Parker >köpft< die Guillotine Ein neuer Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von Günter Dönges
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Parker >köpft< die Guillotine Ein neuer Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von Günter Dönges
»Sie haben sich natürlich wieder mal verfahren», räsonierte Lady Simpson grollend und deutete auf das Schloß jenseits des schmalen Flußarms. »Die letzte Trauerfeier dürfte dort vor ein paar hundert Jahren stattgefunden haben.« »Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit konsterniert«, räumte Butler Parker ein. »Das ist kein bewohntes Schloß, Mr. Parker, das ist eine Ruine.« »Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir erlauben, mich Myladys Eindruck und Feststellung anzuschließen.« »Und was jetzt?« Agatha Simpson, groß, stattlich, leicht reizbar und sehr unternehmungslustig, erinnerte rein äußerlich an die Walküre einer antiquierten Wagner-Inszenierung. Sie trug eines ihrer ausgebeulten, ungemein bequemen TweedKostüme und einen Hut, der eine abenteuerliche Kreuzung aus Südwester und Topfhut darstellte. »Mit Myladys Erlaubnis möchte ich noch mal die Einladung zur Trauerfeier studieren«, antwortete Parker, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Parker, ein Mann undefinierbaren Alters, mit ausdruckslosem Pokergesicht, stoppte sein hochbeiniges Monstrum
und griff in die Innentasche seines schwarzen Zweireihers. Josuah Parker war ein Butler, wie man ihn eigentlich nur noch in Filmen oder auf dem Bildschirm erlebte. Er schien das Relikt längst vergangener Zeiten zu sein. Seine Höflichkeit war irritierend und verleitete dazu, ihn zu unterschätzen. Zu seiner schwarzen Melone trug er einen rabenschwarzen Anzug, einen Eckkragen und einen schwarzen Binder. Sein altväterlich gebundener Regenschirm, von dem er sich so gut wie nie trennte, befand sich in einer speziellen Halterung neben seinem Sitz. Den Wagen, den er steuerte, konnte man wirklich nur noch als Monstrum bezeichnen. Es handelte sich um ein uraltes Londoner Taxi mit betont rechteckigem Aufbau und harten Kanten. Dieses Taxi war allerdings nach Parkers eigenwilligen Vorstellungen und Plänen umgestaltet worden, was das Innenleben des Gefährts betraf. Rein technisch gesehen bot es Überraschungen am laufenden Band und war als Trickkiste auf Rädern zu bezeichnen. Parkers Monstrum nahm es spielend mit jedem Tourenwagen modernster Bauart auf, doch darüber redete er nicht.
Er hatte inzwischen die Einladung zur Trauerfeier in seinen schwarz behandschuhten Händen und studierte noch mal die Orts- und Zeitangaben. »Ein Irrtum scheint ausgeschlossen, Mylady«, meldete er dann. »Dies dort drüben müßte Chapelle-sur-Loire sein.« »Das ist ein Trümmerhaufen«, stellte Mylady grimmig fest. »Die Türme sind halb eingestürzt, die Dächer halb abgedeckt. « »Der Wassergraben scheint allerdings noch intakt zu sein, Mylady.« »Ich will nicht baden, ich will an einer Trauerfeier teilnehmen«, erinnerte die ältere Dame gereizt. »Fahren Sie weiter! Vielleicht sind diese Leute verarmt.« Diese »Leute« waren sehr entfernte Verwandte der Lady Agatha Simpson, die mit dem Blut- und Geldadel der Britischen Inseln verwandt und verschwistert war. Darüber hinaus gab es natürlich auch weit verzweigte Seitenlinien, die zum Teil hier in Frankreich existierten. Dazu gehörten auch diese »Leute«, die Lady Simpson jetzt aufzusuchen gedachte. Das Schloß Chapelle-sur-Loire war für Lady Agathas Geschmack viel zu elegant, selbst im augenblicklich desolaten Zustand. Es handelte sich um ein Wasserschloß, das nur über eine morsch wirkende Zugbrücke zu erreichen war. Wie Parker bereits diskret angedeutet hatte, war der Wassergraben wohlgefüllt, wenngleich er auch einen leicht verschlammten Eindruck machte. Chapelle-sur-Loire bestand aus vier stämmig und untersetzt
wirkenden Rundtürmen, die die elegante Linienführung der Wohntrakte zusammenhielt. Es gab eine Vielzahl von spitzen Dächern, Giebeln und Erkern. Der Vorgänger eines gewissen Walt Disney schien hier bereits architektonisch gewirkt zu haben. Das märchenhaft Verspielte war noch deutlich zu spüren, wenngleich der Außenputz auch in großen Fladen abgeblättert war. Parker hatte die morsche Zugbrücke erreicht und hielt erneut. »Ich möchte meiner Befürchtung Ausdruck verleihen, daß Mylady hinsichtlich der Adresse getäuscht worden sind«, sagte er dann. »Nach Lage der Dinge dürfte es sich um das handeln, was man gemeinhin eine Falle nennt.« »Dann unternehmen Sie gefälligst etwas dagegen«, grollte die resolute Dame, ohne in Panik oder Angst zu geraten. »Ich glaube, daß ich ziemlich verärgert bin, Mr. Parker.« * Die beiden Gangster lagen auf der Lauer. Sie stammten aus Paris, hatten ihre speziellen Fähigkeiten gegen Bargeld vermietet und verfügten über einschlägige Erfahrung, über Gerissenheit und mörderische Energie. Darüber hinaus verfügten sie über je ein Gewehr mit Zielfernrohr. Sie hießen Paul und Jean, waren durchschnittlich aussehende Männer, etwa dreißig Jahre alt. Bisher war es ihnen gelungen, ihre Identität zu verschleiern. Sie nannten sich Paul und Jean, das reichte. Wer in der
Vergangenheit versuchte, mehr über sie zu erfahren, lebte längst nicht mehr. »Gleich werden sie aussteigen«, sagte Paul fast beiläufig. Er und sein Partner standen im rechten Brückenturm und besaßen erstklassiges Schußfeld. »Schneller kann man die Miete nicht verdienen«, antwortete Jean und lächelte zufrieden. »Teilen wir sie auf, Paul.« »Ich nehme die Lady«, sagte Paul. »Einverstanden.« Jean nickte. »Paßt mir durchaus. Einen Butler hatte ich noch nie.« Sie kontrollierten noch mal ihre Schießgeräte, denn sie waren ordentlich und nahmen ihren »Beruf« ernst. Dann warteten sie entspannt darauf, daß ihre Opfer diesen verrückt aussehenden, antiquierten Wagen verließen. Sie gingen von der Voraussetzung aus, daß ihre Opfer sich die Zugbrücke ansehen würden. Sie rechneten mit der menschlichen Neugier. »Anschließend lassen wir sie im Graben verschwinden«, erinnerte Paul und vergewisserte sich, daß der Schalldämpfer auch wirklich fest saß. »Samt Wagen.« Jean nickte und überprüfte ebenfalls den Schalldämpfer seines Gewehrs. Dann lachte er leise und spöttisch. »Etwas Abkühlung scheint er zu brauchen. Sieh dir das an!« Paul sah bereits. Aus dem Bereich des Kühlers stiegen weißliche Wasserdampfwolken empor, die sich schnell verstärkten und ausbreiteten.
Der Motor schien überhitzt zu sein, das Kühlwasser zu kochen. Die beiden Todesschützen beobachteten kopfschüttelnd das verrückte Schauspiel. Die Wasserdampfwolken aus dem Kühler wurden in Sekundenschnelle zu einer wahren Nebelbank, in der die bereits nur noch schwach erkennbaren Konturen des hochbeinigen Wagens untergingen. Diese Nebelbank breitete sich aus und hüllte bereits einen Teil der morschen Zugbrücke ein. »Da stimmt doch was nicht«, vermutete Paul, der plötzlich von einer seltsamen Unruhe erfaßt wurde. »Soviel Kühlwasser gibt's doch gar nicht.« Jean spürte leichten Schweiß auf seiner Stirn. »Was machen wir jetzt, Paul?« Paul war das kühle Hirn dieser beiden Gangster. Und Jean erwartete in dieser Situation eine klare Stellungnahme. Paul wollte antworten, doch er hüstelte leicht, bellte dann heftig und faßte an seinen Hals. Er hatte das Gefühl, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. Er ließ das Gewehr los, lehnte sich zurück und hustete erneut. Jean reagierte entsprechend. Er tat es wirklich nicht aus Sympathie. Auch seine Kehle wurde zugeschnürt. Er schnappte verzweifelt nach Luft, registrierte, daß der Raum sich bereits ebenfalls mit weißen Schwaden füllte, und kniete erst mal nieder. Die Beine kündigten ihm den Dienst. Paul schleppte sich mit letzter Kraft zur Wendeltreppe und wollte
ins Freie. Als er die beiden ersten Stufen geschafft hatte, verlor er das Gleichgewicht und kollerte haltlos nach unten. Er blieb auf dem ersten Zwischenabsatz dieser Wendeltreppe liegen und bekam schon nicht mehr mit, daß sein Partner Jean sich ihm zugesellte. Paul träumte, aber es war ein böser Alptraum. Er trieb im grenzenlos weiten Meer und wurde von schäumenden Wogen überrollt, die ihn bis auf die Haut näßten. Er hatte Luftschwierigkeiten und ging plötzlich unter. Er schlug mit Händen und Füßen um sich, erreichte wieder die Wasseroberfläche und sog gierig die notwendige Luft in die Lungen. Sekunden später wußte er, daß er keineswegs schlecht geträumt hatte, wenngleich er sich auch nicht im offenen Meer befand. Er saß bis zur Brust in einer trüben Brühe, die dazu noch jämmerlich roch. Er brauchte zusätzlich noch ein paar Sekunden, bis er begriff, in welch peinlicher Situation er sich befand, nämlich in einem hohen Gewölbe, das sein spärliches Licht aus einigen Maueröffnungen bezog, die früher mal Lichtschächte gewesen sein mußten. Neben ihm saß sein Partner Jean im Wasser. Er träumte noch, sackte dann aber zur Seite und tauchte unter. Hustend und prustend brachte Jean sich hoch, schlug um sich und war dann geistig wieder da. Er schaute um sich, sagte ein ausgesprochen häßliches Wort und fand die Zustimmung seines Partners Paul, der dieses Wort mit Nachdruck wiederholte.
»Nichts wie 'raus«, sagte Paul dann und stand auf. Er watete durch das anrüchige Wasser hinüber zu einer Steintreppe, an deren Ende eine schwere Bohlentür zu erkennen war. Jean watete seinem Freund nach, der die Stufen hinaufkroch und die Bohlentür öffnen wollte. Sie erwies sich als sehr solide und schien darüber hinaus noch von außen verkeilt worden zu sein. Die beiden Gangster stemmten sich mit ihren Schultern gegen die schmale Tür, die keinen Millimeter nachgab. Keuchend und erschöpft ließen sie sich auf die Stufen nieder und starrten trübselig in die dunkle Brühe. »Ich .. . Ich verstehe das nicht«, sagte Paul. »Wir sind 'reingelegt worden«, antwortete Jean. »Wir haben uns leimen lassen wie Anfänger.« »Weil unser Auftraggeber uns nicht gewarnt hat.« Paul suchte einen Schuldigen. »Der hätte uns einen Tip geben müssen, wie gefährlich die Alte und ihr Butler sind.« »Das war unfair.« Jean nickte. »Wie kommen wir hier 'raus? Allein schaffen wir die Tür niemals.« »Wir müssen rufen.« »Nach wem?« Jean schüttelte den Kopf. »Hier hört uns kein Mensch, Paul.« »Ist das da nicht ein Seil?« Pauls Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse im Gewölbe gewöhnt. Er deutete auf ein recht dick scheinendes Stück Tau, das aus einer der Mauerdurchbrüche oben vom Gewölbe nach unten baumelte. »Unsere Rettung!« Jean hatte verstanden. Ohne jeden Vorbehalt stieg
er ins Wasser und watete durch die Brühe auf das herabhängende Tau zu. Er wollte sich Hand-über-Hand nach oben hangeln. So etwas traute er sich zu. Paul folgte seinem Partner durch das übel riechende Wasser und weichte sich noch mal freiwillig ein. Er wollte so schnell wie möglich das scheußliche Gefängnis verlassen. * »Was versprechen Sie sich von dieser Zeitverschwendung?« fragte Agatha Simpson unwirsch. »Die beiden Herren unten im Gewölbe dürften inzwischen das Stück Seil entdeckt haben«, antwortete Josuah Parker höflich und deutete auf das Seilende, das er um einen Mauervorsprung geschlungen hatte.« Die beiden Herren werden sich nun bemühen, herauf ans Tageslicht zu steigen.« »Natürlich werden sie das.« »Mit Myladys Erlaubnis werde ich das Seil zum geeigneten Zeitpunkt mittels eines Messers durchtrennen.« »Das hört sich schon besser an«, anerkannte die Detektivin, deren Augen erfreut glänzten. »Ein an sich ungefährliches Zurückfallen in das Wasser wird die Aussagefreudigkeit der beiden Herren erheblich steigern«, fuhr Butler Parker fort. »Ich wüßte andere Mittel, um diese beiden Subjekte zum Reden zu bringen«, antwortete Lady Agatha und betrachtete angelegentlich ihre Hände. »Darf ich mir erlauben, mich für einen Moment zu entschuldigen?«
Parker deutete auf das Seilende, das in heftige Bewegung geraten war, ein sicheres Zeichen dafür, daß zumindest einer der beiden Gangster nach oben stieg. Parker hatte plötzlich ein Messer in seiner schwarz behandschuhten Hand, trat an das Seilende und ... durch trennte es dann. Fast synchron dazu ertönte ein Aufschrei aus dem Gewölbe, der in ein mächtiges Aufklatschen unterging. Dann erfolgte ein Husten und Gurgeln, dann waren Flüche zu hören und anschließend wilde Drohungen. »Die beiden Herren dürften jetzt eine Phase der Depression durchleben«, stellte der Butler fest. »Falls Mylady einverstanden sind, sollte man sich nun den beiden kleinen, eckigen Gebäuden hinter dem Wassergraben widmen.« »Sie wollen natürlich wieder mal Ihren Kopf durchsetzen, wie?« »Die beiden Gebäude scheinen bewohnt zu sein, Mylady.« »Natürlich sind sie bewohnt, ich bin ja nicht blind.« Sie spielte ihrem Butler etwas vor, denn sie hatte noch gar nichts gesehen. »Worauf warten Sie noch? Muß denn immer ich die Initiative ergreifen?« Sie setzte sich in Bewegung, energisch, dynamisch und an einen Panzer erinnernd. Agatha Simpson war Detektivin aus Leidenschaft und stolperte von einen Fall in den anderen. Ohne Butler Parker wäre sie natürlich verloren gewesen, da sie stets viel zu spontan reagierte. Angst kannte die ältere Dame überhaupt nicht. Sie ging von der
festen Annahme aus, daß ihr nichts passieren konnte. Agatha Simpson konnte sich materiell so ziemlich alles erlauben, denn sie war immens reich. Es war ihr Ehrgeiz, eine gewisse Agatha Christie in den Schatten zu stellen. Lady Simpson schrieb schon seit geraumer Zeit an einem KrimiBestseller, war über das Einspannen eines Bogens Manuskriptpapier in die Schreibmaschine jedoch noch nicht hinausgekommen. Sie ließ sich nur zu gern ablenken und war stets auf der Suche nach einem noch explosiveren Thema. Josuah Parker fühlte sich als der Schutzengel seiner Herrin. Er hatte alle Hände voll zu tun, um sie vor Schaden zu bewahren. Er war gut für jede Art von Überraschung und setzte gern List gegen Gewalt. Er wurde stets unterschätzt, wogegen er überhaupt nichts einzuwenden hatte. Sein Aussehen verleitete Ganoven und Gangster dazu, ihn für einen ausgemachten, in gewissen Formen erstarrten Trottel zu halten. Wenn sie dann das Gegenteil feststellten, war es für sie immer schon zu spät. Steif und würdevoll folgte er Lady Agatha über die morsche Zugbrücke und betrachtete dabei die total verwilderten Parkanlagen, die in früheren Zeiten mal eine gartenarchitektonische Kostbarkeit gewesen sein mußten. Hinter einer übermannshohen Taxushecke, die ungepflegt war, ragten die Spitzen und steilen Dächer der beiden kleinen Gartenhäuser hervor. Aus einer Esse kräuselte Rauch.
Agatha Simpson, die einen Steinbogen durchschritt, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und brachte ihren perlenbestickten Pompadour in leicht kreisende Bewegung, was auf innere Spannungen deuten ließ. »Was soll dieser Unsinn?« fragte sie dann grollend. »Wollen Sie Flegel etwa auf mich schießen? Verärgern Sie mich nicht unnötig!« * Butler Parker reagierte sofort. Er wich nach links aus und verschwand praktisch in der Taxushecke. Er zwängte sich durch das Gesträuch und war bemüht, so wenig Geräusch wie möglich zu verursachen. Er erreichte die andere Seite und blickte auf den kleinen, gnomenhaft aussehenden Mann, der eine alte Schrotflinte in Händen hielt, deren Doppelmündung auf die Detektivin gerichtet war. Dieser Mann war etwa sechzig Jahre alt und trug einen schäbigen Jagdanzug, der an vielen Stellen geflickt war. Auf seinem Kopf saß ein hutähnliches Gebilde, auf das einige Hahnenfedern aufgesteckt waren. »Verschwinden Sie«, sagte der Gnom krächzend und offensichtlich gereizt. »Das hier ist Privatbesitz. Pöbel hat hier nichts zu suchen. Verschwinden Sie!« »Sie Lümmel!« Lady Simpson wirkte überhaupt nicht eingeschüchtert. Die Doppelflinte ignorierte sie. »Sie reden mit einer Dame!«
»So sehen Sie auch gerade aus«, höhnte der Gnom. »Gehen Sie endlich! Oder soll ich Ihnen Beine machen?« Parker näherte sich auf leisen Sohlen dem unfreundlichen Schrotflintenbesitzer. Wie er es schaffte, auf dem Gartenkies unhörbar zu bleiben, war ein Rätsel. Parker hatte seinen altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm vom angewinkelten linken Unterarm genommen und brachte den Bambusgriff in die Nähe des rechten Oberarms des Gnoms. Agatha Simpson hatte ihren Butler zwar schon entdeckt, doch sie ließ sich nichts anmerken. Zudem hatte sie bereits wieder mal die Initiative ergriffen. Der nervös kreisende Pompadour löste sich aus ihrer Hand und sauste wie ein Geschoß in Richtung Gnom. Der Mann wurde völlig überrascht und »empfing« den Handbeutel in Höhe seiner Nasenwurzel. Das Resultat war beeindruckend. Im Pompadour befand sich nämlich Lady Simpsons »Glücksbringer«, ein echtes Pferdehufeisen, das nur oberflächlich mit dünnem Schaumstoff umwickelt war. Der Gnom ächzte, wurde zurückgeworfen und feuerte gewollt oder nicht - dennoch einen Schuß ab, der jedoch erfreulicherweise in die Luft gerichtet war. Parker hatte für diese mißlungene Kanonade gesorgt. Mit dem Bambusgriff seines UniversalRegenschirms hatte er den rechten Oberarm des Mannes nach oben gerissen. Er kümmerte sich jetzt
bereits um den Gnom, der auf dem Kies saß und mit einer mehr als nur leichten Benommenheit kämpfte. »Darf ich mir erlauben, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen?« fragte Parker. »Darf ich ferner davon ausgehen, daß Sie mit dem Baron de Ponelle identisch sind?« Der Gnom war noch nicht in der Lage, auf Parkers Fragen einzugehen. Er murmelte Unverständliches, sah Agatha Simpson aus trüben, verschleierten Augen an und überlegte wahrscheinlich, von welchem Pferd er wohl getreten sein mochte. Diesen Eindruck hatte er nämlich. Der »Glückbringer« im Pompadour hatte voll getroffen. »Nun übertreiben Sie nicht gleich wieder«, grollte die ältere Dame ihren Butler an, der dem Gnom wieder auf die Beine half. »Dieses Subjekt wollte auf mich schießen.« »Auf die Guillotine, auf die Guillotine«, murmelte der Gnom jetzt giftig. Er hatte innerlich wieder Tritt gefaßt und wurde Lady Agatha gegenüber mit seinen graugrünen Augen giftig. »Baron de Ponelle?« fragte Parker ablenkend. »Die Hände weg, Lakai!« Der Gnom machte sich von Parker frei und suchte nach seiner Flinte, die Parker sicherheitshalber im Grün der Taxushecke hatte verschwinden lassen. »Er braucht wahrscheinlich noch eine zweite Behandlung«, vermutete Agatha Simpson grimmig. Sie ließ den Pompadour, den Parker ihr gereicht hatte, erneut kreisen.
»Baron de Ponelle«, stellte Josuah Parker den kleinen Gnom vor, um dann auf seine Herrin zu deuten. »Lady Simpson, die hier auf Chapelle-sur-Loire zu einer feierlichen Bestattungsfeier eingeladen wurde.« »Lady Simpson?« fragte der Gnom, »Lady Agatha Simpson?« »Natürlich, das sehen Sie doch«, antwortete die ältere Dame gereizt. »Sie sehen mich erfreut«, redete der Gnom weiter und vollführte einen unnachahmlich gekonntgraziösen Kratzfuß, den man ihm nicht zugetraut hätte. »Ich bin entzückt, liebe Cousine, ich bin außerordentlich angenehm berührt.« Er verbeugte sich erneut, haschte nach den Fingern der verblüfften Lady Agatha und küßte den Handrücken, was allerdings ein wenig verunglückte, da die resolute Sechzigerin etwas forsch reagierte. »Was ist nun mit der Bestattung?« fragte sie dann ungnädig. »Ich möchte zurück nach Paris.« »Bestattung, liebste Cousine?« Baron de Ponelle sah seine entfernte Verwandte irritiert an. Er sprach übrigens ein vorzügliches Englisch, was Lady Simpson allerdings für selbstverständlich hielt. »Sie haben mich doch eingeladen. Warten Sie, Victor, sollten nicht Sie begraben werden?« * Das ehemalige alte Kutscherhaus war mit Antiquitäten vollgestopft. Der Hauch einer glanzvollen Vergangenheit wehte deutlich spürbar durch die beiden Räume, die
durch einen Mauerdurchbruch miteinander verbunden waren. Agatha Simpson, die ihren Cousin Victor inzwischen anerkannt hatte, was dessen Verwandtschaft zu ihr betraf, schaute sich einige Ölgemälde an, die streng blickende Männer und kokett wirkende Damen zeigten. Sie wartete auf die Rückkehr ihres Verwandten, der sich entschuldigt hatte. »Was halten Sie von dieser ganzen Geschichte?« fragte die Lady und drehte sich zu ihrem Butler um. »Mylady spielen sicher auf die beiden Herren an, die sich momentan im Gewölbe befinden?« »Und auf diesen Cousin, der angeblich heute zu Grabe getragen werden sollte.« Sie nickte. »Ein seltsamer Verwandter, finden Sie nicht auch?« »Ein Herr mit ausgeprägten Eigenschaften«, umschrieb Parker seinen Eindruck. »Baron de Ponelle scheint noch in der Vergangenheit zu leben, wie einige seiner Bemerkungen schließen lassen.« »Hat er uns hierher gelockt? Hat er diese beiden Subjekte engagiert?« »Diese Frage, Mylady, wage ich nicht zu beantworten.« »Sie drücken sich wieder mal, wie? Ich will Ihnen mal etwas sagen: Dieser Vetter ist nicht ganz klar im Kopf. Diesem Victor traue ich so gut wie alles zu.« »Eine Beurteilung, Mylady, die durchaus treffend sein könnte.« »Nun sagen Sie schon, was Sie denken.« Sie sah ihn gereizt an. »Ich höre doch heraus, daß Sie völlig anderer Meinung sind.«
»Die beiden potentiellen Schützen im Gewölbe dürften mit dem Fall zu tun haben, den Mylady in Paris verfolgen.« »Der Fall Mentone?« »Ricardo Mentone dürfte einen unstillbaren Haß auf Mylady und meine bescheidene Person hegen. Er könnte diese beiden Schützen gekauft haben.« »Papperlapapp, Mr. Parker! Woher weiß er von diesem Cousin?« »Eine Frage, die einer schnellen Beantwortung bedarf, Mylady.« »Mir kommt da gerade ein Gedanke«, sagte die ältere Dame halblaut vor sich hin. »Dies, Mylady, hoffte ich.« »Ob Ricardo Mentone mit den drei bisherigen Todesfällen zu tun hat? Immerhin haben wir drei Beerdigungen hinter uns.« »Innerhalb von zwei Wochen, Mylady«, bestätigte der Butler. »Die französische Seitenlinie von Myladys Familie scheint vom Schicksal geradezu verfolgt zu werden.« »Das kann kein Zufall mehr sein, Mr. Parker.« »In der Tat, Mylady! Hier scheinen sehr irdische Mächte am Werk zu sein.« Sie konnten die Unterhaltung nicht weiterführen, denn in diesem Augenblick kam Baron Victor de Ponelle aus dem Obergeschoß des kleinen Kutscherhauses und verblüffte seine beiden Besucher. Der Gnom hatte sich gründlich verwandelt. Er schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen. Victor de Ponelle trug seidene
Kniehosen, weiße Strümpfe und reich verzierte Schnallenschuhe. Der bestickte Rock reichte bis zu den Oberschenkeln. Victor de Ponelles Kopf verschwand fast unter einer riesigen Perücke, die ein wenig ausgefranst war. Der Edelmann strömte einen penetranten Geruch nach Mottenkugeln aus. Er verbeugte sich tief und hieß seine Cousine erneut herzlich willkommen. Dann schaute er mißbilligend auf Parker und deutete mit seinem Zierstöckchen auf die Tür, die in den kleinen Vorflur führte. »Hinaus mit ihm«, herrschte er den Butler dann an. »Hole er den Wein aus der Küche!« Agatha Simpson wollte eingreifen. Ihre Augen glitzerten böse. Sie hatte eindeutig vor, ihrem Cousin über den Mund zu fahren, doch Butler Parker war schneller. »Sehr wohl«, sagte er und verbeugte sich ehrerbietig. »Es wird sofort serviert.« Parker war froh, den Raum verlassen zu können, denn er wollte sich im Haus umsehen. * Die beiden Profi-Mörder Paul und Jean klapperten mit ihren Zähnen um die Wette. Sie saßen auf den Stufen der Steintreppe dicht vor der schweren Bohlentür und haderten mit ihrem Schicksal. So waren sie noch nie behandelt worden. Bisher hatten nur sie allein den Ton angegeben. Jetzt aber saßen sie in einer Falle, aus der es wohl kein Entrinnen gab.
Jean hatte sich inzwischen vom Sturz erholt, der übrigens glimpflich abgelaufen war. Er nieste hin und wieder und sah hinauf zu den Mauerdurchbrüchen des Gewölbes, die leider unerreichbar blieben. Plötzlich glaubte Jean dort oben ein Gesicht zu sehen. Er richtete sich steil auf und hielt unwillkürlich den Atem an. »Was ist?« fragte Paul müde. »Da oben, ein Gesicht!« »Wo?« Pauls Müdigkeit war sofort verflogen. Er sah hoch zu den Mauerdurchbrüchen, konnte jedoch nichts entdecken »Ich hab's deutlich gesehen«, sagte Jean. »Schon gut, schon gut.« Paul winkte ab. Natürlich hatte sein Partner sich geirrt. Es war ja überhaupt nur eine Frage der Zeit, bis sie beide durchdrehten und verrückt spielten. »Es war'n Gesicht!« Jeans Stimme nahm einen eigensinnigen Unterton an. »Glaubst du etwa, ich würd schon weiße Mäuse sehen?« »Das wär wenigstens 'ne Abwechslung«, erwiderte Paul und starrte wieder trübselig auf die schmutzige Wasseroberfläche. »Da is' es wieder!« Jean sprang auf, rutschte jedoch auf den glitschigen Stufen aus, griff haltsuchend in die Luft und landete in den aufklatschenden Fluten. Als er wieder auftauchte, hörte er das Lachen seines Partners. Dieses Lachen brach plötzlich ab, bevor Jean einen wütenden Fluch ausstoßen konnte. Er blieb im Wasser stehen und sah seinen Freund, der nun seinerseits
angestrengt zu den Mauerdurchbrüchen sah. »Jetzt hab' ich's auch gesehen«, meinte Paul dann. »Hab' ich doch gleich gesagt! Ob das dieser Butler gewesen ist?« Jean watete zurück zur Steintreppe. Als er hochstieg und sich das Wasser aus dem Gesicht wischte, sprang Paul plötzlich hoch und warf sich mit aller Kraft gegen ihn. Jean brüllte auf, doch er konnte sich natürlich nicht halten. Er landete zusammen mit seinem Partner erneut in dem Wasser. »Wahnsinnig?« Jean hustete, als er wieder auf den .Beinen stand. Er sah Paul wütend an. »Was sollte das?« »Sieh mal zur Tür 'rüber!« Paul deutete mit ausgestrecktem Arm die Steintreppe hoch. »Was ist mit der Tür?« »Siehst du denn nichts?« »Das is' doch ... Das is' doch ...« »... 'n Pfeil«, vollendete Paul den Satz. »Das is 'n Blasrohrpfeil. Er zischte dicht an meinem Kopf vorbei. Ich hab' den Luftzug gespürt.« »Man will uns umbringen.« Jeans Kehle schnürte sich zusammen. Er wartete den Kommentar seines Freundes nicht ab, sondern arbeitete sich durch das Wasser hinüber hinter einen der runden, stämmigen Stützpfeiler. Hier nahm er Deckung. Paul war ihm gefolgt. Dicht standen die beiden Profi-Mörder nebeneinander. Sie zitterten vor Nervosität, aber auch vor Kälte, die langsam in ihnen hochkroch. Sie schielten förmlich um den schützenden Pfeiler herum zu den
Mauerdurchbrüchen hinauf, woher der Pfeil gekommen sein mußte. Sie rührten sich nicht von der Stelle. * Natürlich hatte Butler Parker das seltsame Geschoß abgefeuert, das jetzt in der Bohlentür zitterte. Sein Universal-Regenschirm war dazu durchaus in der Lage. Der Schirmstock war ein geschickt getarnter Lauf, der Blasrohrpfeile mittels Preßluft in jede gewünschte Richtung verschießen konnte. Parker hatte sich diese ein wenig ungewöhnliche Waffe in seiner »Bastelstube« hergerichtet, einer Art Labor in seinen Privaträumen des Stadthauses der Lady Simpson. Selbstverständlich hatte er keineswegs die Absicht gehabt, den Gangster zu treffen. Ihm war es einzig und allein darauf angekommen, die beiden Männer ins Wasser des Gewölbes zu scheuchen, um sie noch ein wenig einzuweichen. Nun hatte der Butler Zeit und Gelegenheit, sich das verfallene Schloß des Baron de Ponelle näher anzusehen. Eine schnelle Besichtigung des Kutscherhauses hatte er bereits hinter sich. Gemessen und würdevoll schritt Josuah Parker die Räume im Erdgeschoß ab und prüfte die vielen Treppen, die in die oberen Stockwerke führten. Sie waren durchweg staubbedeckt und zeigten keine Spuren. Nach menschlichem Ermessen waren diese Räume oben in jüngster Zeit von niemand
betreten worden. Eine Besichtigung konnte er sich also ersparen. Seine Wanderung durch das Erdgeschoß brachte keine Erkenntnisse. Die Räume waren leer, viele Fenster zerbrochen. Verfall, Trostlosigkeit und ein Hauch des Todes ging von den Sälen, Gängen und Korridoren aus. Baron de Ponelle schien das eigentliche Schloß zu meiden. Überall gab es Staub, Spinnweben und Deckenputz, der auf dem geborstenen Parkett lag. Parker hätte nicht sagen können, wonach er suchte. Er wollte die Atmosphäre des Schlosses auf sich wirken lassen, das eine glanzvolle Vergangenheit hinter sich hatte. Diese Seitenlinie der Agatha Simpson hatte in Frankreich mal eine wichtige Rolle gespielt. Zur Zeit des Sonnenkönigs war ein de Ponelle' Träger wichtiger Staatsämter gewesen. Und genau diese Seitenlinie der de Ponelles war es, die jetzt innerhalb von zwei Wochen drei Todesfälle zu beklagen hatte. Agatha Simpson hatte sich der Teilnahme an diesen Begräbnissen nicht entziehen können. Es waren recht bemerkenswerte Trauerfeiern gewesen, über die die Presse berichtet hatte. Victor de Ponelle allerdings, der Besitzer von Chapelle-sur-Loire, war auf keiner dieser Trauerfeiern gewesen. Entweder hatte man ihn nicht eingeladen, oder aber er hatte einfach nicht die Mittel gehabt, um nach Paris zu kommen. Wegen der drei Todesfälle war Lady Simpson nicht nach Frankreich gefahren. Ihr Aufenthalt in Paris bis
vor einem Tag hing mit dem Fall Ricardo Mentone zusammen. Dieser Mann - ein Gangster brutalster Sorte - hatte es vorgezogen, die Insel zu verlassen, als das Gespann Simpson - Parker ihm zu gefährlich geworden waren. Mit seiner Beute, die aus einigen bösen Erpressungen stammte, hatte Ricardo Mentone sich in Paris niedergelassen und sich für genau eine Woche sicher gefühlt. Das war schlagartig anders geworden, als Lady Agatha und Butler Parker in der französischen Metropole eingetroffen waren, um diesen Gangster zu stellen und der Polizei in die Hände zu spielen. Ricardo Mentone wehrte sich verzweifelt und mit allen Mitteln. Im Augenblick hatte er wohl auf zwei gedungene Mörder gesetzt, die nun allerdings ein kühles und übelriechendes Bad nahmen. Parker hatte den Nordflügel des Schlosses erreicht und spürte plötzlich, daß er verfolgt wurde. Natürlich ließ er sich nichts anmerken, doch er traf gewisse Vorkehrungen. Sollte Mentone vielleicht drei Mordschützen engagiert haben? Parker blieb in einem der langen Verbindungskorridore stehen und nahm seine schwarze Melone ab, die zu seiner Berufskleidung als Butler gehörte. Der Verfolger mußte annehmen, daß der Butler sich den Schweiß von der Stirn tupfte, in Wirklichkeit aber warf Josuah Parker einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel in der Wölbung seiner Kopfbedeckung. Dieser Blick lohnte sich. Butler Parker bekam noch einen Schatten mit, der blitzschnell in einer
Fensternische verschwand. Er hatte sich also nicht getäuscht. Seine innere Alarmanlage funktionierte noch ausgezeichnet. Parker tauchte ebenfalls unter. Dann wartete er mit stoischer Ruhe ab. Er wußte im vorhinein, daß seine Nerven besser waren als die des Verfolgers. * »Natürlich wurde ich zu den Begräbnissen eingeladen, teuerste Cousine«, sagte Baron de Ponelle, wobei er allerdings geringschätzig das Gesicht verzog. »Ich habe mir aber diese Freude versagt.« »Freude; Victor?« Agatha Simpson lächelte grimmig. Sie war schon immer eine Liebhaberin des schwarzen Humors gewesen. »Freude!« Er nickte bestätigend. »Ich habe nichts dagegen, daß meine Familie ausstirbt. Von mir aus kann es nicht schnell genug geschehen.« »Schließen Sie sich mit ein, lieber Victor?« Lady Simpson sah ihr Gegenüber aufmerksam an. »Das betrifft auch mich, teuerste Cousine.« Victor de Ponelle stand auf und straffte seine gnomenhafte Gestalt. »Auch auf meinen schwachen Schultern lastet die Bürde der Schande.« »Was Sie nicht sagen, Victor!« »Meine Familie hat gefehlt«, sagte er mit tragischem Unterton. »Sie wissen sicher, was während und nach der Ermordung unseres Königs passierte?« »Ich werde bei Gelegenheit wieder mal in der Familiengeschichte blättern müssen, Victor.«
»Meine Familie ignorierte die historische Chance, gegen die Jakobiner zu kämpfen. Wie Schlachtvieh ließ sie sich von den Henkern zur Guillotine schleifen, ohne die geringste Gegenwehr.« »Wogegen Sie noch heute etwas haben, nicht wahr?« »Ich werde diese Schmach tilgen, liebste Cousine, und zwar in doppeltem Sinn.« »Das müssen Sie mir erklären, Victor.« Die Detektivin beugte sich interessiert vor. Sie spürte, daß dieser Mann ihr nichts vormachte. Er redete aus einem inneren Bedürfnis heraus. Er schien die Gelegenheit beim Schopf zu fassen, sich endlich mal erklären zu können. »Ich werde die strafen, die feige waren und keine Haltung zeigten«, sagte der Gnom mit Pathos. »Aber ich werde auch die zur Rechenschaft ziehen, die das königliche Haus dezimierten.« »Sie haben sich da viel vorgenommen, Victor.« »Es ist meine Pflicht der Geschichte gegenüber.« »Und wie wollen Sie strafen, Victor?« »Darüber später mehr, liebste Cousine. Ich frage mich übrigens, ob nicht auch der englische Zweig unserer Familie versagt hat.« »Zu welcher Antwort werden Sie kommen?« »Auch Ihre Familie, teuerste Cousine, hat sich der Verantwortung entzogen.« »Ich brauche etwas Nachhilfeunterricht, Victor.« »Wo blieben vor und während der Revolution die englischen Kavaliere,
liebste Cousine? Sie sahen von England aus dem mörderischen Treiben zu, ohne auch nur eine Hand zu rühren. Ja, ich denke, ich werde die Liste ausweiten müssen.« »Welche Liste?« Die Detektivin wußte natürlich, was er meinte, doch sie stellte sich ahnungslos. »Meine Strafliste. Ich werde methodisch vorgehen und von Fall zu Fall entscheiden.« »Sind Sie bereits methodisch vorgegangen, Victor? Ich denke an die drei Beerdigungen in den vergangenen beiden Wochen.« »Sie wollen mich ausfragen, teuerste Cousine, nicht wahr?« Der Gnom lächelte schlau und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich glauben Sie auch, daß mein Geist verwirrt ist, nicht wahr?« »Manches von dem, was Sie sagen, klingt unglaubwürdig, Cousin.« »Nämlich?« Baron de Ponelle sah seine entfernte Verwandte herablassend an. »Wieso strafen Sie erst jetzt? Warum ziehen Sie die Schuldigen erst jetzt zur Rechenschaft? « »Dies geschieht bereits seit vielen Jahren, meine Liebe, mehr möchte ich dazu nicht sagen. Vielleicht werde ich mich bald mit Ihnen beschäftigen müssen. Lassen Sie sich überraschen!« »Sie machen mir Angst, Victor«, behauptete Agatha Simpson. »Ich erkläre Ihnen, daß ich in jedem Fall unschuldig bin.« »Warten Sie es ab, teuerste Cousine«, gab Victor de Ponelle zurück.« Die Entscheidung liegt bei mir. Es wird noch mancher Kopf in den Korb springen.«
»Was meinen Sie damit?« »Ein Ausdruck aus der blutigen Zeit, als die Guillotine noch arbeitete. In diesem Fall ist das in übertragenem Sinn gemeint.« Er wanderte auf seinen kurzen Beinen umher, warf sich in Pose und hob die Hand zum Schwur. »Die Schande wird getilgt werden«, donnerte er dann übergangslos und erstaunlich laut. »Der Rachegott schwebt über der Familie. Man wird zittern. Übrigens, liebste Cousine, nehmen Sie noch einen Kognak? Eine ausgebuchte Erfrischung, die die Lebensgeister stärkt. Möglich, daß Sie bald starke Nerven brauchen.« * Natürlich waren Parkers Nerven erheblich besser. Er wartete unbeweglich etwa viereinhalb Minuten, dann hörte er ein erstes, feines Geräusch, ein Knirschen und Schleifen. Der Schatten schien die Deckung seiner Fensternische verlassen zu haben und pirschte sich nun vorsichtig an den nächsten Saal heran. Josuah Parker rührte sich nicht. Er beging nicht den Fehler, schon jetzt einen schnellen Blick auf seinen Verfolger werfen zu wollen. Das hatte Zeit. Der Schatten durfte nicht vorgewarnt werden. Das Knirschen von Stuckresten auf dem aufgeworfenen Parkett wurde lauter. Parker, der seinen UniversalRegenschirm bereits angehoben hatte, um den bleigefütterten Bambusgriff als Waffe zu benutzen, hörte ein Schnaufen. Der Schatten,
der seine Nische fast erreicht hatte, schien aufgeregt zu sein. Diesem Schatten ging wohl die quälende Stille auf die Nerven. Sie mochte es auch gewesen sein, die ihn aus der Deckung herausgetrieben hatte. Wenig später war es soweit... Vor Parker erschien ein großer, stämmiger Mann, der ein Henkerbeil in der rechten Hand trug. Dieser Mann merkte plötzlich, wo sein Gegner stand und reagierte erstaunlich schnell. Es war seine erklärte Absicht, Parker mit dem schweren Henkerbeil niederzuschlagen oder gar zu spalten. Und dagegen hatte der Butler verständlicherweise einiges einzuwenden. Parker sah sich veranlaßt, ein wenig härter und gezielter zuzuschlagen, als er es vorgehabt hatte. Er setzte den bleigefütterten Bambusgriff seines Regenschirms auf die Nase des Mannes und verformte sie leicht. Dies brachte den Mann sichtlich aus der Fassung. Gewiß, er schlug zwar noch zu, doch das schwere Henkerbeil landete mit seiner Schneide im Verputz der Außenwand. Funken stoben, ein häßliches Schleifen und Brechen waren zu hören. Dann kniete er vor dem Butler nieder, kümmerte sich ab sofort nicht weiter um sein Mordinstrument, fiel auf die Stirn und anschließend auf die Seite. Parker bedauerte diesen Zwischenfall ungemein und hätte sich gewiß bei dem Mann entschuldigt, wenn der in der Lage gewesen wäre, die Worte des Bedauerns entgegenzunehmen. Der Butler
durchsuchte den Mann nach weiteren Waffen, fand erstaunlicherweise eine Automatik vom Kaliber 7.65, steckte sie ein und musterte dann sein Opfer. Seiner Schätzung nach mochte der Beilträger etwa fünfundvierzig Jahre zählen. Er trug eine Art Wams und lange, eng anliegende Hosen, die in den hohen und breiten Stulpen schwerer Stiefel endeten. Unter dem Wams war der muskulöse Oberkörper nackt. Das Gesicht des Mannes war grob geschnitten, das Haar kurz. Auf den nackten Ober- und Unterarmen waren ausgiebige Tätowierungen zu sehen, die realistische Szenen aus der Schiffahrt zeigten: Segelschiffe mit geblähten Segeln und im Sturm, Rudergaleeren und dann überraschenderweise auch eine Guillotine. »Sie müssen gestolpert sein«, sagte Parker, als der Mann unvermittelt die Augen öffnete und sich aufrichtete. »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt.« Der Mann gab ein paar unverständliche Laute von sich, faßte seine Nase und stöhnte leicht. Dann sah er Parker aus dunklen, haßerfüllten Augen an. »Tun Sie es nicht«, meinte Parker, der die unfeinen Gedanken seines Gegenüber ahnte. »Sie würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut stolpern.« Da Parker die französische Sprache benutzte, verstand der Mann und verzichtete darauf, sich mit dem Butler noch mal anzulegen. Er schien wenigstens vorerst darauf verzichten zu wollen.
»Kann ich davon ausgehen, daß Sie im Dienst des Baron de Ponelle stehen?« erkundigte Parker sich in seiner gewohnt höflichen Weise. »Falls dem nämlich so ist, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Gast des Hauses bin.« »Ach, so ist das.« Der Mann nickte langsam. Er stand auf und fingerte erneut an seiner leicht geschwollenen Nase. »Ich hab' schon gedacht, Sie hätten hier plündern wollen.« »Plündern? In diesem total geräumten Schloß?« »Sie versuchen immer wieder«, lautete die Antwort. »Sie sind hinter alten Sachen her, und dann brechen die sich manchmal das Genick.« »Ein interessanter Hinweis. Das ist also möglich?« »Hatten wir erst vor ein paar Wochen«, bestätigte der Mann und schielte nach seinem Henkerbeil. »Da waren zwei Kerle hier, die ausräumen wollten. « »Sie brachen sich das Genick?« »Nur einer von ihnen«, antwortete der Mann. »Der andere brach sich ein paar Knochen. Die Kerle kamen aus Paris und wollten hier alte Sachen abstauben. « »Dieses Schloß scheint demnach voller Gefahren zu stecken, oder sollte ich mich irren?« »Alles is' hier brüchig«, warnte der Mann und schielte erneut nach seinem Beil. »Manchmal sackt der Boden weg, oder'n Stück Decke bricht 'runter. Lebensgefährlich ist das hier.« »Sie überzeugten mich davon bereits vor wenigen Minuten«, entgegnete Josuah Parker höflich.
»Falls Sie Ihr Beil aufheben wollen, Monsieur, bitte. Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen.« »Wie 'n Plünderer sehen Sie nicht aus.« Der Mann bückte sich hastig nach der schrecklichen Waffe. »Ich sagte schon, ich bin Gast des Hauses.« Parker ließ den Mann nicht aus den Augen, was sich Sekunden später auszahlte. Der Mann riß aus der gebeugten Haltung heraus das Beil hoch und legte es darauf an, den Butler zu zerteilen. Parker hatte jedoch mit solch einem Angriff gerechnet und wich geschickt nach hinten aus. Das Beil zerschnitt die Luft und krachte danach ins morsche Parkett, daß die Holzstücke flogen. »Dies schätze ich aber gar nicht«, sagte Josuah Parker und schüttelte verweisend den Kopf. »Dies könnte man schon durchaus als Tücke bezeichnen.« Der Mann kümmerte sich nicht weiter um Parkers Deutung, sondern riß die Axt aus dem Parkett und wollte erneut zuschlagen. Der Butler sah sich gezwungen, deutlicher zu werden. Mahnende Worte waren hier nicht mehr angebracht. Er setzte noch mal den Bambusgriff seines UniversalRegenschirms ein und legte ihn samt Bleifüllung auf die Stirn des Übereifrigen. Der Mann ächzte, pendelte in seiner Bewegung aus, schnaufte fast sehnsüchtig und fiel dann um wie ein gefällter Baum. »Sehr schlechte Manieren«, urteilte Parker und sah auf seinen Gegner hinunter. »Baron de Ponelles Personal bedarf noch der Schulung, wie ich vermuten möchte.«
* Die beiden Gangster Paul und Jean hatten sich in halbe Eisheilige verwandelt. Das kalte Wasser im Gewölbe hatte ihr Blut leicht angekühlt. Sie sehnten sich aufrichtig zurück nach Licht und Sonne. Und insgeheim hatten sie sich längst geschworen, ein neues und besseres Leben zu beginnen. Sie träumten unabhängig voneinander vom behaglichen Leben eines Normalbürgers. Zurück zur Treppe hatten sie sich bisher nicht getraut. Das hing nach wie vor mit dem unheimlichen Blasrohrpfeil zusammen der in der schweren Bohlentür steckte. Sie hatten ihn aus der Entfernung bis in alle Einzelheiten studiert und freuten sich gar nicht über die bunten Federn am Ende des Schaftes. »Die Tür«, schluchzte Paul plötzlich und stierte auf die bewußte Tür. »Mensch, sie hat sich bewegt.« »Tatsächlich.« Andächtig klang Jeans Stimme. Er beugte sich ein wenig vor, um alles genau mitzubekommen. Die Tür bewegte sich nicht nur, sie wurde offensichtlich aufgedrückt. Die Rettung war nahe, das Bad beendet. Die beiden Gangster hielten unwillkürlich den Atem an, als ein muskulöser und mehr als mittelgroßer Mann in der Tür erschien und ausgesprochen mißmutig auf die trübe Brühe starrte. Er wandte sich halb um und schien etwas fragen zu wollen, marschierte dann aber sichtlich mißmutig nach unten.
Und dann schloß die Tür sich wieder. Paul und Jean brüllten los und verlangten, daß die Tür geöffnet bliebe. Sie machten zudem noch Vermittlungsvorschläge der verschiedensten Art. Die Tür schloß sich jedoch weiter und fiel dumpf in den schweren Steinrahmen. »Das kann man doch nicht mit uns machen«, brüllte Paul. »Sauerei«, stellte Jean fest und schlug mit den Fäusten wütend ins Wasser. »Das ist Sadismus!« Der große, muskulöse Mann war natürlich auf sie aufmerksam geworden und blieb stehen. Er wartete wohl, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht im Gewölbe gewöhnt hatten. »Was ist denn das für 'n schräger Vogel?« wunderte sich Paul. »Der sieht doch leicht behämmert aus«, stellte Jean fest und vergaß für einen Moment seine feuchte Lage. »War das etwa 'n Butler?« fügte Jean hinzu. »Sie haben hier nichts verloren«, erwiderte der Muskulöse. »Halt bloß die Klappe«, warnte Paul. »Nur nich' frech werden«, drohte Jan. »Das hier ist Privatbesitz«, sagte der Muskulöse energisch und rückte sein Wams über dem nackten Oberkörper zurecht. »Verlassen Sie sofort das Schloß!« »Der hat sie doch nicht mehr alle«, sagte Jean und grinste trotz seiner Lage. »Vielleicht hilft ihm hier die Kaltwasserkur«, frotzelte Paul und grinste ebenfalls.
Die beiden Gangster verfolgten den muskulösen Mann, der durch das Wasser watete und auf sie zukam. Er schwang seine Fäuste und schien böse zu sein. Er forderte von den beiden Wasserstehern erneut, das Schloß sofort zu verlassen. »Dreh' ab«, sagte Paul gereizt. »Verschwinde«, forderte Jean. »Du gehst mir auf den Hammer.« Das hätte er vielleicht nicht sagen sollen. Der Muskulöse, der ihn fast erreicht hatte, langte einfach herzhaft zu. Jean hatte das erwartet und wollte den Schlag mit seinem Unterarm abblocken, doch er verrechnete sich. Der Muskulöse durchbrach mit seiner Faust die Deckung und erwischte den Gangster an der Brust. Jean stöhnte dumpf auf, fühlte sich aus dem Wasser gehoben und absolvierte eine kleine Luftreise, die leider wieder im Wasser endete, das klatschend über seinem Kopf zusammenschlug. Gangster Paul war ein ehrlicher Partner. Er griff sofort ein und verabreichte dem Muskulösen einen Handkantenschlag, bei dem jeder normal Sterbliche erst mal für längere Zeit zu Boden gegangen wäre. Der Muskulöse jedoch schien nichts zu empfinden. Er schüttelte sich nur leicht und langte dann nach dem Handkantenschläger. Pauls Jackett platzte unter diesem derben Griff an den Schulternähten. Dann kam auch er in den Genuß einer Luftreise, die im Gegensatz zu der seines Freundes erheblich länger ausfiel. Er landete an einer der schweren Quadermauern, sah nur noch bunte Sterne
und rutschte dann im Zeitlupentempo zurück ins Wasser. Der Muskulöse wollte sich wieder mit Jean befassen, der inzwischen aufgetaucht war. Doch Jean war an einer Wiederholung des ersten Vorgangs überhaupt nicht mehr interessiert. Er wich zurück und entzog sich den Fäusten des Muskulösen. Damit begann eine länger anhaltende Wasserpantomime, die leider ohne jeden Zuschauer blieb. Der Muskulöse jagte die beiden Gangster durch die bewegten, schäumenden Fluten und brachte deren Temperatur dadurch endlich wieder auf normale Werte. * »Darf ich mich erkühnen, Mylady nach dem werten Befinden zu erkundigen?« Parker stand vor seiner Herrin, die herzhaft schnarchte, dann aber mühsam die Augen öffnete und ein wenig röchelte. Dann richtete sie sich schwer auf und schaute sich verständnislos um. »Was ist?« fragte sie mit schwerer Zunge. »Wo bin ich?« »Im Kutscherhaus des Baron de Ponelle«, erklärte Parker. »Mylady pflegten ein wenig den Schlaf?« »Papperlapapp«, grollte sie und zeigte damit an, daß sie wieder endgültig da war. »Dieser Lümmel von einem Cousin muß mir etwas ins Glas getan haben.« »Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit bestürzt.« Parker griff nach dem Kognakschwenker und schnupperte. Er nickte bestätigend,
als er den fragenden Blick der Lady sah. »Statt eines Kognaks servierte er mir einen Kräuterlikör«, sagte sie und zog ein angewidertes Gesicht. »Sie wissen ja, wie ich dieses Zeug verabscheue, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Wo ist das Subjekt?« »Auf keinen Fall im Kutscherhaus, Mylady«, erwiderte Parker. »Ich war so frei, bereits nach dem Baron zu sehen. Er dürfte das Haus verlassen haben.« »Diesem Flegel werde ich den Marsch blasen!« Die resolute Sechzigerin wollte aufstehen, rutschte aber wieder in den Sessel zurück. Die Beine wollten sie noch nicht tragen. »Möglicherweise wird man den Baron vorerst nicht mehr sehen, Mylady«, antwortete der Butler gemessen. »Inzwischen dürfte er wissen, daß Mylady wieder zu sich gekommen sind.« »Können Sie das verstehen, Mr. Parker?« Sie startete einen weiteren Versuch und nahm gnädig die hilfreiche Hand des Butlers an, was sie normalerweise nie getan hätte. Sie konzentrierte sich auf ihre Beine und rutschte diesmal nicht wieder zurück. Sie nickte grimmig. »Mylady fragen nach dem Grund dieses seltsamen Verhaltens?« »Wonach sonst? Bestimmt nicht nach dem Wetter!« Ja, sie war wieder vollkommen in Ordnung, wie zu hören war. »Warum hat dieser Flegel mich betäubt? Was hatte er mit mir vor?« »Es gibt der Möglichkeiten viele, Mylady.«
»Verführen wollte er mich bestimmt nicht.« Sie schüttelte durchaus überzeugt den Kopf. »Wollte er mich vielleicht wegschaffen und umbringen? Nein, das kann es nicht gewesen sein, obwohl er sehr eigenartig redete.« »Der Baron mußte nicht unbedingt mit meinem plötzlichen Auftauchen rechnen, Mylady.« »Und warum nicht?« Sie verstand mit einiger Spätzündung und sah Parker dann interessiert an. »Haben Sie auch etwas hinter sich?« »Ein Angestellter des Barons legte sich meiner bescheidenen Person an, Mylady, wenn ich es so umschreiben darf.« »Haben Sie es ihm gegeben?« »In der Tat, Mylady, ich mußte ein wenig nachdrücklich werden! Der Betreffende befindet sich zur Zeit im Gewölbe, wo es zu einigen Unstimmigkeiten gekommen ist, wie ich beobachten konnte.« »Hoffentlich schlagen sie sich gegenseitig die Schädel ein«, meinte die altere Dame nachdrücklich. »Das kühle Wasser wird Neigungen dieser Art bald hemmen«, vermutete Josuah Parker. »Darf ich Mylady vorschlagen, diesen ungastlichen Ort zu verlassen?« »Warum eigentlich? Ich möchte mich zu gern mit meinem Cousin unterhalten.« »Vielleicht zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt, Mylady?« »Sie fürchten weitere Zwischenfälle?« »Sie sollte man nie ausschließen, Mylady, Chapelle-sur-Loire ist momentan ein gefährlicher Boden.«
»Und diese beiden Mörder im Gewölbe?« Sie sah ihren Butler entrüstet an. »Sie wollten immerhin auf mich schießen. Diese beiden Subjekte werde ich mir kaufen.« Während sie redete, griff sie nach ihrem Pompadour und ließ ihn am Handgelenk kreisen. Es war deutlich zu erkennen, wie Mylady sich eine Unterhaltung mit Paul und Jean vorstellte. »Man wird die beiden Herren mit Sicherheit noch heute einer Befragung unterziehen können«, versprach Parker. »Wie ich unterstellen möchte, sind Mylady wahrscheinlich an jenem Gefährt interessiert, mit dem die beiden Gewehrschützen hierher gekommen sind.« »Worauf Sie sich verlassen können. Wo steht dieser Wagen? « Sie war wieder voller Dynamik und Aktivität. »Er wird sich in der näheren Umgebung finden lassen, Mylady.« »Also gut, Mr. Parker, Ihnen zuliebe werde ich mitkommen, aber gern tue ich das nicht. Eine Lady Simpson räumt niemals freiwillig oder notgedrungen das Feld.« »Es sei denn, taktische Überlegungen rieten dazu, Mylady.« »Das stimmt allerdings.« Sie nickte und wollte zur Tür gehen, durch die sie gekommen war. Sie blieb stehen, als Parker diskret und mahnend hüstelte. »Was haben Sie denn jetzt schon wieder, Mr. Parker?« Sie wandte sich um und sah ihren Butler an, der höflich lächelte.
»Bestehen Mylady darauf, die Haupttür zu benutzen?« »Nicht unbedingt, Mr. Parker. Aber wieso fragen Sie?« »Man sollte vielleicht sicherheitshalber davon ausgehen, Mylady, daß diese Tür gewisse Überraschungen anzubieten hat, die der Gesundheit nicht unbedingt förderlich sind.« »Sie sehen wieder mal Gespenster, Mr. Parker.« Die Detektivin schüttelte unwillig den Kopf. »Es gibt eine Hintertür, Mylady, aber selbst auf sie sollte man verzichten. Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, sollte man durch eines der an sich bequemen Fenster nach draußen steigen.« »Also schön, Sie kriegen Ihren Willen.« Sie grollte nur verhalten, zumal sie sich innerlich Parkers Argumenten anschloß. »Aber es paßt mir überhaupt nicht, daß wir uns wie Diebe davonschleichen sollen, es paßt mir überhaupt nicht!« * Nach etwa fünfzehn Minuten war der Wagen der beiden Gangster gefunden. In einem dichten, völlig verwilderten Gehölz südlich des Schlosses stand ein Citroen älterer Bauart, der zusätzlich noch mit Zweigen getarnt war. Parker hatte diesen Wagen zielsicher aufgespürt und sich dabei in die Lage der beiden Gangster versetzt. Da sie die Reifenspuren im weichen Waldboden verwischt hatten, waren in Wirklichkeit für einen Josuah
Parker besonders deutliche Spuren gelegt worden. »Der Wagen, Mylady, ist in Paris zugelassen«, meldete Parker nach kurzer Prüfung der Kennzeichen. »Wenn schon! Was bringt das?« »Mylady waren in Paris einem gewissen Ricardo Mentone hart auf den Fersen, wenn ich es so vulgär umschreiben darf.« »Für mich ist es längst klar, daß diese beiden Subjekte von Mentone auf mich gehetzt wurden. Haben Sie etwa daran gezweifelt?« »Wenn Mylady gestatten, möchte ich den Wagen einer eingehenden Inspektion unterziehen. Darf ich einen weiteren Wunsch äußern?« »Was ist denn jetzt schon wieder?« Sie sah ihn ungeduldig an. »Könnten Mylady drüben am Weg Posten beziehen? Es ist damit zu rechnen, daß die beiden Herren Gangster über kurz oder lang erscheinen.« »Hoffentlich.« Die Dame auf dem Kriegspfad ließ ihren Pompadour kreisen. »Ich werde sie dann niederschmettern.« Parker hoffte, daß es nicht zu einem Kontakt zwischen seiner Herrin und den beiden Gangstern kam, doch er sagte nichts. Er schritt prüfend um den Citroen herum und öffnete ihn dann. Schon nach wenigen Minuten war ihm klar, daß die beiden Profis, die sich zur Zeit noch im Gewölbe befanden, nichts im Wagen hinterlassen hatten, was auf ihre Identität hätte schließen lassen. Dennoch gab Parker nicht auf. Er interessierte sich für den vollgestopften Aschenbecher, zog ihn aus
der Halterung und kippte den Inhalt auf eine ausgebreitete Straßenkarte, die er im Handschuhfach gefunden hatte. Mit der Spitze eines regulären Kugelschreibers sortierte er dann die Zigarettenenden, Papierschnitzel und zerknautschten Zellophanhüllen. Erfahrungsgemäß sagten solche banalen Dinge mehr aus, als ihre Besitzer ahnten. Auch in diesem Fall lohnte sich die Suche. Parker setzte die Schnipsel einer Art Visitenkarte zusammen, die sich dann als die Ausweiskarte eines Hotels entpuppte. So etwas brauchte man in modernen Häusern, um seinen Zimmerschlüssel an der Rezeption zu bekommen. Laut Aufdruck stand dieses Hotel in Le Mans. Der Mieter des Zimmers hieß Paul Legrand. Parker visitierte auch noch die übrigen Ascher im Wagen, ohne hier jedoch fündig zu werden. Er war schon mehr als zufrieden. Er wußte jetzt, von welchem Punkt aus man weiterforschen konnte. Sorgfältig füllte er wieder den Ascher und staubte anschließend die Straßenkarte gründlich ab. Sie verschwand wieder im Handschuhfach. »Nun?« Mylady sah ihren Butler fragend an, der würdevoll auf sie zuschritt. »Einer der Fahrer scheint Paul Legrand zu heißen, Mylady«, berichtete Josuah Parker. »Er dürfte zusammen mit seinem Partner in Le Mans in einem Hotel übernachtet haben.« »Wir werden ihn noch persönlich fragen«, sagte sie. »Irgendwann werden
diese beiden Subjekte ja hier erscheinen, Mr. Parker. Und dann Gnade Ihnen Gott!« »Ich möchte mir erlauben, auf Myladys ersten Vorschlag hinzuweisen.« »Erster Vorschlag?« Sie schüttelte irritiert den Kopf und konnte sich wirklich nicht erinnern, ihn gemacht zu haben. »Danach sollte man die beiden Gangster an einer Art langen Leine führen, Mylady, und sie unbehelligt zurück nach Paris fahren lassen. Dort dürften die Herren Gangster sich mit ihrem Auftraggeber, sprich Ricardo Mentone, in Verbindung setzen.« »Eben, eben.« Die Detektivin nickte bestätigend. »Sie müssen zugeben, daß meine Vorschläge gut sind.« »In der Tat, Mylady!« Parker deutete eine knappe und zustimmende Verbeugung an. »Es ist immer wieder eine Ehre und ein Vergnügen, mit Mylady zusammenarbeiten zu dürfen.« Die etwas schrullige Sechzigerin sah ihn kurz und mißtrauisch an und wußte nicht, wie sie reagieren sollte. Sie entschloß sich, andeutungsweise zu lächeln, obwohl sie sich ärgerte. Dieser Butler Parker setzte immer wieder seinen Kopf durch. Sie nahm sich vor, das bei Gelegenheit gründlich zu ändern. * »Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte der Inspektor der Gendarmeriestation von Saumur höflich und faltete das Empfehlungsschreiben sorgfältig
wieder zusammen. Er war noch immer beeindruckt, das Schreiben des Innenministeriums in Händen zu halten, das Parker ihm überreicht hatte. In diesem Schreiben wurden alle Polizeibehörden eindringlich gebeten, Lady Simpson und ihrem Butler hilfreich zur Seite zu stellen. Dazu war Inspektor Grissac mehr als nur bereit. »Mylady kommt zu Ihnen in einer Privatangelegenheit«, schickt der Butler voraus. »Mylady wurde zu einer Trauerfeier eingeladen, die nicht stattfinden konnte, da der angeblich Tote sich noch bester Gesundheit erfreut.« Während Parker redete, reichte er Grissac die Einladung zur Trauerfeier, die sich auf den Baron de Ponelle bezog. Der schmale, lebhafte und drahtige Grissac überlas flüchtig die Einladung und verzog sein Gesicht. Dann lächelte er ein wenig unglücklich. »Der Baron ist Ihnen bekannt, Monsieur?« erkundigte Parker sich. »Natürlich, natürlich.« Grissac nickte und lächelte noch unglücklicher. »Sie können und sollten frei und offen reden, Monsieur.« »Wie soll ich mich ausdrücken, Monsieur Parker?« Grissac wand sich und war verlegen. »Der Baron ist, sagen wir, ein wenig seltsam, etwas skurril, verstehen Sie? Er liebt Scherze, die seine Umwelt nicht immer versteht. Er gibt den Menschen hier in der Region gewisse Rätsel auf.« »Er ist finanziell nicht sonderlich gut gestellt?«
»Aber nein, Monsieur Parker, der Baron ist reich.« »Obwohl sein Schloß verfällt und leer geräumt ist?« »Das hat nichts zu besagen, Monsieur Parker.« Inspektor Grissac hob abwehrend die Hände. »Eine Marotte des Barons! Er hat vor einigen Jahren das gesamte Mobiliar verkauft, beziehungsweise versteigern lassen. Die Antiquitäten erzielten Rekordpreise. Nein, nein, der Baron verfügt über große Mittel.« »Er ist mit der Republik nicht ganz einverstanden, oder?« »Er ist ein eingefleischter Royalist, Monsieur Parker, er lebt in einer vergangenen Zeit. Er würde am liebsten eine Privatarmee aufstellen und gegen unsere Republik kämpfen. Er macht keinen Hehl daraus.« »Macht er auch keinen Hehl daraus, daß er gewisse Nachkommen seiner weitverzweigten Familie bestrafen will?« »Aha, ich weiß, was Sie meinen, Monsieur Parker.« Grissac nickte. »Er will die Feigheit seiner Ahnen an ihren Enkeln rächen. Und er will die Jakobiner ausrotten, ich meine, deren Enkel natürlich. Das betont er bei jeder Gelegenheit. Unter uns, Monsieur, man amüsiert sich darüber hinter vorgehaltener Hand. In Wirklichkeit ist der Baron ein friedliebender Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tut, glauben Sie mir!« »In seinem Schloß kamen zwei Männer in Schwierigkeiten, wie man hört.« »Zwei Antiquitätendiebe aus Paris, Monsieur Parker. Einer brach sich den Hals, der andere erlitt
komplizierte Knochenbrüche. Hier in der Region haben wir es immer wieder mit solchen Dieben zu tun. Sie suchen Nachschub für Interessenten, die horrende Preise zahlen.« »Wann passierte das Unglück auf Chapelle-sur-Loire, Inspektor?« »Vor genau vier Wochen. Der Mann mit den Knochenbrüchen wurde hier in Saumur versorgt und behandelt, ließ sich dann aber nach Paris bringen.« »Kann man davon ausgehen, daß er gerichtlich verfolgt wird?« , »Auf keinen Fall, Monsieur Parker. Das Schloß war leer, wie also will man beweisen, daß er stehlen wollte? Nein, nein, die Akte ist geschlossen.« »Mylady wäre Ihnen außerordentlich verbunden, Inspektor, wenn Sie Namen und Adressen der beiden Männer zur Verfügung stellen könnten.« »Sie verfolgen einen bestimmten Fall, Monsieur Parker?« »Mylady schreibt an einem Kriminalroman«, erklärte Parker ausweichend.« Mylady braucht dazu Fakten und Hinweise, Personen und Charaktere. Mylady ist Ihnen bereits schon jetzt zu tiefstem Dank verpflichtet.« »Vielleicht könnte man im Innenministerium andeuten, Monsieur Parker, wie kooperationsbereit ich bin.« »Sie werden sich nicht zu beklagen brauchen, Inspektor«, versprach der Butler höflich. »Es war und ist ein tiefes Vergnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Darf ich Sie in
diesem Zusammenhang um eine kleine, beiläufige Hilfe bitten?« »Sie beglücken mich.« Grissac strahlte. »Es handelt sich um einen gewissen Monsieur Paul Legrand, der in Le Mans im Hotel >Belvedere< wohnte. Läßt sich feststellen, Inspektor, mit welchen Freunden in Paris er telefonierte? Mylady ist an größter Diskretion interessiert.« »Aber das ist doch selbstverständlich.« Grissac griff bereits zum Telefon. »Ich werde mit meinen Kollegen in Le Mans sprechen, ein wenig Geduld, bitte.« »Sie reden und reden«, räsonierte Parkers Herrin … die kaum etwas mitbekommen hatte, da ihre Sprachkenntnisse mehr als bescheiden waren. Als Engländerin war es selbstverständlich für sie, daß man ihre Muttersprache beherrschte. »Dieser Inspektor ist mir unsympathisch.« »Ein Mann, der sich glücklich schätzt, Mylady dienen zu können.« »Ein Mann, der mit Händen und Füßen redet«, grollte die ältere Dame. »Ich dachte schon, er wollte Ihnen an die Kehle springen. Leider hat er's nicht getan.« Sie sah bedauernd auf ihren perlenbestickten Pompadour, den sie wohl liebend gern eingesetzt hätte. »Mylady sollten das Temperament der Franzosen nicht vergessen«, meinte Parker höflich. »Der Inspektor telefoniert im Moment mit Le Mans und erspart Mylady möglicherweise einen Umweg.« »Und was sagt er über meinen Cousin?«
»Er hält ihn für sehr reich und skurril, im Grund aber für friedfertig und harmlos.« »Er wird sich bald sehr wundern«, antwortete die Detektivin grimmig.« Typisch Polizei, keine Ahnung. Hier in Frankreich scheint das kaum anders zu sein als auf der Insel. Mein Cousin ist ein Verbrecher, Mr. Parker, ich weiß es genau! Sie werden sich noch an meine Worte erinnern, verlassen Sie sich darauf!« * »Ein bemerkenswert netter Mensch, dieser Inspektor«, sagte Lady Agatha eine Viertelstunde später. Sie gönnte Grissac einen fast freundlichen Blick. »Mr. Parker, Sie müssen mal etwas gegen Ihre Vorurteile tun.« »Wie Mylady wünschen.« Parker ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Er kannte die wechselnden Stimmungen seiner Herrin sehr genau. Es macht mir überhaupt nichts aus, innerhalb weniger Minuten mehrmals ihre Meinungen zu wechseln. »Ohne diesen Mann hätten wir nach Le Mans fahren müssen.« »In der Tat, Mylady.« »Und jetzt wissen wir bereits, mit wem Paul Legrand gesprochen hat.« »Wahrscheinlich mit seinem Auftraggeber Mentone, Mylady«, bestätigte Josuah Parker. »Darf ich mir gestatten, in diesem Zusammenhang einen Vorschlag zu unterbreiten?« »Wahrscheinlich wollen Sie genau das sagen, woran ich die ganze Zeit über denke.« Sie nickte gewährend.
Sie hatte keine Ahnung, wie der Vorschlag ihres Butlers lauten würde, aber das hätte sie nie zugegeben. Es ärgerte sie ohnehin stets ein wenig, daß Parkers Vorschläge sich als richtig erwiesen. »Dann sind Mylady also einverstanden?« erkundigte der Butler sich. Er hatte zusammen mit seiner Herrin die Gendarmeriestation verlassen und ging auf sein hochbeiniges Monstrum zu. »Womit bin ich einverstanden, Mr. Parker?« fragte sie gereizt. »Mit dem Vorschlag, den Mylady bereits erahnen.« »Schnickschnack, Mr. Parker. Ich will ihn aus Ihrem Mund hören.« »Sehr wohl, Mylady.« Parker öffnete den hinteren Wagenschlag, um Agatha Simpson einsteigen zu lassen. »Ricardo Mentone dürfte sich in Paris aufhalten, wie man nun mit einiger Sicherheit unterstellen kann. Ihn in dieser Riesenstadt aufspüren zu wollen, bedeutet einen gewissen Aufwand.« »Natürlich, das sage ich doch bereits die ganze Zeit.« »Mylady sind also einverstanden, daß man Ricardo Mentone veranlaßt, hierher in die Provinz zu kommen?« »Das ist sogar mein Wunsch, Mr. Parker.« Sie schaute ihn streng an. »Ricardo Mentone dürfte diese Einladung nur zu gern aufgreifen, Mylady. Er wartet ja bekanntlich nur darauf, Mylady Schaden zufügen zu können.« »Veranlassen Sie das Notwendige«, entgegnete sie. »Mit Kleinigkeiten gebe ich mich nicht ab. Sorgen Sie dafür, daß dieses Subjekt seinen Schlupfwinkel in
Paris verläßt und hier erscheint!« »Bei dieser Gelegenheit läßt sich dann wohl auch feststellen, ob Myladys Cousin mit Mentone in irgendeiner Form zusammenarbeitet.« »Natürlich steckt er mit diesem Gangsterboß unter einer Decke.« »Demnach darf ich mir erlauben, für Mylady Quartier zu machen?« »Und wo haben Sie sich das vorgestellt?« »In der Nähe von Chapelle-surLoire, Mylady.« »Sehr gut.« Die Detektivin war einverstanden und nickte grimmig. »Dann habe ich diesen angeblich friedfertigen Vetter unter Kontrolle, Mr. Parker. Moment mal! Haben Sie sie gesehen?« »Die beiden Herren Gangster, Mylady?« »Wen sonst?« Sie grollte. »Nehmen Sie sofort die Verfolgung auf, Mr. Parker. Das sind die Lockvögel, um Mentone aus Paris fortzulocken.« Parker war einverstanden. Er ließ sein hochbeiniges Monstrum anrollen und folgte dem Citroen, in dem er die beiden Gangster Paul und Jean entdeckt hatte. Parker hatte den Eindruck, daß die beiden Mordschützen es darauf angelegt hatten, sich mehr als deutlich zu präsentieren. Wahrscheinlich war es ihre Absicht, Mylady und ihn in eine Falle zu locken. Parker ging zum Schein erst mal auf dieses freundliche Angebot ein, zumal es ganz seinen Absichten entsprach. Er blieb hartnäckig hinter dem Citroen, tat aber so, als wollte
er sich einer Beobachtung entziehen. Parker rückte niemals dicht auf, ließ andere Wagen vorfahren und sich von ihnen abschirmen. Sie hatten die reizvolle Stadt mit ihren Weinbergen längst hinter sich gelassen. Der Citroen bog plötzlich unvermittelt von der Hauptstraße ab und rollte sanft über eine geschotterte Straße auf einen ansteigenden Weinberg zu, um dann hinter einer flachen Hügelkuppe zu verschwinden. »Endlich«, sagte Lady Simpson unternehmungslustig. »Diese Verfolgung wurde langsam langweilig, Mr. Parker. Ich hoffe, daß sich endlich wieder etwas tut.« »Mylady werden mit Sicherheit bald zufrieden sein«, versprach Josuah Parker und hielt neben einer einfachen, halb in den Hügel hineinführenden Steinhütte an. »Die Herren Gangster werden umgehend zur Sache kommen, wie der Volksmund es ausdrücken würde.« * »Mensch, was sind diese Amateure dämlich«, entrüstete Jean sich förmlich. »Denen braucht man doch nur'n Köder hinzuschmeißen, und schon wird er angenommen.« »Vorsicht«, mahnte Paul. »Schließlich sind wir schon mal reingelegt worden.« »Zufall, nichts als Zufall.« Jean hatte weniger abbekommen als sein Partner Paul, daher rührte auch wohl sein Optimismus. Während der Wasserpantomime im Gewölbe war Paul dem Muskulösen leider einige Male zwischen die Finger geraten,
was sich nicht günstig auf die Kondition ausgewirkt hatte. Paul litt unter schweren Prellungen, fast angeknackten Rippen und daher auch Depressionen. »Dieser Kerl ist uns fast zu selbstverständlich gefolgt«, argwöhnte Paul. Er war ausgestiegen und öffnete ungelenk den Kofferraum, was mit seinem lädierten Gesamtzustand zusammenhing. Dann trat er zur Seite und ließ Jean hantieren, der einen Schalenkoffer öffnete und einige Teile aus Metall hervorholte. Nachdem er sie zusammengesetzt hatte, wurden daraus zwei handliche Maschinenpistolen mit relativ sehr kurzem Lauf. Jean ließ die Magazine einklicken und reichte dann seinem Partner Paul eine der beiden Waffen. »Bringen wir's hinter uns«, sagte er dazu und grinste, als sei ein Mord die natürlichste Sache der Welt. »Ich brauche endlich trockene Klamotten.« »Paßt mir gar nicht, so einfach umnieten«, meinte Paul und schüttelte den Kopf. »Was wär dir denn lieber?« »Ich würd die beiden lieber ganz schön langsam behandeln«, redete Gangster Paul weiter. »Eigentlich noch langsamer, Jean, noch viel langsamer.« »Die Sache da unten im Gewölbe war nicht astrein«, pflichtete Jean seinem Freund bei. »Aber trotzdem, ich würd kein weiteres Risiko mehr eingehen.« »Das ist es ja.« Paul nickte und lud seine Maschinenwaffe durch. »Los, komm! Und dann nichts wie zurück nach Paris und kassieren.«
Er wandte sich ab und marschierte los. Er wollte um die flache Kuppe herum und seine beiden Opfer ins Jenseits schicken. Nach einigen Schritten erst merkte er, daß sein Partner ihm nicht folgte. Paul drehte sich um und ... starrte auf Jean, der regungslos am Boden lag. Gangster Paul spürte die Panik, die in ihm hochstieg. Er sah sich ruckartig nach allen Seiten um, nahm die Maschinenpistole in den Hüftanschlag und war bereit, sofort zu schießen. Dann stahl er sich vorsichtig zu seinem Freund zurück. »Jean«, rief er halblaut, aber eindringlich. »Jean, was ist los? Sag doch was! Mensch, was is' los?« Jean sagte es ihm nicht. Er rührte sich nach wie vor nicht, lag auf dem Bauch und hatte seine Waffe unter sich begraben. Und erst jetzt entdeckte Paul im Gesäß seines Freundes und Partners einen stricknadellangen, bunt gefiederten Pfeil, wie er ihn aus dem Gewölbe her kannte. Gangster Paul wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Als Kind einer Millionenstadt verstand er mit Schußwaffen umzugehen, doch diese Blasrohrpfeile verunsicherten ihn total. Sie entstammten einer Welt, die er nicht kannte. Er dachte unwillkürlich an heimtückische Amazonasindianer und deren Giftpfeile. Er zerrte seinen Partner zurück zum Wagen und litt Höllenqualen. Jeden Moment konnte schließlich auch ihn ein solcher Pfeil treffen. Dann war es auch um ihn geschehen. Diese Vorstellung gab den Ausschlag.
Paul unterstellte einfach, daß sein Partner bereits tot war. Warum sollte er sich noch weiter um ihn kümmern? War es nicht seine verdammte Pflicht, sich jetzt in Sicherheit zu bringen? Er mußte seinem Auftraggeber schließlich mitteilen, mit welch gefährlichen Gegnern er sich da eingelassen hattePaul ließ seinen Freund Jean also zurück auf den Schotter fallen, nahm die Beine in die Hand und rannte in wilder Flucht weiter auf den Citroen zu. Er riß die Wagentür auf, warf sich ins Fahrerpolster und . .. verspürte im gleichen Moment einen stechenden Schmerz in seiner rechten Gesäßhälfte. Dieser Einstich kam derart überraschend, daß er aufheulte und hochsprang und mit seinem Kopf den Wagenhimmel fast einstieß. Er fiel zurück, spürte einen zweiten Einstich und fühlte eine angenehme Entspannung, die sich in ihm ausbreitete. Hinzu kam ein euphorisches Wohlgefühl. Er hätte am liebsten gelacht oder ein Lied geträllert. Er räkelte sich auf dem weichen Sitz, schloß die Augen und gab sich schönen Empfindungen hin. Darüber schlief er ein, doch das bekam er natürlich nicht mehr mit. * »Die Herren Paul Legrand und Jean Lucard«, stellte der Butler vor und deutete mit der Spitze seines Universal-Regenschirms auf die beiden Gangster, die sich in einer wenig beneidenswerten Lage befanden. Sie waren gerade wieder zu sich gekommen und brauchten viele
Sekunden, bis ihnen aufging, wie der Butler sie außer Gefecht gesetzt hatte. Sie steckten jeder in einem mittelgroßen Weinfaß, was vielleicht noch regulär gewesen wäre. Ihre Köpfe aber ragten oben aus geweiteten Spundlöchern hervor, die ihren Hälsen nur wenig Spielraum ließen. Die beiden Gangster sahen aus wie gemästete Männer mit dicken Bäuchen. In den Fässern konnten sie Arme und Beine nach Belieben frei bewegen, aber die »Halskrausen« ließen mehr nicht zu. An eine Selbstbefreiung war unter keinen Umständen zu denken. Die Faßdauben wurden von soliden Eisenreifen fest zusammengehalten. Parker hatte wieder mal bewiesen, wie erfindungsreich und handwerklich geschult er war. Aus den vorhandenen Gegebenheiten des ehemaligen Weinkellers heraus hatte er improvisiert. Agatha Simpson schritt auf die beiden Dickbäuche zu, die sich sichtlich verkrampften. Sie schielten die ältere Dame nervös und ängstlich an. Ihre Backen luden dazu ein, geohrfeigt zu werden. »Ich werde Fragen stellen, Sie werden antworten«, sagte Lady Agatha. »Meinen Butler und ich brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen. Mörder Ihres Kalibers werden sich informiert haben, oder? « »Ja ... Jawohl«, stotterte Jean sofort. »Das ... Das ist Freiheitsberaubung«, erklärte Paul, seine Angst unterdrückend. Er sprach ein hartes Englisch wie sein Partner.
»Natürlich«, antwortete die resolute Dame genußvoll. »Und Ihren Maschinenpistolen haben wir ebenfalls die Freiheit genommen. Sie befinden sich in den Fässern. Jetzt schießen Sie mal!« »Mylady möchte erfahren, wer Ihr Auftraggeber ist«, schaltete der Butler sich ein. »Auftraggeber?« Paul tat ahnungslos, soweit es das erweiterte Halsloch zuließ. »Was ist das?« erkundigte sich Jean. Mylady wandte sich an Parker und schüttelte den Kopf. »Ihre Methode ist zu zivil«, sagte sie grollend. »Lassen Sie mich mit diesen beiden Subjekten allein, Mr. Parker! Sehen Sie sich den Weinberg an, kommen Sie vor zehn Minuten nicht zurück, sonst könnten Ihre zartbesaiteten Nerven Schaden erleiden.« »Mylady, bitte nicht.« Parker sah seine Herrin förmlich beschwörend an. »Gehen Sie!« »Mylady denken doch bitte an Liverpool«, sagte Parker eindringlich.« Mylady denken bitte an London, Brüssel und Kairo.« »Gut, ich denke, Mr. Parker.« »Mylady erinnern bitte, wie schwer es jedes Mal war, die Leichen fortzuschaffen.« »Das ist wie immer Ihre Sache, Mr. Parker. Mit Nebensächlichkeiten gebe ich mich nicht ab, das wäre unter meiner Würde.« »Mylady mögen sich beschwören lassen. « Parker tupfte Schweißperlen von der Stirn, wozu er ein weißes Ziertuch benutzte.
Dann sah er die beiden Gangster fast entschuldigend an und hob ratlos die Schultern. »Mo ... Mo ... Moment mal, was soll das bedeuten?« erkundigte Paul sich mit deutlich belegter Stimme. »Blei... Blei... Bleiben Sie bloß hier«, verlangte Jean keuchend von Butler Parker. »Worauf warten Sie noch?« Agatha Simpson wirkte gereizt. In ihren Augen glomm ein halbirres Leuchten. Parker deutete daraufhin eine gehorsame Verbeugung an und verließ die Steinhütte. Draußen vor der Tür wirkte sein Gesicht entspannt. Ja, sogar der Anflug eines feinen Lächelns lag auf seinen Zügen. Der Dialog mit Lady Agatha war ein gut einstudiertes Ritual, um Verstockte zu Plaudertaschen zu machen. Lady Simpson beherrschte das irre Flackern und Leuchten in ihren Augen vorzüglich. Man mußte annehmen, daß sie nicht ganz normal war. Hinzu kamen die bewußten Anspielungen auf beliebige Städte, in denen Agatha Simpson angeblich bereits auf ihre persönliche Art tätig gewesen war. Parker lustwandelte zu dem Citroen hinüber und war sicher, daß die beiden Gangster und Killer schon recht bald reden würden. Myladys Methode war perfekt. Besonders beeindruckend war immer wieder, wenn sie eine ihrer langen Hutnadeln aus der Kopfbedeckung hervorzog und die Spitze prüfte. *
»Diese Waschlappen«, sagte Agatha Simpson bereits zehn Minuten später. Sie war aus der Steinhütte gekommen und offensichtlich enttäuscht. »Die beiden Herren Gangster haben geredet, Mylady?« »Geredet?« Sie lachte grimmig auf. »Übergesprudelt sind sie, Mr. Parker, ich bin ja kaum noch mitgekommen.« »Mylady waren sicher sehr überzeugend, wie ich annehmen möchte.« »Diese Memmen!« Sie schüttelte den Kopf. »Solange diese Subjekte eine Waffe in der Hand haben, sind sie stark. Sobald sie aber in der Tinte sitzen, brechen sie innerlich zusammen.« »Mylady sind also im Besitz sicherer Erkenntnisse? « »Das will ich meinen, Mr. Parker. Meine Vermutung war richtig: Ricardo Mentone hat sie engagiert. Natürlich streiten diese beiden Subjekte ab, einen Mord an mir und Ihnen geplant zu haben. Angeblich wollten sie uns nur ein wenig erschrecken.« »Diese Variante war zu erwarten, Mylady. Kennen die Herren Myladys Cousin?«. »Das stritten sie selbst dann noch ab, als ich meine Hutnadel in der Hand hatte.« »Demnach dürften Paul Legrand und Jean Lucard also die Wahrheit gesagt haben, Mylady.« »Das glaube ich allerdings auch.« »Und wieso, Mylady, erwarteten die beiden Gangster Mylady und meine bescheidene Person hier in Chapelle-sur-Loire?«
»Mentone hat ihnen diese Adresse gegeben. Er hat ihnen gesagt, daß ich auf jeden Fall kommen würde.« »Zwischen Mentone und Ihrem Cousin, Mylady, muß es eine Verbindung geben«, vermutete der Butler. »Natürlich, Mr. Parker, zweifeln Sie daran? Diese beiden Kerle stecken unter einer Decke. Glauben Sie eigentlich immer noch, daß Mentone hierher an die Loire kommt?« »Dafür könnten die beiden Gangster sorgen, Mylady.« »Richtig, das wollte ich gerade sagen.« Sie sah Parker wieder mal abwartend an. »Inspektor Grissac war so freundlich und hilfreich, jene Telefonnummer zu identifizieren, die Paul Legrand von seinem Hotel in Le Mans aus in Paris angerufen hat. Diese Direktleitung könnte man unter Umständen für Myladys Zwecke nutzen.« »Was denn sonst!« Sie nickte. »Worauf warten wir eigentlich noch? Diese beiden Waschlappen bleiben vorerst in ihren Weinfässern, Mr. Parker. Etwas Schweiß und Buße können sie brauchen.« »Durchaus, Mylady! Falls Mylady einverstanden sind, werde ich ein kleines Tonbandgerät installieren. Wahrscheinlich werden die Herren Legrand und Lucard ihre Einsamkeit nutzen und sich austauschen.« Parker, der inzwischen sein hochbeiniges Monstrum auf dem geschotterten Feldweg gewendet hatte, öffnete den Kofferraum und holte das notwendige technische Gerät hervor. Er war bestens
ausgestattet und auf alle Eventualitäten vorbereitet. Er legte einen winzig kleinen Miniatursender auf die breite Fensterbank der Steinhütte, während er das Aufnahmegerät - einen kleinen Kassettenrecorder - etwa zwanzig Meter von der Steinhütte entfernt im Unkraut eines Trampelpfades verschwinden ließ. Falls der Miniatursender gefunden wurde, blieb ihm immer noch das Aufnahmegerät. Parker war für Perfektion,, wenn es darum ging, geheimnisvolle und verzwickte Kriminalfälle aufzuklären. * Ricardo Mentone hielt sich nach wie vor in Paris auf. Hier hatte er viele Jahre gelebt und kannte jeden Schlupfwinkel. Zur Zeit benutzte er eine kleine Wohnung, die einem seiner Freunde gehörte, der für einige Wochen in Italien zu tun hatte. Die Wohnung war komfortabel eingerichtet und lag in einem modernen Apartmenthaus. Die Mieter waren seriös und standen ganz sicher nicht unter der aufmerksamen und diskreten Kontrolle der Polizei. Ricardo Mentone paßte in diese Umgebung, denn wie ein gefährlicher Gangster und Bandenchef sah er nicht aus. Man hätte ihn für einen erfolgreichen Kaufmann halten können, oder auch durchaus für einen italienischen Journalisten, für den er sich hier im Haus ausgab. Ricardo Mentone war vierzig Jahre alt, mittelgroß, schlank und trug gut
geschnittene, saloppe Kleidung. Sein Gesicht war gebräunt, die Augen hatten stets einen freundlichen Ausdruck. Er war der Typ eines Mannes, der ältere Damen höflich und respektvoll über belebte Straßen geleitete. In Wirklichkeit war dieser Gangster aber brutal und kannte keine Rücksicht. Wer sich ihm in den Weg stellte, der lebte nicht mehr lange. Seine Organisation drüben in England hatte er mit harter Hand geführt. Ein paar Mitarbeiter, die nicht in seinem Sinne gearbeitet hatten, konnten es nicht mehr bereuen. Mentone hatte sich auf harte Erpressung spezialisiert und ein kleines Vermögen gemacht, bis Lady Simpson und Butler Parker sich seiner angenommen hatten. Von diesem Zeitpunkt an war Mentone in Schwierigkeiten geraten und hatte sich schließlich in Richtung Frankreich absetzen müssen. Sehr hastig übrigens und auf einem kleinen, stinkenden Fischkutter, dazu noch bei Nacht und Nebel. Allein diese Schmach würde er Lady Agatha und Parker nie verzeihen. Diese Flucht war unter seiner Würde gewesen. Ihm war es dadurch allerdings gelungen, das erpreßte Kapital zu retten. Es befand sich nun in einem guten Versteck, das nur er allein kannte. Er hatte ein paar relativ ruhige Tage und Wochen hinter sich, doch dann waren Lady Simpson und Butler Parker hier in Paris erschienen. Mentone war klar, was das zu bedeuten hatte. Diese alte
Schachtel und ihr komischer Butler hatten sich an seine Fersen geheftet und wollten ihm das Geld abjagen. Sie sollten sich verrechnet haben! Ihre Ermordung war für ihn eine beschlossene Sache. Er wollte seine Rache haben. Schließlich hatten sie ihn in England herumgehetzt wie eine Ratte. Dafür präsentierte er ihnen jetzt die Rechnung. Gewisse Umstände hatten sich ergeben, dieses Duo in eine tödliche Falle zu locken. Wahrscheinlich hatten seine Helfershelfer inzwischen ihre Arbeit getan. Die Killer Legrand und Lucard hatten einen guten Namen und waren für ihre Präzisionsarbeit in eingeweihten Kreisen bekannt. Mentone befand sich an diesem Mittag in seiner Wohnung. Er hatte lange geschlafen, wollte jetzt duschen und sich dann ein wenig in der Stadt umsehen. Er fuhr nervös herum, als das Telefon sich meldete. »Luigi Litti«, meldete er sich, nachdem er abgehoben hatte. Unter diesem Namen hatte er sich beim Hausverwalter eingeführt, auf diesen Decknamen lautete auch sein falscher Paß. »Hier ist Rich«, sagte eine dunkle, rauhe Stimme in englischer Sprache. »Ich habe Nachrichten, Chef.« »Es ist also gelaufen, das Geschäft?« Ricardo Mentone dachte automatisch an die beiden Killer und an das Duo, das wohl schon nicht mehr lebte. »Die Geschäfte gehen schlecht«, sagte der Mann, der sich mit dem Vornamen Rich gemeldet hatte. »Die Warenempfänger haben sich gerade gemeldet.«
»Wie war das? Wiederhol das noch mal!« Die sogenannten Warenempfänger waren das Codewort für Agatha Simpson und Butler Parker. Die Ware, die ihnen zugedacht war, sollte aus Stahl und Blei bestehen. »Die Warenempfänger haben mich eben angerufen«, wiederholte Rich noch mal. »Ich sollte sicherheitshalber schon das Büro gewechselt haben, Chef, sicher ist sicher.« »Komm endlich zur Sache!« Mentone bemühte sich um Fassung. »Es war der Geschäftsführer, der mich angerufen hat.« Mentone hörte es und wußte, daß damit nur Butler Parker gemeint sein konnte. »Von wo aus hat er angerufen?« »Saumur, da unten an der Loire. Er läßt ausrichten, daß deine beiden Vertreter erhebliche Schwierigkeiten mit dem Verkauf hätten.« »Hat er .. . Hat er noch mehr gesagt?« Mentone spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. »Deine beiden Vertreter, Chef, haben erst mal eine kleine Pause eingelegt. Sagt der Geschäftsführer. Und er hat auch noch gesagt, ich sollte dich umgehend anrufen und verständigen. Er meint, wenn du Lust hättest, könntest du doch nach Saumur kommen.« »Hat er sich gedacht.« Ricardo Mentone lachte jetzt spöttisch auf. »Der Geschäftsführer glaubt allerdings nicht dran, Chef«, redete Rich inzwischen munter weiter. »Er meint, du wärst geschäftlich bereits erledigt und hättest keine Nerven mehr, noch was zu unternehmen.«
»Der will mich doch nur provozieren.« »Nehme ich auch an, Chef.« »Der will mich in die Provinz locken, Rich.« »Liegt doch auf der Hand, Chef.« »Den Gefallen tu ich ihm aber nicht.« »Wenn du mal klug bist, Chef! Parker, äh, ich meine, dieser Geschäftsführer riskierte 'ne ziemlich große Lippe. Er sagte, deine Zeit sei vorüber, aber du hättest das noch nicht mitbekommen. Er hat das anders gesagt, Chef, du weißt ja, wie geschwollen der quatscht.« »Hat er gesagt, wo er sich aufhält?« »Er hat aus Chapelle angerufen, hat er laut und deutlich gesagt. Ich hab' schon auf der Autokarte nachgesehen, Chef, das Nest liegt in der Nähe von Saumur.« »Sollte man sich merken.« »Chef, du willst doch nicht etwa ...« »Unsinn, natürlich nicht. Der wartet doch nur darauf.« Mentone lachte leise und überlegen. »Wie der Butler mich einschätzt, ist mir doch völlig egal.« »Und was wird aus Legrand, äh, ich meine, aus den beiden Vertretern, Chef?« , »Geschäftliche Pannen sind in ihrem Honorar mit inbegriffen«, gab Ricardo Mentone zurück. »Sie sind doch ausgebuffte Profis, die werden sich schon wieder rauswursteln und dann bessere Umsätze machen.« »Dann also erst mal abwarten, Chef?«
»Natürlich, Rich. Ich werde mich wieder melden. Bis dahin herrscht ab sofort Funkstille.« Ricardo Mentone legte auf und ärgerte sich maßlos. Am Telefon hatte er sich zwar überlegen und optimistisch gegeben, doch jetzt brach sein Haß durch. Also hatten es diese schrullige Lady und Butler Parker wieder mal geschafft! Sie waren ihren Mördern nicht nur entwischt, nein, sie hatten diesen Legrand und auch dessen Partner Lucard außer Gefecht gesetzt. Darüber hinaus hatte Parker ihm gerade mitteilen lassen, daß er ihn, Mentone, für erledigt hielt. Durfte er so etwas auf sich sitzen lassen? Mußte er es diesem Parker nicht gründlich zeigen? Noch war ein Ricardo Mentone nicht aus dem Geschäft, noch nicht! * Rich, ein etwas vierschrötig aussehender Mann von etwa dreißig Jahren, war ein harter Bursche, der so etwas wie Mentones Leibwächter darstellte. Er fühlte sich in Paris überhaupt nicht wohl, denn im Gegensatz zu Mentone sprach er nur ein paar Brocken Französisch. Er kam sich in der Riesenstadt hilflos, einsam und verlassen vor. Sein Chef Mentone hatte ihn in einer kleinen Fremdenpension untergebracht, in der das Personal wenigstens etwas Englisch sprach. Rich, sein voller Name lautete Richard Baskell, erhob sich von seinem Bett, als angeklopft wurde. Er griff erst mal automatisch nach seiner Schußwaffe, entsicherte sie und
pirschte sich dann nach leisem Aufstehen an die Tür heran. »Wer ist da?« fragte er in französischer Sprache. »Der Portier schickt mich«, lautete die Antwort, die eine kokett klingende Frauenstimme gab. »Moment.« Rich öffnete, nahm die Waffe ein wenig herunter und blinzelte die junge Frau an, die vor der Tür stand. Sie strahlte ihn an und präsentierte ihm einen Schnellhefter, den sie aufklappte. »Was ist?« fragte Rich und ließ die Schußwaffe hinter seinem Rücken verschwinden. Er war überrascht, wie gut die junge Frau aussah. Sie mochte seiner Schätzung nach knapp fünfundzwanzig sein, vielleicht noch jünger. Sie war langbeinig, erstklassig gewachsen und hatte dunkelbraune, fast schwarze Augen. Sie trug einen weit schwingenden Rock und eine leichte Bluse. »Ich sammle«, erwiderte die junge Frau. »Wir geben ein Fest, Monsieur, verstehen Sie mich? Sprechen Sie zufällig Englisch? Dann könnte ich Ihnen das leichter erklären.« »Sie sind Engländerin?« Rich war glücklich, endlich in seiner Muttersprache reden zu können. »Ich bin Amerikaner«, lautete die Antwort. »O Mann, tut das gut, endlich mal wieder normal reden zu können.« »Wem sagen Sie das, Mädchen!« Richard Baskell riß weit die Tür auf. »Für wen oder was sammeln Sie?« »Für unser Atelierund Straßenfest. Können Sie etwas locker machen?«
»Wo soll der Rummel denn steigen? Kommen Sie 'rein in die gute Stube!« Er deutete einladend in sein Zimmer. »Lieber nicht.« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Solche Einladungen kenne ich.« »Trauen Sie mir was Böses zu?« Er grinste. »Alles!« Sie nickte, aber sie lachte weiter. »Wollten Sie nicht wissen, wo das Fest steigen soll?« »Richtig, hätte ich beinahe vergessen.« Er hatte sie durchgemustert und war zu dem Schluß gekommen, daß sie auf keinen Fall ein Kind von Traurigkeit sein konnte. Für so etwas besaß er ein feines Gespür. »Ein paar Straßen weiter haben wir einige Ateliers«, erklärte sie, blieb aber an der Tür stehen. »Eingeladen ist jeder, der kommen will. Das halten wir immer so.« »Und wann steigt die Party?« »In zwei Tagen«, gab sie zurück. »Ich glaube, ich werde Sie dort sehen, oder? « »Worauf Sie sich verlassen können, Miß.« Er nickte. »Was muß man denn so springen lassen?« »Das überlasse ich Ihnen, Mann.« Sie war burschikos, lehnte sich gegen den Türrahmen und sah ihn herausfordernd an. »Sie sind neu hier, nicht wahr?« »Richtig.« Er nickte. »Meine Firma hat mich nach Paris geschickt. Ich fühle mich verdammt einsam.« »Dagegen kann man doch was tun.« »Schlagen Sie was vor!« »Lieber nicht.« Sie wehrte mit dem Zeigefinger ab, den sie hin und her bewegte. »Kleine Rotkäppchen
gehen dem bösen Wolf besser aus dem Weg.« »Reicht das?« Er hatte seine Brieftasche aus dem Jackett geholt, das über der Stuhllehne hing und reichte eine Pfundnote. Sie pfiff anerkennend und trat ins Zimmer. »Wenn Sie jetzt noch 'ne richtige Zigarette haben, sind Sie der Größte«, behauptete sie. »Ich kann das schwarze Kraut hier nicht mehr riechen.« »Ich hätte sogar einen anständigen Whisky, Mädchen.« »Sie werden von Sekunde zu Sekunde immer besser.« Sie drückte die Tür hinter sich zu und ließ sich auf der nahen Fensterbank nieder. »Ich heiße Lana.« »Rich«, stellte er sich vor. »Wie wär's denn, Mädchen, sollen wir mit der Party nicht schon beginnen? « »Das werde ich mir gründlich überlegen.« Sie schaute ihm zu, als er zwei Wassergläser reichlich mit Whisky füllte. Sie nahm ihr Glas entgegen und tat einen erstaunlich herzhaften Schluck. Sie schnappte danach noch nicht mal nach Luft. »Was treiben Sie hier in Paris, Lana?« wollte Rich wissen. »Zur Zeit bin ich Modell«, lautete ihre Antwort. »Man schlägt sich so durch. Ich bin hängen geblieben, verstehen Sie?« »Kein Wort, Lana.« »Ich bin eigentlich Tänzerin und war in einem Nachtclub engagiert.« »Als Stripperin?« Er zwinkerte ihr zu. »Fast«, sagte sie ohne jede Verlegenheit. »Und als der Laden Pleite machte, habe ich auf Modell
umgesattelt. Weiß der Henker, was ich übermorgen tun werde.« »Ich bin übrigens Maler«, sagte Richard Baskell. »Amateurmaler, aber nicht unbegabt. Wissen Sie, daß ich ein Modell suche?« »Das habe ich mir gerade fast schon gedacht.« Sie nahm wieder einen herzhaften Schluck. »Sie wollten mir 'ne richtige Zigarette geben, haben Sie das vergessen?« Er wandte sich ab und ging zum Nachttisch hinüber. Anschließend versorgte er sie mit einer Zigarette und reichte ihr Feuer. »Wunderbar«, sagte sie nach dem ersten tiefen Zug. »Ich muß jetzt weiter, Rich. Warten Sie, ich muß Ihre Spende noch eintragen.« »Von den Pfundnoten sind noch mehr da«, deutete er nachdrücklich an. »Wann sind Sie mit Ihrer Runde durch, Lana?« »In 'ner knappen Stunde, Rich. Und dann werde ich mir noch einen kleinen Schluck abholen, einverstanden?« »Ich stell den Stoff kalt«, versprach er. »Zigaretten sind auch noch jede Menge da, Lana. Beeilen Sie sich!« »Schüchtern sind Sie gerade nicht.« Sie ging zur Tür. »Können Sie testen, Süße«, meinte er. »Können Sie alles testen ...« Sie verließ das Zimmer und ließ eine sogenannte »Wanze« zurück, doch davon ahnte Richard Baskell nichts. Er hatte auch keine Ahnung, daß er mit einer gewissen Kathy Porter geflirtet hatte, die eigentlich die Sekretärin und Gesellschafterin einer Lady Agatha Simpson war.
* Lady Agatha Simpson versprühte fast um die gleiche Zeit viel Charme, was eigentlich recht selten vorkam. Die ältere Dame zeigte sich als vollendete Gastgeberin und bemühte sich um Inspektor Grissac, der. sich äußerst geschmeichelt fühlte. Butler Parker hatte den Gendarmerieinspektor im Namen seiner Herrin zu einem kleinen Essen abgeholt, das in einer ehemaligen alten Wassermühle stattfand. Sie war in ein Speiselokal der ersten Kategorie verwandelt worden und wurde von Einheimischen und Touristen besucht, die über großzügig gefüllte Geldbörsen verfügten. »Ich liebe Ihr Land, mein junger Freund«, behauptete Lady Simpson reichlich unverfroren. »Ich schätze aber vor allen Dingen die Polizei, die phantasievoll und energisch ist.« »Sie machen mich glücklich, Mylady«, erwiderte Grissac, seine schwachen Englischkenntnisse einsetzend. »Übertreiben Sie nicht gleich«, bremste Lady Agatha sofort wieder und deutete auf Butler Parker, der am Tisch saß. »Mr. Parker wird Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Einige Fragen, Monsieur, die nur ein exzellenter Kriminalist wie Sie beantworten kann«, schaltete der Butler sich auf Französisch ein. »Mylady rühmt bereits jetzt schon Ihre außerordentliche Hilfsbereitschaft.« Grissac errötete sanft und hüstelte. »Sie waren so gütig, sich nach den Sterbefällen innerhalb der Familie de
Ponelle zu erkundigen«, redete Parker weiter. »Ich möchte als sicher unterstellen, daß Sie bereits über alle Informationen verfügen, Monsieur.« »Allerdings, Monsieur Parker. Ich habe mit einem Kollegen in Paris gesprochen, der mir intime Auskunft geben konnte.« »Mylady wird das zu schätzen wissen.« »Drei Sterbefälle innerhalb von zwei Wochen«, rekapitulierte der Inspektor. »Recht ungewöhnlich, finden Sie nicht auch?« »Ein Urteil darüber überlasse ich selbstverständlich Ihnen.« »Sind Sie bereits bei der Sache?« warf Lady Agatha ein. Sie ärgerte sich, daß sie kaum etwas mitbekam. »Unmittelbar, Mylady«, beruhigte Parker seine Herrin, um den Inspektor dann abwartend anzusehen. »Der erste Todesfall bezieht sich auf einen Rene de Ponelle, zweiundsechzig Jahre alt, unverheiratet«, zählte Inspektor Grissac auf. »Er wurde tot in einer Badewanne seiner Stadtwohnung aufgefunden. Dummerweise hörte er Radio während seines Bades, dummerweise fiel dieses Radio ins Wasser. Den Rest kann man sich leicht vorstellen.« »Sehr plastisch sogar«, pflichtete der Butler ihm bei. »Der zweite Todesfall bezieht sich auf Pierre de Ponelle, sechzig Jahre alt, verwitwet. Sein Wagen und er wurden von einem schweren Lastwagen deformiert, Sie verstehen?«
»Dies, Monsieur, haben Sie sehr taktvoll umschrieben«, lobte Butler Parker würdevoll. »Das dritte Todesopfer innerhalb der beiden Wochen, Monsieur Parker, war Gaston de Ponelle, Sechsundsechzig Jahre alt, ebenfalls verwitwet. Der Beklagenswerte wurde tot am Fuß einer Treppe aufgefunden.« »Eine schreckliche Serie«, urteilte Butler Parker. »Gibt es noch weitere enge Mitglieder der Familie de Ponelle?« »Da sind noch zwei Verwandte unseres Barons hier«, bestätigte Grissac. »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, Monsieur Parker, glauben Sie, daß auch bei diesen Verwandten mit baldigen Unglücksfällen zu rechnen sein wird?« »Eine äußerst delikate Frage«, fand Josuah Parker. »Wie denken Sie darüber, Monsieur? Ihr Scharfsinn wird Ihnen längst eine Antwort gegeben haben, nicht wahr?« »Falls dem so wäre, Monsieur Parker, stünde uns noch eine schreckliche Todesserie innerhalb der Familie des Barons de Ponelle bevor.« »Die Familie ist sehr zahlreich?« »Sehr sogar, Monsieur Parker.« »Und wie steht es um den finanziellen Hintergrund dieser Familie?« »Dieser Hintergrund ist goldverziert, Monsieur Parker. Die Familie de Ponelle verfügt über ein großes Vermögen. Nach dem Tod der jeweiligen Familienmitglieder fallen die Vermögensanteile an die
noch lebenden Namensträger. Das hat mein Kollege mir bestätigt.« »Sie haben sich also bereits danach erkundigt, nicht wahr?« »Das war meine Pflicht, Monsieur.« Grissac richtete sich auf und blitzte den Butler an. »Ich gehe grundsätzlich jedem Verdacht nach. Ich weiß inzwischen auch, daß Lady Simpson durchaus daran denkt, einen Roman zu schreiben, aber ich weiß auch, daß Mylady und Sie drüben in England recht erfolgreiche Amateurkriminalisten sind.«. »Sie schmeicheln Mylady«, schränkte Butler Parker höflich ein. »Könnte es nun möglich sein, daß Baron de Ponelle ein, sagen wir, Doppelleben führt? Vielleicht könnte er Fliegen doch etwas zuleide tun?« »Das frage ich mich inzwischen auch.« »Aber wie, Inspektor? Er scheint doch sehr häuslich zu sein, um es mal so auszudrücken.« »Man sieht ihn oft tagelang nicht, Monsieur Parker. Er könnte durchaus unsere Region verlassen, ohne daß man etwas bemerkt.« »Um nach Paris zu fahren, nicht wahr?« »Richtig, Monsieur Parker, doch ich will damit nichts gesagt haben.« »Besitzt der Baron denn einen Wagen, Monsieur?« »Zwei Wagen.« Grissac nickte. »Er hat einen alten Rolls-Royce, dann besitzt er noch einen Peugeot. Aber...« »Was immer Sie auch andeuten möchten, Inspektor, es wird außerordentlich vertraulich behandelt werden«, erklärte Parker.
»Angenommen, der Baron will sich wirklich rächen, angenommen, er will seine Familie bestrafen, Monsieur, muß er dann selbst und mit eigener Hand tätig werden? Das frage ich mich, verstehen Sie?« »Richtig, er hat Angestellte.« Parker nickte. Er sah einen gewissen Beilträger sehr genau vor sich. »Einer von ihnen ist nicht ganz richtig im Kopf«, redete Inspektor Grissac inzwischen weiter. »Er heißt Charles und ist ein Klotz von einem Burschen, ungehobelt und aggressiv.« »Das Gegenteil vom zweiten Angestellten, nicht wahr?« »Der zweite Mann heißt Roger Fontenac, Monsieur Parker. Und wissen Sie, was man hinter der vorgehaltenen Hand munkelt?« »Sie machen meine bescheidene Wenigkeit äußerst neugierig«, räumte Josuah Parker ein. »Er soll ein illegaler Sohn des Barons sein«, schloß der Inspektor fast triumphierend. »Es könnte also kriminelle Zusammenhänge geben, wenn ich nur an die Erbfolge denke, aber ich will nichts gesagt haben.« * »Ich werde noch wahnsinnig«, keuchte Gangster Paul. »Ich bekomm die verdammte Halskrause einfach nicht los.« »Ich auch nicht.« Gangster Jean stemmte sich nach diesem Hinweis wieder mal mit den Zehenspitzen ab und versuchte den Deckel des Fasses hochzustemmen. Der Versuch erwies sich als untauglich, denn der
Eisenreif, der die Faßdauben zusammenhielt, rührte sich nicht. »Wie lange sitzen wir jetzt in diesen Dingern?« fragte Profi Paul. »Seit 'ner Ewigkeit«, behauptete Gangster Jean und steckte seine Versuche auf. »Ich steh das nicht länger durch.« Wütend bewegte er sich mit seinem Körper hin und her, während sein ziemlich eingezwängter Kopf daran kaum beteiligt war. Und wenig später passierte es! Das Faß war in Schwingungen geraten, kippte plötzlich und schlug seitlich um. Da es am Rand einer vielleicht dreißig Zentimeter hohen Steinrampe gestanden hatte, war der Aufprall nicht besonders hart. Nun, das solide Faß blieb heil, doch es rollte über den unebenen Steinboden und landete dann rauh vor der Tür. »Das Ding gibt nach«, brüllte Paul begeistert. »Mensch, du schaffst es, Jean.« Jean war nicht in der Lage, sofort darauf zu antworten. Er war benommen und brauchte einige Sekunden, bis er wieder klar denken konnte. »Roll dich zurück, und dann noch mal gegen die Tür«, verlangte Paul aus seinem Faß heraus. »Ich brech mir das Genick«, fürchtete Jean. »Wenn schon, Hauptsache, du kommst frei.« Dieser Hinweis war zwar unlogisch, denn er hätte Jean ja keinen Vorteil gebracht, doch der Gangster durchdachte das nicht weiter. Er strampelte sich durch Gewichtsverlagerung ab, das Faß
zurückzurollen, was aber nicht so recht gelingen wollte. »Versuch du's mal.« Jean gab auf und gönnte sich eine kleine Ruhepause. »Du stehst noch höher als ich eben.« Dieser Hinweis war richtig. Das Faß, in dem sich Paul Legrand befand, stand auf einer zweiten Rampe. Die Entfernung von dort bis herunter zum Steinboden betrug fast einen Meter. »Nun mach doch schon«, brüllte Jean Lucard wütend, als sein Partner Paul nicht sofort an die Arbeit ging. Paul schätzte die Entfernung nach unten ab, fürchtete um die Zerbrechlichkeit seines eigenen Genicks und konnte sich zu dieser Tat nicht entschließen. »Du feiger Hund!« Jeans Stimme überschlug sich fast. »Roll dich endlich ab! Nun mach schon!« Paul Legrand schloß die Augen, überwand seine Angst und mühte sich nun seinerseits ab, das Faß umzukippen. Er brauchte viel Zeit, bis dies endlich andeutungsweise zu erkennen war. Angefeuert von den Schimpfwörtern seines Freundes schaffte er es schließlich. Sein Faß neigte sich und kippte dann endlich nach unten. Paul blieb bewegungslos liegen, obwohl der Faßdeckel an seinem Hals aufgesprungen und zerborsten war. Halb benommen kletterte der Gangster endlich aus dem Faß und blieb erschöpft auf dem Steinboden liegen. Erst als Jean ihn einige Male wütend angeschrien hatte, fand Paul in die Wirklichkeit zurück. Er kroch zu Jean hinüber und zerrte ziemlich
sinnlos an dessen Kinn und Hals, um ihn aus dem Faß zu befreien. »Du... Du bringst mich ja um«, keuchte Jean Lucard während einer Arbeitspause. »Schlag doch endlich den Deckel ein, du Idiot!« Es dauerte einige qualvoll lange Minuten, bis Paul das mit einem Stein geschafft hatte. Danach sah das Gesicht seines Freundes Jean allerdings leicht zerschrammt aus. Paul hatte nicht immer genau das Holz getroffen. Die beiden Profigangster gönnten sich erst mal eine kleine Pause und genossen die Freiheit. »Und jetzt?« fragte Paul schließlich. »Was wohl?« Jean stand vorsichtig auf und massierte sich seinen gedehnten Hals. »Jetzt nehmen wir uns den Butler und die Lady vor, ist doch klar. Und wie wir sie uns vornehmen werden.« »Und wo finden wir die?« fragte Paul, dem der Sinn nach Paris stand. Er sehnte sich nach seiner vertrauten Umgebung. Ihm wurde gar nicht bewußt, daß er das Team nicht mehr führte. Jean hatte das Kommando übernommen. »Hast du das denn nicht mitbekommen?« fragte Jean wütend zurück. »Die beiden Typen haben sich doch vor der Hütte darüber unterhalten.«. »Kann sein.« Paul winkte ab. Er wollte schleunigst zurück nach Paris. »Der Butler und die Lady wollen doch hier in der Gegend auf Mentone warten. War doch laut und deutlich zu verstehen. Und wenn die hier in der Gegend sind, werden wir sie auch finden.«
»Das kann ein Trick von Parker gewesen sein«, warnte Paul. »Das erfahren wir dann immer noch früh genug, Paul. Jetzt erst mal nichts wie weg und unseren Kontaktmann anrufen. Mentone muß Bescheid wissen.« »Warum stecken wir nicht auf? Wir leiden ja nicht gerade an Geldmangel.« »Ich will meine Rache haben«, verlangte Jean Lucard nachdrücklich. »Ich will den Butler und die Alte durch die Hölle jagen. Ich kann's kaum erwarten.« »Also gut.« Paul Legrand war einverstanden. »Und wo gehen wir vorerst mal in Deckung? Woher bekommen wir neue Kanonen?« »Wir fahren zurück nach Chapellesur-Loire«, sagte Jean. »Vielleicht wissen die da, wo wir unsere beiden Typen finden können. Worauf wartest du eigentlich noch?« »Ich hab 'n komisches Gefühl in der Magengegend«, bekannte Gangster Paul. »Wir liegen in 'ner Pechsträhne, Jean.« Er deutete das Gefühl in seiner Magengegend nicht falsch, doch sein Freund Jean ging darauf überhaupt nicht ein. Er wollte seine blutige Rache haben. * Kathy Porter hatte sich gründlich verwandelt. War sie vor einer knappen halben Stunde noch eine kesse Amerikanerin gewesen, so sah sie jetzt aus wie eine leicht überforderte, ein wenig abgearbeitete Hausfrau. Sie trug einen Kittel, hatte sich das
Haar hochgesteckt und hielt eine große Einkaufstasche in der linken Hand. Sie schien übrigens schwerhörig zu sein und ein entsprechendes Hörgerät zu benutzen. In ihrem linken Ohr steckte ein Ohrclip, dessen dünne Leitung am Hals entlang verlief und unter dem Kittel verschwand. Kathy war auf Empfang gegangen. Das kleine, hochempfindliche Gerät in der Nähe ihres Busens transportierte jedes Geräusch aus dem Hotelzimmer des englischen Gangsters Rich, den sie aufgesucht hatte. Diese Adresse hatte sie von Butler Parker erhalten. Er hatte von Saumur aus angerufen und ihr mitgeteilt, daß zwei Mordschützen von Le Mans aus mit einem gewissen Richard Baskell telefoniert hatten. Daraufhin hatte Kathy Maske gemacht und sich diesen Richard Baskell mal aus der Nähe angesehen. Daß dieser Gangster ein Mitglied der MentoneBande war, wußte Kathy ebenfalls' von Parker. Er war wohl der Mittelsmann, über den der Gangsterboß mit den beiden Killern verkehrte. Kathy Porter schlenderte die schmale Straße entlang, an der sich die kleine Pension befand. Sie schaute Auslagen an, kaufte hier und da Kleinigkeiten, lauschte auf das, was der Ohrclip ihr lieferte, und blieb plötzlich stehen. Sie baute sich vor einem Schaufenster auf und hörte genau zu. Sie hatte das Klingeln eines Telefons gehört. Richard Baskell war ungewöhnlich schnell am
Apparat, hob ab und meldete sich. Er hörte einen Moment zu und bestätigte dann das, was er gehört hatte. Kathy Porter hatte nichts dagegen. »Okay, Chef«, sagte Baskell. »Wir brausen also 'runter an die Loire. Habe ich mir fast schon gedacht. Wieso? Na ja, Chef, weil ich dich schließlich kenne. Aber ich hab' dich gewarnt. Der Butler will doch nur provozieren. Un' du machst genau das, was er will. Wie? Klar, ist nich mein Bier, schon gut, schon gut, ich hab' ja nur gemeint. Okay, ich hol dich in 'ner halben Stunde ab. Eigentlich schade, daß ich meine Bude hier aufgeben muß, hab' mich ganz wohlgefühlt, aber ich hätt ja wohl ohnehin ausziehen müssen. Warum? Mann, Chef, der Butler hat mich doch hier in der Pension angeru ... Wie? Ja, schon gut. Ende!« Richard Baskell legte auf und fluchte ausgiebig. Er wanderte deutlich hörbar im Zimmer umher. Und Kathy Porter konnte sich gut vorstellen, warum dieser Gangster verärgert war. Schließlich hatte er sich ja eingebildet, daß sie kommen würde. Kathy Porter verließ das Schaufenster und ging zu ihrem 2 CV hinüber, der hinter der nächsten Straßenecke stand. Es war ein schäbig aussehender, zerbeulter Wagen, der durchaus ins Straßenbild paßte. Sie setzte sich ans Steuer und ließ den Wagen soweit vorrollen, daß sie den Eingang des kleinen Hotels gut überblicken konnte. Es dauerte nicht lange, bis Richard Baskell erschien. Vermutlich hatte er ein Taxi bestellt, denn er wartete mit
seiner großen Reisetasche und einem kleinen Koffer am Straßenrand. Nach wenigen Minuten tauchte wirklich ein Taxi auf, in dem der Gangster Platz nahm. Kathy Porter hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, dem Wagen zu folgen. Der Verkehr staute sich wieder mal auf den Hauptstraßen. Und in den Umgehungs- und Seitenstraßen sah es nicht besser aus. Kathy blieb geduldig hinter dem Gangster, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte. Richard Baskell ließ sich bei einem modernen Autoverleih absetzen und trug sein Gepäck in das flache Bürogebäude neben dem Tor zur Servicehalle. Kathy parkte ihren 2 CV am Bordstein, machte kurz eine Verwandlung durch und erschien dann auf der Straße als eine Art Raumpflegerin. Sie hielt einen Besen in der linken Hand, hatte sich ein Kopftuch umgebunden und schwenkte in der rechten Hand einen Putzeimer. Wie selbstverständlich betrat sie das Gelände des Autoverleihs, passierte das Büro, warf einen kurzen Blick auf den Gangster, der gerade die Formalitäten erledigte und wartete dann in der Halle. Es klappte wie am Schnürchen. Der Hallenmeister wurde per Lautsprecher vom Büro aus angewiesen, einen Simca nach vorn zum Büro zu bringen. Kathy Porter wartete, bis das geschehen war. Dann marschierte sie zurück, nickte einigen Monteuren vertraulich zu, die selbstverständlich erwiderten, und blieb hinter dem Simca stehen.
Als Baskell sich anschickte, das Büro zu verlassen, fiel Kathy der Putzeimer aus der Hand. Sie bückte sich nach ihm, kam so zielgerecht in die Nähe des Wagenhecks und befestigte in Sekundenschnelle einen Haftmagnetsender unter dem Bodenblech des Kofferraums. Baskell achtete überhaupt nicht auf die Putzfrau, wahrscheinlich hatte er sie gar nicht bemerkt. Er setzte sich in den Leihwagen und fuhr los. Die Raumpflegerin ging zurück zum 2 CV und klemmte sich hinter den Simca. Sie wunderte sich, wie sorglos dieser sonst so mißtrauische Gangster war. * »Ich bin befremdet, teuerste Cousine«, sagte Baron de Ponelle, als er sich nach dem Öffnen der Tür Lady Simpson gegenübersah. »Sie hätten sich wenigstens verabschieden können. Der englische Zweig meiner Familie scheint verwildert zu sein.« »Wie der französische Zweig«, erwiderte die um keine Antwort Verlegene grimmig. »Ihr Likör, Victor, war miserabel. Haben Sie das nicht gewußt?« »Miserabel?« Der Gnom starrte die ältere Dame entgeistert an. »Würden Sie das noch mal wiederholen?« »Er war nicht nur miserabel, er war saumäßig«, steigerte Agatha Simpson grollend. »Ich möchte fast sagen, er war vergiftet.« »Das ist... Das ist eine ungeheure Unterstellung«, entrüstete sich der gnomenhaft kleine Baron. »Ich selbst nehme täglich mehrere Gläschen davon zu mir.«
»Wahrscheinlich ohne Giftzusatz«, stichelte die ältere Dame. Sie schob den kleinen Mann mit ihrer stattlichen Fülle einfach zur Seite und betrat das Kutscherhaus. »Haben Sie vor, sich jetzt an der englischen Seitenlinie der Familie zu rächen?« Victor de Ponelle trippelte hinter seiner Cousine her und achtete nicht weiter auf den Butler, der gemessen und würdevoll folgte, sich dann aber wieder blitzschnell zurückzog und laut und deutlich die Tür schloß. Parker konnte schnell sein, wenn es angebracht war. Dennoch war es immer wieder erstaunlich, wie wenig er dann von seiner Gemessenheit verlor. Er lief nie, doch seine Grundgeschwindigkeit war beachtlich. Er schritt um das Haus herum und hatte sich nicht verrechnet. Als er um die Ecke bog, machte er einen Mann aus, der wohl gerade schleunigst das Kutscherhaus durch einen Seiten- oder Hinterausgang verlassen hatte. »Könnten Sie mir freundlicherweise mit einer Auskunft dienen?« rief der Butler den Mann an, der seiner Schätzung nach etwa fünfunddreißig war. Er war mittelgroß, schlank und zeigte dem Butler ein völlig verblüfftes, übrigens gut geschnittenes Gesicht. Der junge Mann war für einen Moment stehengeblieben, wandte sich dann wieder ab und wollte hinüber zu den Taxushecken, die sich bis an das Haus heranschoben. Parker sah sich zu seinem Leidwesen gezwungen, diesen jungen Mann einen Zwangsstop zu verordnen. Er hielt bereits seine
schwarze Melone in der rechten Hand und schickte sie mit einer geschickten Drehung aus dem Handgelenk auf die Luftreise. Das Resultat war frappierend. Bevor der flüchtende junge Mann sich seitwärts in die Taxushecke schlagen konnte, landete der Rand von Parkers Kopfbedeckung im Genick des Flüchtenden. »Ein peinliches Versehen«, entschuldigte Parker sich, als er neben dem jungen Mann stand, der noch benommen war. »Ich fürchte, daß mir die Kopfbedeckung wider meinen erklärten Willen aus der Hand gerutscht ist.« Parker half dem Mann auf die Beine, wobei seine rechte Hand sich leicht verirrte. Wie durch Zauberei verschwand die Brieftasche aus der Innentasche des Jacketts. Der Besitzer beider Dinge merkte natürlich überhaupt nichts. Parkers Fingerfertigkeit stellte die eines professionellen Taschendiebs in den Schatten. »Ich darf davon ausgehen, daß Sie Monsieur Roger Fontenac sind?« erkundigte Parker sich. »Stimmt«, sagte der junge Mann und sah den Butler inzwischen wütend an. »Ein, sagen wir, Angestellter des Barons?« »Stimmt. Und wer sind Sie?« Der junge Mann rieb sich den immer noch schmerzenden Nacken. »Mein Name ist Parker, Josuah Parker, Monsieur Fontenac. Ich habe die große Ehre, in Diensten der Lady Simpson stehen zu dürfen. Sie können meiner bescheidenen
Wenigkeit sicher mit einer Auskunft dienen, wie ich hoffen darf?« »Ich ... Ich habe zu tun.« »Mylady sucht einen geeigneten Wohnsitz hier in der Nähe des Schlosses«, erklärte Parker, als habe er nichts gehört. »Mylady möchte die Schönheiten dieses gesegneten Landstriches noch ein wenig genießen.« »Sie ... Sie suchen 'n Haus?« »Nur für etwa ein oder zwei Wochen. Eine gewisse Bequemlichkeit müßte schon garantiert sein.« »Warten Sie mal, ich glaube, ich habe da was für Sie.« Roger Fontenac, möglicherweise ein illegaler Sohn des gnomenhaften Barons, wie Inspektor Grissac es angedeutet hatte, interessierte sich plötzlich für dieses Thema. Er bemühte sich sogar um ein halbwegs freundliches Lächeln. »Ihre Hilfsbereitschaft allein macht mich bereits glücklich«, versicherte Parker dem jungen Mann, der ihn an einen Windhund erinnerte, was den schmal geschnittenen Kopf betraf. »Sie könnten den Pavillon von Monsieur Losalle mieten«, redete Roger Fontenac weiter. »Der Pavillon liegt da drüben im Weinberg. Es gibt sogar ein Badezimmer.« »Sie glauben, dies ließe sich arrangieren, Monsieur?« »Aber bestimmt«, antwortete Fontenac. »Wollen Sie sich den Pavillon schon mal ansehen? Er liegt gar nicht weit von hier, da drüben im Weinberg.«
Parker hätte zu dieser Frage sicher gern Stellung genommen, doch dazu blieb ihm keine Zeit mehr. Er hörte zwar knapp hinter sich noch ein feines, knirschendes Geräusch, erhielt aber gleichzeitig auch, bevor er reagieren konnte, einen mächtigen Schlag auf die Kopfbedeckung. Josuah Parker schielte Roger Fontenac an, hatte das Gefühl, daß der junge Mann ein wenig grinste, und wurde dann ohnmächtig, wie man deutlich sah. * »Was haben Sie mir denn da wieder für eine Suppe eingebrockt«, fragte Lady Simpson grollend und sah ihren Butler gereizt an. »Mylady fühlen sich den Umständen entsprechend wohl?« erkundigte der Butler sich, ohne auf die Frage seiner Herrin einzugehen. »Sie haben sich wie ein Gimpel benommen«, stellte sie wütend fest. »Diesem Vorwurf kann und möchte ich mich nicht entziehen, Mylady«, antwortete der Butler. »Darf man fragen, wie Mylady in diese sicher unwürdige und peinliche Lage gerieten?« »Ich könnte mich schwarz ärgern.« »Sollte man unterstellen, daß Mylady eine Erfrischung zu sich nahmen?« »Einen Likör«, bestätigte sie ärgerlich. »Ich trank erst, als mein Cousin einen Schluck genommen hatte. Trotzdem hat er mich 'reingelegt.« Lady Simpson und Butler Parker befanden sich in einer keineswegs beneidenswerten Lage. Man hatte sie in ein niedriges, feuchtes
Kellergewölbe geschafft, das dennoch Aussichten bot, die man aber nicht als erfreulich bezeichnen konnte. Sie standen vor einer Quaderwand, und ihre Handgelenke hingen in engen Eisenmanschetten, die ihrerseits an rostigen Ketten befestigt waren, die an schweren Wandringen verankert waren. Die schmale Tür dieses Gewölbes war weit geöffnet, was kein Zufall sein konnte. Mylady und Butler Parker sollten wohl die technischen Feinheiten einer ausgewachsenen und sehr echten Guillotine studieren können ... Dieses scheußliche Gerät stand jenseits der geöffneten Tür in einem wesentlich höheren Gewölbe und machte einen gebrauchsfähigen Eindruck. Bisher hatte Lady Agatha sich durch mehr oder weniger muntere Redensarten bewußt abgelenkt, doch nun ging ihr der Gesprächsstoff aus. Sie musterte die Guillotine und wandte sich dann an ihren Butler. »Haben Sie sie gesehen?« fragte sie überflüssigerweise. »Durchaus, Mylady«, antwortete Parker gemessen. »Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?« »Dieses Gerät fördert nicht unbedingt meinen Gleichmut, Mylady.« »Glauben Sie, daß man uns damit... Sie wissen schon, was ich sagen will.« »Man sollte sich durchaus auf gewisse Überraschungen gefaßt machen, Mylady
»Wollen Sie etwa warten, bis man uns zu dieser Guillotine schleift?« Agatha Simpsons Stimme grollte. »Warum tun Sie nicht endlich etwas, Mr. Parker. Ich finde, Sie verhalten sich wieder mal sehr passiv.« »Die Lage der Dinge an sich, Mylady, zwingt meine bescheidene Wenigkeit dazu.« »Soll das etwa heißen, daß Sie nichts tun können?« Sie schaute ihren Butler entgeistert an. Solch eine Antwort hatte sie von Parker bisher noch nicht gehört. »Mylady sehen meine bescheidene Person verzweifelt«, gestand der Butler. »Sie enttäuschen mich aber sehr.« Die Detektivin schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Irgendwann, Mylady, enden alle menschlichen Bemühungen«, redete Josuah Parker weiter, übrigens mit recht lauter Stimme, worüber die ältere Dame allerdings nicht weiter nachdachte. »Sie geben sich auf?« »Ich möchte es so ausdrücken, Mylady: Ich versuche, mich dem Fatalismus in die Arme zu werfen.« »Unsinn, Mr. Parker, das dürfen Sie nicht!« Sie fuhr ihn direkt an und zerrte wütend an den rostigen Eisenketten. »Fassen Sie sich ein Herz! Sie sind schließlich Butler Parker!« »Der sich seiner Unzulänglichkeit leider bewußt geworden ist, Mylady.« »Sie enttäuschen mich tief.« Agatha Simpsons Stimme drückte Hoffnungslosigkeit aus. »Dieses Schneidegerät da drüben scheint Sie entnervt zu haben, wie?«
»Ich erlaube mir zu fragen, ob man während des bewußten Vorgangs etwas merkt«, erwiderte Parker nachdenklich. »Korrekterweise möchte ich ergänzend darauf hinweisen, daß ich mich frage, Mylady.« Lady Agatha kam nicht mehr dazu, Stellung zu diesem an sich vielleicht interessanten Problem zu nehmen, denn in diesem Augenblick erschienen links und rechts vor der Tür zwei Henker, die Gesichtsmasken trugen und wenig später sich Lady Simpson näherten. Ihre Absichten waren eindeutig. * Sie lösten die Eisenmanschetten von Myladys Handgelenken und kümmerten sich nicht weiter um Butler Parker, dessen Eingreifen sie allerdings auch nicht zu befürchten hatten, denn er stand ein gutes Stück entfernt an der Wand. Lady Simpson schien sich wie in Trance zu befinden. Die sonst so dynamische und schnell explodierende Frau ließ alles mit sich geschehen und starrte unentwegt auf die schreckliche Guillotine. Parker war ein diskreter und taktvoller Mensch. Er nahm den Kopf herum, um dieses Schauspiel nicht weiter mit ansehen zu müssen. Ja, er schien sogar von Rührung übermannt worden zu sein. Er legte sein Gesicht in die Armbeuge und senkte den Kopf noch tiefer. Die beiden Henker hatten die ältere Dame inzwischen von den Eisenketten gelöst und faßten sie
unter. Dann schleiften sie sie hinüber zur Tür. Selbst jetzt war Josuah Parker nicht in der Lage, Mylady einen letzten Blick zuzuwerfen. Das alles war wohl auch für ihn zuviel.. . Die beiden Henker und Ihr Opfer hatten die Tür noch nicht ganz erreicht, als Lady Agatha plötzlich munter wurde. Sie war keineswegs gewillt, sich ohne jede Gegenwehr guillotinieren zu lassen. Sie explodierte! Agatha Simpson riß sich mit einem kräftigen Ruck los und verabreichte dem linken Henker eine gewaltige Ohrfeige. Der an sich kräftige und große Mann mußte den Schlag voll einstecken und flog gegen die Wand. Mylady trat dem anderen Henker äußerst gekonnt gegen die Kniescheibe seines rechten Beines und brachte ihn erheblich aus dem Gleichgewicht. Der Henker brüllte auf, bückte sich und achtete nicht weiter darauf, daß seine Gesichtsmaske sich dabei verschob. Die Physiognomie des Beilträgers Charles wurde sichtbar. Agatha Simpson begnügte sich keineswegs mit diesem Teilerfolg. Sie widmete sich schon wieder dem Geohrfeigten, der sich von der Wand abdrückte und die Lady attackieren wollte. Sie empfing ihn mit einer zweiten Ohrfeige, die ihn durch die Tür nach draußen in das größere Gewölbe beförderte. Charles, der Mann mit dem Henkerbeil, wie Parker ihn kannte, griff mit beiden Händen nach dem recht zarten Hals der älteren Dame und wollte ihr die Luftzufuhr ein wenig unterbinden. Er brüllte auf, als sie ihm ihre Hutnadel in den linken
Oberschenkel piekte. Er ließ los, jaulte und mußte es zulassen, daß Lady Simpson sich absetzte. Dabei entwickelte sie allerdings ein wenig Pech. Im Eifer des Gefechtes stolperte sie über den Geohrfeigten, der noch immer auf den Steinplatten lag. Sie verlor das Gleichgewicht, wurde von dem betreffenden Mann erwischt und zu Boden geworfen. Sekunden später war Charles zur Stelle und griff nach Myladys Händen. Damit war dieses Intermezzo leider schon beendet. Sie hatte keine Chance mehr, sich gegen diese beiden großen und starken Männer durchzusetzen. Sie beschimpften sie ausgiebig, nahmen sie wieder zwischen sich und marschierten mit ihr zur Guillotine. Und diesmal leistete die ältere Dame keinen weiteren Widerstand mehr. Ihre Kraft schien erschöpft. Vielleicht hatte sie sich auch mit ihrem Tod abgefunden ... Weder sie noch die beiden Henkersknechte bekamen mit, daß Butler Parker inzwischen in der Tür des kleines Gewölbes stand. Er hielt seinen Universal-Regenschirm schußbereit wie ein Gewehr in seinen schwarz behandschuhten Händen. Er wartete noch einen Moment, bis die Gruppe im richtigen Licht der blakenden Pechfackeln stand. Dann hob er seine Patentwaffe noch mehr an und jagte dem linken Henker einen bunt gefiederten Pfeil in die linke Gesäßbacke. Der getroffene Henkersknecht zuckte zusammen, ließ Lady Agathas Arm los und faßte nach dem Geschoß. Nachdem er es aus dem
Gesäßmuskel gezogen und inspiziert hatte, begriff er mit einiger Verspätung, was ihm passiert war. Er stieß erst mal einen Schrei aus, warf sich herum und entdeckte den Butler, der bereits gemessen und würdevoll auf ihn zumarschierte. Mit einem Wutschrei lief der Getroffene zurück, doch er kam nicht weit. Nach zwei Schritten brach er in die Knie, winselte und legte sich dann auf die Seite. Der zweite Henker war natürlich aufmerksam geworden, zumal auch ihn ein Pfeil getroffen hatte. Er hatte ihn im Gegensatz zu seinem Begleiter aber noch nicht aus dem rechten Gesäßmuskel gezogen. Er hatte Lady Agatha losgelassen und duckte sich. Es war Charles, der seinen alten Widersacher anvisierte und sich dummerweise nicht weiter um Lady Agatha kümmerte. Charles röhrte auf wie ein Hirsch, streckte die langen Arme aus und näherte sich dem Butler. Das Betäubungsgift, mit dem die Spitzen der Blasrohrpfeife präpariert waren, schien bei ihm nicht so recht zu wirken. Lady Simpson sorgte dafür, daß diese Wirkung sich einstellte. Sie stand recht günstig hinter Charles, holte aus und trat mit der Sohle ihres Schuhs kraftvoll zu. Der buntgefiederte Pfeil wurde durch diese Handlungsweise tief in das Gesäß getrieben. Charles brüllte auf, vergaß Lady Simpson und den Butler. Er hielt sich die schmerzende Stelle und fingerte nach dem Pfeil, der fast bis zu den bunten Federn im Fleisch
steckte. Dann hüpfte er in großen Sprüngen durch das Gewölbe, wobei er eine gewisse Anmut der Bewegung deutlich vermissen ließ. * »Wie war ich?« erkundigte Agatha Simpson sich angelegentlich bei ihrem Butler. »Überzeugend, Mylady«, antwortete Parker. »Angst und Verzweiflung hätte man nicht besser darstellen können, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.« »Das war nicht besonders schwer«, gestand die resolute Dame. »Ich hatte nämlich wirklich Angst. Sie ließen sich wieder mal sehr viel Zeit, Mr. Parker. Ich dachte schon, Sie hätten Ihre Handfesseln nicht aufbekommen.« »Was mir nur dank Myladys Ablenkungsmanöver gelang.« »Wie haben Sie das eigentlich geschafft? Ich habe kaum etwas davon bemerkt.« Lady Simpson und Butler Parker standen seitlich neben der Treppe, die aus dem Gewölbe nach oben führte. Sie schauten zu den beiden Henkern hinüber, die jetzt ihrerseits an der Wand standen und von den Eisenmanschetten und rostigen Ketten festgehalten wurden. »Als Mylady abgeführt wurden, konnte ich den Patent- und Universalschlüssel einsetzen«, erklärte Josuah Parker gemessen. »Mittels meiner Zahnreihen, die den Schlüssel hielten, war das an sich einfache Schloß der Manschetten leicht zu öffnen.«
»Wie leicht diese Subjekte doch hinters Licht zu führen sind.« Sie schüttelte fast vorwurfsvoll den Kopf. »Sie standen vor der Tür und belauschten uns, nicht wahr?« »Von dieser Tatsache erlaubte ich mir auszugehen, Mylady.« »Glauben Sie, daß die Guillotine funktioniert?« »Man könnte eine Art Test durchführen, Mylady.« »Ich bitte darum, Mr. Parker.« Sie marschierte zu dem Todesgerät hinüber und wartete, bis Parker die erforderlichen Vorbereitungen getroffen hatte. Nachdem er dann den Auslöser betätigt hatte und das Fallbeil, heruntergesaust war, preßte die Detektivin ihre Lippen fest aufeinander. Als sie sich zu Parker umwandte, war ihr Gesicht ein wenig blaß. »Es funktioniert tatsächlich«, sagte sie leise. »Glauben Sie, daß man uns köpfen wollte?« »Dies, Mylady, sollte man Myladys Cousin fragen.« »Darauf kann dieser Victor Gift nehmen. Aber jetzt zuerst mal zu den beiden Henkern. Ich glaube, daß ich sehr ärgerlich bin.« »Was durchaus zu verstehen wäre, Mylady.« Als die ältere Dame in das kleinere Gewölbe gehen wollte, hörte sie lautes Rufen, ihren Namen und dann wieder lautes Rufen. »Wer ist denn das?« fragte sie ungnädig. »Es scheint sich um Monsieur Roger Fontenac zu handeln, Mylady. Sind Mylady an einer Antwort interessiert?«
»Wie denken Sie darüber, Mr. Parker?« »Man sollte Monsieur Fontenac noch ein wenig im unklaren lassen, Mylady, wenn ich mir diesen Rat erlauben darf.« Die Rufe wurden lauter. Fontenac kam offensichtlich sehr schnell die enge, steinerne Treppe herunter. Lady Simpson und Butler Parker hatten hinter der Guillotine Stellung bezogen und konnten auf Anhieb von der Treppe aus nicht gesehen werden. Es war Roger Fontenac, laut Inspektor Grissac möglicherweise der illegale Sohn des Barons de Ponelle. Er stürzte ins Hauptgewölbe, schaute sich um und rief noch mal den Namen der Lady und den des Butlers. Als die Antwort ausblieb, wandte er sich hastig wieder ab und wollte zurück nach oben laufen. »Einen Moment, bitte«, machte Parker sich in diesem Augenblick bemerkbar. »Mylady und meine bescheidene Wenigkeit befinden sich in Sicherheit, Monsieur. Darf man davon ausgehen, daß Sie das begrüßen?« »Mir fällt ein Stein vom Herzen.« Roger Fontenac atmete tief durch und nickte dann. »Ich dachte schon, er hätte Sie...« »Was dachten Sie, Monsieur, hätte wer?« »Schon gut, Monsieur Parker.« Roger Fontenac hatte sich bereits wieder unter Kontrolle. »Wie haben Sie diesen Keller gefunden?« »Gefunden, junger Mann?« Agatha Simpson trat hinter der Guillotine hervor. »Wir sind verschleppt
worden, und man wollte uns köpfen, um ganz genau zu sein.« »Schrecklich, Mylady.« Roger Fontenac wischte sich Schweißperlen von der Stirn. »War es Charles? Wo steckt er?« »Ich war so frei, ihn ein wenig zu separieren, Monsieur Fontenac.« Parker deutete mit der Spitze seines Universal-Regenschirms auf das kleine Gewölbe. »Zur Zeit dürfte Charles kaum seinen Gelüsten frönen können, sich als mittelalterlicher Henker zu betätigen.« »Charles gehört endlich in eine Anstalt.« Roger Fontenac ging zur Tür des kleinen Gewölbes hinüber, und Parker ließ ihn nicht aus den Augen. Die Spitze seines Regenschirms hatte sich leicht angehoben und wies auf den jungen Mann. »Könnten Sie Mylady freundlicherweise sagen, wer der zweite Mann ist?« fragte er dann. »Warten Sie, das ist doch... Ja, natürlich, das ist Janot, Mr. Parker.« »Ein Name, der Mylady kaum etwas sagen wird, Monsieur.« »Janot ist ein Halbbruder von Charles. Er arbeitet manchmal hier als Gärtner. Er hat drüben im Nordflügel des Schlosses ein Zimmer für sich hergerichtet.« »Und dieser Janot ist ebenfalls, sagen wir, nicht normal im üblichen Sinn?« »Doch, der schon.« Roger Fontenac nickte wissend. »Er ist gefährlich, ein Schläger. Er hat schon einige Male gesessen, das wird die Polizei Ihnen bestätigen.« »Ein sauberes Paar«, fand Agatha Simpson. »Und ich frage mich jetzt,
wer diese beiden Henker angestiftet haben könnte, mich zu guillotinieren? Wissen Sie eine Antwort darauf?« »Neiiin, Mylady«, reagierte er, dann senkte Roger Fontenac den Kopf. »Bitte, fragen Sie mich nicht, Mylady.« »Sie wollen meinem Cousin gegenüber loyal sein?« »Mylady, ich werde nicht antworten«, sagte Fontenac, dessen Englisch übrigens recht passabel war. »Ich werde nicht antworten.« * »Bitte, Mylady, sagen Sie mir, was ich tun soll?« bat Fontenac eine Viertelstunde später, als man sich im Kutscherhaus befand, das der Baron de Ponelle bewohnte. Fontenac machte einen verzweifelten Eindruck. Er hatte das kleine Haus vom Boden bis zum Keller durchsucht, den Baron aber nicht gefunden. »Der Baron scheint geflohen zu sein«, deutete Parker an, bevor die Lady antworten konnte. »Es sieht so aus, Mr. Parker.« Fontenac nickte. »Muß ich die Polizei verständigen?« »Wie denken Sie darüber, Mr. Parker?« Lady Agatha wandte sich an ihren Butler. »Gewisse familiäre Dinge sollte man nicht an die sprichwörtliche große Glocke hängen«, empfahl Josuah Parker würdevoll. »Zudem ist ja noch nicht erwiesen, wer die beiden Henker zum Mord angestiftet hat.«
»Charles und Janot haben behauptet, daß es der Baron gewesen ist«, erinnerte Fontenac. »Und zumindest Janot wird abstreiten, daß sie die Guillotine wirklich haben bedienen wollen«, ließ die ältere Dame sich vernehmen. »Selbst die Mordabsicht ist noch nicht mal zu beweisen.« »Das stimmt.« Fontenac war durcheinander. »Die werden sich auf einen Spaß 'rausreden. Der Baron wahrscheinlich ebenfalls.« »Haben Sie eine deutliche oder vage Vorstellung, wo der Baron sich aufhalten könnte?« fragte Parker den jungen Angestellten. »Wenn überhaupt, Mr. Parker, dann ist er im Schloß drüben.« »Dort müßte er also aufzuspüren sein.« »Wenn Sie sich da mal nur nicht verschätzen, Mr. Parker. Das Schloß ist ein Labyrinth, das nur der Baron kennt. Es soll dort eine Menge Geheimgänge und unbekannte Gewölbe geben.« »Wie passend«, fand Parker höflich. »Ich werde mich jetzt erst mal zur Ruhe begeben«, meldete die ältere Dame sich zu Wort. »Dieser Tag war ein wenig anstrengend für mich. Hören Sie, junger Mann, zeigen Sie uns den Pavillon! Sie können doch darüber verfügen, nicht wahr?« »Noch bin ich der Verwalter.« Fontenac nickte. »Und zudem sind Sie ja mit dem Baron verwandt. Wenn Sie mir folgen wollen...« »Ich möchte Sie an die beiden Henkersknechte im Gewölbe erinnern«, sagte Parker zu Fontenac.
»Etwas Abkühlung könnte den beiden Männern nicht schaden.« »Ich wollte eigentlich die Polizei verständigen, Mr. Parker, damit sie abgeholt werden.« »Dazu dürfte morgen noch Zeit sein.« »Das finde ich allerdings auch«, grollte Agatha Simpson. »Immerhin haben diese beiden Subjekte mich in Todesangst versetzt. Dafür können Sie für die Nacht an den Eisen bleiben.« »Wie Sie wünschen, Mylady.« Fontenac nickte eifrig. »Die Tür zum Gewölbe ist ja fest verschlossen. Selbst wenn sie aus den Eisen kommen, werden sie nicht flüchten können.« Er ging voraus und deutete auf seinen kleinen Jeep. »Ich fahre voraus, ja? Bis zum Pavillon ist es nicht weit.« Parker öffnete den hinteren Wagenschlag, und Mylady nahm auf dem Rücksitz des hochbeinigen Monstrums Platz. Parker setzte sich ans Steuer und folgte Fontenac, der langsam vorausfuhr. Gleich hinter dem Schloßpark mit seiner teilweise umgestürzten und eingefallenen Steinmauer führte ein schmaler Weg in einen nahen Weinberg. Es war fast schon dunkel, als sie die Unterkunft erreicht hatten. Der Pavillon erwies sich als ein kleines, rechteckiges Gebäude, das anderthalbstöckig war. Im Erdgeschoß gab es viele Terrassenfenster, die dem Bau einen leichten, zierlichen Charakter verliehen. Als Agatha Simpson ausstieg, konnte sie hinunter auf das Schloß sehen. Im Abendlicht wirkte
es erstaunlich unheimlich. Es war wie ein gefährliches Lebewesen, dessen Haß förmlich bis hierher zu spüren war. * Sie trafen sich in der kleinen Ortschaft Chapelle in der Nähe des Schlosses. Es war ein verträumter Ort mit vielleicht ein paar Dutzend Häusern. Der Fremdenverkehr, der sich in der Saison durch das Tal der Loire wälzte, hatte dieses idyllische Fleckchen Erde bisher noch nicht zur Kenntnis genommen. Seit Jahrhunderten war hier kaum etwas verändert worden. Der Citroen der beiden Profi-Killer Paul Legrand und Jean Lucard stand vor einem Gasthaus und wurde vom ausfallenden Licht der Weinstube beleuchtet. Ricardo Mentone und sein Begleiter Richard Baskell fanden den Wagen auf Anhieb. Sie stiegen aus dem Simca und betraten die Weinstube. Wenige Minuten später saßen sie in einer kleinen Nische des Lokals mit den Profi-Killern an einem Tisch. Paul Legrand und Jean Lucard schilderten ihrem Auftraggeber ihre Leiden. Sie beschwerten sich ausgiebig über die mehr als mangelhaften Informationen und verbreiteten sich über die angebliche Tücken und Listen eines gewissen Butler Parker. »Ich hab' euch absichtlich nichts gesagt«, antwortete Mentone und grinste schadenfroh, was eigentlich schon fast gegen seinen Willen
geschah. »Ich wollte euch nicht kopfscheu machen.« »Das hat der verdammte Butler inzwischen aber prima hinbekommen«, sagte Paul Legrand verärgert. »Der hat uns doch bis auf die Knochen blamiert.« »Von dem Typ werde ich noch monatelang träumen«, wußte Jean Lucard. »Wo stecken die Alte und der Butler zur Zeit?« fragte Ricardo Mentone. »Die haben sich in 'nem kleinen Pavillon einquartiert«, erwiderte Jean Lucard. »Haben wir eben erst erfahren. Das Ding ist leicht zu stürmen.« »Wir werden diesen Pavillon ausräuchern«, schwor Mentone. »Aber diskret und unauffällig. Und dann werden die Alte und Parker für immer von der Bildfläche verschwinden.« »Wenn's nur nicht wieder 'ne Panne gibt«, sorgte sich Paul Legrand. »Vier gegen zwei. Was soll da schon schiefgehen?« fragte Mentones Begleiter und winkte lässig ab. Baskell fühlte sich überlegen und war selbstsicher. »Was alles schiefgehen kann? Daran will ich lieber nicht denken«, meinte Paul Legrand. Die Stunden in dem alten Weinfaß sitzen mir noch in den Knochen.« »Ihr könnt ja aussteigen«, tippte Mentone an. »Ausgeschlossen!« Jean Lucard schüttelte den Kopf. »Ich will denen meine Rechnung auf den Tisch knallen.«
»Dann wäre ja alles in Ordnung.« Ricardo Mentone lächelte. »In der kommenden Nacht holen wir sie aus dem Pavillon, klar? Und dann schenke ich sie euch für 'ne gute Stunde. Anschließend bin dann aber ich an der Reihe, klar? Laßt also noch was übrig.« Die vier Gangster steckten im wahrsten Sinn des Wortes ihre Köpfe zusammen und kamen auf Einzelheiten zu sprechen. Sie legten sich eine Art Schlachtplan zurecht, von dem sie schließlich überzeugt waren, daß er perfekt war. »Nach Mitternacht ziehen wir los«, schoß Mentone den Kriegsrat. »Das ist immer die beste Zeit, dann pennen die Leute am tiefsten.« Sie bestellten sich beim Wirt noch einige harte Sachen und aßen dann anschließend ausgiebig, um sich für den nächtlichen Einsatz zu stärken. Ricardo Mentone fühlte sich wohl. Er bereute es nicht, in die Provinz gefahren zu sein. Die Abrechnung mit Lady Simpson und Butler Parker nahm er doch lieber in die eigene Hände. Er wollte diese Bedrohung endlich loswerden und dann in aller Ruhe die Früchte seiner Erpressungen genießen. Den vier Gangstern entging ein kleiner 2 CV, der wesentlich später in Chapelle einrollte und auf dem Marktplatz parkte. Am Steuer dieses Wagens saß eine gewisse Kathy Porter, die dem Simca beharrlich gefolgt war. Kathy Porter - jetzt in der Maske einer etwas säuerlich wirkenden, älteren Frau, die man wohl als illusionslose Dorfschullehrerin
eingestuft hätte -hatte es nicht schwer gehabt, Mentone und dessen Begleiter zu verfolgen. Der kleine Haftsender unter dem Simca, den sie angebracht hatte, war ein erstklassiger Wegweiser gewesen. Selbst über große Distanzen hinweg hatte das Peilzeichen ihr den Weg gewiesen. Kathy Porter, Parkers mehr als gelehrige Schülerin, war mit der Praxis solch einer Überwachung und Verfolgung bestens vertraut. Inzwischen hatte sie bereits den Simca entdeckt, verzichtete aber sicherheitshalber darauf, das kleine Restaurant zu betreten. Sie fuhr noch mal an, stellte den 2 CV in einer Seitenstraße ab und griff nach ihrer Umhängetasche. Dann stieg sie aus und verschwand in der bereits herrschenden Dunkelheit. Sie wußte nicht, wo Agatha Simpson und Josuah Parker sich zur Zeit aufhielten, doch sie durfte sicher sein, daß die Gangster ihr den richtigen Weg wiesen. * »Wenn man vom Teufel redet, erscheint er«, sagte die Detektivin sehr ungeniert, als Parker den Gast in den großen Wohnraum des Pavillons führte. »Wie, bitte?« Roger Fontenac stutzte und war unsicher. »Mylady zitiert eine alte Spruchweisheit«, schränkte Josuah Parker vermittelnd ein. »Mylady fragte sich gerade, ob Sie, Monsieur, tatsächlich der illegale Sproß des Baron de Ponelle sein könnten.«
»Ach, das alte Märchen!« Roger Fontenac lachte fast heiter und schüttelte den Kopf. »Das ist natürlich reiner Unsinn! Dieses Märchen ist schon uralt.« »Und wie konnte es entstehen, junger Mann?« erkundigte Lady Simpson sich direkt heraus, wie es ihre Art war. »Nun ja, der Baron zieht mich eben in sein Vertrauen«, erklärte Roger Fontenac. »Ich kann beweisen, daß ich mit der Familie des Barons aber auch gar nichts zu tun habe.« »Sie haben auch nichts mit den Anschlägen auf mich zu tun?« »Aber Mylady! Was hätte ich davon?« »Könnte der Baron Sie angestiftet haben? Ich meine, gegen eine Sonderbezahlung.« »Auf so etwas würde ich mich nie einlassen, Mylady. Das Gegenteil ist der Fall! Ich sorge dafür, daß der Baron nicht in Schwierigkeiten gerät.« »Schwierigkeiten welcher Art, junger Mann?« »Mylady, muß ich jetzt darauf antworten. Ich wollte Ihnen eine wichtige Nachricht überbringen.« »Darf ich annehmen, daß die beiden Henkersknechte aus dem Gewölbe entkommen sind?« fragte Parker gemessen und sah Fontenac abwartend an. »Woher wissen Sie das?« Fontenac war überrascht. »Ich weiß es nicht, Monsieur, ich vermute es.« »Ja, Charles und Janot sind geflüchtet«, berichtete Fontenac jetzt eifrig. »Ich wollte ihnen einen Krug
Wein bringen und auch etwas Brot. Stellen Sie sich vor, die Tür war nach wie vor fest verriegelt und verschlossen, aber Charles und Janot sind dennoch verschwunden. Es ist mir ein Rätsel, wie sie das geschafft haben.« »Sie werden einen Geheimgang benutzt haben«, deutete der Butler an. »Daran dachte ich auch schon.« Fontenac nickte. »Dann muß der Baron sie befreit haben.« »Man sollte sich dieses Gewölbe mal gründlich ansehen«, schlug die ältere Dame sofort vor und machte einen äußerst animierten Eindruck. Sie witterte ein weiteres Abenteuer. »Jan müßte alle Wände abklopfen«, sagte Fontenac und nickte der älteren Dame zustimmend zu. »Morgen«, erklärte der Butler lakonisch. »Mylady benötigen jetzt ein wenig Ruhe.« »Wie kommen Sie denn darauf?« Agatha Simpson musterte ihren Butler mit empörten Blick. »Ich bin putzmunter, Mr. Parker, nehmen Sie das bitte gefälligst zur Kenntnis!« »Warum nach den beiden Henkersknechten suchen, Mylady, zumal sie mit einiger Sicherheit ohnehin hier auftauchen werden.« »Glauben Sie wirklich?« Die Detektivin wurde unsicher. Sie hörte heraus, daß ihr Butler an einer sofortigen Fahndung nicht interessiert war. »Ich möchte es als sicher unterstellen, Mylady«, antwortete Parker würdevoll. »Henker geben nie auf.«
»Dann würde ich an Ihrer Stelle aber sehr aufpassen«, warnte Fontenac eindringlich. »Charles und Janot sind unberechenbar. Vom Baron leider ganz zu schweigen.« »Wir werden uns hier verbarrikadieren«, entgegnete die ältere Dame grimmig. »Mr. Parker wird den Pavillon in eine Festung verwandeln, wie ich hoffe. Machen Sie sich keine Sorgen, junger Mann! Eine Lady Simpson überrascht man nicht so leicht!« * Die vier Gangster befanden sich auf dem Kriegspfad. Ricardo Mentone, Rich Baskell, Paul Legrand und Jean Lucard kannten ihr Ziel, das von Jean Lucard ausspioniert worden war. Er hatte sich vor einer Stunde von seinen Freunden verabschiedet und war zum Schloß gefahren. Vor zehn Minuten kam er zurück und berichtete vom Pavillon, in dem Lady Simpson und Butler Parker Quartier bezogen hatten. Die vier Gangster waren fest davon überzeugt, daß es sich um ein leichtes Unternehmen handelte. Sie hatten sich aus den mitgebrachten Waffenvorräten Mentones versorgt, und verfügten über eine ansehnliche Feuerkraft, die sie aber möglichst nicht nutzen wollten. Was sie planten, sollte still und verschwiegen über die mörderische Bühne gehen. In dieser Hinsicht hatten sie alle ihre Erfahrungen. Sie waren schließlich Profis der Unterwelt.
Am Fuß der Weinberge stiegen sie aus dem Citroen, den sie benutzt hatten, kontrollierten noch mal gründlich ihre Ausrüstungsgegenstände und gingen zu Fuß weiter. Mentone bildete den Schluß, Jean Lucard hingegen hatte die Führung übernommen. Daß ihnen eine gewisse Kathy Porter folgte, ahnten sie nicht. Nach einem Schweigemarsch von etwa zwanzig Minuten hatten sie das verfallene Schloß hinter sich gelassen und konnten bereits das Dach des Pavillons erkennen. Die Sichtverhältnisse waren recht gut. Ein Mond schob sich immer wieder hinter Wolken hervor und wies ihnen den Weg. »Wir greifen von allen Seiten an«, sagte Mentone, als sie eine letzte Abstimmung vornahmen. »Auf einen Pfiff brechen wir durch die Terrassentüren und überrumpeln die Typen. Dann schleifen wir sie 'runter ins Schloß und nehmen die Behandlung vor.« Ihr Plan war einfach und auch durchaus logisch. Was sollten Lady Simpson und Butler Parker schon gegen diese Streitmacht einsetzen? Zudem lag das Überraschungsmoment vollkommen auf der Seite der Gangster. Mentone übernahm wieder die Rückendeckung seiner Streitmacht, denn er war nicht nur vorsichtig, sondern im Grund auch feige. Falls es wider Erwarten zu Schwierigkeiten kam, wollte er sich schleunigst absetzen. Seiner Meinung nach gehörte ein Gangsterboß auf keinen Fall an die Spitze seiner
Leute, wenn es um einen Einsatz ging. Muskeln waren zu ersetzen, ein planendes Hirn jedoch nur schwer. Und er hielt sich für solch einen überlegenen Kopf. Dieser überlegene Kopf merkte überhaupt nicht, wie dicht ihm bereits ein schlanker Schatten folgte, der sich geschmeidig bewegte und die Größe eines Menschen hatte, die jedoch nicht mit der des Gangsters identisch war. Es war also ein fremder Schatten .. . Er langte plötzlich mit der Handkante zu und traf genau den Punkt, auf den es in solchen .Fällen ankommt. Mentone gab nicht einen Laut von sich, als er in sich zusammensackte. Bevor er hart auf dem schmalen Weg landete, fing der schmale Schatten ihn geschickt auf und schleifte ihn zur Seite. Sekunden später waren Schatten und Mentone zwischen den Weinstöcken verschwunden. Die drei anderen Gangster marschierten munter weiter auf den Pavillon zu. Richard Baskell hörte hinter sich die Schritte seines Chefs Mentone, wie er annehmen mußte. Daher wurde er auch völlig überrascht, als der vermutete Chef ihm plötzlich einen harten Schlag versetzte, der leider nicht genau den richtigen Punkt traf. Dies hing damit zusammen, daß Richard Baskell ausgerechnet in dem Augenblick stolperte, als dieser Schlag erfolgte. Richard Baskell stöhnte, fiel auf die Knie, rollte geistesgegenwärtig auf die Seite und schoß automatisch. Da er einen modernen Schalldämpfer
verwandte, drang das Geräusch nicht sonderlich weit in die Nacht hinaus. Die beiden Killer Paul Legrand und Jean Lucard aber hörten ihn natürlich und . .. hechteten geistesgegenwärtig erst mal seitlich ins Weinlaub, wo sie in Deckung gingen. Sie hörten ein Stöhnen, Fluchen und dann ein Scharren. »Nicht schießen«, rief Richard Baskell dann halblaut und nervös. »Ich bin's, Jungens. Nicht schießen!« Paul Legrand und Jean Lucard unterdrückten nur mühsam ihren Wunsch, aus allen Rohren zu feuern, um sich ein wenig Mut zu machen. Dann beobachteten sie Baskell, der sich halb aufgerichtet hatte und ebenfalls ins Weinlaub taumelte. »Abhauen«, keuchte der Gangster. »Abhauen! Die haben uns entdeckt.« Paul Legrand und Jean Lucard hielten diesen Vorschlag für ausgesprochen gut und setzten sich umgehend in Bewegung, ohne sich allerdings weiter um Richard Baskell zu kümmern, der umherirrte und noch immer nicht völlig klar denken und handeln konnte. Daher entging ihm auch der schmale, geschmeidige Schatten, der erneut hinter ihm erschien. * In der Küche des Pavillons herrschte keine absolute Ruhe mehr wie noch vor wenigen Sekunden. Etwas Seltsames tat sich. Eine der quadratischen, großen Sandsteinplatten, mit denen der Küchenboden ausgelegt war, wurde angehoben und dann zentimeterweise zur Seite geschoben. Eine zweite
Sandsteinplatte folgte, bis eine Art Durchschlupf entstand. Eine Maus, die schon seit längerer Zeit in dieser Küche Unterschlupf bezogen hatte und auf einem Topfsims kauerte, machte große Augen. Von diesem Ausstieg hatte sie bisher noch nichts gewußt. Sie wollte vor Erstaunen pfeifen, unterließ es dann aber vorsichtshalber, um nicht aufzufallen. Die kleine Maus huschte hinter einen Topf aus Steingut und sah weiter zu. Sie beobachtete einen großen, stämmigen Zweibeiner, der sich sehr gewandt und leise nach oben drückte. Es war Charles, einer der beiden Henker, der Lady Simpson zur Guillotine hatte schleppen wollen. Er beugte sich nach unten, streckte seine muskulösen, nackten Arme aus und half einem zweiten Mann nach oben in die Küche. Dieser Mann war Janot, der zweite Henker. Die beiden unerfreulichen Zeitgenossen, die laut Roger Fontenac auf unerklärliche Art und Weise aus dem Gewölbe entkommen waren, kannten sich recht gut aus im Pavillon. Sie marschierten auf Zehenspitzen zur Küchentür, die dann von Charles leise geöffnet wurde. Er lauschte ins Haus, nickte seinem Begleiter zu und stahl sich nach draußen. Die Absicht der beiden Männer lag auf der Hand. Sie wollten sich noch mal mit Lady Simpson und Butler Parker befassen. Sie passierten einen schmalen Korridorgang, und Charles öffnete die Tür zum großen Wohnraum.
Im Kamin brannte Feuer. Im Widerschein der Flammen waren in den Lehnstühlen vor dem Kamin zwei Gestalten zu erkennen, die offensichtlich schliefen. Charles identifizierte diese beiden Gestalten als Lady Simpson und Butler Parker. Sie waren natürlich völlig ahnungslos, blieben es auch, als die beiden Henker sich an die Lehnstühle heranpirschten. Charles hatte diesmal auf sein Henkerbeil verzichtet, wie sich zeigte. Er hatte dafür aber plötzlich ein schweres Jagdmesser in der Hand. Janot war ebenso ausgerüstet und wog die Schneidwaffe in seiner rechten Hand. Nein, an die Guillotine war hier nicht gedacht. Lady Simpson und Butler Parker sollten wahrscheinlich gleich an Ort und Stelle abgeschlachtet werden. Auf ein Risiko wollten die beiden Henker sich wohl nicht mehr einlassen ... Charles stahl sich um den ersten Lehnstuhl herum, ging auf Agatha Simpson zu und baute sich seitlich neben ihr auf. Er wartete, bis Janot Posten bezogen hatte. Dann nickten die beiden Menschen sich zu und... stachen gleichzeitig auf ihre Opfer ein. Das Resultat war überraschend. Lady Simpson und Butler Parker zerplatzten im wahrsten Sinn des Wortes. Nach einem lauten Knall waren sie einfach nicht mehr vorhanden. Nur die Kleidung lag noch auf den Sitzen, aber ohne jeden körperlich materiellen Inhalt. Charles und Janot waren verständlicherweise mehr als überrascht. Sie stierten entsetzt auf die leeren Sitze
und verstanden die Welt nicht mehr. Es war vor allem Charles, dessen einfaches Gemüt an Zauberei und Teufelswerk glaubte. Charles stieß also einen entsetzten Brüller aus und rannte zurück zur Küche. Janot, wesentlich raffinierter, schloß sich dieser hastigen Flucht nicht an. Er griff nach der Kleidung seines Opfers und fand schnell heraus, daß er eine aufblasbare Gummipuppe »ermordet« hatte. Nachdem er diese Erkenntnis gewonnen hatte, fühlte auch er sich nicht mehr sonderlich wohl in seiner Haut. Sie waren also erwartet worden, sagte er sich, demzufolge lauerte Gefahr hier im Pavillon. Nun folgte er Charles und hatte nur den einen Gedanken, so schnell wie möglich in den Geheimgang unter der Küche zurückzukommen. Er rannte durch den Korridor und erreichte die Küche, um hier die nächste Überraschung zu erleben. Eine unbekannte Hand setzte ihm genau jenen Topf aus Steingut auf den Kopf, hinter dem die kleine Maus sich vor wenigen Minuten noch versteckt hatte. Janot schielte, nahm gerade noch wahr, daß Charles vor dem geheimen Schlupfloch stand und wurde ohnmächtig. * »Eine sehr hübsche Strecke«, stellte Lady Simpson fest und blickte auf die vier Männer, die im Schlafraum des Pavillons nebeneinander auf dem Boden lagen. »Mylady sind zufrieden?« erkundigte Parker sich höflich.
»In etwa«, schränkte sie sofort ein. »Das hier ist nur der Anfang, Mr. Parker.« »In der Tat, Mylady«, räumte Josuah Parker ein. »Damit steht noch immer nicht fest, wer der Auftraggeber der beiden Henker ist. Im Fall der Herren Mentone und Baskell hingegen dürften sich kaum noch ungeklärte Fragen ergeben.« Ricardo Mentone, Richard Baskell, . Charles und Janot waren durch Handschellen untrennbar miteinander verbunden. Parker hatte das besorgt, um jedes Risiko auszuschalten. Ihm war klar, daß man es mit gefährlichen Leuten zu tun hatte. »Ich möchte zuerst diese beiden Subjekte verhören«, verlangte die Detektivin und deutete auf Mentone und Baskell. »Sehr wohl, Mylady.« Parker nickte und bat die Angesprochenen, sich zu erheben. Mentone bedachte Lady Simpson mit einem Fluch, dann mit einem giftigen Blick. Er rührte sich nicht und lehnte es ab, Parkers Bitte nachzukommen. »Dann werde ich wohl ein wenig nachhelfen müssen«, sagte Lady Agatha und . .. zog eine ihrer Hutnadeln aus dem Gebilde, das sie für eine Kopfbedeckung hielt. Sie prüfte die Spitze der langen Nadel und näherte sich Mentone, der sich verfärbte. »Sie werden gleich hüpfen wie eine aufgescheuchte Heuschrecke«, prophezeite die ältere Dame freudig. »Mr. Parker, Kathy, Sie sollten den Raum für einen Moment verlassen.« Diesmal brauchte Myladys Spiel nicht durchgespielt zu werden, denn
Mentone hatte eindeutig etwas gegen Hutnadeln, zumal dann, wenn sie sich in der Hand einer Agatha Simpson befanden. »Nein, nein«, sagte er hastig und richtete sich auf. »Ich ... Ich steh ja schon auf.« »Schade, Sie Subjekt«, bedauerte die angriffslustige Dame sichtlich. »Ich komm ja schon«, sagte auch Richard Baskell eifrig und höflich. »Sie verstehen uns miß, Lady.« Die beiden Gangster mühten sich in die Höhe und drückten dabei mit ihren Rücken die Wand des Schlafraums. Anschließend hüpften sie mit geschlossenen Beinen und Füßen aus dem Zimmer, verfolgt von Lady Simpson, die ihre Hutnadel noch nicht zurückgesteckt hatte. Parker blieb bei Charles und Janot, während Kathy Porter sich ihrer Gesellschafterin anschloß. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, widmete der Butler sich zuerst Charles. »Wahrscheinlich nur eine Frage«, schickte er voraus. »Für wen wollten Sie Mylady und mich ermorden?« »Halt bloß die Schnauze«, fuhr Janot den sichtlich verwirrten Charles an. »Eine weitere Einmischung Ihrerseits würde ich als störend empfinden«, tadelte Parker den Mann neben Charles. »Hoffentlich sind Sie nicht erpicht darauf, daß ich Sie zur Ordnung rufe.« »Halt bloß die Schnauze«, drohte Janot noch mal wütend in Richtung Charles. »Denk an den Baron! Der zieht dir sonst das Fell über die Ohren!«
»Dieser Hinweis war eigentlich schon deutlich genug«, fand Josuah Parker und legte den bleigefütterten Bambusgriff seines UniversalRegenschirms auf die Stirn des Henkers. Janot verdrehte die Augen, schnappte nach Luft und beteiligte sich ab sofort nicht mehr an der Unterhaltung. Leider sagte aber auch der sichtlich verwirrte und verängstigte Charles kein Wort. Er schloß die Augen und schaltete innerlich ab. * »Das können wir doch nicht machen, Paul«, meinte Jean Lucard eindringlich und beschwörend. »Unser guter Ruf geht doch glatt zum Teufel, wenn sich das rumspricht.« »Da pfeif ich drauf«, antwortete Legrand und zog nervös an seiner Zigarette. »Ich setz mich endgültig ab. Ich ab' die Nase gestrichen voll. Das hier ist mir zu unheimlich.« »Und wie ist das mit der zweiten Rate? Die bekommen wir erst nach Erledigung unseres Auftrags.« »Die schreib ich in den Wind, Jean. Ich fahr zurück nach Paris. Da kenne ich mich wenigstens aus.« »Wir fliegen aus dem Geschäft, Paul. Uns wird kein Aas mehr engagieren.« »Dann sattle ich eben um.« Nein, Paul Legrands Nerven waren zerschlissen. Nach dem unheimlichen Abenteuer im Weinberg wollte er aussteigen. Lady Simpson und Butler Parker sollte umbringen, wer immer es wollte, nur
er war gegen jeden weiteren Versuch. Die beiden Gangster saßen in ihrem Citroen, der auf der Straße in Richtung Saumur auf einem kleinen Parkplatz stand. Von diesem Parkplatz aus konnten' sie die Türme des Schlosses schwach erkennen. Das Mondlicht tauchte sie in eine unheimliche Atmosphäre. »Laß uns alles in Ruhe bequasseln«, schlug Jean Lucard vor. »Gut, Mentone und Baskell dürften geschnappt worden sein, aber die müssen wir doch wieder 'raushauen, Paul. Anschließend muß Mentone das Doppelte spucken. Und er wird's mit Vergnügen tun, wetten?« »Die Alte und ihr Butler warten doch nur darauf, daß wir noch mal auf der Bildfläche erscheinen. Und was ist dann? Dann sitzen wir auch noch im Schlamassel. «»Wir werden eben aufpassen.« »Haben wir die ganze Zeit über getan. Und was is' dabei 'rausgekommen? Wir haben immer wieder eins auf die Nase bekommen.« »Weil wir die Lady und ihren Butler unterschätzt haben. Das passiert uns nicht wieder.« »Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?« Paul Legrand hatte sich ein wenig beruhigt. »Wir müssen Mentone 'rausholen.« »Und Baskell?« »Der soll sich allein helfen, Paul. Ich hab' da nämlich 'ne Idee. Un' die is' noch nicht mal schlecht. Wer hat den Kies? Mentone! Baskell ist unwichtig, der stört nur. Wir holen uns Mentone und melken ihn. Von mir aus kümmern wir uns gar nicht
mehr um die Lady und den Butler, die können uns gestohlen bleiben. Wir halten uns einzig und allein an Mentone.« »Und weiter?« Paul Legrand rauchte bereits wesentlich genußvoller und langsamer. »Sobald Mentone uns geflüstert hat, wo sein Kies ist, lassen wir ihn im Schloß da drüben verschwinden. Verstehst du? Er geht dann nicht auf unser Konto.« »Nicht schlecht.« Paul Legrand nickte und grinste endlich wieder. »Mentones Tod geht dann auf Parkers Rechnung, Paul, oder auch auf das Konto dieses bekloppten Barons.« »Die ganze Sache ist gut, aber sie hat 'nen scharfen Haken.« »Ich weiß, wie kommen wir an Mentone 'ran, nicht wahr? « »Haargenau, das ist der Punkt, Jean. Wie stauben wir Mentone ab? Freiwillig rücken die ihn nicht 'raus da oben im Pavillon. « »Wir haben schließlich Kanonen. Und die rechnen bestimmt nicht damit, daß wir noch in dieser Nacht aufkreuzen. Wir müssen also sofort wieder zurück.« »Das gefällt mir aber überhaupt nicht, Jean.« »Ohne Risiko kein Vermögen, Paul! Es gibt aber noch 'ne andere Möglichkeit.« »Da bin ich aber gespannt, Jean.« »Vielleicht haben die bereits die Bullen verständigt. Und wenn die dann Mentone wegschaffen, 'runter nach Saumur, dann packen wir zu. Mit der Polizei sind wir doch immer noch klar gekommen, oder?«
»Und wie!« Paul Legrand grinste optimistisch. »Die Bullen machen mich nicht nervös, nee, nervös macht mich die Alte, und dann dieser verdammte Butler. Sowas hab' ich bisher noch nie erlebt. Sowas gibt's eigentlich gar nicht,...« * »Natürlich habe ich die beiden Killer auf Sie angesetzt«, erklärte Ricardo Mentone hastig. »Aber nehmen Sie doch endlich diese verdammte Hutnadel weg, Lady!« Die Detektivin schien nichts gehört zu haben. Sie gab sich einem fast kindlichen Spiel hin und trieb die Spitze ihrer Hutnadel immer wieder in das Rück- und Sitzpolster eines der beiden Lehnstühle. Weich und irgendwie gerade dadurch bedrohlich verschwand die lange Nadel im Bezugsstoff. Und das war genau das, was den Gangsterboß nervös machte. »Sie wollten mich also umbringen lassen?« fragte Agatha Simpson, ohne Mentone anzusehen. »Wie kommen Sie denn darauf, Lady?« verwahrte sich der Gangsterboß fast entrüstet, wobei er allerdings die Überzeugungskraft vermissen ließ. »Ich wollte nur, daß Sie 'nen Schrecken bekamen und dann abhauten. Mehr war da nicht drin.« »Woher wußten Sie, daß Mylady nach Chapelle-sur-Loire fahren wollte, Mr. Mentone?« Kathy Porter, die bisher geschwiegen hatte, schaltete sich ironisch lächelnd ein. »Ich ... Ich hatte 'nen Tip bekommen.« Mentone war eindeutig froh, diese Ausrede gefunden zu haben.
»Daraufhin hab' ich Legrand und Lucard engagiert und losgeschickt. Fragen Sie sie doch selbst! Die sollten wirklich nur ein paar Schreckschüsse abgeben.« »Lenken Sie nicht vom Thema ab, Sie Lümmel«, grollte Lady Agatha den Gangster an. »Miß Porter hat Sie gefragt, von wem Sie informiert wurden. Antworten Sie möglichst schnell, ich bin für meine Ungeduld bekannt!« Während Agatha Simpson fragte, trieb sie ihre Hutnadel erneut in die Polster, was sehr beeindruckend war. Mentone und Baskell vermochten sich von diesem Anblick kaum loszureißen. »Also schön, Lady, ich werde restlos auspacken«, schickte Mentone voraus. »In Paris hab' ich einen Mann kennengelernt, der...« Das Geständnis des Gangsterbosses fand leider eine jähe Unterbrechung. Kathy Porter warf sich jäh gegen Lady Agatha und riß sie mit sich zu Boden. Das heißt, zuerst landete sie mit Lady Agatha in einem der beiden Lehnstühle, der dann aber umkippte und die resolute Sechzigerin auf den Boden fallen ließ. Gleichzeitig damit ertönten zwei Schüsse, die noch nicht mal besonders laut waren. Mentone brüllte auf, schrie, stürzte ebenfalls zu Boden. Baskell brüllte ebenfalls und brachte sich in Sicherheit, wobei er leider die falsche Richtung wählte. Er hechtete trotz der hinderlichen Fesselung ausgerechnet in Richtung Kamin und landete mit Rücken und Gesäß in der feurigen Glut. Danach brüllte er noch lauter.
Das Tohuwabohu war unbeschreiblich. Mylady grollte und fluchte, Kathy rief nach Butler Parker, Mentone schwieg, während Baskell heulte wie ein sehnsüchtiger Kojote. Er rollte der Länge nach über den Teppich, brachte einen Ziertisch zum Einsturz und wurde von diesen Trümmern begraben. »Mylady haben gerufen?« war dann Parkers beherrschte Stimme zu vernehmen. »Haben Sie die beiden Schüsse nicht gehört?« Die entrüstete Dame ließ sich von Parker und Kathy Porter helfen. Dann deutete sie auf Mentone, der sich nicht rührte. »Ich möchte davon ausgehen, Mylady, daß hier ein Überfall stattgefunden hat«, erklärte der Butler. »Wenn Mylady erlauben, werde ich Mr. Mentone untersuchen.« »Ihre Nerven möchte ich haben! Warum verfolgen Sie nicht den Mörder?« »In der augenblicklich herrschenden Dunkelheit, Mylady, wäre das reine Zeitvergeudung, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Konnte festgestellt werden, von wo aus geschossen wurde?« »Vom Salon aus«, rief Kathy, die bereits dorthin zur spaltbreit geöffneten Tür lief. Sie verschwand für einen Moment im Nebenraum und kam dann achselzuckend zurück. »Die Tür zur Terrasse ist geöffnet«, sagte sie. »Ich glaube, Mr. Parker, ich habe den Schützen ganz kurz gesehen.«
»Könnten Sie möglicherweise eine befriedigende Beschreibung liefern, Miß Porter?« »Der Schütze war ungewöhnlich klein«, erwiderte Kathy. »Nicht größer als ein Kind, würde ich sagen. Können Sie damit etwas anfangen?« »Mein Cousin«, sagte Agatha Simpson aufgebracht. »Damit dürfte der Fall ja wohl gelöst sein, denke ich. Ich wußte ja gleich, daß er der Mann ist, nach dem wir suchen.« * »Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, Mylady«, erklärte Inspektor Grissac, als seine Beamten den Pavillon geräumt hatten. »Ich hoffe, Sie werden die zuständigen Stellen darüber informieren, wie wertvoll meine Hilfe war.« »Mein Butler wird mich daran erinnern«, versprach die Detektivin gnädig. »Nun brauchen wir nur noch den Baron und diesen Fontenac zu finden.« »Das Schloß wird bereits intensiv durchsucht, Mylady«, sagte Grissac, sich wegen seiner Sprachkenntnisse mehr an den Butler wendend. »Wir werden keinen Stein auf dem anderen lassen.« »Hoffentlich lebt Fontenac noch«, sorgte sich Parker. »Er hat sich seit geraumer Zeit nicht mehr sehen lassen.« »Wir werden ihn und den Baron finden, Mr. Parker, mein Wort darauf!« »Schade, daß Mentone nicht mehr ausreden konnte«, ärgerte die ältere Dame sich. »Als er das
entscheidende Wort sagen wollte, fielen die - beiden Schüsse.« »Aber Miß Porter hat den Schützen beschrieben, Mylady«, erinnerte Parker. »Der Baron dürfte somit entlarvt sein.« »Was für eine Familie«, seufzte Agatha Simpson und verdrehte die Augen qualvoll. »Aber das wundert mich nicht, schließlich handelt es sich um den französischen Zweig dieser Sippe. Was kann man da schon groß erwarten.« Grissac, der das nicht mitbekommen hatte, nickte zustimmend und schloß sich der Meinung der Detektivin an. Wenig später spitzte er die Ohren und geriet in Bewegung. Von weither waren Schüsse zu hören, die dann jäh abbrachen. Grissac riß sein Funksprechgerät hoch und fragte an, was passiert sei. Es dauerte einige Sekunden, bis er endlich die ersehnte Antwort erhielt. »Ein Feuergefecht«, meinte er dann in Richtung Mylady und Butler Parker. »Daß es kein Feuerwerk gewesen ist, habe ich gesehen«, sagte sie ironisch. »Meine Leute haben zwei Männer festgenommen, die sich einer Verhaftung durch schnelle Flucht entziehen wollten. Dank der Tapferkeit meiner Männer...« »Wie heißen die beiden Männer?« fragte Parker, den Inspektor unterbrechend. »Warten Sie, ich werde nachfragen.« Grissac spielte wieder mit seinem Funksprechgerät und wandte sich dann an Parker.
»Paul Legrand und Jean Lucard«, meldete er. »Sehr gut«, fand Parker und nickte andeutungsweise anerkennend. »Ich möchte den Dingen keineswegs vorgreifen, Monsieur, doch mir scheint, daß Sie für diese Doppelverhaftung zusätzlich gelobt werden. Diese beiden Männer werden mit Sicherheit von den Behörden in Paris gesucht.« »Und es hat noch nicht mal Verletzte gegeben«, erwiderte Inspektor Grissac, »wenigstens nicht auf unserer Seite.« »Und was geschah mit den Herren Legrand und Lucard?« »Sie sind bereits ärztlich versorgt, Mr. Parker. Während der Flucht prallten sie mit ihrem Wagen gegen einen Baum. Gehirnerschütterung, einige Prellungen und Schürfwunden..« Bevor der immer noch begeisterte Grissac sich weiter über dieses Thema verbreiten konnte, erschien plötzlich Fontenac, der von einem uniformierten Beamten hereingeführt wurde. Der Mann machte einen erschöpften Eindruck. Seine Kleidung war lädiert und total verschmutzt. Er schien sich in Räumen aufgehalten zu haben, die seit Jahrzehnten nicht mehr geputzt worden waren. »Sie sehen meine bescheidene Wenigkeit erfreut«, sagte Parker, während Fontenac fast in einen der Lehnstühle fiel. »Sie scheinen einige recht unangenehme Abenteuer hinter sich zu haben, wie ich vermuten möchte.«
»Dieser Wahnsinnige«, sagte Fontenac mit leiser Stimme. »Diese Bestie!« »Kann man annehmen, daß Sie von Baron de Ponelle reden?« »Dieser Mann gehört in eine einschlägige Anstalt«, erwiderte Fontenac und schloß für einen Moment die Augen. Dann richtete er sich auf und sah den Butler an. »Wissen Sie, daß er mich umbringen wollte?« »Dies scheint zu den Hobbys des Barons zu gehören«, antwortete Josuah Parker. »Er wollte mich guillotinieren«, redete Fontenac weiter und fiel wieder zurück. »Es war schrecklich. Ich konnte gerade noch im letzten Moment entkommen.« »Und wo befindet sich der Baron Ihrer Ansicht nach?« »Natürlich im Schloß dort drüben«, vermutete Fontenac. »Wahrscheinlich steckt er in einem Geheimgang oder sonst in einen Versteck. Ich sage Ihnen gleich, Mr. Parker, den Baron werden Sie nie finden. Das Schloß ist ein Labyrinth. Hoffentlich findet er nie wieder heraus, hoffentlich!« * Der neue Tag präsentierte sich in Schönheit. Die Sonne schien. Das Grün der Weinberge war satt, das Schloß machte keinen unheimlichen Eindruck mehr. Die Dinge waren ins Lot gekommen. Mylady, Kathy Porter und Butler Parker verabschiedeten sich von
Fontenac, der sich inzwischen wieder erholt hatte. »Was werden Sie jetzt unternehmen?« erkundigte Parker sich. Die beiden Damen saßen bereits im hochbeinigen Monstrum und warteten darauf, daß der Butler sie zurück nach Paris brachte. »Sobald der Notar gekommen ist, werde ich mir eine andere Stellung suchen«, antwortete Fontenac. »Wissen Sie, das Schloß ist mir einfach zu unheimlich geworden. Der Baron, Sie verstehen?« »Es beunruhigt Sie, daß man ihn noch nicht gefunden hat?« »Das ist es, Mr. Parker!« Fontenac nickte. »Ich möchte nicht plötzlich wieder vor ihm stehen. Die Polizei hat doch wirklich alles auf den Kopf gestellt, aber ich fühle es, daß er sich noch im Schloß aufhält.« »Vielleicht ist es richtig, das Gelände so schnell wie möglich zu verlassen. Läutete da gerade nicht das Telefon?« Fontenac lief in den Pavillon und kam nach wenigen Minuten schon wieder zurück. »Es war der Inspektor«, »meldete er, »Dieser Gangster Mentone ist seinen Verletzungen erlegen. Er starb vor einer halben Stunde im Hospital.« »Friede seiner Asche«, murmelte der Butler, um dann seine schwarze Melone grüßend zu lüften. »Für die Zukunft alles das, Monsieur Fontenac, was immer Sie sich wünschen!« Parker setzte sich ans Steuer seines Monstrums und fuhr langsam an. Fontenac winkte noch, um dann im Pavillon zu verschwinden.
Und nun verhielt dieser angeblich geschockte und furchtsame Mann sich doch recht eigenartig. Er hatte ein Fernglas in Händen und beobachtete das hochbeinige Monstrum des Butlers, das bereits weit unten am Fuß des Weinbergs zu sehen war und dann auf die Straße einbog. Fontenac grinste, und es war ein tückisches Grinsen. Er wandte sich ab und verließ den Pavillon durch die hintere Küchentür. Nachdem er sich einige Male verstohlen umgeschaut hatte, ging er zielsicher in den verwilderten Park und hielt auf einen kleinen, runden Tempel zu, der nur aus Säulen und einem flachen Dach bestand. Es handelte sich selbstverständlich nur um eine Imitation, die der griechischen Antike nachempfunden war. In der Mitte dieses Tempels, der eigentlich keine Funktion zu erfüllen schien, stand eine Art Sarkophag. Fontenac befaßte sich mit diesem Sarg aus Marmor, manipulierte an ihm herum und strengte sich dann nur wenig an. Weich und wie geölt glitt der Sarkophag zur Seite und gab eine schmale, steile Steintreppe frei, die in eine Gruft führte. »Hallo, Baron«, rief er dem gnomenhaft kleinen Mann zu, der in einer Grabnische lag und sich nicht rühren konnte. Baron de Ponelle war an Händen und Füßen gefesselt. Sein Mund war mit einem breiten Heftpflaster zugeklebt. »Jetzt sind wir endlich ganz unter uns«, redete Fontenac weiter und zündete sich eine Zigarette an. »Wir haben da noch einiges zu besprechen. Sie wollen mir immer
noch sagen, wo Sie Ihr Bargeld versteckt haben, Baron.« Fontenac beugte sich über den kleinen Mann und riß ihm brutal das Heftpflaster von den Lippen. »Sobald ich das Geld habe, Baron, bekommen Sie Ihre Chance«, sagte Fontenac. »Sie können sich dann von der Polizei finden lassen. Schön, man wird Sie in eine Anstalt stecken, aber das ist immer noch besser, als hier zu verenden, wie?« Baron de Ponelle antwortete nicht. »Viel Zeit haben Sie nicht«, drängte Fontenac. »Ich kann Sie auch zur Guillotine bringen, auf die Sie ja so mächtig stolz sind. Die Polizei hat das Ding funktionsfähig zurückgelassen. Möchten Sie geköpft werden?« Der Baron schwieg noch immer. »Sobald die Zigarette aufgeraucht ist, will ich Ihre Entscheidung haben«, redete Fontenac inzwischen munter weiter. »Überlegen Sie doch mal, entweder die Guillotine oder geschlossene Anstalt, Baron! Sie wissen doch, daß man Ihnen die drei Todesfälle in Ihrer Familie anlasten wird: Rene de Ponelle, der in der Badewanne umkam, Pierre de Ponelle, der von einem Lastwagen zusammengefahren wurde und Gaston de Ponelle, der sich auf der Treppe das Genick brach. Mann, kein Mensch außer uns beiden Hübschen weiß doch, daß es sich wirklich um Unglücksfälle gehandelt hat, aber jeder hier in der Region weiß von Ihrem Haß auf Ihre Verwandtschaft. Sie sitzen in der Falle!« Baron de Ponelle sah Fontenac wütend an, doch er sagte nichts. ,
»Für die Polizei sind Sie zudem auch noch der Mann, der sich mit Mentone und den beiden Killern Legrand und Lucard verbündet hat.« Fontenac lachte genußvoll. »Sie haben Ihre verrückten Ideen zu laut herumposaunt, Baron. Jeder glaubt, daß Sie wahnsinnig sind, nur ich nicht. Ich weiß, daß sie nur den Mund zu voll genommen haben. Und ich weiß auch, daß sich irgendwo im Schloß ein tolles Vermögen befindet. Übrigens, die Zigarette ist gleich aufgeraucht. Sie sollten sich entscheiden.« »Warum haben Sie das getan?« fragte der Baron, der sich zu einer Antwort entschlossen hatte. »Weil Sie genau der Typ sind, den man ausnehmen kann«, antwortete Fontenac leichthin. »Ich habe Ihre Quasseleien mitbekommen, als Sie in Paris in einem Club prahlten. Ich war dort als Empfangschef angestellt und witterte sofort sowas wie eine Goldader. Sie haben mich natürlich nicht wiedererkannt, als ich dann hier aufkreuzte und mich als Verwalter bewarb. Adelspack wie ihr achtet doch niemals auf kleine Leute, aber jetzt sieht das eben anders aus, wie? Und Charles und Janot werden aussagen, daß ihr Baron sie losgeschickt hat, diese verrückte Alte und ihren Butler zu köpfen. Dafür habe ich schon gesorgt, Baron. Fester am eigenen Angelhaken können Sie gar nicht zappeln.« »Sie bekommen keinen Centime«, sagte Victor de Ponelle wütend. »Lieber sterbe ich.«
»Hier in der Gruft kann das lange dauern, Baron. Ich glaube, auf die Guillotine werde ich verzichten. Hier ist es für Sie intimer. Ach richtig, hätte ich beinahe vergessen, diese drei Engländer glauben fest, daß Sie auf Mentone geschossen und ihn erledigt haben. Ich hab' Sie imitiert, als ich schoß, ich brauchte mich nur hinzuhocken und schon stand fest, daß Sie Gnom der Schütze gewesen sind.« »Aber nein«, sagte in diesem Moment eine würdevolle Stimme hinter Fontenac. »Miß Porter ließ sich nicht täuschen, Monsieur, sie tat nur so, um Sie in Sicherheit zu wiegen!« Fontenac erstarrte. Er war nicht in der Lage, sich nach Parker umzuwenden, der hinter ihm stand. Diese Überraschung war einfach zu groß für ihn. Dann aber, als er sich wieder gefaßt hatte, warf er sich herum und stieß den Butler zur Seite, das heißt, er wollte es tun, doch Parker räumte freiwillig das Feld. Fontenac spurtete zur steilen Treppe und hastete nach oben. Als er seinen Kopf durch den Einstieg schob, donnerte ein perlenbestickter Pompadour auf seinen Kopf. Sekunden später lag Fontenac wieder unten vor Parkers Füßen und rührte sich nicht mehr. * »Wer hätte das gedacht?« wunderte Inspektor Grissac sich und schüttelte den Kopf. »Mylady war so frei«, erklärte Parker großzügig, was die Detektivin
die Interessen waren annähernd gleich.« »Wie hat der Baron alles überstanden?« fragte Inspektor Grissac. »Sehr gut, Monsieur«, entgegnete der Butler. »Er dürfte zur Zeit seine Guillotine ölen, an der er ja sehr zu hängen scheint.« »Man wird ihm dieses Teufelsding wegnehmen«, entschied der Inspektor. »Was nicht unbedingt notwendig scheint«, schloß Josuah Parker. »Eine Prüfung dieses Blutgerüstes ergab, Monsieur, wie ich feststellen konnte, daß das Fallmesser aus Sperrholz und Plastik besteht.« »Wie war das?« Grissac staunte. »Hier der Beweis«, meinte Parker und präsentierte dem Inspektor eine zerquetschte und zerfaserte Zigarre. »Ich wollte das Messer benutzen, die Zigarre abzuschneiden, doch leider köpfte die Guillotine sich dabei selbst, wenn ich es so umschreiben darf. Das Fallmesser trug ernsthafte Schäden davon, die der Baron inzwischen zu reparieren trachtet.« »Wie lange wollen wir hier noch herumstehen?« schaltete die ältere Dame sich grimmig ein und sah ihren Butler strafend an. »Ich kann es kaum erwarten, zurück nach England zu kommen.« »Mylady wollen einen neuen Fall lösen?« erkundigte Grissac sich respektvoll. »Was dachten denn Sie?« erwiderte sie grollend. »Auf der Insel wird es wahrscheinlich wieder drunter und drüber gehen. Ich werde gebraucht!«
wie selbstverständlich hinnahm. Sie nickte sogar. »Mylady konnte nicht glauben, daß Myladys Cousin seinen immer wieder laut geäußerten Haß wirklich in die Tat umsetzte. Zudem war es ausgeschlossen, daß ein Baron de Ponelle engen Kontakt zu einem Gangster wie Mentone aufnahm. Hier mußten andere Querverbindungen bestehen.« »Woher kannte Fontenac diesen Mentone? Schnell am Rande gesagt, Monsieur Parker, es geht ihm schon wieder den Umständen entsprechend gut. Er wird überleben.« »Und bestraft werden«, sagte Parker. »Vielen Dank, Monsieur, daß Sie Mentone erst mal für tot erklärten. Das schuf die Voraussetzung dafür, Fontenac in Sicherheit zu wiegen und ihn dazu zu bringen, den Baron aufzusuchen.« »Auch meine Vorgesetzten werden das hoffentlich in Rechnung stellen«, sorgte sich Grissac. »Mit Sicherheit, Monsieur«, erwiderte der Butler. »Um auf die Verbindung Fontenac und Mentone noch mal hinzuweisen, nun, sie kannten sich von Paris her, doch das liegt schon viele Jahre zurück. Man sah sich wieder, verstand sich umgehend und tat sich zusammen, um Mylady an Leib und Seele zu schädigen, wie ich es ausdrücken möchte. Mentone fürchtete, von Mylady gestellt zu werden, Fontenac konnte einen angeblichen Familienmassenmord beisteuern. Man einigte sich also schnell, denn
ENDE
Günter Dönges schrieb wieder einen neuen Nr. 172
Parker harpuniert den >Killerhai< Einige Versicherungsgesellschaften gerieten in wilde Panik, als sie quasi am laufenden Band für Schiffe und Ladungen zahlen mußten, die verloren gingen. Lady Agatha Simpson hingegen strahlte vor Freude, als man sich an sie wandte und um Hilfe bat. Sie stürzte sich Hals über Kopf in dieses neue Abenteuer, geriet an den >Killerhai<, erlitt einen bösen Schiffbruch und landete schließlich auf einem Floß irgendwo auf den Bermudas. Ohne Butler Parker hätte sie mit Sicherheit nicht überlebt, aber davon wollte sie später nichts wissen ... Günter Dönges schrieb für den Zauberkreis-Verlag einen weiteren Original-Parker-Krimi, in dem der allseits bekannte Butler sich mit ausgekochten Gangstern herumschlägt, die zuviel über einen gewissen James Bond gelesen haben. Wer Hochspannung und Humor liebt, sollte sich auch diese Parker-Story nicht entgehen lassen. In der Neuauflage erscheint Butler Parker Nr. 140
Solo für ein scheues Reh ebenfalls von Günter Dönges.
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