Prozesse sprachlicher Verstärkung
Linguistik ⫺ Impulse & Tendenzen Herausgegeben von
Susanne Günthner Klaus-Peter Konerding Wolf-Andreas Liebert Thorsten Roelcke 37
De Gruyter
Prozesse sprachlicher Verstärkung Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung Herausgegeben von
Rüdiger Harnisch
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022385-9 e-ISBN 978-3-11-022386-6 ISSN 1612-8702 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandabbildung: Marcus Lindström/istockphoto Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Nach einer Ära intensiver Beschäftigung der Forschung mit Prozessen der formalen und semantischen „Abschwächung“ und ermutigt durch die in jüngerer Zeit zunehmend dazwischengestreuten Bemühungen, auch Prozesse in den Blick zu nehmen, die dem entgegen gerichtet sind, schien es an der Zeit, sich einmal ausschließlich „Prozessen sprachlicher Verstärkung“ zu widmen. Dazu diente ein gleichnamiges Symposium, zu dem der Herausgeber im Spätherbst 2005 nach Passau eingeladen hatte. Er dankt allen, die gekommen sind und ihre Beiträge für den vorliegenden Sammelband zur Verfügung gestellt haben, für die auch auf Thementagungen nicht selbstverständliche Bereitschaft, sich ganz auf die vorgegebene thematische Engführung einzulassen. Das gilt auch für einen Beitrag, der auf einen Gastvortrag im Sommer 2006 zurückgeht, und für drei Originalbeiträge zu diesem Band (siehe Einleitung, Anm. 1). Mit dem Dachkonzept „Verstärkung“ sollte ein weiteres Desiderat angegangen werden. Bisher überwog die isolierte Betrachtung von Prozessen, deren Gleichartigkeit und Gleichgerichtetheit nicht oder nicht ausreichend erkannt wurde. Was haben kindersprachliche Reanalysen wie die der Wortform sauber als Komparativ saub-er (mit Positiv saub und Superlativ saub-st-), der weiße Neger Wumbaba (aus Matthias Claudius’ der weiße Nebel wunderbar) oder die Begründung für das „schönste deutsche Wort“ Habseligkeiten (ȧgeringe Habe, mit der man gleichwohl selig ist’) mit Sprachspielen wie der Schlagzeile Schlussstrich (für ȧBeendigung einer Prostituiertentätigkeit’), mit der Sprachkritik am Ausdruck Gastarbeiter oder am „Unwort“ Humankapital zu tun? Was haben diese zeichengebundenen Interpretationsprozesse mit gebrauchsgebundenen gemeinsam, die Wörter wie Selektion konnotativ auf eine Bewusstseinsebene heben, auf der sie ihre denotative ‚Unschuld’ verlieren? Antworten darauf versucht der Einleitungsbeitrag, in dem eine Typologie von „Prozessen sprachlicher Verstärkung“ skizziert wird. Ferner sollte deutlich gemacht werden, dass nicht nur Form Bedeutung sucht, sondern Bedeutung auch – oft zusätzliche, deutlichere – Form. Vorgänge in beide, inverse, Richtungen stellen „Verstärkungs“-Prozesse dar, die sich einmal in der Semantisierung formaler Substanz niederschlagen (s.o. die Reinterpretation des er von sauber als Komparativsuffix), das andere Mal in der redundanten Substanziierung von Bedeutung (wie bei pleonastischen Superlativen des Typs einzig-st).
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Vorwort
Nicht zuletzt soll mit diesem Band ein Gegengewicht zu dem in der Linguistik immer noch dominierenden ‚hermogenetischen’ Postulat der Arbitrarität sprachlicher Zeichen gesetzt werden, indem herausgestellt wird, auf welcher Spannbreite von semiotischen Vorgängen ein nicht eben geringer Grad von ‚kratyleischer’ Motiviertheit der Zeichen sichtbar wird. Den Herausgebern der Reihe „Linguistik – Impulse und Tendenzen“ sei herzlich dafür gedankt, dass sie das Buchprojekt mit großem Interesse wissenschaftlich begleitet und, vermittelt über Susanne Günthner, manche Verbesserung angeregt haben, dem Cheflektor des Verlags Walter de Gruyter, Dr. Heiko Hartmann, ebenso herzlich dafür, dass er den Band in das Verlagsprogramm aufgenommen und das Projekt in verlegerischer und redaktioneller Hinsicht sehr konstruktiv betreut hat. Viel Energie, Mühe und Verbesserungswillen haben die Mitarbeiter Frederik Weinert und Dr. Igor Trost in die technisch nicht immer einfache Herstellung der Druckvorlage investiert – auch dafür großen Dank. Passau, im Herbst 2009
Der Herausgeber
Inhalt
Einleitung Rüdiger Harnisch Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse . . . . . . . . . . . 3
Semantische Verstärkung formaler Substanz, oder: Form sucht Bedeutung Sekundäre semantische Motivierung: Volksetymologie und Affix-Reanalyse Ilse Wischer Sekretion und Exaptation als Mechanismen in der Wortbildung und Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Horst J. Simon „Exaptation“ in der Sprachwandeltheorie. Eine Begriffspräzisierung . . . 41 Ludwig M. Eichinger „… es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ Remotivationstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Elke Ronneberger-Sibold … und aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba. Lautgestaltprägende Elemente bei der Schöpfung von Mondegreens . . . 87 Günter Koch Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe . . . . . . . . . . . . . . . . 107
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Inhalt
Damaris Nübling Von Schreiner zu Schreinert oder: Auf dem Wege zu einem onymischen Suffix? Der -ert-Ausgang als Ergebnis eines onymischen Verstärkungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Thomas Stolz Ein Index will nach oben, oder: Ein Weg zur Grammatikalisierung innerhalb der Wortgrenzen . . . . . 157 Semantische Verstärkung, De-Idiomatisierung und Re-Kontextualisierung Gabriele Diewald Zum Verhältnis von Verstärkungsprozessen und Grammatikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Alwin Fill De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung als spannende Sprachstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Martin Wengeler Entwicklungsländer, Gastarbeiter, Schwangerschaftsunterbrechung. Formen und Funktionen semantischer Remotivierungen im öffentlich-politischen Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Horst Dieter Schlosser Sprachliche Verstärkungen in öffentlicher Sprachkritik. Erfahrungen und Perspektiven am Beispiel der Wahl von „Unwörtern des Jahres“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Hans-Werner Eroms Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse . . . . . . . . . . . . . 245
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Inhalt
Semantische und formale Verstärkung, oder: Bedeutung sucht Form Johan van der Auwera / Ewa Schalley / Gunther De Vogelaer Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz bei Imperativen, Konjunktionen und Antwortpartikeln . . . . . . . . . . 269 Ulrike Krieg-Holz Von Bilchmäusen und Entwicklungsprozessen. Zum Verstärkungsmotiv in der deutschen Wortbildung . . . . . . . . . 307 Igor Trost Die semantische und die grammatische Sekretion am Beispiel der Komparativpositive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Ulrich Detges Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation . . . . . . . 341
Register Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Sprachen- und Sprachfamilienregister . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Einleitung
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Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse 1. Problemaufriss Es fehlt nicht an Untersuchungen, die sich mit Statusminderungen sprachlicher Einheiten auf der Skala der Konstruktionsebenen befassen, mit Prozessen also, bei denen aus Phrasen komplexe Wörter werden, aus komplexen Wörtern Simplizia, aus Simplizia Affixe, aus Affixen pure lautliche Substanzen von Morphemen, wobei jede formale Abschwächung von semantischer Ausbleichung begleitet ist. Man kann diese Vorgänge von Statusminderung bei gleichzeitiger Desemantisierung, einem neueren und präzisierenden terminologischen Vorschlag von Lehmann (2002) folgend, Grammatikalisierung nennen. Damit verbunden sind, nicht weniger oft beschrieben, Prozesse, die auf einer Skala von Komplexitätsgraden sprachlicher Einheiten von analytischen und im weitesten Sinne kompositionellen, transparenten Strukturen zu synthetisch-holistischen, opaken Strukturen führen. Wieder Lehmann (2002) folgend, kann man solche Vorgänge als Lexikalisierung bezeichnen. Grammatikalisierung und Lexikalisierung in diesem streng auf die Parameter der Konstruktionsebenen und der Komplexitätsgrade gestützten Sinne (Grammatikalisierung verstanden als Abstieg auf der Konstruktionsebenen-Leiter, Lexikalisierung verstanden als Abnahme von Analytik hin zu größerer Kontiguität) lassen sich als Vorgänge von De(kon)struktion zusammenfassen, wenn man so will als Prozesse sprachlicher Abschwächung. Demgegenüber gibt es sehr viel weniger Untersuchungen zu Vorgängen, bei denen dieselben Parameter und Kontinua angesetzt werden, die Richtung der Prozesse auf diesen Skalen jedoch invers verläuft. Man kann sie als Prozesse sprachlicher Verstärkung bezeichnen, sie haben den Charakter des Konstruktions-Aufbaus, der Rekonstruktion. Wenn man diese Vorgänge wieder streng auf die oben beschriebenen Parameter bezieht, kann man von Prozessen der De-Lexikalisierung und DeGrammatikalisierung sprechen, ohne dabei das Unidirektionalitäts-Postulat der Grammatikalisierungstheorie anzufechten. De-Grammatikalisierung in diesem Sinne ist dann der Aufstieg sprachlicher Einheiten auf der Konstruktionsebenen-Leiter (von purer Lautsubstanz zu morphologi-
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schem Status, von gebundener Morphemik zu freier, von simplizischen zu Kompositionsstrukturen, von Komposita zu Phrasen), verbunden jeweils mit semantischer Aufwertung. De-Lexikalisierung in diesem parametergebundenen Sinne ist dann die Herstellung von analytischen und transparenten Strukturen aus synthetischen (holistischen) und opaken Gebilden. Einige jüngere Sammelbände zur Grammatikalisierung haben auch diesen Verstärkungsprozessen einen gewissen Raum gegeben. In den „New reflections on grammaticalization“ von Wischer/Diewald (2002) sind, was reziproke Prozesse betrifft, nicht nur „New reflections on grammaticalization and lexicalization“ (Lehmann 2002) enthalten, sondern etwa auch „More thoughts on degrammaticalization“ (van der Auwera 2002). Im Themenheft zur „Grammatikalisierung“ von Diewald (2004) wird beispielsweise auf „Submorphematische Motiviertheit“ (Leiss 2004) ebenso eingegangen wie auf „Verstärkungsprozesse“ in Form des „Rekonstruktionellen Ikonismus“ (Harnisch 2004). In dem der „Grammatikalisierung im Deutschen“ gewidmeten Band von Leuschner/Mortelmans/ De Groodt (2005) gibt es Überlegungen zur „Grammatikalisierung und De-/Regrammatikalisierung der deutschen Pluralmarker“ (Wegener 2005). Solche verstärkenden, auf der Konstruktionsebenen-Skala aufwärts gerichteten Prozesse wurden programmatisch bereits in den Titel des Sammelbands von Fischer/Norde/Perridon (2004) aufgenommen: „Up[!] and down the cline“. Von einer Mitherausgeberin dieses Bandes schließlich erschien vor kurzem eine Monographie, die explizit dem Thema „Degrammaticalization“ gewidmet ist (Norde 2009). Trotz solcher vereinzelten Ansätze sind die Aspekte sprachlicher Verstärkung in der Diskussion über Grammatikalisierung und sprachliche Motiviertheit immer noch sehr gering gewichtet. Ihnen soll deshalb der vorliegende Band ganz gewidmet sein. 1 Er versteht sich damit einerseits als Widerpart und Komplement der Grammatikalisierungs-Forschung und ihren zentralen Theoreme. Anderseits soll er aber nicht auf Vorgänge beschränkt bleiben, die den klassischen Grammatikalisierungs-Prozessen direkt entgegengerichtet sind, sondern um Erscheinungen erweitert werden, die ebenfalls Verstärkungen darstellen und der De-Grammatikalisierung und De-Lexikalisierung im eingangs parametrisierten Sinne wesens-
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Er versammelt die Beiträge eines Symposiums über „Prozesse sprachlicher Verstärkung“, das am 18. und 19. November 2005 am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Passau abgehalten wurde. Über diese Tagung ist von Koch (2006) und Trost (2007) in Fachorganen berichtet worden. Bis auf die Vorträge von Werner Abraham und Elisabeth Leiss sind alle Beiträge zum Symposium hier abgedruckt. Hinzugekommen sind Originalbeiträge von Günter Koch, Ulrike Krieg-Holz und Igor Trost sowie ein Beitrag von Ludwig M. Eichinger, der auf seinen Gastvortrag vom 21. Juni 2006 an der Universität Passau zurückgeht und dessen Vortragsform beibehalten wurde.
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verwandt sind, ohne dass diese innere phänomenale Nähe bereits ausreichend aufgedeckt worden wäre, etwa pleonastische Bildungen oder die semantische Aufladung sprachlicher Einheiten aus Weltwissensbeständen. Bezogen auf die Gesamtheit der unter dem Leitaspekt der Verstärkung versammelten Phänomene ist eine Typisierung vorzunehmen, der auch die Gliederung des vorliegenden Bands in thematische Blöcke folgt.
2. Semantisierung formaler Substanz versus Substanziierung von Bedeutung Es ist der gängige Blick auf das Verhältnis von Form und Bedeutung, dass man von Inhalten ausgeht, die nach Ausdruck verlangen. Es wird weit weniger darüber nachgedacht, dass vorhandene formale Substanz eine semantische Nutzung sucht, sozusagen Ausdruck nach Inhalt verlangt. Seit dem Aufkommen der Markiertheitstheorie und deren Ausarbeitung in der Natürlichkeitstheorie (Mayerthaler 1981) ist von einem idealiter bi-uniken Verhältnis von semantischen Markiertheitsgraden (rsem) und Merkmalswerten der ausdrucksseitigen Symbolisierung (rsym) auszugehen. Diese Theorie war an dem Verhältnis der semantischen Markiertheit und der formalen Merkmalhaftigkeit allerdings nur insofern interessiert, als sie die – sozusagen statischen – Relationen von Inhalt und Ausdruck evaluierte und sie je nachdem, ob ein 1:1-Verhältnis gegeben war oder nicht, als natürlich/unmarkiert bzw. als unnatürlich/markiert einstufte (siehe unten 1). In prozessualer (zeitlich dynamischer) Perspektive, hauptsächlich im Blick auf Spracherwerb und Sprachwandel, wurde dann beobachtet, ob und gegebenenfalls wie sich die – veränderbare – Symbolisierung an die – feste – semantische Markiertheit anpasste (siehe unten 2) oder auch nicht. An Beispielen für die substantivische Numeruskodierung durch Suffixe soll das im Folgenden gezeigt werden. (Damit soll nicht gesagt sein, dass sich Prozesse sprachlicher Verstärkung allein im Bereich der gebundenen Morphologie abspielen. Er dient hier nur als Prototyp, an dem gezeigt werden soll, nach welchen Präferenzen Sprecher Form-Funktions-Beziehungen gestalten.)
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(1)
statisch natürlich/unmarkiert
a.
+sem KIND-PL
: :
+sym Kind-er
b.
–sem KIND-SG
: :
–sym Kind-Ø
Der semantisch markierte Numerus PLURAL wird im Beispiel (1.a.) auf das formale morphologische Merkmal -er abgebildet. Auch der semantisch unmarkierte Numerus SINGULAR ist im Beispiel (1.b.) formal reflektiert, insofern nämlich, als er kein morphologisches Ausdrucksmerkmal braucht (dieses Faktum ist durch Ø symbolisiert). In beiden Fällen entsprechen sich die Vorzeichen von sem- und sym-Wert, beide Kodierungen sind natürlich. (2)
dynamisch
a.
b.
unnatürlich/markiert
>
+sem
:
>
+sem
:
KIND-PL
:
>
KIND-PL
:
–sem
:
>
–sem
:
RIND-SG
:
>
RIND-SG
:
–sym mhd. kint-Ø +sym vor-ahd. rind(-)er
natürlich/unmarkiert +sym nhd. Kind-er –sym ahd. rind-Ø
Der semantisch markierte Numerus PLURAL wird im Beispiel (2.a.) zunächst nicht symbolisiert (-Ø). Weil sich sem- und sym-Wert nicht entsprechen, setzt ein Verbesserungsprozess ein, der im Laufe der Sprachgeschichte den sym-Wert wieder mit dem sem-Wert in Einklang bringt. Plural wird am Ende morphologisch substanziell – durch -er – ausgedrückt. Umgekehrt ist der semantisch unmarkierte Numerus SINGULAR im Beispiel (2.b.) zunächst mit einer salienten Wortausgangssubstanz er ausgestattet, die eine mindestens pseudomorphologische Gestalt hat (deshalb Morphemgrenzzeichen, aber eingeklammert). Dieser symÜberschuss passt jedoch nicht zur semantischen Unmarkiertheit des Singulars und wird, morphosemantisch motiviert, mit der Zeit abgebaut, so dass sem- und sym-Wert wieder übereinstimmen. 2
_____________ 2
Das angedeutete morphologische Motiv ist eine innerparadigmatische Bereinigung mit dem Ende, dass die Formen des Teilparadigmas SINGULAR alle endungslos sind und die Formen des Teilparadigmas PLURAL alle suffigiert (zum Plural siehe das Beispiel unter (3)
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Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse
Vernachlässigt wurde aber selbst in der Natürlichkeitstheorie – woanders über lange Zeit sowieso – eine weitere Art der Anpassung von semantischen Markiertheits- und formalen Merkmalswerten. Eine markierte/unnatürliche Relation von fehlender Bedeutung bei gleichzeitig vorhandener (gleichsam überschüssiger salienter) formaler Substanz kann nämlich auch durch Veränderung des semantischen Werts in eine unmarkierte/natürliche Beziehung umgewandelt werden: (3)
dynamisch unnatürlich/markiert
>
natürlich/unmarkiert
–sem
:
>
+sem
:
RIND-SG
:
>
RIND-PL
:
+sym vor-ahd. rinder
+sym ahd. rind-er
Die unter (3) vorgeführte Reanalyse 3 besteht aus einer semantischen Remotivierung der ursprünglich a-morphischen, bestenfalls die flexivische Klasse kennzeichnenden lautlichen Substanz er und einer mit der Remotivierung unausweichlich verbundenen formalen Resegmentierung dieses er, das im Status zu einer nun bedeutungstragenden (affix-)morphologischen Einheit -er mit dem kategorialsemantischen Wert PLURAL erhoben („verstärkt“) wird. 4 Die durch Sekretion gewonnene Substanz war nicht für den späteren Zweck geschaffen. Bei ihrer semantischen Nutzung handelt es sich eigentlich um einen Vorgang der Um-Nutzung von Vorhandenem mit ursprünglich anderm Zweck, also um Exaptation. 5 Diesen Zusammenhang von Sekretion und Exaptation im Bereich der Morphologie (Wortbildung und Grammatik) stellt Ilse Wischer ins Zentrum ihres Beitrags zu diesem Band. Dass nicht nur funktionslose oder funktionslos gewordene formale Substanz („junk“ im Sinne von Lass 1990) umgenutzt
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unten). Auf die lautlichen und weitere morphologische Begleitfaktoren dieses komplizierten Vorgangs kann hier nicht eingegangen werden. Siehe speziell dazu Paul (1920: 215) und Wurzel (1992). Zu Kettenreaktionen aus lautlich motivierten Störungen der Morphologie und morphologisch motivierten Verfahren der Reanalyse allgemein siehe Wurzel (1996). Die Vorgänge unter (3) sind das Komplement zu den Vorgängen unter (2.b.). „Verwandlung von Elementen des Wortstammes in Flexionsendungen“ bei Paul (1920: XI, Inhaltsverzeichnis zu Kap. X. in Bezug auf das von ihm S. 215 behandelte Phänomen), „Ausscheidung“ (engl. „secretion“) bei Jespersen (1925: 370). In neuerer Zeit dazu Wurzel (1992). Das hier behandelte -er war vorher bestenfalls „morphologisch“ in dem Sinne, dass es sich um einen Marker flexivischer Klassenzugehörigkeit gehandelt hat. Paul (1920: 215) hatte das mit Exaptation Gemeinte so ausgedrückt, dass hierbei „eine ohne Rücksicht auf einen Zweck entstandene lautliche Differenzierung, durch zufälliges Zusammentreffen verschiedener Umstände begünstigt, ungewollt und unvermerkt in den Dienst eines Zweckes gezogen wird, wodurch dann der Schein entsteht, als sei die Differenz absichtlich zu diesem Zwecke gemacht.“
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werden kann, sondern auch auf irgendeine Weise schon funktionale Einheiten exaptiv umfunktioniert werden können, präzisiert Horst J. Simon in seinem Beitrag zu diesem Band. Das Prinzip, das beim Beispiel (3) am Werke ist, wird im Folgenden unter dem Stichwort der „Semantisierung von formaler Substanz“ behandelt. Dieser Art von Verstärkungs-Vorgängen ist eigen, dass gleichsam Ausdruck nach Inhalt verlangt. Das Prinzip, das dagegen beim Beispiel (2.a.) wirksam ist, wird im Folgenden unter dem Stichwort der „Substanziierung von Bedeutung“ abgehandelt. Diese Art von VerstärkungsVorgängen ist dadurch gekennzeichnet, dass Inhalt nach Ausdruck verlangt. (Die Unterart von 2.b. folgt dem Prinzip der zuletzt genannten Vorgänge auch, und zwar insofern, als ein nicht vorhandener Inhalt auch einen ihm entsprechenden Ausdruck verlangt, nämlich keinen. Dieser Typ wird im Folgenden nicht weiter behandelt.)
3. Semantische Verstärkung formaler Substanz, oder: Form sucht Bedeutung 3.1. Sekundäre semantische Motivierung: Volksetymologie und Affix-Reanalyse Lexeme als Verstärkungsprodukt Der Klassiker von Vorgängen, bei denen Form Bedeutung sucht, ist die Volksetymologie. Intransparente und meist von einem Missverhältnis zwischen umfangreicher lautlicher Substanz (Mehrsilbigkeit) und simplizisch-ungegliederter Wortgestalt geprägte unbekannte Gebilde werden in größtmöglicher Nähe zur ursprünglichen formalen Substanz (Bedingung der lautlichen Ähnlichkeit) in meist kompositionelle Gebilde umgeformt, deren bekannte Bestandteile der Bedeutung des ursprünglichen Gebildes ebenfalls so nahe wie möglich kommen sollen (Bedingung der semantischen Beziehbarkeit). 6 Ausgehend vom Siegerwort des Wettbewerbs „Das schönste deutsche Wort“ 7 , Habseligkeiten, und der laienlinguistischen volksetymologischen Begründung, es bedeute so etwas wie ‘geringe Habe, mit der man aber selig ist’, zeigt Ludwig M. Eichinger in diesem Band, dass die sekundäre semantische Um-Motivierung von -selig(keit)Bildungen zeitlich schon sehr viel früher einsetzt, als es die Kritiker dieser
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Zur lautlichen Ähnlichkeit und semantischen Beziehbarkeit als conditiones sine quibus non volksetymologischer Vorgänge siehe Olschansky (1996: 130 ff.). In einem gleichnamigen Band herausgebracht von Limbach (2005).
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Wort-Wahl wahrhaben wollten. Wenn er als Motto den Ausspruch nimmt, es müsse sich dabei doch etwas denken lassen, so sind mit dem „Sichetwas-denken-Lassen“ genau die Remotivationstendenzen gemeint, die im Untertitel dieses Beitrags stehen, also die semantische Beziehbarkeit; und mit „dabei“ ist genau die formale Gestalt des Remotivierungsgegenstands angesprochen, der die Umdeutung nahe bleiben muss, also die lautliche Ähnlichkeit. Ebenfalls Volksetymologien, wenngleich solche, die sich kommunikativ nicht bewähren müssen, weil sie im Wesentlichen monologischadressatenlos, zum Teil nur innerlich oder auch gar nicht vorgebracht werden, stellen die sogenannten „Mondegreens“ dar, die Elke Ronneberger-Sibold in diesem Band untersucht: Der schottische Balladentext (They ha’e slain the Earl of Murray) and laid him on the green wird reanalysiert als … and Lady Mondegreen und Matthias Claudius’ Vers (Und aus den Wiesen steiget) der weiße Nebel wunderbar als … der weiße Neger Wumbaba. 8 Sie stellt klar, dass es sich hierbei nicht um einen nur rezeptiven Prozess des Verhörens handelt, sondern um einen kreativen Prozess des morphosemantischen (Re-)Konstruierens 9 , der um so besser gelingt, je mehr die Bedingung geeigneter „Lautgestalten“ erfüllt ist. Konfixe als Verstärkungsprodukt Sind das Produkt volksetymologischer Verstärkungsprozesse sehr oft Komposita, stellen eine andere Art von Produkten der formbasierten Bedeutungssuche sogenannte „Wortkreuzungen“ dar, deren Bestandteile im Zuge dieser Art von Verstärkungsprozessen („lexikalische Sekretion“ nach Fradin 2000) oft Konfix-Status erreichen wie die reanalysierte Kette -minator aus Terminator mit Einkreuzung in Herminator/Schuminator usw. ‘der terminatorhafte Hermann (Maier) / (Michael) Schumacher (alias Schumi)’ usw. Auch bei diesen Reanalysen gehen Resegmentierung/Sekretion und Remotivierung der sekretierten Wortbestandteile Hand in Hand, wie in diesem Band Günter Koch an Wortspielen des obigen Typs und Ilse Wischer an Beispielen aus der Wortbildung des
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Nach dem Erfolg, den Axel Hacke mit seinen Anthologien zu „verhörten“ Lied- und andern Poem-, darunter Gebets-Texten hatte, könnte man statt von „Mondegreens“ in deutschsprachigen Zusammenhängen also ebenso gut von „Wumbabas“ sprechen (Hacke 2004, 2007, 2009). Hacke hatte seiner ersten Anthologie den Untertitel „Handbuch des Verhörens“ gegeben (Hacke 2004), was zu dem Missverständnis führen könnte, als handele es sich bei den Wumbabas nur um ein Performanz-Phänomen. Würdigt man dagegen die (re-)konstruktionelle Leistung dahinter, wird deutlich, dass man es mit einem KompetenzPhänomen zu tun hat, wie Ronneberger-Sibold betont.
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Englischen (cine-rama usw. mit Konfix -rama aus pano-rama) zeigen. Die reanalysierten Konfixe -minator und -rama sind insofern Produkte von Verstärkungsprozessen, als sie zum einen formal-segmental höheren Status (Morphologizität) erlangen und zum andern eine zur Reihenbildung fähige eigene (pseudo-) lexikalische Bedeutung annehmen. Affixe als Verstärkungsprodukt Lagen mit den Konfix-Reanalysen schon subtilere Formen von sekundärer semantischer Motivierung vor als bei den Lexem-Reanalysen der klassischen Volksetymologie, so stellen Affix-Reanalysen eine noch verstecktere Form von sublexematischer Volksetymologie dar. Exemplarisch für diesen Phänomenbereich steht in diesem Band der Beitrag von Damaris Nübling, die das Familiennamen-Suffix -ert wie in Schubert, Schreinert oder Kleinert als Ergebnis eines auch wieder re-analytischen Verstärkungsprozesses sieht. Im Zusammenhang der Unidirektionalitäts-Frage ist bemerkenswert, dass das lautliche Material für die spätere Resegmentierung und Remotivierung eines -ert-Suffixes ursprünglich aus desegmentierenden und demotivierenden Abschwächungsprozessen wie schuoh-worht > Schubert, Eber-hard > Ebert stammt. Die Lautsubstanz ert wird dann aber in einem stufenweisen Verstärkungsprozess auf die suffigale Ebene gehoben. Sie wird dann zunächst analogisches Vorbild für Suffixbildungen auf -er, bei denen dieses -er um ein t erweitert wird (Schrein-er > Schreinert). Schließlich wird das -ert zu einem ablösbaren onymischen Suffix, das an monomorphe Basen wie Klein (Klein > Klein-ert) angehängt werden kann. Die Verstärkung erfolgt hier (unter onymischen Sonderbedingungen) nicht auf eine dem Bereich der Appellativik vergleichbare Weise, d.h. nicht durch Semantisierung formaler Substanz, sondern durch Funktionalisierung formaler Substanz zu onymischen Zwecken.10 Verstärkung im Sinne von „Indexanhebung“ behandelt Thomas Stolz mit Schwerpunkt auf grammatischer Morphologie. Er geht dabei von konstruktionell ikonisch motivierten Prozessen aus, bei denen ursprünglich nicht-morphologische Teile einer Segmentkette durch Reanalyse morphologischen Status bekommen wie das Anlautphonem l des maltesischen Lexems littra ‘Brief’, das als l’ittra ‘der Brief’ (= Definitartikel l’ plus – formal neues – Lexem ittra) resegmentiert und dessen Anlautsegment l auf den Status eines grammatischen Funktionsmorphems gehoben wird. Was bei solchen additiv-konkatenativen Strukturen möglich
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Zu parallelen Beispielen für eine morphosemantische Wiederverstärkung von Lautsubstanz aus Abschwächungsprozessen im appellativischen Bereich siehe Harnisch (2000).
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ist, weist er anschließend auch für morpheminhärente (in diesem Sinne indexikalische 11 ) Merkmale baltischer und balkanischer Sprachen nach, deren morphologische Um-Nutzung vergleichbar ist etwa mit der Reanalyse („Morphologisierung“) des Umlauts in der Geschichte der deutschen Sprache, nur dass in seinen Beispielen am Ende innere konsonantische Modifikation das leistet, was vorher durch Prä- oder Suffixmorphologie ausgedrückt wurde. Auch hier ist zu beobachten, wie Produkte von Abschwächungsprozessen, hier v.a. infolge der Assimilation und der damit verbundenen Verschmelzung der Affixe mit dem An- oder Auslaut von Stämmen, funktionell wiederangehoben werden zu morpheminternen (sozusagen introflektierenden) Markern grammatischer Kategorien. 3.2. Semantische Verstärkung, De-Idiomatisierung und Re-Kontextualisierung Hatten die in Kapitel 3.1. behandelten Typen sprachlicher Verstärkung gemeinsam, dass formale Substanz erst – oder, nach verunklarenden Verschmelzungsprozessen, erst wieder – semantisch interpretiert werden musste und die Segmente, die diese Bedeutungen tragen, erst – oder dito: erst wieder – bestimmt und zugeschnitten werden mussten, sind die in vorliegendem Kapitel behandelten sprachlichen Einheiten schon vorher ausdrucksseitig fest geformt und in ihrem formalen Zuschnitt schon vorher Träger einer wie auch immer gearteten, „schwächeren“ oder „stärkeren“, Bedeutung. Dem Anliegen dieses Bandes nach interessieren natürlich jene Prozesse, die zu einer semantischen Verstärkung führen, also von einer schwächeren Bedeutung in Richtung einer stärkeren Bedeutung gehen. Die Verstärkung kann deshalb nur semantischer Art sein, weil der Formant ja bereits fest umrissen vorliegt (siehe oben). Rhetorische Verstärkung Einen ersten Typ solcher Verstärkungen stellen rhetorisch motivierte dar. Sie sind Gegenstand des Beitrags von Gabriele Diewald in diesem Band. Mit Verstärkung ist hier die Verwendung des ausdruckssteigernden Tropus der Personifikation als rhetorisches Mittel gemeint, wodurch semantisch zunächst an Personen gebundene Handlungsbezeichnungen (Verben) metaphorisch dann auch mit unpersönlichen Subjekten verbunden werden:
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Indexikalisch im Sinne von Dressler (1987), dem Stolz hier folgt.
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(4) Person X winkt der Person Y (mit der Hand) > die Trophäe winkt dem Sieger (5) Person X kann tun (‘ist intellektuell fähig zu …’) > Minne kann tun
Gleichzeitig führt dieser rhetorische Verstärkungsprozess zu einer semantischen Ausbleichung der betreffenden Verben, bei können ganz klar auch zu einer Grammatikalisierung des Verbs und des ganzen mit ihm verbundenen periphrastischen Gefüges. Hier wird Grammatikalisierung in einem generellen Sinne verstanden, ist also nicht an die eingangs dargelegten Parameter des Konstruktionsebenenwechsels und der Komplexitätsgradeänderung geknüpft, und es wird gezeigt, dass Grammatikalisierung und Verstärkung, beide in einem allgemeinen Sinne verstanden, durchaus miteinander auftreten können. Verstärkung durch De-Idiomatisierung Vorgefundene lexikalische Einheiten, ob in Wortbildungsverbänden stehend oder nicht, können de-idiomatisiert werden. Wenn sie Wortbildungsglieder sind, wird durch den Prozess der De-Idiomatisierung auch die Tendenz zur De-Lexikalisierung in dem Sinne verstärkt, dass diese Wortbildungen de-komponiert und dadurch auf der Skala der Komplexitätsgrade wieder analytischer und transparenter werden. Diesem Aspekt sprachlicher Verstärkung ist der Beitrag von Alwin Fill in diesem Band gewidmet, der De- und Neu-Idiomatisierungen spielerischer Art (etwa bei Schlussstrich im Sinne von ‘Beendigung der Ausübung von StraßenProstitution’) in Zeitungen und elektronischen Medien analysiert und dabei die offensichtliche Zunahme von solchen bewusstseinsverstärkenden Techniken des Sprachspiels in Zusammenhang mit dem Drang nach spannungserzeugenden Strategien unserer Zeit überhaupt bringt. 12 Mit dem Einsatz von De-Idiomatisierungs-Techniken befasst sich in diesem Band auch Martin Wengeler. Ihm geht es um die Instrumentalisierung semantischer Remotivierungen für die öffentliche, v.a. gesellschaftliche und politische, Auseinandersetzung. Dieses Diskursgebiet stellt neben dem auf Originalität und Witz bedachten Feld des – z.B. journalistischen, feuilletonistischen oder poetischen – Sprachspiels einen weiteren großen Bereich für die Anwendung von Sprachstrategien dar, mit denen sprachliche Einheiten durch semantische Verstärkung bewusster gemacht werden sollen, um die politische Bewusstseinsbildung in der gewollten Weise zu verstärken: so wenn man an der Bezeichnung Gast im Kompositum Gastarbeiter entweder kritisiert, dass sie unangemessen sei, weil man
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Zum „Prinzip Spannung“ aus linguistischer Sicht siehe programmatisch Fill (2003).
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einen ‘Gast’ nicht ‘arbeiten’ lasse, oder in eine ganz andere Richtung argumentiert, dass die Bezeichnung Gast im Kompositum dann nicht mehr stimme, wenn damit auf eine Person referiert werde, die sich nicht so, nämlich anständig, benehme, wie man es von einem ‘Gast’ erwarte. Immer wird durch diese semantischen Aufwertungen die konventionelle und damit arbitrarisierte Bedeutung lexikalischer Einheiten entkonventionalisiert und damit re-motiviert. Als Verstärkung im Sinne einer (Wieder-)Offenlegung verschleierter (oft euphemisierter) inhumaner Bedeutungen versteht sich nach dem Beitrag von Horst Dieter Schlosser in diesem Band die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“. In dieselbe Richtung argumentieren jedoch auch die Kritiker dieser Art von Sprachkritik, wenn sie darauf hinweisen, dass es sich zuweilen um ein übertriebenes Beim-Wort-Nehmen etwa von Ausdrücken wie Humankapital handele: Das Wort werde nicht im „eigentlichen“ Sinne der ökonomischen Terminologietradition als Ausdruck für die Wertschätzung menschlicher Leistungsfähigkeit verstanden, sondern in einem hineininterpretierten „vermeintlichen“ Sinne als Ausdruck einer nur kapitalistischen Sicht auf die Arbeitsleistung des Menschen. In diesem Bereich wird die Spannung zwischen fachsprachlicher Idiomatisiertheit (Demotiviertheit) und alltagssprachlicher De-Idiomatisierung (Remotivierung) besonders deutlich. Auf diesen Grundkonflikt geht auch Hans-Werner Eroms in seinem Beitrag zu diesem Band ein, mit dem er gewissermaßen auf H. D. Schlosser antwortet. Wesentliches Kriterium zur semantischen Beurteilung der fraglichen („Un“-) Wörter ist für ihn, ob die negativen Bedeutungsbestandteile bereits zum Zeitpunkt ihrer Bildung vorhanden waren oder ob die bedeutungsverstärkenden Ausdeutungen erst durch die Brandmarkung angeregt bzw. in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Zentral ist hier der Begriff der Konnotation. Damit wird der Bereich zeichengebundener denotationsnaher Remotivierungsprozesse verlassen und das Gebiet gebrauchsgebundener konnotativer Remotivierungsprozesse betreten (Näheres im folgenden Abschnitt). Verstärkung durch Re-Kontextualisierung Es gibt über sprachliche Verstärkungsprozesse semantischer Art hinaus also auch solche pragmatischer Art. Wörter werden in Assoziation mit negativen (oft historischen) Gebrauchsbedingungen konnotativ aus Welt-
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wissensbeständen aufgeladen. 13 Ansatzpunkt eines solchen Verstärkungsprozesses ist nicht der Wortkörper und nicht seine kontextunabhängige Bedeutung, sondern der Wortgebrauch in seiner aktuellen oder erinnerten Bindung an situative Kontexte. Als Beispiel führt Horst Dieter Schlosser in diesem Band das Wort Selektion an, das nicht als Lexem per se belastet ist, sondern durch seinen Gebrauch im Kontext der NS-Rassenpolitik. Wenn dieser historische Wortgebrauchskontext aufgerufen wird, macht das einen aktuellen Wortgebrauch schwierig oder gar unmöglich. Bestimmte Wörter werden, wie es Hans-Werner Eroms in diesem Band ausdrückt, zu „Emblemen ihrer Zeit“ und sie werden, so könnte man hinzufügen, die Konnotierbarkeit mit ihren Gebrauchsbedingungen nicht so leicht los. Sie werden assoziativ oder, wie in der politischen Auseinandersetzung etwa, aktiv re-kontextualisiert, d.h. mit bestimmten Gebrauchsumständen in Verbindung gebracht.
4. Semantische und formale Verstärkung, oder: Bedeutung sucht Form Im vorausgehenden Kapitel 3 ging es um eine semantische Verstärkung formaler Substanz, um Formen auf der Suche nach Bedeutung oder einer stärkeren Bedeutung. Im vorliegenden Kapitel geht es dagegen um semantische Verstärkung, die erst noch eine Form finden muss, um eine Substanziierung von Bedeutung. 14 In diesem Übergangsbereich ist der Beitrag von Johan van der Auwera, Ewa Schalley und Gunther De Vogelaer angesiedelt. Am Beispiel des Russischen zeigen sie auf, wie auf der Suche nach einer Form für Aufforderungen, die über den Sprecher hinaus eine Mehrzahl von Adressaten einbeziehen soll, auf eine im grammatischen System bereits vorhandene Form zurückgegriffen und wie sie im neuen syntagmatischen Zu-
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Am Beispiel der Exonymenmeidung wird in Harnisch (2008: 23) diese gebrauchsbezogene (oft an historisch belastete Gebrauchsumstände gebundene) konnotative Aufladung aus Weltwissensbeständen vorgeführt. Diesem thematischen Bereich ist auch der Tagungsbeitrag zur „Unterspezifikation von morphologischen Paradigmen als optimale Modellierung von Form-Inhalts-Relationen“ von Elisabeth Leiss zuzuordnen, den sie nicht zur Veröffentlichung in diesem Sammelband eingereicht hat. In Bezug auf das Schlagwort von der bedeutungssuchenden Form ist zum Inhalt ihres Beitrags zu sagen, dass ihrer Auffassung nach eine grammatische Bedeutung nur dann eine morphologische Form sucht, wenn der Ausdruck dieser grammatischen Bedeutung nicht syntaktisch gewährleistet ist – daher auch die verbreitete Unterspezifikation in den flexionsmorphologischen Paradigmen. Flexionsmorphologie ist, so gesehen und auf das Leitmotiv dieses Themenbands bezogen, „Verstärkung“ unzureichender syntaktischer Kodierung grammatischer Inhalte.
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sammenhang reanalysiert – wenn man so will: umgenutzt, exaptiert – wird. Die adhortative Verbform Pojd-ëm! GEH.IND.PERF.FUT-1.PL, die Sprecher und Einzahl wie Mehrzahl von Adressaten einschließt, holt sich aus dem Imperativ Plural von Formen wie Pojd-i-te! GEH.IND.PERF.FUT-IMP-2.PL das Adressaten-Plural-Suffix -te zum Ausdruck der nur auf eine Mehrzahl von Adressaten zielenden Verbform: Pojd-ëm-te! Die andern Beiträge dieses Themenblocks lassen sich unter das Stichwort der „semantischen Sekretion“ subsumieren. Nach einem Gedanken von Igor Trost in seinem Beitrag zu diesem Band kann man der morphologischen Sekretion im Sinne von Jespersen (1925) und Harnisch (2004) 15 nämlich eine semantische Sekretion gegenüberstellen. Werden bei der ersten aus lautlicher Substanz Einheiten isoliert, mit Bedeutung versehen und als Formanten abgetrennt (unten 6), werden bei der zweiten (lexikalisch- oder grammatisch-) semantische Bestandteile eines Bedeutungsträgers isoliert und in einem Formanten substanziiert (unten 7). Das Beispiel in (6) stammt aus Jespersen (1925: 371): Die suffixverdächtige Lautsubstanz -n des substandard-englischen Possessivpronomens mine wird sekretiert, sobald es in dieser Form nur noch prädikativ vorkommt (attributiv ist my, sozusagen „ohne Suffix -n“), und zum Prädikativ-Marker „verstärkt“, was man an seiner analogischen Ausbreitung auf prädikativ verwendete Possessivpronomina wie your-n, his-n usw. erkennt: (6) m i n e POSS PRÄD
mi – ne POSS PRÄD
Das Beispiel in (7) stammt von Bloomer (1996): Das semantische Merkmal FISCH, ursprünglich Bestandteil des semantischen GesamtMerkmalsbündels HAI, wird sekretiert und an eine eigene formale Substanz gebunden. Dabei stellt sich die Frage, ob das Kompositionsglied Hai von Hai-fisch um das Sem FISCH total entleert ist (Variante 7.a.) oder ob das Kompositionsglied Hai von Hai-fisch das Sem FISCH noch in voller Stärke enthält, wodurch es zu einer in diesem Merkmal pleonastischen Bildung gekommen wäre (Variante 7.b.). Beide extremen Varianten (totale Verblassung wie totale Erhaltung) sind allerdings unwahrscheinlich: (7.b.) dadurch, dass Pleonasmen (wie Tautologien) ja gerade durch eine
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Sie ist Gegenstand des Kapitels 3.1. dieser Einleitung und des thematischen Blocks „Sekundäre semantische Motivierung: Volksetymologie und Affixreanalyse“ dieses Bandes.
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semantische Verblassung motiviert sind, die dann durch einen separaten Ausdruck kompensiert wird, d.h. -fisch FISCH würde nicht addiert, wenn das Sem FISCH im Kompositionsglied Hai- noch voll repräsentiert wäre. Was (7.a.) betrifft, ist es schlecht vorstellbar, dass der Inhalt des semantischen Merkmalsbündels Hai- im Kompositum Hai-fisch überhaupt kein Sem FISCH mehr enthält. So dürfte die Variante (7.c.) am wahrscheinlichsten sein, bei der das Sem FISCH in der pleonastischen Bildung abgeschwächt und so weit unter eine kritische semantische Masse abgesunken ist 16 , dass es in einem Verstärkungsakt nochmals eigens ausgedrückt werden muss. (7) a. H
A I FISCH Hai
H A I – FISCH
A I FISCH Hai
H
A I FISCH Hai
H
Hai – fisch
b. H
A I FISCH Hai
– FISCH
A
– FISCH
– fisch
c. H
FISCH
Hai
I
– fisch
Um einen Prozess sprachlicher Verstärkung handelt es sich, worauf es hier ankommt, bei jeder der drei Varianten, denn immer wird ein Sem sekretiert und in einem Formanten substanziiert. 17
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Typographischer Ausdruck dessen ist die verkleinerte Schriftgröße von FISCH im pleonastischen Kompositum unter (7.c.). Ludwig M. Eichinger spricht in seinem Beitrag zu diesem Band von einer Verdeutlichung obsolet gewordener Benennungen durch extensional entsprechende Bezeichnungen. Den Aspekt der Auslagerung von Bedeutungsbestandteilen von Verben der Bewegung an andere Stellen des Syntagmas berührte der Tagungsbeitrag über „Die typologisch vergleichende Kodierung von Bewegungstypen – und was daraus für den Valenzbegriff folgt“ von Werner Abraham, der nicht in diesem Sammelband veröffentlicht ist. Während die Bewegungsart im Verbstamm ausgedrückt werde, sei das Bewegungsziel verbstammextern kodiert. Wenn dabei Pronominaladverbien gesetzt werden, kann man das im Sinne des vor-
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Die hier diskutierten Grade von semantischer Verblassung der pleonastisch restituierten Seme sind Gegenstand des Beitrags von Ulrike Krieg-Holz zu diesem Band. Der Variante (7.a.) nahe kommt der von ihr behandelte Typ Bilch-maus, der Variante (7.c.) der Typ Ren-tier (wie Haifisch). Der zusätzlich von ihr analysierte Typ Entwicklungs-prozess dagegen steht nicht für eine nach links gerichtete Rückverstärkung verblasster Seme des Erstglieds, sondern für den Typ einer als Determinans motivierten, also nach rechts gerichteten Verstärkung eines von Anfang an semantisch schwachen Determinandums. So wie volksetymologische Komposita den Prototyp bedeutungssuchender Formen darstellen (sekundäre semantische Motivierung formaler Substanz), sind pleonastische Komposita der Prototyp formsuchender Bedeutungen (sekundäre formale Anlagerungen semantischer Merkmale). Doch so, wie es in Form von Affix-Reanalysen auch subtilere Arten von Volksetymologie unterhalb der Ebene kompositioneller Strukturen gibt (s.o. 3.1.), kommen – in Form von verdeutlichenden Affixen – auch subtilere Formen von pleonastischen Bildungen vor. Ihnen ist der Beitrag von Igor Trost in diesem Band gewidmet. Mit dem Gegenstand kategorial-semantischer, in adjektivische Gradierung mündender Sekretionsvorgänge geht er darin unter die Ebene lexikalisch-semantischer, in substantivische Komposition mündender Sekretionsvorgänge, wo er anhand sozusagen „nochmals“ gesteigerter Komparativpositive wie minder- oder ober- die semantischen Werte von Belegen wie einen denkmalschützerisch mindereren Anspruch (eines Hauses) oder der oberere Start (‘der weiter oben gelegene Startplatz [eines Skirennens]’) untersucht. Als semantische Verstärkung, die sich in einer auch formalen Expansion niederschlägt, kann auch die delokutive Derivation angesehen werden, die Ulrich Detges in diesem Band als eine von mehreren möglichen Formen von Delokution („Sprechakt-Metonymie“) behandelt. So wird aus merci (selber durch „Lokution“ (Benveniste 1966) aus merci ‘Gnade’ zur reinen Dankesformel funktionalisiert) durch Delokution ein Verb remerci-er abgeleitet. Solche Vorgänge sind insofern Verstärkungen, als durch sie in semantischer Hinsicht die nur prozedurale Bedeutung einer kommunikativen Routine (eigentlich nur eine „Funktion“) in die konzeptuelle Bedeutung einer lexikalischen Einheit (einen semantischen „Inhalt“) überführt wird, die wie hier in derivationellen Affixen formal substanziiert wird.
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liegenden thematischen Blocks als pleonastische Verstärkung bezeichnen (er hängt den Mantel an den Kleiderständer ’ran).
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5. Prozesse sprachlicher Verstärkung: Umfang und typologische Gliederung des phänomenologischen Felds Eingangs wurde dargelegt, in welchem Sinne hier von „Verstärkung“ gesprochen werden soll. Die Konzepte und Begriffe a) der DeGrammatikalisierung bzw. b) der De-Lexikalisierung wurden streng an die Parameter a) des „Aufstiegs auf der Skala der Konstruktionsebenen“ und, damit verbunden, der „Bedeutungsverstärkung“ in dem Sinne, dass rein lautlicher Substanz überhaupt erst Bedeutung zugewiesen, schwächerer kategorieller (grammatischer oder derivationeller) Bedeutung eine stärkere gegeben, demotivierte (lexikalisierte/idiomatisierte) Bedeutung remotiviert wird, b) der verdeutlichenden „(Re-)Segmentierung“ (Analyse) stark synthetisierter Ketten oder opaker Gebilde in transparente Bestandteile geknüpft und den Begriffen und Konzepten der Grammatikalisierung und Lexikalisierung (mit entsprechender Parameter-Umkehrung) gegenübergestellt. Damit wurden die jeweiligen Konzepte und Begriffe und ihre Gegenkonzepte und -begriffe definitorisch natürlich ziemlich verengt. So kann es kommen, dass eine „De-Grammatikalisierung“ im hier vertretenen engen Sinne wie die oben vorgeführte Sekretion des Prädikativmarkers -n aus dem ursprünglich holistischen Wortkörper des Possessivpronomens mine im vernakulären Englisch eine Grammatikalisierung im weiten Sinne darstellt, da ja ein grammatisches Element entsteht. Sicher wäre es dann, wie Gabriele Diewald in ihrem Beitrag zu diesem Band angemerkt hat, auch unzutreffend, Grammatikalisierung, wenn man sie im weiten und allgemeinen Sinne versteht, immer nur als „Abschwächung“ aufzufassen, denn der am Beispiel mine > mi-ne vorgeführte Prozess der Entstehung eines grammatischen Markers -n für das Merkmal ‘Prädikativität’ stellt ja im Sinne der oben angelegten Parameter gerade eine „Verstärkung“ dar. Bevor man daran geht, das Feld der sprachlichen Verstärkungsprozesse im Sinne dieses Publikationsvorhabens zu typisieren und damit zu subklassifizieren, ist erst einmal die Frage zu beantworten, was die Gemeinsamkeiten der behandelten Phänomene sind. Hier ist zuoberst der Umstand anzuführen, dass es sich immer um Prozesse der Reanalyse handelt. Reanalyse soll hier jedoch nicht in dem umfassenden Sinne verstanden werden, wie dies etwa Heine/Reh (1984) und viele nach ihnen getan haben. Unter Reanalyse wurden dort auch Prozesse der Grammati-
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kalisierung – im weiteren und engeren Sinne – subsumiert. Hier soll Reanalyse dagegen in einem engeren Sinne (wie etwa bei Wurzel 1992 oder Harnisch 2002) verstanden werden, nämlich seiner formalen Seite nach als Resegmentierung, seiner damit verbundenen semantischen Seite nach als Remotivierung. Dabei wird unter Resegmentierung die morphologische Strukturbildung im Sinne von Grenzbildung und Grenzverschiebung verstanden, aber auch (Wieder-)Hervorhebung schon bestehender morphologischer Strukturen/Grenzen. Auch segmentale Addition von Trägern vorher noch nicht ausgedrückter Bedeutungen oder von Trägern einer Bedeutung, die aus vorhandenen Morphemen herauskopiert und im Syntagma anderswo pleonastisch angelagert wird, soll hier zur Resegmentierung gerechnet werden. (8)
Reanalyse Reanalyse im weiteren Sinne …
Reanalyse im engeren Sinne, bestehend aus gleichzeitiger … … formaler Re… semantischer segmentierung Remotivierung
Die Typisierung (Subklassifizierung) dieser reanalytischen Verstärkungsprozesse soll von einem gewissermaßen prototypischen Kernbereich ausgehend vorgenommen werden. Diesen Kern stellt die sogenannte Volksetymologie dar, bei der intransparente lautliche Substanz eines Ausdrucks unter Wahrung der lautlichen Ähnlichkeit vor der Folie seines Denotats durch Remotivierung in semantisch passende und, fakultativ verbunden mit Resegmentierung, in transparente morphologische Strukturen überführt wird. Die prototypische Volksetymologie führt von Lexemen zu Lexemen, die simplizisch oder kompositionell strukturiert sein können, und ist insofern am durchsichtigsten (Habseligkeiten, Neger Wumbaba). Eine erste Erweiterung dieses prototypischen Kernbereichs ergibt sich in Bezug auf (im Sinne von Lexematik und Wortbildungslehre) nichtlexikalische bzw. nicht-kompositionelle Gebilde, bei denen vergleichbare Prozesse zu beobachten sind. Durch sie werden nicht Lexeme oder Kompositionsglieder reanalysiert, sondern Kon- und Affixe (-rama, -minator, -ert) sowie alternierende lautliche Bestandteile von Stämmen („Indexe“), die eine kategorialsemantische Symbolisierung leisten. Das alles zusammengenommen ist Gegenstand des thematischen Blocks 3.1. zum Thema „Sekundäre semantische Motivierung: Volksetymologie und Affix-Reanalyse“. Eine zweite Erweiterung geht insofern über den Themenblock 3.1. hinaus, als morphosemantische Einheiten nicht erst zugeschnitten, son-
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dern vorhandene morphosemantische Einheiten in ihrer schon existenten, aber zur Univerbierung und semantischen Verblassung neigenden morphosemantischen Struktur bewusst formal wiederaufgelöst und inhaltlich wiederbelebt (Gast-arbeiter) oder sprachspielerisch uminterpretiert (Schluss-strich) bzw. sprachkritisch bewertet (Human-kapital) werden. Diese Phänomene werden in 3.2. als „Semantische Verstärkung“ und „De-Idiomatisierung“ behandelt. Das in der dortigen Kapitelüberschrift auftauchende Konzept der „Re-Kontextualisierung“ stellt eine schon dritte Erweiterung des Phänomenbereichs dar. Hier ist die Grenze von der Systemlinguistik (mit Grammatik und Lexik) in Richtung der Pragmatik überschritten. Anders gesagt geht es dabei nicht mehr um zeichengebundene Prozesse der formalen Manipulation am Ausdruckskörper, verbunden mit der semantischen Manipulation seines Inhalts, sondern um Interpretationen sprachlicher Ausdrücke auf der Basis ihres Gebrauchskontextes. Reanalyse heißt hier vor allem Remotivierung im Sinne einer konnotationssemantischen Aufladung von Äußerungen aus Beständen des – sehr oft historischpolitischen – Weltwissens (Selektion im Kontext der NS-Rassenideologie). Die bisher geschilderten Erweiterungen des Gegenstandsbereichs „Prozesse sprachlicher Verstärkung“ gehen also von zeichengebundener Schaffung morphosemantischer Einheiten (sekundäre semantische Motivierung in Form von Volksetymologie und Kon- bzw. Affixreanalyse) über zeichengebundene Wiederbelebung morphosemantischer Einheiten (De-Idiomatisierung) hin bis zu einer gebrauchsgebundenen Einbettung sprachlicher Einheiten in aktuelle oder historische Verwendungs- und Sprachhandlungskontexte (Re-Kontextualisierung). Für eine vierte Erweiterung sei nochmals zum prototypischen Kern des Phänomens, die Remotivierung in Form von Volksetymologie und Konfix-/Affix-Reanalyse, zurückgekehrt. Diese Art von Vorgängen wurde auch mit dem Begriff der „Ausscheidung“ („secretion“) morphologischer Einheiten etikettiert (Jespersen 1925: 370). Diese „morphologische Sekretion“, bei der aus vorhandener Lautsubstanz bedeutungstragende Einheiten herausgeschnitten werden, hat ein Pendant in der von Igor Trost in diesem Band so genannten „semantischen Sekretion“, bei der aus vorhandener Bedeutungssubstanz semantische Merkmale kopiert und in Form von Bedeutungsträgern aus- und im Syntagma neben der „Quell“-Einheit abgelagert werden. Auch diese Vorgänge können nicht nur in kompositionelle Strukturen münden (Hai > Hai-fisch), sondern auch in affixische (minder- > minder-er-). Diesem Typ ist das Kapitel 4. über „Semantische und formale Verstärkung, oder: Bedeutung sucht Form“ gewidmet. Unter (9) sind die wichtigsten Typen von Prozessen sprachlicher Verstärkung genannt. Prototyp ist die morphologische Sekretion. Von ihm
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Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse
ausgehend werden die andern Typen als Erweiterungen daraus entwickelt (Pfeilsymbole). Der gesamte Phänomenbereich wird nach zeichen- und gebrauchsgebundenen Vorgängen der Reanalyse unterteilt: (9)
morphologische Sekretion È De-Idiomatisierung È ReKontextualisierung
Æ
semantische Sekretion
zeichengebundene Reanalyseprozesse
gebrauchsgebundene Reanalyseprozesse
Damit ist der Anfang einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse gemacht. Sie ist Basis dafür, das in der Linguistik noch immer dominante Arbitraritäts-Postulat noch einmal von der in diesem Band thematisierten Seite her zu überprüfen, auf der ein hohes Remotivierungs- und also auch Motiviertheitspotenzial anzutreffen ist. 18
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Dass diese vernachlässigte Seite der Zeichentheorie wieder stärker ins Bewusstsein tritt, verraten die Titel jüngerer Aufsatzsammlungen wie derjenigen von Radden/Panther (2004) oder Gallmann/Lehmann/Lühr (2007).
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Rüdiger Harnisch
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Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse
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Semantische Verstärkung formaler Substanz, oder: Form sucht Bedeutung
Sekundäre semantische Motivierung: Volksetymologie und Affix-Reanalyse
Ilse Wischer
Sekretion und Exaptation als Mechanismen in der Wortbildung und Grammatik 1. Einleitung Im folgenden Beitrag soll die Entstehung von Affixen in der Wortbildung (Derivation) und Grammatik (Flexion) durch strukturaufbauende Prozesse wie Sekretion und Exaptation näher untersucht werden. Affixbildung wird gewöhnlich als Wandel einer unabhängigen lexikalischen Einheit in ein gebundenes Morphem betrachtet. In der Grammatikalisierungstheorie wird dieser Prozess auch als „Morphologisierung“ bezeichnet. Die Syntax von gestern wird zur Morphologie von heute (Givón 1971: 413). Diese Entwicklung, die sowohl für die Entstehung von Derivationsaffixen (-hood, -ly, …) wie auch von Flexionen (-ed, Adpositionen > Kasusendungen, …) nachgewiesen wurde, enthält Mechanismen, die typisch für Grammatikalisierungsprozesse sind, wie z.B. semantische Entleerung, phonetische Reduktion, Autonomieverlust und Verschmelzung sowie Paradigmenbildung. Während Flexionsmorphologie unumstritten zur Grammatik gehört, ist der Status von Derivationsaffixen weniger klar (vgl. Adams 1973:12; Hopper/Traugott 1993: 4ff.; Brinton/Traugott 2005: 35), weshalb auch ihre Bildung nicht einheitlich als Grammatikalisierung betrachtet wird. Brinton/Traugott unterscheiden z.B. lexikalische (rein modifizierende) und grammatische (wortartverändernde) Derivationen. Da Derivationen im Gegensatz zu Flexionen keine grammatischen Wortformen bilden, sondern neue Lexeme, sollen sie im folgenden als lexikalische Einheiten betrachtet werden, wobei einzelne Derivationen dem grammatischen Pol durchaus näher sind als andere. Daraus kann nun die Feststellung abgeleitet werden, dass die Bildung von Suffixen aus unabhängigen Wörtern sowohl im Lexikon als auch in der Grammatik stattfindet. Um diese Art der Affixentstehung soll es jedoch im vorliegenden Beitrag nicht gehen, sondern um Prozesse der linguistischen Verstärkung, die ebenfalls zur Bildung von Affixen, oder genauer, von Suffixen, führen können. Statt semantischer und phonetischer Abschleifung und Abbaus der internen Strukturiertheit liegt hier eine morphologische Neustrukturie-
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Ilse Wischer
rung vor. Man könnte meinen, dass es sich dabei um eine Umkehrung des üblichen Grammatikalisierungsprozesses handelt. Schon Marchand (1969: 210) erwähnt zwei Möglichkeiten der Entstehung eines Suffixes: (1) das Suffix entsteht aus einem unabhängigen Wort (vgl. Bsp. 1) oder (2) das Suffix ist das Ergebnis einer Sekretion (vgl. Bsp. 2). (1) a. b. (2) a. b. c. d.
dom o (ae. ‘Urteil’, ‘Zustand’) full o landscape o panorama o hamburger o æþeling o
kingdom, freedom, … eventful, beautiful, … seascape, cloudscape, … autorama, cinerama, … cheeseburger, chickenburger, ... deorling, duckling, …
Diese zweite Möglichkeit wird immer als Ausnahmeerscheinung betrachtet und findet in der Literatur nur geringe Beachtung. Im folgenden soll untersucht werden, wie dieser Sekretionsprozess im einzelnen abläuft, ob nur Derivationsaffixe, oder auch Flexionen, auf diese Art entstehen können und in welchem Verhältnis Sekretion zum Prozess der Exaptation steht.
2. Sekretion Der Begriff „Sekretion“ wurde von Otto Jespersen (1925: 384ff.) kreiert, der darunter eine „linguistic creation ex nihilo“ verstand. Jespersen verband damit die Vorstellung, dass eine Lautsequenz als Teil einer holistischen lexikalischen Einheit mit einer bestimmten, ziemlich generellen, Bedeutung assoziiert wird und sich dann mit dieser Bedeutung als Suffix auf andere Wortbildungsbasen ausbreitet. Als ein Beispiel führt Jespersen (1942: 352ff.) das englische Verbalsuffix -en an, wie in lengthen, widen, etc. Er argumentiert, dass -en im Mittelenglischen (ME) willkürlich mit Verben auftrat und überhaupt keine Bedeutung hatte, vergleichbar mit dem -en in often (ME: oft/often): (3) a. AE singan b. AE ripian c. AE diepan d. AE hlystan e.
> > > >
ME sing(en) ME ripe(n) ME deep(en) ME list(en) ME haste(n)
> > > > >
ModE sing ModE ripen ModE deepen ModE listen ModE hasten
In bestimmten Kontexten, in denen -en mit de-adjektivischen oder denominalen konvertierten Verben auftrat, deren Bedeutung komplexer war als die der Basis-Adjektive oder -Nomen, nämlich
, wurde ein Teil der Bedeutung der Lautsequenz -en zugeschrie-
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Sekretion und Exaptation in Wortbildung und Grammatik
ben. Diese wurde dann mit der Bedeutung oder produktiv und konnte sich dementsprechend auf andere Adjektive oder Substantive zur Ableitung von inchoativen oder kausativen Verben ausbreiten. Das würde Jespersens (1942: 352) These „from having no meaning at all -en thus came to having a definite meaning“ erklären. Algeo (1991: 6) bezeichnet solche Suffixe als das Ergebnis von „blending“ (‘Verschmelzung’) und „fracturing“ (‘Abspaltung’), wie in Bsp. (4): (4) a. b. c. d. e.
breath + analyser o breathalyser grade + inflation o gradeflation
work + alcoholic duck + sandwich o duckwich talk + marathon o talkathon
eye(a)lyzer oilflation taxflation workaholic turkeywich walkathon
Bei all diesen Sekretionsprozessen ist das zugrundeliegende kognitive Prinzip eine „Reinterpretation“. Marchand (1969: 212) unterscheidet drei Formen der Sekretion in Bezug darauf, wie die Reinterpretation stattfindet: 1. Wie in Beispiel (2a) wird das Wort als aus zwei Konstituenten bestehend analysiert. Eine Konstituente (land) ist bekannt, der Rest wird als zweite Konstituente definiert, der eine kategorielle Bedeutung zugewiesen wird, so dass in Analogie zu diesem Muster neue Ableitungen gebildet werden können. 2. Wie in Beispiel (2b) ist eine interne Struktur aus zwei Komponenten nicht ersichtlich. Die Sekretion erfordert hier eine größere kognitive Leistung. Marchand behauptet, dass durch diese Art der Reinterpretation nur kurzlebige Ad-hoc-Bildungen mit geringer Verbreitung entstehen. Er bezeichnet sie als „Barbarismen“, die für die Betrachtung von Suffixableitungen keine Relevanz besitzen. Entgegen dieser Auffassung zeigt Nagel (2000), dass derartige Sekretionen durchaus produktiv werden können. 3. Die dritte Form der Sekretion führt Marchand (1969: 213) auf verkürzte Komposita zurück (vgl. Bsp. 5): (5) a. cheese + hamburger b. chicken + frankfurter c. wolf + youngling
o cheeseburger
o chickenfurter
beefburger fishburger krautfurter shrimpfurter wolfling
Es kann festgestellt werden, dass diese auf dem gleichen Reanalyseprozess wie Typ 2 basiert. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass eine interne Strukturierung existiert, aber nicht als solche erkannt wird. Wenn man Marchands Typ 2 und 3 zusammenfasst, was Sinn macht, ergeben sich zwei grundlegende Arten von Sekretion:
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(6) I. II.
land-scape, ham-burger?, lemon-ade, multi-tude, deep-en panorama o auto(pano)rama, marathon o talk(mar)athon, inflation o tax(in)flation
Im Fall I haben wir es mit einer direkten Reinterpretation der internen Struktur zu tun, weil ein Teil der Struktur dem Sprachbenutzer bekannt ist oder bekannt scheint. Der Rest, der semantisch nicht transparent oder sogar bedeutungslos ist, wird semantisch so interpretiert, als würde er zur komplexen lexikalischen Bedeutung beitragen. Auf diese Weise findet eine Motivation oder Remotivation statt, die zu semantischer und struktureller Komplexität führt. Im Fall II wird die Bedeutung des Suffixes nicht direkt aus der internen semantischen Struktur des Grundwortes hergeleitet, sondern ergibt sich aus der Kürzung des Wortes in der Komposition oder Verschmelzung mit einem anderen Wort. 1 Mit der Kürzung wird auch die Bedeutung generalisiert, was die Interpretation als Suffix ermöglicht. Die Bedeutung der auf diese Weise sekretierten Elemente ist spezifischer, stärker lexikalisch, als die der durch direkte Reinterpretation entstandenen Suffixe. Sie sind daher auch weniger produktiv. Alle Arten der Sekretion enthalten linguistisches Material, das semantisch nicht transparent ist. Es findet eine (Re)motivation statt, die zu semantischer und struktureller Kompositionalität führt. Dies ist genau das Gegenteil von Lexikalisierungsprozessen, bei denen Demotivation und Strukturabbau in einer holistischen Interpretation resultieren (vgl. Altenglisch (AE) hlaf-weard [‘Brot-Hüter’] > Neuenglisch (ModE) lord). Nur wenn die neu sekretierte Struktureinheit (-scape, -burger, -en) semantisch abstrakt genug ist, um ein Paradigma zu bilden, d.h., wenn sie sich mit anderen Wortstämmen verbinden kann, um eine semantische Klasse zu bilden, kann von einem neuen Suffix gesprochen werden. Ist das nicht der Fall, d.h., ist die Bedeutung des sekretierten Elements zu speziell, so dass keine Klassenbildung stattfinden kann, handelt es sich lediglich um den Strukturaufbau eines Kompositums durch Volksetymologie. Das heißt, Sekretion kann, muss aber nicht zu einer Suffixbildung führen. Legt man die Klassifizierung von Derivationen bei Brinton/Traugott (2005: 35) zugrunde, so kann festgestellt werden, dass alle bisher diskutierten Beispiele für sekretierte Suffixe, mit der Ausnahme von -en, den lexikalischen Derivationsmorphemen zuzuordnen sind. Nur -en muss als grammatisches Derivationssuffix betrachtet werden, da es die Funktion des Wortartwechsels erfüllt und auch einen erheblich höheren Produktivi-
_____________ 1
Zu vergleichbaren Prozessen der Sekretion und der Verbindung der aus Sekretion gewonnenen Elemente mit andern, zum Teil ebenfalls aus Sekretion gewonnenen Elementen zu neuen Bildungen („Wortkreuzungen“) siehe den Beitrag von Günter Koch in diesem Band.
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tätsgrad als die anderen Suffixe besitzt. Dennoch ist es kein rein grammatisches Element, dient es doch dazu, ein neues Lexem zu bilden und nicht nur eine grammatische Wortform. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass Sekretion hauptsächlich im Lexikon stattfindet. Das en-Suffix besitzt außer seinem höheren grammatischen Status noch eine weitere Besonderheit. Im Gegensatz zu den anderen sekretierten Suffixen geht es nicht auf ein einzelnes Grundlexem zurück, sondern erscheint bereits in einer Vielzahl von Wörtern. Zudem besteht Grund zu der Annahme, dass es auf eine frühere Flexion zurückzuführen ist. Obwohl es ein vergleichbares Stammformativ -n- zum Ausdruck von Inchoativität und Kausativität im Altenglischen gab, in Verben wie z.B. fæstnian ‘fest machen’, lacnian ‘heilen’ (vgl. Faiß 1992: 57; Lass 1994: 169, 203), können wir mit Jespersen (1942: 353) annehmen, dass dieses Affix oder Stammformativ „has probably nothing directly to do with the ModE new creation“, denn im ME erscheinen die meisten Verben mit inchoativer oder kausativer Bedeutung zunächst ohne -en (vgl. Bsp. 7). (7) a. AE fyrhtan b. AE hlystan c. AE scapan d. e.
> > >
ME fright ME list ME shape ME happe ME haste
> > > > >
ab 17. Jh. frighten ab 13. Jh. listen ab 16. Jh. shapen ab 14. Jh. happen ab 16. Jh. hasten
Da -en willkürlich mit allen Verben im ME auftritt, ist anzunehmen, dass es sich dabei nicht um das inchoative/kausative Stammformativ, sondern um einen Überrest des altenglischen verbalen Flexionssystems, nämlich die ehemalige Infinitivendung -an/-ian handelt. 2 Hinzu kommt, dass viele dieser Verben, wie in Bsp. (8), im AE nie ein -n-Formativ besaßen. (8) AE diepan AE ripian
> ME deepen, deepe, deep > ME ripen, ripe
> FNE deep/deepen > FNE ripe/ripen
Als das Flexionssystem zusammenbrach, verlor die ehemalige Infinitivendung ihre grammatische Signifikanz und stand für eine Reinterpretation zur Verfügung. Wenn dieses Affix nun mit Verben auftrat, die durch Konversion von Adjektiven oder Nomen abgeleitet waren und dementsprechend eine inchoative oder kausative Bedeutung besaßen, wie in Bsp. 8, wurde diese Bedeutung dem Suffix zugeschrieben, das daraufhin produktiv wurde und nun auch zur Ableitung neuer Verben aus Adjektiven oder Substantiven Anwendung fand (wie in Bsp. 9). (9) ME length
>
ab 16. Jh.: lengthen
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Die verbalen Kontexte, in denen -en im ME auftritt, sind allerdings noch an einem Korpus zu überprüfen. Eine Interpretation des -en als Infinitivendung macht natürlich nur Sinn, wenn dieses Suffix nicht in flektierten Formen erscheint.
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Dieser Prozess erinnert an die oben beschriebene erste Form der Sekretion. Ein Wort wird direkt als aus zwei Konstituenten bestehend analysiert. Allerdings handelt es sich um die Reanalyse eines ehemaligen grammatischen Elements als lexikalisches Element, nämlich eines degenerierten Infinitivmorphems als Derivationsmorphem. Für derartige Fälle wird seit Lass (1990 „How to do things with junk“) auch der Begriff „exaptation“ verwendet.
3. Exaptation Exaptation ist ein Konzept, das aus der Evolutionsbiologie stammt. Es bezeichnet einen Prozess, durch den einem Teil eines Organismus eine Funktion übertragen wird, für die es durch natürliche Selektion nicht bestimmt war, wie zum Beispiel Federn bei Vögeln sich ursprünglich nicht für das Fliegen herausgebildet hatten. In der Linguistik wird dieser Prozess definiert als: „the opportunistic co-optation of a feature whose origin is unrelated or only marginally related to its later use“ (Lass 1990: 80). Exaptation kann stattfinden, wenn grammatische Kategorien sich im Endstadium ihrer Entwicklung befinden, dabei ihre funktionale Signifikanz verlieren, aber formal noch existent sind. Diesen formalen Überresten, die Lass als „junk“ (‘Müll’) bezeichnet, kann nun eine neue Funktion zugewiesen werden (vgl. auch Heine 2003: 583). Den Begriff des „junk“ hat Lass (1997) präzisiert bzw. korrigiert. Dem entsprechend muss das linguistische Material, das exaptiert wird, nicht notwendigerweise völlig bedeutungsleer sein, es kann sich auch um marginale Morphologie handeln. Lass (1997: 316) definiert Exaptation nun als „a kind of conceptual renovation […] of material that is already there, but either serving some other purpose, or serving no purpose at all.“ Exaptation wird daher angenommen, wenn ein altes, marginales Morphem sich in ein zentraleres Morphem mit neuer Funktion wandelt. Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass bei einer zu vagen Interpretation das Konzept der Exaptation auf alle beliebigen Sprachwandelprozesse angewandt wird, einschließlich Analogie, lateraler Konversion (vgl. Lehmann 2004: 8) 3 oder sogar eindeutiger Grammatikalisierungsprozesse. Lass selbst (1997: 318f) wendet das Konzept der Exaptation sogar auf die Entwicklung des englischen Progressiven Aspekts an.
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Lehmann betrachtet z.B die Entwicklung des verbalen Transitivitätsmarkers -im im Tok Pisin aus einem Objekt-Marker-Suffix als laterale Konversion. Das Ergebnis ist nicht mehr oder weniger grammatisch als die Ausgangskonstruktion.
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Um einer Beliebigkeit des Exaptationsbegriffs entgegenzuwirken4 , schlage ich vor, nur solche Sprachwandelprozesse als Exaptation zu betrachten, die die Wiederverwendung grammatischer Formen betreffen, die ihre Funktionalität verloren haben oder marginalisiert wurden. In dieser Hinsicht wurde das Konzept der Exaptation bisher schon mehrfach in überzeugender Weise angewendet, wie z.B. auf die Entstehung des Adjektivklassen-Markers -e im Afrikaans, der auf eine adjektivische Kasusflexion zurückgeht (vgl. Lass 1990), auf die Wiederverwendung von Flexionsresten im Schwedischen 5 , oder auch auf die Entstehung des englischen Possessiv-Klitikons aus einer ehemaligen Genitivflexion (vgl. Norde 2002: 54-58). Der englische Possessivmarker hat sich herausgebildet, nachdem das Kasussystem komplett zusammengebrochen war. Die ehemalige Genitivendung konnte nicht mehr als reine Flexion fungieren, die Kasus, Genus, Numerus in einer Form vereinte. Die Vielfalt an Endungen entsprechend dem Deklinationstyp und dem Numerus war verschwunden, und nur das -es als formaler Überrest des zerbrochenen Kasussystems war als peripheres Morphem erhalten geblieben. Jespersen (1942: 297) führt dazu aus: „The first condition of forming genitives of whole groups … is that the way of forming the genitive has become practically uniform, viz. by the addition of -s instead of the variety of endings in Old English (-a, -ra, -en, -e, -re, …).“ In dieser Situation wurde das -es als Klitikon reinterpretiert, um possessive Beziehungen zu signalisieren. Dieser Vorgang entspricht genau den Kriterien für eine Exaptation. Ein marginales Morphem wurde zu einem zentralen Morphem, in diesem Fall nicht mit einer völlig neuen, sondern einer spezialisierten Funktion. Wenn es stimmt, dass Exaptation auf die Wiederverwendung von Flexionen beschränkt ist, wie im Fall des englischen Possessivklitikons, der schwedischen Kasusflexion, die sich in ein Derivationsmorphem wandelte, oder auch des englischen Verbalsuffixes -en, kann man daraus schließen, dass Exaptation vornehmlich auf der Ebene der Grammatik operiert, oder zumindest an der Grenze zwischen Grammatik und Lexikon. In jedem Fall trägt sie zu sprachlicher Verstärkung bei, wie auch Sekretion, obwohl beide Prozesse nicht identisch sind (vgl. dazu auch die Diskussion in Lindström). Das englische Possessivklitikon ist zum Beispiel das Ergebnis von Exaptation, aber nicht von Sekretion. Dagegen sind die meisten Derivationsaffixe, die durch Sekretion entstanden sind, nicht das Ergebnis einer Exaptation. Dennoch gibt es einen Bereich, in dem sich beide Prozesse überschneiden (vgl. Abb.).
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Diesem Zweck dient auch die Darstellung von Horst J. Simon in diesem Band. Schwedisch Mask. Sg. Nom -er > Derivationssuffix
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Sekretion o Input: bedeutungslose Lautsequenz o Output: lexikalisches Derivationsaffix -scape, -rama, -burger, -ade, -tude, -teria, -ling, -athon
Sekretion/Exaptation o Input: „junk“/ ehemalige Flexion o Output: grammatisches Derivationsaffix englisch -en schwedisch -er afrikaans -e
Exaptation o Input: marginales Morphem o Output: zentrales, weniger grammatisches Morphem -‘s
Abb: Sekretion und Exaptation
4. Sekretion und Exaptation als Degrammatikalisierung? Der Wandel einer Flexion in ein Derivationssuffix oder ein Klitikon wird oft als Umkehrung eines Grammatikalisierungsprozesses diskutiert und als Gegenbeispiel zur Unidirektionalitätshypothese in der Grammatikalisierungstheorie angeführt (vgl. z.B. Campbell 2001: 127; Newmeyer 2001: 206ff.). Bedeutet dies, dass Sekretion und Exaptation mit Degrammatikalisierung gleichgesetzt werden können? Wenn „Degrammatikalisierung“ als Umkehrung eines Grammatikalisierungsprozesses verstanden wird, also als gradueller Wandel einer grammatischen Einheit in eine weniger grammatische, oder lexikalische, Einheit, so muss diese Frage strikt verneint werden. Eine grammatische Einheit ist gekennzeichnet durch eine sehr abstrakte Bedeutung; einen hohen Bindungsgrad an eine externe Form; sie verbindet sich mit fast allen Elementen der gleichen Formklasse, worin sich ihre große Produktivität äußert; sie wird in bestimmten Kontexten obligatorisch verwendet; und besitzt eine hohe Token-Frequenz (vgl. Brinton/Traugott 2005: 92f., Himmelmann 2004: 33). Muttersprachler greifen unbewusst auf grammatische Einheiten zu. Ihre Verwendung ist automatisiert. Diesen grammatischen Status auf einen weniger grammatischen oder lexikalischen Status zurückzuführen, würde darauf hinauslaufen, die Bedeutung der grammatischen Einheit zu spezialisieren, ihre Verbindung mit Formklassen graduell einzuschränken und die vorher gebundene sprachliche Einheit zunehmend zu autonomisieren, ihre Produktivität einzuschränken, ihre obligatorische Verwendungsweise aufzuheben und die Tokenfrequenz zu reduzieren. Ein derartiger Degrammatikalisierungsprozess ist im Prinzip nicht vorstellbar.
Sekretion und Exaptation in Wortbildung und Grammatik
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Wir haben gesehen, dass Sekretion vornehmlich im Lexikon stattfindet. Wenn grammatische Einheiten betroffen sind, haben sie bereits ihre Funktion verloren oder haben sich, wie im Falle der Exaptation, in marginale Morphologie gewandelt. Solange diese Einheiten noch voll funktional sind, ist ihre Verwendungsweise automatisiert und Sprecher haben nur in sehr begrenztem Maße bewussten Zugang zu ihnen (vgl. Haspelmath 1999). Daraus kann geschlossen werden, dass Sekretion und Exaptation nicht Degrammatikalisierung sind, sondern eigenständige Sprachwandelprozesse darstellen. Sekretion ist ein Mechanismus, der Derivationsaffixe bildet. Er kann nach Harnisch (2004) innerhalb der Markiertheitstheorie durch das Prinzip des re-konstruktionellen Ikonismus erklärt werden. Kontruktioneller Ikonismus, d.h., die Übereinstimmung von semantischen Werten und formalen Eigenschaften, scheint ein zentrales Merkmal unmarkierter morphologischer und syntaktischer Konstruktionen zu sein. Ist diese Übereinstimmung nicht gegeben, tendieren Sprecher offenbar dazu, die formale Substanz zu (re)semantisieren. Exaptation scheint auf dem gleichen Prinzip zu basieren, nur betrifft dieser Prozess linguistische Einheiten, die sich auf der Grammatikalisierungsskala jenseits des Affixstadiums befinden (vgl. Norde 2001): Lexem > Funktionswort > Klitikon > Flexion (> Null)
Neben Norde haben sich schon Lass (1990) oder auch Greenberg (1991) mit der Frage beschäftigt, was mit einem erodierten Affix passieren kann. Lass (1990: 82) nennt drei Möglichkeiten: 1. Es kann verloren gehen, also zu Null werden. 2. Es kann als marginaler Rest erhalten bleiben, der sich z.B. in Suppletion äußert (drench <*dranc-jan; elder; brethren). 3. Es kann für etwas anderes wiederbenutzt werden (Exaptation). Greenberg (1991) spricht in diesem Zusammenhang von „Desemantisierung“ und unterscheidet zwischen „kontraktiver“ und „expansiver Desemantisierung“. Ersteres entsprichet Lass’ „marginalem Rest“ („marginal garbage“), letzteres der „Wiederverwendung“, oder, mit anderen Worten, der Exaptation.
5. Zusammenfassung 1. Sekretion ist ein Prozess der Affixkreation in der Wortbildung, der mindestens seit Jespersen (1925) bekannt ist. Im Gegensatz zum „normalen“ Weg der Affixbildung, d.h. aus einer autonomen lexikalischen Einheit, wurde Sekretion oft zu Unrecht marginalisiert, als Ausnahme, oder
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sogar als gegensätzlicher Prozess betrachtet, den es eigentlich nicht geben dürfte. Ein Blick auf Marchands (1969) Liste der englischen Suffixe (die solche eher neuen Bildungen durch Sekretion, wie in Kap. 3 betrachtet, z.B. -athon, -teria, etc., nicht enthält) zeigt, dass nur 11 von insgesamt 74 Suffixen, also ca. 15 %, eindeutig auf ein autonomes Wort zurückgehen. Die große Mehrheit der Suffixe (65%) wurde im Zusammenhang mit Entlehnungen gebildet (z.B. -able, -ive, -ous; -acy, -ity, -ment, -ize, -ify, etc.). Ihre (Re)interpretation als Suffix ähnelt in vielen Fällen einem Sekretionsprozess, sieht man sich z.B. die Reanalyse des lateinischen Partizipialstammes im Englischen als bestehend aus Wortstamm + Verbalsuffix (Lat. toleratus > Engl. tolerate) an. Darüber hinaus ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass zahlreiche ererbte Suffixe, über deren Ursprung nur spekuliert werden kann (-ish, -y, ness, -th), ebenfalls das Ergebnis einer Sekretion sind. Was damit gesagt werden soll, ist, dass dieser Prozess der Affixbildung mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihm bisher zuteil wurde. 2. Sekretion scheint nur im Lexikon zu operieren. Sie erfordert einen Semantisierungsprozess, der auf dem Prinzip des (re)konstruktionellen Ikonismus basiert. Grammatische Bedeutungen sind offensichtlich zu abstrakt und basieren noch dazu auf einer zu hohen Tokenfrequenz, als dass sie semantisch leerem phonetischem Material, das Teil eher idiosynkratischer lexikalischer Einheiten ist, zugewiesen werden könnten. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass Flexionen das Ergebnis von Sekretion sind. 3. Sekretion weist viele Ähnlichkeiten mit Exaptation auf. Das Konzept der Exaptation selbst ist noch in keiner Weise völlig geklärt und wird oft sehr vage interpretiert, wobei die Gefahr besteht, es auf jeden beliebigen Sprachwandel anzuwenden, der nicht eindeutig in irgendein anderes Muster passt. Es scheint Sinn zu machen, Exaptation auf solche Prozesse zu beschränken, die sich entsprechend der Grammatikalsierungsskala jenseits des Affixstadiums vollziehen, nämlich auf die Wiederverwendung von Flexionen, oder mit Greenwoods Worten, auf Prozesse der „expansiven Desemantisierung“. Damit kann festgestellt werden, dass sich Exaptation im Gegensatz zu Sekretion in der Grammatik vollzieht oder an der Grenze zwischen Grammatik und Lexikon. 4. Sekretion und Exaptation sind nicht identisch mit Degrammatikalisierung, sondern stellen eigenständige Mechanismen des Sprachwandels dar, die auf rekonstruktionellem Ikonismus basieren.
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„Exaptation“ in der Sprachwandeltheorie. Eine Begriffspräzisierung 1. Intellektuelle Einordnung Eine Möglichkeit, zu einer intellektuell reizvollen Sprachwandeltheorie zu gelangen, besteht darin, den Konnex zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu suchen. Dabei geht es idealerweise weniger um einen womöglich zu erzielenden Distinktionsgewinn durch Anbiederung an vermeintlich prestigeträchtigere Fächer als vielmehr um die gemeinsame Entwicklung einer Argumentationsweise, die bereits entwickelte Denkstrategien interdisziplinär nutzbar macht. Dadurch sollte es möglich werden, Phänomene, die auf einer gewissen Abstraktionsebene ähnlich sind, auch in ähnlicher Weise zu beschreiben, selbst wenn die konkreten materiellen Substrate höchst unterschiedlich ausfallen mögen. Ein Bereich, in dem eine solchermaßen abstrahierende Beschreibungsweise angewendet wird, sind die sogenannten „komplexen adaptiven Systeme“, zu denen auch die in der Linguistik wohlbekannten „Phänomene der Dritten Art“ (Keller 2003) zählen. Darunter werden Phänomene gefasst wie Immunsysteme, Ameisenhaufen, Finanzmärkte, das Wetter oder auch menschliche Sprachen. Es scheint möglich, für diese Gegenstände eine gemeinsame Beschreibungs- und Erklärungsebene zu finden: „Generalized Darwinism“. 1 Am stärksten ausdifferenziert ist das entsprechende Allgemeine Wandelmodell in der Evolutionsbiologie, so dass es vernünftig erscheint, wenn seitens der Linguistik in den letzten Jahren immer wieder Versuche unternommen werden, sich bei dieser Wissenschaftsdisziplin konzeptuelle
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Am dezidiertesten vertritt den skizzierten Ansatz vielleicht das außerordentlich interdisziplinär ausgerichtete Santa Fe Institute (www.santafe.edu). – Seitens der Linguistik wird diese Idee eines „ontologischen Minimalismus“ beispielweise von McMahon (1994: 334ff.), Lass (1997: 370ff.) und Ritt (2004) vertreten (etwas zurückhaltender äußert sich beispielsweise Heath 1998). Für eine von einer Linguistin verfasste, konzise Darstellung neodarwinistischer Grundpositionen in der Biologie sei auf McMahon (2000: 129-151) verwiesen. – Janda/Joseph (2003: 50-74) verweisen auf mögliche Parallelen zwischen biologischer und sprachlicher Evolution, diskutieren aber auch die Gefahr methodischer Kurzschlüsse.
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Anregungen zu holen. 2 – Zu den Konzepten, deren Übertrag in die sprachwissenschaftliche Wandelforschung als vielversprechend angesehen wird, zählt der Begriff der „Exaptation“: However, the Darwinian theory of biological evolution, with its interplay of mutation, variation and natural selection, has clear parallels in historical linguistics, and may be used to provide enlightening accounts of linguistic change. Having borrowed the core elements of evolutionary theory, we may then explore novel concepts from biology, such as exaptation, and assess their relevance for linguistic change. Indeed, the establishment of parallels with historical biology may provide one of the most profitable future directions for historical linguistics. (McMahon 1994: 340; Hervorhebung von mir, HS) [...] there are many other areas of apparent similarity between evolutionary biology and historical linguistics. In some of these the parallels between the two fields are real, and would repay closer study (initial proliferation followed by gradual loss of diversity; exaptation), while in others they become superficial on closer examination. (Orr 1999: 152; Hervorhebung von mir, HS)
Im Folgenden soll es nun darum gehen, dieses von Lass (1990) in die linguistische Diskussion eingebrachte Konzept genauer zu beleuchten. Ich werde die verschiedentlich unter dem Begriff der Exaptation subsumierten sprachlichen Erscheinungen dahingehend untersuchen, wie weit sie mit der in der Biologie üblichen Vorstellung kompatibel sind. 3 Dabei wird sich zeigen, dass beileibe nicht alle bislang zur Debatte stehenden Beispiele gleichermaßen geeignet sind, einen sauberen konzeptuellen Transfer zu gewährleisten.
2. „Exaptation“ als grundlegender wandeltheoretischer Begriff 2.1. „Exaptation“ als Konzept der Evolutionsbiologie Als Grundmechanismus bei evolutionären Wandelvorgängen wird üblicherweise ein Zusammenspiel von Variation und Selektion gesehen: Aufgrund zufälliger Formveränderungen („Kopierfehler“) entstandene
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Allerdings sei darauf hingewiesen, dass innerhalb der biologischen Fachdiskussion keineswegs Einigkeit herrscht selbst hinsichtlich der grundlegenden Konzepte des Darwinismus (vgl. beispielsweise den Überblick zu „Adaptation“ von Stegmann 2005; für einen leicht fasslichen Essay zu aktuellen Kontroversen innerhalb des Darwinismus s. Fodor 2007). Es geht im Folgenden also ausschließlich um das Verständnis von Wandel innerhalb konkreter grammatischer Systeme von Einzelsprachen. Die viel grundsätzlichere Frage, ob die menschliche Sprachfähigkeit als langage insgesamt eine kognitive Exaptation sei, bleibt davon unberührt (vgl. stellvertretend für die darüber geführte Debatte Hauser/Chomsky/ Fitch 2002 und Bouchard 2005).
Exaptation in der Sprachwandeltheorie
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Charakteristika breiten sich – sofern sie in spezifischer Weise funktional sind, d.h. sofern sie einen Überlebensvorteil sichern – in einer Population aus und setzen so einen Veränderungsprozess auf der Ebene der Gesamtpopulation in Gang. Diese Eigenschaften selbst werden ebenso wie der Prozess ihrer Herausbildung als „Adaptation“ bezeichnet: evolutionary processes: here „adaptation“ means those transgenerational alterations of the features and capacities of organisms in a lineage that enable them to solve (or improve on previous solutions of) problems posed by the environment, problems of internal integration, and the problem of reproducing. features of organisms: a trait or capacity counts as an adaptation if it is the product of a process of adaptation […], a trait is an adaptation if and only if it is the product of selection for the trait in question. (Burian 1992: 7f.; Hervorhebungen im Original, HS) 4
Manchmal jedoch ist die gegenwärtige Funktion einer Form (allgemeiner: einer Eigenschaft) von ihrer Entstehung entkoppelt. Für genau solche Fälle haben Gould/Vrba (1982) den Terminus der Exaptation eingeführt: We suggest that such characters, evolved for other usages (or for no function at all), and later „coopted“ for their current role, be called exaptations […]. They are fit for their current role, hence aptus, but were not designed for it, and are therefore not ad aptus, or pushed toward fitness. They owe their fitness to features present for other reasons, and are therefore fit (aptus) by reason of (ex) their form, or ex aptus. (Gould/Vrba 1982: 6; Hervorhebungen im Original, HS)
Ein häufig genanntes biologisches Beispiel für solche exaptiven Strukturen stellt das Wirbeltierskelett dar: Ursprünglich diente das Knochenmaterial wohl lediglich zur Speicherung von Kalziumphosphaten; in der Neunutzung als Stützelement des Körpers liegt dann der exaptive qualitative Sprung vor. – Ein weiteres eingängiges Beispiel liefert die Entwicklung der Flugfähigkeit von Vögeln: Nachdem Federn urspünglich wohl allein zur Thermoregulation des Körpers gedient hatten, erhöhte die sukzessive Vermehrung und Vergrößerung der Federn an den Vordergliedmaßen die Beutefangfähigkeit; weitere Größenveränderungen konnten sodann zum Luftgleiten, schließlich zum Fliegen führen: 5
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Ähnliche Definitionen z.B. bei West-Eberhard (1992: 13) und Frumhoff/Reeve (1994: 174). Für weitere Beispiele für allometrische Auslöser einer Exaptation, also eine Neufunktionalisierung, die allein durch Änderung der Größenverhältnisse verursacht wird, vgl. McKinney (1984) und Kingsolver/Koehl (1985). – Das Exaptationskonzept wurde im Übrigen bereits von Anfang an auch auf kulturelle Phänomene übertragen (bzw. daran entwickelt), beispielsweise Architektur (die Kuppel des Markus-Doms in Venedig oder die Deckenkonstruktion der King’s College Chapel in Cambridge, vgl. Gould/Lewontin 1979: 581-584) oder Religion und andere psychologische Artefakte (vgl. die Zusammenfassung in Gould 1991b).
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We see, in this scenario, a sequential set of adaptations, each converted to an exaptation of a different effect that sets the basis for a subsequent adaptation. […] The wing per se is an exaptation in its current effect of shading, just as the feathers covering it arose in different adaptive contexts but have provided much evolutionary flexibility for other uses during the evolution of birds. (Gould/Vrba 1982: 8)
Während unumstritten ist, dass jede darwinistische Theorie den Grundgedanken der Adaptation beinhalten muss (wenngleich die konkreten Modellierungen variieren, vgl. Anm. 3), hat sich das Konzept der „Exaptation“ als eigenständiges Element eines biologischen Evolutionsmodells (noch?) nicht durchgesetzt. 6 Dennoch wird es in der sprachwissenschaftlichen Diskussion zum Theorieübertrag in die diachrone Morphologie häufig als besonders geeignetes Beispiel herangezogen (vgl. die einleitenden Zitate). 7 2.2. „Exaptation“ in der Linguistik 2.2.1. Der Ausgangspunkt In die Linguistik eingeführt wurde das Konzept der Exaptation durch die weithin rezipierte Studie von Lass (1990), in der unter explizitem Rekurs auf Gould/Vrba (1982) folgende Begriffsbestimmung gegeben wird: Say a language has a grammatical distinction of some sort, coded by means of morphology. Then say this distinction is jettisoned, PRIOR TO the loss of the morphological material that codes it. This morphology is now, functionally speaking, junk; and there are three things that can in principle be done with it: (i) it can be dumped entirely; (ii) it can be kept as marginal garbage or nonfunctional/nonexpressive residue (suppletion, „irregularity“); (iii) it can be kept, but instead of being relegated as in (ii), it can be used for something else, perhaps just as systematic. […] Option (iii) is linguistic exaptation. (Lass 1990: 81f.)
Als ein Phänomen der Exaptation in der Sprachgeschichte führt Lass in dieser Arbeit unter anderem die Neufunktionalisierung des alten indogermanischen Perfekt-Aorist-Ablauts als Singular-Plural-Opposition des Präteritums der starken Verben im Germanischen an (Lass 1990: 83-87; auch 1997: 317).
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Vgl. die Debatte zwischen Gould (1991a: 139-151) und Preston (1998) einerseits und Dennett (1995: 267ff.; 1998) andererseits. Umgekehrt hält z.B. De Cuypere (2005: 22) Exaptation für „a trivial concept in evolutionary biology and consequently also in linguistics“.
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Das Paradebeispiel bei Lass (und als solches auch z.B. bei McMahon 1994: 339 wiedergegeben) liefert die Morphologie des attributiven Adjektivs im Afrikaans: Ursprünglich – das heißt im Niederländischen des 17. Jahrhunderts – war die Verteilung von auslautendem -e vs. -ø vom Genus des Kopfnomens abhängig: (1) een kleyn-ø stuk NEUT vs. een kleyn-e harpoen MASK
Als im Zuge der Herausbildung des Afrikaans die Genusopposition verloren ging, kam es zu einer Neuverteilung der Endungen: 8 nunmehr bestimmt ein inhärentes Merkmal des jeweiligen Adjektivs, ob ein -e gesetzt wird oder nicht. Relevante Parameter sind dabei die Silbenzahl und die morphologische Komplexität des Adjektivs: 9 (2) ’n geheime resep vs. ’n dronk man
Laut Lass ist diese Neuverteilung exaptiv (für eine Problematisierung dieses Beispiels vgl. unten Abschnitt 2.3.1). 10 2.2.2. Weitere Beispiele In mehreren Arbeiten wurden mittlerweile weitere Fälle von Sprachwandelphänomenen beigebracht, die unter dem Lass’schen Exaptationsbegriff zu fassen sind. So hat Rohdenburg (1998: 294) gezeigt, dass in einer Varietät des Nordniederdeutschen die pronominalen Formen, die früher die Kasusopposition Dativ vs. Akkusativ zum Ausdruck gebracht haben, nach dem Zusammenbruch des Kasussystems zwar als Formenpaare erhalten geblieben sind, zumindest bei den Feminina aber eine strukturelle Umdeutung erfahren haben. Die Formen reflektieren nunmehr die Opposition [r HUMAN]:
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Dass die kategoriell basierte Verteilung des finalen -e in der niederländischen Adjektivflexion generell instabil ist, demonstriert im Übrigen Weerman (2003) anhand neuerer Entwicklungen in Non-Standard-Varietäten. Lange oder komplexe Adjektive erhalten zusätzlich noch eine -e-Endung, die anderen nicht. Nach Kotzé (2001: 387f.) spielt darüber hinaus teilweise auch der Stammauslaut eine Rolle. Im Übrigen sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Konzepte, die dem der Exaptation recht ähnlich sind, auch unter einer Reihe von anderen Termini in der Linguistik diskutiert werden, z.B.: „regrammaticalization“ (Greenberg 1991), „functional renewal“ (Brinton/Stein 1995), „hypoanalysis (underanalysis)“ (Croft 2000). – Lindström (2004) führt die Vorstellungen einiger älterer Linguisten von Whitney bis Sapir an, die dem Exaptationsgedanken teilweise recht nahe kommen.
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(3) a. He hett ehr [+HUM] (de Deern) slaan. ‘Er hat sie (das Mädchen) geschlagen.’ b. He hett se [-HUM] (de Ko) slaan. ‘Er hat sie (die Kuh) geschlagen.’
Eine vergleichbare Entwicklung (von der Kasusmarkierung zur SubGenus-Differenzierung) scheint im Walserdeutschen von Issime stattgefunden zu haben (Dal Negro 2004, Duke 2005: 47). Hier sind die alten Artikel-Formen des Maskulin Nominativ bzw. Akkusativ neu distribuiert; das Kriterium involviert nunmehr Merkmale wie [r BELEBT] oder [r INDIVIDUELL]. Dementsprechend verbindet sich die ursprünglich nominativische Form dar nurmehr mit den Wörtern für ‘Vater’, ‘Bäcker’, ‘Bürgermeister’, ‘Esel’ oder ‘Fuchs’ (allerdings auch mit ‘Wind’) – umgekehrt lautet der Artikel bei den Wörtern für ‘Butter’, ‘See’, ‘Eimer’ oder ‘Krieg’ jetzt da/dan (jedoch auch bei niederen Lebewesen wie ‘Eidechse’ und ‘Schnecke’). Kasusinformation wird hierbei nicht mehr transportiert. Für das Standarddeutsche habe ich in Simon (2003) einen Fall von Exaptation vorgeschlagen: Demnach hat sich das Honorativpronomen Sie zwar aus dem Pronomen der 3. Person Plural entwickelt; mittlerweile besitzt es aber eine ganze Reihe von spezifischen morphosyntaktischen Eigenschaften, die es von seinem Etymon abgrenzen und die somit die Annahme einer eigenständigen grammatischen Kategorie ‘Respekt’ rechtfertigen. Aus einer speziellen Kombination der Kategorien Person und Numerus hat sich also eine neue Kategorie entwickelt, die nunmehr die situativen Merkmale des typischen Verwendungskontextes (nämlich ‘Höflichkeit’) direkt in die grammatische Spezifikation des Pronomens einbaut. Damit liegt genau die Konstellation vor, die Croft (2000) als Definition für Exaptation (in seiner Terminologie „Hypoanalyse“) gibt: In HYPOANALYSIS, the listener reanalyzes a contextual semantic/functional property as an inherent property of the syntactic unit. In the reanalysis, the inherent property of the context (often the grammatical context […]) is then attributed to the syntactic unit, and so the syntactic unit in question gains a new meaning or function. (Croft 2000: 126f.)
Schließlich sei noch auf die mögliche Herausbildung eines speziellen Ableitungssuffixes im Schwedischen hingewiesen: Nach Norde (2002: 55f.) hat sich das altschwedische Nominalflexiv -on NEUT.PL.NOM/AKK zu einem derivationellen „Beerensuffix“ entwickelt, das synchron betrachtet aus allerlei Nomina die zugehörige Bezeichnung für die jeweilige Beerensorte ableitet.
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2.3. Problematisierung Die bislang referierte Literatur – ebenso wie einige weitere Arbeiten, auf die im Folgenden noch eingegangen wird – fasst sprachliche Wandelerscheinungen mit einem Begriff aus der Evolutionsbiologie. Dieser konzeptuelle Übertrag wird dabei allerdings kaum problematisiert; vielmehr werden bestimmte Phänomene des grammatischen Wandels unter Bezug auf den grundlegenden Aufsatz von Lass (1990) schlicht als „exaptiv“ bezeichnet. – Wo liegt also eigentlich das Problem? Ohne nun sogleich in das eingangs als nicht wünschenswert dargestellte Denkmuster zu verfallen, einfach ein Konzept aus einer anderen Wissenschaftsdisziplin eins zu eins zu übernehmen, ohne den spezifischen heuristischen Wert im eigenen Fachgebiet zu ermitteln, soll in diesem Abschnitt versucht werden, den Wert der Übernahme kritisch zu beurteilen. Es geht dabei um die Frage, inwieweit die bisherige Verwendung des Exaptationsbegriffs in der historischen Linguistik kompatibel ist mit dem in der Biologie verwendeten und wie gegebenenfalls Modifikationen vorzunehmen sind – entweder in der Linguistik oder auf einer abstrakteren Ebene in einer Allgemeinen Wandeltheorie. In erster Linie sind es zwei Problemkreise, die nach meinem Dafürhalten bei einem solchen Abgleich relevant sind: erstens die Frage der Funktionalität der involvierten Struktur und zweitens – und das ist die Kernfrage im Kontext einer Diskussion um „sprachliche Verstärkung“ – der Aspekt des „junk“, der als Ausgangspunkt einer Exaptation gesehen wird. 2.3.1. Exaptation mit neuer Funktion? Als ein zentrales Kriterium, um eine Exaptation als solche zu identifizieren, wird häufig der funktionale Sprung angesehen, den die beteiligte Struktur in einem solchen Fall macht: [E]xaptation creates new functions. […] Changes catalogued under the rubric of exaptation, by contrast [to early stages of grammaticalization, HS], involve the assignment of new morphosyntactic functions to elements which are already centrally part of the grammar, and typically part of the paradigmatic core of the morphological system. Such changes are different too from the later stages of grammaticalization, in which the development is from less centrally to more centrally grammatical, in that they involve shifts between non-adjacent areas of morphological meaning or function. (Vincent 1995: 434 bzw. 438; Hervorhebungen von mir, HS) [E]xaptation is ‘conceptual invention’, not extension or levelling or reformulation of paradigms in accordance with a ‘target’ or a ‘model’. In exaptation the ‘model’ itself is what’s new. (Lass 1997: 319; Hervorhebung von mir, HS)
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Nun ist es allerdings so, dass bei vielen Fällen, die als Beispiele für sprachliche Exaptationen angeführt werden, fraglich ist, ob dabei eine wirklich neue Funktion entsteht. Denn in der Biologie wird die bloße Intensivierung einer bereits vorhandenen Funktion üblicherweise nicht als exaptiv verstanden: Bei Eisbären ist die Thermoregulation intensiver als bei Spatzen (durch die besondere Fettschicht und das dicke Fell); doch trotz dieser funktionalen Verstärkung bereits vorhandener Körperelemente können erstere nicht fliegen. Der funktionale Sprung zur Flugfähigkeit würde aber erst das Wesen der Exaptation ausmachen. Vergleichbare Szenarien gibt es in der Linguistik: So bespricht Lass als Beispiel für Exaptation (1997: 320-324) die Entstehung des reichhaltigen Kasusparadigmas im Finnischen: Zusätzlich zu den altererbten zentralen Kasus haben sich die Lokalkasus und einige weitere (wie der Translativ oder der Komitativ) erst relativ spät entwickelt; diese beinhalten ursprünglich derivationelle Formative. Hinsichtlich des in Frage stehenden Status als Exaptation lässt sich nun einwenden, dass hier lediglich der Ausbau einer bereits vorhandenen grammatischen Funktion (nämlich die Relationierung von Aktanten innerhalb eines Satzes mittels Kasus) stattgefunden hat; die damit einhergehende Umstrukturierung innerhalb der Kasuskategorie stellt aus meiner Sicht noch keine Neu-Funktionalisierung, also auch keine Exaptation dar. Diese Argumentation gilt in entsprechender Weise für ein zweites Lass’sches Beispiel (1990: 98f.), das schon mehrfach zur Illustration des Exaptationsbegriffs herangezogen worden ist. 11 Es handelt sich dabei um den analogischen Umlaut vom Typ ahd. staba PL > mhd. stäbe PL . Der ursprünglich rein phonologische Prozess der Palatalisierung des Stammsilbenvokals vor gewissen Lauten in der Folgesilbe wurde im Mittelhochdeutschen umgedeutet als nunmehr eigenständiger morphologischer Marker zur Pluralkennzeichnung, der dadurch auch in Fällen verwendet werden konnte, bei denen vordem gar kein phonologisch auslösender Faktor vorhanden gewesen war. 12 Weiter ausgreifend diskutiert Wegener (2005) die Entwicklung des gesamten Spektrums der deutschen Pluralmarker unter der Perspektive einer möglichen Einordnung in die Begrifflichkeiten der Grammatikalisierungstheorie. Auch sie kommt dabei zu dem Schluss, dass es sich hierbei um „die Entwicklung eines grammatischen Markers aus einem anderen grammatischen Marker [handelt], die somit einen Fall von Exaptation darstellt“ (S. 98). Doch ähnlich wie Kasus
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Zum Beispiel in Croft (2000: 128) und Gaeta (2004: 49-52). Dieser Prozess ist eingängig nachgezeichnet in Sonderegger (1979: 279-318). – Ein weiteres instruktives Beispiel für morphologisch produktiven Umlaut liefert Lass (1990: 99) mit der Stammveränderung der amerikanisch-jiddischen Lehnübertragung švits-šop (aus dem englischen sweat-shop ‘Ausbeuterbetrieb’): im Plural lautet dieses Lexem švits-šep-er.
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ist auch Numerus keine neue Kategorie im Deutschen; hier wird lediglich ein spezifisches Markierungsmuster von einer Gruppe von Lexemen auf eine andere Gruppe übertragen: richtig neu ist daran nichts. Eine neue Funktion (vom Typ Flugfähigkeit ö.Ä.) wird also auch hier nicht entwickelt. Schließlich sei noch einmal auf das bereits erwähnte Beispiel aus der Adjektivdeklination des Afrikaans verwiesen: wenn das attributive -e nunmehr nach lexeminhärenten morphophonologischen Merkmalen verteilt ist, dann liegt hier ein lexikalisch gesteuertes „reconditioning“ vor (d.h. das Bedingungsgefüge seines Auftretens ändert sich), nicht aber die Etablierung einer neuen Funktion. 13 Die gerade skizzierte Problematik hängt zu einem nicht geringen Teil an der Frage, was genau unter einer „Funktion“ zu verstehen sei. Auf welcher Ebene soll man sprachliche Funktionen definieren? – Bei der Betrachtung der Grammatik einer Sprache kommen hierbei – neben globalen kommunikativen Funktionen – in erster Linie die je spezifischen Strukturen in Betracht, die als „grammatische Kategorien“ bezeichnet werden: 14 Kategorien wie beispielsweise Tempus oder Numerus kodieren die Funktionsdomänen eines grammatischen Systems (hier einerseits zeitliche Relationierung und andererseits Zahligkeit) und strukturieren diese mittels ihrer kategoriellen Werte (also z.B. [± PAST] oder SG vs. PL vs. DU). Es ist dies die Ebene, hinsichtlich derer sich im Sprachvergleich die grundlegendsten Differenzierungen ergeben (vgl. Jakobson [1959]1971); insofern ist dies ein guter Anknüpfungspunkt zur funktionalen Betrachtungsweise der verschiedenen Spezies mit ihren jeweiligen Charakteristika in der Evolutionsbiologie (wobei nicht vergessen werden sollte, dass auch unterschiedliche synchrone und evolutiv-diachrone Definitionen von „Spezies“ in Umlauf sind). – Natürlich wird man je nach Definition von „Funktion“ in der Grammatik zu anderen Ergebnissen kommen, wie Neu-Funktionalisierungen zu begreifen sind und wie demnach die im vorliegenden Abschnitt besprochenenen Vorschläge für
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Vgl. hierzu auch van Marle (1995: 287f.). – Im Übrigen ist bei den afrikaansen attributiven Adjektiven wohl doch eine Neufunktionalisierung zu beobachten, wenn auch anders geartet als bislang angenommen; und zwar markiert das finale -e in manchen Fällen von übertragenem Gebrauch so etwas wie Intensivierung (vgl. Klopper 1989: 106): i. ’n vol koppie ‘eine volle Tasse’ vs. die volle waarheid ‘die ganze Wahrheit’ ii. ’n vuil kind ‘ein dreckiges Kind’ vs. so ’n vuile vent ‘so ein echt fieser Kerl’ Damit soll ein etwas weiteres Konzept als das der „morphologischen Kategorien“ verstanden werden, um so auch Sprachen mit wenig morphologischer Struktur erfassen zu können (vgl. für eine Diskussion Simon 2003: 24-34; dort auch Hinweise zu terminologischen Entsprechungen in verschiedenen Grammatiktraditionen).
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Exaptation beurteilt werden sollen. Zu diesem Punkt wäre eine weitergehende Diskussion wünschenswert. 15 2.3.2. „junk“ als Ausgangsmaterial für Exaptation? Einen zweiten zentralen Gesichtspunkt bei der Begriffsbestimmung von „Exaptation“ stellt der funktionale Status des morphologischen Ausgangsmaterials dar. In der einschlägigen Basispublikation (Lass 1990) wurde der linguistische Exaptationsbegriff im Kontext von grammatischem Recycling eingeführt. Und in diesem Kontext lief auch weitgehend seine Rezeption in der sprachwissenschaftlichen Literatur. So schreibt beispielsweise Harnisch (2004: 222) anlässlich einer Erörterung des Verstärkungsprozesses der morphologischen „Sekretion“, dass es offensichtlich ein stark ausgeprägtes sprecherseitiges Bedürfnis gibt, ausdrucksseitigen Überschuss („junk“) semantisch (wieder und anders als ursprünglich) zu nutzen (zu „exaptieren“).
Hier wird durch die in Klammern gesetzten Termini ein spezifischer Konnex suggeriert: Exaptation soll offenbar verstanden werden als Recycling von überschüssigem, d.h. ehedem funktionalem, nunmehr aber ‚nutzlos’ gewordenenem sprachlichen Material (eben dem „junk“). 16 Es soll sich also um (Re)Morphologisierung rein phonologischer Substanz handeln. Ein Blick in die biologische Literatur zeigt aber, dass eine solche Verbindung keineswegs konstitutiv für den Exaptationsbegriff ist: Features coopted as exaptations have two possible previous statuses. They may have been adaptations for another function, or they may have been non-aptive [d.i. non-functional, HS] structures. […] Exaptations […] are not fashioned for their current role and reflect no attendant process beyond cooptation […]; they
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Im Übrigen ist eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der relevanten Hierarchieebenen, auf denen „Funktionen“ angesiedelt sein und auf denen folglich die evolutiven Veränderungen stattfinden können, durchaus charakteristisch für evolutionäre Wandelmodelle. So ist umstritten, auf welcher Ebene die „unit of selection“ anzusetzen sei: In der Biologie sind beispielsweise das Gen, der Organismus, die Gruppe von Organismen und die Spezies in der Diskussion (vgl. Arnold/Fristrup 1982). In der Linguistik wurden vorgeschlagen: die Äußerung (Croft 2000), die Sprache bzw. Varietät (Mufwene 2001) und ein ganzes Spektrum von funktionalen Rängen (Ritt 2004). In der Tat kann man Lass (1990) als eine Streitschrift gegen die streng-strukturalistische Überinterpretation von vermeinlichen Funktionen ausdrucksseitiger Strukturen lesen. Der eingängige Obertitel (‚How to do things with junk’) legt dies ja auch nahe (vgl. zu dieser anti-strukturalistischen Grundhaltung, die auch durch die Betonung von „bricolage“ usw. deutlich wird, die weiterführende Debatte in Lass 1997, insbesondere S. 307ff.). – Und genau in diesem speziellen Argumentationsrahmen liegt die Quelle für das im Folgenden beschriebene Missverständnis.
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were built in the past either as nonaptive by-products or as adaptations for different roles. (Gould/Vrba 1982: 12)
Entscheidend für den Exaptationsgedanken ist die Abgrenzung von der Adaptation – die Entstehung der in Frage stehenden Struktur darf nicht durch ihre Funktion motivierbar sein; ob sie ursprünglich irgendeine andere oder eben keine Funktion hatte, ist dagegen irrelevant. Dass die Federn bei Vögeln trotz ihrer Hauptfunktion im Bewegungsapparat weiterhin (auch!) thermoregulativ wirken, spielt keine Rolle für die Einordnung der Flugfähigkeit als Ex- oder Adaptation. In der Linguistik hat Lass selbst die Irrelevanz des funktionalen Aspekts erkannt: Exaptation […] is opportunistic: it is a kind of conceptual renovation, as it were, of material that is already there, but either serving some other purpose, or serving no purpose at all. Thus perfectly ‚good’ structures can be exapted, as can junk of various kinds. (Lass 1997: 316)
Das bedeutet nun, dass das Konzept der Exaptation auch Fälle einschließt, bei denen das exaptierte Material neben seiner neu hinzugewonnenen Funktion die alte einfach beibehält („non-junk exaptation“). 17 Hier schließt sich natürlich die Frage an, ob das solchermaßen verstandene Konzept noch unter die Rubrik „sprachliche Verstärkung“ bzw. „Up the Cline“ fällt. 18 – Insofern das Ausgangsmaterial einer Exaptation nicht notwendigerweise funktionslos ist, bedeutet eine Umfunktionalisierung nicht automatisch eine „Degrammatikalisierung“; vielmehr ist – um im Bild zu bleiben – so etwas wie eine Seitwärtsbewegung quer zum Hang zu konstatieren. Nicht ausgeschlossen ist in einer solchen Sichtweise natürlich eine weitere Entwicklung der exaptierten Formen, d.h. eine – wenn man so will – Anpassung an die neue grammatische Funktion: indem die anfangs unumgängliche Homonymie aufgelöst wird, erhält die neue Funktion eine spezialisierte Form, die nunmehr qua phonologischer Individualität gut geeignet ist, als spezifischer grammatischer Marker zu fungieren. Als Beispiel für eine solche Entwicklung kann das Honorativpronomen (samt kongruierender Verbalformen) im Bairischen dienen. 19 Während im Standarddeutschen infolge der Oberflächenhomonymie sowohl die pronominale als auch die verbale Form in (4) ambig sind (sie können sowohl
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Damit stehe ich im womöglich im Gegensatz zur Auffassung von Wischer (in diesem Band). Unter der letztgenannten Überschrift war die Vortragsfassung des vorliegenden Beitrags auf dem Passauer Symposion eingeordnet. Für Details vgl. Simon (2004). Leider muss dieses Beispiel tentativ bleiben, denn umfangreichere materialbezogene diachrone Untersuchungen zur Anrede in deutschen Dialekten stehen noch aus.
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für ‘2. Person Honorativ’ als auch für ‘3. Person Plural’ spezifiziert sein, vgl. Abschnitt 2.2.2.), besitzen diese beiden grammatischen Spezifikationen in weiten Teilen des Bairischen zwei unterschiedliche phonologische Ausprägungen – mithin spiegeln sich die morphologischen Merkmale auch ausdrucksseitig wider. (4) Sie singen. (5) Se singand (3.PL) – Sie singan (2.SG.HON)
Wir beobachten hier das grammatische Äquivalent zu den auch in der Biologie nicht seltenen sekundären Adaptationen, die typischerweise mit einem Exaptationsprozess einhergehen: Any coopted structure (an exaptation) will probably not arise perfected for its new effect. It will therefore develop secondary adaptations for the new role. (Gould/Vrba 1982: 12)
So haben sich etwa bei vielen Vogelarten die aerodynamischen Eigenschaften der Flügel durch Veränderungen der Spannweite usw. in einer Weise verändert, die günstig für den Flug, aber u.U. weniger günstig für die Temperaturregulation ist.
3. Fazit: Vorschlag zur Begriffsbildung Steht man einem konzeptuellen Abgleich mit anderen Wissenschaftsdisziplinen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, so stellt sich die Aufgabe, bei der Begriffsbildung im eigenen Fach immer die parallelen Traditionen in den Nachbardisziplinen mitzubedenken. Andernfalls stellen sich einer in Zukunft möglicherweise avisierten Zusammenführung der Modelle auf einer abstrakteren Ebene kaum mehr überwindbare Hürden in den Weg. Im konkreten Fall habe ich in diesem Aufsatz dafür plädiert, bei der Übernahme des Konzepts der „Exaptation“ aus der Evolutionsbiologie in die Sprachwandeltheorie den ursprünglichen Begriffsgehalt nicht aus den Augen zu verlieren. In Übereinstimmung mit der Terminologiebildung in der Biologie schlage ich deshalb vor, den Begriff der Exaptation künftighin für solche Fälle zu reservieren, bei denen bereits vorhandenes grammatisches Material wiederverwendet wird, um eine kategoriell neuartige Funktion zum Ausdruck zu bringen. Schlagwortartig ließe sich dies vielleicht folgendermaßen auf eine Formel bringen: ALTE FORM > NEUE FUNKTION
Wichtig ist dabei, dass eine Präzisierung gegenüber der bisherigen Verwendung in der linguistischen Literatur in zweierlei Hinsicht vorgenommen wird:
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Einerseits ist der funktionale Status des exaptierten Materials irrelevant. Es muss also keineswegs immer nur „junk“ sein, der eine neue Funktion erlangt. Vielmehr können auch durchaus voll funktionale Elemente einer Grammatik in einem Umkategorisierungsprozess eine Zusatzfunktion zugewiesen bekommen. Dieser Prozess lässt sich gut illustrieren an der Herausbildung der Respekt-Kategorie mit der Honorativform Sie im Standarddeutschen, denn /zi:/ fungiert natürlich auch weiterhin als Pronomen der ‘3. Person Plural’. 20 Umgekehrt ist es aber nicht ausgeschlossen, dass der Exaptationsprozess phonologisches Material involviert, das synchron gesehen keine Funktionalität (mehr) besitzt, das also seine grammatische Funktion im Zuge einer sprachlichen Verstärkung (wieder)gewinnt. Beispiele für diese Entwicklung wären die Refunktionalisierung von ehedem kasusmarkierenden Suffixen, die im Zuge des Kasusabbaus funktionslos geworden sind: sie werden umfunktioniert zu Anzeigern von Sub-Genera wie im Niederdeutschen und im Südalemannischen oder zu einem speziellen Derivationssuffix wie im Schwedischen. Auch die von Nübling (in diesem Band) beschriebene Herausbildung des onymischen Suffixes -ert im Deutschen wäre hierher zu stellen. Andererseits scheint es mir wichtig, nur solche Entwicklungen als echte Fälle von Exaptation anzuerkennen, bei denen auch wirklich ein funktionaler Sprung stattfindet, bei denen also eine neue grammatische Funktion aufgebaut wird – oder anders formuliert: bei denen eine zuvor nicht vorhandene grammatische Kategorie ins Sprachsystem integriert wird. Fälle dieser Art scheinen nicht sehr häufig zu sein. Sprachwandel vollzieht sich offenbar in erster Linie entlang bereits vorhandener grammatikalischer Bahnen, d.h. als Wandel innerhalb einer Kategorie. Dieser Aufbau von Werten einer Kategorie (z.B. Hinzugewinnung einer ganzen Palette neuer Kasuswerte im Finnischen) 21 oder die Herausbildung zusätzlicher Marker für Kategorienwerte (wie beim deutschen Plural) können sehr wohl als Prozesse sprachlicher Verstärkung verstanden werden (insofern nämlich eine Kategorie in ihrer Ausprägung gefestigt wird); nur mit dem hier zur Diskussion stehenden Exaptationsbegriff sollte er nicht in Verbindung gebracht werden. 22 Als gute Beispiele für Neu-Kategorien sind
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In Simon (2003: 191-197) wurde für diese Form einer systematischen Doppelfunktionalisierung der Begriff des „morphologischen Parasiten“ geprägt. Umgekehrt ist natürlich auch mit dem Abbau von Kategorienwerten ohne den Verlust der Kategorie als solcher zu rechnen, vgl. z.B. den Verlust des Duals innerhalb der Indogermania bei grundsätzlicher Beibehaltung der Kategorie Numerus. Ironischerweise führt diese Betrachtungsweise allerdings dazu, dass das bislang am häufigsten zitierte Beispiel für Exaptation in der Linguistik, die von Lass (1990) besprochene Entwicklung der afrikaansen Adjektivendung -e, aus dem Geltungsbereich des Begriffs ausgeschlossen wird, denn seine mittlerweile rein lexikalisch festgelegte Distribution stellt keine Funktion im grammatischen Sinne dar – bzw.: gemäß der in Anmerkung 14 er-
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wieder die im vorhergehenden Abschnitt zusammengestellten zu nennen: im Deutschen die (pro)nominale (und verbale) Kategorie Respekt als grammatikalisierte Höflichkeit und das Namen ableitende Derivationssuffix, im Schwedischen das „Beerensuffix“. 23 Insgesamt tragen die hier vorgetragenen Überlegungen hoffentlich dazu bei, im Interesse einer Allgemeinen Wandeltheorie verstärkt den Konnex zu anderen Wissenschaften zu suchen und dabei aber stets wachsam zu sein für mögliche begriffliche Verschiebungen, die sich im Übertrag über die Disziplingrenzen hinweg einschleichen mögen. Der Begriff der Exaptation kann – bei umsichtiger Anwendung – dazu dienen, Parallelen zwischen biologischer und grammatischer Evolution aufzuzeigen. – Hier lässt sich an eine Denktradition anknüpfen, die bis in die früheste interdisziplinäre Verschränkung von Sprachwissenschaft und Biologie zurückreicht, denn bereits im 19. Jahrhundert war die methodische und gegenstandsbezogene Ähnlichkeit der beiden Fächer Antrieb zur Theoriebildung: Diess wäre nun etwa, lieber Freund und College, das, was mir in den Sinn kam, als ich Deinen verehrten Darwin studierte […]. Begreiflicher Weise konnten es nur die Grundzüge der Darwinschen Anschauungen sein, die auf die Sprachen Anwendung finden. Das Reich der Sprachen ist von dem der Pflanzen und Thiere zu verschieden, als dass die Gesammtheit der Darwinschen Ausführungen mit ihren Einzelheiten für dasselbe Geltung haben könnte. Desto unbestreitbarer ist aber auf sprachlichem Gebiete die Entstehung der Arten durch allmähliche Differenzierung und die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im Kampfe ums Dasein. Die beiden Hauptpunkte der Darwinschen Lehre theilen also mit mancher anderen wichtigen Erkenntniss die Eigenschaft, dass sie auch in solchen Kreisen sich bewähren, welche anfänglich nicht in Betracht gezogen wurden. (Schleicher 1873: 33)
Auch das neo-darwinistische Konzept der Exaptation als „neue Funktion in alter Form“ (unabhängig von der Frage nach dem Status als „junk“) lässt sich in diesem Sinne in die Sprachwandeltheorie überführen. Eine „sprachliche Verstärkung“ ist dadurch auf jeden Fall gewährleistet – zumindest im Hinblick auf die Verwendung von wissenschaftlicher Terminologie.
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wähnten Analyse von Klopper handelt es sich hier sehr wohl um eine Exaptation, allerdings mit einer ganz anderen Funktionalisierung, namlich Intensivierung. Etwas unsicher bin ich bei der Einschätzung der Sub-Genera in den deutschen Dialekten: es mag sein, dass [r HUMAN] oder [r BELEBT] lediglich als zusätzliche Werte von Genus aufgefasst werden sollten, mithin also auch hier keine Exaptation in meinem Sinne vorliegt.
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„… es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ Remotivationstendenzen 1. Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn 1.1. Das schönste deutsche Wort Das Wort Das Deutsche, so heißt es, sei eine Wortbildungssprache. Wenn das so ist, und es spricht Einiges dafür, ist es vielleicht gar nicht überraschend, wenn man den verloren gegangenen Sinn von Wörtern in seinen Teilen sucht, sofern man der im Titel dieses Beitrags anzitierten Sentenz nachzukommen sucht, die Johann Wolfgang von Goethe dem Mephistopheles im „Faust“ in den Mund legt. Dass es gerade Mephisto ist, der das sagt, mag die Formulierung nahe legen, dass hier, wie so oft, der Teufel im Detail liege. Nicht immer geben die Wörter ihr Wesen in gleicher Deutlichkeit preis, und die Wörter und ihre Teile sprechen nicht zu allen Nutzern in der gleichen Weise. Was der Einzelne in einem komplexen Wort sieht, weist auf unterschiedliche Geschichten, aus denen er die Bestandteile solcher Wörter zu kennen glaubt. Und wenn es auch logischerweise und bekanntermaßen keine Privatsprache gibt, die Welt unserer Geschichten ist doch nicht völlig deckungsgleich. Die Probe auf dieses Exempel lieferte in ungeahnt deutlicher Weise das Ergebnis des Wettbewerbs um das „schönste deutsche Wort“, den der Deutsche Sprachrat unter Leitung des Goethe-Instituts im Jahr 2004 ausgeschrieben hatte. 1 Die weltweit ergangene Aufforderung, Vorschläge für das schönste Wort des Deutschen einzureichen, fand ein überwältigendes Echo. Um die 22.000 Einsendungen waren eingegangen, als man
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Zum „Deutschen Sprachrat“ haben sich das Goethe-Institut, die Gesellschaft für deutsche Sprache und das Institut für Deutsche Sprache – und jetzt auch noch der DAAD – zusammengeschlossen, um als die öffentlichen Institutionen, die sich mit der deutschen Sprache im In- und Ausland beschäftigen, besser gehört zu werden, wenn in der Öffentlichkeit sprachliche Fragen diskutiert werden.
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sich daran machte, daraus den Sieger zu küren. Mag auch manches nicht klar gewesen sein, soviel war klar: das schönste deutsche Wort gibt es nicht, es gibt allenfalls bessere, phantasievollere, überzeugendere Begründungen dafür, warum man das Wort seiner Wahl für das schönste hält. Und es konnte nicht darum gehen, den Namen für die schönste Sache zu prämieren: dieser Überlegung fielen viele höchst populäre Vorschläge zum Opfer, an vorderster Stelle das etwa viertausend Mal genannte Liebe. Da uns die weiteren Stufen der Entscheidungsfindung hier eigentlich nicht zu interessieren brauchen, können wir unmittelbar auf das Ergebnis zusteuern. Als das Wort mit der schönsten Begründung wurde die Einreichung Habseligkeiten gewählt. Ein Wort mit solch einer Struktur erfüllt schon wesentliche Voraussetzungen, um zu den üblichen Verdächtigen gerechnet zu werden. Wenn man Vermutungen anstellt, was die Seelenlage bei solch einer Wahl insgesamt ist, so hätte man – wie der Autor dieser Zeilen an entsprechender Stelle 2 – als jene Zeit unserer Geschichte, die einen positiv besetzen Platz in unserem kommunikativen Gedächtnis einnimmt, die Phase jener empfindsamen Aufklärung vermutet, in der sich die entstehende bürgerliche Identität im späten 18. Jahrhundert ihre typisch deutsche Ausprägung schafft. Und vermutet hätte man auch, dass es eines jener Abstrakta mit freundlicher Bedeutung sein würde, die das Sprechen von unseren Gefühlen und unseren Eigenheiten schon seit der Höhe des Mittelalters begleiten. Wenn das alles so ist, dann ist Habseligkeiten von seiner Form her schon einmal eine gute Wahl. Es musste dann nur noch eine passende Bedeutung haben – oder zugeschrieben bekommen. Den Preis gewann dem Wort und seiner Einsenderin die beigegebene Begründung. Sie passt vorzüglich zu den gerade geschilderten historischen Präferenzen. Auf den Sinn aus den Teilen nimmt der Kernsatz dieser Begründung folgendermaßen Bezug: (1) Lexikalisch gesehen verbindet das Wort zwei Bereiche unseres Lebens, die entgegengesetzter nicht sein könnten: das höchst weltliche Haben, d.h. den irdischen Besitz, und das höchste und im irdischen Leben unerreichbare Ziel des menschlichen Glücksstrebens: die Seligkeit.
Ist das so? Die professionellen Linguisten wussten oder wähnten jedenfalls die etymologischen Wörterbücher auf ihrer Seite und waren empört. 3 Denn tatsächlich handelt es sich bei dem Element selig in diesem Wort etymologisch mitnichten um eine gebundene Entsprechung des selbständigen adjektivischen Lexems selig. Es geht bei dem -sel- nicht um die
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Vgl. Eichinger (2004); der dort vorgelegte Text musste aus produktionstechnischen Gründen vor Abschluss des Wettbewerbs fertig gestellt werden. Ausgewogenere Überlegungen brauchten offenbar eine gewisse Zeit, vgl. Brückner (2006).
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Basis dieses Adjektivs, sondern um eine Art Kollektivsuffix, wie in Rätsel oder in Mühsal, von dem mittels des Suffixes {-ig} Adjektive gebildet werden. Also doch nicht? Verblüffend mag es sein, dass niemand darüber nachdachte, was man mit einem Wort macht, bei dem dieses *Habsal offenbar niemals belegt war und es ein Adjektiv habselig auch schon lange nicht mehr gibt. Ist das historischer Zufall oder ein Anlass für die boshafte Bemerkung Jespersens, Etymologie sei die Wissenschaft davon, was Wörter nicht bedeuteten? 4 Eigentlich ist unser Fall beides nicht, sondern eigentlich der Beleg, dass Sprecher auch in Fällen, in denen eine Deutung nicht durch kollektive Anerkennung einer Norm gestützt wird, nicht völlig beliebig handeln. Zumindest bei der inkriminierten Deutung des in Frage stehenden Wortes war das nicht der Fall. Wer weiß? Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen all den {sal}- und {sel}-Elementen durch das historische Kommen und Gehen im Wortschatz einigermaßen verwirrt. Jemand, der nach Sinn sucht, hat hier keine ganz leichte Aufgabe, aber durchaus einige Möglichkeiten. Im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung von den klaren Ursprüngen dieses Wortes, sind schon die professionellen Etymologen in der Deutung der historischen Abläufe wesentlich vorsichtiger. So verweist nicht nur das in seinen Interpretationen immer etwas großzügigere etymologische Wörterbuch von Pfeifer darauf, dass sich das Element {-selig} – wenn auch zu unterscheiden von selig ‘glücklich’ – doch einigermaßen als eine Art Suffix selbständig gemacht habe, und nicht nur zu -sal-Wörtern gebildet worden sei wie in mühselig. Vielmehr seien zum Teil diese Basiswörter weggebrochen, so bei saumselig. Zum Teil sind diese Ableitungen wieder verschwunden wie etwa bei Labsal das im 16. Jahrhundert belegte labselig. Aber auch der in der Seeboldschen Bearbeitung jeglicher Spekulation abholde Kluge zieht eine Art kreuzklassifikatorischer Motivation in Betracht. Unter dem Lemma Habseligkeiten finden sich dazu die folgenden Ausführungen: (2) Zu Habseligkeit ‘Habe’, das auf ein Adjektiv habselig (und dieses wiederum auf ein *Habsal […]) verweist. Möglicherweise ist das Substantiv aber in Analogie zu Armseligkeit, Saumseligkeit usw. gebildet.
Und wie ist das nun mit der Armseligkeit und der Saumseligkeit? Zumindest das Adjektiv zu diesem letzteren Wort fand ebenfalls Platz in der
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Den Hinweis auf diese Bemerkung verdanke ich Gerhard Stickel.
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engeren Auswahl der schönsten deutschen Wörter, die in der diesem Wettbewerb folgenden Publikation enthalten und dokumentiert sind. Hier geht es bei der Begründung für die Auswahl dieses Worts kühner zu, zumindest was das Erstelement angeht. Offenbar lässt sich auch in diesem Kontext offenbar das Element selig nicht mehr leicht mit seiner selbständigen Verwendung verbinden. (3) Mein schönstes deutsches Wort lautet „saumselig“, weil es aus einer Epoche stammt, als die Zeit noch Ränder hatte, als die Zwischenräume, in denen sich selig trödeln ließ, noch nicht ganz an Zwecke und Ziele verloren waren.
Dass der Bezug auf den Saum – statt auf die offenbar verdunkelte verbale Basis, die am ehesten in versäumen noch lebendig ist – jenem alten Opernscherz gleicht, der die Arie „Oh, säume nicht geliebte Seele“ zum Lied der Näherin erklärt, soll nicht weiter verfolgt werden. Erkennbar gibt es weder eine Basis *Saumsal, noch steckt in diesem selig jener positive ‘Glücks’-Aspekt, der das selbständige Wort selig kennzeichnet und der von der zitierten Begründung als vergangen herbeigerufen wird – an der Stelle aber wohl nie da war. Welche Folgen hat das für dieses Feld heute: leben wir in einem Homonymie- oder in einem Polysemiefeld? Wie selig dürfen wir sein? Ganz offenkundig gibt es eine Spannbreite, deren eines Ende durch ein Wort wie Habseligkeiten markiert ist. Die Bildungen an diesem Ende gruppieren sich um substantivische deverbale Derivationen mit dem kollektiven Suffix {-sal}, zu denen mittels {-ig} in üblicher Weise ein Adjektiv gebildet wird. 5 Von dem kann auch ein Abstraktum mit {-keit} abgeleitet werden. Offenbar haben in dieser Regelmäßigkeit nur relativ wenige Lexemreihen überlebt, z.B.: (4) Mühsal – mühselig – Mühseligkeit
Üblicher ist, dass zwar historisch das eine oder andere Element solch einer Reihe gebildet wurde, aber wieder verschwunden ist, so dass für einen synchronen Sprecher zum Teil recht schwer analysierbare erratische Einzelbausteine in seinem Lexikon herumstehen: (5) Labsal; saumselig
Das führt schon seit langem dazu, dass analog Bildungen mit einem Suffix {-selig}, das Dispositionsadjektive erzeugt, entstehen: (6) feindselig, holdselig
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Dieses Suffix ist das Standardmittel, um ohne weitere Umwege desubstantivische Qualitätsadjektive zu bilden; s. Eichinger (2000: 211).
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Dabei kann man sich in den Übergängen, zu denen man holdselig zählen könnte, fragen, ob man nicht schon am anderen Ende angekommen ist, bei den Komposita mit dem freien Adjektiv und mit häufig kausaler Bedeutungsrelation – wie sie für adjektivische Komposita typisch ist. 6 (7) glückselig, weinselig
Und sollte man sich über all diese Übergänge klar geworden sein, unter Einbezug der jeweils damit verbundenen negativen und positiven Konnotationen, so kommen immer wieder Wörter hervor, die einen ins Grübeln bringen: (8) redselig
Diesen Befund, der von der Existenz von einer Reihe von Kristallisationskernen für solche Bildungen ausgeht, kann sich vom neuesten Kluge bestätigt fühlen, einmal schon dadurch, dass sich nicht nur selig, sondern auch -selig als Lexikoneintrag findet, dann aber auch durch die folgenden Ausführungen zu -selig: (9) Nur teilweise (wie in glückselig, gottselig, leutselig) eine Zusammensetzung mit selig (die aber nicht mehr recht durchschaut werden kann). In Fällen wie trübselig, mühselig usw. liegen dagegen Ableitungen zu Trübsal, Mühsal usw. vor.
Was schließt man daraus? Der Mangel an Durchschaubarkeit führt zu einem Überschuss an Analogisierungsversuchen. 7 Von der Macht der Analogie insgesamt Mit seinen sich überlagernden Beziehungen steht unser Beispielelement nicht allein; man braucht nicht an so wenig durchsichtige Fälle zu denken wie die beiden Ursprünge des verbalen Präfixes {ent-}, es geschieht das auch bei Elementen, die viel mehr lexikalisches Material mit sich bringen. Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist das reihenbildende Zweitelement {-sucht}, das auf den ersten Blick zwei deutlich unterschiedene Kerne kennt. Zum ersten ‘die Sucht, das Suchen nach’ wie in (10), und zum zweiten die ‘Erkrankung, Süchtigkeit, „Seuche“’ deren Symptome im Erstelement genannt werden. Dafür stehen die Beispiele in (11).
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Unter den immer prekären adjektivischen Determinativkomposita ist das immerhin noch eine der solidesten Gruppen, vgl. Eichinger (2000: 207). Auch Adelung, wiewohl näher an manchen der inzwischen veralteten Verwendungen, tut sich nicht leicht mit Beschreibung und Abgrenzung der verschiedenen Typen (s. Adelung 1811, II: 881 s. v. Habseligkeit und IV: 57 s. v. -selig bzw. selig).
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(10) Abenteuersucht, Ämtersucht, Änderungssucht (11) Gelbsucht, Magersucht, Schwindsucht
Und wie immer das irgendwann einmal gewesen sein mag, in manchen Fällen sind beide Deutungen möglich und irgendwie miteinander amalgamiert, wie in (12): (12) Kokainsucht
Wenn man die entsprechenden Adjektive anschaut, dann scheint es so, dass Bildungen mit {-süchtig} eigentlich nur bei Kompatibilität mit der Krankheits-Bedeutung problemlos bildbar sind. Die in (13), (14) und (15) aufgeführten Entsprechungen zu den oben genannten Substantiven zeigen in dieser Hinsicht zwei entsprechende Schwachstellen. Sie sind mit den Fragezeichen markiert, nur sie sind auch in dem neuen rückläufigen Wörterbuch von Lee (2005) nicht verzeichnet. (13) abenteuersüchtig, ?ämtersüchtig, ?änderungssüchtig (14) gelbsüchtig, magersüchtig, schwindsüchtig (15) kokainsüchtig, fortschrittssüchtig
Es ist vielleicht nicht überraschend, dass sich entscheidende Hinweise auf dieses Phänomen beim Klassiker der Analogieforschung, Hermann Paul, an der Stelle finden, wo er über die formalen Proportionsgruppen spricht: (16) Seltener ist es, dass ein Wort als Ableitung von einem andern gefasst wird, mit dem es ursprünglich nichts zu schaffen hat. Nhd. Sucht wird vom Sprachgefühl als zu suchen gehörig empfunden, ist aber hervorgegangen aus mhd. suht (= got. sauhts), das mit mhd. suochen (got. sôkjan) nichts zu schaffen hat. Die neuhochdeutsche Anlehnung an suchen ist ausgegangen von Kompositis wie Wassersucht, Mondsucht, Gelbsucht, Schwindsucht, Eifersucht, Sehnsucht, Ehrsucht etc., die man als Begierde nach dem Wasser, nach dem Monde, gelb zu werden, zu eifern etc. auffasste. H. Sachs fasst -sucht noch als Krankheit, wenn er sagt wann er hat auch die Eifersucht. Vgl. dagegen den bekannten Spruch Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. (Paul 1920: 220)
1.2. Noch mehr schöne Wörter: eigentlich … Eigentlich 1 Zu trennen von jenem Hang zur Analogisierung, der gelegentlich anhand oberflächlicher Ähnlichkeiten und Assonanzen über geschichtliche Grenzen hinweggeht und damit durchaus neue Systematisierungen schafft, ist eine andere Art der Lektüre von Wörtern, die im Laufe der Zeit an Motiviertheit verloren haben, aber immerhin noch ein Gutteil an Durchsich-
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tigkeit mit sich tragen. Diese Neigung spiegelt sich in eher alltäglichen Bemerkungen wie der, dass Kunst von können komme, wie nicht zuletzt in Textsorten, die dem Wort als solchem besonders viel zutrauen müssen. In gut kantscher Nachfolge werden Konzepte gerne auf die in ihnen kondensierte Anschauung zurückbezogen. Dieser Art zu denken und zu Argumentieren verdanken wir ein weiteres der in dem schon zitierten Buch versammelten schönsten Wörter, nämlich das erinnern. (17) Er-innerung – ein gutes deutsches Wort. Da wird etwas Äußeres ins Innere geholt, es wird innerlich, erinnerlich. So ist es auf neue Weise wieder da: im Innern. […] Das Wort „erinnern“ heißt aber zudem […], jemanden aufmerksam machen. Da bleibt es also nicht im Innern, sondern es wird aus dem Innern hervorgeholt und einem anderen Innern mitgeteilt. Sprache gibt die Zeit zurück – im Erinnern.
Das ist – einschließlich der völkerpsychologischen Anmerkungen – nun nicht so sehr der Versuch, sprachlich-systematische Zusammenhänge aufzuhellen, die im modernen Gebrauch verdeckt sind, als vielmehr eine irgendwie geartete „tiefere“ Wahrheit zum Vorschein zu bringen. Eigentlich hat sich aber die Verbindung zu den Einzelteilen so weit gelöst, dass der gewollte und so ungemein deutsch wirkende Bezug auf Innerlichkeit eher gewollt wird. Eigentlich 2 Manchmal allerdings lernt man dabei etwas, an das man kaum so gedacht hat und was in der jeweiligen Situation passt. So mag man dem „berufsmäßigen“ Erzähler gerne glauben, dass für ihn das Wort, das seine Tätigkeit kennzeichnet, erzählen, nicht nur sein schönstes Wort ist, sondern in seiner einfachen Rückführung dieser anspruchsvollen Tätigkeit auf das aufzählende Anreihen dem Erzähler zu seinem Tun zu passen scheint. Daher können wir gut verstehen, dass Ludwig Harig dieses Wort zu seinem schönsten wählt und in der Begründung unter anderem ausführt: (18) Das Wort erzählen ist mein liebstes, mein schönstes, mein kostbarstes Wort. […] Dabei ist es selbst unauffällig, ja bescheiden. Aus dem einfachen Zählen der Wörter fädelt es Wort an Wort und erwirkt die Summe der Sätze.
Vielleicht klingt in diesem Wort, wenn wir es uns genauer ansehen, auch einfach die Nähe zu dem einfachen Zählen und vor allem zum Aufzählen noch stärker an, bis ins 18. Jahrhundert konnte erzählen ja wohl auch noch Beides heißen. Vermutlich hilft dabei auch, dass unser Basiswort in mancherlei Verbindungen eintritt, die das Umfeld von ‘zählen’ semantisch beleuchten, von abzählen über aufzählen bis zu nachzählen. So werden
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wir hier zweifellos an etwas erinnert, was uns nicht ganz weit, aber doch so weit hergeholt erscheint, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken. Eigentlich 3: Geziemt sich wohl ein ernstes Wort Manchmal ist das Etymologisieren und das Sprechenlassen der Wörter Mode: in den Zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begann zweifellos eine Phase, für die diese Aussage zutrifft. Dazu passt vielleicht ganz gut, dass die Philosophie sich zu dieser Zeit insgesamt auf den „linguistic turn“ einließ und dass die gleichzeitige Literatur des Expressionismus ebenfalls die unmittelbar sprechenden Wörter bevorzugte. Das Paradebeispiel dafür ist zweifellos die nicht umsonst von den französischen Dekonstruktivisten so geliebte Sprache Heideggers. Hier wird uns nahegelegt, dass das dramatische Wörtlichnehmen von Elementen, die sich in ihrem Gebrauch längst nicht mehr darauf beziehen lassen, mehr, ja das Eigentliche über eine Sache erfahren lasse. Hans-Martin Gauger (1995: 70ff.) hat ganz ausführlich dargelegt, dass hier ein leichtfertiger Übergang von einer wörtlichen Verdeutlichung zur sachlichen Richtigkeit vorgenommen wird. Die Klärung ist nur eine Scheinbare, können wir doch nicht anders, als auch den neuen „eigentlichen“ Wörtern ihren Sinn, wenn es denn geht, im jeweiligen Kontext zuzuschreiben. Das betrifft zum Beispiel in dem folgenden Text zu Geworfenheit praktisch alle Substantive, außer – ironischerweise – die beiden fachlichen Fremdwörter Faktum und Faktizität. (19) Die Geworfenheit ist nicht nur nicht eine „fertige Tatsache“, sondern auch nicht ein abgeschlossenes Faktum. Zu dessen Faktizität gehört, dass das Dasein, solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird.
Und es ist noch einmal derselbe Effekt, der sich einstellt, wenn man bei der Beschreibung des Wesens der modernen Technik, auf jenen fast etwas albern klingenden Terminus des Gestells trifft, eine Bildung, die kaum in irgendeine sinnvollen Weise in die Regeln und Analogiemuster deutscher Wortbildung gebracht werden kann. (20) Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.
Man muss gar nicht besonders ideologiekritisch sein, um den von Adorno auf dieses Schreiben hin geprägten Spruch vom „Jargon der Eigentlichkeit“ verständlich zu finden. Es hilft dem Verstehen des gegenwärtigen Textes wenig, wenn etwa die Übersetzung von griechisch ơƫƞƨƥƩơ über
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Entbergung letztlich bei Lichtung landet (vgl. Gauger 1995: 73). Dass die Sprache in diesem Sinn selbst spreche, entspricht in keiner Weise unserer Erfahrung. 1.3. Remotivation als Wille zum Sinn Im ersten Teil dieser Ausführungen sind wir von dem scheinbar so klar fehlgedeuteten Wort Habseligkeiten ausgegangen. Man sieht daran einerseits, dass man die Sprecher des Deutschen dazu bringen kann, auch bei lexikalisierten Wörtern, bei denen das von ihrer Gebrauchsweise her gar nicht so nahe liegt, die Teile der Wörter wahrzunehmen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Das Beispiel und sein ganzes Umfeld zeigen andererseits, dass im Verlauf der Gebrauchsgeschichte von Wörtern die Modelle wechseln können, denen eine Bildung zugerechnet wird – und dass dabei die Etymologie, die Kenntnis eines früheren Sinns, oft einmal ihr Recht und ihre Richtigkeit verliert. Es ist eher ein Denken in analogischen Gruppen, das bei der Neustrukturierung unübersichtlicher Verhältnisse den Weg weist – wenn logischerweise auch wahr bleibt, dass der einzelne Analogieschluss erst bei einer gewissen Wirkung in den Usus hinein von Bedeutung ist. 8 Diese letzte Überlegung zur Wirkung und Funktion analogischer Schlüsse stand im Mittelpunkt des zweiten Teils der bisherigen Überlegungen. Wenn man spielerisch Bedeutung aus den Wörtern zieht, mag sie historisch einmal darin gesteckt haben oder nicht, ist das zweifellos ein anderer Fall als jener Tatbestand, wie er offenbar für eine Stil- und Ausdruckshaltung typisch ist, die sich bevorzugt in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bei Schreibern fiktionaler wie fachlicher Texte findet. Was man hier sieht, ist, dass es sehr schwer ist – und typischerweise leicht der Gefahr der Lächerlichkeit erliegt –, den Ernst der herausdestillierten „eigentlichen“ Bedeutung gegenüber dem geläufigen Gebrauch und seinen Regularitäten durchzusetzen.
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Vgl. das erste Kapitel von Gao (2000: insbesondere 9ff.).
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2. Systematisch klarer sehen 2.1. Explikation. Oder: von mausetoten Windhunden Im System des deutschen Wortschatzes haben die Ergebnisse von neuen Deutungen ihren traditionellen Platz an den Rändern der Wortbildungstechniken. Dort haben sich etliche Nischen eingerichtet für komplexe Wörter, deren einer Teil nicht mehr so recht verstanden wird. Es gibt dabei verschiedene Fälle; am augenfälligsten ist dieser Effekt da, wo metaphorische Bezüge nahegelegt werden, die in den historischen Befunden keinen Grund finden. Vergleichsweise üppig ausgebaut ist dieser Effekt bei den der Graduierung dienenden Erstelementen von Adjektiven wie etwa steingrau, steinalt, strohdumm, blutjung oder mit zweifellos anderem stilistischem Wert saudumm, sauschwer. Erkennbar wechselt der Grad an metaphorischer Deutbarkeit bei diesen Bildungen. Sie haben ihren wohlmotivierten Ausgang dort, wo metaphorische Komposita mehr und mehr der Steigerung dienen (vgl. Eichinger 2000: 97), greifen aber dann weit darüber reanalysierend aus. Denn was immer der Ursprung des Elements {mause-} in mausetot ist, es ist nicht die Maus, der man reanalysierend diese Steigerung des Totseins zutraut. 9 Klarer ist die ursprüngliche Struktur im Fall von Windhund, bei dem der auch bei weniger isoliert stehenden Erstelementen auftretende Typus des explikativen Kompositums vorliegt, also ein Typ wie Eichbaum (vgl. Eichinger 2000: 190). Allerdings wird bei dem Wort Windhund nicht mehr erkannt, dass das Erstelement allein schon eine Benennung für eine bestimmte Art von Hunden darstellt, so dass die Verbindung mit dem Substantiv Wind als Vergleichsbeziehung konstruiert wird ‘ein Hund, (schnell) wie der Wind’. Dieser Typus erscheint als ebenso spielerisch reizvoll wie systematisch marginal. Explikative Komposita und: Noch ein schönstes Wort Immerhin hat es auch ein Wort dieses Typs den Einsendern um das schönste deutsche Wort angetan, und zwar das Turteltäubchen. Die lautmalende aus dem Lateinischen (turtur) in die modernen europäischen Sprachen gekommene Form – im Fall des Deutschen mit Dissimilation –
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Die gängigen etymologischen Wörterbücher des Deutschen weisen auf Entlehnung aus dem Niederdeutschen (nd. mo(r)s ‘ganz und gar’); im Kontext des Jiddischen wird auf die Verdeutlichung eines entsprechenden jiddischen Lexems, das seinerseits schon ‘tot’ bedeutet, gewiesen.
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wird im explikativen Kompositum erläutert und bildet, wie es scheint, auf der Basis des Bildes, das man sich von dem benannten Tier macht, die Grundlage für die Handlungsbenennung des Verbs turteln: (21) Hach, es ist einfach schön: sowohl wegen der Semantik […] als auch wegen der Phonetik […]. Obendrauf ist es noch ein leichtherziges Beispiel der Anschaulichkeit, Kompositionsfähigkeit und Flexionsfülle, die die deutsche Sprache so einfach und reich macht.
So gesehen sind die turtelnden Tauben eigentlich so etwas wie eine petitio principii der semantischen Zusammenhänge. Jedenfalls, und das zeigt auch der einschlägige Teil der in dem unter (22) zitierten Ausschnitt aus Hermann Pauls „Principien“, liegt dem Deutschen die Verdeutlichung obsolet gewordener Benennungen durch extensional entsprechende „modernere“ Bezeichnungen durchaus nahe. 10 (22) § 152. Die Tendenz, isoliert stehende und darum fremdartige Wörter an geläufige Sprachelemente anzuknüpfen zeigt sich auch darin, dass dieselben häufig gestützt werden durch Zusammensetzung mit einer allgemeinen Gattungsbezeichnung, worauf sie dann in selbständigem Gebrauche untergehen, vgl. Maultier (einfaches Maul aus lat. mulus veraltet), […], Renntier (aus schwed. ren), […], Walfisch (mhd. wal), Dambock, -hirsch (mhd. tâme), Windhund (mhd. wint), […], […], Turteltaube (aus lat. turtur), Lindwurm ([…]ahd. noch einfaches lint […]), Mohrrübe (neben Möhre), Kichererbse (mhd. kicher), […], Salweide (mhd. salhe), Farnkraut (mhd. farn), Pfriemkraut (ahd. phrimma), Bilsenkraut (neben Bilse, ahd. bilisa) Lorbaum, -beer (aus lat. laurus), Buchsbaum (landschaftl. noch Buchs), […], Schwiegermutter (mhd. swiger), […], Wittfrau (landschaftl.), Waisenkind, Waisenknabe (volkstümlich), Quaderstein, Tuffstein, Bimsstein (bis ins 17. Jahrh. Bims = mhd. bümez aus lat. pumex), Marmorstein (s. DWb). Bei vielen ist dabei volksetymologische Umdeutung des ersten Bestandteils eingetreten. (Paul 1920: 222)
2.2. Ein neuer Sinn: uneigentlich Von Maulwürfen, Friedhöfen, Hebammen und Hängematten Bemerkenswert ist dabei der letzte Satz des Zitats unter (22), häufig reicht es offenbar nicht aus, ein unbekanntes Wort durch eine verdeutlichende Entsprechung erklärt zu bekommen, auch das dunkle Erstelement wird, wo das geht, einem lesbaren Muster angenähert und dabei reinterpretiert. So sind die sogenannten unikalen Morpheme nicht nur theoretisch eine
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Dass der Zahn der Zeit auch an solchen Bildungen nicht vorübergeht, zeigt die Beispielliste Hermann Pauls zweifellos ebenfalls.
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schwierige Konstruktion, sondern auch eine eher seltene und marginale Erscheinung. Dabei ist es oft einmal nicht so wichtig, wie sinnvoll die jeweiligen Deutungen sind. Und noch ein schönstes Wort Das betrifft ebenfalls eines der unter die schönsten deutschen Wörter gekommenen Beispiele. (23) Mein schönstes deutsches Wort lautet Kichererbse, weil es einfach so lustig ist, wenn man bedenkt, was es wirklich bedeutet. Englisch war meine Muttersprache und ein schöneres deutsches Wort kann ich mir nicht vorstellen!
Nun ist es ein gängiges Phänomen, dass man als Nicht-Muttersprachler eine fremde Sprache für sprechender hält, als das im täglichen muttersprachlichen Gebrauch der Fall ist. Die Zufälligkeit einer phonetischen Assonanz bringt das von den griechischen Wurzeln her ererbte Lexem in ganz ungeahnte Verwandtschaft. Und logischerweise ist diese Verwandtschaft auch für die europäischen Sprachen nicht gleich. Englisch zum Beispiel heißt die Kichererbse chickpea oder aber auch ganz anders: garbanzo. (24) Le nom latin du genre “pois chiche” est “cicer” dérivé du grec antique “kickere” des populations du Nord de la Grèce. Cette racine se retrouve aujourd'hui dans le français pois “chiche”, dans l'italien “cece”, dans l'allemand “Kichererbse”, dans l'anglais “chick pea”, dans le néerlandais “kikkerwert” ou même dans le berbère “ikiker”. En revanche son nom espagnol “garbanzo” qui n'est ni d'origine arabe, ni d'origine latine, est peut-être l'indice d'une introduction encore plus ancienne. (Ekopedia, s.v. Kichererbse)
Volksetymologien Nun ist die Kichererbse vielleicht ein ziemlich europäisches, aber vielleicht nicht das schlagendste Beispiel für eine Volksetymologie, kommt doch zur Assonanz eigentlich keine rechte Deutbarkeit dazu. Wichtiger, und gerade für eine Sprache mit Komposition – wie das Deutsche, aber im Prinzip auch die anderen germanischen Sprachen – wird das, wenn sich bei dieser Reinterpretation ein neuer, irgendwie passender Sinn ergibt. Man muss die Beispiele hierfür nicht lange suchen, oben sind schon die klassischen Beispiele genannt. Dabei ist vielleicht das Wort Hängematte am ehesten dem Typus Kichererbse verwandt. Allerdings ist es, wenn man so will, erfolgreicher, da sich aus der phonetischen Assonanz zwei sinnvolle Teile
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und ein passender semantischer Zusammenhang entwickelt haben. 11 Handelt es sich bei diesen beiden Wörtern um Anverwandlungen von sprachlich Fremdem, so sind der Maulwurf und die Hebamme Beispiele dafür, dass auch in der Geschichte der eigenen Sprache sich lexikalische Inseln der Dunkelheit entwickeln, denen eine sekundäre Aufhellung zuteil wird. 12 Der Friedhof letztlich zeugt davon, dass sich im Verlaufe der Zeit auch immer etwas anderes denken lässt, sofern sich entsprechende Homonyme anbieten; so ist denn der Weg vom eingefriedeten hin zum friedlichen Areal einer, der doch religiös-deutenden Sinn macht. Weniger zu stören scheint es die Sprecher einer Sprache, wenn ein Erstelement undeutlich erscheint, sofern es nur in einer paradigmatischen Reihe aufgehoben ist: so überleben die klassischen unikalen Morpheme Him- und Brom- neben Erd- usw., weil wir wissen, dass es um Untergruppen von Beeren geht. Das gilt auch für die Erstelemente der wohl explikativ zu erklärenden Bildungen Heidel- und Preiselbeere, die uns daher weiters keine Sorgen machen. 2.3. Von der Explikation zur Volksetymologie Abgesehen von allen Unterschieden kann man immerhin sehen, dass die Fähigkeit, Komposita zu bilden, dazu genutzt wird, verloren gegangenen Sinn zu rekonstruieren. Sei es nur syntagmaintern, so dass wir, wie etwa beim Maulwurf, staunend vor der vermeintlichen Deutung stehen, oder sei es, dass in der Rekonstruktion Aspekte der Gebrauchsbedeutung hervorgehoben erscheinen, wie etwa beim Friedhof. In dieser Hinsicht ist das deutsche Wortbildungssystem ohnehin gut vorbereitet, als gerade in fachlich bezogenen Texten signifikant Komposita auftreten, die eigentlich nicht eine Subklasse des Zweitelements ausdrücken, sondern im Zweitelement das Erstelement kategorisierend einordnen, eine banale Gruppe dafür sind die expliziten „Baumbenennungen“ vom Typ Eichbaum,
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Auch wenn historisch diese germanisierende Deutung aus dem Ursprungswort hamaca, das so – oder mit geringfügigen Adaptationen - in den romanischen Sprachen erhalten blieb, im „kulturimportierenden“ Niederländischen in zwei Schritten (hangmak – hangmat) durchgeführt und dann schon entsprechend gedeutet ins Deutsche übernommen wurde. So wird der Maulwurf vom Haufen- zum Erdwerfer, um letztlich bei der leicht unsinnigen pseudoinstrumentalen Interpretation der Gegenwart zu landen, bei der hevianna, von der sich unsere Hebamme ableitet, ist von alters her nur klar, dass das Erstelement mit heben zu tun hat, so wird der undeutliche zweite Teil schon ich ahd. Zeit mit der sachlich verwandten Amme verbunden, ohne dass das rechten Sinn gäbe, aber doch immerhin sprechend erscheint.
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Tannenbaum. Die sogenannten Volksetymologien sind die naive Variante dazu, was aber, wie man sehen wird, nichts Ehrenrühriges darstellt.
3. Bezüge im Wandel: Diachronie in der Synchronie 3.1. „Gräuel“ der Rechtschreibreform? Auf die im letzten Absatz behandelten Verdeutlichungen und Umdeutungen haben wir uns offenbar als Sprechergemeinschaft eingelassen. Ganz anders war das in jenen Fällen, in denen durch die Rechtschreibreform Schreibformen eingeführt wurden bzw. werden sollten, die einer Stärkung des morphologischen und im weiteren Sinn auch etymologischen Prinzips der Rechtschreibung dienen sollten. Dabei ergaben sich die folgenden Neuschreibungen, die zum großen Teil auf ganz erheblichen Widerstand stießen. Sie widersprächen der Schreibgewohnheit wie der etymologischen Vernunft. Hier versuchte die neue Schreibung einen Sinnzusammenhang darzustellen, über den offenbar kein Konsens besteht. (25) Bändel, behände, belämmert, einbläuen, Gämse, Gräuel, gräulich (= schrecklich), Quäntchen, schnäuzen, Stängel, überschwänglich, verbläuen (Sprachreport Extraausgabe 2006)
Wenn man dabei das häufig herangezogene Argument der historischen Richtigkeit heranzieht, ist allerdings die Frage nicht so ganz klar zu entscheiden. Man kann das sehen, wenn man drei der meistumstrittenen Schreibungen nimmt, nämlich das Bändel, behände und das Quäntchen: So gibt der historische Bezug für die Schreibung von Bendel wie von behände nicht sehr viel her, außer man will auf die Gewohnheit des Schreibens verweisen. Das allerdings hätte eine ebenso lange, ehrenwerte wie unhintergehbare Tradition. So finden sich seit Freyers bahnbrechender Systematisierungsleistung zu Beginn des 18. Jahrhundert mehr oder minder explizit die von ihm aufgestellten vier Leitlinien: Aussprache, Abstammung, Analogie und Schreibgebrauch. Und man tut ihm sicherlich nicht unrecht, wenn man feststellt, dass es an erster Stelle um einen (vermuteten?) Schreibgebrauch ging, der allenfalls an den Rändern explizit von den anderen Kriterien zu korrigieren war. Dabei ist selbst in dieser eingeschränkten Funktion die Aussprache der schwierigste Ratgeber, und die anderen beiden Prinzipien haben es so an sich, dass sie im klaren Fall parallel laufen und in unklaren Fällen einander widersprechen. 13 Und so
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Noch klarer wird das womöglich bei Adelung, der an einschlägiger Stelle als Gesetz formuliert. „Schreib das Deutsche und was als Deutsch betrachtet wird, mit den eingeführten Schriftzeichen, so wie du sprichst, der allgemeinen, besten Aussprache gemäß, mit Be-
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scheint es auch heute noch so zu sein, dass man im wesentlichen Stützen für den gängigen Gebrauch sucht. Denn natürlich hat Bendel mit Band zu tun, und es gibt zum Beispiel das Verb anbändeln, so dass Herkunft und Analogie für die <ä>Schreibung spräche. Die Aussprache ist ohnehin ein vergleichsweise schwacher Ratgeber, der in Zweifelsfällen auch nur hilft, wenn man die Standardaussprache kennt. Bei behände mag man dafür argumentieren, dass sich Wortbedeutung wie Schreibung gleich weit vor Ursprung wegbewegt haben, so dass eine Reetymologisierung bzw. eine analogische Einbindung gemäß den in (27) genannten Verwandten nicht besonders naheliegt. Für dieses Wort wie die meisten anderen hier betroffenen, wie etwa auch Bendel, gilt zudem, dass sie sicherlich zum marginalen Bereich des deutschen Wortschatzes gehören, so dass mit Unregelmäßigkeiten der verschiedensten Arten zu rechnen ist. (26) Bendel. Mhd. bendel m., […] Alte Diminutivbildung zu Band mit dem älteren maskulinen Genus. (27) Behende. Mhd. behende ‘geschickt, flink’. Ist zusammengerückt aus bi hende ‘bei der Hand’. Ähnlich abhanden, vorhanden.
Bemerkenswert ist vielleicht der Fall Quentchen/Quäntchen, der schon historisch wenig Sinn macht, und daher einer Neuinterpretation offen stehen sollte – wenn es denn ohnehin schon nicht Fünftel heißt: (28) Quentchen. Entlehnt aus früh-rom. *quintinus ‘Fünftel’ […] Ein Quentchen ist ursprünglich der vierte Teil eines Lots; es ist unklar, wie die Vertauschung von ein Viertel und ein Fünftel zu erklären ist. 14
3.2. … auch ein schönstes Wort Nun ist auch dieses Wort unter die Auswahl der schönsten geraten, allerdings als eine offenbar nur durch ihr positives Gebrauchsumfeld, das nicht zuletzt mit der Diminution einhergeht, ausgezeichnete lexematische Einheit, in der das Entchen steckt, und wo man für das Quietsche viel Phantasie braucht. (29) Quentchen Ein Auf-der-Zunge-zergeh-Wort! Immer in Verbindung mit etwas Positivem (meistens Glück oder leckeren Zutaten für den Kuchen). 15 Darüber hinaus klingt es nach einem ineinander geschobenen QuietscheEntchen. Wer kann da widerstehen?
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obachtung der erweislichen nächsten Abstammung und, wo diese aufhöret, des allgemeinen Gebrauches.“ (26), (27) und (28) aus dem entsprechenden Stichwort im Kluge (Seebold 2002). 1 Quentchen = 4,38 g.
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Dagegen kann man nichts einwenden, es wird auch die Verwendung dieses Worts in geschriebener wie in gesprochener Form kaum verändern. Anders ist das wohl, wenn Gerhard Augst in seinem Wortfamilienwörterbuch aus dem oben angedeuteten etwas aporetischen Befund in dem Aufkommen der Schreibung Quäntchen, die in der Rechtschreibreform von 1996 als Variante zugelassen wird, eine Neumotivierung dieses Wortes sieht. (30) Quantum, das […] Quäntchen/Quentchen, das […] ‘sehr kleine Menge’ […] .
3.3. … und der Konflikt Nicht nur diese, sondern vielleicht mehr noch weitere Fälle einer solchen „synchronen“ Etymologie waren und sind außerordentlich umstritten. Dabei ist allerdings bemerkenswert, dass sich gerade in den umstrittensten Fällen der von Elmar Seebold bearbeitete Kluge als der Klassiker unter den deutschen etymologischen Wörterbüchern, außerordentlich vorsichtig äußert. Besonders deutlich ist das bei dem Beispiel des Partizips belämmert/belämmert. (31) Belemmern, Vsw. ‘belästigen’, besonders belemmert ‘betreten, scheußlich’ […] Aus dem Niederdeutschen verbreitetes Frequentativum […] zu belemen ‘lähmen’. Vor allem das Partizip wird häufig an Lamm angeschlossen, deshalb auch die Schreibung belämmert und die erkennbare Bedeutungsverschiebung dieser Form. (Kluge)
Nicht nur ist hier die Partizipform im heutigen Deutsch ziemlich isoliert, 16 es ist auch die in (31) geschilderte Umdeutung durchaus im Rahmen dessen, war wir oben als akzeptierte Volksetymologien kennengelernt haben. Zwei weitere Beispiele vermögen zu beleuchten, wie unterschiedlich die normative Akzeptanz bei einzelnen Lexemen ist. Das mag zum Teil mit der Klarheit der Herkunft zusammenhängen. Bei belämmert war schon die relativ gering, so dass offenbar die vorgenommene Umdeutung eher akzeptabel erscheint. Anders ist das etwa bei verbläuen/verbleuen. Hier sind die Herkunft und die Verwandtschaft mit Pleuel unumstritten. Allerdings werden im Hinblick auf die heutigen Verhältnisse unterschiedliche Folgerungen gezogen. Der Kluge hält eine Umdeutung, wie sie auch der Reformschreibung zugrunde liegt, für vollzogen:
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Auch das Paulsche Wörterbuch (154) kann verbale Verwendung nur aus dem Campeschen Wörterbuch belegen und ist bezüglich der Herkunft ähnlich skeptisch wie der Kluge: „wohl mit mnl. belemmeren zu lahm“.
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(32) bleuen Vsw […] mhd. bliuwen […] ‘schlagen’. In neuerer Zeit zu blau gezogen (grün und blau schlagen) und zu einem schwachen Verb geworden. […] Präfigierung mit ver-. (Kluge)
Anderer Meinung ist bei erkennbar gleicher Einschätzung des empirischen Bestandes das Paulsche Wörterbuch (s.v. Pleuel, 754): (33) Bleuen […] (wofür jetzt meist ȹverbleuen) schw. Verb ²schlagen¢, ahd. bliuwan st. Vb. (gemeingerm.), durch Volksetym. an blau angelehnt (und dann fälschlich bläuen geschrieben), mit dem es nicht verwandt ist.
Hier scheiden sich offenbar die Geister, wobei den – in Wörterbüchern logischerweise recht knappen – Ausführungen die eigentlichen Gründe für die unterschiedliche Einschätzung nicht so recht zu entnehmen sind. Etymologisch fast noch klarer, da unmittelbar nachvollziehbar, aber verbreitungsmäßig und in der Deutung ambivalent, scheint das letzt Beispiel, das Verb schneuzen/schnäuzen. In diesem Fall hält sich der Kluge relativ bedeckt, er gibt keinen Hinweis, der für die Schreibungsfrage nutzbar gemacht werden könnte. Allerdings verweist er auf Komplikationen der etymologischen Herleitung, die nun den Bezug auf Schnauze schon als eine frühe Volksetymologie erscheinen lassen: (34) schnäuzen […] mhd. sniuzen […] auch in anord. snýta ‘Stümper, Schnauze’ […] Wohl denominativ zu einem Wort für „Rotz“, obwohl dieses in der Vokallänge abweicht: Mhd. snuz, ahd. snuz, mndd snot(te) […]. (Kluge)
Am anderen, synchronen, Ende befindet sich logischerweise die Interpretation des Wortfamilienwörterbuchs. So schreibt Augst beim Lemma „Schnauze1. /bei Tieren/“, geht also von einer Übertragung des „Basislexems“ vom Tier auf den Menschen aus und damit von einer Motivation durch Schnauze: (35) schnäuzen /Vb./ <¹ Tier – Mensch> bes. süddt.österr. Sich s., […] ‘die Nase durch hörbares Ausstoßen der Luft reinigen’.
Ironischerweise trifft er sich in dieser Deutung mit den Ausführungen des Paul, die zudem noch Einschlägiges zur Geschichte der Schreibung dieses Wortes beitragen, und die etymologischen Ausführungen des Kluge bestätigen. Wird man beim Lemma Schnauze mit dem Vermerk „verw. mit ȹschneuzen“ (866) auf schnäuzen verwiesen, so findet sich dort der folgende Text als Erläuterung dieser Verwandtschaft – was immer man aus dem Verweis auf die offenbar im 18. und 19. Jahrhundert gängige Schreibung macht: (36) schnäuzen Ahd. sniuzan, mhd. sniuzen, in Anlehnung an ȹSchnauze, daher früher auch schnäuzen (so bei Ad[elung]; Sa[nders]); vgl. engl. snot, nd. snut, nordd. Schnut ‘Nasenschleim’. (868)
Insgesamt etwas merkwürdige Zusammenhänge, die aber, wenn die historische Herleitung und das morphologische Prinzip etwas zu bedeuten
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haben, eigentlich alle für eine Schreibung schnäuzen sprächen. Warum ist diese Schreibung, die ja offenbar gut eingebürgert war, außer Gebrauch geraten, trifft jetzt auf solchen Widerstand?
4. Wollen wir das so genau wissen? 4.1. Peinlichkeiten Die Antwort liegt auf einer anderen Ebene: manche Dinge wollen wir gar nicht so genau wissen. Bei unserem letzten Beispiel kann man das schon daran sehen, welche – vergebliche – Mühe die herangezogenen Wörterbücher darauf verwenden, in neutraler mittlerer Stilebene von Rotz bzw. Nasenschleim zu reden – woran man sieht, dass es in Tabu-Bereichen nicht leicht ist, einen vernünftigen Rat bezüglich der Verständlichkeit der Wörter aus ihren Teilen zu geben. Gerade auch bei verdeutlichenden Verdeutschungen unterliegt man immer wieder der Gefahr, mit einem ausführlichen Wort ein unpassendes Verständnis hervorzurufen. 17 Aber nicht nur im Hinblick auf Peinlichkeiten und Unappetitliches gilt das, sondern insgesamt darum, dass sich in die Bezeichnung unpassende Konnotationen einmengen. Aus gegebenem Anlass, weil der sehr auf Explizitheit drängende Joachim Heinrich Campe als lebendes Beispiel zur Verfügung stand, hat sich Carl Philipp Moritz an verschiedenen Stellen seines „Grammatischen Wörterbuchs“ mit dieser Frage beschäftigt – was am Beispiel einer „zu guten“ Übertragung belegt sei. (37) Bordel. Das fremde Wort ist desto eher beizubehalten, da es wahrscheinlich einen deutschen Ursprung hat. Hurenhaus ist zu platt und niedrig, und Freudenhaus zu fein und mildernd, um den begriff von Bordel zu bezeichnen; ob das letztere gleich die Aehnlichkeit der französischen Benennung Freudenmädchen für sich hat. Man sollte aber auch überhaupt eine an sich verachtungswürdige Sache mit keinem zu schönen Worte benennen. (C. Ph. Moritz, Grammatisches Wörterbuch) 18
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Berüchtigt sind Beispiele wie der folgende Eintrag in der Ökonomischen Enzyklopädie von Krünitz: „Schweißloch, S c h w e i ß l ö c h e r , Pori, sehr kleine Oeffnungen der äußeren Haut bei Menschen und Thieren, durch welche die Ausdünstung und der Schweiß herausdringen.“ Den vermuteten germanischen Ursprung legen auch die heutigen Wörterbücher nahe (s. Kluge und Paul s.v. Bordell)
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4.2. Üblichkeiten? Aber es ist nicht nur so, dass uns Manches aus solchen Gründen bewusster Vermeidung als unpassend erschiene, vielmehr scheinen bestimmte Dinge nicht so gut geeignet, in anderen als emphatischen Kontexten verwendet zu werden. So scheint das bei jenen Fällen zu sein, die Moritz unter dem Lemma Genie diskutiert: (38) H. Campe schlägt dafür Hellkopf, Kraftkopf, Feuerkopf, Urkopf vor, frägt aber dabei: warum nicht auch Kopf schlechtweg? Wirklich ist auch Kopf statt Genie schon sehr gebräuchlich, auch kann dem Dummkopf der Ausdruck Hellkopf sehr gut gegen über stehen. (204/205)
Und wenn schon, dann scheint die Alltagsrhetorik das Kritische leichter zuzulassen als das Lobende, so steht neben dem Dummkopf der ebenso akzeptable Schwachkopf, während es der vorgeschlagene Hellkopf „lediglich“ zur mehrwortigen Benennung heller Kopf gebracht hat. Auch in anderen Fällen kann man von textsortenmäßigen Beschränkungen ausgehen. Wenn, wie das vor allem im fachlichen Kontext geschieht, die Struktur zu komplex wird, setzt eine motivationsreduzierende Kürzung ein, die den bisher betrachteten Prozessen geradezu entgegenzulaufen scheint. Die extremste Form dieser Reduktion stellen die Kurzwörter dar, die ja in hervorragender Weise als modern gelten. Wobei – wohl in Anlehnung an eine besonders im angelsächsischen Sprachgebrauch erkennbaren Neigung zu einer Indexikalisierung der Kurzwörter – darin neuer Sinn zu konstituieren gesucht wird. Und auch hier stehen die nicht weiter interpretierbaren Bezüge, wenn sich etwa das Projekt eines „Sprachatlas von Nordostbayern“ als Initialkurzwort in der Form Snob wieder findet, neben Verdeutlichungen, die etwas wollen, etwa wenn sich der „Bund für Umwelt- und Naturschutz in Deutschland“ als Bund kürzt. Irgendwie hierher gehört die gegenläufige Erscheinung, mit den Initialen solcher Wörter neue Langformen zu verbinden (AEG – „Aus Erfahrung gut“). Wie man sieht, befindet sich man sich mit solchen Phänomenen in stilistisch markierten Randbereichen. Wenn irgendwelche Remotivierungen eine Chance haben sollen, ist eine geringere Markiertheit erfordert. Es ist Gängigkeit in einem „mittleren Stil“, was gesucht wird. Psycholinguistischer formuliert heißt das, dass Remotivierung eine gute Chance hat, wenn dadurch auf die semantische Normalebene zugegriffen wird, diese Unterteilung einer Alltagsklassifikation entspricht.
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4.3. Schwierigkeiten aktiver Remotivierung Der Verweis auf die Adäquatheit eines neutralen „mittleren Stils“ trifft sicherlich einen zentralen Punkt. Was diesen Stil aber prägt oder was dieser Stil erlaubt, ist dann im einzelnen Fall dann doch nicht so genau zu entscheiden. Wir suchen nach dem, was das 18. Jahrhundert so schön die Redeweise der „artigen Leute“ genannt hätte, deren Sprache durch den „guten Geschmack“ geprägt sei. Der Verweis auf diese historische Terminologie zeugt davon, wie sich hier gesellschaftliche Leitvorstellungen in sprachlichen Normerwartungen niederschlagen, die von Vorstellungen des Bildungsbürgertums geprägt werden. In prosaischerer und wenn man so will säkularisierter Form prägen sie bis heute das normative Bewusstsein, allerdings bietet in vielen konkreten Fällen diese Basis keine konkrete Entscheidungshilfe mehr. Das zeigt sich zum Beispiel an den immer wieder aktuell werdenden Auseinandersetzungen darum, wie mit dem Einfluss von Fremdem umgegangen werden soll. In seiner Vergangenheit bietet das Deutsche für diese Frage eine recht differenzierte Antwort an. Da im Kern der bildungsbürgerlichen Welt die Frage der „Reinigkeit“ der eigenen Sprache einer in verschiedenem Ausmaß praktizierten Bildungsmehrsprachigkeit gegenübersteht, wäre eine zu einfache Antwort auch inadäquat. So ist die reine Verdeutschung, die ja als Äquivalent der Remotivation angesehen werden kann, nur eine Option, und nicht in jedem Fall unbedingt die erste. 19 Viele graeco-lateinisch anmutende Bildungswörter konnten unter ihren Nutzern ohnehin weithin als durchsichtig angesehen werden, und bedurften so keiner verstärkten Integration. 20 Das galt auch für eine größere Zahl der kulturell-gesellschaftlichen Entlehnungen aus anderen Sprachen. Nur so erklärt sich, dass sich häufig das fremde Wort und sein deutschsprachiges Analogon nebeneinander finden, in vielen Fällen mit Bedeutungs- oder zumindest stilistischer oder konnotativer Differenzierung. Man hat diese Eigenheit des Deutschen – vielleicht terminologisch nicht sehr glücklich – als Merkmal einer „nationalisierenden“ Sprache beschrieben.
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Das soll die Bedeutung dieser Art von Integration nicht schmälern, deren Wichtigkeit vor allem in der Rechts- und Verwaltungssprache nicht zu überschätzen ist. Wie weit solche Argumente heute noch gelten, hat die Diskussion um die Rechtschreibreform in den letzten zehn Jahren nicht unwesentlich geprägt. Sie fand ihren Anlass an der scheinbar marginal-technischen Regelung der Worttrennung. An einer bestimmten Stelle spielt hier die Frage eine Rolle, on die morphologischen Teil noch erkannt werden. Hier stritt man sich unerbittlich darum, unter welchen Bedingungen dabei auch bei solchen Bildungswörtern eine silbische Trennung möglich sein soll (darf man Pä-da-go-gik trennen, bzw. wie trennt man Chrysantheme?). Es ist da offenkundig keine Frage der Regel, sondern der anzusetzenden Norm sprachlichen Wissens im mittleren Stil.
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Diese Verhältnisse muss man im Auge behalten, wenn man sich der Frage der Verdeutschung von nicht autochthonem Wortgut als einem Typ von Remotivierung zuwendet. Praktisch geht es dabei um die Auseinandersetzung mit mehr oder minder modischen Anglizismen, zu Recht stehen die bildungssprachlichen Europäismen weniger im Fokus des Interesses. Sie zeigen allerdings zweifellos eine Seite des Problems auf. Das Deutsche, das keinen romanischen Anteil hat, betont geradezu den Fremdheitscharakter dieses Bildungswortschatzes in der Schreibung, und hat so einen Eindruck von Fremdheit, den der romanische Charakter etwa auch im Englischen ebenso verdeckt wie eine wesentlich rigidere Integrationsneigung zum Beispiel in den slawischen Sprachen. Anders ist das bei den kulturellen Fremdwörtern, die im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr – und letzthin in zunehmender Geschwindigkeit – aus dem Englischen kommen. Etwas anders ist das zum Teil mit den alltäglicheren und oft modisch wirkenden Wörtern des Englischen, die sich als Signale von – vermeintlicher – Modernität in bestimmten Lebensausschnitten breitmachen. Dabei ist es in Anbetracht der Komplexität der Welt und der Internationalität der Kommunikation nicht immer ganz leicht, einen vernünftigen Weg zu finden, um mit diesen Wortschatzbestandteilen zurecht zu kommen. So finden bewusst aufgerufene Verdeutschungen einen prinzipiell schwierigen Boden vor. Das sieht man zum Beispiel an den Reaktionen auf den Versuch, bewusst Ersatzwörter zu schaffen, den die Aktion Lebendiges Deutsch ins Leben gerufen hat. (39) Die [Aktion Lebendiges Deutsch / L.E.] sucht neue Wörter. Hübsche, reine, deutsche Wörter, welche uns retten sollen vor den vielen zwielichtigen Wörtern aus dem Ausland. „Countdown“ wurde durch „Startuhr“ ersetzt, „Airbag“ heißt jetzt „Prallkissen“ und das „Notebook“ wich dem „Klapprechner“. Nun ist dem „Brainstorming“ der Kampf angesagt. […] „Brainstorming“ – wie lässt sich das tilgen? „Denkwirbel“? (MANNHEIMER MORGEN, 19.6.2006, S. 28)
Wenn man sich fragt, warum es offenbar schwierig ist, mit solchen neuen, wohlmotivierten Bildungen etwas anzufangen, gibt es zweifellos verschiedene Gründe. Dazu gehört sicher, dass man sich an manches Neue erst gewöhnen muss. Wenn sich Verwendungskontexte eingebürgert haben, mögen manche Dinge weitaus normaler erscheinen als unmittelbar nach ihrer Prägung. So hat sich offenkundig für Airbag und Prallkissen in klassischer Manier ein Nebeneinander herausgebildet, dem eine funktionale Differenzierung entspricht. Dieses Nebeneinander ist das der Benennung für das ganze Ding als ein funktionaler Bestandteil eines Autos, eines Lenkrads usw. und der Bezeichnung für das darin enthaltene, sich explosionartig mit Gas füllende Element dieser funktionalen Einheit. Der Airbag besteht dann auch noch aus anderen Bestandteilen. Offenbar nutzt
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das Deutsche diese Differenz, wo eine entsprechende Differenzierung nützlich erscheint. Man vergleiche dazu etwa die folgende Beschreibung, die aus der Internet-Präsentation des Volkswagenwerks genommen ist. (40) Airbags und Gurtstraffer Airbags sind in der Lage, sich innerhalb von Millisekunden zu schützenden Prallkissen für die Insassen aufzublähen. Um so kurze Reaktionszeiten realisieren zu können, ist der Einsatz von Sprengstoff in Kleinstmengen erforderlich. Airbags, die übrigens per Seriennummer eindeutig identifizierbar sind, unterliegen als sicherheitsrelevante Teile strengsten Produkthaftungskriterien. Wegen des hohen Haftungsrisikos müssen nicht mehr funktionstüchtige Airbags unbedingt ordungsgemäß entsorgt werden. Verwertung: Airbags werden in spezielle Anlagen gebracht, die gemäß Sprengstoffgesetz über die Zulassung zum Umgang mit Explosivstoffen verfügen. Dort werden die Prallkissen gezündet oder demontiert, so dass keine Gefahr mehr von dem Sprengstoff ausgehen kann. Die Metallteile werden an die Schrottverwertung, die Kunststoffteile an die thermische Verwertung weitergeleitet. 21 (http://www.volkswagenoriginalteile.de/umwelt/verwertungswege/verwertungswege.html)
Man findet diese Verwendung im fachnahen Kontext relativ häufig, vor allem in journalistischen Texten auch vor der Aktion dieses Jahres schon häufiger als variierend-erklärende Zweitbenennung in Artikeln über Airbags. Daneben gilt es offenbar seit längerem als gängiges Wort für funktional ähnliche Auffangvorrichtungen ohne die technische Komplexität des Airbags. Als Beleg ein Beispiel zur Beschreibung von AutoKindersitzen, hier ist das Prallkissen ‘auf das man prallt’ offenbar der Fangkörper: (41) Auch Fangkörpersysteme sind in dieser Klasse zu empfehlen, bei denen das Kind durch ein kleines Tischchen vor dem Bauch, Prallkissen genannt, geschützt wird. (http://www.sicher-im-auto.com/unterwegs_faq.asp)
An diesem Beispiel sieht man ganz gut, dass es nicht leicht ist, gegen einen bereits entwickelten Sprachgebrauch anzugehen, noch dazu, wenn im wirklichen Leben das Wort als eine feste Handelsmarke erscheint, die man in Autos aller Herkunft eingeprägt findet. Ein etwas anders Bild bietet sich bei Countdown; hier ist die Verwendungsweise der Lehnbildung Startuhr so verengt gegenüber dem Fremdelement, dass es fraglich erscheint, ob sich eine solche Ersetzung dann kommunikativ überhaupt lohnt. Gerade die alltagssprachlich metaphorische Bedeutung der ‘herunterzählenden Reihenfolge’ liegt bei der vorgeschlagenen Übertragung nicht sehr nahe. Vielmehr ist der Gebrauch von
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Die Normalität solcher Differenzierungen zeigt übrigens auch die Verwendung von Sprengstoff und Explosivstoff in diesem Text.
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Startuhr durch vor allem im sportlichen Bereich gängige technische Verwendungen geprägt: (42) Die Startuhr für jegliche Sportarten einsetzbar, in Verbindung mit einem PC und für spezielle Startintervalle geeignet […]. (http://www.sport-timing.ch/ produkte.htm)
Einleuchtender ist auf den ersten Blick die Bildung Klapprechner für ein Notebook bzw. einen Laptop. Dennoch ist es offenbar am Rande dessen, was man derzeit akzeptiert. Das mag an Verschiedenem liegen. Zum einen ist auch hier offenbar schon eine Verwendung vorhanden, die auf ein anderes Objekt – einen aufklappbaren Taschenrechner – zielt. Allerdings gibt es auch vor der Verdeutschungsaktion, offenbar als journalistischstilistische beschreibende Alternative die Verwendung von Klapprechner für Notebooks oder Laptops. Zu Recht wird in der im Internet zu beobachtenden Diskussion um diese Verdeutschungsvorschläge darauf hingewiesen, dass die analoge Bildung Klapphandy 22 sich offenbar problemlos durchgesetzt habe. Allerdings muss man im Vergleich sehen, dass der Typus der Bedienung – klappen, schieben, klappen und drehen, nichts davon 23 – eine relevante Subklassifikation des Obertyps Mobiltelefon 24 ist. Dagegen ist Klapprechner eigentlich denotatsgleich mit Mobilrechner, 25 der Mobilrechner ist praktisch immer ein Klapprechner, das ‘Klappen’ ist eine merkwürdige differentia specifica. Der begriffliche Widerpart des „Klapprechners“ ist der Standrechner, 26 oder funktional gar der Arbeitsplatzrechner. 27 Sei das im einzelnen, wie es ist, klar ist jedenfalls, dass eine gute oder schlechte Einbindung in solche Zusammenhänge durchaus eine kritischen Punkt dafür darstellt, ob sich gewisse Neubildungen durchsetzen. Das gilt auch für die Vorschläge, die das Brainstorming ersetzen sollen, ausgewählt wurde ja Denkrunde, d.h. eigentlich ein Wort, das eine entsprechende Versammlung bezeichnet. Wenn man grob im Internet die Belege für Brainstorming in deutschen Texten durchsieht, so scheint diese Verwendung eher marginal zu sein, zentral geht es dabei um die Benennung einer Managementtechnik. Man kann die Häufung solcher
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Das gemäß dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag einem englischen Folder oder Clampshell entspricht. Was anscheinend candy-bar heißt. Diese Bildung nun ist sehr verbreitet. Einer durchaus, wenn auch nicht zu häufig verwendeten Bildung, auf jeden Fall offenbar häufiger als Mobilcomputer. Auch das allerdings ein eher selten genutztes Wort. In einer gewissen Übergeneralisierung der Desktop, der dann vom Benennungstyp dem Laptop entspräche.
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Wörter nicht nur bemerkenswert, sondern sogar merkwürdig finden, 28 ob ein Kompositum mit dem Zweitelement {-runde} geeignet ist, als Benennung für eine Arbeitstechnik zu konkurrieren, muss man leider bezweifeln. Die Nutzer des Deutschen haben sich in der Geschichte unserer Sprache offenbar mit gutem Grund dafür entschieden, im Hinblick auf die Verdeutlichung schwerer Wörter, seien sie nun fremd oder einheimisch, eine variable Strategie zu nutzen, bei der im Einzelfall entschieden wird, welche Wörter nebeneinander für welche Verwendungsbedingungen vorgehalten werden. 4.4. Und wenn? Daran, aber nicht nur daran sieht man, dass Remotivation kein sprachliches Naturgesetz darstellt, sondern eine zu wählende oder auch nicht zu wählende funktionale Option. Nicht umsonst kennen gerade Fachsprachen, bei denen man mit Lesern rechnet, die sich in der Sache auskennen, in verstärkter Weise das Phänomen des Kurzwortes oder ähnlicher Kürzungsstrategien. 29 Doch ist das nur ein Sonderfall davon, dass Wörter nie allein sind. Und es ist mehr als ein modisches Wort, dass man dabei auf die Intertexte verweist, in denen sich ihr Gebrauch für uns gebildet hat, ob sie uns nun intern lesbar erscheinen oder nicht. 30 Aber linguistischerseits ist der Hinweis auf Intertextualität vielleicht etwas vage: Es geht auch nicht nur um sachliche Kontexte, wie sie sich etwa durch Kookkurenz entsprechender Lexeme nachweisen ließe, 31 sondern um die Vorprägung von Mustern, deren Struktur so klar ist, dass sie Variation erlaubt. 32 Und so geben uns in dem folgenden Beleg aus Matthias Polityckis Reiseessays sowohl der Elefantenbeauftragte wie, dass er alle Rüssel voll zu tun hat, strukturelle Hinweise, die wir in analogischen Bezügen auf prototypische Verwendungsmuster auflösen – und das ist nicht nur bei so deutlichem direkten Bezug so.
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In einer Überschrift: „Arbeitstechniken: Moderation, Metaplan, Brainstorming, Mindmapping“ (http://www.bildungsserver.de/zeigen.html?seite=1751). S. dazu Steinhauer (2000). Das relativiert die gängigen Hinweise, deutsche Komposita, insbesondere N+NKomposita könnten eigentlich alles Mögliche mit gleicher Wahrscheinlichkeit bedeuten. Dieser Idee folgt das Vorgehen in Heringer (1999); zu weiterentwickelten statistischen Methoden vgl. die Kookkurenzdatenbank (CCDB) des IDS [http://corpora.idsmannheim.de/ccdb/] Vgl. die am IDS entwickelten Möglichkeiten einer avancierteren Kookkurrenzanalyse unter dem Titel VICOMTE; s. http://www.ids-mannheim.de/kl/dokumente/flyer-vicomte.pdf.
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(43) In Indien hätte der Elefantenbeauftragte alle Rüssel voll zu tun. (Politycki 2003: 135)
4.5. Grammatische Anmerkung Schon im letzten Beispiel war der Hinweis darauf versteckt, dass es sich bei Remotivation nicht um etwas handelt, das sich streng innerhalb der Grenzen eines eng verstandenen Lexikons aufhielte. In Anbetracht dessen, dass das System der nominalen Flexion des Deutschen mit den drei Genera und der nur tendenziell nachvollziehbaren Zuordnung von Singular- und Pluralklassen als eher verwirrend gilt, ist ein Satz wie der in (44) zitierte bemerkenswert. In Anbetracht der Ausführungen zur Musterbildung durch Kookkurrenz ist es nicht überraschend, dass der Hintergrund der Äußerung und ihre Umgebung etwas geschildert werden müssen, um die grammatischen Folgen zu verstehen. Bei einem Fußball-Länderspiel Deutschland – Kolumbien, das im Frühjahr 2006 in Mönchengladbach stattfand, wurde in der zweiten Halbzeit der Spieler Markus Janssen eingewechselt. Er spielte damals in der Bundesliga für Mönchengladbach, eine Mannschaft, die traditionell den Beinamen „die Fohlen“ hat. 33 Aus Anlass der Einwechslung dieses Spielers äußerte der FernsehKommentator den folgenden Satz, in dem er typischerweise dort zögerte, wo jetzt drei Punkte stehen. (44) Mit Markus Janssen wird jetzt ein […] Fohle eingewechselt.
Natürlich wird kein Fohlen eingewechselt, aber warum ein Fohle? Eigentlich ist ja ein flexivisch „gutes“ Maskulinum dadurch gekennzeichnet, dass ein konsonantisch endender Einsilbler einen {-(e)s}-Genitiv bildet und der Pluralklasse der {-e}-Substantive angehört. Und ordentliche Feminina sind im Singular unflektiert und gehören in der Mehrzahl zum {-en}-Typ. Viel mehr, und vor allem Semantisches, kann man dazu eigentlich nicht sagen. Es gibt allerdings eine Nische, in der die einst viel mächtigere Klasse schwach flektierender Substantive zu semantischer und formaler Einheit gefunden hat. Es sind das jene Substantive, die Harald Weinrich in mnemotechnischer Rücksicht „Die Klasse des Löwen und des Boten“ nennt, und deren Bedingungen in der Duden-Grammatik (§ 329) folgendermaßen umschrieben werden:
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Wegen des Erfolgs einer sehr jungen Elf zu einer der Hochzeiten dieses Vereins.
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(45) Ein maskulines Substantiv wird immer schwach flektiert, wenn es im Nominativ auf -e ausgeht und etwas Belebtes (ein Lebewesen: eine Person oder ein Tier) bezeichnet. 34
Unser Reporter hat also klugerweise in einer Art Volksgrammatik, wenn man das in Analogie zur Volksetymologie so nennen kann, einen systematisch passenden Flexionswechsel vorgenommen. 35 Dieses Beispiel aus dem Bereich der Nominalflexion mag ausreichen, um anzudeuten, dass es auch im engeren Feld der Grammatik an etlichen Stellen verschiedene Deutungs- und Anschlussmöglichkeiten gibt, die dem jeweiligen Zusammenhang der Dinge dienlich sind. 36
5. Keine zu einfachen Lösungen Wie und ob sich solche Deutungsversuche dann im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen, bedürfte einer jeweils einzelnen genauen Untersuchung. Wie vielleicht oben an den Beispielen zur Verdeutschung von Fremdwörtern schon deutlich wurde, bedarf es dabei einer genauen Betrachtung der jeweiligen Umgebungsbedingungen. Relativ einfach ist es zweifellos, die generelle Richtung mit Namen wie Lexikalisierung oder Grammatikalisierung zu benennen. In Anbetracht der Differenziertheit dessen, was wir an Erscheinungen wahrnehmen, handelt es sich bei solchen Beschreibungstermini um relativ grobe Werkzeuge. 37 Wenn man sich zu sehr auf diese großen Trends bezieht, geraten eine ganze Reihe der angesprochenen oder angedeuteten Erscheinungen nicht in den Blick. Es wäre den Versuch wert, wieder und noch einmal dem generellen Prinzip der Analogie und seiner Nutzung durch die Sprecher mit einem differenzierenden Blick näher zu treten.
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Vom Plural ausgehend lässt sich diese Regel bei gleichen semantischen Bedingungen sogar noch erweitern; s. Duden-Grammatik § 330; insgesamt zur Funktion des Plurals in diesem Kontext s. Eichinger (2006). Erleichtert natürlich durch die indefinite Form und die Nichtsetzung etwa eines attributiven Adjektivs, was ihn des Zwangs enthebt, sich bezüglich des Genus des Substantivs explizit äußern zu müssen; wir würden uns ja dann den Fohlen wünschen. Man könnte eine ganze Reihe von Erscheinungen unter diesem Blickwinkel sehen, etwa war Übergangsbereiche der flexivischen Bereich zwischen pornominalem und adjektivischem System (im Sommer des / dieses / diesen /manchen / diesen Jahres; von frischem heurigem/en Wein) Die allerdings – nicht nur in weiteren Beiträgen dieses Bandes, sondern etwa auch in Harnisch (2004) – durchaus stärker an die empirischen Gegebenheiten adaptiert werden.
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Elke Ronneberger-Sibold
... und aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba. Lautgestaltprägende Elemente bei der Schöpfung von Mondegreens 1. Einleitung: Thema und Fragestellung Der Teminus Mondegreen zur Bezeichnung einer transparenten, lautgleichen oder -ähnlichen Nachschöpfung von subjektiv undurchsichtigen Textteilen durch (häufig kindliche) Sprachbenutzer stammt von der Schriftstellerin Sylvia Wright. Sie hatte als Kind in einer schottischen Ballade über The Bonny Earl of Murray die Zeilen They ha’e slain the Earl of Murray and laid him on the green
missverstanden als They ha’e slain the Earl of Murray and Lady Mondegreen (Hacke/Sowa 2004: 37-38)
Die romantische Dimension, die die Existenz von Lady Mondegreen der Ballade verlieh, bewog Sylvia Wright zu der Ansicht, das Missverstandene sei oft schöner als das eigentlich Gemeinte. Um solche inhaltlichen Bewertungen geht es in diesem Aufsatz nicht, wohl aber um die kreative Leistung, die eine solche lautähnliche Nachschöpfung darstellt. Landläufig bezeichnet man den Vorgang des Missverstehens als „sich verhören“, so als würden tatsächlich bestimmte Laute des Originals falsch perzipiert. So lautet z.B. der Untertitel von Hacke/Sowa (2004), dem der größte Teil meines Untersuchungskorpus entnommen ist, Kleines Handbuch des Verhörens. Und auch in psycholinguistischen Studien über sprachliche Fehlleistungen findet sich das Phänomen unter „Slips of the ear“ eingeordnet (z.B. Fromkin 1980, Bond 1999). Ohne völlig auszuschließen, dass tatsächlich manche Mondegreens durch eine Fehlleistung der Ohren oder der Reizleitung zum Gehirn verursacht sein können, wird hier die These vertreten, dass die Mehrzahl der Mondegreens, zumindest unter den in diesem Beitrag untersuchten, nicht falsch perzipiert, sondern falsch rekonstruiert wurde. Dafür kann es zwei Gründe geben: Entweder werden bestimmte Laute der Sprechkette
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durch das Ohr gar nicht oder undeutlich, d.h. unterspezifiziert aufgenommen, und die fehlende Information wird im Gehirn falsch erschlossen, oder aber der Hörer perzipiert den Text akustisch zwar korrekt, kann ihn aber nicht interpretieren und formt ihn deshalb intern so um, dass er für ihn interpretierbar wird. Dies soll an dem folgenden deutschen Mondegreen gezeigt werden, das auf den letzten beiden Versen der ersten Strophe von Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius beruht. Das Original lautet: und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.
Diese beiden Verse wurden von einem Kind missverstanden als und aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba (Hacke/Sowa 2004: 12)
Es ist unwahrscheinlich, dass die Konsonanten in Neger Wumbaba tatsächlich unvollständig oder gar falsch perzipiert wurden (zu den Vokalen s.u.). Kinder haben im Allgemeinen gute Ohren, und auch die Nervenleitungen zum Gehirn funktionieren schnell und tadellos. Im Gehirn des kleinen Schöpfers von der weiße Neger Wumbaba war sicherlich die gesungene Lautgestalt >QHØEOY8QG$ØE$Ø@ angekommen. Das Problem war nur, dass das Kind diese Lautgestalt nicht interpretieren konnte, entweder weil es die Wörter Nebel und wunderbar noch gar nicht kannte, oder (was wahrscheinlicher ist), weil es diese Wörter selbst nie in semantischer und syntaktischer Hinsicht so verwendet hätte wie in dieser Liedzeile. Möglicherweise kommt hinzu, dass es die bezeichnete Sache nicht kannte, weil es noch nie Abendnebel über eine Wiese hatte aufsteigen sehen. Mit anderen Worten, das Kind konnte mit seinem Morpheminventar und seiner Grammatik kein internes Äquivalent herstellen, auf das die vernommene Lautgestalt vollkommen gepasst hätte, d.h. die Lautgestalt >QHØEOY8QG$ØE$Ø@ war für es nicht transparent. Also kreierte es mit den ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln eine Phrase, die, wenn sie geäußert worden wäre, lautlich zwar nicht ganz, aber doch ungefähr auf das wahrgenommene Original gepasst hätte, eben >QHØJnY8PE$ØE$Ø@. Da diese neue Lautgestalt gegenüber dem Original den Vorteil hatte, transparent zu sein und da sie inhaltlich wenigstens in sich einigermaßen kohärent war (nach unseren stereotypen Vorstellungen über afrikanische Sprachen wäre Wumbaba ja tatsächlich ein passender Name für einen Neger) setzte das Kind sie intern für das Original ein; es traute sozusagen mehr seinem eigenen Morpheminventar, seiner eigenen Grammatik und seinen eigenen stereotypen Lautvorstellungen über exotische Sprachen als seinen eigenen Ohren. Subjektiv war es fortan überzeugt, tatsächlich >QHØJnY8PE$ØE$Ø@ gehört zu haben.
Lautgestaltprägende Elemente bei Mondegreens
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Dass Mondegreens innerhalb ihres Gesamttextes nicht immer sonderlich sinnvoll sind, dass es ihnen also häufig an Motivation fehlt, stört Kinder weniger als Erwachsene. Erwachsene würden ein Mondegreen wie Neger Wumbaba sofort innerlich wieder verwerfen, denn wie soll ein Neger weiß sein und in der Isar wohnen? Und wieso steigt er (nur?) bei Mondschein heraus? Kinder hingegen sind durch ihren beschränkten Erfahrungshorizont dauernd mit Sachverhalten konfrontiert, die sie noch nicht sinnvoll in einen Gesamtzusammenhang einordnen können. Daher geben sie sich leichter zufrieden, wenn sie nur Transparenz, aber keine Motivation geschaffen haben. Dies ist neben der noch eingeschränkten Sprachbeherrschung ein Grund, warum Mondegreens gerade bei Kindern so häufig sind. Verkürzend von außen betrachtet, sieht der Gesamtvorgang daher so aus, als hätte das Kind tatsächlich falsch gehört. In Wirklichkeit hat es eine ungemein kreative Leistung vollbracht, nämlich eine subjektiv verloren gegangene, transparente sprachliche Struktur wieder aufgebaut, und zwar unter der erschwerenden Bedingung, dass die entstehende Lautgestalt so weit wie möglich einem vorgegebenen Modell ähneln muss. Dieser erneute Aufbau subjektiv verlorener sprachlicher Transparenz macht das Schaffen von Mondegreens zu einem interessanten Thema innerhalb des vorliegenden Bandes (vgl. Harnisch 2004: 212-213). Der Schwerpunkt dieses Beitrags wird auf den lautlichen Ähnlichkeitsbedingungen liegen, unter denen dieser Prozess ablaufen kann: Welche lautlichen Eigenschaften des Originals müssen in der Lautgestalt eines Mondegreens erhalten sein, damit die beiden Lautgestalten im oben beschriebenen Sinne subjektiv als identisch empfunden werden können? Die klassische Antwort der Phonologie auf diese Frage lautet: Eine Lautgestalt wird durch Realisationen derjenigen abstrakten Segmente identifiziert, die in der Lage sind, sie allein von anderen, ähnlichen Lautgestalten mit anderer Bedeutung zu unterscheiden, also durch ihre Phoneme. In seiner Auseinandersetzung mit Bühler bezeichnet Trubetzkoy sie in der Einleitung zu Grundzüge der Phonologie als „Merkmale, an denen die Wörter mit bestimmter Bedeutung und die aus ihnen bestehenden Sätze erkannt werden“ (Trubetzkoy 1977: 18). Dieses nach wie vor beeindruckende Werk gilt der distributionellen Definition der Phoneme und den Verfahren zu ihrer Ermittlung. Das Faktum, dass für das tatsächliche Erkennen eines Sprachzeichens als Gestalt nicht alle seine Phoneme von gleicher Bedeutung sind, hat darin jedoch keinen Platz. Dieses wurde in den Bereich der Psychologie verbannt: Was heißt überhaupt „wiedererkannt“ bezw. [sic!] „identifiziert“ werden? [...] Wiedererkennbare, identifizierbare Wörter sind solche, die sich von allen anderen Wörtern durch besondere lautliche „Differenzierungsmerkmale“ unterscheiden.
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[...] Die Wiedererkennung ist somit nicht das Primäre, sondern die logische Folge der Unterscheidung. Außerdem ist das „Wiedererkennen“ ein psychologischer Vorgang und es ist nicht ratsam, psychologische Begriffe zur Definition von sprachwissenschaftlichen heranzuziehen. Dagegen ist die Wortunterscheidung ein rein sprachwissenschaftlicher Begriff. (Trubetzkoy 1977: 41, meine Hervorhebung, E.R.-S.)
Diese Einschätzung veränderte sich weder durch nachfolgende andere Definitionen des Phonems in anderen theoretischen Zusammenhängen (systematische Phoneme vs. taxonomische Phoneme), noch durch die Fokussierung distinktiver Einheiten unterhalb und oberhalb der Phonemebene (distinktive Merkmale bzw. Silben, Takte usw.). Die Frage, woran Hörer Wörter erkennen, blieb also weitgehend der Psycholinguistik vorbehalten. Hier wurde vor allem die Relevanz des Tonvokals für den Dekodiervorgang durch verschiedene Experimente (etwa Cutler/Norris 1988, Cutler/Butterfield 1992) und durch die Analyse von Fehlleistungen (Versprechen und Verhören) von Meringer (1908) bis Bond (1999) nachgewiesen. In der Morphologie hat man den Begriff der Lautgestalt in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend wiederentdeckt. Beispielsweise weist Köpcke (1993) detailliert nach, dass bestimmte Gestalteigenschaften von Flexionsformen vorzugsweise mit bestimmten grammatischen Subkategorien wie ‘Plural’ oder ‘Maskulinum’ korreliert sind. Warum aber diese Gestalten so beschaffen sind, wie sie sind, warum z.B. deutsche Pluralformen vorzugsweise eine schwa-haltige Endsilbe und eventuell zusätzlich einen Umlautvokal in der Tonsilbe enthalten (und nicht etwa z.B. einen irgendwie modifizierten Anlaut), diese Frage wird in diesen Zusammenhängen höchstens am Rande gestellt. Die Antwort auf diese Frage aber hängt eben damit zusammen, dass Sprachbenutzer Lautgestalten an bestimmten Merkmalen leichter wiedererkennen als an anderen. Ich nenne sie gestaltprägende Merkmale. Gestaltprägende Merkmale lassen sich nicht nur an Mondegreens studieren, sondern auch an anderen Erscheinungen, die traditionell als Teil der etymologischen Forschung angesehen werden, nämlich an der Kontamination und der so genannten Volksetymologie. Darüber hinaus gibt es auch ganz bewusst durchgeführte sprachliche Verfahren, bei denen Lautgestalten variierend nachgeahmt, aber nicht vollständig kopiert werden. Sie reichen von bestimmten Kinderspielen und -texten (z.B. den Ersatz der Vokale in Drei Chinesen mit dem Kontrabass) über verschiedene Formen der absichtlich durchgeführten Paronomasie (Sobkowiak 1991, Ronneberger-Sibold 2002), bis hin zur Imitation erfolgreicher Markennamen (Ronneberger-Sibold 2001). Die sprachliche Kompetenz, die solchen Schöpfungen zugrunde liegt, ist zwar nicht identisch mit der normalen grammatischen Kompetenz der Sprachbenutzer, baut aber auf ihr auf und
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beruht vor allem auf denselben fundamentalen Prinzipien. Deswegen werden sie in der Natürlichen Phonologie und Morphologie neben Daten aus dem Spracherwerb, dem Sprachwandel und der Sprachpathologie als so genannte externe Evidenz herangezogen (Dressler 2000). Der vorliegende Beitrag situiert sich im Umfeld dieses theoretischen Ansatzes. In Abschnitt 2 wird die Definition des Mondegreens präzisiert durch Abgrenzung von anderen, ähnlichen Erscheinungen. Ferner werden eine Typologie von Mondegreens und das Untersuchungskorpus vorgestellt. Abschnitt 3 ist den Hypothesen der Untersuchung und der Methode zu ihrer Überprüfung durch einen systematischen Vergleich der Mondegreens mit ihren Originalen gewidmet. Hierbei sind einige Probleme zu lösen, die vor allem durch die Vertonung vieler Originale entstehen. Abschnitt 4 präsentiert die Ergebnisse. In Abschnitt 5 werden die Ergebnisse in den größeren Zusammenhang des deutschen Sprachsystems und seiner Geschichte eingeordnet.
2. Definition, Typologie, Untersuchungskorpus 2.1. Abgrenzung der Mondegreens von ähnlichen Erscheinungen Die oben gegebene Definition als transparente, lautgleiche oder -ähnliche Nachschöpfung von subjektiv undurchsichtigen Textteilen grenzt das Mondegreen von einigen anderen Erscheinungen ab, die auch mit Lautähnlichkeit zu tun haben. Die ähnlichste ist zweifellos die Volksetymologie. Wenn etwa das karibische Wort hamáka von niederländischen Seeleuten als hangmat (später ins Deutsche übersetzt als Hängematte) nachgeschaffen wurde (Kluge/Seebold 1995), so haben diese Seeleute ja ebenfalls ein für sie opakes Wort durch ein transparentes ersetzt. Der Unterschied liegt darin, dass das Wort hangmat bzw. Hängematte nicht an einen bestimmten Text gebunden ist, sondern als normales Appellativum in sehr vielen verschiedenen Kontexten vorkommt. Dieser Unterschied hat Folgen für die Form und die Bedeutung von Mondegreens bzw. Volksetymologien. Formal sind Mondegreens häufig länger als Volksetymologien, die sich i.a. auf ein Wort beschränken, und inhaltlich können sie sich sehr viel weiter weg von der Bedeutung des Originals entfernen, als das bei einem Wort möglich wäre, das sich in verschiedenen Kontexten bewähren muss. Im Lied Der Mond ist aufgegangen konnte der kleine Schöpfer beispielsweise inhaltlich und lautlich Nebel durch Neger ersetzen, ohne dass das überhaupt irgendjemandem aufgefallen wäre; hätte er das grundsätzlich bei
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jeder Verwendung von Nebel getan, wäre er bald auf Unverständnis gestoßen. Der Volksetymologie ähneln bestimmte Wortkreuzungen, die man als paranomastisch bezeichnen könnte, weil die Kreuzung einem der beiden gekreuzten Wörter ganz besonders lautlich ähnelt. 1 Im Gegensatz zu Mondegreens sind in der Bedeutung einer Kreuzung jedoch die Bedeutungen von beiden gekreuzten Wörtern kombiniert. Beispielsweise ist in der Kreuzung Deformationszeit (Olschansky 1996: 174) das Original Reformationszeit abgewandelt durch Einkreuzung des Wortes Deformation. Die Bedeutung ist aber nicht einfach ‘Zeit einer Deformation’, sondern ‘die Reformationszeit betrachtet als eine Zeit der Deformation’. In der Bedeutung von Neger Wumbaba ist dagegen nichts enthalten, was an die Bedeutung von Nebel wunderbar auch nur erinnern würde. Schließlich können sowohl Mondegreens als auch Volksetymologien mit so genannten Malapropismen verwechselt werden. Ein Malapropismus ist ein existierendes Wort, das von einem Sprecher statt eines lautlich ähnlichen in dessen Bedeutung verwendet wird. Wenn etwa im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann Frau Stöhr statt Turnus Tournee sagt, aber die Bedeutung von Turnus meint, dann ist das ein Malapropismus. 2 Die Verwechslung findet statt, weil beide Wörter der Sprecherin nur vage bekannt sind. Der Malapropismus ist für sie nicht transparenter als das Original. Das unterscheidet ihn sowohl von der Volksetymologie als auch vom Mondegreen. 2.2. Das Untersuchungskorpus. Typologie Das Untersuchungskorpus dieses Aufsatzes bilden alle deutschen 3 Mondegreens in Hacke/Sowa (2004), die sich zur Beantwortung der oben formulierten phonologischen Fragestellung eignen. Dies bedeutet den Ausschluss verschiedener Typen. Selbstverständlich auszuschließen waren zunächst solche Mondegreens, die nur auf dem schriftlichen Code, also rein graphischer Gleich- bzw. Ähnlichkeit beruhen wie z.B. die Inschrift Rentier Schulze auf einem Grabstein (Hacke/Sowa 2004: 19).
_____________ 1 2 3
Ronneberger-Sibold (2002), zur Typologie von Wortkreuzungen auch Ronneberger-Sibold (2006). Zu Wortkreuzungen siehe auch den Beitrag von Günter Koch (in diesem Band). Insofern ist dieses Beispiel nicht ganz zu Recht in die Sammlung der Mondegreens von Hacke/Sowa (2004: 33) aufgenommen worden (was selbstverständlich nicht gegen den unschätzbaren Wert dieser Materialgrundlage spricht). Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob man einen Text in seiner Muttersprache oder einer Fremdsprache zu verstehen sucht. Zu letzterem Voss (1984).
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Unter den Mondegreens, die auf dem lautlichen Code beruhen, wurde (analog zu einer verbreiteten Einteilung bei den Volksetymologien 4 ) unterschieden zwischen solchen, bei denen das Original lautlich verändert wurde, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Letztere wurden ausgeschlossen, weil man aus lautlicher Gleichheit nichts über lautliche Ähnlichkeit erschließen kann. Zu den auszuschließenden Mondegreens ohne lautliche Veränderung wurden auch solche gezählt, bei denen zwar standardsprachlich eine Veränderung anzusetzen wäre, nicht aber in dem Dialektraum, aus dem das Mondegreen stammt, z.B. wenn im Roman Die Buddenbrooks von Thomas Mann der Konsul berichtet, er habe als Kind in einem Gesangbuchvers gib allen denen interpretiert als gib allen Dänen (Hacke/Sowa: 33). Tatsächlich lauten in Lübeck (wie bekanntlich fast im ganzen deutschen Sprachraum) selbst in gepflegter Rede die beiden Phrasen vollkommen gleich. Die Mondegreens mit lautlicher Ähnlichkeit bilden das Untersuchungskorpus. Sie wurden eingeteilt nach der Art und Weise, in der in ihnen Wortgrenzen berücksichtigt werden. In der ersten Gruppe werden keine Wortgrenzen des Originals im Mondegreen verschoben. Sie umfasst die folgenden drei Fälle: x Einem Wort im Original entspricht genau ein Wort im Mondegreen: Nebel > Neger, wunderbar > Wumbaba. x Einem Wort im Original entspricht eine Wortfolge im Mondegreen: ein Prosit > ein Boot sinkt (Hacke/Sowa 2004: 44), Dies Kind soll unverletzet sein > Dies Kind soll unser letztes sein (Hacke/Sowa 2004: 59). x Einer Wortfolge im Original entspricht ein Wort im Mondegreen: Flaggen hoch > Flaggenhof (Hacke/Sowa 2004: 8), Muss i denn > Musident (Hacke/Sowa 2004: 23). In der zweiten Gruppe wird eine Wortfolge des Originals durch eine Wortfolge im Mondegreen ersetzt, aber mit verschobenen Wortgrenzen: uns bei-d’ hier und dorten > uns bei Bier und Torten (Hacke/Sowa 2004: 59). Insgesamt ergibt sich also die Typologie von Mondegreens in folgender Figur.
_____________ 4
Olschansky (1996: 180).
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Alle Mondegreens
schriftlich
mündlich
ohne lautliche Veränderung
mit lautlicher Veränderung
ohne Verschiebung der Wortgrenzen
1 Wort 1 Wort 1 Wort Wortfolge Figur: Typologie von Mondegreens
mit Verschiebung der Wortgrenzen
Wortfolge 1 Wort
3. Hypothesen, Methode 3.1. Hypothesen Bei vorausgegangenen Untersuchungen an Volksetymologien (Ronneberger-Sibold 2002), Wortkreuzungen (Ronneberger-Sibold 2002, 2006) und Imitationen von Markennamen (Ronneberger-Sibold 2001) haben sich immer wieder, wenn auch in unterschiedlichem Maße, dieselben lautlichen Merkmale als gestaltprägend erwiesen: (1) die rhythmische Kontur, definiert durch die Silbenzahl und den Sitz des Hauptakzentes (2) der Tonvokal (3) der konsonantische Anlaut. Erst danach kamen (4) die unbetonten Vokale (5) die nicht anlautenden Konsonanten.
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Ähnliches ergaben entsprechende psycholinguistisch ausgerichtete Studien an spontanen Fehlleistungen (auch bei psychisch Kranken) (Dressler 1976, Söderpalm Talo 1980, Bond 1999). Allerdings unterscheiden sich die Ergebnisse von Bond (1999) speziell zu englischen Mondegreens vor allem in Hinblick auf die anlautenden Konsonanten von denen der zitierten Arbeiten und auch von denen dieses Beitrags (s.u. 5.1.). 3.2. Methodische Probleme Die Mondegreens und ihre Originale wurden transkribiert und dann die jeweils einander entsprechenden Abschnitte verglichen. Bei beiden Schritten waren einige Probleme zu lösen, die großenteils damit zusammenhängen, dass viele Originaltexte in gesungener Form vernommen wurden. Diese Probleme betreffen erstens die segmentale Struktur und damit die phonetische Umschrift, zweitens die rhythmische Struktur, insbesondere den Sitz des Hauptakzents, und drittens die Frage, welche Abschnitte miteinander zu vergleichen sind, wenn dies nicht durch die Wortgrenzen vorgegeben ist. Grundsätzlich wurden die Entscheidungen so getroffen, dass sie die Entstehung des Mondegreens bestmöglich erklären. 3.2.1. Die segmentale Struktur bei Vertonungen: Transkriptionsfragen Die Transkription, die ein Mondegreen am besten erklärt, kann besonders bei gesungenen Texten von Fall zu Fall sehr weit von der zugrundeliegenden phonemischen Struktur (und vom Schriftbild) abweichen oder diese umgekehrt sehr getreu, geradezu „überlautend“ realisieren. Das eine betrifft das Phonem /U/, das andere die übrigen Resonanten. Bekanntlich wird das Phonem /U/ in einer deutschen Silbenkoda als >n@ realisiert. Dieses bildet mit vorhergehendem mittlerem oder hohem Vokal einen Diphthong, z.B. in der >GHn@. Vorhergehendes >@ entfällt, z.B. in wunder >Y8QGn@. Ein solches auslautendes >n@ kann bei expressiver Sprechweise oder im Gesang zu >$Ø@ gedehnt werden, z.B. in >Y8QG$Ø@. Mit vorhergehendem >D@ oder >$Ø@ wird >n@ kontrahiert zu >$Ø@, z.B. in -bar >E$Ø@. Offensichtlich beruht die Nachschöpfung Wumbaba >Y8PE$ØE$Ø@ direkt auf der Realisierung >Y8QG$ØE$Ø@. In solchen Fällen wurde also diese sehr enge phonetische Umschrift gewählt. Auf den ersten Blick erscheint es nun inkonsistent, dass bei den anderen Resonanten /P/, /Q/, /O/ nach // in der Koda einer unbetonten Silbe nicht die üblichen silbischen Realisierungen >PC@, >QC@, >OC@ notiert
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wurden. Dies hätte aber die entsprechenden Mondegreens in keinem Fall besser und in einigen Fällen schlechter erklärt als die zugrunde liegenden phonemischen Verbindungen /P/, /Q/, /O/. Beispielsweise ist die Umsetzung von Wiesen >YLØ]Q@ in Isar >LØ]$Ø@ leichter möglich, wenn man Wiesen tatsächlich als >YLØ]Q@ mit Reduktionsvokal >@ ansetzt, der in Isar einfach mehr Vokalfarbe erhält, als wenn man von einer Realisierung des Originals *>YLØ]Q@ ganz ohne unbetonten Vokal ausgeht. Tatsächlich wird beim Singen das Schwa ja auch realisiert. Es wurde also in solchen Fällen notiert. Schließlich würde man in einer phonetischen Umschrift mit phonetisch detailgetreuen /U/-Realisierungen auch den Glottisverschluss im Morphemanlaut vor betontem Vokal erwarten, also z.B. in Isar *>LØ]$Ø@. >@ wird jedoch beim Singen nicht realisiert. Also wurde es auch nicht notiert. 5 Ein letztes Problem betrifft solche Phonempaare, die in der Standardsprache zwar in Opposition stehen, in vielen Dialekten jedoch zusammenfallen, wie z.B. /HØ/ : /4Ø/ (See geht Ⱥ Säge), ungerundete und gerundete Vorderzungenvokale (geweckt Ⱥ gewürgt), stimmhafte und stimmlose Verschlusslaute (Boden Ⱥ Po). In solchen Fällen wurde die dialektale Aussprache angesetzt. Allerdings sind sie bei der Präsentation der Ergebnisse gesondert ausgewiesen und können daher bei Bedarf leicht herausgerechnet werden. 3.2.2. Die rhythmische Struktur bei Vertonungen: Der Akzentsitz Nicht nur die segmentale Struktur eines Textes kann durch Vertonung verändert werden, sondern auch die rhythmische. Ein Beispiel ist der folgende Satz, der in (leicht metrisierter) Prosa lautet: Da besinnt sich das Kind. x x 'x | x x 'x
Er besteht also aus zwei Anapästen. Damit ist aber nicht ein Mondegreen zu erklären, das eine mysteriöse Person namens 'Dabesin einführt und aus zwei Daktylen besteht: Dabesin sieht das Kind (Hacke/Sowa 2004: 11)
'x x x |'x
x x
_____________ 5
Außerdem würde eine Umsetzung von >YLØ]Q@ in *>LØ]$Ø@ bedeuten, dass der anlautende Konsonant >Y@ von Wiesen in den anlautenden Konsonanten >@ in Isar umgesetzt wurde, eine Lösung die denjenigen Phonologen, die nicht zwischen taxonomischen Phonemen und phonetischen Realisierungen unterscheiden, sicherlich gefallen würde, die mir aber einfach konterintuitiv erscheint.
Lautgestaltprägende Elemente bei Mondegreens
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Offensichtlich erklärt sich diese Akzentverschiebung durch die Vertonung im Viervierteltakt, die in der ersten Strophe des Liedes ja auch sehr gut zum Prosarhythmus passt: Hänschen klein ging allein. 'x x x |'x x x
In solchen Fällen wurde die rhythmische Kontur der vertonten Form zugrunde gelegt. Für das Mondegreen Dabesin aus Da besinnt wurde also keine Veränderung der rhythmischen Kontur und des Tonvokals angesetzt. Dies bedeutet keineswegs, dass durch diesen „Kunstgriff“ eine Veränderung der rhythmischen Gestalt des Originals in einem Mondegreen unmöglich gemacht würde. Es gibt durchaus auch in Liedtexten rhythmische Veränderungen, die nicht auf die Vertonung zurückgehen können, z.B. im Choral Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’ die Zeile All Fehd (hat nun ein Ende) zu x 'x Alfred (hat nun ein Ende) (Hacke/Sowa 2004: 58) 'x x
Die ganze Strophe besteht aus Jamben, die durch die Vertonung noch unterstrichen werden, und trotzdem war die Umdeutung in den Trochäus Alfred möglich. Eine weitere Möglichkeit zur rhythmischen Veränderung des Originals im Mondegreen ist der Einschub zusätzlicher Silben, etwa in Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen im Vers (Kein Auge hat sie) kommen sehn zu 'x x x (Kein Auge hat sie) und konnte sehn (Hacke/Sowa 2004: 63)
x
'x
x x
3.2.3. Die zu vergleichenden Abschnitte Die Frage, welche Abschnitte des Textes überhaupt zu vergleichen sind, ist unproblematisch bei der Nachschöpfung einzelner Wörter: Die Grenzen der zu vergleichenden Abschnitte sind eben die Wortgrenzen, z.B. in Wiesen Ⱥ Isar, Nebel Ⱥ Neger und wunderbar Ⱥ Wumbaba. Dies gilt auch, wenn wenigstens die äußeren Wortgrenzen von Mondegreen und Original zusammenfallen wie in Flaggen hoch Ⱥ Flaggenhof und Prosit Ⱥ Boot sinkt. In diesen Fällen definiert das längere Wort den zu vergleichenden Abschnitt. Schwieriger wird es, wenn die Wortgrenzen des Originals im Mondegreen verschoben sind. In diesem Fall wurden als Vergleichsabschnitte
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Takte mit je einem Hauptakzent gewählt. Ähnlich wie bei den wortbasierten Mondegreens können die Takte mit Wörtern des Originals oder der Kopie zusammenfallen, z.B. im Titellied der Fernsehsendung Sesamstraße (Hacke/Sowa 2004: 20): Wieso, weshalb, warum. x 'x| x 'x | x 'x Die Sowes hallt herum.
respektive in der ersten Strophe von Weißt du, wieviel Sternlein stehen: (Gott der Herr hat) sie gezählet |'x x|'x x | (Gott der Herr hat) sieben Zähne.
Takte können jedoch auch mehrere Wörter des Originals und der Kopie einschließen (mit verschobenen Grenzen), und darunter können sogar solche sein, die im Mondegreen unverändert geblieben sind, zum Beispiel in der folgenden Zeile aus dem Choral Ach bleib’ mit Deiner Gnade: (dass) uns bei--d’ hier und (dorten) |'x x |'x x | (dass) uns bei Bier und (Torten) (Hacke/Sowa 2004: 59)
3.3. Die Vergleichskriterien Unter Berücksichtigung der genannten Prinzipien wurden 89 Mondegreens bzw. Abschnitte von Mondegreens mit ihren Originalen nach den folgenden Kriterien verglichen: 1. Aufeinander abgebildete Einheiten a. Wörter und Wortverbindungen (ohne Verschiebung der Wortgrenzen) i. 1 Wort Ⱥ 1 Wort (wunderbar Ⱥ Wumbaba) ii. 1 Wort Ⱥ Wortfolge (Prosit Ⱥ Boot sinkt) iii. Wortfolge Ⱥ 1 Wort (Flaggen hoch Ⱥ Flaggenhof) b. Takte (bei Verschiebung der Wortgrenzen) |'Sie ge|'zählet| > |'Sieben|'Zähne| 2. Lautgestaltprägende Merkmale a. Rhythmische Kontur (Silbenzahl und Akzentsitz): + = gleich, – = ungleich b. Tonvokal: + = gleich, – = ungleich, 0 = nicht vorhanden (bei unbetonten Wörtern) c. Konsonantischer Anlaut (gegebenenfalls ganze Konsonantenverbindung): + = gleich, – = ungleich, 0 = nicht
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Lautgestaltprägende Elemente bei Mondegreens
vorhanden (bei vokalisch anlautenden Wörtern; vokalische Unterschiede sind unter b. und d. erfasst.) d. Unbetonte Vokale: + = gleich, – = ungleich, 0 = nicht vorhanden (bei Einsilblern) e. Nicht anlautende Konsonanten(verbindungen): + = gleich, – = ungleich, 0 = nicht vorhanden (bei offenen Einsilblern) Zur Illustration des Verfahrens ist in Tabelle 1 das Mondegreen und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar > und aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba analysiert. rhythmische Kontur
Tonvokal
Kons. Anlaut
Unbetonte Vokale
Nicht anl. K.
Takt Ⱥ Takt
Wortverb. Ⱥ Wort
Wort Ⱥ Wortverb.
Wort Ⱥ Wort den Ⱥ der >GHØQ@ Ⱥ >GHØn@ Wiesen Ⱥ Isar >YLØ]Q@ Ⱥ >LØ]$Ø@ Nebel Ⱥ Neger >QHØEO@ Ⱥ >QHØJn@ wunderbar Ⱥ Wumbaba >Y8QG$ØE$Ø@Ⱥ >Y8PE$ØE$Ø@
+
+
0
+
–
–
+
+
+
–
–
–
+
+
+
+
–
–
+
+
+
+
+
–
Tab. 1: und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar Ⱥ und aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba: Aufeinander abgebildet Einheiten und lautgestaltprägende Merkmale
Das Mondegreen umfasst vier Abschnitte: (1) den Ⱥ der, (2) Wiesen Ⱥ Isar, (3) Nebel Ⱥ Neger, (4) wunderbar Ⱥ Wumbaba. In allen vier Fällen ist ein Wort durch ein anderes Wort ersetzt. Die rhythmische Kontur bleibt bei jedem Paar erhalten: Ein unbetonter Einsilbler bei den Ⱥ der, ein Trochäus bei Wiesen t Isar und Nebel t Neger, ein Daktylus bei wunderbar t Wumbaba. Auch der Tonvokal bleibt gleich bei Wiesen t Isar: Tonvokal >LØ@, Nebel t Neger: Tonvokal >HØ@, wunderbar t Wumbaba: Tonvokal >8@. Den t der hat in diesem Text keine Tonvokale. Der konsonantische Anlaut ist nur bei Wiesen t Isar verschieden: >Y@ t 0. Die unbetonten Vokale sind gleich in wunderbar t Wumbaba (>$Ø@), ansonsten verschieden, wenn auch phonetisch ähnlich: >HØ@ t >Hn@ in den t der, >@ t >$Ø@ in Wiesen – Isar, >@ t >n@ in Nebel t Neger. Am
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größten sind die Unterschiede bei den nicht anlautenden Konsonanten(verbindungen): >Q@ t 0 in den t der und in Wiesen t Isar, >E@ t >J@ und >O@ t 0 in Nebel t Neger und >QG@ t >PE@ in wunderbar t Wumbaba. Auch hier fällt jedoch die Ähnlichkeit auf; sie betrifft im Wesentlichen den Artikulationsort, nicht die Artikulationsart oder die Phonationsart. (Eine Untersuchung dieser – ebenfalls sehr interessanten – artikulatorischen Details muss einer späteren Studie vorbehalten bleiben. 6 )
4. Ergebnisse Tabellen 2 und 3 enthalten die Auswertungsergebnisse. In Tabelle 3 geht es um die einander in Original und Mondegreen entsprechenden Einheiten. ohne Verschiebung der Wortgrenzen 1 Wort Ⱥ 1 Wort 46 = 52%
79 = 89% 1 Wort Ⱥ Wortfolge 12 = 13%
Wortfolge Ⱥ 1 Wort 21 = 24%
mit Verschiebung der Wortgrenzen 10 = 11% Takt Ⱥ Takt 10 = 11%
Tab. 2: Aufeinander abgebildete Einheiten im Original und im Mondegreen
89%, also die bei weitem überwiegende Zahl der verglichenen Einheiten, kommen ohne eine Verschiebung der Wortgrenzen des Originals aus. Nur bei fünf Mondegreens liegen die Grenzen innerhalb von Wörtern des Originals, so dass auf jeweils zwei Takte als Vergleichseinheiten ausgewichen werden musste. Mehr als zwei Takte waren nie notwendig. Diese zehn Takte machen die verbleibenden 11% aus. Bei etwas über der Hälfte (52%) der verglichenen Einheiten entsprechen Wörter des Originals und des Mondegreens sich 1:1. Beim Rest ist ein deutliches Übergewicht der Abbildung von mehreren Wörtern im Original auf ein Wort im Mondegreen (24%) gegenüber dem umgekehrten Fall zu verzeichnen (13%). Offenbar versuchen also die Hörer zunächst einmal, den unklaren Text zu interpretieren, indem sie ihn nach möglichst langen Lautgestalten absuchen, die Wörtern entsprechen könnten. Eine beliebte Strategie scheint zu sein, probeweise eine Wortgrenze vor einem möglichen konsonantischen Wortanlaut plus Tonvokal anzusetzen. 7 Diese Strategie ist offenbar sehr effizient, denn meistens stoßen die Hörer auf diese Weise
_____________ 6 7
Vgl. Bond (1999) für Untersuchungen zu englischem Material. Experimentelle Evidenz bieten Cutler/Norris (1988) und Cutler/Butterfield (1992).
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Lautgestaltprägende Elemente bei Mondegreens
tatsächlich auf die Worteinheiten des Originals, selbst wenn sie deren Lautgestalten lautlich (und dadurch natürlich auch inhaltlich) abweichend ausfüllen. Übrigens sind sie dabei im Deutschen noch erfolgreicher als im Englischen, weil im Deutschen ein vokalischer Wortanlaut nicht durch Liaison „überspielt“ werden kann (s.u. 5.1.). Wenn die Hörer aber nicht genau die Worteinheiten des Originals „rekonstruieren“, dann tendieren sie eher dazu, mehrere benachbarte Wortlautgestalten zu einer längeren und rhythmisch komplexeren zu verbinden, als umgekehrt eine lange, komplexe Gestalt in mehrere einfachere zu zerlegen. Auch dies erklärt sich durch die erwähnte Segmentierungsstrategie, denn im Text werden Wortakzente eher herab- als heraufgestuft. 8 Tabelle (3) zeigt, welche Elemente der Lautgestalt des Originals in den Mondegreens erhalten sind.
rhythmische Kontur Tonvokal konsonantischer Anlaut unbetonte Vokale nicht anlautende Konsonanten
im Mondegreen erhalten 79 = 89% 65 (6) = 73%
im Mondegreen nicht erhalten 10 = 11% 17 = 19%
im Original nicht vorhanden
55 (5) = 62%
24 = 27%
10 = 11%
41 (1) = 46%
39 = 44%
9 = 0%
26 (1) = 29%
61 = 69%
2 = 2%
7 = 8%
Tab. 3: Lautgestaltprägenden Merkmale des Originals im Mondegreen
Die eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf Fälle, in denen ein Merkmal zwar dialektal, aber nicht standardsprachlich erhalten ist. Sie sind bei den erhaltenen Merkmalen mitgerechnet. Die anhand von Volksetymologien, paronomastischen Wortkreuzungen und imitierten Markennamen aufgestellte Hypothese wird also vollauf bestätigt: Diejenigen Elemente, an denen Sprachbenutzer eine Lautgestalt vor allen anderen erkennen, und die sie deshalb bei Nachschöpfungen besonders originalgetreu bewahren, sind erstens die rhythmische Kontur (89%), zweitens der Tonvokal (73%) und drittens der konsonantische Anlaut (62%). Unbetonte Vokale werden ungefähr genauso oft erhalten
_____________ 8
Es wäre interessant, diesen Befund mit Mondegreens in Sprachen wie dem Französischen zu vergleichen, in denen das Wort als rhythmische Einheit im Text keine so zentrale Rolle spielt wie im Deutschen. Vermutlich würde man auch hier im Mondegreen längere Wörter als im Original finden, aber mit sehr viel mehr Verschiebungen von Wortgrenzen.
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wie verändert, nicht anlautende Konsonanten sogar häufiger verändert als erhalten. Ein weiterer Bereich, in dem genau dieselben Elemente wie in Mondegreens bewusst in schöpferischer Weise eingesetzt werden, um Ähnlichkeit zwischen sprachlichen Einheiten herzustellen, sind die in unserem Kulturraum üblichen poetologischen Regeln: Was die Verse eines lyrischen Gedichts zusammenhält, sind das Metrum, also die Rekurrenz bestimmter rhythmischer Gestalten, und gegebenenfalls der Reim, also die Rekurrenz entweder des anlautenden Konsonanten beim Stabreim oder des Tonvokals bei Assonanz oder des Tonvokals und aller Folgesegmente bis zum Versende beim Endreim.
5. Die gestaltprägenden Merkmale im Sprachsystem als determinierende Faktoren im Sprachwandel 5.1. Gestaltprägende Merkmale in der Flexion deutscher Substantive Das Verfassen von Gedichten, das Nachahmen von Markennamen, das Erfinden von Wortkreuzungen und selbst das Schaffen von Volksetymologien und Mondegreens sind individuelle, schöpferische Akte, auch wenn sie, wie bei den Volksetymologien und Mondegreens, unbewusst ablaufen. Viele Linguisten und Linguistinnen sind der Meinung, dass solche individuellen sprachlichen Erzeugnisse nichts über das normale Sprachsystem und seine Entstehung aussagten. Insbesondere aus generativer Perspektive werden solche Erscheinungen wegen ihrer Individualität gerne in den Bereich der für die Struktur der Kompetenz irrelevanten Performanz verbannt. Im Gegensatz dazu wird hier die These vertreten, dass genau dieselben gestaltprägenden Merkmale, die bei solchen individuellen Schöpfungen maßgeblich berücksichtigt werden, auch den langfristigen Sprachwandel geleitet haben, der die Wortformen der deutschen Gegenwartssprache hervorgebracht hat. Dieses soll am Beispiel der Pluralbildung der Substantive gezeigt werden. Bei den prototypischen neuhochdeutschen Maskulina und Neutra unterscheidet sich das Pluralparadigma vom Singularparadigma entweder durch die rhythmische Gestalt nach dem Muster ‘Einsilbler im Singular Trochäus im Plural’ (Tag – Tage, Schaf – Schafe, Staat – Staaten, Ohr – Ohren, Geist – Geister, Ei – Eier) oder durch die rhythmische Gestalt
Lautgestaltprägende Elemente bei Mondegreens
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und einen Wechsel des Tonvokals, nämlich Umlaut 9 : Hahn – Hähne, Floß – Flöße, Mann – Männer, Huhn – Hühner. Zu beiden kann ein automatischer Wechsel des auslautenden Konsonanten kosignalisierend hinzutreten: Tag /-k/ – Tage /-g-/, Bad /-t/ – Bäder /-d-/. Was sich aber auf gar keinen Fall ändern darf, ist der anlautende Konsonant. Die neuhochdeutsche Standardsprache lässt keinerlei konsonantische Anlautalternanzen zu. Sogar Liaison-Phänomene wie etwa in engl. an egg >.QHJ@, frz. un œuf >.QI@, die die phonetische Erkennbarkeit eines vokalischen Lexemanlauts durch Resyllabierung reduzieren würden, sind im Deutschen durch den subphonemischen Glottisverschluss vor anlautendem Vokal z.B. in ein Ei >DÌLQ.DÌL@ ausgeschlossen. Wenn im Deutschen Artikel reduziert werden, lehnen sie sich eher enklitisch an das vorhergehende Wort an, z.B. an eine Präposition (am, zum, aufm, anen < an einen) als proklitisch an das folgende Substantiv (Nübling 1992: 181182). Offenbar herrscht in der Pluralflexion deutscher Substantive eine Art „Arbeitsteilung“ zwischen genau denselben lautgestaltprägenden Elementen, die auch bei den individuellen Schöpfungen wirksam werden: Der unveränderliche konsonantische Anlaut garantiert die Konstanz des Lexems, die veränderliche rhythmische Gestalt signalisiert die grammatische Subkategorie Singular oder Plural, der Tonvokal kann dem einen oder dem anderen dienen, Veränderungen der nicht anlautenden Konsonanten können hinzutreten, aber ohne eigene distinktive Funktion. Als wäre dieses Verfahren der prototypischen deutschen Numerusflexion noch nicht subtil genug, kosignalisiert es darüber hinaus auch noch das Genus: Bei einem prototypischen Femininum ändert sich nämlich weder die rhythmische Gestalt noch der Tonvokal noch der Anlaut: Rose – Rose-n. 5.2. Gestaltprägende Merkmale als determinierende Faktoren im Sprachwandel Bekanntlich ist die subtile „Arbeitsteilung“ bei der Pluralmarkierung nicht aus der indogermanischen Grundsprache ererbt. Vielmehr wurde sie durch verschiedene lautliche und morphologische Entwicklungen herbeigeführt, die mindestens seit dem Althochdeutschen in geradezu verblüffender Geradlinigkeit zusammengewirkt haben und die häufig unter der
_____________ 9
Eine schemabasierte Einordnung des Pluralumlauts ins neuhochdeutsche Flexionssystem (unabhängig von der umstrittenen Frage nach seiner Produktivität) s. in Köpcke (1993).
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Bezeichnung „Numerusprofilierung“ zusammengefasst werden (Hotzenköcherle 1962). Solche Entwicklungen wirken in ihrer teleologischen Geradlinigkeit vor allem dann sehr erstaunlich, wenn man sich vorstellt, dass die beteiligten Formen in irgendeiner Weise aktiv von den Sprachbenutzern hergestellt worden wären. Bei genauerer Überlegung ist das aber gar nicht der Fall. Flexionsformen entstehen normalerweise als automatische phonetische Varianten bei Assimilations- und Reduktionsprozessen. Der Umlaut ist ein Paradebeispiel. Aus der Fülle solcher Varianten wählen Generationen von Sprachbenutzern bei einer sehr großen Zahl von Sprechakten diejenigen aus, die sich zum Ausdruck der grammatischen Kategorien als besonders effizient erweisen. Dies sind besonders solche Varianten, die einerseits die Lautgestalt des Lexems wiedererkennen lassen, andererseits die gewünschte grammatische Modifikation salient kodieren. Zu beiden Zwecken eignen sich am besten die geschilderten lautgestaltprägenden Merkmale. Bei diesem Auswahlvorgang lassen Sprachbenutzer sich also von derselben Intuition für lautgestaltprägende Merkmale leiten, die sie auch bei der Schöpfung von poetischen Reimen, paronomastischen Wortkreuzungen, Volksetymologien und eben Mondegreens einsetzen. Beispielsweise wurden Pluralformen mit umgelautetem Tonvokal in der ganzen Sprachgemeinschaft beibehalten, Anlautvarianten zum Ausdruck der Definitheit wie etwa bair. >EYUDÌX@ ‘die Frau’ versus >YUDÌX@ ‘Frau’ aber nur in relativ kleinen Gebieten (Zehetner 1985: 112). Für die ihrem Zweck nach auf Explizitheit und Deutlichkeit abzielende Standardsprache, die sich u.a. in der überregionalen distanz- und schriftsprachlichen Kommunikation bewähren muss, kam dergleichen überhaupt nie in Frage. Freilich müssen im Allgemeinen Performanzvorteile in einer Hinsicht durch Nachteile in anderer Hinsicht erkauft werden. Eine deutsche Pluralform wie Hühner mit Veränderung der rhythmischen Kontur und des Tonvokals drückt zwar einerseits den Plural in sehr salienter Weise aus, enthält aber andererseits den universell markierten, weil relativ schwer artikulierbaren gerundeten Vorderzungenvokal /\Ø/ und weicht vor allem von der 1:1-Zuordnung zwischen Einheiten des Inhalts und des Ausdrucks ab. Daher wird ein Hörer, der diese Form kennt, sie sehr leicht wiedererkennen, wer sie aber nicht kennt, wird größere Schwierigkeiten haben, sie zu dekodieren, d.h. in ihre Bestandteile zu zerlegen, als etwa bei einer additiven und weitgehend uniformen Symbolisierung des Plurals wie in englisch hen-s. Welche Richtung der Performanzerleichterung die Sprachbenutzer bei ihrem Auswahlprozess bevorzugen und eventuell zum dominierenden produktiven Verfahren ihres Systems erheben, das hängt
Lautgestaltprägende Elemente bei Mondegreens
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von vielen inner- und teilweise auch außersprachlichen Bedingungen ab, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 10 In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass es dieselben lautgestaltprägenden Eigenschaften sind, die die Sprachbenutzer einerseits einsetzen, wenn sie Mondegreens schaffen, und die ihnen andererseits eine Pluralform wie Hühner attraktiv für die Perzeption in der ganz normalen, alltäglichen Performanz erscheinen lässt. Im Grunde ist das auch nicht erstaunlich, denn wir rekonstruieren ja auch bei normaler Kommunikation viele unvollständig perzipierte Äußerungen anhand dieser Gestaltmerkmale, nur dass wir dabei meistens entweder von vorne herein das Richtige treffen oder aber so manches Mondegreen innerlich sofort wieder verwerfen, weil es nicht in seinen Kontext passt. Genau dies hat schon Hermann Paul gesehen, der darum das letzte Wort haben soll. Er schreibt in Bezug auf Volksetymologien: Für die Erklärung des Vorgangs werden wir zunächst zu berücksichtigen haben, dass man ganz gewöhnlich die Wörter oder Sätze, die man hört, ihren Lautbestandteilen nach nicht völlig exakt perzipiert, sondern teilweise errät. (Paul 1920: 221)
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_____________ 10
Auch eine Mischung verschiedener Möglichkeiten, etwa in Abhängigkeit von der Frequenz der betroffenen Lexeme, ist eine häufig gewählte Lösung. Vgl. Werner (1987). Ein Modell der verschiedenen Performanzbedürfnisse und ihrer gegenseitigen Abhängigkeiten s. in Ronneberger-Sibold (1980: 177-206).
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Elke Ronneberger-Sibold
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Günter Koch
Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe ° schod hod da Abraham zon Bebraham gsogt, daß mia koan Cebra ham N’viehbach DGF (BWB I, 1, Sp. 49)
1. Wortkreuzung im Sprachspiel Dieses Sprachspiel aus dem mittelbairischen Dialektgebiet überrascht auf zweifache Weise: Zuerst wird einem aus dem Allgemeinwissen bekannten und daher in seiner Referenz eindeutigen Eigennamen durch die paradigmatische Gegenüberstellung einer ‚minimalen‘ Variante 1 eine neue Struktur gegeben und damit auch eine neue Bedeutung zugewiesen, dann wird diese neu entstandene Struktur mit einer weiteren ‚minimalen‘ Variante, die sich auf den ersten Blick in die gleiche paradigmatische Reihe stellen lässt, gestützt, wobei der syntagmatische Zusammenhang eine neuerliche Restrukturierung nach semantischen Gesichtspunkten verlangt, denn das zweite spielerisch abgewandelte Wort entspricht teilweise einem aus dem Alltagswissen bekannten Referenzobjekt. Die Idee dieses Wortspiels beruht auf einer paradigmatischen Analogiebildung nach der Reihenfolge der Buchstaben des Alphabets. Der opake, holistische, nicht segmentierbare Eigenname Abraham wird im paradigmatischen Vergleich mit B-braham segmentierbar, indem der erste Buchstabe abgetrennt wird. Ebenso kann C-braham segmentiert werden, doch im Syntagma muss – rückwirkend – die assimilierte Form von haben >K$P@ aus der Lautsubstanz ausgegliedert werden, so dass die Lautfolge >WVHØEUD@ verbleibt. Diese kann nun ohne weiteres mit dem Lexem Zebra in Zusammenhang gebracht werden. Im Transfer vom Graphem zu – in der isolierten Aussprache entsprechen sich diese beiden Grapheme eben nicht (>WVHØ@ – >WV(W@) – liegt ebenso wie in der Resegmentierung nach dem Alphabet spielerische Kreativität, die vom linguistischen
_____________ 1
„Minimal“ erscheint diese Variante erst nach einem analogen Transfer nach dem Muster des Alphabets, vgl. Abb. 1.
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Günter Koch
Laien ohne größere Schwierigkeiten nachvollzogen werden kann. Im Einzelnen betrachtet kann allerdings doch eine gewisse Komplexität festgestellt werden, zumal keine absolute Gewähr für die unmittelbare Identifikation des letzten Wortes besteht: zeitliches Kontinuum des Hörens 2 Lautkette: Ebene des unmittelbaren Verstehens Ebenen des erschlossenen Verstehens
>ਥ$ØEU$K$P@ >ਥEHØEU$K$P@ identifiziert als
nicht identifizierbar
>ਥWVHØEU$K$P@
< Abraham >
< C-Braham >
analoge
analog nach Muster a:b:c identifiziert als
analog nach Muster a:b identifiziert als
durch syntagmatische Reanalyse identifiziert als
< A-Braham > Reanalyse< B-Braham >
(< Abra ham >
,
< C-Bra ham >
durch graphematischen Transfer identifiziert als
analoge < Zebra ham > Reanalyse (fakultativ)
)
Abb. 1: Unmittelbares Verstehen von >ਥWVHØEU$K$P@ als < C-Braham > zeitliches Kontinuum des Hörens Lautkette: Ebene des unmittelbaren Verstehens
>ਥ$ØEU$K$P@ identifiziert als
>ਥEHØEU$K$P@
>ਥWVHØEU$K$P@
< Zebra ham >
nicht identifizierbar
< Abraham >
analog nach Muster a:b identifiziert als
analoge
Ebenen des erschlossenen Verstehens
< A-Braham > Reanalyse< B-Braham >
(< Abra ham >
identifiziert als
,
< Bebra ham >)
analog nach Muster a:b:c identifiziert als
< C-Braham >
graphematischer Transfer zum zuerst identifizierten Wort
analoge < Cebra ham > Reanalyse (fakultativ)
Abb. 2: Unmittelbares Verstehen von >ਥWVHØEU$K$P@ als < Zebra ham >
_____________ 2
Dieses Sprachspiel wird im Volksmund tradiert und daher von der lautlichen Seite her analysiert.
Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe
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Ob nun das letzte Wort zuerst als oder als identifiziert wird, ist für das Funktionieren des Wortspiels irrelevant, da in beiden Fällen die entsprechenden Segmente erschlossen werden müssen, um die Pointe zu verstehen. Durch die spielerische Nutzung von Analogie und Allographie entstehen aus opaken Wörtern neue Segmente (Braham / Abra-, Bebra- / Bra-). Im Kommunikationskontext könnten diese ‚Wortbausteine‘ weiter genutzt werden 3 , doch bleiben sie meist situativ gebunden. 4 Denkbar wäre eine Lösung aus dem okkasionellen Gebrauch erst, wenn eine Lexikalisierung stattfindet: Das Sprachspiel wird zum Allgemeingut der Sprachteilhaber und die daraus hervorgegangenen Segmente werden auch ohne den ursprünglichen Kontext als sprachliche Zeichen verstanden. Vom Wortbildungstyp her kann das analysierte Beispiel den Wortkreuzungen zugeordnet und – abhängig von den hörerseitig vorgenommenen Resegmentierungen – als Teleskopkreuzung oder Konturkreuzung interpretiert werden: 5 Ze
Ze A
bra Bra
ham
bra bra
ham
Zebra x Braham überlappen sich mit der Endsilbe des ersten und der Anfangssilbe des zweiten Wortes. Das Lexem Zebra wird in das Matrixwort Abraham eingekreuzt. Das Matrixwort bestimmt Akzent und Silbenzahl. 6
_____________ 3 4 5 6
Z.B. Braham mit der Bedeutung ‘Individuum aus dem Stamm der Brahame’, wobei die Individuen über den initialalphabetischen Buchstaben gegeneinander abgegrenzt werden. Dieses Schicksal teilen Wortspiele mit den „Verhörern“, vgl. dazu Ronneberger-Sibold (in diesem Band). Zur Typologie von Wortkreuzungen vgl. Ronneberger-Sibold (2005: 213-220); vgl. auch Schulz (2004: 294-299) und Schmid (2003: 270-272); zur semantischen Differenzierung vgl. Schmid (2003: 272-276). Hier handelt es sich um einen der „außerordentlich seltenen Fälle, in denen das eingekreuzte Wort auch den Tonvokal verändert“ (Ronneberger-Sibold 2005: 216). Interpretierbar wird die Wortkreuzung trotzdem, wohl aufgrund der überlappenden Silbe -bra, die die Transparenz erhöht (vgl. ebd.).
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Günter Koch
2. Wortkreuzungen bei Eigennamen Besonders bei onymischem Sprachmaterial erfreut sich die Wortkreuzung besonderer Beliebtheit 7 , wie z.B. die Tagespresse bei der Berichterstattung zur Fußballweltmeisterschaft 2006 zeigt: Klinsometer, klinsifiziert, Klosolski, Jensationell 8 . In einem graphischen Vergleich der verwendeten Wortsegmente wird die Vielfalt dieser Wortbildungsart 9 deutlich. Bei allen Bildungen handelt es sich um Konturkreuzungen, die Tonvokale der Matrixwörter sind unterstrichen: J s
ens ens
Klins Bar
kl
mann ometer
in in
Klos Pod
ationell
si fiziert
e olski
Weder die Silben- noch die Morphemstruktur ist von Bedeutung, nur die lautliche Überlappung. Paradigmatisch bilden Jens und das Fragment sens ein Minimalpaar. Beide Hintergrundlexeme sind nur teilweise erhalten; das erste Segment Klins ist durch die Abspaltung von mann sekundär remotiviert. 10 Der Kosename Klinsi ist zwar vollständig erkennbar, das Matrixwort wird aber diskontinuierlich realisiert. Das Segment fiziert alleine reicht nicht aus, um auf das Matrixwort infiziert zu verweisen. Hier werden die Nachnamen der beiden Stürmer Miroslav Klose und Lukas Podolski – beide in Polen geboren – gekreuzt. Effektvoll ist die Wortkreuzung nur dadurch, dass das onymische Suffix aus dem polnischen Familiennamensystem erhalten bleibt. 11
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Vgl. Schmid (2003: 271): „Signifikant ist [...] der eminent hohe Anteil von fremdsprachlichen und onymischen Elementen.“ PASSAUER NEUE PRESSE (Ausgabe A): Klinsometer (Nr. 145 vom 27.6.06, S. 7), Klosolski (Nr. 144 vom 26.6.06, S. 9), klinsifiziert (Nr. 147 vom 29.6.06, S. 9), Jensationell (Nr. 149 vom 1./2.6.06, S. 31). Schulz (2004: 303) rechnet Wortkreuzungen mit zumindest einem vollständig erhaltenen Ausgangswort zur regelbasierten Wortbildung; Ronneberger-Sibold (2005: 208) dagegen grenzt die Wortkreuzung explizit von der regulären Wortbildung ab. Vgl. auch die häufig gebrauchte Wortbildung Klinsmänner für die Nationalelf 2006. Ähnlich dem Wort Braham wird das zunächst bedeutungslose Klins mit Bedeutung gefüllt: ‘Clanführer Klins’. Zum Fugenelement -o- vgl. Anm. 23. Vgl. dazu Nübling (in diesem Tagungsband).
Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe
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Diese Beispiele zeigen deutlich, dass sich Wortkreuzungen der regulären Wortbildung entziehen, wenngleich sie vom Strukturtyp und der Semantik dem Kompositum nahe stehen. 12 Allen Bildungen ist gemein, dass das Matrixwort unvollständig oder zumindest fragmentiert (in-, -fiziert) erhalten ist, während das eingekreuzte Wort/Basismorphem (bis auf Klose) vollständig erkennbar bleibt. Würden diese Wortspiele in der Weise weitergesponnen, wie es bei den eingangs zitierten Abraham-Kreuzungen der Fall war, müssten diejenigen Segmente verwendet werden, die von den vollständig erhaltenen Wörtern bzw. Basismorphemen „ausgeschieden“ werden. Es stellen sich somit die Fragen, ob es sich bei den Segmenten ationell, ometer, fiziert und olski um neu entstandene sprachliche Zeichen handelt, welchen morphemischen Status diese Zeichen einnehmen, konkret, ob es sich um Konfixe 13 handelt, und schließlich, welche linguistische Theorie für eine Modellierung des Entstehungsprozesses in Betracht kommt.
3. Die Sekretion von Konfixen Die letzte Fragestellung soll als Ausgangspunkt für die anderen Überlegungen dienen. Ein theoretisches Modell, das die „Ausscheidung“ von Wortbestandteilen darstellt, formulierte Jespersen, allerdings in Bezug auf die Entstehung der grammatischen Elemente: Unter ausscheidung verstehe ich die erscheinung, daß ein ursprünglich unselbständiger bestandteil eines eigentlich unteilbaren wortes zu einer grammatischen bedeutung kommt, die er anfänglich nicht hatte und die dann als etwas zu dem wort selbst erst beigefügtes empfunden wird. Die ausscheidung [...] zeigt sich in ihrer vollen kraft, wenn der auf diese art abgetrennte bestandteil an andere wörter angesetzt wird, die ihn ursprünglich nicht besaßen. (Jespersen 1925: 370f.)
Nun erfüllen die hier zu untersuchenden Segmente keine rein grammatischen Funktionen, sie transportieren immer auch semantische Merkmale des Hintergrundlexems. Ein Modell, das auch die Ausscheidung lexikalischer Elemente berücksichtigt, entwickelte Harnisch (2004: 211, 221), indem er „Entschmelzungsprozesse“ als Zusammenspiel von „DeGrammatikalisierung“ und „De-Lexikalisierung“ auffasst. Bei DeGrammatikalisierung und – als Gegenpol dazu – Grammatikalisierung
_____________ 12 13
Vgl. Schulz (2004), S. 295: Typ A (beide Ausgangswörter vollständig erkennbar): haplologisch verkürzt; S. 298: Typ B (ein Ausgangswort vollständig erkennbar): determinativ; S. 299: Typ C (keines der Ausgangswörter vollständig erkennbar): kopulativ. Definition von Donalies (2000: 157): „Konfixe sind produktive, gebundene, unmittelbar oder mittelbar basisfähige, mitunter darüber hinaus auch kompositionsgliedfähige Einheiten der deutschen Wortbildung.“
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geht es „um Statusanhebungen bzw. -minderungen [...] in der sprachlichen Konstruktionsebenen-Hierarchie“ (ebd.: 212). So können aus purer Lautsubstanz Submorpheme, Morpheme, Wörter oder gar Phrasen entstehen (vgl. ebd. 211). Die De-Lexikalisierung wird als Gegenpol der Lexikalisierung aufgefasst: Prozesse der „(De-)Lexikalisierung“ spielen sich dagegen auf einer Skala von unterschiedlich komplexen Ausdruck-Inhalt-Beziehungen ab. „Lexikalisierungen“ verlaufen dabei von eher analytischen Gebilden mit transparenten Strukturen und Segmenten in regulärer Anordnung zu eher holistischen Gebilden mit opaker Gestalt und höherem Irregularitäts-/Idiosynkrasiegrad, wie er eher lexikalischen Gebilden eigen ist. Prozesse der [...] „De-Lexikalisierung“ gehen in die entgegengesetzte Richtung. [...] De-Lexikalisierung [ist also mit] (Re-)Segmentierung und (Re-)Motivierung [verbunden]. (Harnisch 2004: 212)
Damit rückt Harnisch die De-Lexikalisierung in die Nähe der Volksetymologie. Die „Entschmelzung“ kann insgesamt als sprecherseitiges Bedürfnis, einen opaken, holistischen Ausdruck neu zu gliedern, also transparent zu machen, aufgefasst werden. Was die Konstruktionsebene anbelangt, werden aus der puren Lautsubstanz morphemische Einheiten „ausgeschieden“; was die semantische Seite angeht, werden diese sekretierten Einheiten mit (neuer) Bedeutung verbunden und das Wort als Ganzes remotiviert. 3.1. Zur Sekretion des Konfixes -kini An einem Beispiel, das die Sekretion einer konfixischen Einheit zeigt, soll dieser Vorgang verdeutlicht werden: Das Wort Bikini war ursprünglich ein Nomen proprium und galt als geographische Bezeichnung des BikiniAtolls, einer Inselgruppe der Marshallinseln. Durch die Atombombentests der USA wurde der Name dieser Inselgruppe bekannt und inspirierte den Modeschöpfer Louis Reard zur Benennung eines ‘knappen, zweiteiligen Badeanzugs für Damen’ (Pfeifer 1993: 136). Eine Benennungsmotivation kann in zweierlei Hinsicht erkannt werden: Zum einen sollte diese Badekleidung – der Prototyp war mit Zeitungsausschnitten zum Atombombenversuch bedruckt – einschlagen wie eine Bombe, zum anderen erleichterte der „Anklang der ersten Silbe von Bikini an das in Fremdwörtern gebräuchliche bi- ‘zwei-, doppel-’ [...] eine Verbindung dieses Lautkörpers mit dem benannten Objekt“ (ebd.). Wird nun das Segment Bi- von Bikini abgetrennt, verbleibt ein Rest -kini, oder mit anderen Worten, das Segment -kini wird ausgeschieden, sekretiert. Allerdings ist diese Lautkette noch bedeutungsleer, sie muss erst mit Bedeutung aufgeladen werden. Das ist nicht weiter schwierig, als Bedeutung liegt ‘Badeanzug’ nahe, ein Bikini ist eben ein ‘zweiteiliger Badeanzug’. Allerdings existiert kein freies,
Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe
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ungebundenes Basismorphem Kini, es tritt nur als gebundenes Basismorphem auf: In die paradigmatische Reihe passt vor allem Monokini, die ‘Badehose ohne Oberteil’ (Kluge 1999: 109), da hier die Semantik des Erstglieds in analoger Weise genutzt wird. Dieses Wort ist – trotz der paradigmatischen Transparenz zu Bikini – am Veralten (DUW 2001: 1096), es wird von Minikini ‘einteiliger, die Brust frei lassender Badeanzug’ (ebd. 1081) abgelöst, wohl aus Gründen der Vokalharmonie, obwohl eine Verwechslungsgefahr als Kurzwort für Minibikini ‘sehr knapp geschnittener Bikini’ (ebd.) besteht. Eine (Re-)Motivation von Minikini aus seinen Segmenten ist gegeben: mini ‘klein’ + -kini ‘Badeanzug’. Bei Swimkini 14 liegt eine Bedeutungsintensivierung durch das Bestimmungswort vor, zwar sind baden und schwimmen nicht synonym, aber in Bezug auf das Kleidungsstück wohl als tautologisch zu werten. An dieser Wortbildung wird deutlich, dass -kini trotz der offensichtlichen paradigmatischen Bezüge noch kein fest etabliertes sprachliches Zeichen innerhalb der Sprechergemeinschaft darstellt. Nicht mehr eindeutig zu interpretieren ist die Bildung Tankini ‘bauchfreies Top mit Spaghetti-Trägern’ 15 : Hier bildet, in Analogie zu Bikini, Monokini und Minikini das Segment -kini die bedeutungstragende Einheit, die das Segment Tan- >WD1@ ausscheidet: Der Sekretionsvorgang verläuft nunmehr in umgekehrter Richtung. Dieses Tan- mit Bedeutung zu füllen bereitet einige Schwierigkeiten, da weder paradigmatische Beziehungen zu den anderen Lexemen erkennbar sind, noch eine sinnvolle semantische Korrelation mit einem anderen Lexem hergestellt werden kann. Bei der Annahme einer Assimilation der beiden aufeinandertreffenden Einheiten kann auch von einem Segment Tankausgegangen werden, das die Interpretation erleichtert. Zwar gibt es keine Lösung durch deutsches Wortgut, aber ausgehend von einem Anglizismus kann die Verbindung zu tank suit und tank top 16 hergestellt werden, tank bedeutet in diesem Zusammenhang ‘Schwimmbecken’. Während die Lexeme Bi-, Mono- und Minikini durch die paradigmatischen Beziehungen Transparenz zeigen, handelt es sich bei Tankini wieder eher um eine holistische Form, da die Bedeutungszuweisung das Sprachgefühl strapaziert: Die in einem Internetforum gefundene volksetymologische Interpretation als ‘ärmelloses Hemd von Panzerfahrern’ (engl. tank ‘Panzer’) kann
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COSMAS II Vers. 3.6.1 (4. Juli 2006), Korpus public: VORARLBERGER NACHRICHTEN vom 28.8.1999, S. A7; 17.12.1999, S. D2; 15.7.2000, S. D2. COSMAS II Vers. 3.6.1 (4. Juli 2006), Korpus public: DIE PRESSE 1.9.1999: „Tankini, das Top mit den Spaghetti-Trägern“; MANNHEIMER MORGEN 24.6.2000: „ein Oberteil, das an ein Tank-Top erinnert“. Vgl. The Random House Dictionary (1987: 1941f.): tank suit ‘a simple one-piece bathing suit for women, having a scoop neck and shoulder straps […]’ (zwischen 1935 und 1940); tank top ‘a close-fitting, low-cut top having shoulder straps […]’ (auch tank genannt, zwischen 1945 und 1950).
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kaum überzeugen. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Lexikalisierung und De-Lexikalisierung in Wechselwirkung zueinander stehen; bezeichnend für den gegenläufigen Prozess am Beispiel Tankini ist, dass die Lexikalisierung mit einer lautlichen Verschmelzung einhergeht, die die Entschmelzung erschwert. Die ursprüngliche Bedeutung von -kini als ‘Badeanzug’ verblasst zu allgemeinerer ‘Sommer-, Strandmode mit Ähnlichkeit zum Bikini’. 3.2. Zur Sekretion des Konfixes -thek Am Beispiel des Wortes Bikini konnte gezeigt werden, wie ein opakes, holistisches Wort segmentiert und remotiviert wird und dass innerhalb kurzer Zeit eine Übertragung der entstandenen Segmente auf andere Wörter möglich ist. Auch bei Fremdwörtern kann eine Segmentierung mit anschließender Remotivation stattfinden. Betrachtet werden sollen solche Fremdwörter, die etymologisch in der Fremdsprache segmentierbar sind, aber als holistische Lexeme in die Muttersprache aufgenommen werden. Eine Reihenbildung kann nur dann stattfinden, wenn der Sprecher die entsprechenden Fremdsprachenkenntnisse besitzt. Hier kann dann aber noch nicht von Sekretion gesprochen werden, es handelt sich lediglich um analoge Wortbildungen mit fremdsprachlichen Morphemen. Sekretion liegt erst dann vor, wenn der Sprecher, der nicht über die Fremdsprachenkenntnisse verfügt, sondern die paradigmatischen Reihen kennt, ein Segment ausscheiden und dieses mit Bedeutung aufladen kann. Am Beispiel des Konfixes -thek sei dies erläutert, zudem der Blick auf einen größeren Zeitraum der deutschen Sprachgeschichte ausgedehnt. Ein erstes Wort mit dem Bestandteil -thek wurde bereits vor dem 13. Jh. in das Mittelhochdeutsche entlehnt: mhd. apotêke ‘apotheke, auch specereiladen’ (Lexer I: 87) geht auf lat. apotheca ‘Magazin’ zurück, das wiederum aus dem griech. ǓમȠ-ȒțȘ ‘Aufbewahrungsort, Niederlage’ zurückgeht. Die Wortbildung setzt sich im Griechischen aus apo ‘weg-, ab-’ und thiénai ‘setzen, stellen, legen’ zusammen. Im Mittelalter wurde der Begriff auf Apotheke im heutigen Sinne eingeengt. Dieses Wort stellt heute den einzigen Eintrag im Fremdwortduden mit dem Pseudomorphem -theke dar, lediglich das freie Basismorphem Theke ‘Schanktisch, Ladentisch’ existiert noch, wurde aber erst Mitte des 18. Jhs. aus dem lat. theka ‘Hülle, Decke, Scheide, Behälter, Büchse’ entlehnt: „Die Bedeutungsentwicklung geht von ‘Behältnis, Aufbewahrungsort für Kostbarkeiten’ über zu ‘Laden-, Verkaufstisch (mit verglastem Auf- oder Untersatz zum Ausstellen von Waren)’ und ‘Schanktisch’“ (Pfeifer 1993: 1429). Die Bibliothek ist als zweites Lehnwort aus dem Lateinischen (< Griechi-
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schen) mit Wortausgang -thek am Anfang des 16. Jhs. in die deutsche Sprache mit der Bedeutung ‘Büchersaal, Büchersammlung’ übernommen worden, wird in lat. Schreib- und Flexionsweise bis in das 18. Jh. neben dem älteren Liberei, Librarei, spätmhd. liberîe gebraucht und verdrängt auch die deutschen Bildungen Büchersaal und Bücherei. Zudem gelangt das Wort zu einer Bedeutungserweiterung, auch ganze Schriftenreihen können allgemein mit diesem Lexem bezeichnet werden (vgl. Pfeifer 1993: 131f.) 17 . Auch aus der Zeit des Humanismus stammt das Fremdwort Hypothek, das eigentlich ‘Unterlage, Untergestell’ bedeutet, das „Pfandrecht wird also als ‘Grundlage’ (eines Vertrags) angesehen“ (Kluge 1999: 391). Die Bedeutung des Wortes weicht damit deutlich von den später mit -thek gebildeten Wörtern ab, indem es sich stärker auf die ursprüngliche Bedeutung bezieht. Andere Schöpfungen wie Chalkothek und Daktyliothek, Staurothek und Lipsanothek 18 blieben allenfalls auf ein fachspezifisches Dasein beschränkt und beziehen sich auch auf den Behälter der Sammlung. Wortbildungen des 20. Jhs. weisen meist die Bedeutung ‘Sammlung’ und/oder ‘Aufbewahrungsort/Ausstellungssaal’ auf. Hierzu gehören die im Fremdwort-Duden (72001) verzeichneten Lexeme Artothek, Diathek, Diskothek, Filmothek, Glyptothek, Graphothek, Infothek, Kartothek, Kinemathek, Lexothek, Mediothek, Phonothek, Pinakothek, Videothek, Vinothek, Xylothek. Eine Bedeutungsanreicherung findet statt, indem bei einigen Lexemen der Aspekt der Verleihbarkeit hinzukommt, etwa bei Artothek, Graphothek, Linguathek 19 , zum Teil verbunden mit Kommerzialisierung, so bei Lusothek 20 , Videothek, Vinothek, Discothek, Spielothek 21 . Das letztgenannte Lexem stellt die einzige Hybridbildung mit einem deutschen Basismorphem in dieser Wortreihe dar. 22 Die Neuschöpfungen sind offensichtlich stark auf fremdsprachliches, v.a. lateinisches und griechisches Wortgut fixiert, eine Kombination mit deutschen Morphemen ist nur ansatzweise erkennbar, aber ein Signal dafür, dass sich das Konfix -thek, das als solches im Fremdwortduden (72001) mit der Bedeutung ‘Zusammenstellung, Sammlung von [zum
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Zu dieser Bedeutungserweiterung ist auch die Fernsehserie ‚Hobbythek’ (WDR) zu rechnen, zu der begleitend eine Buchreihe erscheint. Vgl. Becher (1980: 14): Chalkothek ‘Sammlung von Kupfer- und Bronzegeschirr und der entsprechende Behälter’; Daktyliothek ‘Sammlung von Siegelringen und der dazugehörige Behälter’; S. 16: Staurothek ‘Behälter mit einer Reliquie des Kreuzes von Christus’; Lipsanothek ‘altchristlicher Reliquienkasten’. Vgl. Becher (1980: 14-15): Linguathek ‘Bibliotheksabteilung mit Fremdsprachenkursen auf Tonträgern und literarischen Aufnahmen’. Vgl. Becher (1980: 15): Lusothek ‘Entleihstelle für Denk- und Unterhaltungsspiele (in Leipzig)’. Vgl. DUW (2001: 1485): 1. ‘Einrichtung zum Verleih von Spielen’; 2. ‘Spielhalle’. Hinzu kommt noch die Geschenkothek, belegt bei Zehetner (2004: 21).
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Verleih bestimmten] Dingen od. die diese enthaltenden Räumlichkeiten’ verzeichnet ist, langsam dem allgemeinen Sprachgebrauch öffnet. Das -oFugenelement, das schon im Altgriechischen in der Regel diese Funktion erfüllte, scheint auch bei deutschen Erstgliedern obligatorisch zu sein. 23 Aber auch bei der Fremdwortbildung ist eine Loslösung von der Gebersprache Griechisch zu beobachten: Während die deutsche Bildung Diathek eine ‘Sammlung von Diapositiven’ bezeichnet, also paradigmatisch nach dem Vorbild Bibliothek entstanden ist, weist „das dem deutschen Wort Diathek äußerlich entsprechende griechische Wort die Bedeutung ‘Testament’“ (Holzberg 1996: 1) auf, es handelt sich also um einen Faux Ami. 24 Das Konfix -thek wurde folglich von dem Musterwort Bibliothek sekretiert, zunächst fachsprachlich, dann allgemeinsprachlich mit Internationalismen verbunden und schließlich ansatzweise auch auf deutsches Sprachmaterial übertragen. Erleichtert wurde diese Sekretion durch die etymologische Nahtstelle des Wortes; bei Bikini wurde diese Nahtstelle künstlich, auf zufälliger Lautgleichheit beruhend, hergestellt.
4. Aktuelle Tendenzen der Konfix-Sekretion Die Frage, „ob die Freude an -theken die Serienbildung weiter fördert“ (Becher 1980: 15), kann nach Durchsicht des ‚Neologismenwörterbuchs der 90er Jahre‘ (Herberg 2004) mit „nein“ beantwortet werden, es findet sich kein einziger Eintrag mit dem gesuchten Konfix. Wohl aber fallen andere Bildungen auf, die hinsichtlich einer „Sekretion“ eines Konfixes eine ähnliche Wortgeschichte durchzumachen scheinen wie Bibliothek. Folgende Bildungen sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Konfix -algie Cyber-etics -iquette
Neologismenwörterbuch paradigmatisches eingekreuztes Lw. Hintergrundlexem Wort oder dt. Wb. Ostalgie, Westalgie Nostalgie Osten, dt. Wb. Westen Cybernaut, Cybersex cyberspace astronaut, Lw. sex Callanetics athletics Callan Lw. (Eigenname) Netiquette etiquette net Lw.
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Vgl. Becher (1980: 14); vgl. Zehetner (2004: 20f.). Vgl. Holzberg (1996: 2): ‚Falsche Freunde‘ mit griechischer Ausdrucksseite sind im Deutschen keine Seltenheit; zu Apotheke – Theke vgl. ebda.: 6.
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-jacking
Carjacking
hijacking
car
Lw.
-mobil
Sparmobil
Automobil
spar-
dt. Wb.
-napping
Carnapping
kidnapping
car
Lw.
-naut
Cybernaut
astronaut
cyberspace
Lw.
-ssi
Wossi
Ossi
Wessi
dt. Wb.
-tainer
Infotainer
entertainer
information
Lw.
-tainment
entertainment
education, information net
Lw.
-izen
Edutainment, Infotainment Netizen
-wear
Clubwear
club
Lw.
-zine
E-Zine, Webzine, Zine
underwear, streetwear magazin
e-, web
Lw.
citizen
Lw.
Lw. = Lehnwort (Anglizismus) dt. Wb. = deutsche Wortbildung Tab.: Neuere Konfixe und mit ihnen gebildete Neologismen
Während Sparmobil auch als Determinativkompositum mit dem Grundwort Mobil (< Kurzwort für Automobil 25 ) interpretiert werden kann, wear im Englischen als freies Basismorphem existiert und zine als Endwort aus magazine erklärt werden kann, handelt es sich bei allen anderen Lexemen offenbar um Wortkreuzungen, die größtenteils aus dem Englischen entlehnt wurden. Offenbar ist das Englische der Gegenwart wesentlich ‚kreuzungsfreudiger‘ als das Deutsche. 26 Am Beispiel Sparmobil und Fanzine wird die Nähe der Wortkreuzung zur Kurzwortbildung deutlich, denn die „Grundbausteine [der Wortkreuzung] sind die Kürzung und die Überlappung von Konstituenten“ (Ronneberger-Sibold 2005: 209). So kann nicht eindeutig entschieden werden, welches graphische Modell diesen Lexemen adäquater ist:
_____________ 25 26
Vgl. DUW (2001: 1090). Mobil wird als umgangssprachlich, scherzhaft eingestuft; als neutrales Lexem und daher Kurzwort im Sinne von Kobler-Trill (vgl. Anm. 27) gilt daher die Form Auto. Besonders in der Werbesprache sind auch im Deutschen der jüngsten Zeit viele Wortkreuzungen zu beobachten, die zwar deutsches Wortgut verwenden, deren Technik aber wohl auf englischen Sprachgebrauch zurückgeht. Zur Sekretion von Wortbildungssuffixen im Englischen vgl. Wischer (in diesem Band).
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Wortkreuzung
Kurzwortbildung
sparAuto
(en) mobil
paradigmatische Vorbilder: Papamobil, Spielmobil, Spaßmobil
Spar(auto)mobil
Fan Maga[
(artikel) zine [zi৸n]
paradigmatische Vorbilder sind nicht bekannt
Fan(maga)zine
Wortkreuzungen können dagegen als „absichtlich durchgeführte Zusammenfügungen von zwei oder selten mehr existierenden Wörtern zu einem neuen in einer Art und Weise, die nicht den Regeln oder Mustern der deutschen Komposition entspricht“ (Ronneberger-Sibold 2005: 207f.), gesehen werden. Der Übergangsbereich ist wohl fließend und hängt davon ab, ob sich das Kurzwort 27 bereits als feste Größe im Wortschatz etabliert hat. 4.1. Zur Sekretion des Konfixes -naut Um die semantische Seite der Segmente, die der Sekretion zu Konfixen verdächtigt werden, differenzierter zu beleuchten, sollen Belege für das Konfix -naut aus dem COSMAS II-Corpus 28 , der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, der ZEIT und dem Fremdwort-Duden (FD) näher betrachtet werden. Semantik (S) von Wortbildungen mit -naut: S1: ‘Seemann auf einem bestimmten Schiff’ Argonaut: ‘auf dem Schiff Argos fahrender Held’ (FD) S2: ‘Reisender in einem dem Menschen untypischen Element mit speziellem Gefährt’ S2.1 ‘Weltraumfahrer’ [+ Wissenschaft] Astronaut: ‘Weltraumfahrer, Teilnehmer an einem Raumfahrtunternehmen’ (FD) Kosmonaut: ‘(bes. in Russland) Weltraumfahrer, Teilnehmer an einem Raumfahrtunternehmen’ (FD)
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28
Definition von Kobler-Trill (1994: 18): „Wir wollen als idealtypische KW [=Kurzwörter] nur solche Bildungen ansehen, die (anders als ABK [=Abkürzungen]) eine eigene Aussprache haben und Reduktionen einer umfangreicheren und prinzipiell synonymen Wortschatzeinheit, dem BASISLEXEM sind.“ Die Belege stammen alle aus COSMAS II Vers. 3.6.1, Korpus public, recherchiert in Mai und Juni 2006.
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Taikonaut: ‘Chinesischer Raumfahrer’ (FRANKFURTER RUNDSCHAU, 24.11.1999) (Taikong ‘All, große Leere’ MANNHEIMER MORGEN, 16.10.2003) S2.2 ‘besonderer Weltraumfahrer’ 2.2.1 [+ Wissenschaft]: Robonaut: ‘Roboter-Astronaut’ (SALZBURGER NACHRICHTEN, 16.8.2000) Plastinaut: ‘Nachbildung eines Menschen aus Kunststoff als Versuchsobjekt in der Weltraumfahrt’ (FD) 2.2.2 [– Wissenschaft]: ARTronaut: ‘Künstler im Weltall’ (FRANKFURTER RUNDSCHAU, 15.5.1999) S2.3 ‘Weltraumfahrer mit Zielbestimmung (Mond, Mars)’ [+ Wissenschaft] Marsonaut: „McKinnon und seine Kollegen simulieren die Marsexpedition auf der Erde“ (DIE ZEIT, 18.4.2002) Lunonaut: ‘für einen Mondflug eingesetzter Astronaut’ (FD) S2.4 ‘Weltraumreisender bestimmter Herkunft’ 2.4.1 [+ Wissenschaft] Östronaut: ‘Franz Viehböck, Österreichs erster und einziger Raumfahrer’ (DIE PRESSE [Wien], 23.10.1993) Austronaut: s. Östronaut (TIROLER TAGESZEITUNG, 21.6.1999) 2.4.2 [– Wissenschaft] „Afronaut“: ‘Mark Shuttleworth, südafrikanischer Weltraumtourist’ (MANNHEIMER MORGEN, 26.4.2002) S3: ‘Reisender in einem dem Menschen untypischen Element mit speziellem Gefährt’ [+/– Wissenschaft, +/– Freizeit/Sport] Aeronaut: ‘Ballonfahrer’ (Lufthansa Bordbuch, Juli/Aug. 1995, Nr. 4), ‘Luftfahrer, Luftschiffer’ (FD) Chrononaut: ‘Zeitreisender’ (BERLINER MORGENPOST, 29.11.1998) Cybernaut: ‘jd., der sich [gerade] im Cyberspace befindet’ (FD), ‘Internetuser’ (Neuer Wortschatz) ‘jd., der mit Data-Handschuhen zur Steuerung des Blickwinkels im Cyberspace und einem 3D-Helm in eine virtuelle Welt eintaucht’ (ST. GALLER TAGBLATT, 3.12.1997) Emotionaut: ‘Reisender durch einen Kosmos aus Sensibilität’ (MANNHEIMER MORGEN, 13.11.2002) Aquanaut: ‘Forscher, der in einer Unterwasserstation die besonderen Lebens- und Umweltbedingungen in größeren Meerestiefen erforscht’ (FD) Hydronaut: s. Aquanaut (FD) Ozeanonaut: s. Aquanaut (FD) Internaut: ‘Internet-User’ (ZÜRCHER TAGESANZEIGER, 15.9.1997) S4: ‘Reisender in einem speziellen Fahrzeug’ [+ Freizeit/Sport] Zorbinaut (Zorbonaut 29 ): ‘Pilot eines Zorbs (Sportgerät)’ (TIROLER TAGESZEITUNG, 31.10.1997)
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ST. GALLER TAGBLATT, 3.6.1998, Wie die Wäsche in der Waschmaschine: „Das neue Sportgerät besteht aus einer riesigen transparenten Gummikugel mit drei Metern Durchmesser, in der sich eine kleinere, ebenfalls durchsichtige Kugel befindet. Der Zorbonaut hockt in der inneren Kugel, «troolet» ein etwa 100 Meter langes Bord hinunter und wird
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S 5: unbelebtes Objekt: ‘Name eines U-Bootes/Schiffes’ [+ Wissenschaft] „Aluminaut“: ‘Amerikanisches Tiefseeforschungsboot’ (BILD DER WISSENSCHAFT 3/1967, S. 232) Speleonaut: ‘U-Bootname zur Erforschung des Blautopfs’ (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 27.2.1996) S 6: ‘Reisender mit bestimmtem Gerät’ [– Wissenschaft, + Freizeit] Lomonaut: ‘Fotograf mit russischer Kamera Lomo’ (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 8.7.2003) S 7: unbelebtes Objekt: ‘Navigationshilfe’ [+/– Freizeit, +/– Beruf] Xybernaut : ‘am Kopf tragbarer PC mit Bildschirm in der Brille’ (ZÜRCHER TAGESANZEIGER, 1.12.1997; MANNHEIMER MORGEN, 13.12. 2003) Info-Naut: ‘Akustik-Guide auf der Expo 2000 in Berlin’ (BERLINER MORGENPOST, 7.9.1999) S 8: Weitere Belege mit speziellen Bedeutungen: Argonaut: ‘Goldgräber in Kalifornien um 1850’ 30 (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 20.6.1998) Argonaut: Name einer Lokalzeitung in Kalifornien (DIE ZEIT, 20.10.1995) AustroNaut: Bezeichnung einer österreichischen Internetsuchmaschine (VORARLBERGER NACHRICHTEN, 10.2.2000) Gastronaut: ‘Starkoch’ (ST. GALLER TAGBLATT, 17.11.1997) Biblionaut: ‘Bibliothekar, der mit Scanner und Maus das Wissen auf unterschiedlichen Informationsträgern organisiert und im Netz von Datenbank zu Datenbank surft’ (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 19.2.1997, Beilage S. 904)
Die Wortbildungen Astronaut und Kosmonaut können als allgemeinsprachliche Muster sowohl für Bildung als auch Verständnis all der anderen Lexeme betrachtet werden (S2). Die zunächst holistisch verstandenen Wörter mit der Bedeutung ‘Forscher im Weltall’ scheiden im paradigmatischen Vergleich die Lautfolge -naut aus, die nach Bedeutung verlangt. Da sich die beiden konkurrierenden Lexeme nur durch ‘amerikanisch’ versus ‘russisch’ unterscheiden, bleibt für -naut die eigentliche Bedeutung ‘in einem Raumschiff reisender Forscher im Weltall’. In diese Reihe lässt sich der jüngst entstandene Begriff Taikonaut ‘chinesischer Raumfahrer’ problemlos eingliedern. Durch zielgerichtete Bildungen wie Marsonaut und Lunonaut wird diese Reihe verstärkt, und auch eine Übertragung auf nicht-menschliche Raumfahrer wird möglich, etwa Plastinaut. Alle Lexeme bewegen sich aber semantisch im Bereich der Wissenschaftlichkeit, abgesehen von ARTronaut und Afronaut. Die -naut-Bildungen finden auch Anwendung in der Erforschung der dem Menschen untypischen Lebensräume Luft und Wasser. Durch die Entdeckung der virtuellen
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vom Gegenhang oder von einem Netz wieder aufgefangen. So eine Troolete [...] vermittelt den ultimativen Kick.“ Offenbar handelt es sich um eine volksetymologische Umdeutung auf Basis von lat. argentus ‘Silber, Geld’.
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Computerwelten können die Begriffe Cybernaut und Internaut entstehen. Schließlich kann auch die Herkunft eines Astronauten bezeichnet werden. Die okkasionelle Wortbildung Emotionaut zeigt deutlich, dass es sich bei -naut um ein sekretiertes Konfix handelt, das der Wortbildung frei zur Verfügung steht. Allerdings bahnt sich hier bereits eine Tendenz an, die sich bei den unter S4-S8 angegebenen Bedeutungen zusehends verstärkt: Die ursprüngliche Bedeutung des Konfixes -naut bleicht aus, sie ist nicht mehr an die Wissenschaftlichkeit gebunden, auch nicht an den Menschen oder Nachbildungen des Menschen. Xybernaut und Info-Naut sind beispielsweise Geräte, die den Menschen steuern, ursprünglich steuerte der menschliche -naut ein Schiff durch Raum und Zeit. Der Zorbonaut bewegt sich in einem speziellen Fortbewegungsmittel, aber weder zu wissenschaftlichen Zwecken noch in einem besonderen Raum. Auf die Lexeme treffen von einem vormals ganzen Sembündel nur noch einzelne Seme zu. Die zunächst zu beobachtende Bedeutungsspezifizierung (S2, S3) geht zusehends in eine Bedeutungsverblassung über, das Konfix wird desemantisiert und grammatikalisiert (vgl. Harnisch 2004: 211). Allen Bildungen aber bleibt eigen, dass nur mit fremdsprachlichem Wortgut Verbindungen hergestellt werden. 4.2. Zur Sekretion des Konfixes -holiker Am Beispiel des Konfixes -holiker (vgl. Fradin 2000: 36) kann gezeigt werden, dass trotz eines durchwegs fremdsprachlichen Musterwortes Hybridbildungen möglich sind. Auch hier findet eine Übertragung des Sems ‘Sucht’ auf andere Bereiche statt, eine Ausdehnung auf Nahrungsmittel allgemein liegt nahe, aber auch abstrakte Bildungen wie Negaholiker sind möglich. Auch hier verblasst die ursprüngliche Semantik: Semantik (S) von Wortbildungen mit -holiker: S 1: ‘Nahrungsmittel, Flüssigkeit, Sucht’ Alkoholiker: ‘Gewohnheitstrinker’ (DUW) Aquaholiker: ‘Person, die viel Wasser trinkt’ (PONS Wörterbuch der Jugendsprache) S 2: ‘Nahrungsmittel, Speise, Sucht’ Fleischoholiker: ‘jd., der regelmäßig viel Fleisch isst’ (FRANKFURTER RUNDSCHAU, 13.8.1997) Schokoholiker: ‘Schokoladenkenner’ (SALZBURGER NACHRICHTEN, 28.11.1998) S 3: ‘Sucht’ Politoholiker: ‘jd., der süchtig nach Politik ist’ (DIE ZEIT, 1.8.2002) Autoholiker: ‘jd., der süchtig nach Mobilität ist’ (VORARLBERGER NACHRICHTEN, 13.1.1997)
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Shopoholiker: ‘jd., der blindlings jedem Modetrend folgt’ (KLEINE ZEITUNG, 14.11.1999) Workaholiker: ‘jd., der unter dem Zwang steht, ununterbrochen arbeiten zu müssen’ (DUW; DIE ZEIT, 24.7.2003); Workoholiker (NEUE KRONENZEITUNG, 22.3.1997) Negaholiker: ‘jd., der süchtig nach Bösem ist’ (ZÜRCHER TAGESANZEIGER, 24.2.1997) ‘jd., der nur die Erschwernisse des Lebens sieht’ (TIROLER TAGESZEITUNG, 7.1.2000) Analog zu Anonyme Alkoholiker: Anonyme Schokoholiker (DIE ZEIT, 22.2.2001) Anonyme Sexaholiker (MANNHEIMER MORGEN, 29.9.2001) Anonyme Überholiker (SALZBURGER NACHRICHTEN, 10.3.1994)
4.3. Zur Sekretion des Konfixes -minator Ein letztes Beispiel, das Konfix -minator, soll den Bezug der analysierten Konfixe zu den onymischen Wortkreuzungen verdeutlichen. Durch den gleichnamigen Actionfilm mit Arnold Schwarzenegger gelangte der Terminator als eine unaufhaltsame, zielgerichtete Kampfmaschine zu allgemeiner Bekanntheit. Nun gibt es zahlreiche Wörter mit Wortausgang -tor, -ator, z.B. Doktor, Imperator, Moderator, etymologisch ist die Endung auf das personifizierende Suffix lat. -tor zurückzuführen. In den letzten Jahrzehnten fallen vor allem in der Bierwerbung zahlreiche Kunstwörter mit diesen Endungen auf: Superator, Bavariator, Angelator, Kulinator, Sensationator, Vivator, Consolator, Mai-Pilsator und Triumphator gehen wohl auf das erste Bier dieser Art zurück, das Starkbier Salvator (vgl. Wagner 2003: 51-55). Hier hat sich mit -ator offensichtlich ein Konfix mit der Bedeutung ‘Starkbier’ zur Bildung von Markennamen sekretiert. Terminator lässt sich im Deutschen synchron in Termin und -ator aufspalten; ähnlich ist dies auch bei Moderator – im Vergleich zu moderieren/terminieren – möglich. In das Hintergundlexem Terminator können nun verschiedenartige Wörter eingekreuzt werden: Eine der berühmtesten Kreuzungen verbindet den Vornamen des österreichischen Ski-Asses Hermann Maier mit der Filmfigur, wobei nur der initiale Laut/Buchstabe abweicht (Herminator), insofern also ein Minimalpaar entsteht. Der Mittelteil des Wortes zeigt ein breites Überlappungssegment, schließlich folgt die Endung -inator. Nach diesem Muster wurden vor allem in der Sprache des Sports zahlreiche weitere Mensch-Maschine-Symbiosen unter Nutzung onymischer Zufälligkeiten geschaffen, m-haltige Namen eignen sich besonders gut für Verschmelzungen: Tominator und Musterminator (beide für Thomas Muster, Tennis, wobei bei der letzteren Schöpfung das Hintergrundlexem vollständig erkennbar bleibt), Schuminator (Michael
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Schumacher, Formel 1), Thurminator (Thurman Thomas, Rugby), Norminator (Normann Stadler, Triathlon), Terryminator (Terry McCord, Basketball), Thominator (Gerhard Thomasser, Fußball; Thomas Sykora, Slalom), Tominator (Thomas Schnöll, Fußball), Ulminator (Robert Ulm): b) Ter(-)minator
a) -(m)inator H T
erm erm
ann inator
Mus
No Te
rm rm
ann inator
Terr Ter
Ul Ter
m m
inator
Schu Ter
m m
acher inator
ter Ter
minator
y minator
c) T- [...]-(r)minator Th T
o m e r m
as(ser) inator
T T
h u r e r
m m
an inator
Die meisten Schöpfungen stammen aus dem österreichischen Sprachraum, wohl aufgrund der Popularität des steirischen Landsmanns Arnold Schwarzenegger. Die Lautfolge, die in den einzelnen Beispielen sekretiert wird, ist aufgrund der Überlappungen nicht immer identisch, es scheint sich aber das Konfix -minator herauszukristallisieren; deutlich wird dies z.B. bei Terryminator und Musterminator. Nicht-onymische Bildungen operieren im Bereich des Sports mit minimalen Bildungen, indem der vokalische Silbenkern der Anfangssilbe ausgetauscht wird: Torminator, Tourminator. Hier zeigt sich deutlich eine Morphemgrenze. 31 Gerade bei der Berichterstattung zur Tour-de-France fällt eine Vorliebe für ein lautlich ähnliches Konkurrenzwort zu Terminator auf: Häufig wird ein führender Sportler als Dominator bezeichnet. In anderen Sportarten ist diese Benennung ebenso üblich und trifft auch auf Hermann Maier zu. Die Zusammensetzung Tour-Dominator (ZÜRCHER TAGESANZEIGER, 24.7.1997) deckt aber nicht die Semantik ab, die durch eine Kreuzung mit Terminator entsteht, da das Maschinenartige fehlt. Ein Vergleich mit anderen Lexemen, z.B. der Hybridbildung Sparminator
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Auch ein Anwachsen des Suffixes -tor zu -ator, -nator, -inator, -minator ist denkbar (vgl. Haspelmath 1995: 10; Fradin 2000: 16f.), wie z.B. -er zu -ler in Bettler; analoger Übertrag auf Wörter ohne l im Stammauslaut ist möglich, z.B. Sportler (vgl. Eisenberg 1993: 103106).
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(Sparminister x Terminator), zeigt, dass diese wesentliche Bedeutungskomponente bereits ausbleicht und durch ‘Konsequenz’ ersetzt werden kann. Nur noch mit der Bedeutungsnuance ‘außerordentlich’ erscheinen schließlich Bildungen wie Hohe C-Minator (Opernsänger), Schwerminator (Sumo-Ringer) und Plärrminator (Sportreporter). Als spielerische Weiterbildungen von Herminator sind Hirnminator (Hermann Maier zeigt Köpfchen im Hinblick auf Werbeeinnahmen) und Helminator (Hermann Maier bekennt sich zum Tragen eines Helms) zu interpretieren. Semantik (S) von Wortbildungen mit -minator: S 1: Terminator ‘unaufhaltsame, zielgerichtete Kampfmaschine’ S 2: ‘Sportler, Athlet als unbezwingbare Maschine’ (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 16. 7. 2004), personenbezogene Namenskreuzungen, s.o. (nur Männernamen 32 ) Torminator: ‘Torschütze’ (Fußball, z.B. Lothar Matthäus „die KickKampfmaschine namens Lothar Torminator“ (DIE PRESSE, 31.10.1994)) S 3: ‘jd., der konsequent ein Ziel verfolgt’ S 3.1 ‘jd., der unaufhaltsam ein sportliches Ziel verfolgt’, nicht personenbezogen Tourminator: ‘Dominator bei der Tour de France’, z.B. Lance Armstrong (MANNHEIMER MORGEN, 8.7.2002) S 3.2 ‘jd., der unaufhaltsam ein nicht-sportliches Ziel verfolgt’ Sparminator: Spitzname des Finanzministers Hans Eichel (MANNHEIMER MORGEN, 22.6.2004) S 4: ‘jd., der jdn terminiert/auslöscht’ Schröderminator: ‘Oskar Lafontaine, der mit Bundeskanzler Gerhard Schröder abrechnet’ (DIE ZEIT, 21.10.1999) S 5: ‘jd., der etw. Außergewöhnliches kann oder eine außergewöhnliche Eigenschaft aufweist’, okkasionell C-Minator: Opernsänger, der das Hohe C trifft (SALZBURGER NACHRICHTEN, 12.3.1999) Schwerminator: schwergewichtiger Sumo-Ringer (KLEINE ZEITUNG, 31.5.1998) Plärrminator: lautstarker Sportreporter (KLEINE ZEITUNG, 8.2.1998) S 6: ‘Gerät mit (zer)störender Wirkung’ Rayminator: Markenname für einen Handystrahlenentstörer (DIE ZEIT, 4.3.2004) S 7: okkassionelle Weiterbildungen: Hirnminator: Hermann Maier, der geschickt Werbegelder einnimmt (SALZBURGER NACHRICHTEN, 25.3.1998) Helminator: Hermann Maier, der sich zum Tragen eines Helms bekennt (NEUE KRONEN-ZEITUNG, 14.4.1999)
_____________ 32
DIE PRESSE, 6.4.1998, Ressort S. 2: „Das schwache Geschlecht ‚-inatort‘ nicht. Der Schluß daraus: Der Huldigungsvogel ist einfach männlich.“
Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe
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5. Die katalytische 33 Funktion von Wortkreuzungen bei der Sekretion neuer Wortbildungskonfixe Der Vergleich von Sekretionen aus opaken (Bikini) und etymologisch gegliederten Wörtern (Astronaut) mit Sekretionen aus Wortkreuzungen gewährt Einblicke in die Genese von Konfixen. Bei etymologisch vorgegebenen Nahtstellen, auch wenn diese sekundär hergestellt werden, kann einfacher segmentiert werden als bei überlappenden Wortkreuzungen. Dennoch kristallisiert sich auch bei Wortkreuzungen, die sich aus dem ad hoc spielerischen Gebrauch verselbständigen, eine eindeutige Morphemgestalt heraus. Semantisch gesehen kommt es zunächst zu einer spezifischen Bedeutungsanreicherung, bis sich eine klare nicht-okkasionelle Bedeutung zuweisen lässt. Dieser Vorgang kann „lexikalische Sekretion“ (vgl. Fradin 2000: 46) genannt werden, die immer mit Abstraktion verbunden ist. Über graduell weiterführende Abstraktion – Fradin unterscheidet „standard-secretion“ („abstraction over one element of the semantic representation of the model-lexeme“, ebd.) und „complex secretion“ („abstraction over several elements of the semantic representation of the model-lexeme“, ebd.) 34 – kann schließlich eine Bedeutungsverblassung eintreten, das Konfix wird grammatikalisiert. Die Kernbedeutung bleibt aber die zunächst sekretierte Bedeutung, die ausgebleichten Bildungen sind meist nur okkasionell und im Kontext verstehbar, wobei das Hintergrundlexem, z.B. Bikini, Bibliothek, Astronaut, Alkoholiker, Terminator assoziativ verbunden bleibt. Die Wortkreuzungen nehmen bei der Entstehung von Konfixen eine katalytische Funktion ein, indem ein Übergang von extragrammatischer Morphologie, wie sie im spielerischen Kreuzen von Wörtern vorliegt („[the] final segmental make-up is often unpredictable, there are merely preferences“, Dressler 2000: 5), zu marginalgrammatischer Morphologie, die zwar morphologische Segmente erkennen lässt, aber Defizite in der Produktivität aufweist (ebd. 7), ermöglicht wird.
_____________ 33 34
Zum Begriff „Katalyse“ vgl. Diewald (in diesem Band). Fradin (2000: 46) differenziert so „secretion“ von „pseudo-abbreviation“, bei cheeseburger z.B. liegt eine Formverkürzung vor (< cheesehamburger), die Semantik des Hintergrundlexems aber bleibt vollständig erhalten, lediglich eine neue Variable (cheese) wird addiert – im Gegensatz zu fishburger, hier wird Fleisch durch Fisch ersetzt, so dass burger semantisch abstrahiert wird („standard-secretion“).
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Wortkreuzung und Sekretion neuer Konfixe
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Damaris Nübling
Von Schreiner zu Schreinert oder: Auf dem Wege zu einem onymischen Suffix? Der -ert-Ausgang als Ergebnis eines onymischen Verstärkungsprozesses1 1. Einleitung Als Reaktion auf das Unidirektionalitätspostulat in der Grammatikalisierungsforschung sind in jüngerer Zeit einige Beiträge entstanden, die sich mit gegenläufigen Prozessen befassen (in diesem Band etwa die Beiträge von Trost, Simon und Wischer). Solche gegenläufige Entwicklungen („De-Grammatikalisierungen“) finden sich in Harnisch (2004) zusammengestellt. Quer zu dieser Achse verläuft die zwischen Lexikalisierung (als Prozess der Demotivierung und Desegmentierung einstiger Wortbildungsprodukte) und Delexikalisierung (als Prozess der Resegmentierung und Remotivierung), die unter dem Stichwort „Volksetymologie“ oder „sekundäre Motivation“ bekannter sein dürfte (vgl. ungar. talpas ĺ nhd. Toll-patsch; hierzu s. Abb. 1 in Harnisch 2004: 211, die sich hier als Abb. 3 wiederfindet). In diesem Bereich sind auch die uns interessierenden Erweiterungen von Familiennamen auf -er zu -ert anzusiedeln (Schreiner zu Schreinert). Dabei wird der morphologische Status von -ert zu klären sein. Hier wird die These vertreten, dass es sich um Ansätze onymischer Morphologie handelt, die jedoch über dieses Anfangsstadium nicht hinauskamen, vermutlich weil die Familiennamen in Deutschland zu früh fixiert wurden. Dies brachte diesen Prozess zum Stillstand. Doch gibt es genügend Evidenz dafür, dass durch die t-Erweiterung von auf -er endenden Familiennamen, die meist auf Berufsbezeichnungen und damit auf Nomina agentis zurückgehen, auf effiziente Weise Abstand zur Appellativik geschaffen werden konnte. Letzteres ist ein naheliegendes, nachvollziehbares Ziel, wenn man bedenkt, dass sich die meisten Eigennamen aus Appellativen ableiten, zu diesen aber in einem beträchtlichen funktionalen Kontrast stehen: Bekanntlich tragen Eigennamen keine lexikalische Bedeutung, sondern dienen etikettenartig der Bezugnahme auf einzelne
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Für viele Anregungen und wertvolle Kommentare danke ich Antje Dammel.
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Gegenstände der Welt („Monoreferenz“). Appellative dagegen tragen Bedeutung und referieren kraft ihrer semantischen Merkmale auf Klassen von Gegenständen. Als Vergleichsgrundlage für die sich als diffiziler erweisenden ertNamen stellen wir zunächst ein Paradebeispiel für onymische Morphologie vor: die polnischen Familiennamen.
2. Paradebeispiel onymischer Morphologie: Das polnische Familiennamensystem Meist werden Eigennamen als sprachliche Fossilien beschrieben, die, vom allgemeinen Sprachwandel abgekoppelt, am Wegesrand liegen geblieben sind. Das größte Interesse der Onomastik gilt der Erschließung des einst appellativischen Kerns, d.h. der Etymologie. Dass Eigennamen sich von der Appellativik, der sie ja fast durchweg entstammen, differenzieren müssen, liegt auf der Hand, doch gibt es auch andere Verfahren, als (passiv) zu stranden. Manche Sprachen – und hierzu zählt das Polnische – haben onymische Morphologie entwickelt, die den großen Vorteil hat, dass sich diese Sprachen nicht (wie dies mehrheitlich für das Deutsche gilt) neben dem Lexikon ein opakes Onomastikon zu leisten brauchen, sondern dass sie das Inventar der Appellative (auch das der Adjektive sowie anderer Eigennamenklassen wie z.B. Orts- oder Rufnamen) durch die Suffigierung von Familiennamenmarkern sekundär nutzen, „recyceln“ können. Das Polnische hat dabei mit Reanalyse gearbeitet. Tabelle 1 enthält die zehn häufigsten Familiennamen im Polnischen, die onymischen Suffixe sind jeweils unterstrichen. Alle zehn Namen tragen solche Suffixe, und geht man in die nächsten Ränge, so erweitern sich die Typen an onymischen Suffixen, d.h. hier besteht onymische Allomorphie. Nichtsuffigierte Namen bilden die Minderheit. Bei den Suffixen unterscheidet man drei Großgruppen: (a) solche auf -ski (männnlich)/-ska (weiblich), (b) sog. k-haltige Suffixe: -ak, -ek, -ik, -czyk, (c) und schließlich die Suffixgruppe -(ow/ew)icz. Heute können sich diese Suffixe mit jeder Basis verbinden, doch waren sie ursprünglich basensensitiv, d.h. sie folgten einer festen Distribution: (a) -ski/-ska verband sich nur mit Toponymen, z.B. Kraków Ⱥ Krakowski. Abbildung 1 skizziert die diachrone Entwicklung dieses frequentesten Suffixes. (b) Die sog. k-haltigen Sufffixe hefteten sich an Appellative und Adjektive: Bsp. wójt ‘Vogt’ Ⱥ Wójcik, nowy ‘neu’ Ⱥ Nowak; (c) -(ow/ew)icz hatte nur Rufnamen als Basis: Piotr Ⱥ Piotrowicz.
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Name (männliche Form) Nowak Kowalski Wiħniewski Wójcik Kowalczyk Kamiēski Lewandowski Zieliēski Dæbrowski Szymaēski
Motivtyp ÜberN BerufsN BerufsN/ÜberN BerufsN/Patronym BerufsN BerufsN/ÜberN ? ÜberN/BerufsN HerkunftsN Patronym
Etymon < nowy ‘neu’ < kowal ‘Schmied’ < wiħnia ‘Kirsche’ < wójt ‘Vogt’ < kowal ‘Schmied’ < kamieē ‘Stein’ ? < zielony ‘grün’ < dæbrowa ‘Eichenwald’ < Szymon/Szyman (~Simon)
Tab. 1: Die zehn häufigsten Familiennamen im Polnischen (aus Szczepaniak 2005: 299)
Im Laufe der Zeit wurden diese basengesteuerten Selektionsbeschränkungen aufgehoben, und entsprechend nahm die Produktivität dieser Suffixe zu. Produktivität besteht übrigens bis heute, da es in Polen möglich ist, eigene Familiennamen zu kreieren. Interessant, zumindest aus deutscher Perspektive, ist die Tatsache, dass diese Suffixe unterschiedliche Konnotationen tragen: So sind die -ski/-ska-Suffixe, da ursprünglich adliger Herkunft, bis heute positiv konnotiert (sie werden auch beim Namenwechsel besonders häufig gewählt). Dagegen sind die k-haltigen Suffixe nichtadliger Herkunft und bis heute nicht positiv bzw. neutral konnotiert. Die Vorteile onymischer Suffixe liegen auf der Hand: Durch die Verwendung transparenter Basen wird die Memorierbarkeit unterstützt; gleichzeitig können bereits vorhandene Inventare (Appellative, Adjektive, Toponyme, Rufnamen) als Familiennamen genutzt werden, deren Status durch die onymische Suffigierung abgesichert wird. Dies führt umgekehrt zu längeren Namen, teilweise sogar zu beträchtlichen Umfängen. Dies ist der einzige zu zahlende Preis.
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vor 14. Jhd.
-ski zur Besitzanzeige: Toponym + -ski OrtsN Tarnów Ⱥ FamN Tarnowski (wurde vererbt; typischer AdelsN) Ⱥ -ski bis heute als adliges, prestigehaltiges Suffix
ab 14. Jhd.
-ski zur Herkunftsanzeige: Toponym + -ski OrtsN Kraków Ⱥ Krakowski
ab 16. Jhd.
-ski wird als onymisches Suffix produktiv: APP + -ski: wiħnia ‚Sauerkirsche’ Ⱥ Wiħniewski szczupak ‚Hecht’ Ⱥ Szczupakowski kowal ‚Schmied’ Ⱥ Kowalski Adj + -ski: chuda 'mager' o Chudziēski RufN + -ski: Szymon o Szymaēski, Adam o Adamski
heute
Familiennamen können selbst kreiert werden; -ski kann sich an alle Basen heften und hat einen hohen Prestigegehalt.
Abb. 1: Die diachrone Entwicklung des häufigsten onymischen Suffixes -ski nach Szczepaniak (2005)
Die Entstehung polnischer Familiennamenmarker basiert auf Reanalyse und analogischer Ausbreitung; i.d.R. finden keine morphologischen Grenzverlegungen statt. Ursprünglich anderweitig genutzte Suffixe werden umfunktioniert. Sie erhalten eine neue, abstraktere Bedeutung, indem sich beispielsweise -ski von einem Morphem für Besitzanzeige und Herkunft zu einem puren Marker für eine onymische Subklasse, die Familiennamen, gewandelt hat. Dabei konserviert es die vom Geschlecht des Trägers abhängige -ski/-ska-Movierung, d.h. es markiert zusätzlich Sexus (nicht so die anderen onymischen Suffixe). Insgesamt dürfte es sich hierbei um einen Prozess der Grammatikalisierung handeln (Desemantisierung/Bedeutungsabstraktion). Auch andere Sprachen wie das Lettische haben onymische Morphologie entwickelt; hier sind es Diminutivsuffixe, die als onymische Suffixe reanalysiert und anschließend grammatikalisiert wurden (zu Näherem s. Nübling 2004).
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3. Ansätze zu onymischer Morphologie bei deutschen Familiennamen auf -ert Kennt man Sprachen mit onymischer Morphologie, so würde man das Deutsche nicht darunter subsummieren. Hier greifen ganz andere, sehr gemischte Strategien zur Dissoziation von der Appellativik (hierzu Nübling 2005). Bei genauerem Hinsehen lassen sich im Deutschen dennoch Ansätze zu onymischer Morphologie beobachten, deren Produktivität jedoch längst erloschen ist. Es handelt sich um den Familiennamenausgang -ert. Zu den häufigsten Vertretern gehören Schubert, Ebert, Burgert, zu den berühmtesten (neben Schubert) Wickert und Borchert. 3.1. Einige Daten zu den ert-Namen Familiennamen auf -ert sind überraschend häufig belegt: Insgesamt gibt es in Deutschland (Stand: 2005) 450.980, also fast eine halbe Million Telefonanschlüsse (Tokens) für Familiennamen auf -ert. Im Schnitt (bundesweit) teilen sich 2,8 Personen einen Telefonanschluss, d.h. es gibt ca. dreimal so viele TrägerInnen. Dies bedeutet, dass etwa jede 60. Person einen Namen auf -ert trägt. Was die Typenfrequenz dieser Namen betrifft, so umfasst diese genau 5.033 unterschiedliche Einträge (Types), d.h. es gibt rund 5.000 verschiedene Familiennamen auf -ert. Bedenkt man, dass mit den Telefonanschlüssen nur etwa ein Drittel aller in Deutschland lebenden Personen erfasst wird und dass fast die Hälfte der in Telefonbüchern befindlichen Namen nur einen Anschluss hat (!), so kann man realiter von einem noch viel höheren Typenaufkommen bei den ert-Namen ausgehen (mehr zu diesen Daten s. unter www.familiennamenatlas.de). Die häufigsten Familiennamen auf -ert sind: Schubert (Rang 50), Seifert (Rang 99), Eckert (Rang 149), Ebert (Rang 158), Reichert (Rang 195) und Siebert (Rang 245) (basierend auf den Daten der Telekom von 2005). Bei den in Kohlheim/Kohlheim (2000) insgesamt verzeichneten 20.000 Familiennamen, unter denen sich die 10.000 häufigsten befinden, beträgt der Anteil an ert-Namen 342 (Types). Ziehen wir, da an potentieller onymischer Morphologie interessiert, davon Zuckschwert und Unverfert ab, dann bleiben 340 unterschiedliche ert-Namen.
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Damaris Nübling
3.2. Woher kommen die vielen ert-Namen? Zu ihrer Diachronie Schlägt man die Herkunft dieser 340 ert-Namen nach, so ergibt sich als mit Abstand häufigste Quelle ein zweigliedriger germanischer Rufname, dessen Zweitglied sich zu dem Ausgang -ert entwickelt hat. Eine Zusammenstellung solcher Etyma, geordnet nach Frequenz, befindet sich in Tabelle 2. Das Gleiche stellt, etwas vereinfacht und „dynamisiert“, Abbildung 2 dar. In Tabelle 2 wurden die besonders häufig zugrundeliegenden Zweitglieder -hardt und -bert/-brecht grau hinterlegt (bzw. in Abb. 2 mit dicken Pfeilen versehen). Die außerordentliche Kompositionsaktivität dieser beiden Namenglieder wird durch eine Auszählung von 37.625 Rufnamen aus dem Kloster Fulda (744-1440) durch Kunze (42003: 18) bestätigt: braht/bert und hart/hard besetzen die beiden Spitzenpositionen. Als weitere Quellen der ert-Namen folgen -fri(e)d/t und -rad/t. Insgesamt weniger genutzt werden Appellative wie in Wohnstättennamen auf -gart(e) (Bungert, Wingert) oder in Bankert, urspr. ‘uneheliches, auf der Bank gezeugtes Kind’. Schubert als einstige Berufsbezeichnung (< mhd. schuochworhte ‘Schuhmacher’) stellt den häufigsten aller ert-Namen. 1
2
3 4 5 6
Zweitglied -hard/ -hart 105 -bert/ -brecht < ahd. -beraht 85 -fri(e)d 20 -wart 17 -rad 7 -gard 2
Rufname > Gebhard Eberhard Burkhard Engelhard Albert/Albrecht Lambrecht/ Lambert Reinbrecht/ Reinbert Gottfri(e)d Siegfri(e)d Markwart
> Familienname auf -ert Geb(b)ert, Göbbert ... Ebert, Evert, Ewert ... Burgert, Borckert ... Englert A(l)bert, Adelbert, O(l)bert, Ulbert, Aubert Lambert, Lammert
Konrad
Konnert, Kohnert, Kahnert, Kandert, Ku(h)nert, Kühnert
Hild(e)gard
Hilgert, Helgert
Rembert, Remmert Göpfert, Göppert, Geppert Siefert, Sievert, Siewert, Seif(f)ert Markert, Mackert
Tab. 2: Zweigliedrige germanische Rufnamen als Grundlage für Familiennamen auf -ert (nach Kohlheim/Kohlheim 2000)
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-hard/-hart: Burkhard -bert/-brecht: Reinbrecht/-bert -fried: Gottfried -wart: Markwart weitere: -rad, -gard, -gart … schuochworhte
Output: -ert
Burgert, Borgert, Borchert, Burkert … Rembert, Remmert, Rimbert, Rambert … Göpfert, Gepfert, Goffert, Göfert … Markert, Mackert, Merkert … Bungert, Bongert … Schubert (häufigster ert-Name!)
Abb. 2: Die wichtigsten diachronen Quellen für die ert-Namen
Familiennamenvarianten, die auf ein und denselben Rufnamen zurückgehen, wurden als eigenständige Einträge, als die sie auch bei Kohlheim/Kohlheim (2000) erscheinen, gezählt. So hat der Rufname Albrecht/Albert (< ahd. adal-beraht) zu Familiennamen wie Albert, Abert, Adelbert, Olbert, Ulbert, Obert, Aubert geführt. Bei den Zweitgliedern wurden Konkurrenzen mitgezählt, d.h. wenn, wie im Falle von Helmert, drei Zweitglieder – hier: (Helm-) -hart, -wart und -bert – in Frage kommen, so ergab dies für jedes Zweitglied eine Zählung. Ein Vergleich von Kohlheim/Kohlheim (2000) mit Brechenmacher (1957-1963), Linnartz (1944), Zoder (1968) und Gottschald (62006) führt zu einigen Divergenzen. Viele der 340 ert-Namen sind andernorts gar nicht verzeichnet. Auch bei den Etymologisierungen kommt es zu einigen Abweichungen. Trotz aller Unwägbarkeiten im Detail dürften die auf den Angaben von Kohlheim/Kohlheim (2000) basierenden Zahlen dennoch einen Einblick in die prototypischen Quellen der ert-Namen erlauben. 3.3. Vom zweigliedrigen Rufnamen zum eingliedrigen Familiennamen: Von {Sieg}{fried} zu {Sievert} Es ist deutlich geworden, dass es vor allem einstige germanische Rufnamen sind, die den Grundstock und damit die Vorlage für das ert-Muster geliefert haben. Dabei haben zunächst verschiedene diachrone Prozesse zu einem ert-Schema geführt: Als einstige, in der Anfangsphase sogar
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motivierte, meist zweigliedrige (dithematische) Rufnamenkomposita (vgl. die programmatische Namenvergabe im Germanischen) sind sie im Verlauf der Jahrhunderte zu festen Kombinationen erstarrt, deren Zweigliedrigkeit nach und nach verdunkelt ist, zunächst semantisch, später auch formal. Dabei kam es zu zahlreichen Kürzungen und Verschmelzungen. Das Zweitglied wurde enttont und geschwächt. In der Morphemfuge kam es zu vielfältigen Harmonisierungen, meist in Form von phonotaktischen Vereinfachungen (Lautschwund, Metathese), Kontraktionen, Verkürzungen, Assimilationen, ja sogar von Umlauten, die belegen, dass diese Komposita ihren Wortbildungsstatus längst aufgegeben und sich zu einfachen phonologischen (trochäischen) Wörtern entwickelt haben (Kompositionsglieder übergreifend fand kein Umlaut statt). Die Punkte in den folgenden Beispielen sollen belegen, dass sich als Folge der Demorphologisierung bzw. Onymisierung syllabisch motivierte Grenzen etabliert haben. Dies hat als eine Form sog. Statusminderung im Sinne von Harnisch (2004) zu gelten: Morphologie wird zu Phonologie, morphologische Grenzen weichen silbischen. Auffällig ist, dass die Mitte dieser neuen Simplizia insgesamt einen Sonoritätszuwachs erfährt, während die Ränder von hoher konsonantischer Stärke geprägt sind. Dies korrespondiert mit dem wortsprachlichen Ausbau des Deutschen seit mhd. Zeit (hierzu Szczepaniak 2007). Beispiele: {Sieg}{bert} > {Sie.bert}/{Sei.bert}; {Sieg}{fri(e)d} > {Sie.vert}/{Sei.fert}, {Engel}{hard} > {Eng.lert}, {Burk}{hard} > {Bur.gert}, {Wîn}{gart} > {Wingert} ([1]), {Rein}{brecht} > {Rem.bert} > {Remmert}, {Hilt}{bert} > {Hil.pert}, {Gott}{fried} > {Gö.pfert}/{Ge.pfert} (Umlaut), {Land}{frid} > {Lem.pfert} (Umlaut). Bei den beiden letzten Beispielen wurde – bis auf den Anlaut – das gesamte Erstglied regressiver Assimilation unterworfen: Bilabialisierung von t bzw. d > p bei Göpfert, bei Lempfert zusätzlich von n > m vor f und von a > e durch i-Umlaut, letzterer auch bei Göpfert. Auch Metathesen haben die ert-Ausgänge gestärkt: -bre(c)ht, -fri(e)d > -bert, -fert (Gottfried > Göpfert). Outputorientiertes Fernziel scheint also ein zweisilbiges phonologisches Wort mit einer wohlkonturierten Silbenschale und hoher interner Sonorität zu sein: Reinbrecht > Remmert. Als Nebeneffekt dieser vielfältigen Assimilationsprozesse vergrößert sich das Nameninventar: Aus ein und demselben einstigen Rufnamen entstehen nicht selten über zehn neue Ruf- bzw. Familiennamen. Insgesamt führt die Auflösung morphologischer Strukturen zu Desegmentierungen, Demotivierungen und gleichzeitig Opakisierungen – dies alles sind Prozesse, die eher für eine Lexikalisierung als für eine Grammatikalisierung sprechen. Möglicherweise spielt sich hier zweierlei ab: Einerseits solche Lexikalisierungs- bzw. Onymisierungsprozesse,
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andererseits und parallel dazu kristallisieren sich durch die überaus häufigen ert-Ausgänge neue morphologische (oder zumindest submorphologische) Strukturen heraus, die den Namenstatus anzeigen. Ähnliches hat bereits Harnisch (2000) beobachtet: In seinem Beitrag zur morphosemantischen Remotivierung verdunkelter Nominalkomposita stellt er fest, dass bei solchen Prozessen von „verdunkelten und auf anderer Stufe wiederaufgehellten Bildungen“ (79) wie Mein=hart > Meinert > Mein.ert, Sieg=fried > Seifert > Seif.ert 2 weniger Zufall als eine „Konvergenz unterschiedlicher Ausgangslexeme in nur einem (Sub-) Morphem“ (80) vorliege. Mit dem Punkt zeigt er den submorphologischen Status von ert an, d.h. bei ert handelt es sich ihm zufolge nicht um ein Morphem, das eine feste Bedeutung trägt. Eher erfüllt es das, was man auch als Schema, „kanonische Form“ oder Muster (ebd.: 76) bezeichnen könnte. Solche Remotivierungen zeigt Harnisch jedoch primär an der Appellativik auf; hierfür zieht er Beispiele wie jung=herr > Junker > Junk.er wie / gebildet nach Kais.er oder mezzi=sahs > Messer > Mess.er wie / gebildet nach Hamm.er heran (78, 79). Von zentraler Bedeutung ist also, dass es sich bei diesen er-Ausgängen keinesfalls um reanalysierte Nomen agentisSuffixe handelt (was bei diesen Wörtern auch keinen Sinn ergäbe). Anders bei dem volksetymologisch reanalysierten Wort Falt-er ‘Schmetterling’, das sekundär (obgleich etymologisch ein Simplex 3 ) an (Flügel) falten + das Nomen agentis-Suffix -er angelehnt und damit remotiviert wurde (76). Ob lediglich submorphemisches .er oder das Morphem -er vorliegt, dies entscheidet, so Harnisch, das Segment, das nach der Abtrennung von /er/ übrigbleibt: Ist es ein eigenes Morphem, handelt es sich auch bei /er/ um ein Morphem, ist es opakes Material, dann nur um ein Submorphem. Angesichts der zahlreichen konvergenten Entwicklungen von Ruf- und Familiennamen in Richtung /ert/ kann man sicherlich das Vorhandensein eines Schemas postulieren, das von vielen Seiten kommend „genährt“ wird. Besonders die Metathesen von -fri(e)d/t und -bre(c)ht, zu /ert/ sprechen m.E. dagegen, hier nur das blinde Wirken phonologischsyllabischer Prozesse zu sehen. Damit wäre -ert durchaus submorphologischer Status zuzuschreiben. Doch kann man bei Eigennamen nicht erwarten, dass nach Abtrennung solcher Segmente ein selbständiges Morphem übrigbleibt, da Namen in aller Regel von der Lexik dissoziiert sind. Dennoch soll im Folgenden dafür argumentiert werden, dass -ert auf dem Weg von einem Submorphem zu einem „richtigen“ Morphem (gewesen) ist.
_____________ 2 3
Bei Harnisch (2000) wird eine andere Notation als in diesem Beitrag verwendet. Z.B. wird dort die neue morphologische Zäsur durch einen Bindestrich und eine submorphologische Zäsur durch einen Punkt angezeigt. Falter leitet sich aus dem ahd. Femininum fĄfalt(a)ra ab, das zu lat. pÞpilio gestellt wird (nach Kluge 221989). Vgl. isl. fiòrildi (n.) ‘Schmetterling’.
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3.4. Exaptation, Reanalyse und Verstärkung: Von Schreiner zu Schreinert und von Klein zu Kleinert Die große Gruppe einstiger Rufnamenkomposita mit konvergent entwickeltem ert-Ausgang hat, so die hier zu vertretende These, eine Reanalyse erfahren, d.h. -ert muss von den Hörern als typischer Familiennamenausgang interpretiert worden sein. Nur vor diesem Hintergrund sind m.E. die folgenden Verstärkungen zu verstehen: Familiennamen auf -er – meist ehemalige Nomina agentis, aber auch andere – werden nicht selten um einen sog. „Sprosskonsonanten“ -t erweitert (bei Zoder 1968 „unorganischer t-Antritt“). Als Output dieses Prozesses entstehen – wenngleich sekundär – Namen auf -ert: (Siegfried >) Sievert ń Siev{ert}, danach Schreiner ń Schrein{ert}, Becker ń Beck{ert}. Die onomastische Literatur beschreibt immer wieder diese ert-Ausgänge – deutliche Evidenz dafür, dass -ert als eine Struktureinheit empfunden wird. So schreibt Bach (1952): Die Endung -ert < -hard hat gelegentlich älteres -er ersetzt oder erscheint in gleicher Funktion wie dieses. Bei Preuß [...] stehen z.B. nebeneinander für 1590 belegtes vorm Bome: Baumer und Baumert. In Liegnitz begegnet 1563 Marcus Brauner, daneben 1572 Jacob Braunert [...]. Der FN [Familienname] Weinert geht auf Weiner = Wagener zurück. (161, §141)
Auch bei Herkunftsnamen verzeichnet er sekundäre t-Erweiterungen: Dannert (aus Dannau b. Eutin). Bes. Art sind folgende Fälle: Teuchert (aus Teuchern, Thür.), Peuckert (aus Peucker, Schlesien). (261)
Fleischer (1964) bemerkt bei den Familiennamen auf -er: Bisweilen wird im Auslaut ein -t angefügt, so daß ein Name wie Kuhnert auf zweierlei Weise entstanden sein kann: aus Kuhn-er zur Kurzform Kuhn oder aus einem Vollnamen mit -hart (Kuonhart), das ja als zweites Glied zu -ert abgeschwächt wurde. (104)
Gottschald (62006) schreibt unter -ert: 1. vielfach < hart, frid (Borchert, Seifert), aber sehr oft auch nur < er und t [...]. 2. An anderen Wörtern auf -er ist t angehängt: Beckert. (174)
In der Auflage von 1971 schreibt Gottschald: Vor allem kann t nach dem Muster der alten Personennamen auf -ert (< hart) und -bert (< beraht) an jeden beliebigen Namen auf -er antreten: Melchert, Zachert, Stübert, Kiefert, Mittelbachert [...]. Andere Beispiele im Namenbuche zahlreich. Fr. Reuter schreibt: de olle Blüchert, von Blücherten. Die so entstandene Silbe -ert kann sogar in ein unechtes -hart verwandelt werden: Melchard. Von Sicherheit kann daher bei der Deutung von Namen auf -er und -ert nicht die Rede sein. (152)
Hier erweist sich der Ersatz von -ert zu -ard als aufschlussreich, da dies für eine (sub-)morphologische Grenze vor -ert spricht.
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Auch Kohlheim/Kohlheim (2000) halten für -ert einen eigenen Eintrag bereit; Punkt 3 geht auf die uns interessierende t-Erweiterung ein: -ert: 1. Abgeschwächte Form des Rufnamenglieds -hart: z.B. ¾ Reichert < Reichart (rĄhhi +harti). 2. Abgeschwächte Form des aus dem Rufnamenbestandteil -hart (¾ -hard) hervorgegangenen Suffixes: ¾ Bossert (Bosse < Burkhard + -hart-Suffix), ¾ Benkert (< bank-hart ‘das auf der Bank [der Magd] und nicht im [Ehe-] Bett gezeugte Kind’). 3. Erweiterung der Endung -er mit einem sekundären -t: a) bei auf -er auslautenden Rufnamen: ¾ Hilgert < Hilger (hiltja + gôr); b) Herkunfts- und Wohnstättennamen: z.B. ¾ Steinert (< Steiner, zu den häufigen Orts- und Flurnamen Stein[e], Steinau); c) bei Berufsnamen: z.B. ¾ Beckert (< Becker); d) bei Übernamen: ¾ Kleinert (< Kleiner). Familiennamen auf -ert sind charakteristisch für Schlesien und den ostmitteldeutschen Raum. (224/225)
Im einzelnen sind jedoch Zweifel angebracht: So gibt es durchaus auch Flurnamen auf -ert (s. Dittmaier 1963: 64 unter dem Eintrag -ert, das auf -hard ‘Wald’, -rod, -ort etc., aber auch auf „Suffix -er + Sproß-t“ zurückgehen kann), was den Familiennamen Steinert weniger auf erweitertes Steiner als auf einen Flurnamen Steinert zurückführen lässt (ebenso Baumert). Auch Kleinert dürfte kaum auf Kleiner beziehbar sein, da es nach Ausweis der Telefonanschlüsse (2005) deutlich mehr Kleinert als Kleiner gibt: Klein 53.377, Kleine 3.488, Kleiner 2.290, Kleinert 2.994. Diese Zahlen sprechen gegen eine sekundäre t-Erweiterung von Kleiner. Eher – und dies wäre für den morphologischen Status von -ert äußerst relevant – handelt es sich bei Kleinert um Klein+-ert, d.h. um die Übertragung des gesamten (exaptierten, reanalysierten) Familiennamensuffixes -ert auf den einfachen Namen Klein. Zumindest sprechen die eben genannten Zahlen eher für diese als für die von Kohlheim/Kohlheim (2000) vorgeschlagene t-Erweiterung. Wie die Zahlen unten in Tabelle 4 zeigen, beträgt der Anteil sekundärer t-Erweiterungen im Vergleich zu nicht erweiterten Familiennamen nur wenige Prozent (oft nur Promille). Daher ist auszuschließen, dass sie sie überrunden (wobei wir grundsätzlich Familiennamen mit geringen Tokenfrequenzen = Telefonanschlüssen nicht in Betracht ziehen). Schließlich wäre auch zu vermuten, dass es sich um die Sekundärbildung *Klein-har(d)t handelt (so etwa Zoder 1968, auch Gottschald 62006, der außerdem Kleinbrecht, aber auch Kleiner als mögliche Ausgangsformen ansetzt). 4 Doch geben hierzu wieder die geringen Tokens (Telefonanschlüsse) kaum Anlass: Kleinhardt: 30;
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Primärbildungen stellen die frühe, noch sinnvoll motivierte Rufnamenschicht dar. Später – im Mittelalter – findet eine „Mechanisierung“ der Rufnamenkomposition statt (Sekundärbildungen), d.h. hier entstehen viele semantisch unsinnige Verbindungen, deren Kombination sich eher aus Gründen der Verwandtschaftsanzeige ergibt (Kombination mütterlicher und väterlicher Rufnamenglieder). Dies beschreibt Sonderegger (1998) für das Namenglied -wolf, das sogar noch als reduziertes -olf neue Namen (manchmal selbst Appellative) bildet. Ähnlich verhält sich auch -olt < -wald.
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Kleinhard: 2; Kleinhart: 0; Kleinbrecht: 0; Kleinbert: 0. Zwar können bei patronymischen Familiennamen die verschliffenen Kurzformen die Vollformen quantitativ überrunden, doch ist es bei einem Verhältnis Kleinhard(t) zu Kleinert von 32 zu 2.994 äußerst unwahrscheinlich, dass Kleinert auf Kleinhardt zurückgeht. So erhält die Annahme, dass Kleinert sich aus Klein + -ert zusammensetzt, die höchste Plausibilität. Da die Kleinerts geographisch stark streuen (mit einer gewissen Massierung im Osten und im gesamten Mitteldeutschen, besonders im Raum Köln/Düsseldorf), ist auch nicht auf einen Herkunftsnamen zu schließen (diese erzeugen im Fall kleiner Siedlungen noch heute erstaunlich klare Konzentrationen um den betreffenden Ort herum). In diesem Fall hätte -ert eine Statusanhebung von einem Submorphem zu einem Morphem vollzogen. Dies spricht, bezogen auf Abbildung 3, für einen Degrammatikalisierungsprozess. Hierauf kommen wir in Kapitel 4 zurück. Schließlich fragt man sich bei dem Namen Hilgert, der auch auf Hilger+-t zurückgeführt wird, warum hier nicht nur der Rufname Hild(e)gard/-gerd zugrundegelegt wird. Alle diese Beispiele werden von Kohlheim/Kohlheim (2000) als (manchmal alternative) Fälle sekundären tAntritts gewertet. Um solche Zweifelsfälle auszuschließen, zumindest zu minimieren, konzentrieren wir uns im Folgenden auf eindeutige Berufs-, manchmal auch Wohnstätten- und Herkunftsnamen wie Schreinert, Webert, Beckert, Wehnert, Grubert und Bayert. Zurück zur Verstärkung von Namen auf -er durch sekundäres -t: Die Grundlage bilden also bereits auf -er auslautende Namen, die das Trittbrett, die Vorlage für eine reanalytische t-Erweiterung liefern. Damit ist es (zunächst) nicht das gesamte Suffix -ert, das produktiv wird (sieht man von dem wahrscheinlichen Fall Kleinert < Klein+ert ab), sondern nur der Auslaut -t, der in Verbindung mit -er zum offensichtlichen Ziel, dem Output einer ert-Endung führt. Dabei sind der onomastischen Literatur zufolge keine Präferenzen bzgl. der Namenquelle zu erkennen: Sowohl auf -er auslautende Rufnamen, Herkunfts- und Wohnstättennamen, Berufsnamen und Übernamen sind vertreten, wobei Nomen agentis-Bildungen wegen ihrer Auslautstruktur dafür besonders prädestiniert sind. Um sich eine Vorstellung von der Häufigkeit dieses sekundären Auslauts zu machen, wurden die Etyma der 340 ert-Namen in Kohlheim/Kohlheim (2000) nachgeschlagen. 5 Folgt man den Angaben in Kohlheim/Kohlheim (bei aller kritischer Distanz), so befinden sich unter den 340 verzeichneten ert-Namen immerhin 114 Einträge, also ein Drittel, bei denen eine t-Erweiterung angenommen wird, sei es als Alternative
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Hierfür gebührt Renata Szczepaniak großer Dank.
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(dies in 29 Fällen = 25%) 6 , sei es als einzige Möglichkeit (dies in 85 Fällen = 75%). Nur eine Auswahl dieser 85 Fälle ist in Tabelle 3 aufgeführt. Webert Grubert Grabert Schaffert Prüfert Wegert Bechert Deckert
Eschert Bohnert Tauchert Steiert Hackert Beckert Oehlert Bebert
Klappert Schabert Baumert Losert Trabert Streckert Strickert Drabert
Steinert Bachert Forchert Dienert Krö(h)nert Schreinert Kellert Wellert
Tab. 3: Einige Familiennamen auf -ert mit sekundärer t-Erweiterung (nach Kohlheim/Kohlheim 2000)
Zöge man weitere Einheiten aus unserem Korpus der ca. 5.000 unterschiedlichen ert-Namen heran, würde sich diese Liste stark erweitern, denn die sekundären ert-Namen haben oft nur wenige Tokens (Telefoneinträge). Da anzunehmen ist, dass dieser onymische morphologische Wandel zur Ausbildung von Familiennamenmarkern erst in den Anfängen begriffen war, als das deutsche Familiennameninventar fixiert wurde, ist, gerade bei den analogischen Erweiterungen, von einer stark asymmetrischen Type/Token-Relation auszugehen. Dies verdeutlichen die folgenden Zahlen in Tabelle 4. Name auf -er Weber Stricker Keller Zimmer Prüfer Bucher Schreiner Decker Becker Kircher Gerber
Telefonanschlüsse 86.061 2.379 26.192 13.035 1.171 2.913 7.442 7.537 74.009 1.651 5.755
Name auf -ert Webert Strickert Kellert Zimmert Prüfert Buchert Schreinert Deckert Beckert Kirchert Gerbert
Telefonanschlüsse 151 66 203 140 182 538 125 1.641 1.750 56 240
% -ert (gerundet) 0,17 0,3 0,8 1,1 1,3 1,6 1,6 1,8 2 3 4
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Beispiel für eine Alternative: Brunnert kann sowohl auf Brunhard (< ahd. brijn + harti) als auch auf t-erweitertes Brunner zurückgehen.
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Strecker Gruber Faller Wehner
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2.245 10.645 1.857 4.457
Streckert Grubert Fallert Wehnert
138 735 221 595
5,8 6,5 10,6 11,7
Tab. 4: Zahl der Telefonanschlüsse (2005) von Namen mit -er und mit sekundärem -(er)t
Damit -ert auch als Familiennamenindikator fungieren kann, sollte ausgeschlossen sein, dass es viele Appellative auf -ert gibt. Sonst entstünde kein Differenzierungs- bzw. Dissoziationseffekt. Tatsächlich erweist das rückläufige Wörterbuch von Muthmann (2001), dass es keine (mindestens zweisilbigen) Appellative gibt, die auf unbetontes -ert enden (was Schwert, Kaufwert etc. ausschließt). Bei fast sämtlichen Wörtern auf -ert handelt es sich um Perfektpartizipien von Verben auf -ern (überaltert, verändert, versichert) bzw. um entsprechende Adjektive (bewandert) sowie das Zahlwort hundert. Dieser überraschende Befund qualifiziert -ert umso mehr zu einem onymischen Marker: Mit einfachen, anderweitig ungenutzten und phonotaktisch verträglichen Mitteln wird klare Distanz zu den Appellativen hergestellt. Da die Basis reanalytischer t-Erweiterungen ohnehin bereits auf -er enden muss, wird auch kaum materieller Mehraufwand zur Familiennamenanzeige aufgewendet: Die Silbenzahl bleibt gleich, und auslautendes -t fügt sich gut in die deutsche Phonotaktik. Im Fall von Kleinert < Klein+-ert dürfte es jedoch das gesamte Suffix sein, das gewandert ist. Allerdings sind solche Fälle nicht häufig (geworden). Möglicherweise hat die relativ frühe Fixierung der Familiennamen in Deutschland eine solche Ausbildung und Ausbreitung onymischer Morphologie verhindert, während sie in Polen bis heute gang und gäbe ist. 3.5. Geographische Verteilung Erstellt man eine Familiennamenkarte mit sämtlichen auf -ert endenden Namen, so ergibt sich deutschlandweit ein ziemlich flächendeckendes, dichtes Bild – mit Ausnahme des Bairischen und daran angrenzend auch Teilen des Alemannischen. Im äußersten Südwesten ergeben sich wiederum starke Verdichtungen, während sich im Nordwesten das Kartenbild etwas lichtet. Der Osten ist stark, aber nicht ausschließlich repräsentiert. Kohlheim/Kohlheim (2000) schreiben zu -ert, dass es sich bei den tErweiterungen um ein ostmitteldeutsches und schlesisches Phänomen handle. Hierzu wurden drei Karten zu unzweifelhaften t-Erweiterungen erstellt, die eine gewisse Bestätigung dafür liefern.
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Die Karten 1 und 2 im Anhang kontrastieren den Typ Becker vs. Beckert, der verschiedene Schreibweisen integriert, die in Tabelle 5 aufgeschlüsselt werden, ergänzt durch die Zahl der Telefonanschlüsse. FamN -er Becker Bäcker Baecker Schreiner Wehner
Telef. 74.009 2.756 271 7.442 4.457
FamN -ert
Telef.
Beckert Bäckert Baeckert
1.750 47 1
Schreinert Wehnert
125 595
Tab. 5: Telefonanschlüsse der Namen in den Karten 1-6
Die unterschiedlichen Grautöne in den Karten repräsentieren das relative Vorkommen dieser Namen, bezogen auf jeweils zweistellige Postleitzahlbezirke. Der Typ Becker konzentriert sich stark im Westen, der Typ Beckert dagegen im Osten. Die Karten 3-6 liefern die Bilder für Schreiner vs. Schreinert und Wehner vs. Wehnert. Bei Karte 4 (Schreinert) fällt auf, dass dieser erweiterte Name genau dort vorkommt, wo er als Appellativ (Karte 3) nicht üblich ist, also nicht verstanden wurde (hier gilt Tischler), d.h. im Norden und Osten (vgl. König 142004: 194). Andere Namenpaare zeigen wiederum andere Verteilungen (hierzu s. eingehend Kempf/Nowak demn.), d.h. die Entstehung der ert-Namen beruht wahrscheinlich auf Polygenese. So finden sich im Südwesten 540 Telefonanschlüsse für das er-erweiterte Patronym Hanser und, in ebendiesem Areal, 102 Anschlüsse für Hansert. Die Darstellung der genauen arealen Verteilung dieser Namen steht noch aus und wird, neben dem Beitrag von Kempf/Nowak (demn.), auch Gegenstand eines ab 2009 erscheinenden Familiennamenatlasses sein (hierzu s. Nübling/Kunze 2005 und Kunze/Nübling 2007). Dabei wird auch der hier vernachlässigten Frage nachzugehen sein, ob die etymologische Herkunft der er-Endung eine Rolle bei der t-Erweiterung spielen könnte und ob sich t-Erweiterungen besonders in solchen Gebieten zeigen, in denen das zugrundeliegende Namenlexem nicht mehr verstanden wurde, d.h. dialektal anders lautete (wie bei Schreiner(t)/Tischler).
4. Analyse und Fazit Um die verschlungenen Pfade bei der im Anfangsstadium verbliebenen Grammatikalisierung eines onymischen Suffixes besser verfolgen zu können, liefern wir aus Harnisch (2004: 211) die Abbildung zu Prozessen
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und Gegenprozessen auf den (De-)Lexikalisierungs- und (De-) Grammatikalisierungs-Achsen (s. Abb. 3). De-Grammatikalisierung Statusanhebung Bedeutungsspezifizierung Konstruktionsebene: („Volksetymologie“) De-Lexikalisierung Resegmentierung Remotivierung
Lexikalisierung Desegmentierung Demotivierung
Phrase Wort Morphem Submorphem pure Lautsubstanz
Grammatikalisierung Statusminderung Desemantisierung
holistisch irregulär opak
Komplexitätsgrad:
analytisch regulär transparent
Abb. 3: Prozesse und Gegenprozesse auf den (De-)Lexikalisierungs- und (De-)Grammatikalisierungs-Achsen (aus Harnisch 2004: 211)
Fassen wir nun die wichtigsten Schritte bei der Herausbildung von -ert als onymischem Suffix zusammen und beziehen wir sie auf Abbildung 3: 1.) Die Erstarrung der Rufnamenkomposition im Mittelalter führt zur Verschmelzung, oft auch zur Kontraktion der zweigliedrigen Rufnamen, die – zunächst als unfeste Beinamen – später einen beträchtlichen Teil unseres Familiennamenbestands speisen. Die zahlreichen Rufnamen auf -hard(t), -brecht/-bert, -gard, -wart, -fri(e)d, -rad konvergieren dabei zum Ausgang auf -ert. Noch handelt es sich um unanalysierte, phonologische Masse, die mit Lass (1990: 81) als „junk“ zu bezeichnen ist. Desegmentierung und Demotivierung sprechen für einen Lexikalisierungs-, genauer Onymisierungsprozess (Querachse). 2.) /ert/ wird (hörerseitig) als typischer Familiennamenausgang interpretiert bzw. exaptiert (Entschmelzung, Sekretion, Exaptation), vergleichbar den Fällen der engl. Infinitivendung -en, die später als Inchoativbzw. Kausativendung reanalysiert und produktiv wurde, z.B. in to lengthen < length+en; hierzu s. Wischer (in diesem Band). Bemerkenswert ist, dass die Zäsur zwischen onymischem Körper und -ert nicht der früheren Zäsur zwischen dem Erst- und Zweitglied entspricht, d.h. die
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alte Kompositionsfuge liefert nicht die Vorlage für die neue Morphemgrenze. Da dieser reanalytische Prozess noch auf assoziativer Ebene stattfindet und -ert zunächst auch nicht aus seinen angestammten Verbindungen heraustritt, ist es als Submorphem zu klassifizieren. Die Entwicklung, die Exaptation purer Lautsubstanz zu einem Submorphem, ist auf der senkrechten Achse der (De-)Grammatikalisierung zu verorten. Da es sich um eine Statusanhebung handelt, ist dieser Schritt als Degrammatikalisierung einzuordnen. Harnisch (2004: 223) spricht in solchen Fällen auch von „Re-konstruktionellem Ikonismus“: Es kann formale Substanz vorhanden sein, die ursprünglich nicht mit Bedeutung belegt ist. Heilungsprozesse führen dann zu einer semantischen Interpretation dieser Ausdruckssubstanz.
Doch statt von Semantisierung formaler Substanz ist es bei Eigennamen angebrachter, von Funktionalisierung sprechen. Von Exaptation spricht man dann, wenn dabei eine kategoriell neuartige Funktion entsteht (im Sinne von Lass 1997, referiert in den Beiträgen von Simon und Wischer in diesem Band). Dies wäre in unserem Fall gegeben. Allerdings handelt es sich hier nicht um vormals grammatisches Material (wie dies Wischer im Sinne eines engeren Exaptationsbegriff vorschlägt), sondern um bloße Ausdruckssubstanz. Simon (in diesem Band) plädiert dafür, den vormaligen Status des exaptierten Materials als irrelevant für den Exaptationsbegriff zu betrachten. 3.) Analog zu den zahlreichen ert-Ausgängen beginnen Namen auf -er, ein sekundäres „Spross-t“ anzunehmen (Verstärkung, Substanzzuwachs). Diese Erweiterungen vergrößern den Bestand an ert-Namen und liefern erst die Gewissheit darüber, dass die unter 2.) beschriebene Reanalyse stattgefunden hat. Auch wenn, wie bei Namen üblich, der Teil ohne /ert/ opak ist, so hat ein Schritt in Richtung Suffix und damit eine weitere Statusanhebung stattgefunden. 4.) Der mit 2.994 Telefonanschlüssen recht häufige Familienname Kleinert liefert Evidenz dafür, dass das gesamte ert-Suffix herausgelöst und auf die Basis Klein übertragen wurde. Die in der Literatur vorgebrachte Annahme, es handle sich um eine t-Erweiterung von Kleiner oder um eine Verschmelzungsform des Rufnamens Kleinhard bzw. Kleinbrecht, muss angesichts zu geringer Zahlen zurückgewiesen werden: Sowohl Kleiner (2.290) als auch die potentiellen Rufnamen-Vollformen (insgesamt 32) kommen viel zu selten vor, als dass sie als Grundlage von Kleinert in Betracht zu ziehen wären. Auch spricht die (weit streuende, sich im Osten und Mitteldeutschen leicht konzentrierende) geographische Verteilung von Kleinert gegen einen Herkunftsnamen. Damit kommt also nur Klein mit seinen 53.377 Telefonanschlüssen in Betracht. Trifft dieser Schluss zu, dann hätte eine Desegmentierung stattgefunden sowie eine
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weitere Statusanhebung vom Submorphem zum Morphem, somit ein weiterer Schritt auf der De-Grammatikalisierungsskala. Ob noch mehr Namen auf eine solche ert-Erweiterung zurückgehen, ist bisher nicht geklärt. 5.) Aus Vorsichtsgründen betrachten wir diesen letzten Schritt noch als hypothetisch, doch wäre mit diesen vier Schritten die Voraussetzung für einen onymischen Marker geschaffen: Von hier aus hätten sich sowohl die t- als auch die ert-Erweiterungen weiter ausbreiten können (-t an er-Basen, -ert an andere Basen), doch hat dies, besonders bei -ert, nicht massenweise stattgefunden, vermutlich weil die deutschen Familiennamen zu früh fixiert und damit in ihrer Entwicklung angehalten wurden. Da sie seit Jahrhunderten erstarrt sind, stellen sie eine wichtige Quelle für diachrone Untersuchungen dar. Sprachen mit onymischer Morphologie (Polnisch, Schwedisch, Lettisch) haben eine solche Fixierung entweder viel später oder gar nicht erfahren, d.h. hier konnte sich onymische Morphologie ungehindert ausbilden und ausbreiten. Wäre dies auch im Deutschen eingetreten, so hätten wir es insgesamt mit einem Grammatikalisierungsprozess zu tun, der zwar bei der Entwicklung onymischer Suffixe ein paar Schritte zurück ging (s. die oben beschriebenen Degrammatikalisierungsschritte), langfristig aber in eine Grammatikalisierung gemündet wäre. Schematisch: {Engel}{hard} > {Englert} Ⱥ Engl{ert} {Gott}{fried} > {Göpfert} Ⱥ Göpf{ert}(mit Metathese) ҈ {Becker} Ⱥ Beck{ert}. ҈ {Klein} Ⱥ Klein{ert} Ȼ onymisches Suffix
Die Vorteile onymischer Morphologie liegen auf der Hand und wurden teilweise bereits genannt: Andere Inventare wie Appellative, Adjektive, Rufnamen oder Toponyme können als Basis für Familiennamen wiederverwertet werden, wobei der Familiennamenstatus relativ ökonomisch durch ein spezifisches Suffix abgesichert wird. Eine solche Kombinatorik ist für die kognitive Verarbeitung von großem Vorteil. Dass sich gerade die Familiennamen auf dem Weg zu onymischer Morphologie befanden, erklärt sich aus ihrem geringen Alter, stellen sie doch die jüngste Schicht unserer Namen dar. Da Eigennamen sich üblicherweise aus der Appellativik speisen und die jungen Familiennamen noch weit von einer formalen Dissoziation entfernt waren – noch heute wissen die Träger potentiell motivierbarer Familiennamen wie Koch, Schneider, Mörder, Schüler über
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Verwechslungen und Missverständnisse zu berichten –, ist es kein Zufall, dass sich gerade hier ein solcher Bedarf an onymischer Morphologie entwickelt hat.
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Ein Index will nach oben, oder: Ein Weg zur Grammatikalisierung innerhalb der Wortgrenzen 1. Dynamische Linguistik vor und nach Harnisch (2004) Die Grammatikalisierungsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der führenden Paradigmen der modernen Linguistik entwickelt. 1 Ihr immer noch ungebrochener Boom schlägt sich in einer ständig wachsenden Zahl von Publikationen zum Thema nieder (siehe die rezenten Sammelbände Wischer/Diewald 2002; Bisang/Himmelmann/Wiemer 2004; Knobloch 2005), neben denen sich gerade in jüngster Vergangenheit aber auch verstärkt solche finden, die an den Grundfesten des Ansatzes rütteln und seine Existenzberechtigung ganz generell in Frage stellen (Campbell 2001). Die vorgebrachte Kritik bezieht sich dabei häufig auf die von den Hauptvertretern der Grammatikalisierungsforschung postulierte Unidirektionalitätsannahme (Haspelmath 1999), weil – so nehmen beide Seiten zumindest implizit an – mit deren uneingeschränkter Haltbarkeit das gesamte Modell steht und fällt. Von den kritisch eingestellten Linguisten werden daher immer wieder Fälle präsentiert, die unter der Rubrik Degrammatikalisierung firmieren (Ramat 2001) und von den Kritisierten nicht als schlüssige Gegenbeweise akzeptiert werden, weil sie überwiegend unsystematisch und zu vereinzelt auftreten, um einen gleichberechtigten, aber gegenläufigen Prozess zur Grammatikalisierung darstellen zu können (Lehmann 2004). In den Rahmen dieser jüngst angelaufenen Diskussion fügt sich ein wichtiger Beitrag (Harnisch 2004) aus der germanistischen Linguistik ein,
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Ich danke meinen Diskutanten an den Universitäten Passau, Bremen und Münster i.W. für die zahlreichen hilfreichen Kommentare zu drei Vortragsfassungen dieses Beitrages. Namentlich Werner Abraham, Andreas Bittner, Gabriele Diewald, Klaus-Michael Köpcke, Elisabeth Leiss, Damaris Nübling, Elke Ronneberger-Sibold, Anatol Stefanowitsch, Christel Stolz, Johan van der Auwera und Ilse Wischer gebührt Dank für ihre Hinweise, die ich in dieser schriftlichen Version sofern möglich auch berücksichtigt habe. Was ich aus ihren Kommentaren letztlich gemacht habe, verantworte ich ganz allein – einschließlich eventueller Entstellungen und Fehler. Annette Endruschat und Karin Huth haben mich dankenswerterweise bei der Literaturrecherche eifrig unterstützt.
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der sich damit auseinandersetzt, ob und inwiefern die Prozesstypologie des (grammatisch-semantisch relevanten) Sprachwandels nicht wesentlich reicher ausfällt, als es die Axiomatik der Grammatikalisierungsforschung – und die ihrer Opponenten – suggeriert. Dabei ergibt sich die Frage, ob das Gegensatzpaar Grammatikalisierung-Degrammatikalisierung geeignet ist, alles das erfassbar zu machen, was wir in Diachronie und Variation von Sprachen bei der Bildung und Umbildung von Sprachzeichen beobachten können. Harnisch (2004) gelingt es in diesem Zusammenhang überzeugend darzulegen, dass die bisherige Diskussion das Augenmerk zu stark auf nur einen Ausschnitt der Phänomenologie gelegt hat, nämlich auf den der klassischen Grammatikalisierungsmuster (Univerbierung, Morphologisierung, Desemantiserung usw. von Syntagmen bzw. einstmals freien [lexikalischen] Morphemen / syntaktischen Wörtern) und ihrer vermeintlichen Umkehrung (semantische Remotivierung von gebundenen Morphemen o.Ä. mit anschließender Wiedererlangung des Wortstatus). Wie Harnisch (2004) zeigt, sind Prozesse der Anhebung von ursprünglich bedeutungs- und/oder (im grammatischen Sinne) funktionslosen Teilen von sprachlichen Ausdrücken nicht ganz so ungewöhnlich, wie man vielleicht vermuten könnte. Noch weitgehend ungeklärt bleibt dabei die genaue Gewichtung und Einordnung der Fakten. Welche der Fälle belegen Grammatikalisierung, welche eher Degrammatikalisierung oder Lexikalisierung? Eignet sich der Begriff Anhebung (im Sinne der weiter unten gegebenen Definitionen) überhaupt zur Charakterisierung der Vorgänge, aller oder einiger von ihnen? Handelt es sich durchweg um marginale Erscheinungen oder gibt es die Möglichkeit, rekurrente Muster und Regelhaftigkeiten zu identifizieren? Usw. usf. Nachstehend betrachte ich denjenigen Bereich von Prozessen, der am ehesten systematisch zu sein scheint und übereinzelsprachlich in ansehnlicher Zahl belegbar ist, nämlich die Entstehung von grammatischer Morphologie aus ursprünglich funktionslosen Segmentketten. Aus expositorischen Gründen gehe ich von einem morphem-basierten Ansatz aus (im Schlusskapitel erwähne ich auch kurz eine WP-inspirierte Alternative). Anhand von typischen Beispielen aus verschiedenen Sprachen (darunter etwas ausführlicher: Estnisch, Rumänisch, Albanisch, Lettisch und Kymrisch) zeige ich, wie Portmanteau-Morphe durch die Morphologisierung von (sekundär) indexikalischen Elementen entstehen. Es handelt sich letztlich wohl auch um einen Grammatikalisierungsprozess, da etwas, das in einem früheren Stadium keine grammatische Funktion hatte, zu einem späteren Zeitpunkt aber über eine solche verfügt. Es ist jedoch kein herkömmlicher Fall von Grammatikalisierung, weil im klassischen Modell nur solche Elemente in Grammatikalisierungskanäle eingespeist werden, die aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften zum Ausdruck der Zielka-
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tegorie geeignet sind. Bloße Segmentketten sind hingegen semantisch leer und bringen daher diese Qualifikation nicht mit. Die Integration des hier zu beschreibenden diachronen Prozesstyps in die Phänomenologie der Grammatikalisierung hat weitreichende Auswirkungen auf das Grammatikalisierungsmodell und seine gemeinhin angenommene kognitive Grundlage (Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; Heine 1997). Ich gehe im weiteren von dem Begriff Anhebung aus, wie er in der folgenden Definition präzisiert wird. Wichtig für die Diskussion ist dabei besonders der zweite Teil der Definition, in dem es um die Semantisierung/Funktionalisierung von ehedem Bedeutungslosem/Funktionslosem geht. Definition: Anhebung Sei Anhebung der Terminus für den Prozess, in dessen Verlauf eine Segmentkette ihren Status dadurch ändert, dass sie zum Zeitpunkt T n>1 einen geringeren Bindungsgrad zu einem Trägerelement aufweist, an das sie zum Zeitpunkt T 1 noch stärker gebunden war und/oder semantisiert wird in dem Sinne, dass sie zum Zeitpunkt T 1 keine Bedeutung / grammatische Funktion aufwies, zum Zeitpunkt T 1+n jedoch semantisch/funktional nicht mehr leer ist.
2. Kontakte Nur am Rande streifen kann ich hier einschlägige Vorgänge, die sich nicht selten im Sprachkontakt ereignen. Sie sind jedoch so transparent, dass es sich lohnt, mit ihnen den Einstieg in die Problematik vorzunehmen. Bei der Entlehnung von fremdem Wortgut ergibt sich automatisch das Problem, dass die Sprecher der Replikasprache die Lehnwörter in ein bereits bestehendes System zu integrieren haben. Dies kann morphologische Rückwirkungen haben, nämlich besonders dann, wenn ein Lehnwort Teilsegmentketten umfasst, die sich als Morphe der Replikasprache deuten lassen. Wo solche scheinbaren Morphe erkennbar werden, haben die Sprecher der Replikasprache die Möglichkeit, eine ihnen sonst opake Struktur wenigstens teilweise zu (re-)motivieren. Das kann dazu führen, dass Segmentketten, die in der Quellsprache keine Bedeutung, keine Funktion und keinen Morphstatus hatten, in der Replikasprache semantisiert, funktionalisiert werden und den Rang von Morphen erlangen. Das Maltesische ist eine afro-asiatische Sprache, die seit Jahrhunderten starker Romanisierung durch das Italienische und seine sizilianische Varietät unterliegt (Brincat 2000, Stolz 2003). Große Teile des maltesischen Wortschatzes haben eine romanische Etymologie – so auch das Wort ittra ‘(ein) Brief’, das in dieser Form weder im Sizilianischen noch in anderen italo-romanischen Varietäten vorkommt. Dort finden wir lettera ‘Brief’ in der Standardsprache oder – mit der typischen Vokalanhebung –
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littira im Sizilianischen. Diese Form mit ebenfalls typischer posttonischer Synkope in der Mittelsilbe liegt dem maltesischen Ausdruck historisch zugrunde: l[itt(i)ra] – die eckige Klammer umschließt diejenigen Elemente, die im Entlehnungsprozess eins-zu-eins übernommen wurden. Herausgefallen ist der initiale Lateral – und zwar deshalb, weil er dem prävokalischen Allomorph des maltesischen definiten Artikels entspricht. Das maltesische Wort mit der Bedeutung ‘Mutter’ ist semitischen Ursprungs und lautet omm, seine definite Form ist l-omm. Der definite Artikel ist für keine grammatische Kategorie sensitiv 2 , d.h. er ist genus- und numerusneutral: femininer Plural l-ommijiet ‘die Mütter’, maskuliner Singular l-ajl ‘das Stachelschwein’, maskuliner Plural l-ajul ‘die Stachelschweine’ und auch l-ittri ‘die Briefe’ (neben ittri ‘Briefe’). Zufälligerweise kennt auch das Italo-Romanische ein Allomorph {l}- des definiten Artikels vor vokalisch anlautendem Träger (aber nur im Singular): l’uomo ‘der Mann’. Diese strukturelle Koinzidenz mag dazu beigetragen haben, dass die Sprecher des Maltesischen zur Zeit der Übernahme des sizilianischen Wortes dem an sich funktionlosen Anlautkonsonanten Morphstatus zugewiesen haben. Indem sie dies taten, haben sie gleichzeitig der im Sizilianischen ebenfalls ursprünglich bedeutungslosen Segmentkette {ittra} zum gleichen Status verholfen. Durch das Ziehen einer Grenze durch die Segmentkette des lexikalischen Morphems der Quellsprache sind zwei neue Morphe zustande gekommen. Genau genommen ist nur {ittra} wirklich neu, da es ja für {l}- bereits ein inner-maltesisches Vorbild gab. Im austronesischen Chamorro (Topping 1973, Stolz 1998), das lange Zeit unter starkem spanischen Einfluss stand, finden wir einen interessanten Parallelfall, bei dem man zweimal hinschauen muss, um die Parallele zu erkennen. Bis zu 60% des chamorritischen Lexikons sind spanischer Herkunft, darunter auch stärker grammatikalisierte Elemente wie z.B. Modalausdrücke. Im Spanischen gibt es die Konstruktion ser menester ‘nötig sein’ mit dem Nomen menester ‘Notwendigkeit’. Dieses Nomen erscheint auch im modernen Chamorro als einer der Modalausdrücke für Obligation. Seine Segmentkette ist gegenüber dem spanischen Muster reduziert und lautet mistet ‘nötig sein’. Das Verhältnis zwischen quell- und replikasprachlicher Form lässt sich wieder durch Klammerung der übernommenen/kopierten Segmente darstellen: [m]en[ester]. Während der Lautwandel r > t im Silbenauslaut genauso regelmäßig ist wie die Vokal-
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Der definite Artikel verfügt im Maltesischen dennoch über ein reiches Inventar an Allomorphen, weil er sich morphonologisch an den Anlaut des Trägerelementes, an das er sich proklitisch anschließt, anpasst, wenn dieser bestimmten Lautklassen angehört: z.B. issensija ‘die Erlaubnis’, in-nar ‘das Feuer’, id-dar ‘das Haus’, iz-zokk ‘der Stamm’, aber ilbieb ‘die Tür’, il-karozza ‘das Auto’, il-miexi ‘der Gang’ und l-istudent (< student) ‘der Student’ (Borg/Azzopardi-Alexander 1995).
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anhebung e > i, bleibt das Fehlen eines Reflexes eines Teils der spanischen Segmentkette erklärungsbedürftig. Lautgesetzlich hätte die vollständige Übernahme des spanischen Wortes *ministet ergeben müssen. Nun macht das Chamorro ausgedehnten Gebrauch von Infigierung – und eines der häufigsten Infixe ist das multifunktionale -{in}-, dessen feste Position unmittelbar links vom ersten Vokal des lexikalischen Morphems ist. Bei konsonantisch anlautenden Wörtern bedeutet diese Regel, dass das Infix unmittelbar rechts vom Anlautkonsonanten steht, da das Chamorro eigentlich keine tauto-syllabischen Konsonantengruppen zulässt. Wie von einem Infix erwartbar, unterbricht -[in}- die Segmentkette des Trägerelementes: li’e‘ ȧsehen’ l-in-i’e‘ ‘wurde gesehen; Gesehenes’. Die enorme Häufigkeit, mit der -{in}- im Chamorro verwendet wird, legt es nahe, beliebige Segmentketten der Form -/in/- als Realisierungen der mit -{in}assoziierten Morpheme zu werten. Ein solches -/in/- in *ministet wird so leicht zu einem -{in}-, das einem {mistet} infigiert wurde. Subtrahiert man dieses Infix, erhält man die lexikalische Grundform. Dies ist, was die Sprecher des Chamorro zum lange zurückliegenden Zeitpunkt der Entlehnung getan haben: sie haben einem spanischen Wort eine chamorritische Morphotaxe unterstellt und darauf die morphologischen Regeln der Replikasprache angewandt. Wie im maltesischen Fall gab es im Chamorro bereits ein morphologisches Vorbild. Im Ergebnis sind wieder zwei an sich bedeutungs- und funktionslose Teilsegmentketten eines quellsprachlichen Ausdrucks zu Morphen gemacht worden: neben dem -{in}- gibt es nun auch ein {mistet}, das sechs Segmente des spanischen Wortes reflektiert, die zusammen keine passende Bedeutung hatten 3 . Maltesisch und Chamorro sind repräsentativ für bis dato noch nicht umfassend beschriebene Kontaktsituationen, in denen quellsprachliches Material eine morphologische Reanalyse durch die Sprecher der Replikasprache erfährt. Da eine vollständige Inventarisierung solcher Fälle aussteht, kann nicht überzeugend für ihre Systematizität argumentiert werden. Keineswegs jeder anlautende Lateral des Sizilianischen/Italienischen ist im Maltesischen als definiter Artikel verstanden worden. Vielleicht haben wir es also mit randständigen Erscheinungen zu tun, die sich eventuell mit den besonderen Gegebenheiten von Sprachkontaktsituationen (zu Ausnahmen) erklären lassen (eine Ansicht, die ich übrigens nicht teile). Dass ursprünglich rein phonologisches Material durchaus auch ohne Sprachkontaktbedingungen und in viel systematischerer Art und Weise morphologisiert werden kann, zeigt das folgende Kapi-
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Man müsste dafür ein spanisches Wort mester rekonstruieren. Zufälligerweise gibt es das dem literarischen Register angehörige Lexem mester mit der Bedeutung ‘(klerikale o.ä.) Dichtkunst’, von dem wir annehmen dürfen, dass es keine Rolle bei dem beschriebenen Prozess gespielt haben dürfte.
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tel, mit dem wir uns der Diachronie mehrerer Sprachen Europas zuwenden.
3. Indexanhebung 3.1. Formalia Zum besseren Verständnis der weiteren Darstellung sind mehrere Begriffe zu klären. Zentral ist hierbei der Terminus Index, den ich der semiotischinspirierten Spielart der Natürlichen Morphologie (Dressler 1987) entlehne. Eine entsprechende Definition lautet: Index Sei Index der Terminus für eine Segmentkette ohne Morphemstatus, die sensitiv für die Kombination mit außerhalb der Segmentkette vorkommenden Morphemen ist. Anhand der Eigenschaften der Segmentkette wird das Vorkommen eines bestimmten Morphems in ihrer Umgebung indiziert.
Typische Beispiele für die indexikalische Eigenschaft von Segment(kett)en finden sich in der Morphonologie. Einschlägig ist die früheste Stufe der Entwicklung des Umlautes in der deutschen Sprachgeschichte, wo bekanntlich zunächst ein phonologischer Auslöser (V[hinten, rund] ĺ V[vorn, rund] /__$V[hoch, vorn]) für den Prozess verantwortlich gemacht werden konnte 4 . Ein vorderer gerundeter Vokal kündigte also an, dass zum einen das phonologische Wort noch mindestens eine weitere Silbe aufwies und zum anderen diese Silbe einen vorderen hohen Vokal enthielt. Bevor sich diese Antizipation von artikulatorischen Eigenschaften eines Folgesegmentes durchsetzte, hatten die (noch nicht umgelauteten) Vokale weder eine indexikalische noch eine andere morphologische Funktion; sie waren unselbständiger Teil der Segmentkette eines Morphs. Da nun bestimmte Affixe – beispielsweise solche, die der Markierung des nominalen Plurals dienten – im Althochdeutschen einen hohen vorderen Vokal mit einschlossen, trat die Umlautung sehr oft dann auf, wenn die grammatische Kategorie Plural involviert war. Dies und die Auslautsilbenschwächung führten dazu, dass die phonologische Ratio der Umlautung in den Hintergrund geriet und der Umlaut nicht mehr die Kopräsenz eines bestimmten Folgesegmentes avisierte, sondern das Auftreten eines Pluralmorphems indizierte (V[hinten, rund] ĺ V[vorn, rund] /__ Affix[PLURAL]). Solange das Pluralmorphem durch ein overtes Morph separat und distinkt vertreten wurde, kam ihm die Funktion des Hauptmarkers der
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Ich setze beim Leser Vertrautheit mit den philologischen Einzelheiten voraus und verzichte daher auf die Beispielgabe zum sattsam Bekannten.
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Numeruskategorie zu. Es war Symbol im Vergleich zum morphonologischen Index. Wo die Pluralaffixe jedoch dem Sprachwandel zum Opfer fielen, blieben die Indices zumeist bestehen, obwohl jeder phonologisch realisierte Auslöser nun fehlte. Wegen der Absenz eines anderen Kandidaten für die Rolle des Hauptmarkers konnte der ehemalige Index im strengen Sinne nicht mehr indizieren, sondern ihm fiel die Aufgabe zu, die Pluralkategorie allein auszudrücken. Unter diesen Umständen konnte der Umlaut analogisch distributionell expandieren, also auf „etymologisch“ nicht gerechtfertigte Kontexte übertragen werden. Er war nun kein Index mehr (V[hinten, rund] ĺ V[vorn, rund] /[PLURAL]). Diesen aus der deutschen Sprachgeschichte ja hinreichend bekannten Prozess nenne ich Indexanhebung (bei Wurzel 1981 heißt es diesbezüglich „Morphologisierung phonologischer Regeln“). Indexanhebung Sei Indexanhebung der Terminus für den Prozess, in dessen Verlauf eine Segmentkette ohne separaten Morphemstatus zum Zeitpunkt T 1 den Status eines (Bestandteils eines) Hauptmarkers zum Zeitpunkt T 1+n erlangt und damit einen anderen Morphemstatus im weitesten Sinne erhält.
Das Umlautbeispiel zeigt zudem, dass die Indexanhebung nicht einfach die Herausbildung von neuen Affixen bewirkt, sondern häufig zu Ergebnissen führt, die sich nicht mehr als Verkettungsmorphologie verstehen lassen. Da die umgelauteten Vokale auch integrale Bestandteile der Segmentkette des Morphs sind, das die lexikalische Bedeutung trägt, müssen drei weitere traditionelle Konzepte der Morphologie in Betracht gezogen werden, nämlich innere Modifikation, Suppletivismus und PortmanteauMorph (Lieber 2000; Mel’ÿuk 2000; Luschützky 2000) . Für diese gebe ich zur besseren Orientierung ebenfalls kurze Definitionen, die im weiteren noch relevant werden: Innere Modifikation Sei innere Modifikation der synchrone morphologische Prozess, bei dem mindestens ein Segment eines lexikalischen Morphems dergestalt geändert wird, dass durch seine Änderung allein Funktionen/Bedeutungen kodiert werden. Suppletivismus Sei Suppletivismus die Kombination von synchron mit Hilfe von ([mor]phonologischen/morphologischen) Regeln nicht auseinander ableitbaren Wortformen in einem Paradigma. Portmanteau-Morph Sei Portmanteau-Morph der Terminus für eine Segmentkette, die zwar monomorphisch ist, aber polymorphemisch besetzt ist. Die Kombinationen von Morphemen in einem Portmanteau-Morph können auch lexikalische und grammatische Morpheme umfassen.
Indexanhebung steht mit den drei zuletzt erwähnten Phänomenen ursächlich in Zusammenhang, da im Verlaufe der Indexanhebung innere Modifi-
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kation, schwacher Suppletivismus und Portmanteau-Morphe zustandekommen können. 3.2. Fallbeispiel I: Kymrische Mutationen Das Kymrische gehört dem britannischen Zweig des keltischen Phylums an. Wie alle seine unmittelbaren Verwandten zeichnet es sich dadurch aus, dass syntaktische Wörter systematischen Veränderungen im Anlaut unterliegen (Williams 1980; Stolz 1988). Tabelle 1 belegt dies für Nomina, deren lexikalische Grundform mit einem Plosiv anlautet, der in Kombination mit dem Possessivpronomen der 1. Person Singular fy ‘mein’ obligatorisch durch einen Nasal ersetzt wird. absolut pen tad car bys darlun gardd
possediert (fy) mhen (fy) nhad (fy) nghar (fy) mys (fy) narlun (fy) ngardd
Wechsel p > mh t > nh k > Ņh b>m d>n g>Ņ
Übersetzung (ein) Kopf - mein Kopf (ein) Vater - mein Vater (ein) Auto - mein Auto (ein) Finger - mein Finger (ein) Bild - mein Bild (ein) Garten - mein Garten
Tab. 1: Pronominale Possession im Kymrischen
Das Possessivpronomen ist fakultativ und fällt nicht nur umgangssprachlich sehr oft aus 5 . Die Anlautmutation (Typ: Nasalierung) bleibt jedoch bestehen, so dass die Angabe des Possessors allein durch die Modifikation der Segmentkette des lexikalischen Morphems geleistet wird: pen >S(Q@ ‘Kopf’ mhen >P+(Q@ ‘mein Kopf’. Die Zahl der Segmente bleibt dabei gleich – jeweils drei, ebenso sind beide Formen des Minimalpaars aus Lexikonform und possedierter Form monomorphisch. Allerdings ist die possedierte Form bimorphemisch, da sie neben der lexikalischen Bedeutung ‘Kopf’ auch noch die Information über den Possessor trägt. Es ist nicht möglich, das initiale Segment der possedierten Form morphologisch zu separieren, um ihm Morphemstatus zuzuweisen, da die verbleibende Segmentkette *en die Bedeutung ‘Kopf’ nicht mehr vertreten kann.
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Die possessivische Konstruktion kann insgesamt dreigliedrig sein, da es noch ein fakultatives postnominales Element gibt, dass ebenfalls den Possessor kodiert. Im Falle der 1. Person Singular wäre also fy nghar i ‘mein Auto’ die sogenannte emphatische Possessionskonstruktion, deren letzter Bestandteil den Stärkedruck tragen kann. Da es sich um eine pragmatisch markierte Konstruktion handelt, gehe ich auf sie im weiteren nicht ein.
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Mithin haben wir es bei mhen ‘mein Kopf’ mit einem PortmanteauMorph zu tun, das grammatische und lexikalische Information bündelt. Zwar ist die Konstruktion für den Possessor in der 1. Person Singular im Paradigma der pronominalen Possession im Kymrischen insofern ein Sonderfall, als in den anderen Personen das pränominale Possessivum viel seltener ausgelassen wird. Dennoch spielt auch in „vollständigen“ Possessionssyntagmen die Anlautmutation am possedierten Nomen mehrfach die entscheidende Rolle. Tabelle 2 zeigt das Schriftbild des Possessionsparadigmas für das Nomen car ‘Auto’. In der zweiten Zeile erscheinen die Possessivpronomina über den in der dritten Zeile angeführten Formen des possedierten Nomens. In der vierten Zeile wird angegeben, ob und wie mutiert wird. 1Sg (fy) nghar nasaliert
2Sg dy gar
3Sg.M ei gar leniert
3Sg.F ei char frikativiert
1Pl ein car
2Pl 3Pl eich eu car car Grundform
Tab. 2: Pronominal possediertes car ‘Auto’
Fettdruck hebt diejenigen Fälle hervor, die im Paradigma homophone Possessivpronomina beinhalten: in den 3. Personen beider Numeri ist das präverbale Possessivum trotz orthographischer Unterschiede immer >L!@, so dass mit seiner Hilfe allein nicht zwischen Singular und Plural bzw. zwischen maskulinem und femininem Possessor unterschieden werden könnte. Diese Unterscheidung wird jedoch vom konsonantischen Anlaut des Possessums geleistet, da er je nach Possessor eine andere Behandlung erfährt. Im Singular wird der Anlaut mutiert, im Plural nicht. Im Singular geht mit dem maskulinen Genus Lenition des Anlautes einher, das Femininum erfordert die Frikativierung. Ein Tripel aus den Syntagmen >L!JD!5@ >L!;D!5@ >L!ND!5@ liegt vor, die sich lediglich durch den wechselnden Anlaut des possedierten Nomens unterscheiden. Wieder ändert sich die Zahl der Segmente nicht und auch die Anzahl der Morphe bleibt gleich. Jedoch vertritt jede possedierte Form zwei Morpheme: das lexikalische und das grammatische. Da sich die grammatische Funktion nur durch die Modifikation der Segmentkette des lexikalischen Morphems ergibt, liegen wieder Beispiele für Portmanteau-Morphe vor. In Tabelle 3 rekapituliere ich die diachrone Entwicklung der pronominalen Possessionskonstruktion im Laufe der kymrischen Sprachgeschichte. Es ist die ein fiktives Beispiel anhand des Nomens car ‘Auto’, das von der 1. Person Singular possediert wird. Fettdruck hebt die Segmente hervor, die für die Beweisführung besonders interessant sind.
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Possessivum
Possessum
P\QQ P\11 P\11 P\ I\
FDU FDU 1KDU 1KDU 1KDU 1KDU
Prozess Ausgangssyntagma Progressive Assimilation Regressive Assimilation „falsche Abtrennung“ / Degeminierung Lenisierung Tilgung
Tab. 3: Fiktive Historie des Kymrischen
Die rekonstruierte Chronologie soll verdeutlichen wie eine rein satzphonetische Erscheinung – externer Sandhi – Schritt für Schritt morphologisiert wurde. Der ursprünglich auslautende Nasal des Possessivpronomens hat die partielle Assimilation des mit ihm in Kontakt stehenden Anlautkonsonanten des Nomens bewirkt. Die so zustande gekommene Nasalierung bleibt im weiteren erhalten, während ihr phonologischer Kontext verlorengeht. Die Anlautmutation ist ab dem Verlust des Auslautkonsonanten des Possessivums nicht mehr phonologisch motiviert, sondern morphologisch. Durch die zunehmende Optionalität des Possessivums fällt auch der letzte Konkurrent für den Status des Hauptmarkers fort. Das mutierte Segment ist kein Index mehr. Ein Segment, das ursprünglich keine eigene Funktion/Bedeutung hatte, übernimmt grammatische Funktionen – und bleibt gleichzeitig integraler Bestandteil der Segmentkette des lexikalischen Morphems, so dass jetzt ein Portmanteau-Morph gegeben ist. Es liegt keine Affixmorphologie vor, sondern innere Modifikation. Von Suppletivismus kann hingegen nicht die Rede sein, da die segmentale Modifikation systematisch nach produktiven Regeln erfolgt. 3.3. Fallbeispiel II: Estnischer Stufenwechsel Der kymrische Fall ist keine isolierte Erscheinung. Parallelen finden sich in einer beachtlichen Anzahl von Sprachen – und zwar auch solchen, die weder mit dem Kymrischen verwandt sind noch in seiner Nähe gesprochen werden. In den finno-ugrischen Sprachen gibt es das Phänomen des Stufenwechsels, das ursprünglich silbenphonologisch motiviert war (und dies im Standard-Finnischen auch weiterhin ist). Das Estnische dient hier als Beispiel für die Morphologisierung des Phänomens (Lavotha 1973). In der estnischen Deklination werden 14 Kasus unterschieden, von denen die allermeisten durch Suffixe kodiert werden. In verschiedenen Flexionsklassen zeichnen sich einige paradigmatische Positionen dadurch aus, dass die jeweiligen Wortformen keine Affixe enthalten, aber dennoch
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dadurch distinkt sind, dass mediale Konsonanten im lexikalischen Morphem einem systematischen Wechsel unterliegen. In der zweigeteilten Tabelle 4 führe ich einschlägige Fälle für die Kasuspaare NominativGenitiv und Nominativ-Illativ an. Fettdruck identifiziert diejenigen Segmente, die vom Stufenwechsel betroffen sind. Nominativ {teade} {teate}-{d} {mõte} {sõda} {komme}
Genitiv {teate} {teade}-{te} {mõtte} {sõja} {kombe}
Wechsel d~t d~t t ~ tt d~j mm ~ mb
Bedeutung ‘Nachricht’ ‘Nachrichten’ ‘Gedanke’ ‘Krieg’ ‘Sitte’
Nominativ {pesa} {käsitelu} {rida} {häda}
Illativ {pessa} {käsitellu} {ritta} {hätta}
Wechsel s ~ ss l ~ ll d ~ tt d ~ tt
Bedeutung ‘Nest’ ‘Behandlung’ ‘Reihe’ ‘Not’
Tab. 4: Nominalflexion im Estnischen
Der Stufenwechsel besteht hauptsächlich darin, dass kurze und lange Quantitäten der Konsonanten alternieren und/oder die Phonation von Segmenten umspringt. Die Segmentzahl bleibt (in der Regel) konstant. Die Wortformen bilden Minimalpaare, die sich oft nur hinsichtlich der Quantität und/oder der Phonation ihres medialen Konsonanten unterscheiden. Dieser mediale Konsonant ist selbst Teil der Segmentkette, die das lexikalische Morphem bildet. Synchron betrachtet sind die Wortformen in den obliquen Kasus in Tabelle 4 monomorphisch, aber bimorphemisch. Da in ihnen lexikalische und grammatische Information gebündelt wird, bilden sie wiederum Portmanteau-Morphe. Im Unterschied zum kymrischen Fall ist die Produktivität des Prozesses jedoch blockiert. Die Distribution von Nomina über Deklinationsklassen und damit der Einsatz von innerer Modifikation zum Ausdruck von Kasus ist nur schwach vorhersagbar. Da es für den Stufenwechsel in diesen und ähnlichen Fällen keine phonologischen Auslöser mehr gibt, lassen sich die Wortformen nicht automatisch nach generellen Regeln auseinander ableiten. Demnach liegt eine (eventuell nur schwache) Form von phonologischem Suppletivismus vor. Diachron hat sich der heutige Stand der Dinge aus folgender Situation entwickelt. Für wortmediale Konsonanten gab es zwei Erscheinungsformen. Entweder waren sie starkstufig oder schwachstufig. Welche Stufe
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zutraf, war davon abhängig, ob der wortmediale Konsonant als Kopf einer offenen oder geschlossenen Silbe fungierte: -K- Ⱥ [stark] /$__V$ (Konsonant ist Kopf einer offenen Silbe) -K- Ⱥ [schwach] /$__VK$ (Konsonant ist Kopf einer geschlossenen Silbe)
Suffixe, die an eine Grundform mit medialem Konsonanten gefügt wurden, konnten die Silbenstruktur verändern. So war der alte Genitivexponent rein konsonantisch -{n}, dessen Suffigierung offene Silben automatisch schloss, so dass starke mediale Konsonanten dann zur Schwachstufe wechselten (siehe Tabelle 5). Form {sõ KV$ {sõ KV$ {sõ KV$ {sõ KV$
da} KV$ da}-{n} KVK$ ja}-{n} KVK$ ja} KVK$
Silbe (Ultima) offen - Starkstufe
Morphologie monomorphisch
geschlossen - Starkstufe
bimorphisch
geschlossen - Schwachstufe
bimorphisch
offen - Schwachstufe
monomorphisch
Tab. 5: Fiktive Historie des Estnischen
In Tabelle 5 wird am Beispiel des Nomens sõda ‘Krieg’ die Diachronie der Genitivflexion nachgestellt. Der mediale Konsonant erscheint in Fettdruck, die Wortformen sind nach Silben untergliedert. Zunächst wurde der Grundform der Genitivexponent suffigiert. Die geschlossene Silbe bewirkte regelmäßig die „Abschwächung“ des medialen /d/ zu /j/. Im weiteren Verlauf der estnischen Sprachgeschichte gehen auslautende Nasale verloren, wovon auch der Genitivexponent betroffen ist, so dass es im heutigen Estnischen in keiner einzigen Flexionsklasse mehr einen suffixalen Genitiv gibt. Obwohl der Auslöser für den Stufenwechsel verloren geht und die Silbe jetzt (wieder) offen ist, bleibt aber die Schwachstufe des medialen Konsonanten erhalten. Solange das genitivische -{n} Bestand hatte, war der schwachstufige mediale Konsonant nur ein morphonologisch bedingter Index dafür, dass eine geschlossene Silbe vorlag und daher ein Suffix zu erwarten war. Mit dem Schwund des wortfinalen Konsonanten gewährleistet nur noch die Schwachstufe des medialen Konsonanten die Distinktivität der genitivischen Wortform gegenüber der nominativischen. Innere Modifikation leistet nun das, was ehedem die Affixmorphologie bewältigen musste.
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3.4. Fallbeispiel III: Rumänischer und albanischer Plural Zwei Mitglieder des Balkansprachbundes zeigen interessante Parallelen zu den bereits besprochenen Fällen. In der ost-romanischen Sprache Rumänisch und dem internen indogermanischen Isolat Albanisch, die beide reichlich Gebrauch von Affixmorphologie zum Ausdruck grammatischer Kategorien machen, tritt auch innere Modifikation auf, deren Geschichte ähnlich den obigen Schemata gestaltet ist. Bei einer großen Klasse von maskulinen Substantiven, deren singularische Zitierform auf einen Einzelkonsonant endet, wird im Rumänischen der Plural durch die Palatalisierung des Auslautkonsonanten symbolisiert (Beyrer/Bochmann/Bronsert 1987). In Tabelle 6 werden die Formen drac ‘Teufel (Sg.)’ und draci ‘Teufel (Pl.)’ in phonologischer Repräsentation miteinander verglichen. Die grau schattierten Felder enthalten die Segmente, die bei der inneren Modifikation relevant sind. 1 Morph 4 Segmente 1 Morph
G G
‘(ein) Teufel’ {Teufel} 5 D 5 D {{Teufel}{PL}} ‘(mehrere) Teufel’
k W6M
1 Morphem 1 Silbe 2 Morpheme
Tab. 6: Nominale Pluralbildung im Rumänischen
Wie das Beispiel zeigt, kann die Palatalisierung gleichzeitig auch Affrizierung bewirken und somit die phonologische Distanz zwischen Ausgangsund Zielform vergrößern. Dessen ungeachtet treffen alle in den vorangehenden Kapiteln gemachten Beobachtungen auch auf den rumänischen Fall zu: die Anzahl der strukturellen Einheiten (Segmente, Silben, Morphe) bleibt gleich, während inhaltsseitig eine Zunahme zu verzeichnen ist, da sich die Morphemzahl verdoppelt. Der palatalisierten Affrikata /W6M/ kann aber kein Morphstatus zugebilligt werden, da sie selber Teil der Segmentkette des lexikalischen Morphems ist und somit nicht abgetrennt werden kann. Es liegt mithin innere Modifikation vor, die ein Portmanteau-Morph mit lexikalischen und grammatischen Funktionen kennzeichnet. Da der Palatalisierungsprozess regelhaft und wohl auch noch produktiv ist, darf schwacher (= phonologischer) Suppletivismus ausgeschlossen werden. Für das Albanische beobachten wir ähnliche Prozesse mit ähnlichen Funktionen, auch wenn die Regeln allem Anschein nach nicht mehr produktiv sind (Buchholz/Fiedler 1987). In Tabelle 7 führe ich einschlägige Fälle aus dem Nominalbereich an, die (in orthographischer Wiederga-
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be) den Wechsel der wortfinalen Konsonanten zwischen Singular und Plural maskuliner Substantive belegen. Anders als im Rumänischen gilt die Palatalisierungsregel auch dann, wenn im Auslaut Konsonantengruppen stehen. Mittels Fettdruck identifiziere ich die an der inneren Modifikation beteiligten Segmente, die dann in der Spalte mit der Überschrift „Wechsel“ nochmals in IPA-Transkription erscheinen. Singular bujk peshk murg shtrig dell ishull flamur
Plural bujq peshq murgj shtrigj dej ishuj flamuj
Wechsel N>F J>Î >M 5>M
Übersetzung Bauer-Bauern Fisch-Fische Mönch-Mönche Hexer Ader-Adern Insel-Inseln Fahne-Fahnen
Tab. 7: Modifikatorische Prozesse im Albanischen
Wie im Rumänischen werden Segmente des lexikalischen Morphems modifiziert bzw. substituiert. Die phonologische Distanz zwischen Ausgangs- und Zielform ist dabei bisweilen sehr groß (etwa wenn die Liquiden mit dem palatalen Approximanten wechseln). Da die Vorhersagbarkeit der Substitutionen nicht grundsätzlich gewährleistet ist, grenzen die albanischen Fälle an den schwachen phonologischen Suppletivismus. Für beide Balkansprachen dürfen wir ein ähnliches historisches Szenario annehmen. Ich beziehe mich hier explizit jedoch nur auf das Rumänische, dem ich folgenden Entwicklungsgang unterstelle: (a) Morphologie PLURAL Ⱥ -{/i/} /[+maskulin] (b) (Mor)Phonologie 1. -K Ⱥ [+palatal] /__ /i/ 2. -K Ⱥ [+affriziert] / [+velar; +palatal] (c) Schwächung -V Ⱥ 0 /$__# (d) Reanalyse PLURAL Ⱥ -K [+palatal] /[+maskulin]
{drak}-{i} {drak- }-{i} {draW6- }-{i} {draW6- }(-{i}) {draW6- }
Ein ursprünglich bedeutungsleeres Segment des lexikalischen Morphems entwickelt sich in einer bestimmten morphonologischen Umgebung zum Index, indem es auswärtssensitiv die Palatalität des nachfolgenden Vokals im Plural antizipiert. Mit dem Schwund des eigentlichen Pluralzeichens bleibt dessen Palatalisierungsprodukt übrig, das nun allein die Numerusangabe leistet. Ein bloßes Segment ist über die Stufe eines Indexes zu
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einem Exponenten geworden, der wieder Teil eines Portmanteau-Morphs ist. 3.5. Fallbeispiel IV: Lettische verbale Personenmarker Die baltische Sprache Lettisch (Eckert/Bukeviÿiştė/Hinze 1994; Stolz/ Urdze 2001) zeichnet sich gegenüber ihrer konservativen Schwester Litauisch durch eine Tendenz zum Abbau suffixaler Distinktionen aus, wofür partiell der obligatorische Initialakzent des Lettischen verantwortlich ist. Ungeachtet der Tatsache, dass im Zuge der phonologischen Schwächung von Auslautsilben eine Reihe von Affixen indistinkt geworden ist oder ganz verloren ging, sind bestimmte grammatische Kategorien in ihrem Bestand noch ungefährdet. Dies gilt beispielsweise für die 2. Person Singular der lettischen Verben. Die Personalaffixe lettischer Verben (nicht-reflexive Formen) sind in Tabelle 8 aufgeführt. Dabei fällt auf, dass es außer bei der 1. Person Singular überall Variation gibt, die für die 2. Person Singular (= fett) und die numerusneutrale 3. Person neben einem rein vokalischen Affix auch {0} vorsieht. 1 -{u}
Singular 2 -{i} 0
3 -{a} 0
1 -{am} -{Þm}
Plural 2 -{at} -{Þt}
3 -{a} 0
Tab. 8: Nicht-reflexive Personenmarker im Präsens
Was hat es nun mit diesem vermeintlichen „Nullmorphem“ auf sich? Das Fehlen eines spezialisierten Suffixes zur Kennzeichnung der 2. Person Singular ist ein relativ spätes Phänomen, das in etwa wie folgt zustande gekommen ist: 1. ursprünglich hatten alle primären 6 Verben für die 2. Singular -{i}, 2. durch Endsilbenschwächung fielen ungedeckte Kurzvokale aus, 3. heute haben viele primäre Verben der 1. Konjugation kein Personalsuffix für die 2. Singular mehr, 4. das alte Suffix -{i} hatte einwärts morphonologische Auswirkungen: 4.1 mittelhohe Wurzelvokale wurden angehoben,
_____________ 6
Als primär werden solche Verben bezeichnet, die keinen Themavokal aufweisen. Sie haben daher einsilbige Infinitivformen, sofern sie keine Aspektpräfixe tragen.
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4.2 4.3
auslautende velare Stammkonsonanten wurden affriziert, auslautende Stammkonsonanten mit dem Merkmal [+palatal] wurden depalatalisiert (Dissimilation). Das heißt, dass der Verlust des Suffixes durch die morphonologischen Auswirkungen des ursprünglichen hohen Vokals auf die Segmente des lexikalischen Morphems kompensiert wird. Die entsprechenden Muster für die Kodierung der 2. Person Singular und der 3. Person von sogenannten primären Verben sind in Tabelle 9 aufgeführt. In eckigen Klammern gebe ich die IPA-Transkription für die in der offiziellen Orthographie nicht unterschiedenen Vokalqualitäten an. 2. Sg las-i salst-i jijt-i brauc ôd [H] slôdz [H] met [H] ~ [H] lec [H] ~ [H] nÞc sÞc bôdz [H] dôdz [H] pijt lauz cel [H] kÞp
3. Sg./Pl. las-a salst jijt brauc ôd [4] slôdz [4] met [4] lec [4] nÞk sÞk bôg [4] dôg [4] pijš lauž ceč [H] kÞpj
Bedeutung lesen frieren fühlen fahren essen schließen werfen springen kommen beginnen laufen brennen blasen brechen heben steigen
Phänomen zwei distinkte Suffixe ein distinktes Suffix ein distinktes Suffix Identität Vokalanhebung Vokalanhebung Vokalanhebung Vokalanhebung Affrizierung Affrizierung Affrizierung/Vokalanhebung Affrizierung/Vokalanhebung Depalatalisierung Depalatalisierung Depalatalisierung Depalatalisierung
Tab. 9: Muster der Personalmarkierung bei primären Verben
In einer sehr großen Zahl von Verben sind die 2. Person Singular und die 3. Person in beiden Numeri nicht durch distinkte Personalaffixe gekennzeichnet, sondern unterscheiden sich nur durch die Anwendung verschiedener modifikatorischer Prozesse am/im lexikalischen Morphem. Dies betrifft die Höhe des Vokals im lexikalischen Morphem (mittel versus tief) und/oder die Qualität des auslautenden Konsonanten (palatal versus nicht-palatal, plosiv vs. affriziert). Für den vokalischen Bereich lässt sich relativ leicht die folgende Chronologie der Ereignisse als Folge diachroner Entwicklungsschritte darstellen:
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1. 2. 3. 4.
2Sg {ôd}-{i} 3Sg/Pl {ôd}-{a} Suffigierung (bimorphisch) 2Sg {[H]d}-{i} 3Sg/Pl {[4Ø]d}-{a} „Vokalharmonie“/Morphonologie (bimorphisch) 2Sg {[H]d}(-{i}) 3Sg/Pl {[4Ø]d(-{a}) Endsilbenschwächung und -schwund 2Sg {[H]d} 3Sg/Pl {[4Ø]d} Modifikatorische Morphologie (monomorphisch)
Allein die Vokalqualität unterscheidet heute die beiden Verbalformen. Ein Segment des lexikalischen Morphems leistet das, was zuvor zu den Aufgaben eines speziellen Affixes gehörte. Die Segmentzahl, die Silbenzahl und die Morphzahl ist auf Stufe 4 für beide Wortformen gleich. Ein Portmanteau-Morph ist entstanden. Da die Vokalanhebung sonst nur dann erfolgt, wenn ein /i/ in der Folgesilbe phonologisch realisiert ist, kann die Vokalalternanz in den obigen Beispielen nicht vorhergesagt werden, womit die Wortformen in die Nähe von schwachem phonologischem Suppletivismus rücken. Mit Tabelle 10 werfen wir einen Blick auf die Modifikation der Auslautkonsonanten. Der velare Plosiv /N/ ist genauso Teil des lexikalischen Morphems wie seine Entsprechung, die Affrikata /WV/. Kategorie
2Sg 3Sg/Pl
1 Q Q 1
{komm} + {2} + {SG} 1 Morph 2 3 $Ø WV $Ø N 2 3 1 Morph {komm} + {3}
3 Morpheme 3 Segmente Affrikata Velarer Plosiv 3 Segmente 2 Morpheme
Tab. 10: Formen von nÞkt ‘kommen’
Die wesentlichen Aspekte, die sich in Bezug auf die Tabelle 10 ergeben, lassen sich stichpunktartig zusammenfassen: x die Affrikata /WV/ ist kein „Morph“ (ebensowenig der Plosiv /k/), x /Q$ØWV/ und /Q$ØN/ sind monomorphisch, x Affrizierung /N/ > /WV/ ist keine produktive phonologische Regel (mehr), d.h. dass /Q$ØWV/ und /Q$ØN/ nicht automatisch auseinander ableitbar sind, x ein phonologisch plausibler Auslöser fehlt (synchron), x beide Wortformen sind (mindestens) bimorphemisch,
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x
ergo handelt es sich um Portmanteau-Morphe, die lexikalische und grammatische Information bündeln, x die Affrikata /WV/ ist kein Index mehr, aber auch kein vollgültiges Symbol. Die Geschichte wiederholt sich mithin auch im Lettischen: aus einem rein phonologischen Element wird über ein indexikalisches Stadium schließlich der Hauptmarker der grammatischen Kategorie, während der alte Hauptmarker von der Bildfläche verschwindet. Im Unterschied zu den bisher diskutierten Fällen ist im Lettischen allerdings parallel zur Indexanhebung auch die zunehmende Obligatorisierung des Subjektpronomens beim finiten Verb zu beobachten. So würde es in der modernen Sprache vorzugsweise tu nÞc ‘du kommst’ und viĕš nÞk ‘er kommt’ heißen – also mit Subjektpronomen. Allerdings ist deren Setzung noch nicht zu 100% verbindlich, so dass Konstruktionen ohne tu und viĕš weiterhin verständlich bleiben, wenn auch hoch markierten Sprachgebrauch darstellen.
4. Bilanz Die Beispielschau hat die übereinzelsprachliche Rekurrenz von bestimmten Mustern ergeben. In Sprachen verschiedener genetischer und arealer Zuordnung kommt es zu ähnlichen Prozessen, die allesamt darin bestehen, dass ursprünglich bedeutungslose Teile einer Segmentkette – hier vornehmlich Einzelsegmente – im grammatischen Sinne funktionalisiert werden. Aus etwas, das zu einem Zeitpunkt t 1 keine grammatische Funktion hatte, wird etwas, das zum späteren Zeitpunkt t 1+n eine grammatische Funktion ausübt. Es liegt daher nahe, die geschilderten Vorgänge unter Grammatikalisierung zu rubrizieren. Wie in der Einleitung bereits gesagt ist der Aufstieg vom Segment über den Index zum grammatischen Ausdrucksmittel jedoch anderer Art als die Fälle klassischer Grammatikalisierung. Wird bei letzterer typischerweise eine Konstruktion funktionalisiert, in der ein Lexem vorkommt, das sich aufgrund seiner semantischen Eigenschaften für den Ausdruck einer bestimmten grammatischen Kategorie eignet, ist es bei der Indexanhebung so, dass Semantik im eigentlichen Sinne gar keine Rolle bei der Auswahl des zu grammatikalisierenden Segments spielt. Was an sich bedeutungslos ist, eignet sich entweder für alles oder gar nichts. Will sagen: Segmente bringen keine spezielle Qualifikation mit, die irgendwelche zugrundeliegende kognitive Muster abbilden. Segmente müssen daher auch gar nicht erst desemantisiert werden, um grammatische Funktionen übernehmen zu können. Andere Parameter der Grammatikalisierung (Lehmann 1995) müssen auch nicht speziell betrachtet werden, weil sie durch den Segmentstatus des Elementes praktisch
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schon erfüllt sind (so z.B. der hohe Bindungsgrad, die fehlende syntagmatische Variabilität). Wichtig festzustellen ist, dass grammatikalisierte Segmente natürlich an paradigmatischer Kohärenz gewinnen. Ihr Skopus erweitert sich jedoch und semantische „Masse“ wird erst erworben. Besonders dieser Umstand der semantisch „voraussetzungslosen“ Funktionalisierung hat natürlich auch Rückwirkungen auf die allgemeine Theorie der Grammatikalisierung, für die konzeptuelle Grundlagen ausschlaggebend sind. Wenn man Grammatikalisierung haben kann – ohne Semantik, stellt man dann nicht gleich alles in Frage, was das Primat der Inhaltsseite angeht? Das Kind sollte nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Die Fallbeispiele zeigen ja, dass es sich bei der Indexanhebung um Prozesse handelt, die als „Verschiebung von grammatischer Information in das lexikalische Morphem“ charakterisierbar sind. Verschiebung besagt auch, dass die grammatische Information vor der Indexanhebung bereits außerhalb des lexikalischen Morphems kodiert wurde. Tatsächlich beobachten wir, dass die Indexanhebung mit dem Verlust von spezialiserten Morphemen (gebundenen oder freien) einhergeht, d.h. dass wir es inhaltsseitig im Endergebnis nicht mit Innovation zu tun haben, sondern nur ausdrucksseitige Renovation gegeben ist: eine Kategorie, die es schon gab, erhält einen anderen Standardausdruck (Lehmann 1995). Die absolute Erstentstehung von Grammemen durch Indexanhebung wäre ein Widerspruch in sich, da ja das Stadium des Indexes per definitionem erfordert, dass auf etwas anderes mit Hauptmarkerfunktion verwiesen wird. Dass Segmente gewissermaßen ganz spontan neue Kategorien ausdrücken, habe ich bislang nicht beobachten können. Außerdem bringt es der zwischenzeitliche Indexstatus mit sich, dass es eine Phase geben kann, in der die Kombination aus Index und Hauptmarker („Symbol“) in einer Wortform als Instanz von erweiterter Exponenz („extended exponence“ im Sinne von Matthews 2000) verstanden werden könnte, womit die Grenzen des morphem-basierte Ansatzes überschritten würden. Wir hätten es dann mit einem (wie auch immer zu deutenden) mehrgliedrigen Ausdruck zu tun, der gemeinsam eine grammatische Funktion ausübt. Ein Teil dieses mehrgliedrigen Ausdrucks geht dann verloren, während der verbleibende Rest die schon zuvor ausgeübte Funktion weiter beibehält. Die vermeintliche Grammatikalisierung würde dann eigentlich „nur“ morphologische Reanalyse sein – und zwar Reanalyse hinsichtlich des segmentalen Umfangs des Exponenten, der vom Hauptmarker ausgehend dann auch seine morphonologischen Konsequenzen mit umfasst, die dann zuguterletzt zum eigentlichen Exponenten werden.
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Wenn wir Indexanhebung als Grammatikalisierung akzeptieren wollen, weil wir den Terminus so verstehen, dass er die Entstehung von Grammemen zum Gegenstand hat, dann müssen wir mindestens zwei Arten von Prozessen zulassen, nämlich solche, die semantisch-basiert sind und solche, die ohne semantischen Eignungstest funktionieren. Eine gemeinsame Klammer für beide Arten von Grammatikalisierung zu finden, dürfte schwieriger ausfallen, als dies bei den klassischen Beispielen der Fall war. Die Unidirektionalitätsannahme ist durch die Erweiterung der Prozesstypologie eigentlich nicht betroffen, weil wir es bei Indexanhebung nicht um Invertierung von Grammatikalisierung zu tun haben. Wie immer man sich von Seiten der Grammatikalisierungsforschung zu diesen Belegen stellen wird, eines wird durch die Beispiele klar: Indexanhebung ist keine diachrone Nebensächlichkeit, sondern ein durchaus rekurrenter Prozess, dessen Gewicht für die diachrone Morphologie erst noch genauer bestimmt werden muss. Ob es typologische oder sonstige (eventuell außer-strukturelle) Restriktionen gibt, werden künftige Untersuchungen zu klären haben. Diese werden uns auch weitere Einsichten in die Entstehung von innerer Modifikation, Portmanteau-Morphen und schwachem Suppletivismus geben, die morphologisch von großem Interesse sind (Ronneberger-Sibold 1980, 1988).
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Semantische Verstärkung, De-Idiomatisierung und Re-Kontextualisierung
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Zum Verhältnis von Verstärkungsprozessen und Grammatikalisierung 1. Einleitung Verstärkungsprozesse und Grammatikalisierung werden oft als gegenläufige Sprachwandelerscheinungen betrachtet und in direkte Opposition gebracht. Im folgenden Beitrag wird eine Akzentverschiebung vorgeschlagen mit dem Ziel, einige unnötige Komplikationen aufzulösen und durch eine Ausweitung der Perspektive scheinbar Gegenläufiges zu integrieren. Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen ist die Studie von Harnisch (2004), in der er Verstärkungsprozesse im Rahmen einer Theorie der Sekretion verortet und die Frage aufwirft, in welchem Verhältnis die morphosemantischen Aufbauprozesse der Sekretion zu den in Grammatikalisierungsvorgängen beobachtbaren, viel häufigeren Abbauprozessen stehen. Diese Frage aufgreifend konzentriert sich die folgende Diskussion auf drei Punkte: x Es wird die These aufgestellt, dass die über (re)konstruktionellen Ikonismus motivierten Wandelprozesse eine Spielart des analogischen Wandels darstellen. x Es werden einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis zwischen morphosemantischen Reduktions- und Verstärkungsprozessen und zu ihrem Stellenwert für die Definition von Grammatikalisierung angestellt. x Ausgehend von der bekannten Tatsache, dass Verstärkungsoperationen – also formale und semantische Anreicherung – auch bei Grammatikalisierungsprozessen in katalytischer Funktion wirksam sind, wird das rhetorische Mittel der Personifikation als Verstärkungsprozess mit möglichen Einflüssen auf Grammatikalisierungsvorgänge untersucht. Zunächst erfolgt eine kurze Zusammenfassung von Harnisch (2004), soweit dies für die weitere Argumentation nötig ist, in den Abschnitten 3 bis 5 werden dann die genannten Punkte der Reihe nach erörtert.
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2. Verstärkungsprozesse nach Harnisch (2004) Harnisch geht von Lehmanns Modell der Grammatikalisierung und Lexikalisierung aus, das hier als Diagramm 1 wiedergeben ist (vgl. auch Lehmann 2002: 3):
Diagramm 1: Lexikalisierung und Grammatikalisierung (aus Lehmann 2004: 168)
Auf der horizontalen Achse sind das Lexikon und die Grammatik als gegenüberliegende Pole angeordnet. Das Lexikon auf der linken Seite ist definiert als der Bestand an holistischen und idiosynkratischen Einheiten, die Grammatik auf der rechten Seite enthält das System regulärer grammatischer Einheiten. Zwischen beiden Polen ergibt sich ein im Prinzip stufenloser Übergang, der im Diagramm als Verlauf der Graustufung erscheint. Die vertikale Dimension des Diagramms bildet die verschiedenen Strukturebenen der linguistischen Organisation ab. Am oberen SkalenEnde dieser Konstruktionsebenenhierarchie befinden sich kompositionelle Einheiten komplexerer Konstruktionsebenen, am unteren Ende finden sich nicht-kompositionelle Einheiten, wobei ungeachtet des prinzipiell graduellen Verlaufs der Skala mit Harnisch die Positionen „Phrase – Wort – Morphem – Submorphem – pure lautliche Substanz“ als markante Eckpunkte zwischen „statushöheren“ und „statusniedrigeren“ Konstruktionsebenen angesetzt werden können (Harnisch 2004: 212). Die Dynamik des Wandels wird durch die beiden Pfeile markiert, die aus der Mitte des oberen Randbereichs, also des Bereichs, in dem die freie Kombination lexikalischer Einheiten angesiedelt ist, in die beiden unteren Eckbereiche zielen. Der Pfeil, der von freien Syntagmen nach links unten ins Lexikon führt, symbolisiert den Prozess der Lexikalisierung, der Pfeil,
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der von freien Syntagmen nach rechts unten in die Grammatik führt, symbolisiert Grammatikalisierung. Gemeinsam ist beiden Tendenzen, dass sie durch Reduktionsprozesse – also durch den Verlust der Autonomie der beteiligten Formen und durch Fusion – gekennzeichnet sind. Reduktionsprozesse sind somit blind bzw. indifferent gegenüber der „Ziel“Richtung des Wandels. 1 Sie führen gleichermaßen ins Lexikon und in die Grammatik. Der in diesem Diagramm dargestellte Prozess des Weniger-Werdens, also der Wandel von freien Syntagmen zu den gebundenen Einheiten in den unteren Ecken, ist der häufigste. Der gegenläufige Prozess eines Mehr-Werdens, der aus den unteren Ecken nach oben führt, ist erheblich seltener anzutreffen. In Abhängigkeit vom Ausgangspunkt der Veränderung, wird das Mehr-Werden entweder als De-Grammatikalisierung (bei einem Ausgangspunkt rechts unten) oder als Volksetymologie (bei einem Ausgangspunkt links unten) bezeichnet; letzteres wird von Harnisch DeLexikalisierung genannt. De-Grammatikalisierung ist definiert als komplexer Prozess, der zugleich mehrere Teilprozesse beinhaltet, nämlich den Verlust an paradigmatischer Integration, die Erlangung morphologischer Autonomie, die Hinzugewinnung lexikalischer (referentieller, deskriptiver) Bedeutung. DeLexikalisierung hingegen besteht in der Loslösung einer Einheit aus dem Inventar, der Aufgabe morphologischer Integriertheit, der Neusegmentierung von Morphemen als kompositionellen Bedeutungsbestandteilen. 2 Harnisch plädiert völlig zu Recht für eine stärkere Beachtung dieser zweiten Prozessrichtung, die zu Anreicherung – d.h. zu semantischer ReMotivierung und formaler Re-Segmentierung – führt. Dementsprechend modifiziert er das Lehmannsche Schema so, wie es in Diagramm (2) wiedergegeben ist.
_____________ 1 2
Es scheint nicht überflüssig, hier anzumerken, dass mit dem Terminus „Zielrichtung“ keine deterministische Interpretation von Sprachwandelvorgängen verbunden ist. Die Debatte nach dem Stellenwert der De-Grammatikalisierung bzw. der Lexikalisierung – die immer auch eine Klärung der verwendeten Terminologie voraussetzt – ist seit Beginn der neueren Grammatikalisierungsforschung intensiv geführt worden und muss hier nicht wiederholt werden; siehe hierzu z.B. Wischer (2000), Van der Auwera (2002), Diewald (2004).
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De-Grammatikalisierung Statusanhebung Bedeutungsspezifizierung Konstruktionsebene: Phrase (Volksetymologie)
Wort
Lexikalisierung
De-Lexikalisierung
Morphem
Desegmentierung
Resegmentierung
Sub-
Demotivierung
Remotivierung
morphem pure Lautsubstanz
Grammatikalisierung Statusminderung Desemantisierung Komplexitätsgrad: holistisch
analytisch
irregulär
regulär
opak
transparent
Diagramm 2: Prozesse und Gegenprozesse auf den (De-) Lexikalisierungsund (De-) Grammatikalisierungs-Achsen (Harnisch 2004: 211)
Die dicken Pfeile im Diagramm signalisieren die von Harnisch ins Zentrum gerückten anreichernden morphologischen Reanalyseprozesse. Zur Illustration sind einige seiner Beispiele unter Punkt (1) wiedergegeben: (1) Beispiele für Verstärkungsprozesse nach Harnisch (2004: 215f.) a. Thüringisch unser-Ø Hund > uns-er Hund wie brav-er Hund unser-e Katze >> uns-e Katze wie gut-e Katze unser-Ø Lamm >> uns-es Lamm wie zart-es Lamm b. Ostfränkisch hinter > hint -er >> zwisch -er neb -er geg -er
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c. Erstspracherwerb crem > >>
(ich)
creb-en creb
‘cremen’
In (1a) liegt ein suffixabspaltender Prozesse aus dem Thüringischen vor. Das Possessivpronomens unser wird nicht mehr als ein Simplex angesehen, das im ‘Nominativ Singular maskulin’ endungslos bleibt (unser-Ø Hund), sondern die Lautsubstanz -er wird als morphologischer Anzeiger des Maskulinums reanalysiert (uns-er Hund wie brav-er Hund), der dann durch das Femininumsuffix e (uns-e Katze wie gut-e Katze) oder das Neutrum -es (uns-es Lamm wie zart-es Lamm) substituiert werden kann. Ähnlich liegt der Fall bei den ostfränkischer Präpositionen wie hinter, unter und über in (1b). Deren Wortausgang auf -er, der etymologisch nur Bestandteil des holistischen Präpositionalstamms ist, wird als Präpositionalsuffix abgespalten. In einem zweiten Schritt wird dieses neue Suffix auch an andere Präpositionalstämme angefügt, wo es den etymologisch gegebenen Wortausgang auf -en substituiert, so dass sich die ostfränkischen Formen zwisch-er, neb-er, geg-er usw. statt zwisch-en, neb-en, geg-en ergeben. (1c) schließlich ist ein Beispiel aus dem Spracherwerb: Hier wird ein unterstellter Verschmelzungsprozess rückgängig gemacht, indem scheinbar elidierte Substanz wieder eingefügt wird, d.h. aus dem Element crem wird das Verb creben rekonstruiert (vergleichbar mit klem > kleben). Bei den von Harnisch behandelten Verstärkungsprozessen geht es somit zum einen um Neusegmentierung und semantische Anreicherung von überflüssiger Substanz, zum andern um die Hinzufügung formaler Substanz bei semantischer Komplexität, d.h. um die Substanziierung von Bedeutung. Für die Herleitung der Motive und Faktoren dieser Prozesse beruft sich Harnisch auf die Theoreme der Markiertheitstheorie Wurzelscher und Mayerthalersche Prägung. Er zeigt, dass die Veränderungen, die die Sprachteilnehmer am Sprachmaterial vollziehen, über das Prinzip des konstruktionellen bzw. re-konstruktionellen Ikonismus erklärt werden können, mit dem die (Wieder-)Herstellung von guten Form-InhaltsBezügen erfasst wird (2004: 225) und das Harnisch wie folgt umschreibt: Es lässt sich als Tendenz beschreiben, Ausdruckssubstanz und semantische Markiertheit nicht nur in der Weise in Übereinstimmung zu bringen, dass Inhalt ausgedrückt sein will, sondern auch, dass Ausdruck Inhalt bekommen will. (Harnisch 2004: 230)
Das Prinzip des Rekonstruktionellen Ikonismus, das laut Harnisch eher hörer- als sprecherseitig motiviert ist (2004: 230), steuert somit die Verstärkungsprozesse der De-Grammatikalisierung und De-Lexikalisierung bzw. Volksetymologie.
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3. Re-konstruktioneller Ikonismus und analogischer Wandel Im Folgenden wird dafür argumentiert, dass die durch re-kontruktionellen Ikonismus gesteuerten Sprachwandelprozesse als eine Art der Analogie beschrieben werden können. Auch dies wird von Harnisch (2004) kurz angesprochen und es wird festgehalten, dass Analogie bei allen (Wieder-)Aufbau-Prozessen insofern eine Rolle spiele, als „Analogie die Befriedigung des Bedürfnisses nach (Wieder-)Herstellung von konstruktionellem Ikonismus erleichter[e]“ (2004: 229). Ich möchte hier noch einen Schritt weiter gehen und nicht nur von der Beteiligung von Analogie sprechen, sondern die Verstärkungsprozesse, die Harnisch anspricht, direkt als eine Unterklasse von analogischem Wandel einordnen. Wie Hermann Paul (1995 [1920]: 106-120) dargelegt hat, basiert analogischer Wandel auf der Herstellung von Proportionsgleichungen, das heißt, auf der Übertragung einer Relation von einer mustergebenden Domäne in ein andere. Der Terminus re-konstruktioneller Ikonismus, meint – so lässt es sich aus den gegebenen Definitionen ableiten – genau dieses: die Herstellung bzw. Wiederherstellung einer Form durch proportionale Angleichung an ein bekanntes Muster. Es geht also um die Rekonstruktion einer bereits bestehenden Form-Funktions-Zuordnung. Die unter Nummer (1) angeführten Beispiele sind typisch hierfür, und Harnisch selbst betont für Fälle wie in (1c), dass die Bildung einer Form creben aus crem nur auf der Basis der Annahme eines vorausgegangenen Verschmelzungsprozesses, der dann vom Sprecher vermeintlich wieder entschmolzen wird, erklärbar ist. Also nur dann, wenn der Sprecher weiß, dass Lautketten wie /e:bԥn/ zu /e:m/ assimiliert und verschmolzen werden können, kann er in der umgekehrten Richtung /HØEQ/ aus /HØP/ re-konstruieren (Harnisch 2004: 225f.). Für jeden dieser Prozesse muss somit ein geeignetes Muster vorhanden sein, das als Vorbild für die ikonische Rekonstruktion dient. Dies kann m. E. ohne Zweifel als ein Fall von analogisch gesteuertem Wandel betrachtet werden. Die Frage, die sich nun möglicherweise erhebt, ist die nach dem Gewinn einer solchen Zuordnung. Welchen Nutzen hat es also, festzuhalten, dass auf re-konstruktionellem Ikonismus basierende Veränderungen analogischer Wandel sind? Ich möchte behaupten, dass mit dieser Zuordnung ein Problem beseitigt werden kann, das in der Grammatikalisierungsforschung und vor allem bei deren Kritikern schon mehrfach zu Verwirrung geführt hat, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Analogie und Grammatikalisierung. Analogie ist nicht nur einer der zentralen Mechanismen des Sprachwandels, sondern Analogie steht in einem besonderen Verhältnis zur Grammatikalisierung. In Meillets be-
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rühmtem Aufsatz wird Analogie im gleichen Atemzug mit Grammatikalisierung genannt, und zwar als „das andere Prinzip“, das außer der Grammatikalisierung zur Entstehung grammatischer Formen führen kann. Die zentrale Stelle bei Meillet lautet: Les procédés par lesquels se constituent les formes grammaticales sont au nombre de deux; tous les deux sont connus […]. L’un de ces procédés est l’analogie; il consiste à faire une forme sur le modèle d’une autre; […]. L’autre procédé consiste dans le passage d’un mot autonome au role d’élément grammatical. […]. (Meillet 1926: 130f.)
Analogischer Ausgleich und Grammatikalisierung sind also gleichermaßen an der diachronen Restrukturierung grammatischer Paradigmen beteiligt. Die beiden Prozesse sind dabei logisch unabhängig voneinander. Sie können isoliert wirken, aber auch gemeinsam in verschiedenen Stadien eines Sprachwandelvorgangs auftreten. Keinesfalls stehen sie in einem konträren Verhältnis zueinander, weshalb der eine Prozesse nicht als gegenläufig zum anderen betrachtet werden kann. 3 Da nun die Verstärkungsprozesse, die Harnisch beschreibt, als Subtypus des analogischen Wandels klassifiziert werden können, sind sie ebenfalls unabhängig von Grammatikalisierungsprozessen. Das heißt, auch hier handelt es sich nicht um eine gegenläufige Tendenz zur Grammatikalisierung, sondern um einen anderen Typus von Sprachwandel, der u.a. auch bei der Restrukturierung von grammatischen Paradigmen auftreten kann.
4. Reduktion und Verstärkung Das Verhältnis von rekonstruktionellem Ikonismus und Grammatikalisierung steht im Kontext der weitergehenden Frage nach der Beteiligung von Reduktion und Verstärkung bei der Grammatikalisierung bzw. Degrammatikalisierung. Wie im letzten Abschnitt aus dem Diagramm Lehmanns und der Adaptation durch Harnisch deutlich wurde, sind Reduktionsprozesse nicht auf Grammatikalisierung beschränkt, sondern finden gleichermaßen bei Lexikalisierung statt (Harnisch 2004: 213, 217, Lehmann 2004). Aus dieser unbestrittenen Beobachtung ergibt sich m. E. folgender Schluss: Wenn Reduktions-Erscheinungen nicht auf Grammatikalisierungsprozesse beschränkt sind, dann können sie auch nicht das Alleinstellungsmerkmal von Grammatikalisierungsprozessen sein, was häufig zwar nicht explizit geäußert, aber doch implizit unterstellt wird. Reduktionspro-
_____________ 3
Diese Erkenntnis lässt sich in analoger Weise auf die Debatte nach dem Verhältnis von Grammatikalisierung und Reanalyse übertragen, die in den letzten Jahren intensiv und mit bislang offenen Ergebnis geführt wurde.
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zesse sind ohne Zweifel ein typischer und markanter Bestandteil von Grammatikalisierungsprozessen, doch Grammatikalisierung ist nicht identisch mit Reduktion. Grammatikalisierung bedeutet Integration in ein grammatisches Paradigma und Erwerb der damit verbundenen grammatischen Regeln, also Paradigmatisierung und Obligatorifikation (Lehmann 1985, 2002, 2004). Ferner ist Grammatikalisierung immer verbunden mit dem Erwerb neuer Funktionen und Bedeutungen, die in ihrer Essenz nicht von Reduktionsprozessen abhängen. Dieses Faktum wurde seit den Anfängen der neueren Grammatikalisierungsforschung immer wieder betont. Insbesondere Traugott hat vielfach darauf hingewiesen, dass in den Frühphasen der Grammatikalisierung pragmatische Verstärkungsprozesse stattfinden, die zu semantischer Anreicherung führen, so dass die Vorstellung einer linearen und ausschließlichen semantischen Ausbleichung bei Grammatikalisierungsprozessen, den Sachverhalt nicht korrekt wiedergibt (z.B. Traugott 1988: 407f.). In jüngster Zeit wurde dieses Faktum z.B. in Lehmann (2004) oder Traugott (2005) erneut thematisiert. Die einfache Gleichung „Grammatikalisierung = formale und semantische Reduktion“ ist also nicht zutreffend. Dies wird jedoch häufig nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit hervorgehoben. Selbst Harnisch scheint – trotz der grundsätzlichen Erkenntnis der Blindheit von Reduktion gegenüber der Zielrichtung von Wandelvorgängen – an manchen Stellen in verkürzender Weise Grammatikalisierung mit Reduktion gleichzusetzen, so zum Beispiel wenn es heißt: „Trotzdem wird im Folgenden weiter von Grammatikalisierung gesprochen, wenn generell Statusminderung von sprachlichen Einheiten und Desemantisierung gemeint ist […]“ (Harnisch 2004: 214, Fußnote 5). Von Gleichsetzung dieser Art ausgehend ist es nicht weit zur Annahme eines konträren Verhältnisses, d.h. eines systematischen Gegensatzes, so dass jede Verstärkung – weil eben sie den Gegenprozess zur Reduktion darstellt – zugleich auch als De-Grammatikalisierung gebucht werden muss. Da sich die anhaltende Debatte über vermutete Fälle von DeGrammatikalisierung häufig aus dieser Art von Verkürzung speist, scheint es angeraten, hier auf maximale Differenzierung und terminologische Genauigkeit wert zu legen, auch um den Preis des Verlustes von einfachen, jedoch nur scheinbar klaren Oppositionen. Nach der Klärung des Reduktionsbegriffs und seines Zusammenhangs mit Grammatikalisierung sind einige Erläuterungen zur Verstärkung am Platze. Ebenso wie die Reduktion betrifft auch die Verstärkung gleichermaßen die Form- wie die Inhaltsseite der Sprache. Verstärkungsprozesse sind somit nicht nur die von Harnisch untersuchten Re-Konstruktionen ikonischer Form-Inhalts-Entsprechungen, die Harnisch als „heilende“, d.h. der Verdeutlichung, der kognitiven Optimierung, verpflichtete Pro-
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zesse beschreibt (und die somit dem weit verstandenen Motivkomplex der Ökonomie zugeschlagen werden können), sondern auch semantische und pragmatische Operationen, die ich als expressive Verstärkungen zusammenfasse und die dem gegenläufigen, kreativ-expressiven Motivkomplex angehören. Entscheidend ist nun, dass nicht nur Reduktionsprozesse, sondern auch Verstärkungsprozesse richtungsblind sind. Auch sie sind eine Erscheinung der Sprachverwendung, die lokal und unabhängig von überlagernden Zielrichtungen Varianz erzeugt und damit an verschiedenen Stellen in Sprachwandelvorgänge eingreift. Dies wird auch von Harnisch so gesehen, der mehrfach das grundsätzliche Oszillieren zwischen Aufund Abbauprozessen hervorhebt (Harnisch 2004: 225). Bezogen auf formale Verstärkungen hält er ferner fest: Umgekehrt können auch aus vorher unstrukturierten Gebilden je nach funktionellem Kontext entweder grammatische oder wortbildende Segmente abgespaltet werden. Beide Bereiche sind insofern homolog, als sowohl die grammatische als auch die lexikalische Morphologie diese Statusunterschiede und eine Skala unterschiedlicher ‚Kategorialität‘ (Grade der Bedeutungs-Konkretheit/-Abstraktheit) kennt. (2004: 213f.)
Wie bereits erwähnt wurde in der Grammatikalisierungsforschung mehrfach darauf hingewiesen, dass Verstärkungsprozesse insbesondere in den frühen Stadien als Katalysatoren auftreten. Erinnert sei hier nur an Lehmanns Ausführungen zur Rolle der Expressivität bei der Grammatikalisierung, die (formale) Verstärkungsprozesse als Auslöser von Reduktionsprozessen benennen (1985: 315, siehe auch Diewald 1997: 104ff.) sowie an Traugotts Konzept der pragmatischen Verstärkung („pragmatic strengthening“), die durch „invited inferencing“ , also durch kontextgebundene semantische Anreicherung erzeugt wird (Traugott/König 1991: 207ff., Traugott/Dasher 2002: 34f.). Im folgenden Abschnitt wird exemplarisch ein Fall von Verstärkung in seinem katalytischen Einfluss auf Grammatikalisierungsprozesse vorgestellt, der womöglich zunächst als weit entfernt vom Kern der Grammatikalisierung erachtet wird, der jedoch – dies ist die hier vertretene Hypothese – unter bestimmten historischen Bedingungen systematisch wirksam wird. Es handelt sich um rhetorische Verstärkung durch Personifikation.
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5. Rhetorische Verstärkung am Beispiel der Personifikation und ihres Einflusses beim semantischen Wandel von Verben Die Personifikation ist eine Unterart der metaphorischen Übertragung, d.h. ein rhetorisches Mittel, das den sogenannten Tropen, dem uneigentlichen Gebrauch der Wörter, zugehört. In der Rhetorik wird den Tropen die Aufgabe der Ausdruckssteigerung – der amplificatio – und der Ausschmückung – des ornatus – zugewiesen (Lausberg 1990: 36, 1960: 277ff., Brandt 1986: 12), so dass man hier von expressiven Verstärkungsprozessen ausgehen kann. Der Kern dieser kognitiven Operation besteht darin, dass ein Ausdruck mit der eigentlichen Bedeutung ‘a’ auf eine andere Domäne angewendet wird, um eine zweite, übertragene Bedeutung ‘b’ auszudrücken (Lausberg 1960: 282ff., Brandt 1986: 9). Tropen ergeben daher, wenn sie wörtlich genommen werden, eine falsche Aussage, was man leicht an Beispielen wie dem folgenden überprüfen kann. Das Verb winken erfordert typischerweise eine belebtes, handlungsfähiges Subjekt wie in Satz (2). (2) Die Leute winken mir zu. (IDS-Korpora, Freiburger Korpus) ‘Die Leute geben mir mit der Hand ein Zeichen.’
In (3) ist das Verb winken mit unbelebtem Subjekt verwendet, es liegt tropischer Gebrauch, eine Personifikation, vor. (3) Dem Sieger des Drei-Tage-Rennens winkt die begehrte Labberts-Trophäe. (IDS-Korpora, Freiburger Korpus) *‘Dem Sieger des Drei-Tage-Rennes gibt die begehrte Labberts-Trophäe ein Zeichen mit der Hand.’
Das Einsetzen der nicht-metaphorischen, konkreten Bedeutung ‘mit der Hand ein Zeichen geben’ erzeugt eine falsche Aussage: Die Trophäe gibt kein Handzeichen. Wie andere Tropen auch, treten Personifikationen mit unterschiedlichen Graden der Expressivität und Originalität auf. Ihre Spannbreite reicht von der sogenannten Neuschöpfung („semantische Urschöpfung“ nach Lausberg 1960: 283, 288) über mehrere Stufen bis zur vollständigen Habitualisierung, wie sie in Satz (3) erreicht ist. Habitualisierung ergibt sich durch häufigen und stereotypen Gebrauch und ist verbunden mit einer Reduktion der expressiven Wirkung. Konventionell gewordene, habitualisierte Wendungen wie die Sonne lacht, das Herz spricht, der Erfolg winkt werden als ganze – mehr oder weniger fixierte – Einheiten ins Inventar der verfügbaren Ausdrücke eingegliedert. Sie werden unterschiedlich als Phraseologismen, Kollokationen oder – im konstruktionsgrammatischen Kontext – als idiomatic constructions bzw. formal idioms
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bezeichnet (Fillmore/Kay/O’Connor 1988: 505; Dietz 1999). Ohne genauer darauf einzugehen, kann man festhalten, dass es sich hier um eine Bewegung in die linke Ecke in Lehmanns Diagramm, um einen Übertritt ins Lexikon, um Lexikalisierung, handelt. Damit ist belegt, dass auch Ausdruckssteigerung (nicht nur Reduktion), also semantische und zum Teil auch formale Verstärkung, über stereotypen Gebrauch ins Inventar, ins Lexikon führen kann. Wie vor allem Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991) detailliert darlegen, sind Tropen, insbesondere metaphorische Übertragung zwischen zwei semantischen Domänen, auch an Grammatikalisierungsvorgängen, also an einer Bewegung in die rechte Ecke, beteiligt. Die Personifikation wird von den Autoren als Unterklasse der metaphorischen Übertragung, und zwar als PERSON-TO-OBJECT-Metapher betrachtet und ihre häufige Mitwirkung bei Auxiliarisierungsprozessen wird ausdrücklich hervorgehoben (1991: 52). Im Folgenden wird dafür argumentiert, dass Personifikation maßgeblich an der diachronen Aufweichung von Subjektsrestriktionen von Verben wie können beteiligt ist und auf diese Weise eine der Grundvoraussetzungen für weitergehende Grammatikalisierung der betroffenen Konstruktionen – d.h. der Konstruktionen dieser Verben mit Infinitiv – schafft. In der Anfangsphase, in diesem Fall im Mittelhochdeutschen, ist hierbei mit rhetorisch bewusst eingesetzten, expressiven Personifikationen zu rechnen. Dies sei in sehr geraffter Form anhand der Semantik des Verbs können illustriert. Dazu zunächst das Beispiel (4) aus dem heutigen Deutschen: (4) Auch das kleine Büroklammersymbol, das die heimliche Fracht verraten könnte, [...]. (DER SPIEGEL 221) ‘Das kleine Büroklammersymbol, das möglicherweise die heimliche Fracht verrät.’
Kann man hier eine Personifikation ausfindig machen? Kann man überhaupt noch auf die Idee kommen, das Büroklammersymbol als belebte Entität aufzufassen? Vom heutigen Standpunkt aus sind wir geneigt, das zu verneinen. Das Modalverb können hat seine ursprüngliche Bedeutung ‘verstehen, intellektuell in der Lage sein’, in der es ein belebtes Subjekt erforderte, abgelegt. In (4) kann es durch ein Adverbial wie möglicherweise ersetzt werden. Die Lage ändert sich entscheidend, wenn man die diachrone Entwicklung betrachtet. Im Ahd. ist können ein Verb mit sehr niedriger Frequenz (vgl. Diewald 1999). Es bedeutet ‘intellektuell fähig sein, wissen, verstehen’ und ist vollständig auf menschliche, zumindest belebte, Subjekte beschränkt (vgl. Kahl 1890:11, 13). Wie Kahl (1890:13, 15) zeigt, erfolgt seit dem 12. Jh. eine starke Frequenzzunahme und eine schlagartige Ausweitung auf unpersönliche und nicht-menschliche Subjekte. In (5) bis
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(9) sind einige Beispiele gegeben. Sie alle enthalten können & Infinitiv und ein unbelebtes Subjekt: (5) Tougen minne diu ist guot, sî chan geben hôhen muot (MF, Namenlose Lieder IX,2,1-2, S. 21) (6) ez ist an manegen wîben vil dicke worden scîn, wie líebé mit leide ze jungest lônen kan. (Nibelungenlied 17,2f.) (7) er sprach: wîn, mir ist dîn tugent kunt. [...] du kanst die durstigen laben. (Weinschwelg 116-126) (8) der winter kan niht anders sîn wan swaere und âne mâze lanc. (MF, Heinrich von Rugge, IX,4,3f. S. 217) (9) diu herzoginne waer sô lieht, waere der kerzen keiniu brâht, dâ waer doch ninder bî ir naht: ir blic wol selbe kunde tagn. (Wolfram, Parzival 638,16-19)
Interessanterweise betrifft diese Ausweitung zunächst ausschließlich personifizierte Subjekte wie Minne, Herz, Frühling usw. (vgl. Kahl 1890: 29f.). Sie sind prototypische Beispiele der in dieser Epoche dominierenden Bildlichkeit, in der insgesamt die Personifikation eines der häufigsten und auffälligsten rhetorischen Mittel darstellt. Dabei geht es nicht um expressive Neuschöpfungen, sondern die Personifikationen sind einem weitgehend standardisierten Katalog entnommen, der sich aus den Topoi-Listen der rhetorischen Lehrbücher speist (Curtius 1938: 467f., Wehrli 1984: 117). Ausgesprochen beliebt und häufig sind Personifikationen von abstrakten Konzepten wie Frau Minne, Frau Ehre, Frau Mâze, von grundlegenden Umweltfaktoren wie Jahres- und Tageszeiten und von psychophysischen Vorgängen und Gegebenheiten, z.B. Personifikationen von Wille, Herz, Leib usw. (s. Brandt 1986: 12). Diese Personifikationen treten nicht isoliert im Text auf, sondern sie werden bevorzugt als Bestandteile von Allegorien verwendet, d.h. es handelt sich um „fortgesetzte Metaphern“, also Tropen, die über längere Textabschnitte hin aufrechterhalten werden (Freytag 1992: Sp. 331, Lausberg 1960: 441, Brandt 1986: 12). Obwohl hier weder die starke Verbreitung noch die literatur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Vertextungspraxis dargestellt werden können, sei darauf verwiesen, dass sie im Kontext der zeitgenössischen Allegorese zu sehen ist, die sich, wie Ohly (1958/1959: 18) darlegt, im Mittelalter von einer ursprünglich rein theologische Auslegungsmethode zum allgemeinen Instrument der „allegorischen Textinterpretation“ entwickelte und zunehmend auf die Produktion und Rezeption auch
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nicht religiöser Texte angewandt wurde. Auch Freytag (1992: Sp. 346) konstatiert, dass sich im Verlauf des 12. Jahrhunderts „die Verknüpfung von bildhaft imaginativer Poesie mit den Sinndimensionen geistlicher Allegorese“ vollzieht. Die auf der Bibelinterpretation fußende Grundhaltung von der geordneten, hierarchischen Mehrdeutigkeit der Zeichen, wurde also auch für die Dichtung als Prinzip übernommen und hier mit der rhetorischen Tradition der Topoi verbunden. Vor diesem Hintergrund sei hervorgehoben, dass die hier in Frage stehenden Personifikationen nicht auf rein sprachinternen Prinzipien (zum Beispiel meronymische Relationen) zurückgeführt werden können, sondern dass hier weiter gefasste soziolinguistische und textsortenspezifischen Faktoren in Rechnung gestellt werden müssen. Der stereotype und hochfrequente Gebrauch von Personifikationen führt bereits im Mhd. zu einer Ausbleichung der beteiligten Verben. Schon Galle (1888: 234) beobachtet, dass es in der mhd. Dichtersprache eine Anzahl beseelender, personifizierender Zeitworte [gibt], welche aber, ungemein oft wiederholt, ganz zu formelhaften Phrasen geworden sind. Diesen Vorgang der „Ausbleichung“ kann man sich in einem vereinfachten Modell folgendermaßen vorstellen. Die hochfrequenten personifizierter Subjekte – z.B. Herz, Minne, Wille – die ja häufig im Rahmen von Allegorien gebraucht werden, die selbst stark konventionalisiert sind, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als lebhafte, „echte“ Personifikationen wahrgenommen. Sie sind stattdessen stark habitualisiert. Dies führt leicht dazu, dass auch andere unbelebte Subjekte, die nicht im Rahmen von Allegorien gebraucht werden, mit ursprünglich personifizierenden Verben verbunden werden können. Anders formuliert: die hohe Frequenz dieses habitualisierten rhetorischen Vertextungsmusters führt zu starken Diffusions-Effekten bezüglich anderer unbelebter Subjekte in einer bestimmten Subjekt-Verb-Verbindung. Dies wiederum bedingt den allmählichen Verlust des Merkmals [+menschlich] beim Verb und damit den semantischen Wandel in Richtung auf größere Allgemeinheit, Abstraktion, Ausbleichung. Gerade die starke Neigung des Mittelalters zu bildlicher, rhetorisch überformter Rede führt also zur Habitualisierung und zur damit verbunden semantischen Ausbleichung, womit Lehmanns Postulat von der reduktionsfördernden Wirkung expressiver Ausdrucksweisen bestätigt wird. Als Einwand gegen diese Auffassung könnte man vorbringen, dass es ja durchaus möglich wäre, dass können bereits im Mhd. die Bedeutung ‘allgemeine Möglichkeit’ – also die heutige Hauptbedeutung – hatte, so dass die Ausbleichung eben nicht dem rhetorischen Schub im Mhd. zu verdanken wäre. Von heute aus hat jedenfalls ein Beispiel wie (5) zwei Lesarten, die hier als (5a) und (5b) wiedergegeben sind:
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(5) Tougen minne diu ist guot, sî chan geben hôhen muot (MF, Namenlose Lieder IX,2,1-2, S. 21) (5a) Lesart 1: ‘Heimliche Liebe versteht es, hohen Mut zu geben.’ (5b) Lesart 2: ‘Es ist möglich, dass heimliche Liebe hohen Mut gibt.’
Neben der personifizierten Lesart in (5a) ‘Heimliche Liebe versteht es, hohen Mut zu geben’, die können in seiner alten Bedeutung aufweist, kann man dem Beispiel aus heutiger Sicht auch Lesart 2 ‘Es ist möglich, dass heimliche Liebe hohen Mut gibt’ zusprechen, die der neueren Bedeutung von können als dispositionelles Modalverb entspricht und hier eine objektiv epistemische Lesart mit weitem Skopus ergibt. Gegen die Auffassung, dass können bereits im Mhd. die Bedeutung der ‘allgemeinen Möglichkeit’ als seine Hauptbedeutung aufweise, sprechen jedoch zwei Faktoren. Einmal die schon erwähnte Beobachtung, dass können, wenn es mit einem unbelebten Subjekt auftritt, zunächst ausschließlich an den genannten Typ personifizierter Subjekte gebunden ist. Und zweitens, die Befunde von Peilicke (1987: 350), die nachweist, dass können noch im 16. Jahrhundert vorwiegend in der Bedeutung ‘psychische Möglichkeit’, ‘intellektuelle Fähigkeit’ auftritt, und mit der Forderung nach einem menschlichen, zumindest belebten Subjekt, verwendet wird. Es ist somit plausibel anzunehmen, dass das Merkmal [+menschlich] bei können im Mhd. noch dominant ist und dass die Bedeutung ‘allgemeine Möglichkeit’ eine kontextabhängige Lesart darstellt, die sich jedoch gerade in dieser Zeit rasch ausbreitet. Diese Ausbreitung geschieht – so die hier vertretene These – unter Mitwirkung der extrem häufigen Personifikationen, wie sie in (5) bis (9) illustriert sind. Wenn dies zutrifft, kann man sagen, dass die mhd. Literatur durch den exzessiven Gebrauch rhetorischer Tropen, also mit kreativen Wirkungsabsichten, den Ausbleichungsprozess dieses Verbs befördert hat. Damit sollte es gelungen sein, deutlich zu machen, dass Verstärkungsprozesse – ja sogar rhetorisch motivierte Verstärkungsprozesse – Grammatikalisierungsvorgänge begünstigen können. Um Missverständnissen aus verschiedenen Richtungen vorzubeugen, sei abschließend auf folgende Faktoren hingewiesen: Erstens ist der hier dargestellte Fall von können keine Einzelerscheinung; vielmehr lassen sich für zahlreiche andere Verb & Infinitiv-Konstruktionen, u.a. wollen, drohen und versprechen, ähnliche Beobachtungen anstellen. Zweitens sei betont, dass der beschriebene Prozess der semantischen Abstraktion durch rhetorische Verstärkung an sich noch keinen Grammatikalisierungsvorgang darstellt. Dazu sind, wie oben ausgeführt, zahlreiche weitere Entwicklungen nötig. Schließlich ist zur Motivierung der besprochenen Prozesse folgendes anzumerken: Harnisch (2004: 228) assoziiert Reseg-
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mentierung und Remotivierung – also Verstärkung – mit Hörerbedürfnissen: letztlich mit dem Bedürfnis nach Deutlichkeit bzw. Explizitheit, während er die Desegmentierung und Demotivierung – also Reduktion – mit Sprecherbedürfnissen in Verbindung bringt. Für die von Harnisch untersuchten Bereiche ist diese Zuordnung ohne Zweifel zutreffend. Für die rhetorischen Verstärkungsprozesse, die im letzten Abschnitt thematisiert wurden, ist diese Zuordnung jedoch nicht zutreffend. Rhetorisch motivierte Personifikationen haben ihren Ursprung sicher nicht primär im Bedürfnis des Hörers nach Deutlichkeit, sondern zu einem viel größeren Grad im Bedürfnis des Sprechers nach Expressivität bzw. poetisch angemessener Sprachgestaltung. 4 Man wird in zukünftigen Untersuchungen gut daran tun, für die verschiedenen Typen von Verstärkungsprozessen auch unterschiedliche Motivierungssituationen anzunehmen.
6. Zusammenfassung In Bezug auf Harnisch (2004) wurde dafür plädiert, die durch (re)konstruktionellen Ikonismus motivierten morphosemantischen Verstärkungsprozesse als einen Subtypus von analogischem Wandel aufzufassen, und daran erinnert, dass analogische Innovation und Grammatikalisierung nebeneinander als zwei unabhängige Prozesstypen zur Entstehung grammatischer Formen führen. Als zweiter Punkt wurde festgehalten, dass formale und semantische Reduktions- und Verstärkungsprozesse a priori nicht an bestimmte Zielrichtungen beim Wandel gebunden sind. Daraus wurde abgeleitet, dass Reduktion nicht das Definiens von Grammatikalisierung ist und dass letztere nicht mit ersterer gleichgesetzt werden kann. Schließlich wurde die Rolle von expressiven Verstärkungsprozessen in den frühen Stadien von Grammatikalisierung betrachtet. Am Beispiel der Personifikation bei Subjekt-Verb-Verbindungen wurde illustriert, dass derartige rhetorische Verstärkungsoperationen einen katalytischen Einfluss auf den semantischen Wandel der beteiligten Verben und damit auf die Grammatikalisierung von periphrastischen Verbalformen ausüben können.
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Eine andere Auffassung findet sich in Detges/Waltereit (2002).
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Alwin Fill
De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung als spannende Sprachstrategien 1. Einleitung Im August 2005 erschien in einer österreichischen Zeitung folgende Meldung: (1) Geldwäsche Zu – legalen – Geldwäschern und Einbrechern wurden die Mitarbeiter einer Bank in Bezau (Vorarlberg): Hochwasser und Schlamm waren in den Tresorraum des Geldinstitutes eingedrungen – Euroscheine und Münzen waren kaum noch als solche zu erkennen. Sie mussten fürs Erste händisch gereinigt werden. (KLZ 27.08.2005)
Geldwäsche ist ein idiomatisiertes Kompositum, das in der Bedeutung „Legalisierung von (z.B. durch Drogenhandel erworbenem) Geld“ verwendet wird. Auf Grund dieser Idiomatisierung hat ein Element des Kompositums (-wäsche) seine wörtliche Bedeutung verloren und auf abstrakter Ebene eine metaphorisch-idiomatische Bedeutung erhalten. In Beispiel (1) wird diese Idiomatisierung rückgängig gemacht, und die Elemente des Kompositums werden mit ihrer wörtlichen Bedeutung (also ‘Reinigung von Geldscheinen und Münzen’) neu zusammengesetzt. Ähnliches geschieht in dem Text mit der Zusammenbildung Einbrecher: Die Idiomatisierung – hier eine Einschränkung der Bedeutung auf ‘verbrecherisches Eindringen’ – verschwindet, und die wörtliche Bedeutung (‘Eindringen mit Gewalt’) wird hervorgeholt. Das hier beschriebene Phänomen kann auf Grund folgender Überlegung als eines der „Verstärkung“ im Sinne des vorliegenden Bandes angesehen werden: Idiomatisierung erzeugt komplexe sprachliche Einheiten, deren Bedeutung nicht mehr mit jener ihrer Elemente übereinstimmt (vgl. Lipka 2002: 112; dort weitere Literatur zum Thema Idiomatisierung; siehe auch Lipka 1981). Während bei „Verdunkelung“ die morphematische Struktur eines Kompositums verschmolzen wird (dazu Faiß 1978), schwächen Lexikalisierung und Idiomatisierung die Bedeutung der Elemente. Durch De-Idiomatisierung werden die verschmolzenen Teile des Kompositums wieder getrennt und in ihrer ursprünglichen Bedeutung gestärkt. In dem Schema von Harnisch (2004: 211) bewegt sich dieser
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Prozess auf der horizontalen Ebene: Lexikalisierung und Desegmentierung eines Kompositums werden rückgängig gemacht und die ursprüngliche Bedeutung der Teile kommt zum Vorschein. Es findet semantische Remotivierung statt (siehe dazu auch Harnisch 2000), und die These der Nichtumkehrbarkeit von Verschmelzungsprozessen wird durch diesen Prozess widerlegt. Ein ähnliches Thema wie das hier behandelte spricht Hans-Werner Eroms (in diesem Band) an, der (in 4.2.) die fachsprachliche der allgemeinsprachlichen Geltung von Wörtern gegenüberstellt. An Hand von Wörtern aus „Unwortlisten“ wie Humankapital, Organspende, Ausreisezentrum und Gewinnwarnung zeigt Eroms, dass bei De-Idiomatisierung (also beim ‚Wörtlichnehmen‘) absurde Bedeutungen entstehen können. Ähnlich setzt Horst Dieter Schlosser in seinem Beitrag „Sprachliche Verstärkungen durch öffentliche Sprachkritik“ an Hand von UnwortBeispielen wie Menschenmaterial und Wohlstandsmüll der „Aussageintention“ eines Wortes seinen „lexikalischen Gebrauchswert“ gegenüber. Die ‚Wiederentdeckung‘ der wörtlichen Bedeutung der Elemente von Komposita wird auch von Martin Wengeler (in diesem Band) besprochen. Wengeler hebt vor allem die strategische, ja sogar politische Funktion von De- und Remotivierungen hervor und zeigt diese an Hand von Beispielen wie Entwicklungsländer, Wiedervereinigung, Nachrüstung und anderen. Am Ende seines Beitrags erwähnt Wengeler allerdings auch eine „sprachspielerische und damit unterhaltende und aufmerksamkeits-heischende Funktion“ der Remotivierung: Es ist vor allem diese Funktion, die in dem vorliegenden Aufsatz im Vordergrund steht. Remotivierung zur Erregung von Aufmerksamkeit findet sich etwa im nächsten Beispiel, das damit etwas komplexer als Beispiel 1 ist: (2) Eine Talkshow im Österreichischen Fernsehen (Barbara Karlich, 20.07.2005) wurde mit folgendem Titel und Untertitel angekündigt: Schlussstrich! Ich will weg vom horizontalen Gewerbe.
Das harmlos idiomatisierte Kompositum „Schlussstrich“ (aus der Wendung einen Schlussstrich ziehen = ‘mit etwas aufhören’), erhält durch den Untertitel „weg vom horizontalen Gewerbe“ eine neue sexualisierte Bedeutung, die mit dem Idiom „auf den Strich gehen“ (= ‘als Prostituierte arbeiten’) zusammenhängt. Das Kompositum wird nicht lediglich analysiert (wie es in Beispiel 1 geschieht), sondern mit neuer Idiomatisierung wieder zusammengesetzt („Schluss [mit dem] Strich“). Die DeIdiomatisierung ist nicht das Ende des Prozesses, sondern sie ermöglicht eine Neu-Idiomatisierung in andere Richtung. Von „Aufhören“ bekommt das Wort schließlich die Bedeutung „Aufhören mit der Arbeit als Prostituierte“.
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(1) und (2) sind Beispiele eines sprachlichen Kunstgriffs, vielleicht sogar Tricks, der in den letzten Jahren insbesondere in journalistischen Texten gebräuchlich wurde: Analyse, De-Idiomatisierung (und wie in Beispiel 2 Neu-Idiomatisierung) eines Kompositums, das sodann als Aufmerksamkeitserreger in einer Schlagzeile oder einem Bericht erscheint. Die Wirkung ist eine von Überraschung – vielleicht auch Komik – und beruht jedenfalls auf der Spannung zwischen zwei Bedeutungen, der zunächst verstandenen („erst-aktivierten“) idiomatisierten und der plötzlich sich zeigenden wörtlichen oder neu-idiomatisierten Bedeutung. Die Beispiele (1) und (2) haben dieses spezielle Verstärkungsphänomen bei idiomatisierten komplexen Lexemen gezeigt. Aber nicht nur Wort-Komposita, sondern auch Syntagmen und Phrasen können idiomatisiert sein (vgl. Lipka 2002: 112). Damit sind De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung auch über die Wortgrenze hinaus möglich. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, wie das beschriebene Phänomen bei Wort-Komposita, aber auch bei Redewendungen, Phraseologismen und Zitaten vorkommt und in allen Fällen als spannende Sprachstrategie Wirkung erzielt. Schließlich soll noch gezeigt werden, dass nicht journalistische Texte allein die beschriebene Strategie nützen, sondern dass auch in literarischen Texten Demotivierung und Neumotivierung für bestimmte Effekte sorgen können.
2. Einfache De-Idiomatisierung Im Folgenden werden einige Fälle des an Hand von Beispiel (1) gezeigten Phänomens besprochen, bei denen ein idiomatisiertes Kompositum in seine Bestandteile zerlegt wird, die nun in ihrer wörtlichen Bedeutung gebraucht werden. Die Spannung entsteht hier lediglich zwischen idiomatisierter und wörtlicher Bedeutung. (3) Ketten-Reaktion (KRZ 21.08.2005)
In einem Artikel mit dieser Überschrift wird berichtet, dass mehrere Modehäuser nach gegenseitigem Vorbild Ketten als Schmuck einsetzen. Das idiomatisierte Kompositum Kettenreaktion (= ‘ein Vorgang mit Folgewirkungen’) wird in der Überschrift reanalysiert, und seine Elemente werden mit ihrer ursprünglichen Bedeutung wieder zusammengesetzt: Die „Ketten-Reaktion“ eines Modehauses ist ganz wörtlich seine Reaktion auf die Verwendung von Ketten in der Mode. Aber auch die idiomatisierte Bedeutung schwingt noch mit, wenn es in einem Nachsatz heißt: „eine wahre Kettenreaktion eben.“
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(4) Wechselbad (Überschrift eines Artikels über den Schwimm-Star Markus Rogan, KLZ 25.08.2005)
Ähnlich wie in Beispiel (1) wird ein idiomatisiertes Kompositum, Wechselbad (aus der Wendung Wechselbad der Gefühle), in seine Bestandteile zerlegt, die dann in ihrer ursprünglichen Bedeutung wieder zusammengesetzt werden. Es wird nämlich berichtet, dass Rogan wieder an Schwimmwettbewerben teilnimmt, also wieder „ins Bad wechselt“, nachdem er einige Zeit nur in Fernsehwerbungen aufgetreten ist. Dann aber kommt in dem Bericht die idiomatisierte Bedeutung zum Tragen, denn es wird erwähnt, dass diese Fernsehwerbung dem Sportler nicht nur Freunde gebracht hat: Er war dadurch sozusagen in einem „Wechselbad der Gefühle“. Raffiniert wird hier mit der idiomatisierten und der entidiomatisierten Bedeutung des Wortes gespielt, um mit der Spannung zwischen den beiden Aufmerksamkeit zu erregen. In allen Fällen entsteht im Leser zunächst die idiomatisierte Bedeutung, während die De-Idiomatisierung der Überschrift erst mit Hilfe des Textes aktiviert wird. Dies kann jedoch auch durch Kombination des idiomatisierten Wortes mit einem Bild geschehen: (5) Abgeschnitten (Bildunterschrift KLZ 26.08.2005)
In einem Bericht über die Folgen des Hochwassers vom August 2005 für eine Ortschaft wird das Wort abgeschnitten zunächst in seiner idiomatisierten Bedeutung verstanden – im Sinne von ‘nicht auf Straßen (mit Auto) erreichbar’. Das dazugehörige Bild suggeriert aber eine deidiomatisierte, wörtliche Bedeutung: Es zeigt eine Straße, die vom Hochwasser abgeschnitten wurde und dadurch unterbrochen ist. Beide Bedeutungen des Wortes sind präsent und stehen in Spannung zueinander: Die Straße ist abgeschnitten (wörtlich), und dadurch ist die Ortschaft von der Umwelt abgeschnitten (idiomatisiert). (6) Entfalten Sie sich! (Reklame KLZ 05.03.2006)
In Beispiel (6) ist ebenfalls zunächst die idiomatisierte Bedeutung aktiv (sich entfalten = ‘Lebensträume verwirklichen, aktiv werden’), doch das Bild eines faltenlosen Gesichtes neben dem Text lässt uns die deidiomatisierte Bedeutung entdecken („Werden Sie Ihre Falten los!“). Es folgen weitere Beispiele aus Zeitungsüberschriften und Fernsehschlagzeilen, in denen die idiomatisierte und die de-idiomatisierte Bedeutung in Spannung gesetzt werden: (7) Herbstzeitlose (Überschrift der Immobilienbeilage KLZ 30.09.2005) Idiomatisiert: Herbstzeitlose = ‘Blume’ De-idiomatisiert: ‘zeitlose Möbel für den Herbst’
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Tödliche Spritztour (ORF 18.07.2005) Idiomatisiert: Spritztour = ‘schnelle verbotene Fahrt’ De-idiomatisiert: ‘Ausflug mit Sturz in die reißende Salzach’ Feier-Abend für Beckham (KURIER 21.10.2005) Idiomatisiert: Feierabend = ‘Ende harter Tagesarbeit’ De-idiomatisiert: ‘Abend zum Feiern für Beckham (nach erfolgreichem Spiel)’ Erlesene Abenteuer (KLZ 31.03.2006) Idiomatisiert: erlesen = ‘besonders wertvoll’ De-idiomatisiert: ‘durch Lesen erworben’
In all diesen Fällen wird durch die Schlagzeile zunächst die idiomatisierte Bedeutung aktiv; erst die Lektüre des Textes (bzw. das Sehen des Berichts) aktiviert die De-Idiomatisierung und stellt so die Spannung her.
3. De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung Etwas komplexer, aber auch ‚spannender‘ sind jene Fälle, bei denen eine Idiomatisierung aufgehoben, das idiomatisierte Kompositum resegmentiert, aber dann mit neuer Idiomatisierung versehen wieder zusammengesetzt wird. Wie in Beispiel (2) wird die Neu-Idiomatisierung meist nicht ad hoc erfunden, sondern einem Kompositum oder idiom entlehnt, in dem sie bereits vorliegt. An Hand des folgenden Beispiels soll dieser Prozess, der auch als Synkretisierung von Idiomatisierungen aufgefasst werden kann, schematisch dargestellt werden. (8) Studentenfutter – preiswert lesen für Studierende (Titel und Untertitel einer Werbung in einer Universitätszeitung)
Das Kompositum Studentenfutter mit der idiomatisierten Bedeutung „Nüsse, Rosinen, getrocknete Früchte etc.“ lässt zunächst an Reklame für Essbares denken. Es wird jedoch durch den Untertitel (preiswert lesen für Studierende) mit „Lesefutter“ in Verbindung gebracht. Dadurch wird ein neu-idiomatisiertes Kompositum Studentenfutter 2 aufgebaut, in dem das Element wie in Lesefutter metaphorisch gebraucht ist, aber die semantischen Merkmale [Verschiedenes] und [preiswert] erhalten bleiben, während das Element [für Studenten] wieder hervorgeholt wird.
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Studentenfutter 1 idiomatisch: [zum Essen] [Verschiedenes] [preiswert] de-idiomatisiert: [für Studenten] [zum Essen] Studentenfutter 2 neu idiomatisiert: [für Studenten] [Verschiedenes] [preiswert] [zum Lesen]
Lesefutter [zum Lesen] [Verschiedenes] [preiswert]
Das obige Diagramm stellt den Vorgang schematisch dar: Das durch die Idiomatisierung verlorene semantische Merkmal (Sem) [für Studenten] kehrt zurück, die Seme [Verschiedenes] und [preiswert] bleiben aus der idiomatischen Bedeutung erhalten, und aus dem Kompositum Lesefutter wird das Sem [zum Lesen] übernommen. Ein ähnliches Beispiel ist (9), eine Artikelüberschrift, in der ebenfalls zwei Idiomatisierungen vermischt werden und in Spannung zueinander stehen: (9) Bestechendes Wissen (BILD DER WISSENSCHAFT 10/2005, S. 10)
Beim Lesen wird zunächst die idiomatisierte Bedeutung des Adjektivs bestechend aktiviert (im Sinne von „erstaunlich“, „Eindruck machend“). Bei der Lektüre des Artikels stellt sich aber heraus, dass eine zweite Idiomatisierung ins Spiel kommt, nämlich die des Substantivs Bestechung (= ‘unerlaubte Geldübergabe für eigenen Vorteil’), denn es handelt sich um einen Bericht über ein Forschungsprojekt zur Korruption in Deutschland und in der EU. Die Idiomatisierung des Substantivs wird auf das Adjektiv übertragen, im Sinne von „Wissen über Bestechung“, wobei Wissen auch als Verb verstanden werden kann: Die Forscherin, über die berichtet wird, will mehr über „Bestechendes“ wissen, sie will herausfinden, wie es zur Bestechung kommt und wie sie durchgeführt wird. Die neue Idiomatisierung des Wortes erschließt sich wieder erst durch den Inhalt des Artikels. (10) Kirchhofs radikales Streichkonzert (Schlagzeile KRZ 17.09.05)
Die Idiomatisierung des Kompositums Streichkonzert im Kontext der Politik ist an sich „ein alter Hut“ und wird in der Berichterstattung mit der Bedeutung „häufige Streichung eines Politikers bei einer Wahl“ des Öfteren verwendet. In Beispiel (10) erfolgt jedoch Neu-Idiomatisierung des Wortes in etwas anderem Sinn: Der Text berichtet über die Pläne eines Ministerkandidaten, Privilegien und Steuerbefreiung in Politik und Wirtschaft zu streichen. Somit stehen sogar drei Bedeutungen in Spannung zueinander: die wenig idiomatisierte ‘Konzert mit Streichinstrumenten’,
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die ältere idiomatisierte ‘Streichung eines Politikers’ und die hier neuidiomatisierte ‘Ankündigung der Streichung von Privilegien’.
4. Ursachen des Phänomens im Zusammenhang mit kulturellen Entwicklungen An dieser Stelle seien einige Überlegungen zu den möglichen Ursachen des in letzter Zeit so häufigen Auftretens von De-Idiomatisierung und ReMotivierung angestellt. Wie schon erwähnt, wird hier die These vertreten, dass De-Idiomatisierung und Neu-Motivierung strategisch eingesetzt werden, da sie das Bedürfnis der Menschen nach Spannung („Eutension“), nützen. Wie an anderer Stelle ausführlicher dargelegt (Fill 2003: 9-24) hat in unserer Kultur nach Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ das „Prinzip Spannung“ Einzug gehalten. Spannungs- und Lösungssequenzen, die beim Ur-Menschen durch die Lebensumstände vorhanden waren, werden in unserer Zeit durch symbolische Formen geboten – eben durch Literatur und Kunst, aber auch durch Phänomene der Sprache, wobei alle sprachlichen Ebenen ihren Anteil daran haben. Idiomatisierung bedeutet Verschmelzung und damit Verlust an Spannung. Reanalyse und Neu-Motivierung bauen neue Spannung auf, die zwischen der idiomatisierten und der remotivierten Bedeutung entsteht. Das Bedürfnis nach Spannung zeigt sich auch im neu erwachten Interesse an diesen Erscheinungen, die auch in einem weiteren kulturellen Zusammenhang gesehen werden können, wie im Folgenden dargelegt wird. Nach Zeiten des sozialen und kulturellen Strukturverlustes besteht wieder das Bedürfnis nach Motivierung und Strukturierung. Verschmelzung, Idiomatisierung und Undurchsichtigwerden sind Prozesse der Entropie – ein Terminus, den Rudolf Clausius in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen hat. Sein 2. Hauptsatz der Thermodynamik (1865) besagt, dass Energie sich immer mehr verteilt und dass dieser Prozess irreversibel und unidirektional ist – so wie sich die Wärme einer Herdplatte gleichmäßig im Raum verteilt und sich nicht mehr konzentrieren lässt. Der von Clausius in der Physik beschriebene Prozess wurde später auf kulturelle und soziale Entwicklungen übertragen, und es wurde zunehmende Entropie für alle Phänomene dieser Welt vorausgesagt – mit langsamem Verlust aller Strukturen und Unterschiede und schließlichem „Wärmetod“. Der Amerikanist Peter Freese hat in seinem Buch From Apocalypse to Entropy and Beyond (1997: Kap. 3) die Auswirkungen dieser Theorie auf kulturelle Phänomene dargestellt. Auf der Ebene der Sprache würde größere Entropie immer stärkerer Verschmelzung und dem Verlust von Strukturierungen entsprechen.
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Formenzusammenfall, Assimilation und Verschmelzung sind entropische (energie-abbauende) Prozesse, aber auch etwa das Verblassen von Metaphern und Verschwinden von Bedeutungsunterschieden. Größere Entropie würde auch das Verschwinden der Sprachenvielfalt durch Zusammenfallen und Vermischen von Sprachen mit weiterer Pidginisierung bedeuten – ein Prozess, der tatsächlich stattfindet. Dem Wärmetod würde auf dieser Ebene die Entwicklung einer einzigen Mischsprache auf der Welt entsprechen, die alle anderen Sprachen zum Verschwinden bringt (siehe dazu aber Haarmann 2001, der nicht an den Verlust der Sprachenvielfalt glaubt, sondern das Neu-Entstehen von Sprachen voraussagt). Wie in der Physik wurden auch in Entwicklungen der Sprache Gegenströmungen entdeckt. In der Physik sind es die von Heinz von Foerster, Ilya Prigogine und anderen beschriebenen Selbstorganisations- und Autopoiese-Prozesse, die zu höherer Komplexität und zur Entwicklung einer „negentropischen“ Gegenkraft führen, mit neuem Leben, neuer Ordnung – und neuer Spannung (dazu Freese 1997: 475). In der Sprache entsprechen diesen Gegenströmungen die Verstärkungsprozesse, die Gegenstand dieses Bandes sind, also Degrammatikalisierung (Statusanhebung), Resegmentierung und Re-Motivation, die somit als „Wille zum Sinn“ gedeutet werden kann (Ludwig M. Eichinger, in diesem Band). Auch das Wiederaufleben verblasster Metaphern und das Entstehen neuer Metaphorik könnten als Selbstorganisationsprozesse gesehen werden, die die energetische Spannung innerhalb der Sprache wieder erhöhen. In diesem Sinne sind auch die von mir behandelten Prozesse der De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung als negentropische Entwicklungen zu verstehen, die zur Wiederentdeckung und Verstärkung scheinbar schon verschmolzener Strukturen führen. Besonders in einer Zeit der Überschwemmung durch verschiedene Medien sind Kräfte der Verstärkung (und damit Erhöhung von Spannung) in der Sprache wieder gefragt. Ebenso ist daraus das erhöhte Interesse an den im Passauer Symposion angesprochenen Phänomenen zu erklären. So wird das „Entropie-Gesetz“, das zu immer größerer Verschmelzung und Lexikalisierung führen würde, durchbrochen durch Analyse, NeuStrukturierung und Neu-Aufbau. Als Gründe für das neu erwachte Bedürfnis nach Strukturierung können u.a. die folgenden vermutet werden: Aufbruchsstimmung am Beginn eines neuen Jahrtausends, lange Perioden der Verschmelzung, Tendenzen der Lokalisierung als Reaktion auf die Globalisierung, aber auch Reaktion auf den Einfluss durch andere Sprachen.
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5. Reanalyse von Syntagmen, idiomatischen Wendungen und Zitaten Bis jetzt wurde das Phänomen der De-Idiomatisierung und Neuidiomatisierung lediglich auf der Wortebene betrachtet. Ähnliche Prozesse können jedoch auch bei Syntagmen, Phrasen, ganzen Sätzen (etwa Sprichwörtern und Zitaten) ablaufen, die ihre Idiomatisierung verlieren können, wodurch Spannung zwischen der idiomatischen und der de-idiomatisierten Bedeutung entsteht. (11) Der Papst ist vom rechten Weg abgekommen. (SPIEGEL 2005)
ONLINE,
August
Die idiomatisierte Bedeutung der Phrase „vom rechten Weg abkommen“ ist ‘eine Sünde begehen’; „vom rechten Weg abgekommen sein“ meint auch ‘ein sündiges Leben führen’. Die Aktivierung dieser Bedeutung steht bei Beispiel (11) im Konflikt mit dem Subjekt „der Papst“, wodurch schon bei der Lektüre der Schlagzeile Spannung entsteht. Diese Spannung wird durch den Text gelöst, einen Bericht über das Weltjugendtreffen der Katholischen Kirche in Köln. „Vom rechten Weg abgekommen“ bezog sich auf das Gedränge in der Kölner Innenstadt, das den Papst zwang, einen anderen als den geplanten Weg durch die Stadt zu nehmen. Die Möglichkeit der De-Idiomatisierung wurde in der Überschrift strategisch genützt, um Leser zur Lektüre des Artikels und damit letztlich zur Entspannung zu bringen. (12) Alles im grünen Bereich (Überschrift eines Artikels über die Villa eines Künstlerehepaars, KLZ 26.08.2005, Immobilienbeilage)
Die Wendung „im grünen Bereich“ hat als idiomatisierte Bedeutung ‘alles in Ordnung, keine Gefahr’. „Im grünen Bereich“ ist jedoch hier wörtlich zu nehmen, denn es wird über eine Villa in einem Gebiet mit viel Grün berichtet. Wieder kommen beide Bedeutungen ins Spiel, zunächst die idiomatisierte, dann durch die Lektüre des Artikels die de-idiomatisierte. Die Spannung zwischen beiden macht den Artikel interessant. (13) Am zufriedensten mit der Bahn sind diejenigen, die regelmäßig zum Zug kommen. (KLZ 11.08.05)
Die Wendung „zum Zug kommen“ (= ‘dran kommen, Vorteil haben’) wird hier de-idiomatisiert und wörtlich verwendet (= ‘regelmäßig zum Eisenbahnzug kommen, mit der Bahn fahren’) – ein Wortspiel, das auf der Präsenz beider Bedeutungen beruht. Es folgen weitere Beispiele deidiomatisierter Redewendungen.
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(14) Den Mädels wird jetzt der Hof gemacht (KRZ 13.09.2005, Ankündigung einer Fernseh-Flirtshow: Landwirte treffen Frauen) Idiomatisierte Bedeutung („den Hof machen“): ‘um jemanden werben’ de-idiomatisierte Bedeutung: ‘den Bauernhof herrichten’ Spielend Geld verdienen (Werbung für Casinos Austria, 2005) idiomatisierte Bedeutung: ‘leicht, ohne Anstrengung’ de-idiomatisierte Bedeutung: ‘beim Spiel im Casino’ Kunst findet Stadt (KLZ Veranstaltungsbeilage 30.09.2005, Titelblatt) idiomatisierte Bedeutung: stattfinden = ‘sich ereignen’ de-idiomatisierte Bedeutung (mit geänderter Schreibung): ‘Ein Kunstfest widmet sich dem Thema „Stadt“’.
6. Auflösung von Zitaten – und literarische Beispiele Nach Büchmann (o.J.: Klappentext) sind Geflügelte Worte „solche Worte, welche, von nachweisbaren Verfassern ausgegangen, allgemein bekannt geworden sind und allgemein wie Sprichwörter angewandt werden“. Sprichwörter und Zitate sind fertige Einheiten, die als solche in Texte eingebaut werden. Das Wesen eines Zitates ist, dass ein Stück Sprache verschmolzen und im Sinne des Zitatenschöpfers in ganz bestimmter Bedeutung verwendet wird. Diese Verschmelzung kann jedoch wie bei einem idiom aufgehoben werden. Unser Phänomen erscheint damit auch hier, wenn auch in etwas abgewandelter Form, wenn ein bekanntes Zitat verfremdet und in die Einzelbedeutungen seiner Wörter zerlegt wird. Wenn ein Artikel über eine Schauspielerin überschrieben ist „Von der Mutter hat sie die Figur“, dann wird ein Spannungsbogen zu Goethes bekanntem Vers („Vom Vater hab’ ich die Statur ...“) gezogen, das Zitat aber aufgelöst und in einen völlig neuen Kontext gestellt. Wenn ein Aufsatz von Jörg Drews über Anglizismen im Deutschen die Überschrift trägt „Die Message hör’ ich wohl ...“ (DIE PRESSE 6./7.02.1999), dann wird Goethes „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“ dekomponiert und durch das Fremdwort message mit neuer Bedeutung versehen: Es soll damit signalisiert werden, dass der englische Einfluss auch vor sakrosanktem Sprachgut nicht Halt macht. Das Zitat wird mit neuer Bedeutung gefüllt und die abgebrochene Fortsetzung soll auf die weitere Argumentation des Artikels neugierig machen. De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung dienen nicht immer der Verstärkung, sondern werden oft einfach zum Erzielen komischer Wirkung eingesetzt. Dies war in einigen unserer Beispiele der Fall (etwa Beispiel 11), kommt aber auch in Werken der Literatur vor, wie Beispiel (15) zeigt. Shakespeares Werke sind für ihre Wortspiele berühmt (von
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denen jedes Stück im Durchschnitt über 70 enthält!). Manche dieser Wortspiele beruhen auf dem Spiel zwischen idiomatisierter und deidiomatisierter Bedeutung, wie das folgende aus The Two Gentlemen of Verona (II,5,26 ff.): (15) Speed: […] I understand thee not. Launce: What a block art thou that thou canst not! My staff understands me. […] Look thee, I’ll but lean, and my staff understands me. Speed: It stands under thee indeed. Launce: Why, stand-under and under-stand is all one.
Die Bedeutung von understand „verstehen“ wird von Launce spielerisch de-idiomatisiert und das Wort im Sinne von „unter mir stehen“ verwendet. Der sprachbewusste Dichter erklärt sein Wortspiel in den folgenden Zeilen und konnte sich so darauf verlassen, dass sein Publikum die Remotivation verstehen und über die Spannung zwischen den zwei Bedeutungen lachen würde. Ähnlich wird in modernen literarischen Texten mit der Reanalyse von idiomatisierten Komposita Wirkung erzielt, wenn etwa Elfriede Jelinek mit dem Wort Erbaulichkeiten (idiomatisiert: ‘Angenehmes, Hilfreiches, Frommes’) spielt, es dekomponiert und konkret im Sinne von ‘Bauwerke’ verwendet (Lust, Reinbek b. Hamburg: rororo 1992: 9).
7. Zusammenfassung Verschmelzung, Idiomatisierung und Undurchsichtigwerden sind entropische Prozesse des Abbaus von Energie. Im 19. Jahrhundert hat Clausius den 2. thermodynamischen Hauptsatz formuliert, der besagt, dass Energie sich immer mehr verteilt und dass dieser Prozess nicht rückgängig gemacht werden kann („unidirektional“ ist). Die Übertragung des Entropiegesetzes auf kulturelle Phänomene betrifft auch die Sprache; für sie würde es bedeuten, dass ihre Strukturen immer mehr verloren gehen und Verschmelzungsprozesse zunehmen. Auf globaler Ebene würde Entropie das Zusammenfallen und Vermischen von Sprachen und den Verlust der sprachlichen und kulturellen Vielfalt bedeuten. Dass Prozesse, die in diese Richtung gehen, tatsächlich stattfinden, wird niemand bestreiten. Aber so wie das Entropie-Gesetz in der Physik immer wieder durchbrochen wird, so entsteht auch auf kultureller Ebene ein Bedürfnis nach Re-Analyse, Neu-Strukturierung und Neu-Aufbau – ein Bedürfnis, das in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen besonders stark zu sein scheint. In diesem Beitrag wurde eine bestimmte Manifestation dieser Entwicklung herausgegriffen, die sich vor allem in modernen
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Gebrauchstexten zeigt. Idiomatisierte Komposita und Wendungen werden de-idiomatisiert, in ihre Bestandteile zerlegt und mit wörtlicher Bedeutung wieder zusammengesetzt – oder sogar mit neuer Idiomatisierung versehen. Erklärt werden kann das häufige Auftreten dieses Phänomens durch das wachsende Bedürfnis nach Spannung, das auch durch Sprache (neben Kunst, Sport, Wettbewerb etc.) befriedigt wird. So entsteht zwischen idiomatisierter und de- oder neu-idiomatisierter Bedeutung eine Spannung, die sich dann im Verstehen der De-idiomatisierung (bzw. NeuIdiomatisierung) auflöst. Nicht nur Gebrauchstexte verwenden diesen spannungsschaffenden Wiederaufbau, auch literarische Texte erzielen dadurch Wirkungen. Wie das Beispiel aus Shakespeares The Two Gentlemen of Verona zeigt, ist dabei natürlich auch der homo ludens im Spiel. Abkürzungen KLZ = KLEINE ZEITUNG, Graz; KRZ = KRONENZEITUNG, Wien; ORF = ÖSTERREICHISCHER RUNDFUNK, Wien.
Literaturverzeichnis Büchmann, Georg (o.J.): Geflügelte Worte und Zitatenschatz. Neuausgabe. Zürich: Werner Classen Verlag. Eichinger, Ludwig M. (in diesem Band): „… es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ Remotivationstendenzen. Eroms, Hans-Werner (in diesem Band): Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse. Faiß, Klaus (1978): Verdunkelte Compounds im Englischen. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der Wortbildung. Tübingen: Narr. Fill, Alwin (2003): Das Prinzip Spannung. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu einem universalen Phänomen. Tübingen: Narr. Freese, Peter (1997): From apocalypse to entropy and beyond. The Second Law of Thermodynamics in post-war American fiction. Essen: Blaue Eule. Haarmann, Harald (2001): Die Kleinsprachen der Welt. Existenzbedrohung und Überlebenschancen. Frankfurt/M.: Lang. Harnisch, Rüdiger (2000): Morphosemantische Remotivierung verdunkelter Nominalkomposita im Englischen und Deutschen. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 25, 71-88. Harnisch, Rüdiger (2004): Verstärkungsprozesse. Zu einer Theorie der „Sekretion“ und des „Re-konstruktionellen Ikonismus“. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 32, 210-232.
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Lipka, Leonhard (1981): Zur Lexikalisierung im Deutschen und Englischen. In: Lipka, Leonhard / Günther, Hartmut (Hg.): Wortbildung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 119-132. Lipka, Leonhard (2002): English lexicology. Lexical structure, word semantics & word-formation. Tübingen: Narr. Schlosser, Horst Dieter (in diesem Band): Sprachliche Verstärkungen in öffentlicher Sprachkritik. Erfahrungen und Perspektiven am Beispiel der Wahl von „Unwörtern des Jahres“. Wengeler, Martin (in diesem Band): Entwicklungsländer, Gastarbeiter, Schwangerschaftsunterbrechung. Formen und Funktionen semantischer Remotivierungen im öffentlich-politischen Sprachgebrauch.
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Entwicklungsländer, Gastarbeiter, Schwangerschaftsunterbrechung. Formen und Funktionen semantischer Remotivierungen im öffentlich-politischen Sprachgebrauch 1. Einleitung Vor einigen Jahren habe ich eine Typologie sprachkritischer Argumentationsmuster in öffentlichen politischen Debatten vorgestellt (vgl. Wengeler 1996 und 1998). Einen dieser sprachkritischen Topoi habe ich Remotivierungs-Topos genannt, einen anderen Bewusstseinskonstitutions-Topos. Beim ersteren liegt allein schon von der Terminologie her der Bezug zur Thematik des vorliegenden Sammelbandes nahe. Denn zu den „Prozessen sprachlicher Verstärkung“, die der Grammatikalisierung und Lexikalisierung entgegengerichtet sind, gehört in Harnischs (2004: 211) Schema von (De-)Grammatikalisierungs- und (De-)Lexikalisierungsprozessen die „Remotivierung“, und in der Einladung zum Symposium, das diesem Band zugrunde liegt, ist von „Remotivation von generischen oder idiomatisierten/lexikalisierten Bildungen in der Sprache der Politik“ die Rede. Ich möchte hier zunächst erläutern, was mit den beiden erwähnten Argumantationstopoi im Zusammenhang einer Systematik sprachkritischer Argumente gemeint war und anschließend anhand von Beispielen aus verschiedenen Themenfeldern den Stellenwert solcher Phänomene für das Thema dieses Sammelbandes herausarbeiten. Was also war mit dem „Remotivierungs-Topos“ gemeint? Als Argumentationsmuster in öffentlich-politischen Debatten habe ich ihn wie folgt definiert: „Weil ein Bestandteil eines Wortes eine bestimmte Bedeutung hat, soll das Wort in einer dadurch bestimmten Art und Weise gebraucht werden. Aus der so ‚remotivierten’ Bedeutung werden unterschiedliche Schlüsse abgeleitet.“ (Wengeler 1998: 50) Wer den Sprachgebrauch anderer oder einen sich durchsetzenden oder durchgesetzten Sprachgebrauch, also eine Bedeutungsfestlegung kritisieren will, kann also u.a. explizit auf bereits etablierte Wortverwendungskonventionen verweisen. Dabei werden gerne Komposita zunächst in ihre Bestand-
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teile zerlegt. Mit der (vom Sprecher behaupteten) konventionellen Bedeutung meist eines Bestandteils des Wortes wird dann begründet, warum das neue oder auch ein schon gebräuchliches Kompositum falsch, unangemessen, irreführend sei oder warum aus den emotiven, volitiven oder auch denotativen Bedeutungskomponenten (vgl. dazu Hermanns 2002) der Wortbestandteile bestimmte Schlussfolgerungen abzuleiten seien. Ein „Klassiker“ für diesen Remotivierungstopos findet sich in der Kritik am Wort Gastarbeiter: Man sollte nicht mehr von Gastarbeitern sprechen. Richtig ist: ausländische Arbeitnehmer. Denn wir können die Ausländer nicht als Gäste ansehen, weil einem Gast in der Regel nicht zugemutet wird, Arbeit zu verrichten, die man selbst nicht zu leisten vermag oder gewillt ist. (Arbeitgeberpräsident Siegfried Balke in: KÖLNISCHE RUNDSCHAU 26.4.1966) Das sind keine Gäste mehr. [...] Jetzt müssen die scharfen Paragraphen des Ausländer-Gesetzes angewendet werden. Ausländische Unruhestifter haben in deutschen Fabriken nichts zu suchen. Gastarbeiter dieses Wort kommt von Gast. Ein Gast, der sich schlecht beträgt, gehört vor die Tür gesetzt! Die anderen sind uns willkommen. (BILD 30.8.1973, zit. nach Link 1988: 58)
Auch beim Bewusstseinskonstitutions-Topos („Wer bestimmte Ausdrücke benutzt, trägt zur Konstruktion/Konstitution eines bestimmten Bewusstseins und damit auch der sozialen Wirklichkeit bei. Daher soll der entsprechende Ausdruck vermieden oder bewusst verwendet werden“, Wengeler 1998: 52) wird die „wörtliche“, „eigentliche“ Bedeutung eines Wortes in Erinnerung gerufen, um zu behaupten, dass bei seinem konventionalisierten Gebrauch, in seiner usuellen Bedeutung, in der das sprachkritisch hervorgehobene Bedeutungselement evtl. kaum eine Rolle spielt, diese „wörtliche“ Bedeutung – als „versteckte“ Prädikation (s. dazu vor allem von Polenz 1988) – doch unterschwellig mitschwingt. Damit kann auch hier ein solcher Bedeutungsbestandteil wieder – oder auch erstmals – instantiiert werden: Welche Assoziationen kommen dem Autor, der Redaktion oder den Leserinnen und Lesern beim Begriff des Eingeborenen? Welche Bilder verbinden sie mit Ureinwohnern? Dies ist die Sprache des weißen Herrenmenschen, der in seiner Borniertheit die kolonisierten Völker nur noch wahrnimmt als „steinzeitlich“ (Ureinwohner), als „unzivilisierte Wilde“ (Eingeborene), als der Natur eher denn der Kultur zugehörig [...]. (Leserbrief von Harald Heiske in FRANKFURTER RUNDSCHAU 21.10.1992)
Auch die Sichtbarmachungs-Forderung der feministischen Linguistik (vgl. als neuere Überblicke Pusch 1999, Bär 2004, Hellinger 2004 oder KlannDelius 2005) arbeitet mit diesem Topos: Wenn das generische Maskulinum das Merkmal ‘männlich’ nicht (mehr) enthält, kann es diesem sprachkritisch als „eigentliches“ Bedeutungsmerkmal hinzugefügt werden, und als Folge der Sprachkritik ändert sich die Bedeutung der Wörter – oder
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auch nicht, wenn die entsprechenden sprachkritischen Versuche erfolglos bleiben oder wenn sie nur zu satirischen, unterhaltenden Zwecken bestimmt sind. In unserem umfangreichen Material öffentlich-politischer Texte aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland finden sich remotivierende Sprachthematisierungen immer wieder. Ich werde sie hier systematisch auf die vom Tagungsthema fokussierte Frage hin betrachten, welche Rolle sie in einer Sprachwandeltheorie für die Prozesse spielen, die Grammatikalisierungen und Lexikalisierungen entgegen laufen, inwiefern sie also die von Harnisch 2004 theoretisch verorteten De-LexikalisierungsTendenzen stützen oder „verstärken“. Für Letzteres sollen meine Beispiele eine empirische Fundierung im Bereich der öffentlich-politischen Sprache liefern. 1 Vor der Präsentation von Beispielen aus drei verschiedenen Themenfeldern werden in Kap. 2 zunächst drei Typen remotivierter Bezeichnungen unterschieden: Historische Vokabeln, später historisch gewordene Vokabeln, die im jeweils aktuellen politischen Streit remotiviert werden, und im politischen Streit frequente und eine bestimmte Wirklichkeitssicht repräsentierende Ausdrücke, die aus politisch-strategischen Gründen remotiviert werden. Aus den Beispielen im dritten Kapitel werden abschließend als Fazit drei verschiedene Sprachwandelfolgen durch Remotivierung herausgearbeitet. Zudem soll im Fazit der neue Aspekt, den ich bezüglich der öffentlich-politischen Sprachgebrauchsdomäne zur DeLexikalisierungsforschung beizusteuern hoffe, deutlich werden.
2. Typen remotivierter Vokabeln im öffentlich-politischen Sprachgebrauch In den 1950er Jahren hatte sich in der Bundesrepublik für nichtindustrialisierte ärmere Länder die Bezeichnung Entwicklungsländer gegenüber unterentwickelte Länder und ähnlichen Wortverbindungen
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Vgl. zu semantischen Remotivierungen auch die Beiträge von Eichinger, Eroms, Fill und Schlosser in diesem Band. Während Fill deren Funktionen in Zeitungstexten betrachtet, beschäftigen sich die anderen Beiträge ebenfalls mit den Folgen semantischer Remotivierungen für den Gebrauch der thematisierten Ausdrücke. Sie konzentrieren sich dabei auf die Ergebnisse solcher Aktionen, bei denen SpecherInnen ausdrücklich zur Thematisierung sprachlicher Einheiten aufgefordert werden. Die Wahl des „Wortes des Jahres“, der Wettbewerb „Das schönste deutsche Wort“ sowie die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ liefern dabei das Material für Reflexionen über „Verstärkung“ und De-Lexikalisierung. Demgegenüber konzentriert sich mein Beitrag auf „spontane“, im Getümmel der alltäglichen politischen Auseinandersetzungen geäußerte semantische Remotivierungen.
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durchgesetzt. Semantisiert war in diesem Kompositum – ebenso wie in Entwicklungshilfe – von Beginn an ein deontisches Verständnis des Bestimmungswortes Entwicklung als ‘etwas, das erst noch geschehen soll’. Von Kritikern der ungerechten Welthandelsstrukturen wird aber die ontische Bedeutung von Entwicklung als ‘etwas, das gerade der Fall ist’ genutzt, um ihre Sachkritik durch Sprachkritik plausibel zu machen. Damit können sie Aufmerksamkeit für ihre Argumentation gewinnen, nicht aber die lexikalisierte referentielle und deontische Bedeutung des Wortes verändern. Moniert wird, dass der Ausdruck unterstelle, dass die so bezeichneten Länder sich tatsächlich entwickeln – als „eigentliche“ Bedeutung wird also die zweite genannte, die ontische Bedeutung behauptet. Dies aber sei gerade nicht der Fall, entwickelt hätten sich bisher und entwickeln würden sich momentan nur die reichen Länder: Aber Handel mit Afrika oder Lateinamerika z.B. ist noch keine Entwicklungshilfe. Die Hamburger handeln schon 300 Jahre mit Afrika und haben sich dabei gut entwickelt; aber die Entwicklungsländer haben sich nicht gut entwickelt. (SPDAbgeordneter Kalbitzer BT 5.5.1961, S. 9207) Paradoxerweise muß man sogar sagen, daß diese Staaten [die Industriestaaten] noch heute in höherem Maße ‚Entwicklungsländer‘ sind, weil sich hier ständig große Veränderungen und Fortschritte ergeben, wogegen die meisten Staaten der Dritten Welt sich im Durchschnitt so langsam wandeln, daß man dort eher von ‚Stagnationsländern‘ sprechen müsste. (Wendorff 1984: 13)
Während hier also ein bis heute etablierter und im Alltagsgebrauch „unproblematischer“ Ausdruck in der aktuellen Auseinandersetzung remotiviert wird, um auf inhaltliche, politisch-wirtschaftliche Probleme zu verweisen, ist im gleichen Themenfeld vor allem anlässlich des 500. Jahrestages der Landung Christoph Kolumbus’ auf den karibischen Inseln die lexikalisierte historische Vokabel für diesen Vorgang (Entdeckung) als Ausdruck euro-zentrischen Denkens kritisiert worden: Noch heute ist die Rede von der ‚Entdeckung Amerikas‘, wie wenn man in der Alten Welt ignorieren wollte, daß auf diesem Kontinent vor dem Eintreffen der Spanier große Kulturen und Zivilisationen existierten. Das zeugt von kolonialistischem Denken. Andere verniedlichen die Eroberung und Unterwerfung der hiesigen Völker als ‚Begegnung von zwei Kulturen‘. Und das ist eine Heuchelei. [...] 1492 war der Auftakt zu einer Invasion. (Der Ecuadorianer Luis Maldonado in einem Interview in der FRANKFURTER RUNDSCHAU 14.10.1991, S. 8.)
Im Sinne des oben definierten Bewusstseinskonstitutions-Topos können durch solche Sprachkritik semantisierte Präsuppositionen nominaler Prädikationen bewusst gemacht werden, ohne dass sich an der konventionellen Bedeutung der Ausdrücke dadurch etwas verändert. Allerdings erschweren solche Remotivierungen häufig spätere Verwendungen des Ausdrucks in der gleichen referentiellen Funktion. Es handelt sich oft um solche Fälle, die unter dem Stichwort political correctness (oder in
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Deutschland auch als historische Korrektheit) wahrgenommen werden: Die Re-Motivierung als Bewusstmachung impliziter Prädikationen und die Re-Semantisierung dieser Prädikationen und damit die De-Lexikalisierung dieser Ausdrücke führen dazu, dass die entsprechenden Ausdrücke gemieden, Ersatzbezeichnungen gesucht und verwendet und insofern die referentielle Bedeutung eingeschränkt wird. Dies war z.B. auch der Fall bei der Remotivierung der Bezeichnung Invasion für die Landung der alliierten Truppen in der Normandie zur Befreiung Europas von der NaziHerrschaft, bei der Bezeichnung Machtergreifung für den Amtsantritt Hitlers im Januar 1933 oder bei dem Wort Wiedergutmachung für finanzielle Leistungen des deutschen Staates an die überlebenden Juden bzw. an den Staat Israel (vgl. dazu Stötzel 2005 u.ö.). Re-motiviert werden in solchen Fällen Bezeichnungen, deren Lexikalisierung bzw. Semantisierung vor allem darin besteht, dass sie als historische Vokabeln eigennamen-ähnlich nur auf ein bestimmtes Ereignis referieren, ohne dass der gleichzeitig prädizierende Charakter der Bezeichnungen den Sprechern noch bewusst ist. So wie aber auch Eigennamen durch Wortbildung semantisiert werden können (verhartzt, riestern, Haiderismus, Knoppisierung), machen solche Re-Motivierungen den – mindestens implizit – prädizierenden Charakter der Bezeichnungen bewusst und versuchen, einen semantischen Aspekt zu re-etablieren, der bei der Lexikalisierung als historische Vokabel und als Quasi-Eigenname verloren gegangen ist. Daneben lassen sich eine Reihe von Fällen beobachten, in denen heute historisch gewordene Vokabeln in den zeitgenössischen Debatten, auf die sie heute referieren, remotiviert wurden, um ihre Lexikalisierung zu verhindern. Denn der vom Sprecher thematisierte Bestandteil enthalte eine Prädikation, die der „Wirklichkeit“ nicht entspreche bzw. eine Sichtweise der „Wirklichkeit“ beinhalte, die vom Sprecher zurückgewiesen wird: Wiederbewaffnung, Wiedervereinigung, Wirtschaftswunder, Nachrüstung sind solche Beispiele. Die Präfixoide wieder und nach sowie das Grundwort wunder werden dabei auf ihren „eigentlichen“ Bedeutungsgehalt zurückgeführt, um sie als für den bezeichneten Problemverhalt falsch bzw. unangemessen zurückzuweisen oder um die im Temporaladverb wieder enthaltene Restitution alter Zustände als deontischen Bedeutungsbestandteil zu „entlarven“. Der häufigste Fall semantischer Re-Motivierungen findet sich aber (wie im Beispiel Entwicklung) dort, wo in gerade aktuellen, politisch brisanten Debatten eine sprach-bezogene Argumentation strategisch eingesetzt wird, um eine politische Haltung oder Schlussfolgerung zu rechtfertigen. Z.T. zielen solche Remotivierungen auch auf die Semantik, d.h. auf den konventionellen Gebrauch der Ausdrücke, der verändert
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werden soll. Meistens aber wird dieser konventionelle Gebrauch, eine bestimmte Semantik behauptet oder unterstellt, um daraus politische Folgerungen abzuleiten (s.o: Gastarbeiter) oder – der häufigste Fall – um das Wort als falsch zu charakterisieren und seinen zukünftigen Gebrauch einzuschränken oder auszuschließen. 2 Beispiele, aus denen „politisch korrekte“ Sprachregelungen abgeleitet werden, sind hier wohl am bekanntesten (Zigeuner, Eskimos, Stämme, Eingeborene, Mohrenkopf, Sorgenkind). Ich werde im folgenden Kapitel drei Themenfelder herausgreifen, in denen Remotivierungen in der öffentlich-politischen Diskussion eine Rolle gespielt haben bzw. spielen und mehr oder weniger zum Sprachwandel beigetragen haben: Umweltdiskussionen, wirtschaftspolitische Debatten und den Streit um die Reform des § 218 StGB. Sie sollen unterschiedliche Formen und Funktionen sowie verschiedene Folgen für die De-Lexikalisierung sprachlicher Einheiten illustrieren. Im Anschluss daran wird versucht, Generalisierungen aus den beobachteten Phänomenen abzuleiten.
3. Remotivierungen in verschiedenen Themenfeldern 3.1. Die Atomenergiediskussion Die hier zu behandelnden Bezeichnungen gehören alle zur letztgenannten Gruppe, bei der Remotivierungen als sprach-bezogene Argumentation politisch-strategisch eingesetzt werden. In der Atomenergiedebatte hat Matthias Jung (1994) die Bedeutungsentwicklung der ursprünglich fachsprachlichen Bezeichnungen GAU, Störfall, Entsorgung(spark), Restrisiko, Kern(kraftwerk) in der öffentlich-politischen Diskussion nachgezeichnet und dabei vielfältige sprachkritische Re-Motivierungen durch Atomkraftgegner im Interesse ihres politischen Kampfes gegen die Atomenergie beschrieben. Diese Ausdrücke sind im öffentlichen Sprachgebrauch hochfrequent und in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern gut belegt (,lexikalisiert‘). […] Es handelt sich um ursprünglich neutrale, intern schon länger geläufige Expertenausdrücke, die eher unfreiwillig in den öffentlichen Sprachgebrauch gelangten, indem sie im Rahmen der nuklearen Terminologiespirale auch für Laien kommunikative Relevanz erhielten. Trotz ihres fachsprachlichen Ursprungs entglitten sie im Verlauf
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Vgl. dazu auch die Beiträge von Eroms und Schlosser in diesem Band, die ähnliche Versuche im Rahmen der Aktion „Unwort des Jahres“ bezüglich Ich-AG, Humankapital und Wohlstandsmüll reflektieren.
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der Kontroverse völlig der Definitionsmacht der Terminologen und erst recht der Lobby der Befürworter. (Jung 1994: 190)
Und dies u.a. deshalb, weil es den Atomenergiegegnern in der öffentlichen Debatte gelungen ist, die genannten Bezeichnungen über die ReMotivierung ihrer Bestandteile als bewusst manipulative Sprachstrategie der Atomlobby erscheinen zu lassen. Sie unterstellten eine rein synchrone Motivierung der Bezeichnungen und berücksichtigten dabei nicht, „daß Form und Inhalt von Wörtern ‚in historischen Prozessen entwickelt’ werden“ (ebd.: 191), in diesem Fall also eine ganz andere fachsprachliche Motivierung hatten. Obwohl – wie Jung diagnostiziert – „mit wachsender Frequenz, mit jedem neuen Verwendungsfall“ die Lexikalisierung der betrachteten Einheiten verfestigt wird und die „Durchsichtigkeit“ verloren geht, ist es in diesem Fall den Atomenergiegegnern gelungen, durch die Re-Motivierung zumindest in großen Sprechergruppen eine DeLexikalisierung zu erreichen. Dafür zwei Beispiele: Der Ausdruck Entsorgung wird kritisiert, weil er die Assoziation ‚Freimachen von Sorgen’ enthalte und ein ‚beiseite schieben’ und ‘unschädlich machen’ beinhalte. Beides treffe für die Entsorgung von Atommüll nicht zu. Entsorgungspark sei eine „euphemistische Vokabel, die eher an ein Lunapark-Vergnügen als an einen für eine Million Jahre strahlenden Atomfriedhof“ (DER SPIEGEL 47/1976, 55), also an einen schönen grünen Freizeitpark denken lasse, weshalb das Wort lange Zeit als Gipfel euphemistischen Sprechens galt – bezeichnete es doch eine industrielle Anlage zur Wiederaufarbeitung von Atommüll mit integriertem Endlager. Atomkraftwerk werde von der Atomenergie-Lobby systematisch durch Kernkraftwerk ersetzt, denn: „Auch hier gibt es Assoziationen, aber höchst liebenswürdige: Haselnusskerne, Kernobst, kernig, kerngesund“ (Gründler 1982: 206). Das Wort bekomme dadurch „etwas anheimelnd Verlässliches, etwas von standfester Würde“ (Dahl 1977: 39). In beiden Fällen werden also Bestandteile lexikalisierter Komposita remotiviert, um den euphemistischen Charakter der Gesamtbezeichnung zu erweisen. Auch wenn die remotivierte Bedeutung sich aufgrund solcher Kritik nicht durchsetzt, so führt die Kritik doch zu Gebrauchseinschränkungen (die Kritiker und mit ihnen die, die sie mit ihrer Argumentation überzeugen, vermeiden die Ausdrücke und nutzen „richtige“, nicht verschleiernde Alternativen) und zum Bewusstsein eines problematischen euphemistischen Gehalts solcher Komposita.
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3.2. Wirtschaftspolitische Debatten Sehen wir uns ein zweites Themenfeld an. Wie auch in der aktuellen politischen Debatte, so standen bereits in den 1950er Jahren wirtschaftspolitische Fragestellungen meist weit oben auf der politischen Agenda. Als Teildiskurs der Debatte um die grundsätzliche Ausrichtung des Wirtschaftssystems und der Wirtschaftspolitik war es die Gestaltung der Beziehungen zwischen den heute meist Tarifparteien genannten Interessenverbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die umstritten war. Dabei waren es die Konzepte der Sozialpartnerschaft und der Mitbestimmung, die auch sprachkritisch verhandelt wurden. Und als sich über Jahre hinweg ein wirtschaftlicher Aufschwung und ein wachsender Wohlstand einstellte, wurde dies zeitgenössisch – wie auch heute noch gerne – als Wirtschaftswunder bezeichnet. Sozialpartner(schaft), Mitbestimmung und Mitwirkung sowie Wirtschaftswunder sind schon damals weitgehend lexikalisierte und vordergründig nur noch referierende Komposita, deren Etablierung durch Remotivierungen zu verhindern versucht wurde (vgl. ausführlicher dazu Wengeler 1996a). Und auch ein Klassiker der politischen Sprachkritik gehört zu diesem Bereich, die Kritik an den Ausdrücken Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die allerdings schon 70 Jahre zuvor von Friedrich Engels geäußert wurde. Engels kritisierte das „Kauderwelsch“ der deutschen Ökonomen, „worin z.B. derjenige, der sich für bare Zahlung von anderen ihre Arbeit geben lässt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird.“ (Vorrede zur 3. Auflage von Karl Marx’ „Kapital“, hier zit. nach von Polenz 1999: 536). Zwei verschiedene deskriptive Semantisierungen von Arbeit liegen dieser ReMotivierung der mit Arbeit als Bestimmungswort gebildeten Komposita zugrunde: Arbeit als ‘Arbeitskraft’ setzt Engels gegen die in die Komposita eingegangene Bedeutung von Arbeit als ‘Arbeitsplatz’ bzw. ‘(entlohnte) Arbeitsmöglichkeit’, die ja auch in den letzten Wahlkämpfen im Vordergrund steht, wenn z.B. die CDU plakatiert: „Mehr Wachstum. Mehr Arbeit“. Diese in politisch linken Gruppen immer gerne wiederholte und beinahe zum running gag verkommene Re-Motivierung hat allerdings an der Lexikalisierung der beiden Komposita kaum etwas geändert. In den Diskussionen um die Mitspracherechte der Arbeitnehmer(vertreter) Ende der 1940er / Anfang der 1950er Jahre war die heute übliche und semantisch unauffällige Vokabel Mitbestimmung noch längst nicht Allgemeingut. Vielmehr wird auf der einen Seite das Grundwort bestimmung re-motiviert als semantischer Träger der Gesamtbedeutung, um es als „diktatorisch“ und als „planwirtschaftlich“ zurückzuweisen: „Zuerst muß eine saubere Grenze zwischen Mitwirkung und Mitbestim-
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mung gefunden werden. Mitwirkung ist ein Bestandteil der freien Marktwirtschaft, Mitbestimmung gehört in den Bereich der Planwirtschaft“ (Ludwig Erhard in: ALLGEMEINE KÖLNISCHE RUNDSCHAU 27./28.12.1949). Gegen ein „übertriebenes Mitbestimmungsrecht“ wird eingewendet, dass der Ausdruck Mitwirkung doch besser sei als das „diktatorisch klingende Mitbestimmen“ (AACHENER VOLKSZEITUNG 11.1.1950). Im Gegenzug wird von gewerkschaftlicher Seite das vorgeschlagene Wort Mitwirkung ebenfalls re-motiviert, indem dessen Semantik mit einem möglichen Bezug auf historische Ereignisse illustriert wird: Es paßte schon zur freien Wirtschaft der alten Ägypter, zehntausenden Fellachen das ‚Mitwirkungsrecht’ am Bau der Pyramiden zu gewähren; [...]. Die englischen Baumwollindustrien waren nicht minder frei, als sie selbst Kinder am Webstuhl ‚mitwirken ließen’. Man sieht also, daß die ‚Mitwirkung’ der Arbeiter an der Schaffung des Reichtums anderer nicht gerade die neueste Erfindung ist. (WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU 5.1.1950)
Im gleichen Kontext wird auch der gerade lexikalisierte Ausdruck Sozialpartner(schaft) remotiviert, um vom politischen Gegner ein anderes Verhalten einzufordern. Dabei wurde auch hier versucht, die ursprüngliche Motivierung des Ausdrucks aufrechtzuerhalten und vor allem die deontische Bedeutung von Partner (‘jemand, der sich fair und nett zum anderen verhalten soll’) für die eigene politische Argumentation zu nutzen. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter verwenden Sozialpartner und Sozialpartnerschaft vor allem in Kontexten, in denen auf ein gemeinsames Interesse von Unternehmern und Arbeitnehmern verwiesen oder ein gemeinsames, kooperatives oder kompromissbereites Vorgehen bei der Lösung z.B. der Mitbestimmungsregelung eingefordert werden soll. Dabei wird das Grundwort Partner auch schon implizit re-motiviert. Die explizite Remotivierung erfolgt vor allem durch eine inhaltliche Kontrastierung mit dem als Antonym dargestellten Gegner: „Der Sozialpartner müsse allerdings [laut Carl Neumann, einem Delegierten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie] das Eigentum grundsätzlich anerkennen und auf Agitation verzichten. Wenn diese Voraussetzung bei ihm nicht gegeben sei, höre er auf, Sozialpartner zu sein und werde zum Gegner“ (KÖLNER STADT-ANZEIGER 22.7.1950, Titel: „Sozialpartner oder Sozialgegner?“) Die Gewerkschaftsseite sieht Partnerschaft erst gegeben durch das, was durch die paritätische Mitbestimmung herbeigeführt wird, und unterstreicht dies ebenfalls mit Re-Motivierungen mittels des Antonyms Gegner (vgl. z.B. WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG 20.4.1950, Titel: „Partner oder Gegner“) und des Attributs echt: „Nur echte Partnerschaft sichert Arbeitsfrieden“ (WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU 4.9.1954).
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Aber auch expliziter wird thematisiert, dass von (Sozial)partnern erst dann wieder zu Recht gesprochen werden dürfe, wenn beide Seiten zur Sicherung der Arbeitsplätze, zur Vermehrung der Kaufkraft und zur Steigerung des allgemeinen Lebensstandards zusammenarbeiten würden: „Das nach dem Kriege im Zeichen des gemeinsamen wirtschaftlichen Wiederaufbaues entstandene Wort von den ‚Sozialpartnern’ war seit der Auseinandersetzung um das Mitbestimmungsrecht ein leerer Begriff, ja geradezu eine Farce geworden“ (FRANKFURTER NEUE PRESSE 24.3.1953). Während hier also die sprachliche Re-Motivierung eines zentralen Schlüsselwortes in einer kontroversen politischen Debatte für konkrete Forderungen an die antagonistische Gruppierung strategisch genutzt wird und damit der prädikative Charakter eines Kompositums de-lexikalisiert wird, geht es bei der Thematisierung der Bezeichnung Wirtschaftswunder allgemeiner darum, die wirtschaftlichen Erfolge der 50er Jahre als Folge der Wirtschaftspolitik bzw. der deutschen Arbeitsleistung herauszustellen. In den frühen fünfziger Jahren reagieren große Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf diese ursprüngliche Fremdbezeichnung des Auslands mit Ablehnung: Sie wehren sich dagegen, dass als Wunder bezeichnet wird, was durch den Fleiß und die Tüchtigkeit der Deutschen und durch das System der sozialen Marktwirtschaft erreicht worden sei. Das Grundwort Wunder wird (im folgenden Beispiel nur implizit) remotiviert als eine Vokabel, die etwas Nicht-Erklärbares, Schicksalhaft-Zufälliges ausdrückt: Wir selbst nennen es kein Wunder, was hier seit 1948 vollbracht wurde: der Lebenswille unseres Volkes, Fleiß und Können unserer Arbeitnehmer und Unternehmer erarbeiteten die Schicksalswende. (Anzeige der Gemeinschaft Die Waage in: RHEINISCHER MERKUR 24.10.1952)
Auch als historische Vokabel wird das Kompositum bis heute oft mit distanzierenden Anführungszeichen verwendet, um nur die referentielle Funktion zu nutzen, sich von der im Grundwort „versteckten“ Prädikation des Unerklärbaren aber anschließend zu distanzieren, indem die „wahren Gründe“ des Wirtschaftsaufschwungs dargelegt werden (vgl. Borchardt 1985: 193). 3.3. Der Streit um den § 218 Die Beispiele aus dem wirtschaftspolitischen Themenbereich stehen für eine Form der Re-Motivierung und okkasionellen De-Lexikalisierung von – z.T. erst vor nicht langer Zeit – lexikalisierten Komposita, durch die die rein referentielle (und höchstens „versteckt“ prädizierende) Funktion derselben sich kaum geändert hat. Aus einem anderen Themenfeld lassen
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sich zwei Beispiele anführen, bei denen die Re-Motivierung Lexikalisierungen verhindert oder rückgängig gemacht hat. Wie für explizite sprachliche Thematisierungen üblich, sind die Re-Motivierungen in einer Zeit zu beobachten, in der das Thema besonders kontrovers diskutiert wurde. Das führt dazu, dass auch sprachbezogene Argumentationen relevant werden, weil man in solchen Brisanz-Phasen der öffentlichen Debatte die mögliche bewusstseinskonstituierende Funktion der Sprache entdeckt und daher bestimmte Lexikalisierungen verhindern will. In der Debatte der frühen 1970er Jahre um die Reform des § 218 ist dies bezüglich der Ausdrücke Schwangerschaftsunterbrechung und werdendes Leben gelungen (vgl. dazu Böke 1995). Gegner der Reform, insbesondere der vorgeschlagenen straffreien Abtreibung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft (Fristenlösung), remotivierten das Grundwort unterbrechung im bis dahin unproblematischen, dem medizinischen Fachwort nachgebildeten Kompositum als ‘etwas, nach dem das im Bestimmungswort Genannte anschließend fortgesetzt wird’. Bezüglich der Wortverbindung werdendes Leben wird das partizipiale Attribut werdend als ‘etwas, das noch nicht ist, sondern erst wird’ remotiviert. Die lexikalisierte, weil durch allgemeines Weltwissen gestützte Bedeutung von Schwangerschaftsunterbrechung als etwas Endgültiges konnte durch diese Thematisierung insofern aufgehoben werden, als das Wort im öffentlich-politischen Kontext kaum noch verwendet wurde und durch Schwangerschaftsabbruch ersetzt wurde. Werdendes Leben wurde ebenfalls mehr und mehr durch ungeborenes Leben ersetzt, weil es durch die Re-Motivierung gelungen war, die zuvor lexikalisierte Bedeutung des ‘Noch-nicht-selbstständig-Lebensfähigen’ zurückzudrängen zugunsten der de-lexikalisierten, mit einem „wörtlichen“ Verständnis des Attributs begründeten Bedeutung ‘Noch-nichtmenschliches-Leben’. Auch in diesem Fall führte die Re-Motivierung zu einer dauerhaften De-Lexikalisierung der Wortverbindung: Sie wurde – weil aus politisch-ideologischen Gründen nicht gewollt – nicht mehr verwendet: Ungeborenes Leben, in bestimmten Sprechergruppen ungeborenes Kind, aber auch fachsprachliche Ausdrücke wie Fötus oder Embryo haben die Wortverbindung ersetzt. Zur Illustration zitiere ich die beiden klarsten Thematisierungen: Schon jetzt wird diese Tötung durch das elegante Wort Schwangerschaftsunterbrechung verharmlost, das so klingt, als ob die Schwangerschaft nur eben einmal unterbrochen und dann fortgesetzt würde. Eben das aber ist nicht der Fall. Man sollte um der Ehrlichkeit willen also wenigstens von Schwangerschaftsabbruch reden. (Ulrich Beer in STUTTGARTER NACHRICHTEN 23.5.1970, zit. nach Böke 1995: 568) Aber auch die heute oftmals – selbst von christlichen Kirchen – verwendete Formulierung vom „werdenden Leben“, das geschützt werden soll, ist unklar und wirft die Frage auf: Haben wir es bei dem noch ungeborenen Leben mit noch
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nicht vollwertigem Leben zu tun, das nicht als eigenes zu schützendes Rechtsgut verstanden wird? […] Um derartige Missverständnisse zu vermeiden, erscheint es angebrachter, einfachhin von ungeborenem menschlichen Leben zu sprechen. (Johannes Gründel (Hg): Abtreibung pro und contra. München 1971, 71, zit. nach Böke 1995: 570)
4. Fazit: De-Lexikalisierung durch Remotivierung im öffentlich-politischen Sprachgebrauch? Es geht auch bei meinen Beispielen – wie im gesamten Sammelband – um den der Grammatikalisierung (und Lexikalisierung) gegenläufigen Prozess, der „zu ‚Anreicherung’, d.h. zu semantischer Re-Motivierung und formaler Re-Semantisierung, führt“ (Diewald 2004: 146). Die von Harnisch im Spracherwerb und für den Sprachwandel auf der Ebene der Morphologie beschriebenen und mit der Theorie der „Sekretion“ erklärten Wandelprozesse sind seiner Erklärung zufolge bedingt durch das – hörerseitige – „Bedürfnis zur ‚Semantisierung von formaler Substanz’ und führen in diesem Fall zur Neusegmentierung und semantischen Anreicherung der bislang ‚überflüssigen’ Substanz“ (ebd.). Das Besondere der von mir beschriebenen Re-Motivierungen liegt darin, dass dieses als eine Tendenz der Sprecher und Hörer beschriebene Bedürfnis, „formale Substanz, die gewissermaßen überschüssig ist, offenbar semantisch interpretieren [zu] wollen“ (Harnisch 2004: 227), im Fall des öffentlich-politischen Sprachgebrauchs – anders als bei den klassischen „Volksetymologien“ – auf ganz konkrete inhaltlich-strategische Motive zurückgeführt werden kann: „Die Sprache“ bzw. viele mehr oder weniger etablierte, d.h. lexikalisierte oder semantisierte sprachliche Ausdrücke bzw. Ausdruckskomplexe stellen die formale und semantische Substanz bereit, mit der Sprecher ihre politischen Ziele argumentativ verfolgen können. Sie stützen sich auf die scheinbare Evidenz bzw. die Plausibilität einer sprachbezogenen Argumentation, die die verbreitete Vorstellung von „eigentlichen“, „ursprünglichen“ Bedeutungen oder von der Motiviertheit und Transparenz von Wortbildungen – die im Gebrauch verloren zu gehen droht (Lexikalisierung) –, dazu nutzt, nicht-sprachliche, eben politische Argumente überzeugungskräftiger zu machen. Als formale sprachliche Substanz eignen sich dafür insbesondere Komposita und attributive Partizipialkonstruktionen, weil hier die offene semantische Beziehung der Bestandteile genutzt werden kann (vgl. das berühmte Beispiel der Fischfrau von Heringer 1984, vgl. auch Donalies 2002: 157ff.). Semantisch remotiviert werden aber auch gängige Simplizia (Entwicklung, Entdeckung), indem ihr referentieller Bezug oder ihre
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„versteckte“ Prädikation in Frage gestellt wird. Es handelt sich in der Regel um Nomina, die im Rahmen einer bestimmten politischen Debatte wenigstens zeitweise eine gewisse Frequenz hatten, oft interessegeleitet von bestimmten Gruppen verwendet wurden oder die eine bestimmte, z.T. aber auch erst durch die Re-Motivierung behauptete oder unterstellte Wirklichkeitssicht konstituieren. Der allgemeinere sprachtheoretische Grund für solche Remotivierungen ist weniger, dass „Ausdruck nach Inhalt verlangt“, dass Sprachen eine Tendenz zur „Semantisierung formaler Substanz“ innewohnt (vgl. Harnisch 2004: 227), sondern eher sprachpragmatisch bzw. sprachfunktional, dass nämlich mit Nomina nie nur referiert, sondern immer auch prädiziert wird. Bei Wortbildungen, vor allem Komposita und Neologismen tritt dieser prädizierende Charakter deutlicher hervor, bei etablierten Nomina wie Entdeckung oder Invasion kann er bezüglich bestimmter Referenzbereiche bewusst gemacht werden. Neben dieser interessegeleiteten, strategischen Funktion von Remotivierungen im politischen Bereich dürfte es im öffentlichen Sprachgebrauch vor allem eine sprachspielerische und damit unterhaltende und aufmerksamkeits-heischende Funktion geben, die in der Werbung und in Unterhaltungs-Genres wie Comedy und Kabarett genutzt wird, vermutlich auch in der Literatur und in Pop-Songs. 3 Da ich hierfür keine Belege gesammelt habe, soll dies nur als eine weitere Spielart von Remotivierungen mit anderer Funktion im öffentlichen Sprachgebrauch erwähnt werden. Eine interessante Frage ist die nach dem Sprachwandel durch strategisch motivierte De-Lexikalisierungsbemühungen. Bei den mir vorliegenden Beispielen handelt es sich zum Teil um solche, bei denen ReMotivierungen vereinzelt, okkasionell geblieben sind und keine Folgen für die konventionelle Bedeutung des thematisierten Ausdrucks hatten (Gastarbeiter, Entwicklungsländer, Mitbestimmung, ausländische Mitbürger, Wirtschaftswunder, Entdeckung Amerikas, Entsorgung), wenn sie auch zeitweise die Aufmerksamkeit auf mögliche bewusstseinskonstituierende semantische Gehalte solcher Wörter gelenkt haben. In anderen Fällen haben – allerdings erst wiederholte – Remotivierungen zu Gebrauchsveränderungen und damit Bedeutungsveränderungen geführt (Machtergreifung, Dritte Welt, Nachrüstung, Entsorgungspark, Restrisiko), wenn diese sich auch oft nur auf die Anwendbarkeit der Ausdrücke zur Referenz auf bestimmte Problemverhalte beziehen oder auf die Verwendung durch bestimmte Gruppen. Eine dritte, allerdings eher seltene Form des Sprachwandels durch Remotivierung ist die De-Lexikalisierung in dem Sinne, dass die re-motivierten Ausdrücke zumindest in der öffentlich-
_____________ 3 Zu solchen Funktionen in Zeitungstexten vgl. den Beitrag von Fill in diesem Band.
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politischen Sprache aufgegeben und durch andere, oft zuvor schon konkurrierende Ausdrücke ersetzt werden: Schwangerschaftsunterbrechung o Schwangerschaftsabbruch, Mitwirkung o Mitbestimmung, Sozialpartner o Tarifparteien, werdendes Leben o ungeborenes Leben. Re-Motivierungen sind also im öffentlich-politischen Sprachgebrauch ein durchaus beliebtes argumentatives strategisches Mittel, sich daraus ergebende De-Lexikalisierungen sind aber eher selten. Das bestätigt das von Harnisch trotz der Konzentration auf solche Resegmentierungs- und Remotivierungsprozesse gezeichnete Bild des gegenüber Lexikalisierungsund Grammatikalisierungs-Prozessen „geringeren Umfangs von Fällen, die solchen Anhebungs- oder Verstärkungsprozessen unterliegen“ (Harnisch 2004: 229).
Literaturverzeichnis Bär, Jochen A. (2004): Genus und Sexus. Beobachtungen zur sprachlichen Kategorie „Geschlecht“. In: Eichhoff-Cyrus (Hg.), 148-175. Böke, Karin (1995): Lebensrecht oder Selbstbestimmungsrecht? Die Debatte um den § 218. In: Stötzel, Georg / Wengeler, Martin u.a.: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin / New York: de Gruyter, 563-592. Borchardt, Knut (1985): Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik nach dem „Wirtschaftswunder“. In: Schneider, Franz (Hg.): Der Weg der Bundesrepublik. Von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck, 193-216. Dahl, Jürgen (1977): Kommt Zeit, kommt Unrat. Der ‚Entsorgungspark’ in der Atomindustrie. In: Scheidewege 7, 39-62. Diewald, Gabriele (2004): Einleitung: Entwicklungen und Fragen in der Grammatikalisierungsforschung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 32, 137-151. Donalies, Elke (2002): Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. Tübingen: Narr. Eichhoff-Cyrus, Karin M. (Hg.): Adam, Eva und die deutsche Sprache. Beiträge zur Geschlechterforschung. Duden – Thema Deutsch, Bd. 5. Mannheim: Dudenverlag. Eichinger, Ludwig M. (in diesem Band): „… es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ Remotivationstendenzen. Eroms, Hans-Werner (in diesem Band): Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse. Fill, Alwin (in diesem Band): De-Idiomatisierung und Neu-Idiomatisierung als spannende Sprachstrategien. Gründler, Hartmut (1982): Kernenergiewerbung. Die sprachliche Verpackung der Atomenergie – Aus dem Wörterbuch des Zwiedenkens. In: Heringer, Hans Jürgen (Hg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen: Narr, 203-215.
Remotivierungen im öffentlich-politischen Sprachgebrauch
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Horst Dieter Schlosser
Sprachliche Verstärkungen in öffentlicher Sprachkritik. Erfahrungen und Perspektiven am Beispiel der Wahl von „Unwörtern des Jahres“ Vorbemerkung Den mehr als zufälligen Anfängen der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ 1991 lag keine feste linguistische Konzeption zugrunde. Die Unwort-Aktion sollte im Wesentlichen die von der Gesellschaft für deutsche Sprache schon seit 1971 veranstaltete Wahl des „Wortes des Jahres“ um einen sprachkritischen Akzent ergänzen. Nach fünfzehn Jahren der Sammlung und Auswertung von Unwort-Vorschlägen aus der deutschsprachigen Bevölkerung zeichnen sich indes einige Tendenzen ab, die linguistischer Aufmerksamkeit wert sind. Es ging und geht bei dieser Aktion noch heute im Wesentlichen um Sprachgebrauchskritik und dabei insbesondere um semantische Aspekte; die allerdings zeigen nicht selten eine gewisse Affinität zu morphologischen Phänomenen und umgekehrt. Aber das gesammelte Material wirft auch ein interessantes Licht auf die Bedeutung von Ironie, Parodie oder Provokation sowohl für sprachliche Verstärkungen, also für die Stabilität sprachlicher Muster, als auch für den Sprachwandel.
1. Gebrauchsverstärkung durch Unwort-Rügen? Ob der Gebrauch bestimmter Wörter und Wendungen, die als „Unwörter“ öffentlich kritisiert werden, verstärkt wird oder zurückgeht, ist nur impressionistisch einzuschätzen. 1 Sicher ist nur, dass die kritisierten Wörter und Wendungen auf Grund des Medienechos wie kaum ein anderer Gegenstand von Sprachkritik jeweils eine längere Weile öffentlich diskutiert werden.
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Ausführlichere Überlegungen hierzu mit Beispielen unterschiedlicher Nachwirkung und kontroverser Rezeption im vorliegenden Band bei Hans-Werner Eroms.
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Eine systematische Analyse der Wirkungen unserer Sprachkritik ist uns schon aus finanziellen Günden nicht möglich. Mehr oder weniger zufällige Beobachtungen lassen freilich einige „Typen“ von Möglichkeiten, auf unsere Kritik zu reagieren, erkennen. Es sei aber vorweg betont, dass wir uns in einer Satzung selbst jede Zensurabsicht verboten haben; durch exemplarische Rügen soll nur für mehr sprachliche Sensibilität im öffentlichen Sprachverkehr geworben werden. 2 Auch und gerade eine kontroverse Diskussion über unsere Entscheidungen betrachten wir als Erfolg, weil sie ein Beleg für eine von uns angestoßene, sonst wohl eher ausgesparte Reflexion über den öffentlichen Sprachgebrauch ist. Versuche, von uns gekürte Unwörter zu Gegenständen von Zensurabsichten zu machen, hat es durchaus gegeben. Schon das allererste Unwort des Jahres von 1991 ausländerfrei hat etwa die PDS im Bundestag zum Anlass genommen, für seinen Gebrauch im Parlament eine Ordnungsstrafe zu verlangen, was natürlich pure Effekthascherei war, da vor einem Einzug rechtsextremer Parteien in den Bundestag kaum mit einem ernstgemeinten Gebrauch dieses Wortes im Hohen Haus zu rechnen ist. Möglicherweise geht der Rückgang im Gebrauch der 1992 kritisierten Kollokation ethnische Säuberungen auf Indizierungen des Unworts in einer Presseagentur und in mindestens einem ARD-Sender zurück. Einen freiwilligen Verzicht auf den Gebrauch kann man beim JahresUnwort von 1995 Diätenanpassung zugunsten der tatsächlich gemeinten Diätenerhöhung feststellen, Ähnliches bei Gotteskrieger für die TalibanKämpfer (2001). Selbstironisch gingen die Urheber bzw. Verwender der Formulierungen Peanuts (1994) und sozialverträgliches Frühableben (1998) mit unseren Rügen um: Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Hilmar Kopper (Peanuts) ließ sich sogar in einer werblichen Fotomontage FAZ-lesend auf einem Güterwagen voller Erdnüsse ablichten, und der Präsident der Bundesärztekammer Karsten Vilmar zitierte sich, mit seinem Okkasionalismus sozialverträgliches Frühableben verliebt kokettierend, noch einige Male selbst. Doch nur die Peanuts als Verniedlichung großer Geldsummen haben „überlebt“, freilich jeweils mit einer deutlich ironischen Konnotation. – Öffentliche Entschuldigungen kennen wir von Helmut Maucher, seinerzeit Verwaltungspräsident der Firma Nestlé, für seine Umschreibung von arbeitsunwilligen oder gar arbeitsunfähigen Menschen als Wohlstandsmüll (1997) und des Nato-Sprechers Jamie Shea für seine
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Satzungsauszug und weitere Informationen in: <www.unwortdesjahres.org/>
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Bezeichnung von zivilen Opfern der Kriegführung gegen Serbien als Kollateralschäden (1999) 3 . Das aber sind – wie gesagt – mehr oder weniger nur zufällig bekannt gewordene Reaktionen auf einzelne Unwort-Rügen, aus denen sich kaum aufs Ganze schließen lässt. Eine Verstärkung des Wortgebrauchs nach einer Unwort-Wahl war bisher nicht zu entdecken, obgleich dies gelegentlich als kontraproduktives Ergebnis unserer Kritik befürchtet wird. Als Ausnahme im Weitergebrauch können jedoch nachträgliche Ironisierungen und/oder metaphorischen Umdeutungen gelten. Bereits hierin lassen sich Faktoren des semantischen Wandels erkennen, der zugegebenermaßen durch unsere Unwort-Rügen angeregt wird.
2. Schwerpunkte in eingereichten Unwort-Vorschlägen Die tatsächlich vorgenommenen sprachkritischen Rügen erscheinen in linguistischer Hinsicht zunächst mehr als disparat, weil im Wesentlichen abhängig von dem, was in der sich zur Unwort-Aktion äußernden Sprachgemeinschaft jeweils für Unbehagen oder Unmut sorgt. Erst im Rückblick auf die bisherigen Unwort-Aktion zeichnen sich gewisse inhaltliche Schwerpunkte der Kritik ab, etwa Kritik an Äußerungen der Fremdenfeindlichkeit, an der Verschleierung und Beschönigung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Missstände u.ä. Die breite Streuung von Unwort-Vorschlägen aus der Bevölkerung, die von nur-individuellen und privaten sprachlichen Beschwernissen bis hin zu hochpolitischen Themen reichen, lässt nur selten eine deutliche Schwerpunktsetzung spontaner Art erkennen. 4 Allerdings sind seit dem Beginn der Aktion die Anteile an Vorschlägen, die sich auf öffentliche Missstände konzentrieren, gewachsen. Dies ist sicherlich auch eine Folge der tatsächlich erfolgten Unwort-Wahlen, die zunächst ungewollt, so doch faktisch vorgegeben haben, welche Themen in der Jury ein besonderes Gewicht haben, was sich in einer 1994 juryintern fixierten Definition niedergeschlagen hat. Danach seien Unwörter nicht zuletzt Wörter und Wendungen, die ggf. sogar die Menschenwürde verletzen – eine zugegebenermaßen starke semantische Einschränkung des lange Zeit sehr offe-
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Shea sprach natürlich englisch (collateral dammage), doch wurde sein Terminus – worauf unsere Kritik zielte – immer wieder in deutscher Übersetzung zitiert. Fast in jeder „Kampagne“ kann festgestellt werden, dass sich besonders zahlreiche Unterstützungen bestimmter Vorschläge gezielten Aktionen verdanken, am deutlichsten an offenbar vorformulierten Anschreiben und gleichlautenden E-Mails erkennbar.
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nen Terminus Unwort. 5 Darum liegen der Jury jährlich auch genügend Belege für teilweise horrende Fehlbenennungen von öffentlich relevanten Sachverhalten und Tatbeständen vor, die geradezu zur Auswahl reizen. Dabei begegnet man nicht selten auch Belegen aus Domänen, in denen man vorwiegend sachliche Nominationen erwartet hätte. Drei Beispiele: Zum einen aus der Gynäkologie, wo bereits 1989 in einer Richtlinie der Bundesärztekammer die Abtötung unerwünschter Zwillinge oder Drillinge im Mutterleib sogar im Titel der Richtlinie als Mehrlingsreduktion (durch einen sog. Fetozid) bezeichnet wird. Zum anderen aus dem Verfassungsrecht, wo seit 1992 in dem Ergänzungsartikel 16a zum Grundgesetz Ausweisungen (vulgo Abschiebungen) von abgelehnten Asylbewerbern bürokratisch verquast aufenthaltsbeendende Maßnahmen genannt werden. Zum dritten aus der Sonderpädagogik die Verwendung des Wortes Selektionsrest für schwerstbehinderte Kinder, die nicht mehr in „Normalklassen“ integriert werden können (1993). Der Mangel an Sensibilität ist kaum zu überbieten, wenn behinderte Menschen als Rest bezeichnet werden, der dann auch noch mit einem durch die NS-Rassenpolitik extrem belasteten Wort, Selektion, verbunden wird. Bei der Unwort-Wahl von Selektionsrest ging es im übrigen nicht (nur) um eine evtl. tolerierbare fachinterne Nomination, sondern um den Gebrauch des Wortes in einem breit gestreuten Fragebogen, der auch Eltern, in der Regel Laien, vorgelegt wurde – einer der deutlichen Fälle, in denen Fachtermini in die Sphäre der Allgemeinsprache übertreten. 6 Die Disparatheit solcher Belege ist indes bis zu einem gewissen Grade nur scheinbar, wie später noch zu zeigen sein wird. Schon jetzt sei die These gewagt, dass sich derartige Neuschöpfungen oftmals Verstärkungen sowohl in semantischer als auch in morphologischer Hinsicht verdanken.
3. Unwort-Vorschläge, die nicht berücksichtigt werden Wir lassen in unseren Beratungen jeweils beiseite, was zum einen durchaus auch einer generellen linguistischen Betrachtung wert wäre, weil es immerhin das Sprachbewusstsein weiter Kreise spiegelt, v.a. die sehr häufige Verwechslung der sprachlichen Zeichen mit dem Bezeichneten (Bsp. Krankheit, Krieg, Tsunami u.ä.); zum anderen Versuche, die Ergebnisse einer Lexikalisierung oder Idiomatisierung rückgängig zu ma-
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unwort konnte allerdings lt. Grimm’schem Wörterbuch schon sehr lange vor der UnwortAktion (spätestens seit 1473) auch ein Wort bezeichen, das es nicht geben sollte, weil es andere beleidigt oder verletzt. Vgl. dazu Hans-Werner Eroms im vorliegenden Band.
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chen, oder das Anstoßnehmen an der allgemeinen Verbreitung ursprünglicher Regionalismen. Erst recht teilen wir nicht die landläufige Kritik an Angloamerikanismen. In diesem letzten Punkt sind wir uns mit einer fast-parallelen UnwortSuche von Germanisten an der Technischen Universität Braunschweig de facto einig, in der seit einiger Zeit generell, also ohne terminologische Beschränkung untersucht wird, was alles in der Sprachgemeinschaft unter „Unwort“ verstanden werden kann. 7 Sehr bald mussten die Braunschweiger Kollegen erkennen, dass der Unmut über die „Anglisierung“ der deutschen Sprache ihnen eine kaum zu bewältigende Fülle an Einsendungen bescherte, die sich gegen vermeintlich überflüssige Anglizismen wandten. Auch wir wurden anfangs mit zahlreichen ähnlichen Vorschlägen konfrontiert. Es gab sogar – in völliger Verkennung unserer tatsächlichen Absicht – wegen angeblicher Propaganda für einen Anglizismus Protest, als wir Peanuts zum Unwort des Jahres 1994 wählten (wir hätten im konkreten Fall möglicherweise auch das „gut deutsche“ Wort Taschengeld o.ä. als zynische Umschreibung für 50 Mio DM gerügt!). Aber nicht nur angesichts solcher eher singulären Missverständnisse gäbe es noch manch anderen Aufklärungsbedarf, zu dem kaum einer mehr berufen wäre als wir Sprachwissenschaftler. Auffälliger sind v.a. die weitverbreiteten, geradezu vor-nominalistischen Verwechslungen von Wort und Sache, für die ich (außer den schon genannten) zwei Beispiele anführen will, die zeigen können, wie groß die soziale Bandbreite derer ist, die solchen Verwechslungen erliegen. Da schlug uns vor einiger Zeit eine alte Dame vor, das Wort Schlaflosigkeit zum Unwort zu erheben, mit der Begründung, sie leide schon seit Monaten unter – Schlaflosigkeit. Und kein Geringerer als Hans Eichel hat einst, als er noch hessischer Ministerpräsident war, in einer Hörfunkdiskussion auf die Frage, was für ihn das Unwort des Jahres sei, geantwortet: Fremdenfeindlichkeit. Natürlich hatte auch er den Sachverhalt und nicht die Benennung gemeint. Eine weitere Gruppe von Laienkritikern möchte ich „Hobbyetymologen“ nennen, weil sie längst lexikalisierte Wörter und idiomatisierte Wendungen auf die Herkunft ihrer Komponenten abklopfen und dann feststellen, dass die betreffende Lexikalisierung oder Idiomatisierung doch reichlich unlogisch sei. Gegenstände dieser Kritik wären etwa Wörter wie durch-aus, mit-unter, um-hin, aber natürlich auch neuere, substantivische Komposita, die ja sehr verschiedenen syntaktischen Kombinationsmustern folgen, die sich nicht nach einer einzigen Regel beurteilen lassen, gegen die schon das Nebeneinander etwa von Schweineschnitzel und Jägerschnitzel verstieße. Ein beliebtes Objekt der Kritik ist auch das
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Griesbach (2004), inzwischen auch Griesbach (2006).
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Kompositum Kindesmissbrauch, das schon deswegen nicht benutzt werden dürfe, weil es das Antonym *Kindesgebrauch nicht gäbe bzw. geben dürfe. Dass es daneben nicht wenige regionalbewusste Sprachkritiker gibt, die jeden Sprachimport aus einer anderen als der eigenen Landschaft beargwöhnen und möglichst sogar verboten sehen möchten, will ich nur am Rande erwähnen. Insbesondere Süddeutsche kritisieren die Ausbreitung „norddeutscher“ Wörter und Wendungen wie den Gruß Tschüss!, außen vor lassen oder den transitiven Gebrauch von erinnern (etwa ein Erlebnis erinnern) anstelle des Reflexivverbs sich erinnern an.
4. Lexikalischer Gebrauchswert vs. Aussageintention Die sprachlichen Wendungen, die wir einer Kritik unterziehen, sind in der Regel nicht spontan entstanden, sondern lassen sich semantisch meist auf schon länger gebräuchliche Denkmuster, auf kognitive Modelle sowie morphologisch sehr häufig sogar auf ältere Wortbildungsmuster zurückführen. Ob es dann wirklich unsere Aussagen sind, die den fixierten Formulierungen Bedeutungen zulegen, die vielfach nicht primär intendiert oder nur Nebenbedeutungen waren, die durch die „Markierung von auffälligem Sprachgebrauch“ ein unangemessenes Gewicht erhalten, wie Hans-Werner Eroms (in diesem Band) mutmaßt 8 , lässt sich an einer Reihe von Unwörtern widerlegen. Tatsächlich erhalten wir auch zahlreiche Vorschläge, die jener schon erwähnten „Hobbyetymologie“ entspringen, weil sie v.a. bei Komposita die längst fixierten Bedeutungen nicht wahrhaben wollen, sondern auf einem wortwörtlichen Verständnis der Komponenten beharren, obwohl zusätzlich ein Sach- oder Erkenntniswandel eine derartige Decodierung verbietet. Ich nenne nur zwei Beispiele, die gleichsam das Muster für derartige Missverständnisse sein können: Brieftasche und Sonnenuntergang. Beide Bezeichnungen stimmen längst nicht mehr mit der benannten Realität überein: Kaum jemand transportiert in einer Brieftasche noch Briefe, und der Sonnenuntergang widerspricht bei wortwörtlichem Verständnis extrem dem neuzeitlichen Wissen. Auf die Möglichkeiten (und letztlich auch Gefahren) einer „Remotivierung“ macht Martin Wengeler in seinem Beitrag grundsätzlich aufmerksam.
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Auch kritische Reaktionen auf einzelne Unwort-Wahlen bestätigen in der Regel, dass der von uns kritisierte Gebrauch sehr wohl als Bestandteil der „Gesamtsemantik“ der jeweiligen Formulierung zu sehen sei. Der aber wurde dann jeweils von den Urhebern oder Wortbenutzern, nicht von der Unwort-Jury ins Blickfeld gehoben.
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In diesem Punkt könnte man meinen, auch wir seien letztlich doch so etwas wie jene „Hobbyetymologen“, die ein Wort oder eine Wendung nur deswegen zu Unwörtern stempeln, weil ihr heutiger Gebrauch nicht mehr mit ihrer primären Aussageintention übereinstimmt. Diese Vermutung hätte tatsächlich immer dann eine gewisse Berechtigung, wenn wir etwas kritisch aufspießten, das im individuellen Fall nur einem gedankenlosen Gebrauch entspringt, also letztlich gar nicht so, v.a. nicht böse gemeint war, wie wir es dann bei unserer Kritik unterstellen. Lassen Sie mich diesen Punkt am Beispiel des Unworts des Jahres 2004 ein wenig näher betrachten. Es ging und geht um den Terminus Humankapital, der Wirtschaftswissenschaftlern, nicht zuletzt Bildungsökonomen, offenbar so wert und teuer geworden ist, dass ein wahrer Aufschrei durch deren Zunft ging, als unsere Unwort-Rüge öffentlich wurde. Ich will hier die bis in Verunglimpfungen der Jury 9 reichenden Auseinandersetzungen nicht im einzelnen nachzeichnen. Unsere Kritik war in erster Linie nicht gegen einen Fachterminus gerichtet, dessen Tradition bis Adam Smith zurückreicht, sondern gegen einen außerfachlichen Gebrauch, der bei aller Metaphorisierung – wie bei Metaphern nicht selten – allerdings eine wesentliche semantische Komponente des Spenderworts weitertransportiert. Anders ist nicht zu erklären, dass immer mehr auch in außerwirtschaftlichen Zusammenhängen, z.B. bei der Betrachtung von Fragen der Kinderaufzucht, von der Bildung von Humankapital die Rede ist. Einen Tiefpunkt dieser Verluderung des Wortes, auf den wir erst im Nachhinein aufmerksam wurden, war seine Verwendung im Zusammenhang mit dem 11. September 2001, als in Medienberichten allen Ernstes formuliert wurde, dass bei diesem Terroranschlag wertvolles Humankapital vernichtet worden sei. Hierauf kann die Befürchtung kaum zutreffen, dass wir von der Harmlosigkeit der primär intendierten Bedeutung abgesehen hätten; im Gegenteil: gerade wenn man einem der Argumente gegen unsere UnwortWahl zustimmt, dass der Terminus Humankapital (früher auch: geistiges Kapital) durch und durch positiv gemeint sei und als Ausdruck der Wertschätzung menschlicher Leistungsfähigkeit anerkannt werden müsse, dann sind schon die Beispiele, in denen sich der Gebrauch des Wortes nicht mehr im fachtraditionellen Rahmen bewegt, m.E. schon einer kritischen Würdigung wert. Und es sei noch einmal betont, dass wir nicht in erster Linie Wort-, sondern Wortgebrauchskritik betreiben, dass also der Kontext von Äußerungen eine ganz entscheidende Rolle spielt. Das mindeste,
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V.a. im Wirtschaftsteil der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vom 19.1.2005. Ein prominenter Vertreter dieser Zunft nannte uns darin geistige Luftverschmutzer und sogar Totengräber unserer Volkswirtschaft!
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was also festzustellen war, ist doch wohl eine deutliche Entfernung vom semantischen Ursprung des Terminus. Und „Bewusstseinskonstituierung“ im Sinne Martin Wengelers 10 findet dann auf Seiten der Verwender, nicht der Jury statt! Dass Humankapital aber auch schon in seinem (scheinbar!) neutralen Ursprung eine problematische, nämlich nur ökonomisch orientierte Verkürzung des Humanum darstellt, ergibt sich aus seinem Gebrauch neben Finanzkapital und Sachkapital eines Unternehmens. Eine besondere Kontroverse mit dem „Humankapital Club e.V.“, die im Mai 2005 auch in ein öffentliches Streitgespräch auf einer Tagung von Unternehmensberatern und Personalchefs in Düsseldorf mündete, stützte dagegen noch im Nachhinein unsere Kritik, dass ein Kompositum mit dem Grundwort -kapital auf eine nur-ökonomische Betrachtungsweise von Menschen zielt. Der „Humankapital Club“ setzt nämlich – mit durchaus positiver Absicht – dieses Wort bewusst gegenüber Unternehmensleitungen ein, um für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen zu werben, und zwar mit der ausdrücklichen Erklärung meines Düsseldorfer Gesprächskontrahenten, des Vorsitzenden dieses Clubs, Peter Friederichs, Unternehmern sei der humane Aspekt dieses Anliegens noch am ehesten näherzubringen, wenn er unter Kapital-Rücksichten beleuchtet würde. Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, dass gerade im aktuellen Handeln vieler Unternehmen deutlich geworden ist, wie wenig der Anteil menschlicher Leistungskraft an der Gewinnsteigerung noch gilt. Tatsächlich sind Menschen, auch Fachkräfte – anders als Finanz- und Sachkapital – nicht bilanzierbar und sinken damit gerade unter dem Blickwinkel von Humankapital zu einer funktionalen Größe ab, die im konkreten Unternehmenshandeln nach Belieben verändert, derzeit freilich meist reduziert werden kann. 11 Schon der Urprung dieses Wortes bzw. seines Vorläufers bei Adam Smith war alles andere als zufällig oder nur spontan; denn wie man es von einem Wirtschaftstheoretiker kaum anders erwarten kann, hat Smith den menschlichen Anteil an Wirtschaftsprozessen in ökonomischen Kategorien zu fassen versucht. Das mag für fachtheoretische Modelle vertretbar sein (obgleich es sich lohnen würde, einmal zu untersuchen, wie weit hier nicht schon im Ansatz der metaphorische Charakter des Terminus verkannt worden ist); doch ist gerade in jüngerer Zeit zu beobachten, wie oft Ökonomen auch ganz andere als volks- und betriebswirtschaftliche The-
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S. Wengelers Beitrag in diesem Band. Somit hat Humankapital keine höhere ökonomische Wertigkeit als die sehr viel verbreitetere Umschreibung von Arbeitskräften als human resources, ein Terminus, mit dem in vielen Unternehmen die Personalverwaltung ganz offiziell operiert.
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men, bis hin zu Partnerschaftsbeziehungen, solchen Modellen unterwerfen. 12 Insgesamt fällt es mir schwer, bei irgendeiner von uns als Unwort inkriminierten Formulierung zu entdecken, dass wir ihr eine Bedeutung zugelegt hätten, die nicht schon primär oder in der konkreten Weiterverwendung intendiert war. Verbale Verharmlosungen oder Beschönigungen, aber auch unangemessene verbale Überhöhungen können insbesondere dann nicht gegen einen Vorwurf bewusster Sprach- und Meinungslenkung verteidigt werden, wenn durchaus vorhandene sachlich angemessenere Alternativen erkennbar gemieden werden. Ein Beispiel, bei dem ich meine eigene Meinung einmal zurückhalte, wären die Varianten bei zentralen Benennungen in der aktuellen Stammzellforschung. Auffälligerweise benutzt die Seite, die derartige biomedizinische Verfahren ablehnt, für die Gegenstände dieser Forschung Nominationen wie menschliche Embryonen, frühmenschliches Leben u.ä., die Befürworter hingegen sprechen von Zellhaufen, Zellklumpen u.ä. Solche Wortwahl ist weder im einen noch im anderen Fall zufällig, sondern primär intendiert. Eroms ist freilich rechtzugeben, wenn er in der öffentlichen Herausstellung von Wörtern und Unwörtern des Jahres eine Focussierung sieht, die über den „normalen“ Umgang mit ihnen hinausgeht und die dabei eine Akzentuierung, d.h. in erster Linie öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, was durchaus auch unter dem Begriff „Verstärkung“ gefasst werden kann, wengleich dem „Normalgebrauch“ – wie schon angedeutet – kaum je etwas Neues hinzugefügt wird.
5. Kognitiv und formal motivierte Verstärkungen Man kann aus einer kritischen Betrachtung nicht jene Beispiele ausklammern, die sich auf einen gedankenlosen, „gar nicht so gemeinten“ Wortgebrauch zurückführen lassen, dem die Unwort-Jury angeblich erst nachträglich eine böse Absicht unterstellt. Die individuelle Absicht mag tatsächlich keine böse gewesen sein. Aber auch in diesen Fällen spielt der Zufall nur eine höchst geringe Rolle, weil sich dabei meist bestimmte Denk- und Argumenatationsmuster aufdecken lassen, die für eine kognitiv motivierte Verstärkung bestimmter Wortwahlen sorgen. Und es lässt sich nachweisen, dass solche Denkmuster vielfach auch eine deutliche Nähe zu bestimmten morphologischen Mustern bezeugen.
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Jüngstes Beispiel ist Beck, Hanno (2005): Der Liebesökonom. Von Kosten und Nutzen einer Himmelsmacht. Frankfurt a.M.: FAZ-Institut.
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Vor den Folgen solcher „inneren Verstärkungen“ ist niemand gefeit, und wir alle erliegen solchen inneren Zwängen schon bei harmlosen Themen, etwa wenn wir alltägliche Modeformulierungen wie nachhaltig, sich outen oder nicht wirklich benutzen. Heute ist möglichst alles unter einem Globalisierungs-Aspekt zu sehen. Zu Zeiten der Studentenbewegung waren soziologische, später psychoanalytische Schlagwörter an der Tagesordnung, die Rassenideologie hat schon lange vor 1933 vieles unter Rassengesichtspunkten deuten und formulieren lassen. Darwins These vom Kampf ums Dasein durchzieht für viele Jahrzehnte die Texte von Autoren gegensätzlichster Herkunft usw. Für die Behauptung, dass innere Verstärkungen vielfach eine Stütze in formalen Strukturen haben, wenn nicht sogar aus ihnen einen wesentlichen Impuls erhalten, nenne ich drei Beispielfelder, die auch in der Unwort-Aktion berücksichtigt werden mussten. Zum einen die adjektivische Komposition einer Benennung von mutmaßlichen oder tatsächlichen Schadensquellen mit dem Grundwort -frei. Das 1991 als erstes gewählte Unwort ausländerfrei folgt einem Wortbildungsmuster, das bereits im 19. Jh. sein später todbringendes Vorbild hat: judenfrei. In den fünfziger Jahren wollte ein Mediziner die Universität Freiburg i.Br. perserfrei machen. Die Inhumanität dieser Wortbildungen wird deutlich, wenn man bedenkt, dass nicht wie in anderen Fällen sächliche Schadensursachen bzw. Schadensfolgen mit -frei kombiniert wurden und werden wie in atomwaffenfrei, staubfrei, schadensfrei u.ä., sondern Menschen – und das mit vollem Bedacht der Urheber. Zum anderen die Bemühung von Naturbildern für soziale Sachverhalte. Das Unwort des Jahres 1996, Rentnerschwemme, steht in einer Tradition der Umschreibungen von als unangenehm empfundenen Entwicklungen, die in einem Kompositum mit einem Grundwort gefasst werden, das ein nicht oder kaum beherrschbares Naturphänomen evoziert. Als Schwemme wurde zwischenzeitlich auch das starke Anwachsen von Medizin- und Juraabsolventen umschrieben. Älteren Datums sind etwa die bau- wie aspektgleichen Nominationen Ausländerflut, jüngeren Datums die Asylantenflut. Im weiteren Umfeld dieser metaphorischen Umschreibungen mit dem Aspekt naturwüchsiger Bedrohung könnte man auch Bildungen wie Schülerberg u.ä. sehen. Zum dritten eine durchaus formale Reihenbildung, die ich inhaltlich aber unter „Verdinglichung des Menschen“ subsumiere, am deutlichsten sichtbar wohl im Kompositum Menschenmaterial, das wir 1999 zum „Unwort des Jahrhunderts“ gewählt haben. Tatsächlich ist dieses Wort nicht wie oft angenommen erst im Ersten Weltkrieg aufgekommen, sondern schon unter dem Einfluss der Rassenideologie in der zweiten
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Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auch in diesem Punkt Autoren der gegensätzlichsten Weltanschauungen affiziert hat, vom eindeutigen Rassisten Paul de Lagarde über Karl Marx bis hin zum Begründer des Zionismus Theodor Herzl. Nun könnte man gerade aus dieser ideologisch disparaten Reihe schließen, dass die ursprüngliche Intention der Wortbildung eher ein Beweis für die zumindest ursprüngliche Harmlosigkeit der Nomination sei, wäre da nicht ein Beleg, ausgerechnet von Theodor Fontane, der in einem Bericht aus England dem englischen Militär ein besonderes Menschenmaterial attestiert hat. Von da ist der gedankliche Weg zur Degradierung von Soldaten in den „Materialschlachten“ der beiden Weltkriege als Menschenmaterial wahrlich nicht weit. Wie produktiv diese Komposition geworden ist, zeigt sich an zahlreichen baugleichen Bildungen wie Lehrer-, Patienten-, Schüler-, Spieler- oder Tänzermaterial. Jedem Einzelgebrauch könnte man natürlich bescheinigen, dass er nicht böse gemeint sei. Sicher wäre es eine überkritische Sicht der Dinge, wenn man jedem Verwender solcher Wortbildungen eine individuelle Verfehlung nachsagen wollte. Dennoch geht die formale Verstärkung m.E. mit einer Verstärkung der ursprünglichen Perspektive einher, die, wenn nicht bewusst menschenverachtend, so doch zumindest fahrlässig den Blick auf das menschliche Individuum verstellt. Dazu zähle ich auch die zahlreichen Komposita mit dem Grundwort -gut im Sinne von „Material“, wie es sich in Bildungen wie Gefriergut, Grillgut, Leergut oder Mähgut darstellt. Wo bleibt – so frage ich – die humane Perspektive, wenn von Bewohnergut (in Altenheimen), Geburtengut (auf Säuglingsstationen) oder Häftlingsgut (im Gefängniswesen) die Rede ist? – Diese Quasi-Materialisierung des Menschen scheint mir auch den gedanklichen Weg zu Metaphern aus der Abfallwirtschaft eröffnet zu haben, dessen tiefste Stelle bereits im SS-Jargon von der Verschrottung von Arbeitskräften erreicht schien, aber im Unwort des Jahres 1997, Wohlstandsmüll für arbeitsunwillige und -unfähige Menschen, nicht gerade ein sehr viel höheres Niveau erklommen hat. Auch die Umschreibung von ehemaligen Ehepartnern oder von vormaligen SEDMitgliedern als Altlasten ist im weitesten Sinne hierher zu rechnen. Neben den Komposita gehört aber auch eine bestimmte Form der Kollokation zu den formal orientierten Motiven einer Unwort-Bildung: das attribuierte Substantiv, in dem zwei Lexeme aus einander fremden Kognitionssphären kombiniert werden, etwa ethnische Säuberungen, intelligente Waffensysteme oder sozialverträgliches Frühableben. Natürlich werden in solchen Kombinationen durchaus vorgegebene grammatische Möglichkeiten genutzt, die komplexere inhaltliche Beziehung zwischen Adjektiv und Substantiv ökonomisch abkürzend auszudrücken, der schlagwortartige „Zusammenprall“ der Komponenten, der nicht selten
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bewusst herbeigeführt wird, weckt jedoch zumindest irreführende Assoziationen.
6. Ironie als Faktor des Sprachwandels Ein nicht geringer Teil der als Unwörter kritisierten Wörter und Wendungen zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit einer ironischen oder parodistischen, manchmal auch provokativen Absicht in den öffentlichen Sprachgebrauch eingeführt wurden. 13 Bei nicht wenigen Beispielen zeigt sich aber auch, dass die ursprünglich ironische oder parodistische Perspektive schon wieder vergessen wurde, was freilich besonders dann eine Kritik nicht gegenstandslos macht, wenn ihre ursprüngliche Aussageabsicht ebenfalls durch Reihenbildung immer wieder neu belebt wird. So wichtig mir dieser Punkt auch ist, so wenig kann ich mich ihm in diesem Rahmen ausführlicher zuwenden. Mir scheint, dass in der Forschung eine ironische oder parodistische Sprachverwendung als Faktor des Sprachwandels zuwenig Beachtung findet. Dazu nur soviel: Ein ironischer Sprachgebrauch kann semantische wie grammatische Innovationen hervorbringen und damit den Sprachwandel befördern, er kann aber auch – freilich in geringerem Ausmaß – zur Stabilisierung veralteter oder veraltender Wörter und Wendungen beitragen. Exemplarisch will ich wenigstens eine morphologische Innovation durch die zunächst sicher nicht ernstgemeinte Verletzung einer Wortbildungsnorm anführen, wie sie sich in der Derivation unkaputtbar 14 ereignet hat. Der Ausweitung dieser Wortbildung räume ich gute Chancen ein; denn schon gibt es in der Werbung für einen besonders robusten Fahrradreifen das Wort unplattbar. Und hatte nicht bereits die längst grammatikalisierte baugleiche Derivation eines intransitiven Verbs wie verzichten in unverzichtbar eine gewisse Lizenz für unkaputtbar geschaffen? Diese Lizenz wurde jedenfalls schon für jüngere Bildungen wie unabsteigbar und – wiederum im Fußball – in einer Formulierung von Nationalspieler Dietmar Hamann nach dem 2:2 gegen die Niederlande (17.8.05) genutzt, als er über den Gegenspieler Arjen Robben sagte, dieser sei unspielbar, d.h. man komme mit Robben im Spiel nicht zurecht. – Unlogische Superlative wären ein anderes Beispiel. Eine Form wie vollst ist sogar schon zu juristischen Ehren gekommen: Bei Arbeitszeugnissen kann man gar
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Damit sind natürlich nicht kurzlebige Ironismen gemeint, wie sie in etlichen Beispielen für eine „Delexikalisierung“ in Alwin Fills Beitrag vorgeführt werden. Bereits seit 1990 in der Coca-Cola- und Bonaqa-Werbung und seitdem immer wieder einmal für die Unwort-Wahl vorgeschlagen.
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einklagen, dass Leistungen nicht nur als zur vollen Zufriedenheit, sondern zur vollsten Zufriedenheit ausgefallen bewertet werden. Parallele Fälle wie einzigst oder vollkommenst sind zumindest in der Alltagsprache längst akzeptiert. Hier wie in vielen anderen Fällen wurde zunächst sicher mit einem gewissen Augenzwinkern eine Innovation eingeführt, die sich bei Verlust der ironischen Attitüde als ganz „normales“, morphologisch wie semantisch unanstößiges Element etabliert. In semantischer Hinsicht erinnere ich auch an die Etablierung von Wörtern wie pflegeleicht (aus der Textilwerbung) oder entsorgen (aus der Abfallwirtschaft), die in ihrem Gebrauch längst das Stadium einer nur-ironischen Übertragung auf weitere Gegenstände hinter sich gelassen haben: Sogar Kleinkinder können als pflegeleicht bezeichnet werden, und es können Eltern, wenn sie die weniger Pflegeleichten endlich zu Bett gebracht haben, auch schon einmal sagen, sie hätten sie entsorgt. Ohne jeden Anflug von Pietät formulierte vor kurzem eine Autorin in einem Beitrag der FAZ zum Gedenken an den Atombombenabwurf in Hiroshima: Müssen die Überlebenden versorgt, so müssen die Toten entsorgt werden, will man eine weitere Katastrophe vermeiden. 15 Gänzlich ohne wortspielerische Absicht wurden auch schon einmal Entlassungen von Arbeitskräften als Personalentsorgung bezeichnet. 16 Aber selbst, wenn man diesem Wortgebrauch zunächst noch ein harmloses Spiel mit einer Metapher aus der Abfallwirtschaft unterstellen möchte, wird man durch die Fülle von Umschreibungen für (angeblich) überflüssiges Personal und deren Behandlung, die uns im Laufe der Unwort-Aktion zur Kenntnis gebracht worden sind, eines Schlechteren belehrt. Ich nenne nur Belegschaftsaltlasten, biologischer Abbau, personelle Rationalisierungsreserve, überkapazitäre Mitarbeiter und noch jüngst Smartsourcing 17 (für die geplante Entlassung von 6.000 Mitarbeitern bei der Deutschen Bank). Die sprachliche Kreativität von Rationalisierern in deutschen Unternehmen ist schier unbegrenzt. Viele ihrer Wortschöpfungen sind zumindest an der Grenze zwischen Ironie und Zynismus, wenn nicht schon weit jenseits. In ihrer Gesamtheit aber verstärken sie – auch ohne dass es hier zu formalen Reihenbildungen kommen müsste – ein kognitives Muster, das wir mit der Kritik an Humankapital exemplarisch treffen wollten: die nur an Unternehmensgewinnen orientierte Bewertung von menschlicher
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Autorin: Anne Schneppen, in: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG 4.8.2005, S. 8. Personalentsorgung war eins von vier weiteren Unwörtern 1991, die wir zusätzlich zum Unwort des Jahres kritisiert haben. eine Kontamination von smart und outsourcing.
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Arbeitskraft. 18 Das Bedenkliche an dieser Entwicklung ist, dass einzelne dieser Nominationen oft schon als neutrale Termini angesehen werden, bei denen sich kaum noch jemand etwas denkt, nachdem ihre Erfinder sich zunächst sehr wohl noch etwas gedacht haben. Ich erwähne nur Formulierungen wie Arbeitsverdichtung, Flexibilisierung, Marktbereinigung, Mitarbeiteranpassung oder Redimensionierung. Auch der sogar in hochschulischen Reorganisationsmaßnahmen schon gebrauchte Seriosität ausstrahlende Terminus der Nutzung von Synergieeffekten meint in der Regel nichts anderes als eine Einsparung von Arbeitsplätzen.
7. Zusammenfassung So unsicher es letztlich ist, ob die Unwort-Aktion selbst zur Verstärkung etwa im Sinne einer Frequenzsteigerung bestimmter Wörter und Wendungen beiträgt, so sicher ist, dass sie in den von ihr intensiver beobachteten Domänen auf Verstärkungen bestimmter semantischer Perspektiven aufmerksam werden lässt, die als Denkmuster, als kognitive Modelle gleichsam aus sich heraus eine problematische Sprach- und Meinungslenkung bewirken können. Formale Reihenbildungen insbesondere in baugleichen Komposita und Kollokationen sind dabei zugleich Stützen und Quellen derartiger „innerer Verstärkungen“. Wo sich Traditionen solcher kognitiven wie formalen Muster nachweisen lassen, ist die Ermittlung ihres Ursprungs und ihres primär intendierten Sinns für eine Kritik hilfreich, entscheidend aber bleibt im Sinne der Aktion die Deutung des aktuellen Gebrauchs. Dabei ist der semantische Wandel einzelner Wörter unbedingt zu beachten, der sich u.a. in Ironisierungen einer ursprünglichen Formulierung, aber auch in der (Wieder-) Aufhebung von ironischen Attitüden niederschlagen kann.
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Man kann hierzu inzwischen auch das schon in sich widersprüchliche Kompositum Entlassungsproduktivität, das Unwort des Jahres 2005, zählen.
Verstärkungen in öffentlicher Sprachkritik
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Hans-Werner Eroms
Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse 1. Wort-Wahlen Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ lassen sich in ihren gesellschaftlich-politischen, historischen und linguistischen Implikationen auf die unterschiedlichste Weise verstehen. Zunächst sind sie medial wirksame Aktivierungen von metasprachlichen Fähigkeiten in der Bevölkerung, indem sie zur Beobachtung des aktuellen Sprachgebrauchs auffordern. In dieser Aufgabenstellung sind sie aber deutlich mehr: Die Beobachtungen müssen an einem auffälligen Wort- oder Wortgruppengebrauch festgemacht werden. Sie aktivieren also auch das sprachkritische Vermögen. Darin ist die Unwortsuche direkter als die Suche nach dem Wort des Jahres, weil hier der Aufruf ergeht, einen anstößigen Wortgebrauch zu benennen und dies auch zu begründen. Die Suche nach dem Wort des Jahres ist dagegen gleichsam abstrakter, indem hier eine Aufforderung formuliert ist, die aktuelle Zeitströmung als in einem Wort abgebildet wiederzufinden, eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe, die auch nicht immer gelingt. Welche Mechanismen dabei ablaufen, und wie diese primäre Nutzung der Aktionen zu beurteilen ist, werde ich aber noch genauer darstellen, denn sie verbindet sich mit dem zweiten Aspekt dieser Aktionen, den es zu beachten gilt: den Nachwirkungen, die die Suchaktionen gehabt haben, also dem weiterführenden Umgang damit. Denn wenn ein Wort erst einmal öffentlich markiert ist, wird es sogleich kommentiert, ausgelegt und in größere Zusammenhänge eingeordnet. Es ist auffällig geworden, an ihm entzünden sich Meinungsbekundungen, es ruft Zustimmung hervor, aber auch Kritik und Widerspruch, kurz es ist in den öffentlichen Diskurs eingebunden und hat damit gewissermaßen seine Gebrauchsunschuld verloren – wenn es die überhaupt gegeben hat. Bei den genannten Aktionen ist dieser Vorgang ganz offensichtlich. Sofort nach der Kür finden sich in den Medien regelmäßig Kommentierungen, die die Wahl gutheißen
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und sie damit rechtfertigen oder hinterfragen und damit kritisieren oder aber allgemeine Beobachtungen anstellen. Auch zu diesem Bereich werde ich noch Genaueres anführen, denn hier werden nun analytische Fertigkeiten bei den Sprechern und Sprecherinnen aktiviert, wenn sie diese Wörter und Wendungen aufgreifen und bewusst verwenden. Damit klinken sie sich in die öffentliche Debatte ein. Denn die öffentliche Kommunikation darf man sich nicht auf die gleichsam obersten Ränge, auf die anerkannt dazu primär legitimierten Schichten beschränkt denken. Nicht nur die Parteien, Verbände und Institutionen, sowie die Prominenten und Intellektuellen, auch alle Medien sind dazu zurechnen; und durch Leserbriefe und Internetäußerungen werden die Möglichkeiten genutzt, sich auch als einfacher Sprachteilhaber in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Dadurch aber lassen sich die Beiträge wiederum für ein bestimmtes, abgegrenztes Zeitintervall als Seismograph werten, mit dem sich bestimmte Strömungen und Trends messen lassen. Schließlich ist noch ein dritter Aspekt relevant, nämlich die Betrachtung der allgemeinen Bedingungen von Systemänderungen, die sich hier zeigen. Es ist zu fragen, ob nicht durch die Markierung von auffälligem Sprachgebrauch neue Bedeutungen angezeigt werden oder aber durch Rückkopplung zu vergleichbaren Gebrauchsweisen schon bestehende Tendenzen in der Gesellschaft verstärkt werden oder aber gar die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten verändert werden, wenn sich die Bevölkerung auf die Suche nach auffälligem Sprachgebrauch macht. Hier ergibt sich der Anschluss an die Thematik dieser Tagung, die Prozessen der Verstärkung und Bedeutungsanreicherung auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen nachgeht. Ich werde im Folgenden zunächst kurz auf die Frage eingehen, in welcher Weise sich Zeitströmungen linguistisch festmachen lassen. Dazu werde ich Beispiele aus der Aktion „Wort des Jahres“ analysieren. Danach wende ich mich Beispielen aus der Unwortdebatte zu, um den Prozess der Aufladung von Wörtern mit kontrovers beurteiltem semantischem Material zu diskutieren und eine Antwort auf die Frage zu versuchen, ob sich in diesen Mikroparadigmen Erscheinungen zeigen, die sich entweder als Erweiterung des Bedeutungsumfangs eines Wortes oder als paradigmatische Ergänzungen – etwa als Erweiterung eines Wortfeldes – auffassen lassen und welche allgemeinen Folgerungen daraus gezogen werden können.
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1.1. Der sprachliche Niederschlag von Zeitströmungen Sprachgeschichte lässt sich bekanntlich mit großem Erfolg als Begriffsgeschichte verstehen. An dieser Stelle fasse ich zunächst den historischen Aspekt ins Auge, d. h. den analytischen, auf den aktiven, den die öffentliche Debatte beeinflussenden, gehe ich in einem zweiten Schritt ein. Geschichte wird seit je mit Epochenschlagwörtern fassbar gemacht, in der allgemeinen Geschichte etwa für das deutsche Mittelalter mit Ausdrücken wie Lehnswesen, Minne, Investiturstreit, in der Kunstgeschichte mit Romanik, Gotik, Renaissance, Barock; geistesgeschichtliche Strömungen werden als „Aufklärung“, „Romantik“, „das neunzehnte Jahrhundert“, „die Weimarer Republik“ handlich und plakativ fassbar. Dass dies starke Verkürzungen sind, braucht nicht eigens betont zu werden, es kommt zunächst auf den reinen Zugriffsaspekt an. Mit solchen Begriffen wird schlagwortartig eine Epoche aufgerufen und stellt sich damit im Nachhinein als genau darin verdichtet dar. Zu betonen ist, dass dies unter historisch-beobachtender Perspektive geschieht, nicht im Vollzug. Die Epochen werden damit in jedem Fall direkt und gesamthaft fassbar. Neben diesen globalen und direkten Epochenkennzeichnern finden sich die zeittypischen Einzelausdrücke, mit denen sich indirekt eine Epoche charakterisieren lässt. In stilistischer Betrachtungsweise sind dies die Elemente, die Zeitkolorit geben, mit denen durch einen treffenden Ausdruck die dargestellte Zeit ikonisch charakterisiert wird, etwa wenn eine historische Darstellung des Fahrzeugwesens sich der Ausdrücke bedient, die in der frühen Zeit verwendet wurden, also Automobil, Kraftdroschke, Kraftrad und nicht die in der Gegenwart üblichen Auto, Taxi, Motorrad. In allen diesen Bereichen werden die Ausdrücke nur exemplarisch genutzt, sie sind Vehikel für die Markierung einer Epoche. Wichtiger ist, dass die Wörter auch in ihrer gesamthaften Charakteristik ins Auge gefasst werden können. So werden für bestimmte Zeitabschnitte die kennzeichnenden Ausdrücke in ihrer Gesamtheit gesammelt. Interessant ist, dass sich meist ein Aktualitätsgesichtspunkt für die Sammlung bemerkbar macht. Dies gilt etwa für die Sammlung des nationalsozialistischen Kernvokabulars von Cornelia Berning, ‚Vom Abstammungsnachweis bis zum Zuchtwart’, 1964 erschienen und 2000 in einer umfangreichen Neuausgabe (Schmitz-Berning 2000) vervollständigt. Georg Stötzel und Thorsten Eitz haben zusammen ein ‚Zeitgeschichtliches Wörterbuch’ und ein ‚Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung’ herausgegeben (Stötzel/Eitz 2002 bzw. Eitz/Stötzel 2007/2009, zu letzterem Stötzel 2005). Die Aktualitätsmaxime ist m.E. eine des damit verbundenen sprachkritischen Zugangs: Die Wörter einer bestimmten Epoche sollen kritisch
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befragt werden, die Epoche selber soll damit kritisch hinterfragt werden. Ganz besonders deutlich wird dies etwa bei den sprachkritischen Beobachtungen Victor Klemperers, die er in seinen Tagebüchern simultan zur Beobachtung festhält und nach dem Ende der Epoche unter dem Titel ‚LTI. Lingua Tertii Imperii’ gesammelt herausgibt. Die kritisch markierte Sprachhaltung wird damit als typisch für den Ungeist der Zeit des Nationalsozialismus ausgegeben. Das von Sternberger/Storz/Süskind herausgegebene Buch ‚Aus dem Wörterbuch des Unmenschen’ (1957) markiert das Fortleben autoritärer, menschenverachtender und doktrinärer Sprachhaltung in der Nachkriegszeit. Dass vieles dabei dem „Zeitgeist“ nur zugeschoben worden ist und einer linguistischen Nachprüfung nicht immer standhält, kann hier außer Betracht bleiben. Was für den ersten Bereich im Großen geschehen und handbuchartig verfestigt ist und für den zweiten individuell gewählt werden kann, wiederholt sich nun derzeit mit den vielfältigen Suchaktionen nach charakteristischen Wörtern auf verschiedenen Ebenen. Ausdrücke, die in einem gerade abgelaufenen oder sogar noch laufenden Zeitabschnitt als besonders charakteristisch zu beobachten sind, werden in einem – kontrollierten – Konsensfindungsverfahren ausgewählt und für diesen Zweck fixiert. So gab es vor kurzem eine große Aktion, die „Wörter des Jahrhunderts“ auszuwählen. Die Liste reicht von Aids und Antibiotikum über Faschismus und Fundamentalismus bis zu Wiedervereinigung und Wolkenkratzer. Eine internationale Aktion ermittelte das Wort des Jahrhunderts. Die Wahl fiel auf Artensterben 1 . Als Unwort des Jahrhunderts wurde Menschenmaterial gewählt (Korlén 2000). Diese Linie lässt sich herunterziehen von den Jahrhundertwörtern zu den Wörtern des Jahrzehnts und den Wörtern des Jahres zu den Wörtern der Woche und des Tages. Die Medien und das Internet sind voll von diesen Aktivitäten, an denen sich unzählige Menschen beteiligen. Die Frage ist, welche Mechanismen dabei ablaufen und warum dies so suggestiv ist. Auf den ersten Blick mag es der Wettbewerbscharakter dieser Aktionen sein: Man möchte hier den Sieg erringen, mit seiner Wahl das eine Epoche genau treffende Wort gefunden haben. Doch in weiterem Rahmen gesehen, steckt deutlich mehr dahinter: Es offenbart sich hier die prägende Kraft der Sprache in der Zeitlichkeit. Jedenfalls wird die zeitliche Beschränkung des Geltungsgrades von Wörtern genutzt, um damit – positiv – einen Zeitabschnitt unverwechselbar zu charakterisieren. Mit den dann ausgewählten Wörtern wird der Epochenabschnitt in seinem charakteristischen sachlichen Ereigniszusammenhang aufgerufen, bzw. die Wörter sind die Zugriffsadresse für den dahinter stehenden sachlichen
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www.glacis.org/html/sicherheit_-_schlusselfrage_de.html
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Bereich, der sich, je weiter man sich von der Markierung entfernt, umso diffuser darstellt oder gar nicht mehr generell aktivierbar ist. Für das letztere seien etwa die Wörter des Jahres 1971 Nostalgie, Junktim oder Umweltschutz angeführt, die mit der Internetsuche keine für die Zeit typischen Belege mehr erbringen. Diese Zeitmarkierung durch treffende Wörter ist ein analytisches Verfahren, das noch dazu gesteuert und kontrolliert abläuft. Horst Dieter Schlosser (2003) legt in seiner Bestandsaufnahme für die Aktion „Unwort des Jahres“ überzeugend dar, dass eine rein statistische und damit mechanische Festlegung zu keinem nachvollziehbaren Ergebnis führen würde. Das lässt sich auf die Auswahl des „Wortes des Jahres“ übertragen: Abgesehen davon, dass es Versuche der Manipulation gibt, bei denen die Wörter oder Unwörter durch gezielte Kampagnen in der Statistik nach oben getrieben werden sollen, muss die Auswahl ein Filterverfahren schon deswegen durchlaufen, weil eine Instanz letztlich die Verantwortung mit einer argumentativen Begründung übernimmt. Die Wahl ist ja kein automatischer endgültiger Prozess, sondern ein Vorschlag, der auch kritisiert werden kann. Der analytische Prozess wird mit der Wahl nicht abgeschlossen, sondern stellt nur einen wichtigen Zwischenschritt in der sprachlichen Epochencharakterisierung dar. 1.2. Wörter als Ausdruck sozialer Profile Aber für eine spätere Betrachtung ergibt die Musterung der „Wörter des Jahres“, vor allem wenn man auch die Ausdrücke einbezieht, die nach dem ausgewählten Wort auf den folgenden Plätzen gelandet sind, historisch wichtige Einsichten über die jeweiligen „Befindlichkeiten“ der Bevölkerung in den abgelaufenen Jahren. Sie zeigen, welche Themenfelder jeweils besonders relevant gewesen sind. Dafür sei hier exemplarisch auf die Wörter aus dem Bereich der Wiedervereinigung hingewiesen: 1989: Reisefreiheit, BRDDDR, Montagsdemonstrationen, Flüchtlingsstrom, Begrüßungsgeld, runder Tisch, Mauerspecht, Trabi (8 von 10) 1990: die neuen Bundesländer, vereintes Deutschland, 2+4-Gespräche, polnische Westgrenze (4 von 10) 1991: Besserwessi, abwickeln, Stasisyndrom, Wohlstandsmauer, Solidaritätszuschlag (5 von 13) 1992: Solidarpakt, gaucken (2 von 12) 1993: Ostalgie (1 von 10) 1994: rote Socken (1 von 10) Wörter des Jahres aus dem Bereich der Wiedervereinigungsthematik
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Die deutsche Ost-West-Thematik setzt massiv 1989 ein und ebbt dann in den folgenden Jahren allmählich ab. Eine weitere historisch aufschlussreiche Analyselinie ergibt sich, wenn man die sich durch die gesamten Nennungen hindurchziehenden Ausdrucksweisen aus gleichen Bereichen verfolgt. Daraus ließe sich eventuell ein konstantes Sozialprofil der Deutschen gewinnen. Ich nenne hier zwei Bereiche: 1. Die „Gerechtigkeitsdebatte“ 1981: Job-sharing, 1982: Arbeitslosigkeit, Ellenbogengesellschaft, 1984: Neidsteuer, 1990: sozial abfedern, 1991: Solidaritätszuschlag, Wohlstandsmauer, Kurzarbeit Null, 1992: Solidarpakt, 1993: Sozialabbau, 1994: bezahlbar, 1996: Sparpaket, Lohnfortzahlung, 1997: Arbeitsgesellschaft, 2003: Agenda 2010, 2004: Hartz IV, Parallelgesellschaften, Ein-Euro-Job. 2. Die „Umweltdebatte“ 1971: Umweltschutz, Umweltverschmutzung, 1972: Entsorgung, 1978: die Grünen, 1979: Ölschock, 1984: Umweltauto, Formaldehyd, Tempolimit, 1985: Glykol, 1986: Tschernobyl, Havarie, Super-Gau, 1988: Robbensterben, Kälbermastskandal, Atommüllskandal, 1990: Verkehrsinfarkt, Verpackungsflut, 1991: Autodiät, Mülldiät, 1996: genmanipuliert, 1998: Ökosteuer, 2000: BSE-Krise.
Bei einigen der hier aufgeführten Begriffe lässt sich sicher streiten, ob sie richtig rubriziert sind, z.B. die Ausdrücke, die parteitypisch sind. Aber mit einer Bedeutungsnuance gehören sie sicher in den ausgewählten Bereich. Neben den Rubriken „Wiedervereinigungsthematik“, „Gesellschaftliche Solidarität“ und „Umwelt“ lassen sich weitere Generalthematiken ausmachen: „Politikskepsis“ mit Wörtern wie Sommertheater (1981) oder Bananenrepublik (1984), „sprachliche Unzulänglichkeiten“ wie Ich habe fertig! (1998) oder Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz (1999), schließlich die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus (Reichskristallnacht, Reichspogromnacht 1988). Welches Bild von Deutschland ergibt sich daraus für den Beobachter? Zieht man nur diese Strömungen heran, stellt sich Deutschland als ein ausgesprochen kritisches, emanzipiertes, auf sozialen Ausgleich bedachtes und darüber hinaus sprachlich empfindliches Staatswesen dar. Die Menschen thematisieren soziale Konfliktfelder und sind ökologisch sensibel. Es wäre nun interessant zu verfolgen, ob dies eine realistische Selbstcharakterisierung ist oder doch eine stark gesteuerte, eine durch die Auswahl der Begriffe bedingte Fokussierung auf Themenfelder, die der Nation ein waches kritisches Bewusstsein bescheinigen. Wenn dies der Fall wäre, wäre das eine Festlegung, die zwar gut gemeint ist, aber doch keine verlässliche Bewertung darstellt. Insgesamt darf man diese Aktionen, die u.a. auch einen Spielcharakter tragen, in ihrer Bedeutung nicht überbewerten, sie lassen sich eher als
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Ergänzungen soziologischer Erhebungen oder Meinungsumfragen verstehen. Über längere Zeiträume hinweg würden sich zweifellos neben den angesprochenen Bereichen auch andere, weniger gewichtige Domänen finden, mit denen sich die sprachlichen Interessenssphären ausmachen lassen. Darin würden sich zweifellos nationale und globale Belange abbilden lassen. Linguistisch gesehen, ist in unserem Zusammenhang etwas anderes wichtiger: Mit der Benennung von Ausdrucksweisen in einem öffentlich kontrollierten Bewusstmachungsprozess bekommen diese einen anderen Status. Auch wenn sie nur kurzzeitig in den Fokus der Aufmerksamkeit treten, sind sie spätestens von da ab quasipolitische oder soziologische Kontroversbegriffe, denn sie greifen ja Formulierungen auf oder sogar an, die bis zu dem Zeitpunkt denotativ neutral gemeint gewesen sind. Sie machen bewusst, dass konnotative Komponenten vorhanden sind, dass Ausdrucksweisen nicht ein für allemal festgelegt sind, dass sie als sprachliche Fassungen von Sachverhalten bestimmte Interessen zum Ausdruck bringen oder zumindest, dass sie so verstanden werden können. In jedem Fall aber sind die in den Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ ausgewählten Ausdrücke von da an im öffentlichen Diskurs nicht mehr naiv zu verwendende Ausdrucksweisen, sondern markierte, herausgehobene, die insgesamt bestimmte Linien, vor allem solche, die oben benannt worden sind, hervorheben. Über die Jahre hinweg stabilisieren sie Wortverbände und Wortfelder bestimmter Gebiete, indem sie Relevanzbereiche festlegen. Sie machen ständig bewusst, dass Formulierungen hinterfragt werden können und führen zu einem bewussteren Umgang mit der Sprache. Ob damit eine Änderung in der Einstellung den Sachverhalten gegenüber einhergeht, ist eine andere Frage. Insgesamt weisen die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ zweifellos Elemente von „Political Correctness“ auf 2 , sie sollen bewusst machen, dass Sprache nicht unkontrolliert verwendet werden kann. Was die einzelnen Ausdrucksweisen betrifft, so muss von Fall zu Fall gefragt werden, ob die markierten Konnotationen oder unbedachten Implikationen bereits bei der Bildung der Ausdrucksweisen vorhanden waren oder ob sie durch den Vorgang der Markierung erst aufgedeckt worden sind oder aber ob sie, insbesondere bei den Unwörtern, durch die öffentliche Brandmarkung vielleicht erst in einer bestimmten Bedeutungsrichtung festgelegt worden sind. Wenn das der Fall wäre, böten sie ein Pendant zu den von Harnisch (2004) beschriebenen Verstärkungsprozessen morphologischer Art, bei denen formale Elemente mit (neuen) Bedeu-
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Auf die Gefahren, die sich bei der Wort- und Unwortsuche durch den Wunsch, bestimmte Formulierungen sanktionieren zu wollen, weist Hoberg (1996: 96) hin.
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tungen versehen werden. Da Bedeutungen von Ausdrucksweisen, die im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielen aber nie absolut oder einsträngig festgelegt werden können, sondern zwangsläufig kontrovers bleiben, kann dies von vornherein keine vergleichbar strikte Analogie zu Bedeutungsfestlegungen etwa wie bei der Volksetymologie sein. Doch wäre auch eine Kanalisierung bestimmter Bedeutungsrichtungen schon auffällig genug. Im Folgenden seien deswegen einige besonders auffällige Beispiele aus der Suche nach den Wörtern und Unwörtern des Jahres herausgegriffen, um den dabei ablaufenden Mechanismen der Bedeutungskonstituierung genauer nachzugehen.
2. Die Unwortsuche in der Rückkopplung zur öffentlichen Meinung 2.1. Der Ausdruck Moralkeule als Beispiel eines Tabubruchs In den Listen der „Wörter des Jahres“ kommt ein einziges Wort vor, das sich – isoliert gesehen – nicht in die fast durchgängig zu findende politische Correctness einfügen lässt. Es ist das 1998 markierte Wort Moralkeule. Dieser Ausdruck ist nun auch in der Unwortliste des Jahres 1998 zu finden. Im Gegensatz zu den meisten anderen in die Listen der Wörter des Jahres aufgenommenen Ausdrucksweisen ist die Autorschaft dieser Wortschöpfung aus dem Jahr ihrer Registrierung verbürgt. Es ist eine von Martin Walser geprägte Metapher. Metaphern finden sich in den Wörtern des Jahres im Übrigen außerordentlich häufig, und es wäre eine linguistisch lohnende Angelegenheit, die vorherrschenden Metapherntypen zu ermitteln, worauf hier verzichtet werden muss. Walser hatte mit der Wortprägung Moralkeule kritisieren wollen, dass manche Leute die Schriftsteller „mit vorgehaltener Moralpistole in den Meinungsdienst“ nötigten. „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ 3 In der Begründung für die Unwortwahl heißt es, der Begriff stelle eine fatale Koppelung von Moral und Totschlagsinstrument dar, es handelte sich um einen Tabubruch, der in der deutschen Nachkriegesgeschichte ziemlich einmalig war. Die sich daran entzündende Debatte zeigt, dass so etwas nicht hingenommen wird. Die Mehrzahl der Kommentare schließt sich der kritischen Bewertung durch die Jury an. Horst Dieter Schlosser schreibt im ‚Lexikon der Unwörter’: „In dieser Zusammensetzung von ‚Moral’ und einem Totschlag-
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www.zeit.de/archiv/1998/43/199843.editor.xml
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instrument wird eine moralische Bewertung der NS-Vergangenheit von Vornherein als Heuchelei diffamiert“ (Schlosser 2000: 30). Doch wie bei jedem Tabubruch, noch dazu, wenn er öffentlich diskutiert wird, werden damit auch die Dinge zur Sprache gebracht, die bis dahin einem legitimen sprachlichen Meidungsgebot unterlagen. Denn Tabus beziehen sich ja nicht auf soziale oder politische Belanglosigkeiten, sondern sind historisch wohlbegründet. In diesem Fall zeigt sich, dass der Tabubruch genutzt wird, um nun mit einer vermeintlichen Legitimierung und Sanktionierung durch den Mund einer anerkannten Persönlichkeit Stammtischgerede salonfähig zu machen. Allerdings findet Walser auch Verständnis für seine Äußerungen, so beim Chefredakteur der ZEIT, Josef Joffe: Das üble Wörtchen von der »Moralkeule« namens Auschwitz hat bekanntlich Martin Walser in die Gehirne eingepflanzt. Es gibt sie allerdings, aber nicht, wie Walser wähnt – als Erpressungsinstrument der Juden oder Antifa-Freunde. Denn sie prallt zuerst mit dumpfem Knall auf dem Schädel des Keulenschwingers selbst auf – kein Wunder, wenn man so weit nach hinten ausholen muss. Und deshalb verdumpfen auch die Gedanken. […]Alles ist »Holocaust«: der Bombenangriff auf Dresden, der »millionenfache« Mord an den Ungeborenen (vulgo: Abtreibung), die Erschießung von Mauerspringern. […] Ein Vorschlag zur mentalen Ertüchtigung: Setzen wir ein Jahr lang den A-Vergleich auf den Index. Dann müsste jedermann gegen Abtreibung oder Einwanderung mit Fakten und Argumenten anrennen. […]. (Josef Joffe in: DIE ZEIT, Feuilleton, Nr. 13, 23.2.2005, S. 45)
Diese Weiterungen hatte Walser bestimmt nicht bedacht, allerdings ist auch schon die Formulierung im ‚Lexikon der Unwörter’ zu weitgehend, eine generelle Diffamierung der Bewertung der NS-Vergangenheit lässt sich aus Walsers Worten nicht herauslesen. Aber genau diese Festlegungen und Weiterungen hätte ein sensibler Schriftsteller voraussehen und vermeiden müssen. Wenn der Ausdruck Moralkeule auch nicht als solcher im anschließenden öffentlichen Diskurs neu oder umdefiniert wird, so ist doch bemerkenswert, dass die Extension des Begriffes, seine referentielle Funktion, begrenzt wird: Die Unangemessenheit der Wortverwendung für den thematisierten Sachverhalt wird bewusst gemacht. 2.2. Allgemeine Bewertung der Unwortsuche in den Medien Neben punktuellen Bemerkungen und Kritiken offenbart sich hier die auch sonst zu beobachtende Tendenz bei den Medien, allgemeine Sprachkritik vorzubringen 4 .
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Vgl. die Bewertung der Aktionen bei Schiewe (1998: 287-289).
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Positiv wird vielfach die Aktion deswegen bewertet, weil sie das Sprachbewusstsein schärfe. „Man müsste darüber nachdenken, ob man tausendfach verwendete Begriffe, die kritisierend und bloßstellend verwendet werden, nicht seltener benutzen sollte – schon um der Gefahr der Wiederholung zu entgehen.“ (FAZ, 24.1.2001). Die Medien stellen sich selbst in die Reihe der Ratgeber, welches das Unwort des laufenden Jahres sein könnte, machen also mit bei der Suche nach bedenklichen Wortverwendungen, wobei zu sehen ist, dass es auch hier wieder besonders auffällige, jahrgangstypische Formulierungen sind, die vorgeschlagen werden. So werden 2002 in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG u.a. Sparzwang (18.3.2002, S. 1) und Abbau von Arbeitslosen 21.12.2002, S. 31) und ExEhrenvorsitzender (4.2.2002, S. 17) genannt. Neben solchen positiven Aufnahmen findet sich auch Kritik, und die ist z.T. ziemlich abfällig: „In der Gattung der Nervensägen bilden sie [= die Mitglieder der Jury] eine der häufigsten Arten: selbst ernannte Sprachkritiker. Sie ernähren sich von Aufmerksamkeit. Um die zu kriegen, ködern sie uns mit dem Versprechen wichtiger Gedanken über das Wesen der Sprache. Kaum aber sind wir nah genug, vernebeln sie uns mit Moralin die Sinne und fesseln uns in ein Gespinst aus halbseidenen Begründungen und harten Dekreten“ (DIE WELT, 23.1.2002). Zum letzteren Bereich gehören Aussagen wie die folgenden: “Sprachkritiker sind […] eine besondere Spezies. […] Da gebrauchen sie ‘Unwörter’ wie ‘zunehmend’, jene Bürokraten-Vokabel, der ‘viel’ für Fülle nicht genug ‘Luft der Bedeutsamkeit’ enthält“ (DIE WELT, 22.1.2003). Für die Unwort-Debatte genau wie für die Aktion „Wort des Jahres“ sind die Medien eine unverzichtbare Schaltstelle. Sie kommentieren, verstärken oder kritisieren die markierten Wörter und kanalisieren damit ihren Gebrauch. Doch darf man dies auch nicht überbewerten. Die Kommentierungen erfolgen meist unmittelbar nach den Entscheidungen der Jury, danach lassen sie sehr schnell nach. Bei manchen Ausdrücken greifen sie auch überhaupt nicht, wie noch zu zeigen sein wird. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ein markiertes Wort bereits etabliert ist oder sich in einer fachsprachlichen Bedeutung findet.
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3. Fallstudien zur Bewertung der Unwörter Im Folgenden möchte ich mit drei knappen Fallstudien die erkennbaren Mechanismen bei der Unwortsuche beleuchten. 3.1. Ich-AG Das Unwort des Jahres 2002, Ich-AG, ist zunächst wiederum ein Beispiel für die Überlappungszone zwischen den Wörtern und den Unwörtern des Jahres, denn es nahm bei den ersteren 2002 den Rangplatz 5 ein, woraus man schließen kann, dass es einen hohen das Jahr prägenden Aktualitätswert hatte. Für die Kür zum Unwort des Jahres wurde von der Jury folgende Begründung formuliert: Diese Wortbildung leidet bereits sachlich unter lächerlicher Unlogik, da ein Individuum keine Aktiengesellschaft sein kann. Selbst als ironisches Bild ist das Wort nicht hinzunehmen, da sich die aktuelle Arbeitslosigkeit mit solcher Art von Humor kaum noch verträgt. Ausschlaggebend für die Wahl war aber die Herabstufung von menschlichen Schicksalen auf ein sprachliches Börsenniveau. Ich-AG ist damit einer der zunehmenden Belege, schwierige soziale und sozialpolitische Sachverhalte mit sprachlicher Kosmetik schönzureden. 5
Es werden hier also zwei Faktoren benannt, die für die Wahl maßgeblich waren: Die verunglückte Wortbildung an sich und weiter die damit verbundene Unmenschlichkeit. Für letzteres Verdikt bekommt Horst Dieter Schlosser u.a. von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Beifall. Er habe damit eine Kritik am „Unternehmensberaterdeutsch“ verbunden (FAZ, 22.1.2003). Auch der Soziologe Fritz Vilmar unterstreicht dies: „Das absolut diffamatorische Unwort des Jahres ist meines Erachtens Ich-AG. Herzliche Grüße! Fritz Vilmar“ 6 . In einer Filmzeitschrift, die den Film ‚The Corporation’ anzeigt, wird gefragt: „Jeder Mensch soll ein Unternehmen sein – eine Ich-AG? Das Unwort des Jahres 2002 führte vor Augen, welche gespenstische Dominanz die Institution ‘Unternehmen’ heute nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie innehat, im Menschenbild“. Vilmar nimmt dies zum Anlass, den angezeigten Dokumentarfilm als Beleg für die mit dieser Unwortwahl kritisierten Tendenzen in unserer Gesellschaft auszugeben und noch einen Schritt weiterzugehen, nämlich dass die „Reduktion der Person aufs Unterneh-
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http://www.uni-frankfurt.de/fb10/schlosser/ autorenhaus.de/autorenservice/Das%20Unwort%20des%20Zeitalters.shtml - 16k - 12. Nov. 2005.
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merische eigentlich die Umkehrung einer anderen, kaum weniger verrückten Abstraktion ist: „dass Unternehmen (‘juristische’) Personen seien“ 7 . Was das erstere, die unterstellte Unlogik der Wortbildung betrifft, so sagt Marcel Reich-Ranicki apodiktisch: „Ich-AG ist ein abscheuliches und sinnloses Wort. Entweder ich oder AG – beides zusammen geht nicht“ (FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 22.1.2003, S. 9). Das wird aber auch ganz anders gesehen. In der Welt am Sonntag wird der Münchener Kommunikationsberater Leo Sucharewicz zitiert: Ich-AG ist ein Schlagwort mit Slogan-Charakter. Es ist griffig, merkbar und zeigte eine fabelhafte Durchsetzungsstärke. Die Botschaft ist als Slogan brillant, mutig, kurz und kreativ auf den Punkt gebracht. Sie sensibilisiert Gesellschaft und Medien verblüffend wirkungsstark auf die neue Bedeutung selbstständiger Erwerbstätigkeit.“ Die Kritik der Jury, so der Sprach-Experte weiter, zeuge von kosmischer Kleinlichkeit gegenüber einem gut verkauften Lösungsansatz. Lächerlich sei nicht die von den Juroren kritisierte „Unlogik der Ich-AG, sondern der starre, logische Standpunkt der Jury“, so Sucharewicz, der bundesweit bekannt wurde durch die Entwicklung eines neuen Sprachdesigns für Manager. (WELT AM SONNTAG, 26.1.2003)
Für die Bewertung des Wortes ist es nicht ganz belanglos, dass es bereits vor 2002 existierte und in einem Zusammenhang mit der New Economy gebraucht wurde, als dynamischer „Durchstarter“. Eine Nicolette Strauss hatte sich schon im Jahre 2000 mit ihrer PR-Agentur die Rechte an dem Ausdruck gesichert. 8 Das positive Image sollte das Wort natürlich mitbekommen. Dass es sich negativ verstehen lässt, wird erst im analytischen Deutungsprozess durch die Einsender und dann durch die Jury bemerkt. Und es lässt sich fragen, inwieweit diese negative Konnotation dem Ausdruck damit erst zugelegt wird. Der betrübliche gesellschaftliche Tatbestand, dass es Arbeitslose gibt, die gezwungen sind, diese Maßnahmen zu nutzen, ist damit nach Meinung vieler, die sich zu dem Wort äußern, gar nicht thematisiert, sondern das Wort soll aufgefasst werden, selbst die Initiative zu ergreifen. Soziolinguistisch interessant sind in diesem Zusammenhang weiter zwei Dinge: erstens die schwindende oder zunehmende Akzeptanz eines Wortes im längeren Verlauf der Beobachtung und zweitens die generell zu beobachtende Abschwächung aktivierter denotativer und vor allem konnotativer Elemente von Wörtern im Laufe der Zeit. Was das erstere betrifft, so ist die folgende Tabelle aufschlussreich. Sie führt die Internetzugriffsmöglichkeiten für die Unwörter am 7.11.2005 auf.
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www.filmtext.com/start.jsp?mode=1&key=594 www.znf.de/41ichag.htm
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Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
Unwort Ausländerfrei Ethnische Säuberung Überfremdung Peanuts Diätenanpassung Rentnerschwemme Wohlstandsmüll Sozialverträgliches Frühableben Kollateralschaden National befreite Zone Gotteskrieger Ich-AG Tätervolk Humankapital
Anzahl der Websites 1.050 67.300 99.200 11.300.00 683 17.800 13.900 625 56.700 16.700 75.600 1.990.000 34.600 474.000
Internetzugriffsmöglichkeiten für die Unwörter am 7.11.2005
Wie man sieht, sind die Nennungen höchst unterschiedlich. Einige Unwörter sind schon wieder so gut wie ausgestorben: Diätenanpassung, Sozialverträgliches Frühableben und auch ausländerfrei. Dies sind ganz verschiedenartige Wörter, die beiden ersteren unangemessene Euphemismen, das letztere ein auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte m.E. sogar fast strafwürdiger Ausdruck. Die Wörter mit vielen Nennungen sind ebenfalls unterschiedlich zu beurteilen. Peanuts muss aus der Betrachtung ausgeschieden werden, weil die meisten Nennungen entweder wirklich die ‘Erdnüsse’ meinen oder sich auf die Comic-Bücher von Charles M. Schulz beziehen. Humankapital, auf das ich noch eingehen werde, ist das Unwort des Jahres 2004 und sozusagen in aller Sprachkritiker Munde, aber Ich-AG ist ein Wort, das sich im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Der unterlegte, unterstellte Sinn ist, wenn er überhaupt eine Rolle gespielt hat, bereits so stark abgenutzt, dass er die Verwendung nicht oder nicht mehr blockiert. Allerdings erfolgen die Nennungen zum allergrößten Teil im rein sachlichen Zusammenhang mit den Arbeitsmarkttätigkeiten, wobei aber nicht selten auf die Wahl als Unwort des Jahres 2002 hingewiesen wird. Damit aber wird die sprachkritische Aktion geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. So schreibt DIE ZEIT in ihrer Artikelserie „Einführung in die Schwarz-gelbe Kultur, Folge 3“ Folgendes: In der vorigen Woche drang die Nachricht ins Land, eine konservative Regierung wolle die Ich-AG wieder abschaffen. Als man das hörte, wurde man fast ein bisschen wehmütig. Dabei war das Gesetz, als es 2003 kam, alles andere als beliebt. Die Ich-AG galt als Sinnbild für die egozentrische Gesellschaft, dafür, dass wir
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das »Wir« vergessen haben. In den Kneipen sagten die Menschen: »Wie kann ein Mensch eine AG sein!« Und auch inhaltlich gab es einiges zu kritisieren: »Da sollen doch nur Arbeitslose in die Selbstständigkeit gelockt werden, damit sie aus der Statistik verschwinden.« Kurz: Die Ich-AG verkörperte alles Schlechte in einem und wurde wenig überraschend zum Unwort des Jahres gewählt. Dies passierte noch, bevor sich die ersten Ich-AGs gründeten. Als es sie dann gab, geschah Eigenartiges: Diejenigen, die Ich-AG waren, schämten sich gar nicht dafür. Sie besannen sich auf ihre Talente, machten sie zum Beruf und benutzten das Wort Ich-AG wie zum Trotz auf ihren selbst programmierten Homepages und selbst gedruckten Prospekten. Es gab Ich-AGs, die richtig prominent wurden: die Gastwirtin des Bundespressestrandes oder eine Senfsortenerfinderin aus BerlinKreuzberg. Man wird den Senfvertrieb, den Sockenlieferer oder das Nagelstudio weniger ob der angebotenen Dienstleistungen vermissen, sondern eher weil man die Ich-AGs lieb gewann – als Musterbeispiele der reformbereiten Deutschen. Vielleicht verkraften die sogar die Reform der Reform. 9
Dies mag an Beispielen genügen. Während unmittelbar nach der Wahl das Wort Ich-AG überwiegend in der kritischen Sicht der Juroren gesehen wird, ist das Wort drei Jahre später ein eher neutraler Begriff, dessen kritisierbare Tendenzen sich wieder abgekapselt haben. Man kann aber die Wahl und die damit verbundenen Aktivitäten generell so verstehen, dass im jährlichen Turnus der Blick auf die verhüllenden oder manipulierenden Wortkomponenten gelenkt wird, was man z.B. daran sieht, dass im Zuge der Kommentierung der Unwörter die inadäquaten Benennungspotenzen auch anderer Wörter aufgedeckt werden, vgl. das angeführte Beispiel mit der „juristischen Person“. 3.2. Humankapital Dies zeigt sich vielleicht noch deutlicher am Unwort des Jahres 2004, Humankapital. Es stammt aus dem gleichen Bereich wie das Wort IchAG. In der Begründung heißt es: Der Gebrauch dieses Wortes aus der Wirtschaftsfachsprache breitet sich zunehmend auch in nichtfachlichen Bereichen aus und fördert damit die primär ökonomische Bewertung aller denkbaren Lebensbezüge, wovon auch die aktuelle Politik immer mehr beeinflusst wird. Humankapital degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen. Bereits 1998 hat die Jury Humankapital als Umschreibung für die Aufzucht von Kindern gerügt. Aktueller Anlass ist die Aufnahme des Begriffs in eine offizielle Erklärung der EU, die damit die „Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie das Wissen, das in Personen verkörpert ist“, definiert (August 2004). 10
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Matthias Stolz in der ZEIT: www.zeit.de/2005/25/Serie_2flch-AG_25 www.unwortdesjahres.org/2004.html
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Für die Wahl gibt es wieder viel Zustimmung, und es lässt sich wiederum beobachten, dass im Zuge der Wahl eine generelle Schärfung des sprachkritischen Bewusstseins einhergeht. So kann man etwa im HANDELSBLATT eine Stellungnahme lesen, bei der – ironisch fortführend – Humankapital als immer noch besser angesehen wird, als wenn man die in den Betrieben arbeitenden Menschen nur noch als Kostenfaktoren bezeichnen würde 11 . Aber es findet sich erwartungsgemäß auch Kritik, einmal weil das Wort ein in der Wirtschaftstheorie eingeführter Begriff ist, andererseits aber auch wieder deswegen, weil die Kritik fachsprachlicher Wörter aus allgemeinsprachlicher Perspektive generell als nicht angemessen angesehen wird. So schreibt DIE ZEIT: Die Juroren des Unwortes dachten wohl, dass in der Prägung ‚Humankapital’ der Mensch auf seinen wirtschaftlichen Wert reduziert, also herabgesetzt wird. In der Logik des Kapitalismus bedeutet der wirtschaftliche Wert aber keine Herabsetzung, sondern eine Aufwertung. […] Der Begriff ‚Humankapital’, weit davon entfernt, menschenverachtend zu sein, enthält einen Appell an die Kapitalisten, endlich aufzuwachen, die Menschen ebenfalls als Kapital zu beachten und arbeiten zu lassen. Mehr noch: Die Menschen sollten genauso pfleglich behandelt werden wie das Kapital. (DIE ZEIT 03/2005)
Ähnlich argumentiert DIE WELT, wenn sie schreibt: „Das Humankapital ist der lange Atem der Ökonomie, dem man zu seinem Recht verhelfen muß im Gehechel um Quartalsbilanzen“ (19.1.2005). Die Verfasser dieser Kommentare lassen sich, bei aller Kritik, darauf ein, die Konnotationen des Begriffes bloßzulegen, indem sie ihn nun quasi historisch verdeutlichen. Horst Dieter Schlosser hat in einer „Generellen Stellungnahme zum Unwort des Jahres ‚Humankapital’“ geantwortet und dabei hervorgehoben, dass es um eine „Kritik an der Ökonomisierung aller möglichen Lebensbereiche“ gehe und er fordert u.a. ein Sicheinlassen auf „weiter gefasste anthropologische Fragestellungen nach dem Wert von Menschen […], der nicht nur mit Euro und Cent berechnet werden kann.“ 12 Hier scheiden sich in der vom Wirtschaftsdenken beherrschten öffentlichen Debatte die Geister. Anhänger ökonomischen Denkens lassen sich nicht darauf ein, die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG wirft den Mitgliedern der Jury sogar vor, sie seien „geistige Totengräber unserer Volkswirtschaft“ 13 . Gleich, ob man die Kritik an diesem Einzelbeispiel akzeptiert oder nicht, man kann hier erkennen, dass es ideologische Barrieren gibt, die ein Überschreiten vermeintlich fester Grenzziehungen sprachlicher Bereiche verweigern. Der Grund liegt sicher auch darin, dass
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www.blog.handelsblatt.de/wirtschaftpruefer/eintrag.php?id=92-7.11.2005 www.unwortdesjahres.org/2004.html www.unwortdesjahres.org/2004.html
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sich hier mediale Instanzen generelle Beurteilungskompetenzen herausnehmen. 3.3. Wohlstandsmüll Als letztes Beispiel dieser Gruppe von Wörtern, deren Wahl als Unwörter die Missachtung von Menschen in unserer Gesellschaft geißeln soll, greife ich das Wort Wohlstandsmüll heraus. Die Wahl gründet sich auf die Äußerung des Chefs des Nestlé-Konzerns Helmut Maucher am 26.10. 1997: Wir haben einen gewissen Prozentsatz an Wohlstandsmüll in unserer Gesellschaft. Leute, die entweder keinen Antrieb haben, halb krank oder müde sind, die das System einfach ausnutzen …
Horst Dieter Schlosser schreibt folgendes: Stellt man dann etwa fest, dass ein Wort wie Wohlstandsmüll im Munde eines deutschen Managers nicht den Kaviar in der Mülltonne, sondern Menschen meint, die jener Herr verächtlich so tituliert, weil sie seiner Meinung nach nichts zum wirtschaftlichen Fortschritt beitragen, dann ist die Verteidigung dieser Formulierung – wie 1998 aus Linguistenmund zu vernehmen – als ein Wort, das in der deutschen Sprache doch schon längst eingeführt sei, nur noch als fachidiotisch zu werten. (Schlosser 2003: 74)
Aus dem Zitat wird deutlich, dass es Schlosser auch hier um eine generelle Kritik am Ungeist unserer wirtschaftsdominierten Gesellschaft geht. Das Wort Wohlstandsmüll ist mit seiner Festlegung auf Menschen so weit ich sehe auch nicht wiederholt worden 14 . Es lebt weiter in den „harmlosen“ Zusammenhängen (die, wenn man genauer hinsieht, ja auch nicht unbedenklich sind, weil sie Zeugnis der Verschwendung in unserer Wohlstandsgesellschaft sind). Aber es gibt zumindest eine interessante Nutzung des Wortes. Eine Rockmusik-Band nennt sich „Wohlstandsmüll“ und schreibt in ihrer Homepage 15 Übrigens: Sollten wir uns jemals umbenennen, dann nur in ,sozialverträgliches Frühableben’ – das Unwort des Jahres 1998, wohl eins der besten überhaupt …
Andere Unwörter dieses Bereiches, die Schlosser in seinem ‚Lexikon der Unwörter’ in der Rubrik „Wenn Geld die Welt regiert …“ aufführt zusammen mit anderen, harmloseren wie Direktsaft oder streichzart, seien hier nur noch pauschal genannt:
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Der Urheber dieses Wortes hat sich sogar dafür öffentlich entschuldigt, wie Schlosser (in diesem Band) berichtet. http://www.blutpogo.com/haupt.htm
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Arbeitslosensockel, Arbeitsverdichtung, Belegschaftsaltlasten, biologischer Abbau, Flexibilisierung, freisetzen, kollektiver Freizeitpark, Marktwert, Outsourcing, Personalentsorgung.
Dies sind alles Wörter, die Menschen in unserer Gesellschaft ausschließlich als Faktoren im Wirtschaftsgefüge ansehen und es liegt mir ferne, die Markierung des damit verbundenen Ungeistes kritisieren zu wollen. In der generellen Stigmatisierung des Ungeistes, der sich in verräterischen Wortwahlen niederschlägt und damit auf kritisierbare Tatbestände in unserer Gesellschaft hinweist, hat die Unwortsuche ihre unanfechtbare Bedeutung. Es erheben sich dabei aber zwei Fragen: Werden diese Wörter in ihrer semantischen Potenz damit nicht erst auf eine Deutungsrichtung, die akzidentiell war, festgelegt und verfestigt? Und die andere ist: Lassen sich Wörter durch analytischen Zugriff aus ihren Verwendungsbereichen, die zumeist fachsprachlich bedingt sind, lösen und dann wie Wörter der Allgemeinsprache beurteilen?
4. Bewertungen und Folgerungen Die erste Frage war die Leitlinie meines Beitrages und so kann ich mich mit einer verhältnismäßig knappen Antwort begnügen. Auf die zweite muss ich noch etwas genauer eingehen. 4.1. Verfestigung von Bedeutungsnuancen? Schon mit den Vorschlägen für die Wahl, dann mit der Auswahl durch die Jury und die Begründung für die Wahl, weiter durch die zustimmenden Kommentare und schließlich durch die unter dieser Perspektive erfolgte Weiterverwendung werden die so markierten Wörter in einer bestimmten Deutungsrichtung festgelegt. Dies ist in unserer durch konsequente Öffentlichkeit geprägten Gesellschaft kein ungewöhnlicher Vorgang. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass Wörter gleichsam ein natürliches Leben führten, dass sie in allen ihren Verwendungszusammenhängen nur oder wenigstens hauptsächlich neutrale Benennungsfunktionen ausüben würden. Wörter werden in ihrer Verwendung gesteuert, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. Begriffslenkung, Wörterverbote und ideologische Prägungen sind nur die auffälligsten und im Nachhinein, wie meine Eingangsbeispiele zeigen sollten, auch meist historisch-analytisch aufgearbeiteten Fälle. Die Aufarbeitung geschieht vielfach und berechtigterweise unter kritischer Perspektive. Wörter werden dadurch zu Emblemen ihrer
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Zeit, auch wenn es negative sind, wie es mit den Wörtern der Zeit des Nationalsozialismus der Fall ist. Eine bereits unmittelbar nach ihrer Verwendung sich vollziehende Markierung auffälliger Wortverwendungen stellen die behandelten Suchaktionen dar. Hier werden die Wörter quasi simultan zu ihrem Gebrauch einer analytischen Prozedur unterworfen. Im Gegensatz zu kompletten historischen Aufarbeitungen fokussieren die als Unwörter markierten Gebrauchsweisen auf die negativen Erscheinungen unserer Gesellschaft, wodurch sich insgesamt ein düsteres Bild ergibt. Dies wiederum erklärt einen Teil der gegen die Aktionen vorgebrachten Kritik. Da es sich bei Wörtern im Gebrauch um individuelle Gebräuche handelt, ist jedoch Vorsicht bei Verallgemeinerungen am Platze. Die Konnotationen von Wörtern sind nicht immer verallgemeinerbar, und für einen späteren Blick sind die Jury-Bewertungen die Festlegung eines Gebrauches oder einer im Verlaufsjahr feststellbaren Verwendungsdominante bisweilen zu starke Festlegungen. Die Entwicklung zeigt bei vielen monierten Wörtern ja auch, dass ihre negativen Konnotationen (Humankapital) oder ihre anfechtbare Bildeweise (Ich-AG) im weiteren Gebrauch sich wieder abschwächen oder neutralisieren. Oder aber sie gewinnen eine ironische Bedeutungskomponente, wie es bei der Verwendung von Peanuts, dem Unwort des Jahres 1994 zu beobachten ist, wenn es etwa heißt: Natürlich machen diese Werke Pletnev nicht die geringste Mühe, er schüttelt sie gewissermaßen aus dem Ärmel – Peanuts eben 16 . Aber dass Wörter ständig in ihrer Bedeutung einem Prozess der Festlegung unterworfen werden, zeigt sich nicht nur hier durch die offene, kontrollierte Bewertungsprozedur, sie wird auch an anderer Stelle fassbar, etwa in den Bemühungen, tragende Begriffe der öffentlichen Debatte für sich zu reklamieren, „zu besetzen“. Auch da wird versucht, eine Bedeutung, und zwar die Bedeutung einer bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Gruppierung durchzusetzen, wie es etwa mit den Begriffen Solidarität, Mitbestimmung oder Mitte der Fall war. Alle diese Wörter sind nicht nur in ihrem Bedeutungsumfang umstritten, sie sind vor allem Beispiele dafür, dass gesellschaftliche Instanzen für sich die Festlegung der „wahren“ Bedeutung in Anspruch nehmen. Neben den gesellschaftlichen und politischen Gebrauchsweisen findet sich fast immer eine nicht definitorisch festgelegte, „neutrale“ Bedeutung. Das Schwanken zwischen derartigen durch Gruppen festgelegten (und dann jeweils als einzig angemessenen ausgegebenen) und den allgemeinsprachlichen Bedeutungen ist nichts Ungewöhnliches. Der Wortschatz einer Sprache ist nicht homogen, und die Begriffe, die entweder politisch fixiert oder mit Konnotationen aufge-
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Aus einem Artikel „Sonaten als Peanuts“ im KÖLNER STADT-ANZEIGER vom 15.3.2006.
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laden sind, interagieren mit dem alltagssprachlichen Gebrauch in einer nicht generell voraussagbaren Weise. 4.2. Fachsprachliche versus allgemeinsprachliche Geltung von Wörtern Damit komme ich auf meinen zweiten Punkt zu sprechen. Die eben genannten Ausdrücke sind wie die „Unwörter“ Humankapital und IchAG, oder auch schlanke Produktion (lean production), Ausreisezentrum oder Gewinnwarnung keine Wörter der Allgemeinsprache. Es sind fachsprachlich geprägte Wörter, Wörter, die in bestimmten Verwendungsbereichen oder fachlichen Zusammenhängen geschaffen oder festgelegt sind. Solche Wörter fallen bei einer Beurteilung aus nichtfachsprachlicher Perspektive fast immer zunächst in ihrer metaphorischen Bildeweise auf. Dadurch sind sie wiederum von vornherein anfällig für Kritik. Seit dem Buch von Lakoff und Johnson (1980) ist kaum ein Bereich des menschlichen Zusammenlebens mehr sicher vor einer Ausdeutung seiner angenommenen metaphorischen Durchdringung und damit vermeintlich verbundenen ideologischen Lenkung. Eine solche Brandmarkung weiter Teile unserer gesamten Sprache geht zu weit. Der Wortschatz wird seit je mit metaphorischen Mitteln – und dazu sind alle Übertragungen in sekundäre Bereiche zu rechnen – erweitert. Unberührt von dieser Maßgabe ist allerdings der unangemessene Gebrauch. Die „Sprachwächterfunktion“ der Sprachgemeinschaft, die sich prominent in den Wort- und Unwortaktionen zu Gehör bringt, lässt sich verstehen als ein Abklopfen aktueller Ausdrucksweisen auf ihre gesamtgesellschaftliche Tragfähigkeit. Die professionellen Nutzer von Fachsprachen unterliegen einem Irrtum, wenn sie annehmen, fachsprachliche Ausdrücke ließen sich abkapseln oder seien immun gegen nichtfachliche Gebrauchsweisen. Zwar werden die fachsprachlichen Kernbegriffe in den Fächern geprägt und in ihrer terminologischen Fixierung verwendet. Aber alle Fachsprachen weisen auch Randbereiche auf, in denen die Terminologiegebundenheit nicht im gleichen Maße gilt wie in der Kernzone. Vor allem aber gibt es so gut wie keinen fachsprachlichen Ausdruck, der nicht Eingang in die Allgemeinsprache gefunden hätte. Das „Risiko“, die fachsprachliche Ausgangsbedeutung nicht mehr zu treffen, gilt nicht nur für Ausdrücke wie die juristische Unterscheidung von Besitz und Eigentum, sondern auch für die wirtschaftswissenschaftlichen Begriffe Humankapital oder Outsourcing. Damit müssen die Fachleute leben: Ihre Wörter und Wortbildungen werden, da es keine absolut strikte Trennung von Sprachebenen
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gibt, aus der allgemeinsprachlichen Sicht aufgegriffen und interpretiert. Dabei werden Schichten markiert, die im Zuge der fachsprachlichen Festlegung ungenutzt oder verdeckt gewesen sind. Und dabei lassen sich gewisse Tendenzen beobachten: Wörter, die fachsprachlich gebunden, allgemein aber wenig gebräuchlich sind, werden gerne „wörtlich genommen“, d.h. ihr semantisches Potential wird so verstanden, dass etwa bei Wortbildungen die einzelnen Bestandteile in einer Weise verbunden werden, die unerwartete Bedeutungen entstehen lassen, wie es bei Ich-AG oder Humankapital zu sehen war, aber auch für Organspende (in der Unwortliste 1997), Ausreisezentrum und Gewinnwarnung (beide 2001) gelten würde. Für alle diese und viele andere Wörter lassen sich beim Wörtlichnehmen absurde Deutungen finden. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch harmlose Wortbildungen sich verdrehen lassen, man denke an den von Rüdiger Harnisch 17 für die kreative Umdeutung alltagssprachlicher Begriffe in Anspruch genommenen Schraubenzieher oder den Zitronenfalter oder der Bedeutungsfestlegung, wie sie in der Volksetymologie vorgenommen wird. 18 Bei allen Unterschieden zu spielerischen Sprachmanipulationen gilt doch etwas Gemeinsames: Wortbildungen sind ausnahmslos in ihrer Bildeweise offen für unterschiedliche Deutungen. Sie bekommen die maßgebliche im Gebrauch, wie es für alle Wörter gilt. Da machen die öffentlich verwendeten und diskutierten keine Ausnahme, auch und gerade wenn sie Kontroversbegriffe darstellen. Zu Kontroversbegriffen werden sie vielfach erst in der öffentlichen Debatte, bei der vermeintlich verdecktes semantisches Potential vor allem fachlich geprägter Wörter „bloßgelegt“ wird. In seinem Beitrag für diesen Band zeigt Wengeler dies an mehreren nominalen Begriffsfeldern, die bei diesen Prozessen die Interessenlagen gesellschaftlicher Gruppen widerspiegeln. Die Frage, wieweit die Unwortdebatte eine nur analytische oder doch eine begriffsfestlegende Prozedur ist, muss offen bleiben. Ihre Hauptfunktion ist jedenfalls eine Lenkung öffentlicher Diskurse und zwar als Korrektiv markierter Verletzungen von kommunikativen Regeln. Da dies selber ein diskursives Faktum ist, sind ihre Festlegungen kommentierbar und kritisierbar.
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Im Ankündigungsschreiben für das Symposium: www.phil.uni-passau.de/ germanistik/ sprachwis1/tagung1.htm Vgl. Ronneberger-Sibold (2002) und ihren Beitrag in diesem Band.
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Semantische und formale Verstärkung, oder: Bedeutung sucht Form
Johan van der Auwera / Ewa Schalley / Gunther De Vogelaer
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz bei Imperativen, Konjunktionen und Antwortpartikeln 1 1. Einleitung In den letzten zwanzig Jahren gab es, insbesondere seit Lehmann (1982), zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiet der Grammatikalisierung. Das Konzept und der Begriff bestehen jedoch bereits seit Meillet (1912). Letzterer betrachtet dieses Phänomen als einen der beiden wichtigsten Mechanismen der grammatikalischen Veränderung. Beim anderen Typ handelt es sich um analogische Veränderung. In den letzten Jahren sind die analogischen Veränderungen weniger beachtet worden. Wir denken jedoch, dass die Situation sich wandelt, wie Itkonen (2005) und Wanner (2006) bezeugen, die sich mit der Analogie als solcher befassten, ebenso Miestamo (2005) mit einer Studie, die die wichtigsten Parameter der Variation der Negation als unterschiedliche Typen der Analogie behandelt, weiter Hoffmann (2005) und Taeymans (2006), die im Wesentlichen die Interaktion der Grammatikalisierung und der analogischen Veränderung untersuchen 2 , oder Harnisch (2004), für den die Analogie ein bedeutender Faktor in Prozessen wie der Entgrammatikalisierung und Entlexikalisierung ist. In diesem Aufsatz konzentrieren wir uns auf die verbale Kongruenz, ein Standardthema von Studien über Grammatikalisierung. Kongruenzmarker ergeben sich typischerweise aus der Fusion von Verben und Pronomina mit der Zwischenform der Klitika. Dabei handelt es sich um Bekanntes. Die wichtigsten modernen Studien dazu stammen von Givón (1976) und Ariel (2000). Verbale Kongruenz entsteht aber nicht nur durch
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Die Arbeit ist vom Gemeinschaftsprojekt „Modus und Modalität“ der Universität Antwerpen unterstützt worden. Danke an Valentin Goussev, Rüdiger Harnisch (auch für seine Geduld), Dmitry Idiatov, Günter Koch, Amina Mettouchi, Horst J. Simon, Igor Trost, und Mark Van de Velde, und an die Teilnehmern der Symposia über „Verstärkung“ (Passau, November 2006) und „Current Topics in Typology“ (Berlin, Januar 2007). Der Abgrenzung und dem Zusammenspiel von Grammatikalisierung und Analogie ist auch der Beitrag von Gabriele Diewald in diesem Band gewidmet.
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Grammatikalisierung, was bereits von Chafe (1977) ausdrücklich unterstrichen worden ist. In dieser Studie behandeln wir einige Fälle von verbaler Kongruenz, die sich eher aus der analogischen Verbreitung und weniger aus der Grammatikalisierung erklären lassen. Wir werden hier zwischen zwei Typen unterscheiden. Im ersten Typ ist die analogische Veränderung semantischer Art. Wir werden dies ausgehend vom Imperativ, der 1. Person Plural und insbesondere anhand von Phänomenen wie dem russischen Kongruenzmarker der 2. Person Plural -te erläutern, der zu einer Verbalform hinzugefügt wird, die bereits einen Kongruenzmarker in der 1. Person Plural enthält. (1) Russisch Pojd-ëm-te! gehen.IND.PERF.FUT-1PL-2PL ‘Gehen wir!’
Beim zweiten Typ ist die verbale Kongruenz formal bedingt wie bei den sogenannten „konjugierten Konjunktionen“ in niederländischen Dialekten. Als Beispiel nehmen wir den nach folgenden Satz aus dem Dialekt Lapschuere. (2) Lapschuere (Westflämisch, Belgien, Haegeman 1992: 61) …da-n=ze (zunder) goa-n komm-en. KONJ-3PL=3PL 3PL gehen-IND.PRS.3PL kommen-INF ‘… dass sie bald kommen.’
Die Konjunktion ist da, das Subjekt ist die 3. Person Plural, die sowohl durch ein klitisches Pronomen ze als auch das optionale Vollpronomen zunder dargestellt wird. Die Flexion, hier 3. Person Plural auf -n, findet sowohl im Verb goa-n als auch in der Konjunktion da statt. Hinsichtlich des unter (1) genannten Phänomens werden wir ferner zeigen, dass die semantische Wirkung der doppelten Kongruenz auch durch Strategien erreicht werden kann, die sich aus der Grammatikalisierung ergeben. Indem wir die jüngste Hypothese von Dobrushina und Goussev (2005) über die Imperativformen in der 1. Person Plural vertiefen, wollen wir auch einen Beitrag zur weiterreichenden typologischen Studie der „Klusivität“ und der Imperative leisten. Hinsichtlich des Phänomens der konjugierten Konjunktionen ist die typologische Herausforderung anderer Art: Man muss zeigen, warum dieses Phänomen so selten ist.
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2. Imperativ 1. Person Plural 2.1. Basisch, minimal und vermehrt Die Übersetzung des Satzes unter (1) mit ‘Gehen wir!’ ist korrekt. Dies macht auch deutlich, dass die russische Form inklusiv ist, sich also auf eine gemeinsame Aktion des Sprechers und Adressaten bezieht. In der Form (1) ist aber mehr als die reine Inklusivität enthalten. Während das deutsche Gehen wir nichts über den Adressaten sagt, ist dies im Russischen der Fall. (1) gibt uns an, dass der Adressat mehrere Personen umfasst oder Respekt hinzukommt bzw. beides. 3 Wir stellen diese semantische Wirkung in der Übersetzung mit dem Hinweis ‘ich und ihr/Sie’ dar. (3) Russisch Pojd-ëm-te! gehen.IND.PERF.FUT-1PL-2PL ‘Gehen wir, ich und ihr/Sie!’
(3) steht in Kontrast zum morphologisch einfachen Aufbau von (4). (4) Russisch Pojd-ëm! gehen.IND.PERF.FUT-1PL ‘Gehen wir, ich und du/ihr!’
Bei (4) ist die Anzahl der Adressaten nicht deutlich: Es kann ein Adressat sein, aber auch mehrere Adressaten sind möglich, auf jeden Fall ist es keine Höflichkeitsform. Der semantische Unterschied zwischen (3) und (4) wird natürlich durch die Morphologie dargestellt. pojdëmte und pojdëm sind beide Formen der 1. Person Plural, die erste Form ist jedoch auch eine 2. Person Plural. (3) ist also zweimal im Plural konjugiert. Dabei handelt es sich um eine sehr unübliche Eigenschaft des russischen Verbalsystems oder der russischen Morphologie im Allgemeinen. Die Konstruktion pojdëmte ist die einzige im Russischen mit einem doppelten Plural. Es ist also ein sehr markiertes Phänomen. Gegenwärtig ist es auch in dem Sinne markiert, dass die Konstruktion sehr eingeschränkt ist. Im aktuellen Russischen wird sie nur mit dem Verb idti ‘gehen’ benutzt, entweder in der reinen Form oder mit Präfixen (Podlesskaya 2006: 279). Laut Podlesskaya (2006: 279) ist diese Form bis 1950 mit einer größeren Anzahl von Verben benutzt worden. Historische Untersuchungen der Konstruktion scheint es nicht zu geben, aber der Typ ist wohl nie voll produktiv gewesen (Igor Nedjalkov p.c.). Es ist auch noch keine sehr alte Konstruk-
_____________ 3
Dies ist eine Vereinfachung, was aber für diesen Abschnitt ausreicht. Am Ende kommen wir zu dem Punkt, dass auch die Anzahl von Nicht-Sprechaktteilnehmern für -te relevant ist.
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tion: Laut Kiparsky (1967: 194) ist die Konstruktion zum ersten Mal im 17. Jh. aufgezeichnet worden. Dabei kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob das Original ‘Pluralität’ oder ‘Respekt’ bedeutet oder beides. Man kann zumindest sagen, dass die Höflichkeitsform des Pronomens der 2. Person Plural damals noch nicht allgemein akzeptiert war, obwohl die ersten Formen in Reden von Ausländern, die in Russland lebten bzw. von Russen, die im Ausland lebten, auf das 17. Jahrhundert zurückgehen (þernyx 1948: 94). Im aktuellen Russischen steht (3) nicht nur im Gegensatz zu (4). Neben dem synthetischen pojdëmte und pojdëm gibt es auch verschiedene analytische Konstruktionen, die ‘geben’ in der imperfekten Imperativform davaj (SG) oder davajte (PL) jeweils als Hilfswort benutzen. Podlesskaya (2006: 278-283) unterscheidet nach der Form des lexikalischen Verbs zwischen zwei Subtypen. Die Details der semantischen und pragmatischen Unterschiede zwischen den Subtypen sind für unsere Zwecke nicht von Bedeutung. In (5) zeigen wir den analytischen Typ mit nur einem Subtyp, in dem das lexikalische Verb ein Infinitiv Imperfekt ist. (5) Russisch (Podlesskaya 2006: 278) a. Davaj-Ø igra-t’ geben.IMP.IMPF-2SG spielen.INF.IMPF ‘Spielen wir Fußball, ich und du …!’ b. Davaj-te igra-t’ geben.IMP.IMPF-2PL spielen.INF.IMPF ‘Spielen wir Fußball, ich und ihr/Sie … !’
v futbol …! in Fußball v futbol… ! in Fußball
Wie in pojdëmte sehen wir ein -te Suffix, das Information über die Anzahl der Adressaten bzw. Respekt mitteilt. In (5) ist dieses Suffix natürlich nicht ungewöhnlich: Es steht am imperativischen Verb, der normalen (prototypischen) 2. Person Imperativ mit dem oder den Adressaten4 als Subjekt. Sowohl die analytische als auch die synthetische Strategie haben also Konstruktionen mit und ohne -te. Hinsichtlich der Anzahl der Adressaten bzw. des Respekts sind die Konstruktionen mit -te identisch: Die Adressaten können mehrere sein, aber auch eine Höflichkeitsform kann vorliegen. Die Konstruktionen ohne -te sind hingegen nicht identisch. Es handelt sich bei beiden nicht um Höflichkeitsformen, aber die synthetische Form ist unspezifiziert bezüglich der Anzahl der Adressaten, während die analytische Form genau einen Adressaten impliziert. (6) stellt die Unterschiede dar, die in dieser Studie von Bedeutung sind.
_____________ 4
Zur Prototypizität der 2. Person Imperativ siehe van der Auwera et al. (2004).
273
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
(6)
a.
synthetisch ohne -te
pojdëm
Adressat 1 NHON
b. c.
synthetisch mit -te analytisch mit -te
pojdëmte davajte V
Adressat 2 NHON oder Adressat 1 HON
d.
analytisch ohne -te
davaj V
Adressat = 1 NHON
In (6) zeigt die dritte Spalte die Anzahl der Adressaten. Wir können jedoch auch die Anzahl der Subjektreferenten zählen. Diese Anzahl ist immer die Anzahl der Adressaten plus die der Sprecher, also 1, wobei der Sprecher sprachlich immer im Singular steht (wie Cysouw 2003: 74 unterstreicht). 5 Die Tabelle in (7) enthält diese Informationen über die Subjektreferenten. Da der honorative Sprecher hier nicht relevant ist, ist die Höflichkeitsdimension hier nicht enthalten. (7)
a. b. c. d.
synthetisch ohne -te synthetisch mit -te analytisch mit -te analytisch ohne -te
pojdëm
Adressat 1 NHON
Subj. 2
pojdëmte davajte V
Adressat 2 NHON oder Adressat 1 HON
Subj. 3 oder Subj. 2
davaj V
Adressat = 1 NHON
Subj. = 2
In Tabelle (7) wird deutlich, dass das Subjekt in der vierten Variante genau zwei Teilnehmer bedeutet, was auch für die anderen Strategien möglich ist, aber nicht notwendig. Das erklärt, warum diese Fälle manchmal „dual“ genannt werden (Schadeberg 1977: 18, 25, Birjulin and Xrakovskij 2001: 6). 6 Doch ist dies, wie Dobrushina und Goussev (2005, im Folgenden D&G) festhalten, keine weise Entscheidung. Wichtig ist letztendlich die Anzahl der Adressaten, nicht der Subjekte. 7 Cross-linguistische Analysen zeigen weiter, dass eine Unterscheidung wie in (6) nur indirekt mit der
_____________ 5 6
7
Es ist möglicherweise komplizierter. Für Bantu unterstreicht Schadeberg (1977: 15031504), dass nicht nur ein Sprecher hinzugefügt werden kann, sondern auch ein exklusives ‘wir’, d.h. der Sprecher mit einem oder mehreren Adressaten. Sehr verwirrend ist, dass in den türkischen Sprachen für ähnliche Konstruktionen der Term „exklusiv“ benutzt wird (Isxakova et al. 1992: 107-108, Nasilov et al. 2001: 184), siehe z. B. Nevskaya (2005: 343) für weitere Referenzen. Was hier ausgeschlossen wird, ist jedoch nicht der Adressat im herkömmlichen Sinne des Begriffs, sondern jeder andere als Sprecher und Adressat. Eine ähnliche Terminologie wird auch in Bezug auf das Bantu festgestellt, und schon Schadeberg (1977: 1504) bedauerte diese Verwendung. Schadeberg (1977: 1503) greift auf den Term „dual“ zurück, macht aber klar, dass die Adressaten zählen.
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Existenz einer Dualkategorie in einer Sprache verbunden ist. Wenn eine Sprache anderswo duale Formen aufweist, kann sie in der Tat auf die imperative Dualform zurückgreifen und sie vom Imperativ Plural unterscheiden, um die Kontraste in (7) zu unterstreichen (D&G: 202-203). Viele Sprachen sind jedoch in der Lage, die Unterschiede in (7) auszudrücken, ohne dass sie anderswo eine Dualform aufweisen (und eine dieser Sprache ist Russisch). Aus diesem Grund schlagen D&G eine abweichende Terminologie vor. Erstens benützen sie die Begriffe „minimal“ und „vermehrt“. Zweitens fügen sie den Begriff „basisch“ hinzu. Der Einsatz dieser Terminologie wird in (8) gezeigt. (8)
a. b. c. d.
synthetisch ohne -te synthetisch mit -te analytisch mit -te analytisch ohne -te
pojdëm
Adressat 1 NHON
basisch
pojdëmte davajte V
Adressat 2 NHON oder Adressat 1 HON
vermehrt
davaj V
Adressat = 1 NHON
minimal
Wir denken, dass die von D&G unterbreitete Hypothese grundsätzlich stimmt, und wir wollen ihrer Begriffsbestimmung folgen. Drei Punkte müssen jedoch erläutert werden. Erstens wird der Begriff „vermehrt“ in besonderer Weise benutzt. Normalerweise, auch bei Cysouw (2003) und in den meisten Schriften des Buchs Clusivity (Filimonova 2005), bezieht sich der Begriff „vermehrt“ auf die Inklusion eines Nicht-Sprechaktteilnehmers zusätzlich zum Sprecher und zum Adressaten, welche zusammen die „minimale“ Konstellation darstellen. Hier jedoch ist die Anzahl der Adressaten von Bedeutung. Zweitens greifen D&G nicht auf den Parameter der Höflichkeitsform zurück. Wenn es bei den neuen Begriffen nur darum geht, die Anzahl der Adressaten darzustellen, dann müsste der Einsatz der Höflichkeitsform sowohl bei pojdëmte als auch davajte V „minimal“ statt „vermehrt“ genannt werden. Das wäre aber wahrscheinlich keine gute Strategie. Im weiteren Verlauf sehen wir uns nur die Anzahl an und verzichten auf die Höflichkeitsform. Der Grund ist pragmatisch: Viele Grammatiken gehen ganz einfach nicht auf die Höflichkeitsformen ein. Im Grunde sollten wir jedoch „vermehrtem“ Respekt die gleiche Stellung einräumen wie der vermehrten Anzahl der Adressaten (und wir gehen weiter davon aus, dass die erste Form von der letzten abhängt). Drittens ist es augenblicklich eine Vereinfachung der D&G-Hypothese, zu sagen, dass die vermehrte Bedeutung lediglich eine Sache der
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Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
Pluralität der Adressaten ist. Trotz vieler Aussagen in ihrem Aufsatz (D&G: 192, 206) lassen sie ausdrücklich die vermehrte Bedeutung auch für eine Situation zu, in der zum Adressaten einer oder mehrere NichtSprechaktteilnehmer hinzugefügt werden. Hierzu gibt es keine Beispiele und der Punkt wird auch nicht weiter diskutiert, er bezieht sich jedoch auf das weitreichende Thema der Bedeutung der 2. Person Plural. Geht hiermit eine Pluralität der Adressaten einher oder ist es ausreichend, dass diese Pluralität eine Gruppe mit mindestens einem Adressaten beinhaltet? Simon (2005) greift diese Frage auf und hält die zweite Hypothese für korrekt. Wir gehen davon aus, dass er Recht hat und dass diese Hypothese auch für den Bereich der vermehrten Inklusivform der 1. Person stimmt. Wir zeigen die Relevanz des zweiten und des dritten Punktes durch eine neue Formulierung der Tabelle (8). Tabelle (9) blendet die Kategorie der Höflichkeit aus, geht jedoch eingehender auf die Bedeutung der 2. Person Plural ein und beschreibt diese anhand einer Gruppe von NichtSprechaktteilnehmern mit mindestens einem Adressaten – wir werden diese Gruppe „Adressatengruppe“ nennen. (9) a.
synthetisch ohne -te
pojdëm
Adressatengruppe Mitglieder 1 Adressat 1
basisch
b. c.
synthetisch mit -te analytisch mit -te
pojdëmte davajte V
Adressatengruppe Mitglieder 2 Adressat 1
vermehrt
d.
analytisch ohne -te
davaj V
Adressat = 1
minimal
2.2. Typologie D&G bieten eine gute erste Typologie der Strategien, die in den Sprachen ausgenutzt werden, um den Unterschied zwischen basisch, minimal und vermehrt in den Inklusivformen der 1. Person Imperativ auszudrücken. Sie tun dies auf der Grundlage einer großen Anzahl von Sprachen; diese Stichprobe wird jedoch nicht weiter charakterisiert. In diesem Abschnitt wollen wir die Verallgemeinerungen bewerten und so weit wie möglich verfeinern. Wir tun dies anhand unserer eigenen Datengrundlage. Es handelt sich um Informationen über die rund vierhundert Sprachen, die in van der Auwera et al. (2004, 2005) benutzt werden, und zudem auch um einige neuere Daten, die unter anderem dem Sammelband Clusivity und Schadeberg (1977) entnommen sind, der D&G nicht bekannt ist. Da diese Angaben kein repräsentatives Muster darstellen und da die Informationen
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für den Imperativ 1. Person oft unvollständig sind, wollen wir keine Frequenz- oder Markiertheitsaussagen machen. Unter Punkt 2.3 konzentrieren wir uns auf die Rolle der Grammatikalisierung im Gegensatz zur Analogie als Verfahren, die die Sprachen durchlaufen, um die relevanten Strategien abzuleiten. In der von D&G aufgestellten Typologie der Inklusivformen der 1. Person Imperativ bezieht sich der erste Parameter auf die allgemeine Relevanz der Dualform. Wenn eine Sprache anderswo in der Grammatik eine Dualform aufweist und diese Form auch für die Inklusivform der 1. Person Imperativ benutzt wird, ist es klar, dass diese Benutzung die Bedeutung ausdrückt, die wir als „minimal“ bezeichnet haben. Ein Beispiel ist Warembori: (10)
Warembori (Niederes Mamberamo, Indonesien, D&G: 203, Mark Donohue p.c.) Kui ki-ra! 1DU 1NSG-gehen ‘Gehen wir, ich und du!’
In Warembori ist die Konstruktion, die mit dem Dualpronomen in (10) in Kontrast steht, eine Form des Pluralpronomens. (11)
Warembori (D&G: 203, Mark Donohue p.c.) Ki ki-ra! 1PL 1NSG-gehen ‘Gehen wir, ich und ihr.’
Wie die Übersetzung zeigt, ermöglicht die Pluralbenutzung nur eine mehrfache Auslegung. Man könnte sich zum Beispiel auch eine basische Auslegung vorstellen. Es wäre überraschend, wenn es keine Sprache gäbe, in der der Kontrast zwischen einer Pluralform und einer Dualform eine basische Bedeutung beinhalten würde; in diesem Fall gäbe es eine Sprache, in der der Kontrast pojdëmte – pojdëm mit einer allgemeineren DualPlural-Unterscheidung dargestellt wird. Ein anderes Thema ist der Begriff der Trialform, auch wenn es nicht von D&G angesprochen wird. Was passiert, wenn eine Sprache nicht nur eine Dual- sondern auch eine Trialform aufweist? Genauso wie die Sprache auf eine Dualform zurückgreift, um die Anzahl der Adressaten in einer Inklusivform der 1. Person Plural Imperativ präziser auszudrücken, kann man dies auch von der Trialform erwarten. Eine solche Sprache könnte das Bislama sein. Crowley (2004: 46, 92) gibt zwei Beispiele der Inklusivform der 1. Person Imperativ: (12)
Bislama (Englische Kreolform, Vanuatu, Crowley 2004: 46, 92) a. Yumitu(fala) go! 1.DU.INCL gehen ‘Gehen wir, ich und du!’
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Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
b.
Yumi go! 1.PL.INCL gehen ‘Gehen wir, ich und ihr!’
Die exakte numerische Auslegung von (12b) hängt jedoch vom Sprecher ab. Wenn der Sprecher die Dualform in (12a) nicht benutzt, dann ist die Anzahl in der Adressatengruppe in (12b) eins oder mehr. Wenn er dies tut, ist die Zahl für (12b) zwei oder mehr, und die Anzahl in (12a) ist eins. Einige Sprecher benützen zudem auch ein Trialpronomen, und obwohl die Grammatik kein Beispiel einer Inklusivform 1. Person Imperativ des Trialpronomens enthält, ermöglicht die Beschreibung von Crowley dies. 8 (13) ist ein Beispiel dafür: (13)
Bislama (auf der Grundlage von Crowley 2004: 46, 91) Yumitrifala go! 1.TRI.INCL gehen ‘Gehen, ich und ihr beide /ich und du und er/sie!’
In (13) ist die Anzahl für die Adressatengruppe zwei, und der kontrastierende Plural von (12a) bezieht sich auf drei oder mehr. In (14) schematisieren wir den Idiolekt, der die meisten Unterscheidungen aufweist. (14) a.
Plural
Yumi go !
Trial
Yumitrifala go !
Dual
Yumitu(fala) go !
b.
c.
Adressatengruppe Mitglieder 3 Adressat 1 Adressatengruppe Mitglieder =2 Adressat 1 Adressat = 1
(15) fügt die D&G-Terminologie hinzu: (15) a.
Plural
Yumi go !
Adressatgruppe Mitglieder 3 Adressat 1
vermehrt
_____________ 8
Seine Beschreibung lautet: „In Bislama, this meaning [die vom englischen let’s] is expressed by placing one of the first person non-singular inclusive pronouns immediately before the verb“ (Crowley 2004: 91). Da yumitrifala eines der relevanten Pronomen ist, sollte sich ergeben, dass (13) grammatisch ist.
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b.
Trial
Yumitrifala go !
c.
Dual
Yumitu(fala) go !
Adressatgruppe Mitglieder =2 Adressat 1 Adressat= 1
vermehrt minimal
Wir weisen darauf hin, dass die Numeralität von „minimal“ die gleiche ist wie vorher: Es geht um einen Adressaten. Für „vermehrt“ gibt es nun drei mögliche Konstellationen: Die Anzahl in der Adressatengruppe kann zwei oder mehr sein wie im Russischen (9b/c), genau zwei wie in Bislama (15b) oder drei oder mehr wie in Bislama (15a). Soweit zu Sprachen, die eine Dualform in ihrer Grammatik und auch im Imperativ der 1. Person Plural aufweisen. D&G beschäftigen sich vor allem mit Sprachen ohne Dualform, wie dem Russischen und solchen, in denen die Unterscheidung in den Inklusivformen der 1. Person Plural Imperativ nicht mit einer Dualform einhergeht. Wichtig ist, wie oben erklärt wurde, nicht die Anzahl der Subjektreferenten, sondern die Anzahl der Mitglieder der Adressatengruppe. Wie wir in (9) gesehen haben, verfügt die russische Sprache über zwei Strategien: eine analytische und eine synthetische. Im Russischen ist der vermehrte Typ analytisch oder synthetisch, der basische Typ ist synthetisch, der minimale analytisch, ferner beruht der vermehrte Typ entweder auf einem basischen oder minimalen Typ (vermehrt pojdëmte auf der Grundlage von pojdëm, vermehrt davajte V auf der Grundlage von minimal davaj V). Dies wirft die Frage auf, inwiefern die Fakten der russischen Sprache für sprachenübergreifende Tendenzen aussagekräftig sind. In diesem Zusammenhang stellen D&G mehrere Hypothesen auf. Wir werden fünf davon prüfen. Die drei ersten Hypothesen betreffen Sprachen, die neben der basischen Konstruktion auch minimale und vermehrte Konstruktionen aufweisen. Die beiden letzten Hypothesen beziehen sich auf Sprachen, die minimale und vermehrte, aber keine basischen Konstruktionen haben. An erster Stelle halten D&G (193) fest, dass, wenn eine Sprache basische, minimale, und vermehrte Formen aufweist, die minimalen und vermehrten Formen von der basischen Form abgeleitet werden. Dies wird am Russischen gezeigt (16). (16)
Russisch (D&G 198) a. Spoj-ëm! sing.IND.PERF.FUT-1PL ‘Singen wir, ich und du/ihr!’
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b.
c..
Davaj-Ø geben.IMPF.IMPF-2SG ‘Singen wir, ich und du!’ Davaj-te geben.IMPF.IMPF-2PL ‘Singen wir, ich und ihr!’
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spoj-ëm! singen.IND.PERF.FUT-1PL spoj-ëm! singen.IND.PERF.FUT-1PL
(16a) ist basisch, (16b) ist minimal, (16c) ist vermehrt, und die beiden letzten Formen beinhalten die erste. So weit so gut. Es gibt aber auch minimale und vermehrte Strategien mit dem lexikalischen Verb in Infinitivform, und hier existiert das Derivationsverhältnis eben nicht: (17)
Russisch a. Spoj-ëm! sing.IND.PERF.FUT-1PL ‘Singen wir, ich und du/ihr!’ b. Davaj-Ø pet’! geben.IMPF.IMPF-2SG singen.IMPF.INF ‘Singen, ich und du!’ c.. Davaj-te pet’! geben.IMPF.IMPF-2PL singen.IMPF.INF ‘Singen wir, ich und ihr!’
Auch aus den Gegebenheiten der russischen Sprache könnte man also schließen, dass die minimalen und vermehrten Konstruktionen auf der basischen Konstruktion beruhen können, aber nicht müssen. Zweitens sprechen D&G auf der gleichen Seite eine abgeschwächte Behauptung aus: Wenn eine Sprache basische, minimale und vermehrte Formen aufweist, sind die basischen formal einfacher. Das stimmt für alle Sprachen, die sie untersuchen. Unsere Daten enthalten jedoch Angaben, die Zweifel an dieser Hypothese aufkommen lassen. Sehen wir uns die Sprache Tamasheq an: (18)
Tamasheq (Berber, Mali, Heath 2005: 323, 321) a. ÆNN-Ø=$-Q4¤ H# -ZHW ! gehen-IMP.2SG=DAT-1PL SG-Markt ‘Gehen wir zum Markt, ich und du!’ H# -ZHW ! b. ÆNN-4½=$-Q4¤ gehen-IMP.2PL=DAT-1PL SG-Markt ‘Gehen wir zum Markt, ich und ihr!’ c. N-$V¿ ½ O -HW 1PL-laufen.IMPN2 ‘Laufen wir, ich und du/ihr!’
Die minimale und die vermehrten Formen sind der Imperativ der 2. Person, entweder im Singular oder im Plural, mit einer klitischen Form der 1. Person Plural. Die basische Imperativform ist jedoch ganz unterschied-
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lich: Es ist eine nicht-zweite Form des Imperativs, was durch ein Affix angezeigt wird, das zudem von einem Präfix der 1. Person Plural unterstützt wird. Während es eindeutig ist, dass die minimale und die vermehrte Form komplexer sind als die 2. Person Imperativ, von der sie abgeleitet sind, ist es nicht eindeutig, dass sie einfacher sind als die basische Inklusivform der 1. Person Imperativ. Drittens behaupten D&G (204), dass in einer Sprache, die sowohl basische, minimale, aber auch vermehrte Formen aufweist, die basischen Formen synthetisch und die minimalen und vermehrten Formen analytische Konstruktionen sind. Das stimmt nicht, schon allein wegen des Russischen, das eine vermehrte synthetische Konstruktion hat. Außerdem gibt es im Tamasheq (18b) fast eine synthetische Minimalkonstruktion. Es stimmt, dass die finale Komponente in 4NN-4½=$-Q4¤ kein Affix ist, sondern ein Klitikon, und es stimmt auch, dass wir keine volle morphologische Minimalkonstruktion in einem System kennen, das minimale, vermehrte, aber auch basische Konstruktionen aufweist. In Systemen mit nur minimalen und vermehrten Formen, aber keinen basischen (siehe die Diskussion über das Türkische unten), sind die synthetischen minimalen Konstruktionen aber akzeptabel. Warum sollten sie dann in Systemen mit drei Konstruktionen nicht akzeptabel sein? Dies setzt lediglich voraus, dass im Tamasheq das Klitikon in ein echtes Affix umgewandelt wird. Ein anderes Gegenbeispiel wäre eine Sprache mit drei Konstruktionstypen und mit einer analytischen basischen Konstruktion. Es gibt keine solche Sprache in den Daten von D&G und auch wir haben keine gefunden. Wir weisen jedoch darauf hin, dass an den analytischen basischen Konstruktionen kein Zweifel besteht, d.h. an der Existenz als solche, ohne begleitende minimale und vermehrte Konstruktionen. D&G (206) geben ein Beispiel: (19)
Bagirmi (Nilo-Saharanisch, Tschad, D&G 206, auf der Grundlage von Stevenson 1969: 85) je sa-ki wir essen-N3PL ‘Essen wir!’
Die Konstruktion ist analytisch, weil wir die Kombination des Verbs mit einem Pronomen der 1. Person benötigen; ohne Pronomen ist diese Konstruktion eine 2. Person Plural. 9 Ein Beispiel aus unseren eigenen Daten ist (20):
_____________ 9
Die Quelle macht nicht deutlich, ob -ki als 2. Person Plural ausgelegt werden soll – die Ansicht von D&G (206) – oder als eine Nicht-Dritte Pluralform, so wie wir es vorsehen.
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(20)
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Matsés (Panoanisch, Peru, Fleck 2003: 995) Nid-nu nid-Ø! gehen-IND.INT.1SG gehen-IMP.2 ‘Gehen wir!’ (“Ich gehe, geh!”)
Die vierte Behauptung besagt (D&G: 196), dass bei einer Sprache, die nur vermehrte und minimale Formen aufweist, die vermehrte Form meistens von der minimalen abgeleitet wird (und nach den Beispielen von D&G scheint diese Ableitung immer morphologisch zu sein). Hier seien zwei Beispiele aus den türkischen Sprachen angefügt, zitiert aus Nevskaya (2005: 342), die alle ‘Nehmen wir!’ bedeuten: (21)
Yakut Khakas
minimal Õl-Õax al-aƾ
vermehrt Õl-ÕaȖ-Õƾ al-aƾ-ar
Wie man sieht, ist diese Verallgemeinerung korrekt. Man sollte sich aber bewusst sein, dass die Abwesenheit eines Markers am Ende der Minimalform einen paradigmatischen Wert hat. Anders ausgedrückt, die Minimalformen in Yakut und Khakas sind nicht wirklich Æl-Æax und al-aƾ, sondern Æl-Æax-Ø und al-aƾ-Ø. 10 (22)
Yakut Khakas
minimal Õl-Õax-Ø al-aƾ-Ø
vermehrt Õl-ÕaȖ-Õƾ al-aƾ-ar
Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob die wirklich einfachen Formen, d.h. die ohne Null, eine Rolle in diesen Sprachen spielen oder gespielt haben. Von Systemen mit nicht nur minimalen oder vermehrten Konstruktionen, sondern auch basischen, sagen D&G, dass die vermehrten von den basischen Formen abgeleitet sind. Hierbei handelt es sich um die erste Generalisierung, die oben diskutiert worden ist. Auch wenn wir der Meinung sind, dass diese Generalisierung zu stark ist, stimmt es doch,
_____________ 10
D&G sind inkonsequent, was den Unterschied zwischen nicht-paradigmatischen und paradigmatischen Nullen betrifft. Für den Fall unter (21) berücksichtigen sie ihn nicht. Für einen anderen Subtyp tun sie es doch, zumindest implizit. Hier ihr Beispiel aus dem Kabardischen: (a) Kabardisch (Nordkaukasisch, Russland, D&G 201) a. Dy-±D-k’we! 1PL-CAUS-gehen ‘Gehen wir, ich und du!’ b. Dy-v-±D-k’we! 1PL-2PL-CAUS-gehen ‘Gehen wir, ich und ihr!’ Vom Satz (a) wird behauptet, dass er einen Singularmarker enthält, der wahrscheinlich eine paradigmatische Ø ist, an der gleichen Stelle wie der Plural -v. c. Dy-Ø-±D-k’we! 1PL-Ø-CAUS-gehen ‘Gehen wir, ich und du!’
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dass in vielen solcher Systeme, die von D&G dokumentiert werden, vermehrte Formen von basischen und nicht von minimalen Formen abgeleitet sind. Wie kann es also sein, dass vermehrte Formen von basischen Formen in Dreitermsystemen abgeleitet werden können, aber nicht in Zweitermsystemen? Die fünfte Behauptung (D&G: 201-2) hält fest, dass die vermehrten Formen in Systemen mit lediglich minimalen und vermehrten Formen immer einen Pluralmarker enthalten. Dieser wird zum Muster der Minimalform hinzugefügt oder ersetzt den Singularmarker dieser Form. Dabei handelt es sich um einen Pluralmarker der 2. Person Plural, der entweder für eine Benutzung in der 2. Person Plural spezialisiert ist (wie in Yakut in 21/22), oder wenn nicht, zumindest für die 2. Person Plural benutzt werden kann (Khahas in 21/22). Unsere Daten unterstützen diese Schlussfolgerung, und insbesondere für die türkischen Sprachen wurde dieser Punkt bereits von Schönig (1987: 212) und Nasilov et al. (2001: 191) angesprochen. 11 Kommen wir nun zum Schluss dieses Abschnitts. An erster Stelle wurde die Relevanz des Vorhandenseins von echten Dualformen bewiesen. Wenn Sprachen echte Dual- und Trialformen aufweisen, können sie für die Verstärkung der Ausdrucksweise in den Inklusivformen der 1. Person Imperativ benutzt werden. Zweitens: Eine Voraussetzung für die fünf Verallgemeinerungen von D&G über Sprachen, die mehr als nur reine basische Inklusivformen der 1. Person Imperativ aufweisen und auf
_____________ 11
Das Muster, in dem der Vermehrungsmarker ein allgemeiner Pluralmarker ist, wird von Nasilov et al. (2001) verwirrenderweise wir + wir genannt, um es von dem Fall zu trennen, wo der Marker ganz spezifisch 2. Plural ist und wir + du genannt wird. Dieser Punkt ist bei Nevskaya (2005: 348) aufgegriffen worden, und hier haben wir auch eine Darstellung mit einem hypothetischen wirklichen Marker der 1. Person Plural. Das Argument bezieht sich auf das Shor aus dem 19. Jh. und es scheint klar, dass einmal ein Marker -q für die 1. Person Plural zu einer archaischen Verbform -alI hinzugefügt worden ist, was bereits ein Imperativ der 1. Plural war. Sie geht davon aus, dass die letzte Form die Minimalform war und dass die sich daraus ergebende Form eine vermehrende Bedeutung hat. Sie geht aber auch davon aus, dass im Falle des Schwindens der archaischen Minimalform die vermehrte Form als Minimalform interpretiert worden ist. Da es keine Belege für die Entwicklung einer vermehrten Form aus einer Minimalform in der 1. Person und einem Marker der 1. Plural gibt, und aufgrund des diachronischen Szenarios der Sektion 2.3, scheint es uns sicherer zu sein, davon auszugehen, dass das -q zur archaischen Form -alI hinzugefügt worden ist, die basisch war, und dass die sich daraus ergebende Form ihre basische Bedeutung behalten hat. Diese Form ist erst dann als minimal neu ausgelegt worden, als die zweite nachher auch den allgemeinen Pluralmarker -Lar aufwies. Wir bestreiten nicht, dass es Vermehrungen mit einem Pluralmarker der 1. Person Plural gibt: Wir sehen dies im Tamasheq (18a-b), aber in dieser Sprache wird der Unterschied zwischen minimal und vermehrt immer noch durch einen Marker in der 2. Person erreicht, der entweder im Singular oder Plural steht. Es wird auch nicht verneint, dass ein Vermehrungsmarker die Bedeutung ändern kann. In Tswana soll das der Fall sein (siehe 30).
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keine allgemeinen Dualformen zurückgreifen, ist die Hypothese, dass Sprachen entweder minimale und vermehrte Formen mit der basischen Form (ein Dreitermsystem) oder nur die minimalen und vermehrten Formen (ein Zweitermsystem) haben. Diese Hypothese ist eine ebenso willkommene Erkenntnis wie die beiden Hypothesen über das Zweitermsystem (Hypothesen 4 und 5, beide über die Ableitung zwischen der minimalen und der vermehrten Form). Die drei Hypothesen über das Dreitermsystem müssen kritisch bedacht werden. Das wichtigste Problem besteht wahrscheinlich darin, dass Dreitermsysteme eine stärkere Heterogenität aufweisen, als D&G dies zulassen: Die basische Konstruktion ist weder immer die Grundform für die minimale und die vermehrte Konstruktion, noch muss sie einfacher und synthetischer sein (z.B. Tamasheq (18)). Diese Heterogenität des Systems lässt eine Heterogenität der Diachronie erwarten. Darauf kommen wir im nächsten Kapitel zurück. Ein anderes Problem, das nicht ausreichend von D&G erörtert worden ist, besteht in der Beziehung zwischen den Dreiterm- und den Zweitermsystemen. Auch dieses Problem wird im nächsten Kapitel angesprochen. 2.3. Diachronie Die vorliegende Heterogenität der Inklusivformen der 1. Person Imperativ zeigt, dass Sprachen auf mindestens vier Weisen zu diesen Formen gelangen können. Drei beziehen sich auf Grammatikalisierung, die letzte auf Analogie. 2.3.1. Grammatikalisierung Grammatikalisierung besteht bei mindestens drei Typen. Erstens geht es um die Änderung der Wortart: Aus der Verbindung von Verb (hier Hilfsverb) und (klitisiertem) Pronomen wird eine Partikel. Das englische let’s – jetzt eine basische Inklusivform – ist von let us zu unterscheiden, welches sowohl eine basische inklusive als auch eine exklusive Interpretation zulässt. Da let’s sich heute mit vollen Pronomina kombinieren lässt, jedenfalls im Substandard, kann gesagt werden, dass es Partikelstatus erreicht hat (van der Auwera und Taeymans 2004).
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(23)
Englisch a. Let’s go, *but you can stay / because you and me are needed. b. Let us go, but you can stay / because you and me are needed. c. Let’s you and me go!
Das englische let’s ist natürlich „nur“ ein Marker der basischen Konstruktion. Für Chuvash (Türkisch, Russland) erwähnen D&G (198) eine Partikel in den minimalen und vermehrten Formen. Die Partikel gibt jedoch die Anzahl an, genau wie der Marker der Anzahl des Imperativverbs. Es muss sich dann wohl um eine Partikel handeln, die von einem Verb abgeleitet ist. Wir weisen darauf hin, dass D&G (194) das russische davaj und davajte auch als Partikeln betrachten. Dies kann vielleicht in Frage gestellt werden, aber es ist deutlich, dass es nicht viel mit dem normalen Verb ‘geben’ zu tun hat. Was die weitere Entwicklung vom Klitikon zum Affix betrifft, kann die Sprache Ewondo (Bantu A70, Kamerun) erwähnt werden. Wie Tamasheq drückt Ewondo eine minimale gegenüber der vermehrten Lesart durch den Unterschied zwischen einer 2. Person Singular und dem Plural Imperativ aus; die Inklusivform der 1. Person Plural ist jedoch kein vom Pronomen abgeleitetes Suffix wie im Tamasheq, sondern ein Präfix, das möglicherweise von einem Verb ‘kommen’ oder ‘gehen’ abgeleitet ist (Schadeberg 1977: 1505, vgl. auch Heine und Kuteva 2002: 69, 159). Ein zweiter Weg führt vom Pronomen zum Klitikon und dann zum Affix. Eine Sprache, in der eine Inklusivform des Imperativs mit einem unabhängigen Pronomen ausgedrückt wird, ist das Bagirmi (19). Im Tamasheq (18) gibt es ein Klitikon, und ein gutes Beispiel für ein Klitikon, das in ein Affix umgewandelt worden ist, liefert der MesoccoLombardische Dialekt. (24) stellt eine basische Inklusivform der 1. Person Imperativ dar: (24)
Mesocco Lombardisch (Italien, Loporcaro 2006: 142) 0DQȪǡ - GXP! eat-IMP.1PL.INCL ‘Essen wir!’
Das -um ist synchron und diachron intransparent. Loporcaro (2005) hält fest, dass es von einem Dativklitikon 1. Person Singular -um abgeleitet ist, das zur ursprünglichen Imperativendung 2. Person Plural -d hinzugefügt wurde. Der dritte Typ ist die Satzunifikation. Diese wird durch die basische Konstruktion im Matsés unter (20) repräsentiert. (25) zeigt, wie Satzunifikation auch der Unterscheidung zwischen der minimalen und vermehrten Interpretation dienen kann.
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
(25)
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Yaminahua (Panoanisch, Peru, Faust und Loos 2002: 40) a. Nõ ka-nõ ka-Ø-fe ! we go-IMP.N2 go-SG-IMP.2 ‘Gehen wir, ich und du’ (“Gehen wir, gehe!”) b. Nõ ka-nõ ka-kã-fe ! we go-IMP.N2 go-PL-IMP.2 ‘Gehen wir, ich und ihr!’ (“Gehen wir, geht!”)
2.3.2. Analogie und der Ursprung der vermehrten Inklusivform der 1. Person Imperativ Wir wollen uns jetzt erneut die russische vermehrte synthetische Form pojdëmte ansehen. Das Element, das erklärt werden muss, ist das -te-Affix. Bei seiner Benutzung in der 2. Person Plural können wir auf eine Grammatikalisierungserklärung zurückgreifen: Das -te stammt wohl letztendlich von einem proto-indoeuropäischen Pronomen der 2. Person Plural (Szemerényi 1990: 228, 248). Im 17. Jh., als die vermehrte Form aufkam, war es natürlich nicht so, dass das Pronomen vy der 2. Person Plural grammatikalisiert sowie klitisiert wurde und sich vom freien vy zur Affixform -te änderte. Im Gegenteil: Die Form pojdëmte griff auf das gebrauchsfertige -te der 2. Person Plural zurück. Möglich war dies nach unserer Meinung durch eine semantische Analogie und durch die Tatsache, dass die ursprüngliche Konstruktion häufig genug war. Normalerweise drückt -te die Pluralität der Subjektreferenten aus, genau wie die anderen Pluralmarker. Da -te ein Marker der 2. Person Plural ist, sind die Subjektreferenten eine Adressatengruppe. Demnach kann die Funktion von -te auch in Bezug auf diese Adressatengruppe beschrieben werden. Es ist genau diese Dimension, die in der Benutzung der Imperative der 1. Person Plural ausgenutzt wird. Der Grund besteht darin, dass die inklusive 1. Person Plural auch die Anzahl der Adressatengruppe betrifft. Es gibt also eine semantische Ähnlichkeit. Wir gehen ferner davon aus, dass das Muster, die 2. Person Plural Imperativ, relativ häufig war. Wenn -te auf die neue Form ausgedehnt wird, können wir sagen, dass eine Bedeutung ihre Form erhalten hat gemäß einem Prinzip der „formsuchenden“ Bedeutung (was einer der Aspekte der „Konstruktionsikonizität“ ist, vgl. hierzu Harnisch 2004).
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(26) pojdite
-te für Pluralität der Subjektreferenten
+
pojdëmte
-te für Pluralität der Adressatengruppe -te für Pluralität der Adressatengruppe
Wir weisen darauf hin, dass sich mit der Ausbreitung des -te von pojdite auf pojdëm die Formen pojdite und das sich daraus ergebende pojdëmte ähnlicher wurden, aber sie blieben natürlich unterschiedlich. Dies betrifft die Frage, ob Sprachen eine Identität zwischen der vermehrten Inklusivform der 1. Person Imperativ und der 2. Person Imperativ zulassen. Dies trifft für das nordrussische Romani zu, aber dort vielleicht nur für ein Verb. Für diese Sprache beschreibt Rusakov (2001: 292) zwei Dialekte in zwei unterschiedlichen Perioden. Für den ältesten Dialekt mit Material, das vom Ende des 19. Jahrhunderts stammt, ist eine ursprüngliche Form 2. Person Plural Imperativ (j)aven des Verbs ‘kommen’ vor allem mit einer (?basischen) Bedeutung 1. Person Plural benutzt worden. Für die Benutzung der 2. Person Imperativ war die Form üblicherweise mit -te angereichert, die aus dem Russischen stammte. Beide Formen waren also vage zwischen der Lesart des Imperativs in der 1. und der 2. Person Plural angesiedelt, obwohl es eine bevorzugte Lesart gab. Im zweiten Dialekt mit Material aus den achtziger Jahren des 20. Jh. ist die Situation unterschiedlich: (j)aven ist eine typische minimale Inklusivform der 1. Person Plural (es ist dabei nicht deutlich, was die untypische Benutzung ist) und (j)avente ist eine typische vermehrte Inklusivform der 1. Person Plural oder der 2. Person Plural. Schematisch gesehen ergibt sich folgendes Bild: (27) Nordrussisches Romani (Rusakov 2001: 293) (j)aven Dialekt 1 ‘kommen wir, ich und du/ihr’ spätes 19. Jh. (‘kommt’) Dialekt 2 ‘kommen wir, ich und du’ spätes 20. Jh.
(j)avente ‘kommt’ (‘kommen wir, ich und du/ihr’) ‘kommen wir, ich und ihr’ ‘kommt’
Die formale Identität der 2. Person Plural und die vermehrte Inklusivform der 1. Person Imperativ wird mit dem Kästchen dargestellt. Wahrscheinlich ist diese formelle Identität aber nicht durch eine semantische Analogie zwischen den beiden Bedeutungen zu erklären. Wenn man davon ausgeht, dass der zweite Dialekt eine frühe Phase erlebt hat, wo er dem ersten Dialekt ähnelte, dann sieht man, dass die Identität durch eine frühere
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
287
Identität der Bedeutungen der 2. Person Plural und der basischen Inklusivform der 1. Person vorbereitet worden ist. 12 Wie das nordrussische Romani zeigt, ist Russisch nicht die einzige Sprache, in der eine Inklusivform der 1. Person Imperativ durch eine analogische Verbreitung des Imperativmarkers der 2. Person Plural entstanden ist. In den türkischen Sprachen, in denen es Unterschiede zwischen den minimalen und vermehrten Inklusivformen der 1. Person Plural Imperativ gibt, ist der Vermehrungsmarker auch der Marker für die Pluralität des Imperativs in der 2. Person Plural, entweder als spezialisierter Marker der 2. Person Plural oder als allgemeiner Pluralitätsmarker. Da die Entwicklung der vermehrten Form als relativ jung zu bezeichnen ist (Nevskaya 2005: 346), gehen wir davon aus, dass dieser Prozess vermutlich der Grammatikalisierung des gleichen Affixes im Imperativ der 2. Person folgt und dass das Verfahren das gleiche sein muss wie im Russischen, d.h. eine semantisch basierte analogische Verbreitung. Wir finden ähnliche Konstruktionen auch in den Bantu-Sprachen (Schadeberg 1977). Schauen wir uns die minimalen und vermehrten Inklusivformen des Imperativs in der 1. Person im Tswana an. Wir weisen darauf hin, dass die Form, die wir „1. Person Imperativ“ nennen, eine Form im Präsens Subjunktiv ist, die als Präfix einen hortativen Marker aufweist. Der Subjektmarker der 1. Person Plural ist ein Präfix. Der zusätzliche zweite Pluralmarker von (28b) – und (28c) – ist ein Affix. (28)
Tswana (Bantu S30, Botswana, Cole 1975: 274, 239) a. A-re-rêk-ê! HORT-1PL-kaufen-SUBJ.PRS ‘Kaufen wir, ich und du!’ b. A-re-rêk-ê-ng! HORT-1PL-kaufen-SUBJ.PRS.-2PL ‘Kaufen wir, ich und ihr!’
Wie im Russischen und in einigen türkischen Sprachen wird der Vermehrungsmarker, hier -ng, auch als Affix für die Imperativformen in der 2. Person Plural verwendet und sogar für die Subjunktive in der 2. Person Plural, als „höfliche Alternative zum normalen Imperativ“ (Cole 1975: 274) – (28d). c.
Rêka-ng! kaufen-IMP.2PL ‘Kauft!’
_____________ 12
Für eine allgemeine Diskussion über die formelle Identität der Marker der Inklusivformen der 1. Person Plural und der 2. Person Plural, die sich nicht auf die Imperative konzentriert, siehe Daniel (2005: 23-32) und Cysouw (2005: 81-85).
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d.
Lo-rek-ê-ng di-kgômo! 2PL-kaufen-SUBJ.PRS-2PL KL5.PL-Vieh ‘Ihr sollt Vieh kaufen!’
Das Suffix -ng der 2. Person ist wahrscheinlich die grammatikalisierte Form des unabhängigen Pronomens der 2. Person Plural nyena (Denis Creissels, p.c.). Es gibt keinen direkten Beweis, dass es nicht möglich ist, dass nyena nicht gleichzeitig auch in der 1. Person Plural grammatikalisiert ist. Aufgrund der indirekten, sprachenübergreifenden Beweise aus dem Russischen und den Turksprachen bietet Analogie jedoch die bessere Erklärung. Interessanterweise hat im Tswana der Vermehrungsmarker angeblich eine weitere Entwicklung durchgemacht. -ng wird optional auch benützt bei der Kongruenz-Imperativ-Form 3. Person Plural Hortativ im Subjunktiv und selten auch mit dem subjunktivähnlichen Imperativ 2. Person Plural Hortativ. (29) ist ein Beispiel für die 3. Person Plural: (29)
Tswana (Cole 1975: 275) A-ba-tl-ê-(ng) HORT-KL1.PL-kommen-SUBJ.PRS-PL ‘Dass sie hierherkommen!’
kwano! hier
Das -ng von (29) scheint ein Imperativ-Plural-Subjekt-Marker geworden zu sein, möglicherweise auch durch eine analoge Verbreitung. (30)
nyena Pronomen für Pluralität der Subjektreferenten
+
Pluralität der Adressatengruppe Grammatikalisierung
-ng Kongruenzmarker in IMP.2PL für Pluralität der Subjektreferenten
+
Pluralität der Adressatengruppe
analogische Verbreitung -ng Kongruenzmarker in IMP.3PL für Pluralität der Subjektreferenten
-ng Kongruenzmarker in IMP.1PL für Pluralität der Adressatengruppe
Ein letzter interessanter Punkt der analogen Verbreitung der verbalen Flexion im Imperativ, auf den hier hingewiesen werden soll, ist die Verbreitung auch auf Nicht-Verben (ein Punkt, der bereits von Schadeberg 1977: 1505-1506 für das Bantu unterstrichen wurde). Betrachten wir
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
289
das albanische Beispiel unter (31), das von Greenberg (1996: 193) diskutiert wurde: (31)
Albanisch (Buchholz/Fiedler 1987: 215) Motra-ni Schwester.PL-IMP.2PL ‘Schwestern, los geht’s!’
In (31) gehört der Imperativmarker im zweiten Plural zu einem Nomen und trägt dabei nicht nur die (wiederholte) Pluralität 13 der Adressaten, sondern auch eine hortative Bedeutung. Für das Serbische unterstreicht Greenberg (1996: 63) ferner, dass die ursprünglich türkische hortative Partikel hayde sowohl die Imperativflexion der 1. Person Plural (-mo) als auch der 2. Person Plural (-te) annehmen kann, und im Mazedonischen und Bulgarischen nimmt die ursprünglich griechische hortative Partikel ela die Imperativflexion der 2. Person Plural an (und wird somit zu einem Suppletivum für das perfektive ida ‘gehen’). In diesen Fällen ist die hortative Bedeutung bereits vorhanden, das Flexiv trägt zur Identifizierung der Pluralität der Person bei. Ein letztes Beispiel: Im Yucatán Maya (Thomas Stolz, p.c.) kann jemand ‘Bis Morgen’ sagen, indem er das Wort für ‘Morgen’ konjugiert: (32)
Yucatán Maya (Mayan, Mexiko, T. Stolz p.c.) a. àastah ka’ka’t bis Morgen ‘Bis morgen!’ b. (àastah) ka’ka’t-e’x bis Morgen-IMP.2PL ‘Bis morgen!’ c. (àastah) ka’ka’t-o’n-e’x bis Morgen-1PL-IMP.2PL ‘Bis morgen!’
2.3.3. Analogie und die Ursprünge der minimalen Inklusiv-Imperativ-Formen der 1. Person Da es zwei mögliche Verfeinerungen der basischen Inklusiv-ImperativFormen der 1. Person gibt, die vermehrte und die minimale, und da pojdëmte vermehrt ist, könnte man davon ausgehen, dass pojdëm die minimale Bedeutung ausdrückt. Dies ist aber nicht der Fall: pojdëm ist die
_____________ 13
Es muss daran erinnert werden, dass unser Aufsatz sich nicht auf die Höflichkeit konzentriert, die auch übertragen werden kann (siehe Corbett 1976: 13-14 für russische Fälle mit -te an der Partikel na, nu, und zum „statischen Prädikat“ pólno ‘genug’).
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basische Konstruktion. D&G (194) unterstreichen jedoch, dass die minimale Interpretation die übliche ist, und erwarten ferner, dass pojdëm sich auf die minimale Bedeutung spezialisiert. Vielleicht ist die Erwartung zu hoch, aber wir stimmen dem zu, dass es ein Potenzial für eine Spezialisierung gibt (und sind insofern auch mit Schadeberg 1977: 1506 einverstanden). Für die 2. Person steht normalerweise das Affix -te Imperativ Plural im Kontrast zur paradigmatischen Null, die für den Singular steht. Wenn diese Art Null auch für die 1. Person Plural so verstanden wird, dann haben wir die minimale Lesart. Ursprünglich, vor der Verbreitung von -te, folgte einer Form wie pojdëm keine paradigmatische Null, es folgte nichts. Im Wesentlichen ergibt sich in diesem Szenario die Minimalform durch die Neuanalyse der nicht-paradigmatischen Null als paradigmatische Null. Schematisch: (33)
pojdëm
pojdëm
pojdëm-Ø
basisch
basisch
minimal
pojdëm-te vermehrt
pojdëm-te vermehrt
II
III
I
Russisch befindet sich in der Phase II des Szenarios unter (33), die relevanten türkischen Sprachen scheinen Phase III darzustellen, genau wie Tswana. Wir weisen auch darauf hin, dass dieses Szenario keine Dreitermsysteme ermöglicht: Wird die Minimalkonstruktion eingeführt, dann wird sie nicht zu einem basisch-vermehrten Zweitermsystem hinzugefügt, sie ersetzt eher die basische Konstruktion. Wir sehen so die Veränderung eines Zweitermsystems in ein anderes Zweitermsystem. Anders gesagt, Dreitermsysteme entstehen nicht mit dieser analogen Verbreitung. Eine Grammatikalisierung muss helfen, so wie im Russischen, oder muss es allein schaffen, wie im Tamasheq. Ohne D&G (194) nahe treten zu wollen, betrachten wir die Veränderung einer basischen in eine minimale Form nicht als Fall von Grammatikalisierung. Es handelt sich um eine semantische Veränderung, die durch eine Reanalyse (von einer nicht-paradigmatischen in eine paradigmatische Null) verursacht wird, die wiederum durch eine analoge Verbreitung verursacht wird. Wir verneinen ausdrücklich nicht, dass die vermehrte und die minimale Form auch durch Grammatikalisierung entstehen können. Dies wird gerade für die Sprache Tamasheq postuliert (in der die minimale und die vermehrte Form von einem Singular und einem Plural Imperativ ausgehen, an den ein Pronomen der 1. Person klitisiert wird); auch in
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Yaminahua ist dies der Fall (durch Satzunifikation eines Satzes in der 2. Person Singular oder Plural und eines zweiten Satzes mit einer 1. Person Plural Bestimmung).
3. Ähnliche Formen suchen verstärkt ähnliche Formen Im Fall von pojdëmte handelt es sich um unübliche Flexionen. Die Erklärung liegt darin, dass eine analoge Bedeutung eine analoge Form sucht. In diesem Kapitel wollen wir den Gedanken verfolgen, dass analoge Formen verstärkt analoge Formen suchen können. Anders ausgedrückt, zwei Konstruktionen einer Sprache sind formell ähnlich, und sie werden sich noch ähnlicher. Angewandt auf die Flexion wollen wir dies für ein Paar von zwei Konstruktionen beweisen, von dem die eine ein Verb enthält und die andere gerade nicht. Trotz der Unterschiede der Kategorien wird gezeigt, dass die Konstruktionen bereits sehr ähnlich sind. Natürlich trägt nur das Verb eine Flexion. Um die Konstruktionen noch ähnlicher zu machen, breitet sich die verbale Flexion auf Nicht-Verben aus. 3.1. Konjugierte Konjunktionen Der erste Fall sind die sogenannten „konjugierten Konjunktionen“ der kontinental-westgermanischen Sprachen. Hier sind einige Vorbemerkungen notwendig. Dieses Phänomen ist sprachübergreifend äußerst selten: Es ist nicht eindeutig festzustellen, ob es auch außerhalb des Niederländischen, des Friesischen und des Deutschen auftritt (Goeman 1997, Weiss 2005). Zweitens besteht auch kein Einverständnis darüber, was als konjugierte Konjunktion zählen kann und was nicht. Für den Zweck dieses Beitrags nehmen wir einen restriktiven Standpunkt in dem Sinne ein, dass wir nur von konjugierten Konjunktionen sprechen, wenn wir Material 14 an der Konjunktion sehen, das synchronisch nicht als klitisches Pronomen interpretiert werden kann (obwohl dieses zu einem Flexionsaffix grammatikalisiert werden kann und dann die Grenze zwischen einem klitischen Pronomen und einem Affix sehr schwierig zu ziehen ist). Drittens: Auch wenn das Phänomen sehr selten ist und der Standpunkt restriktiv, gibt es doch eine große Variation in den kontinental-westgermanischen Dialekten. In dieser Studie wollen wir nur flämische Beispiele anführen. Doch
_____________ 14
Das verbale Material muss explizit sein, jedenfalls für eine grammatikalische Person. Wenn es für die anderen Personen nicht explizit ist, dann ist entweder einfach nichts vorhanden oder die Abwesenheit zählt als paradigmatische Null.
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auch in diesen Dialekten gibt es eine verwirrende Vielfalt (siehe Barbiers et al. 2005, De Vogelaer 2005). Was folgt, kann deshalb nur darauf abzielen, zu zeigen, dass sich zumindest einige konjugierte Konjunktionen aus dem formbasierten Prinzip ergeben, dass ähnliche Formen verstärkt ähnliche Formen suchen (siehe auch Kathol 2001 fur einen analogiebasierten Vorschlag). Folgende Betrachtungen beruhen auf vorhergehenden Arbeiten (v.a. De Vogelaer 2005, De Vogelaer et al. 2006, auch Barbiers et al. 2005, Hoekstra/Smits 1997, Weiss 2005) und führten auch zu De Vogelaer und van der Auwera (2006). Hinsichtlich der Typologie geht es vor allem darum, die Seltenheit zu erklären. Warum sind eine Konjunktion und ein Verbum finitum ähnlich, zumindest in kontinental-westgermanischen Sprachen? Auf diese Frage findet sich sowohl eine syntaktische als auch eine morphologische Antwort. Hinsichtlich der syntaktischen Ähnlichkeit genügt die klassische Beobachtung, dass sowohl die Konjunktion als auch das Verbum finitum den linken Zweig der Klammerkonstruktion darstellen, ein Muster, das die kontinental-westgermanische Wortfolge charakterisiert. Für den typischen Hauptsatz ist die linke Klammer das Verbum finitum und die rechte das nicht-finite Verbmaterial, und für den typischen untergeordneten Satz ist die linke Klammer die Konjunktion und die rechte das Verbmaterial (sowohl finit als auch infinit). Dieses Muster wird im Niederländischen mit (34) dargestellt. Wir haben absichtlich ein Beispiel mit einem pronominalen Subjekt genommen, denn genau dieses Subjekt ist wesentlich, wenn es um die Diskussion der morphologischen Aspekte der Ähnlichkeit geht. (34) Niederländisch linke Klammer
a. b.
Hij Er Ik geloof Ich glaube
zal wird dat dass
hij er
rechte Klammer
het das het das
boek Buch boek Buch
morgen morgen morgen zal morgen wird
lezen. lesen lezen. lesen
‘Er wird das Buch morgen lesen.’ ‘Ich glaube, dass er das Buch morgen lesen wird.’
Wenn wir die Stellung des Subjekts untersuchen, zeigt das Muster unter (34) auch einen Unterschied: Während in (34a) das Subjekt hij vor dem linken Zweig steht, folgt es diesem in (34b).
293
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
(35) niederländische Wortfolge a. Hauptsatz: Pronominalsubjekt + linke Klammer b. Nebensatz: linke Klammer + Pronominalsubjekt
Die Relevanz der beiden unter (35) gezeigten Wortreihenfolgen ist jedoch unterschiedlich: Die Regelmäßigkeit des Nebensatzes (35b) ist sehr hoch, die des Hauptsatzes jedoch nicht. Für den Hauptsatz gibt es in der Tat zwei konkurrierende Muster, die beide das Pronominalsubjekt nach der linken Klammer aufweisen. Die erste Konstruktion wird benutzt, wenn ein Nicht-Subjekt den Teil vor der linken Klammer besetzt, die zweite, wenn in Entscheidungsfragen der Teil vor der linken Klammer unbesetzt ist. (36)
Niederländisch a. Het boek zal hij das Buch wird er ‘Das Buch wird er morgen lesen.’ b. Zal hij het boek wird er das Buch ‘Wird er das Buch morgen lesen?’
morgen lezen. morgen lesen morgen lezen? morgen lesen
Auffällig ist, dass das Pronominalsubjekt immer in derselben Weise zur linken Klammer positioniert ist: zum finiten Verb in Hauptsätzen wie (36.a), zur Konjunktion in Nebensätzen wie (34.b). Wir kommen jetzt zur morphologischen Ähnlichkeit. Zuerst fällt auf, dass das Pronominalsubjekt an das linke Klammer-Element klitisiert werden kann, sowohl bei einem Verbum finitum als auch bei einer Konjunktion. 15 (37) stellt dies für ein Pronomen der ersten Person im Ostflämischen von Geraardsbergen dar.
_____________ 15
Hinsichtlich der Stellung des finiten Hauptverbs und des Subjekts ermöglichen alle niederländischen Dialekte die Strategie unter (36), im Flämischen und Brabantischen gibt es ein drittes Muster, eine Verdopplungskonstruktion mit einem Pronominalsubjekt sowohl vor als nach der linken Klammer. (a) Hij zal hij het boek morgen lezen. er wird er das Buch morgen lesen ‘Er wird (er) das Buch morgen lesen’ Diese Struktur ist für unsere Zwecke weniger bedeutend, da das zweite Pronomen normalerweise nicht klitisiert. Die Dialekte, die hier jedoch eine Klitisierung ermöglichen (und dann sogar ein drittes Pronomen aufweisen), sind diejenigen mit starken Systemen konjugierter Konjunktionen. (b) Ostflämisch (De Vogelaer 2005: 176) We ga-me wij dat wel krijgen. wir gehen=1PL 1PL das wohl bekommen ‘Wir werden das wohl bekommen’
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(37)
Geraardsbergen (Ostflämisch, Belgien, De Vogelaer 2005: 28, nach Goeman 1980: 295) a. ga=ek geh=1SG ‘Ich gehe’ b. da=ek KONJ-1SG ‘dass ich’
Zweitens müsste die Konjunktion natürlich invariabel sein, während das Verbum finitum eine verbale Flexion hat. Es ist aber oft der Fall, dass niederländische Verbformen diese verbalen Flexive nicht mehr so deutlich aufweisen. In (38) zeigen wir das volle 16 Person-Numerus-Paradigma des Indikativ Präsens, jedes Mal auch mit einem klitischen Pronomen, im Flämischen aus Geraardsbergen. (38)
Geraardsbergen (Ostflämisch, Belgien, De Vogelaer 2005: 28, nach Goeman 1980: 295) 1SG ga=ek 1PL ga=me geh=1SG geh=1PL 2SG ga=je 2PL ga=je geh=2 geh=2 3SG ga-t-en 3PL gaa-n=ze geh-3SG=3SGM geh-3PL=3PL
(38) zeigt, dass explizite Flexive nur in den 3. Personen vorhanden sind, d.h. -t und -n. 17 Es stimmt auch, dass alle anderen Formen eine paradigmatische Null haben, aber die diskriminierende Funktion dieser Null ist eher minimal: Die Null besagt lediglich, dass eine Form keine 3. Person ist. Da es in diesem Abschnitt mehr um die Oberflächenformen geht, haben wir diese Nullen nicht angegeben. In (39) wiederholen wir das Muster mit invariablen Verbformen von (38) und paaren die Muster mit den entsprechenden Mustern der Konjunktionen. (39)
Geraardsbergen (De Vogelaer 2005: 28, nach Goeman 1980: 295) 1SG ga=ek da=ek geh=1SG KONJ=1SG 2SG ga=je da=je geh=2 KONJ=2 3SG ga-t-en geh-3SG=3SGM
_____________ 16 17
Für die 3. Person Singular nehmen wir hier nur maskuline Formen. Sowohl die Flexive als auch die Klitika werden als 3SG markiert. Sie werden durch ihre Stellung gegenüber der klitischen Grenze (=) getrennt.
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
1PL 2PL 3PL
ga=me geh=1PL ga-je geh=2 gaa-n=ze geh-3PL=3PL
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da=me KONJ=1PL da=je KONJ=2
Man kann beobachten, dass die entsprechenden Muster sehr ähnlich sind. Ceteris paribus wäre die Situation in den dritten Personen anders. Man könnte erwarten, dass die Klitika der dritten Person nach der Konjunktion da stehen, d.h. man würde die Formen da-en und da-ze erwarten, und diese Formen sind den verbalen Formen etwas weniger ähnlich. Um die Ähnlichkeit zu erhöhen, damit sie mit der Ähnlichkeit anderer Personen übereinstimmen, brauchen wir da-t-en und daa-n-ze, und dies sind tatsächlich Formen, die man in Geraardsbergen benützt. -t und -n sind natürlich auch die expliziten, personenspezifischen Flexionsmarker der Verben und im Fall der Konjunktionsmuster können sie nicht als weniger personenbezogen betrachtet werden. Man könnte sie deshalb auch als dritte Person hervorheben, und die Konjunktionen könnten somit als „konjugiert“ bezeichnet werden. Da nicht-dritte Verben nicht weniger konjugiert sind, auch wenn nur mit einer niedrigen informativisch paradigmatischen Null, können darüber hinaus die nicht-dritten Konjunktionen auch als „konjugiert“ betrachtet werden und wir können Geraardsbergen ein volles Paradigma der konjugierten Konjunktionen zuerkennen. 18
_____________ 18
Was die Kombination von Flexiven und klitischen Pronomen betrifft, muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Morphemanalysen zu (38) bis (40) ziemlich oberflächennah sind, indem wir keine paradigmatischen Nullen angeben. Aber die Oberflächennähe kann noch erhöht werden. In jedem Muster haben die flexivischen Elemente und die Klitika einen identischen (oder doch sehr ähnlichen) Status. Erst wenn man prüft, ob diese Elemente in anderen Positionen stehen können, findet man, dass z.B. das Klitikon ze 3PL sehr viel unabhängiger ist als das Flexiv -n 3PL. Aufgrund der (hohen) Irrelevanz der klitischen Grenze überrascht es nicht dass das verbale Flexiv und das klitische Pronomen fusionieren können und dann entweder als neues Flexiv oder als neues Pronomen oder als Konstruktion sui generis funktionieren kann. Beispiel eines neuen Pronomens ist die Form me in der 1. Plural des Dialekts von Geraardsbergen. Sie wird historisch aus einer Kombination des Flexivs -n, wie in der 3. Person Plural, und des Pronomens we abgeleitet. (a) 1PL gaa-n=we > ga=me geh-PL=1PL geh=1PL Dass me wirklich ein Pronomen ist und keine Bildung sui generis bleibt, wird durch die Tatsache bewiesen, dass sich me in vielen Dialekten (De Schutter 1989: 35, Barbiers et al. 2005: Karte 45 und Kommentare, De Vogelaer 2005: 123) von dem enklitischen Teil getrennt hat, das heißt entgrammatikalisiert ist, und jetzt auch als Proklitikon vorhanden ist.
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(40) Geraardsbergen (De Vogelaer 2005: 28, nach Goeman 1980: 295) 1SG ga=ek da=ek geh=1SG KONJ=1SG 2SG ga=je da=je geh=2 KONJ=2 3SG ga-t=en da-t=en geh-3SG=3SGM KONJ-3SG=3SGM 1PL ga=me da=me geh=1PL KONJ=1PL 2PL ga-je da=je geh=2 KONJ=2 3PL gaa-n=ze daa-n-ze geh-3PL=3PL KONJ-3PL=3PL ‘gehe ich’ / ‘gehst du’ usw. ‘dass ich’ / ‘dass du’ usw.
Natürlich zeigt (40) nur einen Dialekt und eine Konjunktion, aber die Grundhypothese deckt sich auch mit anderen Konjunktionen und anderen Dialekten (siehe De Vogelaer 2005: 99-103). Doch es gibt auch Variation. So ist das Modellverb nicht immer monosyllabisch; es kann auch ein polysyllabisches Verb sein oder eine Mischung. (41) stellt ein System dar, in dem das polysyllabische Verb die analoge Veränderung verursacht hat. Dies zeigen die Konjugation as ‘als’ und die Verben gaan ‘gehen’ und wassen ‘waschen’ im Holländischen Monster. (41) zeigt auch, dass den analogen Kräften widerstanden werden kann: Die 3. Person der Konjunktion hat kein -t angenommen (interessanterweise bemerkt De Vogelaer (2005: 100), dass Dialekte in der Nähe auch as-t=ie zulassen). (41) Monster (Holländisch, Niederlande, De Vogelaer 2005: 101) 1SG ga=ik was=ik as=ik geh=1SG wasch=1SG KONJ=1SG 2SG ga=je was=je as=je geh=2SG wasch=2SG KONJ=2SG
_____________ (b) Me=gaa-n naar Brussel 1PL=geh-IND.PRS.1PL nach Brüssel ‘Wir gehen nach Brüssel’ In einigen ostflämischen Dialekten (gleiche Referenzen wie für (b), aber auch De Vogelaer 2005: 47-48) kann -me auch als neue Flexion ausgelegt werden: Der Grund liegt darin, dass diese Dialekte dem -me ein zusätzliches -n hinzufügen können, ein flexivisches Merkmal der 1. Plural. (c) We=ga-men naar Brussel 1PL=geh-IND.PRS.1PL nach Brüssel ‘Wir gehen nach Brüssel’
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Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
3SG 1PL 2PL 3PL
gaa-t-ie geh-3SG=3SGM gaa-n=we geh-PL=1PL gaa-n=jullie geh-PL=2PL gaa-n=ze geh-PL=3PL
was-t=ie wasch-3SG=3SGM was-se=me wasch-PL=1PL was-se=jullie wasch-PL=2PL was-se=ze wasch-PL=3PL
as-t=ie KONJ-3SG=3SGM as-se=me KONJ-PL=1PL as-se=jullie KONJ-PL=2PL as-se=ze KONJ-PL-3PL
‘geh ich’ usw.
‘wasche ich’ usw.
‘dass ich’ usw.
Unsere formelle Analogie-Analyse kann außerdem erst überzeugend sein, wenn angenommen werden kann, dass die Modellkonstruktion (die Verbum-Subjekt-Gruppe) im Indikativ Präsens eine gewisse Häufigkeit genießt. Wir glauben, dass dies in der Tat der Fall ist. In allen Varianten des Niederländischen ist auf jeden Fall die Hauptsatzserialisierung mit einem Nicht-Subjekt in der ersten Stellung eine normale Konstruktion; dies gilt also auch für die polare Entscheidungsfrage mit einem Verbum finitum in Spitzenposition (siehe auch De Meersman 1985: 128, Nübling 1992: 257). 19 Soweit zu dem am weitesten verbreiteten Untertyp der niederländischen konjugierten Konjunktionen. Es gibt aber auch einen selteneren Typ. In flämischen Dialekten (sowohl im Osten als auch im Westen) kann es konjugierte Konjunktionen auch mit Nominalsubjekten geben: (42)
Flämisch (De Vogelaer 2005: 81, De Vogelaer et al. 2006: 12-14) a. a-n-ze … KONJ-3PL=3PL ‘wenn sie …’ b. a-n de mannen KONJ-3PL die Männer ‘wenn die Männer …’
Die Frequenz dieses Phänomens, sowohl hinsichtlich der eingeschränkten Verbreitung der Dialekte, in der es sie gibt, als auch hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeit des Musters innerhalb des Dialekts, in dem es möglich ist, gibt an, dass das Muster entweder innovativ oder archaisch ist. Wenn wir davon ausgehen, dass die oben skizzierte Erklärung der konjugierten Konjunktionen korrekt ist und das Vorkommen der Subjektklitika wesentlich ist, dann muss das Muster der konjugierten Konjunktionen mit
_____________ 19
Ein guter Beweis für die Überlegung, dass die Verbum-Subjekt-Gruppe häufig ist, besteht in der Tatsache (siehe Anm. 18), dass die Kombination von Flexiven und enklitischen Pronomen zu neuen Pronomen geführt hat, die selber auch wieder so frequent sein können, dass sie die Enklise verlassen können.
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nichtklitischen Subjekten innovativ sein. Ihre Existenz kann ebenso wie die Verbreitung der konjugierten Konjunktionen mit Klitika wieder analogisch erklärt werden. Sowohl in (42a) als auch in (42b) ist das Subjekt eine 3. Person Plural, und wir sehen, dass in beiden Fällen die Konjunktion a-n ist, nicht wie in den weniger innovativen Dialekten in einem Fall a-n und im anderen Fall a. 20 Die innovativeren Dialekte wählen die volle Ähnlichkeit. Der letzte Punkt bringt uns zur Typologie. Warum sind konjugierte Konjunktionen so selten? Als Erklärung schlagen wir vor, dass die ermöglichenden Umstände selbst nur sehr selten in den Sprachen vorhanden sind. Um eine hochfrequente Kombination des Verbs und des Subjektpronomens zu ermöglichen, brauchen wir eine Non-pro-drop-Sprache, und solche Sprachen sind selten (Dryer 2005b). Zweitens müssen diese Sprachen zudem eine verbale Kongruenzflexion haben, eine Kombination, die sehr selten ist (Siewierska 1999) und typisch für eine europäische Durchschnittssprache (Haspelmath 2001). Drittens muss das Subjektpronomen klitisieren können. Auch wenn keine typologischen Daten dazu bekannt sind, lässt sich zumindest sagen, dass der Sprachtyp mit Subjektpronomina, die klitisieren können und nicht unabhängig sind, selten ist. Viertens muss das Subjektpronomen regelmäßig unmittelbar nach Verben und Konjunktionen stehen. Es gibt zwar keine direkte Information darüber, doch könnte man behaupten, dass eine Wortreihenfolge VerbumSubjekt weniger häufig ist als eine Subjekt-Verb-Reihenfolge (Dryer 2005c). Niederländisch und Deutsch sind zwar auch keine VerbumSubjekt-Sprachen, aber Subjekt-Verbum-Sprachen sind sie auch nicht. Sie sind X-Verbum-Sprachen, wobei X das Subjekt sein kann, aber nicht sein muss. Diese Eigenschaft wird allgemein „Verb-Zweit-Stellung“ genannt und kommt vor allem in germanischen Sprachen vor. Germanische Sprachen ermöglichen die Stellung Verbum-Subjekt auch für Fragen, ein Phänomen, das „Inversion“ genannt wird, was wiederum selten ist und als
_____________ 20
Fälle der vollen Pronomen nach konjugierten Konjunktionen gibt es auch, aber sie sind selten. Normalerweise gibt es dann auch ein klitisches Pronomen, und wir erhalten eine Verdoppelung (De Vogelaer 2005: 281). c. a-n zulder KONJ-3PL 3PL ‘wenn sie …’ d. a-n=ze zulder KONJ-3PL=3PL 3PL ‘wenn sie …’ Wir müssen nicht erklären, warum (d) eine konjugierte Konjunktion hat. Die Hypothese, die die Kette KONJ-3PL=3PL über eine analoge Verbreitung aus einer Form V-3PL=3PL erklärt, gilt auch hier. Wir weisen darauf hin, dass es beim entsprechenden Muster V3PL=3PL normalerweise auch Subjektverdopplung gibt und wir also noch mehr Analogie bekommen.
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
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typisch für europäische Sprachen gilt (Dryer 2005a). Man muss auch anführen, dass man eine Sprache mit Konjunktionen braucht, und wenn man davon ausgeht, dass diese morphologisch eher einfach sind, dann müssen die frequenten Verbformen, wie im Indikativ Präsens, auch ziemlich einfach sein. Das Ergebnis ist, dass die Bedingungen, die konjugierte Konjunktionen ermöglichen – und dann tatsächlich nur ermöglichen und nicht erforderlich machen – nur in kontinental-westgermanischen Sprachen erfüllt werden. 3.2. Konjugierte Antwortpartikeln Auch wenn konjugierte Konjunktionen eine Rarität sind, so sind konjugierte Antwortpartikeln wohl ein Rarissimum und scheinen auf die flämischen Dialekte beschränkt zu sein. Zuerst weisen wir darauf hin, dass im Flämischen den Partikeln für ‘ja’ und ‘nein’ typischerweise ein klitisches Pronomen folgt, d.h. diejenigen Pronomen, die die Subjekte der vollen Satzantworten wären. Die Konstruktion ist alt. Schon das Mittelniederländische wies diese Form auf (siehe Verdam 1932: Lemma ja), das Mittelhochdeutsche ebenfalls (Simon 2006: 14-15). (43)
Flämisch (De Vogelaer 2005: 35) Frage: Hebben jullie Jan al gezien vandaag? Habt ihr Jan schon gesehen heute? ‘Habt ihr Jan heute schon gesehen?’ Antwort: Ja=w. Ja=1PL ‘Ja.’ (“Ja wir.”)
Es handelt sich also um eine klitische Gruppe, die der Gruppe des Verbum finitum oder der Konjunktion mit einem klitischen Subjektpronomen ähnelt. Es sollte also nicht zu sehr überraschen, dass wir auch Konjugationen finden. (44) bringt uns nach West-Flandern: (44)
West-Flämisch (De Vogelaer 2005: 37, auf Grundlage von Smessaert 1996: 50, 46) 1SG e-n=k jaa=ek hab-1SG=1SG ja=1SG 2SG e=je joo=je hab=2 ja=2 3SG e-t=n joo=n hab-3SG=3SGM ja=3SGM
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1PL e=me hab=1PL 2PL e=je hab=2 3PL e-n=ze hab-3PL=3PL
joo=m ja=1PL joo=je ja=2 joo-n=s ja-3PL=3PL
‘habe ich’ usw.
‘ja, ich’ usw.
Es ist interessant, dass in (44) die Antwortpartikeln nur in der 3. Person Plural eine explizite Kongruenz aufweisen. Dies ist eine allgemeine Beobachtung: Es gibt viel weniger explizite Konjugation bei Antwortpartikeln als bei Konjunktionen. Der Grund ist – so glauben wir – die niedrigere Frequenz bei den Zielkonstruktionen. Es erscheint uns plausibel, dass die absolute Frequenz von Sätzen mit einer ausdrücklichen ‘ja’- oder ‘nein’-Partikel und ohne eine vollständige Antwort relativ niedrig ist. Das klitische Pronomen ist ferner nicht verbindlich (Barbiers et al. 2005: Karten 66 und Bemerkungen). Die flämischen Dialekte sind hier also nicht non-pro-drop. Die flämischen Angaben lassen weiter den Schluss zu, dass es nicht möglich ist, eine Antwortpartikel zu flektieren, wenn nicht auch die Konjunktion flektiert werden kann (Barbiers et al. 2005: Karten 66 und Bemerkungen). Die Repräsentation in (44) gibt deshalb einen falschen Eindruck: Der Auslöser für das -n bei joo-n-s kann nicht nur die verbale Form -n- in e-n-ze sein; es muss deshalb auch ein -n- an den Konjunktionen geben, was dem daa-n-ze aus Geraardsbergen entspricht. Interessanterweise ist man, wenn man einverstanden ist oder nicht, mit einem Adressaten einverstanden oder nicht. Der Adressat ist entweder allein oder nicht, und er verdient Respekt oder nicht. Es scheint also, dass die Dimensionen, die beim Imperativ (und entsprechenden Kategorien) zur speziellen Flexion führen können, auch hier von Bedeutung sind. In den flämischen Dialekten jedoch wird dies formell nicht ausgedrückt. Die Sache verhält sich aber anders bei dem, was das beste Gegenstück der flämischen konjugierten Antwortpartikel ist, nämlich dem bairischen gell. Gell ist eine Partikel. Sie wird vom Verb gelten abgeleitet (Frans Plank, p.c.) und hat ihre Kongruenz im üblichen grammatikalischen Sinne verloren. Für einige Sprecher kann sie nun wiederum flektiert werden, jedoch nur in der 2. Person, mit einem Singular -Ø, einem Plural -ts und einer Singular Höflichkeitsform -ns (Simon 2003: 188-189). (45) stellt die Höflichkeitsform dar:
Analogie und die Verbreitung der verbalen Kongruenz
(45)
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Bairisch (Deutschland, Simon 2003: 188) Des is a langweiligs Biache, gäi-ns Herr Lehra? Das ist ein langweiliges Buch, korrekt-2SG.HON Herr Lehrer ‘Das ist ein langweiliges Buch, stimmt’s, Herr Lehrer?’
Dies ist eine semantisch begründete analoge Verbreitung. Im Flämischen jedoch erfolgt die analoge Verbreitung formell begründet.
4. Schlussfolgerung In diesem Aufsatz haben wir uns mit unüblichen Formen der verbalen Kongruenzmarker beschäftigt; d.h. ihr Auftauchen bei (i) Imperativverben der 1. Person Plural, die bereits mit verbalen Kongruenzmarkern versehen sind, aber zudem noch für die 2. Person markiert wurden, und (ii) konjugierten Konjunktionen und Antwortpartikeln. Das erste Phänomen bezieht sich auf einen weiteren Bereich der Klusivität und des Imperativs. Die Bedeutung, die bei doppelter Kongruenz ausgedrückt wird, stammt von semantisch ähnlichen Konstruktionen. Das Verständnis für dieses Phänomen versuchten wir, mit einer neuen typologischen Studie zu vertiefen. Beim zweiten Phänomen handelt es sich nicht um eine besondere Bedeutung, und die typologische Herausforderung besteht nicht darin, eine Vielfalt der Ausdrucksstrategien zu erklären, sondern eher die Seltenheit des Phänomens aufzuzeigen. Sowohl für die doppelt gebeugten Verben als auch für die gebeugten Konjunktionen und Antwortpartikeln greifen wir auf das Prinzip der Analogie zurück. Für doppelt gebeugte Verben besagt das Prinzip, dass eine ähnliche Bedeutung eine ähnliche Form fordert; bei den gebeugten Konjunktionen und Antwortpartikeln gilt, dass ähnliche Formen verstärkt ähnliche Formen suchen. Abkürzungen CAUS ‘Causativ’, DAT ‘Dativ’, DU ‘Dual’, FUT ‘Futur’, HON ‘Honorativ’, HORT ‘Hortativ’, IMP ‘Imperativ’, IMPF ‘Imperfektiv’, INCL ‘Inclusiv’, IND ‘Indikativ’, INF ‘Infinitiv’, INT ‘Intentional’, KL1 ‘Klasse 1’, ‘KL5 ‘Klasse 5’, KONJ ‘Konjunktion’, M ‘Maskulin’, NHON ‘NichtHonorativ’, NSG ‘Nicht-Singular’, N2 ‘Nicht-zweite Person’, N3 ‘Nichtdritte Person’, PERF ‘Perfektiv’, PL ‘Plural’, PRS ‘Präsens’, SG ‘Singular’, SUBJ ‘Subjunktiv’, TRI ‘Trial’, V ‘Verb’, 1 ‘Erste Person’, 2 ‘Zweite Person’. 3 ‘Dritte Person’
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Ulrike Krieg-Holz
Von Bilchmäusen und Entwicklungsprozessen. Zum Verstärkungsmotiv in der deutschen Wortbildung 1. Einleitung Das System einer Sprache ist aufgrund sich ändernder individueller oder gesellschaftlicher Kommunikationsbedürfnisse einem ständigen Wandel unterworfen. So bildet auch der Wortschatz kein stabiles abgegrenztes Inventar, sondern erweitert sich durch das kontinuierliche Bedürfnis nach neuen Sprachzeichen. Das Bedürfnis nach neuen Benennungen kann auf verschiedene Weise befriedigt werden, wobei die wichtigste Möglichkeit zum Ausbau des Wortschatzes die Wortbildung ist. Im Gegensatz zu einfachen Wörtern, deren Bedeutung nicht aus ihren Bestandteilen zu erschließen ist, ist die Bedeutung von neu gebildeten Wörtern motiviert. Kommt es zur Aufnahme in den Wortschatz, zur Lexikalisierung, festigt sich der Bezug einer Wortbildung zum benannten Gegenstand, Vorgang etc. und die interne semantische Beziehung der Konstituenten verliert an Relevanz. Das heißt, der Prozess der „Lexikalisierung“ ist gekennzeichnet durch Desegmentierung und Demotivation. Dabei entwickeln sich die Wortbildungsprodukte „von eher analytischen Gebilden mit transparenten Strukturen und Segmenten in regulärer Anordnung zu eher holistischen Gebilden mit opaker Gestalt und höherem Irregularitäts-/Idiosynkrasiegrad“ (Harnisch 2004: 212). Harnisch (2004) weist in seiner Theorie der „Sekretion und des Rekonstruktionellen Ikonismus“ darauf hin, dass es - ähnlich wie im Bereich der Grammatik - auch auf der Ebene des Wortschatzes Vorgänge gibt, die nicht in die Hauptrichtung des Sprachwandels – hier der Lexikalisierung – verlaufen, sondern auf verschiedene Weise remotivierend und wiederherstellend wirken. Während Prozesse der „Grammatikalisierung“ von höheren zu niedrigeren Konstruktionsebenen (Phrase – Wort – Morphem – Submorphem – pure lautliche Substanz) verlaufen, gehen Prozesse der „De-Grammatikalisierung“ in die umgekehrte Richtung. Es geht um Statusanhebungen der betroffenen Einheiten in der KonstruktionsebenenHierarchie, die u.a. mit Bedeutungskonkretisierung verbunden sind.
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Ulrike Krieg-Holz
Ebenso können auf der Wortschatzebene den Prozessen der „Lexikalisierung“ auch solche der sog. „De-Lexikalisierung“ gegenübergestellt werden, die auf einer Skala von unterschiedlich komplexen AusdruckInhalt-Beziehungen nicht in Richtung Desegmentierung und Demotivation verlaufen, sondern mit (Re-)Segmentierung und (Re-)Motivierung verbunden sind. So zeigen beispielsweise Volksetymologien, dass ursprünglich rein lautliche Substanz eines Ausgangswortes mit Bedeutung belegt, also durch Anschluss an Bekanntes motiviert werden kann. Zudem können innere Wortstrukturen, die für die Sprecher vorher nicht bestanden haben, in diesem Motivierungsprozess erst entstehen (vgl. Harnisch 2004: 212ff.). Volksetymologien stellen also innerhalb des „rekonstruktionellen Ikonismus“ eine Möglichkeit der (Wieder-)Herstellung dar, weil es zur Semantisierung von formaler Substanz kommt, also einer Form neuer Inhalt verliehen wird. Auf der anderen Seite gibt es sprachliche Gebilde, deren semantischer Gehalt nicht overt ausgedrückt ist. Dieser vorhandene Inhalt, dessen Ausdrucksseite möglicherweise geschwächt wurde oder nicht transparent genug ist, kann wiederum mit formaler Substanz versehen werden, so dass Inhalt Ausdruck gegeben wird (Harnisch 2004: 223ff.) Als Beispiel dafür können Wortbildungsprozesse angesehen werden, die insofern aufbauend oder verstärkend wirken, als die äußere Struktur von bereits lexikalisierten Wörtern komplexer wird und zugleich bestimmte semantische Bestandteile auf gewisse Weise hervorgehoben und/oder sichtbar gemacht werden. Es soll deshalb im Folgenden um Wörter gehen, deren Struktur sich dahingehend ändert, dass sie komplexer und zugleich transparenter wird. Dabei wird das entsprechende Wort länger, was in auffälliger Weise dem Ökonomieprinzip von Sprache, d.h. dem Streben nach Kürze und Prägnanz entgegensteht. Es geht um Substantivzusammensetzungen vom Typ Haifisch, Kieselstein oder Entwicklungsprozess. Diese Bildungen haben gemeinsam, dass sie auf den ersten Blick wie die typische Form des Determinativkompositums erscheinen, einer Zusammensetzung aus zwei prinzipiell lexemfähigen Konstituenten, nämlich Grundwort und Bestimmungswort. Durch den im Grundwort genannten Oberbegriff wird das Gemeinte umrissen und mit Hilfe des Bestimmungswortes nach Art eines unterscheidenden Merkmals festgelegt. Bei genauerer Betrachtung zeigen solche Komposita jedoch nur „eine Art determinatives Verhältnis insofern, als eine der Unmittelbaren Konstituenten für das Ganze stehen kann – in manchen Fällen auch jede von beiden “ (Fleischer/Barz 1995: 125). So machen die o.g. Beispiele deutlich, dass das Erstglied allein ebenso auf das benannte Objekt bzw. den benannten Zustand referieren kann wie das daraus entstandene Kompositum (Hai = Haifisch, Kiesel = Kieselstein)
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In der Literatur findet sich bisher keine umfassende Klassifikation solcher Bildungen. In klassischen Wortbildungslehren (z.B. Fleischer/Barz 1995, Ortner et al. 1991) werden nur ganz vereinzelt Beispiele angeführt und in den meisten Fällen als „verdeutlichende Zusammensetzung/Komposita“ bezeichnet. Bloomer (1996) bemüht sich um „eine vollständige Sammlung der pleonastischen Zusammensetzungen der deutschen Gegenwartssprache“. Dabei betrachtet er pleonastische Zusammensetzungen als eine Art der verdeutlichenden Zusammensetzung. Ziel dieses Beitrags ist es deshalb, die Wortbildungen des o.g. Typs nach verschiedenen Arten der Verdeutlichung bzw. Verstärkung zu klassifizieren. Die Untersuchung erfolgt dabei vor allem unter funktionalen Gesichtspunkten. Das heißt, es wird zunächst der Frage nachgegangen, worin das Motiv für die Bildung solcher Zusammensetzungen besteht.
2. Regressive Verstärkung 2.1. Kompensatorische Aufhellung In einigen Fällen stellt die Verdeutlichung des Erstglieds einen möglichen Grund für die Bildung von Zusammensetzungen dar. Dies lässt sich bei diachroner Betrachtung am Beispiel Bilchmaus zeigen. Das Wort Bilchmaus geht zurück auf das mittelhochdeutsche Kompositum bilchmûs, dem das einfache althochdeutsche Wort bilih zugrunde liegt. Diesem wurde das semantisch allgemeinere Wort Maus (mhd. mûs) sekundär angehängt, um eine Zusammensetzung zu bilden, deren Bedeutung verständlicher ist als die des einfachen Wortes (vgl. Bloomer 1996: 69). Bloomer ordnet Bilchmaus nicht nur den verdeutlichenden Komposita zu, sondern zählt das Wort zu den pleonastischen Zusammensetzungen. Charakteristisch für pleonastische Bildungen ist demnach, dass die beiden Glieder nicht in einer beliebigen semantischen Beziehung zueinander stehen, sondern „die Bedeutung des Zweitglieds schließt die des Erstglieds völlig ein“ (Bloomer 1996: 75). In vielen Fällen existiert dabei das Erstglied frei – ebenso wie die erste Konstituente eines typischen Determinativkompositums – in anderen Fällen, beispielsweise bei Turteltaube (ahd. turtura ‘Turteltaube’), ist sie als unikales Morphem zu betrachten (vgl. Bloomer 1996: 74). Von den pleonastischen Bildungen als einer Art der verdeutlichenden Zusammensetzungen sind tautologische Bildungen abzugrenzen. Der Begriff tautologisches Kompositum verweist auf eine Wortbildung, die durch Kombination eines einfachen Wortes mit einem in semantischer Hinsicht identischen Wort entsteht. Als Beispiel für diesen Wortbildungs-
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typus wird häufig das Wort Lindwurm angeführt, dessen Erstglied auf ahd. lint mit der Bedeutung ‘Schlange, Drache’ zurückgeht. Nun stellen die drei genannten Beispiele aber insofern einen Sonderfall der verdeutlichenden Komposition dar, als die verdeutlichte Konstituente heute in der entsprechenden Bedeutung nicht mehr frei gebräuchlich ist. Die erste Konstituente ist in semantischer Hinsicht verdunkelt und wird durch die zweite sozusagen wieder aufgehellt. Bildungen wie Turteltaube, Windhund (mhd. wint ‘schneller Hund’) oder Bilchmaus mit einem semantisch verdunkelten Erstglied sollen hier deshalb von den pleonastischen Zusammensetzungen unterschieden werden, denn durch die Verdunklung bestimmt das Erstglied – wie beim Normalfall des Determinativkompositums – das Zweitglied nur näher und enthält natürlich nicht mehr die gleiche Bedeutung wie die gesamte Konstruktion. Ähnlich verhält es sich mit dem stark isolierten Beispiel Lindwurm, das einmal aus Synonymen bestand, von denen jedoch eines nicht mehr geläufig ist. Als tautologisch können hingegen nur solche Wortbildungen wie beispielsweise Trödelkram angesehen werden, die aus zwei noch frei verwendbaren Synonymen zusammengesetzt sind (vgl. Fleischer/Barz 1995: 126f.). 2.2. Redundante Aufhellung Bei dieser ersten Gruppe liegt nun aufgrund der in semantischer Hinsicht verdunkelten ersten Konstituente das Motiv für die Verdeutlichung durch Wortbildung offen. Ganz anders verhält es sich diesbezüglich bei Bildungen wie Haifisch, Walfisch, Rentier oder Buchsbaum, bei denen deutlich unklarer ist, worin der Grund für die Bildung eines neuen, komplexeren Wortes bestandenen hat. In semantischer Hinsicht erfüllen diese Beispiele die o.g. Kriterien für pleonastische Zusammensetzungen, das heißt, es handelt sich um Wortbildungen, bei denen die Bedeutung des Erstglieds von der des Zweitglieds völlig eingeschlossen ist. Es gilt also, dass jeder Hai ein Fisch ist und jedes Ren ein Tier, aber nicht umgekehrt. Bei Haifisch ist -fisch das Hyperonym von Hai- und Hai- das Hyponym von -fisch; Hai- und Wal- sind Kohyponyme. Fragt man nach den Ursachen für die Bildung pleonastischer Zusammensetzungen hilft eine solche Klassifizierung wenig weiter, da sie nur deutlich macht, dass das Erstglied präziser auf die benannte Sache referiert als das Zweitglied. Zudem erfolgt durch das Anhängen des Zweitglieds keine semantische Modifikation, wodurch die Zuordnung
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solcher Bildungen zu den verdeutlichenden Zusammensetzungen erheblich in Frage gestellt wird (vgl. Ortner/Müller-Bollhagen et al. 1991: 113f.). Bildungen vom Typ Haifisch, Buchsbaum oder Kieselstein konkurrieren in der Gegenwartssprache mit den entsprechenden einfachen Wörtern Hai, Buchs und Kiesel. Dadurch zeigt sich, dass es bei diesen Wörtern – zumindest aus synchroner Sicht – nicht um eine Aufhellung bzw. Verdeutlichung gehen kann, da das einfache Wort in keiner Weise undeutlich ist. Diachron betrachtet wäre es natürlich vorstellbar, dass einige der als Erstglieder verwendeten Substantive nicht sehr bekannt waren bzw. nur selten gebraucht wurden, weil sie auch auf seltene Dinge in der Natur oder Kultur verweisen. Dann wäre jedoch der umgekehrte Prozess wahrscheinlich, wie er sich an der Entwicklung des Wortes Tiger veranschaulichen lässt. Das Wort Tiger stellt eine Entlehnung dar, die auf lat. tigris basiert. Bereits im Althochdeutschen erscheint die Bezeichnung in der verdeutlichten Form tigirtior, tigritior. Im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen heißt es immer noch tigertier, wobei das Zweitglied -tier ab dem 17. Jahrhundert zunehmend weggelassen wird. Das heißt, tigertier wurde wie die früheren Komposita panthertier (heute nur Panther), kemeltier (heute nur Kamel) auf das Erstglied reduziert. Es ist also zu vermuten, dass das Wort in der Zeit des Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen eine pleonastische Zusammensetzung war, weil das Tier weitgehend unbekannt war. Mit dem zunehmenden Bekanntheitsgrad des Tieres kam es dann gegen Ende der frühneuhochdeutschen Zeit zu einer Vereinfachung bzw. Verkürzung der entsprechenden Bildung (vgl. Bloomer 1996: 83f.). Ausgehend von der Verwendung der Bezeichnung Pleonasmus (griech. pleonasmós ‘Überfluss’) im Sinne einer rhetorischen Figur der Erweiterung, die durch Hinzufügen eines Ausdrucks, der im Gesagten schon enthalten ist, eine Verstärkung der Aussage bewirkt, stellt sich die Frage, ob eventuell stilistische Erwägungen die Ursache für die Bildung pleonastischer Zusammensetzungen darstellen. In diesem Zusammenhang ist es nicht wahrscheinlich, dass es bei Wörtern wie Walfisch, Rentier und Kieselstein darum geht, durch semantische Redundanz eine Verstärkung der Aussage zu bewirken. Bezogen auf die Textgestaltung können stilistische Gründe dennoch eine Rolle spielen, denn die Simplizia und die entsprechenden pleonastischen Zusammensetzungen unterscheiden sich zum Teil durch ihren Gebrauch auf verschiedenen Sprachebenen sowie die Häufigkeit ihrer Verwendung. Bei den auch als einfaches Wort auftretenden Erstgliedern handelt es sich meistens um sehr kurze Substantive, die für das Deutsche nicht charakteristisch sind. Eine Wortbildung wie Haifisch ermöglicht im Ge-
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gensatz zum einsilbigen Hai deutlich größere rhythmische Möglichkeiten, was gerade in literarischen Texten von großer Bedeutung ist. Des Weiteren könnten auch sprachsystematische Gründe eine Ursache für die Bildung pleonastischer Zusammensetzungen sein. Hier sind vor allem Analogieprozesse zu nennen, innerhalb derer das Simplex durch Wortbildung in bereits gut ausgebaute Reihen integriert wird.
3. Progressive Verstärkung Von den pleonastischen Bildungen soll nun eine deutlich jüngere Form der Komposition abgegrenzt werden, die an Wörtern des Typs Verstärkungsprozess, Entwicklungsprozess oder Abbauprozess erkennbar ist. Im Gegensatz zum Normalfall des Determinativkompositums – wie er beispielsweise zur Bezeichnung juristischer Inhalte reihenbildend auftritt (vgl. Anwaltsprozess, Mandatsprozess, Konkursprozess, Mordprozess, Vaterschaftsprozess, Strafprozess, Zivilprozess, Arbeitsgerichtsprozess, Verwaltungsgerichtsprozess, Sozialgerichtsprozess, Schwurgerichtsprozess etc.) – können die Bildungen vom Typ Entwicklungsprozess nicht ohne weiteres mit der Formel ‘(ein) AB ist (ein) B’ beschrieben werden. Vielmehr stellt B einen Teilaspekt von A dar. Durch Wortbildung wird somit eine Hervorhebung oder Verstärkung der bereits inhärenten semantischen B-Komponente von A erreicht. In der Gegenwartssprache ist dieses Modell verstärkender Komposita, bei denen das Zweitglied bestimmte semantische Merkmale des Erstglieds wiederholt, sehr produktiv. Beispiele dafür sind Ablösungsprozess, Abrüstungsprozess, Akkumulationsprozess, Akzelerationsprozess, Alterungsprozess, Anglisierungsprozess, Anpassungsprozess, Auflösungsprozess, Ausleseprozess, Bauprozess, Aufbauprozess, Befruchtungsprozess, Meinungsbildungsprozess, Demokratisierungsprozess, Erneuerungsprozess, Genesungsprozess, Heilungsprozess, Integrationsprozess, Kommunikationsprozess, Reifungsprozess, Säuberungsprozess oder Wandlungsprozess (vgl. Lee 2005: 999ff.). Ganz ähnlich verhalten sich entsprechende Bildungen mit dem Zweitglied -verlauf – wie z.B. Entwicklungsverlauf, Geburtsverlauf oder Heilungsverlauf. Bei den Erstgliedern handelt es sich in vielen Fällen um Derivate, die mit dem Suffix -ung, einem der produktivsten substantivbildenden Suffixe der Gegenwartssprache, gebildet worden sind. Diese als Erstglied verwendeten -ung-Derivate sind durchgehend Feminina von verbaler Basis, wobei häufig Präfixverben mit sekundärer substantivischer, adjektivischer oder verbaler Basis auftreten (vgl. Befruchtungsprozess, Erneuerungsprozess, Auflösungsprozess). In der semantischen Struktur dieser Derivate
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findet sich jeweils eine „ausgeprägte Verflechtung der Handlungs- bzw. Vorgangsbezeichnung (Nomen actionis) mit der Resultatsbezeichnung (Nomen acti)“ (Fleischer/Barz 1995: 175f.). In einigen Fällen ermöglicht die sich mit der Bedeutung des Nomen acti ergebende Beziehung zwischen -ung-Derivat (Anpassung) und Partizip II (angepasst) Synonymie zwischen -ung-Derivat und departizipialen -heit-Derivat: Anpassung – Angepasstheit. Dadurch ergibt sich vor allem bei partizipialen Basen mit adjektivischem Charakter die Möglichkeit, die starke Polysemie der -ungDerivate zu umgehen. Andere Zusammensetzungen mit dem Zweitglied -prozess enthalten als Erstglied Feminina mit dem Fremdsuffix -ion oder auch deverbale Konversionen. Auch diese Bildungen haben mit denen aus -ungDerivaten gemeinsam, das die Erstglieder polysemantisch sind, d.h., sie können ‘Prozess’ und ‘Resultat’ bezeichnen. Nun besteht einerseits kein Zweifel darüber, dass durch die Bildung eines Kompositums mit -prozess diese Polysemie reduziert bzw. beseitigt wird. Andererseits kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Auflösung der polysemantischen Struktur der Ausgangseinheiten die vordergründige Intention für die Bildung solcher Zusammensetzungen besteht. Dem steht zum einen das o.g. Ökonomieprinzip der Sprache entgegen, zum anderen macht in der Regel der Kontext die Bedeutung eines Wortes, die einen höheren Grad an semantischer Komplexität enthält, eindeutig. Die bisherige Entwicklung im Prozess deutscher Markterweiterung hat bewiesen, dass meine ärgsten Übertreibungen von der Wirklichkeit überboten worden sind. (Grass 1993: 59)
Für den Textrezipienten ist das Verstehen mehrdeutiger Bildungen natürlich prinzipiell schwieriger als das Verstehen eindeutiger Einheiten. Das gilt aber nur dann, „wenn der Kontext nicht das notwendige Maß an Disambiguierungshilfen liefert, und es sich außerdem um sprachliche Einheiten handelt, die wegen ihres relativ seltenen Vorkommens im Gedächtnis des Sprachbenutzers weniger zugänglich sind, als entsprechende Einheiten mit hoher Frequenz.“ (Wilss 1985: 280) Solche häufig verwendeten Einheiten können dann besonders leicht rekonstruiert werden, wenn die lebensweltliche Erfahrung als eine Art Filter wirkt, der die Identifizierung von Wortbildungserscheinungen erleichtert und Interferenzprozesse steuert. Das beschriebene Wortbildungsmodell der verstärkenden -prozessKomposita weist eine gewisse Ähnlichkeit mit Modellen auf, die als Zweitglied -stoff, -gut, -zeug oder -stelle enthalten (vgl. Aromastoff, Giftstoff, Beweisstoff, Pflanzgut, Gedankengut, Nähzeug, Rasierzeug, Zapfstelle, Meldestelle). Es handelt sich dabei um Zweitglieder, die bereits als frei
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vorkommende Wörter eine „sehr allgemeine Bedeutung und daher die Fähigkeit weiter semantischer Distribution besitzen“ (Fleischer/Barz 1995: 143). Diese Modelle teilen mit dem der Komposita auf -prozess die Tendenz zur Bezeichnung von bereits im Erstglied inhärenten semantischen Eigenschaften. Im Gegensatz zu den -prozess-Bildungen nähern sie sich jedoch in unterschiedlichem Maße der Derivation mittels Suffixen an. Die verstärkenden -prozess-Komposita sind ebenfalls mit Modellen von Substantivkomposita verbunden, die Zweitglieder wie -system, -faktor, -formel oder -strategie enthalten und von Pörksen (1988) als so genannte Plastikwörter bezeichnet werden, die über einen hohen Abstraktionsgrad verfügen, austauschbar und beweglich sind, d.h., „ihre Fähigkeit, Verbindungen einzugehen, ist unheimlich“ (Pörksen 1988: 80). Sie zeichnen sich ebenfalls durch ihre sehr vage Inhaltsseite aus, sind aber mit Konnotationen verbunden, die den Eindruck wissenschaftlicher Qualität und Fundiertheit verstärken und zugleich ein Indiz für das hohe Prestige des Expertentums in unserer Gesellschaft sind. Plastikwörter lenken die Assoziationen in eine ganz bestimmte Richtung, nämlich die fachsprachliche, weshalb die mit diesen Bildungen verbundenen Konnotationen immer etwas mit ‘wissenschaftlich fundiert’, ‘Sicherheit’ und ‘geprüfter Qualität’ zu tun haben. Auch die Komposita vom Typ Entwicklungsprozess enthalten „ein starkes Fachlichkeitssignal“ (Eichinger 2000: 77). Während pleonastische Zusammensetzungen nur vage Vermutungen über mögliche Entstehungsmotive erlauben, scheinen die Bildungen der dritten Gruppe eine klare Funktion zu haben: Unter pragmatischem Aspekt ist davon auszugehen, dass das Ursprungswort bekannt ist. Selbst wenn es sich hierbei um ein Lehnwort o.ä. handelt, so ist es fest im Sprachgebrauch verankert, d.h. die Neubildung resultiert nicht aus der Intention zu Verdeutlichung oder Erläuterung. Stattdessen ist davon auszugehen, dass hier bekannte bereits benannte Sachen durch Komposition semantisch verändert werden, um einen Aspekt an einem bereits benannten Vorgang hervorzuheben, das heißt zu verstärken. Die Bildungen sind nicht entstanden, weil die Ausgangswörter (Erstglieder) undeutlich waren, sondern weil die Sprecherintention darin bestand, einen Inhaltsaspekt der Ausgangseinheit hervorzuheben bzw. zu verstärken – d.h., einem Inhalt mehr Ausdruck zu geben. Möglicherweise ist dieser Inhaltsaspekt im ursprünglichen Wort zu wenig akzentuiert oder sichtbar. Bei der Bildung eines Kompositums vom Typ Entwicklungsprozess wird der schon in A enthaltene Inhaltsaspekt als B angehängt, wodurch die Bedeutung B, hier der „prozessartige“, dynamische bzw. durative Aspekt von A hervorgehoben bzw. verstärkt wird. Im Zusammenhang mit der Addition der bereits in A enthaltenen B-Komponente wird die neue Wortbildung gegenüber dem Ursprungswort in semantischer Hin-
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sicht transparenter; ihre äußere Struktur wird komplexer, d.h. es kommt zum Strukturaufbau. Es handelt sich also um einen Prozess, der entgegengesetzt zur Abschleifungsrichtung verläuft, die durch Desegmentierung und Demotivation gekennzeichnet ist. Derartige Prozesse der Verstärkung und des Strukturaufbaus können auf der Ebene des Wortschatzes vermutlich nur unter besonders günstigen Bedingungen ablaufen. Im Falle der Komposita auf -prozess gehört dazu zum Beispiel die polysemantische Struktur der Ausgangseinheiten, d.h. die Verbindung von Handlungsbzw. Vorgangsbezeichnung mit der Resultatsbezeichnung.
Literaturverzeichnis Bloomer, Robert K. (1996): Die pleonastischen Zusammensetzungen der deutschen Gegenwartssprache. In: American Journal of Germanic Linguistics & Literatures 8, 69-90. Lee, Duk Ho (2005): Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / New York: de Gruyter. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Tübingen: Narr. Fleischer, Wolfgang / Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer. Grass, Günter (1993): Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut. München: Luchterhand. Harnisch, Rüdiger (2004): Verstärkungsprozesse. Zu einer Theorie der „Sekretion“ und des „Re-konstruktionellen Ikonismus“. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 32, 210-232. Krieg, Ulrike (2005): Wortbildungsstrategien in der Werbung. Zur Funktion und Struktur von Wortneubildungen in Printanzeigen. Hamburg: Buske. Ortner, Lorelies / Müller-Bollhagen, Elgin et al. (1991): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen 1). Düsseldorf: Schwann. Pörksen, Uwe (1988): Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart: Klett-Cotta. Wilss, Wolfram (1985): Zur Produktion und Rezeption von Wortbildungserscheinungen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 13, 278-294.
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Die semantische und die grammatische Sekretion am Beispiel der Komparativpositive 1. Die Sekretion als Degrammatikalisierungsprozess Harnisch (2004) wendet sich in seinem Aufsatz „Verstärkungsprozesse – Zu einer Theorie der ‚Sekretion’ und des ‚Re-konstruktionellen Ikonismus’“ gegen das Unidirektionalitäts- und Irreversibilitätspostulat der Grammatikalisierungstheorie 1 . In Anlehnung an Ramat (1992), Doyle (2002), van der Auwera (2002) sieht er vielmehr Beweise für den Grammatikalisierungsvorgängen entgegenlaufende Degrammatikalisierungsprozesse. Als Degrammatikalisierungsprozess führt Harnisch die Sekretion an. 2 Jespersen (1925) verstand unter Sekretion Entschmelzungsprozesse als Gegenstück zu den Verschmelzungsprozessen im Sprachwandel. 3 Die Beispiele in der Forschungsliteratur für Sekretionsprozesse beziehen sich allesamt auf die morphologische Sekretion. Hierbei wird sprachliches oder besser gesagt morphologisches Material vom Basismorphem abgetrennt (z.B. n in mine 4 , scape in landscape 5 ) und als Flexions- oder Wortbildungsmorphem reanalysiert und generalisiert (your-n bzw. seascape).
2. Die semantische und die grammatische Sekretion Im Folgenden möchte ich aufbauend auf diesen Beobachtungen am Beispiel der deutschen Komparativpositive auch die semantische Sekretion sowie die grammatische Sekretion in die Theorie der Entschmelzungsbzw. Sekretionsprozesse einbeziehen. Eine semantische bzw. eine grammatische Sekretion liegt dann vor, wenn semantische bzw. grammatische Eigenschaften eines Wortes oder
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Vgl. hierzu v.a. Lehmann (1982) und (1995). Harnisch (2004: 210f.). Jespersen (1925: 370). Jespersen (1925: 370). Wischer (in diesem Band).
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Morphems von diesem „entschmolzen“ werden. Dies kann in einer sprachgeschichtlichen Übergangsphase auch nur in Gestalt einer Teilsekretion in einigen Gebrauchsbereichen erfolgen. Voraussetzung für eine semantische oder grammatische Sekretion ist, dass im Laufe der Sprachentwicklung die durch morphologische Marker angezeigten semantischen und grammatischen Eigenschaften nicht mehr als solche erkannt werden. Das der semantischen oder grammatischen Sekretion unterliegende Wort ist also hinsichtlich der (teil-)entschmolzenen semantischen oder grammatischen Eigenschaften morphologisch nicht mehr transparent. Da die semantischen und grammatischen Eigenschaften zu einer transparenten Realisierung jedoch auf eine morphologische Basis angewiesen sind, muss die semantische oder die grammatische Sekretion zu einer Verstärkung durch eine morphologische Markierung führen. Diese kann agglutinierend oder isolierend erfolgen. Im ursprünglichen Wort verlieren die morphologischen Elemente, welche eine bestimmte semantische oder grammatische Eigenschaft anzeigen, ihre ursprüngliche semantische bzw. grammatische Funktion. Im Fall der Komparativpositive führt die Desemantisierung bzw. Degrammatikalisierung der dadurch funktionslos gewordenen Komparativmarker zu deren Demorphematisierung und damit Desegmentierung sowie Demotivierung: Die verbleibende Lautsubstanz der Komparativmarker verschmilzt mit dem sie tragenden Basismorphem und wird damit in das von diesem dargestellte Lexem integriert. Damit wird also ein Lexikalisierungsprozess ausgelöst.
3. Die Komparativpositive Diese theoretischen Überlegungen zur semantischen und zur grammatischen Sekretion möchte ich im Folgenden durch eine Untersuchung der Komparativpositive 6 exemplifizieren. Bei diesen lassen sich semantische und grammatische Sekretionsprozesse in der deutschen Gegenwartssprache beobachten, die noch nicht vollständig abgeschlossen sind. Die Komparativpositive, z.B. die deadverbalen bzw. depräpositionalen Lokaladjektive 7 wie unter- oder das Modaladjektiv minder-, sind adjektivische Komparativformen ohne Positivform, aber mit Positivbedeutung. Diese haben im Laufe der Sprachgeschichte neben ihrer Komparativform auch einen Superkomparativ entwickelt, d.h. sie weisen eine zusätzliche Agglutination des Komparativsuffixes -er auf, vgl. unter-er- oder minder-
_____________ 6 7
Zur Begründung für die Wahl dieses neuen Terminus vgl. unten. Vgl. Mausser (1933: 940).
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er-. Dieses Phänomen ist – v.a. gegenwartssprachlich – wohl nicht allein durch das Nichterkennen einer morphologischen Komparativmarkierung zu erklären. Eine solche Erklärung schlagen Braune/Reiffenstein (2004) für die schon im Althochdeutschen, allerdings nur im Oberdeutschen, auftretenden zusätzlichen Komparativmarkierungen bei den Komparativformen ahd. aftręro, fordręro/fordaręro, hintaręro, innaręro, obaręror und untaręro vor. 8 Eine ausschließlich morphologisch bedingte Analogie des Komparativsuffixes -er als Basismorphembestandteil zu Adjektiven wie etwa bieder, lecker, locker, sicher, erscheint als Ursache der Superkomparativbildung eher unwahrscheinlich, selbst wenn diese Analogie dem Differenzierungsbedürfnis der Sprecher zwischen Positiv und Komparativ einen Realisierungsweg aufgezeigt haben sollte. 3.1. Die Komparation der Komparativpositive Stattdessen sollte man das Augenmerk auf die zugrundeliegenden semantischen und grammatischen Prozesse lenken: So führt schon Wilmanns (1930) aus, dass die Lokalkomparativpositive „bald in positiver, bald in comparativer Form ohne Unterschied der Bedeutung“ erschienen und „daneben ein Superlativ auf -ôst“ existiert. 9 Wilmanns sieht also schon Formen wie ahd. untaro, die Braune/Reiffenstein (2004) als Komparativ werten, 10 als Positiv und ahd. untaręro als Komparativ an. Solms/Wegera (1991) verweisen darauf, dass die Lokaladjektive äußer-, inner-, ober-, unter-, vorder-, hinter- zum Teil schon im Mittelhochdeutschen und auch im Neuhochdeutschen als Positive gebraucht werden. 11 Sie verfügten in der Regel im Frühneuhochdeutschen über keinen Komparativ, wohl aber über einen Superlativ. Es werde jedoch bisweilen „ein neuer Komparativ durch zusätzliches Anfügen von -er gebildet.“ 12 Außerdem merken Solms/Wegera an, dass die Adjektivpositivform mittel bis zum 17. Jh. schwindet; diese wird funktionell durch nhd. mittlere ersetzt. Die Positivform mittel zu mittler- wird im Gegenwartsdeutsch nur noch in Kompositionen als Erstglied verwendet und ist nur begrenzt produktiv. 13 Für die umgangssprachliche Bedeutung „mäßig, nicht bes. gut u. nicht bes.
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Vgl. Braune/Reiffenstein (2004: 231); Braune/Reiffenstein weisen darauf hin, dass bei diesen mit dem Komparativsuffix -ęro verlängerten Formen nicht die Komparativvokale i oder ę vor dem r auftreten, sondern a (vgl. ahd. untaro Æ ahd. untaręro). Wilmanns (1930: 432). Vgl. Braune/Reiffenstein (2004: 231). Solms/Wegera (1991: 292), auch zum Folgenden. Solms/Wegera (1991: 293), auch zum Folgenden. Vgl. Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. CD-Rom (1999).
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schlecht, durchschnittlich“ von mittel führt Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) beispielsweise folgenden Beleg an: „Der neue Roman scheint nicht sehr gut zu sein, höchstens m[ittel]“ 14 . Insgesamt zeigt sich, dass der Komparativ die Normalform einer Gruppe von Lokaladjektiven darstellt und dass dies nicht nur beschränkt ist auf die Lokaladjektive mit deadverbaler bzw. depräpositionaler Basis wie äußer-, inner-, ober-, unter-, vorder-, hinter-. Nach dem bisherigen Befund weisen die Komparativpositive Superlative auf. Die Komparativpositive gehören zu den referentiellen Adjektiven 15 ; diese bezeichnen die zeitliche oder räumliche Situierung oder die Modalität. Wie alle referentiellen Adjektive sind die Komparativpositive nur attributiv verwendbar. Ihre prädikative Verwendung ist deshalb blockiert, weil diese bereits durch ihren adverbialen oder substantivischen Gegenpart besetzt wird: (1) das obere Bild ȼ (2) das untere Bild ȼ (3) das mittlere Bild ȼ
das Bild ist/hängt oben das Bild ist/hängt unten das Bild ist/hängt in der Mitte
Im Folgenden sollen die Komparativpositive auf die grammatische Steigerung und die lexikalisch modifizierende Graduierung hin untersucht werden. Man kann aus guten Gründen, nämlich aus der unten in 3.2 und 3.3 noch darzustellenden Belegsituation heraus annehmen, dass ursprüngliche lexikalisch modifizierende Graduierungskomparative durch semantische Sekretion das semantische Merkmal „graduiert“ verloren haben und das Graduierungskomparativsuffix -er folglich nicht mehr als solches erkannt wird. So ließen sich die Superkomparativformen als Ergebnis einer semantischen Sekretion erklären, während das semantische Merkmal „graduiert“ nach einer neuen morphologischen Basis verlangt. Mit weniger Unterstützung durch Belege lässt sich bei ursprünglich grammatischen Steigerungskomparativen die Möglichkeit einer entsprechenden grammatischen Sekretion nicht ausschließen .Dort wird eine neue morphologische Basis für das grammatische Merkmal „gesteigert“ erforderlich (vgl. unten 3.3.).
_____________ 14 15
Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden (1976-1981), Bd. 4: 1800a. Zur semantisch-grammatischen Systematik des deutschen Adjektivs vgl. Trost (2006: 19ff., 99ff.).
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Unterscheidung zwischen grammatischer Steigerung und lexikalisch modifizierender Graduierung Zunächst bedürfen jedoch die Termini (grammatische) Steigerung und (lexikalisch modifizierende) Graduierung einer Erklärung. Als neutraler Oberbegriff für beide Termini dient der Terminus Komparation: 16 Komparation
(grammatische) Steigerung
(lexikalisch modifizierende) Graduierung
Unter grammatischer Steigerung verstehe ich die Vergleichskomparation. Diese vollzieht sich intralexematisch, d.h. die lexikalische Bedeutung eines Positivs bleibt im Komparativ und im Superlativ unverändert erhalten. Es erfolgt keinerlei lexikalische Bedeutungsmodifikation im Verhältnis zum Positiv, sondern lediglich eine steigernde Stufung der lexikalischen Bedeutung des Positivs zur Kennzeichnung der im Vergleich mit einer Vergleichsgröße höheren oder höchsten Stufe der vom Positiv ausgesagten Adjektivbedeutung. Morphologisch wird die Steigerung durch die formbildenden Vergleichskomparativ- und Vergleichssuperlativsuffixe -er (Komparativ) und -(e)st (Superlativ) markiert. Ein auf der grammatischen Steigerung beruhender, relativer Vergleichskomparativ liegt dann vor, wenn die Vergleichspartikel als mit der Vergleichsgröße verbunden oder mit dieser bei Elision restituierbar ist: Peter ist älter als Petra. Æ Peter ist älter (als Petra).
Entsprechendes gilt für die Superlative. Auch hier muss das Genitiv- oder das Präpositionalattribut mit der Vergleichsgröße ausgedrückt oder restituierbar sein: Peter ist der älteste der drei Brüder. Æ Peter ist der älteste (der drei Brüder). Petra ist die fleißigste von allen. Æ Petra ist die fleißigste (von allen).
Mit dem Terminus (lexikalisch modifizierende) Graduierung hingegen wird die Ausdrucksseite und die damit verbindbare translexematische und pragmatische Komparation durch Suffigierung verbunden. Dabei bleibt die Graduierung der Adjektive mit lexikalischen Mitteln unberührt. Eine Graduierung mit lexikalischen Mitteln stellt z.B. die Attribuierung von
_____________ 16
Zur Unterscheidung zwischen grammatischer Steigerung als Mittel der Formbildung und lexikalisch modifizierender Graduierung als Mittel der Wortbildung vgl. Trost (2006: 31ff.).
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Adjektiven mit Gradpartikeln dar wie ziemlich/sehr/äußerst fleißig. 17 Die Graduierung der Adjektive mit lexikalischen Mitteln bedient sich der Modifikation der Bedeutung der Adjektive durch den wortexternanalytischen attribuierenden Einsatz lexikalischer Mittel. Bei der Adjektivgraduierung durch Suffigierung erfolgt diese lexikalische Modifizierung nicht wortextern-analytisch, sondern eben wortintern-synthetisch vgl. den Lexikoneintrag in Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) zu dem dort lemmatisierten absolut, also ohne Vergleichspartikel als und ohne Vergleichsgröße gebrauchten und deshalb lexikalisch modifizierenden Komparativ älter = „über das mittlere Lebensalter hinaus, nicht mehr jung, aber auch noch nicht ganz alt“ 18 oder jünger =„das mittlere Lebensalter noch nicht od. gerade erreicht habend; noch nicht sehr alt, aber auch nicht mehr sehr jung“. 19 Weder die analytische noch die synthetische Graduierung führt zu einer Bedeutungsidentität zwischen Positiv und Komparativ. Deshalb lässt sich die wortextern analytische Graduierung nicht nur zwanglos mit der begrifflichen Unterscheidung von grammatischer Steigerung und lexikalisch modifizierender Graduierung verbinden, sondern stützt diese sogar. Als Beispiele für bedeutungsmodifizierende Graduierungen seien hier die Abwärtsgraduierungen die ältere2 Dame / der ältere2 Herr angeführt, die jünger1 als die alte1 Dame / der alte1 Herr sind, und die Aufwärtsgraduierungen die jüngere2 Dame / der jüngere2 Herr, die älter1 als die junge1 Dame / der junge1 Herr sind. 20 Damit liegt keine lexikalische Bedeutungsidentität zwischen dem Positiv alt1 und dem Graduierungskomparativ älter2 sowie zwischen dem Positiv jung1 und dem Graduierungskomparativ jünger2 vor. Zwischen dem Positiv alt1 und dem grammatischen Steigerungskomparativ älter1 sowie zwischen dem Positiv jung1 und dem grammatischen Steigerungskomparativ jünger1 besteht jedoch lexikalische Bedeutungsidentität: Peter ist älter1 als Petra. Petra ist jünger1 als Peter.
Der Unterschied zwischen dem relativen grammatischen Steigerungskomparativ und dem absoluten lexikalisch modifizierenden Graduierungskomparativ schlägt sich auch darin nieder, dass Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) die Graduierungskomparative älter2 und jünger2 eigens lemmatisiert.
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Vgl. dazu auch Metzler Lexikon Sprache (2000: 255a). Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 1: 114a, ebenso Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (2000). CD-ROM. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 3: 1393a, ebenso Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (2000). CD-ROM. Vgl. Trost (2006: 41ff.).
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Semantische und grammatische Sekretion
Der Graduierungskomparativ älter2 stellt z.B. im Verhältnis zum Positiv alt einen Annäherungskomparativ dar, im Fall der älteren2 Dame / des älteren2 Herrn zusätzlich dann einen Abmilderungskomparativ, wenn er zur „Beschönigung“ verwendet wird. Diese Verwendung liegt dann vor, wenn der absolute Komparativ auf eine Dame oder einen Herrn referiert, die nicht mehr im Sinne des Annäherungskomparativs nahe daran sind, alt zu sein, sondern im Sinn des Positivs bereits alt sind, also in lediglich beschönigender Weise als noch nicht ganz alt dargestellt werden. 21 3.2. Die semantische Sekretion bei den Lokalkomparativpositiven ober-, mittler- und unterExemplarisch für Lokalkomparativpositive werden die statistischen Verhältnisse der deverbalen Lokaladjektive ober-, mittler- und unter- dargestellt. Im COSMAS 22 lassen sich im Korpus W public (alle Korpora geschriebener Sprache) die Superkomparative oberer- mit 20 Treffern, mittlerer- mit drei Treffern und unterer- mit elf Treffern nachweisen. Dem stehen die Positivkomparativformen ober- mit 19.572 Treffern, mittler- mit 27.210 Treffern und unter- mit 18.662 Treffern gegenüber. Auch Stichproben bei den Superkomparativen der anderen Positivkomparative bestätigen dieses statistische Ergebnis. Die Superkomparative der Positivkomparative gehören damit zu einer standard-, sicher nicht umgangssprachlichen Randerscheinung, die sich jedoch – wie oben bereits erwähnt – durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte hindurch beobachten lässt. Im Althochdeutschen sind die Superkomparative nur im Oberdeutschen belegt 23 . Auch heute fällt auf, dass der höhere Anteil der Belege aus oberdeutschen, v.a. österreichischen und schweizerdeutschen Quellen stammt. Die Superkomparativformen füllen also offensichtlich keine Systemlücke, die durch die oben schon erwähnte und in der Forschung anerkannte Interpretation der historischen Komparative als Positive im Gegenwartsdeutsch entstanden ist. Dafür spricht, dass in den Beispielen (1a) Das obere Bild ist schön. (2b) Das untere Bild ist schön.
= =
Das Bild oben ist schön. Das Bild unten ist schön.
bei obere und untere kein Bedeutungsunterschied zu den nicht komparierbaren adverbialen Ableitungsbasen besteht, die im Nachfeld der Nominalphrase als Attribute auftreten können. Bei einer positivischen Inter-
_____________ 21 22 23
Trost (2006: 85f.), vgl. auch Engel (1991: 570). Abfrage am 27. Mai 2006. Vgl. Braune/Reiffenstein (2004: 231).
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pretation der referentiellen Lokaladjektive äußer-, inner-, ober-, unter-, vorder-, hinter- und dem Auftreten eines Superlativs wäre auch die Bildbarkeit eines Komparativs zu erwarten. Doch die Superlativformen äußerst-, innerst-, oberst-, unterst-, vorderst-, hinterst- „beziehen sich nicht direkt auf die formal zugehörigen Positive“ 24 äußer-, inner-, ober-, unter-, vorder-, hinter-. Die Duden-Grammatik (1998) geht sogar so weit, die Superlativformen äußerst-, innerst-, oberst-, unterst-, vorderst-, hinterstals absolute, also nicht steigerbare Positive zu betrachten. 25 Folgt man dieser Auffassung, dann liegen keine grammatischen, sondern mit dem Positiv bedeutungsidentische Affirmationssuperlative 26 vor. Die Lokalkomparativpositive äußer-, inner-, ober-, unter-, vorder-, hinter- sind demnach nicht grammatisch steigerbar und deshalb den absolutreferentiellen Adjektiven zuzuordnen. Die bei den Lokalkomparativpositiven äußer-1, inner-1, ober-1, unter-1, vorder-1, hinter-1 auftretenden Superkomparativformen müssen, da man eine grammatische Steigerung ausschließen kann, auf Graduierung zurückzuführen sein. Dies deckt sich auch mit der Materiallage der COSMAS-Stichprobe. Die Lokalkomparativpositive stehen jedoch aufgrund ihrer Komparativform in einer Homonymie zu den die gleiche Komparativform aufweisenden Graduierungskomparativen äußer-2, inner-2, ober-2, unter-2, vorder-2, hinter-2. Wenn hier und in der Folge von Homonymie die Rede ist, ist nicht die lexikalische Homonymie wie bei Reif 1 = ȧgefrorener Tau’ und Reif 2 = ȧringförmiges Schmuckstück’ gemeint, sondern die bei den Komparativpositiven auftretende kategoriale Homonymie der Komparationskategorien Positiv und Komparativ. Träger der kategorialen Homonymie ist das Suffix -er. So zeigt das Antonymenpaar ober-1/2 und unter-1/2 neben der mit den Ableitungsbasen oben und unten identischen Positivbedeutung auch noch gegenüber dem Positiv lexikalisch modifizierte Graduierungskomparativbedeutungen: (1a) (1b) (2a) (2b)
Das obere1 Bild ist schön. Das obere2 Bild ist schön. Das untere1 Bild ist schön. Das untere2 Bild ist schön.
= = = =
Das Bild oben ist schön. Das Bild fast ganz oben ist schön. Das Bild unten ist schön. Das Bild nicht ganz unten ist schön.
In den Beispielen (1b) und (2b) drücken obere2 und untere2 Graduierungskomparative aus. Die Superkomparativformen in den Beispielen (1c) und (2c)
_____________ 24 25 26
Duden – Die Grammatik (2005: 375). Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (1998: 301). Vgl. hierzu Trost (2006: 82ff.).
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Semantische und grammatische Sekretion
(1c) Das oberere2’ Bild ist schön.
=
(2c) Das unterere2’ Bild ist schön.
=
Das Bild fast ganz oben ist schön. Das Bild nicht ganz unten ist schön.
dienen dann der morphologischen Transparent-Machung der lexikalischen Non-Identität von homonymen Komparativpositiven und graduierten Komparativen. Die Graduierung ist bei obere2 und untere2 gegenwartssprachlich nicht mehr analysierbar, da die Komparativform aufgrund der positivischen Bedeutung von obere1 und untere1 opak wird. Damit verliert der Komparativmarker -er- in obere2 und untere2 seine semantische, graduierende Funktion, sein Suffixmorphemstatus wird destruiert und die verbleibende Lautsubstanz wird mit den Basismorphemen ob- und untlexematisch verschmolzen. Voraussetzung dieser morphologischen Verschmelzung ist die vorausgehende Entschmelzung des semantischen Merkmals der Graduierung. Die aus diesem Entschmelzungsprozess sich ergebende semantische Leerstelle löst eine morphologische Addition aus, nämlich die den Graduierungskomparativ formal restituierende Agglutination des graduierenden Komparativmarkers -er. Ein Beispiel einer solchen semantischen Sekretion mit morphologischer Addition zur formalen Restituierung des Graduierungskomparativs zeigt folgender Beleg: Für die im Jänner 1998 geplanten Damenrennen fehlt noch das grüne Licht des Internationalen Skiverbandes (FIS). „Da es aber der Wunsch der Damen ist, in Kitzbühel zu fahren, ist damit zu rechnen“, schildert Obernauer, „die definitive Entscheidung fällt Anfang Mai beim FIS-Weltkongreß in Neuseeland“. Dann wird es auch feststehen, ob sie einen Torlauf (wie die Herren auf dem Ganslernhang) und/oder einen Riesentorlauf, einen Super-G und/oder eine Abfahrt bestreiten. Der oberere Start dafür würde sich auf dem Seidlalmkopf befinden. Die Strecke verläuft wie bei den Herren bis oberhalb der Hausbergkante, wo sie (talwärts gesehen) nach links in den Wald abzweigt und nach einer Rechtskurve über den Ganslernhang zum Ziel führt. Die Abfahrtsstrecke ist dank der Länge wie geschaffen für zwei Sprintrennen die es bisher im Damen-Weltcup noch nicht gegeben hat. (TIROLER TAGESZEITUNG, 18.04.1996, Ressort: Sport; Die Damen peilen nun die „Streif“ an; zit. nach COSMAS)
Der absolute Superkomparativ oberere in diesem Beispiel stellt – abgesehen davon, dass ober- als absolutes Lokaladjektiv nicht grammatisch steigerbar ist – einen den Komparativpositiv lexikalisch modifizierenden Graduierungskomparativ dar. Der graduierende Superkomparativ oberere drückt hier einen Annäherungskomparativ aus: Der Startpunkt ist fast oben am Berggipfel, aber noch nicht ganz oben auf dem Berggipfel. Während bei Antonymenpaaren wie unter- und ober- das Zielantonym ober- im absoluten Komparativ den abwärtsgraduierenden Annäherungsoder Approximationskomparativ bildet, tritt bei dem Ausgangsantonym
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unter- der aufwärtsgraduierende Entfernungs- oder Diszessionskomparativ auf. Approximations- und Diszessionskomparativ sind Untergruppen des Deminutionskomparativs. 27 Der Annäherungskomparativ bringt die semantische Annäherung an den Positiv zum Ausdruck, der Entfernungskomparativ bezeichnet die semantische Entfernung vom Positiv in Richtung auf das Zielantonym. Dies zeigt folgender Beleg: In den USA sind auch die Einkommensunterschiede zwischen leitenden Angestellten und untererer Mittelschicht besonders kraß. (TAZ 1996, zit. nach Deutschem Wortschatz Lexikon, http://wortschatz.uni-leipzig.de/)
Wenn hier von untererer Mittelschicht die Rede ist, dann ist das nicht mehr die untere, aber noch nicht die obere Mittelschicht. Der absolute Komparativ unterer- entfernt sich also vom Positiv untere (Mittelschicht) in Richtung zum antonymen Positiv obere (Mittelschicht). 28 Die Entschmelzung des semantischen Merkmals der Graduierung bei den Graduierungskomparativen unter-2 und ober-2 vollzieht sich als Entschmelzung 29 des semantischen Mehrwerts, den die aufwärtsgraduierende bzw. die abwärtsgraduierende Bedeutungskomponente dem jeweiligen Positiv hinzufügt. Bei der Aufwärtsgraduierung lässt sich dieser Mehrwert formelhaft mit „nicht mehr (sehr) , aber noch nicht “ und bei der Abwärtsgraduierung mit „noch nicht , aber nicht mehr “ umschreiben. Die Entschmelzung dieser semantischen Mehrwerte reduziert die Bedeutung der ursprünglichen Graduierungskomparative auf die Positivbedeutungen der Komparativpositive. Damit verbunden ist eine Statusminderung Graduierungskomparativ Æ Positiv. Bei der semantischen Sekretion der Graduierungsmehrwerte handelt es sich also um einen semantischen Abschwächungsprozess. Dieser semantische Abschwächungsprozess löst mit der Verschmelzung der verbleibenden Lautsubstanz des ursprünglichen graduierenden Suffixmorphems -er2- in unter-2 und ober-2 auch einen morphologischen Abschwächungsprozess aus. Die Demorphematisierung und Desegmentierung des ursprünglichen Graduierungsmorphems -er2- und dessen Destruktion zur bloßen Lautsubstanz des Basismorphems führt zur Demotivierung und Deanalyse des ursprünglichen Graduierungsmorphems, insgesamt zu einem Strukturiertheitsabbau mit einem semantischen Substanz-Verlust. Unter-2 und ober-2 fallen infolge des Verlusts der
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Trost (2006: 41ff.). Trost (2006: 37ff., insbes. 42). Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Harnischs Theorie der Sekretion, vgl. Harnisch (2004: insbes. 219ff.).
Semantische und grammatische Sekretion
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Graduierungsfunktion bedeutungsmäßig mit den Komparativpositiven unter-1 und ober-1 zusammen. Die additive Agglutination eines neuen Komparativmarkers -er2’- in unterer-2’ und oberer-2’ dient der morphologischen Festigung und Absicherung des jeweiligen semantischen Mehrwerts gegenüber den jetzt nicht mehr homonymen Positiven unter-1 und ober-1. Damit wird eine morphologisch-semantische Verstärkung des Status quo ante erzielt. Diese bewirkt eine Statusanhebung Positiv Æ Graduierungskomparativ. Diese Statusanhebung stellt zugleich eine morphologisch-semantische Statusverstärkung dar; denn sie kompensiert nicht nur den Morphemstatusverlust von -er2- in den in Homonymie zu den Komparativpositiven unter-1 und ober-1 stehenden Graduierungskomparativen unter-2 und ober-2, sondern blockiert gleichzeitig eine erneute Demorphematisierung, Desemantisierung und Desegmentierung von -er2’-. Insofern kann man von einem Strukturiertheitsaufbau mit einem morphologisch-semantischen SubstanzZuwachs sprechen. 3.3. Die semantische und grammatische Sekretion beim Komparativpositiv minderDas Adjektiv minder- stellt eine Komparativform dar und weist gegenwartssprachlich keine Positivform auf. Das Adjektiv minder- bildet sprachgeschichtlich einen Ersatz für den fehlenden Komparativ von mhd. lützel und dessen Synonym mhd. wônec. 30 Es lässt sich auf ein idg. Adjektiv *minu- ȧminder, klein’ zurückführen, wozu auch das im Nhd. untergegangene mhd. Adverb min ȧweniger’ gehört. 31 Außerdem lässt sich eine indogermanische Verwandtschaft zu den griechischen und lateinischen Komparativen altgriech. minýo und lat. minor feststellen. 32 Die Auffassungen zur Klassifikation von minder- in der deutschen Gegenwartssprache sind unterschiedlich. Die Duden-Grammatik (1998/2005) sieht in minder- eine suppletive Komparativform und in mindest- eine suppletive Superlativform zu dem indefiniten Zahladjektiv wenig neben den regulären Komparationsformen weniger, wenigstens. 33
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Vgl. Paul (1992: 573a). Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1995: 873b). Vgl. Paul (1992: 573a). Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (1998: 305), Duden – Die Grammatik (2005: 375), ebenso Duden – Etymologie (1997: 460a).
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Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) 34 unterscheidet zwischen dem Adverb minder = „in geringerem Grade; nicht so sehr“, das Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) als ursprünglichen Komparativ kennzeichnet, und dem Adjektiv minder... = „(bezogen auf Wert, Bedeutung, Qualität, Ansehen) nicht besonders hoch; gering“. 35 Dem Adverb minder wird die gesteigerte Bedeutung „in geringerem Grade“ sowie die Gradbedeutung „nicht so sehr“ und dem Adjektiv minder- die Positivbedeutung „gering“ zugewiesen. Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) vermerkt unter dem Adjektivlexem minder- nur die Superlativform mindest-. Syntaktisch wird das Adjektiv minder- in Duden – Das große Wörterbuch als „meist attributiv“ klassifiziert. 36 Kempcke (2000) betrachtet minder- als nur attributiv verwendetes Adjektiv ohne Steigerung, also als Positiv mit der Bedeutung „unter einem bestimmten mittleren Maß liegend“ mit dem Synonym gering und dem Antonym hoch. 37 Als Beispiele führt Kempcke (2000) ein Produkt von minderer Qualität, Fragen von minderer Bedeutung an. Die Zuordnung der Positivbedeutung durch Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) zum Adjektiv und der Komparativbedeutung zum Adverb ist durchaus problematisch, wie folgender relativer Vergleichkomparativ mit der Vergleichspartikel als in attributiver Verwendung zeigt: In der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt sah der Vorsitzende Richter Winfried Lorenz keinen Grund, der Auffassung des Abteilungsleiters für Verkehrsrecht im Wirtschaftsministerium, Lothar Plassmann, zur Berechtigung des Tempolimits zu folgen. Weil die Lärmmessungen während der Geschwindigkeitsbeschränkung keinen deutlich minderen Wert als vorher ausgewiesen hatten, gab die Kammer der Klage der vier Autofahrer statt (Aktenzeichen: VG 6E 127/93). (FRANKFURTER RUNDSCHAU, 02.09.1998, S. 33, Ressort: N; Umstrittenes Tempolimit auf A 661 bei Dreieich bringt Justiz zum Stöhnen, zit. nach COSMAS)
In der Tat kann das adjektivische minder- durch den relativ-qualitativen Positiv gering, aber auch durch den Komparativ geringer ersetzt werden: Für (4) Das Gerät war von minderer Qualität.
kann sowohl (5) Das Gerät war von geringer Qualität
als auch
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Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden (1976-1981) ist die letzte Auflage des großen Duden-Wörterbuchs, das vollständige grammatische Angaben zum Adjektiv enthält. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 4: 1787b. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 4: 1787b. Kempcke (2000: 672a), auch zum Folgenden.
Semantische und grammatische Sekretion
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(6) Das Gerät war von geringerer Qualität.
stehen. Wenn der absolute Komparativ geringerer in Beispiel (6) einen den Positiv lexikalisch modifizierenden Annäherungs- oder Approximationskomparativ darstellt, kann minder- auch diese Funktion übernehmen. Geringerer wie minder- stehen dann im Sinne einer Abwärtsgraduierung für noch nicht (ganz) gering, aber nahe daran. Die Möglichkeit, den Annäherungskomparativ mit der abwärtsgraduierenden Bedeutungskomponente noch nicht (ganz), aber nahe daran zu bilden, sagt nichts darüber aus, ob minder- als relativ oder absolut einzustufen ist. Denn der absolute Komparativ kann sowohl von relativen als auch von absoluten Adjektiven gebildet werden. In Vergleichssätzen kommt dagegen dann der grammatische und damit relative Komparativ zum Zug, wenn bei lexikalischer Identität von Positiv und Komparativ dieser lediglich eine höhere Stufe im Verhältnis zum Positiv zum Ausdruck bringt: (7) Das Gerät der Firma Meier ist von minderer Qualität als das Gerät der Firma Müller, das bereits von geringer Qualität ist. (8) Das Gerät der Firma Meier ist von geringerer Qualität als das Gerät der Firma Müller, das bereits von minderer Qualität ist. (9) Das Gerät der Firma Meier ist von geringerer Qualität als das Gerät der Firma Müller, das bereits von geringer Qualität ist.
Das nur attributiv verwendbare minder- kann also in doppelter Funktion auftreten, einmal als Positivform minder-1, und zwar als Positivform mit grammatischer Steigerung minder-1a sowie als Positivform ohne grammatische Steigerung minder-1b, zum anderen als Komparativform minder-2, und zwar als grammatische Steigerungsform minder-2a und als lexikalisch modifizierende Graduierung minder-2b im Sinn der Abwärtsgraduierung. Von gering und geringer unterscheidet sich minder-1,2 durch die ausschließlich attributive Verwendbarkeit. Als steigerungslose Positivform ist minder-1b absolut-referentielles Adjektiv. Als grammatisch-gesteigerte Komparativform ist minder-2a relativ-referentiell. Dies gilt auch für die steigerungsfähige Positivform minder-1a. Minder-2b als lexikalisch modifizierend graduierte Komparativform ist wie minder-1b absolut-referentiell, weil es keine grammatische Steigerung, sondern eine Abwärtsgraduierung darstellt. Gering kann als relatives Qualitätsadjektiv im Gegensatz zu minder-1,2 auch prädikativ gebraucht werden: 38 die Anforderungen, Chancen waren gering der Abstand wird immer geringer
_____________ 38
Zu den Beispielen vgl. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (19761981), Bd. 3: 1004a.
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Weder in dieser prädikativen Verwendung noch in allen attributiven Verwendungen kann minder-1,2 gering/geringer ersetzen. In adadjektivischer Verwendung (kaum minder gefährliche Schwermetalle) 39 lässt sich minder durch den Komparativ weniger ersetzen. Diese adadjektivische Verwendung wird in Duden – Das große Wörterbuch (1976-1981) 40 Duden – Das große Wörterbuch (CD-Rom 2000) und Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (CD-Rom 1999) unter das Adverb minder subsumiert. Das Adjektiv minder- zeigt eine grammatische Doppelfunktion als Positiv minder-1a und als Steigerungskomparativ minder-2a. Als Positiv minder-1a weist es die Bedeutung = „(bezogen auf Wert, Bedeutung, Qualität, Ansehen) nicht besonders hoch; gering“ 41 auf, als Steigerungskomparativ minder-2a die Bedeutung = „(bezogen auf Wert, Bedeutung, Qualität, Ansehen) in höherem Maße nicht besonders hoch; geringer“. Es liegt lexikalische Identität zwischen dem Positiv minder-1a und dem Komparativ minder-2a vor und damit eine grammatische Steigerung: minder-1a ist deshalb ein relatives Adjektiv, und zwar ein relativreferentielles Adjektiv. Eine zweite Doppelfunktion weist das Adjektiv minder- als Positiv minder-1b und als Graduierungskomparativ minder-2b auf. Die Positivbedeutung von minder-1b stimmt mit der Positivbedeutung von minder-1a überein. Die Positivbedeutung von minder-1b wird aber von der Bedeutung des Graduierungskomparativs minder-2b im Sinne der Abwärtsgraduierung lexikalisch modifiziert (bezogen auf Wert, Bedeutung, Qualität, Ansehen) noch nicht (ganz) gering, aber nahe daran. Der Positiv minder-1b und der Graduierungskomparativ minder-2b sind also lexikalisch nicht identisch. Da minder-1b zu keinem grammatischen Steigerungskomparativ, sondern zu einem lexikalisch modifizierenden Graduierungskomparativ in Bezug steht, stellt es ein absolut-referentielles Adjektiv dar. Das Dilemma, dass die historisch morphologische Komparativform gegenwartssprachlich sowohl eine Positivbedeutung als auch eine Komparativbedeutung vertreten kann, weshalb minder- in der Lexikographie – zumindest als Adjektiv – bereits als morphologische Positivform interpretiert wird, führt zu einem Differenzierungsbedürfnis der Sprecher. Minder-1a/1b weist einen Verlust des grammatischen Merkmals gesteigert auf, bei minder-2a ist das grammatische Merkmal gesteigert und bei minder-2b das semantische Merkmal abwärtsgraduiert hingegen noch Bestandteil
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Beispiel aus Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (2000). CD-ROM. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 4: 1787b. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 4: 1787b, auch zum Folgenden.
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des Semverbands. Die morphologische Transparenz geht jedoch durch die Homonymie mit dem positivischen Komparativpositiv minder-1a/1b verloren, der Steigerungskomparativ minder-2a und der Graduierungskomparativ minder-2b werden hinsichtlich des morphologischen Komparativsuffixes -er opak. Auch hier ist wie oben bei den Lokalkomparativpositiven zwischen der kategorialen Homonymie der Komparationskategorien Positiv und Komparativ sowie den Verhältnissen im lexikalischen Bereich zu unterscheiden. Lexikalisch sind der Positiv minder-1a ȧgering’ und der Steigerungskomparativ minder-2a ȧgeringer’ lexikalisch identisch. Der Positiv minder-1b ȧgering’ und der Graduierungskomparativ minder-2b ȧnoch nicht (ganz) gering, aber nahe daran’ stehen lexikalisch zueinander im Verhältnis der Polysemie. Eine Differenzierung von positivischem minder-1a/1b und komparativischem minder-2a/2b erfolgt mit Hilfe einer zusätzlichen Affigierung durch das bei minder-2a grammatisch und bei minder-2b semantisch wirksame Komparativsuffix -er an minder-2a/2b zu minderer-2a’/2b’, also mit Hilfe einer morphologischen Addition. Ein Beispiel hierfür ist Die Treuhänderin weist aber in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das Haus – als Eigentum der Kirche stand es das ohnehin – nach wie vor „unter Denkmalschutz steht“. Bezirksvorsteher Adolf Tiller spricht dem Anwesen immerhin einen denkmalschützerisch mindereren Anspruch zu: „Der Bau befindet sich zumindest in der Schutzzone.“ (DIE PRESSE, 04.06.1992; Vormals Stift Schotten, zit. nach COSMAS)
In diesem Beleg liegt eine in Analogie zu Flexionsreihen wie sicher Æ sicherer vollzogene, durch Abwärtsgraduierung semantisch verursachte Neuformung minder-2b Æ minderer-2b’ vor. Dies ist eine homonymieauflösende Konsequenz aus der positivischen Verwendung einer auch gegenwartssprachlich im morphologischen Kontext mit dem Superlativ mindest- im Gegensatz zu sicher im Verhältnis zu sicherst- noch als komparativisch markiert einschätzbaren Form minder-2a/2b. Die Neubildung der Komparativform minderer-2a’/2b’ ist das Ergebnis einer morphologischen Uminterpretation von minder-1a/1b als Basismorphem. Dieses wird dadurch einem Positiv wie sicher gleichgesetzt. Damit erscheint minder-1a/1b im komparativischen Gebrauch in Gestalt von minder-2a/2b als nullsuffigiert. In der sprachlichen Konkretisierung ist die Komparation allerdings nicht mehr transparent. Deshalb entsteht das Bedürfnis zu einer morphologischen Addition. Das komparativische Nullsuffix wird daher in der neuen Komparativform minderer2a’/2b’ durch das Komparativsuffix -er ersetzt. Die semantische Sekretion der Graduierungskomparativbedeutung von minder-2b führt also durch eine morphologische Addition zur Restitution der Graduierungsbedeu-
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tung durch Neubildung einer morphologisch entsprechend gekennzeichneten Graduierungskomparativform. Der Restituierung der Graduierungsbedeutung von minder-2b durch minderer-2b’ geht eine Entschmelzung des semantischen Mehrwerts von minder-2b im Verhältnis zum Positiv minder-1b voraus. 42 Der Graduierungskomparativ minder-2b hat gegenüber dem Positiv minder-1b mit der Bedeutung ȧgering’ den semantischen Mehrwert ȧnoch nicht (ganz) gering, aber nahe daran’. Durch die Entschmelzung dieses Mehrwerts fällt die Bedeutung des Graduierungskomparativs minder-2b mit der Bedeutung des Positivs minder-1b ȧgering’ zusammen. Damit wird das Graduierungskomparativsuffix -er-ad 2b desemantisiert und opak. Dies führt zum Verlust des Morphemstatus des Graduierungssuffixes -er-ad 2b und zur Verschmelzung der verbleibenden Lautsubstanz mit dem Basismorphem. Die sich daraus ergebende Demorphematisierung, Desegmentierung, Demotivierung und Deanalyse des ursprünglichen Graduierungssuffixmorphems -er-ad 2b verursacht einen Strukturiertheitsabbau. Die Entschmelzung des semantischen Mehrwerts von minder-2b und die daraus resultierende Destruktion des Suffixmorphems -er-ad 2b sowie dessen Degradierung zur bloßen Lautsubstanz des Basismorphems bedeuten einen semantischen und morphologischen Substanz- und Status-Verlust. Insofern liegt hier ein semantischer und morphologischer Abschwächungsprozess vor. Auch hier dient die additive Agglutination eines neuen Graduierungskomparativsuffixes -er-ad 2b’ in minderer-2b’ zur semantischen und morphologischen Absicherung des resemantisierten Bedeutungsmehrwerts ȧnoch nicht (ganz) gering, aber nahe daran’ des ursprünglichen Graduierungskomparativs minder-2b im Verhältnis zum Positiv minder-1b ȧgering’. Damit erreicht minderer-2b’ wiederum eine morphologisch-semantische Verstärkung des Status quo ante in minder-2b. Dieser wird durch diese Verstärkung nicht nur kompensiert, sondern durch die mit der Verstärkung erreichte Blockade einer erneuten Demorphematisierung, Desemantisierung und Desegmentierung abgesichert und damit entscheidend verbessert. Man kann hier von einer im Verhältnis zu minder-2b nicht zu übersehenden Statusabsicherung und -verstärkung ausgehen, die von einem Strukturiertheitsaufbau mit morphologisch-semantischem Substanz-Zuwachs getragen wird. Die besondere Tragweite dieses Verstärkungsprozesses wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass der Positiv minder-1b das Produkt einer bereits historisch erfolgten semantischen Entschmelzung des Graduierungsmehrwerts und der damit verbundenen Demorphematisierung des Graduierungssuffixes -er-ad 2b darstellt. Diese wurden durch Homonymisierung
_____________ 42
Vergleiche hierzu und zum Folgenden Harnisch (2004: insbes. 219ff.).
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und nicht durch einen Verstärkungsprozess ausgeglichen. Entsprechendes gilt für die grammatische Entschmelzung der Steigerung bei dem Positiv minder-1a und der damit einhergehenden Demorphematisierung des Steigerungssuffixes -er-ad 2a. Wegen der fehlenden morphologischsemantischen bzw. morphologisch-grammatischen Verstärkung sind die mit den Positiven minder-1a/1b homonymen Komparative minder-2a/2b für eine neue semantische bzw. grammatische Entschmelzung und deren Korrektur durch einen endgültig absichernden morphologischsemantischen bzw. morphologisch-grammatischen Verstärkungsprozess zugänglich. Die Belegsituation der neuen Komparativform minderer-2a’/2b’ ist jedoch im Vergleich zu der Gebrauchsfrequenz von minder-2a/2b in komparativischer Bedeutung in COSMAS mit fünf Belegen 43 recht gering. Die Belege stammen bis auf eine Ausnahme nur aus österreichischen Quellen. Eine Google-Recherche 44 der deutschsprachigen Webseiten ergab 84 Belege. Beachtenswert ist, dass alle Belege aus COSMAS und fast alle GoogleBelege der mit der historischen Komparativform minder-2a/2b konkurrierenden neuen Komparativform minderer-2a’/2b’ als lexikalisch modifizierte, absolute Komparative auftreten und deshalb im Vergleichssatz mit der Vergleichspartikel als kaum belegt sind. Dies könnte darauf hinweisen, dass hier die isolierende Komparativmarkierung ausreicht: Denn die historische grammatisch steigernde, relative Komparativform minder-2a im Vergleichssatz mit der Vergleichspartikel als ist durch die Vergleichsgrößenphrase ausreichend als Steigerungskomparativ charakterisiert, da durch die syntaktische Konstruktion die sekundäre Positivbedeutung von minder-1a ebenso ausgeschlossen wird wie die lexikalisch modifizierende absolute Komparativbedeutung und damit die grammatische Eindeutigkeit sichergestellt ist. Dadurch erübrigt sich zunächst der Gebrauch des neuen Komparativs minderer- als relativer Vergleichskomparativ, nicht jedoch als lexikalisch modifizierender absoluter Graduierungskomparativ. Die Doppelfunktion von minder- als Positiv und als Komparativ lässt sich aus der sprachgeschichtlichen Entwicklung erklären. Die Funktion als suppletiver Komparativ ging mit der Ausbildung des vollständigen Komparationsparadigmas wenig – weniger – am wenigsten und mit dem Untergang von lützel verloren. Der gegenwartssprachliche Gebrauch spricht bis auf die adadjektivische Restriktion (nicht minder freundlich = nicht weniger freundlich), die Duden – Das große Wörterbuch (1976-
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Abfrage am 29. Mai 2006. Recherche auf google.de am 29. Mai 2006.
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1981) 45 , Duden – Das große Wörterbuch (CD-Rom 2000) und Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (CD-Rom 1999) zudem dem Adverb minder und nicht dem Adjektiv minder- zuordnen, gegen eine noch existente Suppletion zu wenig. 46 Die fehlende prädikative Verwendung des Adjektivs minder- kann durch das prädikative Äquivalent minderwertig kompensiert werden. 47 Das Adjektiv minderwertig ist steigerungsfähig und sowohl attributiv als auch prädikativ verwendbar. 48 Es gehört also zu den relativen Qualitätsadjektiven. Die Tatsache, dass der synchron morphologisch partiell als unmarkiert empfundene grammatische Steigerungskomparativ minder-2a in Verbindung mit der Vergleichspartikel als und der Vergleichsgrößenphrase recht zahlreich belegt ist, beweist, dass minder-2a die grammatische Steigerungsfunktion in Verbindung mit der Vergleichspartikel als ausüben kann. Hier wird die grammatische Steigerung transparent, v.a. isolierend wiedergegeben. Denn minder-2a ist aufgrund des positivischen minder-1a allein stehend nur noch bedingt segmentierbar. Doch auch beim Vergleichskomparativ mit als treten in einer Art Analogie zur partiell auftretenden absoluten Komparativform minderer-2b’ allerdings nur sehr wenige Fälle von zusätzlichen Affigierungen mit dem Komparativsuffix -er auf: Man muss nur annehmen, daß Umweltgüterinteressen – ethisch gesehen – nicht minderwertiger sind als Marktgüterinteressen, und daß künftige Generationen keine mindereren moralischen Status haben als heute lebende Menschen. (Ökologischer Risikoschutz im ländlichen Raum – ein Anwendungsfall für die umweltökonomische Risikoanalyse, von R. Marggraf u. J. Barkmann, S. 11, http://www.unihohenheim.de/i410b/download/gewisola/papers/arkmann.pdf)
In diesem Beispiel zeigt sich ganz deutlich, dass der Vergleichskomparativ minderer-2a’ des relativ-referentiellen Adjektivs minder-1a in gleicher Bedeutung verwendet wird wie die prädikative, relativ-qualitative semantische Entsprechung minderwertiger. Die Anordnung der verschiedenen Gebrauchsweisen von minderrichtet sich an dem synchronen Status aus. Denn die sich schon abzeichnende semantische und die im Ansatz bereits feststellbare grammatische Sekretion vollziehen sich in der Gegenwartssprache und werden durch die synchrone Konstellation auch veranlasst. Bei der Untersuchung von minder- ergibt sich demnach folgendes Gesamtbild:
_____________ 45 46 47 48
Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 4: 1787b. S. auch Paul (1992: 1037a). Paul (1992: 573a) setzt für den heutigen Sprachgebrauch minder als synonym mit minderwertig an. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1976-1981), Bd. 4: 1787b.
Semantische und grammatische Sekretion
minder-1a/1b
= =
minder-2a
= = =
335
Positiv gering Bsp.: Das neue Gerät ist von minderer1 Qualität. Dieser Satz ist vertauschbar mit: Das neue Gerät ist von geringer Qualität. grammatischer, relativer Komparativ in Vergleichsgrößenphrase mit der Vergleichspartikel als in höherem Grad gering Steigerung (immer grammatisch) Bsp.: Das neue Gerät ist von minderer2a Qualität als das alte. Dieser Satz ist vertauschbar mit: Das neue Gerät ist von geringerer Qualität als das alte.
Die Homonymie zwischen dem Positiv minder-1a und dem Steigerungskomparativ minder-2a wird durch den Vergleichssatz syntaktisch aufgehoben. Dies hat zur Folge, dass nur eine statistisch irrelevante Anzahl von Belegen vorliegt, in denen minder-2a mit einem zusätzlichen Komparativmorphem -er (Æ minderer-2a’) versehen wird. minder-2b
= = = =
lexikalisch modifizierender, absoluter Komparativ Annäherungskomparativ noch nicht (ganz) gering, aber nahe daran (Abwärts-)Graduierung (immer lexikalisch modifizierend) Bsp.: Das neue Gerät ist von minderer2b Qualität. Dieser Satz ist semantisch adäquat vertauschbar mit dem Satz: Das Gerät ist von geringerer Qualität. (geringerer ist in diesem Satz lexikalisch modifizierender absoluter Komparativ.) Die Homonymie mit minder-1b ist evident: Das neue Gerät ist von minderer1 Qualität. = von geringer Qualität.
Diese Beispiele zeigen, dass sich das Homonymieproblem zwischen dem Positiv minder-1b und dem absoluten Komparativ minder-2b in besonderer Weise zuspitzt und nach einer Lösung verlangt: minderer-2b’
= = = =
lexikalisch modifizierender, absoluter Komparativ Annäherungskomparativ noch nicht (ganz) gering, aber nahe daran (Abwärts-)Graduierung (immer lexikalisch modifizierend)
336
Igor Trost
Minder-2b und minderer-2b’ sind also lexikalisch identisch. Durch minderer-2b’ wird die störende Homonymie zwischen minder-1b und minder-2b morphologisch aufgehoben. Das Graduierungssuffix -er im Graduierungskomparativ minder-2b hat lexikalische und damit semantische Qualität. Die zusätzliche Komparativmarkierung im Graduierungskomparativ minderer-2b’ führt zur Desemantisierung des ursprünglichen Graduierungssuffixes -er im Graduierungskomparativ minder-2b. Damit erfährt das Graduierungssuffix von minder-2b eine Statusminderung, es wird zu einem semantisch leeren Morphem und verschmilzt mit dem Basismorphem mind- zu dem neuen Basismorphem minder-. Die semantische Sekretion des Merkmals graduiert führt zur morphologischen Addition des zusätzlichen Graduierungssuffixes -er, welches das sekretierte semantische Merkmal wieder aufnimmt. Nun könnte man auch eine quasivolksetymologische Umdeutung des ursprünglichen komparativischen Morphems -er beim Positiv minder-1b zum Basismorphembestandteil und Anfügung des Graduierungsmorphems -er im absoluten Komparativ minderer-2b’ annehmen. Das historisch als Komparativmorphem geltende Morphem -er des Positivs minder-1 wird unter dieser Annahme sprecherlinguistisch nach Adjektiven wie sicher, heiter usw. zum Basismorphembestandteil umgedeutet. Damit verbunden ist eine der Delexikalisierung bei Lexemen vergleichbare Demorphematisierung des -er in minder-1. Die Verschmelzung des ursprünglichen Komparativsuffixes -er im Positiv minder-1 mit dem Basismorphem mind- zu einem neuen Basismorphem minder- führt im Sinne von Harnisch (2004) 49 zu einem Abbau der Strukturiertheit, zur Deanalyse durch die Aufgabe des Morphemstatus und durch den damit verbundenen Segmentierungsverlust von -er sowie zur Demotivierung des ursprünglichen Komparativmorphems -er im Positiv minder-1. Gegen die Annahme einer quasivolksetymologischen Umdeutung spricht die Konzentration der Superkomparativformen auf das graduierte minder-2b bzw. minderer-2b’. Denn eine quasivolksetymologische Umdeutung müsste rein morphologisch vor sich gehen und nicht danach unterscheiden, ob eine den Vergleichskomparativ anzeigende Vergleichsgrößenphrase im Satz vorhanden ist wie bei minder-2a oder ob eine Graduierung wie bei minder-2b vorliegt. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Superkomparativform des graduierten minderer-2b’ in Zukunft genauso stark in den Bereich der Komparativform des grammatisch gesteigerten minder-2a vordringt. Minder-2a unterliegt nämlich schon jetzt durch die Homonymie zum positivischen minder-1a einer Sekretion – nur hier einer grammatischen
_____________ 49
Harnisch (2004: 220).
Semantische und grammatische Sekretion
337
Sekretion des grammatischen Merkmals der Steigerung. Eine agglutinierende morphologische Addition ist aber bei dieser grammatischen Sekretion nicht zwingend notwendig, da die Vergleichsgröße (z.B. Vergleichsphrase mit Vergleichspartikel als) bei einem gesteigerten relativen Adjektiv immer vorhanden bzw. restituierbar ist. Die Vergleichsgröße wird damit als alleiniger isolierter Träger des Merkmals „(grammatisch) gesteigert“ grammatikalisiert. Wenn es trotzdem zu einem frequenten Gebrauch eines minderer-2a’ mit agglutinierender morphologischer Addition kommen sollte, gewänne die Annahme einer volkslinguistischen Umdeutung an Relevanz. Der Ansatz dazu ist jedenfalls schon jetzt gegeben. Bei dem Steigerungskomparativ minder-2a handelt es sich im Gegensatz zum Graduierungskomparativ minder-2b um eine grammatische Sekretion, weil die grammatische Steigerung entschmolzen wird. Damit das Bedürfnis nach einem mit dem regrammatikalisierenden Steigerungsmorphem -er-ad 2a’ suffigierten Steigerungskomparativ minderer-2a’ entsteht, muss zunächst der Steigerungskomparativ minder-2a’ degrammatikalisiert werden. Voraussetzung dazu ist die morphologisch-grammatische Entschmelzung des grammatischen Merkmals „gesteigert“ durch Demorphematisiedes ursprünglichen rung des Steigerungsmorphems -er-ad 2a 2a Steigerungskomparativs minder- und die syntaktisch-grammatische Entschmelzung von der Vergleichspartikel mit Vergleichsphrase als syntaktisch-grammatischem Steigerungsmarker. Der Entschmelzungsvorgang hat also bei dem Steigerungskomparativ minder-2a eine Degrammatikalisierung zur Folge und nicht eine Desemantisierung wie bei dem Graduierungskomparativ minder-2b. Durch die additive Agglutination des Steigerungskomparativmorphems -er-ad 2a’ wird die Steigerungskomparativform, minderer-2a’ im Verhältnis zu dem degrammatikalisierten ursprünglichen Steigerungskomparativ minder-2a durch die Restitution des grammatischen Merkmals „gesteigert“ regrammatikalisiert. Der von der Agglutination des Steigerungssuffixes -er-ad 2a’ und der Restitution des grammatischen Merkmals „gesteigert“ getragene morphologischgrammatische Verstärkungsprozess im Zusammenhang mit dem Graduierungskomparativ sichert den Steigerungskomparativ minderer-2a’ gegen eine erneute Degrammatikalisierung ab. Der durch additive Agglutination gebildete Steigerungskomparativ minderer-2a’ ist also das Ergebnis eines grammatischen Verstärkungsprozesses. Im Übrigen gilt das oben im Zusammenhang mit dem Graduierungskomparativ zur Entschmelzung und den von dieser ausgelösten Verstärkungsprozessen Gesagte entsprechend. Die semantische und grammatische Entwicklung von minder- zu minderer- lässt sich folgendermaßen darstellen:
338
Igor Trost
hist. Positiv
idg. *minumhd. lützel Ȼ mind-erȻ nhd. minder-1a/1b
hist. Komparativ Positivkomparativ
syntaktischgrammatische Sekretion morphologischgrammatische Sekretion morphologische Addition
Sekretion der Komparation
+gesteigert minder-2a + Vergleichsgrößenphrase = isolierende Markierung
+graduiert minder-2b
(Ȼ)
Ȼ
agglutinierende Markierung minderer-2a’
agglutinierende Markierung minderer-2b’
semantische Sekretion morphologische Addition
4. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Komparativpositive bei der Graduierung Superkomparativformen bilden, die eine Homonymiescheidung vom Positiv ermöglichen und die lexikalische Modifikation durch die Graduierung erst deutlich machen. Aufbauend auf Harnischs Theorie der morphologischen Sekretion konnte gezeigt werden, dass sich ähnliche Entschmelzungsprozesse im semantischen und grammatischen Bereich wiederfinden, die eine morphologische Addition auslösen.
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Semantische und grammatische Sekretion
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340
Igor Trost
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Ulrich Detges
Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation 1. Was ist Delokutivität? Der Begriff der Delokutivität (fr. délocutivité) wurde geprägt von Émile Benveniste (1966 [1958]). Die Nützlichkeit dieses Begriffs illustriert Benveniste am Beispiel des Verbs lat. salijtÞre. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als sei dieses Verb vom Nomen salijs abgeleitet. Gegen diese Annahme spricht jedoch ein Vergleich der Bedeutungen beider Lexeme, denn lat. salijtÞre bedeutet ‘grüßen’, salijs dagegen ‘Wohlergehen, Gesundheit’. Wie Benveniste (1966 [1958]: 277) zeigt, ist es plausibler, das Verb salijtÞre auf dem Umweg über die Grußformel salijte(m)! ‘(Ich wünsche Dir) Wohlergehen!’ abzuleiten – also nicht vom Lexem salijs als solchem, sondern von einer bestimmten formelhaften Verwendung (locution, Benveniste 1966 [1958]: 277f.) dieses Lexems im Diskurs. Von dieser Bestimmung leitete sich die Bezeichnung délocutivité ab. Der delokutive Ableitungsweg von salijtÞre ist unter (1) dargestellt. ¡F! repräsentiert die formelhafte Verwendung von salijs im Diskurs. Die Rückführbarkeit auf solch ein ¡F! ist das konstitutive Merkmal aller delokutiv abgeleiteten Ausdrücke. (1)
lat. salijtÞre ‘grüßen’ Verb
<
salijte(m)! < ‘(Ich wünsche Dir) Wohlergehen!’ ¡F!
salijs ‘Wohlergehen’ Nomen
Im folgenden möchte ich zeigen, dass bestimmte Arten des delokutiven Sprachwandels regelmäßig zu einer „Verstärkung“ der involvierten Elemente führen (vgl. Abschnitte 6 und 7) während andere Spielarten eine semantische und ausdrucksseitige „Schwächung“ mit sich bringen (s. Abschnitt 8). Bevor ich auf diesen Punkt zurückkomme, sind allerdings einige Ausführungen zum theoretischen Stellenwert der Delokutivität notwendig.
342
Ulrich Detges
2. Delokutivität: ein Spezialfall von Derivation? Trotz seiner empirischen Plausibilität wirft der Begriff der Delokutivität in Benvenistes ursprünglicher Konzeption eine ganze Reihe von Problemen auf. Für Benveniste ist die délocutivité ein Verfahren der Wortbildung, genauer gesagt ein Spezialfall der Derivation, der gleichwertig neben der deverbalen und der denominalen Ableitung steht (Benveniste 1966 [1958]: 277). Als Wortbildungsverfahren dient sie, so Benveniste, in erster Linie zur Derivation von Verben. Dass dies in der Tat häufig so ist, lässt sich an einer ganzen Reihe von Beispielen illustrieren. Benveniste diskutiert Fälle wie das lat. Verb quiritÞre ‘um Hilfe rufen’, das nicht unmittelbar vom Nomen quirĄs ‘(Mit-)Bürger’ abgeleitet ist, sondern von dessen Verwendung im formelhalften Hilferuf quirĄtes! ‘Mitbürger (zu mir)!, zu Hilfe!’ (Benveniste 1966 [1958]: 279-80). In (2) sind einige mehr oder weniger bekannte Beispiele delokutiv derivierter Verben aus verschiedenen Sprachen aufgeführt. Beispiel (2b) stammt aus dem brasilianischen Portugiesisch, (2c) und (2d) aus dem Québec-Französischen, (2e) schließlich ist dem französisch basierten Kreol von Französisch Guyana entnommen. In Abschnitt 3 möchte ich eine kognitive Erklärung für diese auffällige Präferenz zur delokutiven Ableitung von Verben geben. (2)
Delokutiv abgeleitete Verben a. fr. remercier 1 < merci! m merci, n.f. DANKESFORMEL ‘Gnade’ ‘danken’ [eig. ‘(Ihre) Gnade!’] m para + bem b. br.pg. parabenizar 2 < para bem! GRATULATION ‘für’ + ‘Wohl’ ‘gratulieren’ [eig. ‘Zum Wohl!’] c. qu.fr. câlisser 3 < calice! m calice, n.m. ‘fluchen’ FLUCH ‘Messkelch’ [eig. ‘Kelch!’, vgl. ‘Kruzifix!’] d. qu.fr. quiebindre 4 < fr. tiens bien! m tenir + bien ‘festhalten’ ‘Halt gut fest!’ ‘halten’ + ‘gut’ e. fr.kr. Guy. quienbé 5 < fr. tiens bien! m tenir + bien ‘festhalten’ ‘Halt gut fest!’ ‘halten’ + ‘gut’
Häufig ist darauf hingewiesen worden, dass nicht nur Verben, sondern ebenso gut lexikalische Elemente anderer Wortarten delokutiv abgeleitet
_____________ 1 2 3 4 5
Vgl. Benveniste (1966 [1958]: 281). Aus Ilari (2002: 3). Vgl. Detges (1993: 74). Aus Koch (1993: 262). Aus Koch (1993: 260).
Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation
343
werden können (s. u.a. Anscombre 1979b: 72). Ein Beispiel ist das Nomen damedos, das im brasilianischen Portugiesisch zur Bezeichnung argentinischer Touristen dient (Ilari 2002). Es geht zurück auf sp. ¡dame dos! ‘gib mir zwei!’, – eine Äußerung, die in Brasilien lange Zeit als typisch für die ehemals kaufkräftigen argentinischen Touristen empfunden wurde. Die Szene, die der delokutiven Entstehung des Nomens zugrunde liegt, beschreibt Ilari (2002: 5) folgendermaßen: Der argentinische Tourist, der sich vom brasilianischen Ladenbesitzer irgendeine Ware hat zeigen lassen, reagiert auf das überraschend niedrige Preisangebot mit der Äußerung ¡dame dos! ‘gib mir zwei davon’. Ein bekannteres Beispiel für ein delokutiv entstandenes Nomen ist fr. tante, das auf ein Nominalsyntagma mit Possessivpronomen t’ante (m ta + ante) ‘deine Tante’ zurückgeht. 6 (3)
Delokutive Nomina a. br.pg. damedos < sp. ¡dame dos! ‘argentin. Tourist’ ‘Gib mir zwei!’ [typ. Äußerung des kaufkräft. argent. Touristen] b. fr. tante < afr. ta ante ‘Tante’ ‘deine Tante’
Ein delokutives Adjektiv ist engl. iffy, abgeleitet von if ‘wenn’ (vgl. Lehmann 1995: 196). Das Nominal an iffy proposition wäre zu übersetzen als ‘Vorschlag, der viele Wenns enthält’, d.h. ein Vorschlag, der auf vielen ungeklärten Vorbedingungen beruht. Ein weiteres Beispiel aus dem brasilianischen Portugiesisch ist cheguei ‘angeberisch, Aufsehen erregend’, das morphologisch gesehen eigentlich eine flektierte Verbform der 1. Person Singular des Perfekts von chegar ‘ankommen’ ist; cheguei bedeutet also wörtlich ‘ich bin angekommen’, meint zunächst aber so etwas wie ‘Hier bin ich!’ (Ilari 2002: 4). Offensichtlich wird eine Äußerung wie ‘Hier bin ich!’ als prototypisch für eine Person empfunden, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte. Entsprechend findet sich cheguei als adjektivische Beschreibung für Personen, z.B. in uma dona muito cheguei ‘eine aufgetakelte (oder in anderer Weise Aufsehen erregende) Dame’. Daneben wird es auch im Bezug auf unbelebte Dinge verwendet, die diesen Effekt hervorrufen, z.B. in umas roupas (bem) cheguei ‘ein paar schrille Kleider’ (Ilari 2002: 4). (4)
Delokutive Adjektive a. engl. iffy 7 < ‘mit Kautelen versehen’
if ‘wenn’
_____________ 6 7
Afr. ante (< lat. amita) ist im Englischen als aunt ‘Tante’ erhalten. Vgl. Lehmann (1995).
344
Ulrich Detges
b. br.pg. cheguei, adj. 8 < cheguei m 1s. pf. chegar ‘angeberisch’ ‘Hier bin ich!’ ‘ankommen’ [eig. ‘ich bin angekommen!’]
Den wahrscheinlich verbreitetesten Typ delokutiver Adverbien repräsentiert fr. vachement ‘sehr’, das auf die Fluchformel oh la vache! ‘verdammt noch mal!’ zurückgeht, und mittels der Adverbendung -ment aus dem zentralen Bestandteil der Fluchformel, vache, 9 deriviert wurde (Anscombre 1981: 89). (5)
Delokutive Adverbien fr. vachement, adv. < Oh la vache! FLUCHFORMEL ‘sehr’
m
vache, n.f. ‘Kuh’
Der Delokutivitätsbegriff Benvenistes ist schließlich in einer zweiten Hinsicht erweitert worden. Delokutive Ausdrücke werden nämlich nicht nur per Wortbildung aus Formeln abgeleitet, sondern mit sämtlichen Verfahren, die auch sonst zur Anreicherung des Lexikons dienen. Dazu gehören insbesondere der lexikalische Bedeutungswandel und die Bildung neuer Ausdrücke mit syntaktischen Mitteln. Ein Beispiel für ein delokutives Adverb, das nicht per Derivation, also mit einem Suffix wie vachement, sondern durch einfachen Bedeutungswandel eines formelhaften Wortlautes gebildet wurde, ist dt. verdammt ‘sehr’, etwa in das war verdammt gut. 10 (5’)
Delokutiver Bedeutungswandel dt. verdammt, adv. < verdammt! FLUCHFORMEL ‘sehr’
m
verdammen
Eine Ableitung mit syntaktischen Mitteln repräsentiert beispielsweise der québec-französische Ausdruck (être) en maudit ‘übel aufgelegt (sein)’. Dieser Ausdruck geht auf die Fluchformel maudit! ‘verflucht!’ (von fr. maudire ‘verfluchen’) zurück. Der Wortlaut der Fluchformel wird dabei einfach in das syntaktischen Schema (être) en + Nomen eingepasst (vgl. Detges 1993), ein Funktionsverbgefüge, das übrigens auch im europäischen Französischen (und in ähnlicher Form im Deutschen) verfügbar ist, etwa in (être) en rage ‘in Wut (sein)’. Im europäischen Französisch wird
_____________ 8 9 10
Vgl. Ilari (2002). Zur Motivation von Fluchformeln vgl. Detges (1993: 70-71). Das oben diskutierte Beispiel br.pg. damedos (s. 3a) repräsentiert demgegenüber den noch komplizierteren Fall einer Kombination von Entlehnung und lexikalischem Bedeutungswandel. Wie wir in Abschnitt 7 sehen werden, kommt delokutiver Wandel in Situationen des Sprachkontaktes relativ häufig vor.
Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation
345
dieses Schema allerdings nur selten zur Bildung delokutiver Ausdrücke verwendet. 11 (6)
Delokutive Bildung mit syntaktischem Mittel (Funktionsverbgefüge) m maudire qu.fr. (être) en maudit < maudit! ‘verwünschen’ ‘übel aufgelegt (sein)’ FLUCHFORMEL m (être) en N ‘in N (sein)’
Aus diesen Beispielen lässt sich eine wichtige Zwischenbilanz ziehen: Delokutivität ist – entgegen der ursprünglichen Fassung Benvenistes – offensichtlich nicht nur kein Spezialfall der Derivation – sie ist überhaupt an kein bestimmtes formales Verfahren des lexikalischen Wandels gebunden (Koch 1993: 270-72). 12 Mit anderen Worten: Delokutivität ist ein rein semantisches Phänomen.
3. Delokutivität: ein semantisches Phänomen Koch (1993) fasst Delokutivität als Sonderfall des metonymischen (kontiguitätsbasierten) Wandels oder, einfacher ausgedrückt, als Sprechaktmetonymie auf. Dieser Sichtweise zufolge entstehen delokutive Ausdrücke typischerweise in Konstellationen, in denen ein formelhafter oder prototypischer Wortlaut ¡F! regelmäßig eine bestimmte Handlung begleitet. Beim delokutiven Wandel verwandelt sich ¡F! (bzw. eine Wortbildung oder eine syntaktische Konstruktion auf der Grundlage von ¡F!) in eine Bezeichnung entweder der betreffenden Handlung selbst oder eines anderen Elementes, das normalerweise eng mit Situationen der Äußerung von ¡F! verbunden ist.
_____________ 11
12
Eine der wenigen delokutiven Konstruktionen des europäischen Französisch, die sich diesem Konstruktionstyp zuordnen lassen ist das Adverbial en diable ‘sehr, verteufelt’ (etwa in elle est jolie en diable ‘sie ist sehr hübsch, sie ist verteufelt hübsch’), abgeleitet von der Fluchformel diable! ‘zum Teufel!’. Eine typologische Übersicht der „grammaticalized delocutive formations“ vieler Sprachen, wie sie bei Plank (2004) versucht wird, lohnt sich also kaum.
346
Ulrich Detges
¡F!
Kontiguität
Kontiguität Kontiguität
Handlung
Element der Situation
Abb. 1: Delokutivität als sprechaktmetonymischer Wandel (Koch 1993: 270)
Den Fall, dass aus ¡F! eine Bezeichnung der Handlung hervorgeht, repräsentiert qu.fr. câlisser ‘fluchen’, das per Derivation aus der Fluchformel calice! abgeleitet ist (von calice ‘(Mess-)Kelch’; die Fluchformel calice! ist am ehesten übersetzbar mit ‘Kruzifix!’). 13 Demgegenüber hat sich in der syntaktischen Bildung qu.fr. (être) en maudit ‘übel gelaunt (sein)’ aus der Fluchformel maudit! ‘verflucht!’ die Bezeichnung eines rekurrenten Elementes von Situationen der Äußerung dieser Formel entwickelt: Sprecher die fluchen, sind typischerweise schlechter Laune. Die Darstellung in Abb. 1 erklärt nun auch den Eindruck, dass es besonders häufig Verben sind, die delokutiv aus ¡F! abgeleitet werden. Oft ist in Szenarien der Äußerung eines ¡F! wie in Abb. 1 eine Handlung das prägnanteste Element. Zur Versprachlichung von Handlungen aber bietet sich in erster Linie eine verbale Ableitung an. Einen wichtigen Sonderfall delokutiven Wandels von Verben bzw. Verbbedeutungen stellt Anscombre (1979b: 70) zufolge die Genese performativer Verben dar, insbesondere derjenigen performativen Verben, die zur Realisierung deklarativer Sprechakte dienen. Anscombre nimmt an, dass performative Lesarten von Verben dieser Art in der Regel diachronisch aus nicht-performativen Bedeutungen hervorgehen. In einem ersten Stadium, das dem Bedeutungswandel unmittelbar vorangeht, werden sie regelmäßig dazu verwendet, um einen außersprachlichen Akt zu beschreiben. So wird etwa das Verb beschlagnahmen zunächst einfach nur dazu eingesetzt, Akte der Beschlagnahme begleitend darzustellen. Ein Wortlaut wie ich beschlagnahme ihren Koffer besitzt in diesem Stadium keinerlei performative Kraft, sondern er bedeutet lediglich so etwas wie ‘ich bin gerade dabei, Ihren Koffer zu beschlagnahmen’. Erst infolge eines delokutiven Bedeutungswandels wird in einem zweiten Schritt der Vollzug der Handlung
_____________ 13
Die Fluchformel calice ! bedient sich wiederum des Nomens calice ‘Messkelch’ – zu den Quellkonzepten für effektvolles Fluchen vgl. Detges (1993: 70-71).
347
Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation
selbst zur Bedeutung des Wortlautes hiermit beschlagnahme ich (ihren Koffer etc.). 14 Der semantische Mechanismus der Delokutivität erklärt mit anderen Worten, auf welche Weise die Performativität zu einem Bestandteil der Verbbedeutung selbst wird. Ich beschlagnahme (ihren Koffer...)!
Kontiguität
Kontiguität Kontiguität
AKT DER BESCHLAGNAHME
Element der Situation
Abb. 2: Delokutive Entstehung performativer Verben
4. Delokutivität : synchronisch oder diachronisch? Wie wir gesehen haben, ist in der Forschung Benvenistes ursprünglich stark eingeschränktes Delokutivitätskonzept schrittweise erweitert worden. Die Neufassung des Delokutivitätsmodells, die aus dieser Erweiterung resultiert, bezeichnet Anscombre (1979b: 72) als delocutivité généralisée. Diesen Begriff definiert er folgendermaßen: Ein Morphem, das ursprünglich einen semantischen Wert S besitzt [...], bringt ein Morphem M* hervor, dessen semantischer Wert S* einen Hinweis auf den Diskursgebrauch von M mit dem Wert S enthält. (Übers. von mir, U.D.)
Ein offenkundiges Problem dieser Definition besteht in der Frage, was genau mit der Formulierung „Hinweis“ (allusion im französischen Original) gemeint ist. Die sprechaktmetonymische Motivation delokutiver Ausdrücke ist nämlich nur solange transparent, wie die entsprechenden formelhaften Wortlaute (also das jeweilige ¡F!) für die Sprecher verfügbar sind. Verschwinden diese, so ist auch die delokutive Herkunft des betreffenden Ausdrucks synchronisch nicht mehr rekonstruierbar. Noch wichtiger ist, dass vom Zeitpunkt seiner Lexikalisierung an, d.h. auch schon vor einem möglichen Verschwinden des jeweiligen ¡F!, der entsprechende delokutiv gebildete Ausdruck ein Faktum „eigenen Rechts“ ist. Um einen Satz wie qu.fr. Pierre était en maudit ‘Pierre war übler Laune’ zu verstehen, ist synchronisch kein Rekurs auf die Formel maudit! ‘verflucht’ mehr
_____________ 14
Dieses Modell wird beispielsweise durch die historische Entwicklung von fr. parier ‘wetten’ bestätigt (vgl. Koch 1991: 295).
348
Ulrich Detges
nötig – in diesem Satz wird nicht einmal notwendigerweise ausgedrückt, dass Pierre (als Symptom seine schlechten Laune) geflucht hat. Dies bedeutet, dass das Konzept der Delokutivität keine synchronisch relevante Realität beschreibt, sondern einfach einen diachronen Mechanismus der Bedeutungsübertragung, genauer gesagt, einen Sonderfall des metonymischen Wandels.
5. Worin genau besteht ¡F! ? Ein Problem, das deswegen beunruhigend ist, weil es die Einheit des Delokutivitätsbegriffes in Frage stellt, ist die Tatsache, dass als ¡F! eine bunte Vielfalt von Typen der wiederholten Rede in Frage kommt, von denen nur ein kleiner Teil „echte“ Formeln mit konventionalisierten pragmatischen Funktionen darstellen. Zu diesem „Prototyp“ gehören Fälle wie die lat. Grußformel salijte(m)! ‘(Ich wünsche Dir) Wohlergehen!’ (> lat. salijtÞre ‘grüßen’), die französische Dankesformel merci! (> fr. remercier ‘danken’), qu.fr. maudit ‘verflucht’ (> qu.fr. être en maudit ‘übler Laune sein’), ebenso wie die dt. Fluchformel verdammt! (> dt. verdammt ‘sehr’). Ein weiterer häufiger Typ sind saliente „Textbausteine“, aus denen Bezeichnungen des jeweiligen Textes oder Texttyps hervorgehen, in welchem sie vorkommen. Das prominenteste Beispiel für diesen Fall ist der Name des Vaterunser, der sich aus den ersten beiden Worten des Textes ableitet, den er bezeichnet. Im Fall von it. pagherò ‘Schuldschein’ ist die Bezeichnung nicht vom ersten, sondern vom performativ entscheidenden Wort des entsprechenden Textes bzw. Texttyps abgeleitet. Das Nomen pagherò ‘Schuldschein’ geht zurück auf die erste Person Singular des Futurs von pag(h)are ‘bezahlen’; es bedeutet also ursprünglich so viel wie ‘ich werde bezahlen’ – eine Formulierung, die typisch für den Schuldschein ist. Dass aus einem ¡F! dieser Art nicht nur Substantive hervorgehen, zeigt das bereits oben diskutierte Beispiel iffy: an iffy proposition ‘ein auf unsicheren Voraussetzungen beruhender Vorschlag’ ist typischerweise ein Vorschlag, in dessen Wortlaut die Konjunktion if häufig vorkommt. Ein weiterer Spezialfall, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem zuletzt erwähnten aufweist, ist dadurch charakterisiert, dass ein Sprecher oder Sprechertyp mit einem Ausdruck belegt wird, der aus einer als typisch empfunden Äußerung dieses Sprechertyps abgeleitet ist. Hier bezeichnet ¡F! also ein Zitat. Dieser Fall liegt vor bei br.pg. damedos ‘argentinischer Tourist’ < sp. ¡dame dos! ‘gib mir zwei!’. Eine völlig andere Art von ¡F! liegt vor bei delokutivem Wandel, der auf Spracherwerb oder Sprachkontakt beruht; unter den oben diskutierten
Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation
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Beispielen betrifft dies fr.kr. Guy. quienbé ‘festhalten’ (< fr. tiens bien! ‘Halt gut fest!’) und fr. tante ‘Tante’ (< afr. ta ante). In Fällen dieser Art kommen als ¡F! beliebige Textsegmente in Frage, die im Spracherwerb oder als Folge von Sprachkontakt eine Reanalyse erfahren. Ein letzter, vergleichsweise trivialer Sonderfall ist dadurch gekennzeichnet, dass das Produkt der delokutiven Ableitung ein Verb bezeichnet, das den Sachverhalt des ¡F!-Sagens bezeichnet. Diese Konstellation liegt beispielsweise vor bei lat. negare ‘verneinen’ < nec ‘nein’ (Benveniste 1966 [1958]: 279) ebenso wie bei fr. tutoyer ‘duzen’ < tu ‘du’ oder bei dt. ächzen < ach (Plank 2004: 10). Es fragt sich sogar, ob hier tatsächlich Delokutivität im engeren Sinne vorliegt. So zeigt sich beispielsweise, dass sie nur schwer in das Schema in Abb. 1 einzupassen sind. Dies liegt daran, dass sie weder eine Handlung bezeichnen, die normalerweise durch die Äußerung von ¡F! vollzogen oder von ihr begleitet wird, noch ein Element der Situation der Äußerung von ¡F!. Sie bezeichnen einfach die Äußerung von ¡F! selbst. Aus diesem Grund könnte man hier eher von Lokutivität als von Delokutivität sprechen. 15 In den folgenden Abschnitten möchte ich zeigen, dass die delokutive Ableitung aus bestimmten der eben diskutierten Typen von ¡F! sich in der Frage, ob sie zu Verstärkung oder Abschwächung führen, jeweils unterschiedlich verhalten.
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In der äußerst klaren Systematik von Bonhomme (1989) werden Bildungen diesen Typs, die aus „morphèmes primitivement locutoires“ (Bonhomme 1989: 28) hervorgegangen sind (etwa fr. tutoyer ‘duzen’ < tu ‘du’), zwar noch als delokutiv behandelt, doch wird ihnen ein allenfalls randständiger Stellenwert zugewiesen. Wenn Plank (2004) ausgerechnet diesen Fall ins Zentrum einer typologischen Untersuchung der Delokutivität rückt, so übernimmt er unausgesprochen bestimmte problematische Implikationen des ursprünglichen Delokutivitätsbegriffs Benvenistes (die in der französischsprachigen Forschung längst ausdiskutiert sind, vgl. Anscombre 1979b, 1985a, 1985b). Plank zufolge repräsentiert nämlich ein delokutives Verb wie lat. salijtÞre einfach einen Fall des ¡F!-Sagens, also des Aussprechens der Formel salijte(m)! (Plank 2004: 3, 14)). Dass dies nicht so ist, wird daran deutlich, dass das Verb salijtÞre ‘grüßen’ auch Sachverhalte bezeichnet, bei denen die Formel salijte(m)! gar nicht geäußert wird (etwa bei einem stummen Gruß mit der Hand usw.). Der Zusammenhang zwischen salijtÞre und salijte(m)! ist rein diachron, und er besteht darin, dass salijtÞre eine Handlung bezeichnet, die man normalerweise performativ ausführt, indem man salijte(m)! äußert (vgl. dazu auch Anscombre 1985a: 9). Dieser Zusammenhang ist mit anderen Worten nicht einfach „sprechmetonymisch“, sondern sprechaktmetonymisch.
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6. Up the cline: von der Formel zum Lexem In Fällen, in denen ¡F! eine Formel mit einer konventionellen pragmatischen Funktion repräsentiert (z.B. GRÜßEN oder DANKEN), bringt der delokutive Wandel regelmäßig eine semantische Verstärkung mit sich. Diesen Fall repräsentiert beispielhaft der Wandel von der Grußformel lat. salijte(m)! zum Lexem lat. salijtÞre ‘grüßen’. Formeln wie lat. salijte(m)! sind konventionelle Elemente des Diskurses, die nicht dazu dienen, konzeptuelle Information, also Weltwissen, zu transportieren, sondern vielmehr dazu, die menschliche Interaktion zu koordinieren. Es handelt sich bei ihnen um Routinen mit prozeduraler Bedeutung (Wilson/Sperber 1993, Blakemore 2000). Dagegen sind die Produkte delokutiven Wandels der hier diskutierten Art, z.B. das Verb lat. salijtÞre, stets Lexeme mit einer konzeptuellen Bedeutung. Der diachrone Übergang von prozeduraler Funktion zu lexikalisch-konzeptueller Bedeutung impliziert immer eine semantische Stärkung. Dies wird noch deutlicher, wenn man den Wandel in entgegen gesetzter Richtung betrachtet: Normalerweise ruft ein diachroner Übergang von konzeptueller Bedeutung zu prozeduraler den Eindruck hervor, das betreffende Zeichen „bleiche“ dadurch semantisch aus. 16 Dies gilt etwa für die Entstehung von Diskursmarkern, von Modalpartikeln und für Grammatikalisierungsprozesse im engeren Sinne. In solchen Fällen kommt es regelmäßig zu einer deutlichen semantischen Schwächung (vgl, auch unten, Abschnitt 9). Ein Wandelprozess in die entgegengesetzte Richtung wie beispielsweise lat. salijte(m)! GRUß > salijtÞre ‘grüßen’ ist dagegen stets mit einer Stärkung verbunden. Bedeutet dies nun aber, dass es sich bei solchen Fällen der „Statusanhebung“ (Harnisch 2004: 212) von Formeln zum Lexemen um Degrammatikalisierung handelt? Diese Frage wird explizit bei Lehmann (1995: 196) für engl. iffy diskutiert, das ja Resultat des Wandels einer Konjunktion (also eines grammatischen Elementes) zu einem adjektivischen Lexem darstellt. Lehmann selbst vertritt freilich den Standpunkt, dass hier nicht Degrammatikalisierung, sondern Lexikalisierung vorliegt. Dafür spricht, dass die Ableitung von iffy aus if mithilfe des Suffixes -y ein eindeutiger Fall von Derivation ist. Derivation aber ist eine übliche Form des lexikalischen Wandels. Wie wir oben gesehen haben, gilt dies für alle Formen des delokutiven Wandels, d.h. nicht nur für die Derivation, sondern auch für den einfachen lexikalischen Bedeutungswandel sowie für die Bildung mit syntaktischen Mitteln (s.o., Abschnitt 2). Semantisch betrachtet stellt Delokutivität eine Sonderform des metonymischen Wandels dar. Es spricht also nichts dafür, sie in Fällen wie lat. salijtÞre < salijte(m)! oder
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Zum Begriff des bleaching vgl. die kritische Diskussion in Detges (1999: 31-33).
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engl. iffy < if als etwas anderes als eine Form des lexikalischen Wandels zu behandeln (vgl. aber unten, Abschnitt 8). Warum finden Verschiebungen von pragmatischen Formeln zu Lexemen überhaupt statt? Betrachten wir noch einmal den Fall lat. salijte(m)! GRUß > salijtÞre ‘grüßen’. Das Besondere an der Formel salijte(m)!, das den delokutiven Wandel überhaupt ermöglicht, ist eine ausgeprägte Differenz zwischen den lexikalischen Bedeutungen ihrer Elemente ‘(ich wünsche Dir) Gesundheit!’ einerseits und ihrer tatsächlichen pragmatischen Funktion, dem Ausführen eines GRUßES, andererseits; vgl. (7). (7) Salijte(m)! Bedeutung: Funktion:
‘(Ich wünsche Dir) Gesundheit!’ GRUß
Die semantische Seite des Wandels besteht nun einfach darin, dass die pragmatische Funktion der Formel zur Bedeutung der neu gebildeten lexikalischen Einheit salijtÞre ‘grüßen’ avanciert. (7’) Salijte(m)! Bedeutung: Funktion:
‘(Ich wünsche Dir) Gesundheit!’ >
salijtÞre ‘grüßen’
GRUß
Bei diesem Schritt liegt eine Reanalyse nach dem Prinzip der Referenz vor (vgl. Detges/Waltereit 2002), das besagt: (8)
Prinzip der Referenz: „Gehe davon aus, dass die Lautkette das bedeutet, was in der Situation gemeint ist.“
Das „Gemeinte“ in einer Situation der Äußerung der Formel salijte(m)! ist die pragmatische Funktion GRUß. Als Folge der Reanalyse verwandelt sich diese Funktion gemäß dem Prinzip (8) in die Bedeutung des abgeleiteten Lexems salijtÞre ‘grüßen’. Der eigentliche Auslöser dieses Wandelschrittes ist die hohe Gebrauchsfrequenz der Grußformel, die insgesamt so viel häufiger als das zugrunde liegende Lexem salijs ‘Wohlergehen’ verwendet wird, dass sie diesem gegenüber autonom wird – um die Funktion von ¡F! zu kennen, ist ein Rekurs auf die Lexeme überflüssig, aus denen es ursprünglich gebildet wurde. Augenfällig ist dies im Fall der fr. DANKES- Formel merci!, welche die Ableitungsbasis für das delokutiv derivierte Verb fr. remercier ‘danken’ darstellt. Die Formel merci! wurde ursprünglich gebildet aus dem femininen Nomen merci, das altfranzösisch so viel bedeutete wie ‘Gnade’. Wörtlich übersetzt ist die Dankesformel merci! motiviert durch die Verkürzung einer Konstruktion des Typs afr. (Ce est) la vostre merci! ‘(dies ist) Eure Gnade!’ (Tobler-Lommatzsch 1925-, s.v. „merci“, vgl. auch Larcher 1985: 109). Als Substantiv ist merci ‘Gnade’ im modernen Französisch nur noch in bestimmten festen Wortverbindungen erhalten, die
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vergleichsweise selten vorkommen. 17 Sein Verschwinden hat zwar dazu geführt, dass die (extrem frequente) Formel merci! nun nicht mehr motivierbar ist, doch hat dies deren Funktion in keiner Weise berührt. Lange vor dem Verschwinden des Nomens merci ‘Gnade’ hat die Formel merci! DANKE durch ihre hohe Gebrauchsfrequenz eine vollständige Autonomie vom Nomen erlangt.
7. Up the cline or down? Verstärkung und Desegmentierung in Spracherwerb und Sprachkontakt In Situationen des Sprachkontaktes und des Spracherwerbs tritt häufig eine ganz besondere Form des delokutiven Wandels ein, die sich von dem im letzten Abschnitt diskutierten Typ der Delokutivität in mehreren Punkten unterscheidet. Ein einfaches Beispiel für diesen Fall ist der Wandel von afr. t’ante ‘deine Tante’ zu fr. tante ‘Tante’. Dieser delokutive Wandel, bei dem ein Determinant mit dem Kopfnomen fusioniert, weist in vieler Hinsicht Ähnlichkeit mit Phänomenen auf, wie sie für den Sprachkontakt typisch sind. Beim Wandel von afr. t’ante ‘deine Tante’ > fr. tante ‘Tante’ liegt echte Delokutivität im Sinne der délocutivité généralisée vor (s.o., Abschnitt 4), da ja durch das Possessivpronomen der zweiten Person afr. t’ (< ta) ‘dein’ unmittelbar auf den Hörer (und damit indirekt auf die Situation der Äußerung von ante ‘Tante’ im Diskurs) Bezug genommen wird (Bonhomme 1989: 10). Dies ist bei den im Folgenden diskutierten Beispielen anders. Trotzdem ist der Mechanismus, der den jeweiligen Wandel herbeiführt, derselbe wie bei afr. t’ante ‘deine Tante’ > tante ‘Tante’. In einer Reihe von französisch basierten Kreolsprachen der Karibik und des Indischen Ozeans kommt das Wort lapli ‘Regen’ vor, das diachronisch auf fr. la pluie ‘der Regen’ zurück geht – offensichtlich ist in den Kreolsprachen der französische Artikel la an das Lexem pluie agglutiniert. Gleichzeitig hat er dabei seine grammatische Funktion eingebüßt und ist Teil des Nominalstammes geworden. Die Übersicht in Tab. 1 deutet an, dass Phänomene dieser Art bei einer großen Zahl von Substantiven in unterschiedlicher arealer Verteilung in allen französisch basierten Kreolsprachen vorkommen.
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Etwa une lutte sans merci ‘ein gnadenloser Kampf’, être à la merci de qqn. ‘jemandem auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein’ und tenir qqn. à sa merci ‘jemanden in seiner Gewalt haben’.
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Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation
Französisch la pluie ‘der Regen’ le chien ‘der Hund’ du feu ‘Teilungsartikel + Feuer’
Mauritius, Seychellen lapli ‘Regen’ lisyê ‘Hund’ dife ‘Feuer’
La Réunion
Louisiana
lapli ‘Regen’ syên ‘Hund’ (di)fe ‘Feuer’
plwi, pli ‘Regen’ chyên ‘Hund’ (di)fe ‘Feuer’
Haiti, La Martinique lapli ‘Regen’ chên, chyên ‘Hund’ dife ‘Feuer’
Tab.: Materielle Reste der frz. Artikel in Kreolsprachen (vgl. Stein 1984: 38)
Kreolsprachen sind das Resultat von Sprachkontakt zwischen Sprechern einer Übersee-Varietät des Französischen (die, wie beispielsweise auch das Québec-Französische, in aller Regel eine koiné auf der Grundlage verschiedener französischer Dialekte ist, vgl. Chaudenson 1992) und Sprechern diverser nicht-europäischer, vorzugsweise afrikanischer Sprachen. Dieser Kontakt ist insofern asymmetrisch, als die Sprecher der nichteuropäischen Sprachen in aller Regel den Status von Sklaven haben. Diese Sklaven (die ihrerseits verschiedenster ethnischer Herkunft sind und sich deshalb untereinander nicht verständigen können) sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Sprache der Herren zu erlernen, 18 während diese umgekehrt keinerlei Anstrengungen unternehmen, die Muttersprachen ihrer Sklaven zu verstehen. Der Spracherwerb der Sklaven vollzieht sich völlig ungesteuert, d.h. ausschließlich im face-to-face Kontakt und ohne jede Form von didaktischer Anleitung. Nehmen wir nun an, ein Muttersprachler des Französischen spricht darüber, dass es gerade regnet, und verwendet in diesem Zusammenhang die Konstruktion la pluie ‘der Regen’, die in seiner Grammatik die Analyse la DET pluie N besitzt. Dem Nichtmuttersprachler, der diese Konstruktion hört, ist deren morphosyntaktische Struktur jedoch unzugänglich – zugänglich sind ihm lediglich die Informationen, die in Abb. 3 innerhalb des angedeuteten Kreises liegen. Er hört zunächst eine phonologische Form der Art [laplyi] – die er relativ treu als [lapli] kopiert. Außerdem steht ihm ein bestimmter Typ von Information zur Verfügung, der es ihm erlaubt, diese Lautkette zu interpretieren: Wenn es ihm gelingt, in der konkreten Kommunikationssituation den Referenten(typ) der Lautkette, also den REGEN, zu identifizieren, so kann er diesen der Lautkette als Bedeutung zuweisen. Bei diesem Schritt, also beim Abgleichen der Lautkette mit dem Referenten, geht die grammatische Information verloren, die in der ursprünglichen französischen Konstruktion la pluie durch den bestimmten Artikel kodiert wird.
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Ein detailliertes soziologisches Szenario von Kreolisierungsprozessen findet sich bei Chaudenson (1992: bes. 121).
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Nur die lexikalische Information ‘Regen’ bleibt erhalten, da sie sich unmittelbar aus der Situation ableiten lässt. Nichtmuttersprachler
Frz. Muttersprachler Morphosyntaktische Analyse la DET pluie N ‘der Regen’
Phonologische Form [laplyi]
>
Phonologische Form [lapli]
Morphosyntaktische Analyse lapli N ‘Regen’
REGEN Referent Abb. 3: Reanalyse des französischen Artikels nach dem Prinzip der Referenz
Reanalysen dieser Art sind das Werk von Hörern, die sich bemühen, opake Lautketten zu verstehen. Auch Reanalysen diesen Typs folgen dem Prinzip der Referenz (s.o. 8), insofern als der nichtmuttersprachliche Hörer die ursprüngliche Bedeutung der Lautkette fr. [laplyi], nämlich ‘der Regen’, durch das ersetzt, was in der konkreten Kommunikationssituation gemeint zu sein scheint, nämlich durch den Referententyp REGEN – dieser wird in seiner Grammatik zur Bedeutung der Lautkette. Allerdings wird dieser Wandel nicht primär durch die hohe Gebrauchsfrequenz der Lautkette [laplyi] gesteuert (wie dies bei den in Abschnitt 6 diskutierten Beispielen der Fall war). Vielmehr gibt unter den Bedingungen des unkoordinierten Zweitspracherwerbs die unterschiedliche perzeptuelle Salienz der verschiedenen Arten von Information den Ausschlag, die in Konstruktionen wie fr. la pluie oder dt. der Regen kodiert werden. In einer face-to-face Situation ist es vergleichsweise leicht, den Referententyp der Konstruktion zu ermitteln – aus diesem wiederum lässt sich relativ problemlos die in la pluie kodierte lexikalische Information ‘Regen’ rekonstruieren. Mit anderen Worten: lexikalische Information (genauer gesagt: konzeptuelle Information), die sich auf Entitäten der realen außersprachlichen Welt beziehen lässt, besitzt einen relativ hohen Grad an perzeptueller Salienz. Dagegen ist es kaum möglich, unter den Bedingungen des unkoordinierten Zweitspracherwerbs die grammatische Funktion des bestimmten Artikels zu erschließen. Grammatische (also prozedurale) Information besitzt einen vergleichsweise niedrigen Grad an perzeptueller Salienz, weil es wesentlich schwieriger ist, ihr reale Elemente einer face-toface Situation zuzuordnen. Einen Wandel ganz ähnlicher Art repräsentieren die zahlreichen arabischen Lehnwörter im Spanischen, bei denen der arabische Artikel al mit
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Delokutiver Bedeutungswandel und delokutive Derivation
dem ursprünglichen nominalen Stamm verschmolzen ist, etwa sp. alcalde ‘Bürgermeister’, altspanisch ‘Friedensrichter’ das zurückgeht auf arabisch al quâdĄ ‘der Friedensrichter’. Einige Beispiele dieser Art sind unter (9) aufgeführt: (9)
Reste des arabischen bestimmten Artikels al im Spanischen alcuzcuz ‘Kuskus’, aldea ‘Dorf’, alfombra ‘Teppich’, almacén ‘Speicher’, algodón ‘Baumwolle’, albañil ‘Maurer, alcohol ‘Alkohol’, aduana ‘Zoll’, aceite ‘Öl’ etc.
Auf ähnliche Weise lässt sich nun auch die Entstehung von fr. tante ‘Tante’ < afr. t’ante ‘deine Tante’ erklären. Gamillscheg (1969, s.v. „tante“) zufolge fand dieser Wandel in der Kindersprache statt. Es ist also plausibel, ihn als „Übertragungsfehler“ im kindlichen Spracherwerb anzusehen. Wahrscheinlich ist, dass zunächst Erwachsene mit dem Kind über den Referenten TANTE sprechen und dabei die Konstruktion t POSS ante N ‘deine Tante’ verwenden. Solange das Kind die konventionelle Bedeutung des possessiven Determinanten ta bzw. von dessen Variante t’ nicht kennt, wird es der Lautkette [tãt] nur den Referententyp TANTE als Bedeutung zuweisen. Die im Possessivpronomen t’ kodierte grammatische Information wird es dagegen ignorieren, weil es ihm kein konkretes Element der Situation als Referenten zuordnen kann. Das Ergebnis dieses „Übertragungsfehlers“, die Reanalyse von t’ante als tante, setzt sich zunächst in der Kindersprache fest (also der Varietät, in der Erwachsene mit Kindern sprechen) und dringt später irgendwann von hier aus in die „normale“ Sprache der Erwachsenen vor. Erwachsener Morphosyntaktische Analyse t’ POSS ante N ‘deine Tante’
Kind Phonologische Form [tãt]
>
Phonologische Form [tãt]
Morphosyntaktische Analyse tante N ‘Tante’
TANTE Referent Abb. 4: Reanalyse von altfrz. t’ante > tante nach dem Prinzip der Referenz
Diese Überlegungen machen plausibel, warum ungesteuerter Spracherwerb, Sprachkontakt und Koinéisierung den delokutiven Wandel fördern (Koch 1993: 275-277): In solchen Konstellationen ist der Wandel ein Resultat des Umstandes, dass Lerner die Grenzen der lexikalischen Einheiten der Zielsprache nicht kennen (vgl. auch Stolz, dieser Band) und sie
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deshalb mittels des Referenzprinzips aus dem Diskurs inferieren müssen. Dadurch unterscheidet sich dieser Typ der Reanalyse aber grundlegend von den in Harnisch (2004) und in Eichinger (dieser Band) diskutierten analogischen Remotivationsprozessen, denn letztere setzten Sprecher / Hörer voraus, die über „normale“ sprachliche Kenntnisse verfügen. Analogische Remotivationsprozesse funktionieren derart, dass opaken Lautketten (z.B. -selig oder -süchtig, vgl. Eichinger, dieser Band) durch den Abgleich mit anderen, bereits bekannten Elementen neue Bedeutungen zugewiesen werden. 19 Auch Wandelprozesse wie t’ante > tante scheinen nun bei oberflächlicher Betrachtung zu einer Verstärkung zu führen, weil durch die semantische „Entleerung“ der grammatischen Elemente und deren Agglutination an die jeweiligen Lexeme letztere eine lautliche Expansion erfahren: Eine Folge der Reanalyse von t’ante zu tante besteht darin, dass ante am Wortbeginn um ein lautliches Segment angereichert wird. Allerdings handelt es sich dabei um eine rein materielle Verstärkung. Betrachtet man dagegen allein die morphosyntaktische Struktur, so zeigt sich, dass wir es hier mit Lexikalisierungsvorgängen in ihrer „normalen“ Entwicklungsrichtung zu tun haben, denn die Reanalyse führt zur Desegmentierung (Harnisch 2004: 212), d.h. zum Verlust morphosyntaktischer Komplexität.
8. Down the cline: Delokutive Bildung von Modalpartikeln Als weiterer Typ des delokutiven Wandels wurden in Abschnitt 5 Fälle herausgestellt, in denen es der Wortlaut ¡F!, der jeweils die Grundlage des Wandels darstellt, den Charakter eines Zitates besitzt. Als Beispiele für diesen Fall haben wir bisher vor allem Beispiele diskutiert wie br.pg. damedos ‘argentin. Tourist’ < sp. ¡dame dos! ‘gib mir zwei’ oder br.pg. cheguei, adj. ‘angeberisch’ < pg. cheguei ‘hier bin ich!’, d.h. Konstellation, bei der ein ironisches Zitat einem Referenten zu geschrieben wird. Einen interessanten Sonderfall stellen nun Beispiele dar, in denen ein solches Zitat nicht einem abwesenden Referenten, sondern dem Hörer zugeschrieben wird. In solchen Fällen führt der delokutive Wandel zu Ployphonie (Ducrot 1980). Es entstehen auf diese Weise sprachliche
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Es handelt sich bei ihnen stets um Reanalysen nach dem „Prinzip der Transparenz“ (Detges/Waltereit 2002: 159f.). Dasselbe gilt für Prozesse der Desautomatisierung idiomatisierter Komposita wie sie in Fill (dieser Band) beschrieben werden und für die Umdeutung der Wortausgänge von Rufnamen vom Type Becker > Beckert nach dem Vorbild des Typs (Siegfried >) Sievert (Nübling, dieser Band).
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Verfahren, mit denen sich die (ursprünglich delokutiv „kopierte“) „Stimme“ des Hörers in den Diskurs des Sprechers „einbauen“ lässt. Ein Beispiel für diesen Fall ist br.pg. falou ‘nicht wahr?’. Ursprünglich handelt es sich bei dieser Partikel um eine Form des Verbs falar ‘sprechen’, genauer um die 2. Person Singular Perfekt, die zunächst ‘du hast gesprochen’ oder – besser noch – ‘du sagst es, stimmt’ bedeutet. Schon in diesem Stadium wird falou als konventionelle Formel verwendet; vgl. (10) aus Ilari (2002: 6). (10)
Stadium 1: falou ‘du sagst es, stimmt’ A: No churrasco de amanhã, você compra a carne? ‘Für das Barbecue morgen kaufst Du das Fleisch?’ B: Falou. Eu levo a carne. Sag:perf.:2s. ‘Du sagst es. Ich bringe das Fleisch mit.’
Delokutiv wird falou in dem Moment verwendet, wo der Sprecher das falou seines Gegenübers antizipiert und in seine eigene Rede „einkopiert“, wie in (10’) (ebenfalls aus Ilari 2002: 6): (10’)
Stadium 2: falou ‘nicht wahr?’ A: No churrasco de amanhã, você compra a carne, falou? ‘Für das Barbecue morgen kaufst Du das Fleisch, nicht wahr?’
Bei dieser Form des Wandels handelt es sich um keinen Einzelfall. Wie Waltereit (2001) zeigt, repräsentieren (10) und (10’) einen diachronen Kanal, der für Modalpartikeln typisch ist. Modalpartikeln sind insofern polyphon, als sie dem Hörer signalisieren, dass der jeweilige Sprechakt seinem Wissens- und Erwartungshorizont in besonderer Weise angepasst ist. So zeigt etwa dt. ja in (11) an, dass der betreffende Satz einen Sachverhalt assertiert, der dem Hörer eigentlich bekannt sein sollte. Assertionen von allseits bekannten Sachverhalten sind unter normalen Bedingungen kommunikativ problematisch, weil sie dem Hörer einen Interpretationsaufwand abverlangen, dem kein entsprechender Zugewinn an Information entspricht. Dieses Problem „repariert“ nun ja, indem es dem Hörer signalisiert, dass trotz dieses Umstandes die Äußerung von (11) kommunikativ relevant ist. (11) Die Malerei war ja schon immer sein Hobby
Waltereit (2001: 1398-99) zufolge entstehen nun Modalpartikeln häufig auf die gleiche Weise wie falou? in (10) und (10’). Die diachrone Quelle der Modalpartikel ja ist das Satzwort ja (Waltereit 2001: 1398), genauer gesagt das ja des Hörers B, mit dem dieser im Dialog anzeigt, dass er den Inhalt der Assertion kennt; vgl. (12).
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(12)
Diachronie der Modalpartikel ja, Etappe 1 (Dialog) A: Die Malerei war schon immer sein Hobby. B: Ja [ich weiß].
Im nächsten Schritt antizipiert der Sprecher A das ja des Hörers B und baut es in seinen Diskurs ein. In diesem Stadium ist das Element allerdings noch nicht syntaktisch und prosodisch integriert, d.h. es geht entweder dem betreffenden Satz voraus oder folgt ihm (vgl. 12’). Dieser Schritt repräsentiert den delokutiven Wandel, der zu Polyphonie führt. (12’)
Diachronie der Modalpartikel ja, Etappe 2 (Polyphonie) A: Die Malerei war schon immer sein Hobby A. , ja B.
Im letzen Schritt des Wandels wird das in die Rede des Sprechers einkopierte Satzwort ja syntaktisch und prosodisch integriert: Es steht nun im Mittelfeld des Satzes, und es verliert seine Betonung. Das ja des Hörers verwandelt sich mit anderen Worten in eine Modalpartikel (vgl. 12”). Die Triebfeder dieser Etappe des Wandels ist der häufige Gebrauch, der aus dem ursprünglichen Satzwort eine konventionalisierte Routine macht. (12”)
Diachronie der Modalpartikel ja, Etappe 3 (Modalpartikel) Die Malerei war ja B. schon immer sein Hobby.
Insbesondere in seiner dritten Phase weist dieser Prozess nun alle Merkmale eines Schwächungsprozesses auf: Dies gilt für die prosodischen und syntaktischen Eigenschaften von ja, das als Modalpartikel unbetont 20 und dessen syntaktische Position schweren Restriktionen unterworfen ist. Auch semantisch erfährt das Element insofern eine Schwächung, als sich das ursprüngliche Satzwort in eine prozedurale Routine verwandelt. In der Forschung ist wiederholt die Auffassung vertreten worden, dass Prozesse der Entstehung von Modalpartikeln Fälle von Grammatikalisierung seien (vgl. Autenrieth 2002, Diewald 1999, Wegener 1998). Diese Sichtweise scheint zwar zunächst insofern naheliegend, als auch Grammatikalisierung grundsätzlich eine zunehmende Routinisierung der betroffenen Elemente impliziert (vgl. etwa Haspelmath 1999: 1058). Allerdings führt in Fällen „echter“ Grammatikalisierung der Wandel niemals zu einer polyphonen Bedeutung, was u.a. damit zu tun hat, dass in „echten“ Grammatikalisierungsprozessen (beispielsweise bei der Entstehung von Tempusmarkern, s. etwa Bybee et al. 1994, vgl. auch Detges 1999, bes. 46-50) Delokutivität normalerweise keine Rolle spielt (vgl. auch Detges/Waltereit 2002). Im Fall der Entstehung von Modalpartikeln ist die Bedeutung des delokutiven Wandels nun aber keineswegs zufällig, sondern dieser ist gewissermaßen das diachrone Gegenstück der synchronen Funktion der Modalpartikeln:
_____________ 20
Ob es sich bei ja um ein klitisches Element handelt, ist freilich umstritten, vgl. Meibauer (1994: 56-60).
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Wie wir oben gesehen haben, ist die wichtigste Funktion von Modalpartikeln die Steuerung von Inferenzen des Hörers. Sie dienen dazu, Sprechakte an Erwartungen des Hörers anzupassen (Waltereit 2001: 1399). Genau dieser Gesichtspunkt ist das „Modale“ an der Funktion der Modalpartikeln. Der Bezug auf die vermutete Vorerwartung des Hörers ist nun aber genau das, was der Begriff der Polyphonie umschreibt. Ein typischer diachroner Entstehungskanal (wenn auch nicht der einzige) von Polyphonie ist die Delokutivität.
9. Delokutivität: ein Phantom? Wie wir in Abschnitt 4 gesehen haben, ist Delokutivität keine synchronisch relevante Kategorie. Die genauere Analyse verschiedener Fälle in Abschnitt 6 - 8 hat nun aber gezeigt, dass auch in diachronischer Sicht der delokutiven Wandel höchst unterschiedliche Prozesstypen umfasst, die im einzelnen völlig verschiedenen Motivationen folgen und – unter dem Gesichtspunkt der „Stärkung“ bzw. „Schwächung“ der involvierten Zeichen – zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Beim Wandel des Typs lat. salijtÞre < salijte(m)! entsteht aus einer prozeduralen Routine ein lexikalisches Element mit konzeptueller Bedeutung. Auslöser des Wandels ist die hohe Gebrauchsfrequenz der formelhaften Routine. Im Gegensatz dazu ist die delokutive Entstehung von Modalpartikeln wie im Fall von dt. ja gerade mit der Ausbildung von prozeduralen Routinen verbunden. Dieser Wandels wird nicht primär durch hohe Gebrauchsfrequenz ausgelöst, sondern ist in einer effektvollen Einstellung des Sprechaktes auf die Erwartungen des Hörers begründet. Ein dritter Typ des delokutiven Wandels schließlich, für den das Beispiel fr. tante < afr. t’ante steht, ist motiviert durch Probleme des Verstehens von Äußerungen (vgl. Abschnitt 7). In zwei Fällen (Abschnitt 6 und 7) haben wir gesehen, dass der betreffende delokutive Wandel lediglich jeweils ein Spezialfall eines bestimmten Typs von Reanalyse ist (für den sich auch zahlreiche nichtdelokutive Beispiele finden lassen). Bedeutet dies alles nun, dass es sich beim delokutiven Wandel um ein „Phantom“ handelt, das sich bei näherem Hinschauen in Nichts auflöst? Die Antwort auf diese Frage lautet eindeutig: nein. Delokutivität ist ein Sonderfall der Metonymie, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich auf Sprechakte bezieht. Sprechaktmetonymien sind assoziativ-semantische Relationen, ähnlich wie andere Arten der Metonymie, wie Metaphern und wie taxonomische Relationen. Der zentrale kognitive Stellenwert aller dieser Relationen manifestiert sich u.a. darin, dass sie allen möglichen Formen des Wandels zugrunde liegen können (vgl. Blank 1997: 344). Wie im Laufe der vorliegenden Überlegun-
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Ulrich Detges
gen deutlich geworden ist, ist der Begriff der Delokutivität hilfreich, wenn es darum geht, eine Reihe von diachronen und (im Fall der polyphonen Modalpartikeln) synchronen Erscheinungen besser zu verstehen.
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Register
Sachregister Um die Zahl der Querverweise im Index selbst niedrig zu halten, wird ihm eine Gruppierung der Begriffe aus dem thematischen Kernbereich des Sammelbands (linke Spalte) und, sofern vorhanden, ihrer jeweiligen Gegenbegriffe (rechte Spalte) vorangestellt. In jeder Gruppe von Begriffen aus dem thematischen Kernbereich wird der Leit-Terminus fett gedruckt. Zur Verdeutlichung der sachlichen Beziehungen zwischen den Termini werden komplexe Fachausdrücke in dieser dem eigentlichen Index vorangestellten Synopse mit Bindestrichen geschrieben (z.B. Re-Analyse vs. De-Analyse; Bedeutungs-Verstärkung vs. Bedeutungs-Abschwächung), im Index selbst aber zusammen (Reanalyse, Deanalyse; Bedeutungsverstärkung, Bedeutungsabschwächung). Die in dieser Synopse genannten Termini kehren im Index, versehen um die Seitenhinweise, wieder. Sie werden um Termini ergänzt, die nicht zum thematischen Kernbereich des Sammelbands gehören, ihn gleichwohl um zusätzliche Aspekte ergänzen.
Synopse Verstärkung [formale und semantische] pragmatische (siehe unten bei: Re-Kontextualisierung) rhetorische Spannung, Eutension Anreicherung formale semantische (siehe Bedeutungsanreicherung) Status-Anhebung Konstruktions-Ebenen Laut-Substanz Morphonologie Index-Anhebung
Pseudo-Morphem Sub-Morphem Morphem-Status Lexem-Status
Abschwächung, Abschleifung formale, phonetische Endsilbenabschwächung semantische (siehe Bedeutungsabschwächung) Reduktion Verkürzung Entropie
Status-Minderung
Index, Indexikalität Kontiguität Portmanteau-Morphem Modifikation, innere, Introflexion Umlaut Suppletion Irregularität
366 De-Grammatikalisierung
De-Lexikalisierung Volksetymologie Etymologisierung Mondegreen Verhörer Nach-Schöpfung Malapropismus De-Idiomatisierung Wörtlichnehmen Sprachspiel, Wortspiel Verstärkung, Re-Motivierung, pragmatische Re-Kontextualisierung
Ent-Konventionalisierung Konnotation Assoziation Weltwissen, Präsupposition (siehe auch: Bedeutungs-Aufladung) Epochenschlagwort, Emblem Historische Vokabel Öffentliche Kommunikation Politischer Diskurs Politische Korrektheit Euphemismus Tabu, Tabu-Bruch Sprachkritik De-Lokution Semantisierung [formaler Substanz] (dagegen: Substanziierung von Bedeutung) Re-Semantisierung Bedeutungs-Verstärkung Bedeutungs-Anreicherung, BedeutungsAufladung, Bedeutungs-Aufwertung Bedeutungs-Suche Bedeutungs-Zuweisung Bedeutungs-Konkretisierung Bedeutungs-Spezifizierung Morphologisierung Onymische Morphologie
Sachregister
Grammatikalisierung Re-Grammatikalisierung Auxiliarisierung Unidirektionalität, Irreversibilität Lexikalisierung Re-Lexikalisierung Etymologie
Idiomatisierung Neu-Idiomatisierung Idiom Sprichwort Phraseologismus Gebrauchsbedingungen, Gebrauchswert Sprachhandlung, Sprechakt Kontext, Kontextabhängigkeit der Bedeutung innertextlich situativ Konventionalisierung, Konventionalität Fachsprachlichkeit, Fachterminologie Denotation Dissoziation
De-Semantisierung Bedeutungs-Abschwächung Bedeutungs- Ausbleichung Bedeutungs-Entleerung Abstraktion, Abstraktheit, semantische Reihenbildung De-Morphologisierung Onymie, Onymisierung
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Sachregister
Substanziierung von Bedeutung (dagegen: Semantisierung formaler Substanz) Pleonasmus, Verdeutlichung Tautologie Redundanz Restitution Analyse Re-Analyse Katalyse Restrukturierung Motiviertheit
Onomatopoetikon Re-Motivierung [semantische] pragmatische (siehe oben bei: Re-Kontextualisierung) Neu-Motivierung Sekundäre Semantische Motivierung Re-Interpretation Umdeutung Bewusstheit, Bewusstseinskonstitution Intention Explikation, Explizitheit Expressivität, Expressive Verstärkung Funktion, Funktionalisierung, Funktionalität Form-Funktions-Beziehung Re-Segmentierung Neu-Segmentierung Grenzbildung Grenzverschiebung Wortgrenze Sekretion formale, morphologische lexikalische semantische Ausscheidung Abspaltung Ent-Schmelzung Markiertheit semantische ausdrucksseitige, Merkmalhaftigkeit Natürliche Morphologie und Phonologie, Natürlichkeit Konstruktioneller Ikonismus Re-konstruktioneller Ikonismus Re-Konstruktion Struktur-Aufbau
De-Analyse
Arbitrarität Homonymie Polysemie Idiosynkrasie Junk De-Motivierung
De-Segmentierung
Assimilation Ver-Schmelzung
De-Konstruktion Struktur-Abbau
368 Konstruktionalität Komplexität Kompositionalität Komposition Neologismus, Neu-Schöpfung Wort-Schöpfung Konfix Wortkreuzung Paronomasie Transparenz, Durchsichtigkeit Aufhellung Salienz Disambiguierung Schema Muster, Musterbildung, Musterwort Wortbildungsmuster Lautgestalt Lautähnlichkeit Assonanz Silbe, Syllabizität Reim Rhythmus, Takt Versfuß Analogie Proportionsgruppen Exaptation (Hypo-Analyse) Adaption, Adaptation Darwinismus Evolution Selbstorganisation
Sachregister
Holistik Simplex, Simplizium Univerbierung De-Komposition
Opakheit, Undurchsichtigkeit Verdunklung
Index Abschwächung, Abschleifung formale, phonetische 3, 10, 11, 18, 29, 37, 77, 103, 104, 118, 139, 140, 160, 162, 168, 170, 171, 173, 181, 183-191, 193, 195, 315, 332, 341, 358 semantische (siehe Bedeutungsabschwächung) Abspaltung 31, 110, 122, 185, 189 Abstraktion, Abstraktheit, semantische 32, 36, 38, 60, 62, 121, 125, 132, 189, 192194, 199, 245, 256, 314 Adaption, Adaptation 42-44, 50-52, 55, 57, 71, 187 Ad-hoc-Bildung 31, 125, 203
Adjektiv 17, 22, 30, 31, 33, 35, 45, 46, 49, 53, 60-64, 68, 84, 130, 131, 142, 146, 204, 238, 239, 312, 313, 318-325, 327-330, 333, 334, 336, 337, 339, 343, 350 Adressat, Adressierung 9, 14, 15, 271-278, 285, 286, 288, 289, 300 Affix 3, 7, 8, 10, 11, 15, 17, 19, 20, 27, 29, 30, 33, 35-38, 40, 56, 57, 126, 162, 163, 166, 168, 169, 171-173, 280, 284, 285, 287, 290, 291, 324, 331, 334, 338 Affrizierung 169, 170, 172-174 Agglutination 318, 325, 327, 332, 337, 338, 352, 356 Akzent, Tonvokal 90, 94-104, 109, 110, 171 Allegorie 192, 193, 197
Sachregister
Allgemeinsprache 232, 261, 263 Analogie 10, 15, 31, 34, 48, 61-64, 66, 67, 72, 73, 78, 81, 82, 84, 85, 107-109, 113, 114, 122, 123, 132, 141, 145, 163, 181, 186, 187, 195, 252, 269, 270, 276, 283, 285-292, 296-298, 301-303, 305, 312, 319, 331, 334, 356 Analyse 18, 201, 206, 353-355 Anglizismen, Angloamerikanismen 48, 79, 113, 117, 120, 208, 233 Anlaut, Anlautmutation 10, 90, 94-96, 98104, 136, 160, 161, 164-166, 177 Anreicherung 181, 183, 185, 224 formale 356 semantische (siehe Bedeutungsanreicherung) Antonymie 221, 234, 324-326, 328 Appellativum 10, 91, 129-131, 133, 134, 139, 142, 143, 146, 147, 303 Arbitrarität 13, 21 Assimilation 11, 104, 107, 113, 136, 166, 186, 206 Assonanz 64, 70, 102 Assoziation 13, 14, 30, 125, 145, 161, 214, 219, 240, 314, 359 Attribut, Attributiv 15, 45, 49, 56, 84, 221, 223, 224, 320, 321, 323, 328-330, 334 Aufhellung 65, 71, 137, 309-311 Auslaut 11, 45, 95, 103, 123, 138-140, 142, 160, 162, 166, 168-173 Ausscheidung 7, 20, 111-114 Auxiliarisierung 191, 304 ȧbasisch’ (siehe auch: ȧminimal’, ȧvermehrt’) 271, 274-276, 278-284, 286, 287, 289, 290 Bedeutungsabschwächung 29, 255-257, 311, 313, 315, 326, 349, 350, 359 Bedeutungsanreicherung, Bedeutungsaufladung , Bedeutungsaufwertung 4, 5, 13, 14, 20, 115, 125, 188, 189, 246 Bedeutungsausbleichung 3, 12, 121, 124, 125, 188, 193, 194, 350 Bedeutungsdifferenzierung 78, 321, 322 Bedeutungsentleerung 15, 29, 356 Bedeutungskonkretisierung 189, 307 Bedeutungsspezifizierung 121, 144, 184 Bedeutungssuche 9, 14, 17 Bedeutungsverstärkung 13, 18, 74, 113 Bedeutungswandel 85, 114, 115, 218, 225, 242, 341, 344, 346, 350, 360, 361 Bedeutungszuweisung 113, 264
369 ȧbelebt’ 46, 54, 84, 120, 190-194, 343 Bewusstheit, Bewusstseinskonstitution 12, 20, 37, 77, 79, 90, 102, 191, 209, 213, 214, 216, 217, 219, 223, 225, 232, 236, 237, 240, 246, 250, 251, 253, 254, 259 Buchstabe 107, 109, 122 Darwinismus 41, 42, 44, 54, 55, 57, 238 Deanalyse 326, 332, 336 Degrammatikalisierung 3, 4, 18, 36-38, 51, 111, 129, 140, 144-146, 157, 158, 183185, 187, 188, 206, 269, 295, 307, 317, 318, 337, 350 Deidiomatisierung 11-13, 20, 21, 179, 199210, 226, 243, 356, 361 Dekodierung 90, 104 Dekomposition 12, 208, 209 Dekonstruktion 3, 66, 325, 326, 332 Delexikalisierung 3, 4, 12, 18, 111, 112, 114, 129, 144, 183-185, 215, 217-219, 222226, 240, 269, 308, 336 Delokution 17, 341-352, 355-361 Demorphologisierung 136, 318, 326, 327, 332, 333, 336, 337 Denotation 13, 214, 251, 256 Derivation 17, 18, 29, 30, 32, 34-37, 46, 48, 53, 54, 62, 240, 279, 314, 341, 342, 344346, 350, 360 Desegmentierung 10, 129, 136, 144, 146, 184, 195, 200, 307, 308, 315, 318, 326, 327, 332, 352, 356 Desemantisierung 3, 37-39, 55, 121, 132, 144, 158, 174, 184, 188, 318, 327, 332, 336, 337 Diminutiv 73, 132, 326 Disambiguierung 313 Diskurs, Diskursmarker 12, 210, 220, 226, 227, 242, 243, 245, 246, 251-253, 264, 341, 347, 350, 352, 356-358 Dissoziation 133, 137, 142, 147 Dual 53, 273, 274, 276-278, 282, 283, 301, 304 Eigenname (siehe auch: Onymie, Onymisierung; Onymische Morphologie) 22, 54, 107, 110, 112, 116, 122, 129, 130, 136140, 143-145, 147, 148, 205, 217 Beiname 83, 144 Berufsname 129, 131, 134, 139, 140, 148 Bootsname, Schiffsname 120 Ethnonym 88
370 Exonym 14, 22 Familienname 10, 110, 129-148 Herkunftsname 132, 138, 140, 146 Kosename 110 Markenname 90, 94, 101, 102, 122, 124 Patronym 131, 140, 143 Personenname 96, 107, 124, 138, 147, 148 Rufname 130, 131, 134-136, 138-140, 144-146, 356 Spitzname 124 Toponym 22, 112, 130-132, 134, 139, 140, 146, 147 Übername 131, 139, 140 Vorname 122, 124, 148 Zeitungsname 120 Endsilbenabschwächung 171, 173 Entkonventionalisierung 13 Entlehnung 38, 48, 68, 73, 78, 80, 114, 117, 159-162, 203, 311, 314, 344, 354 Entropie 205, 206, 209, 210 Entschmelzung 111, 112, 114, 144, 186, 317, 318, 325, 326, 332, 333, 337, 338 Epochenschlagwort, Emblem 14, 192, 247249, 261 Etymologie 60, 61, 67, 68, 72, 74, 75, 85, 90, 105, 114, 116, 122, 125, 126, 130, 131, 137, 143, 147, 159, 163, 185, 327, 339, 361 Etymologisierung 66, 72-74, 78, 135, 233235 Euphemismus 13, 219, 231, 237, 257, 258, 323 Evolution 22, 34, 39, 41-44, 47, 49, 50, 52, 54-57, 148, 302, 360 Exaptation 7, 8, 15, 22, 29, 30, 34-48, 50-57, 127, 138, 139, 144, 145, 148, 340 Explikation, Explizitheit 68, 71, 76, 84, 104, 110, 195, 213, 221-223, 291, 294, 295, 300 Expressivität, Expressive Verstärkung 44, 95, 189-193, 195 Extension 16, 47, 69, 253, 302 Fachsprache, Fachterminologie 13, 82, 116, 200, 218, 219, 223, 232, 235, 254, 258, 259, 261, 263, 264, 314 Flexion 7, 14, 23, 29, 30, 33, 35-38, 40, 45, 46, 69, 83, 84, 90, 102-104, 115, 166168, 270, 288, 289, 294-298, 300, 317, 331, 339 Form-Funktions-Beziehung 5, 186, 218
Sachregister
Formel 17, 193, 341, 342, 344-352, 357, 359 Fremdwort, Fremdwortintegration 66, 79, 84, 112, 114-116, 118, 126, 208 Frequenz, Häufigkeit 36, 38, 53, 63, 80, 81, 89, 104, 110, 130-134, 137, 139, 140, 142, 145, 161, 181, 183, 190-194, 205, 210, 217-219, 225, 232, 234, 242, 252, 254, 276, 285, 297, 298, 300, 311-313, 333, 342, 344, 346, 348, 351, 352, 354, 357-359 Fuge 110, 116, 136, 145 Funktion, Funktionalisierung, Funktionalität 7, 8, 10, 11, 17, 32, 34, 35, 37, 43, 44, 47-54, 57, 82, 84, 103, 111, 116, 125, 127, 129, 132, 138, 145, 158-163, 165, 166, 169, 174-176, 181, 188, 189, 196, 200, 211, 213, 215, 218, 222, 223, 225, 227, 253, 285, 294, 295, 309, 314, 315, 318, 319, 325, 327, 329, 330, 333, 334, 348, 350-352, 354, 358, 359 Funktionsverbgefüge 344, 345, 360 Gebrauchsbedingungen, Gebrauchswert 13, 14, 20-22, 67, 71, 73, 200, 215, 219, 224, 225, 229, 231, 234, 235, 242, 245, 262, 263, 318 generisch 213, 214 Genitiv 35, 83, 167, 168, 321 Genus 35, 45, 46, 54, 73, 84, 103, 160, 165, 226 Graduierung (siehe auch: Komparation) 17, 68, 320-338 Grammatikalisierung 3, 4, 12, 18, 21, 22, 29, 30, 34, 36, 37, 48, 53, 54, 56, 57, 84, 111, 121, 125, 126, 129, 132, 136, 144146, 157-160, 174-177, 181-189, 191, 194-198, 213, 215, 224, 226, 240, 269, 270, 276, 283, 285, 287, 288, 290, 291, 302, 307, 317, 337, 350, 358, 360-362 Grenzbildung 19, 95, 123, 136, 145, 160 Grenzverschiebung 93, 94, 98, 100, 132, 355 Habitualisierung 190, 193 Historische Vokabeln 215-217, 222 Höflichkeit (siehe auch: Honorativ, Respekt) 46, 54, 57, 271-275, 287, 289, 300 Hören 88, 90, 100, 101, 104, 108, 109, 138, 144, 185, 195, 224, 352, 354, 356-359 Holistik 3, 4, 18, 30, 32, 107, 112-114, 120, 144, 182, 184, 185, 307 Homonymie 51, 62, 71, 324, 325, 327, 331333, 335, 336, 338
Sachregister
Honorativ (siehe auch: Höflichkeit, Respekt) 46, 51-53, 273, 301 Hortativ 15, 287-289, 301, 304, 305 ȧhuman’ 45, 46, 54, 191, 193, 194 Hybridbildung 115, 121, 123 Hyperonymie – Hyponymie 310 Idiom 190, 196, 203, 208 Idiomatisierung 13, 18, 199-210, 213, 232, 233 Idiosynkrasie 38, 112, 182, 307 Imperativ (siehe auch: ȧbasisch’, ȧminimal’, ȧvermehrt’) 15, 269-272, 274-290, 300305 Imperfekt, Imperfektiv 272, 301 Inchoativ 31, 33, 145 Index, Indexikalität 11, 19, 77, 157, 158, 162, 163, 166, 168, 170, 174, 175 Indexanhebung 10, 162, 163, 174-176, 362 Inferenz 189, 356, 359 Infinitiv 33, 34, 145, 171, 191, 192, 194, 272, 279, 301 Inklusion (siehe auch: Klusivität) 271, 274278, 280, 282-287, 289 Intention 200, 234, 235, 239, 301, 313, 314 Ironie 229-231, 240-242, 255, 259, 262, 356 Irregularität 44, 112, 144, 184, 307 Junk 7, 22, 34, 36, 39, 44, 47, 50, 51, 53, 54, 56, 144, 148 Kasus 29, 35, 45, 46, 48, 53, 57, 166, 167 Katalyse 125, 181, 189, 195 Kausativ 31, 33, 145 Klammer 292, 293 Klassenbildung 7, 32, 35, 36, 71, 83, 130, 132, 166-169, 186, 191 Klitikon 35-37, 103, 106, 160, 269, 270, 279, 280, 283-285, 290, 291, 293-295, 297300, 304, 358 Klusivität (siehe auch: Inklusion) 270, 274, 275, 301-303 Kodierung (siehe auch: Symbolisierung) 5, 6, 14, 16, 49, 104, 163, 164, 166, 172, 175, 353-355 Koiné 353, 355 Kollokation 190, 230, 239, 242 Komparation (siehe auch: Graduierung) 318339 Komparativpositiv 17, 148, 317-320, 323327, 331, 333, 338 Kompetenz 9, 90, 102
371 Komplexität 3, 12, 30, 32, 45, 59, 68, 77, 79, 101, 108, 112, 144, 182, 184, 185, 199, 201, 206, 224, 280, 308, 310, 313, 315, 356 Komposition 4, 9, 12, 13, 15-17, 19, 22, 31, 32, 63, 64, 68-71, 82, 111, 117, 118, 134, 136-139, 144, 145, 147, 199-204, 209, 210, 213, 214, 216, 219, 220, 222225, 233, 234, 236, 238, 239, 242, 308315, 319, 356 Kompositionalität 3, 8, 17, 19, 20, 32, 182, 183 Konfix 9, 10, 20, 39, 105, 107, 111, 112, 114118, 121-123, 125, 126 Kongruenz, Kongruenzmarker 269, 270, 288, 298, 300, 301 Konjugierte Antwortpartikel 299-301 Konjugierte Konjunktion 270, 291-293, 295, 297-299, 301 Konjunktion 348, 350 Konnotation 13, 14, 20, 63, 76, 78, 131, 230, 251, 256, 259, 262, 314 Konstruktioneller Ikonismus 10, 37, 38, 181, 185, 195, 285 Konstruktionsebenen 3, 4, 12, 18, 112, 144, 182, 184, 307 Kontamination 90, 105, 241 Kontext, Kontextabhängigkeit der Bedeutung innertextlich 30, 33, 36, 62, 82, 84, 91, 105, 125, 189, 190, 194, 313, 331 situativ 14, 20, 46, 66, 77, 79, 80, 109, 189, 204, 221, 223, 235 Kontiguität 3, 198, 345-347 Konventionalisierung, Konventionalität 13, 190, 193, 213, 214, 216-218, 225, 348, 350, 355, 357, 358 Konversion 30, 33, 34, 313 Kurzwort 77, 82, 113, 117, 118, 125-127, 311 Lautähnlichkeit 8, 9, 19, 87, 89, 91-93, 116, 123, 231 Lautgestalt 9, 87-94, 98-101, 103, 104, 127, 265 Lautsubstanz 3, 7, 8, 10, 15, 18-20, 30, 36, 107, 112, 144, 145, 147, 182, 184, 185, 307, 308, 318, 325, 326, 332 Lexemstatus 8, 10, 14, 19, 29, 33, 36, 37, 49, 60, 75, 104, 107, 109-111, 113, 115, 116, 122, 125, 137, 161, 174, 201, 239, 308, 318, 321, 325, 341, 350, 351, 352, 356
372 Lexikalisierung 3, 18, 32, 67, 84, 109, 112, 114, 129, 136, 144, 158, 182, 184, 187, 191, 197-200, 206, 211, 213, 215-224, 226, 232, 233, 307, 308, 318, 347, 350, 356 Lexikon 29, 33, 35, 37, 38, 62, 83, 130, 182, 183, 191, 344, 362 Lexikoneintrag 63, 164, 322 Liaison 101, 103 Lokaladjektiv 318-320, 323-325 Malapropismus 92 Markiertheit semantische 5-7, 37, 77, 104, 164, 174, 185, 245, 251, 252, 254, 261, 262, 264, 271, 276 ausdrucksseitige, Merkmalhaftigkeit 5-7, 11, 49, 132, 294, 301, 321, 331, 334 Memorierung, Gedächtnis 60, 87, 131, 313 Merkmal, lautliches (siehe: Lautgestalt) Merkmal, semantisches 15-18, 20, 45, 46, 49, 52, 111, 130, 193, 194, 203, 204, 214, 296, 308, 312, 320, 325, 326, 330, 336, 337, 341 Metaphorik 11, 68, 80, 190-192, 199, 203, 206, 231, 235, 236, 238, 239, 241, 252, 263, 265, 359 Metathese 136, 137, 146 Metonymie, Bedeutungsübertragung 17, 198, 345-350, 359, 361 ȧminimal’ (siehe auch: ȧbasisch’, ȧvermehrt’) 271, 274-276, 278-284, 286, 287, 289, 290 Modalausdruck, Modalpartikel 160, 350, 356362 Modalität 269, 320, 361 Modalverb 191, 194, 196, 197 Modifikation, innere, Introflexion 11, 163, 166, 168, 169 Mondegreen 9, 87-102, 104, 105, 127, 265 Morphemstatus 4, 7, 10, 29, 36, 50, 53, 111, 129, 137, 159, 160, 162-164, 169, 189, 283, 295, 325, 332 Morphologisierung 11, 29, 50, 158, 161, 163, 166 Morphonologie 160, 162, 163, 168, 170-173, 175, 177 Motiviertheit 4, 6, 7, 10, 11, 16, 17, 21, 51, 64, 68, 112, 136, 139, 166, 185, 194, 195, 307, 351, 352, 359
Sachregister
Muster, Musterbildung, Musterwort 31, 38, 49, 66, 69, 82, 83, 102, 108, 116, 118, 120-122, 135, 137, 138, 158, 160, 172, 174, 186, 193, 233, 234, 237, 238, 241, 242, 282, 285, 292-295, 297, 298 Nachschöpfung 87, 90, 91, 95, 97, 101-104, 106, 127, 265 Natürliche Morphologie und Phonologie, Natürlichkeit 5-7, 22, 91, 127, 147, 162, 177 Neologismus, Neuschöpfung 39, 115-117, 122, 123, 126, 190, 192, 225, 232, 241, 252, 265 Neuidiomatisierung 12, 199, 201, 203, 204, 206-208, 210, 226, 243, 361 Neumotivierung 74, 201, 205 Neusegmentierung 183, 185, 224 Nomen acti, Nomen actionis 313 Nomen agentis 129, 137, 138, 140 Nomination 232, 237-239, 242 Norm 61, 74, 78, 227, 240 Numerus 5, 6, 35, 46, 49, 53, 103, 160, 163, 170, 171, 294 Öffentliche Kommunikation 12, 59, 200, 210, 211, 213, 215, 218, 219, 222-227, 229-232, 235-237, 240, 242, 243, 245247, 251-253, 259-262, 264, 265 Ökonomie, sprachliche 86, 106, 146, 177, 189, 239, 308, 313 okkasionell 109, 121, 124, 125, 222, 225, 230 Onomatopoetikon, Lautmalerei 68, 106, 265 Onymie, Onymisierung 10, 110, 122, 123, 136, 144 Onymische Morphologie 10, 53, 57, 110, 126, 129-133, 141, 142, 144-148, 361 Opakheit, Undurchsichtigkeit 3, 4, 18, 87, 91, 107, 109, 112, 114, 125, 130, 136, 137, 144, 145, 159, 184, 205, 209, 307, 325, 331, 332, 354, 356 Palatalisierung (siehe auch: Umlaut) 48, 169, 170, 172 Paradigma 6, 14, 29, 32, 47, 71, 102, 107, 110, 113, 114, 116, 118, 120, 148, 163, 165, 166, 175, 183, 187, 188, 246, 281, 290, 291, 294, 295, 302, 304, 333 Paronomasie 90, 101, 104, 106, 265 Partizip 38, 74, 142, 223, 224, 313 Perfekt, Perfektiv 44, 142, 289, 301, 343, 357
Sachregister
Performanz 9, 102, 104, 105 Performativität 346-349, 360 Person 46, 52, 53, 164, 165, 171, 172, 270272, 275-280, 282-291, 293-296, 298, 300-302, 304, 343, 348, 352, 357 Personifizierung 11, 12, 96, 122, 181, 189195, 197 Perzeption 105 Phraseologismus 3, 4, 88, 93, 112, 144, 182, 184, 190, 193, 196, 201, 207, 307 Plastikwort 314, 315 Pleonasmus, Verdeutlichung 5, 15-19, 21, 58, 66, 69, 72, 76, 77, 82, 188, 259, 309312, 314, 315 Pluralbildung 4, 6, 7, 15, 22, 44, 46, 48, 52, 53, 57, 83-85, 90, 102-105, 160, 162, 163, 165, 169,-171, 270-272, 274-282, 284-291, 295, 296, 298, 300, 301, 304 Politische Korrektheit 216-218, 251, 252 Politischer Diskurs 12, 14, 20, 200, 211, 213, 215, 218, 220-227, 231, 243, 245, 251, 253, 255, 262, 265 Polyphonie 357-360 Polysemie 62, 313, 315, 331, 361 Portmanteaumorphem 158, 163-167, 169, 171, 173, 174, 176 Possessiv 15, 18, 35, 132, 164-166, 185, 343, 352, 355, 361 Prädikation 214, 216, 217, 222, 225, 289 Prädikativ 15, 18, 320, 329, 330, 334 Präfix 63, 75, 171, 217, 271, 280, 284, 287, 312 Produktivität 31-33, 36, 48, 102, 104, 111, 125, 131-133, 140, 145, 166, 167, 169, 173, 239, 271, 312, 319 Proportionsgleichung, Proportionsgruppe 64, 186 Pseudomorphem 6, 114, 125 Reanalyse 7-11, 15, 17-23, 27, 31, 34, 38, 46, 68, 108, 126, 130, 132, 137-140, 142, 145, 161, 170, 175, 184, 185, 187, 196, 201, 205, 207, 209, 290, 317, 349, 351, 354-356, 359, 361 Rechtschreibreform 72, 74, 78 Reduktion 29, 77, 96, 103, 104, 118, 139, 160, 181, 183, 187-191, 193, 195, 311, 326 Redundanz 310, 311
373 Referenz 13, 57, 107, 130, 183, 197, 216, 217, 220, 222, 224, 225, 253, 273, 278, 285, 286, 288, 308, 310, 320, 323, 324, 329, 330, 334, 351, 353-356 Regionalismus 104, 233, 234 Regrammatikalisierung 4, 22, 45, 57, 337 Reihenbildung 10, 62, 63, 114, 238, 240-242, 312, 331 Reim 102, 104 Reinterpretation 31-33, 35, 69, 70 Rekonstruktion 3, 71, 87, 101, 105, 161, 185, 186, 313, 347, 354 Rekonstruktioneller Ikonismus 4, 10, 37-39, 56, 85, 105, 126, 145, 147, 176, 181, 185, 186, 188, 195, 197, 210, 227, 265, 303, 307, 308, 315, 317, 339, 361 Rekontextualisierung 11, 13, 14, 20, 21, 179 Remotivierung 7-10, 12, 13, 15, 17-22, 27, 77-79, 110, 112, 114, 129, 137, 144, 147, 158, 159, 181, 183, 184, 194, 195, 200, 205, 210, 211, 213-226, 234, 237, 243, 265, 307, 308 Resegmentierung 7, 9, 10, 19, 107, 109, 114, 129, 144, 183, 184, 203, 206, 226 Resemantisierung 20, 217, 224, 332 Respekt (siehe auch: Höflichkeit, Honorativ) 46, 53, 54, 57, 271, 272, 274, 300, 304 Restitution 17, 321, 325, 331, 332, 337 Restrukturierung 107, 187 Rhythmus, Takt 90, 94-105, 312 Routine 17, 252, 350, 358, 359 Salienz 6, 7, 104, 348, 354 Schema 102, 105, 135, 137, 344, 345 „Schönstes Wort“ 8, 22, 59, 60, 62, 65, 68, 70, 73, 85, 215 Sekretion formale, morphologische 7, 9, 15, 17, 18, 20-22, 29-39, 50, 56, 57, 85, 105, 107, 111-114, 116-118, 121, 122, 125127, 144, 147, 148, 176, 181, 197, 210, 224, 227, 265, 303, 307, 315, 317, 318, 320, 326, 327, 334, 336, 338-340, 361 lexikalische 9, 17 semantische 15, 17, 20, 21, 317, 318, 320, 323, 325-327, 331, 334, 336, 338 Sekundäre Semantische Motivierung 8, 10, 15, 17, 19, 20, 27, 71, 129 Selbstorganisation 206 Selektion, Selektionsbeschränkung 34, 42, 131
374 Semantisierung 5, 8, 10, 37, 38, 145, 159, 216, 217, 220, 224, 225, 308 Sexus 132, 226 Silbe, Syllabizität 8, 45, 48, 78, 83, 80, 94, 95, 97, 99, 102, 103, 105, 109, 110, 112, 123, 126, 136-138, 142, 148, 160-162, 166, 168, 169, 171, 173, 296, 312 Simplex, Simplizium 3, 4, 8, 19, 136, 137, 185, 224, 311, 312 Situation 14, 46, 65, 109, 195, 345-347, 349, 351-355 Spannung, Eutension 12, 21, 201-210 Spracherwerb 5, 91, 147, 185, 224, 348, 349, 352-355 Sprachgebrauch 77, 80, 84, 116, 117, 174, 211, 213, 215, 218, 224-227, 229, 230, 234, 240, 242, 243, 245, 246, 257, 265, 304, 314, 334 Sprachhandlung, Sprechakt 17, 20, 104, 246, 271, 274, 275, 345-347, 349, 357, 359 Sprachkontakt 159, 161, 344, 348, 349, 352, 353, 355 Sprachkritik 13, 85, 200, 211, 214, 216, 220, 226, 227, 229, 230, 234, 243, 253, 254, 257, 261, 265 Sprachspiel, Wortspiel 9, 12, 20, 50, 107-109, 111, 200, 207-210, 225, 241 Sprachwandel 5, 34, 35, 37, 38, 40, 41, 45, 52-54, 56, 91, 102, 103, 130, 148, 158, 163, 177, 181, 183, 186, 187, 189, 197, 215, 218, 224, 225, 227, 229, 240, 307, 317, 341 Sprichwort 207, 208 Stamm 7, 16, 19, 32, 33, 48, 185 Statusanhebung 7, 33, 112, 140, 144-146, 158, 159, 174, 182, 184, 206, 251, 307, 327, 350 Statusminderung 3, 112, 136, 144, 174, 182, 184, 188, 251, 326, 327, 332, 336 Stil 67, 68, 76-78, 81, 85, 196, 247, 311 Strukturabbau 6, 32 Strukturaufbau 29, 32, 89, 315 Submorphem 4, 22, 112, 137, 138, 140, 144146, 182, 184, 307 Substanziierung von Bedeutung 8, 14-17, 185, 285 Suffix 5, 6, 10, 11, 15, 29-36, 38, 46, 53, 54, 57, 61, 62, 110, 117, 122, 123, 126, 129132, 137, 139, 140, 142, 144-146, 148, 166, 168, 171-173, 185, 272, 284, 288, 312-314, 318-322, 324-326, 331-334, 336, 337, 344, 350, 361
Sachregister
Superkomparativ 318, 320, 323-325, 336, 338 Superlativ 319-321, 324, 327, 328, 331 Suppletion 37, 44, 163, 164, 166, 167, 169, 170, 173, 176, 177, 289, 327, 333, 334 Symbolisierung (siehe auch: Kodierung) 5, 6, 19, 104, 169 Synonymie 113, 118, 213, 310, 313, 327, 328, 334 Tabu, Tabubruch 76, 252, 253 Tautologie 15, 113, 240, 241, 309, 310 Tempus 49, 358, 360 Transparenz, Durchsichtigkeit 3, 4, 8, 12, 18, 19, 32, 63-65, 78, 87-89, 91, 92, 106, 109, 112, 113, 127, 131, 144, 184, 205, 209, 219, 224, 284, 307, 308, 315, 318, 325, 331, 334, 347, 356 Trial 276-278, 282, 301 Tropus 11, 190-192, 194 Umdeutung 9, 45, 69, 72, 74, 97, 120, 231, 264, 336, 337, 356 Umlaut 11, 48, 90, 102, 104, 136, 162, 163 Unidirektionalität, Irreversibilität 3, 10, 36, 39, 129, 157, 176, 177, 200, 205, 209, 317, 361 Uniformität 35, 104, 106 Unikales Morphem 69, 71, 309 Univerbierung 20, 158 Unterspezifikation 14, 88 „Unwort des Jahres“ 13, 200, 210, 211, 215, 218, 226, 227, 229-235, 237-243, 245, 246, 248, 249, 251-265 „Unwort des Jahrhunderts“ 238, 243, 248, 265 usuell 214 Variation 35, 42, 82, 158, 171, 197, 269, 291, 296 Verdunklung 22, 62, 136, 137, 147, 199, 210, 310 Verhörer 9, 21, 87, 90, 105, 109 Verkürzung 32, 136, 188, 311, 351 ȧvermehrt’ (siehe auch ȧbasisch’, ‘minimal’) 271, 274, 275, 277-290 Verschmelzung 11, 29, 31, 32, 64, 114, 122, 127, 136, 144, 145, 185, 186, 200, 205, 206, 208, 209, 317, 325, 326, 332, 336 Versfuß 96, 97, 99, 102, 136
375
Sachregister
Verstärkung [formale und semantische] 3-5, 7-22, 25, 29, 35, 39, 47, 48, 50, 51, 53, 54, 56, 57, 72, 85, 105, 120, 121, 126, 129, 138, 140, 145, 147, 176, 179, 181, 182, 184-191, 194, 195, 197, 199-201, 206, 208, 210, 211, 213, 215, 226, 227, 229, 231, 232, 237-239, 241, 242, 246, 251, 254, 265, 267, 269, 282, 291, 292, 301-303, 307-309, 311-315, 317, 318, 327, 332, 333, 337, 339, 341, 349, 350, 352, 356, 361 Verstärkung, Remotivierung, pragmatische 13, 20, 165, 188, 189, 196, 198, 225, 348, 350, 351, 360, 361 Verstärkung, rhetorische 194, 195 Vokalanhebung 159, 160, 172, 173 Volksetymologie 8-10, 15, 17, 19, 20, 22, 27, 32, 69-72, 74, 75, 84, 85, 90-94, 101, 102, 104-106, 112, 113, 120, 129, 137, 144, 183-185, 224, 252, 264, 265, 308, 336
Weltwissen, Präsupposition 5, 14, 20, 107, 216, 223, 350 Werbung 117, 122, 124, 127, 202, 203, 208, 225, 226, 230, 236, 240, 241, 315 Wörtlichnehmen 66, 190, 199-202, 207, 210, 214, 223, 234, 264 „Wort des Jahres“ 210, 226, 243, 245, 246, 251, 254 Wortbildung 7, 9, 12, 19, 29, 30, 37, 39, 57, 59, 66, 68, 71, 85, 106, 109-111, 113118, 120, 121, 124-127, 129, 136, 148, 210, 211, 217, 224-227, 234, 238-240, 255, 256, 263-265, 307-315, 317, 321, 339, 340, 342, 344, 345 Wortbildungsmuster 234, 238 Wortgrenze 93, 97, 100, 157, 201, 362 Wortkreuzung 9, 32, 39, 92, 94, 101, 102, 104, 105, 107, 109-111, 117, 118, 122125, 127 Wortschöpfung 106, 241, 252, 265 Zitat 201, 207, 208, 210, 230, 348, 356
Sprachen- und Sprachfamilienregister Afrikaans (siehe: Niederländisch) Albanisch 158, 169, 170, 176, 289, 302 Alemannisch (siehe: Deutsch) Altenglisch (siehe: Englisch) Altfranzösisch (siehe: Französisch) Althochdeutsch (siehe: Deutsch) Arabisch 70, 354, 355 Bagirmi (Nilosaharanisch, Tschad) 280, 284, 304 Bairisch (siehe: Deutsch) Balkansprachen 11, 169, 170, 303 Baltisch (siehe auch: Lettisch, Litauisch) 11, 171, 176 Bislama (siehe: Englisch Kreol) Brabantisch (siehe: Niederländisch) Bulgarisch 289 Chamorro (Austronesisch) 160, 161, 177 Deutsch, Hochdeutsch, Neuhochdeutsch 4, 8, 11, 21-23, 46, 48, 49, 51, 53-57, 59, 60, 62, 64-71, 73, 74, 76-86, 88, 90-93, 95, 101-106, 113-118, 122, 126, 127, 130, 131, 133, 136, 141, 142, 146-148, 162, 163, 191, 208, 210, 211, 226, 227, 229, 233, 243, 260, 265, 271, 291, 298, 304, 307, 309, 311, 315, 317-319, 323, 327, 330, 333-340, 344, 348, 349, 354, 357, 359, 361 Alemannisch, Walserdeutsch 46, 53 Althochdeutsch 6, 7, 48, 69, 75, 103, 134, 135, 162, 191, 309-311, 319, 323, 338-340 Bairisch 51, 52, 57, 104, 106, 107, 142, 300, 301 Frühneuhochdeutsch 115, 311, 319, 339 Jiddisch 48, 68 Mitteldeutsch 114, 146 Mittelhochdeutsch 140, 191, 193, 247, 299, 309, 311, 319, 340 Niederdeutsch 45, 53, 57, 68, 74, 75 Norddeutsch 75, 234 Oberdeutsch 85, 319, 323
Österreichisches Deutsch 75, 123, 323, 333 Ostfränkisch 22, 184, 185 Ostmitteldeutsch 139, 142 Schlesisch 138, 139, 142 Schweizerdeutsch 323 Süddeutsch 75, 234 Thüringisch 22, 138, 184, 185 Englisch 10, 15, 18, 22, 30, 32-36, 38-40, 48, 70, 75, 79, 81, 95, 100, 101, 103, 104, 106, 113, 117, 127, 145, 147, 198, 208, 210, 211, 221, 231, 277, 283, 284, 303, 305, 343, 350, 351 Altenglisch 30, 32, 33 Frühneuenglisch 33 Mittelenglisch 30, 33 Englisch Kreol Bislama (Vanuatu) 276-278, 302 Tok Pisin 34 Estnisch 158, 166-168, 177 Ewondo (Bantu, Kamerun) 284 Finnisch 48, 53, 166 Flämisch (siehe: Niederländisch) Französisch 76, 85, 101, 103, 198, 344, 345, 347, 351, 353, 354, 361 Altfranzösisch 351, 355, 362 Québec-Französisch 342, 344-348, 353 Französisch Kreol (Guyana, Karibik) 342, 352, 353 Friesisch 291, 302 Frühneuenglisch (siehe: Englisch) Frühneuhochdeutsch (siehe: Deutsch) Germanisch 44, 55, 70, 71, 75, 76, 134-136, 298, 303, 339 Kontinentalwestgermanisch 291, 292, 299, 305 Griechisch 66, 70, 78, 114-116, 126, 289, 327 Holländisch (siehe: Niederländisch) Indogermanisch 44, 53, 103, 169, 327, 339
378
Sprachenregister
Italienisch 70, 159, 160, 161, 361 Mesocco-Lombardisch 284 Sizilianisch 159-161
Panoanisch (siehe: Matsés, Yaminahua) Polnisch 110, 130-132, 142, 146, 148 Portugiesisch (Brasilien) 342, 343
Jakutisch, Yakut (siehe: Türkisch) Jiddisch (siehe: Deutsch)
Québec-Französisch (siehe: Französisch)
Kabardisch (Kaukasisch, Russland) 281 Karibisch 91 Khakasisch (siehe: Türkisch) Kontinentalwestgermanisch (siehe: Germanisch) Kymrisch 158, 164-167, 177 Lateinisch 38, 68, 78, 114, 115, 126, 327 Lettisch 132, 146, 158, 171, 174 Litauisch 171 Maltesisch 10, 159-161, 176, 177 Matsés (Panoanisch, Peru) 281, 284, 303 Mazedonisch 289 Mesocco-Lombardisch (siehe: Italienisch) Mitteldeutsch (siehe: Deutsch) Mittelenglisch (siehe: Englisch) Mittelhochdeutsch (siehe: Deutsch) Mittelniederländisch (siehe: Niederländisch) Niederdeutsch (siehe: Deutsch) Niederländisch 45, 71, 91, 270, 292, 293, 294, 297, 298 Afrikaans 35, 36, 45, 49, 53, 56 Brabantisch 293 Flämisch 270, 291, 293, 294, 296, 297, 299-301 Holländisch 296 Mittelniederländisch 74, 299 Norddeutsch (siehe: Deutsch) Oberdeutsch (siehe: Deutsch) Österreichisches Deutsch (siehe: Deutsch) Ostfränkisch (siehe: Deutsch) Ostmitteldeutsch (siehe: Deutsch)
Romani (Russland) 286, 287, 304 Romanisch 71, 73, 79, 159, 160, 360, 361 Rumänisch 158, 169, 170, 176 Russisch 14, 118, 120, 270-272, 274, 278280, 284-290, 302 Schlesisch (siehe: Deutsch) Schorisch, Shor (siehe: Türkisch) Schwedisch 35, 36, 46, 53, 54, 69, 146 Schweizerdeutsch (siehe: Deutsch) Semitisch 160 Serbisch 289 Sizilianisch (siehe: Italienisch) Spanisch 160, 161, 177, 354, 355 Süddeutsch (siehe: Deutsch) Tamasheq (Berber, Mali) 279, 280, 282-284, 290, 303 Thüringisch (siehe: Deutsch) Tok Pisin (siehe: Englisch Kreol) Tschuwaschisch, Chuvash (siehe: Türkisch) Tswana (Bantu, Botswana) 282, 287, 288, 290, 302 Türkisch 273, 280-282, 287, 289, 290 Jakutisch, Yakut 281, 282 Khakasisch 281 Schorisch, Shor 282 Tschuwaschisch, Chuvash (Russland) 284 Warembori (Mamberamo, Indonesien) 276 Yaminahua (Panoanisch, Peru) 285, 291, 303 Yukatekisch (Maya, Yucatán, Mexiko) 289
Personenregister Abraham, Werner 4, 16, 158 Adams, Valerie 29, 39 Adelung, Johann Christoph 63, 72, 75, 85 Adorno, Theodor W. 66, 85 Algeo, John 31, 39 Anscombre, Jean-Claude 343, 344, 346, 347, 349, 360 Ariel, Mira 269, 302 Arnold, Anthony J. 50, 55 Augst, Gerhard 74, 75, 85 Autenrieth, Tanja 358, 360 Azzopardi-Alexander, Marie 276 Bach, Adolf 138, 147 Bär, Jochen A. 214, 226, 243, 265 Balke, Siegfried 214 Barbiers, Sjef 292, 295, 300, 302 Barz, Irmhild 308-310, 313-315, 362 Becher, Ilse 115, 116, 126 Bennis, Hans 302 Benveniste, Émile 17, 21, 341, 342, 344, 345, 347, 349, 360 Berning, Cornelia (siehe: Schmitz-Berning, Cornelia) Beyrer, Arthur 169, 176 Birjulin, Leonid A. 273, 302 Bisang, Walter 39, 55, 157, 176 Bittner, Andreas 157 Blakemore, Diane 350, 360 Blank, Andreas 359, 360 Bloch, Ernst 205 Bloomer, Robert K. 15, 21, 309, 311, 315 Bochmann, Klaus 169, 176 Böke, Karin 223, 224, 226, 227, 242, 265 Bond, Zinny S. 87, 90, 95, 105 Bonhomme, Marc 349, 352, 360 Booij, Geert 176, 177 Borchardt, Knut 222, 226 Borg, Albert 160, 176 Bouchard, Denis 42, 55 Brandt, Rüdiger 190, 192, 196 Braune, Wilhelm 319, 323, 338 Brechenmacher, Josef K. 135, 147 Brincat, Joseph 159, 176 Brinton, Laurel J. 29, 32, 36, 39, 45, 55
Bronsert, Siegfried 169, 176 Brückner, Dominik 60, 85 Buchholz, Oda 169, 176, 289, 302 Büchmann, Georg 208, 210 Bühler, Karl 89 Bukeviÿiŝtė, Elvira-Julia 171, 176 Burian, Richard M. 43, 55 Busse, Dietrich 242 Butterfield, Sally 90, 100, 105 Bybee, Joan 358, 360 Campbell, Lyle 36, 39, 157, 176 Campe, Joachim Heinrich 74, 76, 77 þernyx, P. Ja. 272, 302 Chafe, Wallace L. 270, 302 Chaudenson, Robert 353, 360 Chomsky, Noam 42, 56 Claudi, Ulrike 159, 177, 191, 197 Claudius, Matthias 9, 88 Clausius, Rudolf 205, 209 Cole, Desmond T. 287, 288, 302 Corbett, Greville G. 289, 302 Creissels, Denis 288 Croft, William 45, 46, 48, 50, 55 Crowley, Terry 276, 277, 302 Curtius, Ernst Robert 192, 196 Cutler, Anne 90, 100, 105 Cysouw, Michael 273, 274, 287, 302 Dahl, Jürgen 219, 226 Dal Negro, Silvia 46, 55 Dammel, Antje 129 Daniel, Michael 287, 302 Darwin, Charles 41, 42, 44, 54, 55, 57, 238 Dasher, Richard B. 189, 198 De Cuypere, Ludovic 44, 55 De Groodt, Sarah 4, 22, 55-57 De Meersman, Alfons 297, 302 De Schutter, Georges 295, 302 De Vogelaer, Gunther 14, 269, 292-299, 302 Dennett, Daniel C. 44, 55 Detges, Ulrich 17, 195, 196, 341, 342, 344, 346, 350, 351, 356, 358, 360, 361 Devos, Magda 302 Dietz, Hans-Ulrich 191, 196
380 Diewald, Gabriele 4, 11, 18, 21-23, 40, 57, 125, 126, 157, 177, 181, 183, 189, 191, 196-198, 224, 226, 269, 302, 338, 340, 358, 361 Dittmaier, Heinrich 139, 147 Dobrushina, Nina 270, 273, 302, 305 Donalies, Elke 111, 126, 224, 226 Donohue, Mark 276 Doyle, Aidan 317, 338 Dressler, Wolfgang U. 11, 21, 91, 95, 105, 106, 125, 126, 162, 176, 177 Drews, Jörg 208 Dryer, Matthew S. 298, 299, 303, 305 Ducrot, Oswald 356, 361 Duke, Janet 46, 55 Eckert, Rainer 171, 176 Eichinger, Ludwig M. 4, 8, 16, 59, 60, 62, 63, 68, 84, 85, 206, 210, 215, 226, 314, 315, 356, 361 Eisenberg, Peter 123, 126, 339 Eitz, Thorsten 247, 265 Endruschat, Annette 157 Engel, Ulrich 323, 339 Engels, Friedrich 220 Erhard, Ludwig 221 Eroms, Hans-Werner 13, 14, 200, 210, 215, 218, 226, 229, 232, 234, 237, 243, 245 Faiß, Klaus 33, 39, 199, 210 Faust, Norma 285, 303 Fiedler, Wilfried 169, 176, 289, 302 Filimonova, Elena 274, 302-304 Fill, Alwin 12, 21, 199, 205, 210, 215, 225, 226, 240, 243, 356, 361 Fillmore, Charles J. 191, 196 Fischer, Olga 4, 21, 197, 198 Fitch, W. Tecumseh 42, 56 Fleck, David W. 281, 303 Fleischer, Wolfgang 138, 147, 308-310, 313315 Fodor, Jerry 42, 55 Foerster, Heinz von 206 Fradin, Bernard 9, 21, 121, 123, 125, 126 Freese, Peter 205, 206, 210 Freytag, Wiebke 192, 193, 197 Fristrup, Kurt 50, 55 Fromkin, Victoria A. 87, 105, 106 Frumhoff, Peter C. 43, 55 Gaeta, Livio 48, 55 Galle, Richard 193, 197
Personenregister
Gallmann, Peter 21 Gamillscheg, Ernst 355, 361 Gao, Yali 67, 85 Gauger, Hans-Martin 66, 67, 85 Giacalone Ramat, Anna 106 Givón, Talmy 29, 39, 269, 303 Goeman, Ton 291, 294, 296, 303 Goethe, Johann Wolfgang von 59, 208 Gottschald, Max 135, 138, 139, 147 Gould, Stephen J. 43, 44, 51, 52, 55 Goussev, Valentin 269, 270, 273, 302, 305 Grass, Günter 313, 315 Greenberg, Joseph H. 37, 39, 55 Greenberg, Robert D. 289, 303 Griesbach, Thorsten 233, 243 Grimm, Jakob 196, 232 Grimm, Wilhelm 196, 232 Gründler, Hartmut 219, 226 Haarmann, Harald 206, 210 Hacke, Axel 9, 21, 22, 87, 88, 92, 93, 96-98, 105 Haegeman, Liliane 270, 303 Harig, Ludwig 65 Harnisch, Rüdiger 3, 4, 10, 14, 15, 19, 22, 37, 39, 50, 56, 84, 85, 89, 105, 111, 112, 121, 126, 129, 136, 137, 144, 145, 147, 157, 158, 176, 181-189, 194, 195, 197, 199, 200, 210, 213, 215, 224-227, 251, 264, 265, 269, 285, 303, 307, 308, 315, 317, 326, 332, 336, 338, 339, 350, 356, 361 Haspelmath, Martin 37, 39, 123, 126, 157, 177, 197, 298, 303, 305, 358, 361 Hauser, Marc D. 42, 56 Heath, Jeffrey 41, 56, 279, 303 Heidegger, Martin 66 Heine, Bernd 18, 22, 34, 39, 55, 159, 177, 191, 197, 198, 284, 303 Heiske, Harald 214 Hellinger, Marlis 214, 227 Henne, Helmut 85, 339 Herberg, Dieter 116, 126 Heringer, Hans Jürgen 82, 85, 224, 226, 227, 243 Hermanns, Fritz 214, 227 Himmelmann, Nikolaus P. 36, 39, 55, 157, 176 Hinze, Friedhelm 171, 176 Hoberg, Rudolf 251, 265 Hoekstra, Eric 292, 303 Hölker, Klaus 361
381
Personenregister
Hoffmann, Sebastian 269, 303 Holzberg, Niklas 116, 126 Hopper, Paul J. 29, 39 Hotzenköcherle, Rudolf 103, 105 Hünnemeyer, Friederike 159, 177, 191, 197 Huth, Karin 157 Idiatov, Dmitry 269 Ilari, Rodolfo 342-344, 357, 361 Isxakova, Xoršid F. 273, 303, 304 Itkonen, Elsa 269, 303 Jakobson, Roman 49, 56 Janda, Richard D. 39, 41, 56, 198 Jelinek, Elfriede 209 Jespersen, Otto 7, 15, 20, 22, 30, 31, 33, 37, 39, 61, 111, 126, 317, 339 Joffe, Josef 253 Johnson, Mark 263, 265 Joseph, Brian D. 39, 198 Joseph, Richard D. 41, 56 Jung, Matthias 218, 219, 227, 242, 265 Kämper, Heidrun 85 Kämper-Jensen, Heidrun 339 Kahl, Wilhelm 191, 192, 197 Kathol, Andreas 292, 303 Kay, Paul 191, 196 Keller, Evelyn F. 55-57 Keller, Rudi 41, 56 Kempcke, Günter 328, 339 Kingsolver, Joel G. 43, 56 Kiparsky, Valentin 272, 304 Klann-Delius, Gisela 214, 227 Klemperer, Victor 248, 265 Klopper, R. M. 49, 54, 56 Kluge, Friedrich 61, 63, 73-76, 85, 91, 105, 113, 115, 126, 137 Knobloch, Clemens 157, 177 Kobler-Trill, Dorothea 117, 118, 126 Koch, Günter 4, 9, 22, 32, 39, 92, 105, 107, 269 Koch, Peter 342, 345-347, 355-361 Koehl, M. A. R. 43, 56 König, Ekkehard 189, 198, 303 König, Werner 143, 147 Köpcke, Klaus-Michael 90, 102, 105, 157 Kohlheim, Rosa 133-135, 139-142, 147 Kohlheim, Volker 133-135, 139-142, 147 Korlén, Gustav 243, 248, 265 Kotzé, Ernst F. 45, 56 Koziol, Herbert 39
Krieg, Ulrike 315 Krieg-Holz, Ulrike 4, 17, 307 Krünitz, Johann Georg 76 Kunze, Konrad 134, 143, 148 Kuteva, Tania 284, 303 Lakoff, George 263, 265 Larcher, Pierre 351, 361 Lass, Roger 7, 22, 33-35, 37, 39, 41, 42, 44, 45, 47, 48, 50, 51, 53, 56, 144, 145, 148 Lausberg, Heinrich 190, 192, 197 Lavotha, Ödön 166, 177 Lee, Duk Ho 64, 85, 312, 315 Lehmann, Christian 3, 4, 21, 22, 34, 39, 157, 174-177, 182, 183, 187-189, 191, 193, 197, 269, 304, 317, 339, 343, 350, 361 Leiss, Elisabeth 4, 14, 22, 157 Létoublon, Françoise 360, 361 Leuschner, Torsten 4, 22, 55-57 Lewontin, R. C. 43, 55 Lexer, Matthias 114, 126 Lieber, Rochelle 163, 177 Limbach, Jutta 8, 22, 85 Lindström, Therese Å. M. 35, 40, 45, 56, 197 Link, Jürgen 214, 227 Linnartz, Kaspar 135, 148 Lipka, Leonhard 199, 201, 211 Lommatzsch, Erhard 351, 362 Loos, Eugene E. 285, 303 Loporcaro, Michele 284, 304 Lüdtke, Helmut 197 Lühr, Rosemarie 21 Luschützky, Hans Christian 163, 177 Marchand, Hans 30, 31, 38, 40 Matthews, Peter H. 175, 177 Mausser, Otto 318, 339 Mayerthaler, Willi 5, 22, 127, 147, 185 McKinney, Michael L. 43, 56 McMahon, April M. S. 41, 42, 45, 56 Meibauer, Jörg 358, 361 Meillet, Antoine 186, 187, 197, 269, 304 Mel’ÿuk, Igor 163, 177 Meringer, Rudolf 90, 106 Mettouchi, Amina 269 Miestamo, Matti 269, 304 Moritz, Karl Philipp 76, 79, 85 Mortelmans, Tanja 4, 22, 55-57 Müller-Bollhagen, Elgin 311-315 Mufwene, Salikoko S. 50, 56 Mugdan, Joachim 176, 177 Muthmann, Gustav 142, 148
382 Nagel, Rainer 31, 40 Nasilov, Dmitrij M. 273, 282, 303, 304 Nedjalkov, Igor 271 Nevskaya, Irina A. 273, 281, 282, 287, 304 Newmeyer, Frederick J. 36, 40 Norde, Muriel 4, 21, 22, 35, 37, 40, 46, 57, 197 Norris, Dennis 90, 100, 105 Nübling, Damaris 10, 53, 57, 103, 106, 110, 126, 129, 132, 133, 143, 148, 157, 297, 304, 356, 361 Objartel, Georg 85, 339 O’Connor, Catherine 191, 196 Ohly, Friedrich 192, 197 Olschansky, Heike 8, 22, 85, 92, 93, 106 Orr, Robert A. 42, 57 Ortner, Lorelies 309, 311, 315 Pagliuca, William 360 Panther, Klaus-Uwe 21, 22 Paul, Hermann 7, 22, 64, 69, 74-76, 85, 105, 106, 148, 186, 197, 327, 334, 339 Peilicke, Roswitha 194, 197 Perkins, Revere 360 Perridon, Harry 4, 21, 197 Pfeifer, Wolfgang 61, 85, 112, 114, 115, 126, 339 Pierrot, Alain 360 Plank, Frans 300, 345, 349, 362 Podlesskaya, Vera I. 271, 272, 304 Pörksen, Uwe 314, 315 Polenz, Peter von 214, 220, 227 Politycki, Matthias 82, 83, 85 Preston, Beth 44, 55, 57 Prigogine, Ilya 206 Pusch, Luise F. 214, 227 Radden, Günter 21, 22 Ramat, Paolo 157, 177, 317, 339 Reard, Louis 112 Reeve, H. Kern 43, 55 Reh, Mechthild 18, 22 Reich-Ranicki, Marcel 256 Reiffenstein, Ingo 319, 323, 338 Ritt, Nikolaus 41, 50, 57 Rohdenburg, Günter 45, 57 Ronneberger-Sibold, Elke 9, 87, 90, 92, 94, 104, 106, 109, 110, 117, 118, 127, 157, 176, 177, 264, 265 Rusakov, Alexander Yu. 286, 304
Personenregister
Sachs, Hans 64 Safarov, Šaxrijor S. 303, 304 Sanders, Daniel 75 Sapir, Edward 45 Schadeberg, Thilo C. 273, 275, 284, 287, 288, 290, 304 Schalley, Ewa 14, 269 Scheuringer, Hermann 57 Schiewe, Jürgen 253, 265 Schleicher, August 54, 57 Schlosser, Horst Dieter 13, 14, 200, 211, 215, 218, 227, 229, 243, 249, 252, 253, 255, 259, 260, 265 Schmid, Hans Ulrich 109, 110, 126, 127 Schmitz-Berning, Cornelia 247, 265 Schönig, Claus 282, 304 Schulz, Matthias 109-111, 127 Seebold, Elmar 61, 73, 74, 85, 91, 105, 126 Shakespeare, William 208, 210 Siewierska, Anna 298, 304 Simon, Horst J. 8, 35, 40, 41, 46, 49, 51, 53, 57, 129, 145, 148, 269, 275, 299-301, 304 Smessaert, Hans 299, 304 Smith, Adam 235, 236 Smits, Caroline 292, 303 Sobkowiak, Wâadimierz 90, 106 Söderpalm Talo, Ewa 95, 106 Solms, Hans-Joachim 319, 339 Sonderegger, Stefan 48, 57, 139, 148 Sowa, Michael 87, 88, 92, 93, 96-98, 105 Sperber, Dan 350, 362 Spieles, Martin 243 Stefanowitsch, Anatol 157 Stegmann, Ulrich 42, 57 Stein, Dieter 45, 55, 198, 353 Steinhauer, Anja 82, 86 Sternberger, Dolf 248, 265 Stevenson, R. C. 280, 304 Stickel, Gerhard 61 Stötzel, Georg 217, 226, 227, 243, 247, 265 Stolz, Christel 157 Stolz, Thomas 10, 11, 157, 159, 160, 164, 171, 177, 289, 355, 362 Storz, Gerhard 248, 265 Süskind, Wilhelm E. 248, 265 Szczepaniak, Renata 131, 132, 136, 140, 148 Szemerényi, Oswald 285, 305 Taeymans, Martine 269, 283, 305 Thränhardt, Dietrich 227 Tobler, Adolf 351, 362
383
Personenregister
Topping, Donald 160, 177 Traugott, Elizabeth C. 29, 32, 36, 39, 40, 55, 188, 189, 198 Trost, Igor 4, 15, 17, 20, 22, 129, 148, 269, 317, 320-324, 326, 339 Trubetzkoy, Nikolaj S. 89, 90, 106 Urdze, Aina 171, 177 van de Velde, Mark 269 van der Auwera, Johan 4, 14, 22, 157, 183, 198, 269, 272, 275, 283, 292, 302, 305, 317, 340 van der Ham, Margreet 302 van Marle, Jaap 22, 49, 56 Verdam, Jacob 299, 305 Vilmar, Fritz 255 Vilmar, Karsten 230 Vincent, Nigel 47, 57 Voss, Bernd 92, 106 Vrba, Elisabeth S. 43, 44, 51, 52, 55 Wagner, Doris 122, 127 Walser, Martin 252, 253 Waltereit, Richard 195, 196, 198, 351, 356360, 362 Wanner, Dieter 269, 305 Weerman, Fred 45, 57, 303 Wegener, Heide 4, 22, 48, 57, 358, 362
Wegera, Klaus-Peter 319, 339 Wehrli, Max 192, 198 Weinrich, Harald 83, 86 Weiss, Helmut 291, 292, 305 Wendorff, Rudolf 216, 227 Wengeler, Martin 12, 200, 211, 213, 214, 220, 226, 227, 234, 236, 242, 243, 264, 265 Werner, Otmar 104, 106 West-Eberhard, Mary J. 43, 57 Whitney, William D. 45 Wiemer, Björn 39, 55, 157, 176 Williams, Stephen J. 164, 177 Wilmanns, Wilhelm 319, 340 Wilson, Deirdre 350, 362 Wilss, Wolfram 313, 315 Wimmer, Rainer 243 Wischer, Ilse 4, 7, 9, 22, 23, 29, 40, 51, 57, 117, 127, 129, 145, 148, 157, 177, 183, 197, 198, 317, 338, 340 Wolfram von Eschenbach 192, 196 Wolken, Simone 227 Wright, Sylvia 87 Wurzel, Wolfgang U. 7, 19, 23, 163, 177, 185 Xrakovskij, Victor S. 273, 302-305 Zehetner, Ludwig 104, 106, 115, 116, 127 Zoder, Rudolf 135, 138, 139, 148