten lustig. Sie aßen die Reste von Tatis „Belohnungskuchen“. Niemand hatte den Vorfall im Kaminzimmer durch die Tür beobachtet. Nur Loulou winselte wieder so merkwürdig. Er wich vor Superhirn zurück! „Was hast du?“ fragte Tati aufmerksam. Keiner wußte: Meinte sie den Zwergpudel oder Superhirn? Unter viel Gelächter spielten sie „Schwarze Ente“. Micha gewann zweimal „ehrlich“. Er hatte gesagt: „Wenn einer mogelt, damit ich gewinne, gilt´s nicht!“ Und er hatte dabei Superhirn aus den Augenwinkeln listig angesehen. Beim Quartett „Beruf und Zubehör“ verwandelte sich die gute Laune. Irgend etwas legte sich auf die Gemüter wie Eis ... ..Superhirn?“, stammelte Tati plötzlich entgeistert. „Was machst du denn da mit den Karten ... ???“ Während Micha zu der Karte mit dem „Arzt“ die mit den Zubehören „Augenspiegel“, „Spritze“, „Blutdruckmesser“ legte, ohne sich zu besinnen, kam Superhirn überhaupt nicht weiter. Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. „Ich habe hier eine Karte mit einem Kapitän“, jammerte er. „Was gehört zu einem Kapitän ... ???“ Tränen wurden hinter seiner großen Brille sichtbar. Sie rannen ihm über die Wangen. Prosper, Gérard und Henri schwiegen vor Schreck. Das war echt! Superhirn machte ihnen nichts vor! „Was gehört zu einem Kapitän ... ???“ schluchzte Superhirn. „Ein ... ein Schiff!“ hauchte Micha, total verdutzt. „Ach, so!“ rief Superhirn. Aber er legte statt des Schiffes eine Karte mit einem Kamel hin. „Das Kamel gehört zum Karawanenführer!“ sagte Tati. Sie beobachtete Superhirn besonders scharf. jetzt nahm er die Autobus-Spielkarte, die zum „Fahrerberuf gehörte“ - und legte sie neben den „Kapitän“. Auf „Schiff“ kam er nicht, obwohl Prosper ihm diese Karte immer wieder zuschob. Schließlich nahm Superhirn die „Schiffskarte“, tat sie aber immer noch nicht neben den Kapitän. „Ja, siehst du denn da keinen Zusammenhang?“ fragte Tati. Sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief Superhirn war der Klügste von allen. Jeder wußte das. Um so grauenhafter zu sehen, wie er vor aller Augen geradezu zum dummen Baby wurde! „Ja, ja“, greinte er. Er biß ein Stück von der Spielkarte ab und beklagte sich. „Der Keks schmeckt nicht...“ Heulend, nein, aufheulend fuhr er vom Stuhl hoch: „Au, au, mein Kopf...“ Er riß sich die Brille von der Nase und rieb sich die Stirn. „Es pikt mich einer ... Einer pikt mich mit Nadeln ... !“
Wie verrückt drehte er sich im Kreise. Und dann begann er, anhaltend zu schreien. Auch die anderen waren aufgesprungen. Der Pudel verkroch sich in eine Ecke. Hastig sagte Tati: „Gérard, du hast Kräfte für zwei. Bring Superhirn ins Bett! Schnell! Prosper, geh mit! Hilf Gérard! Redet auf ihn ein! Beruhigend, versteht ihr? Los, los! Ich muß inzwischen was mit Henri besprechen!“ Superhirn ließ sich abführen. Er war so schlaff wie eine leere Ballonhülle ... Micha scharrte die Spielkarten zusammen und breitete sie wieder aus. Verstört guckte er auf ihnen herum. Was hatte ausgerechnet Superhirn daran verrückt gemacht? Dieses „Berufsquartett“ war doch kindisch einfach... Henri und Tati wisperten miteinander. Sie achteten nicht auf den schniefenden Pudel in der Ecke. Gérard und Prosper kehrten zurück. Tati blickte auf. „Nun?“ fragte sie gespannt. „Glaube nicht, daß wir einen Arzt brauchen“, berichtete Gérard. seelenruhig. „Superhirn hat sich nur übernommen. War alles zuviel in den letzten Tagen!“ „Klar“, bekräftigte Prosper. „Das dauernde Berechnen, Peilen, Kalkulieren - Kinder, das wirft doch den dicksten Hund um!“ „So hab ich auch erst gedacht“, sagte Tati ernst. Jetzt hab ich mit Henri gesprochen. Er fürchtet dasselbe wie ich.“ „Was ... ?“ fragten Gérard und Prosper wie aus einem Munde. „Daß hier irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht“, erklärte Henri. „Superhirn war völlig normal, als er aus dem Rathaus kam. Ganz vergnügt! Nicht 'ne Spur erschöpft! Und hier, ausgerechnet bei dem albernen Spiel, da dreht er durch! Legt ein Kamel neben einen Kapitän- und beißt in 'ne Karte wie in einen Keks ...“ ,Aber er hat doch was von Kopfschmerzen gejammert“, murmelte Prosper. „Von Stichen, - oder so... Das hat man manchmal nach blöden Schularbeiten. Sieht das nicht nach Überanstrengung aus?“ „Er schläft jetzt“, sagte Gérard. „Wir haben ihn sachte, sachte auf sein Bett gelegt. So wie er war. ,Danke' hat er noch gebrummt. Das klang vernünftig. jedenfalls hat er nicht gehaucht wie jemand, der ein Messer in den Rücken kriegt` „Wenn man ein Messer in den Rücken kriegt, haucht man alles andere als Danke“, sagte Henri schwach. „Na, gut. Lassen wir ihn ausschlafen, Dann sehen wir weiter.“ „Weshalb soll hier was nicht mit rechten Dingen zugehen?“ fragte Gérard. „Meinst du, wir sind in einem Geisterschloß? Madame Claire wäre vielleicht eine Hexe?“ „Quatsch!“ wies ihn Tati ärgerlich zurecht. „Aber wenn du schon von Madame Claire sprichst: Sei froh, daß sie gleich nach dem Abendessen mit den Gärtnersleuten wieder nach Monton gefahren ist. Wir hätten ein Heidentheater, wenn sie Superhirns Affentanz beobachtet hätte!“ Tati ging ins Kaminzimmer. Die anderen folgten. Auch der Pudel, der aus seiner Ecke hervorgekommen war. „Was suchst du?“ erkundigte sich Prosper bei Tati. „Weiß ich selber nicht!“ kam die Antwort. Henri blickte überall umher, er blickte sogar zur Decke. „Möchte nur wissen, was ihr habt - wenn ihr's selber nicht wißt!“ murrte Gérard. ..Also, ich zieh aus!“ schnaufte Prosper. „Ich leg mich in den Pavillon, den ollen Schuppen, wo ich schon mal geschlafen habe! Mir ist das hier zu gefährlich. Wenn ihr auf einmal alle durchdreht, dann steckt ihr mich nachher noch an!“ „Vielleicht ist ein Gespenst in der Wand eingemauert?“ vermutete Micha. Das meinte er aber durchaus nicht spaßig. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück und prallte gegen den Tisch, auf dem die komischen Schachfiguren standen. „Halt!“ ertönte plötzlich die Stimme eines Mannes. „Weg vom Tisch, Micha! Weg, weg! Faß keine Figur an ... In der Terrassentür stand eine hagere Gestalt.
„Hier spricht Professor Charivari! Welches Wesen sich auch immer als Schachfigur eingeschlichen hat ... ich werde es vernichten ...!“ 7. Professor Charivari taucht auf Die Gefährten standen so starr wie die Schachfiguren auf dem Brett. Ein hagerer, hochgewachsener Kerl trat aus dem Zwielicht des Billardzimmers in den helleren Salon. Sein Anblick war zunächst erschreckend. Der kahle Schädel erinnerte an eine Salatgurke. Der armlange, strippenförmige, lackschwarze Bart wirkte, als seien dem Mann ein paar Schnüre am Kinn festgewachsen oder als habe er den Seidenschwanz eines fremdartigen Tieres an seinem Unterkiefer befestigt. Seine schmalen Augen waren fast schwarz. Sie glänzten wie im Fieber. Die Brauen darüber schienen aus dem gleichen Stoff gemacht wie der Bart. Sonderbarerweise trug der unheimliche Eindringling eine weiße, moderne Kombination mit vielen schräg und waagrecht angebrachten Taschen. Der erste, der gerochen hatte, wer dieser hagere Riese mit dem Gurkenschädel war (und daß er nicht in böser Absicht kam), war der Hund. Freudig bellend sprang er auf die sonderbare Erscheinung Zu. jetzt faßte sich auch Henri. „Professor Charivari!“ rief er. „... Charivari!“ wiederholte Gérard verblüfft. „Wir da-da-dachten, Sie umkreisen mit Ihrer Raumstation die Erde“, stammelte Prosper. „O-o-oder einen anderen Pla-Planeten. Hätte nie gedacht, Sie wie-wie-wiederzusehen!“ ,Aber ich ... !!!“ behauptete Micha. „Sie wollten an dem Volksfest teilnehmen? Denken Sie, Gérard hat in der siegreichen Fußballmannschaft gekämpft. Und Superhirn hat den Großmeister im Schach geschlagen? Aber jetzt.. .“ „Gut, daß Sie hier sind“, unterbrach Tati erleichtert. „Irgendwas Schreckliches liegt hier in der Luft.“ „... in der Luft, hm“, sagte der Professor. „Wenn's nur in der Luft wäre.“ Er wandte sich dem Schachbrett mit den ungewöhnlichen Figuren zu. Sein Gesicht veränderte sich. jeder hatte den Eindruck, daß die samtweiche Stimme Charivaris sich gleich wieder in ein Donnergebrüll verwandeln würde. Aber was bedeutete das alles? Warum kam Professor Charivari, Freund, Beschützer und Lehrmeister der Gefährten, so plötzlich, so spät - und wie ein Dieb durch die Terrassentür? Henri knipste die große Lampe an. Die Blicke folgten dem des Professors, dessen Augen sich geweitet hatten. Er kam von dem Schachbrett nicht los. Tati sah auf Charivari. Sein Schädel war auf einmal gelblicher als sonst. Rauh fragte er: „Das Spiel ist vollständig! Es hat 32 Figuren - wie üblich. Gibt es vielleicht noch überzählige Ersatzfiguren, falls mal welche verlorengehen?“ Im Chor kam die Antwort: „Nein ... !!!“ Charivari rührte sich eine ganze Weile nicht. Aber dann geschah etwas Merkwürdiges. War schon sein plötzliches Erscheinen sonderbar genug gewesen, so verschlug das Folgende den Freunden wieder den Atem. Der Professor warf sich auf den Teppich und wand sich wie eine Riesenschlange auf Beutejagd um den Tisch herum. „Wa-wa-was machen Sie denn da?“ fragte Prosper. „Ich suche einen überzähligen Bauern!“ ächzte Charivari. Seine sonst so ruhige Stimme bebte. „Helft mir! Tastet den Teppich ab! Kramt in jedem Winkel. Wir müssen den Burschen finden!“ Den Burschen...??? Henri und Tati wechselten einen Blick. Von früher her waren sie gewohnt, daß alles, was ihr großer, gelehrter Freund tat, einen Sinn hatte. Oft sogar den Zweck, seine Schützlinge oder sogar ganze
Menschengruppen vor Schaden zu bewahren. „Wo hattet ihr das Schachspiel her?“ fragte der Professor. Mit einem scharfen Lichtstrahl aus einem seiner Fingerringe leuchtete er unter den Tisch. Die anderen, vom ratlosen Pudel begleitet, krabbelten überall herum, schoben Sessel und Sofa beiseite, krempelten das Tigerfell um und kramten sogar im Papierkorb. „Henri und Gérard haben das Schachspiel aus dem Billardzimmer geholt“, keuchte Prosper. „Es gibt so viele Spiele, hier - und nebenan“, japste Tati. „Brettspiele, Würfel, Karten, Tischroulette“, bestätigte Henri. „Würfel jeder Art - aus Glas, Holz und Elfenbein - liegen offen auf dem Bücherbord“, brummte Gérard. „Es gibt da hinten auch noch einen Extra-Spieltisch zum Aufklappen. Da finden Sie alles mögliche. Große und kleine Spielkarten, französische und deutsche, ja und sogar mehrere Schachspiele. Aber keins mit so komischen Figuren.“ Tati richtete sich auf. „Was ist an den Dingern dran?“ fragte sie entschlossen. „Sie sind ihretwegen gekommen, Herr Professor? Woher wußten Sie überhaupt ... ?“ „Der Reihe nach, der Reihe nach“, unterbrach Charivari. Sein Fingerring-Scheinwerfer erlosch. Er kroch unter dem Tisch hervor und setzte sich einen Moment auf einen Hocker. „Wo ist Superhirn?“ „Er schläft“, antwortete Micha. Der Professor wandte sich an Tati: „Es stimmt. Ich bin wegen dieser Schachfiguren hier.“ Er deutete auf den Tisch. Während er sprach, wandte er kein Auge vom Spielbrett. „Das sind Sendboten. Vorboten. Figuren aus einer anderen Welt.“ Tiefes Schweigen herrschte. Gérard machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Soll ich Ihnen einen Eisbeutel auf die Glatze legen? Auch die anderen - was sie auch erlebt haben mochten - sahen einen Augenblick so aus, als dachten sie: jetzt ist der Professor verrückt geworden! Aber dann erinnerten sie sich an seine einzigartigen Fähigkeiten, Erfolge und Zukunftsvorhaben: Zusammen mit seinen Brüdern, seinem Neffen und einem verschworenen Team von Wissenschaftlern aus allen Teilen der Welt hatte er Weltraumschiffe, eine Mondpolstation, einige Unterseestützpunkte und ein Himmelslabor geschaffen: aus enormen Goldfunden finanzierte Projekte, die nicht der Eigenmächtigkeit der irdischen Nationen, sondern der Wissenschaft zugunsten der gesamten Menschheit dienen sollten. Neben der Erforschung des Alls, der Förderung von Meeresbodenschätzen und dem Versuch, der Bevölkerungszunahme durch Erprobung heimlicher, bewohnbarer Erdtrabanten zu begegnen, testete er auch an geheimen Orten neue Nahrungskulturen gegen den Hunger. In seiner mit gewöhnlichen, technischen Geräten nicht ortbaren Weltraumstation beobachtete er aber auch die politischen und industriellen Weltgeschehnisse. Seine Leute beschäftigten sich mit der Friedensforschung ebenso, wie mit den kosmischen Einflüssen und den ungeklärten Fragen, die die normalen Wissenschaftler auf der Erde bewegten. Durch Zufall waren die Freunde mit ihm bekannt geworden. Professor Dr. Brutto Charivari hatte zu ihnen nicht nur wegen Superhirns enormer Gescheitheit, sondern auch wegen ihres Teamgeistes Vertrauen gefaßt. Einige Umstände bewirkten, daß er sie in seine Pläne einweihen mußte, ja, er hatte sie sogar in seinen Raumschiffen, den Monitoren, mitreisen lassen und ihnen die geheime Weltraumstation gezeigt. Superhirn war der Meinung, die Station entferne sich gegenwärtig immer weiter von der Erde weg, und zwar in Richtung auf die Mars-Bahn. Aber nun, auf einmal, schneller als gedacht, saß Charivari hier - in der Villa Monton. „Dieses Schachspiel stammt nicht von hier“, murmelte der Professor. Es ist in dieses Haus eingeschmuggelt worden.“ „Ei-ei-eingeschmuggelt?“ fragte Prosper. Ja. Und zwar von meinem Gegenspieler in der Erde. Ich kenne ihn nicht, aber ich weiß, daß er sein Hauptquartier im Erdinneren hat. Hm. Sehr geschickt, euch dieses putzige Schachspiel hier einzuschleusen. Aber wenigstens eine der Figuren ist ein Spion. Ein getarnter Spion, der über euch
meine Geheimnisse ausforschen will ... Womöglich, um nicht nur mich, sondern die ganze Erdoberfläche zu, vernichten.“ Tati berichtete rasch über die seltsamen Erlebnisse der letzten Tage und Stunden. Charivari strich sich nervös den lackschwarzen Strippenbart. Als Tati geendet hatte, meinte er entschieden: „Weder der Blitzschlag in den Obstbaum noch das Volksfest oder der Sieg über den Schach-Großmeister hat etwas mit Superhirns Zustand zu tun.“ Er trat an den Tisch und besah sich die kleinen Schachfiguren durch eine sonderbare Taschenlupe. „Lebloses Material“, murmelte er. „Die Lupe würde sich sonst glutrot färben. Und doch ... Mindestens ein innerirdischer Spion in Schachbauern-Gestalt ist irgendwo im Haus...“ „Aber Superhirn ist neulich hier zusammengebrochen, das erstemal. Hier, in diesem Zimmer!“ rief Micha. Der Professor fuhr herum. „Hier. . .???“ fragte er scharf „Stimmt“, nickte Tati, Der sonst so beherrschte Mann ruckte mit dem Hals wie ein Huhn. ,Also ist der Erdspion ganz in der Nähe! Superhirn, der das meiste von meinen Plänen wußte, sollte mürbe und willenlos gemacht werden! Der Erdspion wollte ihn aushorchen!“ „Gérard hatte schon mehrmals nachdenklich zum Kaminsims hinübergeschielt. Endlich sagte er: „Ich hab zwar 'ne sehr lange Leitung, Herr Professor. Aber ich denke, nun bin ich sicher - ganz sicher: Da, auf der Kaminplatte stand unter dem übrigen Krimskrams ein Püppchen, etwa halb so lang wie mein kleiner Finger. Das sah wie so ein Schachbauer aus ... Ich wollte es mal runternehmen, aber die Füße waren wohl in die Platte eingefügt.“ „Verkapselt! Der Spion aus der Erde hat sich verkapselt! Außerdem ...“ Der Professor unterbrach sich. „Wo ist das Ding jetzt?“ „Weg ... !!!“ staunte Tati. In diesem Moment ertönte von oben Superhirns markerschütterndes Schreien. Wie die Wilden stürmten Charivari, Henri, Tati, Prosper und Micha - gefolgt von dem winselnden Pudel - die Treppe hinauf. Der Professor warf sich gegen die Dachkammertür. Mit einem Krach flog sie gegen die Wand. Superhirn saß verstört auf seinem Bett. Ein riesiger Mann hatte sich über ihn gebeugt: Ein Mann im hellblauen Anzug, mit weißem Kragen, dunklen Haaren und weißen Stiefeln - genau wie einer der „Schachbauern“ . . . nur in Groß! Mit Donnerstimme rief der Professor: „Hier auf der Erde ist dein Spiel aus! Bestell das eurem Chef in seiner innerirdischen Zentrale! Ich habe Mittel, ihn und seinen Geheimstaat zu vernichten!“ Die seltsame Erscheinung schrumpfte schlagartig und verschwand. „Es ... es war wirklich eine Schachfigur“, schluckte Prosper. „Ein ... ein ... Bauer ... Aber...“ Superhirn blickte auf. Und wenn man eben noch den Eindruck gehabt hatte, er würde für die nächsten Tage nicht ansprechbar sein, so sollte man sich getäuscht haben. „Herr Professor!“ rief er lebhaft. „Professor Charivari ... !!! Daß ich an Sie nicht gedacht habe! Daß ich mir nicht denken konnte, Sie würden zur rechten Zeit hier auftauchen!“ „Auftauchen ist das richtige Wort“, gab Charivari ebenso erleichtert zurück. „Ich bin mit meinem neuen Erdschiff Giganto unter der Erdoberfläche hierhergekommen!“ „Erdschiff?“ schrie Micha neugierig. „Giganto? Dürfen wir da mitfahren. . .???“ „Sachte, sachte“, lächelte Professor Charivari. Er setzte sich neben Superhirn und forschte ihn aus. Ohne Zweifel: Sein Erscheinen hatte Superhirn wieder völlig zu sich gebracht. Die anderen bemerkten nicht die kleinste Gedächtnislücke. Sie erfuhren sogar Dinge, die sie noch nicht wußten. „Auf einmal fällt mir alles ein“, berichtete Superhirn. „An dem Abend, als ich mich über das lustige Schachspiel amüsierte, entdeckte ich auf dem Kaminsims eine Figur. Das heißt, sie hat mich wohl irgendwie angezogen. Ich ging mit meiner Teetasse auf den Sims zu. Der Pudel knurrte hinter mir, er muß wohl auch etwas gemerkt haben. jedenfalls begriff ich: Das Ding auf dem Kamin lebte! Und da brach ich zusammen.“ „Hm.“ Charivari überlegte. „Das war der Anfang einer raffinierten Taktik, dich mürbe zu machen.
Die Gedankenwelle - oder der Gehirnstrom - des Spions war für dich bestimmt. Der Hund hat was ,abgekriegt' und war deshalb so nachhaltig verwirrt.“ „Und Superhirn muß wohl heute wieder einen Stich in die Birne gekriegt haben“, meinte Micha. „Auf einmal konnte ich besser Quartett spielen als er. Er heulte sogar!“ „Wir waren ja alle darüber total verdattert“, sagte Henri. „Micha stellte sich an, als hätte er Klugheitsgrütze gegessen!“ „Und Superhirn wie ein angebrannter Strohkopf“, grinste Gérard. „Mein Gehirn ist wieder aufgetankt“, erklärte der dürre junge ruhig. „Als mich das menschenähnliche Ungeheuer eben weckte, stark gebückt, weil's sonst mit dem Kopf an die Decke gestoßen wäre, sah ich an der Kleidung, daß ich einen riesigen Schachbauern vor mir hatte.“' „Und ... ???“ drängte der Professor. „Er fragte mich auf englisch, deutsch und französisch: Was weißt du über Charivaris Pläne?“ „Dacht ich mir´s!“ Der Professor stand auf. „Kommt! Haltet euch dicht bei mir! Wir müssen diesen Schachbauern finden!“ 8. Erdschiff Giganto im Park „Halt!“ rief Prosper. „Hier, vor Superhirns Bett ist ein kreisrundes, kleines Loch im Fußboden!“ Charivari ließ den starken Scheinwerfer an seinem Fingerring aufblitzen. „Ein Loch im Boden“, wiederholte Prosper. „Kreisrund! Aber ganz winzig. Henri raste die Treppe hinunter. „In der Halle ist auch ein Loch“, meldete er. „Direkt unter dem oberen, ich kann das Licht des Fingerrings sehen! Es sieht so aus, als wäre ein Pistolenschuß senkrecht durch die Fußböden in den Keller gegangen!“ Der Professor sah sich das an. „Ist eigentlich außer euch noch jemand im Haus?“ fragte er. „Nein“, erwiderte Tati. „Madame Claire ist mit ihrer Schwägerin und den Gärtnersleuten zum Volksfest gefahren.“ „Hm.“ Charivari nickte. Er schien das längst zu wissen, hatte sich aber noch einmal rückversichern Wollen. „Henri und Gérard!“ befahl er. „Geht in den Keller unter dieser Halle. Ihr werdet dort ein drittes Loch von der Größe der beiden anderen finden.“ „Da unten ist kein Licht“, sagte Tati besorgt. Henri sauste hoch und holte eine starke Taschenlampe aus dem Zimmer, das er mit Gérard und Prosper bewohnte. „Meinen Sie, die falsche Schachfigur ist durch die Löcher in den Erdboden geschossen?“ fragte Gérard noch. „Nicht in den Erdboden, sondern in die Erde“, betonte Charivari. „Und die Löcher in Superhirns Zimmer und in der Halle stammen von dem Burschen, den wir gesehen haben. Er hatte Riesengestalt angenommen, als er Superhirn einschüchtern wollte. Als er uns aber kommen sah, schrumpfte er schlagartig wieder zusammen und schoß mit der Geschwindigkeit R 1 wieder dorthin zurück, woher er gekommen war: In den Erdball hinein, in seine innerirdische Befehlszentrale.“ Der Professor ging in den Salon. Stumm folgten ihm Superhirn, Tati, Prosper und Micha. Loulou schloß sich winselnd an. Das Schachspiel war nicht mehr da! Henri und Gérard erschienen. „Nun?“ Charivari blickte auf. „Wie Sie sagten“, berichtete Henri. „Ein gewissermaßen glatter Durchschuß im Keller unter der Halle.“ „Und ein weiteres Loch unter diesem Salon, ein schräger Einschlag“, fügte Gérard hinzu. „Also ist der Spion verschwunden“, murmelte der Professor. „Ich suche noch ein Loch im Salonboden!“ „Und die Figuren auf dem Schachbrett?“ fragte Tati.
„Keine wie auch immer gearteten Lebewesen“, beruhigte Charivari. „Die sind aus Erdmaterie und dienten der Tarnung. Oder wie man's nimmt: Sie wurden in der innerirdischen Befehlszentrale hergestellt, Wahrscheinlich hat sie der verkapselte Spion in der eingerollten Schachbrettfolie hinter sich hergezogen. Und zwar mit der unvorstellbaren Energie seines Gehirnkraftwerks.“ Selbst Superhirn machte große Augen. „Ich weiß, ich weiß, ihr wollt alles wissen“, sagte der Professor. „Aber ich habe nicht viel Zeit. Ich bin ja mit meinem Erdschiff Giganto hier. Es liegt unter dem Brunnenschacht im Park. Ich fürchte, ich werde heute noch zu einer unterirdischen Schachpartie in die Tiefe vorstoßen müssen.“ Die Freunde begriffen: Mit „Schachpartie“ meinte er die Verfolgung der geflohenen Figur. „Ich will mit in das Erdschiff ... !!!“ bat Micha. „Ist das ein Fahrzeug, das sich in die Erde bohren kann?“ „Warum nicht“, sagte der Professor. „,Wenn es Weltraumschiffe, Mondfähren, Marssonden, aber auch Tauchkugeln und Tiefseeschiffe gibt? Astronauten? Kosmonauten? Lunanauten? Aquanauten? Warum sollte es endlich nicht auch einmal ein Erdschiff mit Terranauten zur Erforschung des Erdinneren geben?“ Prosper rieb sich heftig die Nase. Doch da sprach Superhirn schon aus, was der andere nur ahnte. „Herr Professor! Das Erdschiff haben Sie aber nicht nur zu Forschungszwecken gebaut! Irgendwas hat Sie darauf gebracht, Ihre übrigen Pläne zu unterbrechen! Leicht zusammenzureimen! Sie sprachen vorhin von einer Befehlszentrale in der Erde!“ Charivari nickte. „Was diese Zentrale betrifft, so habe ich da bestimmte Vermutungen. Es stimmt, das Erdschiff dient der Aufspürung.“ Er strich sich den lackschwarzen Bart. „Ich habe in meinem Weltraumlabor Hirnwellen-Analysatoren! Diese Geräte verzeichnen zum Beispiel auch Vorgänge in euren Gehirnen. Das heißt: eure Geistesarbeit. Was Micha denkt - oder Tati oder Superhirn -, kann ich mit meinen Automaten entschlüsseln. So erfahre ich immer, was ihr denkt, ja, sogar, was ihr sprecht. Denn das Gehirn ist ja tätig, wenn der Mensch spricht. Aus euren Gesprächen erfahre ich also auch, wo ihr seid und was euch bewegt. Das ist wichtig für mich und euch: Ich kann jederzeit eingreifen, falls einer von euch in Gefahr ist.“ „Ach, und so sind Sie auf das komische Schachspiel gekommen?“ rief Tati. „Sie haben schon Superhirns ersten Schock empfangen?“ „Ja. Aber bereits lange vorher eine seltsame Erscheinung: Wir verzeichnen seit über einem Jahr Gehirnwellen, die wir nicht entschlüsseln können, weil ganz offenbar andere Zusammenhänge zwischen der Gehirntätigkeit des Absenders' und ihrer Bedeutung bestehen. Zwischen den Gehirnwellen von Tieren und der Bedeutung solcher Tiergehirnwellen bestehen wiederum andere Zusammenhänge.“ „Aber Sie konnten feststellen, daß die komischen ,Menschengehirnwellen' aus der Erde kamen?“ fragte Henri gespannt. „,Richtig. Und noch mehr: Es waren Unmuts- oder Unguts-Gedanken.“ „Unguts-Gedanken?“ staunte Henri. „Schlechte Gedanken?“ „So komisch es klingt.“ Charivari blieb stehen. Ja. Ich habe mich und einige Mitarbeiter einem Test unterzogen, diese Gedanken aus dem Diagramm ,entfesselt' und auf uns einströmen lassen.“ „Und . . .???“ forschte Superhirn gespannt. „Die Wirkung war verheerend. Wir wurden mißmutig, gereizt, keiner ließ die Meinung des anderen gelten. ja, alle Vorformen der Aggression zeigten sich: Augenrollen, Gesichtsverzerrungen, Fuchteln mit den Fäusten, drohendes Recken des Kinns - ja, sogar Zähnefletschen. Hätte ich das Diagramm nicht abgestellt, so hätten wir uns wahrscheinlich gegenseitig erschlagen.“ „Na ja, man weiß ja schon lange, daß es ansteckende' gedankliche und seelische Ausstrahlung gibt“, meinte Tati. „Wenn ich wütend bin - oder wenn irgendwas mit mir los ist -, brauch ich kein Wort zu sagen. Da verdrückt sich der Pudel, und selbst Micha und Henri gehen mir aus dem Weg.“ „Und man sagt doch auch, Fröhlichkeit, ach, jede Stimmung, überträgt sich auf andere“, rief Prosper eifrig.
„ja. Aber das ist ein weites Forschungsfeld“, nickte Charivari. „Hier sind so viele Dinge maßgebend, daß ich sie nicht alle auf einmal nennen kann. jedenfalls wurde uns eins klar. . .“ „Was ... ?“ hauchte Micha. Es war plötzlich sehr still. „Daß aus dem Erdinnern negative Gedankenstrahlen unbekannter Lebewesen eindringen, die den Lauf der Geschichte, die Einigung der Menschheit, den technischen Fortschritt ungünstig beeinflussen, ja überhaupt verhindern könnten. Und wahrscheinlich ist das sogar die Absicht des Ragamuffins!“ „Ragamuffin?“ fragten Prosper, Gérard und Henri fast gleichzeitig. „Ragamuffin?“ echoten Tati und Micha. Superhirn schwieg. „Ragamuffin ist eine alte englische Bezeichnung, die soviel wie Lump bedeutet. Ohne diese treibende Kraft in der innerirdischen Befehlshöhle zu kennen, nannten wir sie erst einmal so.“ „Nicht schlecht!“ grinste Superhirn. Charivari fuhr fort. „Der Ragamuffin ist offenbar ein Magier. Was ich bisher ahnte, weiß ich jetzt: Er ist mein Gegenspieler. Ich will den Fortschritt, er will ihn aufhalten. Der Ragamuffin muß mich schon lange beobachten. Aber wahrscheinlich begreift er die Geschehnisse an der Erdoberfläche und im Weltraum trotz seiner Klugheit nicht. Deshalb arbeitet er mit der stillen Unterjochung. Er braucht keine sichtbare Gewalt, keine Kriegsgeräte...“ „Aber mit Ihrem Erdschiff können Sie doch in seine Zentrale durchstoßen, oder?“ fragte Gérard eifrig. Professor Charivari seufzte. „Ich habe die innerirdische Zentrale des Ragamuffin bisher nicht anpeilen können, obwohl ich es auch mit Satelliten versucht habe. Dieser schlaue Bursche scheint irgendeine Möglichkeit zu haben, seine Wellen im Erdinneren so zu brechen oder steuern zu lassen, daß sie von einer riesigen Kugel zu kommen scheinen.“ „Kugel ... ???“ wunderte sich Prosper. Der Professor lachte. „Diese Kugel, die scheinbar die Wellen nach allen Richtungen ausstrahlt, hat einen Durchmesser von ungefähr 2.500 Kilometer. Ihr Mittelpunkt ist auch der Erdmittelpunkt. Wenn ihr mich als Physiker fragt, so kann ich nur sagen: Es ist der Erdkern. Nun ist es aber völlig unmöglich, daß die Wellen von dorther kommen - und daß dort die Zentrale des Ragamuffin-Staates ist. Die Wissenschaft vermutet da nämlich Temperaturen zwischen vielleicht 9.600 und 17.000 Grad. Der Ragamuffin kann den Erdkern also nur als eine Art Reflektor, als Spiegel für seine Wellen, benutzen.“ „Für die Unguts-Strahlen?“ wollte Micha wissen. Charivari erklärte: „Es ist mit diesen Strahlen so: Alle Nerven- und Gehirnimpulse sind elektrisch. Sie laufen durch die Nervenstränge, wie eine Wasserwelle durch einen Graben. Kann man in so einem Nervenstrang künstliche Impulse erzeugen, erhält das Gehirn - ohne es zu merken - eine Falschmeldung, Durch dauernde ,Falschmeldungen' könnte man die Menschen verwirren, ja sogar charakterlich verändern.“ Er überlegte wieder. Dann fuhr er fort: „Die von mir verzeichneten Wellen kommen nicht von einem Tier. Der Apparat vermerkt eine außerordentlich starke geistbetonte Entwicklung, das ist immerhin ersichtlich. ich umschreibe das mit dem Wort ,Bandbreite'. Das Überrumpelungsmittel Schachspiel bestätigt mir das. Nicht einmal der klügste Affe kann Schach spielen. Der Ragamuffin ist ein hervorragender Gegner auf geistigem Gebiet. Denn bedenkt: Selbst der großartigste Computer spielt nur mäßig Schach!“ In diesem Augenblick krachte es furchtbar an der Buchtseite der Villa Monton. Heulend flog etwas auf die Terrasse herab. Klirrend zerbrach eine Fensterscheibe, und rotglühend raste eine Feuerkugel durch den Salon. „Hilfe!“ schrie Micha gellend. Und der Pudel jaulte laut auf. 9. Wir gehen an Bord! „Sie ... sie greifen an!“ keuchte Prosper. Er rannte nach nebenan und warf sich unter den Billardtisch.
Heulend folgte ihm Loulou. Im Salon packte Tati den jüngeren Bruder, während Gérard und Henri in die Halle wollten. Krach ... uiiii, ertönte es draußen über der Bucht. Im Raum hatte sich der zischende, rote Glutball mit einem Peng aufgelöst. Rauch lag in der Luft. Der Pudel fegte jetzt um den Professor herum und hustete sich fast die Lunge aus dem Hals. Bevor Charivari etwas sagen konnte, kicherte Superhirn. Er öffnete eine Außentür und trat auf die Terrasse. „Feuerwerk“, rief er. „Prächtiges, farbiges, knatterndes und krachendes Feuerwerk in Monton! Freunde, das müßtet ihr doch kennen!“ „Aber nicht, daß 'ne verirrte Leuchtkugel hier hereinplatzt“, erboste sich Tati, die nun begriffen hatte, was geschehen war. „Dieser Volksfestrummel kommt mir zugute“, murmelte der Professor. „Die ganze Gegend ist so mit sich selbst beschäftigt, daß ich mich unbemerkt aus dem Staube machen kann! Vielmehr: In den Staub und den Stein hinein - und in weitere Erdschichten!“ „Waaas ... ?“ bibberte Micha. „Sie wollen uns allein lassen? Ich dachte, Sie sind hier, um uns zu retten? Was machen wir, wenn die Erdklopse wiederkommen, diese Raga ... Raga. ..“ „Ragamuffin-Spione“, half Superhirn. „ja“, nickte Micha. „Die haben doch auch Erdschiffe, oder?“ „Nein“, mutmaßte Charivari. „Sie sind ihre eigenen Erdschiffe, wenn ich das so sagen darf. Sie verkapseln sich stoß-, druck- und hitzesicher, legen ihre Körperfunktionen innerlich auf Eis und schießen mit dem ,Motor' ihrer enormen Willensenergie aus der Erde heraus und wieder in die Erde hinein. Die Löcher, die wir untersucht haben, scheinen mir das zu beweisen.“ Ja, sind diese Burschen nun aber klein wie die Schachfiguren und können sich so riesig vergrößern, wie der, der bei Superhirn war?“ fragte Tati. „Oder sind sie riesig - und in der Lage zu schrumpfen?“ „Zu schrumpfen!“ sagte der Professor mit Sicherheit. „Das ist möglich, wenn sie die Abstände zwischen den Kleinstteilchen, den Molekülen, ihrer Körper verringern, dadurch wird alles in und an ihnen kleiner.“ Gérard grinste breit: „Aber wie verkleinert oder vergrößert man seinen Anzug mit Willenskraft? Ich hatte ein paar Hemden für Micha, und ich würde gern meinem Vater den Freizeitanzug ausspannen!“ Charivari war um keine Antwort verlegen: „Die ,Schachfigur', die dann als Riese zu Superhirn ging, um ihn auszuhorchen, hat den Anzug nicht vergrößert, sondern ausgedehnt. – Trotzdem...“ Charivari schritt auf und ab und dachte wieder an etwas anderes. Micha hatte ihn auf einen Gedanken gebracht. Spione des Ragamuffin konnten tatsächlich zurückkommen. Möglicherweise würden sie sich etwas Neues, viel Raffinierteres ausdenken, um die jungen Freunde zu verwirren und auszuhorchen ... „Wenn ich euch in mein Erdschiff Giganto packen könnte“, sagte er schließlich. „Da wäret ihr sicher. Ich könnte euch mit all meinen Mitteln schützen. Aber ihr müßtet mich begleiten...“ „Hurra!“ schrie Micha. Er nahm den Pudel auf den Arm. „Los! Gehen wir! Einsteigen - und ab, die Post!“ Die anderen, auch Tati, horchten auf. Ein „Abstecher“ in die Erde hinein... Das klang verlockend! Wenn Charivari überhaupt auf den Gedanken kam, mußte er ziemlich sicher sein, den Ragamuffin zu besiegen ... „Die Frage ist nur“, murmelte der Professor, „wie erklären wir euer plötzliches Verschwinden?“ „Ach so, ja!“ Tati setzte sich ratlos in einen Sessel. „Wenn Madame Claire von dem Volksfest zurückkehrt und uns nicht mehr vorfindet, dann schlägt sie Alarm und telefoniert mit unseren Eltern!“ Alle legten die Stirn in Falten, und es sah tatsächlich so aus, als dächte Loulou ebenfalls nach. Doch das Problem erledigte sich verblüffend zufällig, einfach und rasch. Nein - eigentlich gar nicht zufällig: Während man noch heftig grübelte, rief Superhirns Mutter aus Lyon an. Sie hatte dort ihre Schwester besucht und durchs Autoradio die Nachricht vom Sieg über den Schachmeister de la Motte gehört. Nun war sie vor Begeisterung außer sich. Sie wollte ihren Sohn beglückwünschen. „Superhirn, deine Mutter!“ meldete Henri, der den Hörer aufgenommen hatte. „Sie weiß schon, daß du den Großmeister zweimal im Schach geschlagen hast!“
Der spindeldürre junge „schaltete“ sofort. Er riß Henri den Hörer aus der Hand. Die Augen hinter den runden Brillengläsern verzogen sich eulenhaft. Sein Gesicht war ein einziges Strahlen. „Ja, ja. Große Sache!“ rief er in die Sprechmuschel. „Bin furchtbar gefeiert worden. Die Zeitungen und das Fernsehen werden sicher morgen auch noch was bringen. Ja, Mutter, ja! Aber, was ich sagen wollte: Hier ist noch ein Schachspieler, ein Gelehrter, seine Motorjacht liegt gerade im Hafen, und eben hat er mich und die anderen zu einer Seefahrt eingeladen!“ Vor Erstaunen über Superhirns Geistesgegenwart schmiß Micha den Pudel hin. Er ließ das arme Tier einfach auf den Teppich fallen. Schnell ging der Professor an den Apparat. „Ich nehme die ganze Bande auf mein Schiff, Madame“, sagte er. „Seien Sie überzeugt, ich sorge aufs beste für jeden! Unter meinem Schutz sind alle mindestens genauso sicher wie in Monton!“ Das war unter den gegebenen Umständen sogar die „bittere Wahrheit“! Aber mehr durfte Charivari nicht verraten, sonst hätte er nicht nur Superhirns Mutter, sondern auch alle Verwandten, die Angehörigen der anderen, das ganze Land - und am Ende die Menschheit in Angst und Schrecken versetzt. Das Auftauchen eines Spions des Ragamuffin hätte sich ja wie ein Lauffeuer verbreitet ... Charivari legte den Hörer auf. „Deine Mutter ist einverstanden. Sie meint, die Eltern deiner Freunde würden es auch sein. Also, ihr Küken: Unter meine Fittiche!“ So rasch wie möglich zogen alle die für das „Schiffsabenteuer“ zweckmäßigste Bekleidung an: Jeans, Pullis, Sportschuhe. Denn der Giganto, so sagte Charivari, sei vollklimatisiert, man könne sich frei darin bewegen. Besonderes Zeug, wie etwa „Erdfahreranzüge“, brauche man nicht. Die gewaltigen Druck- und Hitzeverhältnisse im Erdinnern würde ein Aussteigen auf keinen Fall gestatten. Für die Durchforschung von Höhlen dicht unter oder an der Oberfläche gab es Spezialkombinationen mit Atemmasken und anderen „Extras“ an Bord. Tati hinterließ Madame Claire einen Zettel, auf dem sie den „Ausflug“ genauso begründete, wie Superhirn das gegenüber seiner Mutter getan hatte. Es lagen so viele große und kleine Motorjachten im Hafen, wie sollte die gute Haushälterin da wissen, mit welcher die Gefährten ausfahren würden? Und übrigens -waren die Gefährten schon öfter überraschend irgendwohin eingeladen gewesen, und sie waren immer brav zurückgekehrt. „Außer dem Waschzeug lassen wir sowieso fast unser ganzes Gepäck in den Zimmern“, meinte Henri. „Daran sieht sie, daß wir bald wiederkommen! Aber was ist, wenn Ragamuffins Spione noch mal hier auftauchen und ihr Angst machen?“ „Was sollten sie von Madame Claire wollen?“ erwiderte Superhirn. „Sie weiß ja nichts! Sie kennt Professor Charivari nicht, und sie hat nicht die geringste Ahnung von seinen Geheimstationen!“ Als sie überall das Licht gelöscht hatten, verließen sie die Villa Monton. Während Henri die Eingangstür abschloß, traten die anderen in den nächtlichen Park hinaus. Das Feuerwerk in Monton hatte aufgehört. Es war so dunkel, daß man Bäume, Sträucher, den Rand des Swimming-pools, den alten Pavillon und den Rand des kunstvoll verzierten historischen Brunnens nur als Schatten wahrnahm. „Und da drunter liegt das Schiff?“ flüsterte Micha. „Das Erdschiff Giganto? Etwa im Brunnenwasser?“ Man hörte am Tonfall, daß der Professor lächelte. ..Mein Giganto ist zwar eine Art U-Boot, aber doch ein bißchen zu groß für den Brunnen. Die Wasserader ist im Augenblick abgedrängt, wir steigen über eine Leiter in den Schacht, direkt in die Schiffsluke hinein.“ Er ließ kurz seinen Fingerring-Scheinwerfer aufblitzen. Tati stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Über dem Brunnen schwebt was!“ flüsterte sie. „Etwas mit schillernden Augen.“ Der Pudel bellte kurz und sprang mit einem Satz in die Höhe. „Spu - Spu - Spuk ... !!!“ stammelte Prosper. „Der Hund rennt doch über der Brunnenmitte - oder?“ Das war Gérards entsetzte Stimme. „Warum fällt er nicht hinein?“ „Weil ich einen Deckel aus Geballter Finsternis darübergesprüht habe“, erklärte der Professor. Er
klopfte an eine seiner Taschen: „Darkness Spray. Das wird so hart, daß keine menschliche Gewalt es knacken kann.“ jetzt lachte er leise. „Die Augen, die ihr saht, gehörten einer Katze. Und der ist Loulou nachgesprungen. Tati, nimm den Pudel runter. Ich löse den ,Patentdeckel' mit einem Gegenmittel.“ Er zog etwas hervor, das offenbar nicht größer als ein Feuerzeug war. Zisch machte es. Superhirn tastete den Brunnenrand ab. „Offen!“ verkündete er. „Ha, und hier fühle ich eine Leiter. Ein ausfahrbares Gerät des Erdschiffes?“ „Ja“, sagte Charivari. „Geh du mit Henri voraus. Tati kommt mit dem Pudel nach. Euer Waschzeug reiche ich euch zu, wenn ich mit Micha folge!“ Geräuschlos vollzog sich die Einbootung. Als der Professor noch auf der Leiter im dunklen Brunnen stand, Micha mit seinem Oberkörper abstützend, hörte man oben einen Automotor. „Die Klapperkarre vom Gärtner!“ rief Henri gedämpft herauf. „Madame Claire ist aus Monton zurück.“ „Möchte mal wissen, warum das Wasser am Tor aus der Erde kommt“, ertönte die Stimme des Gärtners. „Ist der Brunnen etwa verstopft?“ O Schreck! Madame Claire beugte sich über den Brunnenrand. Da es in dem runden Schacht noch dunkler war als oben, sah man den Schatten ihres Kopfes. Ausgerechnet in diesem Moment berührte Micha aus Versehen den Fingerring-Scheinwerfer des Professors. Der Scheinwerfer leuchtete kaum eine Sekunde lang auf, aber Micha rief erschrocken: „Hach!“ und Loulou machte Wuff! „Micha!“ schrie Madame Claire. „Was suchst du da unten?“ Ihr Kopf verschwand. Aufgeregt teilte sie dem Gärtner mit: „Ich glaube, da ist jemand im Brunnen.“ „Was?“ Man hörte derbe Schuhe auf dem Kies. „Na, das werden wir gleich haben!“ Und der Gärtner befahl lautstark seiner Frau, ihm die Taschenlampe aus dem Auto zu reichen. ..Schnell!“ rief Madame Claire. „Schnell. Die Kinder können ja ertrinken!“ Eilends kraxelten Charivari und Micha ins Erdschiff hinunter. „Verflixt“, wisperte Superhirn. „Zu spät! Wir sind entdeckt!“ 10. Giganto meldet: „Vorstoß in die Erde!“ Doch bevor der Gärtner seine Taschenlampe in die Tiefe richten konnte, ließ Charivari wieder das Sprühgerät zischen. Von oben, durch das Rund der Öffnung, drang nicht mehr der geringste Schimmer des Nachthimmels herein. Man sah auch keinen Schatten des hohen, auf vier Säulen ruhenden Brunnendachs. „Ich habe einen Deckel aus geballter Finsternis über uns gelegt“, sagte der Professor. „Die Dunkelheit gerinnt mit dem Spray, wie Wasser zu Eis erstarrt. Nur wird diese Abschirmung härter als Tresorstahl. Kein Gegenstand, kein Licht, kein Laut kann hindurchdringen.“ Er schaltete den Fingerring-Scheinwerfer an, stellte ihn auf sehr stark und leuchtete an der Leiter hinab in die Bootsluke. „Ich komme jetzt mit Micha!“ Die Leiter - sie war sehr fest, schien aber fast spinnwebenhaft leicht zu sein - war doch länger als Micha gedacht hatte. Und Charivaris Ring schoß einen breiten, blendenden Lichtkegel. Er strahlte nicht nur in die Einstiegsluke auf Tati, Prosper, Henri, Gérard, Superhirn und Loulou herab, sondern er erfaßte auch einen Teil der oberen Außenhülle des riesigen Erdschiffs Giganto. „Aaahhh!“ staunte Micha. Er blieb auf einer Leitersprosse stehen und blickte wie gebannt unter Charivaris Achsel hindurch. Tief unter dem Brunnen hatte der Professor den Wasserverlauf geändert und seinem Giganto einen „Parkplatz“ geschaffen. Immerhin war so viel freier, luftgefüllter Raum vorhanden, daß man den Rumpf erkennen konnte. Vorn verlief er spitz, hinten war er breit, kreisrund und glatt wie ein gewaltiger Bohrkreisel. „So hast du dir den Giganto nicht vorgestellt?“ Professor Charivari ließ den Scheinwerfer rasch hin
und her gleiten. Giganto bot ein herrliches Bild. Er blitzte und funkelte in allen Farben. Seine glatte, rassige Hülle. blendete beinahe die Augen. Micha krabbelte an Charivari vorbei und rutschte seitlich an der Leiterstange auf das Erdschiff hinunter. Tati steckte den Kopf durch die Luke. „Ich will das auch sehen!“ bat sie. „Als wir reinkrabbelten, war es ja dunkel!“ „Dann kommt schnell alle noch mal raus!“ rief der Professor. Tati verschlug´s die Sprache. „Die Außenwand besteht wohl aus eingeschmolzenen Königskronen?“ meinte sie schließlich verwundert. Das blitzt und blinkt und funkelt ja wie in All Babas Schatzhöhle“, grinste Gérard. „Ein Erdschiff - wie 'ne Staatskarosse von einem Scheich“, feixte Prosper. „Fehlen eigentlich nur noch 'n paar Zirkuspferde mit Federbüschen und Silberflitter.“ „Ich glaub nicht, daß der Professor dem Ragamuffin imponieren will“, sagte Henri. „Nee“, meldete Superhirn. „Habt ihr noch nie gehört, daß Gold, Silber, Platin nicht nur für Schmuckstücke wichtig sind? Silber verwendet man zum Beispiel in der Elektroindustrie. „Genau wie Edelsteine!“ fügte Henri hinzu. „Der Diamant ist ein wahnsinnig teurer Schmuck, aber er ist das härteste Mineral. Und so braucht man mehr von dem Zeug für alle möglichen Fabriken als für den Juwelierladen. Und auf wieviel Rubinen läuft denn deine Armbanduhr, Prosper? Du hast doch sicher auch einen Plattenspieler mit einem Saphir als Tonabnehmer!?“ „Ungefähr erraten“, lächelte Professor Charivari. „Die Hülle besteht aus einem Material, in dem unser Labor die Bindungen zwischen den Atomen so verstärkt hat, daß sie erst bei hundert Millionen Grad aufbrechen. Diese Hitze kommt aber nur ausnahmsweise in einigen außergewöhnlichen Sternen vor. Selbst in der Sonne herrschen nur ungefähr vierzehn Millionen Grad Hitze. Die feste Bindung der Atome macht die Hülle praktisch unempfindlich gegen Drücke bis zu einigen Milliarden Atmosphären-Überdruck.“ Sie stiegen in die Schiffsluke. Die Leiter zog sich automatisch ein, und die Luke schloß sich über ihren Köpfen. „Der Giganto durchdringt jeden Stoff, der im Erdinneren vermerkt wird“, erklärte Professor Charivari. „Er hat die Form eines regelmäßigen, langen Spitzkegels - also einer Tüte-, und er ist ein Allesfresser. Das heißt, er verarbeitet jeden Stoff, auf den er stößt, zu Treibstoff. Vor seinen sternförmigen Saugdüsen wird selbst das härteste Gestein jäh geschmolzen. Die Erwärmung geht so schnell, daß die Hitze gar nicht abfließen kann. Superhirn kennt sicher etwas Ähnliches vom Elektronenstrahl-Schweißen. Da wird die Umgebung der Schweißnaht auch nicht erhitzt. Für den Giganto ist das wichtig, weil dadurch das umgebende Gestein nicht beeinträchtigt wird. Es dehnt sich nicht merklich aus, und deshalb fahren wir auch geräuschlos, ohne Knistern, im Fels. Das geschmolzene Gestein wird einfach nach hinten gepumpt. Dort kann es hinter dem Giganto wieder erstarren. Durch das Zurückpumpen habe ich - wie beim Düsenmotor eines Jets - den Rückstoß, der den Giganto vorwärts treibt.“ „Ist das schick hier!“ rief Tati begeistert. „Ich komme mir vor wie in einem Hotel!“ Sie betrachtete die tiefgrünen Rundbänke um den gläsernen Tisch im Frontraum. „Ihr habt auch kleine Räume im Heck - genau wie im Hotel“, zwinkerte Charivari. „Und eine Küche, für die sich besonders Micha interessieren wird!“ „Nirgends In-In-Instrumente!“ stellte Prosper fest. „Kein Druckmesser, kein Tachometer, kein Schalter, kein Hebel, keine Taste, kein Knopf! ja, wie will denn das Ding fahren ... ?“ „Schätze, es fährt schon!“ grinste Superhirn. Er hatte den Professor beobachtet - und bemerkt, daß doch ein Gerät vorhanden war, nämlich ein Mikrofon, das wahrscheinlich nur auf Charivaris Stimme programmiert war. Der Professor nickte. „Wir haben bereits 200 Kilometer, nach Erdoberflächenberechnung, zurückgelegt.“ „200 Kilometer!“ rief Gérard. „Donnerwetter! In den paar Sekunden! Und noch dazu unter der Erde, ohne U-Bahn-Schacht, ohne Schienen, ohne ... ohne...“ Verwirrt klappte er den breiten Mund zu.
„Oh, der Giganto kann noch schneller sausen“' zwinkerte der Professor. „Und wenn ich bremse, merkt ihr das nicht. Wegen des innen eingerichteten Verzögerungs-Effekts. Übrigens kann Giganto auch Purzelbäume schlagen, ohne daß ihr's merkt!“ „Ich wundere mich über nichts mehr!“ murmelte Henri. „Mit solchem Tempo durch den dicksten Dreck und man spürt kein Beben unter den Füßen ...“ Der Professor sprach ins Befehlsmikrofon, wobei er einige Zahlen nannte. In der Wand erschien plötzlich ein fernsehähnliches Bild, auf dem der Signalchef seiner Weltraumstation zu sehen war. „Giganto meldet: Vorstoß in die Erde!“ sagte Charivari. „Sind auf Spürkurs, Zentrale Ragamuffin.“ Der Signalchef auf dem Bildschirm grinste. „Habe eine erstaunliche Nachricht“, tönte seine Stimme durch einen Lautsprecher. „Der Ragamuffin hat sich über unseren Gehirnwellenapparat zu erkennen gegeben.“ „Waaas?” rief Superhirn. Gérard und Prosper glotzten sich an. Micha tastete nach Tatis Hand. Henri nahm den Pudel auf den Arm und lauschte verblüfft. Das Gesicht des Professors zog sich immer mehr in die Länge. ja, da staunen Sie wohl“, sagte der Signalchef auf dem Bildschirm. „Wie lautet die Nachricht des Ragamuffin?“ fragte der Professor heiser. „Nun halten Sie sich fest, obwohl Giganto nicht wackelt“, klang die Stimme des Signalchefs. „Der Ragamuffin meldete im Klartext: Charivari, Sie haben eine gute Partie gespielt. Ich gebe auf, wenn Sie mich nicht verfolgen. Mein Bauer hat versagt.“ „Der versteht sogar Spaß. . .“, lachte Superhirn. „Er tut, als sei er ein Schachkönig.“ Charivari überlegte eine Weile. Schließlich meinte er: „Ich nehme an, der Ragamuffin wird gemerkt haben, daß wir stärker sind. Möglich, daß er sich für immer zurückzieht und seine Gehirnwellen nie wieder ausstrahlt.“ „Na, ein Glück!“ rief Tati erleichtert. Schön wär's, dachte Superhirn. Gérard, Prosper und Micha aber wollten unbedingt noch mindestens zwei Tage mit dem Giganto unter der Erdoberfläche umhergondeln. „Genehmigt“, lächelte Professor Charivari. „Nach all den ausgestandenen Schrecken, habt ihr das verdient ... !!!“
Ende
Giganto meldet: Über uns ein Vulkan! 1. Geheimrakete kreuzt in der Erde Seit dem vergangenen Abend „gondelte” der Giganto auf außerplanmäßiger Testfahrt durch das Innere unserer Erde. Professor Charivari, der am bogenförmigen Befehlstisch ganz allein die gewaltige Erdrakete lenkte, hatte seine jungen Freunde mitgenommen. Eben war er dabei, den Giganto zurück an die Oberfläche - zum Ferienort Monton - zu programmieren. Sein gurkenförmiger Kahlschädel mit dem lackschwarzen, fadendünnen Kinnbart glänzte gelblich über der Befehlsplatte. Marcel, dem jungen mit der runden Brille, entging nichts. Wegen seiner Geistesgegenwart nannten ihn die anderen Superhirn. Und Superhirn rief plötzlich: „Achtung, Professor...!!!” Nicht nur Charivari - auch die jungen Passagiere riß es hoch. Das Mädchen Tatjana zog den jaulenden Zwergpudel an sich. Während ein leiser Signalton die Trommelfelle schmerzhaft traf, flimmerte in der Steuerbordwand des Kommandoraums ein Funkbild auf Man erkannte das Gesicht Captain Biggs. Biggs war nahezu mondfern. Er saß in der geheimen Weltraumstation Monitor und hatte Verbindung mit dem „Schiff” in der Erde zu halten. „Erdschiff Giganto ... Erdschiff Giganto...”, kam seine Stimme schauderhaft rauh, „Todesgefahr! Wir geben euch verloren!” Der große, hagere Kommandant und seine jugendliche Besatzung standen wie vom Donner gerührt. Charivari griff an seinen fadendünnen Bart, als sei der eine Notleine. Er blickte aus schrägen Augen auf Henri, dessen Schwester, ihren jüngeren Bruder Micha. Doch von denen - wie von dem schwarzen Pudel Loulou - konnte er keinen Rat erwarten. Gérard. und .Prosper schienen zu träumen. Superhirn wandte den Kopf nach allen Seiten. Auch er, wußte nichts zu sagen. Der Kommandoraum war karg. Die Wände schimmerten sanft metallisch. Von Todesgefahr spürte man hier drinnen nichts. Im Gegenteil. Professor Charivari wirkte in seinem Bordanzug eher wie ein Trainer, der eine Jugendgruppe um sich versammelt hat. Nichts, aber auch nichts wies darauf hin, daß der Giganto unvorstellbare Hindernisse im Inneren der Erde durchdrang. Man hörte weder das Bersten von Gestein, noch ein Schürfen an der Außenhaut. Saugdüsen und Rückstoßaggregate arbeiteten nicht wahrnehmbar. Kein Schwanken teile sich den Insassen mit, nicht einmal das leiseste Vibrieren. Fahrtbeschleunigungen, Bremsvorgänge, Drehungen um Längs- oder Querachse, bewirkte der Professor durch Berühren einiger Kontaktplatten auf dem Prüftisch - oder er gab seine Befehle in ein Mikrofon an die Maschinenraum-Automatik. Nein - man spürte selbst die tollsten Purzelbäume nicht, die das Schiff in der Erde vollführte. Dank der besonderen Verzögerungseffekte saß oder stand man so behaglich wie in der Halle eines Hotels. Immer noch hingen die unheilvollen Worte von Biggs im Raum: „... Todesgefahr ...” Der Zwergpudel Loulou, Tatis und Michas Maskottchen, winselte. Der sägende Signalton hatte ihn unruhig gemacht. Er spürte das kalte Entsetzen der Menschen. „Ssst!” Tati zerrte ihn an sich, hob ihn auf und plumpste kraftlos auf die Knautschlack-Bank. Ihre Beine hatten versagt! Ausgerechnet! Wo sie doch ständig im Training war, denn sie wollte Tänzerin werden! Prosper guckte ruckhaft umher. Er schluckte und schluckte. Seine Augen blickten flehentlich, als wollte er sagen: Nun hau mir doch bitte mal einer auf den Kopf! Damit ich wach werde ... Aber es hatte ihn ja längst jemand auf den Kopf gehauen, nämlich Biggs, mit der Schreckensmeldung. Der stämmige Gérard stand da, als hätte ihm der Schiedsrichter die gelbe Karte gezeigt. „Was - was ist denn ... ?” stammelte Micha, der jüngste der Crew. Er warf sich neben seine
Schwester auf die Bank. Doch Tati konnte ihm weder Trost noch Schutz geben. Lachhafter Gedanke! Wenn der Giganto zerbarst, würden Druck und Hitze den Schiffskörper und die Besatzung in Atome verwandeln. e9Da ... !!!” Superhirn äugte durch seine enorme, runde Brille: „Biggs meldet sich wieder!” Der Signalton, der die Trommelfelle so unangenehm traf, verschreckte den Pudel noch mehr als beim erstenmal. Wau, wuff, waff sein Bellen überschlug sich. Während ihn Tati und Micha zu beruhigen versuchten, war Captain Biggs, Sicherheitschef der überwachenden Raumstation Monitor, klar auf dem Bildschirm erkennbar geworden. Man sah ihn so deutlich wie einen Tagesschau-Sprecher im Fernsehen. „Raumstation an Giganto in der Erde...”, drang seine Stimme durch den Lautsprecher. „Wiederhole: Todesgefahr ... !!!” Er gab jetzt sowohl die Position der Raumstation im Weltall als auch die von dort geortete Position des Erdschiffs Giganto innerhalb des Planeten an. Gérard sank auf den Boden und krümmte sich, als habe ihm ein Fußballgegner versehentlich einen Tritt in den Magen versetzt. „Mann, o Mann ... !” ächzte Prosper. Er ging neben Gérard in die Knie. Nur Henri wankte genauso wenig wie Professor Charivari und Superhirn. Plötzlich fragte der spindeldürre Junge rasch: „Ist Biggs wahnsinnig?” Das galt nicht der Durchsage des fernen Sicherheitschefs. Auch nicht seiner Art. Wohl war der Captain gewöhnlich ein munterer Bursche, der im Funkverkehr gern Scherze einflocht. Aber man konnte ihm nicht verdenken, daß ihm der Humor bei dieser Meldung vergangen war. Er blickte wie aus zwei Pistolenläufen, starr und kalt, als sei er blutlos vor Furcht. Superhirn begriff noch mehr: Über die Mattscheibe, genau über Biggs Stirn, zogen Schattenzeichen, grauenhafte, schwarze Sichtbilder ... Eingeblendete Symbole. Sie stellten menschliche Ohren dar ... Gellend schrie Micha auf. Der Pudel strampelte sich von Tati los und suchte einen Winkel, in dem er sich verkriechen konnte. Aber es gab an Bord nichts Unübersichtliches - genau, wie es für den Giganto wohl kein Entrinnen mehr gab. Die grauenhaften Sichtzeichen ... Die Kette von schwarzen, „menschlichen” Ohren, die pausenlos über die Stirn auf der Mattscheibe raste ... Sie waren ein Hinweis darauf, daß Biggs vergessen hatte, den Bild- und – Ton - Codierer einzustellen! Jeder Unbefugte, jeder mögliche Feind konnte ihn „klarbildlich” und „klartextlich” sehen und hören! Diese Zeichen-Vorschalt-Einrichtung hatte Biggs natürlich auch auf seinem Kontrollgerät, es mußte ein wahres Chaos in der Raumstation herrschen, eine blinde Aufregung, daß er sein Versäumnis erst so spät bemerkte. „Panne ... !” brach Biggs ab. Bild und Ton setzten aus. „Was soll das denn alles?” richtete sich Henri an den Professor. Er trat mit seinem spindeldürren Freund an den Prüftisch. Beide beugten sich mit dem Professor über die große, breite bogenförmige Platte. Darin, auf der linken Seite, war eine räumliche Darstellung der Erde zu sehen, ein wahres „Geisterbild”. Die Darstellung war nämlich einerseits durchsichtig, andererseits zeigte sie schwache Umrisse, so auch die Konturen der Kontinente. Ein roter Punkt, der in diesem dreidimensionalen Gebilde in der Platte leuchtete, bezeichnete das Erdschiff Giganto auf seiner gegenwärtigen Position und dem gegenwärtigen Kurs. Nach einer Weile schien dem Professor eine Idee zu kommen. Scheinbar sorglos sagte er zu Tati: „Bist du so lieb und gehst mit den anderen in den Wohnteil! Vielleicht führst du den Pudel im Labor 3 mal Gassi.” „Sie wollen uns los sein?” fragte das Mädchen kriegerisch. „Sie möchten mit Superhirn und Henri was besprechen? Wohl den Ernst der Lage', wie? Ich glaube, es reicht, was wir von Biggs gehört haben!” „Tati, he ... !” mahnte Bruder Henri. „Sie ... sie ... sie hat recht ...”, stotterte Prosper.
Schweratmend schlug Gérard. vor: „Geben Sie Befehl an Steuerungszentrale: Vollschub, Rückkehr zur Erdoberfläche oder so! Damit wir schleunigst in Frankreich auftauchen - möglichst wieder genau an unserem Ferienort!” „Tun Sie doch endlich was !” schrie Micha. Obwohl er längst kein Erstkläßler mehr war, stampfte er kindisch mit dem Fuß. Superhirn blickte ungerührt durch seine enorme Brille. „Ihr vergeßt wohl”, mahnte er Tatjana, Gérard, Prosper und Micha, „daß ihr euch gestern abend noch darum gerissen habt, einen Abstecher in die Erde zu machen!” „Und nun kriegt ihr kalte Füße”, sagte Henri. „Ihr gehört nicht in den Kommandoraum, wenn dicke Luft ist.” „Na, dann tun wir euch den Gefallen”, gab Tati nach. Und zu Gérard, Prosper und Micha sagte sie: „Kommt also, wir gehen erst mal in die Bordbibliothek. Da ist auch 'n Kino!” Professor Charivari war mit Superhirn und Henri allein. „Es steht schlimm, nicht wahr?” wisperte Henri. „Ja”, sagte Charivari. Seine schmalen, etwas schrägen Augen bewegten sich rascher, als es sein hagerer, ungeschickt wirkender Körper verriet. Nichts, was auf dem Befehlstisch aufleuchtete, erlosch oder als Zahlenkolonnen darüber hinzog, entging seinem Blick. Durch Berührung der Kontaktplatten rief er alle Bordsysteme ab. Die Sichtzeichen der automatischen Meldungen - von den Hauptaggregaten im Maschinenraum (der „Steuerungszentrale”) bis zum letzten, unsichtbaren Relais erschienen in den Wänden: Alles funktionierte einwandfrei. Die Störung des Funkverkehrs konnte völlig „normale” Ursachen haben. Wieder tippte Professor Charivari auf einige Kontaktplättchen. Plötzlich schwebte die geisterhafte Darstellung der Erde wie eine gewaltige Seifenblase mitten im Raum! „Das Gebilde platzt nicht”, lächelte Charivari, als er Henris Gesicht sah. „Du kannst hinein- und hindurchgreifen. Es ist ein Lichtballon.” „Licht...?” fragte Henri mordsdämlich. „Ein von mir und meinen Mitarbeitern weiterentwickeltes Hologramm”, erklärte der Professor, „ein Vollständigkeitszeichner. Ein Körper, der aus zusammengesetzten Lichtstrahlen besteht. Ich habe das Ding aus dem Prüfpult mitten in den Raum verlegt, um eine bessere Kontrolle über den roten Fahrtenschreiber-Punkt zu haben, der unseren Giganto darstellt.” Er fügte hinzu: „Ein Foto ist nur eine zweidimensionale Information. Das Hologramm eine dreidimensionale. Ich kann mit, auf und in diesem Hologramm zum Beispiel bläuliche, grünliche und rötliche Farbeffekte erzielen, wie ihr seht. Unterscheidungseffekte. Die Erde ist bläulich, wenn auch nur sehr, sehr schwach, die Kontinente sind grünlich, der Giganto ist eher rötlich als rot. Starke Farben sind nicht möglich. Ebenso fehlt das Weiß, weil Weiß keine Farbe, sondern die Summe aller Farben ist.” Superhirn nickte. „Ein farbloses Prisma gibt sämtliche Farben des Regenbogens her!” Charivari fuhr fort: „Dem Hologramm, das da im Raum schwebt, kann ich nach Belieben Längen- und Breitengrade und ihre Verlängerungen zum Erdmittelpunkt hinzuschalten.” Superhirn begriff sofort den näheren Sinn der Sache. „Man kann das Hologramm immer so drehen, daß man sieht, unter welchem Kontinent sich der Totpunkt, also unser Erdschiff, befindet?” „Mehr noch”, sagte Charivari. „Ich bin in der Lage, Erdausschnitte holographisch so ungeheuer zu, vergrößern - beispielsweise die allernächste Umgebung Gigantos im Planeten -, daß ich unseren Positionskubus mit äußerster Genauigkeit feststellen kann.” „Toll!” rief Henri. „Aber ich hatte mir die Erde platter vorgestellt. In unseren Schul-Atlanten erscheint sie immer noch als Rotations-Ellipsoid.” „Ja! Und man brauchte schließlich kein Erd-Erforschungsschiff, wenn man von außen in die Erde gucken könnte wie in eine Glaskugel”, grinste Henri. „Captain Biggs muß besoffen sein!” Superhirn widersprach: „Betrunken war Biggs bestimmt nicht. Klar kam über Bildfunk: Wir geben euch verloren ... ! Das fällt mir eben wieder ein. Und deshalb bin ich nun doch überzeugt: Die da oben wissen etwas, wovon wir keine Ahnung haben!”
Henri sperrte den Mund auf. Der Professor fuhr sich hastig über den Kahlschädel. Ungerührt fuhr Superhirn fort: „Und es muß tatsächlich etwas Furchtbares sein, denn sonst hätte Biggs nicht vergessen, die Nachricht verschlüsselt zu funken!” „Wa-was-was Furchtbares ... ?” erklang eine heisere Stimme. Unbemerkt war der übrige Teil der Besatzung zurückgekommen. Und ausgerechnet Micha hatte die letzten Worte aufgeschnappt ... Erst einmal starrten alle auf den schwebenden Lichtball, den seifenblasenartigen Fahrtenschreiber. Sie kannten ihn ja noch nicht. Loulou stutzte. Er fing an zu knurren, trippelte rückwärts und stürzte sich dann mit um so größerem Mut und lautem Gebell auf das sonderbare Ding. Aber der Ballon bot keinen Widerstand! Hustend und japsend vor Aufregung sprang der kleine Hund das Lichtgebilde immer wieder an, versuchte es zu beißen ... doch seine Zähne faßten - nichts ... ! „Das ist ein Hologramm, ein Giganto-Fahrtenschreiber. Die Farben stammen aus Laser-Geräten”, erklärte Superhirn rasch. „Aber es ist von etwas Furchtbarem gesprochen worden!” beharrte Micha. 2. „Schiff löst sich auf!” „Keine Angst”, sagte Professor Charivari schnell. „Der Giganto ist absolut sicher! Wir haben uns nur darüber unterhalten ...” Er fingerte an seinem Fadenbart, „... was Captain Biggs ... äh ... veranlaßt haben könnte...” Superhirn runzelte die Stirn. Professor Charivari, dieser Mann, der ein Doppelleben als verkannter Kauz, als schrulliger Geochronologe führte, in Wahrheit aber der mächtigste, fortschrittlichste Friedenstechnologe war er, der immer Geistesgegenwärtige, geriet vor den Freunden ins Stammeln. . . „... äh, was wohl Biggs veranlaßt hat, uns Blödsinn zu funken”, nahm er den abgerissenen Satz wieder auf „Die Bordsysteme melden nicht die geringste Gefahr von innen oder außen! Geschweige denn ... äh. ..”, er strich sich den langen, lackschwarzen Bart immer heftiger, „geschweige denn Todesgefahr!” Den Blick wieder auf der tischartigen Platte, ließ er sich in den Kommandosessel fallen. Da er aber aus dem Giganto nicht hinauszusehen brauchte wie der Pilot eines Jets aus seiner Kanzel, saß er nicht mit dem Gesicht bugwärts. Im Erdschiff war es wichtiger, den Kontrollraum mit seinen Wänden, die Schleusen und außerdem die Durchgänge zu den übrigen Räumen vor sich zu haben. „Und im übrigen ist der Giganto nicht aus Papier!” ergänzte noch der Professor. „Das wissen wir!” rief Tati. „Und manches von dem, was Superhirn kapiert, kapiere ich auch! Unsere Erdschiffhülle besteht aus einem Material, in dem die Bindungen zwischen den Atomen so verstärkt worden ist, daß sie erst bei hundert Millionen Grad aufbrechen würden. Solche Hitze kommt aber nur in 'n paar besonderen Sternen vor, und auch nur ausnahmsweise. Sogar in der Sonne herrschen nur ungefähr vierzehn Millionen Grad!” „Kluges Mädchen”, grinste Superhirn. „Die Hitze ist vom Druck abhängig. Und also macht die feste Bindung der Atome die Giganto-Hülle unempfindlich gegen Druck - wie's fachmännisch heißt: gegen Drücke bis zu mehreren Milliarden Atmosphären!” „Soviel brauch ich jedenfalls in meinem Fahrradreifen nicht”, murmelte Gérard. Alle, außer Henri und Superhirn, setzten sich wieder. Loulou ließ sich von Micha kraulen. Er spürte die Erleichterung seiner zweibeinigen Freunde. Gleich kam er sich wieder vor wie in der größten und behaglichsten Hundehütte der Welt. Es schien wenigstens so ... Der Giganto funktionierte tatsächlich erstaunlich exakt. Niemand hatte die Drehung um 180 Grad gemerkt, keiner spürte, daß es nicht mehr abwärts, sondern wieder aufwärts ging. Nur im Lichtball bewegte sich der Fahrtenschreiber-Punkt in Gegenrichtung, und die Tiefenzahlen auf der Platte nahmen nicht mehr zu, sondern ab. Einzig die Geschwindigkeit hatte Charivari etwa um die Hälfte herabgesetzt. Irgend etwas mahnte ihn
doch zur Vorsicht! „Aber wenn uns nun der Treibstoff ausgeht?” Micha war immer noch beunruhigt. „Der Treibstoff?” Jetzt lachte Superhirn laut. Auch Charivari mußte lachen, obwohl er an der Kontrollplatte sehr beschäftigt war. „Wenn uns der Treibstoff ausgeht, würde das bedeuten, daß sich der Erdball aufgelöst hätte”, erklärte Henri dem jüngeren Bruder. Selbst Gérard tippte sich an seinen Rundkopf. „Mensch, Micha! Hast du das immer noch nicht mitgekriegt? Der Giganto wird nicht wie 'n Auto oder wie 'n Flugzeug, wie´n Seeschiff - auch nicht wie 'ne Mondrakete angetrieben! Haha! An Professor Charivari verdienen die Ölscheichs nichts!” „Unser Giganto ist ein Allesfresser”, sagte der Professor, ohne von der Platte aufzusehen. „Das heißt, dieses Erdschiff verarbeitet jeden Stoff, auf den es trifft, zu Treibstoff, vor seinen sternförmigen Saugdüsen wird selbst das härteste Gestein jäh geschmolzen. Die Schmelzmasse wird von den Pumpen über den Verwerter im Heck der Maschine gejagt - und ausgestoßen.” Er fügte hinzu: „Durch den Aus- oder Rückstoß habe ich - wie beim Düsenmotor eines Jets - den ,Schub', der den Giganto vorantreibt.” „Wir fressen uns also richtig durch die Erde”, überlegte Tati. „Durch alles, was in der Erde anzutreffen ist”, vervollständigte Superhirn. „Die Giganto-Maschine wandelt auch Kohle, Gase, glühende Lavaströme, Schiefer, Erze, Diamanten, was immer du willst auch innerirdische Wasserläufe -, zu Fahrkraft und zu Energien für sämtliche verborgenen Bordgeräte um.” „Das hört sich so einfach an”, brabbelte Prosper. Er rieb sich heftig die Nase. „Geh von den einfachsten Beispielen aus, dann kommst du an jedes technische Problem ran”, lächelte Superhirn. „Womit kannst du einen guten ollen Großpapa-Ofen heizen? Mit Papier, Holz und mit verschiedenwertiger Kohle. Wenn er erst mal richtig brennt, nimmt er alles mögliche an, sogar Schuhsohlen, Tauwerk, 'n paar Pfund Kotelett-Knochen. Aber die gänzliche Umwandlung der verschiedensten Stoffe - daß Steine flüssig werden und Wasser in einem innerirdischen See schlagartig verdampft - ist nur eine Frage der aufgebotenen Hitze. Der Giganto erzeugt sie so rasend schnell, daß die Umgebung des geschaffenen ,Fahrtunnels' gar nicht mal beeinträchtigt wird. Und das Ausgestoßene bleibt hinter dem Schiff so zurück, wie die Saugdüsen es vorne angetroffen haben: Fels, zum Beispiel, erstarrt wieder.” ja, das hatte Professor Charivari schon zu Anfang begreiflich zu machen versucht. Trotzdem sagte Tati: „Der Giganto hat die Form einer riesigen Spitztüte, nicht wahr? Aber die Spitze liegt vorn! Da müßte er doch dauernd steckenbleiben!” „Du vergißt die sternförmigen Düsen”, erinnerte Gérard. „Die schaufeln wie Arme mit gespreizten Fingern eine Tunnelbreite noch weit über den Durchmesser des großen Giganto-Hecks hinaus!” Aber die Möglichkeit eines „Steckenbleibens” beunruhigte ihn doch: „Vielleicht hat Biggs das gemeint!” „Daß Biggs sich geirrt hat, steht für mich fest”, sagte Charivari. „Ich gehöre nicht zu den Forschern, die über Leichen gehen! Ich war mit meiner Sache hunderttausendfach sicher. Hätte ich sonst eine Jugendgruppe mit einem Pudel an Bord genommen?” Henri und Superhirn sahen sich rasch an. Vergaß der Professor, daß er sie alle - samt Loulou - überhastet in das Erdschiff gestopft hatte, um sie Spionen zu entziehen ...? Unheimlichen Mächten, die darauf aus waren, zu erfahren, was ihr väterlicher Freund Charivari mit all seinen Geheim-Unternehmungen eigentlich plante ... ? Gewiß - die Spione hatten sich verdrückt, und die Gefährten hatten den Professor bestürmt, eine kurze Giganto-Testfahrt mit ihnen zu machen. Über den eigentlichen Anlaß hinaus ... einen „Vergnügungs-Ausflug”, sozusagen. Biggs Meldung hatte dieses „Vergnügen” nun allerdings recht zweifelhaft erscheinen lassen ... Superhirn wollte etwas sagen, doch er kam nicht dazu. Plötzlich zuckten riesige, rotglühende Blitze über alle Wände: Schiff löst sich auf... Schiff löst sich auf... Das Innere des Giganto wurde zu einem einzigen, gellenden Schrei.
3. Grausames Warten Eine Sekunde kann sehr lang erscheinen. Todesschreck hebt die Zeit auf. Die Giganto-Fahrer saßen und standen wie erstarrt. Loulou war auf den Boden gesprungen und hockte da wie ausgestopft. Was da so entsetzlich schrie, war kein Mensch. Es war die Stimme, die künstliche Alarmstimme des Schiffes selber. Der Giganto schrie wie besessen. So, als sei er kein technisches Gebilde, sondern ein lebendes, in Panik geratenes Tier. Und die Warnblitze in den Wänden zuckten, zuckten, zuckten ... Professor Charivari faßte sich als erster. Er tippte auf eine Kontaktplatte, worauf das Kreischen der Alarmstimme erstarb. Doch immer noch zuckten die roten Blitze. Er machte ein paar Schritte: „Folgt mir!” hörten die erstarrten Gefährten. Das klang verzweifelt nach der Weisung eines Seeschiff-Kapitäns: „Alle Mann in die Boote!” Doch an ..Ausbootung” war hier in der Erde nicht zu denken! Der Giganto war kein absackendes Fahrzeug auf dem Meer, wo es immerhin Luft gab, wo die wildeste Woge den Schiffbrüchigen noch Chancen ließ! Selbst aus einem U-Boot hätte man mit dem Tauchretter vielleicht noch herausgekonnt. Aus Flugzeugen konnte man mit Fallschirmen springen. Und unter Umständen konnte man sich aus einem fahrenden Auto, aus einem entgleisenden Zug trudeln lassen: Das war immerhin möglicher, als ein Verlassen des Erdschiffs unter den gegebenen Druck- und Hitzeverhältnissen in der „steinernen Faust” des Planeten. Was Professor Charivari gewollt hatte, erfuhr keiner. Kaum hatte der Alarmschrei ausgesetzt (die Warnblitze zuckten immer noch), als in der Backbordwand das Funkbild wieder auftauchte: Captain Biggs von der Weltraumstation meldete sich! „Verschlüsselte Durchsage!” tönte seine Stimme schnell, aber klar und deutlich aus dem Lautsprecher. Diesmal handelte er vorschriftsmäßg: „Raumstation Monitor an Giganto ... Raumstation Monitor an Giganto ... Bitte melden...!!!” Die Warnblitze glühten rot ... Mit einem Satz war Charivari an der bogenförmigen Platte. Er sprach ein paar Worte ins Befehlsmikrofon. Ein zweites Bild leuchtete auf: Die Mattscheibe, auf der der Professor sich selber sah ... Der Funkverkehr klappte also beiderseits, Biggs konnte nun in den Giganto „hineinblicken”. „Hier Giganto ... Tiefe siehe Leitstrahlangabe oben. Giganto auf außerplanmäßiger Fahrt. .. Sieben Insassen, ein Test-Hund. Kubus 28 Strich 999 A 2 Komma 7 ZERO. Schlußwert Strich Strich 1. Rück-Kurs Gebiet Frankreich, Ort: Monton. Haben Blitzalarm ,Zerstörung Giganto'!” Biggs Gesicht auf dem Bild verzerrte sich: „Ich habe es gewußt.. .!” schrie er. „Sie hätten mit Vollkraft hochflitzen sollen, statt weiter so gemütlich mit Ihrem Kindergarten da unten rumzugondeln! Was heißt jetzt noch Rückkurs ...? Sie sind ja längst im Eimer mit Ihrem ...”, in der Aufregung fiel ihm nichts anderes ein, „... mit Ihrem Eimer!” Charivari streifte die Wände mit raschen Blicken: Immer noch zuckten die rotglühenden Blitze, überall, überall ... Dennoch schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein. Scharf sprach er ins Mikrofon: „Wenn Sie noch einmal die Fassung verlieren, Biggs, dann schmeiße ich Sie raus! Hören Sie mich, Biggs? Vorhin haben Sie sogar unverschlüsselt gefunkt. Sie wissen, wie gefährlich das ist! Ja, sind Sie denn blödsinnig?” Der Mann auf dem Bildschirm geriet nun erst recht außer sich. Wie Wolfsgeheul kam seine Stimme aus dem All: „Mich noch rausschmeißen? Wie denn? Wann denn? In ein paar Sekunden ist Ihr Giganto nur noch glühender Staub ... !” Was Captain Biggs sonst noch schrie, war nicht zu hören. Erst setzte der Ton aus, dann legte sich ein Schleier über das Bild. Auch das Kontrollbild erlosch. Die Verbindung war wieder gestört - und wahrscheinlich für immer ... „He. ..!” rief Prosper. Er drehte sich wie ein Kreisel.
„Was soll das? Wer ist nun eigentlich verrückt? Da sind doch immer noch die Blitze...” Gérard schien einen Fußball vor die Stirn bekommen zu haben. Der Hund bellte jetzt laut. „Sind wir schon geplatzt?” hauchte Micha, den Tati an sich gerissen hatte. Professor Charivari machte sich auf der Platte zu schaffen. Ganz ruhig durchdrang Henris Stimme den angsterfüllten Kommandoraum: „Auf meiner Uhr sind dreiunddreißig Sekunden vorüber!” „Fünfunddreißig”, berichtigte Superhirn. „Fünfunddreißig Sekunden seit Beginn des Alarms und Beginn deiner Zeitansage! Ich habe mitgestoppt!” Tatsächlich hatte er die Schrecksekunde mitgerechnet. Superhirn war und blieb Superhirn! Der nach wie vor in der Luft stehende Lichtball verriet nicht das geringste! Giganto fuhr! Er fuhr noch immer! Prosper, Gérard, Micha und seine Schwester hatten bemerkt, daß seine Wangen unter den hervorstehenden Backenknochen hohler wirkten als sonst. Gérard stemmte die Fäuste in die Hüften. „Sie sprachen von innen und außen, Herr Professor”, murrte er. „Ha! Als ob das in der Erde so´n großer Unterschied wäre! Ein Außen ist doch sowieso Quatsch! Wir stecken allemal drin, nämlich in der Falle! Ob mit, ob ohne Giganto!” „We-we-wenn was passiert”, japste Prosper, „läßt uns die Erde nie mehr los! Sie mü-mü-müssen nicht so tu-tun, als ob Sie da-das nicht wüßten!” Schluckend und fuchtelnd fuhr er fort: „Erinnern Sie sich, was Sie gesagt haben! Und wenn Sie uns nicht ausgerechnet rausgeschickt hätten...” „Prosper!” wollte Henri bremsen. Der Freund rief mit erhobener Stimme: „Sie wissen doch am besten, welch mörderischer Druck hier unten herrscht! Wenn der Giganto platzt, sind wir verbacken und verbraten!” Fast väterlich beruhigte ihn Charivari: „Wir sind bereits auf Gegenkurs - zurück, Richtung Erdoberfläche. Ziel: euer Ferienort Monton, Frankreich! Nichts auf der Kommandoplatte, kein Alarmsystem in den Wandanlagen meldet auch nur den geringsten Schaden. Der Funkverkehr mit meiner Weltraumstation ist vorübergehend gestört. Aber solche Störungen hast du wohl auch zu Hause am guten, alten Heimfernseher schon erlebt, nicht wahr?” Doch Professor Charivari schien nur so gelassen. In Wahrheit rasten seine Gedanken und Überlegungen, reiften Entschlüsse im Zeitraffer-Tempo. Wieder sprach er ins Mikrofon: „An CPS...” (Das hieß: „Central Power Section”, „Zentral-Kraft-Abteilung” - und bedeutete nichts anderes als „Maschinenzentrale”). Von der CPS aus wurde der Giganto bewegt und gesteuert, ebenso erhielten die unzähligen Bordgeräte von dort ihre Energie, ob sie sich nun in den Wänden des Befehlsraums befanden oder in den übrigen Arbeits- und Aufenthaltsräumen. „An CPS-A-Ingenieur!” rief Charivari ins Mikrofon: „Funkstation überprüfen!” Man konnte meinen, alle Stationen seien mit hochspezialisierten menschlichen Fachkräften besetzt. Dabei handelte es sich durchweg um fehlerorientierte redunante Prozeßrechnungsgeräte. Das heißt: mm mehrfach eingebaute „Rechner”, die bei Ausfällen für einander einspringen konnten. (Ein Beispiel für „Redundanz” ist die Sprache selbst: Sie sichert sich für das gewohnte Ohr ohne Schwierigkeit ganz von allein, wenn im Satz Worte oder Buchstaben ausgelassen werden. So sagen wir: „ ha´m”, statt „haben” - oder „is”, statt „ist”, ohne daß unsere Umgangssprache dadurch unverständlich wird - fehlende Redundanz gibt es bei Telefonnummern. Wird eine Zahl nicht mitgewählt, kommt keine Verbindung zustande.) Der „Central Power Sektionschef”, kurz „CPS”, war nichts anderes als der kontrollierende Maschinen-Automat. Unmenschlich ausgedrückt: Das „Hirn” des gewaltigen Kraftwerks im Heck. Und diese gotteslästerliche Erfindung hatte sogar eine Stimme! Kalt, eintönig rasselnd und quäkend, aber um so lauter, erfüllte sie wie von überallher den Kommandoraum: „Funktionstest ... durchgeführt ... !” Es folgten einige Meldungen, die nur Charivari und Superhirn begriffen. Doch soviel verstanden die anderen auch: Alles okay! Nichts, aber auch gar nichts war kaputt!
„Und mit Biggs keine Verbindung?” rief Henri. „Wie reimt sich das ... ?” Micha hatte die schauderhafte Maschinenstimme noch im Ohr. Der Pudel hopste unruhig hin und her. „Was für'n ekelhafter Schreihals fährt da mit?” fragte Micha. „Ich hatte mal einen Lehrer mit so 'ner Stimme!” „Quatsch!” unterbrach ihn Tati. Daß in Charivaris Konstruktionen Maschinenstimmen sprachen, mußte Micha doch wissen! Es gab ja auch auf Bahnhöfen längst solche „Stimmen”. Nur sagten sie dort brav und bieder die Zugfolgen an - während die Giganto-Prüf-Automatik auf spezielle Reizworte eingestellt war, die das Erdschiff betrafen. Vom Professor geschaltet, gab sie den zu kontrollierenden Apparaturen Prüfsignale ein - und verglich die „Rücksignale” mit ihren eigenen Haupt-Einspeicherungen. Erfolgte eine Übereinstimmung, so war das ein Zeichen dafür, daß das geprüfte Gerät in Ordnung war. Fehlte die Übereinstimmung jedoch, konnte der Hauptautomat den betreffenden Ausfall mit ebenfalls eingespeicherten Fehlerzeichen vergleichen. Diese wieder bedeuteten den Hinweis auf die Ursache, und so war der „CPS-Ingenieur” schließlich imstande, mit seiner Kunststimme anzugeben, was schlecht funktionierte oder gar ausgefallen war. Das Ganze war eine von Charivari genial vervollkommnete elektronische Prüfung, deren Prinzip auch in der normalen Technik längst angewandt wurde. Die Bordfunk-Station, sowohl für außen als auch für innen, war nicht schadhaft. Darüber verschaffte sich Charivari durch wiederholte Fragen Gewißheit. „Auskunft über alles ... Kursrechner, Saugdüsen, Pumpen...”, sprach Charivari mehrmals ins Mikrofon. Dabei blickte er angespannt auf die Signale in der bogenförmigen Befehlsplatte. Immer, wenn die schauerliche Meldestimme aus den Lautsprechern erklang, dieses oder jenes: „Intakt ... intakt ... intakt...”, leuchteten die entsprechenden Stellen grün auf Grün, grün, grün ... also war der Giganto durch und durch okay. „Frage: Ursache Einschaltung Blitzalarm ...” erkundigte sich der Professor langsam und deutlich. „Frage: Schaltung Alarm ... ?” „Na, so 'n abgehacktes Zeug versteht die Traumtüte im Maschinenraum bestimmt nicht”, meinte Micha. „Doch!” behauptete Gérard. „Den ollen Kunstmaxe kannst du sogar veräppeln. Ich wette, dazu gehört nur ein Kniff. Sag ihm: Guten Morgen, Herr Oberpostrat, wie geht's Ihren Kindern? Um welche Uhrzeit machen Sie Feierabend?”, dann erwidert dieser Giganto-Fatzke ungerührt...” „Vierzehn Uhr fünfundzwanzig Bordzeit”, grinste Superhirn prompt. „Wieso?” Tati machte schon lange ein Gesicht, als befände sie sich in einem großen Erd-Torpedo voller Idioten. Aber jetzt reichte es ihr: „Seid ihr noch zu retten? Selbst wenn wir heil aus der Erde rauskommen - seid ihr überhaupt, seid ihr jemals zu retten? Vierzehn Uhr fünfundzwanzig...! Nee, Kinder, bei euch ist's zehn nach zwölf!” Schnell wurde Superhirn ernst. „Gérard hat recht! Dem künstlichen Maschinen-Ingenieur kannst du alles flüstern. Er pikt sich nur das Technische heraus, und zwar das, was zum Giganto gehört! Und bei seiner komischen Ansprache an den Herrn Oberpostdirektor hat Gérard ein wichtiges Wort eingeflochten, nämlich...” „Uhrzeit!” platzte Micha heraus. Jetzt begreife ich das! Die Füllwörter überhört die Maschine!” Aber sie schien auch die Frage nach der Alarm-Ursache zu überhören. Der Professor gab es auf. „Alarmanlage in Null-Position!” befahl er. Nachdem nun schon so lange das fürchterliche Sirenengeschrei verstummt war, verblichen endlich auch die zuckenden, roten Riesenblitze. „Die Anlage hat sich von selbst ausgelöst”, sagte er scheinbar erleichtert. „Das kommt überall mal vor. Warum nicht auch im Giganto? Im Fahrtenschreiber-Lichtballon seht ihr: Wir fahren langsam, womit ich vorsichtig meine, der Erdoberfläche zu. Die Maschine hat bestätigt: Alles in Ordnung. Nach dem Schreck haben wir eine Belohnung verdient...” „Belohnung ... ?” Micha horchte strahlend auf
Sogar der Pudel schien auf etwas Günstiges zu hoffen. Bittend hob er die Vorderpfoten. Professor Charivari strich sich lächelnd den fadendünnen, lackschwarzen Kinnbart. „Ich schlage vor, wir gehen jetzt ins Bordkasino und stellen uns ein leckeres Mittagessen zusammen, eins, wie man's im teuersten Hotel der Welt kaum besser bekommt!” „Mit Eis?” jubelte Micha. „Mit Götterspeise?” „Mit Götterspeise!” bestätigte der Professor freundlich. Durch seine großen Brillengläser starrte Superhirn den langen Mann mit dem gelblichen Kahlschädel an: War Charivari nicht bei Trost? Hatte er denn all das Unheimliche, Unaufgeklärte vergessen? Nach Biggs' Meinung - und nach der rätselhaften Blitzalarm-Auslösung - mußte der Giganto samt Besatzung längst „Höllenspeise” sein! Und da sprach Professor Charivari noch von „Götterspeise!” 4. Die „Teufelsküche” Die Gefährten waren erst eine Nacht an Bord. Sie kannten die Küche des Erdkreuzers nicht. Das Frühstück war ihnen durch eine Wandluke in ihre Wohnkammern „gereicht” worden. Aber sie brauchten sich nicht lange umzugucken. Als sie in der Hauptschleuse standen, sahen sie das leuchtende, gelbe Sichtzeichen „Messer, Gabel, Löffel, Becher, Teller” an einer Tür zur Linken. Und als Tati darauf zuging, schob sich die Tür geräuschlos auf. „B-b-b-blumig ...” stammelte Prosper verblüfft. „Was?” rief Micha - ebenso verständnislos wie neugierig. Doch dann sah er es auch: Das war keine gewöhnliche Küche mit Herd, Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Abwaschbecken, Geschirrspülautomat und Borden. Nichts wies auch auf eingebaute Schränke und Geräte hin. Ein langer Tisch mit schimmernder, schwarzer Platte, auf jeder Längsseite zehn, im Boden verankerte Drehsessel, an den Schmalseiten je zwei ... das war alles, was die Einrichtung betraf Im Sitzungsraum meinte Gérard. „Ich zähle vierundzwanzig Plätze. Mir scheint, hier kriegt man nichts zu essen, hier soll man sich wohl nur mit Geistern, die sowieso keinen Hunger haben, über Essen unterhalten.” Prospers verblüfftes „Blumig ... !” bezog sich auf die überwältigend prächtige Musterung in den Wänden, durch die von außen Tageslicht, ja herrliche Mittelmeersonne, zu dringen schien. Tati ließ sich nicht täuschen. Sie kannte sämtliche „Küchentricks” in Charivaris Raumschiffen. Im Erdschiff Giganto, dem neuesten Ding, war bestimmt alles noch viel raffinierter. „Setzen wir uns erst mal auf die Stühle”, meinte sie. „Wenn's einen automatischen Ingenieur in der Maschine gibt, dann gibt's hier bestimmt einen automatischen Koch.” ,.Und automatische Oberkellner”, warf Gérard dazwischen. „Wo bleibt der Professor?” wunderte sich Micha. „Superhirn und Henri fehlen auch noch!” bemerkte Prosper. Prompt kam Antwort aus einem verborgenen Lautsprecher: „Wir bringen Giganto nur auf genauen Kurs zu eurem Ferienort!” Das war die heitergelöste Stimme Charivaris. Er fügte hinzu: „Da haben wir hier zwar noch ein bißchen Kleinarbeit, aber um so genauer fanden wir dann wieder am Startplatz!” Ach, wie hüpft der Magen begeistert, wenn einem soeben erst ein paar Felsbrocken vom Herzen gefallen sind! Endlich hatte auch der Professor keine Sorgen mehr. Und er sprach bereits wieder vom „landen”, also vom „Auftauchen” im Ferienort Monton. Der wüste Traum war eigentlich schon vorüber. Bald würde man wieder im gemütlichen Ferienquartier sein, im Haus, das Superhirns Onkel gehörte. Und die gute Wirtschafterin, Madame Claire, würde zur Begrüßung eine Obsttorte backen - und sie würde nicht im geringsten daran zweifeln, daß ihre Schützlinge einen Motorjacht-Törn mit erwachsenen Freunden gemacht hatten (denn das hatte man vorgetäuscht, um Professor Charivaris wichtige
Friedensziele nicht zu verraten!). Die gute Madame würde höchstens staunen: „Waaas? So schnell seid ihr zurück?” „Ha! Dann kann ich endlich - wieder mal 'n zünftiges Fußballspiel mitmachen!” Gérard rieb sich die Hände. „Und ich fahr mit Sportfischern auf 'nem ollen Kutter raus”, rief Prosper. „Loulou könnte allen möglichen Spuren folgen”, meinte Micha. „Ein Giganto-Labor ersetzt kein Gassi-Gehen.” „Kinder”, seufzte Tati, „ich möchte weiter nichts, als mich an irgendeinem Strand in der Sonne braten lassen!” Nein, es war kaum auszudenken, daß ihnen so bald die „Freiheit” winken sollte. Dabei befanden sie sich doch erst kurze Zeit an Bord. Und hatten sie sich nicht geradezu danach gedrängt, eine kleine, außerplanmäßige Giganto-Fahrt, einen Vorstoß in die Erde zu machen?” „Probieren wir die Küche aus!” drängte Micha. „Sehen wir, was dieses komische Tischleindeckdich' alles hergibt! Stopfen wir uns ordentlich voll mit Eis und Bonbons, Keksen und Schokolade! Es ist die Hauptsache! Wenn wir erst wieder am Strand sind, müssen wir das von unserem Taschengeld bezahlen!” „So, nun setzt euch mal!” wiederholte Tati. „An dem langen Tisch werden wir uns bestimmt nicht verloren fühlen, wenn endlich was draufsteht! Micha, du kommst neben mich! Gérard. und Prosper, ihr nehmt die Plätze gegenüber! Für den Professor, Superhirn und Henri brauchen wir bei so vielen leeren Stühlen nichts zu reservieren.” Kaum „vermerkte” die Sitzfläche des jeweils entsprechenden Sessels das Gewicht des Gastes, als vor ihm in der Tischplatte eine Anweisung aufleuchtete: ..Kontakt unter beiden Seitenlehnen zugleich drücken! Festhalten!” Und nun zeigte es sich, daß Tati richtig vermutet hatte: Im Giganto-Küchen-Restaurant war alles noch raffinierter als in den Weltraumschiffen Charivaris. Schwapp! Jeder Sessel machte erst mal „kehrt”. Mit schafsdämlichen Gesichtern blickten Tati und Micha auf der einen - und Gérard und Prosper auf der anderen Seite gegen die hellgolden durchstrahlte Wand mit dem prächtigen, lustigstimmenden Blumenmuster. Der Pudel saß beunruhigt und knurrend auf dem Fußboden. Abgesehen davon, daß er nicht lesen konnte, er hätte die schriftliche Weisung sowieso nicht befolgen können. Geräuschlos fuhr jeder Sessel mit seinem „Freßpassagier” wie ein Stativ-Lift in die Höhe, Scharniere drehten sich ohne das leiseste Knacken oder Knirschen ... und die Sessel wurden bis dicht an die Wände herangeschoben. „Menschenskinder!” schrie Prosper. „Wir sind doch keine Schiedsrichter b-b-b-beim Tennis!” Er meinte die plötzliche Höhe der Sessel. Aber er hätte auch einen beliebigen Vergleich mit tausenderlei Patenten der Baumaschinenindustrie wählen können. „Sollen wir hier verschaukelt werden?” grollte Gérard. Bevor Micha ein Wort der Enttäuschung fand, wurde allen das Besondere dieser „Liftversetzung” klar: jeder Gast blickte auf eine schwarze Tafel. Eigentlich eine „schwarze Bahn”, die sich annähernd von der Decke bis zum Fußboden erstreckte. Diese Tafeln verdeckten plötzlich die Blumenmusterung, und es stellte sich heraus, daß es riesige Speisekarten waren, Speisekarten ungewöhnlicher Art. „Speisenfolge”, flimmerte es golden und verheißungsvoll, groß und breit ganz oben. Na, und dann kamen die verschiedensten Gerichte zur Auswahl. „Wahrhaftig! Das kann keine Reisegesellschaft bieten!” sagte Tati. Allerdings las man die Mahnung: „Vernünftig wählen!” „Knopf A, B, C, D, E, F...”, studierte Micha ehrfürchtig. „Milchmix, verschiedene Sorten. Aha, das ist was zum Trinken. Und alles unter A mit 1, 2, 3 und so weiter ... Milchsoßen, Milchspeisen, Milch-Halbgefrorenes...” „Suppen”, murmelte Prosper gierig, „Fleischsuppen, Knochen- und Gemüsesuppen, alles unterteilt...
Kinder, da reicht die Wand kaum aus! Gekochter und gedämpfter Fisch, gebackener Fisch, Fisch in Gelee ... Hähäh ... sind wir nun eigentlich in einem Ozean-Tauchboot oder im Erdschiff Giganto?” Tati war ebenfalls sehr beschäftigt, die reichhaltigste „Speisekarte” zu studieren, die sie je gesehen hatte: „Gefüllte Gemüse, rohe Gemüse, gekochte Gemüse. . . Möhren, junge Erbsen, feine grüne Bohnen...” Die Salate erregten ihr besonderes Interesse: „Blattsalate. . .” Hinter einigen Sorten stand: „Frisch aus Giganto-Laborgarten!” Na ja - klar: Raum- und Erdfahrer brauchten auf längeren Reisen auch mal etwas Frisches - nicht nur tiefgekühltes und durch technologische „Hexerei” im Handumdrehen zubereitetes „eingemottetes” Zeug. Es gibt mehrere tausend sogenannter „Nahrungsmittel”, das wußte Tati, und sie hatte schon gelernt, daß diese Fülle meist die gleichen „Nährstoffe” enthält: Fette, Kohlehydrate, Eiweiß, Mineralsalze, Wasser, Wasser und immer wieder Wasser, und die wichtigen „Wirkstoffe”, wie Vitamine, Hormone und Fermente. Beim Konservieren, Sterilisieren, besonders der Milch, gehen Vitamine verloren, manche Materialien (wie Buntmetalle) entziehen der Nahrung im Zusammenhang mit Lufteinflüssen die nützlichsten Wirkstoffe. Wirkstoffausgleiche in Form von Tabletten oder entsprechenden Konservierungsbeigaben sind ein bedeutender Fortschritt, aber die Raumfahrtmedizin hat längst darauf hingewiesen, wie wichtig es für Nerven und körperliches Wohlbefinden der Raumfahrer ist, statt ausgeklügelter Extrakte wenigstens ab und zu ein wirklich natürliches, vollwertiges Essen zu bekommen. Also deshalb hatte der Professor für einen „Garten” an Bord seines Tiefenkreuzers gesorgt ... Alle Achtung! Gérard suchte selbstverständlich „Fleischgerichte”. Man hörte ihn brabbeln: „Rindergulasch, Kalbsgulasch, Hammel, Schweinerippe...“ Eifrig drückten alle auf die Kontaktplatten neben den in Leuchtschrift angegebenen Gerichten auf der schwarzen Tafel. In ihren „Schwebestühlen” lotsten sie sich mit Armlehnen-Steuerung an den Wänden runter und wieder hoch ... Das Angebot - in Vorspeisen, Hauptgänge, Beilagen (nach Geschmack) und zahlreichen Nachspeisen eingeteilt - war verwirrend. Schließlich konnte man nicht alles auf einmal essen. Tati, Prosper und Gérard begriffen die verschiedenen Sparten trotzdem. Zwischen diesen Abschnitten blinkte eine rote Schrift: „Nach Auswählen Grün-Kontakt berühren! Speisen folgen nacheinander am Tisch!” „So, ich hab mich entschlossen”, sagte Tati. Sie tippte auf den Grün-Kontakt - und ssst, schwebte das Gestänge des Sessels in die normale Lage zurück, zog sich selbsttätig ein. Der Sessel machte wiederum „kehrt”, und das Mädchen saß am Tisch. Vor ihr schob sich geräuschlos ein Flächenstück zur Seite, aber innerhalb der Auflage, so daß es den Nachbarn nicht bedrängte. Sofort wurde die Lücke von einem hochkommenden Tablett mit der Vorspeise ausgefüllt. Bei Tati gab es als erstes „Cremesuppe”. Doch das Mädchen hatte noch für den Pudel zu sorgen. Auf dem Stuhl zur Linken, der vorläufig für niemanden vorgesehen war, fuhr sie noch einmal an der zugehörigen Tafel hoch und wählte „Kalte Frankfurter” und „Mürbekekse” für Loulou. Der Hund bekam seine Hauptmahlzeit sofort, und er hatte sie unter dem Tisch zu verknuckeln. Gérard schlürfte „Kraftbrühe”, Prosper verschlang mit Behagen „Sardellenhäppchen”. Nur Micha hockte stumm und mit aufgerissenen Augen auf seinem Platz. Es sah aus, als würden sich ihm gleich die Haare sträuben. „Was ist denn?” fragte Gérard über seiner Kraftbrühe. Tati blickte auf „Nanu, Micha, ich dachte, du hast Hunger?” Sie sah das Gesicht des Bruders. „Ist dir schlecht? Warum steht nichts auf deinem Platz?” „Der ganze Kokolores mit der Freßautomatik ist ihm zu unheimlich”, meinte Prosper Sardelle kauend. Da wurde Micha wütend. „Quatsch!” schrie er. „Der Automat ist verrückt! Dieses ganze Schiff ist verrückt! Ich kriege nichts zu essen, obwohl ich bestimmt mehr auf den dämlichen Plättchen
rumgetippt habe als ihr!” Er starrte wieder die leere Stelle vor sich an. „Ich hab nichts, nich' mal 'ne lumpige Suppe! Statt dessen blinkt 'ne unverschämte Schrift auf ...” Tati reckte den Hals. Auch Gérard und Prosper streckten neugierig die Köpfe vor. „Befehl verweigert ... Befehl verweigert. . .”, blinkte es ununterbrochen vor Micha auf dem Tisch dort, wo eigentlich die gewählte Vorspeise hingehört hätte. „Er muß den automatischen Koch verärgert haben”, grinste Gérard. Jeder Seefahrer weiß das: Köche sind sehr empfindlich! Ein schiefer Blick, eine freche Antwort ... schon kriegt man nichts. Zumindest wird einem in die Suppe gespuckt!” ,Ach, du mit deiner Weisheit”, meinte Tati. „Wir sind weder auf 'ner alten Fregatte noch auf einem Frachtdampfer! Im Giganto gibt's keinen Koch, den man anpusten kann. Die Technik läßt sich nicht beleidigen, soviel weiß ich auch. Technik ist völlig gefühllos. Aber vielleicht will sie Micha sagen, daß er was falsch gemacht hat?” „Wer ... ?” Micha blickte von einem zum anderen. „Ich? Oder der Servier-Automat?” „Haben wir gleich”, amüsierte sich Tati. „Nun sag mal ganz ehrlich, Kleiner, was hast du gewählt? Aber ganz ehrlich!” „Na ja...” maulte Micha. Nur zögernd rückte er mit der Sprache heraus. „Erst mal hab ich mich für Eis entschieden. Himbeer-Eis, Vanille, Schokolade, Erdbeer, dann für Kirschtorte, Eierkuchen. . . „ „Und für Bonbons!” vollendete Tati prompt. „Bonbons .- und immer wieder Bonbons! Stimmt´s? Ich kenne dich doch!” „Ja”, gab Micha kleinlaut zu. „He! Mir dämmert was ...!” rief Prosper aufgeregt. Er warf den Löffel hin und machte ein entgeistertes Gesicht. „Da ist Methode drin! Bei den Hinweisen auf den Tafeln hab ich mir schon so ganz, ganz dunkel was gedacht.” Auch Gérard war perplex. „Du meinst, diese komische Wand-Speisekarte ist uns über? Sie achtet darauf, daß jeder 'ne vernünftige Auswahl trifft?” Tati hatte immer heftiger lachen müssen, ihr standen die Lachtränen in den Augen. „In ge-ge-ge-wisser Weise”, kicherte sie atemlos, „ha-ha-hat Gérard wa-wa-wahrscheinlich recht!” Sie zwang sich zum Ernst. „Ich glaube nicht, daß jede Speise-Wahl so überwacht wird wie von 'ner zickigen und geizigen Tante. Aber wenn einer mehrmals Eis tippt, Torten - und so 'n Zeug - und dann vielleicht noch fünf Kilo Bonbons, geht das der Automatik über die Hutschnur.” ,Aber wieso denn?” jammerte Micha. „Im Giganto-Freßlager sind mindestens tausend Portionen Eis, ach, wer weiß wieviel. Und die Bonbons wird keiner zählen können!” „Begreif doch!” feixte Gérard. „Die Automatik gönnt dir alles. Der Professor hat nur dafür gesorgt, daß sie sich sperrt, wenn jemand so 'ne Irrsinns-Speisefolge wählt wie du.” „Es soll verhindert werden, daß sich die Besatzung einseitig ernährt.” sagte Tati nachdenklich. „Ich glaube, daß die Automatik bei jeder Einseitigkeit stockt. Nehmt an, ich wähle dreimal Kraftbrühe, dreimal Fleisch, warm, und eine Wurstplatte, kalt, fünf Portionen Butter, vier gekochte Eier und einen Geflügelsalat. Kein Obst, kein Gemüse, keinen Blattsalat, noch nicht mal 'ne lumpige, getrocknete Aprikose ... So was würde der Automat auch nicht gestatten.” Sie fügte hinzu: „Einseitige Ernährung führt zu Mangelkrankheiten, das weiß jedes Schulkind, dem der Lehrer mal was von Vitaminen erzählt hat.” „Einer von uns könnte aber einmal keinen Appetit haben und sich nur 'ne kleine Rohkostplatte bestellen”, wandte Prosper ein. „Na, das wird der Automat schon noch durchgehen lassen”, bemerkte Gérard. „Sicher auch eine Portion Eis – und nichts weiter -, aber Micha hat ja für einen ganzen Kindergeburtstag einkaufen wollen, deshalb streikt das Dings.” „Und übrigens”, meinte Tati abschließend, „entscheidet sicher der Professor, was die Automatik annimmt.” Micha mußte nun noch einmal die „Wand hochgehen”, um sich eine vernünftige Speisefolge zusammenzustellen.
Inzwischen fragten Schriften bei den anderen an: „Abservieren?” Und unter der Schrift erschien eine gelbe Kontaktplatte. Gérard tippte darauf, und das Tablett mit der leeren Plastiktasse und dem Löffel verschwand. Nacheinander erschienen die Hauptgerichte, an deren Zusammenstellung die Automatik keinen „Anstoß” genommen hatte. Micha glotzte immer noch auf die Wand. „Ich finde nichts, ich finde nichts!” schrie er wütend. Mit den Fäusten hieb er auf einige „Bestellplättchen”. Und da geschah etwas Unerwartetes: Als Micha heruntergesaust kam und der Stuhl seine Kehrtwendung gemacht hatte, öffnete sich vor ihm der Tisch und ein regelrechter Springbrunnen von Bonbons sauste heraus: Drops in Rollen, Pfefferminzpastillen, verpackte Malzwürfel, Sahnebonbons, Pralinen in Buntpapier, Fruchtbonbons aller Farben in Klarsichtfolie ... Der Springbrunnen wurde zum Regen, der auf die Köpfe und Schultern der anderen niederprasselte. Das wollte überhaupt nicht aufhören. Micha hatte in seiner Wut kräftig auf die Bonbon-Kontakte gehauen, da hatte die Automatik „die Nerven” verloren. Endlich hielt sie erschöpft inne - oder es handelte sich um Ladehemmung. Triumphierend kroch Micha unter dem Tisch herum. „Gewonnen!” schrie er vergnügt. 5. Unterirdischer Geheimstaat? Nichts gewonnen aber hatten die drei, die sich immer noch im Giganto-Kommandoraum befanden: Professor Charivari, Superhirn und Henri. Niemand dachte daran, den anderen in die Bordküche zu folgen. Das fröhliche Geschrei von dort war im Lautsprecher abgeblockt worden, die Schleusentür war nur noch einen Spaltbreit offen. Unentwegt fragte Charivari über Mikrofon Maschinendaten ab, der CPS-Automatik-Ingenieur antwortete (für Superhirn und Henri nicht zu verstehen) jetzt über Kopfhörer. Der Fahrtenschreiber zeigte eine neue Richtung und ein schnelleres Tempo an. Das Erdschiff war wieder auf „Tauchkurs” gegangen und bewegte sich in gleichbleibendem Abstand zur Oberfläche nach Osten. Superhirn blickte rasch auf den Lichtball, der die Erde darstellte. Er sah, daß Charivari den Giganto auf „Hasen-Taktik” programmiert hatte, zickzack ... zickzack ... zickzack ..., als würde er von einer Meute verfolgt. Das Schiff beschrieb sogar Schlaufen, Kreise und Volten in der Erde. Eine Vorsichtsmaßnahme, gewiß. Doch sie zeigte, daß der Professor den Verdacht hegte, Biggs habe trotz allem schlimme „Fremd-Informationen”, die der Giganto mit seinen Einrichtungen nicht besaß. „Der Funk, ob Bild, ob Ton, ist zwischen der Raum-Station und uns noch immer gestört”, fuhr der Professor fort. Er strich sich den lackschwarzen Bart. Seine Augen glänzten fiebrig. „Herr Professor”, sagte Superhirn sehr ruhig, sehr bedeutungsvoll. „Machen wir uns doch nichts vor! Ich glaube, seit wir Captain Biggs allererste Schreckensmeldung bekamen, wußten zumindest Sie selber, Henri und ich, worum es sich handeln könnte!” Und endlich fiel aus Henris Mund das Wort, das selbst Professor Charivari erschütterte, als es ausgesprochen wurde: Der Ragamuffin! jener unbekannte Chef jenes rätselhaften, zerstörerischen innerirdischen Hauptquartiers, das von der Oberfläche her nicht zu orten gewesen war. Der Ragamuffin! Charivari und seine Mitarbeiter hatten ihn so genannt. „Ragamuffin”, eine englische Bezeichnung für Lump, obwohl dieser beinahe harmlose Ausdruck kaum ausreichte, die erahnten Absichten der finsteren Macht auch nur anzudeuten. Der Giganto ist ursprünglich zur Aufspürung des Ragamuffin-Hauptquartiers umkonstruiert worden”, murmelte Professor Charivari - als wolle er sich den ganzen Schrecken noch einmal in Erinnerung rufen. „In meinem Weltraum-Labor, also da, wo Biggs jetzt sitzt, gibt es einen HirnwellenAanalysator. Mit diesem Gerät empfingen wir seit geraumer Zeit Gehirnwellen, die nicht zu entschlüsseln waren, weil offenbar ganz andere Zusammenhänge zwischen der Gehirntätigkeit des ,Absenders' und ihrer Bedeutung bestanden. Zwischen den Gehirnwellen von Tieren und der
Bedeutung solcher Tiergehirnwellen bestehen wiederum andere Zusammenhänge.” Irgendwann hatte Henri dies schon einmal gefragt: ,Aber Sie konnten feststellen, daß die eigenartigen Menschengehirnwellen aus der Erde kamen?” Ja, und zwar als verheerende Unguts- und Unmuts-Gedanken, die eine schauerliche Wirkung auf unsere Testpersonen hatten. Und ich war der Meinung, eine Kraft mit enormer, unvorstellbarer höchstpotenzierter Willensenergie wolle den technischen Fortschritt ungünstig beeinflussen. Ich glaubte, der innerirdische Bandenchef sei ein Magier, also ein direkter Gegenspieler meiner Arbeit als Wissenschaftler. Der Ragamuffin muß mich schon lange beobachtet haben. Aber wahrscheinlich begreift er die Geschehnisse an der Erdoberfläche und im Weltraum trotz seiner mörderischen Geisteskräfte nicht. Er gebraucht keine sichtbare Gewalt, keine Kriegsgeräte. Eins aber weiß dieser unbekannte Ragamuffin: Alle Nerven- und Gehirnimpulse, die ja auch elektrisch sind, laufen durch die Nervenstränge wie eine Wasserwelle durch einen Graben. Kann man in so einem Nervenstrang bestimmte Impulse erzeugen, erhält das Gehirn, ohne es zu merken, eine Falschmeldung. Dauernde Falschmeldungen könnten die Weltbevölkerung verwirren, ja, charakterlich sogar verändern!” „Hm. Das mag die Absicht des Ragamuffin sein”, murmelte Superhirn. „Wir haben's ja erlebt, welche Autobiologischen Fähigkeiten sein Spion hatte - und daß sein Kopf die Energiekapazität eines gewaltigen Kraftwerks besaß ... Haha! Als winzige Schachfigur, als Schach-Bauer, ist der Spion in unserem Haus aufgetaucht! Und dann wuchs er sich zu einem Riesen aus und wollte Professor Charivaris Geheimnisse aus mir herausquetschen!” „Als Schrumpfriese, als Däumling, ist er wieder zurück in die Erde gesaust, als der Professor mit dem Giganto kam”, grinste Henri. „Schrumpfen ... ja!” Charivari rieb sich den Schädel. „Zauberei ist das nicht. Es hat auch nichts mit Hölle und Teufel zu tun. Die Ragamuffin-Leute sind Menschen mit besonderen Fähigkeiten, wie Superhirn eben sagte: Fähigkeiten, die den Aufwand an technischen Hilfsmitteln (wie wir sie brauchen) ersetzen. Alles weist darauf hin, daß sie in der Lage sind, die Abstände zwischen den Molekülen ihrer Körper so zu verringern, daß man sie für Spielzeugmännchen hält. Sie können sich verkapseln ... und mittels ihrer Gehirn-Kraftwerke die Erde durchsausen, wie's nur noch unser Giganto kann. Trotzdem halte ich unser Schiff für absolut unzerstörbar. Selbst wenn der Ragamuffin für seine mörderischen Gedankenstrahlen den Erdkern als Reflektor, als Spiegelverstärker benutzen würde...” „Übrigens...”, erinnerte Henri. „Gleich nach Beginn dieser Reise war man in Ihrer Weltraumstation doch schon der Meinung: Ragamuffin gibt auf, nicht wahr?” „Ja ... Aber ich behielt euch an Bord, um euch vor möglicherweise vorhandenen, weiteren Spionen zu schützen.” Charivari runzelte die Stirn. „Es sind Menschen, wie dem auch sei. Sie müssen in der Erde unter rätselhaften Sauerstoff- und Sonneneinwirkungen sowie in oberflächengleichen Druckverhältnissen leben.” Er unterbrach sich und lachte bitter. „Im Erdkern gibt es solche Verhältnisse jedenfalls nicht!” Superhirn dachte nach. „Eigentlich sonderbar”, meinte er. „Da erforscht man nun jahrelang das Weltall, hat seine Fußstapfen längst auf dem Mond zurückgelassen, die Antarktis wird von unten angebohrt, die Röntgen-Astronomie findet neue Sterne- aber was in der Erde ist, auf deren Eierschale wir leben, interessiert keinen Menschen, wenigstens keinen Wissenschaftler in der Praxis. Jeder abergläubischen Behauptung geht man nach, ob sie nicht vielleicht ein Quentchen Wahrheit enthält ... oben, auf der Erde. Hier drinnen sucht man nur sogenannte Rohstoffe oder Bodenschätze. In den Weltraum schickt man sogar Botschaften an unbekannte Lebewesen - wie's die Amerikaner getan haben -, aber auf den Gedanken, mal eine Art Rohrpost an unterirdische Mächte in unseren Planeten reinzuschießen, ist noch keiner gekommen!” Professor Charivari sah den Jungen aus schrägen Augen an. „Du gehst davon aus, daß der Begriff Erde seit Jahrtausenden in allen Kulturen, sowohl in Religionen, Sagen, Dichtungen auftaucht? Einige Indianerstämme meinen sogar, der allererste Mensch sei aus der Erde gewachsen wie ein Baum. Nun, hier handelt es sich um Gleichnisse - oder, wie im letzten Beispiel, um Wachstums- und Vergänglichkeitsvorstellungen, die ziemlich einfach aus der pflanzlichen Natur abgeleitet wurden.
Außerdem ist das Totenreich, das Reich der Dämonen, Drachen, Erdgeister, Erdgötter, die kultische Ideenwelt von Epochen (oder Völkern), die keine Ahnung davon hatten, daß die Erde rund ist, also keinen unendlich tiefen Abgrund hat.” Er zögerte und fuhr fort: „Der Ragamuffin und seine variablen Vasallen, nennen wir sie Vavas, sind keine Mächte der Finsternis im Sinne von Schwarzen Göttern oder wie auch immer gearteten Erdgeistern. Ich bleibe dabei, es handelt sich hier um eine reale innerirdische Großmacht.” Innerirdische Großmacht! Hatte Captain Biggs die Giganto-Besatzung vielleicht vor einem Anschlag dieser Großmacht warnen wollen? Superhirn starrte auf das Hologramm, den brusthoch schwebenden Lichtball vor dem Kommandotisch, der die Erde darstellte. Seine Nase schien spitz und weiß wie ein Eiszapfen. Der Leuchtpunkt in dem sonderbaren Fahrtenschreiber regte sich nicht mehr! „Giganto steht!” meldete Superhirn rauh. Diesmal ertönte die Alarmsirene nicht. Auch verwandelten keine roten Blitze den Kommandoraum in einen Ort des Grauens. Charivari hatte die Warnanlage Micha und Tati zuliebe stillgelegt. Doch von Superhirns Worten ging ein größerer Schrecken aus. Das Erdschiff stand? Hatte es sich festgerannt? Am Befehlsstand setzte Charivari den Mini-Hörer ans Ohr. Er fragte die Maschinenaufsicht - den künstlichen A-Ingenieur - nach der Funktion aller Aggregate ab, während seine Augen pfeilschnell über die Zeichen und Zahlen auf der Platte glitten. Welche Auskunft der Professor vom Ingenieur in der Maschine erhielt, hörten Superhirn und Henri nicht. Die gräßliche Kunststimme sprach ja jetzt nicht über Bordlautsprecher. Und Tati, Gérard, Prosper und Micha saßen - mitsamt dem Zwergpudel - vergnügt und ahnungslos noch im Eßraum ... Charivari blickte auf: „Kein Schaden! Hülle ist intakt, die Saugdüsen melden nicht die geringste Material-Anfälligkeit, Pumpen sind in bestem Zustand...” „Aber...” In Superhirns Kopf quirlten die Gedanken. „Wieso stehen wir, wenn alles in Ordnung ist?” „Was es auch sein mag, die starke Hülle schützt uns”, brummte der Professor. Kaum hatte er das gesagt, als alle drei aufhorchten. Was war denn das ...? Bugwärts traf den Giganto offenbar ein furchtbarer Hieb. Es war, als sei ihm eine gewaltige Kreissäge kreischend über die Nase gefahren ... Der Kommandoraum wackelte auch jetzt nicht, aber Charivari stand auf Er mußte sich auf die Befehlsplatte stützen. Nein, der Kommandoraum hatte nicht gewackelt, und dennoch hatte irgend etwas mit rasender Wucht das Erdschiff erwischt. Die Hülle war so hervorragend abgeschirmt, daß man während der Fahrt nie auch nur das leiseste Geräusch von berstendem Fels, von brechendem Erz, von polternder, bewegter, verdrängter Erdmaterie gehört hatte ... Und jetzt vernahm man ohrenzerreißendes Sägen! „Das will uns durch die Haut!” verkündete Henri. Charivari sprach hastig ins Mikrofon. Wieder gab ihm die Stimme des künstlichen A-Ingenieurs in der Maschine Auskunft. „Alles in Ordnung!” murmelte er. „Hülle weist keine Schäden auf, nicht einmal einen stecknadelfeinen, oberflächlichen Kratzer. Den würde das Giganto-Hirn im Maschinenraum vermerken wie einen Pistolenschuß! Und die Meldung muß stimmen! Die Kommandoplatte, hier, deutet auch nichts an!” „Aber weshalb bewegt sich der Giganto nicht?” rief Henri. „Und was war das für ein schauderhaftes Geräusch?” „Es ist, als wären wir in ein Vakuum geraten”, erklärte der Professor. „Die Saugdüsen sind hell, aber es scheint nichts da zu sein, was sie ansaugen könnten! Deshalb arbeiten auch die Pumpen nicht! Es gibt keinen treibenden Rückstoß mehr. Das Schiff steht in Wartestellung!” „Der Giganto ist so konstruiert”, überlegte Superhirn, „daß er alles fressen und in Treib-Energie
umsetzen kann: Gestein, Eisen, Gold, Silber, diamanthaltige Schichten, innerirdische Wässer, Gase, alles, einfach alles. Festigkeits- und Hitzegrade spielen dabei keine Rolle ... Hm. Dann bleibt nur eine Erklärung!” Er zögerte, ehe er den Gedanken aussprach: „Es blockt uns jemand unser Düsenfutter ab!” Henris Augen wurden groß. „Du meinst ... es steht eine. .. eine ... undurchstoßbare Wand vor uns? Ein ... ein teuflisches Etwas, das stärker ist als jedes Erdhindernis?” Unwillig rief der Professor: „Von teuflisch kann keine Rede sein. Es ist allenfalls...” Ein scharfer, durch Mark und Bein gehender, wetzender Ton unterbrach seinen Satz. Diesmal klang es, als führe jemand mit einem riesenhaften Kreidestück über eine enorm große Schiefertafel: Eine unbekannte Waffe schien die Seitenwand des Giganto aufritzen zu wollen. Zugleich hörte man die Stimmen der übrigen Besatzungsmitglieder - und das verängstigte Bellen des Pudels. Die Schleusentür glitt zur Seite, Tati, die Jungen - begleitet vom hopsenden Loulou - stürzten in den Kommandoraum. „Was ist denn los?” rief Tati verwirrt. „Was quietscht und schabt denn da so?” „Sind wir schon raus aus der Erde?” fragte Prosper. „Wieder in Monton?” erkundigte sich Gérard. Micha konnte nicht sprechen, er hatte den Mund voller Bonbons. So gurgelte er nur Unverständliches. „Setzt euch hin und seid still” befahl Henri. „Wir sind nicht aus der Erde raus. Im Gegenteil. Wir stecken im dicksten Schlamassel. jetzt wißt ihr's! Es hat keinen Zweck, euch zu belügen!” Der Professor beugte sich über die Kommandoplatte und sprach ins Mikrofon: „TRANSPARENZ!” Was das bedeutete, wußten die Gefährten schon aus Charivaris Raumschiffen: Er löste damit eine Kette von Vorgängen aus, durch die die Schiffshülle durchsichtig wurde, durchsichtig wie Glas, doch reichte die aufzubringende Bord-Energie hierfür nur immer kurze Zeit. Die Giganto-Hülle erschien einen Moment wie Gelee, die Wände lösten sich scheinbar in Schlieren auf. Und plötzlich war es, als seien sie nicht mehr da! Man sah das Erdinnere ... die augenblickliche Umgebung des Schiffes ... Ach, und was man sah ... Oben, unten, an den Seiten. . . stechendes, rotwaberndes Feuer.. . Nein! Der Giganto stand in flüssigbrodelndem Brei ... ! „Das ist schmelzflüssige Gesteinsmasse! Wir sind am Fuß eines Erdschlots, der in einen Vulkan mündet. Vereinfacht gesagt: Dies hier ist das Zeug, das sich mit allerlei anderem als Lava über den Kraterrand an die Oberfläche ergießt”, erklärte Professor Charivari. „Aber diese feurige Schmelzflüssigkeit”, begann Henri, „kann den Giganto nicht aufhalten! Er verarbeitet solches Zeug doch gewöhnlich auch zu Treibstoff!” Das wußte nicht nur der Professor, das war selbst Micha klar. Allmählich hatten er, Tati, Prosper und Gérard begriffen, daß eine unvorhergesehene Gewalt am Werke war. Das Geräusch an der Bordwand setzte wieder ein. Diesmal klang es, als streiche eine Säge - wie prüfend - an der nun unsichtbaren Hülle des Kommandoraums entlang. Aber was da strich ... war ebenfalls unsichtbar. Alle hielten den Atem an. Selbst der Hund saß wieder wie ausgestopft. Nach einer Weile, die endlos dünkte, hob Charivari die Transparenz wieder auf Der rot-brodelnde Brei verschwand. Man sah aufs neue die Wände des Befehlsraums. Etwa fünf Minuten lang geschah nichts ... außer, daß dieses unheimliche Kratzen und Schaben weiterhin ab und zu über den Rumpf des Erdschiffs streifte. Charivari blickte erst auf das Hologramm und dann auf die Teil-Positionsdarstellung an der rechten Seite des Befehlstisches. „Wir sind unterhalb von Neapel”, murmelte er. „Der Schlot, unter dem wir stehen, führt zum Vesuv. Aber die Skalen in den Wänden haben nicht aufgeleuchtet, also ist kein Ausbruch zu verzeichnen. An dieser Stelle in der Erde herrschen stets Magmabewegungen. Das hat für die Erdoberfläche nichts zu besagen.” „Und auch nicht für uns?” forschte Superhirn. „Dieses sägende Geräusch hat doch mit dem Feuerbrei
nichts zu tun?” „Nein”, erwiderte der Professor knapp. Dann erteilte er seine Befehle ins Mikrofon: „Hochstart! Einsatz: alle Batterien!” Diesmal ließ er den künstlichen Ingenieur im Maschinenraum über Lautsprecher antworten. „Hochstart!” brüllte die Maschinenstimme. „Einsatz: Alle Batterien!” Nur Superhirn ahnte, daß das eine Zerreißprobe war. Charivari setzte sämtliche Reserven aufs Spiel, um die Todeshand jener sägenden Strahlenfinger zu durchbrechen ... Wie? Hatte er eben „Strahlenfinger” gedacht? Na klar ... Superhirn patschte sich vor den Kopf, daß ihm die Brille verrutschte. „Wir fahren!” schrie Henri begeistert. Er blickte auf die Wandtafel: Der Glühpunkt bewegte sich. Und nun ging alles wie am Schnürchen. Der Professor sprach Befehl auf Befehl ins Mikrofon. Nach dauernden Versuchen bekam er sogar Bildfunk-Verkehr mit Biggs. „Hatte euch aufgegeben, wie Sie wissen!” schrie der Captain in der fernen Raumstation. „Aus der Erde kommen unerhört starke Gehirnwellen! Unsere Gehirnwellen-Empfänger sind geplatzt, sie mußten ausgewechselt werden! Ein Teil unserer Einrichtung ist zerstört. Daraus habe ich geschlossen, daß Sie in der Erde erst recht in Gefahr waren”' „Ja, aber statt die Nerven zu verlieren, hätten Sie den Peilstrahl von der Raumstation zum Giganto einziehen sollen”, sagte Professor Charivari kalt. „Die Gehirnwellen, die Ihre Geräte da oben zerstörten - hören Sie? - diese Gehirnwellen haben den Peilstrahl von der Weltraumstation bis hinunter zu uns als Blitzableiter benutzt ... haben uns gewissermaßen als Rückschlag getroffen!” Man sah das verblüffte Gesicht Captain Biggs auf der Mattscheibe. „Da staunen Sie”, lachte Charivari bitter. „Der Ragamuffin strahlt wieder mörderische Unmutsgedanken aus, das ist mir jetzt klar! Aber er kann mit seiner Art von Energie den Giganto unmöglich orten! Das ist Zufall gewesen! Zufall, daß die Wellen uns auf dem Umweg über den Peilstrahl trafen. Ich lege die Antenne still!” „Ich verstehe: Die Antenne für den Peilstrahl ist der gesamte Giganto-Rumpf selbst. Er muß also noch einmal besonders abgeschirmt werden”, erwiderte Biggs. „Übrigens noch eins: Unsere Raumfahrt-Nachrichtenstation hat über Normalfunk gemeldet, daß sich in Spanien kleine Männer rumtreiben, winzige Figuren ...” „Waaas ... ?” schrie Superhirn. „Kleine Männer ...? Das können doch nur Leute des Ragamuffin sein?” „Aus!” rief der Professor. „Funkstille! jede Verbindung mit Giganto sofort abbrechen!” „Ich sende verschlüsselt”, meinte Captain Biggs vorwurfsvoll. Charivari besann sich. „Nehme Kurs auf Spanien”, sagte er ruhig. „Gehe mit Giganto auf Erdoberfläche. Verständige mich mit Ihnen über Handgerät außerhalb des Schiffes. Halte das für sicherer. Nehmen Sie als letzte innerirdische Nachricht folgendes auf. Giganto meldet: Über uns ein Vulkan!” 6. Die kleinen Männer in Madrid „Ich verstehe nicht, was das alles bedeuten soll”, sagte Tati. „Da oben, in Spanien, laufen Spione aus der Erde rum? Wozu?” „Das werden wir sehen”, sagte Henri. „Und der Ragamuffel selber ist in seiner Höhle?” fragte Micha. „Wollte er mit seinen Gedanken unser Schiff durchbohren?” „Du hast gehört”, sagte Superhirn geduldig, „es war Zufall, daß uns die Ungutsstrahlen trafen. Sie galten der Weltraumstation, und sie sind von dort aus über den Peilstrahl bis an unseren Giganto gedrungen. Aber so enorm die Ragamuffin-Wellen auch waren – uns konnten sie nichts anhaben! Die Hülle ist zu stark.” Er kicherte. „Wenn der Ragamuffin wüßte, was er uns für einen Schreck eingejagt hat...” Als der Giganto die Erdoberfläche erreicht hatte und am einsamsten Punkt des spanischen
Pyrenäengebirges parkte, rüstete sich die Besatzung zum Aussteigen. „Wir verlassen das Schiff jetzt seitlich”, erklärte Professor Charivari. Ein Befehl ins Mikrofon, eine Seitentür fiel nach außen und „verwandelte” sich in eine Rutschbahn. „So. Da brauchen wir nicht zu klettern.” Das Innenlicht erlosch, als die Freunde unten waren. Der Professor folgte. Sein Fingerring-Scheinwerfer leuchtete die Umgebung ab. Eisige Kälte schlug der Giganto-Besatzung draußen entgegen. Der Mond stand über der kahlen, zerklüfteten Höhe des spanischen Pyrenäengebirges. Es roch nach Schnee - und trotzdem konnte man meinen, auf einem fremden Planeten zu sein. „He!” bemerkte Superhirn. „Warum gibt die Giganto-Hülle keinen Schimmer zurück, auch wenn Sie sie mit Ihrem Ringscheinwerfer anstrahlen?” „Weil ich die Hülle dormiert habe”, erwiderte Professor Charivari. „Sie ist jetzt schwarz und stumpf und schimmert nicht einmal im Mondenschein, wie du siehst. Die tausendfältige Blitz-, Blend- und Funkelkraft der starken Außenhaut ist zur Ruhe gelegt, damit kein Suchlicht - etwa das eines Flugzeugs - etwas von ihr erfassen kann. Ein Wanderer würde umsonst mit der Taschenlampe umherleuchten, Giganto wirft jetzt keinen Strahl zurück.” ,Ach, ich weiß!” mischte sich Micha ein. „Und niemand auf der Erde kann ihn anpeilen!” „Erraten”, sagte Charivari. „Der Körper ist auch entmagnetisiert, das heißt, er zieht keine kleineren Gegenstände an und ist auch gegen Erdmagnetismus immun.” Die Freunde hopsten von einem Bein aufs andere. Es war sehr kalt in dieser Höhe. Über ihnen glitzerten eisig die Sterne. Loulou lief winselnd umher. Das Tier begriff, daß es im Freien war. Aber die kalte Gegend war nicht der Park von Monton mit seinen vielen erregenden Gerüchen. Als großer, hagerer Schatten stand Professor Charivari vor dem fahlen Nachthimmel. Er schüttelte ein Kästchen, flach wie ein Zigarettenetui, und betrachtete es mehrmals. Die eine Seite, das sah Superhirn, zeigte unregelmäßige, festgelegte, grünschimmernde Striche, Bögen, Winkel, Kreise: Ein rätselhaftes, rechteckiges Leuchtzifferblatt. „Ich versuche außerhalb des Giganto Verbindung mit der Weltraumstation zu bekommen”, erklärte Charivari. „Da ich natürlich auch jetzt nicht Klartext funken will, benutze ich diesen Zitter-Code. Die Funkzeichen sind verschlüsselt, aber keine Erdstation kann herausfinden, woher sie kommen. Die Frage an meine Weltstation lautet: Habt ihr neue Gehirnströme, Nachrichten, Gedankenstrahlen, Gedankenwellen vom Ragamuffin empfangen?' Einer meiner Fachleute blickt auf sein seismologisches Gerät, ergänzt im Geist die Lücken, nimmt überflüssige, sogenannte Phantomsignale heraus und übersetzt das Ganze in den Klartext.” „Aber er funkt wohl nicht zurück?” fragte Tati etwas nervös. „Bisher noch nicht”, murmelte Charivari, er schien besorgt. „Ka-ka-kann es nicht sein, daß der Ragamuffin inzwischen die-die Raumstation zer-zerstört hat?” stammelte Prosper. Der Professor stand starr. Die ausgestreckte Hand mit dem Nachrichtenkästchen hing schattenhaft im Mondlicht. Es war plötzlich so still. Nicht einmal der Pudel winselte. Endlich sprach Charivari, es klang wie ein Krächzen: „Ja, verflixt - wenn der und seine Männer uns längst übertölpelt hätten!” Er drehte an seinem Ringscheinwerfer, als suche er einen Platz, auf den er sich einen Moment hinsetzen könnte. Dabei streifte das Licht den Giganto. „Alarm!” schrie Henri. „Die Hülle leuchtet! Der Giganto wirft auf einmal den Schein zurück! Was bedeutet das? Ein Spion ist im Schiff! Vielleicht auch mehrere! Sie wollen mit Giganto abhauen!” Ein Gedanke, unvorstellbar: Hier, auf den eisigen Gipfeln des menschenleeren Gebirges mit seinen Schluchten, Ritzen, Mulden und Gletscherhängen zurückbleiben zu müssen, während das Schiff - von Ragamuffins Bande entführt - auf Nimmerwiedersehen verschwand! „Was machen wir jetzt?” schrie Tati angstvoll. Charivari hatte den Ringscheinwerfer voll aufgeblendet und ausgefächert. Der Anblick des in allen Edelsteinfarben blitzenden Giganto-Kreiselbohrers war entsetzlich schön.
„Die rumoren da drin rum und starten!” gellte Michas Schrei. „Giganto bewegt sich!” „Quatsch!” keuchte Superhirn. „Deine Augen wackeln!” Alle liefen auf das tausendfältig glitzernde Erdschiff zu. Henri trug den verdutzten Pudel. Durch eine Drehung an seinem anderen Fingerring steuerte Charivari das Öffnungsaggregat der Seitentür. Was vorhin eine Rutschbahn war, war nun eine Treppe. Trittleisten klappten aus der Fläche. Der Professor, gefolgt von Superhirn und Henri, kletterte eilig voran. „Sind die Ragamuffels drin?” fragte Micha furchtsam. „Ach, was! Kommt ruhig nach!” rief Superhirn zurück. Er hatte begriffen, daß das Ganze nur eine Panne gewesen war. Charivari schaltete die gesamte Innenbeleuchtung an und wechselte eine defekte Kontaktplatte aus, nämlich die für die Rückstrahlbremse der Außenhaut. Damit war der Schaden behoben. Die Seitentür war wieder in die Wand geglitten, ohne daß man eine einzige Fuge sah. Superhirn ärgerte sich. „So was Tölpelhaftes! Man braucht den Ragamuffin und seine Leute doch nicht überall zu vermuten!” „Ich versuche nun doch, vom Giganto aus Verbindung mit meiner Raumstation aufzunehmen”, sagte der Professor mißmutig, als seine Besatzungsmitglieder wieder im Kommandoraum waren. „Ich will wissen, warum man sich nicht gemeldet hat. Und wenn ich's auch noch so ungern tue - und schalte auf Sprechfunk.” Er fing einen Blick von Superhirn auf „Ja, ja, ich weiß, was dir durch den Kopf geht: Giganto ist strahlen- und ortungssicher. Er sendet und empfängt Außerbereichs-Frequenzen, die sich jedem Abhörversuch entziehen. Giganto ist so konstruiert, daß er sogar eine Erdzertrümmerung überstehen könnte, wie Noahs Arche die Sintflut.” „Aber?” fragte Superhirn. „Sie haben doch auch Gedankenstrahl-Sendeverstärker, wie sie die amerikanische Weltraumfahrt als Verständigungsmittel von Raumschiff zu Raumschiff seit Jahren schon erörtert - aber noch längst nicht konstruieren konnte? Von Ragamuffin wissen wir, daß er wohl seine Ungutsgedanken über die Erde bis ins All verstreut. Trotzdem kann er keine Gedanken an sich ziehen. Oder er versteht sie nicht wegen der verschiedenen Denk-Ebenen.” Der Professor runzelte die Stirn. „Stimmt”, sagte er. „Ist mir alles klar. Aber wenn er uns täuscht? Wenn er gegen jede Erfahrung doch orten kann, wo der Giganto-Hauptsender sitzt, und uns hochfliegen läßt, sobald ich den Außenfunk nur eingeschaltet habe.” „Hm. Vielleicht hat er vorhin bereits das kleine Zittercodegerät blockiert”, murmelte Henri. Trotzdem rief Charivari über Bildfunk seine Weltraumstation. „Hallo, hier Biggs”, meldet sich der Captain auf der Mattscheibe in der Wand. Der Professor gab die Giganto-Position an: Fahrt-Kurswerte 0. Standort Oberfläche Pico de Aneto.” Es stellte sich heraus, daß der Signalchef den Zittercode wegen einer vorübergehenden kosmischen Störung nur schwach und unverständlich empfangen hatte. „Sind neue Gedankenströme des Ragamuffin verzeichnet worden?” fragte der Professor. „Nein”, kam die Antwort aus dem Wandlautsprecher. „Seit Stunden nicht mehr der leiseste Impuls. Von der Mondpol-Station und von unseren Unterwasserstädten kamen verschlüsselt gleichlautende Meldungen. Der Ragamuffin schweigt.” „Der Ragamuffin schweigt! Er sendet nicht mehr! Er hat plötzlich Schluß gemacht mit der Charivari gefiel das nicht. „Das ist eine Finte ... Was meinst du, Superhirn?” Der spindeldürre Junge dachte nach. Man sah ihm an, daß er die Lage ungünstig beurteilte. Funkstille hat nie was Gutes bedeutet, das liest man in Geschichtsbüchern - und noch jeden Tag in der Zeitung. Auf Funk- und Nachrichtensperre folgt meist 'ne unangenehme Überraschung!” Charivari schaltete den Außenfunk nochmals an: „Giganto meldet Position wie gehabt. Etwas Neues über die sogenannten kleinen Männer, die sich in Spanien aufhalten sollen?” Der Signalchef der geheimen Weltraumstation gab zurück: „Ja, es handelt sich tatsächlich um kleine Geschöpfe. Normale amerikanische und europäische Rundfunksender melden sehr kleine Personen,
die sich im Sportstadion von Madrid aus Kanonen in die Luft schießen lassen. Es heißt, es sind Japaner, darunter Kinder. Ihr Trikot ist grau. Sie tragen Masken. Es soll eine hervorragend eingespielte Künstlertruppe sein.” Der Professor stellte noch einige Fragen, befahl absolute Funkstille für die nächsten acht Stunden zwischen seinen Geheimstationen und Weltraumschiffen. Das sollte auch für Erdschiff Giganto gelten. „So, nun essen wir erst mal was”, sagte er dann. Danach entschied er: „Marsch ins Bett! Wir brauchen dringend Schlaf.“ Es war heller Tag, als Henri, Tati, Gérard, Prosper und Micha am Frühstückstisch in der Messe saßen. Superhirn stapfte, von Loulou begleitet, längst mit Professor Charivari draußen umher. Wegen der Gebirgshöhe war es trotz des sonnigen Wetters kalt, so daß die beiden Schutzanzüge trugen. „Also, was die Künstlertruppe der kleinen Männer betrifft, die sich zur Volksbelustigung aus Kanonen schießen lassen...”, begann der Professor. Superhirn lachte. „... ausgerechnet hier in Spanien, im Sportstadion von Madrid! Ja. Das geht mir auch nicht aus dem Kopf Kleine Männer, angeblich auch Kinder ... Und Japaner sollen es sein? Möglicherweise eine raffinierte Tarnung oder Ablenkung. Japaner gelten in der ganzen Welt als klug und geschickt. Die Bande des Ragamuffin würde als japanische Künstlertruppe nicht auffallen. Vorausgesetzt, sie haben sich auf größer getrimmt als auf Schachfigurenformat - und auf kleiner als der eine, der mich in Monton am Arm packte.” Professor Charivari strich sich den Strippenbart. „Es ist durchaus denkbar, daß es sich um eine Tarnung dieser variablen Vasallen, der wandelbaren Untertanen des Ragamuffin, handelt. Diese Vavas könnten für den Fall ihrer Entdeckung Vorsorge geschaffen haben. Das nennt man: Die Flucht nach vorn - oder die Flucht in die Öffentlichkeit antreten. Würden wir also der Polizei der ganzen Welt melden, wir hätten Mini-Figuren beobachtet, die wie Geschosse in das Erdinnere zurücksausen ...” „... würde es gleich heißen, wir hätten nichts anderes als diese Künstlertruppe beim Training gesehen”, grinste Superhirn. „Ich denke, wir machen mit unserem Bord-Auto einen Abstecher nach Madrid und sehen uns die Kerle mal an”, entschied Charivari. „Ich bleibe hier!” sagte Superhirn fest. „Ich gehe in den Giganto und halte Wache. Während wir nämlich allesamt in Madrid wären, könnte sich eine Gruppe der Ragamuffin-Vavas hier zu schaffen machen.” Er fügte hinzu: „Sehen Sie mich nicht so zweifelnd an, Herr Professor! Daß mir die Burschen die Gedanken durcheinanderbringen, soll mir nicht noch mal passieren! Im Kammerschrank habe ich einen Schutzhelm gesehen.” „Ja”, unterbrach Charivari. „Wahrscheinlich den richtigen. Den Einwegspiegel-Strahlenschutzhelm. Wenn du den aufsetzt, prallt jede fremde Gedankenwelle an dir ab. Und wer dich ansieht, sieht sich selber wie in einer riesigen Weihnachtsbaumkugel. Du aber kannst alles sehen. Außerdem wirst du in der Sicherheitskabine über meinem Wohnraum bleiben. Über der Erde habe ich Ausstiegsmöglichkeiten. Sollte dir Gefahr drohen, drückst du auf einen Knopf - und du wirst mit der Sicherheitskabine wie in einem Schleudersitz aus dem Giganto hinauskatapultiert - direkt auf meine Weltraumstation.” Superhirn lächelte. „Ich brauche nur einen Notizblock mit einem Kugelschreiber. Dann wird mir die Zeit nicht zu lang.” Beide kletterten mit Loulou wieder in das Erdschiff. Selbst in der Sonnenhelligkeit glänzte der Giganto nicht. Stumpf und grau, mit ungewissen Umrissen, von den Felsen kaum zu unterscheiden, lag er da. Niemand, auch wenn er sich an seinen Rumpf lehnte, hielt ihn für ein künstliches Gebilde. Dies wurde durch die Dormierungshaltung bewirkt, von der Charivari gestern gesprochen hatte. Der Professor und Superhirn gingen ins Kasino, wo die anderen noch saßen. „Was?” schrie Micha begeistert. „Nach Madrid? Ins Sportstadion? Und im Bordauto? Wo ist denn das Auto? Ich will es sehen! Ich will damit fahren!” „Aber wir müssen uns Decken mitnehmen! Das Auto, mein Gigantomobil, ist ein offenes
Behelfsfahrzeug. Wenn es in Madrid auch noch so heiß ist, auf der Rückfahrt werdet ihr bibbern”, erklärte der Professor. Auch Prosper und Gérard freuten sich über die Abwechslung. Nur Henri und Tati zögerten. „Wenn nun doch so eine Horde - wie nennen sie die Burschen? Ach, ja: Vavas! Wenn so eine VavaGruppe Superhirn inzwischen überfällt? Woran würde er merken, daß sich jemand von denen eingeschlichen hätte?” fragte Tati. „Berechtigte Frage”,. erwiderte Charivari. „Aber ich kann Gigantos künstliche Wachhunde wecken. Die nehmen zur Sicherheit unsere biologischen Einzelheiten noch einmal auf Bemerken sie dann etwa ein anderes Menschenwesen, fangen sie an zu bellen.” „Was, wie Loulou?” rief Micha. Der Professor lachte. „Im übertragenen Sinn, natürlich. Es gibt Alarm, und alle Innenwände färben sich schwefelgelb.” Er ging mit den Freunden in die Hauptschleuse, den Flur, in dem alle Einstiege mündeten. „In diesen Wänden befinden sich die sogenannten automatischen Genehmiger, Geräte, die der verborgenen Alarmschaltung noch einmal eine besondere Erlaubnis für eure Anwesenheit erteilen. Sie nehmen eure Körperstrahlung auf, eure Gehirnwellen, eure Stimmen und - mikrofilmisch - euer Äußeres. Ja, sogar eure Blutgruppen können diese Geräte bestimmen. jeder von euch, den ich unter Voranschaltung einiger Ziffern hier programmiert habe, ist jetzt doppelt genehmigt. Ihr und auch Loulou dürft überall im Giganto umherkrabbeln, ohne daß das Schiff nervös wird. Gleichzeitig bewirkt diese Schaltung eine Empfindlichkeit gegen unregistrierte Eindringlinge.” Superhirn bezog die bequeme Sicherheitskabine. Mit gerollten Decken unter den Armen verließen die anderen das zwischen den Felsen brockenhaft und unauffällig wirkende Erdschiff. Henri, Tati, Prosper, G6rard und Micha sahen sich um, während der Professor die Wandtreppe per Fernsteuerung schloß. Er trug einen Sommeranzug und einen Strohhut, so daß er wie der friedliche Opa der Freunde wirkte. Loulou hopste freudig an ihm hoch. „Wo ist denn das Auto?” fragte Micha. „Hier!” Lächelnd zog der Professor einen roten Lappen aus der Tasche. An ein winziges Ventil hielt er eine Art Feuerzeug. „Ist das ein Kinderluftballon?” „Nein! Aber kolossal dehnbarer Kunststoff...” Flupp! Vor den erstaunten Blicken der Jugendlichen stand ein bereits, wulstiges Luftkissenauto mit drei Vorder- und drei Rücksitzen. Und als Windschutz hatte es sogar eine durchsichtige Folie. „Ich habe das Ding mit Hartgas gefüllt”, erklärte Charivari. „Ganz wenig Hartgas ersetzt eine ungeheure Menge Preßluft, wenn es gelöst wird. Es dient uns auch als Treibstoff. So. Nehmt den Pudel und steigt ein!” Er fügte hinzu: „Wir leben im Zeitalter des Härtens und des Verflüssigens. Zum Beispiel verflüssigen wir Erdgas. Stahl härten wir mit Säure. Eisen kann man aber auch in Säure lösen. Wir lassen größere Mengen durch Hinzufügen entstehen, pressen andere durch Entziehung eines Stoffes und durch Druck zu winzigen Teilen zusammen.” „Ja. Das fängt schon beim Suppenwürfel an!” rief Micha. Der Professor startete, und die ganze Gesellschaft sauste auf Luft- und Gaspolstern im „Gigantomobil” dem sonnigen Madrid entgegen ... Sie waren kaum eine Stunde weg, als alle Wände im zurückgelassenen Erdschiff aufleuchteten ... ! Großalarm, vermerkte Superhirn. Feinde an Bord! Und er befand sich als einziger Verteidiger hier! Professor Charivari und die Freunde (Micha hielt den Pudel an sich geklammert) saßen auf den zusammengefalteten Decken unter der brütenden Nachmittagssonne im Sportstadion von Madrid. Keiner - am wenigsten natürlich Loulou - ahnte, in welcher Not sich Superhirn befand. Die Zuschauer lachten und schrien vor Vergnügen und Bewunderung Über das, was sie sahen. Es herrschte eine Bombenstimmung im Stadion. Unten, auf der Aschenbahn, stand ein hochgebockter Lastwagen mit einer aufmontierten ungefügen Kanone. Daraus wurde ab und zu eine vermummte, menschliche Figur mit lautem Knall etwa 20 Meter in die Luft geschossen. Das lebende Geschoß gab sich auf dem Höhepunkt einen geschickten
Drall und landete schließlich, wieder etwa 20 Meter weiter, in einem aufgestellten Schwimmbassin. Durch den Lautsprecher erklang flotte Musik zwischen den einzelnen Schüssen ... Und dann sang der Ansager in überschwenglicher Begeisterung stets von neuem das Loblied seiner „Todestruppe”. „Die Todestruppe”, rief er, „die japanische Familie Kozo, ist vom achten Lebensjahr an darauf trainiert, aus einer Kanone geschossen zu werden!” „Bravo ... !” schrie Micha. Er hatte ganz und gar vergessen, weshalb sie eigentlich hierhergefahren waren. Professor Charivari ärgerte sich maßlos. „Die Todestruppe”, die angeblich sonderbaren „kleinen Menschen”, hatte überhaupt nichts mit dem Ragamuffin und seinen Vavas zu tun. Es waren echte Japaner, Männer, Frauen und Kinder, die da in grauen Ledertrikots (fast wie Froschmänner anzusehen) ihre artistische Schaustellung darboten . Hervorragende Artisten, großartige Zirkusleute, ja! Aber zwischen ihren Fähigkeiten und denen der unbekannten Ragamuffin-Bande bestand wahrhaftig ein erdweiter Unterschied. „Den Rand des Schwimmbassins hat man meterhoch mit Schaumgummi gepolstert, falls die Menschengeschosse das Wasser verfehlen”, brummte Charivari. „Und neben und hinter dem Becken liegen ganze Schichten dieses Schaumstoffs.” „Die Leute kommen aber wirklich aus dem Kanonenrohr!” rief Tati. „Das ist doch toll, oder?” „Ja, aber sie teilen sich nicht in Geschoßkopf und Patronenhülse”, lachte Henri. „Im Kanonenrohr wird nur ein Kolben gespannt, der den Artisten beim Abzug rausstößt. Siehst du? Der japanische Junge steigt von vorn mit den Füßen zuerst ins Rohr.” „Schuß!” brüllte der Ansager. Es krachte zwar wiederum - und es rauchte auch, doch jetzt bemerkte Tati, daß der „Schütze” gleichzeitig ein Feuerwerkspulver in Brand gesetzt hatte. Der kleine Artist machte vor dem Aufklatschen ins Schwimmbecken sogar noch einen Salto. Die Menschenmenge, die einen Augenblick lang den Atem angehalten hatte, jubelte begeistert auf „Die Todestruppe der japanischen Kozo-Familie...” hörte man die überschnappende Stimme des Ansagers, „... mit verbundenen Augen aus dem Kanonenrohr in die Luft und ins Wasser! Wer hat so etwas schon erlebt?” „Mit verbundenen Augen ist das allerdings sehr schwer”, meinte der Professor. „Der Artist kann seine Bahn nicht beobachten und durch Körperbewegung zusätzlich korrigieren. Ich glaube, mich zu erinnern, daß schon viele durch verfehlten Aufprall getötet oder verletzt worden sind. Nun, es gibt mehrere solcher Truppen in der Welt. Und wenn diese Kozos auch die besten sein mögen ... ich glaube, wir müssen zum Giganto zurück. Das Vergnügen hier könnte uns zu teuer werden.” Micha und Gérard bedauerten es nicht, in die Irre geführt worden zu sein und statt des Ragamuffin und seiner Vavas die herrliche, japanische „Todestruppe” gesehen zu haben. Abseits vom Parkplatz zog Professor Charivari das kleine Plastikbündel aus der Tasche und blies es aus der Hartgastube auf, bis es als großes, wulstiges Luftkissenauto auf der menschenleeren Straße stand. Die Leute aus der Umgebung waren ja alle im Stadion. Vertrackt! Aber ein Polizist war da! „Hallo!” rief er. „Ich habe Sie schon mal gesehen! Sie haben vorhin falsch geparkt! Und jetzt stehen Sie verkehrt in einer Einbahnstraße!” „Schnell! Einsteigen!” befahl Professor Charivari. „Hüllt euch in eure Decken!” „Halt! Halt!” schrie der Polizist. Er blieb stehen und rieb sich die Augen. Das sonderbare Auto war weg ... Mit Hilfe einer Kurszahl auf dem Zifferblatt seines Armbanduhrgeräts fand Charivari ins Pyrenäengebirge zurück. Es war erst achtzehn Uhr, doch die Sonne fällt im südlichen Europa in einem anderen Winkel ein als im Norden. Außerdem ragten zahlreiche Kuppen und Zacken am Horizont empor, so daß man den Eindruck hatte, es dämmere schon. „Wo ist Giganto?” fragte Micha zähneklappernd. Ihn fror unter der umgelegten Decke. Den anderen
ging es nicht besser. Nach Henris Schätzung betrug die Temperatur hier oben jetzt nur wenig über null Grad. „Schnell ins geheizte Schiff rein”, bibberte Tati. Der Pudel winselte kläglich. Auch er sehnte sich nach Wärme. Im Grau der Felsen erkannte keiner den vor jedem Schimmer geschützten Giganto. Professor Charivari ließ den Druckstoff aus dem Ventil des Schwebemobils entweichen und steckte es als „Lappen” wieder in die Tasche. Er drehte an seinem Fernsteuerungs-Ring. Plötzlich gab sich das getarnte Erdschiff zu erkennen, indem es die Seitenklappe heruntergleiten ließ. Aber was war das ... ? Dem Professor und seinen Begleitern traten die Augen aus dem Kopf. Schwefelgelbes Warnlicht war durch den Einstieg zu erkennen! „Superhirn ... !” schrie Prosper. „Su-Su-Superhirn!” Loulou bellte laut. „Superhirn!” durchschnitt die Stimme des Professors die eiskalte Luft. Tati, Henri, Gérard und Micha waren stumm vor Schreck. Schwefelgelbes Warnlicht in den Räumen? Bedeutet das nicht „Feind an Bord”? Waren die Vavas des Ragamuffin während der unnötigen Abwesenheit der anderen in den Giganto eingedrungen, um Superhirn zu überwältigen? Noch einmal rief der Professor. Und endlich wurde der spindeldürre Junge im Einstieg sichtbar. Er nahm seinen Schutzhelm ab. „Ein Glück, da seid ihr ja.” Seine Stimme klang erstaunlich gelassen. „Ich laufe die ganze Zeit in diesem komischen Bestrahlungsinstitut herum, aber ohne Erfolg! Werde mir von meinem Arzt nie wieder eine Bestrahlung verschreiben lassen.” Charivari und die Freunde kletterten eilig in das Erd-Schiff. „Hu ... schaurig”, murmelte Micha. „Wahrhaftig! Alle Wände schimmern gelb! Sogar in der Küche!” „Warst du nicht in der Sicherheitskabine, Superhirn?” fragte der Professor scharf „Warum hast du dich nicht hinauskatapultiert, als das Warnlicht anging?” „Ich wollte nichts übereilen”, gab der junge zurück. „Auch ging's mir darum, den Spion zu erwischen, falls sich einer eingeschlichen hätte. Ich war fest entschlossen, ihn auf den Mond zu schicken.” Er grinste. „Wenn ich auch nicht wußte, wie!” „Und mir scheint”, brummte der Professor, „ich muß meine Mitarbeiter mal allesamt vom Mond herunterholen! Die kleinen Menschen aus den Kanonen waren Artisten. Eine echte japanische Zirkustruppe. Keine Ragamuffin-Leute aus dem Erdinnern.” Er ging in den Kommandoraum und befragte per Mikrofon das Genehmigungsgerät: „Art des Eindringlings auf Sichtbild erscheinen lassen!” In der noch immer schwefelgelben Wand erschien ein weißes Quadrat mit einem schwarzen Schattenriß. „Eine Fliege!” staunte Henri. Er blickte auf die angegebenen Größenmaße. „Ach, so 'n müdes Insekt, wie's sie in Monton zu Tausenden gibt! Das Biest hatten wir sicher schon seit der Abfahrt an Bord.” „Haha, und der Genehmiger hat´s nicht registriert!” sagte lachend Micha. Alle machten sich auf die Suche nach der Fliege. Schließlich erwischte sie Tati in der Küche. Der Professor holte einen luftdurchlässigen Spezialbehälter und brachte das Gefäß in eines seiner Bordlabors. Superhirn folgte ihm gespannt. „Sie haben in diesem Labor noch mehr Insektenbehälter, nicht wahr? Und in den anderen Isolierkammern sah ich sehr merkwürdige Sichtzeichen ... Da scheint allerlei unter Verschluß zu sein.” „Bakterienkulturen, Algen und dergleichen”, sagte Charivari. „Aber ich habe auch Farne, Moos und bestimmte Ranken für Höhlenversuche in Spezialkonservierung an Bord. Der Giganto ist ja nicht zuletzt ein Forschungsschiff. Und dort, wo Loulou immer Gassi geht, im Labor mit der starken
Absaugvorrichtung, sollte eigentlich ein Versuchs-Äffchen hausen. Aber das habe ich besser diesmal zurückgelassen.” „Na ja”, grinste Superhirn, „in den letzten Stunden war ich ja der Versuchsaffe.” 7. Zentrale des Ragamuffin schweigt Das Schwefelgelb an den Wänden war verschwunden. In sämtlichen Funktions- und Wohnräumen liefen lautlos und unsichtbar Entkeimungsanlagen auf Hochtouren, um etwa eingeschleppte MikroOrganismen unschädlich zu machen. Geduscht und in sauberer, schnellgereinigter Kleidung versammelte sich die Giganto-Besatzung zum Abendessen. Professor Charivari, Tati, Micha, Gérard, Henri und Prosper erzählten von ihren Erlebnissen in Madrid, und Superhirn schilderte noch einmal, wie ihm beim Aufleuchten der Alarmanlage zumute gewesen war. „Aber trotzdem hab ich mich mit dem sogenannten Ragamuffin und seinen Vavas beschäftigt”, sagte er. „Und ich habe meine Gedanken aufgeschrieben. Dazu blieb mir ja eine ganze Stunde Zeit.” „Und?” fragte Charivari gespannt. Superhirn zog sein Notizbuch hervor. „Sie vermuten den Ragamuffin in der Erde. Sie nehmen an, er beherrscht einen unter- oder innerirdischen Staat von menschlichen Lebewesen mit besonderen Fähigkeiten.” „Ja”, nickte Charivari. Er strich sich heftig den Strippenbart. „Der als Schach-Bauernfigur getarnte Spion im Hause meines Onkels”, fuhr Superhirn fort, „diese erst so winzige, starre Figur, die dann lebendig wurde und ins Riesenhafte wuchs, sah wie ein Mensch aus. ja, wie ein Mensch - ein Ausländer.” „Warum erzählst du uns das jetzt?” unterbrach Micha unbehaglich. „Weil ich den Professor an etwas erinnern will”, erwiderte Superhirn. „Die Augen des RagamuffinSpions waren unnatürlich groß.” Charivari sprang auf. „Gut, sehr gut! Du gibst mir das Stichwort, Superhirn. Die großen Augen! Ein Geschöpf, das die Helligkeit an der Erdoberfläche nicht gewohnt ist, muß große Augen haben. Deine Beschreibung ruft mir ins Gedächtnis, daß ich von Anfang an unbeirrbar der Meinung war: das Ragamuffin-Volk besteht aus Menschen! Also gibt es irgendwo in der Erde - wenn auch gewiß nicht in tieferen Schichten - menschliche Lebensbedingungen!” Er faßte einen Entschluß. „Wir werden noch einmal in die Erde vorstoßen! Los! Alle Mann in den Kommandoraum!” An der Bogenplatte setzte der Professor den Bildfunk in Betrieb. Wieder meldete sich die geheime Raumstation Monitor: „Keine Ungutsgedanken mehr! Zentrale des Ragamuffin schweigt!” „Dachte ich mir”, sagte Charivari. Jetzt geht's aufs Ganze!” Er bereitete den Start vor, indem er mikrofonisch sämtliche Bordsysteme mehrfach überprüfte. Die letzte Mitteilung an Biggs lautete: „Giganto meldet: Sucht heiße Spuren!” Prosper blickte in das Fahrtenschreiber-Hologramm: Das rote Pünktchen, das eben noch an der Außenseite dieser Erdball-Darstellung geklebt hatte, bewegte sich langsam nach innen. „Wir fahren!” rief Gérard. „Nee, wir schleichen!” „Na, wir müssen ja wohl erst mal wissen, wohin die Reise gehen soll”, meinte lächelnd Superhirn. „Das kann man sich doch an seinen fünf Fingern abzählen” rief Micha. Vor lauter Neugier fühlte er sich gar nicht mehr unbehaglich. Der Professor ernannte Superhirn zum Hilfs-Navigator, Henri zum Bord-Innenkommandanten, Prosper und Gérard zu Assistenten und Micha zum Verbindungsmann. Tati wurde Chef-Stewardeß („Chef”, damit es nicht so deutlich nach „Bedienung” klang!) Der „Verbindungsmann” paßte Micha nicht. „Das heißt ja doch nichts anderes als Läufer”', meinte er. „Jeder an Bord hat ein großes Maß an Eigenverantwortung”, belehrte ihn der Professor. Doch das
hätte er nicht gerade zu Micha sagen sollen. Er sollte sich bald zeigen, wie falsch der jüngste „Mann” das verstanden hatte ... Durch ein Tippen auf die Bogenplatte ließ Charivari Erd-Daten und entsprechende Hinweise in der Wand erscheinen. Henri las murmelnd: „Erdumfang etwa 1083,32 Milliarden hoch 3. .. Gewicht der Erde etwa 3975 Trillionen Tonnen.” „Durchmesser von einem Pol zum anderen”, brummte Superhirn, „11 Millionen 712 Kilometer. Aufbau von außen zum Erdmittelpunkt: Erdrinde, Erdschale, äußerer und innerer Kern. Innerer Kern vermutlich aus Stahlnickel...” Er blickte auf den Lichtballon. Das bewegliche Leuchtpünktchen, das den Giganto markierte, bewegte sich immer noch sehr langsam. „Wenn wir die Ragamuffin-Leute in einem Hohlraum unter menschlichen Lebensbedingungen suchen”, sagte Superhirn, „dürfen wir nicht zu sehr in die Tiefe gehen. in so irrsinnig festem Erdgestein kann ja nichts Lebendes existieren.” „Nein, gewiß nicht”, gab Professor Charivari zurück. „Aber wir wollten uns kurz beraten. Ich bin der Meinung, die Gelegenheit, dem Ragamuffin und seinen Vavas einen Denkzettel zu verpassen, ist gerade jetzt besonders günstig.” „Wieso?” fragte Tati. „Weil es bei eingehendem Nachdenken nichts Schlimmes zu bedeuten braucht, daß dieser innerirdische Bandenchef keine Gehirnwellen mehr ausstrahlt. Er hat sich bei seiner letzten Ungutsstrahlensendung verausgabt. Überanstrengt! Bestimmt braucht er Zeit, um sein Gehirnkraftwerk aufzutanken.” „Ah!” begriff Superhirn. „Und in dieser angenommenen Müden-Mann-Pause wollen wir ihn überraschen?” „Erfaßt!” Charivari lachte. „A-A-A-Aber wie finden wir ihn?” stammelte Prosper aufgeregt. „Wo wir doch bisher erfolglos rumgegurkt sind!” rief Micha. „Der Professor hat ihn ja in Frieden lassen wollen, solange er sich nicht rührte”, erinnerte Gérard. „Eben!” Charivari nickte. „Doch wir haben auf unserer harmlosen Testfahrt erlebt, wie er wieder aufgedreht hat. Und in der Weltraumstation gab's eine Panik. Deshalb will ich dem Burschen nun gezielt ins Hauptquartier brummen.” „Er wird uns mit Musik empfangen”, meinte Tati, der der Plan nicht gefiel. „Mit Sägetönen an der Außenhülle. Sicher durchbohrt sein Vava-Volk den Giganto mit Gedankenwellen so, daß wir uns in einem Sieb wiederfinden.” „Ich habe hundertprozentige Anzeichen dafür, daß der Giganto das aushalten würde”, behauptete Professor Charivari. „Nur über ein Gehirnwellen-Empfangsgerät - wie's eins auf meiner Weltraumstation gibt - könnten die Ungutsstrahlen in unser Erdschiff dringen. Dann allerdings wären wir im Hauptquartier des Ragamuffin verloren.” „Und sicher auch, wenn wir den Giganto auf ,Antenne' schalten würden”, fügte Superhirn hinzu. „Aber wie finden wir dieses Hauptquartier in der Erde?” nahm Henri Prospers Frage auf, „Der Giganto hat Hohlraum-Sensor”, erklärte der Professor, „ein Spürgerät zum Auffinden von Hohlräumen in der Erde. Nun mag es, zumindest in geringeren Tiefen, sehr viele Hohlräume geben. Deshalb reicht dieses Gerät allein nicht aus. Ich muß das Erdschiff also zusätzlich auf BioDetektions-Kurs programmieren. Das heißt”, sagte er zu Micha gewandt, „ich muß dem Giganto eine Schnüffelnase aufsetzen, damit er Menschen, Tiere, Bäume, Gräser, ja sogar Kleidung und Nahrung erschnuppert - und uns selbsttätig in einen bewohnten Hohlraum führt.” „Wo das Ragamuffelvolk haust”, rief Micha begierig. „Prima! Aber ich möchte diese Schnüffelnase sehen!” Alle lachten. „Du wirst enttäuscht sein. Die Nase ist auch nur ein Gerät. So, nun kommt mal alle mit ins Labor”, sagte Charivari. Micha war wirklich enttäuscht.
„Auch nur Wände”, murrte er. Doch der Professor drückte auf die Reihe verschiedenfarbiger Kontaktplatten neben dem Eingang. Sofort zeigten sich Schranktüren, Klappen, Fächer, Meßgeräte, Sichtmarkierungen. Im Boden des Labors X erschien ein lichtblauer Kreis, durch den sich von unten her ein papierkorbgroßer, schimmernder Trichter schob. „Und nun?“ fragte Tati verblüfft. „Der Lichtkreis auf dem Boden ist der Hohlraumspürer, das heißt, er bezeichnet die Stelle, wo er sitzt. Den Trichter müssen wir mit allem füllen, was wir am innerirdischen Wohnort des RagamuffinVolkes vermuten und was es an hierfür Geeignetem an Bord überhaupt gibt!” „Aber dann mü-mü-müßten Sie ja einen Menschen in das Schnüffelgerät schmeißen!” rief Prosper entsetzt. „Und den Hund! Und...” Breit grinsend blickte Gérard auf Micha und Loulou. Aber die anderen lachten bereits so sehr, daß der jüngste sich nicht mehr getroffen fühlen konnte. Er kicherte mit. „Nun, so ist das nicht gemeint”, sagte Charivari zu Prosper. „Dieses Suchgerät arbeitet auf zwei Grundlagen. Es spürt die Struktur von Dingen auf, die wir ihm enorm verstärkt vorschreiben. Sodann geht es auf Geruch. Ich sprach ja von einer Nase, nicht wahr? Wenn wir über Hunderttausende von Kilometern hinweg Menschen, menschliche Kleidung, menschliche Nahrung, menschliche Wohnanlagen - womöglich sogar mit Haustieren - erspüren wollen, brauchen wir Automaten mit allerstärkster Suchkraft. Die Gerüche sämtlicher anderen Erdmaterien müssen ja ,überlagert' werden, wie der Fachmann das nennt.” Superhirn nickte. „Wenn also der Riecher so unerhört stark ist, brauchen wir ihn nur mit kleinen Stücken zu programmieren: Mit rohem Fleisch, Eiern, Kräutern aus dem Küchenlabor, Blutkonserven und Bakterienkulturen, Insekten, Moos und Algen aus den übrigen Isolierkammern. Ja, und mit Menschenhaar, irgendeinem Fell...” „Und mit Spucke!” rief Micha. Zum Vergnügen der anderen spuckte er sogleich in den Trichter des Spürgeräts. „Superhirn”, sagte Charivari, „komm mit ins chemische Labor! Ich habe da einige Sekrete aus Eigenversuchen in verschlossenen Phiolen und Kapseln. Die müssen vorsichtig transportiert werden!” Er wandte sich an Henri: „Ihr anderen bestellt eine Reihe von Lebensmitteln! Die Klappe, dort in der Wand, ist mit der Küchenautomatik verbunden. Der Kreis daneben, der wie ein feinmaschiges Sieb aussieht, ist der Befehlsübermittler. Sprecht ihn ganz nahe und deutlich an. Er reagiert auf Hauchkontakt.” jetzt setzte ein eifriges Hin- und Herlaufen zwischen der Klappe und dem Spürtrichter ein. Micha fütterte das Ding hauptsächlich mit rohen Eiern, weil das den größten Spaß machte. Als er mehr als zwei Dutzend hineingeworfen hatte, bremste ihn Henri. Tati brachte Milch und Früchte, Prosper Fleisch und Gérard eine gebratene Gans, eine Pute, eine Entenportion und zwei Backhähnchen. „Sicher fressen die Ragamuffels auch das”, meinte er. Es war schwierig, den Pudel davon abzuhalten, all den Köstlichkeiten hinterher in den Spürtrichter zu „Vorsicht! Tretet mal alle zurück!” Der Professor und Superhirn kamen mit Tabletts. Die Gegenstände darauf erinnerten unangenehm an Krankenhaus. „So, hinein in den Spürer - samt Gläsern, Kapseln und Schalen!” befahl Charivari. Sowie ein Gegenstand die Verengung des Trichters traf, erweiterte sich dieser, und es gab einen starken Zischton. „Der Trichter schluckt”, grinste Superhirn. „So, und nun holen wir die Farne, das Moos, die Algen...” Wieder verschwand der Professor mit Superhirn im Labor-Teil des Giganto. Während Prosper, Tati, Gérard und Henri überlegten, was sie dem „Spürer” an Gemüse einfüllen sollten, war Micha auf einmal verschwunden. Gerade hatte sich Tati für Radieschen und Rettich entschieden, als der jüngste wieder erschien. Ehe
ihn jemand daran hindern konnte, warf er den Elfenbeinstock und den Strohhut des Professors in den Trichter. „Ein Opfer für die Wissenschaft!” rief er stolz. „Hat dir der Professor das erlaubt?” fragte Henri verblüfft. „Nein, aber ich habe eigene Verantwortung, auch als Verbindungsmann”, erklärte Micha. ..Das hat er extra betont!” „Gute Nacht mit deinem Opfer, das du auf anderer Leute Kosten bringst”, sagte Tati. „Meinst du, der Ragamuffin trägt einen Stock und einen Strohhut?” „Nein, aber der Stock ist aus Elefantenzahn. Zahn!” betonte Micha pfiffig. „Die Muffels sollen doch prächtige Zähne haben, wie du vorhin von Superhirn gehört hast, Schwesterchen. Jetzt sucht unser Spürautomat nach so 'ner Knochenmasse. Und Stroh besitzen die auch.” „Elfenbein”, feixte Prosper. „Du hast eine Phantasie! Hoffentlich landen wir nicht in einem unterirdischen Zoo.” Der Giganto war zwar auf innerirdischen Kurs programmiert, doch Prosper ahnte nicht, auf welch furchtbare Weise sich sein Witz bewahrheiten sollte. Micha schmiß auch gleich noch seinen Homkamm und seine lederne Geldbörse hinterher. „In der war sowieso nichts mehr drin”, erklärte er. Tati seufzte: „Die edle Tat gibt uns Charivaris Elfenbeinstock auch nicht zurück. Und wenn wir schon ein Wertstück von ihm verbraten haben, müssen wir auch selbst ein Opfer bringen.” Sie warf ihren kostbaren, breiten Ziergürtel, der aus echtem Krokodil-Leder bestand, in den Trichter und danach das Schlangenhaut-Etui ihrer Sonnenbrille. Das war sehr gut gemeint, doch etwas Dümmeres hätte sie nicht tun können. Professor Charivari und Superhirn kamen nun mit den Insektenbehältern. Die wurden dem „Spürer” gleich mitsamt den Gefäßen anvertraut. Ebenso die Blutkonserven, die Bakterienkulturen und alle Versuchspflanzen. Zuletzt folgten eine Lamadecke, ein Leinentuch, eine Sauerstoff-Flasche und ein Wasserkanister. Als der Professor mit den Gefährten und Loulou wieder im Kommandoraum war, sagte er: „Ich stelle jetzt mikrofonisch den Spür-Automatismus auf Stärke 01010101 - also viermal null-eins ein. Mit dieser Geruchskraft könnte der Giganto jetzt durch die Erde hindurch einen Parfümtropfen auf dem Mars orten, ja, und ihn sogar von allen dort vorhandenen Einwirkungen unterscheiden.” Professor Charivari brachte das Schiff auf schnellere Fahrt und stellte das Befehlsmikrofon auf Superhirns Stimme um. Dazu brauchte er nichts anderes als eine gesprochene Formel. „So”, sagte er, „ich lege mich mal ein paar Minuten hin. Henri, du teilst bitte die Wachen ein.” Er ging, ohne daß ihm Micha und Tati gesagt hatten, was sie in den Spürtrichter geworfen hatten. Vor lauter Aufregung hatten sie es vergessen ... Prosper und Micha blieben bei Superhirn im Kommandoraum. Tati und Gérard gingen in ihre Kammern, und Henri legte sich auf ein Knautschlacksofa. Nach einiger Zeit kam Charivari zurück und löste Superhirn ab. Prosper weckte Tati und Gérard. Und während er sich mit Superhirn und Micha zurückzog, stand jetzt Henri bei Charivari an der Bogenplatte. Als über den Lautsprecher der Befehl in die Wohnkammern drang: „Aufstehen! Essen!”, glaubte Micha, er hätte kaum geschlafen. Dabei hatte man ihn bei der Ablösung zweimal übergangen. Tati war als erste in der Messe. Prosper und Gérard folgten. Schließlich kamen Henri und Superhirn. „Wir kurven in 2000 Meter Tiefe unter dem Himalaja”, berichtete Henri. Superhirn nickte. „Giganto schleicht wie eine Katze um den heißen Brei um irgend etwas herum. Der Professor meint, er könnte vielleicht eine Höhlung, eine gewaltige, belebte Blase in der Erde erschnüffelt haben. Aber er schaltet nicht auf Außensicht. Alle Antennen sind stillgelegt. Kein Funkimpuls darf hinaus.” Plötzlich erschien der Professor. Seine schwarzen Brauen zuckten. Und seine Worte waren wahrhaft atemberaubend: „Genau 1198,57 Meter unter dem Himalaja!” meldete er. „Das Schiff steht! Die Instrumente zeigen eine Außentemperatur von plus 38 Grad Celsius. Die Luftfeuchtigkeit beträgt...” Der sonst so besonnene Henri unterbrach: „Luftfeuchtigkeit ... ? Dann gibt es draußen Luft? Und nur
38 Grad! Da kann man ja leben! Giganto ist gelandet! Wir sind in der Ragamuffin-Zentrale!” Im gleichen Moment tauchte Micha mit dem Pudel in der Flurschleuse auf Weil der Hund ihn hopsend umkreiste, wollte er ihm ausweichen, um ihn nicht zu treten. Dabei fiel er rücklings gegen die Wand. Dieser Panne folgte eine schlimmere: Die Wand (es war die seitliche, aufklappbare Ausstiegsrutsche) öffnete sich infolge eines unvermuteten Defekts. „Hilfe!” schrie Micha gellend. „Hilfe!” 8. Im Tal des Schreckens Die seitliche Rutschbahntür hatte sich geöffnet, ohne den Mikrofon-Befehl zum Öffnen „abzuwarten”. Micha, der davor gestanden hatte, sauste taumelnd hinunter. Ihm folgte, alle viere von sich gestreckt, der Pudel auf dem Bauch. Micha schrie wie besessen. Man hörte ein kurzes Aufjaulen von Loulou - endlich nur noch sein Husten, das aber rasch in anderen Geräuschen unterging. Eines war klar: Der Giganto parkte nicht in finsterer Erde, wenigstens nicht in Fels oder Lava. Er war - wenn man das so ausdrücken durfte- in einer weiten Lichtung gelandet. Luft drang in das Schiff, feuchte, ein wenig stickige Luft, doch sie benahm den Atem nicht. Ebenso war es draußen eher hell als dunkel. Fern - irgendwo - ertönte ein Gebrüll wie aus Tausenden von mißtönenden Trompeten. „E-E-E-Elefanten ... !” stammelte Prosper. Doch wer jemals Elefanten - und sei es im Zoo oder im Zirkus - hatte „trompeten” hören, wußte, daß das eine geradezu liebliche Musik gegen jenes Höllenkonzert war. Während alle wie angewurzelt standen, hauchte Charivari einen raschen Befehl ins Mikrofon. Der Giganto wurde, wie schon einmal auf dieser Fahrt, transparent, also durchsichtig. Wie aus einem Glashaus heraus, starrten der Professor und die Gefährten in die Runde. Sie trauten ihren Augen nicht. Der Fahrtenschreiber hatte zuletzt über 1000 Meter Tiefe in der Erde angegeben. Dennoch befanden sie sich in einer Umgebung, die unschwer als eine Art Urwaldlichtung zu erkennen war. Das, was Prosper für sonderbare Bäume hielt, waren Riesenfarne. Das Gras ragte höher - viel höher - als Schilf, hatte aber eine unheimlich unfrische, flaschengrüne Farbe. „Weihnachtsbäume”, aber solche aus einem Alptraum, ragten zu einem Himmel empor, den es nicht gab! Ihre Stämme waren unnatürlich braun, als hätte sie ein schlechter Bühnenbildner geschaffen. Tati erkannte etwas Ähnliches wie Zypressen. Und zwischen allem schillerte giftig Wasser und Sumpf ... Es gab aber auch, und wieder wie auf einer schlechten Bühne, groteske Felsen, auf denen - ja, was war das??? - offenbar lebendige Flugzeuge startbereit standen! Doch die Ankunft des Giganto mußte hier alles in Tumult versetzt haben. Die „Sportflugzeuge” regten sich plötzlich und stürzten mit gräßlichen Schreien von ihren Felswarten herab. Einige landeten in schmutzigem Wasser. Die Dreckfontänen spritzten hoch auf Doch zugleich waren andere, viel fürchterlichere Monstren in Bewegung geraten. Eine Echse, deren winziger Kopf auf dem irrsinnig langen Hals die höchsten Zweige der Riesenfichten streifte, schlug mit mächtigem Schwanz um sich, fegte kleinere Bäume wie Streichhölzer hinweg und rutschte schließlich in einen Tümpel. Hätte man das im Film gesehen ... man hätte an den mißglückten Stapellauf eines Schiffes denken können. Nur noch mit den Nasenlöchern ragte das Ungeheuer über die Wasseroberfläche ... Andere Riesenbestien suchten ihr Heil nicht in der Flucht, wie die Flugdrachen von den Felsen und die Schwanzbestie mit dem albern-scheußlichen, winzigen Kopf. Nein, einige Ungeheuer ließen sich nicht abschrecken! In wahren Hüpfsprüngen durchbrachen sie das hohe Gras. Sie mochten das Gewicht von Sattelschleppern haben oder von Großkränen. Ihre zahnbestückten Mäuler trugen sie buchstäblich wie meterlange „Knackmaschinen” vor sich her. Sie brüllten wie Nebelhörner.
Noch lauter aber erklang auf einmal die Stimme des Professors durch AußenlautsprecherÜberverstärker: „Micha ... zurück ins Schiff ... Treppenstufen sind ausgefahren ... !!!” Henri dachte an alles andere, als in diesen Augenblicken Erklärungen abzugeben. Was ihm aber blitzartig durch den Kopf schoß, war dies: Wir haben das Suchgerät mit Dingen gefüttert, die uns in bewohnbare, innerirdische Hohlräume führen sollten. Als Orientierungshilfe für den Spürer nahmen wir Tatis Krokodilleder-Gürtel, ein Etui aus Schlangenhaut, Charivaris Elfenbeinstock, Wasser, Fleisch, Gemüse, sogar Schildkrötensuppe, verschiedene Präparate aus den Bordlabors, Pflanzen für Versuchvegetation... Und die eingefütterten Farne, die Insekten aus den Isolierbehältern, Tatis breiter Gürtel aus echtem Krokodilleder, der „beinerne” Stock, vor allem Michas reichlicher Eiersegen mußten, mit anderen Präparaten zusammen, sozusagen das „Übergewicht” über die „menschlichen” Extrakte aus dem Tiefkühlschrank - wie zum Beispiel die Blutkonserven - bekommen haben. Der Spürkompaß hatte deshalb den Giganto nicht ins Hauptquartier des Ragamuffin geführt, sondern in ein Stück vorzeitlicher Welt, das sich aus unerklärlichen Gründen bis heute im Innern der Erde erhalten hatte...Auch hinter Superhirns Stirn dämmerte eine Ahnung, daß der Professor diesmal nicht überlegt genug vorgegangen war. Draußen verlief alles rasend schnell. „Micha... Zurück ... !!!” donnerte die verstärkte Stimme Charivaris in diese Fabelwelt hinein. „Gib acht auf die Schlangen! Auf die Krokodile ... !!!” Hätte Tatis Verstand nicht einfach ausgesetzt - sie wäre in Ohnmacht gefallen. Schlangen! Ja, das, was um den jetzt durchsichtigen Giganto herumkroch - fässerdick, baumlang, aber beweglich wie züngelnde Flammen ... waren Schlangen ... !!! „Micha...” dröhnte es durch den Außen-Lautsprecher. Der Junge, dem offenbar überhaupt nicht klar war, wo er sich befand, sprang dem völlig übergeschnappten Pudel nach. Ach, wenn er springen konnte! Alle zwei Schritte fiel er hin und verschwand im hohen Gras. „Haooch ... !!!” schauderte Gérard. Eine der langhalsigen Echsen hatte einen Satz gemacht und schnappte sich aus der Luft einen Flugsaurier, dessen Flügelspannweite mehr als doppelt so breit war wie die Zahnreihe der Kiefer des Angreifers. Zwischen den Ungeheuern entspann sich ein grotesker Kampf um die Beute. Was der Professor längst gesehen hatte, und was nun auch die anderen erspähten, waren Krokodile. Sie lugten reglos aus dem Uferschlamm eines Flusses. Die Landung des Giganto mußte sie gelähmt haben. Käme ihnen aber Micha mit dem Pudel vor die zwei bis drei Meter langen Kiefer, so würden sie sich pfeilschnell in Bewegung setzen. In dieser Welt des Grauens hieß es flink zu sein, hier war jedes Lebewesen ein Feind des anderen. Und wer den anderen nicht fraß, weil er kleiner war, in seiner Art dazu nicht imstande oder sich nur von Pflanzen nährte ... der wurde gefressen. „Achtung!!!” rief der Professor durch den Lautsprecher. Seine Stimme lag wie eine Schallglocke über dem unterirdischen Urwelt-Tal. „Achtung, Micha! Giganto bläst Kältestrahlen ab! Das macht die Bestien starr!” Er sprach ein paar Worte ins Befehlsmikrofon. Sekunden später sah man die schaurigen Riesenechsen, die sich eben noch um den Flugsaurier gebalgt hatten, erstarren und lautlos ins knarrend rauschende Gras kippen. Die ungeheuren Krokodile schienen zu schlafen, die Schlangen lagen wie verbogene Kanalisationsröhren. Und vom „Himmel”, der kein Himmel hier drinnen in der Erde sein konnte, hagelten kastaniengroße Körper auf den Giganto und seine Umgebung herab: Insekten! Hochrot im Gesicht, mit geweiteten Augen - aber den Zwergpudel glücklich unter dem Arm - tauchte Micha im Eingang auf. Hinter ihm schloß sich die Rutschbahntür. Diesmal hatte sie Charivaris Anweisung zum Glück „gehorcht”. Bevor Micha etwas fragen oder beantworten konnte, verschwand die vorzeitliche Umwelt, die Wände verloren ihre Transparenz, der Leuchtpunkt im Hologramm geriet in Bewegung. „Wir fahren wieder”, stellte Superhirn fest. „Wenn mich nicht alles täuscht”, sagte Professor Charivari, „sind wir durch Fehlspürung ganz
zufällig in ein Refugium des Erdmittelalters geraten ... in ein Gelände aus jener Zeit, als es noch keine Alpen, keine Rocky Mountains, kein Himalaja-Gebirge gab ... also keine wesentlichen Erdrisse und Erdaufstülpungen. Das Fehlen der Gebirge vor 200 bis 60 Millionen Jahren bewirkte ein ziemlich gleichmäßiges Klima rund um die Erde, ein tropisches, das der enormen Entwicklung dieser Echsen -förderlich war. Der erste Dinosaurier, den wir sahen und der sich ins Wasser rettete, war ein Pflanzenfresser. Ich bemerkte es an den wenigen Zähnen. Die brüllenden Bestien, die sich um den Flugsaurier balgten, waren, wie die mörderischen Zahnreihen bewiesen, Fleischfresser. Und die entfernten Vorfahren unserer heutigen Krokodile habt ihr ja auch gesehen. ..” „Aber diese Viecher sind doch schon seit –zig Millionen Jahren ausgestorben!” rief Henri. „Durch Temperaturveränderungen oder erhöhten Sauerstoffgehalt in der Luft...” „... oder, oder, oder. . .!” Der Professor zwang sich zu einem Lächeln. „Die Wissenschaft führt mehrere Ursachen an. Jedenfalls hat der Giganto-Kältestrahl gewirkt: Die Echsen brauchen tropische Wärme, sie können ihre Eigentemperatur nicht auf Winter oder Sommer umstellen, schon gar nicht in wenigen Sekunden. Mehrere Grade über Null, als Micha und der Pudel munter heraufgeklettert kamen, waren ihnen bereits zuwenig. Sie fielen um und erstarrten.” „Aber wie sind die mitsamt ihrem Saurier-Paradies ins Erdinnere gelangt - und wie haben sie dort überlebt?” fragte Gérard, der sich inzwischen gefaßt hatte. „Wahrscheinlich sind sie zur Zeit der großen Erdveränderungen mit einem Riß-Stück oder einem Grabenbruch abgesackt”, vermutete Superhirn. „Etwa in einem enormen, natürlichen Iglu. Und da mögen manche Dinge zusammengekommen sein: Übergeschobene Gletscher lassen Licht durch, Felsröhren wie wild durcheinandergeworfene Orgelpfeifen - vom Fuß der Gebirge bis weit in die Tiefe - spenden Luft und Wasser. Und die Wärme, die von unten kommt, erhält Pflanzenwuchs und Leben. So, wie es vor zig Millionen Jahren war!” „Wenn ich nur an die Krokodile denke”, schauderte Tati. Henri grinste. „Jedenfalls wirst du dir nie wieder einen Gürtel aus Krokodilleder schenken lassen oder etwa eine Handtasche.” Prosper rieb sich nachdenklich die Nase. „Was die schauderhaften Riesenviecher betrifft”, sagte er zu Professor Charivari, „wenn die da seit Jahrmillionen in ihrer abgesackten Luftblase rumsausen und sich pausenlos gegenseitig anknabbern. . . ich meine, da dürften sie eigentlich längst nicht mehr leben, wie?” Charivari blickte von der Bogenplatte auf Er lächelte. „Da hast du allerdings recht. Na, Superhirn? Was meinst du?” „Vielleicht haben die verschiedenen Arten ihre Reviere, so daß ihr Paradies kein dauerndes Schlachtfeld ist. Und die zufällig in die Tiefe verschobenen Naturbedingungen können den Pflanzenwuchs und die Fortpflanzung der Echsen begünstigen ... Hm, und warum die Saurier an der Erdoberfläche ausgestorben sind? Es gibt da noch eine Vermutung: Die aufkommenden Säugetiere haben ständig ihre Eier aufgefressen. Über einen so langen Zeitraum hindurch mußte das ja tödlich für die ganze Drachengesellschaft sein.” Er grinste. „Aber wenn wir etwas Genaueres wissen wollten, müßten wir noch einmal zurück und eine richtige Expedition ins Tal dieser Wesen starten.” „Lassen wir das fürs erste”, sagte Charivari. „Die Erdoberfläche hat ohnehin nichts von ihnen zu befürchten. Aus ihrer unterirdischen Welt können sie nie heraus.” „Mir reicht der Gedanke”, rief Micha. Henri meinte: „Schade, daß wir kein Foto geschossen haben. Ich hätte die Bilder meinem Biologielehrer gezeigt.” Professor Charivari erklärte: „Ich habe alles mit meinen eingebauten Kameras automatisch gefilmt.” „Ein Streifen, den ich mir niemals ansehen werde”, erwiderte Tati. „Von solchen Paradiesen will ich nichts wissen. Ich möchte endlich wieder an unsere Ferienküste!” „Schon programmiert”, sagte Charivari. Henri, Micha und Tati berichteten nun, was sie alles in das Spürgerät geworfen hatten. Doch die erwarteten Vorwürfe blieben aus. „Meine Schuld”, sagte der Professor ernst. „Bei der Programmierung hätte ich aufpassen müssen wie
ein Schießhund. Zur Strafe verschmerze ich auch gern meinen Elfenbeinstock. Hauptsache, Micha und Loulou ist nichts geschehen.” Charivari richtete es so ein, daß sich das Erdschiff kurz nach Mitternacht am Ende des Badestrandes von Monton ganz, ganz langsam aus dem Boden schob. Schattenlos und wieder völlig abgeschirmt lag es dort zwischen den Klippen und Dünen. Das einzige, was von ihm ausging, waren verschlüsselte Bildfunk-Impulse zur Weltraumstation. Im Kommandoraum standen die Gefährten und der Pudel ausstiegsbereit. Der Professor hatte mit Captain Biggs gesprochen. „Tja, Freunde”, sagte er dann, „erfreuliche Nachrichten. Nach allem komme ich zu dem Schluß, daß der Ragamuffin und seine Leute nach den letzten, enormen Gedanken-Überfällen bewußtlos - oder durch die Überlastung nachhaltig geschwächt sind.” „Aber sie könnten sich erholen”, mahnte Superhirn. „Das bleibt abzuwarten”, sagte Charivari. Er lächelte freundlich. jetzt erholt ihr euch erst einmal. Wenn es dämmert, wandert ihr in euer Ferienquartier und sagt Madame Claire, euer Freund, der Motorjachtbesitzer, habe euch abgesetzt und sei gleich weitergefahren. Und wenn´s ein sonniger Vormittag wird, was ich nicht ausschließe...” „Dann hauen wir uns längelangs auf den Rasen und schnarchen”, feixte Gérard. Die anderen lachten zustimmend. Und der Pudel winselte freudig, als hätte er alles verstanden...
Ende
Giganto meldet: Schiffbruch in der Erde 1. Besuch „Das war mal wieder ein Tag“, schnaufte Henri begeistert. Er, seine Schwester, sein jüngerer Bruder und ihre drei Freunde hatten die festliche Einweihung der Brücke von Monton nach Brac miterlebt. Die Brücke war ein Meisterwerk und wirkte in der Sonne wie ein zartes Gespinst. Um so dicker war der Mann, der das Band durchschneiden sollte, um die Brücke dem Verkehr zu übergeben. Ihm war die Schere aus der Hand gefallen. Aber sein enormer Bauch hinderte ihn daran, sich zu bücken. Die Schaulustigen, unter ihnen viele Urlauber, hielten sich die Bäuche vor Lachen. Ein winziges Mädchen, mit einem großen Blumenstrauß im Arm, nahm die Schere und wollte sie ihm zureichen. Aber der arme Dicke hatte in der Verwirrung den Blumenstrauß ergriffen. Henris kleiner Bruder quietschte noch auf dem Rückweg: „Nein, so was ...! Ich wär am liebsten von den Füßen auf die Hände gesprungen! Wie dem Klops die Schere aus den Wurstfingern gerutscht ist und wie er kaum über seinen Bauch gucken konnte!“ Die Jungen und auch Tatjana sahen zu, wie der kleine Micha sich krümmte und die Bewegungen des dicken Mannes nachzuahmen versuchte. Er ächzte fürchterlich, schielte über einen nicht vorhandenen Bauch und tat, als könnte er mit seinen Händen den Erdboden nicht erreichen. „Ziemlich alberne Vorstellung, Micha“, meinte sein großer Bruder Henri. Tatjana, „Tati“ genannt, Michas und Henris Schwester, nur ein Jahr jünger als Henri, die aber erwachsener erschien als beide Brüder zusammen, fügte ein bißchen spöttisch hinzu: „Stimmt! Du mußt dir ein riesiges Kissen vorn unters Hemd stecken. Hinten natürlich auch eines. Aber auch dann wirst du kein Schauspieler. Der dicke Mann hatte nämlich Stielaugen. Die kannst du nicht vortäuschen. Außerdem hast du Patschpfoten, aber keine Wurstfinger.“ Die drei Freunde der Geschwister feixten über Michas beleidigte Miene. Prosper schlug vor, der stämmige Gérard solle den dicken Mann spielen. Er könnte es sicher besser als Micha, weil er einen Fußballkopf und keinen Hals hätte. Doch Marcel, der spindeldürre, flachshaarige Junge mit den großen, runden Brillengläsern, den die anderen wegen seiner Blitzgescheitheit Superhirn nannten, beendete den Ulk. „Laßt die Faxen!“ sagte er. „Kommt jetzt ins Schlößchen, Madame Claire wartet auf uns!“ Das Schlößchen gehörte Superhirns Onkel, der selten da war. Mit seiner Erlaubnis diente es jetzt als Ferienquartier. Madame Claire, eine ebenso freundliche wie rundliche Person, war die Wirtschafterin. Sie empfing die Kinder nie mit Scheite oder Vorhaltungen. Im Gegenteil, stets standen frische Brote, würzige Salate, verschiedene Säfte, Himbeeren auf Eis oder ähnliche leckere Dinge bereit. Michas schwarzer Zwergpudel Loulou zerrte übermütig an der Leine, als würde er den Knochen schon erschnuppern. Denn bei Madame Claire fiel auch stets für seinen Hundemagen etwas ab. An der neuen Brücke hatte die Wohlfahrtspflege eine Tombola veranstaltet. Henri, Tati, Micha, Gérard, Prosper und Superhirn zogen für sich selber nur Nieten. Da hatte Micha den Einfall gehabt, auch für den Pudel ein Los zu kaufen. „Hunde bringen immer Glück!“ behauptete er. ..Besonders Pudel!“ Tatsächlich gab es unter den Gewinnen auch große Keksdosen. Aber Micha gewann für den Hund keine Kekse, sondern eine Taucherbrille. Was sollte der Zwergpudel damit? „Unverschämtheit!“ ärgerte sich Micha. „Loulou ist doch kein Seehund!“ „Ist dir schon mal 'n Seehund mit 'riet Taucherbrille begegnet?“ grinste Gérard. „Könnte ja sein! Vielleicht ein dressierter in eurer Badewanne! Oder im Traum ... !“ Da hatte Micha die Taucherbrille ins Wasser geworfen und wütend geschrien: „Soll sich ein Fisch das Ding aufsetzen!“
Und bei Madame Claire würde Loulou reichlich entschädigt werden ... Schwatzend durchschritten die Freunde den Park. Plötzlich schwieg Superhirn. Er hatte Madame Claire erblickt. Die Wirtschafterin stand vor dem Eingang und fuchtelte mit den Armen. Sie sah nicht so aus, als winke sie zu Wurstsalat, Himbeeren auf Eis oder einer erfrischenden Fruchtsuppe. „Besuch!“ rief sie aufgeregt. Sie rief noch allerlei. Aber wenn Madame Claire aufgeregt war, wurde ihre Stimme schrill, so daß man immer nur einzelne Worte verstand. Prosper machte einen langen Hals. „Be-Be-Besuch ... ?“ stammelte er. „Doch nicht wieder Professor Charivari ... ?“ Unwillkürlich sahen sich alle um, ob nicht irgendwo im Park eine Wölbung oder ein Riß im Boden darauf hinwies, daß Professor Charivaris Erd-Erkundungsschiff Giganto - aus der Tiefe herauf - unter dem Grundstück „gelandet“ war. „Nichts anmerken lassen“, mahnte Superhirn. Tati war blaß geworden. „Wenn's aber nicht unser Freund ist?“ wisperte sie. Sie meinte den Professor, von dem Prosper gesprochen hatte. „Wenn's nun seine getarnten Feinde sind, die uns aushorchen wollen ... ?“ „Ich schlag mich in die Büsche“, murmelte Gérard. Tati ergriff Michas Arm. Sie pfiff den Pudel zurück. Henri atmete schnaufend durch die Nase, als befürchte er einen „ortsfremden“ Geruch im Park, etwa Schwefeldünste. „Na ... ?“ wisperte Prosper. Er schnüffelte ebenfalls. „Nichts!“ brummte Henri. Zögernd näherten sie sich dem Schloßportal. Madame Claire verschwand in der Halle. Sicher würde sie gleich wieder erscheinen - in einer hübscheren Strickjacke oder mit einer anderen Schürze vor dem molligen Bauch. Superhirn sagte leise, aber scharf zu den Freunden: „Ich warne euch! Seht nicht überall Gespenster! Schnüffelt nicht, wo's nichts zum Schnüffeln gibt! Man kann sich schrecklich leicht was einbilden! Meinetwegen haltet eure Nasenlöcher, eure Augen und Ohren offen, aber schließt die Mäuler!“ „Sag das mal unserem Hund“, lachte Tati gereizt. „Du weißt doch: Wenn was Unerklärliches in der Luft liegt, benimmt er sich wie verrückt.“ „Ja, und auch in solchem Fall dreht nicht gleich durch!“ beharrte Superhirn. „Vergeßt nicht: Die Feinde aus der Erd-Zentrale sind keine Fabeltiere. Es sind menschenähnliche Wesen!“ „Um ... um ... um so schlimmer!“ fauchte Prosper. „Eben“, nickte der Junge mit den runden Brillengläsern. „Eben! Das meine ich ja!“ Bedeutungsvoll wiederholte er: „Um so schlimmer ... !“ 2. Geheimnisvolle „Freunde“! „Reifenspuren auf dem Kies!“ rief Micha. In diesem Augenblick kam Madame Claire tatsächlich mit einer frischen neuen Schürze aus der Tür gewirbelt. Eifrig sprach sie weiter: „... und ich dachte ... ich dachte ... ihr hättet den Besuch vielleicht getroffen ... sehr nette Leute! Aber freilich: Die waren ja mit dem Auto hier ... Nun, ihr werdet sie nachher ja sehen ... !“ „Was denn?!“ Prosper griff sich an den Kopf. „Das heißt, der Besuch ist gar nicht hier? Und dann machen Sie solchen Wind?“ „Madame Claire hat angedeutet, daß die Leute wiederkommen“, wies ihn Tati zurecht. „Oder hab ich das falsch verstanden?“ „Sie sagte, wir würden sie nachher sehen“, stellte Superhirn richtig. „Ja!“ rief die Wirtschafterin. „Erst mal rein mit euch! Der Tisch ist gedeckt. Die Überraschung läuft euch nicht weg!“ Der geheimnisvolle Besuch, mit dem sich die gute Madame so wichtig tat, mußte ihr sehr imponiert
haben. „Ich schlage vor, wir waschen uns in aller Ruhe die Hände“, erklärte Tati. „Aber sicher! So 'n dummes Theater! Die hält uns zum Narren mit ihrem Getue“, sagte Gérard. „Was für 'ne Überraschung soll das denn sein? Ganz normaler Besuch! Ha, vielleicht einer von unseren Lehrern mit seiner Frau..'?!“ „Unsere Lehrer fahren keine Autos mit derart weiten Radabständen“, grinste Superhirn. „Micha hat die Spuren im Kies gesehen! Wenn's kein Lastwagen war - und das war's nicht -, muß es eine Staatskarosse gewesen sein!“ „Vielleicht waren es die Eltern“, wandte sich Micha hoffnungsvoll an die Geschwister. „Quatsch!“ erwiderte Henri. „Vater hat einen Citroen. Die Reifenabdrücke hätte ich erkannt!“ „Ich auch!“ bekräftigte die Schwester. „Schluß jetzt!“ murrte Prosper. „Ich hab Hunger. Die einzige Überraschung, auf die ich neugierig bin, ist das Essen!“ „Aber fall nachher nicht aus dem Anzug, wenn's tatsächlich 'ne Bombe ist“, sagte Superhirn leise. An der Hangseite des Schlosses war die Terrasse. Wegen der einzigartigen Aussicht über Hafen, Bucht und See wurde sie der „Balkon des lieben Gottes“ genannt. Hier hatte Madame Claire den Tisch gedeckt. Sie brachte nun eine Terrine mit Fruchtsuppe. Tati folgte mit der Riesenschüssel voller Tomatensalat. Loulou war gleich bei seinem Napf in der Küche geblieben. Superhirn griff nach der knusprigen Weißbrotstange, brach ein Stück davon ab und tunkte es in seinen Suppenteller. „Ahhh...“, seufzte er wohlig. „In der Suppe ist Musik! Möchte wissen, wie viele Sorten Obst Sie dafür verwendet haben!“ Madame Claire, wieder auf dem Sprung, denn der Wurstsalat fehlte noch, drehte sich lachend um: „Das verrat ich nur, wenn du mir beim Kreuzworträtsel hilfst“, sagte sie. „Ich hab da ein kleines Problem, nein, zwei!“ „Schießen Sie los!“ rief Superhirn, eifrig die kühle Fruchtsuppe löffelnd. Er kannte das schon: Im Raten war die Wirtschafterin nicht so „preiswürdig“ wie in Haushalts- und Küchendingen. „Mir fehlt da ein Wort für Flugfrosch, elf Buchstaben. Ein A - mindestens - und ein O sind drin, das weiß ich schon.“ Micha ließ seine Serviette fallen, nachdem er gerade noch „Giganto“ gehaucht hatte. Superhirn warf ihm einen Blick durch die Brillengläser zu. Zum Glück spiegelte sich auf Michas Gesicht jetzt die Erkenntnis, daß Professor Charivaris geheimes Erd-Erkundungsschiff nicht mit einem „Flugfrosch“ zu vergleichen war und daß das Wort „Giganto“ nicht elf, sondern nur sieben Buchstaben umfaßte. Superhirn wirkte wieder ganz gelassen: „Ziemlich schweres Kreuzworträtsel, diesmal, Madame“, lächelte er. „Ich nehme an, es ist die Gattung Rhacaphorus gemeint, der die Arten der sogenannten Flugfrösche angehören. Soviel ich weiß, gibt's die Biester auf der Insel Madagaskar, sie haben Schwimmhäute, mit denen sie auch kurze Flüge machen können, Gleitflüge, versteht sich. Und was ist Ihr zweites Problem?“ „Ein anderes Wort für Druckluft“', antwortete Madame Claire. Prompt sagte Superhirn: „Das ist einfach. Preßluft! Prüfen Sie, ob's stimmt!“ Die Wirtschafterin wollte in die Küche. Doch Superhirns entschiedenes „Hallo, Madame, da wäre noch was!“ hielt sie zurück. Superhirn blinzelte: „Und nun mal raus mit Ihrer Überraschung! Oder ich helfe Ihnen nie wieder bei Ihren Kreuzworträtseln!“ Alle lachten. Denn knifflige Kreuzworträtsel waren Madame Claires schwächste Stelle. „Es wird bald dunkel. Wir möchten nicht mit 'ner freudigen Ungewißheit zu Bett“, grinste Superhirn. „Also, bitte: Wer war Ihr geheimnisvoller Besuch ... und was wollte er?“ Die Geschwister und Prosper und Gérard machten plötzlich Gesichter, als könnte ihnen die Antwort auf diese Frage vielleicht die süße Suppe versalzen.
Doch jetzt blinzelte auch die Wirtschafterin. Ihr rundes Näschen zuckte vergnügt. Völlig arglos und fröhlich erwiderte sie: „Ihr verderbt mir die ganze Freude!“ Sie seufzte, als hätte man ihr ein Stück Kuchen weggenommen. „Na, schön. Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Ihr hättet es ja sowieso bald erfahren, denn in den Ferien geht man ja nicht so früh schlafen, und der Besuch wollte sich auf jeden Fall noch mal melden!“ „Wer?!“ fragten Henri und Micha zugleich. Jetzt platzte Madame Claire endlich mit ihrer Überraschung heraus: Tatis Schulfreundinnen!“ rief sie so begeistert, als habe sie eine großartige Freudenbotschaft zu verkünden. Sie klatschte sogar in die Hände. „Und ihr Bruder Paul aus Michas Klasse! Ihre Eltern haben bei Brac ein großes Ferienhaus gemietet! Dahin sollt ihr eingeladen werden!“ Wenn sie gedacht hatte, das würde die Gefährten von den Stühlen reißen, so hatte sie sich geirrt. Tati und Micha starrten verblüfft. Auch Henri begriff nicht. Gérard blickte mürrisch drein, und Prosper warf den Löffel auf den Teller. „Noch drei Typen?“ rief er. „Dann wären wir neun. Ich will nicht in einen Kegelklub! Auch nicht in ein Landschulheim! Noch dazu unter Aufsicht fremder Eltern!“ „Denkst du - ich?“ murrte Gérard. „Da bleib ich lieber hier und zupfe Unkraut!” Die gute Madame war fassungslos. Abgrundtief enttäuscht stammelte sie: „Ich dachte, ihr würdet euch riesig freuen! Und ... und ... ich könnt euch wirklich überraschen! Die Strandhäuser von Brac sind die schönsten, die es an der Küste gibt! Da habt ihr den herrlichsten, weißen Sand und das blaue Meer direkt vor der Tür!“ „Schon, schon“, sagte Tati rasch. „Nur, welche von meinen Freundinnen sind es? Ich habe mehrere!“ „Ich hab aber keinen Paul in meiner Klasse“, warf Micha lauthals ein. Das Gesicht der Wirtschafterin glättete sich wieder. „Du machst wohl Spaß?“ lachte sie. „Auch wenn dir Paul ganz und gar nicht gelegen käme, du kannst mir nicht weismachen, daß du ihn nicht kennst. Warte!“ Sie verschwand im Inneren des Hauses. Warnend zischte Superhirn: „Die gute Frau ist da einer sonderbaren Sache auf den Leim gegangen. Wir müssen rauskriegen, was das zu bedeuten hat. Und was sie uns auch immer anschleppt - ihr macht das Theater mit, verstanden?“ „Ich habe keine Freundinnen mit einem Bruder, der in Michas Klasse geht“, beharrte Tati. Gérard guckte im Kreis umher. „Wer ist nun eigentlich blöd? Ihr, Madame Claire - oder ich?“ „Da-da-das wollte ich auch fragen“, stotterte Prosper. „Blöd ist, wer nicht begreift, daß mit diesem Überraschungsbesuch etwas noch viel fauler ist, als wir zu Anfang vermuteten!“ sagte Superhirn scharf „Oberfaul, möcht ich meinen!“ Die anderen hatten sich von diesen Worten noch nicht erholt, da erschien Madame Claire wieder auf der Terrasse. Triumphierend schwenkte sie einen roten Gegenstand, offenbar ein Spielzeugauto. „Das hast du Paul mal geschenkt. Er schenkt es dir als Glücksbringer zurück!“ rief sie. „Micha kennt Paul nur bei seinem zweiten Vornamen, er hat sich inzwischen erinnert“, heuchelte Superhirn frischfröhlich drauflos. „Ja, ja“, sagte Micha wie im Traum. Superhirn nahm ihm das Spielzeugauto aus der Hand, betrachtete es mit messerscharfen Blicken durch die runden Brillengläser und rief scheinbar begeistert: „Mensch, Micha! Prima Idee, dir das als Talisman zurückzugeben! So was kittet die Freundschaft!“ Tati starrte ihn schweigend an, als hielte sie ihn trotz all seiner Mahnungen mittlerweile für wahnsinnig. Henri war dagegen sehr aufmerksam. Prosper und Gérard glotzten wie gekochte Fische. „Hübsches Spielzeug - ehrlich!“ fuhr Superhirn munter fort. „Und noch bestens in Ordnung! Aber es gehört nicht neben den Tomatensalat.“ Er bückte sich und stellte es auf den Boden. „Tomatensalat“ war für die Wirtschafterin das Stichwort, die Suppenteller auf ein Küchenwägelchen zu tun. Tati half ihr dabei. Als das Mädchen sich wieder gesetzt hatte und Madame Claire die Gedecke für das Hauptgericht
zurechtrückte, sagte Superhirn: „Ich schätze, wir werden uns doch für den Strand von Brac entscheiden, haha! Obwohl wir dort bestimmt nichts Feineres zu essen kriegen als bei Ihnen. Nur eines hab ich noch nicht begriffen. Oder ich hab's überhört.“ Er machte eine Pause und fragte dann langsam und betont: „Wer hat uns eingeladen? Ich frage, wer war heute hier?“ Madame Claire machte ein bestürztes Gesicht. „Da erzähle ich pausenlos...“ Sie faßte sich an die Stirn. „Ach, ja ... !“ Nun strahlte sie wieder. Tatis Freundinnen und der Bruder Paul waren selber nicht da. Es kam nur der Vater mit einem Fahrer. Sehr liebenswürdige Menschen, auch der Fahrer. Und das silbergraue Auto, ich sage euch - einfach ein Traum! So was kannte ich nur aus dem Fernsehen! Und der Vater von Tatis Freundinnen hat...“ jetzt war's um Tatis Beherrschung geschehen. Sie verschluckte sich. Micha klopfte ihr auf den Rücken. Prosper häufte Tomatensalat auf seinen Teller, obwohl ihm der Appetit längst vergangen war. Gérard biß sich krampfhaft auf die Lippen. Nur Henri wahrte schweigend die Fassung. Superhirn spielte das gespenstische Theater mit scheinbar steigender Laune weiter: „Sie sehen, Madame, wir sind platt! Zwei Männer in einem Klasse-Auto! Der Vater von Tatis Freundinnen und Michas Freund kommt extra her. Wahrscheinlich wollte er vorfühlen, ob wir da sind, wie? Es sollte eine Überraschung sein, und das haben Sie gemerkt! Deshalb haben Sie so lange damit hinterm Berg gehalten na, klar, haha ... !“ Die Gefährten, die Superhirn noch nie so geschwätzig erlebt hatten, saßen - außer Henri - wie vor den Kopf geschlagen. Und nun schoß Superhirn die entscheidende Frage ab: „Hat dieser Vater seinen Namen genannt?“ „Ja“, rief die Wirtschafterin überrumpelt, „wie war der noch ... ? Aber das müßt ihr doch längst wissen!“ Sie blickte auf Micha, der sich bereits vorhin zu seinem angeblichen Freund Paul bekannt hatte. „Moment“, unterbrach Superhirn sie so zwingend, daß die brave Madame keine Zeit hatte, ihre Gedanken zu sammeln. Er ging jetzt aufs Ganze. Dies wollte er wissen: Wer lauerte in der Gegend, um Henri, Tati, Micha, Prosper, Gérard. und ihn an den Strand zu locken? Freund oder Feind, Professor Charivari oder dessen grausiger Gegenspieler, jenes unbekannte Wesen aus dem Inneren der Erde? Rasch nahm Superhirn seinen Notizblock aus der Brusttasche, löste den Stift von der Magnetleiste und zeichnete das Gesicht des Professors - des mächtigen, väterlichen Freundes auf „Sah der Mann vielleicht so aus?” fragte er. Alle hielten den Atem an. Mit wenigen Strichen hatte Superhirn Charivaris Kopf samt Körper bis ungefähr zur Gürtellinie derart geübt skizziert, daß ihn jeder erkennen mußte, der ihn auch nur ein einziges Mal gesehen hatte. Dabei war er selbstverständlich darauf bedacht gewesen, den Mann nicht etwa in einem seiner technischen Spezialanzüge darzustellen. Die Umrisse des Oberkörpers waren angedeutet, aber so, daß sie die Hagerkeit eindeutig verrieten. Selbst das knappe Bild dieser gütigen Persönlichkeit (die die Gefährten zuletzt als GigantoKommandanten gesehen hatten) war so erschreckend, wie der auf Menschenschutz und Menschenwohl eingeschworene Mann auch als lebendige Figur im ersten Moment auf andere wirkte: Der kahle Schädel, der an eine Salatgurke erinnerte... Der fast armlange, strippenförmige, tiefschwarze Kinnbart im sonst glattrasierten, hohlwangigen Gesicht ... Ach, was hieß: im Gesicht! Der Bart war wie ein dünnes Fadenbündel „unter dem Gesicht“ - nämlich am Kinn - gewissermaßen „von Natur aus befestigt“. Er wirkte wie der Seidenschwanz eines fremdartigen Tieres, der sich dorthin „verirrt“ hatte ... Die schmalen Augen waren fast schwarz. Den typischen Fieberglanz, der Charivaris Blicke so zwingend und rätselhaft machte, konnte Superhirn allerdings nicht in seiner Zeichnung ausdrücken. Dafür aber die schwarzen Brauen, die der Eigenartigkeit des Bartes entsprachen ...
Madame Claire starrte verständnislos auf das Blatt. „Woher willst du denn den Vater von Michas und Tatis Mitschülern kennen?“ wunderte sie sich. Doch dann vergaß sie den Anlaß und sah sich Superhirns Skizze genauer an. Angesichts des gurkenförmigen Kahlschädels mit dem schwarzen Strippenbart mußte sie lachen. „Du willst wohl wieder einen deiner Scherze mit mir machen, he?“ Die gute Madame war an Superhirns spaßige Einfälle gewöhnt. Daß es sich hier um grauenhaften Ernst handelte, ahnte sie nicht. „Nein ... !“ Sie lachte noch immer. „So sah der Besuch nicht aus ... Wahrhaftig nicht ... !“ Auch Superhirn lachte, als hätte er die Wirtschafterin nur an der Nase herumführen wollen. Er konnte sich gut verstellen. Nicht aber vor Henri, Tati, Gérard und Prosper. Allenfalls durchschaute ihn Micha nicht, der ja der jüngste war. Und Gérard und Prosper mochten ihm auch gelegentlich auf den Leim gehen. Vor Henri und Tati galt keine „Maskerade“. Besonders vor dem Mädchen nicht. Mädchen - wie Tati - spüren bei annähernd Gleichaltrigen sofort das „Falschspiel“. Aber was alle zumindest ahnten, war, daß Superhirn seine Gründe hatte, sich gerade jetzt so lustig zu stellen. Obwohl sie durch den Test begriffen: Nicht ihr Freund, der Professor Charivari, war mit einem als Fahrer getarnten Labor-Assistenten (unter einer Ausrede) hiergewesen, sondern sein Todfeind, der rätselhafte Herrscher eines unbekannten, innerirdischen Menschenstaates. Superhirn lehnte sich zurück, als hätte er sich ein vergnügen daraus gemacht, Madame Claire zu frotzeln. „Ich wollte Sie auf die Probe stellen“, grinste er freundlich. „Nun sagen Sie mir bitte mal, wie sahen der Besucher und sein Fahrer nun wirklich aus? Fangen wir mit dem Vater von Tatis Freundinnen und Michas Mitschüler Paul an!“ Die Wirtschafterin merkte nicht, welches Entsetzen. die anderen im Bann gehalten hatte (und wachsend hielt). „Nichts einfacher als das!“ rief sie. „Der Vater ist das völlige Gegenteil der Zirkusfigur, die du gezeichnet hast!“ (Sie meinte Superhirns naturgetreue Skizze von Professor Dr. Brutto Charivari.) „Der Vater hatte keine Glatze. So schönes, volles Haar hab ich selten gesehen! Hach, und keine Rede von so einem Gesicht wie bei einem Plattfisch von vorn! Sein herrlicher, breiter Löwenkopf kann sich im Nationaltheater und im Fernsehen zeigen ... zur Freude von Hunderten - ach, was sage ich von Millionen von Zuschauern. Daß er dick ist, spielt keine Rolle. Große Menschen, ich meine Menschen mit großer Seele, ja, die dürfen dick sein, da gilt nur das Vornehme. Und so ein vornehmer Herr ist der Vater. So was merk ich doch! Da kann mir keiner was vortäuschen.” Tati wurde unruhig, aber da traf sie Superhirns eisiger Blick. Um ihre Unbefangenheit nicht zu verlieren, durfte Madame Claire keinerlei Verdacht schöpfen, daß hier etwas nicht in Ordnung war. Ihre letzten, ahnungslosen Worte wiesen eindeutig darauf hin: Der große Freund, Professor Charivari - etwa mit einem Labor-Assistenten als Fahrer - war nicht hiergewesen. Nicht er hatte die fünf jungen und das Mädchen unter den geschilderten Vorwänden einladen wollen! Dafür mußte es jetzt für mehr als wahrscheinlich gelten, daß sein Feind, der teuflische Ragamuffin, den Kindern auf der Spur war, um sie in eine Falle zu locken « Der Zweck lag auf der Hand: Alle, besonders aber Superhirn, sollten über die geheimen, technischen Einrichtungen, Errungenschaften und Pläne (im All, auf dem Grund der Weltmeere und unter der Erde) ausgehorcht werden. Selbst eine noch so kärgliche Bemerkung von Micha konnte für die Gegner von ungeheurer Wichtigkeit sein. Superhirn war mittlerweile in Schweiß gebadet. Doch mit staunenswerter Beherrschung sprach er im Plauderton weiter: Ein feiner Herr, der Vater von Tatis Freundinnen und von Michas Freund Paul ... Klar. Glaub ich. Außerdem können Sie das am besten beurteilen. Dieses Schloß...“, er kicherte, „... dieses Schloß ist ja keine ... - äh ... keine Gangsterbude. Wenn mein Onkel hier ist und wenn er Gäste hat...” „... dann kommen nur so edle und bescheidene Herrschaften wie der Besuch von vorhin!“ vollendete Madame Claire stolz. Sie verschränkte die Hände über dein Bauch. Über die „edlen und bescheidenen Herrschaften“ grinste Gérard, daß seine Mundwinkel fast die Ohrläppchen berührten.
Die anderen dagegen sahen Tati deutlich an, daß ihr nicht im geringsten zum Lachen zumute war: Sie fürchtete, der unbekannte Schreckensmensch und sein Fahrer könnten jeden Augenblick zurückkehren! „Was für Finger hatte' der Mann?“ platzte Prosper allzu direkt heraus. „Was für eine Stimme? Trug er einen Bart? Wenn ja: Was für einen ... ? Welche Farbe ... ?“ „Mensch! Bist du 'n lebender Fragebogen oder 'n Friseur?“ fuhr ihn Henri ärgerlich an. Er fand Prospers Art zu plump, und dann klang die „Bartfrage“ zu sehr nach Quiz. So, als habe die Wirtschafterin in ihrer Antwort zwischen Moses-Bärten, Babylonier-, Assyrer-, Perser-, Griechenund Römer-Barttrachten zu unterscheiden - und schließlich noch die Kaiserbärte, Fischerfräsen, Mogul-Zwirbel, Altprofessoren-Gesichtsfußsäcke und den verschiedenen Schnurrbartarten zu wählen. Doch eines hatte Henri vergessen: Madame Claire war ja eine begeisterte Kreuzworträtsellöserin. Und so sagte sie wie aus der Pistole geschossen: „Gepflegter, sehr dichter und breiter Gelehrtenvollbart! So einen, den man früher Wallebart genannt hätte. Ich hab seinen hellen Glanz bewundert. Goldglanz würde ich das nennen! ja, und die starken, großen, kraftvollen Hände mit den breiten Fingern ... die paßten so recht zu seiner wunderschönen Baßstimme. Er sprach volltönend wie ein Opernsänger.“ Jetzt sprang Tati auf. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Charivari war hager, groß, hatte einen lackschwarzen Fadenbart, sehr feine, längliche, fast damenhafte Finger - und seine Stimme war weich, sanft, leise. In dem dicken wallebärtigen „Löwenkopf“ mit den Pranken und der angeblich volltönenden Opernsängerstimme schilderte Madame Claire eine derart gegensätzliche Person, daß man sogar noch nicht mal mehr hoffen konnte, Professor Charivari sei vielleicht verkleidet erschienen ... ! Henri sah Superhirn an. Seine Blicke signalisierten: Flucht! Alles stehen- und liegenlassen. Nur weg von hier, bevor es zu spät ist! Die Wirtschafterin hob die Brauen. „Tati! Was ist denn mit dir? Hat dich was gestochen?“ „N-n-nein“, stammelte das Mädchen. „Der Pudel. Der ... der ist gerade auf die Terrasse gekommen.“ Sie bückte sich rasch, um Loulou zu streicheln. Das Tier erwiderte die Liebkosung nicht mit einem Freudenlaut, einem behaglichen Schniefen wie sonst. Es begann seltsamerweise mörderisch zu knurren. Das klang so ungewohnt, als sei eine Alarmanlage in Tätigkeit. Geistesgegenwärtig griff Superhirn unter den Tisch und riß das Spielzeugauto an sich, das der Unbekannte für Micha dagelassen hatte. Wäre der spindeldürre Junge nicht tatsächlich ein „Superhirn“ gewesen, so hätte er jetzt laut aufgeschrien. Das scheinbare „Spielzeug“ vibrierte in seiner Hand! Ein getarnter Plastiksprengkörper mit eingebauter Zeituhr! Der Pudel mußte das Ding mit der Schnauze angestupst haben - darum sein Knurren! Superhirn täuschte den Arglosen vor. Flink, aber nicht in zu verdächtiger Eile stand er auf. „Loulou gefällt das Ding nicht“, sagte er. Daß er den Satz trotz größter Beherrschung mit einem Schlucken hervorbrachte, machte die anderen nicht stutzig. Superhirn lächelte ja dabei. Im abendlichen Dämmerlicht, besonders gegen die untergehende Sonne, sah auch keiner, daß sein Lächeln eine eisige Fratze war. „Madame Claire kann ja inzwischen das Eis mit den Himbeeren bringen!“ Superhirn lief über die Terrasse, an der Rückfront des Gebäudes entlang. „Hallo!“ schrie Micha. „Wohin mit dem Auto?“ „Ins Gartenhaus' Ich steck´s in deinen Campingbeutel!“ Nun lag Michas Campingbeutel nicht mehr im Gartenhaus, doch Micha wußte nie genau, wo er seine Sachen hatte - und Superhirn hoffte, er würde sich nicht jetzt erinnern. Wohin mit der Bombe ... ? Superhirn rannte jetzt wie ein Wilder. Er rannte auf den großen, alten Brunnen zu, der ein hohes, säulengetragenes Dach hatte, aber keinen unmittelbar aufliegenden Deckel!
Er warf das gespenstische „Spielzeug“ in die Tiefe und hörte es - wie ihm schien, nach einer Ewigkeit - drunten im Wasser aufklatschen. Jetzt wollte er zurückjagen. Patsch - prallte er gegen Tati und Micha. Hinter den beiden näherten sich Henri, Prosper und Gérard. Loulou war nicht zu sehen. Verflixt: Der Pudel schien als einziger den richtigen „Riecher“ zu haben ... ! „Was soll denn das mit Michas Campingbeutel...?“ begann Tati. „Ich hab ihn selber in Michas Schrank gehängt.“ „Und wa-wa-warum bist du in die verkehrte Richtung gelaufen?“ wollte Prosper wissen. „Das GaGa-Gartenhaus liegt doch vorm Küchenausgang ... ?“ Nun wurde es Superhirn zu toll. Im Brunnen die getarnte Bombe, deren Sprengkraft keiner kannte - und er sollte mit den anderen ein paar Schritt weiter ein gemütliches Plauderstündchen halten! „Deckung ... !!!“ schrie er. „Los, ins Haus, auf die Terrasse, die Böschung runter! Wir müssen Madame Claire sagen: retten ... !“ Er kam nicht dazu, auszureden. Das einzige, was ihm noch einfiel, war der fieberhafte Befehl: „Hinlegen ... Achtung!” 3. Signale aus dem Brunnen Tati, Henri, Micha, Prosper, Gérard und Superhirn lagen auf dem Kies oder in den Blumenbeeten. Sie hatten begriffen - und sie warteten wie erstarrt auf den Donner der Explosion, auf umherfliegende Steinbrocken und Erdklumpen. Die größte Dummheit, dachte Superhirn noch, die größte Dummheit ist, daß ich den Sprengkörper in die Tiefe geworfen habe! Jetzt kommt die Sprengung von unten herauf und reißt uns in ihren Krater! Doch weder erfolgte ein trommelfellzerschmetterndes Krachen, noch tat sich die Erde auf Lediglich hohle Summtöne, lange und kurze, waren aus dem Brunnenschacht zu hören ... „Die Zündung“' jammerte Micha. „Das ist ein Zündungsgeräusch!“ „Quatsch!“ brummte Gérard. Er hob den Kopf und sah verblüfft, daß Superhirn wieder auf den Beinen war. „Was i-i-ist. . .?“ ächzte Prosper. Er stand auch auf. Gérard klopfte sich den Staub ab. „Ist doch nur 'n gewöhnliches Spielzeug! Hört doch. Es tutet! Gibt's vielleicht nicht ne Menge solcher Dinger mit eingebauten Tuten?“ „Ja“, sagte Superhirn. Er machte eine hastige Handbewegung und lauschte zum Brunnen hin. „Ja!“, wiederholte er. „Tuten in Spielzeugautos gibt es, aber nicht solche, die meinen Namen morsen!“ Jetzt waren auch die anderen wieder auf den Füßen. „Du spinnst!“ rief Tati. „Überhaupt - ein Wahnsinn, Sachen von Fremden anzunehmen. Du hättest das Ding gleich den Hang runterschmeißen sollen. Jeden Tag liest man, was sich Verbrecher alles ausdenken. Neulich wären Leute in Barcelona beinahe mit 'ner Hochzeitstorte hochgegangen, in der 'ne Bombe war. Ein Unbekannter hatte sie geliefert.“ „Schon gut“, unterbrach Henri sie. Es war völlig klar, was die Schwester meinte. Nicht nur Kindern, auch Erwachsenen konnte nicht oft genug eingebleut werden, keine Geschenke und Sendungen zweifel- oder gar rätselhafter Herkunft anzunehmen. Aber der Augenblick war denkbar ungünstig, etwa darüber zu palavern. Wichtiger war jetzt, auf die Summtöne aus dem Brunnen zu lauschen. Das kleine Auto funkte Morsetöne! kurz kurz kurz, kurz kurz lang, kurz lang lang kurz, kurz, kurz lang kurz, kurz kurz kurz kurz, kurz kurz, kurz lang kurz, lang kurz. Und das hieß: Superhirn ... ! „Kein Spielzeugauto!“ stellte der spindeldürre junge entschieden fest. „Ich hätte es mir denken sollen, ich Idiot: Die Feinde des Professors würden uns nichts tun, sie - wollen ja was von uns über
Charivari rauskriegen.“ Er lief auf den Brunnen zu und beugte sich über den Rand. Hohl, aber desto deutlicher drangen die akustischen Zeichen an sein Ohr: „Superhirn, nimm mich in die Hand!“ Auch Prosper verstand den „Notschrei“ des Spielzeugautos. „Wi-wi-wir sind doch nicht im Märchen“, ärgerte er sich. „Mir scheint, ganz im Gegenteil“, wies ihn Tati zurecht. „Ich gehe jetzt mit Micha ins Haus und esse Eis. Laß das Auto, Superhirn! Der Brunnen ist sehr tief, und der Wasserstand ist zu niedrig. So lange Arme hast du nicht.“ Plötzlich hörten sie Madame Claires Stimme vom Eingang des Hauses: „Was macht ihr denn da? Ich such euch auf der Terrasse! Dachte schon, ihr wäret den Hang hinuntergelaufen!“ „Wir kommen!“ erwiderte Tati laut. „Superhirn hat Michas Glücksbringer in den Brunnen geschmissen!“ Bevor die Wirtschafterin noch etwas fragen konnte, nahm sie Micha beim Arm und schob ihn ins Haus. Nach kurzem Zögern folgten Prosper und Gérard. Gérard meinte noch: „Tati hat recht. Heute holen wir das Ding da nicht mehr raus.“ Superhirn und Henri blieben allein am Brunnen. „Glaubst du, das Spielzeugauto ist eine Sendung, eine Botschaft von Professor Charivari?“ fragte Henri. „Ja!“ antwortete der Freund energisch. „Und ich bin jetzt auch überzeugt davon, daß der Besuch vorhin - nicht der getarnte Ragamuffin war, sondern der raffiniert getarnte Professor!“ „Und was macht dich so sicher?“ „Einfach das: Wer uns einen solchen Bären aufbindet mit Vater von Tatis Freundinnen und Michas Freund Paul, also Leuten, die keiner von uns kennt, der rechnet entweder mit unserer Doofheit...“ „... mit sagenhafter Doofheit!“ fiel Henri ein. „Oder damit, daß wir rasch begreifen! Die Verkleidung dieses Vaters leuchtet mir immer mehr ein“, erklärte Superhirn. „Unser Freund, Professor Charivari, hat das ganze Gegenteil aus sich gemacht: dichte Perücke, falscher Wallebart, Körperpolster, um dick zu erscheinen. Mehrere Paar Handschuhe übereinander - ach, da gibt's doch Tricks genug. Den silbergrauen Wagen kann er sich stunden- oder tageweise gemietet haben. Samt Fahrer.“ „Aber die starke Stimme kann sich keiner pumpen, wenn einer von Natur aus 'ne weiche, sanfte Stimme hat“, wandte Henri ein. „Zwar hab ich Charivari schon toben hören, daß die Wände wackelten, aber im Zorn ... Mit Madame Claire wird er doch nicht herumgebrüllt haben!“ „Trotzdem!“ Superhirn spähte in den Brunnen. Er sah nichts, um so weniger, als es inzwischen fast dunkel geworden war. „Das Summen hat aufgehört“, sagte Henri. „Ja. Dann hilft´s nichts. Gehen wir!“ Kaum hatte Superhirn sich abgewendet, als ihm etwas auf den Kopf flog. Aber das war nicht etwa wie ein „Schlag auf die Birne“, sondern eher so was wie eine „weiche Landung“. Superhirn schrie leise auf und griff unwillkürlich schützend mit der einen Hand ins Genick, mit der anderen über die Brille, denn er glaubte im ersten Schreck, es sei eine Eule. Vor einigen Tagen hatte sich nämlich eine in die spärlichen Haare des Gärtners gestürzt. ihm in die Stirn gehackt und Nacken und Halspartie umkrallt. Ein Forstbeamter hatte dazu gesagt: „Kommt vor! Selten zwar, aber es kommt vor. Und so 'ne Vogelkralle in der Halsschlagader - danke schön!” Eine „Eulen-Attacke“ blieb jedoch auch in Monton Ausnahme, wie Superhirn gleich darauf feststellte. Allerdings war die „Kopflandung“ in anderer Weise eine Sensation: Was Superhirn sich wie eine Mütze vorn Kopf nahm, entpuppte sich als das „Spielzeug“ aus dem Brunnen. Henri plumpste vor Lachen rückwärts auf den Kies. Er konnte Superhirns Gesichtsausdruck nicht sehen, doch er ahnte ihn. „Steh auf!“ befahl der Freund hastig. „Das ist nicht zum Wiehern! Das Auto war doch im Brunnen, tief unten, im Wasser!“ „Ja, und?“ Henri stand auf. Er war wieder ernst.
„Das Ding ist durch Fernsteuerung rausgekommen. Und es ist knochentrocken. Nimmt kein Wasser an, muß demnach aus besonderem Stoff sein. Da! Es gibt meinen Fingerspitzen laufend Mitteilungen. Durch Vibration! Durch längeres und kürzeres Zittern. Lang- und Kurzzeichen nach dem Morsesystem!“ Beide standen still. Henri wartete, was Superhirn weiter zu berichten hatte. ,Pas muß eine Nachricht von Professor Charivari sein!“ beharrte Superhirn flüsternd. „Die Meldung lautet: Wir sollen das Auto an eine unübersichtliche Stelle im Park bringen - und alles andere im Inneren der Villa abwarten! - Komm!“ Gefolgt von Henri, zwängte er sich am Brunnen vorbei in die Büsche. Auf einer kleinen Lichtung setzte er das seltsame „Nachrichtengerät“ ab. „Schätze, hier wird nachher ein Fahrzeug in normaler Autogröße stehen. Und wenn ich mich nicht sehr irre, wird es uns zu Charivaris Erdschiff Giganto bringen“, meinte er. „Los, schnell ins Haus!“ Im Laufen fragte Henri: „Wie ist es möglich, daß das Ding dich angesprochen' hat?“ „Es ist 'ne Spezialkonstruktion: Professor Charivari hat alle unsere Persönlichkeitsmerkmale, Alter, Geschlecht, sämtliche Körpermaße, Blutgruppen und so weiter. Auch unsere Stimmporträts und unsere Psychogramme. Alles das, was den Menschen unverwechselbar vom anderen unterscheidet. Genau, wie man bisher auf der ganzen Welt nicht zwei Fingerabdrücke gefunden hat, die einander völlig gleichen, und die deshalb in der Kriminalistik so wichtig geworden sind. Diese Persönlichkeitsmerkmale hat er als „Daten“ in das vermeintliche Spielzeug eingespeichert, und dabei mir den Vorrang gegeben!“ „Damit das Ding dich erkennt und dich ruft'?“ „Micha oder den Pudel hätte es auch rufen können, nur mit weniger Erfolg“, kicherte Superhirn, „Hat der' Apparat deutlich gesagt', daß er vom Professor kommt?“ „Nein. Aber nur Professor Charivari versteht sich auf solche Mittel. Die Ragamuffin-Leute arbeiten nicht mit Technologie, sondern mit Magie. Das ist längst raus. ..“ Im Terrassenzimmer saßen Tati, Prosper, Gérard und Micha um den großen, ovalen Tisch. Loulou kauerte friedlich zu Tatis Füßen. „Ihr kriegt nur zerlaufenes Eis!“ rief die Wirtschafterin. „Lange genug haben wir auf euch gewartet!“ „Macht nichts“, erwiderte Superhirn gemütlich . Dann fragte er so nebenbei: „Wie hieß noch rasch der Vater von Tatis und Michas Bekannten?“ Prompt kam Madame Claires Antwort: „Ivar Raich.“ Sie sprach es etwas im Küstendialekt. „Ja, manchmal merk ich mir solche ausgefallenen Namen gut! Meine Kreuzworträtsel sind eine gute Gedächtnisübung!“ Als sie in die Küche gegangen war, nahm Superhirn den Notizblock aus der Hemdtasche und schrieb: Ivar Raich; dann, alphabetisch: Aachiirrv, und stellte daraus den Namen: Charivari zusammen. Henri berichtete hastig, was sie mit dem „Spielzeugauto” erlebt hatten - und was Superhirn dazu meinte. „Wir sollen hier im Haus auf weitere Anweisungen warten“, schloß er seinen Bericht. ,Also doch vom Professor“, sagte Gérard erleichtert, als Superhirn die Notiz von Hand zu Hand gehen ließ. Fast vergnügt fügte er hinzu: „Na, dann geht's bestimmt wieder rund!“ In diesem Augenblick läutete das Telefon.
4. „Willkommen im Erdschiff Giganto!“ „Halt!“ rief Henri. „Tati geht an den Apparat! Wollte sich der komische Vater nicht noch mal melden?“ Das Mädchen nahm den Hörer. Prosper quetschte sein Ohr, so gut es ging, an das ihre.
„Hier Villa Monton“, sagte Tati schluckend. „Grüß dich, Tati!“ zwitscherte eine helle Stimme. „Hier ist deine Freundin Moni! Wir rufen aus deiner Gegend an. Meine Schwester Tora steht neben mir, Hotelhalle Erdgeschoß! Wir haben uns gigantisch gefreut, als wir zufällig erfuhren, daß ihr da seid. Paul, der kleine Brigant, will Micha sehen!“ Tati ließ den Hörer sinken und starrte Superhirn an. Verständnislos wisperte sie: „Freundin Moni? Schwester Tora, Paul, der kleine Bri ... Brigant?“ Superhirn griff nach dem Hörer. Diesmal lauschte Henri mit. „Hier ist Paul“, erklang jetzt eine Jungenstimme. „Ist Vaters Auto schon da? Es ist nicht der silbergraue Rolls-Royce, sondern unser Zweitwagen. Steigt einfach ein, zieht ein paar Tage zu uns! Unser Ferienhaus ist groß genug! Es ist auch ein Bonbon-Automat für Micha da! Gérard und Prosper kommen natürlich mit, ja? Und Superhirn! Haha - auch der Pudel! Verstanden ... ?“ „Verstanden!“ erwiderte Superhirn. Er bemerkte, daß die Wirtschafterin neugierig an der Tür stand. Schnell sprach er drauflos: „Heute noch? Gut! ja, Madame Claire hat uns vorbereitet! Prima! Wo wartet das Auto? So - unter dem Hang. Gut. Wir kommen sofort den Pfad runter!“ Im Hörer ertönte nun eine tiefe Stimme: „Hier spricht der Vater! Kommt rasch! Unwettergefahr! Alarmstufe l!“ Die Verbindung brach ab, ohne daß es knackte. „Alarmstufe l“, das hieß „höchste Gefahr!“ Geistesgegenwärtig schwindelte Superhirn: „Sie haben nicht zuviel versprochen, Madame. Tolle Einladung! Alles ist vorbereitet! Nicht mal Waschzeug brauchen wir! Na, denn los! Sowie wir in dem Ferienhaus sind, rufen wir Sie an!“ „Aber bestimmt!“ bat die Wirtschafterin bestürzt. Einen so hastigen Aufbruch ihrer Feriengäste hatte sie nicht erwartet. „Ruft ganz bestimmt an, versprecht mir das!“ „Auf Ehre!“ rief Superhirn. „Keine Sorge! Ruhen Sie sich mal ein Weilchen von uns aus.“ Drei Minuten später verharrten die sechs mit dem Pudel auf dem Fußpfad nach Monton. „Mir ist die Sache nicht geheuer“, seufzte Tati. „Freundin Moni... und Tora! Und Paulchen, der Brigant...“ „Mensch, be-be-begreif doch!“ stammelte Prosper erregt. „Moni und Tora, das weist auf Monitor hin! Monitor ist Charivaris geheime Station im All! Auch seine größten Raumschiffe heißen Monitore! Und dann: .. . gigantisch gefreut - und Erdgeschoß? Das bedeutet Erd-Erkundungsschiff Giganto. Mit Paul, der Brigant, klingelt´s noch deutlicher in meinem Ohr. Briganto und Rasanto sind die kleineren Brüder vom Giganto!“ „Und für Micha ist ein Bonbon-Automat da“, sagte Superhirn. „Wo haben wir so viel Spaß mit einem Bonbon-Apparat gehabt, he? In Professor Charivaris Erdschiff Giganto! Das Ferienhaus ist nur ein weiteres Deckwort. Ich wette, der Professor ist mit der Erdrakete hier irgendwo in der Nähe aufgetaucht!“ ,Aber warum rufen uns dann Kinder an?“ zögerte Tati. „Und der Vater!“ fügte Superhirn ruhig hinzu. „Wetten wir? Professor Charivari hat ein Gerät, das seine eigene Stimme in jeden gewünschten Stimmklang übertragen kann! Na, das klären wir schon. Für mich gibt's keinen Zweifel, daß er uns erwartet. Übrigens: Er sprach von Alarmstufe 1'. Das heißt, wir müssen uns beeilen! Das Spielzeugauto gab mir Weisung, es in den Park zu stellen. Bestimmt nicht umsonst! Kommt, wir schleichen zurück!“ Micha verstand das alles nicht. „Meinst du, wir sollen uns alle sechs in ein Spielzeugauto klemmen?“ fragte er Superhirn. „Werden sehen“, war die knappe Antwort. Als sie in weitem Abstand den Brunnen umgangen hatten, hörten sie einen Summton. Dann leuchtete blitzschnell ein Auto auf: das „Spielzeugauto“, jetzt in der Größe eines normalen Wagens. Micha wich zurück. Tati nahm den Pudel auf den Arm. Sonderbarerweise sträubte sich das Tier nicht. „Seid still! Einsteigen!“ wisperte Henri. Sie brauchten die Türen der Limousine nicht zu öffnen. Die sprangen lautlos von selber auf
Superhirn setzte sich mit Henri und dem dünnen Prosper auf die vorderen Sitze. Tati, Micha und Gérard krochen mit dem Pudel nach hinten. Als alle saßen, ertönte eine ausdruckslose Stimme - offenbar aus dem Autoradio: „Anschnallen! Festhalten!“ Die Türen schlossen sich. Schweigend warteten die Insassen, was nun geschehen würde. Kein Parklicht, kein Abblendlicht und kein Scheinwerfer leuchtete auf. Ängstlich brach Micha die Stille: „Ich ... ich bin gespannt, wann´s losgeht ... !“ „Ich spür´s, wir fahren nicht, wir steigen. Wir sind genau über dem Park und gehen jetzt auf Vorwärtskurs“, rief Superhirn. „Seht, da vorn: Die Hafenlichter ... !“ „Was denn? In die Luft gehen wir?“ rief Gérard. „Ich denke, in die Erde! Wenigstens zu Charivaris Erdschiffliegeplatz!“ „Zum Erdschiff!“ echote Micha. „Zum Giganto!“ „Laß dieses komische Auto sofort landen“, forderte Tati. „Superhirn! Hörst du nicht?“ „Erst mal können vor Lachen“, erwiderte der spindeldürre Junge. „Die Lenkvorrichtung ist außer Kraft. Da kann ich drehen, ziehen und drücken, wie ich will. Wir werden ferngesteuert!“ „Ich ... ich ... ich springe raus!“ Prospers Stimme überschlug sich. „Unten ist Wasser. Ich springe. Er machte ein verängstigtes Gesicht. „Dir ist dein Verstand schon davongesprungen!“ unterbrach ihn Henri. „Bist du 'ne Möwe? Wir sausen jetzt in etwa hundert Meter Höhe über die neue Brücke! Wenn du aufs Wasser knallst, bist du weg!“' „Fallgeschwindigkeit 150 km/st!“ bestätigte Superhirn. „Das Wasser würde dich regelrecht totschlagen.“ Er tastete umher. „Die Fenster kann man nicht öffnen. Auch die Türen sind so dicht, als wären sie zugeschweißt.“ „Aber...“ Prosper starrte nach vorn. Das merkwürdige Schwebeauto befand sich direkt im Licht des Mondes, das sich von fern her auf dem Wasser spiegelte. Selbständig hatte das Fahrzeug den Kurs gewechselt. Im grüngelblichen Schimmer, der das Innere schwach erleuchtete, wirkte Prospers Nase noch spitzer als sonst. „Aber wir sind schon über der offenen See ... !“ „Na und? Da kannst du erst recht nicht rausspringen“, meinte Henri. Er wandte sich an Superhirn: „Was glaubst du: Was ist das für eine Kiste, in der wir hocken?“ „Ein Mehrzweck-Leisestrahl-Fahrzeug aus Relaxoplast“, antwortete Superhirn prompt. „Eine Erfindung, die nur von einem einzigen stammen kann: von Professor Charivari. Deshalb: Nur Ruhe! Wir werden nicht im Bauch eines feuerspeienden Drachens ins Reich der Fabel geschleppt.“ Er lachte. „Übrigens hat er das Auto nicht gezaubert, wie Micha vielleicht glaubt. Er ist der Normalwissenschaft nur ein bißchen voraus. Bedeutende Gelehrte knobeln seit langem an der Verwirklichung der Idee: Wie kann man Dinge durch Veränderung und Steuerung der MolekularAbstände verkleinern oder vergrößern?“ „Aber wenn er uns jetzt nicht richtig fernsteuert?“ murmelte Tati, noch immer höchst besorgt. „Ich dachte, ihr seid sicher, daß das Erdschiff Giganto in der Gegend von Brac wartet!“ „Ja, und dabei kurven wir jetzt um einen scheußlichen Felsen!“ rief Prosper. „Und dahinter liegt der Hammer der Sieben Meere.“ Der „Hammer der Sieben Meere“ war das Wrack eines englischen Frachtdampfers. Er war vor Jahren im Sturm gestrandet und steckte wie ein auf der Seite schlafender Riese im Sand. Trotz seines stolzen Namens hatte nun ihn der Hammer getroffen, der unerbittliche Hammer der See, deren donnernde Brandung für alle Ewigkeiten über ihn hinweggehen würde. Jedes Jahr kletterten neue Sprengkommandos unter großer Gefahr an Bord, um wenigstens Teile der teuren Maschine zu bergen. Bisher umsonst. Einer, der angeseilt drei Tage und drei Nächte wie ein Zirkuskünstler im Schiffsbauch hin und her gependelt war, hatte danach in eine Heilanstalt gemußt: Er war buchstäblich verrückt geworden. Auch ihn hatte der Hammer der See getroffen. „Warum fliegen immer nur die Möwen um das Schiff herum?“ flüsterte Micha. „Was gibt's denn für die noch zu holen...“ Er unterbrach sich und fragte entsetzt: „Wir landen doch nicht etwa auf dem Wrack?” „Sieht so aus“, sagte Superhirn wie zu sich selbst. Auch er war jetzt besorgt.
Das Schwebemobil umkurvte den gestrandeten Frachter beängstigend tief und nahe. Teile der herausragenden Aufbauten und über den Rumpf hinwegrauschender Brandungsgischt schimmerten im Licht des Mondes. Der dicke, altmodische Schornstein wirkte wie ein dunkler Schlund. „Wir fahren da rein ... !“ ächzte Prosper. „Die Schornsteinhöhle ... sie saugt uns an! Sie saugt uns ins innere ... !“ „Was willst du denn?“ fragte Henri ruhig. „Nimm die Hände vom Gesicht! Du hast dich geirrt. Das Wrack ist nicht unser Ziel gewesen! Wir sind längst wieder auf Gegenkurs! Siehst du die Brücke von Brac? Rechts ist die Bucht und der Hafen von Monton! Nun sausen wir über den Ferienstrand ... über die hohen Tafelfelsen ... Richte dich nach dem Leuchtturm! Da!” „Schaut nur, unser Fahrzeug geht plötzlich runter wie ein Hubschrauber!“ bemerkte Superhirn. „Haha - wir stehen schon, wir sind gelandet! Drei, vier Kilometer von der Küste entfernt! Könnt ihr was erkennen? Ganz öde Gegend, scheint mir!“ Plötzlich leuchtete vor ihnen eine Einfahrt auf: Als hätte der Pförtner einer enormen Tiefgarage gleißendes Licht eingeschaltet. Aber in dieser Gegend gab es keine Tiefgaragen. Es war der Rumpf eines technischen „Ungeheuers“, der eine seiner Luken geöffnet hatte. Eine Lastenrampe schob sich wie die „Zunge“ dieses „Ungeheuers“ heraus, das Auto rollte an und fuhr so sicher darüber hinweg, als sei es „eingefädelt“! Und plötzlich ertönte die freundliche Stimme Professor Charivaris: „Willkommen an Bord meines Erdschiffs Giganto!“ 5. Eisgedanken aus der Tiefe! Die Türen des Autos waren aufgesprungen, doch die Öffnung in der Wand der Erdrakete hatte sich bereits geschlossen. Tati, Micha, Gérard, Superhirn, Prosper und Henri stiegen blinzelnd aus. Die Helligkeit im Lasten-Raum des Giganto blendete sie. Freudig bellend hopste Loulou auf die hagere Gestalt Professor Charivaris zu. Der kahlschädlige Mann mit dem lackschwarzen Fadenbart lächelte. Seine schmalen, etwas schrägen Augen unter den dunklen Brauen glänzten wie gewohnt. Und seine Stimme war weich, fast sanft, als er den Pudel scherzhaft ansprach. Charivari war ähnlich gekleidet, wie ihn alle sechs (samt Hund!) zuletzt gesehen hatten: Er wirkte wie der Trainer eines Sportklubs. Wenigstens auf den ersten Blick. Sah man genauer hin, bemerkte man, daß der scheinbare „Trainingsanzug“ eine raffinierte technische Kombination mit vielen schräg und waagerecht angebrachten Taschen, Leisten, Knöpfen und reißverschlußähnlichen „Zügen“ war. Auch die Ringe an seinen schmalen Händen dienten nicht als Zierde, sondern zum Empfang und zur Ausstrahlung verschiedener Signale. Professor Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. „So, nun seid ihr in Sicherheit“, sagte er erleichtert. „Ich mußte euch bei der Fernsteuerung ein wenig in die Irre lotsen. Wegen möglicher Verfolger.“ „Und warum haben Sie uns auch vorher an der Nase herumgeführt?“ fragte Tati. “Nicht euch, sondern unsere Feinde“, stellte der Professor richtig. „Habe ich nicht am Telefon etwas von Alarmstufe l erwähnt?“ „Ja, aber das Theater mit dem komischen Besuch! Mit dem Fahrer in der silbergrauen Staatskarosse. Waren Sie wirklich dieser unbekannte Vater'?“ bohrte Tati weiter. Charivari nickte. Superhirn und Henri hätten gern auf der Stelle gewußt, welche direkte Gefahr ihnen drohte. Doch jetzt, da er seine jungen Freunde hier hatte, war der Professor beruhigt. Er antwortete auf Tatis Frage: „Nun, der silbergraue Rolls-Royce gehört mir. Der Fahrer, einer meiner Assistenten, hat ihn bereits wieder nach Lyon gebracht. Tja, und warum ich maskiert zu Madame Claire kam? Ich mußte ihr einen Vorwand liefern, damit sie euch gehen ließ. Deshalb die Komödie.“ Er bestätigte dem ungläubigen Micha wiederholt, daß er wirklich der verkleidete und geschickt maskierte „Vater“ von Tatis angeblichen Schulfreundinnen und dem nicht vorhandenen Freund Paul“ gewesen war. „Klar! Ich habe Stimmveränderungs-Geräte“, lachte er auf Superhirns Frage. „Wenn ich da hineinspreche, kann ich - je nach Druck auf eine Vorwahltaste - für den Empfänger wie eine alte Dame, ein herrischer Brummbaß oder ein kleines Mädchen klingen. Auch als ich mich mit Madame Claire unterhielt, trug ich so ein Ding im falschen Wallebart, allerdings ein kleines - mit nur einer
Fremdstimme'. „Da fällt mir ein: Wir müssen Madame Claire sofort anrufen“, rief Micha. „Ja“, nickte Charivari. „Aber erst mal in den Lift und in die Desinfektions- und Registrierungsschleuse: Alle Persönlichkeitsdaten - und sogar die des Pudels - sind im Giganto eingespeichert. Die Strahlen, die euch abtasten, sowie die übrigen in der Kontrollschleuse verborgenen Meß-Systeme werden also keinen Bord-Alarm auslösen. Danach führte der Professor seine jungen Gäste in den Befehlsraum des Erd-Erkundungsschiffes. „Irre ich mich - oder ist's hier noch schicker geworden?“ rief Tati begeistert. Sie blickte auf die bequemen Sessel und Bänke. Und wieder - wie schon zweimal glaubte sie, in einer Hotelhalle zu sein. „Du irrst dich nicht“, lächelte Charivari. „Das ist der neue Giganto. Der alte liegt zusammen mit den Erdraketen Rasanto und Briganto in meinen Südpolwerften.“ Er zog ein Kästchen aus der Tasche. „Aber wir wollen erst mal mit Madame Claire telefonieren.“ Micha riß die Augen auf. „Das ist ein Telefon?” Charivari lächelte. „Das Neueste aus meinem Charivarium. Es enthält in mikroskopischer Winzigkeit die Telefonnummern sämtlicher Anschlüsse der Erde ... ach, was sage ich: Tausende und Abertausende von Telefonverzeichnissen. Telefonbücher, gewissermaßen, aber so winzige, daß viele von ihnen in einen Stecknadelkopf hineinpassen würden. Dieses drahtlose Fernsprechgerät ist gleichzeitig eine Fernsprechauskunft: Es läßt auf Befragung die gewünschte Nummer in Leuchtschrift erscheinen. Dann tippe ich die Zahlen nacheinander in das Ding hinein - und der Anschluß ist da. Hier, Tati. Versuch mal dein Glück: Ruf Madame Claire in Monton an - die Nummer weißt du ja. Sag ihr, du hättest deine Freundinnen getroffen, das Ferienhaus sei aber doch etwas weiter abgelegen, als ihr gemeint hättet, es wär aber herrlich da - und so weiter, und so weiter. Und ihr würdet euch wieder melden! „Alles funktionierte, wie der Professor gesagt hatte. Madame Claire meldete sich. Sie war noch wach gewesen und hatte, wie sie aufgeregt erklärte, „keine Ruhe gehabt“. Nun aber sei ja alles „in schönster Ordnung”! Auch Superhirn sprach ein paar Worte mit der Wirtschafterin. Er beendete das Gespräch mit der tröstlichen Versicherung, sie würden sich in den nächsten Tagen wieder melden. Prosper stand da mit offenem Mund. „Wie kommen Sie denn in die Telefonleitung von Madame Claire hinein?“ „Nichts einfacher als das. Das kannst du mit jedem Autotelefon machen. Es funkt eine Zentrale an, und das Gespräch wird in die Leitung eingeschleust.“ „Können Sie mit dem Gerät auch Gespräche abhören?“ fragte Henri. „Mit diesem nicht, aber mit einem anderen. Was das Abhören von Anschlüssen betrifft - wie es in der Welt gemacht wird -, so glaube ich: Nichts ist schlimmer zu verurteilen. Es mag Ausnahmen geben ... hm ...” Professor Charivari hatte das Telefonkästchen eingesteckt. Er stand jetzt an der Bogenplatte, die als einziges verriet, daß man in einer Kommandozentrale war. „Sie haben uns immer noch nicht gesagt, warum Sie uns hergeholt haben“, erinnerte Henri. „Und ob wir wieder mitfahren sollen!“ Alle sahen den Professor erwartungsvoll an. Charivari sah kurz auf „Wir fahren ja längst! Wir sind...“, er blickte auf die Platten, „. . . mehr als hundert Kilometer unter der Oberfläche! Wir kreuzen jetzt unter Grönland?“ „Ach, du Donner!“ rief Gérard. „Auf Sie fällt man immer wieder rein!“ Als einziger hatte Superhirn bemerkt, daß der Professor nach Verlassen der Schleuse an den bogenförmigen Tisch gegangen war, um über Mikrofon Befehle an die Maschinen-Automatik zu erteilen. „Wir haben wieder Unmutsgedanken aufgefangen“, erklärte Charivari. „Vom Ragamuffin!“ rief Micha. Der Professor nickte. „Meine Geheimstationen sind als einzige in der Lage, diese Ungutsstrahlen aufzufangen!” „Aber wir wissen nicht, wo die Machtzentrale liegt und wie der Ragamuffin aussieht“, sagte
Superhirn. „Der Chef dieser dunklen Macht, den ich den Ragamuffin nannte“, fuhr Charivari fort, „arbeitet auf jeden Fall nicht mit meinen Mitteln. Sonderbarerweise scheint er auch nicht genau herausgekriegt zu haben, wie die Verhältnisse an der Erdoberfläche und im Weltraum wirklich sind. Er will die Erdbevölkerung durch seine Unmutsgedanken vernichten, ja. Aber warum? Und weshalb stellt er hauptsächlich mir und meinen Mitwissern nach? Meint er, ich sei so etwas wie ein oberster Machthaber der Erde““ Darauf wußte niemand eine Antwort. „Und weshalb haben Sie uns geholt?“ fragte Gérard. „Ich habe euch an Bord dieses sicheren Erdschiffs genommen“, erklärte der Professor, „weil ich fürchtete ' einer von des Ragamuffins VAVAS könnte euch wiederum einen Besuch abstatten. Der Bursche scheint aufs Ganze zu gehen! Das Schlimme ist: Mit all unseren Geräten können wir seine Machtzentrale nicht orten! Er benutzt den Erdmittelpunkt als Reflektor. So nehmen wir an! Denn im Stahlnickelkern selber - kann kein 1,ebewesen sein.“ Er beugte sich über die Befehlsplatte und sprach ins Mikrofon: „Bild-Sprechfunk Raumstation Monitor ... verschlüsselt nach System drei hoch drei. Hier Giganto, der Kommandant. Rufe Sicherheitschef Biggs. Captain Biggs, bitte melden ... !“ Die Geschwister und ihre Freunde hielten den Atem an. Tati saß auf einer Rundbank und drückte den Pudel an sich. in der linken Wand des Giganto, bugwärts gesehen, erschien ein fernsehartiges Bild. Darauf sah man den Sicherheitschef der Weltraumstation, die das Erdschiff betreute und ständig überwachte. Captain Biggs, der lustige Bursche, war den jungen Passagieren kein Unbekannter mehr. „Hier Raumstation Monitor', Captain Biggs“, meldete er sich. „Verstanden. Verschlüsselungs-System drei hoch diel. An Giganto in der Erde, Position X, Kommandant Professor Charivari. Sehen und hören Sie mich? Hier: Empfang deutlich! Sehe, Sie haben unsere jungen Freunde an Bord - und sogar den Pudel.“ Er grinste schwach. Zumindest Superhirn merkte sofort, daß Biggs entsetzliche Sorgen hatte. „Probleme.“ Er versuchte, sich zu beherrschen. „Was Neues vom Ragamuffin?“ fragte der Professor. „Kann man wohl sagen“, erwiderte Biggs. Er grinste. Oder er versuchte es. „Nuuun ... ?“ fragte Professor Charivari gedehnt. „Halten Sie sich fest, Professor“, sagte Biggs. „Der Ragamuffin sendet nicht nur seine gewöhnlichen Ungutsstrahlen. Er schießt mit eiskalten Gedanken!“ Charivari griff an seinen Strippenbart. „Was heißt das? Bitte Näheres!“ „Da gibt's nichts Näheres“, antwortete Captain Biggs. Jedenfalls nicht, wenn man die Wirkung spürt' Auf Weltraumstation Monitor' hat das Gedanken-Empfangsgerät die typischen Ungutsstrahlen verzeichnet. Dazu kam plötzlich Eis. ja! Sie hören recht' Das Gerät überzog sich mit sonderbarem Reif, daß unsere Leute mit den Fingern daran hängenblieben! Aber der Eishauch griff auch auf Männer über, die nicht direkt am Gerät standen. Sie schrien wie die Verrückten, erstens - gepeinigt von den Ungutsstrahlen, zweitens - weil das Eis in seiner ungeheuren Kälte sie regelrecht ,verbrannte'.“ „Warum war das Gerät nicht ausgeschaltet.“ rief Charivari wütend. „Weil wir auf so etwas nicht gefaßt waren“, sagte Biggs. „Aber dann haben es einige mit Bellen zerschlagen. „Das ist doch nicht alles!“ meinte Charivari. „Sie melden mir noch Schlimmeres, wie?“ „Erraten, Boß“, erwiderte Captain Biggs. Wieder verzerrte er das Gesicht. „Unsere neue Unterwasserstation wird beschossen. Mit Gedankenstrahlen, die sich zu Eis verfestigen. General Brain schätzt die Schnelligkeit der Geschosse auf zehnfache Lichtgeschwindigkeit!“ „Unsinn!“ rief der Professor. „Das gibt's nicht! Dann kämen die Geschosse ja eher an, als sie abgegeben worden wären!“ „Beim Ragamuffin scheint's alles zu geben“, erwiderte Biggs. „Sie haben selbst gesagt, er und seine
Dunkelmänner seien eine besondere Art Menschen mit für uns nicht faßbaren Fähigkeiten, die sie im Lauf der Zeit entwickelt haben.“ „Moment., Biggs, ich notiere...“ Charivari beugte sich über eine Kontaktplatte auf dem Befehlstisch. Augenblicks erschien die „Notiz“ in Leuchtschrift neben dem Bildschirm in der Wand: „23 Uhr Giganto-Bordzeit: Sicherheitschef Captain Biggs von Raumstation Monitor meldet Zerstörung dortiger Gedanken-Empfangsanlage. Captain Biggs gibt sodann Meldung von General Brain GP durch: Neue Unterwasserstadt ebenfalls unter Beschuß: zu Eis erstarrte Gedankenstrahlen“' „Notieren Sie ferner“, ertönte Biggs düstere Stimme, während er noch immer auf dem Bildschirm zu sehen war, daß der Chef der Unterwasserstadt, General Brain, die Durchschlagskraft der erstarrten Eisgedanken für vernichtend hält.“ Wieder beugte sich Charivari über die Platte., und auch die zusätzliche Notiz erschien in Leuchtschrift in der Wand. Dann befahl er Biggs: „Rufen Sie Südpolwerft. Erd-Erkundungsschiffe Brisanto und Rasanto einsatzklar machen. Gemeinsame Rettungsaktion für bedrohte Unterseestation , Melde mich wieder. Ende!“ Captain Biggs' Gesicht verschwamm. Charivari strich sich den lackschwarzen Bart. Er – wie auch die jugendliche Besatzung - blickte auf die Leuchtschriftnotizen. „Eisgedankenstrahlen“, brach Superhirn das Schweigen. „Das ist neu!“ „Kann man wohl sagen“, meinte Henri. „Ich ha-ha-hab ja mal was von Eisbeuteln gehört, die einem auf den Kopf gelegt werden, wenn man krank ist. Aber von Eis im Kopf hat mir meine Oma nichts erzählt“, ließ Prosper sich hören. „Bleib uns mit deiner Oma vom Hals!“ sagte Tati ärgerlich und drohte ihm mit dem Finger. Gérard guckte so ausdruckslos, als habe wenigstens schon er ein paar Eiswürfel im Gehirn. „Also, was ich da von Eis lese“, maulte Micha, „gefällt mir nicht. Schokoladeneis wär mir lieber!“ „Was ist das für eine neue Unterseestation GP?“ erkundigte sich Superhirn. Der Professor war sichtlich noch dabei, die Schreckensmeldungen zu „verdauen“. jetzt wandte er den Kopf „Damit ist meine geheime subarktische Station gemeint. General Brain ist ihr oberster SicherheitsIngenieur, Gewöhnlich nennen wir die Station Gigantopol, weil sie unterm arktischen Treibeis am Nordpol liegt. Es handelt sich nicht um einen kleinen Stützpunkt, sondern um ein Riesenwerk, dessen Rundbasis einen Durchmesser von 15 Kilometern hat. Diese Unterseestadt liegt - so müßt ihr euch das vorstellen - in einer gewaltigen Luftblase.“ „Und was stellt das Werk her?“ staunte Henri. „Nichts. Es ist eine Erfindungsindustrie. Dort werden Berufe weiterentwickelt - wenn ich mich so ausdrücken darf. Neue Forschungsziele werden geschaffen, zum Beispiel im Bereich der Lichtwissenschaft und der Kunststoffe.“ „Und gerade auf diese Unterseestadt hat's der Ragamuffin abgesehen?“ rief Superhirn. „Scheint so“, murmelte der Professor. Er trat an die Bogenplatte und beobachtete die Laufziffern, den augenblicklichen Erdausschnitt und andere Kontrollzeichen. Der Widerschein der vielen Lämpchen ließ seinen Kahlschädel bald gelblich, grünlich, bläulich oder rötlich erscheinen. Es war ein unheimlicher Anblick. „Wir sind immer noch auf Wartekurs unter der Grönlandspitze“, sagte er. „Hier werden wir uns mit den beiden anderen Erdraketen zum unterirdischen Marsch' auf das Werk Gigantopol vereinigen, um General Brain zu Hilfe zu kommen. Ich rufe jetzt wieder Biggs. Und ihr schlaft ein paar Stunden! Eure Kammern sind im Obergeschoß!“ Schweigend verließen die sechs mit dem Hund den Kommandoraum. Der Professor wollte offensichtlich allein sein. Übrigens war die junge Besatzung samt Pudel „hundemüde“. Wie so ein Erdschiff eingerichtet war, wußten sie ja schon. Der neue Giganto war nur viel größer. In drei Fahrstühlen sausten sie nach oben: Superhirn mit Henri, Gérard mit Prosper - und Tati mit Micha und Loulou. Als sie sich auf dem Gang des Wohntraktes wiedertrafen, lachte Gérard: „Na, Tati? Wann schreist du
wieder: Wie im Hotel!'?“ „Wenn ich glücklich zurück in Monton bin, bei Madame Claire“, erwiderte das Mädchen. „Ist ja alles herrlich hier - aber wenn ich an die letzten Meldungen denke, dann hab ich Eis in der Nase.“ „Suchen wir uns erst mal die Kammern aus“, sagte Superhirn. „Ha! Da. Auf einer der Türen ist ein Sichtzeichen Hund'! Schätze, diese Kammer hat nicht nur Bad und Dusche und so weiter, sondern auch ein Hunde-Klo!“ Also blieb für Tati und Micha mit Loulou keine andere Wahl. Gérard und Prosper zogen in die nächste Kammer und Henri und Superhirn in die übernächste. In den Schränken fand man Pyjamas in allen Größen, in den blitzblanken Badezimmern komplettes, neues Waschzeug. „Ich wundere mich, daß Micha nicht in die Bordkantine zum Bonbon-Automaten gelaufen ist“, gähnte Henri, als er in seiner Wandkoje lag. Superhirn nahm bedächtig die große Brille ab, legte sie aufs Abstelltischchen und streckte sich ebenfalls aus. „Micha wird wohl genausowenig Appetit haben wie wir4alle“, meinte er. „Daß diese Eisgedankenstrahl-Sache schlimmer ist, als alles, was wir bisher erlebt haben, merkt doch auch der jüngste!“ „Ich laß mich überraschen!“ Henri gähnte wie ein Flußpferd. „Diese Meldungen waren übrigens reichlich unklar. Na, dann: Schlaf gut!“ Superhirn antwortete schon nicht mehr. Er hatte viel zuviel nachgedacht. Doch gerade, als Henri das gemütliche „Schlaf gut!“ murmelte, empfing Professor Charivari unten im Kommandoraum eine Schreckensnachricht von Captain Biggs. Eine Meldung, die die schlimmsten Befürchtungen weit, weit übertrafen ...
6. Wer ist General Brain? Bordzeit: 8.20 Uhr. Tati und Micha hatten schon geduscht, ihre Sachen durch die Blitz-, Wasch- und Trockenanlage im Badezimmer gezogen und sich angekleidet. Micha hielt es nicht länger in der Giganto-Kabine aus. Er ging in die Befehlszentrale hinunter, zuerst aber in die automatische Küche. Ihn lockte der BonbonAutomat. Tati ordnete ihr Haar im Spiegel. Plötzlich surrte das Kabinentelefon. Das Mädchen lief zum Apparat, nahm den Hörer ab und meldete sich. Am anderen Ende war Micha. Er war sehr aufgeregt. „Sprich deutlicher!“ rief Tati. „Was ist los ... ?“ „Der Professor ... !“ drang Michas überschnappende Stimme an ihr Ohr. „Er liegt im Befehlsraum wie tot! Erst hab ich gedacht, er schläft.“ „Wir kommen runter“, unterbrach ihn Tati hastig. „Ich hole die anderen!“ Auf den Tasten wählte sie nacheinander Gästekammer 2 und 3. Gérard und Prosper lagen noch in ihren Kojen. Superhirn und Henri aber waren schon angezogen. „Wir kommen sofort!“ sagte Superhirn zu Tati. Tati nahm den Pudel und trat auf den Gang. Ihr Bruder und der spindeldürre junge mit der großen Brille kamen eben aus ihrer Kammer. Ohne auf Gérard und Prosper zu warten, sausten die drei samt Hund im Lift nach unten. Aus der Bordküche bog Micha in den Vorraum, der einer Hotelhalle glich. Micha hatte eine durchsichtige Tüte voller Bonbons in der Hand. Doch in seiner Verstörtheit war er noch nicht dazugekommen, sich eines zu nehmen. ..Was ist mit dem Professor?“ fragte Superhirn. Er wartete die Antwort nicht ab und stürmte allen
voran in die Kommandozentrale. Abgesehen von der roten Leuchtschrift verrieten die schimmernden Wände des gewaltigen Erdschiffs nicht, daß - oder ob - hier etwas geschehen war. Das schicke, praktische Mobiliar stand auf seinem Platz. Der bogenförmige Befehlstisch mit der Signalplatte erhöhte den Eindruck von Sicherheit und Perfektion. Professor Charivari stand nicht über die Platte gebeugt, er saß auch nicht auf dem gleitbaren Sessel dahinter. Vielmehr lag er seltsam verkrümmt und wie leblos auf einer der Polsterbänke. Sein fadendünner Kinnbart, nach oben gestülpt, war ihm wie eine schwarze Schlange über das Gesicht gerutscht. Tati hielt ihr Ohr an seine Lippen. „Er ist ohnmächtig“, flüsterte sie. Gleich verbesserte sie sich: „Er liegt im Erschöpfungsschlaf Wahrscheinlich hat er die ganze Nacht gewacht!“ Henri trat an die Bogenplatte. Anhand der Ziffern, Erdausschnitts- und Erdoberflächen-Angaben konnte er Position und Kurs des Giganto ablesen. „Hundertfünfzig Kilometer unter Grönland...“, meldete er. „Wir fahren schleifenförmigen WarteKurs. Äußerste Punkte: Labrador-See/Davis-Straße, West-Grönland - und DänemarkStraße/Grönland-See, Ost-Grönländische Küste ... nordnordöstlich von Island.“ Superhirn studierte die rote Leuchtschrift an der Wand, die „Lichtnotizen“ nach den eingegangenen Meldungen vom Sicherheitschef der überwachenden geheimen Raumstation Monitor. Die älteren Lichtnotizen hatten sich verkleinert, um neueren Platz zu machen. Superhirn stieß einen leisen Schreckensruf aus. „Was ist?“ fragten Henri und Tati fast gleichzeitig. Auch sie starrten auf die Wand. „Sieht nicht gut aus“, murmelte Superhirn. „Lest mal, was da steht: Erdschiff Rasanto nicht einsatzfähig. Schaden an den Saugdüsen... Und weiter: Erdschiff Brisanto nicht einsatzfähig. Defekt im Maschinenraum. Und wie's der Teufel will, da: Älterer Giganto zur Überholung im Dock. Maschine in sämtliche Einzelteile zerlegt. „Und was bedeutet das?“ fragte Micha besorgt. „Daß wir der geheimen Nordpol-Unterseestadt Gigantopol nicht zu Hilfe kommen können“, schluckte Henri. „Wenigstens nicht mit vereinten Kräften!“ „Nicht, wie beabsichtigt, mit drei Erdschiffen“, fügte Superhirn deutlichkeitshalber hinzu. „Aber dann...“, Tati war völlig entgeistert, II ... dann ist die U-Stadt Gigantopol verloren!“ Superhirn entdeckte eine weitere Lichtnotiz. Er ergänzte den Kurztext: „Captain Biggs meldet: Empfange verwirrende Nachrichten. Sicherheits-Ingenieur General Brain funkt wachsende Zerstörung der U-Stadt Gigantopol zu uns ins All. ..“ Superhirn rieb sich die Stirn. „General Brain gibt Einzelheiten über das Ausmaß der Katastrophe an, widerruft aber manches. Seht: Kraftwerk U-Stadt Gigantopol hat Total-Ausfall! Dann: Teil-Ausfall! Später: Doch, Total-Ausfall! Eine Zeile tiefer: Unbekannte Macht der Erde - Ragamuffin - nimmt Beschuß mit Eisgedankenstrahlen wieder auf! Alle drei Schutzglocken der U-Stadt zusammengestürzt!' Er bleibt aber auch dabei nicht: Äußere Schutzglocke intakt!“ „Mensch!“ rief Henri. „Und zwischendrin steht: ,General Brain meldet: Wir sind am Ende. Leute in UStadt Gigantopol drehen durch. Beide Schutzhüllen und Haupthüllen fallen zusammen. Wasser stürzt in die Wohntrakte. Straßen nicht mehr passierbar'!“ Als Tati, Henri, Micha und Superhirn die Wand noch anstarrten, erschien wieder eine Lichtnotiz. Offenbar war der Funkempfang jetzt mit der Leuchtschreibe-Vorrichtung in der Wand automatisch gekoppelt. „Hier Biggs, Raumstation Monitor. General Brain meldet aus U-Stadt Gigantopol: Wir sind Herr der Lage! Bekämpfen Schäden mit eigenen Mitteln!` „Einen solchen Salat habe ich noch niemals fressen müssen“, murmelte Superhirn. In diesem Augenblick kamen Gérard und Prosper in den Befehlsraum. Beide machten große Augen. „Was steht ihr denn da wie ausgestopft?“ fragte Gérard.
„Und wa-wa-was macht der Professor ... ?“ stotterte Prosper. „Ist ihm schlecht ... ?“ Wie aufs Stichwort richtete sich Charivari langsam auf. Er lächelte schwach. „Schlecht nicht. Ich glaube, ich hab geschlafen wie ein Murmeltier...“ Er blickte zur Wand - und war sofort hellwach. Plötzlich stand er in seiner ganzen Länge da. „Herr der Lage...?“ wiederholte er verblüfft. „General Brain will Herr der Lage sein und die Schäden in der U-Stadt mit eigenen Mitteln bekämpfen?“ Er lief zur Bogenplatte, tippte ein paar Kontakte, zog das Mikrofon heran und rief die Raumstation „Monitor“, Sicherheitschef Captain Biggs. Biggs erschien wieder auf dem Wandbildschirm. „... keine Falschmeldung, Professor“, erfuhr die Giganto-Besatzung. „Diese Meldung ging tatsächlich hier ein. Wollen Sie sich nicht direkt mit General Brain in Verbindung setzen?“ „Nein“, sagte Charivari entschieden. „Aus dem, was ich bisher gehört habe, muß ich schließen: Der Ragamuffin ist mit all seinen innerirdischen Truppen - oder wie man's nennen soll - zum Großangriff übergegangen. Er spielt mit U-Stadt Gigantopol wie eine Riesenkatze mit einer ganz, ganz kleinen Maus!“ „Hm. Könnte sein“, erwiderte Biggs. „Vielmehr: Sieht so aus, als hätten Sie recht! Was wollen Sie tun?“ „Mich auf Warteschleife halten. Ich brauche meine Erdschiffe Rasanto und Brisanto! Denke, sie werden bald startklar sein. Habe befohlen, Schäden so schnell wie möglich zu beheben!“ „Hm. Ich werde mit Erdschiff-Werften in Kontakt bleiben“, sagte Captain Biggs. „Ich drücke Ihnen sämtliche Daumen, die ich habe, daß der Ragamuffin Ihren Giganto nicht ortet...“ Professor Charivari gab neue Daten an: Er verlegte den Wartekurs auf dreihundert Meter Erdtiefe in die Gegend von Thule, Nordwest-Grönland. „So“, sagte er. „Nun wollen wir frühstücken. Hat keinen Zweck, sich selber verrückt zu machen, auch wenn man notgedrungen auf der Stelle treten muß...“ In der Bordkantine, deren Wandautomatik mehr und Besseres bot als das modernste Hotel der Welt, hob sich die Stimmung ein wenig. Trotzdem gab es nur ein Thema: Die gefährdete geheime Nordpol-Unterwasserstadt Gigantopol mit Sicherheits-Ingenieur General Brain und seinen dreihundert Männern. „Ihr wißt ja“, sagte Professor Charivari, „das unbekannte Wesen, das wir Ragamuffin genannt haben, verfügt über Kräfte, die sich unserer Erfahrung (und damit auch unserer Technik) entziehen. Ich glaubte, seine Unguts-Strahlen längst abgeblockt zu haben, und nun - ihr habt´s gehört - setzt er sie mit zusätzlicher Eisgedankenkälte in geradezu mörderischer Ballung ein. Die Eisgedanken-Schußkanäle sollen meterweite Durchmesser haben. Dafür schwanken Brain s Angaben, wie Biggs mir sagte.“ „Wie ist die U-Stadt Gigantopol geschützt?“ fragte Superhirn. „Gigantopol steht auf einem Rund-Fundament“, erklärte der Professor. „Auf diesem Fundament unter Wasser - erheben sich drei enorme, halbkugelförmige Blasen, die das leergepumpte und mit Luft versorgte Innere umschließen: erstens die Hauptkuppel, sodann die beiden Schutzkuppeln 2 und 1. Alle Kuppeln bestehen aus spezieller Gallerte, einer besonderen, von uns entwickelten Panzermasse, die zwar federt, aber von keiner Schuß- oder Sprengkraft beschädigt werden kann. Selbst U-Boote mit Atom-Torpedos können die Hüllen nicht durchbrechen. Ebensowenig wie die stärksten Wasserminen!“ „Aber der Ragamuffin, der im Erdinnern hockt...“ Prosper würgte an seinem gebackenen Schinken, „... der Ragamuffin hat Gigantopols Schutzhüllen d-d-durchstoßen ...“ Charivari stand jäh auf. „,Ich muß in den Befehlsraum“, sagte er knapp. Superhirn, Gérard, Prosper und die Geschwister folgten ihm. Sie sahen, daß der Professor eine Leuchtkarte des Nordpolgebiets in der rechten Wand hatte erscheinen lassen. Rechts, etwas unterhalb des Nordpols, blinkte ein grüner Punkt. „Station Gigantopol“, erklärte Charivari. „Position: 88 Grad nördlicher Breite, 89 Grad östlicher Länge. Die Unterseestadt liegt - in einem Gebiet, das von Forschungsreisenden bisher wenig erkundet
worden ist. Sie hat mehrere Frühwarn-Geräte, die sie auf Außenkursen umkreisen und Annäherungen von Gegenständen (und Strahlen) rechtzeitig melden. Die Frühwarngeräte machen es möglich, Schiffe und sogar auch Flugzeuge zum Ausweichen zu zwingen, und zwar durch Vortäuschung von Unterwasserturbulenzen und durch Armaturen-Beeinflussungen.“ Er trat an den Befehlstisch und rief seine Geheimstation im Weltall. In der anderen Wand erschien das Bild von Biggs. „Die beiden Hilfs-Erdschiffe startklar?“ fragte Charivari. Jm Gegenteil!“ erwiderte Captain Biggs. „Durch geforderte Übereilung hat es weitere Pannen gegeben. Brisanto und Rasanto vor übermorgen keinesfalls einsatzfähig!“ Charivari strich sich nervös den Strippenbart. „Und was meldet Brain aus Gigantopol?“ „Nichts“, sagte Biggs düster. „Absolut nichts!“ „Stellen Sie Querverbindung über mehrere Satelliten her!“ befahl der Professor heiser. Doch der Giganto erreichte die U-Stadt Gigantopol nicht mehr. Weder auf indirektem noch auf direktem Funkweg. Biggs meldete sich wieder aus dem Weltall: „Schätze, Gigantopol ist vernichtet. Machen wir uns nichts vor, Professor. Geben wir General Brain und seine Männer verloren!“ Da rief der Professor Charivari so verzweifelt, wie ihn die jungen und das Mädchen noch nie erlebt hatten: „Wie kann ich meine Leute aufgeben? Wie kann ich General Brain aufgeben? General Brain ist Superhirns Vater ... !“
7. Schiffbruch in der Erde Keiner im Befehlsraum glaubte, recht gehört zu haben. Am wenigsten Superhirn! Sein Vater ... Sein Vater, der Franzose war - der sich seit eineinhalb Jahren zu Forschungszwecken in Amerika aufhielt, von Zeit zu Zeit auf Urlaub kam (den seine Firma nur befristet freigegeben hatte), dieser Mann sollte „General“ sein und unter fremdem Namen die Geheimstation Professor Charivaris leiten „Es stimmt“, sagte Charivari müde. Normalerweise hätte er über die verständnislosen Gesichter seiner jungen Freunde gelächelt. Doch die entsetzliche Lage bewirkte das Gegenteil. Kaum hörbar, mit reuevoll schwankender Stimme, erklärte er: „... Brain ist englisch - und heißt: Gehirn. General Brain ist unsere Bezeichnung für das Oberste Gehirn. .. nämlich das der U-Stadt Gigantopol...“ Er ächzte und fuhr fort: „Als ich Superhirn kennengelernt hatte, begann ich, mich für seinen Vater zu interessieren. Das lag nahe. Ich dachte, wenn der Sohn so überaus gescheit ist, braucht es sein Vater nicht minder zu sein. Also setzte ich mich mit ihm in Verbindung, und - um es kurz zu machen: Es kam zu einer geheimen Zusammenarbeit. Niemand, weiß, wer General Brain in Wirklichkeit ist. Aber daß es für Gigantopol keinen tüchtigeren Sicherheits-Ingenieur geben konnte, war von Anfang an jedem klar.“ „Wa-wa-was machen wir nun?“ stammelte Prosper. „,Das wollte ich euch fragen“, erwiderte Charivari. „Was mich betrifft, so nehme ich den Kampf gegen den Ragamuffin allein mit Erdschiff Giganto auf Ebenso führe ich die Rettungsaktion für General Brain und seine Männer ohne Verstärkung durch. Auf die Erdschiffe Rasanto und Brisanto kann ich nicht warten, und ob die ganze Sache schon verloren ist, kann selbst Biggs nicht mit absoluter Sicherheit wissen.“ Superhirn nickte. Er hatte sich völlig gefaßt. Es war ihm auch nur recht, daß der Professor nach wie vor von General Brain sprach - und nicht von Superhirns Vater. Es kam jetzt mehr denn je darauf an, einen klaren Kopf zu behalten. „Ich bringe euch zurück nach Monton und nehme dann Kurs auf Gigantopol“, sagte Charivari. Aber da erhob sich ein Sturm der Entrüstung unter der jugendlichen Besatzung. Sogar der Pudel jaulte auf - obwohl er doch nichts verstand! „Ich bleibe an Bord!“ rief Superhirn „Wir auch ... !“ schrie Tati. „Freunde läßt man nicht im Stich. Jetzt hab ich erst recht keine Angst
mehr! Wer zurück will, ist ein Schuft` „Ja, ein Schuft ... !“ echote Micha gellend. „Klar!“ bekräftigte Gérard. „Wär doch ge-ge-gelacht, wenn wir den Professor jetzt im Stich ließen!“ schnaufte Prosper. Henri klopfte Superhirn auf die Schulter: „Wenn unser Professor Schiffe bauen kann, die durch die Erde flutschen - dann wird er auch mit dem Ragamuffin fertig. Und was heißt gefährlich? Zählt man die jährlichen Verkehrsunfälle zusammen, so begreift man: Oben ist man auch nicht gerade sicher!“ Superhirn nickte wieder schweigend. Charivari trat an die Befehlsplatte und rief die Raumstation Monitor. Er verständigte sich mit Captain Biggs: „Nehme Kurs auf Gigantopol, Position Nordpolar-Meer - heißt auch Nördliches Eismeer - UStadt 88 Grad nördlicher Breite, 89 Grad östlicher Länge. Unterbrechen Sie jeden Funkkontakt mit mir. Warten Sie auf Wiederaufnahme durch mich!“ „Halt!“ rief der ferne Biggs. „Eben wird mir ein Zettel gereicht. Neueste Meldungen. Um Himmels willen, Professor! Der Boß aus der Erde ... dieser Ragamuffin, schießt jetzt ganze Fächer eisiger Gedankenstrahlen!“ „Woraus schließt man das?“ „Wir haben über Satelliten einen Funkspruch aufgefangen: Das amerikanische Atom-U-Boot Barracuda hat bei Kap Barrow einen Streifschuß abgekriegt - nicht ortbares Geschoß, heißt es. Der Kommandant erhielt bereits Befehl, sich aus der Polarkreis-Zone zurückzuziehen, und zwar durch die Beringstraße, die Beringsee, in Richtung auf Dutch Harbor, Aleuten-Inseln!“ „Noch was?“ „Azorengebiet meldet M. S. Molino - ein Spanier - Treibeis!“ Charivari strich sich heftig den Strippenbart: „Kap Barrow ... und Azorengebiet! Mehr als sechstausend Kilometer Differenz. He, Biggs! Meinen Sie, daß es sich um richtiges Eis handelt?“ „Unser Ozeanologen- und Meteorologen-Team auf Monitor wertet die Meldungen aus“, erwiderte der Captain. „Aber nach den ersten Geschehnissen auf Gigantopol - und nach Beschuß unserer Gedanken-Empfangsanlage war unserem Krisenstab klar: Der Ragamuffin-Staat in der Erde schießt selber keinesfalls mit Eis. Nur seine Gedankenströme sind eisig kalt und gewaltig. Durch die Erde sausen sie sicherlich als unsichtbare Geschoß-Säulen, falls sie einer in der Erde überhaupt beobachten wollte, das heißt natürlich: könnte!“ „Ist mir klar. Weiter!“ forderte Charivari ungeduldig. „Nur im Zusammenhang mit Luft, Luftfeuchtigkeit und Wasser bilden diese Gedankenströme Eis“, fuhr Biggs fort. „Da wir in unserer Weltraumstation Luft mit dem nötigen Feuchtigkeitsgehalt haben, kriegten wir unseren Teil über die Gedanken-Empfangsanlage mit. Seit die zertrümmert ist, kann uns der Ragamuffin nicht mehr schaden. Schließlich sind wir im Weltraum - und nicht auf dem Meeresgrund, wie der arme Brain.“ „Schon gut“, unterbrach Charivari. „Das alles dachte ich mir längst. Falls weitere Funkmeldungen von Seeschiffen kommen, stellen Sie die Texte mit Standorten und Uhrzeiten zusammen. Geben Sie mir die Liste später durch. Ende!“ Der Professor schaltete den großen Fahrtenschreiber des Giganto ein: Das war ein schwach schimmernder „Lichtball“, durch den man hindurchgreifen konnte. Er stellte die Erde dar. An der Oberfläche zeichneten sich die Erdteile ab. Ein rotes Pünktchen markierte den Giganto, seinen Standort im Erdinneren - und seinen Kurs. „Wir gehen auf fünfhundert Meter Tiefe“, erläuterte Charivari. Alle sahen, wie das rötliche Pünktchen sich in rasender Fahrt auf den Nordpol zubewegte. Das heißt: Dieses Pünktchen war gar nicht schnell, es gab einem nur die Vorstellung davon, in welch irrsinnigem Tempo der Giganto durch die Erde „sauste“. Micha blickte auf die riesige, leuchtende Wandkarte: „Wie viele Pole gibt's denn eigentlich?“ fragte er. „Ich kenne nur den Südpol und den Nordpol. Hier lese ich aber was vom Geographischen Nordpol, vom Magnetischen Nordpol, vom Kälte-Pol und vom Unzugänglichkeits-Pol!“
Superhirn half dem Kleinen: „Der Geographische Nordpol ist der nördlichste Schnittpunkt der Umdrehungsachse, also der Zipfel auf der Mitte der Eismeer-Mütze, die die Erde auf dem Kopf trägt. Der Magnetische Nordpol liegt ungefähr nördlich von Resolute, Kanada. In der Kompaßtechnik muß man diese Abweichung berechnen! Der Kälte-Pol hat mit dem Nordpol und mit dem Nordpolar-Meer eigentlich nichts zu tun: Du siehst, er ist auf Land verzeichnet, in Sibirien. Dort findest du die kälteste Stadt der Erde: Werchojansk.“ „Und was bedeutet Unzugänglichkeitspol'?“ fragte Micha. „Der liegt ein hübsches Stück vom eigentlichen Nordpol entfernt, grob gesagt: Richtung Alaska. Unzugänglichkeitspol hat nichts zu bedeuten. Eine Bezeichnung aus der Zeit, als man da mit Schlittenhunden nicht vorankam.“ Superhirn wollte noch etwas sagen, aber da gab es einen mörderischen Ruck, der die gesamte Besatzung zu Boden warf Über alle Lautsprecher meldete eine künstliche Stimme aus der Betriebszentrale des Giganto: „Außentemperatur 118 Grad minus ... Außentemperatur 200 Grad minus ... Außentemperatur 202 Grad minus...“ Der Professor raffte sich auf, warf sich förmlich über die Bogenplatte und programmierte Kursänderung. Loulou winselte jammervoll. Die junge Besatzung hockte auf dem Boden und beobachtete wie gebannt den Fahrtenschreiber. Der rötliche Lichtpunkt, der den Giganto darstellte, stand - und bewegte sich dann ganz langsam rückwärts. Über Mikrofon fragte Charivari hastig die Außentemperaturen ab. Die künstliche Stimme nannte laufend „steigende“ Werte, über Null und höher, immer höher, bis sie für das Erdinnere und den Giganto normal waren. Der Professor atmete auf Superhirn, Tati, Henri, Prosper, Gérard und Micha rappelten sich hoch. Micha bestürmte Charivari mit Fragen. ,Per Ragamuffin hat uns einen seiner Eisgedanken-Schüsse vor den Bug gesetzt“, erklärte Charivari. „Getroffen hat er uns nicht. Was dann passiert wäre, weiß ich nicht. Mir machten schwankende Werte - die ich hier auf der Bogenplatte ablas - bereits Kopfschmerzen. Aber der plötzliche Kältesturz hat mich glatt überrumpelt.“ „Aber warum der Ruck, wenn uns kein Kältestrahl getroffen hat?“ wollte Henri wissen. „Die Saugdüsen sind gleichzeitig Fühler`, sagte Charivari. „Kältegrade von über 200 minus nehmen sie nicht an!“ Er überlegte: „Trockeneis, also Kohlensäure-Schnee, hat 118 Grad minus. Bei 273,16 Grad minus liegt der absolute Nullpunkt. Wenn der absolute Nullpunkt erreicht ist, bewegt sich nichts mehr. Nichts, nichts, nichts ... kein Atom. Dann gibt's auch keine Flüssigkeiten und keine Gase mehr...“ „Sie überlegen, ob der Ragamuffin Gedankenstrahlen von solcher Kälte abschießen kann?“ fragte Superhirn. Seine Stimme klang gepreßt. Bevor der Professor antworten konnte, meldete sich wieder die Maschinenstimme aus der Betriebszentrale: „Leck im Schiff! Giganto-Backbordwand-Außenhaut ... Leck im Schiff...“ Diesmal stand der Professor selber, als sei er zu Eis erstarrt. Leck im Schiff ... ???“ Das bedeutete für den Giganto in dieser Tiefe-Schiffbruch in der Erde... Charivari gab entsprechende Meldung an Raumstation Monitor. Aber wer konnte dem Giganto jetzt noch helfen? 8. Suche nach verschollener U-Stadt Während die Giganto-Besatzung noch dabei war, ihre entsetzliche Lage zu begreifen, spielten sich nicht minder schreckerregende Zwischenfälle an der Erdoberfläche ab. Beim Anflug auf Island wurde dem Postflugzeug, das von Kopenhagen kam und auf die Minute genau, nämlich 11.23 Uhr, die Funkverbindung mit der Küstenstation 2 S b aufnahm, von unten her - aus der
See heraus - die rechte Tragfläche abgerissen. Die Maschine (Kommandant Flugkapitän Sumar) schrammte ab. Er, sein Copilot und der Posthalter - die einzigen, die sich an Bord befanden - konnten von einem Fischereifahrzeug gerettet werden. Etwa zur gleichen Zeit, nach der Weltzeituhr drei Stunden früher, traf gänzlich unvermutet den 29.353-Tonner „Emperor“ auf dem Atlantik - Richtung New York, von Liverpool, Großbritannien, kommend - ein Schlag, wie ihn die Seeleute noch nie erlebt hatten: Die „Emperor“, Baujahr 1938, Passagierschiff der Luxusklasse, gehörte einer Größenordnung an, die man ehemals zu den sogenannten „Ozeanriesen“ zählte. König Georg VI. hatte das Schiff getauft, da er zu jener Zeit selbst ein „Emperor“, ein Kaiser, nämlich der von Indien, war. Doch die wechselvolle Geschichte des so stolzen weißgoldenen Schwans war nicht glücklich verlaufen. Ein Brand im Frisiersalon hatte Schlagzeilen gemacht, wegen eines Ruderschadens mußten sämtliche Fahrgäste einmal auf hoher See ausgebootet und von anderen Schiffen übernommen werden, zuletzt war die „alte Tante“ nicht mehr gefragt, und nun befand sie sich auf dem Weg nach den USA, um dort verschrottet zu werden. Chefingenieur Wilson hatte sich eben einen Becher Tee bringen lassen ... Eine trübe Reise, dachte er. Im ruhigen Gleichklang liefen die Maschinen ... Das Leben pulsierte noch im Bauch des Kastens. Oben aber war alles tot. Rauchsalons, Theater, Kino, Turnräume, Küchen, Konditorei und Bäckerei, Spiel-Zimmer für Kinder, Speisesäle, Schwimmbad, Ballsaal, Bars, Büchereien, Schreibzimmer, Bäder und Schönheitssalons und die vielen Fahrstühle ... wer brauchte das jetzt noch? Mit grimmigem Humor dachte Chefingenieur Wilson eben daran, daß man im Jahr 1953 das gesamte Schiff extra noch einmal umgebaut und alles, aber auch alles feuersicher gemacht hatte. Aus Holz bestanden lediglich noch die fest angebrachten Klaviere und ... die Fleischklötze im Küchentrakt ... Plötzlich hörte Wilson ein fremdes, dumpfes Geräusch. Ein Gegenstand von der Größe eines Tennisballes sauste schräg nach oben, riß bewegliche und unbewegliche Maschinenteile aus Lagern und Fugen und durchbrach die Einstiegsplattform und den C-Deck-Boden etwa zwischen Foyer und Fahrstuhlschacht, bugwärts zum Anrichte-Raum hin. Keine Zeit, die Art des Geschosses festzustellen. Die herumwirbelnden Teile verursachten immer schwereren Schaden. Ein furchtbarer, unregelmäßig auftretender metallischer Mißton verriet zudem Wellenbruch. Ohne Befehl von der Kommandobrücke abzuwarten, lief Wilson zum Pult und drückte: „Alle Maschinen stopp!“ Sein zweiter Ingenieur, Tovey, kam eilig heran: „Wasser im Schiff, Sir!“ meldete er total verstört. „Unterden Hecktanks muß was geborsten sein. Ich...“ Wilson winkte ab. Er telefonierte mit dem Kapitän. Was sich dabei herausstellte, ließ ihn immer größere Augen machen. Die sonderbare Kugel hatte schräg aufwärts drei Viertel des „Ozeanriesen“ durchschossen, hatte mithin F-Deck, E-Deck, D-Deck, C-Deck, B-Deck, A-Deck, Hauptdeck, Oberdeck, Promenadendeck, Sonnendeck, Funktionsaufbauten und den vorderen Schornstein glatt durchschlagen - und die Spitze des Radarmasts weggerissen. Noch während des Telefonats erfolgte der zweite „Treffer“, diesmal eine Art Blattschuß, der das ganze Schiff erschütterte. Der Kapitän brach das Gespräch ab. Statt dessen meldete sich der Zweite Brückenoffizier: „Mensch, Wilson!“ rief er heiser. „Der ganze Bug ist weg! Vom Flaggenstock bis zum vorderen Ladegeschirr! Wir werden kalte Füße kriegen. . „Leck im Schiff!“ Droben, auf dem Atlantik, wurden die Rettungsboote klargemacht. Die angeschlagene „Emperor“ funkte Notrufe. Vom Erdschiff Giganto, fünfhundert Kilometer unter der Oberfläche im erdrückenden Gestein, konnte man keine Rettungsboote aussetzen. Jeder Notruf wäre sinnlos gewesen. Die beiden anderen Erdschiffe waren ja nicht einsatzbereit. Und welche Hilfe konnte die Raumstation Monitor der Giganto-Besatzung bringen.. .? „Es hat uns also doch erwischt!“ murmelte Professor Charivari. Er bediente sämtliche Kontrollplättchen mit geradezu grotesker Schnelligkeit: „Aber es ist nichts zerbrochen. Kein
Aggregat, kein Gerät, keine einzige der Tausende von Anlagen in den Wänden zeigt Ausfall an.“ „Ich verstehe nur nicht“, sagte Superhirn ganz ruhig, „warum es keinen Vor- und keinen Hauptalarm gegeben hat. In solchen Fällen leuchten doch alle Giganto-Räume in greller Signalfarbe! Außerdem kreischen Sirenen, rasseln Klingeln und so weiter ... Dann ist doch der Teufel los!“ ..Hm!“ Der Professor ließ kein Auge und keinen Finger von der Befehlsplatte: „Ich erkläre mir das so“, erwiderte er. „Der Eisgedanken-Strom lag vor uns wie eine Barriere, also wie ein Riegel. Gleichzeitig muß uns seitlich ein kurzer, einzelner Gedankenstoß getroffen haben. Das hat die AlarmAutomatik verwirrt. So meldete die Maschinenstimme dann erst den Grund für einen Alarm, der gar nicht gegeben worden war.“ Tati, Gérard, Prosper und Micha starrten auf die Backbordwand. „Man sieht nichts von dem Leck“, hauchte Tati. Gérard war gelblich-blaß, als hätte man sein Gesicht in einen besonderen Puder getaucht. Er schwieg. „Wenn der Giganto aufbricht, was kommt denn dann hier rein?“ krächzte Micha. „Laß den Professor mit Fragen in Ruhe, er hat zu tun!“ mahnte Henri. Auch er war ruhig. Plötzlich stand Prosper mitten im Raum. Er drehte sich um wie ein Kreisel: „Ich...“ stammelte er, „ich will hier raus, will hier raus, will hier raus...“ Und auf einmal begann er wie ein Wilder zu schreien: „Ich will raus! Laßt mich raus!“ Henri trat auf ihn zu und versetzte ihm einen gezielten Kinnhaken. Prosper stürzte rücklings zu Boden. Dann hockte er sich auf, hielt die Hände vors Gesicht und wimmerte nur noch. „Richtig“, murmelte Superhirn, der jetzt neben Charivari stand. „In der Raumfahrt wird das auch empfohlen - bloß die wenigsten wissen es: Wenn einer plötzlich durchdreht, ist er außer Gefecht zu setzen. Natürlich mit harmlosen Mittelchen, Beruhigungsspritze, und so.“ Nun, Henris „Boxhieb-Beruhigungsspritze“ wirkte Wunder. Prosper erholte sich zusehends. „Entschuldigt, bitte“, kam es über seine Lippen. Inzwischen hatte Professor Charivari einen Entschluß gefaßt: „Wir setzen ein Arbeitsboot aus“, sagte er. „Wie...?“ Tati machte einen langen Hals. „Arbeitsboot ...?“ Sie stellte sich ein altes Ruderboot voller Schraubenschlüssel, Farbtöpfe, Kabel und Lattenstücke vor, wie sie's im Hafen von Monton gesehen hatte. „Das Ding ist genauso technisch übermodern wie der Giganto selber, nur viel kleiner“, lächelte Charivari schwach. „So. Ich gehe jetzt langsam bis auf fünfzig Meter hoch. Vielleicht gelingt es mir, den Meeresboden zu erreichen. Dann wäre die Arbeit ganz einfach.“ Es herrschte Schweigen, als sei kein Mensch (und kein Pudel) im Kommandoraum. Nicht mal der Hund tat einen Muckser. Plötzlich färbten sich die Wände schwefelgelb. Die Alarmsirene setzte ein. Sie heulte und kreischte wie ein ganzer Käfig fremdartiger Riesenvögel. Gleichzeitig rasselte und klingelte es überall wie besessen. Dann tönte die Automatenstimme aus der Betriebszentrale: „Leck verbreitert sich ... Leck verbreitert sich ...“ Charivari stellte Alarmanlage und Stimm-Automatik ab. „Sechsundfünfzig Meter unter der Erdoberfläche. Besser als nichts. Der Druck ist wenigstens nicht mehr so stark wie weiter unten! Los, Superhirn, wir sausen im Lift zum Geräteraum. Ich habe alle Reserve-Energie dazu benutzt, um rings um den Giganto einen abgekühlten Hohlraum zu schaffen. Eine Art Werkstatt-Garage, die ich mit Luft füllte. Das muß genügen, um das Leck zu finden und abzudichten.“ Er gab Henri ein paar Anweisungen, fand auch noch zuversichtliche Worte für die anderen - und stürzte mit Superhirn zum Fahrstuhl. Vom Geräteraum aus hatten sich Charivari und Superhirn im kleinen, torpedoähnlichen Arbeitsschiff Mini-Gig durch verschiedene Schleusen nach außen geschoben. Der Mini-Gig wirkte im Vergleich zum Erdschiff Giganto fast wie eine Hornisse. Doch das
Arbeitsschiff besaß eine Bugkanzel, durch deren Spezialkunstglas-Panzerhaube beide Insassen gute Sicht hatten. Tatsächlich umfing den stehenden Giganto jetzt ein Hohlraum. Charivari, der hinter Superhirn saß, ließ seinen Stabscheinwerfer aufleuchten. Diese Lampe hatte die Lichtstärke eines Leuchtturms. Gespenstisch ragte neben dem winzigen Mini-Boot die Wand des „schlafenden“ Giganto-Ungeheuers. „Da! Das Leck!“ rief Charivari. Er fuhr mit dem Mini-Gig eine scharfe Kurve und pirschte sich von unten wieder an die hohe und mächtige Erdschiffswand heran. Superhirn saß mit dem eingebauten Schweißgerät bereit. Der „Zick-Zack-Kratzer“ in der Giganto-Außenhaut wirkte wie eine Todeswarnung, die eine unbekannte Macht mit einem Riesen-Daumennagel geritzt hatte. Nach den Weisungen Charivaris bediente Superhirn das Schweißgerät. Bläulich, gelblich, rötlich zuckte es durch eine nie vorher erlebte Nacht. Superhirn tastete sich mit dem Schweißstrahl immer höher, dorthin, wo die Ausläufer des Kratzers noch schwarz zu sehen waren. „So“, sagte der Professor. „Geschafft! Wir müssen zurück. Der künstliche Werkstatt-Hohlraum wird nicht lange halten!“ Und wirklich: Charivari und Superhirn waren kaum wieder in der Befehlszentrale eingetroffen (wo sie mit Begeisterungsgeschrei und freudigem Gebell begrüßt wurden), da zeigte ein Blick auf die Bogenplatte den Zusammenbruch der eben noch vorhandenen „Garage“. Wenigstens gab es aber keinen Alarm mehr. Nach Abfragen aller Geräte setzte Charivari das Erdschiff in Bewegung: Tiefe: dreihundert Kilometer, Kurs: neuerlich auf die zerstörte U-Stadt Gigantopol. ..Wie kommt es, daß der Giganto, der doch die enormsten Drücke und Hitzegrade aushalten kann, durch Eiseskälte verletzbar ist?“ fragte Henri. „Das Erdschiff ist für jede Temperatur gebaut“, erklärte der Professor. „Wenn aber so extreme Hitze- und Kältegrade gleichzeitig auf den Rumpf einwirken, bilden sich mechanische Spannungen. Solche Spannungskräfte ... hm, derart ungleicher Art - die können der Giganto-Außenhaut schon was antun.“ Er blickte auf: „Superhirn, geh mit den anderen in die Bordkantine. Henri behalte ich hier. Er kann später essen.“ Um 23 Uhr Giganto-Bordzeit, nahe der Position 88 Grad nördlicher Breite, 89 Grad östlicher Länge, tauchte das Erdschiff aus dem Meeresboden auf Die U-Stadt Gigantopol war verschwunden. Charivari ließ ein anderes Beiboot ausfahren, ein kleines Giganto-Unterseeboot. Mit dem suchte er in Abständen - vierundzwanzig Stunden lang den Meeresboden ab, weit unter den oben treibenden Eisschollen des Polarmeeres. Vergeblich. Die Giganto-Besatzung war so entmutigt und erschöpft, daß kaum einer Kraft oder Lust hatte, zu sprechen. Selbst Superhirn war am Ende. „Legt euch erst mal hin und schlaft. Dann sehen wir weiter!“ sagte Charivari. Die Jungen und das Mädchen wußten nicht, wie lange sie wie bewußtlos in ihren Kojen gelegen hatten. Als Tati - trotz der Dusche noch schwankend auf den Beinen - blinzelnd nach unten fuhr, sah sie die seitliche Klapptür geöffnet: Sie diente gleichzeitig als Treppe ins Freie. Tati sah den Professor unten auf festem Land auf einem Stein sitzen. Die Sonne schien. Frische Luft drang ihr entgegen. Sie hörte muntere Vogelschreie. Kurz entschlossen flitzte sie ebenfalls hinunter. „Hallo, Professor! Wo sind wir?“ ,Auf einer unbewohnten Insel bei den Lofoten, Nord-Norwegen“, erwiderte Charivari. „Bist du so gut und weckst die anderen? He, und jeder soll sich einen Becher Kakao oder Tee mitbringen. Für mich bitte einen starken Tee!“ Als alle auf Steinen und Stubben um Charivari herumsaßen und ihre Getränke schlürften, sagte Prosper: „Wenn man in den Himmel guckt oder auf das Meer, mit den Inseln - und auf die Berge an der Küste -, dann möchte man meinen, alles wär nur ein schlimmer Traum gewesen!“
Gérard nickte: Er blinzelte in den blauen, wolkenlosen Himmel und drehte sich zu den fernen Bergkuppen um, deren Eisgipfel in der Sonne hellviolett, zartgelb, bläulich und rötlich schimmerten. „Hier möchte ich mal zelten“, murmelte Henri. ..Ich auch!“ rief Micha. Tati nickte. Sie beobachtete den Pudel, der ahnungslos-lustig herumsprang. Nur Superhirn schwieg. Genau wie der Professor war er jetzt wieder ganz bei der Sache. Charivari hatte ein Feld-Pult aufgeklappt vor sich, und zwar mit befestigter Schreibauflage, damit sie der Wind nicht davonwirbeln konnte. Er nestelte an einem Apparat, den er wie ein Fernglas um den Hals trug. „Ich bin so weit aus der Gefahrenzone rausgegangen und hier aufgetaucht, um Meldungen von der Weltraumstation Monitor einzuholen“, erklärte er. „In der Erde, vom Giganto aus, hab ich das aus Sicherheitsgründen vermieden.“ „Und Sie werden Biggs auch sagen ... daß ... daß Gigantopol mit ... mit General Brain und seinen Leuten ver-ver-verschollen ist?“ druckste Prosper kläglich. Alle schwiegen. Superhirn machte sich nichts vor. Da die Nordpolar-Eismütze kein Festland war (wie die Antarktis um den Südpol herum), sondern allenfalls eine Kappe mit Riesenlöchern - aber ohne festen Halt, driftete sie. Die mehr oder weniger großen Eisschollen oder Eisfelder wanderten gemächlich um den Pol herum. Wenn der Ragamuffin also die Station zersprengt hatte, war es möglich, daß die eingeeiste Besatzung Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte um den Pol kreiste, bis sie eines fernen, fernen Tages vielleicht durch eine Strömung in den Atlantik getrieben werden würde. Dort, im wärmeren Wasser, würde sie auftauen. Zu spät ... Krächzend meldete sich in Charivaris kleinem Gerät die Stimme Captain Biggs: „Hallo, Professor! Hatten Sie schon verloren geglaubt. Alles okay?“ Charivari gab einen kurzen, präzisen Bericht, vor allem darüber, daß die U-Stadt Gigantopol verschwunden war. „Kann nicht sein“, tönte es aus dem Kästchen. „General Brain, Gigantopol, meldet sich laufend. Allerdings - und das ist rätselhaft: Er meldet sich über Normalfunk, unverschlüsselt! Jeder Fischdampfer, jedes Flugzeug, ja, jeder Amateurfunker bis nach Frankfurt am Main kann seine Notrufe empfangen!“ Superhirn und Henri waren aufgesprungen. Tati kam vor Verblüffung nur langsam hoch. Schließlich standen auch Gérard. und Prosper. Und als Micha die Nachricht so recht begriffen hatte, rannte er mit dem Pudel um die Wette: „Hurra ... ! Gigantopol ist gerettet! Superhirns Vater lebt!“ „Still!“ mahnte Tati. „Jubeln können wir längst noch nicht.“ „Nie erklären Sie sich, daß U-Stadt nicht mehr auf alter Position ist?“ fragte Professor Charivari. „Unser Krisenstab meint, eine Eisgedanken-Strahlensalve hat die angeschlagene Station versetzt. Gigantopol muß jetzt weiter südöstlich stehen. Der Ausfall aller Geheimfunk-Anlagen ist durch Beschuß verständlich. Blieb also nur der Normalfunk. Letzte Nachricht, vor genau zwanzig Minuten, zwölf Sekunden, kam allerdings sehr schwach und verstümmelt. Wir verstanden nicht, ob es heißen sollte: Können uns nicht länger halten oder: Können uns ... länger halten! Zwischen den ersten und den letzten Worten war eine Störung!“ Charivari notierte alle Positionsangaben, die General Brain durchgegeben hatte, ebenso die Funktexte - ob verstümmelt oder nicht. „Was für Nachrichten liegen sonst noch vor?“ fragte er ungeduldig. Biggs' Stimme drang jetzt etwas klarer aus dem Kästchen: „Jede Menge, Professor! Jede Menge! Der Ragamuffin sollte Präsident des Olympischen Komitees werden. Oder Fußballtrainer!“ „Verschonen Sie mich mit Dummheiten!“ rief Charivari. „Ehrlich! Er hält die ganze Welt in Atem, wie nicht einmal ein Spiel um die Weltmeisterschaft! Wenn ich von dem ein Autogramm kriegen könnte. . . „ ..Schluß!“ unterbrach der Professor. Ruhiger fügte er hinzu: „Der Ragamuffin scheint mir eher ein Schachspieler zu sein. Besser: ein Pokerspieler. Was sagten Sie da von der ganzen Welt'?“ „Ich gebe Einzelheiten“, kam Biggs ,Antwort. Biggs meldete zunächst den rätselhaften Unfall des Postflugzeugs Kopenhagen-Island. Dann den
Untergang des alten Fahrgastschiffs „Emperor“ mit den durchgefunkten Begleitumständen. Besatzung sei gerettet. Eifrig machte Charivari sich Notizen. „Gestern, 20 Uhr Mitteleuropäischer Zeit, meldeten Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg, Oslo und Rom: Holländische, dänische, deutsche, norwegische und italienische Schiffe aller Art hätten seltsame Notrufe empfangen“, berichtete Biggs. „Übereinstimmend war man aber der Meinung, diese Nachrichten kämen von einem unbekannten Forschungsschiff im Nordpolarmeer. Auf eine geheime UStadt, wie Gigantopol, ist keiner gekommen!“ „Gut. Weiter!“ „Auf folgenden Flugrouten empfingen Fahrgast- und Frachtflugzeuge ebensolche verwirrende Signale Gigantopols: die planmäßige Maschine Moskau-Kopenhagen-New York. Die Maschine FrankfurtLondon-Seattle, USA. Letztere streift die Südküste Grönlands. Dann: die Maschine Damaskus-RomNew York. Und viele andere. Ich weise besonders auf die Fahrgastmaschine Frankfurt-AnchorageAlaska-Tokio hin, die über den Nordpol fliegt. Auf der Nordpolroute bemerkte Flugkapitän Brower Wolkenbänke über dem Polarmeer - zu dieser Zeit völlig ungewöhnlich. Er gab diese Beobachtung an alle Bodenstationen weiter.“ „So. Das übrige kann ich mir vorstellen“, sagte Charivari. „Eben nicht“, schallte Biggs Stimme aus dem Kästchen. „Um 7 Uhr Osteuropäischer Zeit benutzte die sowjetische Regierung in Moskau den heißen Telefondraht nach Washington. Zu dieser Zeit lag der Präsident der USA im Bett. Wir hörten das Ergebnis des Gesprächs über normale WeltRundfunkstationen: Man einigte sich auf ungeklärte Naturereignisse.“ „Und?“ fragte Charivari ungeduldig. „Kanadische Wetterstationen, wie solche in Alaska, auf Nowala-Semlja - überhaupt um das gesamte Nordpolarmeer herum, hatten ihre Regierungen längst beraten und gewarnt. Was da seit gestern morgen bereits abgebaut und verlassen wird, ist sagenhaft! Kanadische Wetterflugzeuge vom Typ Scout, die modernsten, die es gibt, meldeten, daß militärische Beobachtungs-Stützpunkte in verblüffender Anzahl geräumt werden. Aber die militärischen Einheiten der Anliegernationen haben auch versucht, der Naturerscheinung auf den Grund zu kommen: Ihrer Majestät Schiff, die Korvette Mercury, unter Lieutenant-Commander Jenkins, traf sich in der Dänemarkstraße mit der amerikanischen Fregatte Jefferson unter dem Kommandanten Ross. Beide verständigten sich angesichts der jahreszeitlich rätselhaften Eiswolken, daß sie die Verantwortung für die Besatzung nicht länger übernehmen könnten. Sie drehten ab. Ebenso zog sich der russische Eisbrecher Eugen Onegin unter Admiral Bulow zurück. Dieselbe Begründung. Im Sommer gibt es keine Wolkenbänke, keinen Nebel und keine zusätzlichen Vereisungen im Nordpolar-Raum. Da herrscht immer schönstes Wetter. Die teilweisen Wintereinbrüche lassen Uneingeweihte eine Polarkatastrophe befürchten.“ „Um so besser, wenn sich alles aus der Gegend zurückzieht“, meinte der Professor. „Ich kann die versprengte Stadt Gigantopol ohne lästige Geheimhaltungs-Maßnahmen suchen. Wir gehen an Bord, Biggs. Wir starten dicht unter dem Meeresboden bei Einschaltung aller Ortungsgeräte. Jede FunkVorsicht wird außer acht gelassen.“ Charivari ging nun ran wie der Teufel. Nur eine Stunde später hatte der Giganto Kontakt mit Gigantopol, 150 Kilometer südöstlich der ehemaligen Position. Zum Jubel der jugendlichen Besatzung meldete sich Superhirns Vater, General Brain, und sogar auf Bildschirm. „Endlich!“ grinste er erschöpft. „Aber doch schnellstmöglich, denn eben erst haben wir die BildTon-Anlage provisorisch in Betrieb genommen.“ Der Giganto wurde durch die Schleusen der versetzten und angeschlagenen U-Stadt gelotst. Die Klappe ging auf, Superhirn sauste über die Treppe seinem Vater in die Arme. General Brain, wie er von den Männern (auch vom Professor und von Superhirns Freunden) weiterhin genannt werden mußte, wirkte wie eine etwas ältere „Ausgabe“ des spindeldürren Jungen. Mit seinen fünf leitenden Mitarbeitern, dem Professor und der jugendlichen Giganto-Besatzung ging
er zur Berichterstattung erst einmal in sein Behelfsbüro. Loulou hatte dort zwar nichts zu suchen, aber er durfte trotzdem mit. Einer der U-Stadt-Ingenieure breitete eine große Karte aus, und General Brain begann zu erläutern: „Hier sehen Sie den Querschnitt der halbkugelförmigen U-Stadt Gigantopol auf dem RundFundament. Genau in der Mitte des Bodentellers erfolgte der erste Einschlag aus dem Inneren der Erde. Er ging senkrecht hoch, und zwar durch den Hohltrakt, in dem sich übereinander lediglich Plattformen befinden - und durchschlug die Gallerte-Masse der Hauptkuppel sowie die beiden Schutzkuppeln im Scheitelpunkt.“ „Moment“, unterbrach Charivari. „Wie sah das aus? Ich meine, was hat man beobachtet? Was registrierten die Frühwarngeräte?“ „Unsere Lichtblitzmesser hatten verschiedentlich aufgeleuchtet, ohne daß meine Männer die Ursache dafür feststellen konnten“, erwiderte Brain. Der Professor unterbrach ihn, um ihm und seinen Assistenten die früheren und letzten Erfahrungen und Vermutungen über Wesen und Fähigkeiten des Ragamuffin mitzuteilen. „Im Inneren der Erde kann der Bursche keine festen Eisgeschosse erzeugen“, sagte er, „sonst hätte es an der Oberfläche Aufstülpungen und Erschütterungen geben müssen. Mit keinem Wort hat Biggs erwähnt, daß irgendwo Erd- oder Seebeben vermerkt worden wären. Es handelt sich um eisige Gedankenstrahlen. die das Erdinnere ohne jegliche Erschütterung durchrast haben. Erst unmittelbar unter der relativ kalten Erdoberfläche, erst recht aber in Verbindung mit Luft, Wasser und natürlichem Eis, sind die eisigen Gedankenströme zu festen Eissäulen erstarrt. Die Nebenströme zu Eislanzen und die Rand-Stromstöße zu festen Eis-Kugeln oder Eis-Eiern.“ „Jetzt verstehe ich!“ rief Brain. „Assistent-Ingenieur Miller hat beobachtet, wie die Fundament-Mitte plötzlich von einer Eis-Scheibe von etwa einem Meter Durchmesser bedeckt war. Diese Scheibe wuchs nach kurzer Verzögerung blitzschnell zu jener festen Säule, die dann die drei Gallerte-Kuppeln durchbrach! Der Raggamuffin-Eisgedankenstrom hat also das Fundament unsichtbar durchsaust - und ist erst mit der Luftfeuchtigkeit zu einer kompakten Ramme geworden!“ Charivari nickte. „Und bei dem Hieb dieser jetzt zu fast stahlhartem Eis gewordenen Säule - von unten nach oben - ist Ihre U-Stadt ins Wanken geraten.“ „Der Hohltrakt mit den übereinanderliegenden Plattformen enthält Gärten, Autoparkplätze, Konferenzräume, Bibliotheken, Turnhallen, Freizeitgelände, Schwimmbäder und dergleichen“, warf ein Assistent ein. „Daß die stahlharte Eissäule gerade da hindurch nach oben sauste, war unser Glück. Es hat enormen Sachschaden gegeben, viele Verletzte - aber keinen Toten. Wäre das Geschoß durch die Hochhäuser mit ihren Labors, Entwicklungstrakten, Büros und Studios (oder durch die vielen Kraftwerke) gesaust - na, dann danke schön!“ „Trotzdem sind die durchschlagenen Plattformen mit allem, was darauf war, wie Granatsplitter kreuz und quer durch die U-Stadt geflogen“, stellte General Brain richtig. „Weshalb wären sonst die Funkstationen ausgefallen? Und warum hätte die Stadt samt Fundament plötzlich Seitenneigung bekommen? Ich verstehe das auf einmal ganz genau: Nachdrängende Gedankenströme geringerer Stärke haben uns dann erwischt, als das Fundament teilweise über Meeresgrund war, und als sich zwischen Fundament und Meeresboden bereits Wasser befand! Da entwickelten sich die Ströme schon unter dem Fundament zu festem Eis, zu Kompaktgeschossen.“ „Deshalb die Versetzung aus der vorigen Position in die jetzige“, ergänzte Charivari. „Aber nun zu Ihren Funksprüchen, General Brain. Wie erklären Sie die Widersprüchlichkeiten, die wir in den fortwährenden Meldungen feststellten?“ „Hm. Ich setzte sofort die Nachricht an Raumstation Monitor ab: U-Stadt Gigantopol gesprengt, Wasser-Einbruch! Als nämlich die Eissäule die drei Schutzkuppeln, die uns innerhalb des Eismeers schützen, durchstoßen hatte, rauschte von oben wie verrückt das Seewasser ein. Kein schönes Gefühl - auf dem Grund des Meeres! Die U-Stadt Gigantopol schwankte immer heftiger. Die Wassermassen vernichteten die Hauptfunkstation, dann die Hilfsstationen. Mit Not-Geräten versuchten wir, den Funkverkehr aufrechtzuerhalten, aber da gab es Pannen. Und schließlich erwischte einer meiner Leute den offenbar völlig verwirrten, dritten Funker, der mit einem selbstgebastelten Gerät
unverschlüsselte Notrufe sendete. Das war, als sich die Fachleute längst bemühten, den verschlüsselten Funk-Hauptverkehr wiederherzustellen!“ Er verbesserte sich: „Ich meine, als ihnen das schon beinahe gelungen war!“ Professor Charivari strich sich über den schwarzen Bart: „Paßt alles ins Bild“, meinte er. „Wie haben Sie dann schließlich die Lecks in den Kuppeln doch noch abgedichtet?“ Jetzt lachte General Brain. „Ich? Gar nicht! Die Lecks in der Hauptkuppel und in den Schutzkuppeln lagen im Zenit! Das war günstig - und das hat der Ragamuffin wohl nicht bedacht! Die Kuppeln sackten etwas zusammen und schlossen von selbst die Lecks! Ein Stück der Eissäule blieb hängen und bildete einen regelrechten Pfropfen!“ Jetzt lachten sogar Superhirn, Prosper, Gérard und die drei Geschwister. Charivari zeigte nur die Andeutung eines Lächelns. „Ich denke mir, hier hat sich sonst noch allerlei abgespielt” , meinte er. „Der zur Eissäule gewordene, breite Gedankenstrom aus der Erde, die ... hm ... rasende Ramme, die die Kuppel zerbrach, wird doch sicher Eissplitter zurückgelassen haben...“ General Brain blickte ihn von der Seite an: „Sie meinen, diese Splitter waren ... strahlenverseucht? Da haben Sie recht! Wer ihnen zu nahe kam, fing an zu toben. Es hat Schlägereien gegeben. Die Leute folgten meinen Weisungen nicht mehr. Erst, als ich die Eisstücke löschen ließ...“ „Danke“, schnitt ihm Charivari das Wort ab. „Völlig klarer Fall! Der Ragamuffin hat seinen Eisgedanken-Strahlen die schon bekannten Unguts-Strahlen beigemischt. Das erstarrte Eis konservierte diese Boshaftigkeitswellen eine Weile und übertrug sie auf die Gehirne. Na, ich kann mir denken, daß es auf dem gesunkenen Schiff Emperor auch zu unerfreulichen Szenen gekommen ist.“ Er fügte hinzu: „Unser lieber Ragamuffin hat eine ganze Reihe kleinerer Eisgedanken-Ströme und Stöße abgeschossen und sie in Zickzack-Winkeln hochgeschickt.“ Plötzlich fiel ihm etwas ein: „Wer der Ragamuffin ist - und wo sich seine innerirdische Machtzentrale befindet - wissen wir nicht. Ohne Zweifel ist jedoch erwiesen, daß er mir und meinen Mitwissern nachstellt, und daß er und seine Leute Menschen sind. Menschen, die nicht mit technischen Mitteln, sondern mit enormer Willensenergie arbeiten. Sie können zum Beispiel ihre Körpergröße verändern und sich verkapselt selbsttätig in die Erde hinein- und aus der Erde herausschießen.“ „Einer ist uns mal als Schachfigur begegnet“, warf Superhirn ein. „Es muß einen Zusammenhang zwischen der Eisgedanken-Idee und der U-Stadt Gigantopol geben“, überlegte der Professor. „Ich dachte gleich anfangs daran: Könnte ein geheimes MaterialZubringerschiff so einen verkapselten Vava - einen veränderlichen Spion - an Bord gehabt haben?“ General Brain und seine Männer tauschten Blicke. Endlich sagte der Sicherheits-Ingenieur: „Wahrhaftig! Nach Ankunft des letzten Zubringerschiffs entdeckten wir im Gigantopol-Fundament ein Loch, etwa wie eine Pistolenschuß-Öffnung. Wir haben den Schußkanal ausgelotet, sind aber nicht auf Grund gestoßen. Daraufhin haben wir starke Platten darübergeschweißt.“ „Dann wäre auch das geklärt“, meinte Charivari. „So. Ich werde dafür sorgen, daß Sie Instandsetzungshilfe bekommen- und daß die U-Stadt Gigantopol wieder ihre alte Position bezieht... Hm. Dieser Ragamuffin-Spion hat schlau erkannt, daß eisige Unguts-Strahlen in Luft-, Wasser- und Eiszonen fest werden und harte Geschosse bilden! Na, da wird ihn der Ragamuffin aber zum OberVava befördern müssen.“ Nach eingehender Besichtigung der Hauptschadenstellen drängte Professor Charivari zum Aufbruch. Hier war keine Zeit zum Feiern. Es galt jetzt, die Arbeit an den anderen Erdschiffen voranzutreiben und schleunigst eine großangelegte Aktion für ein stärkeres Gigantopol in die Wege zu leiten. Superhirn verabschiedete sich von seinem Vater. Tati, Henri, Gérard, Prosper und Micha gelang es, so zu tun, als wüßten sie nicht, wer der Sicherheits-Ingenieur in Wirklichkeit war. Nur der Pudel benahm sich merkwürdig. Er kniff dem sogenannten „General“ in die Hose und versuchte, ihn zum Giganto-Parkplatz zu zerren. Er winselte, als wollte er sagen: Du gehörst doch zu uns! Und hätte er die Zusammenhänge begreifen und
aussprechen können, so hätte er gerufen: Wer du bist, wissen wir alle längst! So aber machte er nur wuff, waff, wau, wau ...
Ende
Giganto meldet: Alarm im Erdball! 1. Warum bleiben die Uhren stehen? In der Nacht zum Sonntag blieben im Schloß von Monton alle Uhren stehen. Der spindeldürre Junge, den die Freunde wegen seiner Blitzgescheitheit Superhirn nannten, merkte es als erster. Er erwachte aus unruhigem Schlaf, warf sich im Bett herum und blinzelte. Unsinn, dachte er. Was hab ich da geträumt? Wir sind doch längst nicht mehr in Professor Charivaris Erdrakete! Wir sind wieder im Ferienquartier! Unten im Hafen läuteten die Glocken. Superhirn gähnte. Er fuhr sich durch die flachsfarbenen Haare und griff nach seiner Brille mit den enorm großen, kreisrunden Gläsern. Er nahm die Armbanduhr vom Nachttisch und sah nach der Zeit. Im kleinen Dachzimmer, das er mit Henri teilte, war es schon hell. Auf einen Blick erkannte Superhirn, daß die Präzisionsuhr stand. Das riß ihn hoch. Der unersetzliche und genaueste Zeitanzeiger war keine Ladenware der Uhrenindustrie, sondern eine besondere Einzelkonstruktion aus dem geheimen Erderkundungsschiff Giganto. Der Kommandant, Professor Charivari, der väterliche Freund der Feriengruppe, der ohne Wissen der fortschrittlichsten Weltgelehrten bereits „im Besitz der Zukunft“ war, hatte Superhirn diese Uhr beim letzten Giganto-Vorstoß in die Erde geschenkt. Superhirn schlüpfte in die Hausschuhe um sich im Schloß umzusehen, denn er war sehr beunruhigt. Er schlich zu Henris Nachttisch und äugte auf dessen Taschenuhr. Das war ein gewöhnliches „Ding“ mit Zeigern. Der kleine stand einen Strich rechts neben der 12, der große auf der 3. Superhirn verglich die Zeigerstellung mit den Wechselziffern auf seiner eigenen Uhr. 0.15 Uhr. Ich träume, dachte er. Superhirn nahm sein Fernglas und spähte aus dem Fenster. Im Hafen, der von hohen Felsen umgeben war, lösten sich schnittige Sportboote von den Stegen. Rotviolett stand das Morgenlicht über der Bucht. In plötzlicher Eingebung fuhr Superhirn herum. Die kleine, hölzerne Pendeluhr an der Wand! Auch sie hatte ihren Geist aufgegeben, und zwar genau um Viertel nach zwölf, wie er an der Zeigerstellung sah. Superhirn hatte allen Grund, vom Kopfhaar hinab bis zu den Fußsohlen zu erschrecken. Er, die Geschwister Henri, Tati, Micha - und die Freunde Gérard. und Prosper, waren die einzigen Mitwisser des weltraumumfassenden Plans, der sowohl die Erde als auch das gesamte Universum für die Menschheit auf friedliche Weise nutzbar machen sollte. Niemand (außer seinen Mitarbeitern) kannte Professor Charivaris Unterwasser-Werkstätten, die Entwicklungslabors im Eis der Antarktis, am Nordpol der Erde und am Mond-Pol, den selbst die Astronauten in ihren Raumkapseln noch nicht überfliegen und mit ihren Mondautos noch nicht erreichen können. Niemand wußte von Charivaris gewaltigen, selbst mit modernsten Mitteln nicht ortbaren Weltraumstationen, von seinen unsichtbaren Monitor-Raumschiffen und seiner Riesenrakete Giganto, die geräuschlos, wendig und schnell wie der Blitz ins Erdinnere vorstoßen konnte. Und jetzt waren plötzlich drei Uhren auf einmal stehengeblieben. Alle zur gleichen Zeit! Superhirn ahnte sofort den schrecklichen Zusammenhang. Wohl kannte kein Gelehrter der Welt die Mittel Professor Charivaris. Dafür aber hatte sich völlig unerwartet eine geheimnisvolle Macht im Erdinnern gemeldet, ein Volk von offenbar menschenähnlichen Wesen, straff organisiert und mit überragenden autobiologischen Fähigkeiten. Diese überenergischen Geschöpfe spionierten ausgerechnet dem Professor nach (alles andere auf der
Weit schien sie nicht zu interessieren). Und sie glaubten anscheinend, Charivaris junge Freunde könnten ihnen diese Pläne, Konstruktionen und Ziele verraten. Wie gesagt, diese Wesen hatten eine Art von Willenskraft, die den Erdbewohnern nicht eigen war. Aber sie verfügten über seltsame Vorstellungen von menschlicher Technologie. Wahrscheinlich hielten sie die jungen Freunde für die engsten Mitarbeiter des Professors und den Professor selbst für den mächtigsten Staatsmann der Welt. Ob ein „innerirdischer Spion“ hiergewesen war? Der Gedanke war komisch, aber nicht von der Hand zu weisen: Das rätselhafte Lebewesen konnte die Uhren für gefährlich-heimliche VernichtungsInstrumente gehalten und deshalb zum Stehen gebracht haben. Drei Uhren zeigten annähernd die gleiche Zeit. Der alte Pendelkasten an der Wand war immer nachgegangen! Darum stellte Superhirn ihn abends jedesmal vor, damit er morgens nicht so weit nachhinkte. Er betrachtete das Zifferblatt noch einmal aus der Nähe. Jetzt sah er, daß sie im Vergleich zu seiner Präzisionsuhr bereits um eineinhalb Minuten zurück war. Trotzdem: Sie stand. Alle drei Uhren im Zimmer standen. Superhirn rüttelte Henri an der Schulter. „He! Aufwachen!“ sagte er ihm scharf ins Ohr. „Es ist wieder mal dicke Luft!“ „Waaa. . .?“ murmelte Henri unwillig. Er wollte sich auf die andere Seite drehen. Superhirn ließ nicht locker: „Wach auf, Mensch! Putz dir die Augen blank. Ich fürchte, das wird nötig sein!“ Wie an der Strippe gezogen, setzte sich der Freund auf „Ist Professor Charivari da?“ fragte er rasch. „Nee. Aber einer seiner Feinde, wenn ich mich nicht täusche!“ Henri brauchte sich die Augen nicht blank zu putzen. Er war hellwach. „Ein Spion vom Ragamuffin?“ hauchte er. Der Professor hatte den Herrscher des geheimnisvollen Staates in der Erde diesen Namen gegeben. Es ist in der Wissenschaft üblich, auch unbekannte Erscheinungen oder ungelöste Probleme durch Symbole zu kennzeichnen. Seit einiger Zeit drangen Gehirnwellen, Gedankenströme aus dem Erdinnern: Strahlen von unvorstellbarer Stärke und Gefährlichkeit. Längst weiß man, daß menschliche Gehirnwellen mit eigens dafür konstruierten technischen Geräten meßbar sind. Gewöhnliche Forscher erzielen damit nur geringste, theoretische Erkenntniseffekte ohne praktische Bedeutung. Professor Charivari aber besaß in seinen geheimen Versuchsstationen Hirnwellen-Empfangsgeräte, mit denen er menschliche Gedanken-Impulse enorm verstärken und sogar in Schrift (also im Klartext) umsetzen konnte. Da er ein Friedenstechnologe war und alle seine Mittel und Fähigkeiten für die friedliche Erd- und Weltraumentwicklung einzusetzen gedachte, war es für ihn dringend erforderlich, über die heuchlerischen und ganz und gar nicht friedlichen Absichten mancher Staatsmänner im Bilde zu sein. Denn Diktatoren, Präsidenten, Minister in aller Welt verschleiern ihre Ziele oft. Und sehr oft reden sie anders als sie denken. Die Hirnwellen-Empfangsgeräte vermittelten dem Professor ihre neuen Waffensysteme, arglistige Vorhaben und unausgesprochene Bestrebungen der Mächtigen auf der Oberfläche unserer Erde. Daraufhin konnten Charivari und seine Geheimwissenschaftler sofort auf mannigfache Weise eingreifen und die Weichen zugunsten des Friedens stellen. Der Erdbevölkerung mit ihren Regierungen war es natürlich nicht bewußt, aus welchem Grunde und durch wessen und durch welchen Trick Kriegsgefahren verhindert wurden oder die Feuer in den sogenannten Krisenherden plötzlich erloschen. Die Gedanken-Empfangsgeräte auf dem Mond sowie in der größten Raumstation im Weltall, dann unter dem irdischen Nord- und Südpol und am Grunde der Ozeane, hatten sich bewährt. jedenfalls, was die Vorgänge auf der Erdoberfläche betraf. Da aber war plötzlich etwas Grausiges geschehen: Charivaris größte Weltraumstation, die unortbar das All durchmaß, empfing entsetzliche Gedankenströme. Hirnwellen, die ohne Zweifel „menschlichen Ursprungs“ - aber nicht zu entschlüsseln waren. Sie kamen scheinbar wirr, mit ungeahnter Hochspannung - und erzielten eine sonderbare Wirkung: Charivaris Wissenschaftler
beschimpften sich, sie gingen aufeinander los. ja, sie prügelten sich sogar. Schließlich zersprangen die Gedanken-Empfangsgeräte. Und das war ein Glück, denn sonst wären die Besatzungen von Charivaris Geheimstationen am Ende wahnsinnig geworden. Fieberhaft unternommene Peilungen ergaben, daß die furchtbaren Hirnwellen aus dem Inneren der Erde kommen mußten, aus der Machtzentrale eben jenes unbekannten Wesens, das man den Ragamuffin nannte. Und endlich schien es, als habe der Herrscher im Erdinnern begriffen, daß ihm keine Gefahr drohe, solange er sich friedlich verhielt. Aber nun standen drei Uhren in Superhirns und Henris Zimmer still. Und Professor Charivari hatte den Ferienfreunden eingeschärft: „Seid auf der Hut! Achtet auf die kleinste Merkwürdigkeit! Der Ragamuffin geht mit völlig ungereimten Taktiken vor!“ Henri blickte aus dem Fenster. „Es ist noch sehr früh“, meinte er, indem er den Himmel betrachtete. „Die Kirchenglocken rufen zum 7-Uhr-Gottesdienst. Andererseits legen die Sportschiffer schon ab, denn es scheint ein schöner Tag zu werden.“ „Sollte hier so ein Ragamuffin-Schrumpfriese eingedrungen sein, um uns über die Zeit zu täuschen, damit wir im Haus bleiben?“ murmelte Superhirn. Er schüttelte den Kopf „Unsinn! Aber es kann ein Ablenkungsmanöver sein.“ „Ablenkungsmanöver?“ „Damit wir hierbleiben und stundenlang über das Rätsel schwatzen“, meinte Superhirn. „Plötzlich taucht dann der Ragamuffin-Spion auf, bannt uns mit seinen Blicken und horcht uns über die Pläne Professor Charivaris aus!“ Superhirn nahm eine Lichtlupe aus dem Schrank. Es war ein sehr starkes Vergrößerungsglas in einem Leuchtrahmen mit Griff. Er trat an die Pendeluhr und betrachtete das Zifferblatt. „Das ist hell“, meinte Henri. „Ich seh nur ein paar Flecken!“ „Na, durch die Lupe seh ich mehr!“ erklärte Superhirn düster. „Eine ganze Menge Einstiche - wie von Stecknadeln. Hm - da sind auch winzige Schnitte, kreuz und quer, mit bloßem Auge nicht zu erkennen.“ Er griff nach den Gewichten und hatte sie sofort in der Hand. Das Pendel fiel zu Boden. Im Innern der Uhr machte es klock. Beide Zeiger rutschten kraftlos auf die 6. „Meinst du, mehrere Spione haben sich zu Stecknadelgröße verkleinert und sind in die Uhr geschossen?“ fragte Henri entsetzt. Er berichtigte sich: „In die drei Uhren! Deine Armbanduhr und meine Taschenuhr sind ja auch kaputt!“ Superhirn äugte umher. „Nein“, stellte er fest. „Es ist nur einer von den Burschen ins Zimmer gedrungen. Sieh mal zum Fenster“' „Da ist ein kreisrunder Einschuß“, staunte Henri. „Wie von einer Pistole. Und ohne Splitterwirkung.“ Wegen der Höhenlage über der Bucht und der hier herrschenden Windverhältnisse mußte man die Fenster nachts geschlossen halten, wollte man nicht dauernd von Böen geweckt werden. „Es war nur einer“, wiederholte Superhirn. „Genauso groß wie neulich die falsche Schachfigur! Die Kerle sind ihre eigenen Kraftwerke und Lenk-Geschosse. Das wissen wir ja schon von früher.“ „Und wegen der Geschwindigkeit, mit der der Bursche die Scheibe durchbrach, haben wir nicht den leisesten Knacks gehört?“ Superhirn nickte. „Der Spion hat dann gebremst wie so 'n Biest im Trickfilm und die Uhren mit Blicken durchbohrt.“ „Aber warum tat er uns nichts?“ überlegte Henri. „Und...“, er schluckte, „... wo ist er jetzt?“ „Vermutlich war er diesmal darauf programmiert, technische Dinge zu zerstören“, meinte Superhirn. „In diesem Falle speziell die Uhren.“ Er betrachtete seine und Henris durch die Lupe. Ja. Lauter Einstiche. Einstiche durch stechende Hirnwellen. Du erinnerst dich: Professor Charivari glaubt, der Ragamuffin und seine Leute machen alles mit dem Gehirn.“ „Du!“ rief Henri. „In der Tür ist auch ein Loch! Da muß der Vava rausgesaust sein! Und wir haben wieder nichts gehört! Wahrscheinlich schwirrt der Bursche jetzt im ganzen Haus herum!“ „Er muß sich lautlos wie ein Quirl durch das Holz gebohrt haben“, murmelte Superhirn. Er wurde blaß. Das war gefährlicher als er zunächst angenommen hatte. „Los, komm! Wir müssen nach den
anderen sehen!“ In ihren Pyjamas rasten beide auf den Gang hinaus. Sie dachten jetzt nur noch an eins: Was war mit Tati, Micha, Gérard und Prosper?
2. Ein Welt-Problem für Nußknacker Tati war schon auf Im Morgenmantel stand sie im Türrahmen des Zimmers, das sie mit dem jüngeren Bruder Micha bewohnte. Dort hatte auch der Zwergpudel seinen Platz in einem Körbchen. „Was ist denn los?“ fragte Tati erstaunt, als sie Superhirns und Henris Gesichter sah. „Dasselbe wollten wir dich fragen“, sagte Superhirn rasch. „Ist hier bei euch alles okay? Was macht Micha?“ „Und wie benimmt sich der Hund?“ fragte Henri. „Und wie benehmt ihr euch?“ gab das Mädchen zurück. „Ihr kommt ja gesaust wie die Feuerwehr! Bei euch ist wohl auch 'ne Schraube locker?“ „Auch?“ rief ihr Bruder Henri. „Was heißt auch?“ Er und Superhirn tauschten einen schnellen Blick. „Ach“, sagte Tati ärgerlich. „Mein Reisewecker ist kaputt. Und so ein blöder Zufall: Meine automatische Armbanduhr tut's auch nicht mehr.“ Henri und Superhirn schoben das Mädchen beiseite und drängten ins Zimmer. Micha schlief friedlich. Seine Wangen schimmerten rosig. Er mußte etwas Hübsches geträumt haben. Henri beugte sich über ihn und zog die Decke sacht vom linken Arm des kleinen Bruders. Micha trug seine Armbanduhr auch immer nachts, obwohl man ihm oft genug eingeschärft hatte, das sei nicht gesund. Michas Uhr zeigte 0. 16 Uhr. „Was soll denn das!“ zischte Tati. „Seit wann macht ihr hier Morgenvisite? Und noch dazu in Pyjamas? Ist das ein neues Spiel? Hospital - und Chefarzt und Oberarzt?“ „Uhrmacher!“ erwiderte Henri spöttisch. „Wir spielen Uhrmacher und so was. Verflixt ungemütliches Spiel!“ Er sah sich um. „Hat der Pudel irgendwann geknurrt?“ „Nein“, sagte Tati. Ihre Augen weiteten sich. „Das darf doch nicht wahr sein. Gibt es schon wieder ein Ragamuffin-Problem?“ „Erraten“, murmelte Superhirn. „Ein Problem für Nußknacker!“ „Was heißt das“' „Ein Mensch beißt sich die Zähne daran aus.“ Superhirn lief rasch ans Fenster. Er betrachtete Barometer und Thermometer, die dort hingen. Er lachte leise. „Nach Anzeige dieser Instrumente müßten wir Orkan haben - und eine Kälte von 30 Grad unter Null.“ „Waaas?“ rief Tati. „Die Dinger sind immer genau!“ „Ich sehe keine Eisbären“, grinste Henri. „Außerdem weht draußen nur ein morgendliches Sommerlüftchen.“ Superhirn blickte zum Transistor-Radio auf Tatis Nachttisch. „Hast du Zeitansage und Wetterbericht gehört?“ Tati faßte sich an den Kopf „Auch kaputt“, hauchte sie. „Ich dachte, ein blöder Zufall. Ich dachte ... Quatsch!“ sagte sie dann energisch. „Ich dachte gar nichts. Ich hab mich bloß geärgert. Wir wollten doch heute zur Ponyfarm, und da fängt der Tag so schiefgewickelt an.“ „Barometer, Thermometer, Transistorgerät!“ Superhirn legte die Stirn in Falten und äugte durch die riesigen Brillengläser. „Ich wette, nicht nur die Uhren haben was abgekriegt, sondern auch der Fotoapparat, da, auf dem Koffer!“ Micha war inzwischen aufgewacht. Und der Zwergpudel saß freudig gähnend im Körbchen. Sein Blick war putzmunter.
„Es ist ein Vava-Spion des Ragamuffin hiergewesen“, teilte Superhirn seine Beobachtungen mit. „Er hat die Uhren zum Stehen gebracht. Außerdem hat er...“ Micha sprang aus dem Bett. „Die Uhren?“ rief er. ja, wahrhaftig!“ Er glotzte auf seine Armbanduhr. „Aber was soll der Blödsinn? Hält er uns für so doof, daß wir glauben, die Zeit steht still?“ „Laß mich ausreden“, sagte Superhirn. „Der Vava hatte sicher den Auftrag, technische Geräte zu zerstören. Der dumme Bursche kennt aber kaum den Unterschied zwischen Kuckucksuhren und Radiogeräten.“ Henri lachte. „Möchte ich wetten! Er hat einfach alles mit seinen Augen durchsiebt, was er für wichtig hielt. Vielleicht hat er sich im Park sogar auf 'ne alte Mähmaschine gestürzt.“ „Das meine ich nun wieder nicht“, sagte Superhirn ernst. „Der unbekannte Machthaber in der Erde weiß sehr wohl, welche Art von Professor Charivaris Technik ihm nicht paßt.“ Und er wiederholte: „Nur das Aussehen und die spezielle Bedeutung vieler Dinge ist ihm und seinen Leuten nicht klar. Deshalb hat unser nächtlicher Besucher zum Beispiel die alte Pendeluhr, das harmlose Barometer und andere - für ihn ganz unwichtige - Geräte zerstört.“ „Aber warum?“ ertönte eine verschlafene Stimme von der Tür her. Auf der Schwelle standen der rundköpfige Gérard und der spitznäsige Prosper. Prosper stotterte erregt: „Mei-mei-meine Armbanduhr ist ka-ka-kaputt. Sie war furchtbar teuer. Ich ver-verlange Schadenersatz!“ „Na, dann nimm dir mal ´nen Spaten und grab dich durch die Erde!“ feixte Henri. „Der Ragamuffin wird dein Gesicht zu einem vergoldeten Zifferblatt machen. Übrigens eignet sich deine Nase prachtvoll für den großen Zeiger.“ Niemand lachte. Das Wort Ragamuffin hatte einen unheimlichen Klang. Und die Vorstellung, daß der verkapselte Vava-Spion noch im Schloß sein könnte, ließ alle frösteln. „Eins ist mir klar“, begann Superhirn rauh, „der Ragamuffin arbeitet an einer neuen Masche.“ „Wieso?“ fragte Tati. „Der verkapselte Spion ist diesmal nicht hergekommen, um Unguts- oder Unmutsgedanken auf einen von uns zu übertragen. Oder ist jemand schreiend aus dem Bett gefahren? Hat der Pudel auch nur geknurrt?“ „Nein ... ! „ antwortete Tati verblüfft. „Wir waren ihm nicht wichtig?“ vergewisserte sich Henri. „Nach all seinen Niederlagen wollte der Ragamuffin kein besonderes Aufsehen erregen“, überlegte Superhirn. „Wahrscheinlich hat er die Art der Hirnwellen umfunktioniert und verkapselte Spione zu den ihm bekannten Erd-, Untersee- und Raumstationen Charivaris geschickt, um die Menschen nicht gleich in Hoch-Alarm zu versetzen, sondern nur die technologischen Erfindungen zu zerstören.“ „Das olle Schloß ist - ist - ist doch kein Skylab!“ erregte sich Prosper. „Und wir - wir sind keine Raumfahrt-Ingenieure, sondern Schüler und Hunde!“ Vor Wut gebrauchte er für den Zwergpudel gleich die Mehrzahl. jetzt lachte Micha. „Der doofe Ragamuffin in der Erde muß das doch längst wissen! Wir steuern doch Professor Charivaris Geheimstationen nicht von hier aus! Womöglich mit einer Kaffeemühle!“ „Dieses Schloß wäre aber eine gute Tarn-Zentrale“, wandte Superhirn ernst ein. Dann grinste er. „Und wenn wir auch nur Schüler und Hunde sind, so sind wir immerhin Professor Charivaris Mitwisser!“ ja!“ rief Tati schrill. „Und zum Teufel mit diesem dämlichen Zufall! Als lieben, guten, alten Kauz haben wir Professor Charivari kennengelernt. Als Steinesammler. An der ganzen Küste hält man ihn für altmodisch und tolpatschig, wenn er sich mal zeigt. Und was ist er?“ „Ein Gelehrter erster Klasse, der der Menschheit tausend Jahre voraus ist“, fiel Gérard ihr ins Wort. „Und nur er hat den Staat in der Erde geweckt. Du hast recht, Superhirn: Wir sind seine Mitwisser! Wir stecken mitten drin im Salat! Und wenn wir das verraten, vielleicht sogar noch in die Zeitung bringen, machen wir alles noch viel schlimmer.“
„Dann helfen wir, die Erde zu zerstören“, warnte Superhirn. Seine Augengläser blitzten kalt. 3. In der Küche ist die Hölle los In Trainingsanzügen und Turnschuhen sausten die Gefährten die reich verzierte Schloßtreppe hinunter. Im ganzen Haus war es still. Unheimlich still. Superhirn hatte seine Leucht-Lupe in der Hand. Gérard murmelte etwas über seine kaputte Stoppuhr. Prosper brabbelte: „Und meine ist bestimmt nicht mehr wasserdicht!“ Nur der Pudel hatte keinen Verlust zu beklagen. Doch er spürte die Erregung der Menschen und hopste mißtrauisch schnuppernd mit. Die alte Standuhr in der Halle gab kein Geräusch von sich. Ihre Zeiger standen auf 0.15 Uhr. „Na, die ist uralt und hinkt immer. Da kann man machen, was man will“, sagte Superhirn. Er meinte damit, daß die Zeigerstellung keinen Anhaltspunkt darüber gab, wann sie wirklich zum Stillstand gebracht worden war. Aber das spielte keine Rolle. Die Freunde hielten sich nicht damit auf, den Schaden zu ergründen. Es gab noch mehr Uhren im Schloß Monton. Das Arbeitszimmer von Superhirns Onkel war ein kleines Uhrenmuseum. Da tickte, tackte, rasselte, schnarchte, bimmelte, gongte, klang und klingelte es gewöhnlich, daß man es schon in der Halle hörte. Heute aber war alles still. „Na, das war hier für einen Vava-Spion das reinste Fressen“, sagte Henri grimmig. Die Spieluhr, unter deren Glassturz sich sonst auf einem Porzellanrand bunte Figürchen bewegten, war auch kaputt. Die Figuren standen wie erstarrt. Und der Weltzeituhr - die keine Zeiger, sondern Zahlenrahmen und Städtenamen hatte - durfte man überhaupt nicht mehr trauen. Superhirn blickte durch seine Leucht-Lupe auf das Zifferblatt der Marmoruhr auf dem Schreibtisch. „Einstiche!“ meldete er. „Witzlos, sich alles einzeln anzusehen.“ Ja“, murrte Prosper. Er rieb sich heftig die Nase. „Du hast recht. Der Vava hat Mist gemacht. Der hat in der Eile alles Technische durchsiebt, was sich bewegte.“ „Oder was 'ne Skala hatte“, fügte Tati hinzu. „Vergeßt nicht das Thermometer, das Barometer und meinen Transistor!“ „Aber wo ist der Teufelszwerg geblieben?“ fragte Micha bange. „Der ist zurück in die Erde!“ erwiderte Henri überzeugt. „Er hat uns einen irrtümlichen PfuschBesuch gemacht. Das sehen wir. Und wenn er den Befehl gehabt hätte, uns mit Ungutsstrahlen zu verpesten, dann würden wir uns längst gegenseitig verkloppen!“ Tati zuckte zusammen. „Wir müssen nach der Wirtschafterin sehen!“ rief sie. „Ich hätte eher daran denken sollen!“ Sie stürmte mit dem bellenden Pudel in den Gang zur Küche. „Wenn der Vava uns nichts getan hat, wird er Madame Claire erst recht in Ruhe gelassen haben“, brummte Gérard. Madame Claire, die Wirtschafterin, hatte ja nicht die geringste Ahnung von den Geheimnissen ihrer Schützlinge. Selbst Superhirn erwartete, die gute Frau im blütenweißen Kittel bei der Zubereitung des Sonntagsfrühstücks anzutreffen: munter, geschäftig - und natürlich in tadellos aufgeräumter und sauberer Umgebung. Allenfalls würde sie sagen: „Die elektrische Küchenuhr steht! Und mein Minutenwecker ist kaputt!“ (Daß auch der Herd nicht funktionieren könnte, weil er eine Skala hatte, daran dachte Superhirn nicht einmal.) Doch was die Gefährten dann in der Küche sahen, wäre ihnen im Traum nicht eingefallen. Einige Gegenstände waren derartig zertrümmert, als hätte eine Granate eingeschlagen. Die rundliche
Wirtschafterin stand vor der geborstenen Kühltruhe und rührte in einer sonderbaren, schleimigen Pampe auf dem Fußboden. Sie summte fröhlich vor sich hin. Instinktiv hatte Tati den Pudel hochgerissen. Sie hielt ihn an sich gedrückt. Micha rieb sich die Augen. Gérards „Fußballkopf“ wirkte beinahe oval, so sehr war er erschrocken. Prosper schien sich am liebsten in Luft auflösen zu wollen. Nur Superhirn und Henri überwanden ihre Verblüffung sofort und musterten die Schreckensszene wie Detektive. Unermüdlich bewegte Madame Claire den Besenstiel in der schaumigen Fußboden-Pfütze. „Ich mache den Kindern Rührei“, sang sie lächelnd. „Ich mache den Kindern Rührei!“ Klar! Das schlierige, pampige Zeug auf der Erde bestand aus Eiern! Zerbrochenen, rohen Eiern! Die Schalensplitter schaukelten mit der Bewegung des Besenstiels heftig im Kreis. „Ich mache den Kindern Rührei!“ wiederholte Madame Claire heiter. Nun brauchten die Gefährten sich nicht extra darüber zu einigen, daß man Rührei mit einem Quirl, einem Holzlöffel, einer Gabel oder einem ähnlich geeigneten Gerät in der Pfanne auf dem Herd macht - und nicht mit dem Besenstiel auf dem Küchenboden. jeder begriff: Die gute Frau war verrückt geworden. Was sie da machte, war zwar tatsächlich Rührei - und so weit dachte sie noch. Nur hatte sie den Sinn für die Wirklichkeit verloren. „Ssst!“ warnte Superhirn kaum hörbar. Auf Zehenspitzen zogen sie sich alle zurück. Im Salon hielten sie „Kriegsrat“. Tati und Micha waren kreidebleich, aber sehr gefaßt. Gérard machte jetzt einen ebenso entschlossenen Eindruck wie Henri und Superhirn. „Wenn wir sie in ihrer Wahnvorstellung stören, könnte sie noch verrückter werden“, flüsterte Tati. „Ich bin zwar kein Arzt...“ „Aber du hast sicher recht“, unterbrach Gérard. „Also hat der Vava-Spion doch Ungutswellen verstrahlt“, stellte Henri fest. „Er hat Madame Claire ein paar giftige Hirnstrahlen in die Augen geschleudert. Das ist doch klar, oder?“ „Aber - warum ausgerechnet ihr? Sie hat doch keine Ahnung!“ fragte Prosper. „Madame Claire ist doch keine Astronautin. Das ist ja lächerlich!“ rief Micha gedämpft. Prosper runzelte die Stirn. „Ob da was falsch gelaufen ist? In der Küche sind viele Geräte. Kühlschrank, Kühltruhe, Geschirrspülmaschine. Einiges steht immer unter Strom und summt.. .“ Superhirn nickte. „Prosper meint, der Vava hätte - wie wir glaubten - wirklich nur den Befehl gehabt, alle Gräte und Anzeiger zu zerstören. Erster Irrtum: dies hier zu tun. Zweiter Irrtum: die Fehleinschätzung von harmlosen Allerweltsgeräten, die sich jedermann im Versandhaus bestellen kann.“ „Der dritte und der Hauptirrtum ist dem Vava-Spion in der Küche passiert“, sagte Henri. „Bis dahin hatte er nur mit durchbohrenden Gedanken gearbeitet. Erst in der Küche hat er zerschmetternde Gedanken angewendet, Gedankenblitze - oder wie immer sich das umfunktionieren läßt. Die Trümmer haben wir ja gesehen. Vielleicht hat Madame Claire ihn überrascht, da hat er durchgedreht und ihrer Seele einen Gedankenhieb verpaßt.“ Plötzlich stand die Wirtschafterin im Raum. „Wünsche euch einen schönen Sonntag“, rief sie. „Der Frühstückstisch ist auf der Veranda gedeckt!“ Die Gefährten taten, als sei alles in schönster Ordnung. Tati rang sich ein Lächeln ab. „Danke, Madame Claire! Danke!“ Die Wirtschafterin verschwand wieder in der Küche. Mit gemischten Gefühlen betraten die Jungen und das Mädchen die Veranda. „Heiliges Kanonenrohr!“ entfuhr es Gérard. „Das soll 'n Frühstückstisch sein?“ Offenbar hatte Madame Claire den Putz- und Geräteraum mit dem Speise- und Küchenschrank verwechselt. Anstelle der Teller und Tassen standen leere Blumentöpfe und Blumentopf-Untersätze vor jedem Platz. In einem offenen Schuhkarton lagen sechs Stück Seife.
„Brotkorb mit Brötchen!“ grinste Superhirn. Doch das klang keineswegs heiter. „Staublappen als Servietten!“ hauchte Tati. „Sooo!“ hörte man die fröhliche Stimme der Wirtschafterin. „Und hier ist der Kaffee.“ Sie stellte eine verzierte Wasser-Gießkanne auf den Tisch. „Das Rührei kommt gleich. Ach, ja - die Butter fehlt wohl auch noch!“ Madame Claire eilte wieder in die Küche. Die Freunde starrten einander an. „So“, sagte Tati energisch. Jetzt muß aber was geschehen! Sonst bleibt dieser Zirkus nur der Anfang.“ „Es geht bereits weiter!“ unterbrach Superhirn. „Und mit Zirkus hat das Ganze nichts zu tun. Nicht das geringste!“ „Ich wette: Keine fünf Minuten und Professor Charivari steht mit dem Erdschiff Giganto unter dem Schloßpark“, meinte Henri. „Wenn-wenn-wenn nicht, sind wir in 'ner halben Stunde sechs Verrückte, die Seife aus dem Schuhkarton fressen“, prophezeite Prosper. „Und - und womöglich das Rührei vom Küchenfußboden aufschlecken.“ „Unsinn!“ rief Tati. „Wir rennen jetzt rauf und packen! Weg hier! So schnell wie möglich! Wir nehmen nur das Nötigste mit. Keine zehn Minuten bleib ich noch in diesem Haus.“ 4. Weshalb lauert die Katze? Tati lief mit dem Pudel nach oben. Superhirn preßte die Lippen zusammen. Die anderen merkten, wie der spindeldürre Junge mit sich rang. Er setzte sich an den sonderbaren Frühstückstisch, legte die Leucht-Lupe hin und starrte auf das verrückte Geschirr. „Nein“, sagte er, „ich gehe nicht! Soll Tati wegrennen, wenn sie will. Verdenken kann ich's ihr nicht. Von mir aus könnt ihr alle fliehen.“ „Wer-wer hat davon gesprochen, dich allein zu lassen?“ entrüstete sich Prosper. Auch er setzte sich. Henri, Gérard und Micha folgten seinem Beispiel. „Ich bleibe!“ erklärte der jüngste. „Feige fliehen, nur weil 'n paar Uhren kaputt sind? Und weil sich Madame Claire 'nen Spaß mit uns macht. Das wäre ja gelacht!“ Es klang nicht sehr überzeugend. Die anderen spürten, daß er sich selbst Mut machte. Henri grinste düster. „Nur 'n paar Uhren kaputt? Und das Rührei auf dem Küchenfußboden? Bei dir hat der Vava wohl auch eine Schraube gelockert Gérard brummte: „Auf jeden Fall hat der Ragamuffin-Spion bei Madame Claire 'ne Schraube gelockert, und es wäre schuftig, sie im Stich zu lassen Superhirn nickte. „Das Schloß gehört meinem Onkel“, sagte er. „Da kann es mir nicht egal sein, wenn hier Geräte zerstört und Menschen verwirrt werden. Ich muß der Sache auf den Grund gehen.“ Er stand auf. Sofort schossen die Freunde hoch - froh, das schreckliche „Frühstück“ nicht länger sehen zu müssen. Tati erschien. Man sah, sie hatte sich hastig gewaschen und gekämmt. Um den Hals trug sie ein Handtuch. „Was steht ihr da wie angenagelt?“ rief sie schrill. „Jeden Augenblick kann das Haus in die Luft fliegen! Los, Micha, Henri! Wir nehmen den ersten besten Bus nach Sonstwohin! Nur weg von hier!“ Ruhig entgegnete Henri seiner Schwester: „An Madame Claire denkst du wohl nicht? Willst du sie weiter mit dem Besenstiel in der Eierpampe rumrühren lassen? Wer weiß, was sie in ihrem verwirrten Zustand noch alles anstellt! Die Frau braucht Hilfe!“ Tati war wie verwandelt. Beschämt sagte sie: „Klar! Daß ich das vergessen konnte! Ich - ich hab ja einen Klaps!“ Sie griff sich an die Stirn. „Entschuldigt! Natürlich muß ich Madame Claire helfen!“ Sie wollte sofort in die Küche. „Halt!“ gebot Superhirn. „Wir dürfen uns nicht wie die Hühner benehmen! Wir waren ziemlich
durcheinander. Gut. Von jetzt an gehen wir planmäßig vor.“ Die Freunde murmelten zustimmend. „Micha“, fuhr Superhirn fort, „du achtest auf den Hund. Streif mit ihm überall rum und paß auf, ob er 'ne Spur aufnimmt, ob er scheut, knurrt oder sich sonst irgendwie ungewöhnlich benimmt.“ Der flachsblonde Junge richtete seine Augen hinter den kreisrunden Brillengläsern auf Henri. „Du spielst so 'ne Art Kriminalkommissar in der Küche. Mach dir Notizen über alles, was passiert ist. Aber faß vorläufig nichts an!“ „Und was machen wir?“ fragte Gérard, womit er sich und Prosper meinte. „Ihr seid Henris Detektive“, verfügte Superhirn. Einer von euch hält außerdem ständig Verbindung mit Micha und mir. Ach ja“ - er wandte sich an das Mädchen - „du willst zwar Tänzerin werden, aber du hast schließlich einen Kurs in Erster Hilfe gemacht und gibst 'ne tadellose Krankenschwester ab. Du mußt Madame Claire seelisch behandeln!“ Das war sicher die schwierigste Aufgabe. Tati nickte stumm. „Also los!“ drängte Superhirn. Henri holte sein Notizbuch. Micha machte sich mit Loulou davon, und der flachsblonde junge führte die anderen in die Küche, wo ja die eigentliche „Hölle“ los war. jeder erwartete eine neue, furchtbare Überraschung. Vielleicht, daß Madame Claire gar Spiritus über die Eierpampe goß und alles anzündete, um sie zu erwärmen! Doch Madame Claire war weg. Superhirn blickte durch die offene Hintertür in den Obst- und Kräutergarten. „Sie ist draußen“, stellte er fest. „Komm, Tati!“ „Kommissar Henri“ nahm inzwischen seine Arbeit auf. „Der Grill ist auch zersprungen“, bemerkte er zu Gérard und Prosper. ja, der Grill hatte ja ebenfalls 'ne Skala!“ Friedlich, frisch und in der Morgensonne leuchtend, bot sich der Garten den Blicken - wie geschaffen für einen Kunstmaler. „Da ist sie!“ wisperte Tati. Die Wirtschafterin machte von weitem einen ganz und gar vernünftigen Eindruck. Sie beschäftigte sich an den Beeten, als wolle sie Suppengrün für den Kochtopf zupfen. Wenn man jedoch genau hinsah, entdeckte man was sie wirklich tat. Die Haare konnten einem zu Berge stehen: Sie zupfte nämlich nicht nur Eßbares aus dem Boden, sondern auch Unkraut. Sogar Silberfolien (zur Abschreckung der Vögel angebracht) tat sie in ihren Korb. Dazwischen ein paar Hände voll Sand, dreieckige Steine der Umrandung und den Kopf einer Tabakspfeife, den der Gärtner verloren haben mochte. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragte Tati mit wankender Stimme. Madame Claire beschäftigte sich weiter, wie im Traum. „Aber ja, Kind“ antwortete sie liebenswürdig. „Schütte nur immer wieder den Korb aus, wenn er voll ist. Er ist nämlich zu klein. Ich muß ihn mehrmals füllen!“ Tati warf Superhirn einen höchst ratlosen Blick zu. „Tu, was sie sagt!“ flüsterte der Junge. Er wollte zum Anbau, um nach dem Gärtner zu sehen. Das klapprige Auto stand aber nicht in der offenen Garage. Aha: Der Gärtner und seine Frau waren sicher hinunter zur Kirche gefahren. Superhirn streifte durch die Büsche zum alten Schuppen hinüber. Plötzlich fiel sein Blick auf eine helle Stelle. Eine kleine Lichtung. Darauf saß lauernd eine dicke Katze. Schlagartig wurde dem Jungen alles klar. 5. Verletzter Erdspion hat sich verkrochen! So erregt hatten die Freunde Superhirn noch nie erlebt. Henri und Prosper waren mit der
Bestandsaufnahme der Schäden beschäftigt - und Gérard trat eben durch die andere Tür, um zu melden: „Micha ist mit Loulou um den Swimmingpool gelaufen. Der Hund benimmt sich ganz normal.“ „Aber die Katze!“ schrie Superhirn. Er glitschte aus und landete in der Eierpampe. Henri, Gérard und Prosper sahen sprachlos auf ihn herab. Superhirn versuchte aufzustehen. Doch er fiel gleich wieder auf den Hosenboden. „Madame Claires Katze!“ berichtete er im Sitzen. Er schüttelte seine schaumigen Hände. „Nur die Katze ist an der ganzen Panne schuld!“ „Die Katze?“ fragte Henri, als fürchte er, Superhirn habe auch einen Gedankenhieb von Ragamuffins Spion versetzt bekommen. Gérard half dem Freund auf die Füße. „Draußen, zwischen den Büschen, ist ein Loch“, berichtete Superhirn hastig. „Vava-Kaliber! Da hat der Spion versucht, in die Erde zu fahren. Seht mal: im Küchenboden sind kleine Mulden: Da muß er's auch schon probiert haben. Aber seine Energie war erlahmt. Wenigstens vorübergehend!“ „Versteh ich nicht!“ rief Prosper entgeistert. „Die Männer des Ragamuffin können durch ihre unbekannten Fähigkeiten ihre Körpergröße verändern“, erklärte Superhirn rasch. „Das wissen wir. Sie können schrumpfen und einen Härtegrad annehmen, der dem enormen Druck im Erdinnern widersteht. Und mit ihrem gewaltigen HirnKraftwerk können sie sich an die Erdoberfläche schießen- und wieder ins Erdinnere zurück!“ „Hm. Haben wir schon erlebt“, gab Henri zu. „Aber was hat das mit der Katze zu tun?“ „Ich greife jetzt mal vor“, sagte Superhirn. „Bis dieser Spion in die Küche kam, hat er von Mitternacht bis frühmorgens nur Sachen beschädigt, aber uns und den Pudel in Ruhe gelassen. Er hat hier nichts anderes tun wollen, als Technisches zu vernichten. Nachdem er seine Zerstörungswellen auf die Geräte gerichtet hatte, so daß sie lautlos zusammenfielen, muß er seine schützende Außenhaut gelockert haben, um sich zu entspannen.“ „Me-Mensch!“ Prosper faßte sich an die Stirn. „Und da ist Madame Claire mit der Katze reingekommen!“ „Genau!“ Superhirn atmete erleichtert auf, weil die Freunde ihn begriffen. Ein Hund knurrt und winselt. Ein Hund folgt hauptsächlich dem Geruch. Bei uns, oben, war der Spion in seiner Verkapselung geruchlos. Er war unhörbar. Und wir und der Pudel schliefen.“ „Aber die Katze! Die Katze hat ihn sofort spitzgekriegt weil 'ne Katze ein Augentier ist!“ rief Gérard. Gérard war begeisterter Fußballspieler. Doch manchmal konnte er genauso denken wie Kicken: „Die Katze hat sich auf den Mini-Spion gestürzt, meinst du das?“ fragte er. „Ich bin davon überzeugt - und draußen wirst du richtige Kampfspuren sehen“, erklärte Superhirn. „Die Katze muß hier drin gleich zum Angriff übergegangen sein. Der Vava-Spion hatte keine Zeit mehr, sich wieder zu verkapseln! Ich wette tausend zu eins: Sie hat den mörderischen Zwerg mit einem blitzschnellen Tatzenhieb erwischt. Katzen können schneller zuschlagen als das menschliche Auge es wahrnimmt.“ „Die Katze hat den Vava also angekratzt, bevor er sich wieder verkapseln konnte“, faßte Henri zusammen. „Leuchtet mir ein! Aber der Bursche hat sich gewehrt!“ „Und Madame Claire wurde das ahnungslose Opfer“, folgerte Superhirn. „Der Vava wehrt sich in seiner Verzweiflung wieder mit Ungutsgedanken, die auf Hirne wirken, wie wir wissen. Dabei kriegte die Wirtschafterin mehr ab als die Katze. Völlig logisch, denn Katzenhirne sind keine Menschenhirne. Sie sprechen' nicht auf Menschengedanken an. Katzen reagieren ziemlich unergründlich.“ Ohne sich um seinen verschmierten Trainingsanzug zu kümmern, eilte Superhirn mit Henri, Prosper und Gérard in den Küchengarten. Der spindeldürre Junge äugte durch seine Brille. „Hier!“ Er deutete auf ein Beet. „Krallenspuren! Aufgewühlte Erde. Da! Eine kreisrunde Mulde nach der anderen! Dauernd hat der Vava-Spion versucht, in die Erde zu schießen, aber in seiner Taumeligkeit hat's nur zu 'ner Art Kopfstand gereicht!“
Er führte die Freunde durch die Büsche der Lichtung, auf der die Katze reglos lauerte, als beobachte sie ein Mauseloch. Sie war so angespannt, daß sie sich um die Menschen nicht kümmerte. „Hier muß es dem Vava endlich gelungen sein, sich zu berappeln und in die Erde hineinzufahren“, flüsterte Superhirn. „Aber vielleicht ist er auch nur ein paar Handbreit im Sand und verschnauft' dort. Weshalb säße die Katze sonst noch da?“ Er blickte auf. „Jetzt rasch: Gérard, du sorgst dafür, daß Micha mit Loulou am anderen Ende des Parks bleibt! Der Pudel und die Katze sind keine Freunde! Aber wir brauchen das dicke Biest. Prosper und Henri: Ihr macht Ordnung in der Küche, so gut es geht. Wischt vor allem die Eierpampe weg. Deckt den idiotischen Frühstückstisch ab. Wenn die Gärtnersleute zurückkommen, sollen sie nur das unvermeidlichste merken!“ Superhirn lief zu Tati, die mit Madame Claire etwas von einem Baum pflückte. „Blätter!“ fragte Tati leise. „Gewöhnliche Blätter. Daraus will sie einen Salat machen!“ „Geh auf alles ein, Tati! Laß dir nichts anmerken! Sei freundlich und geduldig!“ mahnte Superhirn. „Ich versuche, ob das Telefon funktioniert. Wir müssen unbedingt sofort einen Arzt rufen!“ Es war ein Wunder: Den Apparat hatte der Vava nicht mit seinen Strahlenblicken durchbohrt. „Doktor!“ sagte Superhirn. „Kommen Sie sofort! Madame Claire ist - ist recht sonderbar. Sie hat - äh - Wahnvorstellungen. Ich glaube, das ist es: Wahnvorstellungen.. .“ Dann lief er wieder in die Küche. ..So, jetzt die Trümmer ein bißchen zusammenschieben, damit es nicht allzu schrecklich aussieht. Ist der blöde Frühstückstisch abgedeckt?“ „Ja!“ sagte Henri. „Uns ist klar, was du vorhast! Du willst die Sache herunterspielen, damit nicht etwa Feuerwehr, Polizei, Zeitungsleute oder neugierige Touristen angesaust kommen. Aber an deiner Stelle würde ich mir einen sauberen Trainingsanzug anziehen.“ „Am Hinterkopf hast du 'ne Eierschale!“ rief Prosper dem Freund nach. Superhirn sauste nach oben, so schnell, als sei er selber einer von des Ragamuffins GeschoßLebewesen. Gewaschen und umgezogen flitzte er wieder ans Telefon. Er rief den Sonntags-Notdienst des Elektrizitätswerks an. „Auf Schloß Monton muß es Kabelsalat gegeben haben“, heuchelte er in ruhigem Ton. „Oder 'ne plötzliche Überspannung. In der Küche sind ein paar Geräte kaputt. Könnten Sie nicht mal jemanden vorbeischicken?“ „Na, ob der E-Werk-Mann das glaubt?“ zweifelte Henri. „Hauptsache, ihr kriegt den Fußboden sauber“, erwiderte Superhirn. „He! Da kommt ein Auto angeklappert! Die Gärtnersleute sind von der Kirche zurück.“ Er ging rasch zur Tür hinaus und eilte auf den Wagen zu. Der glatzköpfige Gärtner und seine Frau strahlten wie die Morgensonne. „Na, schon gefrühstückt?“ fragte der Mann. „Ihr wolltet doch heute zur Ponyfarm“, sagte die Frau. „Ein herrlicher Tag! Besseres Wetter konntet ihr euch nicht wünschen!“ „Nee, wahrhaftig nicht!“ lachte Superhirn. Er merkte sofort: Im Gärtnerhaus war der Vava nicht gewesen. Die Leute hatten einen friedlichen Schlaf gehabt, und beim Aufstehen, beim Kaffeetrinken und vor der Abfahrt zum Gottesdienst war den beiden nichts Ungewöhnliches aufgefallen. „Was macht denn Madame Claire da?“ fragte die Gärtnersfrau verwundert. „Ach so, ja...“ Superhirn runzelte die Stirn, als sei er etwas ratlos. „Es ist gut, daß Sie hier sind. Ich habe schon den Arzt angerufen.“ „Den Arzt?“ rief der Gärtner erstaunt. Superhirn heuchelte ein Lachen. „Vielleicht hat Madame Claire auch nur schlecht geträumt. Sie scheint ganz verwirrt zu sein. Sie redet so wunderliches Zeug. Und aus den Obstbaumblättern will sie einen köstlichen Salat machen. Komisch.“ Mehr sagte er nicht. „Na - das ist ja...“, murmelte der Gärtner. Besorgt gingen er und seine Frau auf die Wirtschafterin zu. „Mensch, ich bin geschafft!“ seufzte Tati. Sie überließ die arme Madame Claire den Gärtnersleuten. „Was nun?“ „Wir stellen uns so dumm wie möglich“, sagte Superhirn. „Am besten, wir holen unser Badezeug und
springen in den Swimmingpool.“ „Du hast Nerven!“ japste Tati. „Eben!“ grinste Superhirn. „Genau wie die Katze, die da lauert. Der Erdspion wird sich nicht wieder herauswagen. Und wir müssen uns jetzt so benehmen, daß die Erwachsenen nie rauskriegen, daß hier was Unheimliches los war!“ Zwanzig Minuten später planschten die fünf Jungen und das Mädchen tatsächlich im Schwimmbecken herum, während der Pudel Loulou an den Rändern entlanghopste. Aber es dauerte nicht lange und der Gärtner rief von der Auffahrt her: „Hallo! Der Arzt ist da! Und dann will 'n Mann vom E-Werk noch was wissen!“ „Komm mit!“ sagte Superhirn rasch zu Tati. „Ihr anderen bleibt hier!“ Die beiden kletterten aus dem Wasser, frottierten sich rasch ab, warfen die Bademäntel über und liefen in Turnschuhen zum Schloß. Der Arzt stand mit dem E-Werk-Fachmann in der Küche. „Guten Tag, Herr Doktor Tour“, begann Superhirn. „Entschuldigen Sie, daß ich angerufen habe.“ „Nichts zu entschuldigen“, unterbrach der junge Arzt. „Mit Madame Claire ist wirklich was los. Aber sie scheint weder gestürzt noch gegen irgend etwas angerannt zu sein. Denn keine äußere Verletzung deutet darauf hin. Darum vermute ich, sie hat etwas Giftiges zu sich genommen, das diese Verwirrung zur Folge hat. Es kann sich dabei nur um ein Versehen handeln, nehme ich an.“ „Natürlich, nur!“ bekräftigte der Gärtner, der hinter Tati und Superhirn hereingekommen war. „Sie liegt jetzt bei meiner Frau und redet ganz lustiges Zeug. Als hätte sie einen Schwips!“ „Sie war wunderlich, aber freundlich wie immer, nicht, Tati?“ sagte Superhirn. „Ich dachte, sie hätte schlecht geträumt oder sich gestern überarbeitet. Erschöpfte Menschen, die schlecht geschlafen haben, drehen manchmal ein bißchen durch. Aber das geht vorüber.“ „Du sprichst ja wie ein Seelenarzt!“ sagte der Doktor ein bißchen spöttisch. Aber er bestätigte Superhirns Ansicht. Natürlich auf seine Weise und unter Hinzufügungen und Einschränkungen. Dann blickte er auf die zerstörten Küchengeräte. „Das hat Madame Claire aber nicht angestellt?“ vergewisserte er sich. Der Gärtner, der E-Werk-Mann, Superhirn und Tati protestierten zu gleicher Zeit. Vor allem der EWerk-Mann wies diesen Gedanken weit von sich. „Ich hab ja so was noch nie gesehen, wenigstens nicht so. Aber das Zertrümmern und Beschädigen der Geräte. . .“, er grinste, „. . . ist keine Handarbeit! Da muß was im Leitungsnetz passiert sein. Ein Blitz vom Himmel, der sich 'nen sonderbaren Weg gesucht hat, ja ... Mehr kann ich nicht sagen. Und im Keller ist die Sicherung kaputt, die zu diesem Trakt gehört.“ „Ein Blitz!“ überlegte der Arzt. „Der Blitz hat die Wirtschafterin nicht getroffen, soviel steht fest. Eher, daß sie übergeschnappt ist, als sie die Bescherung in der Küche sah. Ein Schock also, der die plötzliche Verwirrung ausgelöst hat!“ Er wandte sich um. „Ich gehe gleich noch mal zu ihr!“ Er lief mit dem Gärtner zur Hintertür hinaus. Tati folgte den beiden, während Superhirn mit dem Elektriker in den Keller hinabstieg. „Komisch, komisch!“ brummte der Mann. Er leuchtete mit der Taschenlampe die Sicherungskästen ab und verschwand in einem Gang, um die Fülle der Wandkabel zu kontrollieren. Superhirn fröstelte es hier. Aber die Sache entwickelte sich nicht schlecht, und so rannte er befriedigt wieder hinauf in die Küche. Jäh blieb er stehen. Auf der Schwelle zur Hintertür lag Tati - bewußtlos! 6. Kein Trick vom Ragamuffin! Behutsam hob Superhirn das Mädchen auf Tati lehnte den Kopf an seine Schulter. Verletzt war sie nicht. Sie regte und straffte sich erstaunlich schnell. Ihre Augen weiteten sich voller Schrecken, als sie den Jungen ansah.“ Du bist hier?“ fragte sie. „Ich dachte, du bist...“ „... im Keller, ja“, unterbrach Superhirn. „Aber es ist doch nichts dabei, daß ich wieder herauf in die
Küche gelaufen bin!“ jetzt schüttelte er Tati. „Was ist passiert? Bist du jemandem begegnet? Im Garten? Dem Erd-Spion vielleicht? Besinn dich! Antworte! Hast du draußen was Schreckliches bemerkt?“ „Ich...“, das Mädchen lächelte verzerrt, „... ich hab im Garten einen Geist getroffen!“ „Einen Geist?“ Superhirn hob die Brauen bis über den Brillenrand. „Was für einen?“ „Deinen“' erwiderte Tati. „Ich habe dich gesehen!“ Superhirn schwieg. Weder lachte er, noch bezweifelte er Tatis Worte. „Ich bin den Männern zum Gärtnerhaus nachgegangen“, berichtete Tati hastig. „Da kamst du plötzlich von der Seite auf mich zu. Aber du hast einen richtigen Freizeit-Dreß angehabt, keinen Bademantel wie jetzt - und deine Haare waren nicht naß vom Schwimmen.“ „Und was hab ich gesagt?“ fragte Superhirn ernsthaft. „Wir sollten heute abend um 23 Uhr am Tafel-Felsen sein!“ Der spindeldürre Junge verzog noch immer keine Miene. „Hat der Arzt oder der Gärtner meinen - meinen Geist gesehen?“ erkundigte er sich. „Nein. Sie gingen gerade ins Gärtnerhaus. Sie waren ganz mit dem Fall Madame Claire beschäftigt. Aber ich - ich war blödsinnig erschrocken. Ich bin zur Küche zurückgerannt. Auf der Schwelle ist mir schwindlig geworden.“ Tati fügte hinzu: „Das mit deinem Geist, das war doch sicher ein Trick von - von diesem komischen Erd-Boß?“ Superhirn antwortete erst, als sie die schloßartige Villa durch das Hauptportal verlassen hatten und den Geschwistern und Freunden am Swimmingpool zustrebten. „Dein Erlebnis riecht eher nach Professor Charivari als nach dem Ragamuffin“, erklärte er. „23 Uhr am Tafel-Felsen? Hm ... Wir sollen wohl wieder mal von hier weggeholt werden. Aber, he...“, er reckte den Hals, „was ist denn mit den anderen los? Warum hält sich Micha die Augen zu und schmeißt sich ins Gras?“ Auch Henri, Prosper und Gérard waren aus dem Wasser geklettert. Sie standen am Rand des Schwimmbeckens und starrten Superhirn wie versteinert an. Nur der Pudel Loulou hopste dem spindeldürren jungen vergnügt entgegen. „Su-Su-Superhirn!“ schrie Prosper wütend. „Denkst du, wir sind blöd, daß du uns so zum Narren halten kannst? Erst rennst du ins Haus, dann schleichst du dich von der Seite an uns ran und redest lauter dummes Zeug!“ „Für deine Zaubermätzchen ist nicht die richtige Zeit“, sagte Henri scharf „Du hast wohl vergessen, daß wir sowieso schon ziemlich durchgedreht sind?“ murrte Gérard. Superhirn und Tati warfen sich einen Blick zu. Dann erklärte der Junge ruhig: „Ihr seid sehr schlechte Beobachter. Meint ihr nicht? Ich trug doch sicher keinen Bademantel - und meine Haare waren nicht naß. Glaubt ihr wirklich, ich wäre so dumm, euch gerade heute an der Nase herumzuführen?“ Micha kam hoch. „Aber du warst hier! Eben warst du hier! Und du hast uns was gesagt.“ „Vorher bin ich Tati im Küchengarten begegnet, als ich in Wirklichkeit im Keller war!“ rief Superhirn ärgerlich. „Ja!“ bestätigte Tati. „Ich halte Superhirns Erscheinung für einen Trick von diesem Erd-Boß! Vom Ragamuffin!“ „Halt, nein!“ bestritt Superhirn entschieden. „Ich hab's Tati schon einmal gesagt: Dahinter steckt nicht die innerirdische Macht des Gegners. Meine beiden Doppelgänger stammen von unserem Beschützer, Professor Charivari „Ach, nee! Der Professor hat Drillinge aus dir gemacht, weil seine Giganto-Raketen nicht ohne dich auskommen können?“ höhnte Prosper. „Schluß mit dem Quatsch!“ sagte der flachsblonde Junge eisig. „Die Sache ist ernst. Den Boten, der in meiner Gestalt im Küchengarten und beim Schwimmbecken auftauchte, kann nur der Professor geschickt haben - niemals der Ragamuffin. Der Ragamuffin kennt nur geistige, keine technischen Hilfsmittel!“ Er fuhr fort: „Dämmert es euch jetzt? Was ihr gesehen habt, war eine plastische, dreidimensionale Rekonstruktion, also eine Wiedergabe von mir'! So was wie eine einzelne Tonfilmfigur! In den Raum- und Erdschiffen sind wir doch allesamt zur Kontrolle laufend mit
verborgenen Kameras gefilmt worden!“ „Du meinst, Charivari hat dich in Bild und Ton aus so einem Film rausmontiert, die Meldung in passende Worte geschnitten und dich mit einem Fernprojektor hierhergeschickt?“ vergewisserte sich Henri. Ihm fiel etwas ein. „Loulou hat sich nicht um die Erscheinung gekümmert!“ rief er. „Aber als du eben mit Tati kamst, ist er dir entgegengehopst!“ „Er kennt mich am Geruch“, grinste Superhirn. „Meine Tonfilmfigur', die hier als Melder rumkurvte, strömte nichts Organisches aus. Für geruchlose Spiegelungen haben Hunde keinen Sinn. Loulou kümmert sich nicht mal um sein eigenes Bild im Spiegel - oder um sein Spiegelbild im Wasser.“ „Um 23 Uhr sollen wir am Tafel-Felsen sein“, überlegte Tati. „Was für einen Vorwand nennen wir den Gärtnersleuten, damit sie auf keinen Fall Verdacht schöpfen? Welche Sachen nehmen wir mit? Und woran erkennen wir die Zeit? Unsere Uhren sind doch alle kaputt!“ „Wird sich alles finden“, sagte Superhirn. „Übrigens, Henri, was hat meine Tonfilm-Montage-Figur noch gesagt?“ „Alarm im Erdball!“ entgegnete Henri düster. 7. Kommt Professor Charivaris Erdschiff? Bereits eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit erreichten Superhirn mit den Geschwistern und Gérard und Prosper den ungemütlichen Platz am Meer, der sich der „Tafel-Felsen“ nannte. Das Wetter war schlecht. Der Wind pfiff um die Kapuzen ihrer Wetterjacken, schwarze Wolkenfetzen jagten auf dem Hintergrund des helleren Nachthimmels über die Köpfe hinweg. Ab und zu klatschte ihnen Regenschauer ins Gesicht. Loulou winselte. „Den Halbstundenschlag vom Kirchturm haben wir gehört“, sagte Henri. „Zu spät sind wir also nicht.“ Er trug eine alte Armbanduhr, die er sich vom Gärtner geborgt hatte. Aber er mißtraute ihr. Außerdem waren ihre Leuchtziffern kaum sichtbar. „Gut, daß unser plötzliches Abschwirren diesmal überhaupt kein Problem war“, seufzte Tati. Die Gärtnersleute hatten sogar erleichtert aufgeatmet, ihre jungen Freunde für ein, zwei oder drei Tage los zu sein. „Begreiflich“ lachte Superhirn. „Wer sollte uns versorgen? In der kaputten Küche? Und der Arzt hat gesagt, Madame Claire muß ruhen, weil er zu der Ansicht gekommen ist, daß der Kurzschluß ihr tatsächlich den Schock verpaßt hat. Zum Glück hat er aber versichert, sie würde bald wieder ganz putzmunter werden.“ Die Frage ist nur“, rief Gérard, „ob der Mann vom Elektrizitätswerk putzmunter bleibt, wenn er morgen mit den Entstörungstrupp zurückkommt. Haha! Wie die sich alle die Köpfe zerbrechen werden!“ „Um uns machen sie sich bestimmt keine Gedanken“, hoffte Micha. „Die denken, wir übernachten auf der Ponyfarm. Sie haben ja noch nicht mal richtig hingehört!“ „Na und?“ sagte Superhirn. „Wir sind an einer Ferienküste, an der man herrliche Ausflüge machen kann. Und schließlich haben sie's schon erlebt, daß wir öfter mal woanders sind.“ Die Ferienküste zeigte sich im Augenblick allerdings von ihrer ruppigsten Seite. Die letzten Worte wurden dem jungen durch den Wind förmlich von den Lippen gerissen. „Wenn uns aber der Ragamuffin herbestellt hat, um uns in die Tiefe zu ziehen?“ bibberte Micha. „Leg mal dein Ohr auf den nassen Fels“, übertönte Prosper den Sturm. „Unter der Oberfläche knacken die Steine! Professor Charivari kommt mit dem Erdschiff Giganto rauf!“ Schattenhaft sahen die anderen, daß Prosper tatsächlich horchend auf dem Boden lag. „Das Nahen der Erdrakete hört man nicht“ erinnerte Superhirn. Doch er sah sich um, ob nicht irgendwo ein Buckel den Austritt von Charivaris Giganto aus der Erde verriet. Kein Bersten würde das ankündigen, denn der Professor kam nach der „Marmeladen-Methode“ hoch. Seine „Auftauchgeräte“ konnten die Stop- und Parkstelle in Brei verwandeln, so daß alles lautlos vonstatten gehen würde.
Alle, auch Superhirn, der Blitzgescheite, erwarteten die Überraschung von unten. Doch plötzlich fühlten sie sich hochgerissen. Loulou jaulte vor Schreck auf Er flog direkt neben Tatis Schulter. Wie von Magneten gezogen, sausten die Gefährten mit dem Pudel zum Himmel empor. Michas „Hilfe ... ! Hilfe ... !!!“ verwehte im Wind. Und er schrie noch immer, als er längst trocken und geborgen in einer riesigen, metallisch leuchtenden Halle in einem bequemen Drehsessel saß. Plötzlich schwieg er und rieb sich die Augen. Er hörte, wie sein Bruder Henri, seine Schwester Tati und die drei Freunde erleichtert lachten. Der Pudel bellte vergnügt. „Wo bin ich?“ hauchte Micha. „In Sicherheit“, ertönte die freundliche, fast sanfte Stimme Professor Charivaris. „In Sicherheit - wie immer, wenn du an Bord eines meiner Geheimschiffe bist.“ Wahrhaftig! Der Mann, der im Kreise der Gefährten stand, war der Professor: groß, hager, kahlschädlig. Der Kopf erinnerte in seiner Form an eine Salatgurke, der lackschwarze, dünne Fadenbart hing wie angeklebt vom Kinn herab. Seine dunklen, schmalen, etwas schrägen Augen unter den gleichfalls lackschwarzen Brauen glänzten wie gewohnt. Er wirkte wie der Trainer eines Sportclubs. Sah man allerdings genauer hin, bemerkte man, daß der scheinbare Trainingsanzug eine raffinierte technische Kombination mit vielen schräg und waagrecht angebrachten Taschen, Leisten, Knöpfen und reißverschlußähnlichen Zügen war. Auch die Ringe an seinen schmalen Händen dienten nicht als Schmuck, sondern zur Ausstrahlung oder zum Empfang verschiedener Signale. Professor Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. „Sind wir in der Erdrakete Giganto?“ fragte Micha - immer noch etwas verwirrt. „Das ging alles so schnell! Ganz - ganz anders als sonst!“ „Du wirst das noch früh genug verstehen“, erklärte Charivari. „Ihr seid zunächst in meinem neuesten Weltraumschiff, dem sogenannten Raumgleiter Held. Der bringt uns zur Startstelle der Erdrakete Giganto. Wir steigen dann um und fahren ins Innere der Erde.“ „Wer und was hat uns denn vom Tafel-Felsen an Bord dieses Schiffes in den Himmel gezogen?“ fragte Tati. „In den Himmel ist übertrieben“, lächelte der Professor. „Mit diesem Schiff kann ich auch wie ein Flugzeug sehr niedrig über Land fliegen. Na, und wie ich euch hochgezogen habe? Mit Saugwirbeln! Alle eure unverwechselbaren Persönlichkeitsmerkmale sind in meinen Geräten gespeichert, das wißt ihr ja. Die künstlichen Polizei-Augen haben euch ausgemacht, erkannt und durch die unteren Schleusen einholen lassen.“ Er bestätigte Superhirn sodann den Doppelgängertrick mit der nach Monton gestrahlten SuperhirnTonfilm-Figur. Er fügte hinzu: „Auch meine neuen Weltraum- und Erderkundungsschiffe führen Filme von euch mit. Daraus im Handumdrehen' einen Auszug zu machen, ihn mit Originalsprache zu versehen und an einen bestimmten Ort zu strahlen, ist für meine Geräte eine Angelegenheit von Sekunden.“ Ganz unvermittelt fragte er: „Was macht der Ragamuffin-Spion? Meine geheimen Stützpunkte ', die euch zum Schutz ständig überwachen, haben alle eure Erlebnisbilder auf dem Strahlenweg empfangen. Ich habe mir eure Beobachtungen, Gefühle und Gedanken in einen lückenlosen Bericht umsetzen lassen und alles genau verfolgt, seit Superhirn heute früh bemerkte, daß seine Armbanduhr stand. Saß die Katze übrigens zuletzt noch im Küchengarten vor dem Erdloch?“ „Ja!“ rief Henri verblüfft. „Nein!“ widersprach Superhirn. „Als ich zuletzt nach ihr sah, streifte sie zwar in der Nähe des Loches umher. Aber sie schien unentschlossen. Es war, als hätte sie kein Interesse mehr an der winzigen Vava-Maus gehabt.“ Seltsamerweise amüsierte sich der Professor über die Katze nicht. Im Gegenteil! „Nicht auszudenken“, sagte er leise. „Heute früh, 8 Uhr Ortszeit Monton, hat der Chef des innerirdischen Staates allen meinen Stützpunkten ein Ultimatum gestellt.“
„Zu welchem Zweck? Mit welchem Inhalt?“ fragte Henri. „Falls der Spion innerhalb einer Frist, die unserer Zeit von 96 Stunden entspricht, nicht wieder in der Ragamuffin-Zentrale ist, wird der Erdball gesprengt.“ Superhirn begriff als erster, wie ernst die Drohung zu nehmen war - und in welch auswegloser Lage sie sich befanden. „Der Ragamuffin nimmt offenbar an, wir hielten seinen Spion gefangen. Wäre es so, könnte man ihn freilassen.“ „Eben!“ nickte Charivari. „Aber wenn ihn die Katze so getroffen hat, daß er zwar noch mal zu Kräften kam, die tieferen Felsschichten jedoch nicht mehr durchbrechen konnte, hat ihn der enorme Druck längst zu einer nicht mehr ortbaren Masse zerquetscht“, stieß Superhirn hervor. „Würde der Erd-Boß das begreifen?“ „Er würde es für eine Ausrede halten“, erwiderte der Professor. Ein kurzes, aufreizendes Signal ertönt „Wir sind da“, sagte Charivari. „Schnell! Wir gleiten jetzt zu der Erdrakete Giganto. Wir haben noch knapp 81 Stunden. Innerhalb dieser Frist müssen wir die Zentrale des Ragamuffin gefunden und vernichtet haben.“ 8. „Umsteigen in Riesen-Giganto!“ Zu längeren Erklärungen blieb keine Zeit. Nur zu Superhirn sprach Charivari noch einige Worte. Dann lief er in den Kommandoraum des Schiffes, um vor dem Überstieg in die Erdrakete den Rückweg des Fahrzeuges zu programmieren. Dieser Raumgleiter, in dem sie sich noch befanden, sollte zur geheimen Polstation des Mondes geschickt werden. „Wo parken wir denn jetzt?“ fragte Micha aufgeregt. „Und wo ist das Erdschiff Giganto, in das wir umsteigen sollen.“ Superhirn teilte hastig mit, was Charivari gesagt hatte: „Wir parken auf dem Grund des Atlantiks!“ „Waaas ... ?“ Gérards Rundkopf schien sich in die Länge zu ziehen. „Liegen wir etwa im Wasser?“ Ja. Aber du wirst dir keine nassen Füße holen“, grinste Superhirn. „Das Erderforschungsschiff ist auf dem Dach dieses Mehrzweck- Raumschiffes angekoppelt. Sozusagen mit Strahlen verankert.“ „Strahlen!“ murmelte Tati nervös. „Kann man von euch mal was anderes hören als immer nur Strahlen, Strahlen, Strahlen?!“ „Strahlen gab es schon, als das Weltall entstand“, feixte Superhirn. „Unser Zeitalter macht sich nur immer mehr Strahlen-Arten nutzbar.“ Er wurde durch die Rückkehr Charivaris unterbrochen. „Schnell, Kinder! Rein in den Lift! Wir sausen direkt durch die Bodenluke der oben mittransportierten Erdrakete.“ Ehe sie sich versahen, standen sie alle im Fahrstuhl. „Dieser - dieser Weltraumtransporter, der auch Wasservogel spielt“, staunte Henri, „der ist ja so groß wie ein Warenhaus!“ „Größer“, sagte Charivari. „Und im Weltraum doch nur ein winziges Nichts!“ „Was ist das ... ?“ schrie Prosper. Er schaute zur offenen Fahrstuhlseite hinaus. Charivari beruhigte: „Keine Hexerei! Der Lift steckt mit uns schon in der Erdrakete! Er hat sich vom unteren Transporter getrennt. Beiderseits sind die Luken geschlossen. Unter uns gleitet das Raumschiff Jetzt weg, startet automatisch zur Meeresoberfläche und geht auf Kurs zur Mondstation. Und wir stechen in wenigen Minuten mit Giganto unter Wasser ins Erdinnere hinein.“ Der Professor eilte mit großen Schritten in die Befehlszentrale des Erdschiffs Giganto. Auf dem bogenförmigen Kommandotisch berührte er eine Kontaktplatte, worauf ein großer Bildschirm in der rechten Seitenwand erschien. „Ihr könnt hier den Start des Weltraumschiffs beobachten, das unsere Erdrakete - und uns - auf den Meeresgrund gebracht hat“, sagte er zu den Gefährten. Ebenso eilig wie neugierig waren ihm alle
gefolgt. „Ich schalte einen Außenscheinwerfer an“, fügte der Professor hinzu. Auf dem Bildschirm durchbrach der unwahrscheinlich scharfe Lichtkegel das Meeresdunkel. Das Weltraumtransport-Monstrum wurde im Entgleiten sichtbar: Wie es die elegant gekrümmte Vogelnase hob, mit den Seitenstützen fast spielerisch Balance suchte! Wie die ungeheuren Stabilisatoren am Heck den Wasserdruck dieser Meerestiefe scheinbar widerstandslos durchfurchten! „Vollstart!“ beobachtete der Professor. Auf dem Bildschirm der Erdrakete verschwand das Raumschiff, „besetzt“ mit einem „Geister-Kommandanten“ und einer großen Zahl wandverkleideter Geräte, Instrumente, Aggregate und Apparaturen, die die Arbeitskraft von Tausenden von Menschen ersetzten. „Maschinen können immer nur die Arbeitskraft, nicht aber den Lebenswert von Menschen ersetzen“, betonte der Professor, als das Raumschiff verschwunden war. „Was ist ein Geister-Kommandant?“ fragte Micha. „Kein Gespenst“, erklärte Henri. „Du kannst das auch A-C nennen: Automatic-Commander oder einfach: Steuerungs-Automatik.“ „So ungefähr“, murmelte Charivari. Er war am Befehlstisch beschäftigt. „So, nun sind wir also in der Erdrakete Giganto. Das andere Schiff vergessen wir. Uns kümmert nur noch dieses Erdschiff Giganto. Gleich beginnt vom Meeresgrund aus der Vorstoß ins Erdinnere!“ Superhirn machte sich trotzdem seine Gedanken. Automatisch ihren Weg suchende oder ferngelenkte Fahrzeuge aller Art waren heutzutage wahrhaftig schon ein Kinderspiel. Dennoch hatten sie einen Nachteil, an dem die Technologen knobelten: Im Fall einer Panne konnte der Mensch nicht an Ort und Stelle eingreifen ... „Das ist ja nicht mehr der alte Giganto! Hier sieht ja alles anders aus!“ rief Tati, die sich umgesehen hatte. „Das ist ja wieder 'ne neue Erdrakete!“ Micha spurtete mit Loulou gleich los, als wollte er mit dem Hund eine Arena durchmessen. „Halt! Es bleibt genug Zeit, alles zu besichtigen!“ gebot der Professor. Er beantwortete Tatis Ausruf: „Du hast recht. Es ist das neueste Giganto-Erdschiff. Das erste aus der High-Class, der Hoch-Klasse. Es ist mehrstöckig, hat eine Plantage an Bord zum versuchsmäßigen Aussetzen von Organismen in etwa geeigneten Erdhohlräumen, Garagen für Erdraketen-Beiboote, eine Menge Labors und Spezialwerkstätten, geräumige Zimmer für Passagiere.“ „Und ein Restaurant“, rief Micha freudig. „Drei sogar“, lächelte Charivari. „Mein H-Giganto ist dazu gedacht, möglicherweise eine erste, innerirdische Forschungsstation zu beschicken. Aber nun ist da diese geheimnisvolle Macht des Ragamuffin mit seinen Vavas. Ein Staat in der Erde, von dem die Menschheit nichts ahnt. Eine rätselhafte Gewalt, die uns vernichten will.“ Der Professor unterbrach sich und blickte auf den bogenförmigen Kontrolltisch. Dort „tanzten“ Lichter, sausten farbige Ziffern in der Plattenfläche, die seltsame Reflexe auf dem schmalen, hohlwangigen Gesicht hervorriefen. „Noch sind wir am Meeresgrund“, teilte er mit. „Mit was für einer Maschinenkraft fahren wir?“ fragte Superhirn. „Vorläufig mit starken Elektro-Motoren. Ich prüfe die Erd- und Saugdüsen und die HauptmaschinenAutomatik“, erklärte Charivari. „Außerdem wird noch außerhalb der Erde Kontakt mit unserer Überwachungsstation aufgenommen.“ Er sprach ins Mikrofon: „Giganto an Weltraumstation M! Charivari an Sicherheits-Chef Biggs. Biggs, bitte melden!“ Aus Charivaris weit, weit entfernter Weltraumstadt, die für irdische Ortungsgeräte völlig abgeschirmt „hoch oben“ im All schwebte (einer unendlich riesigen Luftblase vergleichbar), meldete sich der wohlbekannte Captain. Sein Gesicht erschien auf einem Großbildschirm in der rechten Giganto-Wand. „.Hallo!“ ertönte seine muntere Stimme. „Sehe auf meiner Mattscheibe, sie haben unsere Jungen Freunde an Bord! Sogar den Hund!“ Er begrüßte Superhirn, die Geschwister und Gérard. und Prosper mit ihren Namen.
„Die Welt geht unter - und der hat Nerven!“ staunte Prosper. „Was Neues vom Ragamuffin?“ fragte Charivari. Biggs Gesicht auf dem Bildschirm wurde sehr ernst. „Wie man's nimmt“, sagte er. „Wir empfingen eine zweite Botschaft. Aber desselben Inhalts: Falls der Vava-Spion bis Ablauf des Ultimatums nicht zurück ist, wird die Erde gesprengt, auch wenn der Ragamuffin sich damit selbst vernichtet!“ ..Geben Sie mir noch einmal die betreffenden Alarmberichte meiner verschiedenen Geheimstationen!“ befahl der Professor. „Ich warte. Ende.“ Das Bild in der Wand verschwand. „Als mich das erste Ultimatum des Ragamuffin erreichte“, sagte Charivari zu den Freunden, „war ich mit dem Raumtransporter unterwegs. Ich wollte den neuesten Giganto aus seiner Südpolwerft sicherheitshalber zur Mondstation transportieren. Natürlich änderte ich sofort den Kurs und ging auf Wartebahn!“ „Klar!“ nickte Superhirn. „Wenn irgendwo ein Vava auftaucht, und um Ihre Mitwisser rumwimmelt, ist es gut, einen Trumpf in der Luft oder im All zu haben. .Noch dazu einen beweglichen!“ „Ich frage mich nur, was der Erd-Spion ausgerechnet in Monton suchte!“ rief Tati. „Was ist zum Beispiel Madame Claires harmlose Küche gegen Ihre Riesen-Stützpunkte im Atlantik, im Pazifik, an den Polen und im Weltraum!“ „Ja, so was Albernes!“ kicherte Gérard. „Der Ragamuffin wollte von Anfang an Ihre Geheimstationen zerstören. Und was tut er? Er schickt so 'nen Burschen rauf, der Uhren kaputtmacht, Superhirn in die Eierpampe fallen - und sich selber von 'ner Katze kratzen läßt!“ „An solchem Quatsch soll die Welt zugrunde gehen?“ Henri schüttelte den Kopf Doch der Professor warf ihm nur einen ausdruckslosen Blick zu. „Auf welche Weise ist denn diese - diese Nachricht des Ragamuffin eingegangen?“ bohrte Superhirn. „Bisher konnte man seine Gedankenstrahlen doch niemals entschlüsseln. Man wußte nur, daß es Unguts- oder Unmutsstrahlen waren, die Ihre Mitarbeiter rasend machten, durchdrehen ließen - oder wie man das nennen soll.“ ja“, sagte Professor Charivari. „Ihr wißt, daß meine Geheimstationen mit Gedanken-Empfangsgeräten oder Gehirnwellen-Analysatoren ausgestattet sind. Mit diesen Geräten können wir menschliche Gedanken sozusagen gezielt empfangen, in schriftlichen Klartext und sogar in Sprache um setzen.“ Er fügte hinzu: „Es ist für mich und mein Friedens-Team sehr wichtig zu erfahren, welche neuartigen Vernichtungswaffen die Gelehrten verschiedener Nationen planen. Aber nun funkt da seit einiger Zeit eine völlig unbekannte Macht aus dem Inneren der Erde dazwischen!“ „Das ist uns nicht mehr neu!“ rief Micha ungeduldig. „Aber das Folgende ist neu“, sagte Charivari bedeutungsvoll. „Heute, 8 Uhr Monton-Zeit, empfing unser stärkstes Gerät in der Weltraumstation die Ragamuffin-Strahlen so, daß sie ebenfalls in Schrift umgesetzt werden konnten!“ Superhirn plumpste in einen Sessel und putzte hastig seine Brillengläser. „Das ist es, was ich genau wissen wollte! Teufel! Dieser Erd-Boß sendet entschlüsselbare, menschliche Gedanken!“ „Nicht nur die verwirrenden Ungutswellen, die bisher in der Aufzeichnung lediglich ein Durcheinander von Punkten, Zickzacks und Kurven ergaben“, fuhr Charivari nachdrücklich fort. „Wir gingen zwar immer davon aus, daß der Ragamuffin und seine Vavas keine Gespenster sind, sondern unbekannte, innerirdische Wesen ganz eigener Art! Wir waren auf alles Mögliche gefaßt, nur nicht, daß dieser Erd-Boß einen verständlichen Direkt-Kontakt mit uns aufnehmen würde!“ „In welcher Sprache hat er sein Gedankenstrahl-Ultimatum gestellt?“ erkundigte sich Henri. „Wenn Menschen denken, so denken sie doch in Begriffen, Bildern und Worten! Daraus muß man doch die Sprache des Hirnwellen-Aussenders ableiten können!“ „Sehr richtig“, nickte Charivari. „Mein Experten-Team hat ein Gemisch aller möglichen Sprachen festgestellt. Spanisch, Englisch, Japanisch, Deutsch, Französisch - ja, sogar Dänisch!“ „Das gibt uns keinen Hinweis auf die Lage des innerirdischen Staates“, seufzte Superhirn. „Eben!“ bekräftigte der Professor ungewohnt zornig und laut. „Alle unsere Ortungen stoßen immer
nur auf den Erdmittelpunkt als Sitz der Machtzentrale des Ragamuffin! Aber das ist Unsinn! Im Stahlnickelkern kann kein Lebewesen existieren! Der Ragamuffin benutzt diesen Stahlnickelkern nur als Reflektor.“ Ein Summzeichen ließ alle aufblicken. Der Bildschirm mit dem Gesicht Captain Biggs erschien wieder in der Wand. „Weltraumstation M - Sicherheits-Chef Biggs an Kommandant Charivari, Giganto!“ „Bitte, kommen!“ sprach der Professor ins Mikrofon. „Zusammenfassung der Nachrichten aller Stationen“, meldete Biggs. „Ihre Informationen werden ausdrücklich bestätigt. Demnach war Monton nicht das einzige Spionage-Ziel. Auch die FrühwarnGeräte der geheimen Unterwasserstationen haben im Pazifik, am Südpol und am Nordpol winzige Geschosse erkannt und abgeblockt'. Das heißt, sie wurden zur Umkehr gezwungen. Alle diese Geschosse kamen aus der Erde und wurden als verkapselte Vavas identifiziert.“ „Ja“, murmelte Charivari. „Es ging nicht um die Villa Monton, um Madame Claires Küche und die Uhren und Superhirns Sturz in Eierpampe. Das war ein Spionage-Großangriff der RagamuffinBurschen! Ein Einschleusungsversuch an allen Fronten! Tatsächlich waren meine technischen Stationen die Hauptziele. Das Ferienheim in Monton hat man nur so am Rande mitgenommen.“ „Und gerade zu uns haben sie so 'ne Null geschossen“, ereiferte sich Prosper. „Läßt sich von ´ner Katze erwischen! Für nichts und wieder nichts! Aber der Katze gebe ich einen Tritt! Muß das Mistvieh die Welt gefährden!“ „Ruhe!“ mahnte Superhirn. „Was ist in Monton los?“ fragte Charivari den Sicherheits-Chef. „Wir haben ein ganzes Beobachtungsgeschwader auf Haus und Park Monton gerichtet“, erwiderte Captain Biggs. „Geschwader?“ fragte Micha, der an Flugzeuge dachte. „,Ach, winzige Satelliten-Relais, kleiner als die Brausepünktchen im Sprudelwasser“, wisperte Henri. Aber schon fuhr Captain Biggs fort: „Das Satelliten-Geschwader funkt uns Nachrichten herauf. In Monton ist alles ruhig. Keine Vava-Aktivität. Der verletzte Spion muß bereits tief in der Erde stecken.“ „Und was meldet Giganto 2?“ fragte der Professor. Giganto 2? Superhirn, Tati, Henri, Micha und Prosper reckten die Hälse. Gérards Fußballkopf ruckte heftig auf den Schultern. Was war mit Giganto 2? Die Antwort kam sofort: „Nach erstem Ragamuffin-Ultimatum stach Giganto 2 wie befohlen von der Südpolwerft ins Erdinnere. Unbemannt. Von hier aus ferngelenkt“, erinnerte Biggs. „Seine automatischen Nachrichtengeräte meldeten Ihnen ja unmittelbar: Alarm im Erdball!“ „Ja, weiter!“ drängte Charivari. „Giganto 2 kurvt in der Erde unter dem Pazifischen Ozean. Wir lassen ihn nur von Zeit zu Zeit die Ortungsgeräte einstellen, Ragamuffin-Strahlen aufnehmen und Ergebnisse heraufmelden. Zwischendurch herrscht Funkstille“, sagte Biggs vom Bildschirm. „Verständlich“, flüsterte Superhirn. „Aus Sicherheitsgründen!“ „Nach den automatischen Meldungen zu urteilen, hat der Ragamuffin nicht nur eine Siedlung im Erdinnern“, fügte Biggs hinzu, „sondern mehrere. Zumindest kleinere Stützpunkte!“ „Das ist ja heiter“, hauchte Tati entgeistert. 9. Auf Schleichfahrt in der Erde Charivaris Erdschiff befand sich jetzt in 500 000 Meter Tiefe auf „Schleichfahrt“ unter dem Meeresboden des Atlantik. jede Verbindung mit der Überwachungsstation im Weltall war vorübergehend unterbrochen worden. An einer Stelle der gewaltigen Wände in der Kommando-Zentrale hatte der Professor eine
Stundenuhr aufleuchten lassen. Auf ihr gab es nur einen Zeiger - und sehr viele Ziffern über die 12 hinaus. Die Zahl 96 war erleuchtet (zur Kennzeichnung des Beginns der vom Ragamuffin gesetzten Frist). Der Zeiger stand bereits auf der 77! Das hieß, in 77 Stunden würde der Ragamuffin den Erdball zu sprengen versuchen. Nach Biggs letzter Meldung, wonach dieser Erd-Boß sogar mehrere Stützpunkte besaß, von denen er die Erde angreifen konnte, konnte ihm das durchaus gelingen. Noch immer hatte man keine verläßliche Vorstellung von den ungeheuren Gedankenkräften seiner Nation. „Ich habe als Bordzeit die Ortszeit Monton gewählt, damit ihr euch zurechtfindet“, sagte Professor Charivari. Er deutete auf eine zweite, normale Leuchtuhr neben der schaurigen Todesuhr in der Wand. „Ihr müßt Jetzt ein wenig schlafen!“ entschied er dann. Micha lehnte bereits mit geschlossenen Augen in einem Sessel, den friedlich schlummernden Loulou auf seinem Schoß. Der Kommandoraum dieses neuesten Gigantos glich einem riesigen Konferenzsaal für verschiedene Arbeitsgruppen. Hier hatte man bereits an spätere, friedliche Erderkundungsfahrten mit Wissenschaftlern aus aller Weit gedacht. „,Ich fall zwar vor Müdigkeit fast um“, brummte Gérard, „aber vorm Schlafen würde ich gern noch 'ne Kleinigkeit essen.“ Bei dem Wort „essen“ erwachte Micha. Er gähnte und streckte sich. „Ich hab was von Bonbons geträumt“, sagte er verschlafen. „Gibt's hier nicht auch einen Bonbonautomaten, wie im vorigen Giganto?“ „Ja“, lächelte Professor Charivari. „Aber wenn ihr jetzt nur noch eine Kleinigkeit zu euch nehmen wollt, dann rate ich euch gleich hierzubleiben. In diesem neuen Erdschiff ist alles sehr vereinfacht worden. Nein, nicht etwa versimpelt - sondern mit äußerster Raffinesse perfektioniert. Wir sind ja Gehirnwellen-Fachleute, nicht? Legt eure Stirnen auf die Kante eines der vielen Tische und denkt euch was aus! Der automatische Kellner verabreicht aber nur leichte, bekömmliche Sachen.“ Gérards Rundkopf bumste sofort gegen die Kante des nächsterreichbaren Tisches. „Aua!“ schrie er. „Da pikt mir was in die Stirn!“ „Ein harmloser Signalstrahl, daß deine Bestellung angenommen ist“, lachte Professor Charivari. „Nimm deinen Kopf zurück! Im Tisch wird sich eine Klappe öffnen, und dann hast du deinen Salat!“ Gérards Salat waren ein paar dünne, zusammengepreßte Frankfurter Würstchen in Folie. „Ich hatte aber an 'ne Kalbskeule gedacht!“ maulte er. „Größere Gerichte nimmt die Automatik nicht an“, erklärte der Professor. „Dazu müßt ihr ins Restaurant. Hier gibt es nur Kleinigkeiten, die auf Wunsch-Abruf in einem Unterboden-Kanal durch die Tischbeine befördert werden. Da geht kein gebratenes Schwein hindurch.“ Henri knabberte an einer Salzstange, Tati an einem Riegel Schokolade. Prosper war mit einer Delikateßgurke zufrieden. Superhirn schleckte Eis am Stiel, und Micha hatte seine Rolle saurer Bonbons. Loulou bekam von Gérard ein Häppchen Wurst und von Tati einen Bissen Schokolade. Hunde wurden von der Automatik nicht bedient. J1aschen mit verschiedenen Säften findet ihr in euren zimmern. Übrigens liegen dort auch noch einige Knabbersachen bereit“, fügte Professor Charivari hinzu. „So“, er wurde ernst, „wir sind nicht auf einer Vergnügungsfahrt. Ihr seid keine Passagiere, sondern Besatzung - wie auf den vorigen Raumund Erdvorstößen. Ich muß euch jetzt eure Posten zuweisen. Superhirn, du bist mein Stellvertreter. Henri ist Innen-Kommandant. Gérard und Prosper arbeiten als Signal-Beobachter. Tati wird ChefLaborantin.“ „Und ich soll Loulou im Lastenraum Gassi führen, was?“ rief Micha enttäuscht. „Na, nicht nur das! Du wirst Assistent zur besonderen Verwendung!“ entschied der Professor. „Und nun die Schlafeinteilung: Superhirn und ich übernehmen die erste Wache. Die anderen legen sich aufs Ohr, verstanden?“ Der Professor trat an die bogenförmige Kommandoplatte. Er wollte noch etwas sagen, aber der Schreck verschlug ihm die Sprache. „Tati“, krächzte er heiser, „und ihr anderen - außer Superhirn - fahrt im Lift zum Oberdeck! Sucht
euch Schlafzimmer aus! Es gibt genug an Bord, mit Waschräumen, Kleiderkammern und allem denkbar Nötigen! Ihr wart ja schon öfter auf meinen Schiffen!“ Geistesabwesend starrte er auf den Befehlstisch. „Das ist doch nicht möglich!“ murmelte er. „Was ist nicht möglich?“ fragte Superhirn, der mit ihm allein zurückgeblieben war. „Die eingebauten Mini-Kameras in der Schiffshaut“, erklärte Charivari mühsam. „Die bringen mir hier ein Objekt auf die Platte!“ „Ein waaas???“ „Eine enorme, fremde Erdrakete!“ sagte Charivari fassungslos. „Das Ding kommt direkt auf uns zu!“ 10. Ragamuffin erbeutet unbemannten G2! Charivaris Hände fuhren auf der Befehlsplatte umher wie auf einem verhexten Klavier. „Ausgeschlossen“, murmelte er. „Das ist...“ Er übertrug die Bildfolge riesengroß auf die Wände. Tatsächlich sah man den glühenden Saugdüsenstrahl einer fremden Erdrakete! Der Glutstrahl kam sehr schnell auf Gegenkurs näher. Der rote Wirbel konnte nur von einem anderen Erdschiff herrühren! Charivari unterbrach den Film. Durchs Mikrofon gab er in Windeseile Kurs-Änderungs-Befehle an die Steuerungs-Automatik. „Was jetzt?“ schluckte Superhirn. „Wir gehen mit Höchstgeschwindigkeit nach oben!“ Der Professor atmete schwer. Seine Finger krampften sich in den Fadenbart. Von der eiligen „Steilfahrt“ merkte man im Innern der Rakete nichts. Alle Arbeits- und Wohnräume blieben immer „waagerecht“. Charivari ging auf Bildfunk-Kontakt mit der überwachenden Raumstation. Seine sanfte Stimme wurde zum Donnergrollen: „Giganto an Biggs! Biggs! Sofort kommen!“ Das Bild des fernen Sicherheits-Chefs tauchte in der Wand auf „Was ist denn los?“ schrie der Professor. „Uns rammt hier beinahe eine fremde Erdrakete! Schlaft ihr da oben? Wozu seid ihr eigentlich da? Stellt mal fest, was das für ein Geschoß war, dem wir eben knapp entwischt sind!“ Der Sicherheits-Chef griff nach einem Telefonhörer. Was er sprach, verstand man nicht. Superhirn sah auf dem Bildschirm, daß jemand Captain Biggs einen Zettel reichte. Biggs runzelte die Stirn, dann strich er sich über die Augen. „Gefahr vorbei!“ sagte er. „Aber?“ rief Charivari ungeduldig. „Was für ein Ding hat uns fast gerammt? Hat etwa der Ragamuffin diesen mörderischen Staubsauger eingesetzt?“ „Nein!“ meldete Biggs. Er blickte auf einen zweiten Zettel. „Ich werd verrückt! Das war eine Fernlenk-Panne!“ „Was heißt das?“ „Die Rakete, die Sie eben fast gerammt hat, war keine fremde!“ „Sondern?“ rief Charivari. „Es war Giganto 2“, erwiderte Biggs bedrückt. Der schwarze Fadenbart des Professors schien sich zu sträuben. Superhirn hatte das Gefühl, als habe er plötzlich Milchglas vor den Augen. ..Giganto 2 - auf unserem Kurs?“ rief Charivari. „Zum Teufel, wie kommt der hierher? Ich denke, er patrouilliert unter dem Stillen Ozean?“ „Und wir sind unterm Atlantik!“ fügte Superhirn hinzu. ..Die Verbindung mit Giganto 2 war unterbrochen“, sagte Biggs, „als er tatsächlich noch unter dem Stillen Ozean war, jenseits der sogenannten Südgrenze dauernder menschlicher Wohnsitze! Ab da entzog er sich unserer Fernlenkung. Wir nahmen nicht an, daß er südlich von Feuerland in das Gebiet unterhalb des Atlantiks dringen könnte.“
Wie so 'n oller Kap-Hoorn-Segler, dachte Superhirn. Aber die Sache war nicht komisch. „Haben Sie Giganto 2 wieder unter Kontrolle?“ fragte der Professor. „Ja“, erwiderte Biggs. „Er wird in sein Aufgabengebiet zurückgelenkt, wie die Leuchtschrift auf meinem Pult besagt.“ Charivari stellte schweigend Berechnungen an, Superhirn sah das an seinen Augen. Nun erklärte er entschieden: „Captain Biggs! Das war mehr als eine Panne! Mich verblüfft die Kürze der Zeit, in der der unbemannte Kollege diese Entfernung in der Erde zurückgelegt hat! Er ist Ihnen entglitten wie ein nasses Stück Seife!“ „Und daß er ausgerechnet auf unseren Kurs gestoßen ist!“ wunderte sich Superhirn. „Ja“, nickte Charivari. „Das ist wirklich ein sonderbarer Zufall, Biggs!“ „Moment!“ sagte der Captain auf dem Bildschirm. Er „jonglierte“ jetzt mit mehreren Telefonhörern. Schließlich meldete er: „Unser gesamtes Spezial-Team ist immer noch mit diesem Rätsel beschäftigt. Unser bester Mann, der Münchner Professor Büchner, stellt fortwährend Berechnungen an. Ingenieur Lang und die Sensor-Experten Hähnel, Edito und Baier meinen, Giganto 2 hat einen sogenannten Programmsprung!“ „Einen was?“ rief Charivari. „Einen schweren Schaden“, sagte Biggs. „He - hier auf meinem Pult ist die neueste Meldung in Leuchtschrift. Hm. Danach drehen sämtliche Geräte des Fernlenkschiffs durch. Alles steht auf Hochund Vollkraft! Tempo, Spürstrahlen, Funk-Aggregate...“ „Dann verschwendet Giganto 2 die Energie von drei Erdraketen auf einmal!“ folgerte Charivari entsetzt. Er strich sich hastig den Bart. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er ganz ausfällt. Hören Sie, Biggs. Ist es möglich, daß die Vavas des Ragamuffin das leere Fernlenkschiff gekapert haben? Daß sie da schon aus- und einfliegen wie die Bienen?“ „Nein! Wir haben Bildverbindung mit den Innenräumen des verrückt gewordenen Erdschiffes. Es ist kein Vava zu sehen. Auch an dem Steuerpult und den anderen Geräten wurden keine sichtbaren Zerstörungen beobachtet!“ „Gut“, sagte Charivari schnell. „Versuchen Sie, Giganto 2 im Kreis unter dem Stillen Ozean zu halten. Sonst mag er verrückt spielen, wie er will! Sein Funken, Spüren und Energie-Abstrahlen lenkt von unserem Haupt-Giganto ab! Wir verhalten uns ruhig und suchen weiter die Zentrale des ErdBosses!“ „Der Ragamuffin hat noch mal auf die Frist hingewiesen“, meldete Biggs. „Es bleibt dabei: Wenn sein Spion aus Monton nicht zurückkehrt, soll der Globus platzen!“ „Noch sehr die Frage, wer platzt“, murmelte Charivari. „Also: Kümmern Sie sich um Giganto 2. Wir brechen Funkverbindung ab und gehen tiefer. Ende!“ „Meinen Sie wirklich, der Ragamuffin-Staat ist sehr tief im Erdinnern?“ zweifelte Superhirn. „Da wir die Zentrale in höheren Schichten bisher auf keiner Suchfahrt gefunden haben, muß ich jetzt auch das weniger Wahrscheinliche annehmen“, erwiderte der Professor. „In diesem Giganto habe ich noch ein paar Trümpfe, von denen ihr nichts wißt!“ Er tippte auf ein Kontaktplättchen. Plötzlich schwebte die geisterhafte Darstellung der Erde wie eine gewaltige Seifenblase im Raum. Aber das gehörte nicht zu den neuen Trümpfen. Diesen Lichtballon kannte Superhirn schon aus dem vorigen Giganto. Es war ein Hologramm, ein „Vollständigkeitszeichner“. Ein „Körper“, der aus zusammengesetzten Lichtstrahlen bestand. Auf dem Lichtballon, der die Erde markierte, erschienen die Kontinente schwach grünlich. Ein rötlicher Punkt stellte den Giganto dar und zeigte dem Betrachter dessen jeweilige Position an. Das Gebilde war eine Art Fahrtenschreiber. Aber man sah noch ein Pünktchen, stärker grün als die Kontinente: Das ferngelenkte, unbemannte Erdschiff Giganto 2. Dasselbe, das vorhin „verrückt gespielt“ hatte. Der Professor und Superhirn blickten gespannt in das Innere des Hologramms. „Giganto 2 kreist tatsächlich schon wieder unter dem Stillen Ozean“, stellte Charivari fest. Obwohl die beiden Wachhabenden (der Professor und Superhirn) ab und zu auf die Uhren in der
Wand gesehen hatten, war ihnen bei der Fülle der Geschehnisse nicht bewußt, wie rasch die Zeit verging. „Ich bin frisch wie ein Fisch im Wasser“, ertönte plötzlich Tatis Stimme. Waff, wuff, wau ... ! bellte Loulou wie zur Bestätigung. „Guten Morgen!“ rief Micha ziemlich mürrisch. „Wir haben geduscht und waren schon im großen Restaurant! Da gibt's was ganz Neues! Eine sprechende Speisekarte! Die bietet auf Knopfdruck alles Mögliche an, und man braucht nur ja oder nein zu sagen!“ „Vor allem braucht man nichts zu bezahlen“, sagte Prosper. „Gérard hat das reichlich ausgenützt.“ „Was Neues vom Ragamuffin?“ erkundigte sich Henri. „Und habt ihr was über Monton gehört! Wie mag´s Madame Claire gehen?“ „Von Monton nichts Neues“, berichtete Superhirn. „Aber wenn da was wäre, hätte Biggs es sicher erwähnt.“ Tati blickte auf die Uhren in der Wand. In Monton müßte jetzt alles schon auf den Beinen sein!“ Aber die Todesuhr mit der Ragamuffin-Fristanzeige ließ sie erschrecken. „Immer ruhig“, beschwichtigte Superhirn. „Es bleibt genügend Zeit!“ Tati nahm sich zusammen. „Soll ich euch Kaffee bringen?“ fragte sie die beiden Wachhabenden. „Das wäre nett“, murmelte Charivari. Er saß auf einem Gleitstuhl an der bogenförmigen Befehlsplatte. „Ich kann hier nicht weg. Aber Superhirn sollte sich hinlegen. Henri löst ihn ab!“ In den folgenden Stunden jagte eine Fehlanzeige die andere. Wenn Charivari es in Abständen wagte, Funkverkehr mit der Überwachungsstation im All aufzunehmen, bekam er jedesmal etwas anderes zu hören. Das ferngelenkte, unbemannte G-2-Schiff unter dem Stillen Ozean funkte: „Bewohnte Hohlräume in der Erde geortet“ widerrief zwei Stunden später, bestätigte abermals, widerrief aufs neue. Dagegen blieb der Ragamuffin bei seiner Drohung, wie Captain Biggs berichtete. Nur eins löste große Erleichterung aus. In Monton herrschte zweifelsfrei keine Vava-Aktivität mehr. Die Geheimaufklärung hatte der Raumstation normale Bilder und Gespräche übermittelt. Demnach prüften ein paar Männer vom Elektrizitätswerk die Kellerkabel im Schloß. Und Madame Claire war mit einem Tablett auf dem Weg vom Gärtnerhaus in die Küche der Villa gesichtet worden. Inzwischen hatten alle - auch der Professor - ausreichend geschlafen, ohne daß der nächste Schlag erfolgte. Da brachte der Bildkontakt mit Captain Biggs die Schreckensmeldung: „Ragamuffin und seine Vavas haben unbemannten Giganto 2 gekapert!“ 11. Die große Explosion Auf welche Weise die Erbeutung von G 2 durch die Vavas geschehen war, konnte Biggs nicht sagen. Ganz bestimmte Gründe aber zwangen zu der Annahme, daß sie das unbemannte Erdschiff tatsächlich gekapert hatten. „Giganto 2 hat jeden Funkverkehr eingestellt, die Fühler eingezogen und Energieverluste ausgeglichen“, erklärte Charivari seiner entsetzten Besatzung. „Es entzieht sich der Fernlenkung. Aber diesmal sieht es nach Methode aus.“ „Hat Biggs denn Bildfunk aus dem Innern von G 2 gehabt?“ fragte Henri. „Ich meine: Hat man auf der Raumstation sehen können, daß Vavas im unbemannten Schiff rumschwirrten?“ „Nein“, sagte der Professor. „Ihr habt ja Biggs Meldung gehört. Jede meiner Raketen hat unzählige, unsichtbare Überwachungsgeräte, die selbsttätig das Eindringen von Fremdkörpern an Biggs weiterfunken!“ „Und das hat geklappt?“ fragte Micha. „Es hat gerade eben noch geklappt, bevor der Gesamtfunkverkehr aussetzte“, berichtete Superhirn. Er hatte Biggs Bericht genauso angespannt verfolgt wie der Professor. Charivari fuhr fort: „Die Überwachungsgeräte, ich nenne sie Polizei-Nasen, Polizei-Ohren und
Polizei-Augen, haben Biggs das Auftreten von Fremdgerüchen, Fremdgeräuschen und Fremdkörpern mitteilen können. Danach war alles still.“ „Na, dann wissen wir ja wenigstens, wo wir den Feind zu suchen haben“, sagte Gérard rauh. Tati starrte dauernd auf die Todesuhr in der Wand. „Was - was machen wir nun?“ stammelte Prosper ängstlich. „Wir schleichen“, erwiderte Charivari. Er blickte auf den Lichtball, der die Erde darstellte. „Eins funktioniert wenigstens noch: Die Peilung, die den Standort von G 2 angibt!“ Ja! Der grüne Punkt unterhalb des Stillen Ozeans war noch da. Er bewegte sich kaum merklich im Kreise. Der rötliche Punkt, also der Giganto mit dem Professor und seiner Besatzung, kurvte dagegen nach wie vor tief unter dem Atlantik. „Beobachten wir, wohin die Vavas mit dem erbeuteten Erdschiff fahren?“ vergewisserte sich Henri. Professor Charivari nickte. „Hm“, überlegte Superhirn. „Wenn alles stimmt - das heißt, wenn Biggs Team und wir wahrhaftig keine falschen Schlüsse ziehen - dann müßte der Ragamuffin mit seinen Vavas doch auch technische Fähigkeiten haben!“ „Wir dürfen das jetzt nicht mehr ausschließen“, gab Charivari zu. „Nichts, gar nichts mehr dürfen wir für unmöglich halten!“ Der Giganto blieb auf Schleichfahrt. Dennoch wurde das Innere in Alarmbereitschaft versetzt. Und das war die reinste Hölle! Nicht mehr - wie in den älteren Raketen - zeigten Wandverfärbungen oder Leuchtsignale die Alarmbereitschaft an. Es sollte gänzlich ausgeschlossen werden, daß jemand sich an den Zustand gewöhnte. Deshalb war raffinierte Vorkehrung getroffen, jeden zu jeder Zeit an die Gefahr zu erinnern. Und zwar auf eine ungemütliche Weise: Wer sich hinlegte, wurde automatisch aus dem Bett gekippt. Das Restaurant gab nur kleine Portionen heraus. Keiner sollte etwa über einer üppigen Mahlzeit hocken und träge werden. Die Duschen verweigerten den Dienst. Wer die Turnhalle, das Bordkino oder das VergnügungsCenter betrat, bekam leichte, elektrische „Peitschenhiebe“ ins Gesicht. Im Kommandoraum blendeten unvermittelt die Tischlampen auf, so daß man aus „dösiger“ Stimmung gerissen wurde. Die Sofas neigten sich hin und her: Wer sich da gemütlich ausgestreckt hatte, glitt sanft von den Polstern auf den Boden. Von Zeit zu Zeit ruckten die Sessel vornüber. Legte sich einer auf den Boden, wurde er nach einem Weilchen durch ein Trommelgeräusch hochgeklopft. Ruhe - oder gar Schlaf - war nur in Raten möglich. Und an eine geregelte Wacheinteilung war überhaupt nicht zu denken. Professor Charivari nahm noch einmal Bildfunk-Kontakt mit Biggs auf. Seltsamerweise blieb aber der Ton ausgeschaltet. Charivari beobachtete den fernen Captain, der stumm die Lippen bewegte. Auch Charivari sprach lautlos etwas in sich hinein. Dann schaltete er ab. „So, Superhirn“, sagte er. „Ich übergebe dir das Kommando. Ich gehe jetzt in mein Privatbüro, weil ich nachdenken muß. Es gilt, einen wichtigen Entschluß zu fassen. In der Bogenplatte ist ein ausziehbares Telefon. Du brauchst nur den Hörer abzunehmen und den Knopf zu drücken. Dann melde ich mich. Rufe mich aber nur an, wenn es wirklich etwas sehr Wichtiges ist!“ „Okay“, nickte Superhirn vom Befehlstisch her. Als er aufblickte, sah er Henris Augen auf sich gerichtet. „Was faul, nicht?“ Superhirn schwieg. Aber das war schlimmer, als wenn er geantwortet hätte. Tati, Micha, Prosper und Gérard war nichts aufgefallen. Gérard ärgerte sich, weil er alle zwei Minuten aus seinem bequemen Sessel gekippt wurde. Ebenso schimpfte Prosper auf sein „blödes Sofa“. Tati und Micha waren vollauf mit Loulou beschäftigt. Seit Beginn der Alarmbereitschaft war der arme Hund einem Nervenzusammenbruch nahe. Micha gab Tati den Pudel. Er versuchte, sich aus einem der teuflisch blendenden Tische Bonbons zu besorgen. Schließlich gelang es ihm auch. Sie waren abgelenkt.
Superhirn und Henri konnten die Köpfe zusammenstecken um sich zu besprechen. „Mit Charivari stimmt was nicht“, murmelte Superhirn. „Biggs war auf dem Bildschirm auch so komisch“, teilte Henri seine Beobachtung mit. „Warum funkt man sich per Bild an - und spricht dann nicht miteinander?!“ „Mensch!“ Superhirn durchzuckte es wie ein Blitz: „Charivari und Biggs haben gesprochen!“ „Wie denn?“ „Na, lautlos! Taubstummensprache! Sie haben sich die Worte von den Lippen abgelesen!“ „Klar“, durchzuckte es nun auch Henri. Junge, Junge! Wenn ich bis jetzt in diesem Narrenschiff keine kalten Füße gekriegt habe - jetzt wird's mir unheimlich! Es gibt was, das wir nicht wissen sollen!“ Micha war in der Zwischenzeit mit dem bellenden Pudel auf dem Flur gewesen. Er berichtete atemlos: „An Professor Charivaris Büro ist kein Türöffner!“ Er rief es so laut, daß Tati, Prosper und Gérard aufhorchten. Prosper lief sofort hinaus, um sich selber zu überzeugen. Seine Bestätigung lautete: „Kein - kein Knopf, kein Kontakt, nichts! Auch kein Schlüsselloch!“ ..Weshalb verzieht er sich in ein Zimmer, in das wir nicht flüchten können, wenn Gefahr ist?“ fragte Tati nervös. „Der Professor will schlafen, weiter nichts“, brummte Gérard. Jetzt?“ schrie Micha. „Wo bei uns die Sessel hopsen und wir von den Sofas oder aus den Betten gekippt werden?“ Und nun beging Superhirn einen verhängnisvollen Fehler. Statt die Freunde zu beruhigen und Charivari zu vertrauen, griff er nach dem Telefon. Durch das stumme Gespräch zwischen Captain Biggs und dem Professor war seine Neugier geweckt worden. Er sah einen Zusammenhang zwischen diesem Rätsel und Charivaris plötzlichem Verschwinden im unzugänglichen Büro. Er entschloß sich, dem rätselhaften Geschehen auf den Grund zu gehen. Sofort meldete sich die Stimme des Professors im Telefonhörer. „Ja, was ist?“ „Wir sind alle besorgt, weil Sie sich bei Alarmbereitschaft eingeschlossen haben“, sagte Superhirn. „Ich komme gleich. Einen Moment noch. Geduldet euch!“ tönte Charivaris Antwort. Es knackte. Der Professor hatte aufgelegt. Doch er kam nicht „gleich“. Und die jugendliche Besatzung mußte sich sehr lange gedulden. Eine ganze Stunde verstrich auf der Todesuhr. Superhirn telefonierte noch ein paarmal. Immer antwortete Charivari ausweichend. Auch, als der Junge schwindelte: „Micha hat Masern, Prosper hat sich das Nasenbein gebrochen, Tati hat Schreikrämpfe, Henri und Gérard kloppen sich.“ „Die Telefon-Automatik gibt nichtssagende, vorbereitete Antworten“, erkannte Superhirn. „Sehr geschickt! Wenn ich spreche, setzt die Automatik aus, als würde der Partner zuhören. Schweige ich, kommt belangloses Zeug.“ „Du meinst“, sagte Henri, „Professor Charivari hat den Giganto verlassen?“ „Ich wette!“ entgegnete Superhirn. „ Wie und weshalb weiß ich nicht! Doch darauf nehm ich Gift! Sein Büro ist leer!“ Tati und die anderen standen sprachlos. Loulou winselte leise. Da rief Micha keck: „Das wollen wir doch mal sehen!“ Er trat an den Befehlstisch, guckte darauf herum und drückte auf einen Knopf. „Was?“ Diesmal hatte Superhirn zu spät „geschaltet“. Aber in einem anderen Sinn. „Was machst du denn da?“ ..Ich hab den Knopf Help gedrückt, „Zu Hilfe“!“, sagte Micha. „Dann muß Charivari doch kommen! Oder etwa nicht?“ Aber dieses „Help“ war ein Notruf an Maschine und Betriebszentrale - die keiner betreten durfte, ohne zu verzischen. Wen das Signal aus dem höllischen Gebrodel herbeiholen würde, ahnte niemand. Plötzlich hörte man schlürfende Schritte. Leichter Schwefelgeruch verbreitete sich. Als erster begriff Superhirn. „Es kommt jemand durch die Schleuse! Aus dem Maschinenraum ... !“ Gleich darauf füllte sich der Befehlsraum mit Gestalten. Eine nach der anderen schlürfte herein,
schwerfällig, schweigend, starren Gesichts. Immer stärker roch es nach Schwefel und Schmieröl. Der Pudel schien tobsüchtig zu werden. Er schnupperte, hustete, quietschte, überschlug sich. Und die Gestalten standen stumm. Sie trugen Werkanzüge und silbrige Schutzhelme. jeder hatte ein Gerät in der Hand: eine Axt, ein Stemmeisen, eine Zange, einen Hammer - und manches, was man nicht deuten konnte. „Das sind keine Menschen!“ schrie Tati auf Sie sah die gläsernen Augen. „Vavas! Große Vavas!“ stotterte Prosper. „Nicht bewegen.“ „Wo ist der Professor?“ heulte Micha. Henri blickte stumm. Roboter! fuhr es Superhirn durch den Kopf. Hitzebeständige, programmierte Automaten in Menschengestalt! Hilfsaggregate! Sie waren auf das Signal durch Haupt- und Nebenschleusen gekommen und standen abwartend. Abwartend! Ein Zeichen, daß sie auf eingespeicherte „Reizworte“' entsprechend reagieren würden. Superhirn versuchte es kaltblütig. „Büro-Tür-Professor-Charivaris-aufbrechen!“ befahl er langsam und ruhig. Er wiederholte den Befehl mehrfach, immer in anderer Form. „Chef-Raum-gewaltsam-öffnen!“ Langsam entfernten sich die Automaten. Siebzehn oder achtzehn wanderten gleich durch die Schleusen zurück. Drei zerschlugen die Bürotür mit mächtigem Getöse zu Splittern und Krümeln. Dann entfernten auch sie sich. Die äußerste Schleusenklappe ging geräuschlos hinter ihnen zu. Der Spuk war verflogen. Die Belüftung beseitigte den Schwefel- und Ölgeruch. Die Gefährten und der zitternde Pudel waren wieder allein. Sehr allein. Das aufgebrochene Büro war leer. Der Professor war tatsächlich nicht da. Alle blickten auf den Schreibtischsessel, das unberührte Bett, das Telefon in der Halterung. „Komisch“, sagte Micha klappernd, „in der Ecke ist noch ein Telefon. Eins in 'ner richtigen Telefonzelle!“ „Ja“, staunte Prosper. „Habt ihr schon mal eine Telefonzelle in einem Zimmer gesehen?“ „Mir steht der Verstand still!“ ächzte Tati. Was die anderen dachten, konnten sie so schnell nicht mehr ausdrücken. Plötzlich stand Professor Charivari in der nach einer Seite offenen Zelle, so als wäre er die ganze Zeit darin gewesen. „Seid ihr wahnsinnig?“ schrie er Superhirn an. „Ich hätte dich für zuverlässiger gehalten! Wo bleibt denn euer Verstand? Konntet ihr euch nicht gedulden?“ „Wo - wo kommen Sie denn her? Wo - wo sind Sie gewesen?“ fragte der spindeldürre Junge mühsam. „Ich habe mich für kurze Zeit aus dem Giganto hinaustelefoniert.“ rief der Professor. „Jawohl! Ihr habt richtig gehört: hinaustelefoniert!“ „Hinaustelefoniert?“ fragte Henri ungläubig zurück. „Ich sagte es doch“, unterbrach ihn Charivari. „In der Zelle ist kein gewöhnliches Telefon. Deshalb durftet ihr hier auch nicht herein. Wenn man eine Nummer wählt, löst man sich in Kleinstteilchen auf und setzt sich erst wieder am gewählten Anschluß zusammen! Das ist ein Molekular-Telefon!“ Er betonte: „Damit kann man nicht nur seine Stimme, sondern seinen ganzen Körper durchtelefonieren!“ „Wohin haben Sie sich denn durchtelefoniert?“ fragte Superhirn geistesgegenwärtig. „Ich schätze, in den Giganto 2 im Stillen Ozean! Das hatten Sie doch mit Biggs per Lippensprache ausgemacht. Oder? Sie wollten die Vavas im erbeuteten Schiff vernichten!“ Charivari schwieg verblüfft. Dann lachte er: „Hätte wissen müssen, daß du hinter meine Schliche kommst, Superhirn! Aber nun los, in die Zentrale!“ Er eilte an den Kommandotisch. „Es wäre euch schon nichts passiert“, sagte er. „Mein ganzer Anzug ist gespickt mit Sendern und Empfängern. Hattet ihr das vergessen? Außerdem hat euch Biggs von der Weltraumstation aus heimlich überwacht. Er hätte jederzeit eingreifen können.“
„Was ist denn mit den Vavas?“ fragte Micha. „Sitzt der Ragamuffin wirklich im anderen Giganto?“ „Keine Spur“, erwiderte Charivari. „Fehlanzeige! Der Ragamuffin und seine Leute sind niemals in dem unbemannten Schiff gewesen! Die Geräte und Instrumente, alles war. hoffnungslos durcheinander! Wie das so ist: Eine Panne löst immer die nächste aus. Schließlich gibt's eine Kettenreaktion! Was wir uns zusammengereimt haben, war falsch. Ich hatte es mir beinahe schon gedacht. Und nun war ich eben dabei, die Betriebszentrale von G 2 neu einzusteuern, als mir mein Taschengerät Ärger auf diesem Schiff meldete. Da mußte ich telefonisch zurück!“ Er unterbrach sich und starrte auf den Lichtball. Der grünliche Punkt, der den eben erst von Charivari verlassenen G 2 darstellte, bewegte sich in rasender Eile südlich unter Kap Horn in Richtung Atlantik. „Verflixt!“ rief Charivari. „Unser unbemanntes Erdschiff stellt uns wieder nach. Es wird auf Rammkurs gehen!“ Er versuchte Verbindung mit Biggs im Weltall herzustellen. „Hier Kommandant Giganto eins! Unbemannte Erdrakete folgt uns wieder! Schalten Sie auf Fernlenkung! Hallo! Hoch-Alarm im Erdball!“ Doch in der Wand erschien keine Mattscheibe. Sicherheits-Chef Biggs meldete sich nicht ... „Wieso kommt uns G 2 hinterher?“ schrie Micha. Hastig sagte Charivari: „Ich hab was Sonderbares festgestellt, als ich vorhin in der unbemannten Rakete war. Die Kursrechner im G 2 zeigten noch alle unsere Positionen unter dem Atlantik an. Ich brachte den Rechner in Ordnung. Mehr noch: Ich habe Giganto 2 an Ort und Stelle für Kreisfahrt programmiert, damit kein Unglück mehr passieren kann!“ „Aber ... ?“ fragte Superhirn. Professor Charivari tippte wie verrückt auf der Befehlsplatte umher. „Der unbemannte Giganto 2 wird sich immer und immer wieder auf uns einstellen“, murmelte er. „Durch den ganzen Erdball hindurch. Es besteht eine unbekannte Beziehung zwischen unserem HochGiganto und dem unbemannten kleineren Erdschiff G 2. Das konnten die Konstrukteure nicht ahnen. Ich begreife das jetzt! G 2 reagierte ganz unwillkürlich auf sehr große, bewegliche, künstliche Ziele in der Erde! Technische Maschinen, die ihm gleichen! Und das einzige Ziel dieser Art im Erdball sind wir ... !!!“ Charivari ließ die Aufnahmen sämtlicher Mini-Kameras in den Wänden der Befehlszentrale erscheinen. in der dunklen Erdnacht sah man fernen, rötlichgelben Saugdüsen-Wirbel. „Er schießt auf uns zu!“ röchelte der Professor. „Er kommt genau auf Rammkurs. Und keine Verbindung mit Captain Biggs!“ Neuerlich tippte er wie irrsinnig Kontakte. Dabei gab er wie aus der Pistole geschossen seine Mikrofonweisungen. „Gehen Sie doch auf Steilfahrt nach oben!“ rief Henri. „Ja! Wir sind doch zehnmal schneller als der andere!“ schrie Prosper. „Weichen Sie aus! Weichen Sie aus!“ Loulou bellte und jaulte. „Verflixt!“ keuchte der Professor. „Zu spät! G 2 hat automatisch alle seine Reserveenergien eingesetzt! Er wirkt auf unsere Saugdüsen ein! Er hemmt unsere Beweglichkeit und Geschwindigkeit!“ „A-aber“, schluckte Gérard. „Dem ... dem anderen muß doch mal die Kraft ausgehen! Der hält doch nicht mehr lange durch!“ „So lange, um unsere Düsen anzukratzen schon“, sprach Superhirn in sich hinein. Auf der Riesenwand vermerkten die Kameraaugen den Düsenstrahl des Verfolgers - größer und größer! .,Irgendwas muß doch jetzt geschehen!“ rief Tati verzweifelt. „Das Feuer kommt immer näher!“ Tatsächlich raste der Feuerball der Saugdüsen des unbemannten Schiffes unerbittlich und zielstrebig heran.
Micha öffnete den Mund zu einem Schrei. „Achtung!“ entfuhr es Superhirn. Die Gefährten warfen sich zu Boden - in Erwartung des Zusammenstoßes. Aber was hätte das genützt? Superhirn und Henri hoben die Köpfe. Sie sahen das Feuer auf dem Wandfilm größer und stärker werden. Doch plötzlich sank es in sich zusammen. Rascher, immer rascher. Schließlich erlosch es. Die Kameras nahmen nun nichts mehr auf als Dunkelheit, die Schwärze des Erdinnern ... „Ich habe Giganto 2 im letzten Moment über Funk gesprengt“, sagte Professor Charivari tonlos. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Die Gefahr ist nun endgültig vorbei!“ Die Jungen und Mädchen erhoben sich. „Keine Angst?“ fragte Tati. „Haben Sie nicht was vergessen? In der Wand läuft die Todesuhr! Denken Sie etwa nicht mehr an den Ragamuffin?“ „Das fragst du noch?“ kam Charivaris entschlossene Antwort. Er strich sich heftig den schwarzen Fadenbart. „Hm. Beweglichkeit und Beschleunigung wieder normal ... Unser Schiff hat keinen Schaden. . . So. Nun gehe ich aufs Ganze!“ Diesmal bekam er Kontakt mit dem fernen Sicherheits-Chef im Weltall. Auf der Mattscheibe zeigte sich Captain Biggs Gesicht. „Sind Sie vom wilden Affen gebissen?“ herrschte der Professor ihn an. „Der unbemannte G 2 war wieder auf Rammkurs! Inzwischen haben Sie wohl Tischtennis gespielt, wie? Ich mußte Giganto 2 zerstören!“ „Wir hatten tolle Probleme“, verteidigte sich der Captain. „Wir hatten hier ein Rätsel zu lösen.“ „Ach, Unsinn!“ unterbrach Charivari hart. „Ich hab's jetzt satt! Ich vergeude keine Sekunde mehr! Alles wird sofort gegen den Erd-Boß eingesetzt!“ Biggs wollte etwas einwenden, doch der Professor sprach weiter: „Strikte Weisung: Lassen Sie die Erdraketen Giganto 3, Brisanto und Rasanto startklar machen! Aber ja nicht unbemannt! In jedem Schiff muß ein Experte für Kurskorrekturen sein, damit die Dinger nicht auch auf unseren Hoch-Giganto losgehen!“ „Was?“ rief der ferne Biggs. „Ihre anderen Erdschiffe wollen Sie jetzt noch einsetzen!“ „Wieso nicht?“ fragte Charivari kalt zurück. „Weil der Ragamuffin Frieden gemacht hat!“ erwiderte Biggs lebhaft. „Das war ja das Rätsel, das uns alle abgelenkt hat! Wir entschlüsselten und beratschlagten seine Nachricht. jetzt besteht aber nicht mehr der geringste Zweifel! Der verletzte Vava aus Monton hat sich in der innerirdischen Ragamuffin-Zentrale eingefunden! Das Ultimatum gilt nicht mehr! Und aus Monton haben wir Nachricht, daß Madame Claire wohlauf ist.“ Die Gefährten standen einen Moment reglos. Dann hopsten und schrien sie vor Freude. „Nehme Weisung zurück“, lächelte der Professor. „Wir gehen auf Heimatkurs! Ende!“ Er wandte sich an die jugendliche Besatzung: „Und ihr legt euch jetzt erst einmal aufs Ohr!“ „Und was wird mit den kaputten Uhren im Schloß“, rief Micha. Charivari lachte: „Ich schicke euch einen Assistenten, als Uhrmacher verkleidet. Der repariert die Dinger schon! Für die Küche fällt mir auch etwas ein!“ „Aber unsere Sachen“, erinnerte Prosper. „Unsere Armbanduhren und Henris Taschenuhr! Und die Transistor-Radios!?“ „Wird alles ersetzt“, versicherte der Professor. „Ihr kriegt auch besondere Giganto-Armbanduhren als Andenken mit!“ Wau! bellte der Pudel, als wollte er fragen: Und krieg ich wenigstens 'ne Giganto-Hundemarke?
Ende
Giganto meldet: Erdschiff verloren 01. Das Gespenst im Feuer In den Orten an der schönen und wilden französischen Atlantikküste waren die Feuersirenen verstummt. Dafür hörte man von früh bis spät die klagenden Laute der Signalhörner vieler Feuerwehrfahrzeuge. Wie enorme, sonderbare Insekten aus einer anderen Welt, blindlings und kopflos, hasteten sie über Land. Von Monton bis zum berühmten Campingplatz über den Dünen von Nort brannten seit Tagen die Wälder. Superhirn und seine Freunde, die im Schlößchen von Monton ihre Ferien verbrachten, hatten so etwas noch nicht erlebt. Gérard und Prosper, aber auch Henri und seine Schwester Tati halfen den Aufgeboten beim Schippen. Natürlich schloß sich Henris und Tatis kleiner Bruder Micha nicht aus. Und auch der schwarze Zwergpudel Loulou war immer dabei, obwohl er nichts Rauch. „Warum das Feuer gerade hier ausbrechen mußte wo immer Wind weht“, keuchte Tatjana. „Landeinwärts regt sich kein Grashalm.“ Gérard grinste. (Die anderen neckten ihn damit, daß er einen „Fußballkopf“ habe. Er war nicht nur ein Fußballfan, sondern selber ein begeisterter Kicker.) In seinem Rundgesicht erkannte man die weißen Zähne. „Unser Gärtner läuft seit Tagen mit einem Heiligenschein rum. Weshalb7 Er hat eine ringförmige Tabakwolke geblasen. Die löst sich nicht auf!“ Ach falle gleich um - vor Lachen!“ sagte Prosper humorlos. Superhirn, der spindeldürre Junge mit den enormen, kreisrunden Brillengläsern, der eigentlich Marcel heißt, verdankte seinen Spitznamen seiner Blitzgescheitheit. Er blickte zwischen Baumstämmen und Büschen hindurch auf das abendliche Meer. Er hatte eine Beobachtung gemacht, die ihm nicht gefiel. „Hier weht immer 'ne leichte Brise“, sagte er. „Die treibt das Feuer natürlich weiter.“ Feuerwehrleute, Polizisten, Soldaten, Bauern, Bürger aus verschiedenen Ortschaften und Feriengäste aus allen Teilen der Welt hackten und schaufelten Gräben von der Straße her durch den Pinienwald bis zu den Sanddünen, um den Flammen den Weg abzuschneiden. Superhirn, Gérard, Prosper und die Geschwister Henri, Tati und Micha hatten den Rand des Waldes erreicht. „Was soll man hier schippen?“ schnaufte Micha. „Das ist ja Sand für 'ne Sanduhr. Das Zeug rieselt immer zurück!“ „Pause!“ schlug Henri vor. Die Gefährten setzten sich auf einen Dünenbuckel. Aus ihren Feldflaschen tranken sie Zitronensaft, den ihnen ihre „Ferienmutter“ mitgegeben hatte. begann Prosper, „haben wir viel erlebt. Ich wollte, Professor Charivari käme mit seinem Erdschiff Giganto. Da drin braucht man sich nicht so abzuplacken. Außerdem kann der Giganto durch flüssige Lava fahren. Sogar durch die glühendste Hölle - haha - ohne, daß man's merkt!“ „Du sollst den Professor nicht erwähnen“, mahnte Tati. „Seine Erd- und Raumschiffe erst recht nicht. Die sind sein Geheimnis.“ „Und zu-zu-zufällig auch unseres!“ rief Prosper. mit seinem Halstuch versuchte er vergeblich, sich den Ruß aus dem Gesicht zu wischen. „Für Professor Charivari wär's 'ne Kleinigkeit, so einen Waldbrand zu löschen. Der hat doch die tollsten Geräte!“ „Und er hat auch die gefährlichsten Feinde“, warnte jetzt auch Superhirn. „Feinde, die uns überall nachstellen, weil wir Charivaris Mitwisser sind. Ich hab die ganze Zeit gefürchtet, im Durcheinander der Brandbekämpfung könnte sich einer an uns ranmachen.“ Superhirn reinigte seine Brillengläser. Die Gefährten sprachen wieder über das Feuer. Keiner merkte, daß Micha vor Schreck verstummt war. Der blitzgescheite Freund hatte den Nagel auf
den Kopf getroffen: Micha erinnerte sich an einen Mann, der sich in den Rauchschwaden an ihn „rangemacht“ hatte. Der Kerl erschien ihm immer unheimlicher, immer entsetzlicher, je mehr er an ihn dachte. Trotz der sengenden Hitze saß der Junge wie zu Eis erstarrt. Er brachte kein Wort heraus. Ahnungslos redeten die Freunde weiter. „Wenn der Rauch sich mit Schweiß vermischt“, grinste Henri, „wirkt er wie Schmiere. Da kannst du lange wischen, Prosper. Sei wenigstens froh, daß du keinen Teergestank in der Nase hast, sondern Weihrauch!“ „Weihrauch? Klar! „ meinte Tati. „Hier sind ja Pinienwälder. Und wenn ich mich nicht irre, ist im Weihrauch auch Pinienöl. Sicher. Wie in den Shampoos und Cremes und Seifen und Badezusätzen. So wie Fichtennadeln. Nur sind Pinien was Feineres.“ „Seht mal an!“ staunte Gérard. Es war schon beinahe Mitternacht und nahezu dunkel. Nahezu, denn im Sommer war der Himmel bei gutem Wetter nie ganz schwarz. Die großen, fast birnenförmigen Pinienzapfen glühten schaurig-schön auf, als wollten die vom Brand betroffenen Bäume ihr Ende signalisieren. Die Rauchschwaden verwehten unter dem gewaltigen, freundlichen Nachthimmel. Und der endlose atlantische Ozean lag völlig gleichgültig da. Superhirn lachte leise. „Ein oller Lehrer an der Schule hat mal gesagt. Die Elemente kümmern sich nicht umeinander!' Wenn ich das so sehe, meine ich, der alte Herr hatte recht.“ Die Freunde hatten in Monton schon Unglaubliches mitgemacht. So leicht imponierte ihnen nichts. Aber dieser Küstenwaldbrand, der sich vom sogenannten „Weißen Horn“ bis zum „Kleinen Kap“ mit dem Leuchtturm „Napoleon“ erstreckte, war eine unvergleichliche, in doppeltem Sinne atemberaubende Schau. So fiel es selbst Superhirn nicht auf, daß Micha noch immer wie vor den Kopf geschlagen dahockte. Er meinte, der Jüngste sei am meisten von dem Naturschauspiel beeindruckt. Daß Micha bereits vom neuen Giganto-Abenteuer „berührt“ worden war, wußte er ebensowenig wie Gérard, Prosper und die Geschwister Henri und Tati. „Überall an den Küstenstraßen sind Schilder mit einer durchgekreuzten Zigarette“, sagte Tati. „Der Dümmste sieht, daß er nicht rauchen soll. Und das da ist nun der Erfolg!“ „Quatsch!“ murmelte Henri. „Ich meine mit 'ner durchgekreuzten Zigarette ist es nicht getan! Da müßtest du vieles durchkreuzen!“ „So ziemlich alles, was Ausflügler mitschleppen, ist feuergefährlich“, sagte Superhirn. „Besonders bei dieser Wüstenhitze. Nicht nur Spraydosen. Ganz einfache Glasflaschen, sogar Folien, können die Brennglas-Wirkung einer Lupe haben. Ein Campinglager mit allem Drum und Dran - in so einem Wald - ist Gefahrenzone Nummer eins.“ Irgendwo, von der Straße her, „ackerten“ Bulldozer Schneisen durchs Gehölz. Der klagende Schrei der Signalhörner kam und ging. Die Kesselwagen der Feuerwehrfahrzeuge mußten fortwährend in die Ortschaften zurück, um neues Wasser zu holen. „Versteh ich nicht“, meinte Tati mit einem Blick auf das dunkle Meer. „Da ist Wasser genug, um ganze Landschaften zu überschwemmen. Und die Feuerwehrleute verfahren Zeit und Benzin, um das Wasser fingerhutweise - und von weit her - zu holen.“ „Mit Seewasser kann man zwar das Feuer löschen“, erklärte Superhirn, „aber da es stark salzhaltig ist, würde man damit nicht nur die Natur zerstören, man könnte auch alle Feuerwehrgeräte nach wenigen Salzwasser-Einsätzen wegschmeißen.“ Er blickte jetzt auch aufs Meer. „Was guckst du so?“ fragte Prosper beunruhigt. „Du tust ja, als könnte das auch brennen7“ „Ich achte nur auf den Flugzeugträger“, erwiderte Superhirn. Der Flugzeugträger war in allen Küstenorten angekündigt worden. Er sollte an einer „Flottenschau“ für die Feriengäste mitwirken. Jetzt schickte er Hubschrauber mit Wassersäcken über das Brandgebiet. Wenn so ein „Vogel“ mit seiner Last am Seil in den Rauch flog, sah das nicht gerade wirksam aus. Man dachte, der Abwurf einer solchen „Wasserbombe“ könne nur einen Tropfen auf einen heißen Stein bedeuten. Wenn aber die Reißleine den Sack geöffnet hatte, kam das Wasser wie
ein Teppich mit mörderischer Gewalt auf die Brandstellen herab. Nur mußte die Aktion über Funk exakt abgestimmt sein. Die „Ladung“ durfte die Brandbekämpfer am Boden nicht treffen. „Seit einer Stunde haben wir ablandigen Wind“, sagte Superhirn. „Der Rauch zieht übers Meer davon.“ „Na und? Das ist doch gut!“ rief Gérard. „Nicht für das Fischernest Lyon“, brummte Superhirn. „Das liegt wie 'ne Suppenterrine in der Waldküste. Da!“ Er sprang auf. Wie eine illuminierte Wasserprozession bewegte sich eine Reihe von Fischerbooten auf die offene See hinaus. Wäre der Küstenbrand nicht gewesen, hätten alle an eines der üblichen Volksfeste gedacht. „Die - die brennen!“ schrie Prosper. „Worauf Superhirn gewartet hat“, staunte Henri. „Mensch, du solltest dich als Hafenbrandmeister anstellen lassen!“ „Da ist auch das Schaumlöschboot“, sagte Gérard. „Und sogar das größte Europas. Das Ding mit den Schwenkarmen schwimmt schon seit Tagen draußen rum“, erinnerte Superhirn. In diesem Moment erlangte Micha seine Sprache wieder. Er stieß einen gellenden Schrei aus. Er schrie so laut und schrill, daß sogar der Pudel verstummte. Und das wollte etwas heißen. „Da ... „ schrie Micha. „ Da ... !“ Aber Micha zeigte nicht aufs Meer hinaus, sondern über den Sandstreifen hinweg auf den Wald, den die Freunde vorhin verlassen hatten. „Der Mann! Da ist er wieder ...“ „Welcher Mann7“ Tati riß geistesgegenwärtig den Pudel an sich. Alle hatten die Köpfe gewandt. Vor dem teils tiefschwarzen, teils glühenden, von Schwaden durchzogenen Hintergrund stand eine hochgewachsene, hagere Gestalt. Sie trug den Helm der hiesigen Feuerwehren, wodurch der Schattenriß grotesk an einen spätmittelalterlichen Ritter erinnerte. „Geht weiter runter zum Wasser!“ rief das Gespenst. „Der Baum neben euch ist gefährlich! Beeilt euch!“ Die unheimliche Gestalt fügte noch etwas hinzu. Doch darüber nachzudenken, blieb keine Zeit. Erst mußten sie weg! „Lauft!“ schrie Superhirn. „Rennt auf die Brandung zu! Schnell! Es geht um unser Leben!“
2. Ein Baum mit Zeitzünder Tati und die Freunde ließen ihre Spaten liegen. Sie trudelten die steile Düne hinab und liefen zum Wasser. Wo der Boden feucht und von Muschelschalen durchsetzt war, warfen sie sich hin. Das Mädchen hielt den hustenden, zappelnden Pudel umklammert. Sie lagen kaum auf dem Sand, da geschah etwas Unheimliches mit der riesigen, schiefen, knorrigen alten Pinie, in deren Nähe sie sich ausgeruht hatten. Der eigenartige, verwachsene alte Baum stand weit außerhalb des Brandgebietes. Zwischen ihm und dem Wald walzten Bulldozer breite Schneisen. Unzählige Leute schippten Gräben. Die Gefahr des Funkenflugs war seit einer Stunde gebannt, nachdem ein leichter, ablandiger Wind aufs Meer hinaus blies. Und dennoch barst der Baum. Er war explodiert wie eine Bombe! Es gab ein schmetterndes Geräusch, das die Trommelfelle zu zerreißen drohte, ihm folgte ein ohrenbetäubendes „Wumm“. Hinter der Düne sahen die Freunde eine riesige Stichflamme aufschießen. Eine ganze Weile prasselte es Holzstücke und Pinienzapfen. Glühende Piniennadeln tanzten hoch über ihren Köpfen seewärts. „Der - der Ma-ma-mann hat den Ge-ge-geisterbaum hochgehen lassen“, stammelte Micha. Superhirn stand auf. Er grinste: „Nee, Micha. Bestimmt nicht. Der Mann war so nett, mich auf was hinzuweisen, das ich selber hätte wissen müssen. Kommt! Wir sehen uns das mal an.“ Die Gefährten umstanden die glimmende Trümmerstätte. „Ja“, murmelte Superhirn. „Der alte Baum
ist regelrecht explodiert!“ „Also wollte man uns etwas anhaben!“ hauchte Tati. „jemand hat 'ne Bombe im Geäst verborgen und 'ne Zündschnur gelegt! Man hat gemeint, bei dem Brand würde das nicht auffallen.“ Jetzt lachte Superhirn. „Das wäre ein bißchen umständlich gewesen, findest du nicht7 Aber mit der Zündschnur hast du recht. Nur war's eine natürliche und keine künstliche.“ „Du sprichst wieder mal in Rätseln“, brummte Gérard. Prosper rieb sich die spitze Nase. Er war genauso aufgeregt wie der Pudel. „Nun red doch schon!“ krächzte er. „Moment, Moment!“ Superhirn äugte angespannt umher. Schließlich richtete er sich auf. „Klar! Der Baum war sehr alt. Aber daneben gab es weit ältere, die im Laufe der Zeit verschwunden sind, weil sie morsch waren oder gefällt wurden. Teile der ineinandergewachsenen Wurzeln sind aber geblieben, und diese Wurzeln haben wie Zündschnüre gewirkt. Vom Wald her hat sich die Glut seit Tagen immer weiter gefressen - bis ins Innere dieses einsam stehenden Baumes. Der stand scheinbar so schön geschützt und unberührt. In Wahrheit war er schon eine scharfgemachte' Sprengbombe, als wir in der Nähe saßen.“ „Aber ich hab nichts gesehen! „, rief Micha. „Keinen Funken, nicht mal einen, der so klein war wie 'n Glühwürmchen!“ „Nein! Die Rinde mußte erst platzen, und es mußte Luft hinzukommen“, sagte sein älterer Bruder Henri ruhig. „Das alles ist kein Teufelswerk, auch wenn wir fast so verdonnert sind wie der Pudel. Unterirdische Schwelbrände, die plötzlich - und nach Tagen - an 'ner ganz unvermuteten Stelle ausbrechen, gibt's häufig in Heidegebieten, in Moorlandschaften. Und da, wo verborgene Öladern sind.“ Vom Wald her schwankten Lichtkegel von Stablampen auf die Freunde zu. Sie erkannten eine Gruppe von Feuerwehrmännern. „He, ist euch was passiert?“ fragte der eine mürrisch. „Nein“, sagte Superhirn. „Wir haben unsere Schippen hingeworfen und uns über die Düne gerollt.“ „Also geholfen habt ihr!“ sagte ein anderer anerkennend. „Immer noch besser, als in der Menge von Neugierigen die Zufahrtswege zu verstopfen. Die Leute kommen über Hunderte von Kilometern her, um sich den Waldbrand anzusehen. Und bringen auch noch ihre Omas und Babys mit.“ Ein dritter Feuerwehrmann meinte: „Wir sind für jede Hilfe dankbar, Kinder. Es wäre nur besser, unkundige Brandbekämpfer würden sich bei einem von uns Rat holen. Trockene Nadelwälder sind verdammt gefährlich. Schätze, ihr habt einen schönen Schreck gekriegt. Fahrt mal jetzt nach Hause und ruht euch aus. Habt´s verdient!“ Superhirn, Prosper, Gérard und die drei Geschwister stapften auf die Straße zu. Henri trug den hechelnden und hustenden Zwergpudel Loulou. „Der gespenstische Feuerwehrmann, der uns vorhin gewarnt hat, war eben nicht dabei?“ vergewisserte sich Tati. „Nein“, sagten Superhirn und Micha zugleich. Micha berichtete aufgeregt: „Dem bin ich ja schon viel früher begegnet. Aber in dem Trubel hab ich mich nicht lange gewundert. Es ging ja alles durcheinander.“ „Und?“ drängte Prosper ungeduldig. „Erst, als Superhirn sagte, einer von unseren Feinden, diesen - diesen Untermenschen, könnte sich jetzt unauffällig an uns ranschleichen...“ „Ich sprach von Professor Charivaris Gegnern, die natürlich auch uns nachstellen, weil wir Charivaris Geheimnisse kennen“, stellte Superhirn richtig. „Ja“, sagte Micha. „Da fiel mir ein, es hatte sich längst einer an mich rangemacht!“ Die anderen blieben stehen. „W-was???“ Es schien, als hätte Prosper die Maulsperre. „Willst du etwa behaupten, du hast erst viel später begriffen, daß dir so 'n unheimlicher Bursche nachgetappt ist?“ grollte Gérard. „Genau!“ rief Micha kläglich. „Aber warum hast du kein Sterbenswörtchen gesagt?“ fragte Henri.
„Ihr wart mit euren Spaten schon voraus“, verteidigte sich der Jüngste. „Ich mußte stehenbleiben, weil die Feuerwehr einen Baum kappte. Da bellte Loulou schrecklich. Ein großer Mann zog mich am Arm. Er sagte: ´Vorsicht! Die Zweige!' Und weil er einen Feuerwehrhelm trug, hielt ich ihn für so 'ne Art Befehlshaber.“ „Weiter!“ rief Tati. „Kinder, ich ahne was!“ „Der Mann mit dem Helm sagte: Übrigens verlierst du deine Armbanduhr“, fuhr Micha fort. „Er war nämlich irgendwie an mein Handgelenk gekommen.“ „Irgendwie!“ stotterte Prosper höhnisch. „Ruhe!“ gebot Superhirn. Er wirkte sehr gespannt. „Und dann, Micha?“ „Er befestigte meine Uhr. Dabei trällerte er vor sich hin, so wie jemand, der einen Kiesweg harkt.“ Nun erhob sich ein Sturm der Entrüstung. „Willst du uns auf den Arm nehmen?“ rief Gérard. „Dir sind wohl die Flammen ins Gehirn geschlagen! „ ärgerte sich Tati. „Dein Dunkelmann singt im brennenden Wald alberne Lieder! Hihi! Wir hätten dich zu Hause lassen und mit einem Schnuller ins Bett schicken sollen!“ Prosper geriet außer Atem. „Trä-trä-trällert“, begann er immer wieder. „Ein Lie-lie-liedchen...“ „So 'n Quatsch! So 'n Quatsch“, murmelte Henri. „Freunde, mir scheint, ihr habt einiges vergessen“, unterbrach Superhirn. „Ich glaube Micha jedes Wort! Ich sage: jedes!“ Er wandte sich ernst an den Jüngsten. „Sing mal so ungefähr, was der Mann geträllert hat! Nur so ungefähr. Auch, wenn kein Text dabei war.“ Micha überwand seine Verlegenheit. „Es war was ganz Bekanntes. Man hört´s jeden Tag im Radio: Tatata - tatata - tatatatata!“ „Esperance - Hoffnung!“ rief Tati erstaunt. „Das ist jetzt der Hit! Und der Text lautet: Warte nur, hab Geduld! Bald hol ich dich ab!“ Die Freunde schwiegen. Sie standen reglos, als gehörten sie zu den unverbrannten Pinien des Waldes. Der Pudel auf Gérards Arm winselte leise. „Erst dachte ich mir nichts dabei“, sagte Micha. „Nachher kam mir der Mann immer schrecklicher vor. Es war mir, als hätte ich ihn schon oft gesehen - oder als hätte ich schon von ihm geträumt. Es ging was ganz Entsetzliches von ihm aus!“ „Der Ragamuffin!“ hauchte Tati. „Der unbekannte Gangsterchef aus dem Erdinnern!“ Der Ragamuffin war nicht etwa ein „Teufel“ oder eine dem Aberglauben entstammende Fabelgestalt, sondern ein Mensch oder doch ein menschenähnliches Wesen mit zerstörerischen Fähigkeiten. Er und seine Untertanen, die Vavas, hausten in einer nicht ortbaren Machtzentrale irgendwo im Innern der Erde. Kein Wissenschaftler der Welt wußte etwas von seiner Existenz, geschweige denn von seinen Absichten. Keiner - außer Professor Charivari, der väterliche Freund der jungen Gefährten. Doch selbst Professor Charivari hatte lediglich die in jeder Beziehung „unfaßbarenen“ Kräfte des Ragamuffins zu spüren bekommen - gesehen hatte er den Erd-Boß noch nicht. Obgleich er mit seinem geheimen Erdschiff Giganto mehrfach ins Innere der Erde vorgestoßen war, um die Zentrale des weltgefährdenden Gegners zu vernichten. Superhirn und seine Freunde waren zufällig Mitwisser des Professors geworden. Auch hatten sie einige Verstöße in der Erdrakete mitgemacht. Darum stellte ihnen der Ragamuffin nach. „Und d-d-das“, stotterte Prosper, „sagst du uns jetzt erst! He! Das mit dem e-e-explodierenden Baum war d-d-doch kein Zufall! Der Ragamuffin hat ihn hochgehen lassen. Er - er wollte uns vern-nnichten!“ „Es ist ihm nicht gelungen! Deshalb wird er´s auf andere Weise versuchen“, prophezeite Gérard düster. „Mahlzeit, Freunde! Jetzt können wir uns auf was gefaßt machen! Dagegen dürfte dieser Waldbrand ein kleines Freudenfeuerchen gewesen sein!“ Der Pudel zappelte wild auf Henris Arm. „Nun hört mal auf zu spinnen!“ sagte Superhirn scharf. „Der unheimliche Riese, den ihr für den Ragamuffin haltet, hat uns doch gewarnt - oder nicht?“ „Ja!“ erwiderten die anderen wie aus einem Munde. Sie waren sehr verblüfft.
„Also fällt ein Attentat erst mal flach. Wenn der freundliche Warner derselbe war, der sich an Micha ranmachte, kann er auch vorher nur gute Absichten gehabt haben“, fuhr Superhirn fort. „Ich erinnere mich, daß er uns noch etwas zugerufen hat, nachdem er uns auf den Baum aufmerksam machte. Nämlich: Achtet auf die Uhr! Jetzt ist mir klar - er hat Michas Uhr gemeint! Zeig deine Armbanduhr mal her, Micha!“ Der Jüngste gehorchte. Schwupp - hatte Superhirn sie in der Hand. „Hier, nimm meine dafür“, sagte er schnell. „Was ist mit dem Ding?“ fragte Henri. „Die Uhr ist ausgewechselt worden! Diese - hier - ist nicht nur eine Digital-Uhr mit schwarzem Zifferblatt und abrufbaren Wechselziffern“, murmelte Superhirn. „Das ist ein elektronischer Fernschreiber, der in winzigen Lichtpunkt-Buchstaben Nachrichten übermittelt.“ Henri setzte den Pudel ab. Die Jungen und das Mädchen steckten ihre Köpfe über der geheimnisvollen Uhr zusammen. Statt der Zeit las man auf dem Zifferblatt das Wort: Alarm! „Mensch!“ Henri schlug sich vor den Kopf. „Der unheimliche Mann ist niemand anders als Professor Charivari gewesen!“ „Ihr merkt auch alles, und mögen Jahre darüber vergehen“, grinste Superhirn. „Und mit dem Summen des bekannten Schlagers wollte der Professor sagen, daß wir auf ihn warten sollen. Sicher holt er uns mit dem Giganto ab.“ Die Freunde schwatzten aufgeregt durcheinander. Waff, waff - wuff, wuff, bellte Loulou. Er war froh, seine geliebten Zweibeiner wieder so lebhaft zu sehen. „Ich verstehe aber manches nicht“, überlegte das Mädchen. „Warum hat Professor Charivari uns nicht gleich mitgenommen? Alarm - das bedeutet doch nichts anderes, als daß die Ragamuffin-Spione wieder in der Gegend sind! Und weshalb hat er nicht Superhirn, sondern Micha die Signaluhr gegeben?“ „Nimm an, Charivari fürchtet oder weiß, daß Vava-Kundschafter hier herumwimmeln“ sagte Tatis Bruder Henri. „Dann wird er sich absichtlich nicht mit Superhirn besprechen. Das fällt doch viel eher auf. Er hat damit gerechnet, Micha teilt Superhirn das Auswechseln der Armbanduhr mit - und Superhirn begreift. Tja, und warum er uns nicht gleich in seine Erdrakete gesteckt hat?“ „Vielleicht ist der Giganto nicht einsatzbereit“, mutmaßte Gérard. „Professor Charivari hat doch 'ne ganze Flotte von Raumgleitern und Erdschiffen“, sagte Prosper, „aber vielleicht muß er seine geheimen Stationen am Nordpol, in der Antarktis, im Weltraum, auf dem Mars - und sonstwo - versorgen. Er ist ja schließlich nicht unser Privat-Chauffeur.“ „Richtig“, bestätigte Superhirn. „Trotzdem läßt er uns überwachen. Denn wir sind als seine Mitwisser besonders gefährdet.“ Die Gruppe setzte sich zur Straße hin in Bewegung. „Seit der Wald brennt und hier so ein Riesenrummel herrscht - mit Feuerwehren, Militär- und Polizeifahrzeugen, mit Hubschraubern und Schiffen, auch für die alberne Flottenschau -, habe ich kein gutes Gefühl“, erklärte Superhirn weiter. „Wir wissen längst, daß unser unbekannter Feind in der Erde einen von Charivaris Stützpunkten in dieser Gegend vermutet: Weil der Professor hier mal eine unterirdische Geheimstation und 'ne unterseeische Abschußrampe gehabt hat.“ „Ach, und der Erd-Boß meint, der Flugzeugträger, die Hubschrauber, die Bulldozer - und das alles gehören Charivari?“ lachte Micha. „Oder der Brand hängt mit ihm zusammen!“ „So ähnlich“, sagte Superhirn ernst. „Der innerirdische Machthaber und sein Vava-Volk sind zwar hochintelligente Leute; trotzdem begreifen sie die Zusammenhänge hier oben nicht. Gerade das ist für Charivari und für uns so gefährlich geworden.“ „Was machen wir?“ fragte Tati bange. „Nichts“, meinte Henri ruhig. „Ich schätze, der Professor erwartet von uns erhöhte Vorsicht, bis er mit dem Erdschiff Giganto wiederkommt.“ „Genau!“ sagte Superhirn. „Zu dieser Vorsicht gehört, daß wir uns nichts anmerken lassen. Unser Ferienprogramm wird nicht geändert!“ Auf der Straße hinter dem Wald stauten sich die verschiedensten Einsatzfahrzeuge - aber auch die
Autos der sogenannten „Schaulustigen“. Im Licht der Scheinwerfer suchten die Freunde einen Wagen, der die freiwilligen Helfer zurückbefördern würde. Bald hatten sie einen gefunden. Sie gaben ihren Spaten ab und kletterten auf das Fahrzeug. Während sie im offenen Laderaum tüchtig durchgerüttelt wurden, schrie Tati Superhirn ins Ohr: „Kannst du mir sagen, warum die Männer alle so lustig sind? Sogar die Feuerwehrleute lachen, quatschen vom Fußball und vom Rugby, schwenken ihre Bierdosen und stoßen auf den nächsten Waldbrand an.“ „Galgenhumor“, feixte Superhirn. „Die Männer würden sonst verrückt werden. Übrigens sind sie Waldbrände gewohnt. Sie könnten gar nicht exakt arbeiten, wenn sie sich dauernd aufregen oder ärgern würden. Da könntest du ebensogut Hühner ins Feuer schicken!“ Tati lachte. „Ja. Da hast du allerdings recht.“ An der Gabelung vor dem Hafen von Monton sprangen die Gefährten mit dem Pudel von dem haltenden Wagen. Den Weg zur Schloßhöhe, ihrem Ferienquartier, gingen sie zu Fuß. Micha mußte noch einmal erklärt werden, daß in dieser Nacht nur eines wirklich „unheimlich“ gewesen war: das überraschende Auftauchen Professor Charivaris, das Auswechseln der Armbanduhren und die Warnung vor der Explosion des Baumes. Alles andere, der Brand - und selbst die Explosion der Pinie - konnte nur natürliche Ursachen haben. Das heißt, nichts war auf den schrecklichen Ragamuffin und seine Vavas zurückzuführen. „Noch nichts“, schränkte Prosper ein. Das rätselhafte innerirdische Volk des Ragamuffins - das wußten die Gefährten - verfügte über besondere autobiologische Fähigkeiten. Durch unvorstellbare Willensenergien konnten diese „Erdmenschen“ ihre Gestalt schlagartig bis auf Schachfiguren-Größe schrumpfen lassen. Um zurück in die Erde zu schießen, brauchten sie keine Hilfsmittel. Sie verkapselten sich in fühllose, diamantene Härte. Und ihr „Kraftwerk“, das sie Wasser, Feuer, Holz, Beton, Stahl, ja sämtliche Erdschichten mühelos durchdringen ließ, war ihr Gehirn. Doch diese variablen Vasallen, die Vavas, schienen sich an der Erdoberfläche nicht auszukennen; das heißt, sie begriffen die politischen Machtverhältnisse auf dem Globus nicht. Und weil Professor Charivari die perfektesten Raumschiffe, aber auch Erderforschungsraketen besaß, hielten sie ihn - und seine jungen Freunde - für die entscheidende technische Kapazität. Das war zum Lachen - wenn man an Micha (und den Zwergpudel Loulou) dachte. Zum Lachen, ja. Der Ragamuffin-Staat im Erdinnern besaß außerdem eine furchtbare Waffe: die Unguts- oder Unmutsstrahlen - Gedankenströme, die sie in verschiedener Stärke und Mischung aus ihrem unbekannten Hauptquartier heraufsenden konnten. Damit hatten sie Charivaris Ingenieure bereits bis an den Rand des Wahnsinns getrieben. Daß der Ragamuffin noch keine Panik unter ganzen Nationen verursacht hatte, führte Professor Charivari einfach darauf zurück, daß die zerstörerische Gedankenkraft des Erd-Bosses und seiner Vasallen „sparsam“ und gezielt eingesetzt wurde. Wenigstens vorläufig. Bisher hatte er sich ja immer nur Personen und Personenkreise vorgenommen, die er für wichtig hielt. Leider hielt er auch die jugendlichen Freunde des Professors für wichtig. Übrigens nicht ganz zu Unrecht, was Superhirn betraf . 3. Mitwisser leben gefährlich Die Wirtschafterin im Schloß von Monton, Madame Claire, war noch auf. „Ach, es ist scheußlich!“ rief sie ihren Feriengästen entgegen. „Das ganze Haus stinkt nach Schwefel! Riecht ihr nichts7“ Wie vom Donner gerührt, blieb Micha stehen. Er schnupperte. Prosper ächzte: „D-d-die Vavas! Die E-e-erdspione!“ Daß er sie hier vermutete, war nicht unsinnig - nach allem, was die Freunde in den letzten Wochen erlebt hatten. Das Mädchen, die Jungen und der Pudel sausten durch Halle, Kaminsaal und Billardzimmer der Villa Monton. Dieses Ferienquartier, vom Ragamuffin fälschlich für eine Befehlsstation Professor
Charivaris gehalten, gehörte Superhirns abwesendem Onkel. Sie verschwand, und die Jungen steckten hastig die Köpfe zusammen, um die neue, so geheimnisvolle Armbanduhr zu betrachten. Wenn man sie oberflächlich ansah, wirkte sie wie eine teure, aber normale, moderne Industrie-Uhr. Diese besondere „Uhr“ allerdings, die Professor Charivari an Michas Handgelenk „geschmuggelt“ hatte, signalisierte mehr als nur die Zeit. „Das ist ein winziger Lichtbuchstaben-Fernschreiber“, wiederholte Superhirn. „Was is´n das?“ fragte nun Micha. „In diese Uhr werden Fernschreibsignale über Funk reingestrahlt“, erwiderte Superhirn. „Die Signale werden von den Leuchtdioden in Buchstabenform wiedergegeben.“ Er stutzte. „Komisch! Ich spüre einen leichten Stromstoß im Handgelenk!“ „D-d-der Professor w-w-will dir was mitteilen“, stotterte Prosper aufgeregt. Superhirn drückte den Knopf. Nacheinander leuchteten Worte auf: „Warten - Ruhe bewahren - weiter Ferien machen - nichts anmerken lassen - unauffällig aufpassen - Ende.“ Micha schnaufte erleichtert: „Wenigstens bewacht uns Charivari ständig. Aber wie erfährt er, wenn uns plötzlich so 'n Ragamuffel übern Weg läuft?“ Wieder spürte Superhirn einen Stromstoß. „Dieses Gerät ist Sender und Empfänger“, verkündete nun die Leuchtschrift. „Knopf nach links drehen!“ Und plötzlich ertönte leise - doch sehr deutlich - die bekannte, sanfte, geschmeidige Stimme Professor Charivaris: „Tut mir leid, daß ich euch so einen Schreck einjagen mußte. Das mit dem explodierenden Baum war ein dummer Zufall. Ein Glück aber, daß ich die Hitze im Boden richtig gedeutet habe. Übrigens, wenn du antworten willst, Superhirn, sprich nur mit Hauchkontakt auf das Uhrglas. Das Gerät steht immer auf Sendung.“ „Danke“, sagte der spindeldürre Junge. „Wir haben uns schon alles zusammengereimt. Aber woraus schließen Sie, daß die Erd-Spione wieder tätig sind? Und daß sie hier herumschnüffeln?“ „Meine Gedankenempfangsgeräte zeichnen seit acht Stunden die typischen Ragamuffin-Strahlungen auf“, tönte die Stimme des Professors leise aus der „Armbanduhr“. „Wir können uns den Sinn nicht erklären. Aber durch komplizierte Kreuzpeilungen wissen wir wenigstens, daß sie diesmal von der Erdoberfläche - und zwar aus eurer Küstengegend - kommen.“ „Meinen Sie, der Ragamuffin ist selber hier?“ fragte Superhirn. Die Freunde sahen, daß er blaß wurde. „Nein“, beruhigte Charivaris Stimme. „Der wird sich hüten! Aber der Gedanken-Funkverkehr zeigt uns Fachleuten ziemlich deutlich, daß es zwischen den Vava-Spionen einen Informationsaustausch geben muß. Und daß sie irgendwelche Beobachtungen in die für uns nicht ortbare, innerirdische Machtzentrale melden.“ „Warum ist denn diese Machtzentrale immer noch nicht ortbar?“ fragte Superhirn ungeduldig. „Beinahe von Tag zu Tag verbessern sich Ihre Mittel; aber was den Ragamuffin und sein Hauptquartier angeht - da tappen Sie wie 'n Blinder im dunkeln.“ Man hörte Professor Charivari leise lachen. „Der Erd-Boß sendet über wechselnde Relais“, sagte er. „Wenigstens das haben wir längst raus. An der Besonderheit der Gedankenströmungen, die unsere Geräte registriert haben, ersehen wir auch, ob und wann er es ist, der funkt.“ „Wenn ich Sie richtig verstanden habe“, faßte Superhirn zusammen, „sitzt dieser mörderische Knilch tief in der Erde und dirigiert seine Spione per Gedanken-Funk hier in der Gegend rum.“ „Genau!“ „Und warum haben Sie uns nicht gleich mit Ihrem Erderkundungsschiff Giganto abgeholt?“ wollte Superhirn wissen. „Weil er in der Geheimwerft ist“, kam die sanfte Stimme Charivaris. „Ich habe eine Einmann-MiniRakete benutzt, um euch zu warnen. Der Giganto wird mit ein paar nötigen Neuerungen ausgestattet. Beim nächsten Vorstoß in die Erde muß ich die Ragamuffin-Zentrale finden!“
Superhirn schaltete das Armbanduhrgerät rasch aus, denn Madame Claire kam mit einem großen Tablett. Auch Tati erschien, in Pyjama, Bademantel und Hausschuhen. Ihr Gesicht glänzte blitzblank. „Erst essen, dann waschen?“ lachte sie, als sie die rauchgeschwärzten Jungen und die riesige Käseplatte sah. „Das haben sie verdient“, verteidigte Madame Claire die beiden Brüder und die Freunde. „So, jetzt hol ich noch den Saft und die Gläser. Geht ihr morgen auch zur Flottenschau nach Monton? Es sollen drei U-Boote kommen!“ „Natürlich, natürlich!“ sagte Henri. „Wir unterhalten uns gerade darüber. Das darf man doch nicht versäumen!“ Henri ahnte nicht, daß dieses Publikumsereignis ungeahnte Folgen haben sollte. 4. Gelbe Rosen für Tati Am Morgen hatten Superhirn, Prosper, Gérard und die Geschwister Henri, Tatjana und Micha schrecklichen Muskelkater. Der Zwergpudel Loulou lag schlapp in seinem Körbchen. Dazu kam die anhaltende Hitze. Der Himmel war wie Quecksilber; man konnte den Sonnenball nicht sehen. Und wieder wehte kein Lufthauch. Die Zeitung meldete die Folgen der Hitzewelle: ein Zugunglück in Belgien wegen von der Hitze verzogener Schienen. In den Autos, die längere Zeit in einem Stau festsaßen, herrschten Temperaturen von über 60 Grad. In einigen Landstrichen verdurstete das Vieh auf den Weiden, und die Ernteaussichten in diesen Regionen waren mehr als düster. Die Gärtner durften Rasen, Pflanzen und Büsche nicht sprengen. Ab sofort war es auch verboten, Autos zu waschen und das Wasser in den Swimming-pools zu erneuern. Tati war wütend. Erstens verhinderten Muskelkater und Hitze ihre gewohnten tänzerischen Übungen, zweitens wollte sie nicht in die „laue Pampe“ des Schwimmbeckens springen. Und wenn ein Schatten über dem Schloß und dem Park von Monton lag, so war es kein behaglich kühlender, sondern der drohende Schatten des Ragamuffins und seiner Vavas. Diese rätselhaften Wesen aus dem Erdinnern hatten das letzte Mal bei einem irrtümlichen Angriff sämtliche Uhren im Hause zerstört - und alle Geräte, die eine Skala besaßen: also auch Barometer, Thermometer, Radios, Herd und Waschmaschine. Sie mußten gemeint haben, das alles seien „Befehls- und Schaltgeräte, mit denen Professor Charivari den Kontakt zu seinen geheimen Stationen und seinen geheimen Raum- und Erdschiffen unterhielt. Ein getarnter Assistent Charivaris hatte den Schaden in Madame Claires Abwesenheit repariert; zum Glück war das gesamte Ausmaß der Zerstörung nicht aufgefallen. Das Haus war ja groß. Doch ausgerechnet an diesem „verkaterten“ Morgen kam Tati auf die Idee, sämtliche Geräte im Schloß zu prüfen. Auch die Fernseher. Und da kriegte sie fast einen Tobsuchtsanfall. Die Jungen und der Pudel saßen schon auf der Terrasse. Superhirn schien als einziger besser gelaunt zu sein als sonst. Er schlürfte den süßen Kakao und biß mit Behagen in das knusprige Brot. Tatjana kam aus dem Haus gesaust. „Ich werde auf der Stelle verrückt!“ schrie sie. „Mir scheint, das bist du schon“, grinste ihr Bruder Henri. „Sind denn die Uhren wieder kaputt? Oder ist irgend 'ne Skala wieder von Vava-Blicken durchbohrt?“ „Nein!“ rief das Mädchen wütend. „Aber die Leute vom Fernsehen und vom Rundfunk leiden wohl an Gehirnerweichung. Wegen der Hitze. Mit meinem Transistor in der Hand steh ich vorm Fernseher. Eben gongt es aus dem Kasten acht Uhr, da setzt im Radio erst das Zeitzeichen für 8 Uhr ein. Der zweite Fernseher bringt auf dem anderen Sender den Gongschlag noch später als der erste. Und als ich zum Telefon rase, um nun mal wirklich die genaue Zeit zu erfahren, ist es 8 Uhr und eine Minute, dabei müßte es mindestens schon 8 Uhr und drei Minuten gewesen sein!“ Superhirn grinste breit: „Seid mal alle still!“ sagte er. „Hör mal, Tati!“ Ping - ping - ping, hallten da die letzten Turmuhrschläge der Kirche herauf. Tati setzte sich fassungslos hin. „Die alte Tante auf dem Kirchturm ist bald um fünf Minuten zurück“, japste sie. „Also, ich verlaß
mich nie wieder auf eine Uhr! Da kann man ja die Dinger, die man im Haus herumstehen hat, allesamt wegschmeißen!“ Die Freunde machten große Augen. „Daß die alte Uhr der Hafenkirche nachhinkt, will ich glauben“, sagte Gérard. „Na, und die verschiedenen Uhren im Haus zeigen natürlich nicht alle auf die Sekunde genau die Zeit. Aber mit dem Radio und den beiden Fernsehsendern mußt du dich geirrt haben, Tati!“ Superhirn setzte die Tasse ab. Er grinste noch immer. „Ich würd´s so machen wie der gute alte Kaiser Karl. Ich meine Karl den Fünften, einst Herrscher des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der hat von früh bis spät versucht, seine hundert Uhren alle ganz genau und gleich gehen zu lassen. Als ihm das nicht gelang, hielt er sie an und stellte sämtliche Zeiger auf die Zwölf. Nun endlich stimmt´s, meinte er dann.“ „Willst du mich verflachsen?“ fragte Tati kriegerisch. „Ganz im Gegenteil“, sagte der spindeldürre Junge ernst. „Du hast nämlich ganz richtig beobachtet und gehört.“ „Wa-was? Etwa auch mit der verschiedenen Radio- und Fernseh- und Te-te-telefonzeit?“ rief Prosper. „Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Uhr - allenfalls eine Atom-Uhr -, die ohne dauerndes Regulieren auf den Bruchteil einer Sekunde genau geht“, erklärte Superhirn. „Wohlgemerkt: auf den Bruchteil.“ „Aber die Zeitmesser beim Sport, bei Rekorden, bei Olympischen Spielen“, warf Gérard ein. „Das sind auf kurzlebig getrimmte Zeitabschnitts-Meßinstrumente“, sagte Henri. „Die müssen fortwährend gewartet oder ausgetauscht werden. Wir sprechen hier aber von Gebrauchsuhren.“ Superhirn nickte. „Die Menschen haben sich fürs allgemeine, praktische Leben stillschweigend auf Minuten-Genauigkeit geeinigt. Die Sekunde ist ein zu kurzer Zeitraum, der im gewöhnlichen Alltag selbst im Schiffs-, Bahn- und Flugverkehr - kaum eine Rolle spielt. Ich sage: im gewöhnlichen. Ob die Werksirene den Arbeitsschluß um Punkt 17 Uhr verkündet oder um eine Viertelsekunde früher oder später, ist für den Menschen gleichgültig. Die Wissenschaft jedoch ist auf ganz exakte BruchZeitmessungen angewiesen - klar? Aber solche Messungen führt man nicht mit - noch so präzisen Quarz-Armbanduhren oder mit Fernseh-, Radio- und Telefonzeitansagen durch.“ „Dann kloppen die da je nach Laune auf den Gong?“ fragte Micha erstaunt. Superhirn lachte. „Die kloppen gar nicht. Die drücken auf Knöpfe. Und beim Telefon läuft die aufgenommene Zeitansage automatisch durch. Selbstverständlich steht jedes Institut mit einer Sternwarte in Verbindung und bemüht sich um sekundengenaue Zeit. Aber bei den Auslöseautomatiken kann es mal ganz geringe Verschiebungen geben. Tati hat Pech gehabt. Sie hat ausgerechnet drei Zeitansagen gehört, die wahrscheinlich nur um Dreiviertelsekunden differierten. Bei der Telefonansage konnte sie's schließlich gar nicht mehr kontrollieren. Und was die Turmuhr der Hafenkirche betrifft ...“ „Na ja. So 'ne olle Mühle ist ja keine Stoppuhr“, lachte Gérard. „Was sagt denn dein Signalschreiber?“ erinnerte sich Prosper plötzlich. „Nichts. Die Gefahr hat sich wohl verzogen“, meinte Superhirn. „Wir können also runter in den Hafen, zur Flottenschau.“ Micha knabberte an seinem Marmeladenbrot. „Ich denk immer noch an die Uhren“, maulte er. „So was hat mir nicht mal mein Lehrer erzählt. Gegen Superhirn komme ich mir direkt doof vor. Du könntest im Zirkus auftreten - als klügster Junge der Welt.“ Alle lachten. Die schlechte Laune der Freunde war verflogen. „Ich kombiniere nur“, grinste Superhirn. „Und ich erklär nur das, was gerade eben wichtig ist. Dazu gehört 'ne Menge Wissen, aber keine Zauberei.“ Das brachte ihn auf die eine Idee: „Kinder, wir gehen gleich nach Monton ! Bevor die Flottenschau beginnt, zeig ich Micha einen Mann, den er bestimmt viel klüger finden wird als mich.“ Während sie über den steilen Fußpfad hinab in den Ort kraxelten, hörten sie aus Tatis Mini-Radio die
neuesten Nachrichten. „Das klingt wie 'n Märchen“, murmelte Henri. Von den 80 Campingplätzen in den vom Waldbrand betroffenen Gebieten waren fast alle unter geringen Sachschäden geräumt worden. Es war durchweg immer nur von „leichten Brandverletzungen“ die Rede. Die vorsorglich in Sicherheit gebrachten Tiere des großen Freiland-Zoos von La Palmyre hatte man am frühen Morgen wieder in ihre Gehege zurücktransportieren können. „Trotzdem - ich danke!“ sagte Superhirn. „Wer kann sich vorstellen, was hinter so 'ner nüchternen Meldung steckt? Der La-Palmyre-Zoo ist einer der größten in Frankreich, und die verschiedenen Viecher reagieren sehr unterschiedlich auf Feuer oder selbst auf Brandgeruch. Wer möchte schon gern ein paar Tritte von einem Vogel Strauß kriegen? Auch Hirsche sind gefährlich. Die forkeln jeden, der ihnen zu nahe kommt, mit ihrem Geweih, sogar ihren Wärter. Dagegen verkriechen sich Löwen und Tiger still und heimlich. Die braucht man bei einem Brand am wenigsten zu fürchten, weniger als durchgehende Pferde oder Rinder.“ „Hör doch mal, Superhirn!“ unterbrach Prosper. „He, da hast du mal nicht recht gehabt! Es ist doch mit Salzwasser gelöscht worden!“ Die Gruppe blieb auf dem Fußpfad stehen. Tati stellte das winzige Gerät so laut wie möglich. Den Nachrichten folgte eine Reportage über den Brand. Einsatzleiter und amtliche Beobachter tauschten ihre Erfahrungen aus. „Die drei Canadair-Spezialflugzeuge haben sich bewährt“, sagte der Reporter. „In ununterbrochenen Anflügen warfen sie einige hundert Tonnen Seewasser über dem Katastrophengebiet ab. Als die siebzig Meter hohe Flammenwand an zwei Stellen die Küstenstraße übersprungen hatte, retteten sie die Ortschaft Bellatrix mit Löschflügen von jeweils sechs Tonnen Wasserladung pro Anflug und Maschine.“ „Toll!“ sagte Superhirn. „Aber das ist natürlich klar: Wenn man Menschen retten muß - noch dazu einen ganzen Ort -, kann man sich nicht darum kümmern, ob´s, dadurch Salzwasserschäden gibt.“ Micha war außer sich, weil er diese Canadair-Spezialflugzeuge noch nicht gesehen hatte. „Mensch! Drei Maschinen! Und in der Nacht, noch dazu auf so 'ner weiten Strecke!“ lachte Henri. „Wir hatten Feuer und Rauch vor und über uns. Da konnten wir nicht darauf achten, was gerade über uns oder in der Ferne heranbrummte!“ „Canadair-Flugzeuge“, überlegte Superhirn, „natürlich kenn ich die Dinger. Das sind keine Hubschrauber, sondern Tragflächen- und Propellermaschinen. Die können auf dem Meer wassern, Wasser laden, durchstarten und gleich wieder aufsteigen. Aber an der Abwurfstelle sind sie gefährlich, sie stehen ja nicht wie Hubschrauber. Junge, Junge, wenn die mal ihre Last in die Reihen der Brandbekämpfer schmeißen!“ Die Freunde hörten, daß an vielen Stellen des Strandes Feriengäste und Einheimische vom Feuer regelrecht abgeriegelt worden waren. Man hatte sie von der See her mit Flachschiffen gerettet. „So was von Zusammenarbeit.“ staunte Gérard beeindruckt. „Wenn man das hört - denkt man, das wär alles zehnmal geprobt gewesen!“ Aber dann kam eine Bemerkung aus dem Radio, die sie alle beinahe umwarf - „Der Brand hätte sich nicht so ausgebreitet, wenn nicht viele Kaninchen mit brennenden Fellen das Feuer in verschiedene Richtungen weitergetragen hätten.“ „Wildkaninchen“, murmelte Superhirn wie vor den Kopf geschlagen. „Wer denkt denn an so was? Darauf wäre ich nie gekommen!“ „Die armen Tierchen!“ rief Tati, Micha war am Heulen. „Ich hab kein einziges gesehen!“ rief er. „Hätte ich das gewußt, ich hätte nur Kaninchen gelöscht!“ „So schnell, wie 'n Tier rennt, dessen Fell brennt, kannst du nicht laufen“, meinte Gérard. „Sei froh, daß im Kinderzeltlager nichts passiert ist. Der Ponyhof ist übrigens auch nicht abgebrannt, hat der Reporter gesagt.“ Das tröstete Micha. Und jetzt drängte er darauf, nach Monton, zum Marktplatz zu kommen, denn er wollte endlich den Mann sehen, der klüger war als Superhirn.
Vor dem Rathaus standen viele Buden. Dazwischen, an einem wackligen, vor der Sonne völlig ungeschützten Tisch, stand ein großer, dünner junger Mann mit langen Armen und Beinen und einem auffallend kleinen Kopf. Er verkaufte Blumen und Erdnüsse. „Ach so, du meinst Monsieur Bric“, meinte Tati lachend zu Superhirn. „Den! Der redet so viel, wie der Tag lang ist!“ „Paßt nur auf, was er redet“, grinste Superhirn. „Na, ihr?“ rief Herr Bric munter. „Auch Freiwillige Feuerwehr gespielt? Dann wißt ihr jetzt auch, was das wichtigste bei der Brandbekämpfung ist!“ „Was denn?“ fragte Micha neugierig. „Den Fluchtweg sichern“, erklärte Herr Bric. „Manch einer ist schon von den Flammen eingeschlossen worden, weil er sich nicht umgeguckt hat.“ „Stimmt genau“, nickte Superhirn. Herr Bric fing an, sich über die Folgeschäden Gedanken zu machen. Er tat das so laut und eingehend, daß sich bald viele Leute um seinen Stand versammelten. Er konnte auch die durch Sachverluste und Bekämpfungsmittel entstandenen Kosten abschätzen, als käme er gerade aus der Sitzung des Krisenstabes. Zwischendurch blickte er in die Luft und rief: „Ach! Der Hubschrauber vorn Zivilschutz! Der sucht das Gelände nach verbliebenen Brandstellen ab!“ Ständig ließ er seine Blicke schweifen und sah etwas, womit er auftrumpfen konnte. „He! Da parkt ein Auto mit dem National-Kennzeichen CH! Was ist das?“ rief er plötzlich. „Das Zeichen für die Schweiz!“ rief Prosper eifrig. „Jaaa ...“, lachte Herr Bric. „Aber was bedeutet es? Siehst du, das weißt du nicht. Das ist der lateinische Name für den Schweizer Staatenbund: Confoederatio Helvetica - helvetische Konföderation. Die Helvetier, ein keltischer Volksstamm, hatten sich vor der großen Völkerwanderung dort angesiedelt. Das muß man wissen. Haha! Aber 'n Auto mit dem Kennzeichen V parkt hier nicht. Das hätte schon in der Zeitung gestanden, denn da säße der Papst drin, zumindest ein Kardinal oder ein Monsignore aus Rom, denn V bedeutet Vatikanstadt, und der Vatikan ist der päpstliche Sitz in Rom.“ Micha war sehr beeindruckt. „Monsieur Bric weiß wirklich alles“, hauchte er ehrfürchtig. Henri grinste breit. „Aber Superhirn ist ein viel gerissenerer Schurke“, sagte er scherzhaft. „Der arme Bric! Der würde uns was über die Gebührentabelle der Gerichtsvollzieher erzählen, wenn wir ihn danach fragen würden. Oder alles über die Chinesische Mauer. Sicher kann er die längsten Brücken der Welt, die höchsten Gebäude, die Meerestiefen und die Höhe der Berge wie am Schnürchen aufzählen.“ „Und inzwischen verwelken seine Blumen. Außerdem hat er die ganze Zeit keine einzige Tüte mit Erdnüssen verkauft“, bemerkte Gérard. „Zwanzig Leute stehen um ihn rum und lauschen - und vor lauter Staunen vergessen sie seine Ware!“ „Das schlimmste ist, daß er selber sie vergißt. Regelmäßig zieht er nachmittags mit dem Großteil seiner Ware wieder ab“, sagte Superhirn ernst. „Ist es klug, sein Wissen so zu verschleudern? Noch dazu meist ungebeten und ungefragt. Er besitzt keinen Sonnenschirm, und sein Stand ist die reinste Bratküche für seine Blumen. Er interessiert sich für alles, lernt jeden Kalender auswendig. Er würde gern mal verreisen, er kennt ja die Philippinen oder Australien oder Ozeanien wie seine Hosentasche - von Karten und Beschreibungen her -, aber wenn er alle Leute von früh bis spät belehren muß, langt´s nie auch nur für 'ne Busfahrt nach Paris!“ „Du bist gemein, Superhirn“, rief Tati. „Um dir mit Micha einen Witz zu machen, hast du den armen Bric vom Verkaufen abgehalten. Wenigstens hast du dazu beigetragen. Das war nicht fair.“ Der spindeldürre Junge warf dem Mädchen einen raschen Blick zu. „Nein“, gab er sofort zu. „Das war nicht fair!“ Er kehrte um und kaufte Herrn Bric neun gelbe Rosen ab. Die überreichte er Tati - sehr zum Vergnügen der anderen. Doch Tati freute sich, obwohl die Blumen tatsächlich schon ziemlich welk waren. Henri kam nicht dazu, noch eine freche Bemerkung zu machen, denn Superhirn sagte in sonderbarem Ton - leise und
scharf: „Seht mal! Was hat denn der Pudel?“ Der Hund sprang winselnd in die Höhe. Dann wieder stupste er seine Schnauze auf den Boden, als wollte er ins Pflaster beißen. „Schnell! Nimm ihn hoch!“ rief Henri der Schwester zu. Das Tier blickte aus großen Augen qualvoll umher, als wolle es den Geschwistern und ihren Freunden etwas Schreckliches mitteilen. 5. Die Gefahr aus der Tiefe Die Armbanduhr - das Signalgerät - an Superhirns Handgelenk vibrierte. Der Junge blickte aufs Zifferblatt. „Erhöhte Aktivität“, las er. Dann schaltete er den Empfänger ein und hielt die „Uhr“ ans Ohr. „Mitteilung von Professor Charivari“, murmelte er. Die Gruppe stand jetzt neben dem Karussell, das noch nicht in Betrieb war. Superhirn nahm die Uhr vom Ohr und drehte ein wenig am Knopf. Nun konnten die anderen Charivaris Stimme ebenfalls hören. „Wir verzeichnen unerhörte Gedankenströme aus der Erde“, sagte der Professor. „Das Zentrum dieser Gehirnwellen-Ausstrahlung liegt direkt unter dem Hafen von Monton.“ „Ein Irrtum ist ausgeschlossen?“ fragte Superhirn zurück. „Könnten Ihre Geräte vielleicht durch die vielen Feuerwehren, die Flugzeuge, die Schiffe - und das ganze Durcheinander in dieser Gegend falsch anzeigen?“ Er wußte selber, daß die Frage töricht war. Charivaris Hirnwellen-Analysatoren waren hochspezielle Apparaturen, die nichts anderes vermerkten als Gedankenströme - in diesem Fall ganz bestimmte: nämlich die des innerirdischen Machthabers, des Ragamuffins, und seiner Mini-Spione, der Vavas, „Habt ihr irgendwelche Beobachtungen gemacht?“ ertönte nun wieder Charivaris Stimme. „Der Pudel benimmt sich so komisch“, meldete Superhirn rasch. Er äugte durch seine runden Brillengläser. „Übrigens - andere Hunde spielen auch verrückt.“ „Sag ihm, die Vögel flattern auf“, fuhr Henri hastig dazwischen. „Es ist wie vor einem Erdbeben. Das merken die Tiere immer vorher, wenn die Menschen überhaupt noch nichts ahnen.“ Superhirn gab die Nachricht weiter. Charivari war einen Moment still. Dann sagte er: „Ja. Ein schlimmes Zeichen. Haltet die Augen auf und achtet auf meine Signale! Ich hole euch noch heute mit dem Giganto!“ „Noch heute?“ rief Tati. „Ich wünschte, wir säßen längst im Erdschiff in Sicherheit!“ „Ziemlich ungemütlicher Gedanke, daß die Vavas da unter uns rumoren“, brummte Gérard. Prosper reckte sich seinen langen Hals nach Möwen aus. „Die dummen Biester wissen mehr als wir“, ärgerte er sich. „Das verstehe ich nicht!“ „Es ist ganz einfach“, sagte Henri. „Wir haben ja mal ein kleines, ziemlich harmloses Erdbeben mitgemacht. Ehe wir's begriffen, sprang die Katze wie elektrisiert auf, Loulou winselte und hopste von einem Sessel auf den anderen - und draußen flatterten die Vögel aufgeschreckt umher. Die Tiere haben sich zwar daran gewöhnt, daß der Boden bebt, wenn ein Schnellzug vorbeidonnert. Auch Erschütterungen durch enorme Baufahrzeuge kümmern sie nicht. Aber natürliche Erdstöße müssen auf Tiere besonders bedrohlich wirken. Unser Lehrer sagte: Wie feine elektrische Ströme, die sie von den Pfoten oder Krallen bis ins Gehirn spüren. Wenn ein Vogel auf einem schwankenden Baum sitzt, macht ihm das nichts. Rieselt aber so 'ne Erdstoß-Vibration bis in den letzten Zweig, so steht er wie unter Strom. Er fliegt weg - und erlebt auf dem nächsten Baum dasselbe. Jetzt fliegt er piepsend und krächzend hin und her und weiß nicht, wohin er sich setzen soll.“ „Also, da hab ich wohl 'n dickeres Fell als´n Panzernashorn“, meinte Gérard. „Ich spüre nichts unter den Füßen. Trotzdem zweifle ich nicht daran, daß die Vavas noch da sind. Die suchen uns! Und ich seh uns schon versteinert auf dem Marktplatz stehen. Ein Anblick für Götter!“ „Wir sollten uns ve-ve-verkriechen“, stotterte Prosper. „Vie-vie-vielleicht auf dem Schiffsfriedhof.
Da finden sie uns nicht!“ „Sie finden uns überall“, sagte Henri ruhig. „Am besten, wir bleiben hier in der Menge. Da sind wir am sichersten.“ Superhirn nickte. „Jetzt beginnt die Flottenschau, und die sehen wir uns an, als ob nichts wäre. Wir stehen ja mit Charivari in Verbindung.“ Trotz des Brandes lief das Ferienprogramm für die Gäste weiter. Die Fremdenverkehrsämter hatten ja alles Interesse daran, daß die Leute nicht abreisten. Am Hafenbecken, das wegen der Schleuse von Ebbe und Flut unabhängig war, spielte eine Musikkapelle. Bürgermeister und Gemeinderäte standen empfangsbereit, und ein Zeitungsreporter sprach über mehrere Lautsprecher zum Publikum. „Viele Schiffe, die an der Flottenschau teilnehmen sollten“, sagte er, „liegen noch vor der vom Waldbrand betroffenen Küste. Monton aber erhält, wie vorgesehen, den Besuch von drei U-Booten. Karten zur Besichtigung werden nachher hier am Kai ausgelost. Und da - blicken Sie seewärts, meine Herrschaften - sind die U-Boote schon! Sie rauschen eben in die Bucht von Monton!“ Die Freunde ergatterten einen guten Platz auf der Fährbrücke. Sie konnten verfolgen, wie die UBoote bis auf Sehrohrtiefe tauchten. „Langweilig gegen Professor Charivaris Giganto“, maulte Micha. „Immerhin ganz schön schneidig, hier zu tauchen“, meinte Henri. „Die Bucht ist weder groß noch tief!“ „Na ja, sie gleiten auch nur ganz langsam und ganz dicht unter der Oberfläche“, stellte Gérard fest. „'ne Segelregatta ist mir lieber“, sagte Tati. „Und was machen die U-Boote jetzt?“ „Sie werden wieder auftauchen“, erklärte Prosper eifrig. „Dann fahren sie ins Hafenbecken und legen da an, wo die Musikkapelle steht. Logisch, nicht7“ Doch die U-Boote tauchten nicht auf. Im Gegenteil, die Sehrohre verschwanden ganz von der Wasseroberfläche. Die Zuschauer warteten eine Weile äußerst gespannt, wo sie wieder zum Vorschein kommen würden. Der Reporter sprach von einer gelungenen Überraschung. Dann meldete sich der Bürgermeister und gab bekannt, er habe die Kommandanten bereits über Funk begrüßt. Man würde sie und die Besatzung gleich am Kai empfangen können. Aber die U-Boote tauchten noch immer nicht auf. Nach einer weiteren Viertelstunde war jedermann klar, daß da etwas passiert sein mußte. Von den Ufern lösten sich Fischerboote, Sportboote und Kähne aller Art. Sie fuhren auf die Stelle zu, an der man die Sehrohre zuletzt beobachtet hatte. Der Hafenkapitän sprach zu den erregten Zuschauern. Es kam das in solchen Fällen in aller Welt Übliche: „Bitte Ruhe bewahren! Nicht drängeln, keine Panik durch falsche Mutmaßungen verursachen! Es kann sich nur um eine Verständigungspanne handeln: Die Besatzungen haben Sauerstoffreserven für Tage. Trotzdem werde ich sofort Taucher hinunterschicken!“ Superhirn blickte auf den Pudel. Der war seltsamerweise wieder still. Er hockte behaglich neben Tati. „Was haltet ihr von der angeblichen Verständigungspanne?“ fragte Henri leise. „Sollten sich alle drei U-Boote gleichzeitig den Bauch aufgerissen haben7“ zweifelte Gérard. „Die Sehrohre waren allerdings schlagartig verschwunden“, erinnerte sich Prosper. „Als hätte jemand die Boote mit 'ner Riesenfaust unter Wasser gedrückt.“ „Oder - gezogen“, murmelte Superhirn. Über seinen Armband-Signalschreiber und -Sender versuchte er den Professor zu erreichen. Doch Charivari meldete sich weder mit Leuchtschrift noch mit seiner Stimme. Micha schluckte. „Das war der Ragamuffin“ Oder 'n Trupp von seinen Vavas!“ „So? Dann ist es wohl besser, wir verdrücken uns schnellstens!“ drängte Tati. „Das wäre falsch“, sagte Henri. „Wir sind die einzigen, die dem Professor etwas mitteilen können, wenn er sich meldet. Und Charivari ist der einzige, der gegen den Ragamuffin etwas ausrichten kann.“ „Falls er die U-Boote geschnappt hat“, fügte Gérard hinzu.
Über der Stelle, an der die U-Boote verschwunden waren, stand jetzt ein Bergungsfahrzeug. Taucher ließen sich von Bord auf den Grund hinab. „Wir stehen hier wie die Blöden“, ereiferte sich Prosper. „Woher sollen wir wissen, was die Taucher da feststellen?“ „Warte eine Weile, und du wirst mehr wissen als der klügste und fähigste Taucher“, sagte Superhirn. „Denn wenn der Erd-Boß einen Anschlag auf die U-Boote verursacht hat, stehen die Taucher da wie die Blöden. Wir aber merken sofort, was los ist.“ „Wann? Wie?“ fragte Tati. „Wenn Ebbe ist“, erwiderte Superhirn. „Und an der Art der Beschädigungen.“ „Also, an die Ebbe hätte ich nicht gedacht“, gab Prosper zu. „Stimmt! Die U-Boote waren ja noch nicht durch die Schleuse. Sie liegen nicht im Hafenbecken. Sie müssen an einer Stelle sein, die bei Ebbe so trocken fällt, daß man jede Muschel sieht.“ Die Gefährten gingen einstweilen in eine Eisdiele, dann kauften sie sich Erdnüsse bei Herrn Bric und ließen eine halbe Stunde lang seine Vermutungen über Magnetismus über sich ergehen. „So´n Quatsch“, brummte Gérard. „Moderne U-Boote sind antimagnetisch. Was stellt sich der Mann denn vor?“ „'ne Erzader soll die U-Boote auf den Grund gezogen haben. Es ist doch wohl schon öfter mal 'n Tauchboot in der Bucht gewesen. Und dem ist nichts passiert!“ „Trotzdem. Ich glaube, Monsieur Bric kommt der Wahrheit ziemlich nahe“, meinte Superhirn. Bevor das Wasser ganz aus der Bucht gelaufen war, wateten die Freunde bereits durch den Schlick. Längst sah man die Rümpfe der drei Boote. Männer vom Küstenschutz und alle möglichen Leute kletterten darauf herum. „Komisch“, wunderte sich Henri, der den Pudel trug. „Die U-Boote liegen alle drei vornüber, das Heck gehoben, als hätten sie nicht nur ins Wasser, sondern in den weichen Meeresboden tauchen wollen.“ „Ein Turmluk ist offen!“ rief Prosper. „Der Kommandant guckt heraus!“ „Auch aus den beiden anderen steigen jetzt Männer“, sagte Gérard. „Mal hören, was die Leute über den Vorfall sagen.“ Er verschwand in einer Gruppe von Helfern und Neugierigen. „Ich geh nicht weiter!“ protestierte Tati. „Micha steht bis zu den Knien im Schlamm. Und dahinten sind immer noch Wasserlöcher, so groß, daß man darin schwimmen kann.“ Tati hatte recht. So eine Wanderung war kein Vergnügen. Turnschuhe, Strümpfe und Jeans konnte der Schlamm zwar nicht verderben. Wenn man aber steckenblieb und vornüberfiel, konnte man sich ohne fremde Hilfe nicht mehr aufrichten. Und stand man dann wieder auf den Beinen, sah man wie eine Dreckpastete aus. Aber es war gar nicht nötig, sich bis zu den U-Booten vorzuarbeiten. Was die Kommandanten berichteten, ging von Mund zu Mund. Die Besatzungen seien vorübergehend bewußtlos gewesen, erfuhren die Freunde. Wahrscheinlich sei draußen vor der Küste als Folge des Brandes eine unsichtbare Giftgas-Wolke über die Boote hingezogen. Davon müsse etwas ins Innere des kleinen Flottenverbandes gedrungen sein. Das gleichzeitige Eintreten der Wirkung müsse zu gleichzeitigen Fehlreaktionen geführt haben. „Danke“, grinste Superhirn. „Ich habe genug gehört. Wer das glaubt, ist selber schuld!“ Die Gefährten stapften zum Ufer zurück. Tati und die Jungen bestürmten den spindeldürren Freund mit Fragen. „Es versteht sich, daß man für das Publikum 'ne Erklärung finden muß, auch wenn sie noch so blödsinnig ist“, sagte Superhirn. „ Daß sich die Boote aber fast parademäßig in den Schlamm gebohrt haben, wird man für Zufall halten.“ „Also hat der Ragamuffin etwas damit zu tun?“ forschte Micha. „Selbstverständlich“, erwiderte Superhirn. Der Erd-Boß und seine Leute arbeiten, wie ihr wißt, mit Gedankenkraft. Sie haben bisher giftige, durchbohrende und sogar eisige Gedanken eingesetzt. Die UBoote sind - da bin ich sicher - gewissermaßen in einen Gedankensog geraten. Ich nehme an, in einen gezielten, der als Strahlung auch ins Innere der Schiffe gelangt ist und der die Gehirntätigkeit der
Besatzung vorübergehend gelähmt oder sogar zugunsten des Ragamuffins gesteuert hat.“ „Der Ragamuffin wollte also die U-Boote haben“, überlegte Tati. „Weil er alles, was in der Bucht von Monton aufkreuzt, für Professor Charivaris Erfindungen hält.“ „Bist ein schlaues Mädchen.“, sagte der Bruder. „Es stimmt. Wir wissen das längst. Und Superhirn hat schon gestern, beim Anblick des Flugzeugträgers, gefürchtet, daß der Wirbel hier in der Gegend die Vavas anlocken könnte.“ Als die Freunde auf der Fährbrücke waren, vibrierte wieder mal Superhirns Armbanduhr. Schnell sonderten sie sich von der Menge der Schaulustigen ab. Der Professor meldete sich über den Radioempfänger des winzigen Geräts. „Ich habe gehört, was ihr erlebt und besprochen habt“, sagte er. „Eure Überlegungen sind richtig. Die Hirnwellentätigkeit der Vavas galt den U-Booten. Ich habe verhindert, daß die Schiffe geknackt und in Einzelteilen in die Erde gezogen wurden. Mein Giganto hat mehrere Salven Abwehrstrahlen losgelassen. Daraufhin haben sich die Vavas in ihren Verkapselungen zurück in den Globus geschossen. Ich schätze, sie werden so schnell nicht wieder auftauchen. Trotzdem will ich euch in Sicherheit wissen. Seid um 23 Uhr bei der Trockenen Kuh.“ Die Trockene Kuh war eine gewaltige Sanddüne nördlich von Monton. Dort war das Baden und Zelten verboten, auch verhinderte die Geländebeschaffenheit die Zufahrt von Fahrzeugen aller Art. Ein idealer Parkplatz also für den Giganto. 6. Start gegen den Ragamuffin Madame Claire gegenüber fand Superhirn eine gute Ausrede. Er sagte, sie hätten Freunde auf einem Campingplatz bei Nort. Sie müßten nachsehen, ob denen nichts passiert sei. Es waren unruhige, ereignisreiche Tage, und die Wirtschafterin hielt die Sorge um die angeblichen Freunde nur für natürlich. Am Spätnachmittag fuhren die fünf Jungen und das Mädchen im Bus von Monton nach Gréves. Sie hatten praktische Kleidung an, Jeans und Blusen oder Trainingsanzüge. Regendichte Kapuzenjacken trugen sie über dem Arm, Beutel mit frischer Wäsche und Waschzeug über der Schulter. Und selbstverständlich war Loulou auch mit, in nichts als in sein angewachsenes Fell gehüllt. Zwei Stunden lang wanderten sie durch Sand, Sand und noch einmal Sand. Gegen neun Uhr abends erreichten sie endlich die Düne Trockene Kuh. Kurz vor 23 Uhr signalisierte Superhirns Leuchtzifferblatt: Ich komme!“ Und pünktlich zur vollen Stunde lag neben der Riesendüne eine scheinbar zweite Geländeerhebung. Professor Charivaris gewaltiges Erderkundungsschiff Giganto. Der Professor führte dieses Kraftwerk, das eine Stadt wie New York mit Energie hätte versorgen können, allein. Eine Fülle von Hilfsaggregaten und Apparaturen ersetzten ihm das Personal eines Flugzeugträgers. Die Erdrakete hatte die Form eines regelmäßigen Spitzkegels - also einer Tüte - und sie war ein Allesfresser: Das heißt, sie verarbeitete jeden Stoff, auf den sie stieß, zu Treibstoff. Vor den sternförmigen Saugdüsen wurde selbst härtestes Gestein jäh geschmolzen. Pumpen jagten es heckwärts - und hinter dem Giganto erstarrte es wieder. Durch das Zurückpumpen der verarbeiteten Materie gewann man (wie beim Düsenmotor eines Jets) den Rückstoß, der das Erdschiff vorwärtstrieb. Vom Beschleunigen oder Bremsen spürten Passagiere wegen des innen eingerichteten Verzögerungseffekts nichts. Nicht das geringste Beben unter den Füßen verriet einem Mitfahrer, daß das Schiff - langsam oder im „Affentempo“ - durch den dicksten Dreck in die dunkle Tiefe fuhr. Das gewaltige Fahrzeug war so gebaut, daß es unmerklich - und ohne die Insassen ins leiseste Schwanken zu bringen - jeden Stoff und jede Schicht in der Erde durchdringen konnte. Die GigantoHülle bestand aus einem Material, das Charivaris Labor-Spezialisten entwickelt hatten. Dabei war die Bindung zwischen den Atomen so verstärkt worden, daß sie erst bei hundert Millionen Grad Hitze oder Kälte aufbrechen konnte. Eine derartige Hitze herrscht aber nur auf einigen außergewöhnlichen Sternen. (Selbst die Sonne hat nur ungefähr vierzehn Millionen Grad!) Die feste Bindung zwischen den Atomen machte die Hülle
praktisch unempfindlich bis zu einigen Milliarden Atmosphären Überdruck. Das wußten die Freunde schon. Selbst der Pudel hopste freudig auf die offene Luke zu. Dieses merkwürdige „Hotel“ war auch ihm vertraut. „Endlich!“ japste Micha begeistert. „Diesmal haben Sie uns aber lange zappeln lassen, Herr Professor!“ Die Jungen und das Mädchen sahen sich aufatmend in der raffiniert ausgestatteten Kommandozentrale um. Professor Charivari trat an den bogenförmigen Befehlstisch. „So“, lächelte er. „Wir fahren bereits! Ich bin froh, daß ich euch endlich unter Kontrolle habe. Der Ragamuffin und seine Vavas sind offenbar mehr denn je der Meinung, mein Hauptquartier befinde sich in Monton und alles, was da an - für sie unerklärlichen - Fahrzeugen aufkreuzt, sei meinen Monitor-Weltraumgleitern oder den Erdraketen zuzuordnen. Das wird immer gefährlicher! Auch für völlig Unbeteiligte. Jetzt müssen wir endlich die Ragamuffin-Zentrale finden!“ Professor Charivari war eine seltsame Erscheinung. Groß, hager, kahlschädelig ... Der Kopf erinnerte in seiner Form an eine Salatgurke; der lackschwarze, dünne Fadenbart hing wie angeklebt vom Kinn herab. Seine dunklen, schmalen, etwas schrägen Augen unter den gleichfalls schwarzen Brauen glänzten ausdrucksvoll. Er wirkte wie der Trainer eines Sportklubs. Sah man allerdings genauer hin, bemerkte man, daß der scheinbar einfache Arbeitsoverall eine perfekte technische Kombination mit vielen schräg und waagerecht angebrachten Taschen, Leisten, Knöpfen und reißverschlußähnlichen „Zügen“ war. Auch die Ringe an seinen schmalen Händen dienten nicht als Schmuck, sondern zur Ausstrahlung oder zum Empfang verschiedener Signale. Professor Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. Superhirn trat neben ihn und blickte auf den bogenförmigen Kontrolltisch. Dort „tanzten“ Lichter, sausten farbige Ziffern in der Plattenfläche, die seltsame Reflexe auf Charivaris hohlwangigem Gesicht hervorriefen. „Wollen Sie nun doch den Ragamuffin und seinen innerirdischen Staat vernichten?“ fragte Tati. „Der Ragamuffin scheint noch immer die Menschheit vernichten zu wollen“, korrigierte Charivari. „Auf der Erdoberfläche haben die Staaten ja schon genügend Probleme. Und nun taucht auch noch diese innerirdische Macht auf, von der keiner, außer mir und meinen Leuten, etwas ahnt. Man stelle sich die Panik vor, wenn die Strahlenaktivität dieses unheimlichen Dunkelmannes bekannt werden würde!“ Der Professor war ein Friedenstechnologe, dem es bisher gelungen war, mit einem verschworenen Gelehrten- und Techniker-Team seine Labors am Grunde der Meere, die Werkstätten im Eis der Antarktis und am Mondpol - den die Raumfahrer nicht überfliegen konnten - geheimzuhalten und technisch „unortbar“ zu machen. „Hoch oben“, im All, schwebte, einer unendlich riesigen Luftblase vergleichbar, die für irdische Peilgeräte völlig abgeschirmte geheime Raumstation Monitor. Charivari war bestrebt, seine „Errungenschaften der Zukunft“ nicht in die Hände von Gewaltpolitikern fallen zu lassen, die sein Werk etwa mißbrauchen konnten. Aber ausgerechnet ihn hatte sich der unbekannte innerirdische Staat zum Hauptfeind gewählt. „Der Ragamuffin verwendet doch ein Strahlengemisch aus reiner Willensenergie und formulierten Gedanken“, sagte Henri. „So war's bisher jedenfalls. Haben Sie diesmal wieder irgendeine Botschaft von ihm entschlüsseln können?“ „Daß wir technisch dazu in der Lage sind, selbst Gedankenfetzen des Ragamuffin zu entschlüsseln, wißt ihr ja bereits“, erwiderte Charivari. „Nur nützt uns das zur Zeit wenig. Neuerdings verzeichnen nämlich die Geräte in der Weltraumstation wieder ein Durcheinander von Signalen, das keinen logischen Sinn ergibt. Wir haben als Quelle dieser Aktivitäten unterirdische Stellen bei Monton orten können. Aber es ist klar, daß dort der Ragamuffin nicht sitzt. Sein innerirdischer Staat befindet sich ganz woanders. Bei Monton war nur ein Störtrupp seiner Vavas am Werk.“ „Wo haben Sie zuletzt den Ragamuffin-Staat geortet?“ fragte Gérard. „Also die eigentliche Machtzentrale?“ Professor Charivari blickte ärgerlich auf. „Als Machtzentrale des Ragamuffins vermerken unsere Ortungen noch immer den Erdmittelpunkt.
Aber damit werden wir auf die dümmste Weise getäuscht. Im Stahlnickelkern der Erde kann bekanntlich kein Lebewesen existieren. Der Ragamuffin benutzt diesen Stahlnickelkern nur als Reflektor.“ Tati, Micha, Prosper, Gérard und Henri setzten sich auf Sessel und Sofabänke, die wie in einer modernen Hotelhalle um die Tische angeordnet waren. Der Giganto war ja nicht nur als Kriegsschiff zur Bekämpfung eines innerirdischen Staates gebaut worden, sondern als Rakete zur friedlichen Erforschung des Erdinnern. Dutzende von Wissenschaftlern hätten in aller Bequemlichkeit die Leuchtsignale in den Wänden registrieren und diskutieren können: Der Kommandoraum dieses neuesten Giganto glich einem riesigen Konferenzsaal für verschiedene Arbeitsteams. Auch gab es Gästeschlafzimmer an Bord, Waschräume, Kleiderkammern, eine Reihe von Labors, automatische Küchen, Imbiß-Kantinen, Restaurant- und Freizeiträume - und sogar einen großen Wintergarten, ähnlich einer Halle auf einer Gartenmusterschau. Vieles diente dazu, die Mitreisenden vergessen zu lassen, daß sie sich in der grauenhaften, tödlichen Dichte und Dunkelheit des Erdinnern befanden. „Ich schalte jetzt auf Schleichfahrt und nehme Funkverbindung mit meinen Stationen an der Oberfläche und im Weltraum auf“, sagte der Professor. Inzwischen steigt ihr in den Lift zum B-Deck. Richtet euch in aller Ruhe in den Gästekammern ein!“ Superhirn zog mit Henri zusammen in eine dieser Gästekammern, die den Eindruck von komfortablen kleinen Hotelzimmern machten. Henri war der besonnenste und vernünftigste seiner Freunde. Er brauchte ihm auch nicht erst zu sagen, daß ihn etwas bedrückte. „Dein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen“, versuchte Henri zu spotten. „Wirklich: Und du guckst so bedenklich, daß man meint, im nächsten Moment müßten deine Brillengläser beschlagen.“ Superhirn grinste verzerrt. „Ist das Erdschiff nicht sicher?“ forschte Henri. „Wir wissen doch vom letztenmal, daß uns der Ragamuffin nichts anhaben kann, wenn wir im Giganto sind. Keine Kraft und keine Macht kann die Rakete knacken. Wenn du das nicht glauben würdest, wärst du doch gar nicht erst mit uns in diesen Erdbohrer eingestiegen!“ „Da hast du recht“, murmelte Superhirn. „Der Giganto ist kein simples U-Boot. Aber ich wollte wahrhaftig, wir waren diesmal nicht mitgefahren!“ Henri setzte sich aufs Bett. Fassungslos starrte er Superhirn an. „Wie kommst du denn darauf?“ fragte er nach einer ganzen Weile. „Hast du irgendeinen Defekt bemerkt? Ich meine, was Kaputtes? Oder glaubst du, daß der Professor nervös war?“ „Nein“, erwiderte der Freund entschieden. „Weder das eine noch das andere.“ „Sondern?“ „Charivari will diesmal aufs Ganze gehen“, antwortete Superhirn. „Das heißt, er will den geheimnisvollen innerirdischen Staat wirklich vernichten. Gut - ich weiß, was du sagen willst. Der Professor ist ein friedliebender Mensch. Es würde ihm genügen, das Ragamuffin-Volk für immer und ewig einzuschüchtern, so daß es niemals mehr wagen würde, aus seinem Globus-Hohlraum herauszukommen. Weder mit verkapselten Vava-Spionen noch mit Gedankenstrahlen.“ „Eben, das meine ich!“ rief Henri. „ Ich denke da gar nicht etwa an einen schauderhaften Kampf Charivari ist ja nicht wahnsinnig! Mit Micha, Tati und dem Pudel in eine innerirdische Schlacht zu ziehen – ha!“ Superhirn äugte ernst über die Brille, die ihm tief auf die Nase gerutscht war. „Überleg mal, was du da eben gesagt hast“, forderte er Henri auf. „Du denkst gar nicht an einen schauderhaften Kampf? Das ist ja gerade der wunde Punkt, um mich mal milde auszudrücken. Auch Professor Charivari denkt nicht daran.“ „Was soll das heißen?“ Mit Nachdruck erklärte Superhirn: „Aber der Ragamuffin könnte an einen schaurigen Kampf denken. Und das - scheint mir - hat sich Charivari nicht richtig klargemacht.“ Wieder schwieg Henri eine Weile. Er saß wie vor den Kopf geschlagen. Endlich sagte er: „Mensch,
du hast recht! Der Erd-Boß hatte ja schon mal Frieden geschlossen und seine Fühler eingezogen, weil er sah, daß er den kürzeren ziehen würde. Auf einmal fängt er wieder an, Unruhe zu stiften. Womöglich nicht aus Dämlichkeit. Er könnte inzwischen all seine Kräfte zusammengezogen haben und - und den Giganto in eine fürchterliche Falle locken.“ „Genau das meine ich!“ nickte Superhirn. Und er betonte jedes Wort. 7. Ein Schatten in der Schleuse Nach vier Stunden Schlaf, den sie dringend nötig gehabt hatten, trafen die Gefährten im Kommandoraum wieder zusammen. Professor Charivari stand an der bogenförmigen Befehlsplatte. Auf einem Bildschirm meldete sich Captain Biggs, Sicherheitschef der geheimen Weltraumstation. Er überwachte das Giganto-Unternehmen in der Erde. „Keine Vava-Strahlen mehr im Gebiet von Monton“, teilte er mit. „Alle unsere geheimen Unterseeund Raumstationen berichten übereinstimmend: Schwindende Aktivität. Anscheinend haben Sie die Störtrupps' in ihre unbekannten, innerirdischen Quartiere zurückgejagt. Der Ragamuffin wagt sich nicht zu rühren, da der Giganto auf Suchfahrt ist.“ „Gut“, sagte Professor Charivari befriedigt. „Das dachte ich mir schon. Wir ziehen ein paar Parkschleifen unter dem Atlantik und lassen uns Zeit zum Essen. Dann melden wir uns wieder. Ende.“ Superhirn warf Henri einen Blick zu, der etwa ausdrückte: Na? Was sagst du? Das haut dich um, wie? Als ob wir auf 'ner Vergnügungsfahrt wären.“ Die beiden Jungen ließen sich ihre Bedenken nicht anmerken. Besonders, weil der Professor seiner Sache so sicher und deshalb außerordentlich gut gelaunt war. Außerdem wollten sie die anderen nicht ängstlich machen. Da kein Alarmzustand herrschte, konnte sich jeder in aller Ruhe eine Speisefolge nach seinem Geschmack im Chefrestaurant zusammenstellen. Für Tati und Micha war das ein besonderes Ereignis: Es gab nämlich unter anderem alle möglichen Sorten Eis, dazu die köstlichsten Früchte nach Wahl. „Ich. bin dem Ragamuffin und seinen Vavas direkt dankbar!“ rief Micha übermütig. „Denn wenn sich diese verkapselten Muffels nicht bei Monton rumgetrieben hätten, säßen wir jetzt nicht im Giganto.“ „Ja“, grinste Gérard. „Dieses Jahr hatte der Ragamuffin ein großartiges Ferienprogramm für uns. Der Bursche ist der beste Reiseleiter, den es gibt.“ Prosper lachte: „,Reiseleiter? Das ist prima! Wir können ihn immer so nennen, wenn fremde Leute dabei sind. Das fällt dann wenigstens nicht auf.“ Selbst Tati amüsierte sich. Doch sie meinte: „Ich würde eher unseren Professor einen guten Reiseleiter nennen. Der Ragamuffin hat bisher nur Aufregungen geboten, gesträubte Haare und Gänsehaut. Von einem Reiseleiter verlange ich erstens Sehenswürdigkeiten, zweitens hervorragende Unterbringung, drittens leckere und reichhaltige Verpflegung. Das alles bietet Professor Charivari konkurrenzlos. Denn, daß der Giganto 'ne einzigartige Sehenswürdigkeit ist, wird wohl jeder zugeben.“ „Ohne Diskussion!“ bekräftigte Henri. „Ihr seid ja auch 'ne Reisegruppe, wie man sie sich besser nicht wünschen kann“, lächelte der Professor. Superhirn räusperte sich. Er war die ganze Zeit ernst geblieben. Jetzt fragte er Charivari: „Sie und Ihre Leute haben noch immer keinen Schimmer davon, wo der innerirdische Ragamuffin-Staat liegen könnte?“ „Wir sprachen ja schon davon: Nein!“ erwiderte der Professor. „Eine Gruppe meiner Wissenschaftler wertet jede literarische Quelle aus, die von versunkenen Erdteilen, Inseln, Städten und Kulturkreisen spricht. Auch entsprechende Sagen der verschiedenen Völker werden nach ihrem möglichen Wahrheitsgehalt abgeklopft. Ebenso beobachten wir alle Forscher, die etwa in Südamerika nach Überresten uralter Städte graben. Oder solche, die anhand von Schallmessungen und Spezialfotos Straßen und Mauern Vinetas und sogar ähnliche Rückbleibsel von Atlantis auf dem
Meeresgrund entdeckt haben wollen.“ „Sie meinen also“, fragte Superhirn, „der Ragamuffin-Staat besteht aus Nachkommen eines untergegangenen Volkes, das möglicherweise bei einer Erdfaltung oder Erdspaltung ins Innere abgerutscht ist und dort in einer Art Luftblasen-Enklave weiterlebt?“ „So ähnlich“, nickte Charivari. „Diese Leute sind auf jeden Fall Menschen. Ich nehme sogar an, sehr hochgeartete. Sie haben nur ihre Fähigkeiten ganz anders weiterentwickelt als wir.“ Er unterbrach sich, denn Superhirn putzte plötzlich wie ein Verrückter seine Brille. Auch die Freunde blickten erstaunt auf. „Was hast du denn?“ fragte Charivari. Superhirn setzte seine Gläser wieder auf die Nase und äugte wie eine Eule durch die Tür der Kantine zum Kommandoraum. An der Schleuse hab ich den Schatten eines Mannes gesehen“, stieß er hervor. Im Nu waren alle auf den Beinen. „Das ist nicht möglich!“ rief Charivari. „Die automatische Personenkontrolle kann nicht versagt haben! Wenn sich hier einer einschleicht, dessen Körper- und Gehirnmeßwerte nicht gespeichert sind, so wie eure, gibt´s sofort Großalarm!“ Die Freunde wußten, was das bedeutete. Bei Großalarm zuckten grelle Warnzeichen über die Wände, Sirenen heulten auf, Klingeln schrillten, ja, das indirekte Licht ganzer Giganto-Wohnteile wechselte die Farbe, und die Sessel, Sofabänke und Betten kippten um, um Schläfrige munter zu machen. Gefolgt von Henri, Prosper, Gérard, Tati, Micha und dem bellenden Pudel rannte der Professor in die Befehlszentrale. „Alles völlig normal!“ rief er. Am bogenförmigen Kommandotisch prüfte er hastig die Signalkontakte. „In Ordnung! Nichts, gar nichts, zeigt den Ausfall der Alarmanlage an!“ Tati nahm den verwirrten Pudel auf den Arm. Die Jungen studierten die Skalen an den Wänden: Erdtiefe, Außentemperatur, Fahrtgeschwindigkeit. Auf einmal sah sich Henri nach Superhirn um. Der spindeldürre Junge war im Chefrestaurant geblieben und löffelte in aller Seelenruhe sein Eis. „Sag mal!“ rief Henri verblüfft. „Hier bist du noch? Erst siehst du einen gespenstischen Schatten, die ganze Besatzung überschlägt sich vor Aufregung, der Professor spielt auf dem Kommandotisch Klavier - und du sitzt da und schleckst Eis!“ „Pst!“ mahnte Superhirn. „Nicht so laut.“ Sein Blick hinter den kreisrunden Augengläsern bekam etwas Pfiffiges. „Es gibt gar keinen Fremden an Bord. Jedenfalls hab ich keinen gesehen. Auch diesen angeblichen Schatten nicht.“ „Bist - bist du wahnsinnig?“ stammelte der Freund. „Im Gegenteil!“ das Gesicht des spindeldürren Jungen straffte sich. Er war todernst. „Ich wollte dem Professor und euch nur etwas Dampf machen.“ „Waaas?“ Superhirn blieb ruhig. „Ich sagte dir schon, ich halte diese Fahrt für gefährlich. Für gefährlicher als alles, was wir je erlebt haben. Charivari mußte aus seiner falschen Sicherheit aufgeschreckt werden!“ Er ging mit dem kopfschüttelnden Henri in den Kommandoraum. Der Professor sah von dem bogenförmigen Befehlstisch auf. „Ich habe sämtliche KontrollApparaturen still abgefragt. Es kann sich kein Eindringling an Bord befinden!“ Über Bildfunk rief er den überwachenden Sicherheitschef auf der Raumstation Monitor im All. Das nette, jugendlich unbekümmerte Gesicht von Captain Biggs erschien auf der Mattscheibe. „Hallo, Professor, hallo, Superhirn, hallo, Tati - und ihr anderen rühmlichen Erdforscher! Letzte Nachricht vom Ragamuffin. Wollte sie gerade durchgeben. Haltet euch fest!“ „Zur Sache!“ befahl Charivari. „Was ist los, Biggs?“ „Wir empfingen soeben unverschlüsselte Gedanken des Ragamuffin“, rief Captain Biggs. „Sie sollten sich mit dem Giganto aus dem Erdinnern zurückziehen. Er hat alle Vavas zurückgerufen und will uns nicht mehr stören.“ Schnell sagte Superhirn: „Das klingt zwar allzu schön, aber es könnte tatsächlich die Wahrheit sein.
Am besten, wir fahren sofort hoch - und kehren heim nach Monton.“ „Trotzdem“, teilte Charivari Captain Biggs mit, „ob wir heimkehren oder nicht - ich habe alle Geräte und Apparaturen auf erhöhte Wachsamkeit gestellt, weil Superhirn einen Schatten gesehen haben will. Vielleicht - nein, sicher - war's aber auch nur eine Schmutzstelle auf seinem Brillenglas. Sonst noch eine Nachricht?“ „Auf der Antillen-Insel Guadeloupe ist der Vulkan La Souffriére ausgebrochen. Und zwar, wie die Rundfunk-Stationen auf der Erde melden, mit der Gewalt mehrerer Atombomben“, erwiderte Biggs. „Anscheinend haben Sie die Giganto-Spürstrahlen eingezogen, sonst hätten Ihre Geräte das anzeigen müssen!“ „Ich fahre die Spürstrahlen aus“, sagte Professor Charivari nach kurzem Zögern. „Beraten Sie sofort mit unseren Ragamuffin-Experten: Besteht auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit, daß der Vulkanausbruch auf ein Störmanöver innerirdischer Lebewesen zurückzuführen ist? Wir warten auf Parkbahn - gleichbleibende Positionen!“ Die Mattscheibe mit Biggs Gesicht erlosch. „Zunächst noch mal zu dem Schatten, Superhirn“, wandte sich Professor Charivari an den Jungen. „Könnte meine Annahme stimmen, daß dich - ich will nicht sagen, ein Fleck auf der Brille - aber eine Einbildung getäuscht hat?“ „Selbstverständlich“, gab Superhirn gelassen zu. „Aber es ist jedenfalls besser, in Alarmbereitschaft zu sein. Finden Sie nicht, Herr Professor?“ Charivari musterte den spindeldürren Jungen scharf. Er lächelte. „Du trägst deinen Namen zu Recht, Superhirn. Wie sollte gerade ich dies auch nur eine Sekunde lang vergessen dürfen?“ Henri warf dem Freund einen schnellen, bewundernden Blick zu. Doch Prosper rief: „Was? Soll das heißen, der komische Schatten in der Schleuse war 'ne Fehlanzeige? Superhirn hat Tomaten auf den Augen gehabt7“ „Hast wohl 'nen Knall, uns alle so durcheinanderzubringen7“ ärgerte sich Gérard. „Deinetwegen kriegt der Pudel noch graue Haare.“ „Und ich auch“, behauptete Micha wütend. Jetzt wollte Tati etwas sagen, doch sie kam kaum dazu, den Mund zu öffnen. Ein furchtbarer Schlag traf den Giganto. Er traf die gegen jede denkbare Gewalt gesicherte Schiffshülle der riesigen Erdrakete wie mit einer diamantenen Titanenfaust. Der Professor sauste zwei Meter hoch und krachte mit voller Wucht zurück auf die Befehlsplatte. In den seltsamsten Verrenkungen flog die übrige Besatzung durch den Kommandoraum. Der Pudel landete auf Michas Kopf. Stumm vor Schreck rappelten sich alle hoch. Alle - außer Superhirn. „Er - er ist bewußtlos“, stammelte Tati. „Er ist mit dem Hinterkopf gegen die Schleusentür geknallt.“ Sie beugte sich über ihn. „Eine Verletzung kann ich nicht erkennen.“ Mit drei, vier Sprüngen war Charivari bei ihm. „Helft mir, ihn in die Lazarettkammer zu schaffen“, befahl er. „Ich denke, er wird bald wieder zu sich kommen.“ Henri nahm sicherheitshalber Superhirns Brille an sich. Als sie den Jungen in die Kammer neben der Schleuse geschafft hatten, liefen sie in den Kommandoraum zurück. Micha beruhigte den Pudel. Charivari tippte eilig auf der bogenförmigen Platte umher. Im Raum stand jetzt der matte Lichtball des Hologramms, das die Erde darstellte. Auf diesem Gebilde erschienen die Kontinente schwach grünlich. Ein rötlicher Punkt stellte den Giganto dar und zeigte dem Betrachter dessen jeweilige Position. Das Erdschiff befand sich auf seiner Warteschleife etwa 10000 Meter unter dem westlichen Atlantik. Charivari schaltete in den Erdsimulator und Hologramm-Fahrtenschreiber noch einiges hinein: nämlich, was die Mini-Spähkameras in der Außenhaut und die verschiedenartigen Spürstrahlen „mitzuteilen“ hatten. „Der Vulkan auf Guadeloupe ist in voller Tätigkeit“, murmelte er, auf den Lichtball starrend. Man sah den schwachen, winzigen Abglanz gewaltiger Eruptionen. „Sind wir von dem Ausbruch betroffen?“ fragte Gérard. „Unmöglich“, sagte der Professor. „Sieh selbst, wie weit nordöstlich wir von Guadeloupe stehen!
Und wie tief unter der Vulkan-Ebene. Ich kann mir den Schlag überhaupt nicht erklären. Der Giganto ist so konstruiert, daß ihm selbst eine starke Erdbewegung so wenig anhaben kann wie aufgepeitschtes Wasser einer stählernen Murmel.“ „Aber der Vulkanausbruch soll die Kraft von Atombomben gehabt haben“, erinnerte Prosper. „Die Kraft“, betonte Charivari. „Die Kraft, aber nicht die Wirkung. Dies ist ein großer Unterschied.“ In diesem Augenblick traf den Giganto ein neuer Schlag, so wuchtig, daß der Befehlstisch an zwei Stellen aus den Fugen geriet. Alle Kontrollplättchen erloschen. Auch der Lichtballon verschwand. Wieder rappelte sich die Besatzung auf. Der Pudel verdrückte sich in die Hauptschleuse. Superhirn lag noch immer bewußtlos in der Lazarettkammer. Tati, Micha, Henri, Gérard und Prosper blickten mit geweiteten Augen auf den Professor. Charivaris Gesicht war noch gelber als sonst. Fast verzweifelt strich er sich dein dünnen Fadenbart. „Keine Verbindung mit Captain Biggs“, murmelte er. „Einige Aggregate sind zerstört. Ich wundere mich, daß kein einziges Mal das automatische Warnsystem ausgelöst worden ist.“ Wumm - krachte es auf den Giganto nieder. Wumm - wumm. Die Besatzung klammerte sich an Tische und Bänke. Unsere Erde, zwar nur ein Pünktchen im Weltall, ist im Inneren stärker als jede menschliche Technik. Menschen hatten auf dem Mond landen können, Menschen streckten die Hand nach dem Mars aus, doch das waren machbare Dinge. Im Weltall gibt es ja nicht den Druck, der im Globus herrscht. Würde der Giganto aufbrechen, so würde er im gleichen Moment zu einer unkenntlichen Masse mit der Erdmaterie verschmelzen. Henri erinnerte sich an Superhirns düstere Ahnungen. „Kann das der Ragamuffin sein?“ fragte er. „Ich meine: die rätselhafte Kraft, die uns da bombardiert?“ „Ich wüßte nichts anderes“, gab Charivari offen zu. „Ich hätte das voraussehen müssen. Niemals hätte ich die Spürstrahlen...“ Ein neuer Schlag, bisher der schlimmste, unterbrach ihn. Der Giganto rüttelte jetzt wie ein entgleisender Eisenbahnwaggon. Alle hielten sich fest, wo sie nur konnten. Charivari hing über der nutzlos gewordenen Bogenplatte und drehte und zerrte an den Knöpfen und Zügen seiner Jacke. Im äußersten Notfall war er ja seine eigene wandelnde Befehlszentrale. „Ich gebe der Gleichgewichtsanlage des Giganto Funkimpulse“, ächzte er. Wumm - wumm – wumm. Eine Serie schwerster Schläge traf den Giganto von allen Seiten. Im schlingernden Kommandoraum erschien plötzlich Superhirn. Er kroch auf allen vieren. „Wo ist meine Brille?“ stöhnte er benommen. Krack - huiii – peng. Die mörderischen Hiebe aus der Erde folgten in immer dichteren Abständen. Superhirn war auf einmal wacher als alle anderen. „Das hat mit dem blöden Vulkan überhaupt nichts zu tun!“ brüllte er. „Überhaupt nichts!“ Er wußte nicht, daß Charivari inzwischen zu dem gleichen Ergebnis gelangt war. „Gehen Sie auf Hochfahrt, Professor! Programmieren Sie das Schiff auf Guadeloupe! Ich schätze, unter dem Vulkan sind wir am sichersten.“ Charivari rief die Maschinenelektronik über Mikrofon an: Sie war genau auf seine Stimmfrequenz und auf bestimmte „Reizworte“ eingestellt. In der Backbordwand leuchteten Welt- und Erdabschnittskarte mit Sektorenmarkierungen und Ziffern auf. Das Schiff schien der Not-Programmierung zu gehorchen. Es glitt nun auch wieder so unmerklich dahin wie vorher. Henri reichte Superhirn die Brille. „Ich hätte es Ihnen gleich sagen sollen, was ich fürchtete“, sagte Superhirn in ruhigem Ton zu Charivari. „Über das Ausmaß der Fähigkeiten des Ragamuffins waren wir uns nie ganz klar. Manchmal haben wir sogar geglaubt, er blufft nur.“ „Ja. Jedenfalls saß er bisher immer auf dem falschen Dampfer“, unterbrach Prosper. „Einmal zerstört er Uhren und Waschmaschinen, ein andermal zieht er U-Boote in den Schlick. Er weiß bei uns nicht Bescheid.“ „Und wir bei ihm nicht“, konterte Superhirn. „Ich hatte mir das genau überlegt, gleich als wir an
Bord kamen. Mit einem mußten wir unbedingt rechnen.“ „Womit?“, drängte Henri gespannt. „Daß wir längst nicht alle seine Fähigkeiten kennen. Seine Vasallen haben einerseits festes Material und technische Geräte mit Blicken durchbohrt wie mit Geschossen. Folglich muß dieses RagamuffinVolk seine Willensenergie materialisieren oder verdichten können. Andererseits hat es die U-Boote in einen Sog gebracht und die Besatzungen vorübergehend gelähmt. Also können unsere Gegner ihre Willensenergie auch als magische Waffe einsetzen.“ „Das wissen wir doch!“ rief Tati. „Aber du hast vergessen, daß der Ragamuffin schon einmal gedroht hat, die Erde platzen zu lassen“, fuhr Superhirn fort, „Wenn das nun kein Bluff war? Womit sollte er unseren Globus auseinandersprengen, he? Wo er doch mit keiner anderen Kraft arbeitet als mit einer für uns unfaßbaren Gedanken- und Willensenergie?“ „Mit Gedanken-Kanonen und Gedanken-Raketen“ rief Prosper. „Na, klar! Vielleicht sogar mit 'ner Gedanken-Atombombe!“ „Das hat der guten Mutter Erde gerade noch gefehlt“, murmelte Gérard. „Als ob wir da oben nicht schon genügend Auswahl hätten.“ Der Professor war der Diskussion seiner jungen Gefährten bisher schweigend gefolgt. „Du meinst...“ schaltete er sich nun, zu Superhirn gewandt, ein, „wir sind möglicherweise vorhin in eine Art Minenfeld aus gespeicherten Vava-Gedanken geraten?“ „Genau das meine ich!“ erklärte Superhirn. „Und deshalb glaube ich, unter dem ausgebrochenen Vulkan sind wir sicher. Denn in solchen Gegenden ist bestimmt kein Gedanken-Munitionsdepot.“ „Du müßtest den großen Giganto-Orden mit Schulterband und Stern kriegen“, sagte Charivari. Er lächelte anerkennend. „Wie du auf der Leuchttafel siehst: die Not-Programmierung hat geklappt! Ich werde versuchen, über meinen Armbandsender mit Biggs Kontakt zu bekommen.“ Er drehte an dem winzigen Gerät an seinem Handgelenk. Das war ein Bildempfänger in der Größe eines Zifferblattes. Doch auf der kleinen Fläche schimmerte das Gesicht des Sicherheitschefs in der überwachenden Raumstation nicht auf. Dafür stand der Lichtballon, der die Position des Giganto in der Erde anzeigte, wieder im Raum. „Es ist wie verhext“, brummte Charivari. „Nach dieser Erschütterung funktionieren die Geräte nur noch nach Lust und Laune.“ „Meine Urgroßmutter hat schon gesagt: Hau nie dem Computer eins auf den Hut“, versuchte Prosper zu scherzen. „Sie sprechen von funktionieren“, griff Superhirn die Worte des Professors auf. „Funktioniert der Fahrtenschreiber denn oder stimmt die Kursprogrammierung nicht? Das rote Pünktchen, das unseren Giganto darstellt, gleitet nämlich ins Erdinnere zurück.“ Der Professor fragte die Elektronik der Maschinenräume ab. Ohne Ergebnis. Die künstliche „Stimme“ der Ingenieurs-Automatik meldete sich nicht. Ebenso signalisierte kein entsprechendes Sichtzeichen in der Wand einen Schaden oder einen Fehler. Nach einer Weile war Charivari klar, daß er das Schiff nicht mehr unter Kontrolle hatte. „Es steuert, wohin es will“, sagte Gérard. Mit Glotzaugen starrte er in den FahrtenschreiberLichtball. Inzwischen hatte sich Superhirn wieder etwas überlegt. „Sind die Suchstrahlen noch ausgefahren?“ forschte er. Sein Gesicht war bleich und spitz. „Befinden sich unter diesen Spürstrahlen neue, etwa solche, die wir nicht kennen?“ „Ja. Und einer, den ich vor dem Geräteausfall nicht mehr rechtzeitig einziehen konnte, macht mir die meiste Sorge. Es ist ein stark verbesserter Hohlraumsucher“, erwiderte Charivari. „Er ist dazu da, Höhlen oder Blasen im Erdinnern aufzuspüren, und zwar von Lebewesen bewohnte oder geschaffene.“ „Mit welcher - welcher Genauigkeit kann dieser Spürstrahl das ertasten?“ fragte Superhirn gespannt. „Mit derselben Genauigkeit, wie ein geschultes Auge auf einem Luftfoto natürliche Bodenerhebungen von künstlichen unterscheidet“, erwiderte Charivari prompt. „Etwa von überwachsenen, uralten
Festungswällen. Oder wie das Auge eines Höhlenforschers auf einem Bild erkennt, ob die betreffende Höhle Merkmale von menschlicher Bearbeitung aufweist.“ „Dann sind wir verloren!“ entfuhr es Superhirn. 8. Rettung in letzter Sekunde Im Kommandoraum herrschte gespenstisches Schweigen. Bis Prospers Stimme die lähmende Stille durchbrach. „Wa-wa-was redest du denn, Superhirn?“ rief er schrill. Er hampelte herum, als sei er am Durchdrehen. „Du machst ja alle ganz verrückt mit deinem dauernden Gequassel!“ „Reiß dich zusammen!“ herrschte Tati ihn an. „Wenn einer die anderen verrückt macht, dann bist du's! Nimm dir ein Beispiel an Micha!“ Prosper schwieg. „Der Hohlraum-Spürstrahl könnte uns also automatisch in 'ne Art Gedanken-Munitionsfabrik des Ragamuffins führen“, begriff Henri entsetzt. „Ja! Und dann kriegen wir die geballten Ladungen in die Saugdüsen - und in die Maschinen“, sagte Superhirn heiser. Über Mikrofon und mit Hilfe seiner Mini-Geräte, die er am Leibe trug, versuchte der Professor auf den Kurs einzuwirken und den Sicherheitschef in der außerirdischen Überwachungsstation zu erreichen. Vergeblich! Das Fahrtenschreiber-Pünktchen im Lichtballon sank immer tiefer. Hustend und bellend kam der Pudel aus der Hauptschleuse gesprungen. Er gebärdete sich wie toll. Diesmal begriff der Professor als erster, was los war. „Es riecht nach Schwefel und Maschinenöl!“ schrie Micha. Mit verzerrtem Gesicht drückte Charivari auf einen roten Gefahrenknopf in der Wand. „Der funktioniert“, keuchte er erleichtert. Jetzt stieß auch Tati einen Schrei aus. In der Hauptschleuse standen - fünf Gestalten. Sie trugen Werkanzüge und silbrige Schutzhelme. Jeder hatte ein Gerät in der Hand: eine Art Stemmeisen, eine Zange, eine Axt, einen Spezialbohrer und einen enormen Schraubenschlüssel. Das war ein Teil des „Maschinenpersonals“. Es handelte sich aber nicht um Menschen, denn ein Lebewesen konnte das höllische Gebrodel nicht betreten. Es waren Roboter, hitzebeständige, programmierte Automaten in Menschengestalt. Hilfsaggregate, denen der Professor ihr schauriges Aussehen nicht zuletzt deshalb gegeben hatte, um unerwünschte Eindringlinge abzuschrecken. Sie mußten ein Signal falsch verstanden haben, oder die defekte Übermittlung hatte ihnen falsche Impulse eingegeben. Jedenfalls waren sie durch mehrere Hinterschleusen über die Kühlschleuse in die Hauptschleuse gekommen. Normalerweise reagierten sie auf eingespeicherte Reizsignale oder sogar -worte. Doch diesmal sah man sofort, daß ihre Steuerungen kaputt waren. Sinnlos tappten sie durcheinander. „Warum schieben Sie die Tür nicht vor die Schleuse?“ brüllte Gérard. „Die sollen mit mir nicht Fußball spielen!“ „Der Kommandoraum ist abgeblockt“, sagte Charivari beruhigend. „Und zwar mit einem Luftpanzer! Den durchdringen sie nicht!“ „Ha-ha-hat man so was schon erlebt?“ stammelte Prosper. „Die Kerle bringen sich gegenseitig um. Sie dreschen aufeinander ein und reißen sich die Köpfe ab!“ Tatsächlich wurden sie Zeugen der gegenseitigen Zerstörung des Maschinen-Teams. Ein schauderhafter Anblick. Offenbar gaben die Roboter wegen des Durcheinanders von Fehlimpulsen einander sogar noch die „Befehle“ dazu! Die Schutzhelme flogen durch die Schleuse, Arme, Beine, eine Flut von elektronischen Kleinstteilchen. Der Automatenmann mit der Axt warf sich wie ein Wilder gegen die durchsichtige Absperrung. „Wenn der reinkommt, sind wir geliefert“, meinte Henri schluckend. „Der haut hier alles zusammen!“ Plötzlich glühten die Augen des Roboters auf. Er riß sich selber den Kopf ab und brach zusammen. Der Gespenstertanz war zu Ende. Dafür begann ein neuer, weit schrecklicherer. Wie zum Hohn erschien Captain Biggs auf dem Bildschirm. „Was ist los?“ rief er. „Warum halten
Sie keinen Kontakt? Unsere Gehirnwellen-Geräte hat's mal wieder durchgehauen. Wie sieht´s bei Ihnen aus?“ „Giganto meldet: Erdschiff verloren!“ teilte Professor Charivari hastig mit. Er warf einen Blick auf den Fahrtenschreiber und gab die Position durch. Seine weiteren Anweisungen konnte kaum einer verstehen, denn das Schiff begann wieder mörderisch zu rütteln. Gleichzeitig schepperte es in den Wänden, als sei der Giganto eine ungeheure, mit Steinchen gefüllte Konservendose. „Wir sind auf ein Gedanken-Depot des Ragamuffins gestoßen“, schrie Superhirn Henri ins Ohr. „Die Saugdüsen nehmen alles auf, also auch das verdichtete Energie-Material. Und das reißt uns jetzt die Maschine auseinander.“ „Kommt!“ rief Professor Charivari. Er gab den unter diesen Umständen höchst merkwürdigen Befehl: „Aussteigen!“ In der Erde kann man natürlich nicht einfach aussteigen. Doch wenn Charivari auf der Fahrt einiges nicht bedacht hatte, so glaubte er doch, noch nicht am Ende zu sein. An Bord des Giganto gab es eine sonderbare Telefonzelle. Darin erblickte er jetzt die Rettung. Im Kommandantenbüro, stand diese seltsame Zelle, und sie beherbergte alles andere als einen gewöhnlichen Postapparat, vielmehr ein Molekular-Telefon. Damit konnte man nicht nur seine Stimme, sondern seinen ganzen Körper durchtelefonieren! Professor Charivaris Erfindung beruhte auf einer längst von Weltgelehrten - sogar von einem Nobelpreisträger für Chemie - gehegten Idee. Charivari hatte sie in die Tat umgesetzt. Wählte man am Molekular-Telefon eine bestimmte Nummer, so löste man sich in Kleinstteilchen auf und setzte sich unmittelbar darauf, am Sitz des gewählten Anschlusses, wieder zusammen. Bei diesen Anschlüssen handelte es sich aber nur um Charivaris Geheimstationen, die Raumschiffe und die übrigen Erdraketen. Die unsichtbare Abschirmung zur Schleuse ließ sich beseitigen. Alle stolperten über die zerstörten Roboter hinweg in das Chefbüro. „Einer nach dein anderen in die Zelle! M1 wählen. Dann seid ihr sofort im Weltraumschiff Monitor, das in der schottischen Hochebene steht“, rief Charivari. „Los, los! Tati, nimm den Pudel auf den Arm! Superhirn und ich folgen als letzte.“ Der Reihe nach wählten die Gefährten M1 - und verschwanden blitzartig. Doch als Superhirn an das Molekular-Telefon trat, funktionierte es nicht mehr. Kreidebleich blickte der Junge den Professor an. „Schätze, da stecken auch schon fremde Energien drin!“ Plötzlich zerbröselte der Apparat vor ihren Augen zu Pulver. „Zurück in den Kommandoraum!“ rief Charivari. Er griff nach dem Mikrofon und nestelte an seinem Befehlsanzug herum. Superhirn wußte, der Professor versuchte alle Reserven des rüttelnden, schwer angeschlagenen Giganto zu mobilisieren, um einen Hochstart zur Erdoberfläche zu erreichen. Das Scheppern und Prasseln in den Wänden wurde lauter und lauter. „Wenn überhaupt irgendwo, so werden wir im Hauptquartier des Ragamuffins landen“, prophezeite der junge düster. „Na, hoffentlich sind wenigstens die anderen in Sicherheit.“ Donnergetöse setzte ein. Alles Licht fiel aus. „Die Maschine explodiert“, brüllte Superhirn. Er meinte, sie „implodierte“, das heißt, sie fiel in sich zusammen. Tatsächlich hatte sich der Maschinenteil gelöst, wie ein Triebwerk von einer Kapsel. Aber die Kapsel, die Gigantospitze, stand jetzt still. Es herrschte eine unheimliche, beängstigende Ruhe. „Wohn- und Befehlsteil der Rakete sind abgeschirmt“, murmelte Professor Charivari. „Nur - wir sitzen fest. Und wie lange die Hülle das jetzt aushält...“ „Haben Sie nicht eine Rettungsrakete im Lastenraum?“ fragte Superhirn. „Nein, die war defekt. Und ich verließ mich auf das Molekular-Telefon“, erwiderte der Professor und wirkte mutlos wie nie. Plötzlich knisterte es in der Backbordwand. Unwillkürlich zogen sich die beiden letzten Giganto-Fahrer auf die andere Seite zurück. Sie starrten
auf die knisternde Wand. Der Professor ließ seinen Fingerring-Scheinwerfer aufleuchten. Eine Art Naht, kreisrund, etwa von einem Meter Durchmesser, zeichnete sich jetzt auf der Backbordseite ab. „Der Ragamuffin durchbricht die Hülle“, sagte Superhirn dumpf. „Im Gegenteil!“ Charivari atmete auf. „Ein Atomkern-Schweißgerät schafft eine Öffnung. Das kann nur jemand von meinen Leuten sein! Raus, in die Hauptschleuse, damit uns der Strahl nicht trifft!“ Nach kurzer Zeit ertönte es hohl über einen Lautsprecher durch den dunklen Kommandoraum: „Hallo? Ist da noch jemand drin? Schnell! Hier Hilfs-Giganto 3!“ Der Mann sprach englisch, und Professor Charivari erkannte seine Stimme sofort. „Ingenieur Tedder!“ Gefolgt von Superhirn, lief er in den Kommandoraum. Durch das metergroße runde Loch in der Hülle drang schwacher Lichtschein. Wieder ertönte die Stimme: „Sie können durchkriechen. Die Strahlung ist abgestellt. Der Kanal ist klimatisiert.“ Ein Kanal war das Loch in der Hülle des Giganto-Wracks wahrhaftig. Superhirn rutschte als erster hindurch. Er kroch durch die geöffnete Luke des kleinen Erdschiffs, das sich an die Hülle des verlorenen Riesen gepreßt hatte. Als auch Charivari an Bord des Kleinen war, schloß Ingenieur Tedder sofort die Luke und startete. „Das“, sagte der Professor schwer atmend, „war buchstäblich Rettung in letzter Sekunde.“ Sie saßen in der Hilfsrakete wie in einem Auto. „Ich lag im Weltraumschiff Monitor auf der schottischen Hochebene in Reserve“, berichtete Tedder. „Plötzlich erschienen die heraufgeschossenen Jungen und das Mädchen samt dem Pudel. Da Sie und der fünfte Junge aber nicht folgten. befahl mir Kommandant Lang diesen Rettungsversuch. Sie hatten ja Biggs Ihre Position durchgegeben, und Biggs hatte uns darüber informiert. Nun, ich fand das Wrack mit Hilfe des Spürstrahlers.“ „Ziehen Sie bloß Ihre Sucher ein!“ rief Superhirn. „Die könnten vorn Ragamuffin und seinen Vavas erfaßt werden!“ Als Tedder Näheres erfuhr, meinte er: „Komisch. Da hab ich wohl Glück gehabt. Ich bin nicht auf so eine Gedanken-Mine gelaufen.“ Er fügte hinzu: „Das Depot, auf das Sie gestoßen sind, muß vollständig mit Ihnen hochgegangen sein. In meinem Mini-Schiff war überhaupt nichts zu merken!“ „Möglicherweise hat der neue Spürstrahler den Giganto ausgerechnet zu dem rätselhaften EnergieSpeicher geführt“, sagte Professor Charivari. „Jedenfalls werde ich im neuen Giganto einiges verbessern müssen.“ „Das meine ich auch!“ sagte Superhirn mit Nachdruck, Der Junge war erst erleichtert, als sie in den Lastenteil des Raumfahrzeugs glitten: Das Raumschiff Monitor lag wie ein Fels in der schottischen Einsamkeit - im Zwielicht eines anbrechenden Morgens. Tedder brachte die beiden Geretteten in die Befehlszentrale des Raumgleiters. Freudig hopste ihnen der Pudel entgegen. Henri, Tati, Micha, Gérard und Prosper sahen schon wieder recht vergnügt aus. „Mensch, Superhirn!“ rief Henri. „Also, wie wir da durch das Molekular-Telefon geflutscht sind.“ „Toll!“ schrie Micha. „Aber bei euch hat wohl der Anschluß nicht geklappt?“ „Nee“, grinste Superhirn, „wir sind per Rohrpost gekommen.“ Kommandant Lang begrüßte den Professor sehr herzlich. „Captain Biggs von der überwachenden Raumstation will Sie sprechen“, sagte er dann. Biggs meldete sich sogleich auf seinem Bildschirm. „Der Bericht unserer Ragamuffin-Experten liegt jetzt vor“, sagte er. „Der Vulkanausbruch auf Guadeloupe scheint den Ragamuffin irritiert zu haben. Vielleicht hat er gemeint, die Naturkatastrophe sei technisch bedingt und durch den Vorstoß eines Erdschiffs auf sein Hauptquartier hervorgerufen worden.“ „Und wir glaubten beinahe das Umgekehrte“, rief Prosper. „Der Ragamuffin wäre am Vulkanausbruch schuld.“ „Jedenfalls setzte sofort nach dieser Katastrophe fieberhafte, unerhört starke Gehirnwellentätigkeit kreuz und quer durch den Erdball ein“, berichtete Biggs weiter. „Ob der Ragamuffin durch Gedankenzündung verschiedene Gedankenspeicher gewissermaßen ferngezündet' hat - oder ob Sie in
einen Minengürtel geraten sind, ist von unseren Geheimstationen aus nicht feststellbar. Er könnte auch selbstlenkende Gedanken-Torpedos abgeschossen haben, die sich den Weg über den GigantoSpürstrahler suchten.“ „Hm“, überlegte Charivari. „Unser Giganto ist zwar verloren, und wir waren in höchster Gefahr, trotzdem hat mir das Abenteuer wesentliche Aufschlüsse gegeben. Für den nächsten Vorstoß zum Ragamuffin-Hauptquartier werden wir uns mit einer Menge zusätzlicher Sicherheiten wappnen müssen. Ein Trost ist nur, daß der Erd-Boß erst einmal gewaltige Kräfte verloren hat. So dürfte er ein Weilchen Ruhe geben. Hauptsache, wir haben alles heil überstanden.“ „Finde ich auch!“ rief Tati. „Nur werden wir mit diesem Raumschiff zur Geheimstation im Weltall starten“, fuhr Charivari lächelnd fort. „Die Rettung muß gefeiert werden! Und ihr habt eine Erholungspause nötig!“ Waff! bekräftigte der Pudel. Er war als Bordhund sehr nützlich gewesen, hatte er doch die Maschinenmenschen in der Schleuse als erster entdeckt.
Ende
Giganto meldet: Ziel erreicht 1. Ein rätselhafter Schrei Der Weltraum-Transporter war kaum in der Schleuse der geheimen U-Station am Südpol, als General Hamm an Bord kam. „Herr Professor Charivari“, sagte er ärgerlich, „Sie haben mir Ihre Ankunft mit den Ingenieuren Lang und Tedder, sechs Kindern und einem Pudel gemeldet. Ich protestiere!“ Wuff, waff! machte der Zwergpudel Loulou als erhebe er Gegenprotest. „Kinder“, betonte der oberste Sicherheitsbeauftragte, „gehören nicht auf einen Stützpunkt der Geheimstufe Minus Null. Wir haben seinerzeit nur eine einzige Ausnahme gemacht, und zwar mit Holger, dem Sohn des Chefelektronikers. Aber ich denke doch nicht, daß Sie hier eine Astronautenoder Geonautenschule für Jugendliche eröffnen wollen!“ „Und wenn es so wäre?“ fragte Professor Charivari sanft. Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch den gurkenförmigen Kahlschädel und ordnete seinen langen, lackschwarzen Fadenbart. „Übrigens sehe ich hier keine Kinder. Dies hier sind ernstzunehmende Partner. Der Junge mit der großen Brille, Marcel, wegen seiner Gescheitheit Superhirn genannt, hat mir bereits größere Dienste geleistet als mancher Kollege. Gérard ist ein guter Fußballer, doch es macht ihm nichts aus, den Boden unter den Schuhsohlen zu verlieren. Auf den zappligen Prosper können Sie Häuser bauen. Und die Geschwister Henri, Tatjana und Micha sind ein geradezu ideales Team.“ Zweifelnd blickte General Hamm auf das Mädchen Tati und ihren Bruder Micha, den jüngsten der Gruppe. „Tati will Tänzerin werden“, grinste Gérard. „Aber Sie können glauben: Sie hat im Weltraum und in der Erde manchen Schreckenstanz überstanden. Ebenso wie Micha. Und der Pudel hat uns auch schon das Leben gerettet.“ Wuff, waff! machte Loulou wieder. „Ich bin hier der Sicherheitsoffizier“, brummte Hamm. „Und, verdammt, es wird mir schwerfallen, mich an kleine Jungen, ein tanzendes Mädchen und einen hopsenden Zwergpudel zu gewöhnen, wo diese Raum- und Erdschiffswerft jeden Augenblick zerstört werden kann.“ Er wandte sich achselzuckend ab. Hinter ihm, dem Professor und Ingenieur Lang verließen die Freunde den H-Transporter, der sie hergebracht hatte. Tati trug den kleinen Hund. „Wo sind wir?“ rief Micha erstaunt. Er hatte erwartet, fünftausend Meter unter dem Eis der Südpolzone Höhlen vorzufinden, einem System von unterirdischen Großstadtgaragen nicht unähnlich. Statt dessen sah er ein endloses Flugfeld unter freiem Himmel. Die Sonne schien hell und warm, und die Füße der Ankömmlinge standen auf Rasen. „Nur der Rasen ist echt“, erkannte Superhirn. „Sonnenschein und Horizont sind künstliche Effekte. Auch die frische Luft ist ein Spezialprodukt. Wer hier unten arbeitet, darf sich nicht durch Sauerstoffgeräte, Kunstlicht und den ständigen Anblick von Wänden beengt fühlen!“ „Stimmt“, sagte Professor Charivari. Plötzlich zeigte sich an einer Stelle der „Landschaft“ unvermittelt ein schwarzer Schlund. Es wirkte, als hätten Riesenfäuste den Kosmos aufgerissen. In Wirklichkeit war nur eine Schleusentür geöffnet worden. Zwei Männer kamen herbeigeeilt. „Werftleiter Mugg und Nachrichten-Auswerter Groebenzell“, sagte der Sicherheitsoffizier düster. „Jetzt werden Sie hören, was hier los ist, Herr Professor!“ „Gut, daß Sie da sind!“ rief Mugg atemlos. In der Aufregung kümmerte er sich nicht um die Freunde und den Pudel. „Wir haben Ihre Fahrt in den Weltraum unterbrochen, weil sich hier etwas Schreckliches anbahnt!“
„Ich halte es für den Anfang vom Untergang“, fügte Herr Groebenzell düster hinzu. „Und ich rate, sofort mit der Evakuierung der Station zu beginnen` „Räumen wollen Sie?“ fragte Professor Charivari, als hätte er nicht recht gehört. „Die Werft mit all ihren Fertigungsstätten, Labors und Großversuchs-Anlagen im Stich lassen ... ?“ Mit seinen beiden Brüdern, die sich zur Zeit auf anderen Geheimstationen befanden, hatte Professor Doktor Charivari eine gewaltige technologische Macht für Friedenszwecke geschaffen. Diese Macht mit ihren ausgewählten Wissenschaftlern und den von ihnen entwickelten Werkstoffen, Hilfsmitteln, Maschinenkonstruktionen und Medien war jeder nationalen oder internationalen Praxis auf der Erde überlegen. Aber um diesen Vorsprung nicht preiszugeben, ihn zu halten und weiter auszubauen, war Charivari auf große Geheimanlagen im All und auf Stützpunkte der Pole und tief unten auf dem Meeresgrund angewiesen. Die kriegsbesessene Menschheit war längst noch nicht reif, mit seinen Erfindungen umzugehen. Ständig mußte er eine Entdeckung fürchten. Ein guter Teil aller Energien seine Wissenschaftler war auf geschickte Abwehr, Irreführung zufälliger Beobachter und auf raffinierte Tarnung ausgerichtet. Diese Südpolwerft für Raum- und Erdschiffe war ein Meisterwerk der Technik. Und das sollte so einfach aufgegeben werden ... ? Ja, aber was ist denn eigentlich los?“ fragte Charivari. Ernst erwiderte Mugg: „Der Ingenieur-Assistent Simpson hat den Schrei eines Esels gehört.“ „Dabei gibt es in dieser U-Station nicht mal das Fell eines Esels!“ vollendete Groebenzell. 2. Abgesandte der Hölle? Die Meldung hätte überall auf der Welt schallendes Gelächter hervorgerufen. Aber für die hochtechnisierte Raum- und Erdschiffswerft tief unter dem Eis der Antarktis war ein Eselsschrei ein ortsfremdes Geräusch. Und ortsfremde Geräusche bedeuteten Gefahr. Die schreckensbleichen Gesichter der beiden Wissenschaftler zeigten das deutlich. „Ist Simpson von einem Arzt untersucht worden?“ fragte Professor Charivari ruhig. Ja“, antwortete der Nachrichten-Auswerter Groebenzell. „Der Befund ergab keinerlei Auffälligkeiten und krankhafte Veränderungen. Simpson ist so urteilsfähig und normal wie Sie oder ich. Dennoch bleibt er dabei, den Schrei eines Esels gehört zu haben.“ „Nun, man kann aus dem Geräusch einer Maschine einen Tierschrei heraushören“, meinte Charivari. „Auch das Hin- und Herrücken von Möbeln verursacht zum Beispiel oft so was wie ein Ihh - Ahh. Vielleicht war's auch nur ein Fetzen Unterhaltungsmusik.“ „Simpson befand sich aber gerade im ruhigsten Teil der Station“, wandte Mugg ein. „Nämlich im Labor für Gesteinsanalyse. Er blickte in ein Elektronenmikroskop. In jenem Raum gibt es keine quietschenden Maschinen, ebensowenig wie man da etwas hin und her schieben kann. Ein Radio war nicht eingeschaltet.“ „Danke“, sagte Professor Charivari. „Das genügt. General Hamm, lassen Sie die Schutzwand um die Station um das Dreißigfache verstärken. Rufen Sie den Krisenstab im Chefgebäude zusammen. Ich übernehme jetzt das Kommando! Geben Sie über Lautsprecher die Weisung durch: Jedes seltsame Geräusch muß mir sofort gemeldet werden!“ Der Sicherheitschef benutzte sein armbandähnliches Mikrofon am Handgelenk. Exakt übermittelte er Charivaris Befehle. Außerdem forderte er zwei Zubringer-Busse für die Ankömmlinge an. Diese achtsitzigen, fahrerlosen Schwebemobile kamen wie aus einem Automaten geschossen durch die trügerische Himmel-Rasen-Wand. „Ist das ein Hund?“ fragte Groebenzell mit einem Blick auf den Zwergpudel Loulou. Ja“, lachte Tati. „Ein echter sogar!“ Sie ließ ihn auf dem Boden herumhopsen. „Gib mal Laut, Loulou!“ Wuff, waff! machte das Tierchen. „Hören Sie, wie er bellt?“ „Nein!“ schrie Herr Groebenzell. „Er bellt nicht, er miaut. Er miaut wie zwanzig Katzen! Das ist ja
nicht auszuhalten!“ Groebenzell hielt sich die Ohren zu und torkelte von einem Bein auf das andere. „Schnell, packt ihn! Hinein mit ihm in den Bus!“ befahl Charivari. „Er muß zum Arzt!“ Mugg, Lang, Tedder und Charivari stießen Groebenzell in eins der Schwebemobile, stiegen dann selbst ein und hielten ihn fest. Sofort setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Den anderen blieb keine Zeit, sich zu wundern. „General Hamm!“ rief Charivari zurück. „Bringen Sie meine jungen Freunde bitte ins Gästequartier!“ Der Sicherheitschef musterte die Gefährten noch finsterer als zu Beginn. „Am liebsten würde ich euch nach Europa katapultieren“, brummte er. „Klettert in den Bus. Hoppla, hoppla. Das Mädchen soll den Köter festhalten. An den Seilen hängen Sturzhelme. Die setzt ihr auf!“ „Das sind keine Sturzhelme“, bemerkte Superhirn sofort. „Und wenn es Kaffeewärmer wären!“ brüllte General Hamm. „Ich hab gesagt, ihr sollt sie aufsetzen. Wird's bald!“ „Tut, was er sagt!“, raunte Superhirn den Gefährten zu. Micha hatte einige Schwierigkeiten mit der seltsamen, pyramidenförmigen Kopfbedeckung. Sie reichte ihm bis an die Nase. General Hamm steuerte den Schwebebus durch den künstlichen Horizont in die riesige, unterirdische Werftstadt hinein, wo die Raum- und Erderkundungsschiffe der verschiedenen Monitor- und GigantoTypen gebaut wurden. Ohne Halt sauste der Bus durch mattglänzende, von diffusem Licht erhellte Tunnels. Erst nach einer ganzen Weile ging es über ei ne Brücke. „Eine neue Erdrakete!“ schrie Micha. Der Anblick tief, tief unten in der offenen Schiffswerkstatt war atemberaubend: Da lag der gewaltige Kegel der neuen Tiefenrakete unter einer gleißendhellen Lichtglocke. Eine „Wolke“ von vergleichsweise winzig wirkenden Werftarbeitern schwebte auf Luftdüsen um seinen Rumpf herum. Wie tausend Diamantnadeln blitzten die Elektronenstrahlschweißgeräte. Schwupp - lag die Brücke hinter ihnen. Und wieder gelangten sie auf eine Lichtung mit echtem Rasen und künstlichem Sonnenlicht. Hier gab es sogar einen Teich, an dessen Ufer kleine Elektroboote lagen. Auf dem Rasen waren Luftmatratzen, Liegestühle, Campingmöbel und Strandkörbe zu sehen. „Ziemlich weitgehende Vortäuschung“, erklärte General Hamm. „Aber die Anfänge dazu wurden ja schon in unseren Großstädten gemacht: Da werden auch Rasenflächen, Teiche, Blumenbeete und Baumgruppen künstlich angelegt. Weniger Natur an sich, sondern mehr als Erinnerung an die Natur. Die unverfälschte Natur suchen wir in den sogenannten Naturschutzgebieten, die längst durch den Eingriff des Menschen ihre Ursprünglichkeit verloren haben.“ Der Schwebebus hielt vor einem hübschen, von lustig bunten Terrassen umgebenen Flachbau. „Das Gästequartier“, sagte General Hamm. „Es ist leer, aber bezugsbereit. Ihr werdet darin alles finden, was ihr braucht. Macht's euch bequem. Aber versucht nicht, die Lichtung zu verlassen. Ihr werdet nur gegen Wände rennen.“ „Und wie erreichen wir den Professor?“ fragte Prosper mißtrauisch. „Telefonisch. Ich nehme an, er wird sich von selber melden.“ „Verhungern müssen wir nicht?“ vergewisserte sich der stämmige Gérard. „Im Gegenteil“, erwiderte Hamm. „Alle Lebensmittel werden automatisch von der Zentralküche ergänzt. Da könntet ihr allenfalls platzen. Nun steigt rasch aus. Ich muß zum Krisenstab. Hängt bitte die Sturzhelme wieder neben die Sitze!“ „Das sind keine Sturzhelme“, sagte Superhirn noch einmal. „Nein!“ Der Sicherheitschef grinste. „Du scheinst wirklich sehr gescheit zu sein. Aber ich weiß jetzt wenigstens, was du von mir denkst. Du hältst mich für einen aufgeblasenen, unfähigen Affen. Und du...“, er wandte sich an Tati; „... du denkst, ich wär ein verkappter Verräter, der in der Werftstadt Unruhe stiftet, um Professor Charivari zu entmachten!“ „Das...“, schluckte das Mädchen, „... das habe ich nicht gesagt!“ „Aber gedacht hast du's“, lachte Hamm schaurig. Er brachte das Schwebemobil in Schwung und verschwand unter dem künstlichen Horizont.
Wuff, waff! hustete ihm Loulou wütend nach. Tati war noch immer bestürzt. „Es stimmt, mir ist der Mann unheimlich. Ich dachte, das Theater mit dem Esels- und Katzengeschrei hat er angezettelt, weil er Verwirrung und Unruhe stiften will!“ „Und ich hielt ihn im stillen tatsächlich für unfähig“, lachte Superhirn. „Das hatte er sehr schnell spitzgekriegt - eben, weil die Helme keine Sturzhelme waren!“ „So-so-sondern?“ stotterte Prosper. „Gedanken-Verstärker“, erriet Henri. „Das waren jedenfalls die, die wir aufhatten! General Hamm selber trug einen Gedanken-Empfänger auf dem Kopf. Das Ding hat uns abwechselnd angepeilt, und so erfuhr er, was wir alle dachten!“ „Aber wozu?“ rief Micha wütend. „Wenn er wirklich so 'nen schlauen Hut auf seiner Birne hatte wieso hat er dann nicht gemerkt, daß ich einen Becher Eis essen wollte? An Bonbons habe ich auch gedacht!“ „Na, das hat ihn wohl weniger interessiert“, vermutete Superhirn. „Er wollte hauptsächlich wissen, ob er uns trauen kann. Er wehrte sich auch sofort dagegen, daß Kinder diese Südpolstation betreten sollten. Nun hat er höchstwahrscheinlich darauf geluchst, ob einem von uns durch den Kopf ginge: Ah, was ich hier sehe, muß Ich zu Hause meinen Schulfreunden erzählen!... „Hm“, murrte Gérard. „Da hat er jedenfalls falsch geluchst. Von mir aus kann er sich nächstesmal drei Gedanken-Türen übereinander auf den Kopf stülpen. Wir haben bisher nichts verraten, da werden wir's künftig auch nicht tun. Aber ich schlage vor, wir gehen jetzt in das Gästehaus.“ „... und be-be-besprechen die Lage“, fügte Prosper hinzu. 3. Zwischen Spaß und Grauen Der Flachbau hatte fünf jeweils von der Terrasse her erreichbare Appartements. Superhirn und Henri wählten Nummer 1, Gérard und Prosper Nummer 2, Tati und Micha mit Loulou Nummer 3. Auf dem Weg ins Weltall, mit dem Raumschiff Monitor, war Professor Charivari zur Südpolstation gerufen worden. „Was hältst du vom Benehmen des Werftleiters und des Nachrichtenchefs?“ wollte Henri von Superhirn wissen, als sie sich in ihrem gemeinsamen Quartier umsahen. „Bei der Ankunft überfallen sie den Professor damit, daß er diesen Stützpunkt räumen lassen soll.“ „Wegen eines Eselsschreis“, nickte Superhirn. Er äugte durch die kreisrunden Brillengläser. „Eine prima Wohnung. Hier gibt's wahrhaftig alles.“ „Wie?“ fragte Henri verblüfft. „Ich sehe nur zwei Sofas und eine Sitzecke!“ Superhirn drückte auf einen Knopf neben der Tür. Im nächsten Moment schoben sich die Trennwände der Appartements auseinander, die Tische glitten geräuschlos zusammen, Bänke und Sessel reihten sich wie von Geisterhand bewegt hinzu. Gérard war, auf einer Tischkante sitzend, in die Mitte des Großraums gerutscht. Micha und Tati drehten sich auf Sesseln heran. Prosper stand wie erstarrt an einem der Ausgänge -und der Pudel hustete vor Schreck. „Das ist die erste Raffinesse!“ lachte Superhirn. „Von Appartement 1 aus kann man die Raumeinteilung des Hauses verändern. Ich wünsche euch allen einen schönen guten Tag!“ „He, das ist gemein!“ rief Tati. „Einbruch in unsere Intimsphäre! Wie kommst du dazu?“ „Verzeihung, mein Fräulein“, grinste der junge. „Vielleicht sorgen Sie erst einmal für das Essen? G6rard sieht schon ganz verhungert aus.“ Er drückte wieder auf den Knopf, die Möbel rückten geräuschlos an ihre früheren Plätze, und die Trennwände der drei Wohnungen schoben sich wieder zusammen. „Siehst du? Die Einteilungsskizzen für gewünschte Veränderungen befinden sich neben der Knopfreihe an der Wand“, erklärte Superhirn. „Und gegenüber sind die Sichtschilder für Bad, Brause und Küche. Die beiden Sofas dahinten werden sich, denke ich, durch Drehung in Betten verwandeln, wenn wir den entsprechenden Kontakt berühren. Und dort, über dem Wandtelefon, zeigt eine
Leuchtschrift: Dienstbereit für alles!' Ich nehme an, wir brauchen unsere Wünsche nur hineinzusprechen, und wir kriegen, was wir wollen.“ „Ich will erst mal ´ne Antwort auf meine Frage“, erinnerte Henri. „Was ist in der Geheimstation los?“ Superhirn wurde ernst. „Einer hat den Schrei eines Esels gehört - und daraufhin soll die ganze unterirdische Werft im Stich gelassen werden ... Professor Charivari hört das und gibt Befehl, die Abschirmung um das Dreißigfache zu verstärken. Um das Dreißigfache! Gewiß nicht, weil er sich vor dem Eindringen eines Esels fürchtet.“ „Sondern...“ Superhirn wich aus. Statt dessen sagte er: „Wir haben erlebt, wie der Nachrichtenchef statt Bellen plötzlich Miauen hörte. Jetzt findet eine Besprechung in der Kommandozentrale statt. Die Männer benahmen sich, als stünde ein Atomkrieg vor der Tür.“ „Das fand ich auch“, sagte Henri. „Aber wie erklärst du dir das? Und was folgerst du daraus?“ „Eines kann ich dir jetzt schon verraten“, entgegnete Superhirn. „Was?“ fragte Henri gespannt. „Wir stecken tief in einem neuen Abenteuer“, antwortete der spindeldürre Junge düster. Das Telefon summte. Rasch nahm er den Hörer ab. Doch es meldete sich nur Tati, und ihre Stimme klang vergnügt. „Du“, teilte sie mit, „wir sind mal wieder in einem Schlaraffenland des Professors! Ich habe die Vermittlung angerufen. Wir kriegen alles, was wir wollen! Komplettes Waschzeug findet ihr im Bad. Ich schlage vor, ihr duscht euch auch erst mal. Dann kommt ihr alle ins Appartement 3 zum Essen!“ Eine Viertelstunde später versammelten sich Superhirn, Henri, Gérard und Prosper sauber und erfrischt in Tatis und Michas Wohnung, „Wann bekomme ich endlich mein Eis?“ maulte Micha. „Und ich meinen Schweinebraten?“ seufzte Gérard. „Ich habe einen Mordshunger!“ „Ich habe die Tür da geöffnet, ich dachte, sie führt in die Küche“, sagte Tati ein wenig ratlos. „Aber ich sehe nur eine Klappenwand.“ „Gib die Bestellungen durchs Telefon“, riet Superhirn. „Wahrscheinlich kann man die Eßtabletts dann aus diesem Klappenschrank nehmen.“ „Eis!“ schrie Micha. „Eis und Ölsardinen!“ „Schweinebraten mit Rehrücken“, rief Gérard. „Zehn - zehn - zehn Rouladen mit Apfelsaft“, überhaspelte sich Prosper. „Quatsch!“ stoppte Henri das Durcheinander. „Wir müssen uns einig sein, was wir genau wollen. Sonst kann uns die Küche gleich einen Eimer voller Abfälle schicken! Also, Micha - überleg mal!“ „Vanille-Eis mit flüssiger Schokolade, ein halbes Brathähnchen mit jungen Erbsen und Röstkartoffeln“, sagte der Jüngste prompt. „Dazu einen Becher Milch - und danach Bonbons und Kekse.“ Tati nahm den Hörer ans Ohr: „Hallo, Vermittlung? Hier Gästehaus, Appartement 3. Ich möchte sechs Speisefolgen bestellen, ja. Und eine Schüssel Reis für den Pudel. Wie? Jawohl, ich beginne...“ Sie nannte Michas Wünsche. „Kommt das dann aus dem Wandschrank? Gut! So, nun meine Bitte: Joghurt, verschiedene Salate, zwei Paar Würstchen, einmal Birnensaft und Zitronencreme ... Moment, ich frage jetzt die anderen.“ „Von Schweinebraten mit Rehrücken geh ich ab“, brabbelte Gérard. „Dafür nehm ich zweimal Rehrücken, gespickt, ach so: vorher natürlich eine Bouillon mit viel Weißbrot und einem Haufen Butter. Zum Fleisch bitte Rotkohl und Salate ... Eine Flasche Apfelsaft nebenher wär nicht schlecht. Hm. Nach dem Hauptgang würde mir Omelette schmecken. Und wenn ich danach noch zwei oder drei Bananen kriegen könnte?“ „Nun reicht´s aber“, sagte Tati. „Vielleicht noch 'ne Tüte Gips, um den Magen zu schließen?“ Doch sie gab Gérards Bestellung durch. Plötzlich stutzte sie. Ihr Gesicht nahm einen merkwürdigen Ausdruck an.
„Was ist?“ fragte Superhirn aufmerksam. „Verweigert die Küche so 'ne irrsinnige Bestellung?“ „N-n-nein...“, hauchte Tati. „Im Gegenteil: Das Küchenfräulein notiert alles. Alles! Nur. ..“ Sie ließ den Hörer fallen und griff sich an den Kopf. „Da ist ein Papagei am Telefon. Ein Papagei! Er kreischt ganz fürchterlich. Ich ... ich ...“ Sie wich ein paar Schritte zurück. Superhirn fuhr wie von der Sehne geschnellt in die Höhe und sprang an den Apparat. Doch er hörte nur eine ruhige Frauenstimme, die freundlich wiederholte: „... eine Flasche Apfelsaft, eine Omelette, zwei oder drei Bananen...“ „Augenblick“, unterbrach der junge. Er wandte sich an Tati: „Da ist kein Papagei. Bist du ganz sicher, einen gehört zu haben?“ „Auf Ehre!“ rief Tati. „Unsere Tante hat einen, daher kenn ich das typische Gekreisch. Außerdem hat er sinnlose Wörter aneinandergereiht. Ich spinne wirklich nicht! Frag Henri und Micha!“ Henri und sein jüngerer Bruder bestätigten sofort, daß ihre gemeinsame Tante einen solchen Vogel besäße. „Na ja, warum soll in der Küche nicht auch mal ein Papagei sein“, lenkte Superhirn gelassen ein. Er gab die weiteren Bestellungen auf: Für Prosper geraspelte Mohrrüben mit frischen Zwiebeln, eine Portion Gulasch mit viel Paprika, zwei Salamibrote und sechs kleine Gurken - sowie ein Glas Himbeersaft. Sodann für alle eine Käseplatte. Für sich selber verlangte er nichts als ein gequirltes rohes Ei. „Er muß seine Gedanken eingeschmiert halten“, spöttelte Gérard. „Sag mal, was denkst du, wo Superhirn seine Gedanken hervorbringt? Im Magen?“ lachte Prosper. Henri fragte scharf: „Was war das da mit dem Papagei?“ „Wohl dasselbe wie mit dem Esel und mit der Katze“, erwiderte Superhirn tonlos. Er sah auf einmal sehr elend aus. „Ich - ich hoffe, das Essen wird euch trotzdem schmecken ...“ Er sank in einen Sessel. Henri begriff sofort, daß sich die furchtbare Ahnung des Freundes noch bestätigt hatte. Da war etwas im Gange - und weder er noch die anderen konnten sich zusammenreimen, um was es sich handelte. Schnell versuchte er, die Stimmung zu retten. „In so 'nem unterirdischen Stützpunkt dreht jeder mal ein bißchen durch“, rief er munter. „Das verdirbt uns aber nicht den Appetit! He, Tati, am Klappenschrank blinken Lämpchen! Ich schätze, die ersten Speisefolgen sind da!“ Das wirkte. Neugierig drängten Prosper, Gérard und Micha hinter dem Mädchen zur Küchenwand. Drei der Klappen sprangen auf. Tati nahm die Tabletts heraus und reichte sie weiter. Es dauerte nicht lange, und die übrigen Gedecke und der Reisnapf für den Pudel waren da. „wie wird denn das Essen in den Klappenschrank geschossen?“ wunderte sich Micha. „Soviel ich gesehen habe, steht dieses Gästehaus allein auf der Lichtung!“ „Aber darunter führen Versorgungskanäle zur Zentralküche“, vermutete Superhirn. Jm Schrank werden die Speisen hochgeliftet. Zauberei ist dabei nicht im Spiel.“ Die in Folien gehüllten Tabletts waren praktisch. Mit ihren Einteilungen und Vertiefungen lieferten sie für jede Person ein mehrteiliges Tischgedeck. Die Freunde unterhielten sich wieder recht munter. Sie aßen mit Behagen. Gérard war bereits bei seinem Omelett angelangt, als der Pudel an seiner Reisschüssel bedrohlich zu knurren begann. Tati drehte sich um. „Komisch.“, sagte sie. „Loulou, was hast du denn?“ rief Micha. „Der tut, als wäre jemand mit an seinem Napf“, meinte Henri. „So knurrt er nur, wenn ihm einer sein Fressen wegnehmen will.“ „Oder wenn er es gegen einen fremden Hund oder 'ne Katze verteidigen muß“, fügte Tati hinzu. Sie wollte aufstehen, doch Superhirn befahl: „Bleib sitzen! Faß den Hund nicht an! Daß keiner nach dem Napf greift! Micha! Das gilt auch für dich!“ Der Pudel zog die Lefzen hoch. Das Weiß seiner hervorquellenden Augen schimmerte unheimlich durch die schwarzen Stirnhaare. Auf einmal stürzte er sich wie rasend auf eine Stelle - in der nichts zu sehen war. Er überkugelte sich, kam wieder auf die Beine, drehte sich blitzschnell im Kreise und
schoß mit einem Satz schräg in die Höhe. Sein Bellen, Knurren, Keuchen und Husten zeugte von furchtbarster Aufregung. „Er kämpft“, murmelte Superhirn. „Er kämpft mit einem unsichtbaren Gegner!“ Die Freunde folgten dem unheimlichen Schauspiel mit wachsender Verwunderung. jämmerlich japsend blieb das Tierchen stehen. Der Kampf schien ausgekämpft zu sein. Mit hängenden Ohren, kläglich winselnd, kam es auf Tati zugetrottet. Henri schob sein Tablett zurück. Ihm schmeckte plötzlich die Zitronencreme nicht mehr. Es erschien ihm auch zwecklos, den anderen weiterhin etwas vorzumachen. „Es war 'n unsichtbares Tier im Raum“, sagte er heiser. „Superhirn und ich, wir sind uns längst darüber klar, daß das mit dem Eselsschrei und dem Katzenmiauen nicht gesponnen war ... So hat Tati auch wirklich einen Papagei am Telefon gehört - und der Pudel hat neben sich irgendwas bemerkt. Sicher 'ne Katze. Es ist mir jetzt klar, warum Mugg und Groebenzell rieten, diese Werftstation zu räumen.“ „Weil - weil ein Feind unsichtbare Tiere eingeschleust hat?“ stotterte Prosper. „Vielleicht welche, die 'ne tödliche Krankheit übertragen sollen, um Charivari und seine Technologen zu vernichten?“ „Quatsch!“ meinte Gérard seelenruhig. Er widmete sich jetzt einer Banane. „Denk doch mal nach! Wer wird denn ausgerechnet einen Esel, eine Katze und einen Papagei gegen Raum- und Erdschiffe einsetzen? Das müßte ein verrückter Zirkusdirektor sein. Oder 'n bescheuerter Zoodirektor. Abgesehen davon, daß es in keinem Land ein Spray gibt, mit dem man Viecher unsichtbar machen kann.“ Jetzt lachten alle. Alle - außer Superhirn. „Als ich Loulou eben seinen Luftkampf ausfechten sah“, sagte er gepreßt, „dachte ich auch, er kämpfte gegen einen unsichtbaren Eindringling. Aber dann fiel mir Näherliegendes wieder ein. Professor Charivari arbeitet doch auf all seinen Stationen mit Gedanken-Empfangsgeräten. Die Raumstation Monitor war die erste, die mit ihrem besonderen Hirnwellen-Analysatoren todesgefährliche Gedankenströme aus dem Innern der Erde sichtbar registrierte. . „Vom Ragamuffin!“ rief Micha entsetzt. Gérard legte den Rest seiner Banane hin. Er und die anderen starrten den spindeldürren Jungen an. Superhirn nickte. „Den Ragamuffin meine ich. Den Boß der unbekannten innerirdischen Macht, die Charivaris Geheimstationen auf der Erde, im freien Weltraum und auf anderen Planeten vernichten will. Dieser Ragamuffin und sein Volk, das wir die Vavas nennen - und von denen die Menschen nicht die bloßeste Ahnung haben -, arbeiten mit einer einzigen Waffe ...“ „Nun ja, mit Gedankenströmen“, sagte Henri ungeduldig. „Das haben wir ja schon öfter erlebt. Der Erdboß hat uns die ganzen Ferien in Monton am Atlantik versaut. Er stellt uns nach, weil wir Charivaris Mitwisser sind. Weiß der Teufel, was er sich davon verspricht, etwa den Zwergpudel zu erwischen!“ „Die Vavas haben keine allzugroßen Kenntnisse von den Machtverhältnissen auf der Erdoberfläche“, erinnerte Superhirn. „Sie halten den Professor für den Weltherrscher, und sie meinen aus irgendeinem Grund, er sei ihr Feind. Sie haben seine Stationen bisher mit Unguts- oder Unmutsstrahlen beschossen, bösen, verwirrenden Gedanken, um die Besatzungen übellaunig oder gar tobsüchtig zu machen. Der Ragamuffin hat aber auch schon mit eisigen und mit durchbohrenden Hirnwellen gearbeitet. Und schließlich haben wir unseren Schiffbruch mit der Erdrakete Giganto noch in den Knochen: Ob wir da in einen innerirdischen Minengürtel besonders brisanter Ragamuffin-Batterien geraten sind, ob er das Erdschiff durch Fernzündung verschiedener Gedankenspeicher vernichtet hat, werden wir niemals rauskriegen.“ „Aber was hat das mit den Tierstimmen in dieser Südpol-Station zu tun?“ drängte Tati. „Etwas, das sich logisch aus allem Erlebten folgern läßt“, erwiderte Superhirn. Henris Augen weiteten sich. „Du meinst - die Tierstimmen kommen per Hirnwellen-Beschuß aus der Erde? Und sie dringen sogar durch Charivaris zigfache Strahlen-Abschirmung?“ „Genau das meine ich. Der Ragamuffin arbeitet seit heute mit akustischen Halluzinationen. Deshalb waren die Männer so aufgeregt. Denn wohin das führen kann, ist nicht auszudenken. Anders gesagt:
Es ist nur zu gut denkbar. Denn wenn einer den anderen krähen hört, der dritte den vierten bellen, der fünfte den sechsten miauen und so weiter - dann gibt es Tumult und am Ende Mord und Totschlag!“ ,Aber - aber woher kommt es, daß ich den Papagei gehört habe und du nicht?“ fragte Tati. „ja!“ nickte Superhirn. „Und weshalb hörte nur Herr Groebenzell das Miauen - und wir nicht? Meiner Meinung nach liegt das an der nicht steuerbaren Aufnahmebereitschaft des Unterbewußtseins. Der eine hat überhaupt keine Antenne' für so was, der zweite ist ständig empfangsbereit; die große Masse empfängt' nur Sekundenbruchteile lang, und dann nur unter nicht erklärbaren Bedingungen. Die Papageienstimme funkt' wahrscheinlich noch immer, ohne daß sie jemand aufnimmt'. Und der Pudel am Freßnapf hat bereitwillig ein fremdes Hundegebell oder ein Katzenmiauen erhört; denn ein Hund, der frißt, öffnet sein Unterbewußtsein instinktiv für ein Annäherungszeichen seiner Feinde.“ Er unterbrach sich, denn das Telefon summte. Rasch nahm er den Hörer ab. „Hier Gästehaus, Appartement V“, meldete er sich. Er vernahm die Stimme Charivaris. „Superhirn? Seid ihr alle zusammen? Schön. Haltet euch bereit. Die Zerstörung der Werftstadt hat begonnen. Drei Sektoren sind bereits ausgefallen. Der Kampf aller gegen alle nähert sich dem Konferenzhaus. Ich werde versuchen, euch in meinem neuen Giganto hinauszubringen.“ „Gut. Verstanden. Wir warten“, erwiderte der junge. Er hängte den Hörer ein und drehte sich um. Der Professor kommt ..., wollte er sagen. Doch das Wort blieb ihm im Halse stecken. Tati und die Jungen waren nicht mehr da ... 4. Überfall der Tiere Nein - Tati, die Jungen und den Pudel Loulou sah Superhirn nicht mehr. Dafür aber ... Der Junge griff sich an den Kopf und stieß einen gellenden Schrei aus: Ein ekelhaft grinsendes Krokodil kroch über den Fußboden, öffnete die zahnbewehrten Kiefer und ließ sie blitzschnell zusammenklappen. Woher kam denn dieses Reptil? Und was hatte es da auf dem Fußboden des Appartements erwischt? Superhirn sah etwas zappeln. Nun öffnete das Krokodil seinen Rachen, und der junge sah das zappelnde Etwas wieder. Ein Huhn ... „Hilfe!“ schrie Superhirn. Er griff nach dem Telefonhörer: „Vermittlung!“ keuchte er. „Vermittlung! Bitte Chefhaus, Professor Charivari!“ „Was ist denn?“ meldete sich der Professor ungehalten. „Ich hatte doch gesagt, ich hole euch!“ „Aber die anderen sind nicht mehr da!“ rief der Junge. „Hier kriecht ein Krokodil herum. Hilfe! Seine Schnauze berührt mein Bein! Es hat ein Huhn gefressen...“ „Unsinn“, unterbrach Professor Charivari. „Nimm dich zusammen, Superhirn. Das sind alles Hirngespinste, verstehst du? Hirngespinste!“ „Ja“, stöhnte Superhirn, sich den Schweiß von der Stirn wischend. „Ich komme jetzt mit dem neuen Giganto“, sagte Charivari. „Du mußt unbedingt die Nerven behalten. Versprich mir das: Muh, muuuh, muuuhumuuuuuh...“ Der Professor brüllte wie ein verletztes Rind. Superhirn ließ den Hörer fallen. „Na, was ist?“ ertönte hinter ihm die vertraute Stimme Gérards. Superhirn fuhr herum und blickte einem Menschenaffen ins Gesicht. Hinter dem Affen torkelte ein scheußlicher Vogel Strauß von einem Bein aufs andere. Ein Eisbär hatte sich auf die Hinterpranken gestellt. Neben ihm schlug ein Condor rasend mit den Flügeln. Superhirn wollte zum Ausgang, aber da stürzten sich die Tiere auf ihn. Der junge glaubte Zähne, Krallen, Klauen und Schnabelhiebe zu spüren. Auf einem Sofa fand er sich wieder. Und plötzlich sah er über sich die besorgten Gesichter der Freunde. „Hörst du mich?“ fragte Tati. „Weshalb hast du dir die Brille von der Nase gerissen? Und warum
hast du schreiend auf den Fußboden geguckt, als ich den Pudel aufhob?“ „Du - du warst das Krokodil?“ ächzte Superhirn. „Und Loulou war das Huhn, das du gefressen hast!“ „Er ist übergeschnappt“, bibberte Micha. „Warum sah ich in Micha einen Condor?“ murmelte Superhirn weiter. „Denn daß der Affe wie Gérard, gegrunzt hat - und der Vogel Strauß wie Prosper mit dem Kopf ruckte, ist mir klar. Der Eisbär muß Henri gewesen sein!“ „Nun langt´s mir aber!“ rief das Mädchen. „Ich ein Krokodil! Hab ich etwa Zähne wie so 'n olles Kriechtier? Und etwa solche Beine? Und wen oder was soll ich gefressen haben?“ „Ruhe!“ gebot Henri. „ Was für Biester er in uns gesehen hat, spielt keine Rolle. Das Wesentliche ist: Superhirn hat Tiere gesehen, während bisher nur Tiere gehört wurden. Das ist neu!“ Superhirn fuhr hoch. Sein Verstand arbeitete wieder glasklar. „Richtig, Henri“, sagte er. „Bitte, Tati, gib mir die Brille. Mich muß ein starker Strom getroffen haben, der nicht nur akustische, sondern auch optische Halluzinationen auslöste. Die RagamuffinHirnwellen sind, wenn ich's mal so sagen darf, mit Tierstimmen und Tierbildern präpariert.“ „Er funkt also Ton und Bild?“ fragte Gérard spöttisch. „Na, eine Fußballspiel-Übertragung wäre mir lieber!“ „Die Halluzinationen sind sehr, sehr stark“, überlegte Superhirn. „Sie überlagern alles andere, daher wird die Urteilskraft umnebelt. Ich sah euch nicht mehr, dann erblickte ich das Krokodil und dann tauchten die anderen als Affe, Bär - und so weiter - aus dem Dunst. Hirngespinste' sagte Charivari am Telefon. ja, sicher! Doch wie wehrt man sich dagegen? Ich hörte ihn plötzlich nicht mehr sprechen, sondern brüllen wie einen angestochenen Ochsen. Natürlich war das auch eine Halluzination!“ „Wir müssen von hier weg“, sagte Tati nervös. „Hoffentlich holt uns der Professor, bevor er selber weiße Mäuse sieht.“ Micha öffnete die Tür und blickte auf die Lichtung. „Was schnüffelst du so komisch?“ rief Prosper. „Bildest du dir etwa ein, du bist Loulou?“ „Ich bilde mir ein, daß es irgendwo brennt“, erwiderte der jüngste. Im Nu standen alle vor dem Haus. Knurrend und schnuppernd zog der Pudel seine Kreise. „Auf Charivaris Geheimstation gibt es doch nicht einen einzigen brennbaren Gegenstand“, wunderte sich Henri. „Nein, aber Explosivstoffe in Mengen“, erklärte Superhirn. „Chemikalien flüssige und feste TreibSubstanzen, Sprengmaterialien unterschiedlicher Art, ach, ich weiß nicht, was noch alles...“ Er zog die Luft ein. ja, ich spür´s auch!“ „Man sieht aber keinen Rauch“, sagte Tati. Sie blickte in den vorgetäuschten Sonnenhimmel, über den Rasen und den Teich mit den Booten. „Die Lichtung ist gut isoliert“, brummte Gérard. „Der Himmel und der Horizont bestehen aus undurchdringlichen Wänden, möcht ich wetten. Wir sind in einem großen Raum, der wie eine Theaterbühne ausstaffiert und eingeleuchtet ist.“ „Bravo, Gérard!“ rief Tati. „Wenn wir Superhirn in die Klapsmühle bringen müssen, trittst du an seine Stelle.“ Wumm...! machte es hinter ihnen. Wummm ... ! Aus dem Dach des Gästehauses schlug eine Stichflamme. „Zurück!“ schrie Superhirn. „Haltet Loulou fest! Fort vom Haus!“ Er machte den anderen klar, daß da Gase in den Küchenschacht gedrungen und explodiert seien. Wumm, wumm, wumm ...! jetzt barst das Dach an mehreren Stellen. Kunststoffteile prasselten auf den Rasen. Eine Wand legte sich schräg. Die Flammen stoben spitz und gleichmäßig durch die Lücken, als würden sie aus Düsen genährt. „Dacht ich mir´s!“ rief Superhirn. „Gase! Gase aus den Versorgungskanälen!“ „Der Boden unter mir wird heiß“, bemerkte Micha. „Seht mal, seht! Der Rasen wird ganz gelb!“ Sie rannten zu den Elektrobooten. Prosper besetzte das erste und fuhr sofort ab, als gelte es, an ein rettendes Ufer zu gelangen. Henri und Micha sprangen in das zweite, Gérard und Tati in das dritte Boot. Superhirn nahm das vierte.
Eine seltsame Kahnfahrt. Tati lachte, um nicht zu weinen. Lautlos glitten die Boote inmitten der Lichtung über den künstlichen See. Die Bläue des Grundes, die schmetterlingsgelben Kacheln des Gestades und die lustig gemusterten Strandmöbel konnten das Auge erfreuen. Doch das schöne Hotel war zerstört, und Flammen mit abgestufter Färbung rauschten immer noch daraus hervor. Der Rasen verlor zusehends seine Frische, und die Luft wurde wärmer und schwerer. „Wohin?!“ brüllte Prosper, der das Unsinnige des Umherfahrens einsah. Schließlich befand man sich nicht in der freien Natur, sondern in einer „auf Natur getrimmten“, abgeschlossenen Halle unter dem Eis der Antarktis. ,Pas Wasser fängt an zu dampfen!“ gellte Michas Stimme. „Superhirn, warum tust du nichts?“ Doch der spindeldürre junge war längst dabei, Verbindung mit dem Professor zu suchen. Fieberhaft nestelte er an seinem armbanduhrähnlichen Signalgerät. Ohne Fahrt lag sein Boot mitten auf dem See. Die anderen flitzten in Schleifen und Kurven um ihn herum. „Ans Ufer!“ schrie Prosper. „Ich such einen Ausgang in dem ver-ver-verrückten Ho-Horizont!“ Bums! Sein Boot knallte gegen das Gestade. Prosper sauste über den Bug auf den Rasen, sprang aber sofort auf und vollführte groteske Sprünge. „Der Boden glimmt! Verflixt! Wir verbrennen und ersticken!“ „Und werden abgekocht!“ heulte Micha. „Der Teich wird immer wärmer!“ Prosper humpelte über die scheinbar endlose Wiese. Aber da begann es zu grollen, als ziehe über der trügerischen Sonnenlandschaft ein Gewitter auf. Der Boden erbebte. Und plötzlich tat sich vor Prosper der „Himmel“ auf. Langsam, wie im Zeitlupentempo, brach eine Wand von gewaltiger Höhe schräg von links oben nach rechts unten aus der Lichtung heraus. Dahinter kam eine mächtige Werkhalle mit zwanzig, dreißig kugelförmigen Behältern und unzähligen Rohrleitungen zum Vorschein. Man sah die Riesenlücke nur einen Augenblick, dann verschwand sie hinter einem Feuervorhang. Das Boot von Henri und Micha krachte gegen das von Tati und Gérard. Alle tasteten mit den Händen an ihren Köpfen herum. In dieser Hölle wußten sie nicht, ob sie sich die Ohren, die Augen oder die Nasen zuhalten sollten. Superhirn sah die enorme Aufstülpung im gegenüberliegenden Horizont als erster. Der sonderbar schimmernde Rumpfteil eines Spezialschiffes hatte sich an die Lichtung herangeschoben, eines Spezialschiffes - etwa von der Größe eines riesigen Tankers. „Erdschiff Giganto!“ rief Superhirn. „Das ist der Professor! Er holt uns raus! Prosper, Prosper, komm her!“ Und schon ertönte Charivaris Stimme durch einen Verstärker: „Beeilt euch! Der Raum unter dem See geht gleich hoch!“ Prosper wollte in sein Elektroboot springen, verfehlte es aber und landete im Wasser. „Aua... aua...“ jaulte er, wild um sich schlagend. „Ich ertrinke! Ich werde gesotten! Aua ... !!“ „Vorläufig nimmst du nur ein heißes Bad“, sagte Superhirn. Er zog den pitschnassen Freund in sein Boot. „Aber jetzt los! Sonst kann man uns dem Ragamuffin wirklich als Brühfleisch servieren!“ Sie landeten am anderen Ufer und liefen auf das Erdschiff zu. „Wir schaffen´s nicht!“ japste Gérard. „Der Rasen brennt, Der Boden hat Risse ... Und die ätzenden Dämpfe...“ Er hustete. „Nicht sprechen!“ keuchte Superhirn. Taschentücher raus! Tati, halt den Hund fest!“ Verschiedenfarbige Nebelschwaden stiegen aus den Ritzen im Boden empor und legten sich in Schichten über- und nebeneinander. Diese gefährlichen, regenbogenähnlichen Schwaden nahmen den Freunden die Sicht, da ihnen die Augen tränten. Der Giganto schien auf einmal verschwunden zu sein. „Wir fassen uns an den Händen“, keuchte Superhirn. „Vorwärts! Nicht loslassen, Prosper!“ Ein greller Scheinwerfer durchdrang die Schwaden. Die Stimme Charivaris dröhnte hohl: „Nach dem Licht richten! Da ist der Eingang! Immer auf das Licht zu!“ Hinter ihnen brodelte der See. Superhirn hatte die Bordtreppe erspäht. „So“, sagte er, „erst Micha und Tati. Dann Prosper. Jetzt
Gérard.“ Er selber betrat hinter Henri das Schiff. Die Luke hatte sich noch nicht geschlossen, als eine Unterboden-Explosion die Lichtung zusammenbrechen ließ. Wo eben noch der See gewesen war, gähnte jetzt ein schwarzes Loch. 5. Großangriff des Ragamuffin Im Befehlsraum des Giganto, der in seiner Größe und seiner raffinierten Schlichtheit eher einer Hotelhalle als einem Kommandostand glich, merkte man nichts von der Verheerung, die neben, unter und über dem Schiff in der unterirdischen Südpolstadt tobte. Die Freunde hatten gedacht, Charivari habe einen Teil der Stationsbesatzung an Bord, um sie zu evakuieren. Doch er trat ihnen ganz allein entgegen. Seine geschwungenen schwarzen Augenbrauen mit der gurkenförmigen, kahlen Stirn verliehen ihm etwas jugendliches, das schlecht zu den schimmernden Augen, den hohlen Wangen mit dem ebenfalls lackschwarzen Strippenbart paßte. Seine hohe Gestalt steckte in einem sportlich-flott wirkenden Overall, so daß er wie ein Trainer wirkte. Aber die Taschen, Litzen, Züge und Aufnäher dienten elektronischen Signalzwecken. Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. Als erstes bestätigte er Superhirns Vermutung. „Der Ragamuffin beschießt uns mit Hirnwellen, die akustische und optische Täuschungen in vielen Köpfen auslösen. Sonderbarerweise beschränken sich diese Täuschungen auf Tierstimmen und Tierbilder.“ „Das reicht“, sagte der Junge, seine Brille putzend. „Wenn ihre Leute dauernd Elefanten, Löwen, Hyänen und wer weiß was für Bestien gehört und gesehen haben, na, dann mußten sie ja um sich schlagen!“ „An einigen Stellen der Station hat es einen Kampf aller gegen alle gegeben“, berichtete Charivari. „Dabei ging in den Labors manches zu Bruch, ebenso in den Lagerhallen. Einige Männer versuchten, die Tiervisionen mit Feuer zu bekämpfen. Den Erfolg' habt ihr ja auf eurer schönen Wiese miterlebt!“ Ja, aber was ist nun?“ rief Tati. „Uns bringen Sie raus. Und die Station soll verbrennen? Und - und Ihre Kollegen?“ „Der Krisenstab hat beschlossen, die Besatzung äußerstenfalls mit den vorhandenen Weltraum- und Erdraketen wegzuschaffen“, erwiderte Charivari. „Noch ist nicht alles verloren. Eine Kerntruppe von Immunen bekämpft die Tobsüchtigen mit Heilschlaf-Spray. Es wird versucht, sie ins Werftzentrum zu drängen. Die brennenden Sektoren werden durch automatischen Sauerstoffentzug gelöscht und von den noch bewohnbaren Teilen abgetrennt.“ „Aber was ist denn dies hier für ein Giganto?“ fragte Micha. „Von dem haben wir bisher nichts gewußt.“ Charivari lächelte. „Na, ich hab ja immer ein bißchen mehr in der Tasche, als ich euch auf die Nase binde. Die Erdrakete, in der ihr euch befindet, ist das verbesserte Schwesterschiff des Giganto, den der Ragamuffin zerstörte.“ „Der Ragamuffin!“ murmelte Gérard. Prospers Zähne klapperten aufeinander. Fror er in seinen durchnäßten Sachen - oder schüttelte ihn das Entsetzen? „Wer - wer sagt uns, daß dieser Giganto sicherer ist als der vo-vorige?“ stammelte er. „Die ununbekannte Macht in der E-E-Erde hat schon mal ein Erdschiff zerstört. Durch Ge-Gedankenblitze vernichtet! Und wenn er uns nun seine Tier-Tier-Tiervisionen hier reinfunkt...“ „... ja“, unterbrach Henri. „Dann möchte ich nicht sehen, was hier los ist! Tati als Gazelle, na, das ginge noch. Aber Sie als Grislybär, Superhirn als Geier, Micha als Stinktier, Gérard als Seelöwe, Prosper als Kamel, Loulou als Ratte und ich als Puma. Und wir alle vielleicht in dauernd wechselnden Rollen, danke! Solche Hirngespinste legen das dickste Erdschiff lahm!“ „Logisch“, sagte Professor Charivari. „Aber dieses Schiff ist verstärkt gedankenstrahlenisoliert. Der neuartige Beschuß der unbekannten Erdmacht dringt nicht herein. Das steht fest!“
„Stimmt“, sagte Micha. „Als wir durch die Nebelschwaden liefen, glaubte ich in Tati noch ein Känguruh zu sehen. Kaum war ich im Giganto, sah ich sie wieder normal!“ „Känguruh?“ Superhirn horchte auf, „Känguruhs gibt es nur in Australien. Wenn der Ragamuffin Eindrücke sendet, die er aus Gegenden oberhalb seines Staates im Erdinneren bezieht...“ „... müßten wir ihn in Australien suchen“, nickte Charivari. „Leider hat er aber auch Pinguine, Rentiere und Fauna, die für Südafrika und Nordafrika typisch sind, gesendet. Daraus können wir also keine speziellen Schlüsse ziehen.“ „Fahren wir eigentlich schon?“ fragte Tati. „Längst“, erwiderte der Professor. Er warf einen Blick auf die bogenförmige Befehlsplatte. „Wir sind jetzt 30.000 Meter tief in der Erde, etwa unter Kapstadt. Ich schlage vor, ihr sucht euch im Oberstock eure Kabinen aus. Für Prosper findet sich im Schrank ein trockener Trainingsanzug.“ „Bringen Sie uns nach Monton zurück, an unseren Ferienort in Frankreich?“ erkundigte sich Henri wachsam. Charivari runzelte die Stirn. „Nicht, bevor die Angriffe des Ragamuffin nachgelassen haben“, erwiderte er. „Das ist zu gefährlich! In meinem Giganto seid ihr sicherer als anderswo. Außerdem habe ich euch nicht nur vor dem Wellenbeschuß zu schützen, sondern auch vor der Verfolgung durch die rätselhaften Erdspione.“ Ja, mit diesen menschenähnlichen Lebewesen, den Vavas, den variablen Vasallen des Ragamuffin, die über besondere autobiologische Fähigkeiten verfügten, hatten die Freunde bereits unliebsame Erfahrungen gemacht. Die Erdspione - einer war als Schachfigürchen, als Bauer, getarnt gewesen stellten ihnen nach, weil sie die Mitwisser des Professors waren. Ihre Blicke - auch das wußte man schon - durchdrangen sogar Materie. In zwei Lifts sausten die Gefährten in das Obergeschoß. „Prima!“ rief Micha begeistert. „Von mir aus könnte der olle Ragamuffin noch vier Wochen lang Viechsgedanken durch die Gegend schleudern, hier drin ist es herrlich, und wir brauchen nicht gleich wieder zur Schule.“ „Du hast Nerven“, ereiferte sich Tati. „Fast die ganzen Ferien haben wir wie die Maulwürfe in der Erde gesteckt. Nun bleiben uns gerade noch fünf Tage, und die willst du an einen Erdgeist verschenken? Stell dir vor, der zertrümmert den Giganto und erwischt uns! Was dann ... ? Dann brauchst du jedenfalls nie wieder zur Schule!“ „Das stellen wir uns lieber nicht vor“, sagte Superhirn scharf Henri und Gérard, waren den Gang entlang gelaufen und - hatten ein paar Türen geöffnet. „Die Quartiere sind noch besser als die im vorigen Giganto“, meinte Henri. Jeder von uns kriegt ein Einzelzimmer mit Bad, Wäschekammer, Telefon, Recorder und automatischem Service. Micha, den Pudel kannst du nachher im Laderaum Gassi führen!“ „Ich such mir erst mal was Trockenes zum Anziehen in meinem Kleiderschrank“, brabbelte Prosper. Er verschwand in Zimmer 3. „Und ich wasche mir den Brandgeruch aus den Haaren“, sagte Tati. Als auch Prosper und Micha ihre Zimmer aufgesucht hatten, zupfte Henri Superhirn am Ärmel. „He, warte mal!“ flüsterte er. „Was hältst du von der Situation?“ „Hm“, überlegte Superhirn. „Wenn der Professor sagt, daß dieses Schiff absolut strahlensicher ist, wird es stimmen.“ „Aber wie lange sollen wir ziellos in der Erde rumgondeln? Mir scheint, Charivari weiß selber nicht, worauf er wartet. Falls der Ragamuffin die Welt zerstören will und nur dieser Giganto bleibt übrig - ha, dann landen wir eines Tages oben auf der Erdoberfläche, einsam wie die Arche Noah!“ Superhirn erwiderte ruhig: „Du meinst, Charivari weiß nicht, worauf er wartet? Er wartet darauf, daß der Ragamuffin seine Munition verschießt. Er braucht unvorstellbare Hirnwellen-Energien, um sich solche Angriffe zu leisten. Das wissen wir von den vorigen Malen. Es ist eine Sache von Stunden, dann geht ihm die Kraft aus, und er verhält sich schön still, um aufzutanken'.“ „Und das soll etwa immer so weitergehen?“ fragte Henri. Die beiden Freunde starrten einander an.
„Du hast recht, Henri“, sagte Superhirn. „Nein, das kann nicht so weitergehen! Die innerirdische Macht muß zum Schweigen gebracht werden, bevor sie mit einer ihrer nächsten Attacken aufs Ganze geht. Wer weiß denn, welche Fähigkeiten dieses Volk noch entwickelt?“ Die Gefährten waren von den überstandenen Aufregungen erschöpft. So ruhten sie sich ein paar Stunden in ihren Bordquartieren aus. Daß der Giganto auf Schleichfahrt seine Warteschleifen durch den dicksten Dreck in dunkler Erdtiefe machte, merkten sie nicht. Wegen des eingebauten Verzögerungseffekts spürten sie weder Beschleunigen noch Bremsen. Sogar Purzelbäume konnte der Giganto schlagen, ohne daß es die Insassen bemerkten. Das gewaltige Fahrzeug war so gebaut, daß es unmerklich - ohne die Besatzung auch nur ins leiseste Schwanken zu bringen - jeden Stoff und jede Schicht in der Erde durchdringen konnte. Für die Hülle hatten Charivaris Labor-Spezialisten ein besonderes Material entwickelt. Dabei war die Bindung zwischen den Atomen so verstärkt worden, daß sie erst bei hundert Millionen Grad Hitze oder Kälte aufbrechen konnte. Eine derartige Hitze herrscht aber nur auf einigen außergewöhnlichen Sternen. (Selbst die Sonne hat nur ungefähr vierzehn Millionen Grad.) Die feste Bindung zwischen den Atomen machte die Hülle praktisch unempfindlich bis zu einigen Milliarden Atmosphären Überdruck. Der Professor führte dieses enorme Kraftwerk allein. Eine Fülle von Hilfsaggregaten ersetzte ihm das Personal eines Flugzeugträgers. Die Erdrakete hatte die Form eines regelmäßigen Spitzkegels also einer Tüte -, und sie war ein Allesfresser. Das heißt, sie verarbeitete jeden Stoff, auf den sie stieß, zu Treibstoff. Vor den sternförmigen Saugdüsen wurde selbst härtestes Gestein jäh geschmolzen. Pumpen jagten es heckwärts - und hinter dem Giganto erstarrte es wieder. Durch das Zurückpumpen der verarbeiteten Materie gewann man (wie beim Düsenmotor eines Jets) den Rückstoß, der das Erdschiff vorwärtstrieb. Diesmal war es ausgerechnet Superhirn, der in seinem Bordquartier am längsten schlief. Er sprang unter die Dusche, zog sich rasch wieder an und sauste mit dem Lift hinunter. Als er den Kommandoraum betrat, spürte er sofort: Die Lage hatte sich nicht entschärft, sondern zugespitzt. Tati und Micha saßen mit bedrückten Gesichtern in Sesseln. Micha hielt den Pudel an sich gepreßt. Henri, Gérard und Prosper standen verloren im Raum und blickten auf den Professor. Charivari beugte sich über den Kontrolltisch. In der bogenförmigen Platte tanzten Lichter, sausten farbige Ziffern, die sonderbare Reflexe auf seinem hohlwangigen Gesicht hervorriefen. „Ist was mit dem Giganto?“ fragte Superhirn. „Stimmt etwas nicht mit diesem Schiff?“ Professor Charivari ließ sich ein wenig Zeit mit der Antwort. Endlich sagte er - und es klang mühsam: „Der Giganto ist in Ordnung. Aber auf der Erde breitet sich Unordnung aus.“ Er tastete nach seinem Hörknopf im Ohrläppchen. „Ich empfange schreckliche Nachrichten aus aller Welt.“
6. Das Phantombild Professor Charivari tippte auf ein paar Kontaktplättchen. In der Wand erschien eine Reihe von Bildschirmen, die Ausschnitte seiner Geheimstationen zeigten: der Labors am Grunde der Meere, der ..hoch oben“ im All schwebenden, für irdische Peilgeräte unortbaren Raumstation Monitor, der Mondpolstation (über Relais), die von „normalen Raumfahrern“ nicht überflogen werden konnte und der Werft der stark beschädigten Entwicklungsstadt in der Antarktis. Zuerst sprach General Hamm: „Hallo Giganto, hallo Professor Charivari! Zerstörte Bezirke abgesperrt und reterrestriert. Menschen und Material im Werftzentrum konzentriert. Keine Verluste an Menschenleben. Wertvollste Geräte in Sicherheit. Wir haben die komische Erfahrung gemacht, daß die geringste Menge Heilschlaf-Spray, dem Sauerstoff beigegeben, eindringende Hirnwellen des Ragamuffin auflösen, vielmehr: die menschliche Anfälligkeit hierfür ausschalten. Also könnten wir diese Art von Beschuß, wenn´s sein muß, noch lange aushalten.“ „Falls dem Ragamuffin nichts Schlimmeres einfällt“, murmelte Charivari. Er sprach jetzt mit den
übrigen Stützpunkten, auf denen man General Hamms Erfahrungen seit Stunden bereits mit Erfolg auswertete. Endlich ließ er nur noch den Bildschirm stehen, auf dem der Sicherheitschef der geheimen Raumstation Monitor, der nette, junge Biggs, zu sehen war. „He, die Gruppe Superhirn wieder an Bord des Giganto?“ rief Captain Biggs. „Natürlich mit Pudel! Hm, hm. Vielleicht noch ein paar andere Tierchen gefällig? Wie ich höre, gibt's eine ganze Menge zur Auswahl.“ Charivari überging den Scherz. „Wie begegnen Sie dem Beschuß, und was registrieren Ihre Geräte?“ fragte er knapp. „Sonderbarerweise treffen uns die geschilderten Ragamuffin-Visionen nicht. Richtiger: Die von den Geräten vermerkten Hirnwellen aus der Erde verursachen kein Unheil in unseren Köpfen“, meldete Biggs. „Die Gedankenstrahlen, die anderswo verschiedene Tierbilder in die Gehirne projizieren, sehen wir auf unserem Analysator als zittrige Kurven und Zacken. jedenfalls nehmen wir an, daß es sich um diese Beschüsse handelt, denn nach unseren Ortungen kommen sie fraglos aus dem Erdinnern. Unsere Fachleute können sie nicht entschlüsseln.“ „Wenigstens ist Ihre Raumstation verschont geblieben“, sagte Charivari erleichtert. „Aber ich habe in den letzten Stunden einige Welt-Rundfunksendungen abgehört. Das ergibt ein schauriges Bild. Wie sind Ihre Informationen hierzu?“ „Moment!“ Man sah, wie Biggs auf dem Bildschirm eine Taste drückte und auf sein Nachrichtenbild blickte. „Letzte Meldung“, begann er, „Tja, vergleichsweise 'n kleiner Fisch. Auf 50 Grad 2 Minuten Nord und 25 Grad 50 Minuten West gibt der Liberianische Frachter Moros SOS. Angeblich Tiere an Bord. Panik. Heftige Kämpfe unter der Besatzung. Explosion im Maschinenraum, offenbar durch Vernachlässigung infolge der Panik.“ „Und das nennt Biggs einen kleinen Fisch“, hauchte Tati entgeistert. „Das ist eine Einzelheit, Captain!“ rief Charivari ungeduldig. „Ich brauche den Gesamtüberblick!“ „Waaas ... ?“ Captain Biggs verlor die Beherrschung. „Hat Ihnen Hamm noch nichts gesagt? Auf der ganzen Welt bahnt sich ein Chaos an! Überall hört man Tierstimmen, überall meint man, Tiere zu sehen! Der Ragamuffin startet die bisher größte Offensive. Und Sie schlafen da mit Ihrer Kindergruppe im Giganto!“ „Captain!“ begann Charivari scharf. Doch Biggs unterbrach ihn schreiend: „Ich denke, Sie sind längst in Aktion! Ich denke, Sie suchen das Ragamuffin-Hauptquartier! Und nun fragen Sie nach der Gesamtlage wie ein Tourist nach dem Urlaubswetter!“ „Kommen Sie zu sich, Biggs!“ mahnte Charivari mit eisiger Gelassenheit. „Schließlich zog ich Warteschleifen, um die Lage gründlich zu peilen. Dabei mußte ich das Erdschiff checken. Wenn ich gegen eine Macht wie den Ragamuffin vorgehen will, darf ich nicht den geringsten Knacks im Schiff haben ... Also?“ „Wo stehen Sie genau?“ fragte Biggs in dienstlichem Ton zurück. Er wußte besser als jeder andere, wie recht Charivari hatte. Ein Mann wie er durfte nicht aus der Fassung gebracht werden. Am allerwenigsten in einer Situation wie dieser. „Ich bitte um Lokalisierung und Kurs nach Bordinstrumenten!“ „8 Grad östlicher Länge, 35 Grad südlicher Breite“, erwiderte der Professor. „6210 Kilometer ab Erdmittelpunkt. Wir fahren Kreisschleife zur Peilung mit 2 bis 3 Grad Durchmesser!“ „Korrekt“, sagte Biggs. „So. In New York ist es 12.30 Uhr. In Tokio haben wir schon den morgigen Tag, nämlich 2 Uhr früh. Nachrichten aus den dunklen Zeitzonen - etwa Kalkutta, Djakarta, Hongkong, Perth und Sydney und Wellington - liegen naturgemäß spärlich vor. Aber aus Fairbanks, Alaska, Ottawa in Kanada, Kuba und den südamerikanischen Städten hören wir Schreckliches. Ebenso aus Europa. Leute, die Tierstimmen im Ohr hatten, bestürmen die Ärzte, Zoologen, Astrologen, Krankenhäuser, die Radioanstalten und die Regierungen. Seit der Ragamuffin aber Tierbilder funkt, kommt es zu regelrechten Katastrophen. Moment...“ Biggs tippte auf sein Nachrichtenpult und verlas die aufgefangenen, noch unausgewerteten und verworrenen
Rundfunkdurchsagen der Erdstationen: „In New York schoß ein Polizist wie rasend auf Autos, die er für ausgebrochene Raubtiere gehalten hatte. Es gab drei verletzte Fahrer und Mitfahrer. Wie viele Leute die Treppen hinunterstürzten, weil sie sich von wilden Tieren verfolgt wähnten, kann man kaum schätzen. Es ist weiter von Schiffsunfällen die Rede, von Fehlstarts und Bruchlandungen in der Luftfahrt, von Tumulten in Krankenhäusern, Gefängnissen und Helmen. In den amerikanischen Tierparks will man völlig ortsfremde Tiere gesehen haben: riesige Seelöwen, zweihöckrige Kamele und so weiter. In den Autobussen der British Yukon Navigation Company sollen die Leute mit Messern aufeinander losgegangen sein. Sie hielten sich gegenseitig für Tiere. In Europa ergibt sich kein besseres Bild: schwere Unruhen in englischen Industriestädten. Dort will man tobsüchtige Elefanten gesehen haben.“ Biggs unterbrach sich wieder. „Halt, hier! Aus Mittelamerika werden schwere Grenzverletzungen gemeldet: Dort schießen Truppen aufeinander. Und in Argentinien und Brasilien werden die Schlachthäuser gestürmt und in Brand gesteckt. Man hat die Tiervisionen offenbar als Hirngespinste erkannt, aber man führt sie auf Fleischvergiftungen zurück.“ „Das ist nicht so sonderbar wie es klingt“, sagte Charivari heiser. „Die Bevölkerung weiß, daß die besten Rinder exportiert werden, deshalb das fehlgeleitete Mißtrauen gegen schlechtes Fleisch. Hallo, Biggs! Alarmieren Sie alle verfügbaren Hilfs-Monitore in sämtlichen Geheimstationen. Sie sollen über den Ballungszentren der Erde Heilschlaf-Spray abblasen. Wir haben davon große Mengen, weil wir das Zeug im Notfall gegen Angreifer verwenden wollten. Speichern Sie alle Meldungen aus der östlichen Hemisphäre. Ich brauche so früh wie möglich Nachrichten, besonders über das dichtbesiedelte Japan.“ „Okay“, antwortete Biggs. Sein Gesicht wirkte auf einmal wie das eines Mannes, der das Lachen für immer verlernt hat. „Und noch eines“, sagte Professor Charivari. „Ich lasse durch Fernzündung alle unsere Wechselwirkungs-Depots in der Erde hochgehen.“ „Das...“ fragte Biggs, „... das ist doch nicht Ihr Ernst? Damit reißen Sie womöglich die Erdkugel auseinander!“ Auch Superhirn rief entsetzt: „Wechselwirkungs-Depots? Die richten schlimmere Verheerungen an als Atom- und Wasserstoffbomben!“ „Es wird allerdings eine Reihe sehr, sehr heftiger innerirdischer Erschütterungen geben“, erwiderte Charivari. „Selbstverständlich aber in berechneten Maßen und in bestimmten Tiefen, so daß an der Oberfläche nirgends etwas anderes zu spüren sein wird als ein ganz geringes Vibrieren. Dieses Vibrieren werden auch nur die Erdbebenstationen vermerken.“ „Aber das Risiko!“ rief Henri beschwörend. „Müssen wir auf uns nehmen“, sagte der Professor. „Die Hirnwellen-Offensive aus der Erde ist jedoch äußerst gefährlich! Viele mögen überhaupt keine Nerven-Antenne dafür haben. Grundsätzlich scheint aber kein Volk, keine Rasse, kein Intelligenzgrad dagegen gefeit zu sein.“ „Wieso auch?“ fragte Tati. „Was hat das denn damit zu tun? Mensch ist Mensch!“ „Das hab ich nicht bestritten.“ Über Charivaris Gesicht flog ein flüchtiges Lächeln. „Aber es gibt Völker und Individuen mit verschieden ausgeprägten oder sogar mangelnden Eigenschaften. Um ein verblüffendes Beispiel zu nennen: In Amerika leben Nachkommen eines Indianerstamms, der kein Schwindelgefühl besaß. Als Bauarbeiter können diese Leute in höchsten Höhen sicher über die schmalste Verstrebung gehen. Man setzt sie überall da ein, wo sich ihre normalen Kollegen nicht hinwagen.“ „Die Vavas des Ragamuffin?“ fuhr Micha auf. „Quatsch!“ winkte Gérard. ab. „Hast du nicht gehört? Das war nur ein Beispiel! Der Professor meint, die Ragamuffin-Wellen können in die Hirne der Eskimos ebenso eindringen wie in die von Negern, Weißen und Indios, egal ob einer Schlittenführer ist, Jäger, Staatsanwalt oder Eisverkäufer, Präsident oder Boxer.“ „Für den Empfang der Erdstrahlen ist das gleichgültig, will der Professor sagen“, fügte Henri hinzu. „Die Tiervisionen können sich in allen Köpfen bilden, es sei denn, jemand ist - überhaupt nicht anfällig - und das wiederum kann auch unter Eskimos, Negern, Weißen oder Indianern vorkommen,
welche Eigenschaften sie auch sonst immer besitzen. Stimmt´s?“ „Ja“, bestätigte Charivari. „Bei den Ragamuffin-Wellen ist auch die Frage, wie sie den einzelnen oder ganze Gruppen erwischen. Von zehn Menschen kann einer erfaßt werden, so, wie ein Windstoß an der Bushaltestelle nur einem den Hut vom Kopf reißt. Oder wie durchbrechender Sonnenschein nur die Hälfte des Publikums in einem Sportstadion anstrahlt.“ „Die Hälfte?“ krächzte Prosper. „Au-au-auf die Hirnwellen bezogen, wäre das verteufelt genug. Die ei-einen sehen in den a-a-anderen wilde Tiere. Dann gehen sie mi-mit Messern, Stöcken und PiPistolen auf sie los! Ob das der Ra-Ragamuffin sich so ausgeheckt hat, daß a-a-alle Menschen auf der Welt aufeinander losgehen?“ „Genau das plante er“, sagte Charivari, von der Kontrollplatte aufblickend. „Nichts anderes. Zumindest vermute ich das. Wenn die unterschiedlichsten Menschen durchdrehen, so könnten ja zufällig die dabei sein, die in der Lage sind, einen weltweiten Atomkrieg auszulösen.“ Es war still im Kommandoraum. Entsetzt sahen sich die Jugendlichen an. „Deshalb bereite ich die Depot-Sprengungen vor“, fuhr Charivari mit dumpfer Stimme fort. Es geht jetzt darum, wer wen vernichtet: der Ragamuffin die Welt - oder wir seine Zentrale!“ „Achtung!“ meldete Biggs. „Halten Sie sich fest. Festhalten, sage ich!“ „Was ist?“ rief der Professor ungeduldig. „Ich berechne eben die Sprengwirkungen.“ „Ich auch.“ Biggs grinste mühsam. „Allerdings im übertragenen Sinne! Wir haben eine Bildfunkbotschaft des Ragamuffin!“ Jäh richtete sich der Professor auf. „Was für eine?“ fragte er gespannt. „Sein Foto!“ rief Biggs,
7. Standbilder in den Geheimstationen Superhirn äugte ungläubig zum Bildschirm. Ein Foto des Ragamuffin? Biggs hatte wohl auch schon einen kleinen Affen im Hirn? „Behalten Sie Wartekurs bei!“ rief der Captain. „Das Foto wird gerade sendefähig gemacht. Ich zeige es Ihnen gleich auf dem Bildschirm!“ Biggs Gesicht wurde undeutlich, das flimmernde Rechteck zog sich zusammen und verschwand von der Wand. Professor Charivari strich sich den Strippenbart. Sein irritierter Blick glitt über die jungen und das Mädchen. „Hat er gesagt: ein Foto? Und meinte er tatsächlich ein Foto des Ragamuffin?“ „Ja!“ erwiderten die Freunde wie aus einem Munde. „Ich halte das für ausgeschlossen“, murmelte Charivari. „Ich werde Biggs noch mal rufen. Ich werde...“ „Tun Sie das nicht“, warnte Superhirn. „Tun Sie das um Himmels willen nicht! Der Giganto ist Ihre einzige, wirksame Großwaffe gegen den innerirdischen Staat.“ „Na und?“ rief Prosper nervös. „Meinst du, ein Foto könnte uns schaden?“ „Wenn du's wissen willst: ja ... !“ sagte der spindeldürre Junge entschieden. „Ich kann das zwar nicht begründen, aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl.“ „Gefühl“, brummte Gérard. „Seit wann traust du denn deinem Verstand nicht mehr?“ fragte Tati gereizt. Henri schwieg mit aufeinandergepreßten Lippen. Dafür schrie Micha neugierig: „Ich will den Erdboß sehen! Ich will wissen, wer der Muffel ist!“ „Sonderbar“, sagte Charivari. Seine Finger fuhren auf der Kontrollplatte hin und her. „Captain Biggs meldet sich nicht! Weltraumstation Monitor ist nicht zu erreichen!“ „Fahren wir überhaupt noch?“ fragte Tati bange. „Es ist ja sehr schön, nicht zu wissen, wo man ist. Aber wenn irgendwas nicht klappt, wird's mir schrecklich klar, daß ich wie 'n Maulwurf in der Erde
stecke!“ Prosper wurde noch hellhöriger. „Was klappt nicht?“ bohrte er. „Was soll da nicht klappen?“ „Der Bildfunk-Kontakt zu Monitor und den übrigen Geheimstationen - ist unterbrochen“, sagte Henri ruhig. Er stand neben Charivari, Doch im gleichen Augenblick erschien Captain Biggs auf der Mattscheibe. „Hallo, Biggs!“ rief der Professor. „Hier Kommandant Giganto. Zündung der innerirdischen EnergieDepots zurückgestellt. Erwarte angekündigtes Foto des Ragamuffin ... !“ Erwarte angekündigtes Foto des Ragamuffin! klang es den Freunden schauerlich in den Ohren. Alle blickten auf den Bildschirm. Sie sahen Captain Biggs so deutlich wie einen Tagesschau-Sprecher. Er schien mit gemäßigtem Interesse in das Erdschiff hineinzugucken. Er sprach nicht. Ja, er rührte sich nicht einmal! „Tonausfall“, hauchte Micha. „Nee. Der klimpert ja mit keiner Wimper“, brabbelte Gérard. „Das ist ein Standbild! Die Technik muß 'ne Macke haben!“ ..Das ist kein Standbild“, sagte Superhirn so fest und entschieden, als gelte es, den anderen ein paar Zähne zu ziehen. „Captain Biggs ist gelähmt! Seht ihr das nicht? Etwas hat ihn reglos werden lassen oder reglos gemacht!“ „Woher willst du das wissen?“ fragte Tati. „Es liegt doch näher, technischen Schaden anzunehmen. Oder? Das ist ein Standbild - und zufällig herrscht Tonausfall.“ „Möchte ich glauben“, murmelte Charivari. Er tippte auf verschiedene Kontaktplatten, drückte einige Tasten und drehte an allen Knöpfen seines Befehlsanzugs. Auch Henri und Prosper hatten den Eindruck: Standbild, Tonausfall. Da sagte Superhirn: „Links neben Biggs ist eine Uhr mit leuchtenden Wechselziffern. Seht mal, wie munter die Hundertstelsekunden springen! Das soll ein Standbild sein?“ Henri fuhr herum. Er zuckte zusammen. „Himmel!“ entfuhr es ihm. „Ja! Seit wann gibt es Standbilder, auf denen irgendwas läuft?“ Der Professor hob den Kopf. Die Erkenntnis, daß Superhirn recht hatte, fuhr ihm sichtlich in die Glieder. „Tonausfall herrscht auch nicht“, sagte der spindeldürre Junge gnadenlos. „Hört ihr nicht? In der Raumstation poltert was. „Es - es ruft jemand Hilfe!“', schluckte Micha. „Wird da gekämpft?“ Professor Charivari legte blitzschnell zwei Kipphebel um und ließ eine zusätzliche Platte aus dem Bogentisch gleiten. „Von diesem Giganto aus kann ich mich in alle Räume meiner Stationen einblenden“, sagte er, während er Kontakte berührte und aufleuchtende Pfeile in eine bestimmte Kombination brachte. Plötzlich zitterten heller und größer werdende Licht-Rechtecke über die Wände des GigantoBefehlsraumes. Auf den Mattscheiben erschienen verschiedene Innenperspektiven der Geheimstation Nordpol, der Geheimstation Atlantik, der Geheimstation Pazifik, der Werftzentrale der beschädigten Antarktis-Station - und schließlich sämtliche Abteilungen der Weltraumstation Monitor. Den entsetzten Erdfahrern bot sich ein hoffnungsloser Anblick. Tati nahm sogar den Pudel auf und zerrte Micha an sich, als wollte sie nicht, daß er das sähe. Überall dasselbe Bild. Überall die entsetzlichen „Standbilder“ mit reglosen Wissenschaftlern, Technikern, Astronauten, Terranauten, Laboranten und Nachrichten-Teams. In der Geheimstation Nordpol fuhren Erstarrte in einem automatischen Lift auf und nieder, auf und nieder, auf und nieder. Im Stützpunkt Atlantik saß das Personal wie ausgestopft in der Kantine. Man sah aber, wie die Speise-Automaten die gewohnten Menüs ausspuckten. Batsch, batsch, batsch - ohne Unterbrechung fielen die Tabletts auf den Boden. Vor einer Automatenwand hatte sich bereits ein richtiger Essensberg gebildet. In der pazifischen Station hatte ein Wissenschaftler mit einer Pipette eine Bakterienkultur füttern wollen. Die Bakterienkultur im Glase breitete sich gelblich-wolkig aus. Daneben aber, ausdruckslos glotzend, die Pipette starr in der Hand, stand der Gelehrte. In der Weltraumstation endlich lagen ein paar Männer in grotesken Verrenkungen umher, während hinter
ihnen Alarmzeichen in den Wänden zuckten. „Aus!“ rief Prosper. „Aus! Machen Sie das aus!“ Er sank in einen Sessel. Schon waren die Schreckensbilder verschwunden. Doch Charivari hatte sie nicht abgeschaltet. „Störung“, meldete er, wie rasend an der Platte beschäftigt. „Jetzt kriege ich überhaupt keine Verbindung mehr!“ Er nestelte an seinem Befehlsanzug. „Auch nicht mit einem Satelliten ... Nein. Nichts. Ich wollte wenigstens normale Radiostationen anpeilen.“ „Bedeutet das, daß wir jetzt nicht nur von unseren Geheimstationen abgeschnitten sind, sondern von der ganzen Erdoberfläche?“ fragte Henri. „Der Ragamuffin hat die Stützpunkte lahmgelegt“, meinte Gérard. „Aber was er nun weiter mit der Menschheit macht, das dürfen wir raten! Oder?“ Prosper sprang auf „Vielleicht sind wir sieben hier im Giganto die einzigen, die noch bei klarem Verstand sind!“ schrie er. „Wenn du weiter so schreist, wird auch das nicht mehr lange dauern“, mahnte Superhirn. „Aber er hat recht, ...“, sagte Tati mit bebender Stimme. „Die Geheimstationen sind nutzlos, und auf der Erde funktioniert kein Sender mehr! Vielleicht ist da auch alles erstarrt. Alles, alles! Würden wir auftauchen und den Giganto verlassen, dann erstarrten wir gleich wie die Salzsäulen...“ Krrring, erscholl das sägend scharfe Zeichen einer unsichtbaren Glocke. Krrring ... krrring ... krrring... „Was ist das?“ fragte Micha. Krrring ... krrring ... krrring... Professor Charivari sprang vom Befehlstisch weg, mitten unter die Freunde. Er schnappte nach Luft und rang sichtlich nach Worten. Krrring ... „Aber was ist denn das?“ rief Henri. „Was bedeutet das Klingeln? Und wer läutet da - und von wo?“ „Es ist jemand an Bord!“ ächzte Charivari. „Es ist jemand im Cheflabor des Giganto!“ „Hinter der Tür, an der der Befehl steht Nicht eintreten'?“ fragte Superhirn rasch. „Und die Warnung Lebensgefahr'? Die hat doch keinen Drücker und keine Klinke!“ „Man kann sie nur mit einem Transistor-Schlüssel öffnen“, sagte der Professor. ..Aber bei der Abfahrt war niemand drinnen! Und warum funktioniert die Alarmsirene nicht?“ „Wer soll denn so tief in der Erde in unseren Giganto eingedrungen sein?“ fragte Gérard ungläubig. „Der Ragamuffin!“ stammelte Micha.
8. Auf der Flucht Wer nun eigentlich das Zeichen für eine sinnlose, wilde Flucht durch das Erdschiff gegeben hatte, war später nicht mehr festzustellen. Einer schrie: „Weg, weg! Raus hier! Flieht! Wir sind verloren!“ Und vier von den sieben Besatzungsmitgliedern stoben in die oberen und hinteren Räume. Micha sauste im Lift empor und landete im großen Restaurant, das dazu angelegt war, friedliche, hungrige Erdforscher aufzunehmen. Im Augenblick war es geisterhaft leer. Immer in der Meinung, der Ragamuffin oder seine Vavas seien hinter ihm her, raste er zwischen den Tischreihen entlang und um die Sessel, Stühle und Bänke herum. Plötzlich stieß er mit einer Gestalt zusammen und stürzte längelang hin. Etwas schnüffelte an seinem Ohr: Loulou. „Du bist´s!“ schnaufte die Gestalt, die ihn umgerannt hatte. Als sie sich aufrichtete, wurde ihm klar, daß das der wachsbleiche Gérard war. Gérard mit dem Pudel. „Wo - wo sind die anderen?“ keuchte Micha. „Weiß ich nicht“, erwiderte Gérard. „Wahrscheinlich gefangen. Überwältigt! Ja, ja, guck nicht so! Ich hab den Ragamuffin aus dem Cheflabor kommen sehen! Ihn und drei andere Erdgeister,
Geistermenschen. Der Ragamuffin war kohlschwarz, wie angesengt. . .“ „ ... nein ...“, würgte Micha. Seine Beine versagten. Er setzte sich auf den Boden. Gérard drehte sich um- sich selber. „Ich schwör´s“, sagte er hastig. „Diese Erdleute sind durch die Wand ins Labor gedrungen. Der eine hat gesagt: Geben Sie auf, Charivari, wir nehmen Sie jetzt mit...' Der Professor ist zitternd zurückgewichen.“ „Er hat sich nicht gewehrt?“ „Nein! Ich wette, es sind noch mehr Vavas eingedrungen. Sie haben ihn und die anderen geschnappt. Vielleicht haben sie auch so 'n drucksicheres Fahrzeug...“ „Schalter, Kontakte - oder so was“, sagte Gérard. „Das Restaurant muß doch abschirmbar sein. Die werden uns doch auch haben wollen!“ Mit einer Fixigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, bewegte sich Gérard an der Wand entlang. „Was suchst du?“ rief Micha. Er entdeckte eine Reihe winziger Leuchtknöpfe und drückte auf gut Glück darauf herum. Wenn er aber geglaubt hatte, bruchsichere Sperren würden sich vor die Eingänge legen, gleich welcher Art, so hatte er sich getäuscht. Aus hunderttausend Poren in der Saaldecke, in den Wänden und im Fußboden sprühte eine duftende Flüssigkeit, die grünlich-ölig alles, alles überzog: den Bodenbelag, die Sitzgelegenheiten und die Tische. Wohl verschlossen jetzt Schiebetüren die Zugänge. Aber die jungen sahen in dem atemberaubenden, konzentrierten Regenbeschuß nichts mehr. Sie kriegten das Zeug in die Haare, in die Augen, in Mund und Nase. Der Pudel gab nur noch Erstickungsgeräusche von sich. „Steil das ab!“ röchelte Micha. „Steil das ab!“ Gérard fand wahrhaftig den entsprechenden Knopf. Doch jetzt folgte ein Sprühsturm von warmem Wasser, und die Umgebung verwandelte sich in eine Wüste von grünlichem Schaum. Endlich wurden sie von einem Heißluft-Orkan attackiert. Und als sie die Augen wieder öffnen konnten, sahen sie das Restaurant in völliger Trockenheit, in aufgefrischten Farben und in mustergültigem Glanz. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Micha gelacht. „Mensch, Gérard!“ rief er. „Du hast die Putz-Automatik bedient! Das war nichts anderes als ein blitzartiges Großreinemachen! Wir beide und der Pudel sind gleich mitgeputzt worden!“ Inzwischen hatten Tati und Prosper nicht weniger aufregende Abenteuer. Sie waren in den hinteren Teil des Giganto gelaufen, um sich dort zu verstecken. Dabei waren sie in die merkwürdigsten Labors gelangt, zum Beispiel in einen Wald von Pflanzensetzlingen. Im Fall einer friedlichen Erderforschungsfahrt sollte der Versuch gemacht werden, dieses oder jenes Gewächs in etwa vorhandenen innerirdischen Luftblasen anzupflanzen. „Tolle Deckung!“ japste Prosper. „Hier fi-findet uns kei-keiner!“ Und er warf sich ausgerechnet auf einen Kaktus. „Aua!“ brüllte er. „Aua!“ „Still!“ fauchte Tati. „Willst du, daß man uns entdeckt?“ Sie hasteten weiter und gerieten auf eine Rolltreppe. „Wenn Micha nicht nachkommt, geh ich zurück!“ jammerte das Mädchen. „Prosper, hörst du? Wir hätten auf die anderen warten müssen. Wir hätten uns einigen sollen!“ „Einigen“, lachte Prosper verzweifelt. „Worauf denn? Wir beide denken uns was aus, wenn wir davonkommen. Vielleicht finden wir im Laderaum einen Hilfs-Giganto, mit dem wir fliehen können. Dann sehen wir weiter!“ Doch im Laderaum fanden sie wohl zwei „Beiboote“, aber die waren festgelascht und ließen sich nicht öffnen. Auch mit den beiden Schwebemobilen, mit den geländegängigen Kränen und mit tausend anderen, größeren und kleineren Geräten - deren Zweck ihnen unklar war - konnten sie nichts anfangen. Ratlos blickten sie in das blaue Kunstlicht der großen Halle. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Es war, als sei eine Wand geborsten. Unwillkürlich hatten sich Tati und Prosper geduckt. Als sie sich aufrichteten, sahen sie jedoch keine Veränderung. „Ach, ich weiß“, murmelte Prosper. „Das kam von der Maschine. Die hat gespuckt! Es klang wie 'ne enorme Fehlzündung! „
„Aber da knackt was!“ rief Tati. „Hör doch! Da knackt was!“ Prosper lauschte. „Hat nichts mit den Triebwerken zu tun“, meinte er. „Das ist die Bordsprechanlage. Jemand will uns ´ne Mitteilung machen.“ Er irrte sich nicht. Betont ruhig und freundlich, als sei nicht das geringste vorgefallen, ertönte die Stimme des Professors: „Kommandant an Besatzung! Bitte alle wieder in die Zentrale. Das war kein Ragamuffin- oder Piraten-Überfall. Wir haben Besuch von Abgesandten unserer eigenen Geheimstützpunkte!“ Tati und Prosper traten eilig den Rückweg an. „Na, dann werden wir ja auch mit Henri, Micha und den anderen im Befehlsraum zusammentreffen“, sagte das Mädchen erleichtert. „Aber wie sind Charivaris Männer hierher in die Erde gesaust gleich rein ins Cheflabor? Auf den Bildschirmen hatten wir gerade gesehen, daß da alle erstarrt waren!“ „Vielleicht ha-ha-haben sich ei-ei-nige ge-gerettet!“ rief Prosper mit neuem Mut. „Und dann vergiß das besondere Telefon im Chefzimmer nicht!“ Das besondere Telefon, ja! Der tollste Apparat an Bord: Das Molekular-Telefon! Mit Hilfe dieses einzigartigen Geräts waren Kollegen des Professors von den bedrohten Stationen buchstäblich in den Giganto „hineingeflutscht“. Sie hatten sich „einfach“ durchtelefoniert, indem sie sich am Abgangsort in ihre Kleinstteilchen aufgelöst und am Durchwahlort nach ihrer speziellen chemischen Formel wieder zusammengesetzt hatten. Und sie wußten, wie man den geheimen Türöffner bediente. ,Paß ich daran nicht gedacht habe“, murmelte Prosper. Unmittelbar nach Gérard und Micha - mit Loulou - betraten auch Prosper und Tati wieder die Zentrale. „Na, ihr Helden?“ grinste Henri. Auch Superhirn, der über der Kommandoplatte lehnte, feixte über das ganze Gesicht. Doch die Lage war alles andere als komisch, auch wenn es sich bei den Eindringlingen um Charivaris Mitarbeiter handelte - und nicht (noch nicht!) um den Ragamuffin und seine Vavas. Es waren vier Männer in teils sehr mitgenommenen Anzügen. Zwei von ihnen hatten ihre Schutzhelme verloren. In der breiten, verschmutzten, rauchgeschwärzten Gestalt, die vorhin gerufen hatte: „Professor, wir nehmen Sie mit!“ - oder etwas Ähnliches -, erkannte Gérard jetzt General Hamm von der antarktischen Werft. Der zweite, ein noch junger Mann, dem die Schrecken der letzten Stunden anzusehen waren, kam von der Weltraumstation. Es war Biggs Kollege, der Italiener Belmondo. Charivari stellte auch die beiden anderen vor: „Doktor Paulsen, ein deutscher Arzt in der geheimen V-Stadt am Nordpol - und der Däne Sörensen, zweiter Nachrichtenchef unserer Meeresbodenmetropole im Atlantik.“ Hamm und Sörensen saßen erschöpft in Sesseln. Die übrigen standen. Enrico Belmondo von der Raumstation brachte die unterbrochene Diskussion wieder in Gang. „Sie haben uns nicht gerufen, Professor. Nein. Aber eine Nachfrage bei allen Stützpunkten ergab, daß Ihr Schiff in einem Störungsfeld liegen müßte. Niemand bekam eine Verbindung mit dem Giganto!“ Inzwischen setzte der Ragamuffin sein Vernichtungswerk munter fort!“ rief Sörensen. „Mit weltweiten Sinnestäuschungen fing es an, und nun beginnt der Kerl, unsere Geheimstationen mit dem Anblick seiner furchtbaren Fratze zu zerrütten. Fragen Sie Doktor Paulsen: Auch in der V-Stadt am Nordpol liegen fast alle Leute wie in einem Winterschlaf.“ „Winterschlaf!“ echote der deutsche Arzt. „Ich schlage vor, Sie verlassen jetzt den Giganto mit uns über - das Molekular-Gerät“, sagte General Hamm. „Am Südpol ist der Super-Weltraumgleiter Monitor 10 startbereit. Wir setzen uns hinein und suchen uns einen anderen Planeten, bevor der Ragamuffin auch uns erwischt. In der Erde sind Sie nicht mehr sicher und wäre der Giganto zehnmal so stark!“ Die Männer sprachen jetzt heftig aufeinander ein und durcheinander - bei derart geschulten, charakterfesten Leuten ein beängstigender Vorgang. Superhirn musterte die Gruppe mit besorgtem Blick. „Einen fremden Planeten suchen! Der hat wohl
Juckpulver im Kopf? Als ob das so einfach ginge. Nein. Wir müssen im Giganto bleiben. Jetzt erst recht. Und wir müssen das Hauptquartier des Ragamuffin finden!“ „Meine Herren!“ rief Professor Charivari beschwörend. „Meine Herren! Sie sagen: Vernichtungswerk des Ragamuffin, fürchten seine wachsende Macht. Hamm will sogar auf einen anderen Planeten und die Menschen auf der Erde zurücklassen. Ich weigere mich, mit meinen Mitteln, Ergebnissen unserer Geheimforschung, einem Gegner zu weichen, den ich nicht einmal kenne und über dessen Zentrale ich im wahrsten Sinne des Wortes im dunkeln tappe!“ „Als ob das jetzt noch wichtig wäre!“ rief Sörensen. „Hören Sie, Professor, hören Sie: Die Tiervisionen als Waffe - das kam einem zuerst lächerlich vor. Nicht? Aber die letzten Meldungen, soweit ich sie zusammenkriege.“ Er holte tief Luft. „Bei einer sogenannten Freundschaftsparade von neuntausend saudiarabischen Soldaten im Libanon gab es eine Katastrophe. Die Männer glaubten sich von unreinen Tieren umringt. Von Schweinen, Professor, von Schweinen! In der ostrhodesischen Stadt Umtali sind Straßenarbeiter übereinander hergefallen. Mittlerweile breiten sich die Unruhen nun weiter in Zentralafrika aus und greifen auf die Westküste über...“ „Ganz logisch“, unterbrach der Arzt. „Bedenken Sie, welche Bedeutung Tiere in den religiösen Auffassungen uralter Stämme und Nationen haben!“ Professor Charivari nickte hastig. „Sparen Sie sich das! Weiter!“ Sörensen zog ein Kästchen aus der Tasche. „Gespeicherte Meldungen verschiedener Radiostationen, von mir gekürzt und übersetzt.“ Seine Stimme kam jetzt quäkend aus dem Minigerät: „Scotland Yard berichtet Kaufhauspanik. In einem Haufen von Westbury-Krawatten will das Publikum Schlangen gesehen haben. Institute, Anstalten und Einrichtungen sowie Treffs aller Art melden verheerende Tumulte; Universitäten, Sportstadien, Schulen, Krankenhäuser, Heime aller Art, Hotels, Parlamente, Gefängnisse, Kasernen, Opernhäuser, Theater, Banken, Filmateliers, Studios, Zirkusunternehmen...“ „Genug!“ rief Prosper. „Ich - ich will mir das gar nicht vorstellen! Ein Arzt, der eine Operation durchführt, hat auf einmal einen Löwen vor sich! In den Regierungen schlagen sich Menschenaffen! Im Kinderheim läßt 'ne Schwester ein Baby fallen, das sie für ein Ferkel hält! Und was machen die Leute in Flugzeugen, Bussen und Autos?“ „Die schlimmsten Berichte kommen aus Japan“, fuhr Sörensen fort. „Man hat dort zwei Theorien. Die erste lautet: Radioaktivität aus dem All bewirkt die Sinnestäuschungen. Die zweite: Ein amerikanisch-europäischer Anschlag, um die japanische Handelskonkurrenz auszuschalten.“ „So!“ rief Charivari mit furchterregendem Gesicht, „Ähnliches hatte ich erwartet. Und ich versichere Ihnen, das ist erst der Anfang. Die Nationen werden einander verdächtigen, chemische Kampfstoffe eingesetzt zu haben!“ „Ist schon geschehen!“ rief Sörensen prompt. „Die roten Telefone sind bereits in Betrieb. Experten ist nämlich von Anfang an aufgefallen, daß die Tiervisionen visionäre Mischwerte waren und ortsfremd auftraten. In Samoa Eisbären, in Chikago Löwentiger, in Santiago Lamalkamele, in Perth, Sydney und Wellington Elefanten, in Moskau, Teheran und Bombay Giraffen...“ „Das weist auf Psychokrieg hin!“ rief Charivari. „Allerdings! Der Ragamuffin hat seine Vavas ausgeschickt, Tiere per Gehirn aufzunehmen, um sie in die Hirne der Menschen zu strahlen. Er muß wissen, daß der Mensch die Tiere zwar nutzt, dressiert, teils sogar pflegt und liebt, aber daß das Tierische zutiefst unheimlich ist, wenn es unvermutet auftritt. Darauf beruht sein Plan - und er sieht, daß er gelingt! Kein Politiker kann ja ahnen, daß diese schauerliche Überrumpelung aus der Erde kommt. Meine Herren, Sie begeben sich schleunigst auf Ihre Stationen zurück - und ich wende das äußerste Mittel an, den Dunkelmann aufzuspüren!“ „Halt!“ warf Superhirn ein. „Was war das mit dem Ragamuffin-Foto? Und weshalb stehen, sitzen und liegen die Leute auf den Stützpunkten wie erstarrt herum? Sie sagten: Wie im Winterschlaf.“ Professor Charivari nickte. „Mir war von Anfang an klar. Der Ragamuffin ist ein Magier. Sogar sein umgesetztes, aus ,weiter Hand stammendes Bild kann Furchtbares bewirken. Aber wie ich sehe, sind einige Leute auch dagegen immun. Das gibt mir Hoffnung. Vor allem aber auch Doktor Paulsens
Bestätigung, daß es sich bei den betroffenen Leuten um eine Art Winterschlaf handelte. Nehmen Sie den Weg zurück über das Molekular-Gerät, meine Herren. Gehen Sie auf Ihre Stationen. Tun Sie Ihre Pflicht. Giganto wird das Ungeheuer vernichten!“ 9. Im Reich des Ragamuffin „Captain Biggs ließ den Hirnwellen-Analysator seltsame Zeichen auswerten“, berichtete Belmondo. „Wir haben ein bedeutendes Medium, in dessen Kopf die Zeichen zu einem Bild wurden: Dieser Mann fertigte schnell eine Phantomzeichnung an, die über Funk an alle Stationen - und dort wieder an sämtliche Abteilungen gingen. Ihr könnt von Glück sagen, daß euer Empfang gestört war. Wenn ihr das Bild gesehen hättet, wärt ihr auch erstarrt.“ „Ich ahnte es“, murmelte Superhirn. „Mir kommt da eine Idee“, sagte Tati, als die Männer das fahrende Erdschiff auf dem MolekularWeg verlassen hatten. „Rührt die Erstarrung in den Geheimstationen vielleicht vom eigenen Heilschlaf-Spray her?“ „Nein“, erwiderte Charivari entschieden. „Das im Grunde harmlose Zeug war als Waffe gegen Eindringlinge gedacht. In geringster Dosierung half es gegen die Tiervisionen. Was meine Mitarbeiter eben sagten, weist eindeutig auf magische Übertragungen hin. Die Gelehrten und Laien in aller Welt streiten sich immer wieder darüber, ob so etwas möglich ist. Ich habe technische und chemische Hilfsmittel, von denen die Menschheit nichts ahnt. Mir wiederum sind die Energien des Ragamuffin ein Rätsel.“ Prosper stieß einen schwachen Entsetzensschrei aus. Tati schien plötzlich keinen Kopf mehr zu haben. Der Pudel quietschte auf, denn Prosper hatte ihn beim Zurückweichen getreten. Micha stand mit offenem Mund. „Kinder“, murrte Gérard, „wenn wir dauernd schreien, zittern, hopsen und Maulsperre halten, besiegen wir den Ragamuffin nie! Der Professor hat doch nur einen Lichtball eingeschaltet. Geh mal zur Seite, Tati!“ Dieser durchsichtige, nicht fühlbare (nicht einmal warme) Lichtball stellte die Erde dar. Es war ein Hologramm. Auf diesem Gebilde erschienen die Kontinente schwach grünlich. Ein rötlicher Punkt stellte den Giganto dar und zeigte dem Betrachter seine jeweilige Position. Der Professor schaltete jetzt in den „Hologramm-Fahrtenschreiber“ und Erdsimulator noch einiges hinein. An etwa zwanzig Stellen glommen winzige Tupfer“ auf: unter den Ozeanen, tief unter den Kontinenten und unter den Polen. „Meine Sprengstoffdepots“, sagte Charivari. „Wir legen uns jetzt bei Madagaskar auf den Meeresgrund. Dann löse ich die Explosionen aus!“ Die Freunde sahen, wie das Giganto-Lichtpünktchen im Hologramm pfeilschnell höher und in die angegebene Gegend sauste. Nun stand es still. „Dann der Sprengstoff bestimmt nicht zum Weltuntergang führen?“ vergewisserte sich Henri. „Zum Untergang des Ragamuffin, wie ich hoffe“, murmelte Charivari. „Ich sagte ja schon, die Depots liegen überall in solchen Sicherheitstiefen, daß sie oben nur von den Erdbebenwarten registriert werden. Achtung, seht jetzt in den Lichtball. Ich zünde ... !“ Im Hologramm blitzte es mehrfach deutlich auf Die Depot-Pünktchen zerstoben. An einigen Stellen sausten Explosionsausläufer aufeinander zu, an anderen gab es eine Art „Wunderkerzen-Effekt“. „So“, sagte der Professor. „Das war's. Ihr habt gesehen, in Richtung Erdoberfläche ist nichts passiert. Die Anlage war sorgfältig eingesteuert. Die Sprengungen mögen Schichten verschoben, ausgetauscht und gemischt haben, aber zur Beschädigung eines Kontinents oder auch nur der kleinsten Insel im Pazifik konnten sie nicht führen.“ „Aber Sie glauben, Sie haben die Ragamuffin-Zentrale getroffen?“ fragte Tati. „Nein. Jedenfalls ist dies nicht sicher. Aber eines weiß ich: Der Ragamuffin - in welcher Höhle er auch sitzt - ist empfindlicher als jeder Seismograph. Er wird seine Fühler sofort einziehen. So, wir gehen jetzt auf 50.000 Meter Tauchtiefe und warten ... Ich nehme an, General Hamm oder Sörensen
werden sich bald melden, vielleicht sogar wieder Biggs. Superhirn, übernimm den Befehlstisch und teil den anderen ihre Wachaufgaben zu. Ihr kennt das ja: In einem Fall wie diesem muß jeder aufpassen!“ Schwankend vor Müdigkeit und Überanstrengung taumelte der Professor in seine Kammer. Er wollte sich für kurze Zeit ausruhen. Doch es vergingen mehr als drei Stunden, bevor etwas geschah. Wie erhofft, erschien auf dem Bildschirm in der Wand Captain Biggs. „Hallo, Giganto! Schöne Bescherung, was?“ Superhirn nahm die Meldung entgegen, daß auf sämtlichen Geheimstationen „trübes Erwachen“ herrsche. Zum Glück aber hatte es keine Toten gegeben. Außerdem sei die Wirkung des RagamuffinPhantombildes nicht nur verblaßt, sondern das Bild habe sich selber aufgelöst. „Sogar das Papier wollte die furchtbare Fratze anscheinend nicht dulden“, scherzte Biggs. „Wie sah das Bild denn aus?“ fragte Superhirn. „Zeigte es ein Menschengesicht?“ Biggs wurde ernst. „Die Rätsel nehmen kein Ende, Junge! Das Bild ist über Funk an alle Geheimstationen gegangen und dort jeder Abteilung gezeigt worden, auch in den Kantinen. Wie ich höre, kann sich niemand daran erinnern! Niemand!“ Aus seiner Kammer kam schlaftrunken der Professor. Er orientierte sich rasch und übernahm das Gespräch. „Liegen neue Weltnachrichten vor?“ fragte er den Captain. „Ja. Die Erdbebenwarten vermerkten beiläufig leichte Vibrationen. Die werden aber nirgends mit anderen Vorkommnissen in Verbindung gebracht. Unsere Agenten melden das schlagartige Aufhören der Tiervisionen. Hierüber bringen auch die Rundfunkstationen nichts Aktuelles mehr. Keine neuen Tumulte, nichts, gar nichts. Aber Zoologen, Psychologen, Astronomen, Chemiker, ja, sogar Astrologen melden sich aus den verschiedenen Studios. Sie versuchen., die Schreckenserscheinungen zu erklären. Auf den Ragamuffin kommt natürlich keiner!“ „Das möchte ich glauben“, lächelte Charivari. „Achtung! Letzte Meldung...“ rief Biggs. „Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen droht zu platzen!“ Der Gesichtsausdruck des Professors wechselte jäh. „Was soll das heißen?“ fragte er rauh. Seine Finger umkrallten den Rand der Kontrollplatte. „Die großen Nationen bezichtigen sich gegenseitig des heimtückischen Kriegsbeginns mit neuartigen Kampfstoffen“, sagte Biggs. „Sie gehen dabei von den Halluzinationen aus.“ „Aber wo ist da die Vernunft!“ brüllte Charivari los. „Wenn die Tierbilder nur in einem Land oder auf einem Kontinent in den Köpfen der Menschen erschienen wären! Mittlerweile aber weiß doch wohl jeder Staat, daß sie die ganze Welt verwirrt haben. Also müßte zunächst eine Nation sich selber mit der angeblich neuen Gehirnwaffe bekämpft haben.“ „Ich möchte mit Worten erwidern, die Sie selber benutzen“, sagte Biggs. „Wenn's das Unglück will, gibt es nicht einen einzigen besonnenen Staatsmann oder Diplomaten. Ich nehme aber an, daß die Herren zur Vernunft kommen werden. Unter einer Voraussetzung ...“ „Die wäre?“ fragte Professor Charivari bebend. „Daß der Ragamuffin endgültig zum Schweigen gebracht wird!“ erklärte Biggs düster. „So, wie ich die Lage nach der letzten Nachricht beurteile, gibt es einen Weltkrieg, falls er den Psychokrieg erneuert!“ „Daran werde ich ihn hindern“, zischte der Professor. „Ich fahre alle Sensoren aus und gehe mit Tempo G 1000 im Zickzack auf die Suche! Diesmal finde ich ihn! Verlassen Sie sich darauf. Ende!“ „Ende!“ Der Bildschirm mit Captain Biggs verschwand. „Ende!“ wiederholte Superhirn mechanisch. Er sah zu den Freunden hinüber. Sein Blick durch die großen Brillengläser verriet Sorge. Im Hologramm begann das rote Pünktchen, das den Giganto markierte, wie toll zu springen. „Das gefällt mir nicht“, sagte Tati. „Wenn ich mir vorstelle, wir rasen so verrückt durch die Erde...“ „Mir gefällt das auch nicht“, flüsterte ihr Bruder Henri. „Der Giganto mag noch so strapazierfähig
sein ...“ „... aber er ist schließlich kein Fußball“, vollendete Gérard. „Was hat denn der Professor?“ wisperte Micha. „Was zieht er da für Grimassen?“ „Er - er dreht durch!“ heulte Prosper. „Der Gedanke an den Ra-Ra-Ragamuffin macht ihn wild!“ „Still!“ mahnte Superhirn. Er wandte sich - an Charivari und sagte: „Mir ist etwas eingefallen. Vielleicht ist es etwas Dummes. Aber möglicherweise können Sie etwas damit anfangen.“ Sofort horchte der Professor auf. Sein Gesicht glättete sich. Nur die Augen behielten ihren gespannten Ausdruck. Doch jetzt aus Interesse für Superhirns Idee. „Ja?“ fragte er - wieder mit der bekannten, sanften Stimme. „Was ist?“ „Besser, Sie schalten den Giganto auf Schleichfahrt, während wir beraten“, meinte der Junge. „Wenn mein Vorschlag nämlich Hand und Fuß hat, kommen wir auf geradem Wege direkt in die RagamuffinHöhle hinein.“ Wortlos traf Charivari seine Maßnahmen. Nun zog das Erdschiff, wie man im Hologramm sah, in etwa 50.000 Meter Tiefe seine Warteschleife unter dem indischen Subkontinent. „So“, sagte der Professor. „Ich höre.“ Mit seinem Taschentuch tupfte er sich den Schweiß von seinem Kahlschädel. „Ich gehe davon aus, daß das Ragamuffin-Volk Gedanken speichern, verdichten und schießen kann“, begann Superhirn. „Ja, ja, das haben wir ja in den verschiedensten Formen erlebt“, unterbrach Charivari ungeduldig. „Diese Hirnwellen können auch Material zerstören. ja, und?“ „Ich denke mir, Sie haben längst Geräte, mit denen Sie Ihrerseits die aufgefangenen Hirnwellen gespeichert haben.“ Wie abwesend strich sich der Professor den lackschwarzen Strippenbart. „Du würdest nicht Superhirn heißen, wenn du darauf nicht gekommen wärst. Es stimmt. Ich habe Ragamuffin-Gedanken gespeichert. Sogar an Bord des Giganto befinden sich mehrere Batterien mit Gedankenwellen in einer Isolierkammer.“ „Wozu denn?“ fragte Tati erstaunt. „Ursprünglich für zweckfreie, innerirdische Versuche“, antwortete der Professor. „Du weißt, es gibt eine zweckgebundene Forschung, etwa zur Herstellung von Baustoffen aus Müll. Aber die Wissenschaft stellt auch reine Experimente an - einfach, um zu erfahren, wie sich dieser oder jener flüssige oder gasförmige Stoff bei seiner Freisetzung verhält. Mit den Ragamuffin-Hirnwellen kann ich an der Erdoberfläche keine Versuche anstellen. Das wollte ich später einmal, irgendwann, in der Erde tun. jetzt bringt mich Superhirn aber auf die Idee, sie als Waffe zu verwenden.“ „Gegen den Ragamuffin selber?“ rief Henri. „Großartiger Gedanke! Sein Hauptquartier soll mit seinen eigenen Hirnwellen torpediert werden! Ob das klappt?“ „Wahrscheinlich“, sagte Charivari. Seine Augen funkelten. „Damit könnte ich dem Unhold das Handwerk legen. Wohin sollten freigelegte Ragamuffin-Wellen, die durch die Speicherung ziellos geworden sind, hin - wenn nicht zurück zum Absender?“ Er war so aufgeregt, wie ihn die Freunde nie erlebt hatten. „Das Monster mit seinen eigenen Waffen schlagen“, murmelte er. „Ja ...“ „Worin haben Sie denn die Gedanken gespeichert?“ erkundigte sich Gérard. „In 'ner Stahlflasche, wie Preßluft?“ „Wenn's nicht bitterer Ernst wäre, könnte ich jetzt lachen“, erwiderte Charivari. „Die RagamuffinStrahlen sind in Kandiszucker gespeichert.“ Aber Micha kicherte doch. „Kandiszucker?“ rief er ungläubig. „Sie wollen den Verbrecher mit Bonbonregen beschießen - wie auf einem Kinderfest?“ „Na, ein Kinderfest wird das bestimmt nicht“, wies Superhirn ihn zurecht. „Laß dir das lieber erklären!“ „Zufällig eignet sich Kandis am besten zur Speicherung der innerirdischen Hirnwellen“, bestätigte der Professor den Einwurf. Das hängt mit der doppelten Ordnung der Atome zusammen. Wenn ich nun die Hirnwellen freisetzen will, brauche ich dem Kandis nur Wasser zuzusetzen. Dann löst sich
nämlich der Zuckerkristall und gibt sie frei! Je wärmer das Wasser, desto schneller der Vorgang!“ „Ja, worauf warten Sie noch?“ rief Superhirn. „Schießen Sie die gekapselten Ragamuffin-Wellen ab, und wir verfolgen ihren Weg zur Zentrale im Hologramm!“ „Aber - aber, wenn die Hirnwellen nicht zur Ragamuffin-Höhle zurückströmen, sondern über der Erde explodieren“, rief Prosper entsetzt. „Ich halte das kaum für möglich“, überlegte Charivari. „Aus dem einfachen Grund: Den von uns erfaßten Wellen fehlt das einstige Ziel und die einstige Absicht. Entweder, sie verpuffen schadlos wie feuchtes Schießpulver - oder sie nehmen stracks den Weg zum Ragamuffin als der einzigen, vollkommen klaren Ziel-Orientierung!“ „Leuchtet ein“, nickte Henri. Gérard sagte: „Also, dann kicken Sie die Dinger mal los!“ „Wenn aber so 'n Gedankentorpedo im Giganto hochgeht?“ fragte Tati. „Verpufft der Inhalt hier drin auch wie nasses Pulver.“ „N-nein...“, erwiderte Charivari zögernd. „Auf so engem Raum? Nun, aber darauf dürfen wir´s erst gar nicht ankommen lassen. Ich gehe jetzt in die Isolierkammer und mache die Gedankentorpedos scharf. Ihr bleibt hier und rührt euch nicht vom Fleck.“ Charivari verschwand rasch in der Schleuse. Geisterbleich starrten die Gefährten einander an. „Wenn das bloß gutgeht!“ seufzte Tati. „Du bist ja sehr klug, Superhirn, aber du hast nicht bedacht, daß Charivaris Leute allein schon durch die Ragamuffin-Bildaufzeichnung erstarrten!“ „Ja ... !“ rief Prosper. „Was ma-machen Wir, wenn wir das Un-Un-Ungeheuer leibhaftig sehen... ?“ „Wir lösen uns in Rauch auf“, vermutete Micha. „Dich lutscht der Ragamuffin als Bonbon“, grinste Gérard. Doch man sah ihm an, daß ihm eine Begegnung mit dem unheimlichen, innerirdischen Machthaber alles andere als erwünscht war. „Es könnte zu einem Kampf kommen“, meinte Henri. Superhirn sagte: “Wir werden sehen. Erst muß ja die Ziel-Erkennung klappen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, daß Charivari den Ragamuffin mit dessen eigenen Gedanken schlägt, erschlägt...“ Atemlos kam der Professor in die Zentrale. „Es geht los!“ rief er. „Zehn Kapseln sind in den Abschußrohren. Wir werden das im Hologramm sehen: Die abgeschossene Gedankenladung dient unserem Schiff als Lotse oder Vorreiter. Und wenn sie uns tatsächlich in das Hauptquartier führt...“ Er unterbrach sich und machte sich am Befehlstisch zu schaffen. „Superhirn, du verfolgst unseren Weg im Hologramm. Henri, du assistierst mir hier. Micha! Achte von jetzt ab genau auf den Pudel! Du meldest mir die geringste Abweichung vom Normalverhalten. Gérard und Prosper! Ich schalte alle möglichen Vorgänge und Werte in Zahlen, Sichtzeichen und Figuren vom Befehlstisch in die Wände. Kontrolliert sie mit! Gefahr-Informationen, die sich selber einschalten, fallen sofort auf Sie sind scharf silbrig-violett und tun den Augen weh.“ „Und was soll ich machen?“ fragte Tati. „Einen starken Kaffee, bitte“, sagte der Professor. „Kaffee? Jetzt?“ „Du hast richtig gehört, Tati. Ich brauche einen starken, heißen Kaffee! Geh bitte in die kleine Küche und mach ihn selber! Ich möchte jetzt keinen aus dem Automaten.“ „Ich kann einen Becher Kakao gebrauchen“, erklärte Superhirn. „Meine Lebensgeister schreien danach!“ „Klar“, sagte Tati bereitwillig, „ich begreife!“ Sie verschwand in der Schleuse. „Achtung! Ich zünde Gedankenrakete Nummer l“, sagte Charivari. Er zählte mit monotoner Stimme: „10 ... 9 ... 8 ... 7 ... 6 ... 5 ... 4... 3 ... 2 ... 1 ...“ „Null ...!!!“ rief Superhirn. Er starrte in den Lichtball, der die Erde darstellte, Aus dem roten Giganto-Pünktchen unter dem indischen Subkontinent löste sich ein winziges, ebenfalls rötliches Körnchen: Die erste Gedankenrakete! Alle waren furchtbar aufgeregt, auch Micha - wodurch der Pudel selbstverständlich sofort vom „Normalverhalten“ abwich. Im Moment war er als Spür- und Testhund wertlos.
„Wie bewegt sich denn dieses Gedankenpaket?“ fragte Prosper. „Wie wir“, erwiderte der Professor. „Mit der gleichen Antriebsart. Ich habe die Gedankenbomben in unsere Erdpostraketen gelegt. Die Bombe' in dieser ersten Postrakete, die ihr im Hologramm seht, tickt' schon. Das heißt, sie sendet ihren Inhalt mit Unterbrechung aus. Dieser Richtungsweisung folgt die Postrakete, und die Lenkautomatik des Giganto ist wiederum auf den Vorreiter eingesteuert.“ „Das Ding zieht uns nach Australien!“ rief Gérard. Er blickte auf eine Wand: „36.000 M/S – 13.000 km/h...“ „Ist das unsere Geschwindigkeit?“ fragte Micha. „Ja“, nickte Charivari. „Übrigens entspricht das ziemlich genau der Geschwindigkeit von Erdbebenwellen. Doch das ist Zufall.“ „Ragamuffin-Gedanken müßten aber erheblich schneller sausen“, meinte Superhirn. „Ich stelle mir vor, wie Licht im Vakuum oder Kathodenstrahlen.“ „Sicher“, bestätigte der Professor. „Nur hab ich sie sehr, sehr stark gedrosselt, sonst witschen sie mir aus der Kapsel, und wir haben keinen Lotsen mehr. Wenn die erste Rakete leer ist, zünde ich die zweite.“ „Vorsicht!“ schrie Gérard. „Gefahrenzeichen silberviolett! Umrisse der Rakete in der Wand. Dazu ein paar Zahlen!“ Charivari blickte hastig zwischen Wand und Kontrollplatte hin und her. „Aha! Eine Postrakete samt Inhalt' ist undicht. Ragamuffins Gedanken werden frei. Ich zünde sie!“ Er atmete auf. „Im Hologramm sind jetzt zwei Körnchen vor dem Giganto-Punkt. Beide streben absolut zielsicher auf irgendwas zu“, meldete Superhirn. „Aber auf was? Wir sind tief unter dem Pazifik“, sagte Henri, auf die Platte starrend. „Es wird sich doch nicht um abgesackte Wassergeister handeln?“ „Ich muß die Lotsen-Raketen drosseln und die Gedanken-Spürstrahl-Düsen auf ein Minimum einengen“, murmelte Charivari. „Wir dürfen nicht mit solchem Tempo auf ein unbekanntes Ziel stoßen.“ Tati brachte die Getränke. „Brauchen wir nicht Schutzanzüge? Ich meine, für alle Fälle?“ fragte sie. „Unser Schutzanzug ist der verstärkte Giganto“, sagte Superhirn. „Auf was anderes können wir uns jetzt nicht mehr verlassen.“ „Ich möchte nur wissen, ob wir richtig kalkulieren“, überlegte Professor Charivari. Er beugte seinen gelblichen Kahlschädel über das Pult, um die Positionsweite abzulesen. „Ich hätte den innerirdischen Staat zwischen erstarrtem Magma in abgesackten Vulkankaminen unter den Mittelmeerinseln. vermutet. Oder in Hohlräumen unter Tibet. Es gibt noch eine Reihe von Theorien und Mythen, Spekulationen und Sagen, die vom untergegangenen Volk der Atlanter erzählen.“ „Die vermutet man aber überall“, warf Henri ein. „Mal in Spanien und in der Nordsee bei Helgoland, mal im Atlantischen Ozean. Neuerdings wieder in der Ägäis. Das Volk, von dem der Grieche Platon schon vor über 2000 Jahren schrieb. Das meinten Sie doch zuerst?“ „Das ist alles überprüft, oder es wird zur Zeit wissenschaftlich erforscht. Nach einem Ragamuffin aber riecht bisher kein einziger Eimer Asche aus Erd- und Tiefseeproben“, sagte Charivari. „So. Ich zünde jetzt die dritte und vierte Rakete!“ Superhirn starrte ins Hologramm. „Die beiden ersten Vorreiter irren vom Weg ab“, stellte er fest. „Sie sind leer“, meinte Henri. „Ihre Wellenladung ist verpufft. Die nächsten zwei übernehmen dafür die Führung.“ „Genau“, bestätigte Superhirn. „Ich will euch ja nicht erschrecken“, wandte Tati ein. „Aber ihr spracht da von Sagen und Überlieferungen, an denen etwas sein könnte. Es soll doch auch das Ungeheuer Typhon in der Erde geben. Ein Monster, das Felsen schleudern und Feuer husten kann.“ „Ja, Feuer aus dem Vesuv“, grinste Gérard.
„Was grinst du über ein Monster, wenn wir eben dabei sind, ein Monster zu suchen?“ ereiferte sich Prosper. „Und gerade findet in Bremen ein Kongreß statt, auf dem die Gelehrten über außerirdische, unbekannte Lebewesen diskutieren!“ „Das ist was anderes“, murmelte der Professor. „Man meint dabei nicht Lebewesen im menschlichen Sinn, sondern biologische Kleinstformen, die vielleicht nur unter Elektronenmikroskopen zu erkennen sind.“ „Die Karte von Afrika riesengroß in der Wand!“ meldete Gérard. Er verbesserte sich sofort: „Südamerika!“ „Wir steigen!“ rief Superhirn erregt. „Die Leuchtkarte in der Wand verschiebt sich“, sagte Prosper. Jetzt taucht Mittelamerika auf. Wir sehen das ganze Gebiet von Panama bis Süd-Mexiko immer größer und größer!“ „Nun nur noch Guatemala! Nur noch Guatemala!“ rief Tati. „Die Lotsenraketen stehen!“ schrie Micha. Er blickte mit Superhirn ins Hologramm. „Guatemala“, wiederholte Charivari. Er verglich die Hologramm-Position mit der Wandkarte und den Informationen in der Befehlsplatte. Dann sagte er: „Guatemala, Regierungsbezirk Alta Verapez exakt!“ „Im Hologramm bersten die Führungspünktchen“, meldete Superhirn. „Das heißt, wir stehen vor dem Ragamuffin-Quartier.“ „Tiefe: 10 000 Meter.“ Der Professor schüttelte verwundert den Kahlschädel. „Das ist nicht viel. Er und sein Volk müssen also doch den Stahlnickelkern der Erde als Gedankenreflektor benutzt haben. Es ist ihnen stets gelungen, uns irrezuführen!“ „Die Frage ist, was ihnen jetzt gelingt“, bibberte Prosper. Plötzlich bellte Loulou wie wahnsinnig. Und Tati schrie: „,Au, au, meine Augen!“ Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht und wälzte sich auf dem Fußboden. „Todeswellen dringen ein!“ heulte Micha. ,.Nein, es ist das Warnlicht“, brüllte Gérard. „Sehr starkes Warnlicht in den Wänden, Professor!“ Charivari schaltete das Warnlicht aus und zündete die letzten Raketen. Auf dem Hologramm war zu sehen, daß sie unmittelbar vor dem Giganto regelrecht explodierten. „Wir sind direkt vor der Höhle“, meinte Henri. „Direkt davor - oder bereits drin!“ „Nur nicht aussteigen!“ flehte Prosper. „Nur keinen Außenfunk anstellen!“ Wumm! Den Giganto traf ein mörderischer Schlag, der das Gleichgewichtssystem sekundenlang ausfallen ließ. „Schnellstart!“ rief Henri. „Durchstarten - und nichts wie weg hier! Hören Sie nicht? Der nächste Schlag kann uns zerschmettern!“ Doch das Schiff lag ganz still. Superhirn äugte zur Wand. „Sonderbar. Der Außendruck entspricht annähernd normalem Luftdruck, wenn ich die Zeichen richtig deute. Sauerstoffgehalt, Feuchtigkeitsgehalt - der ist allerdings ziemlich hoch -, Fremdstoffe unter Gefahrenwert. Ich lese da aber unter dem Gefahrenzeichen Totenkopf die Worte Histoplasma Capsulum.“ „Der wahre Name des Ragamuffin!“ meinte Micha. „Nein“, sagte Charivari. „Aber die Überraschung ist trotzdem groß genug. Der Fluch des Pharao.“ „Waaas? Der gehört doch nach Ägypten!“ rief Gérard. „Da sterben doch immer die Archäologen, wenn sie in die Königsgräber eindringen und nach dem Glauben der alten Ägypter das Grabmal entweiht haben. Oder wie ist das? Außerdem sind wir doch unter Guatemala in Mittelamerika!“ „Der sogenannte Fluch des Pharao ist ein alter Aberglaube“, entgegnete Charivari. „Tatsächlich hat er mit den alt-ägyptischen Königsgräbern zu tun und mit dem Gerücht, der Tod ereile jeden, der die geheiligten Kultstätten betrete. Bis 1958 waren Todesfälle unter Archäologen in Ägypten wahrhaftig unerklärbar. Dann aber fand man heraus, daß die Betroffenen nicht dem Fluch zum Opfer gefallen waren, sondern dem 0,001 bis 0,003 Millimeter großen (oder kleinen) Spaltpilz, dessen Namen uns die elektronische Bord-Information in die Wand projiziert hat. Die Krankheit heißt danach
Histoplasmose. Und vor der sollen wir uns beim Aussteigen schützen.“ „Und vor sonst nichts?“ fragte Tati. Bevor jemand antworten konnte, ertönte über die eingeschalteten Außenmikrofone eine unendlich müde, geisterhafte Stimme: „Vor ... sonst ... nichts ... ! Steig ... aus ... !“ Die Stimme klang so unheimlich, daß es den Freunden vorkam, als müßten sie zu Eis erstarren. Doch Charivari meinte: „Der Schlag, eben, der das Schiff erschütterte - hm, das war wohl die letzte Barriere. Eine Gedankenmauer aus versiegender Kraft. Die Wände geben keine weiteren Warnzeichen. Die Macht, die uns bekämpfte, ist zerstört!“ „Seht mal, der Pudel!“ rief Micha. „Wie der sich benimmt!“ „Putzmunter“, nickte der Professor. „Die Geisterstimme hat ihn nicht erschreckt. Ein günstiges Zeichen. Er verkriecht sich nicht.“ „Sie meinen wirklich, wir können aussteigen?“ fragte Superhirn. „Ja“, erwiderte Professor Charivari. „Ich verwandle jetzt den Giganto in eine Art Wachhund. Er wird uns schützen, auch wenn wir draußen sind. Gegen den Spaltpilz immunisiert euch die Schleuse.“ Er holte ein dünnes Kristall-Stäbchen aus der Tasche und zog es auseinander wie eine Auto-Antenne. „Mein Spürstab. Durch Vibration und Verfärbung warnt er uns vor Strahlen und Gasen.“ In der Giganto-Schleuse öffnete sich die Treppenwand. Feuchte, etwas modrige Luft drang herein. Die Besatzung starrte ins Dunkle. „Also, wenn ihr mich fragt“, sagte Prosper, „ich bleibe lieber hier!“ Aber schließlich folgte auch er dem Professor hinunter in den finsteren Hohlraum ... Charivari ließ den starken Fingerring-Scheinwerfer aufblitzen und leuchtete umher. „Huuuhhh...“, schauderte Tati Und eine an der anderen!“ „Die größten Kavernen, die ich je gesehen habe“, murmelte Charivari. „Wo kommt nur die Luft her? Ein weites natürliches Röhrensystem muß für Durchzug sorgen. Das reicht vielleicht von Peru bis Mexiko.“ „Da hinten ist Licht, helles Licht“, wisperte Henri. „Da ist die Zentrale des Ragamuffin! Ich wette!“ „Die Wette hast du schon gewonnen“, flüsterte Gérard zurück. „Aber wenn der Kerl etwa doch noch ein bißchen Kraft hat, haut er uns um!“ Ohne Vorwarnung nestelte Charivari an einem Knopf seines Befehlsanzugs: Das löste über Funk ein ganzes „Orchester“ grauenhafter künstlicher Schreie im Giganto aus. Prompt warf sich Micha zu Boden. „Mensch, das ist doch nur Abschreckung!“ schrie Gérard ihm ins Ohr. Er half dem Jungen hoch. „Die Wände sind so gespenstisch grün“, bemerkte Prosper, als Charivari das „Gebrüll“ des Erdschiffes durch Fernschaltung wieder abgestellt hatte. Der Professor leuchtete umher. „Grün sind die Wände schon, aber nicht gespenstisch“, sagte Superhirn. „Was du siehst, ist nichts anderes als Grünspan.“ Sie kamen dem gleißenden Zentrum des innerirdischen Labyrinths näher und näher. „Das sind ja riesige Höhlen!“ „Was machen wir, wenn sie uns gefangennehmen?“ bibberte Tati. „Es ist so schrecklich still, ich höre nur das Rauschen von Wasser! Vielleicht lauert der Ragamuffin mit seinen Vavas irgendwo, um uns zu überfallen?“ „Denken Sie daran, was allein die Phantomfratze des Ungeheuers angerichtet hat!“ warnte Henri. Der Professor schwenkte seinen Kristallstab. „Das Ding ist nicht nur ein Spür-, sondern auch ein Abwehrgerät. Ich kann damit eine Höhle zum Einsturz bringen.“ „Komisch! Wir gehen auf 'ne enorme Bahnhofshalle zu“, meinte Micha. „Jedenfalls ist's da so hell. Aber man hört nichts! Man hört nur Quellen rauschen!“ Urplötzlich ertönte vor ihnen wieder die tiefe, geisterhafte, müde Stimme. „Kommt her! Ich kenne euch. Ich kenne eure Sprache, wie ich alle Sprachen kenne. Ich tue euch nichts!“ „Da-das ist eine Fa-Fa-Falle“, schluckte Prosper.
Aber schon hopste der Pudel in die Richtung, aus der die erschöpfte Stimme erklungen war. Und auf einmal überwog bei allen die Neugier. Sie tappten schweigend in eine blendend erleuchtete, tempelartige Höhle voller Stalaktiten und Stalagmiten. In den Wänden und im Boden strahlten bizarr geformte Tropfsteine wie merkwürdig bunte Lampen. Hier gab es nichts Künstliches: Alles war rätselhafte Natur. Man sah nichts Technisches, keinen einzigen Gebrauchsgegenstand, nicht einmal einen hölzernen Stuhl. „Da...“, hauchte Superhirn. Er riß sich die Brille von der Nase, um die Gläser zu putzen. Er glaubte nicht richtig gesehen zu haben. Auf einem mehrstufigen Sockel aus leuchtendem Gestein stand eine mannsgroße, menschliche Gestalt. Grauhaarig, graugesichtig, in einem grauen, langen Gewand. Selbst Charivari stockte beim Anblick dieses Götzenbildes der Atem ... Doch das „Götzenbild“ war ein menschliches Wesen, ein sehr, sehr alter Mensch. Nur an seinen großen, matt und matter schimmernden Augen war zu erkennen, daß er noch lebte. Die unheimliche Würde, die von ihm ausging, verriet: Das war der Ragamuffin! Sprachlos standen Charivari und die Gefährten vor diesem lange gesuchten, geheimnisvollen Wesen. An ihre Ohren drang unablässig das Murmeln ferner Quellen. Micha packte Gérards Arm: In der Ferne, aus der das Rauschen kam, schnüffelte der Pudel umher. Dort war ein Durchgang, bewacht von einer Schar aufrecht stehender Gestalten. Es waren sechzig, siebzig wie zu Stein erstarrte, grauhaarige, graugewandete Männer: das Volk der Vavas! „Ihr habt meine Macht gebrochen“, sagte der Ragamuffin ruhig. „Ihr habt mich mit meinen eigenen Gedanken geschlagen. Das hätte ich befürchten müssen, doch daran habe ich nie gedacht. So ist es meine Schuld, daß wir erlöschen.“ „Erlöschen?“ fragte Charivari erstaunt. „Wer seid ihr?“ „Namenlose“, erwiderte der innerirdische Fürst. „Wahrscheinlich vergessene Mayas“, flüsterte der Professor. „Eine Priesterkaste“, murmelte Superhirn. „Oder Ausgestoßene!“ Der Mann, der seinen Namen nicht nannte, doch für die Gigantofahrer auch weiterhin der „Ragamuffin“ blieb, war sichtlich der „Oberpriester“. „Wir sind die Hüter des Reinen Wassers, das ihr rauschen hört“, sagte er. „Und wir waren schon uralt, als die weißen Eroberer kamen. Wir sind Jahre und Jahre von Höhle zu Höhle in immer größere Tiefen gestiegen, dem Wasser nach, bis dorthin, wo es die vielfache Kraft hat. Das Wasser hat uns die Macht des Willens gegeben, der die Steine zum Leuchten bringt und uns befähigt, unsere Körpergröße zu verändern, uns an die Erdoberflächen zu schießen und Gedankenblitze wie Pfeile zu schleudern. Wir arbeiteten nicht, wir aßen nicht, wir saßen nur und dachten nach.“ „Nein, das ist wohl umgekehrt“, sagte Charivari. „Ihr saßet und dachtet nach. Jahre, Jahrhunderte. Dann hat euch etwas irritiert. Ihr habt Erschütterungen verspürt. Von unterirdischen Atombombentests vielleicht. Denn ihr müßt ein sehr feines Gehör besitzen. Nun habt ihr verkapselte Späher nach oben geschickt. Die haben in ihren klugen Köpfen alles gespeichert, was sie sahen und hörten. In kurzer Zeit habt ihr alles Neue auf der Welt erfaßt und gespeichert, nichts Vorhandenes ausgelassen. Nicht einmal die Tiere in Grönland und in Australien. Alles habt ihr erfaßt, sage ich - aber ihr habt wenig begriffen. Die Technik ängstigte euch, der Technologe war euer Feind, wie ihr meintet. Und deshalb begann der grausige Kampf!“ „Wir mußten das reine Wasser vor Fremdem bewahren“, entgegnete der Ragamuffin ruhig. Und er wiederholte: „Aber unsere Gehirne sind zerstört, unsere Kräfte erloschen, weil ihr uns mit unseren eigenen Gedanken erschlagen habt. Mit unseren eigenen Waffen!“ „Das muß entsetzlich für sie gewesen sein!“ murmelte Gérard. „Wie ein Bumerang“, flüsterte Superhirn. „Lebt wohl“, hauchte der Ragamuffin mit letzter Kraft. „Hier habt ihr keine Feinde mehr...“ Seine Augen glühten noch einmal auf, dann wurden sie grau. Die leuchtenden Steine erloschen langsam. Gleichzeitig sank die reglose Gestalt auf dem Sockel in sich zusammen.
„Scheinwerfer an!“ schrie Prosper. „Schnell, zurück zum Giganto! Hallo, seid ihr noch da? Ich möchte nicht auch au-au-aufgelöst werden! Vielleicht ist das Erdschiff schon ka-ka-kaputt ... !!!“ Charivari ließ seinen Fingerring-Scheinwerfer aufblitzen. Micha rief erleichtert: „Der Giganto ist noch da!“ ,Aber wo sind die Männer? Die Vavas des Ragamuffin?“ fragte Henri. „Weg!“ sagte Superhirn rasch. „Genauso aufgelöst wie der Ragamuffin selber!“ „Hört mal! Das Rauschen ist versiegt!“ bemerkte Tati. „Das Wasser rinnt nicht mehr!“ „Spuk“, brummte Gérard. „Aber wollen wir nicht ein kleines Andenken mitnehmen, damit wir wissen, daß wir nicht geträumt haben?“ „Ich müßte Gesteinsproben sichern, vor allem aber etwas von dem Wasser“, entgegnete der Professor ernst. „Aber ich glaube, das darf ich nicht. Hier ist für den Wissenschaftler eine Grenze. Diese Vavas, die längst nicht mehr zur Welt gehörten, sollen ihren Frieden haben. Das ist weder etwas für Gelehrte noch für Touristen, Gott bewahre! Genauso wenig kann ich mir das RagamuffinVolk auf der Erde vorstellen: vielleicht als Rentner auf dem Land - oder als städtische Altenheimbewohner? Nein, nein. Ihr Geheimnis und ihre rätselhafte Beziehung zu dem reinen Wasser soll nicht bekannt werden, ebenso, wie ich meine technologischen Geheimnisse gewahrt haben will.“ Schon zwanzig Minuten später kurvte der Giganto auf Wartebahn tief unter dem Atlantik. Die Gefährten telefonierten mit ihren Eltern und berichteten von einem Schiffsausflug, den sie gemeinsam unternommen hatten. Sie erfuhren, daß alle Angehörigen und Freunde die Verwirrung der letzten Tage gut überstanden hatten. Beruhigt konnten sie ihre Kabinen aufsuchen. Während sie schliefen, meldeten sämtliche Geheimstationen dem Professor übereinstimmend, die Spannungen zwischen den Nationen seien auf „normales Maß“ zurückgegangen. Die Halluzinationen, so meinten jetzt viele Gelehrte, müßten durch ein kosmisches Störungsfeld entstanden sein. „Gut, daß man die Ursache im All sucht - und nicht in der Erde“, lachte Professor Charivari erleichtert. „Sonst hätte sich am Ende keiner mehr zu baggern, zu bohren und zu schippen getraut! He, Biggs, ich bringe jetzt die Kinder zu ihrem Ferienort am Meer zurück!“ Die letzten Worte hatten Superhirn und Micha gehört. Schlaftrunken standen sie im Eingang der Zentrale. „Was?“ fragte Micha enttäuscht. „Ohne Essen sollen wir von Bord? Wo doch oben das herrliche Restaurant ist?“ „Na, dann weckt mal die anderen“, lächelte Charivari. „Ich habe eben durchgegeben: Giganto meldet: Ziel erreicht! Keine Gefahr mehr aus der Erde!“ „Und das muß schließlich gefeiert werden“, grinste Superhirn. Waff! machte der Pudel, der sich zwischen den Jungen hindurchdrängte. Waff, woff, wuff . . .!!!
Ende