Robert Cullen
Nachrichten aus einem kalten Land Roman Aus dem Englischen von Günter Seib
Scherz
Für Doc – mit Liebe
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Robert Cullen
Nachrichten aus einem kalten Land Roman Aus dem Englischen von Günter Seib
Scherz
Für Doc – mit Liebe
Der Autor Robert Cullen, preisgekrönter Journalist mit zwanzig Jahren Berufserfahrung in Washington und Moskau, ist Autor von drei weiteren Romanen. Mit »Nachrichten aus einem kalten Land« hat er einen authentischen Russland-Thriller geschrieben, den die Kritiker häufig mit Martin Cruz-Smith’ »Gorki Park« verglichen haben. Das Buch Jennifer Morelli war als Journalistin in Russland tätig. Noch während ihrer Heimreise nach Amerika setzt sie sich mit Colin Burke, einem Journalisten in Verbindung, um ihm von einer brisanten Geschichte zu erzählen. Doch dazu kommt es nicht mehr, denn sie wird ermordet. Colin Burke fliegt sofort nach St. Petersburg, um herauszufinden, was Jennifer erfahren hat. Bei seinen Recherchen trifft er auf die CIA-Agentin McCoy und gemeinsam kommen sie einen Milliardenbetrug auf die Spur, bei dem sie fast das Leben verlieren.
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Dispatch from a Cold Country« als Fawcett Columbine Book bei Ballantine Books, New York Umschlaggestaltung: ja DESIGN, Bern: Julie Ting & Andreas Rufer Umschlagbild: Tony Stone Bilderwelten, München 1. Auflage 2000, ISBN 3-502-51.747-9 Copyright © 1996 by Robert Cullen Alle deutschsprachigen Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien Gesamtherstellung: Ebner Ulm
1 Dankbar rückte Jennifer Morelli im Proletarier des Nordens an die Spitze der Schlange vor dem Zahltresen vor. Sie durfte sich berechtigte Hoffnungen machen, nie wieder in so einer Lotterburg nächtigen zu müssen. Das schlecht geheizte Hotel in diesem heruntergekommenen, frostklammen Arbeiterviertel St. Petersburgs hatte sich nach der Wende noch nicht mal die Mühe einer Umbenennung gemacht. Die Absteige hieß noch genau wie in Schdanows Leningrad von 1954, als die Sowjets Ausländer noch mit Bedacht von solchen Orten fern hielten. Im Neuen Russland aber hatte der Proletarier des Nordens entdeckt, dass der Westen auch weniger betuchte Touristen schickte, unterbezahlte Lehrer, Kunstliebhaber mit mehr Begeisterung als Geld, und mitunter eine freiberufliche Reporterin wie Jennifer, die willig harte Devisen, wenn auch keine hundert Dollar pro Nacht, für ein Moderkabuff mit Klo und Kaltwasserdusche am anderen Ende des Flurs berappten. Jennifer lehnte sich über den Tresen der Kassiererin und sah zu, wie diese ihre Telefongebühren aufaddierte. Mit flinken Fingern schnippte sie hierzu die Holzkugeln eines Abakus hin und her. »Dreihundertvierunddreißigtausenddreihundert Rubel«, verkündete sie schließlich. Also ungefähr fünfzig Dollar. »Wie wär’s mit Rabatt, weil nie Warmwasser läuft?«, wollte Jennifer wissen. Die Frau hinterm Tresen war zunächst baff. Dann musste sie kichern, über den skurrilen Humor der Ausländerin. Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Mittels zweier eingelegter Kohlepapierblätter erstellte sie in dreifacher Ausfertigung die Quittung, und Jennifer schob einen zentimeterdicken Rubelpacken zu ihr hinüber. Den Daumen wiederholt anleckend, zählte die Kassenfrau zweimal durch. Als es endlich stimmte, händigte sie Jennifer das oberste Quittungsblatt aus – und den blauen Reisepass. Jetzt konnte sie aus Russland ausreisen. Da hörte sie, wie jemand nach ihr fragte. Verwundert drehte sie sich um. Ein paar Meter weiter am Empfang stand ein Mann in einem aufgeknöpften, sichtlich teuren Ledermantel. Eigenartig gebaut war der, fand sie. Ein Torso mit
langen Armen, auf Säbelbeinen. Er hatte so gut wie keinen Hals, und die Blumenkohlohren waren wie angeklebt an den kugelförmigen Kopf. »Morelli«, ließ er ihren Namen erneut auf Russenart kollern, wie sie es von den Marktfrauen kannte. »Jennifer Morelli. Zimmernummer?« Eine tiefe, heisere Boxerstimme. Schon wollte sie hin zu dem Mann und sich zu erkennen geben, aber irgendwas ließ sie zögern. Was genau sie abhielt, hätte sie nicht sagen können, aber es hatte wohl mit seinem Tonfall zu tun, oder mit seinem Auftreten. Anstatt sich zu erkennen zu geben, duckte sie sich. Für eine Frau war sie hoch gewachsen, fast ein Meter neunzig, ewig die Hopfenstange, schon in der Grundschule größer als alle Jungs. Und nun zog sie den Kopf ein, wie schon damals vor den Hänseleien. Sie wich einen Schritt zurück, bis sie hinter einer Säule der Halle aus dem Blickfeld war. Der Hotelangestellte am Empfang sträubte sich mit der Ausrede, er sei zur Preisgabe von Zimmernummern nicht befugt. Genau die Art bürokratischer Widerborstigkeit, wie sie die Russen in der Ära nach der Perestroika mit kleinen Rubelpacken glätten gelernt hatten. Doch der Ledermann langte nicht nach der Brieftasche. Statt dessen ließ er seine Pranke auf den Tresen fallen, Handfläche nach unten, die Wurstfinger schon wie zum Zupacken gekrümmt. Mit der anderen griff er sich ans Revers und ließ den Mantel ein wenig aufklaffen. Eine Pistole in einem schwarzen Achselhalfter. »Keine Sperenzchen«, knurrte er. »Die Zimmernummer, aber dawaii« Der Mann am Empfang sah sich verstohlen um, vielleicht, ob der Direktor in Hörweite war. Aber da war niemand. Er langte nach Block und Stift, kritzelte, riss ab und reichte es dem Ledermann. Der besah sich den Zettel, nickte und eilte statt zum quietschenden Hotelfahrstuhl zum Treppenhaus, schob sich durch die Tür und war weg. Jennifer wusste weder wer der Mann war noch ob er ahnte, was sie in Kamera und Computer dokumentiert hatte. Sie wusste nur eins: Es konnte ihr nichts Gutes daraus erwachsen, wenn sie es allzu genau herausfinden wollte. Sie machte die schwarze Leinentasche auf und verwahrte den Pass in einem Seitenfach mit Reißverschluss. Mit dem Tragegurt
über der linken Schulter und der Tasche unter dem rechten Arm trat sie durch die Hoteltür ins Freie. Auf den Koffer, den sie vor zehn Minuten beim Portier abgestellt hatte, verzichtete sie inzwischen lieber. Die Klamotten darin waren sowieso veraltet und außer Mode, Hüllen ihrer früheren Existenz, nicht die Garderobe der Frau, die sie künftig sein wollte. Ohne war sie sogar besser dran. Alles, was wirklich von Wert für sie war, befand sich in ihrer Umhängetasche. Die Wintersonne schaffte es gerade noch, die Unterseite der über der Stadt lastenden Wolkenbank schwefelgelb zu färben, weshalb das Licht auf der Straße so grau, diffus und dämmrig war wie zu Anbruch eines Winterabends in Pennsylvanien. Sie hielt Ausschau nach einem Taxi, aber hier draußen gab es keine. Doch eine rotgelbe Straßenbahn kreischte auf den verzogenen Schienen daher, rumpelte über den Friedensplatz und hielt zwanzig Meter vor dem Hotel. Sie sprang hinein und presste sich durch ein Gedränge von Russen, die nach feuchter Wolle und Heizöl rochen. Sie beugte sich vor und spähte durch die fettige Scheibe der Straßenbahn, während diese anfuhr. Der Mann im Ledermantel kam nicht herausgerannt. Sie atmete auf, als das Hotel außer Sicht war. Sie stellte sich vor, wie er ein paar Minuten brauchen würde, bis er aus ihrem leeren Zimmer wieder in die Hotelhalle zurückkam. Hoffentlich meinte er dann, sie sei zwar ausgegangen, habe aber den Koffer in Verwahrung gegeben und wolle ihn offenbar noch vor Mittag abholen, nach einem letzten Bummel durch die Stadt. Und hoffentlich fiel er dabei zugleich darauf herein, dass sie auf den Flug mit der Lufthansa um vierzehn Uhr nach Frankfurt gebucht war. Als die Straßenbahn den Newsky Prospekt mit seinen besseren Hotels erreichte, stieg sie aus. Eine kurze Schlange von vier Taxis wartete vor dem Palasthotel, und sie nahm gleich das erste. »Zum Flughafen. Sofort!«, rief sie dem Fahrer zu. »Fünfzig Dollar.« Jennifer Morelli seufzte. Das Zehnfache des amtlichen Tarifs, danach blieb ihr so gut wie kein Bares mehr. »Abgemacht«, fügte sie sich. »Aber dalli.« Schon am Eingang zum Flughafengebäude überfiel sie der giftige Dunst aus Machorka, Wodka, Langeweile und Verzweiflung. Naserümpfend schob Jennifer die schmierige und an den Rändern bereifte Glastür auf, die schwarze Leinentasche immer noch
wachsam unter den rechten Arm geklemmt. Ein Blick auf die Armbanduhr: 9:30 Uhr. Eine halbe Stunde noch. Das Taxi hatte ewig gebraucht. Vor sich in der wegen Dutzender ausgebrannter Birnen schummrigen Halle erblickte sie ein Menschengewühl von Russen und Russinnen in dunkelblauen, braunen und grauen Wintermänteln. Die meisten Leute standen geduldig Schlange, andere hockten aneinander gedrängt auf braunen Holzbänken, fast wie im Gottesdienst, und mampften Stullen aus Zeitungen als Brotpapier. Wieder andere lagen ausgestreckt auf dem Boden und schnarchten mit offenem Mund, eingetrocknete Spuckefäden am Kinn. Sie konnte nur vermuten, wie lange die schon auf ihren Flug warteten. Sie ließ den Blick kurz durch die Riesenhalle schweifen, um sich zurechtzufinden, bis ihr Blick den Richtungspfeil unter der Schrift AUSLANDSFLÜGE erfasste. Doch bevor sie sich dorthin aufmachen konnte, vertrat ihr ein untersetzter Mann mit stoppligem Runzelgesicht und Kippe im Mundwinkel den Weg. Er grinste sie an und entblößte dabei zwei Stahlkronen und statt der Schneidezähne rosigen Gaumen. Seine Fahne war armlang. »Moschno?«, fragte er und langte nach der schwarzen Tasche, ohne die Antwort abzuwarten. Jennifer zuckte zurück, als habe er sie betatscht. Auch wenn sie hoch gewachsen und schmal war, hatte sie doch Kraft in den sehnigen Armen und hielt ihre Reisetasche eisern fest. »Njet!«, wehrte sie heftig ab. Sie wurde rot, denn sie hatte die Stimme über den Lärmpegel der Flughafenhalle erhoben und Menschen veranlasst, sich umzudrehen und sie anzugaffen. Wie ihr jetzt erst aufging, hatte der Mann offenbar nur Trinkgeld fürs Gepäcktragen abstauben wollen, weil sie der Kleidung nach aus dem Westen stammte und er scharf auf Devisen war. Mit zusammengepressten Lippen drehte sich Jennifer auf dem Absatz um und marschierte energisch auf die Tür am Ende der Halle zu, die Reisetasche fest unter den rechten Arm geklemmt. Doch der Kerl gab nicht auf. Schnaufend verfolgte er sie zu den Auslandsflügen. »Njemez?«, erkundigte er sich auf Russisch, ob sie Deutsche sei. »No!«, fauchte sie, bemüht, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.
»Amerikan?« Sie nickte. »Change Dollars?« Fast hätte sie zurückgefragt, warum sie just vor der Abreise Dollar gegen Rubel einwechseln sollte, doch begnügte sie sich mit Kopfschütteln. »Souvenirs?« »No«, lehnte sie zornig ab. Hoffentlich gab der Penner jetzt endlich Ruhe. Sie hatte noch ein paar Tausendrubelscheine in der Jeanstasche. Gereizt fummelte sie sie heraus und hielt sie ihm hin. Er steckte sie ein, doch die Gier in seinen Augen verriet, seiner Ansicht nach konnte die reiche Ausländerin weit mehr herausrücken. »Dollari?«, bettelte er, und zwinkerte sie dabei unter dem Schirm seiner durchweichten Kappe hervor an. »Go away«, scheuchte sie ihn weg, inzwischen wutentbrannt. Sie zwängten sich durch die Doppelschlange vor dem letzten Abfertigungsschalter, alles Menschen, die ergeben ihrer Ferienflüge in den sonnigen Süden harrten – ans Schwarze Meer. Dann ging es eine vermüllte Granittreppe hinauf. Erleichtert erreichte sie das Portal unter dem Schild AUSLANDSFLÜGE, riss die Tür auf und schlug sie dem Kerl vor der Nase zu. Früher, als diese Stadt noch Leningrad hieß, hatte dieser Teil des Flughafens als Refugium für ausländische Besucher der Sowjetunion gegolten. Jetzt war er nur noch ein schäbiger Seitenflügel der Haupthalle mit ebenso verdrecktem Fußboden und abblätternder Tünche. Eine ausgebleichte, von hinten angestrahlte Zigarettenreklame stellte fast die einzige Beleuchtung dar. Aber wenigstens hatte der Raum noch die Sonderabfertigungsschalter. Jennifer sah auf die Anzeigetafel an der Stirnwand. Aeroflot 10.36 Uhr nach Frankfurt hatte offenbar ausnahmsweise keine Verspätung. Planmäßiger Start um 10.00 Uhr. Der Lufthansaflug ging erst um 14.00 Uhr. Auslandsflüge gehörten zu den letzten Bereichen, in denen sich die Russen noch mühten, den Plan einzuhalten. Ihr war klar, dass ihr die Zeit davonlief, und so schritt sie rasch zum Schalter der Aeroflot. Vor ihr drängten sich fünf Personen, eine Familie. Sie wirkten wie Auswanderer, höchstwahrscheinlich Juden oder Wolgadeutsche, die Russland für immer den Rücken kehren wollten. Sie waren mit der
Frau hinter dem Schalter am Streiten. Die Schalterdame wollte für jede Flugkarte einen Zuschlag in Westwährung. Jennifer war mit der Geschichte der Juden in Russland vertraut, und ebenso mit dem tragischen Fall der Wolgadeutschen, die von Katharina der Großen ins Land gelockt und unter fast allen ihrer Rechtsnachfolger gepiesackt worden waren. Sie konnte jedem aus einer dieser Volksgruppen den Drang zur Auswanderung gut nachfühlen. Aber nicht an diesem Morgen. Sie war am Ende mit ihrer Geduld. Mit halbem Ohr verfolgte sie eine Weile die Auseinandersetzung, ungeduldig mit der Fußspitze wippend und mit ständigem Blickwechsel von der Armbanduhr zur Eingangstür und wieder zum Schalter. Der Schalter daneben, konstatierte sie gallig, war geschlossen. Wie immer in Russland. Normalerweise schaffte es Jennifer, Unangenehmes auszublenden und sich lieber auf das zu konzentrieren, was unmittelbar anstand. Vielleicht hatte sich ihre Ehe deswegen so lange hingeschleppt. Aber jetzt kam ihr doch der Kerl aus der Hotelhalle wieder in den Sinn. Vielleicht ein Kleinkrimineller aus dem Stadtteil, der von einer Amerikanerin im Proletarier des Nordens gehört hatte und sie übers Ohr hauen oder hatte ausnehmen wollen. Doch vielleicht kam er auch aus der Eremitage. Womöglich hatten die dort kalte Füße gekriegt. Warum aber mit Kanone? Sie musste schlucken. Eins hatte für sie absoluten Vorrang: Sie durfte auf keinen Fall riskieren, dass man ihr den Knüller wegnahm, den sie in der Tasche hatte. Alles, wofür sie sich seit der Scheidung abgestrampelt hatte, hing davon ab. Eine Frauenstimme knarzte aus einem der eingebauten Lautsprecher: »Aeroflot 10.36 nach Frankfurt bereit zum Einsteigen. Alle Fluggäste bitte durch den Zoll und an Bord.« Ungefähr zwanzig Leute im Wartebereich jenseits des Zolls standen auf und drängten zu einem Gate, das sie vom Schalter aus nicht sehen konnte. Sie sah auf die Armbanduhr. Dreiundzwanzig Minuten vor zehn. Der Streit um den Zuschlag war inzwischen vom Ob zum Wieviel übergegangen. »Geht’s nicht ein bisschen schneller?«, fragte Jennifer die Schalterdame, und musste sich dazu über die Babuschka beugen.
»Ich muss meinen Flug kriegen.« Die Schalterdame hob gleichgültig die Schultern. Da sah das Oberhaupt der Kleinfamilie auf die Uhr und merkte, weiteres Feilschen konnte die Tickets total entwerten, weil das Flugzeug dann weg war. Seine Hand tauchte in die Manteltasche und zog eine Rolle Banknoten hervor. Jennifer konnte sehen, dass es verschiedene Devisen waren, amerikanische Dollar, deutsche Mark, und ein paar japanische Yen. Der Mann pellte Banknoten von der Rolle, und die Schalterfrau strich sie glatt und schichtete sie zu getrennten Häufchen. Jennifer sah auf die Uhr über der Zollabfertigung. Neunzehn Minuten vor zehn. In aller Gemächlichkeit stellte die Schalterdame ihre Berechnungen zur Konvertierung der diversen Fremdwährungen an. Wenigstens nicht mit dem Abakus, dachte Jennifer. Bei diesem Anblick wäre ihr womöglich der Kragen geplatzt. Sie merkte, wie ihr die letzten Geduldsfäden zu reißen begannen, und biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuschreien. Endlich war die Familie abgefertigt, und Jennifer konnte an den Schalter treten. »Ich möchte umbuchen auf Flug 10.36 Uhr mit Aeroflot«, erklärte sie. Die Schalterdame nickte, griff nach einem großen Telefonhörer aus grünem Plastik und sprach hinein. Jennifer verkniff sich die Frage, warum sie überhaupt anrufen musste. Offensichtlich war der Flug mit knapp dreißig Passagieren doch alles andere als ausgebucht. Und ihr Flugticket wurde schließlich in Hartwährung abgerechnet. Aeroflot sollte hoch zufrieden sein, es der Lufthansa wegzuschnappen. Zum ersten Mal heute hatte sie richtig getippt. »Da, prawilno«, sagte die Frau und legte auf. Sie lächelte flüchtig. »Es klappt«, bestätigte sie auf Englisch. Jennifer seufzte und lächelte schwach zurück. Wieder sah sie auf die Wanduhr. Viertel vor zehn. Noch war es zu schaffen. Die Frau füllte mit Kugelschreiber den neuen Flugschein aus und schob ihn durch den Schalter. Jennifer schnappte ihn sich und eilte zum Zoll. Zwei Zollinspektoren hatten Dienst, und der eine war mit der Kleinfamilie beschäftigt. Sie trat zu dem zweiten, straffte dabei die Schultern und redete sich ein, sie habe keinen Grund zur Nervosität.
Schließlich hatte sie wissentlich gegen kein russisches Gesetz verstoßen. Sie zog Pass und Papiere aus der Schultertasche und reichte sie dem Zollbeamten. Er war teiggesichtig und ließ die Schultern hängen, und unter der Uniformmütze kringelten fettige schwarze Haare hervor. Er war einen halben Kopf kleiner als sie. Er nahm den Pass, sah sich ihr Foto an und lächelte schief. »Jen-ni-fer Mo-rel-li«, sagte er, die Silben einzeln betonend. »Richtig.« Mürrisch blätterte er den Pass auf frühere Visastempel durch. »Touristin?« So lautete ihr Visum. Sie nickte. »Ohne Brille besser.« Das Passfoto war drei Jahre alt und stammte aus der Zeit, als sie noch Brillenträgerin und verheiratet gewesen war. Aus einem unerfindlichen Grund war ihr Mann strikt gegen Kontaktlinsen gewesen. Der Zollinspektor grinste anzüglich. »Auch Frisur jetzt besser.« Sie seufzte. Da versucht man, was aus sich zu machen, und schon hat man so einen Schmiernippel am Hals. »Hübscher jetzt«, schwiemelte er. Früher hätte sie jedes Männerkompliment zu schätzen gewusst, sogar von so einem. Früher, als sie noch voller Selbstzweifel gewesen war. Sie blitzte ihn an: »Verbindlichsten Dank, aber muss das sein?« Das anzügliche Grinsen des Zöllners verflog, und er spannte den Kiefer. Jennifer geißelte sich stumm. Wenn er schon den Don Juan spielen musste, hätte sie klüger daran getan, ihn gewähren zu lassen. »Sonst kein Gepäck?«, fragte er. »Mein Mann«, sagte sie, »mein Mann kommt später damit nach. Mit der Lufthansa. Ich fliege voraus, damit ich noch einkaufen kann.« Verdammt, dachte sie, warum hatte sie geschwindelt? Darin war sie noch nie gut gewesen. Warum einen Ehegatten hinzulügen? Vielleicht, weil sie immer noch lieber verheiratet wäre? Der Zollinspektor musterte sie kalt, sie sah seinen Blick an ihrer Figur heruntergleiten, bis sie merkte, er schielte auf den Ringfinger. Sie spürte, wie ihr die Stirn heiß wurde und wusste, dass ihre Sommersprossen dann besonders hervortraten. Sein Blick fuhr ihr
über den Pullover zurück ins Gesicht und es war klar, er hatte ihr Erröten bemerkt. Er griff sich die Zollerklärung, die sie vor ein paar Wochen bei der Einreise ausgefüllt hatte, und ging sie methodisch durch. Dann deutete er stumm auf die Reisetasche. Sie hob sie auf und stellte sie auf den kniehohen Aluminiumtresen. Wie unbeteiligt ratschte er den Reißverschluss auf und durchwühlte den Inhalt. Jennifer beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und versuchte, eine Haltung gelangweilten Gleichmuts zu bewahren. Da verengten sich die Augen des Zollbeamten. Er zerrte ihren Laptop heraus, einen fünf Jahre alten Toshiba. Sie sah schweigend zu. Als nächstes griff er sich die Kamera. Die Mundwinkel des Zöllners zuckten nach oben. Er besah sich erneut die Zollerklärung, legte sie ihr zum Mitlesen umgekehrt auf die Zollbank und klopfte mit dem Zeigefinger auf die leeren Zeilen unter der Überschrift »zollpflichtige Gegenstände.« »Wo steht Computer?«, fragte er auf Englisch. »Und Kamera?« »Die hab ich nicht eingetragen«, antwortete sie auf Russisch. Der Hals wurde ihr trocken, und ihre Stimme kratzte. »Ich hab nicht gewusst, dass das sein muss. Ich hab gedacht, ich muss nur Devisen und Schmuck angeben.« Der Zöllner setzte seine Amtsmiene auf, und sein Gesicht spiegelte Befriedigung. »Ist aber Vorschrift.« »Was erlauben sie sich…«, setzte sie an, aber da hatte er ihre Schultertasche schon unter den fleischigen Arm geklemmt. »Mitkommen«, befahl er rückwärts über die Schulter. Und watschelte voraus zu einer Tür ohne Aufschrift. Sie sah auf die Armbanduhr. Noch knapp dreizehn Minuten. Hektisch sah sie sich um. Der andere Zollbeamte starrte versunken auf die Zigarettenreklame an der Stirnwand. Da war niemand, an den sie sich wenden konnte. »Verdammt«, murmelte sie und folgte dem Mann. Der Zöllner drückte die Tür auf und trat in einen halbdunklen Gang. Er ging an einer verschlossenen Tür vorbei und blieb vor der zweiten stehen, die ein Drahtgitterfenster und ein Schloss ohne Klinke hatte. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche. Der Schlüssel hing an einem Schlüsselring, und dieser wiederum war mit einer Kette an seinem Webkoppel befestigt. Er drehte den Schlüssel im
Schloss, riss die Tür auf, und bedeutete ihr einzutreten. Es war irgendein Lagerraum. Tiefe Regale an den Wänden voller beschlagnahmtem Gepäck. In der einen Ecke ein verschrammter Schreibtisch und zwei Stühle mit braunem Plastikbezug, aus dessen Rissen die Polstermasse quoll. Eine matte Leuchtstoffröhre tauchte alles in grünliches Licht. Sie drehte sich um und sah, wie der Zollbeamte ein braunes Rollo über das Drahtgitterfenster der Tür zog. Trotz ihrer aufkeimenden Panik unterdrückte Jennifer jeden Gedanken an Flucht. Der Kerl ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und zündete eine Zigarette an, eine Marlboro. Er musterte sie lässig und arrogant. Jetzt hatte sie einen richtigen Hass auf ihn. Jennifer versuchte es nochmals mit energischem Auftreten. Entschlossen baute sie sich vor dem Schreibtisch auf. »Sehen Sie, ich reise jetzt schon sechs Jahre in Russland ein und aus«, erklärte sie. »Ich kenne die Vorschriften. Meldepflichtig sind nur Devisen, Waffen und Schmuck.« Der Zollbeamte zog eine Schreibtischschublade auf und nahm einen schwarz gebundenen Ordner heraus. Er schlug ihn auf und leckte den Daumen an. Dann begann er bedächtig zu blättern. »Hinsetzen«, befahl er. Sie nahm unsicher Platz und warf wieder einen Blick auf die Armbanduhr. Bloß noch elf Minuten. »Sehen Sie, ich muss meinen Flug erwischen!«, bat sie, bemüht, nicht gequetscht zu klingen. Der Kerl tat so, als habe er nichts gehört, eine halbe Minute lang. Schließlich fand er die Stelle, die er gesucht hatte, drehte den Ordner zu ihr herum, schob ihn herüber und fragte: »Lesen Sie russisch?« Sie nickte. Mit einem Knubbelfinger mit gespaltenem Nagel wies er links auf die Seitenmitte. Sie verrenkte zum Lesen den Hals. In der Rubrik »zollpflichtige Gegenstände« waren da diverse Schwermaschinen, Ölbohrplattformen, Flugzeuge, Filmausrüstungen aufgeführt. Und Computer. »Aber auf dem Formblatt steht davon nichts«, wehrte sie sich. Er zuckte die Schultern und sog kräftig an seiner Zigarette. »Ist noch nicht gedruckt.« »Aber so was können Sie doch nicht machen«, protestierte sie und wurde dabei rot vor Wut. »Ich will ihren Vorgesetzten
sprechen!« Der Kerl blies ihr Rauch ins Gesicht. »Nur zu«, nickte er. »Der sitzt in St. Petersburg. Wenn ich anrufe, kommt er vielleicht hier heraus.« Aber bis dahin war das Flugzeug längst weg. Die Aeroflot würde ihr das Ticket bestimmt nicht erstatten. Schlimmer noch, sie saß auf dem Flughafen fest, wo in Kürze der Ledermann aus der Hotelhalle auftauchen würde. Sie holte tief Luft, atmete dabei den Rauch seiner Zigarette ein und bekam einen Hustenanfall. Sie brauchte eine ganze Weile, um sich zu fassen. Der Kerl blies wieder Rauch über den Schreibtisch. »Na schön«, resignierte sie. »Kann ich das Bußgeld gleich hier bezahlen?« Der Zollbeamte sah ihr direkt in die Augen, die Miene völlig ausdruckslos. »Hundert Dollar.« Sie verzog das Gesicht. Damit hatte sie gerade noch genug Geld, um von Frankfurt aus Burke in Washington anzurufen und den Zubringerbus vom Dulles Airport nach Hause zu nehmen. Aber sie sah keine andere Möglichkeit. Sie zog die Brieftasche aus der Reisetasche und zählte hundert Dollar in Zwanzigern und Fünfern auf den Tisch. Blieben ihr noch fünfzehn. Sie reichte dem Zollbeamten das Geld. Er schob es wie nebenbei in die hintere Schreibtischschublade und stopfte ihr den Computer wieder in die Reisetasche. »Darf ich jetzt gehen?«, fragte sie, unterdrückte Wut in der Stimme. »Jetzt die Kamera«, versetzte er, und schnippte Zigarettenasche auf den Boden. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, empfand Wut und Angst zugleich und musste die Handflächen gegeneinander pressen, weil ihr die Finger flatterten. »Ich dachte, das sei mit den hundert Dollar erledigt. Ist doch ein und dieselbe Zollerklärung.« Der Zöllner wiegte gravitätisch das Haupt und konnte nicht mehr verhehlen, wie sehr er seine Macht genoss. Die Zigarette glühte auf, als er erneut einen Lungenzug nahm. »Zweierlei Zollgegenstände«, widersprach er. »Zweierlei Fragen.«
Sowas kann nur alleinreisenden Frauen passieren, dachte sie. Sie unterdrückte den Impuls, erneut auf die Armbanduhr zu sehen. Sie beschloss, die Kamera, eine alte Nikon, zu opfern. »Na gut«, sagte sie. »Sie können die Kamera dabehalten. Lassen Sie mich bloß den Film rausnehmen.« Der Zollbeamte machte große Augen. »Was ist da drauf?« Sofort ging ihr auf, sie hatte einen Fehler begangen, indem sie ihn merken ließ, wieviel ihr an dem Film lag. Aber rückgängig machen ging nicht. »Nichts von Bedeutung«, log sie rasch. »Nur ein paar Fotos aus der Eremitage.« Der Zollbeamte hob die Augenbrauen, und sie merkte, sie hatte schon wieder das Falsche gesagt. »In der Eremitage ist Fotografieren verboten«, sagte er. Da hatte er sogar Recht, fiel ihr ein. »Aber ich hatte eine Erlaubnis vom Direktor, von Gospodin Wassiljew.« »Er hat einer Touristin das Fotografieren erlaubt?« »Aber ich…«, sagte sie, und unterbrach sich. Sie durfte ihm nicht auch noch verraten, dass sie in Russland als Journalistin gearbeitet hatte. Schließlich reiste sie auf Touristenvisum. »Ich hatte seine Erlaubnis«, protestierte sie schwach. »Schriftlich?«, hakte er nach. Sie spürte wieder einen Knoten im Magen, und als sie schlucken wollte, war ihr Hals trocken und rauh. »Nein«, gab sie zu. Der Zöllner nahm die drei gelben Filmrollen und die Kamera aus der Reisetasche und reihte sie vor sich auf den Schreibtisch auf. »Brief von Eremitage bringen, dann Filme zurück«, dekretierte er. »Für Kamera hundert Dollar.« Sie musste Übelkeit niederkämpfen. Obwohl es hier im Raum so kalt war wie im ganzen Flughafen, wurde ihr plötzlich siedendheiß und schwindlig. Jetzt blieben ihr noch knappe acht Minuten. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, die Sache zu regeln«, sagte sie. Der Zöllner sagte nichts und wartete auf das Angebot. Ihr Verstand, merkte sie, funktionierte wie in Zeitlupe. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor ihr einfiel, was sie noch zu bieten hatte. »Ein Buch?«, fragte sie. »Ich habe eine gute englische Übersetzung von Anna Karenina in meiner Reisetasche.«
Der Zöllner schüttelte bedächtig den Kopf. Sie überlegte fieberhaft und war sich dabei bewusst, wie die Sekunden vertickten. »Meine Uhr«, sagte sie. »Ich lasse Ihnen meine Uhr für den Film da.« Seine Augenbrauen hoben sich erwartungsvoll. Sie machte die Schnalle des ledernen Uhrarmbands auf und wünschte dabei, es wäre ein vergoldetes, weil der Kerl das vielleicht nicht merken würde. Der Zöllner drehte die Uhr langsam in seinen Knubbelfingern hin und her. Rauch kräuselte aus der Zigarette. Dann schüttelte er verneinend den Kopf. »Billiguhr«, sagte er und gab sie zurück. Jetzt hatte sie noch fünf Minuten. »Sie sehen doch, dass ich kein Geld mehr habe«, sagte sie, verzweifelt bemüht, nicht ins Betteln zu verfallen. »Ich bin doch keine Luxustouristin. Was ich hatte, hab ich Ihnen alles gegeben.« Der Zöllner schüttelte wieder den Kopf. Er stand auf, ließ die Zigarette fallen und trat die Kippe mit einer Drehbewegung aus. Sie spürte, wie ihr das Wasser in die Augen stieg, und zwinkerte, damit ihr keine Tränen die Wangen hinabrollten. Flennen würde sie vor dem Kerl nicht, auch vor keinem anderen. Blut pochte ihr in den Schläfen, und die Ohren glühten. Er trat dicht an ihren Stuhl heran und stellte sich so vor sie hin, dass sie sein Koppelschloß unmittelbar vorm Gesicht hatte. Dann zog er den Reißverschluss seines Hosenschlitzes runter. Sie konnte zerlumpte Unterwäsche erkennen. Fast wäre es ihr hochgekommen. Sie machte einen verzweifelten Versuch, ihn zu vertrösten. »Aber so ist es doch nicht schön für Sie«, schmeichelte sie. »Wollen Sie nicht lieber mit mir irgendwo ins Hotel?« »Sie fliegen ab«, verneinte er. »Aber ich komme doch wieder«, lockte sie. Und war sich im selben Augenblick sicher, sie würde zurückkommen, und sei es nur, um den Saukerl ausfindig zu machen und anzuzeigen. Er schüttelte den Kopf. Er fiel nicht darauf rein. Sie spürte, wie tief aus dem Bauch Ekel in ihr aufstieg und sie bis in die Fingerspitzen erschauern ließ. »Na gut«, flüsterte sie. »Aber erst die Filme in die Tasche und den Stempel auf die Zollerklärung.« Mit dreckigem Grinsen tat der Zöllner wie geheißen. Dann lehnte
er sich mit dem Hintern gegen die Schreibtischkante. Jetzt konnte sie ihn riechen, ein Geruch nach Fisch und Urin, von dem ihr speiübel wurde. »Doch nicht durch den Hosenschlitz«, widersprach sie, »lass mich sie dir runterziehen.« Sie zwang sich, das Koppel des Mannes zu lösen und ihm Uniform- und Unterhose die Beine hinunterzuzerren. Ein kurzer, unbeschnittener Penis ragte aus der Falte, wo ihm der Bauch über die Leisten hing. Während sie ihm die Hosen bis auf die Knöchel hinunterzerrte, reckte er sich langsam zu einer halben Erektion. Sie ging auf die Knie und rutschte vorwärts, bis sich sein Penis nur noch Zentimeter vor ihrem Mund befand. Sie machte die Augen zu. »Ich komm nicht nahe genug ran«, flüsterte sie, auf das Hosenknäuel deutend. Und mit einem gewollt harmlosen Augenaufschlag: »Ich muss sie dir ganz ausziehen.« Er grinste zu ihr hinunter und entblößte dabei einen stählernen Schneidezahn. Jetzt schälte sich die Eichel aus seiner Vorhaut. Sie fummelte erst das rechte Hosenbein über seine Schuhe, und dann das linke. Er hob folgsam die Füße, bis sie es geschafft hatte. Braune Socken hingen ihm über die Knöchel. »So ist’s recht«, lobte sie. Sie langte so hoch wie möglich bis zur Brust des Zöllners und beschrieb mit beiden Handflächen kleine Kreise über seinen Fettbrüstchen. Er grunzte wohlig. Sie holte tief Luft. Und dann schubste sie, so fest sie konnte. Der Zöllner kippte mit einem Aufschrei nach hinten, rücklings auf die Schreibtischplatte, mit den nackten Beinen grotesk in der Luft strampelnd. In einer einzigen fließenden Bewegung kam Jennifer wieder hoch, packte ihn an den Fersen und gab ihm den zweiten Schubs. Er rutschte über den Schreibtisch, und sie hörte ihn mit dem Hinterkopf auf den Fußboden bumsen. Hastig schnappte sie sich ihre Reisetasche und seine Hose und sprang zur Tür. Sie konnte ihn rumoren hören und tastete verzweifelt nach dem ans Koppel geketteten Schlüssel. Dann hatte sie ihn. Sie trat durch die Tür in den Flur hinaus, während er verdattert auf allen vieren hinter dem Schreibtisch hervorkrabbelte und mit dem blanken Hintern höchst lächerlich wirkte.
Sie schloss von außen zu. Ob er die Tür von innen aufbekommen konnte, war ihr egal. Auf jeden Fall würde er eine Weile brauchen, bis er eine Hose für seinen Nacktarsch fand. Seine Hose stopfte sie in die schwarze Reisetasche neben die Kamera und den Film und den Computer. Dann rannte sie zu der Ausgangstür am Ende des Flurs, und zu ihrem Flug nach Hause. Ihr Sitzplatz war vorn in der Kabine neben einem graumelierten Herrn, der im Handelsblatt las. Er nickte ihr höflich zu. Sie nickte nicht mal zurück, sondern saß bolzengerade im Sessel, die Finger um die Armlehne gekrallt, und ihr Blick huschte immer wieder zum Flugzeugfenster hinaus. Die Frau hat Flugangst, dachte er. Und dabei ist sie fast hübsch. Blaue Augen, ein roter Pagenkopf. Sogar eine Schönheit, säße sie nicht so eigenartig verkrampft im Sessel. Die Augen der jungen Frau wurden nass, und Tränen rollten ihr über die Wangen, sobald sich das Fahrwerk vom Boden löste. Die Iljuschin quälte sich in den Steigflug und drehte nach Westen ein. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Mann auf Englisch. Sie nickte, lächelte unter Tränen und fixierte wieder die Rücklehne vor sich. Es tropfte ihr weiter von den Lidern, aber sie sprach kein Wort. Als das Flugzeug Pskow überflog und damit den russischen Luftraum verließ, wandte sich der Herr wieder seinem Handelsblatt zu.
2 Colin Burke erwachte vom Klingeln des Telefons. Er starrte an die Decke, erkannte den Riss, der vom Fenster zur Schranktür verlief, und den Wasserfleck in der Ecke, wo das Dach während einem seiner Winter im Ausland undicht geworden war. Er linste durch die Lücke zwischen dem Rollo und dem Rahmen des Schlafzimmerfensters. So hell, wie der Himmel sich zeigte, war es entweder bereits neun, oder die Sonne war durch das ewige Grau des Februarhimmels gebrochen. Er hob den Arm und sah auf die Uhr. Neun. Das Telefon klingelte weiter. Er nahm ab. »Burke«, meldete er sich. »Colin, ich bin’s, Jennifer. Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.« Sie klang, als spreche sie vom Grund eines Schwimmbeckens. »Nein, nein, überhaupt nicht«, log er. Er musste husten und merkte, wie belegt seine Stimme klang. Er setzte sich im Bett auf. »Wo bist du? Noch in Russland? Die Verbindung ist miserabel.« »Ach, tut mir Leid«, entschuldigte sie sich, »ich hab dich doch geweckt.« »Geht schon in…« »Ich bin in Frankfurt, am Flughafen«, erklärte sie hastig. »Ich habe mit dem Anruf so lang wie möglich gewartet, aber jetzt muss ich gleich an Bord.« »Zum Heimflug?« »Ja.« »Wie war’s denn?« Sie verstummte, und er dachte kurz, die Verbindung sei unterbrochen. »Hallo.« »Es war gut«, doch ihre Stimme klang kindlich und wie von weit weg. »Ist bei dir alles in Ordnung? Du hörst dich ein bisschen müde an.« »Mir geht’s gut«, beharrte sie. »Ich habe eine Wahnsinnsstory. Du würdest sie einen Megareißer nennen. Aus St. Petersburg. Ich will, dass du sie in der Zeitung bringst.«
»Glückwunsch«, sagte er. »Um was geht’s denn? Haben sie sich in geheimer Abstimmung für den Wiederanschluss an Schweden entschieden?« »Aber Colin«, sagte sie. Sie nahm alles gern wörtlich, erinnerte er sich. Und meistens auch bitter ernst. »Entschuldige«, sagte er. »Um was geht’s denn?« »Zeig ich dir lieber geschrieben«, antwortete sie, »bitte nicht am Telefon. In Ordnung? Ich hab auch ein paar Fotos, die ich dir zeigen möchte.« »Klar«, sagte er. »Aber ist bei dir ganz bestimmt alles in Ordnung? Du klingst ein bisschen…« »Mir geht’s gut«, sagte sie, und er wusste, dass es nicht stimmte. »Ich lande um vier auf dem Dulles Airport. Die Aufnahmen bringe ich in einen Fotoladen bei mir um die Ecke. Kann ich sie dir heute Abend zeigen?« »Klar«, sagte er. »Willst du alles zu mir in die Redaktion bringen?« »Mach ich«, sagte sie. »Wann passt es dir?« »Gleich nach Redaktionsschluss. Etwa heute Abend um neun.« »Geht klar«, bestätigte sie. »Jetzt muss ich an Bord. Bis heute Abend. Die Sache wird dir gefallen. Wird ein Riesenknüller.« Er legte den Hörer auf und stieg aus dem Bett. Er schüttelte vorsichtig den Kopf und stellte zufrieden fest, dass das Hirn noch an der Schädelinnenseite haftete. Er reckte sich und lauschte, wie seine Gelenke knackten. In den Lendenwirbeln war ein dumpfes Stechen, und das linke Kniegelenk knirschte immer noch ziemlich widerlich. Was immer er von Abstinenz erwarten konnte, einen Jungbrunnen offenbar nicht. Er nahm sich seinen Bademantel von der Innenseite der Schranktür und stieg die Treppe nach unten, vorbei an einer Staffel Momentaufnahmen von sich mit seinem Sohn. Sie stammten alle aus den alljährlichen Sommerferien in Moskau, das erste, als sein Junge zwölf war und knapp einen Meter fünfzig, und das letzte kurz vor dem College-Examen, als er schon einen Kopf größer als der Vater und so zuvorkommend zu ihm gewesen war wie zu einem Fremden. Burke klinkte die Haustür auf, trat in den kleinen Vorhof hinaus und suchte die Morgenzeitung. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, sah aber nur ein paar lose Seiten, vom Wind gegen einen
mickrigen Ahorn vor dem nächsten Hauseingang geweht. So war es halt auf Capitol Hill. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, gehörte der Allgemeinheit. Er ging wieder hinein, die Treppe hinauf und ins Badezimmer, wo er den Bademantel an einen Haken zwischen gerahmte Schreiben hängte, welche besagten, er sei für den Pulitzerpreis vorgeschlagen, werde aber leider diesmal nicht zum Zuge kommen, denn die Konkurrenz hervorragender Kollegen sei eben sehr stark. Auf der Vorschlagsliste zu stehen, sei jedoch allein schon eine hohe Ehre. Er ging unter die Dusche und ließ es warm und heiß über sich rauschen. Einer der Vorteile, wenn man allein lebt, dachte er. Man muss das Warmwasser mit keinem teilen. Während ihm das Wasser über die Schultern rann, grübelte er, was für einen Knüller Jennifer Morelli wohl in St. Petersburg aufgetan hatte. Auch noch bebildert. Wahrscheinlich eine olle Kamelle, dachte er bei sich, vor der sie eben nicht ahnte, dass sie längst abgelutscht war. Mit dergleichen kamen Russlandanfänger meistens zurück. Er trat aus der Dusche, trocknete sich ab und machte, noch immer nackt, fünfundzwanzig Liegestützen und fünfundzwanzig Sitzaufschwünge auf dem Schlafzimmerteppich. Bei den jeweils letzten kam er ein wenig außer Puste. Er kleidete sich an, blauer Blazer und senffarbene Hose aus dem Plastiksack von der Reinigung. Dazu eine neue Krawatte mit cremefarbenen Wolkenkratzern auf nachtblauem Hintergrund. Dabei redete er sich ein, er hätte die frischen Klamotten auch so angezogen, ohne Jennifer Morellis bevorstehenden Besuch bei ihm im Büro. Doch so richtig glaubte er sich das selber nicht. Im Wohnzimmer unten hielt er sich gar nicht erst auf. Es war unmöbliert, weil er die vor zwölf Jahren nach der Scheidung angeschafften Korbsessel mitsamt Tisch und Teppich zum Sperrmüll gegeben hatte. Sie waren während seiner Jahre als Auslandskorrespondent eingelagert gewesen und hatten danach muffig gerochen und ein bisschen antiquiert gewirkt. In der Küche goss er den Kaffee vom Vortag weg, setzte neuen auf, pfiff zu Stevie Wonder im Radio und begab sich dann ins Arbeitszimmer, den einzigen Raum in dem kleinen Haus, wo er sich restlos wohl fühlte. Das größte Möbelstück darin war ein altes braunes Ledersofa, von einer Versteigerung aus dem Fundus des
Außenministeriums. Auf dem Boden lag ein dunkelroter Teppich, den er in Kasachstan direkt von den Knüpfern erstanden hatte. An der einen Wand hingen einige von seinen Pressefotos: Tschernenkos Trauerzug, Gorbatschow gedankenvoll neben dem Sarg schreitend; jugendliche Steinewerfer vor Panzern 1991 in Moskau; Sprengwolken von Granateinschlägen in der Fassade des russischen Weißen Hauses im Sommer 1993. Die übrigen Wände bedeckten Regale voller Bücher, die Hälfte davon russisch. Am liebsten las er Historisches. Da er die Morgenausgabe nicht hatte, setzte er sich vor den Computer und loggte sich in die Bildschirmversion der Tribune ein. Rasch überflog er die Liste der Auslandsmeldungen von heute Morgen. Keine Veränderungen, seit er gestern Abend nach Redaktionsschluss der Spätausgabe heimgegangen war. Burke schürzte die Lippen. In den sechs Wochen als Nachrichtenredakteur hatte er gelernt, dass Veränderungen in der Liste der Auslandsmeldungen selten ein frohes Erwachen mit sich brachten. Meistens bedeuteten sie, dass die Tribune irgendeinem Exklusivknüller der New York Times oder der Washington Post nachtrabte. Aber die Routine der Redakteursarbeit begann ihn bereits zu langweilen. So eine kleine Krise wäre ganz nett, dachte er bei sich. Vielleicht irgendwo im pazifischen Raum, von wo die Meldungen wegen der Zeitverschiebung erst spät eintrudelten und der Redaktionsschluss keine Hektik auslösen konnte. Aber vielleicht hatte Jennifer doch was Besonderes im Gepäck. Er zog den Mantel an, ging nach draußen und stieg in seine Rostlaube, einen Ford Crown Victoria, Baujahr 1984. Für Washington sehr praktisch: er war Autoknackern weniger wert als die Zeitung von gestern. Der Motor orgelte kurz, sprang dann an, und Burke fuhr zur Arbeit. Ein Elektriker mit Werkzeugkasten trottete auf Burke zu. »Brauch mal eben Ihren Schreibtisch«, verkündete er. »Muss die Deckenverkabelung überprüfen.« Burke rollte seinen Stuhl zur Seite und ließ den Mann auf den Schreibtisch klettern. Der Redaktionsraum der Tribune war eine ewige Baustelle. Bei jedem neuen Computersystem musste der Boden aufgerissen werden, um neue Leitungen zu verlegen. Dann brauchte der neue Computer eine stärkere Klimaanlage, und dafür
musste die abgehängte Decke runter. Das aber setzte Asbest aus den alten Deckenplatten frei, was wiederum eine neue Decke erforderlich machte. Dann erfand jemand wieder ein neues Computersystem, und der Zyklus begann von vorn. Burke versuchte, sich auf eine Meldung aus Paris zu konzentrieren, die auf dem Computerbildschirm aufgetaucht war, doch der Mann trampelte ihm auf dem Schreibtisch herum und hinterließ staubige Fußabdrücke. »Wie lange dauert’s noch?«, fragte er die untere Hälfte des Elektrikers, dessen Kopf und Schultern in der Deckenverkleidung verschwunden waren. Der Elektriker ließ sich Zeit mit der Antwort. »Weiß nicht«, sagte er dann, und seine Stimme hallte im Hohlraum wider. Burke knurrte. Harry Press, ein ehemaliger Baseballreporter, den es als Nachrichtenredakteur in die Auslandsabteilung verschlagen hatte, trat an seinen Schreibtisch und hüstelte. »Da kommt was auf CNN, wo wir deinen Rat brauchen«, sprach er Burke an. Burke ging die paar Meter mit zu dem kleinen Fernseher, den die Nachrichtenredaktion aufgestellt hatte, um schneller auf dem Laufenden zu sein, wenn irgendwo auf der Welt was passierte. Auf dem Bildschirm erkannte er den russischen Vizeverteidigungsminister, Marschall Wladimir Rogow, der offenbar im Tagungssaal irgendeines Hotels eine Rede hielt. Eine Einblendung wies die Sendung als Live-Übertragung aus Riga aus. Nach dem Bild auf dem kleinformatigen Schirm zu urteilen, hatte sich Rogow in den paar Monaten, seit Burke ihm zuletzt begegnet war, kaum verändert. Er war immer noch so kurzbeinig und gedrungen, reichte mit den Schultern kaum über das Rednerpult, und das Mikrophon verdeckte ihm Nase und Mund. Er hing immer noch ein wenig nach links, wegen des Edelstahlstabs, wie Burke inzwischen wusste, der ihm den rechten Oberschenkelknochen zusammenhielt. Und er war Burke noch immer genauso unsympathisch. Burke sah auf die Armbanduhr. In Riga war es 23.05 Uhr, eine ausgefallene Uhrzeit für eine Pressekonferenz. Noch bemerkenswerter war, dass CNN live und ungedolmetscht eine Sendung des russischen Fernsehens übertrug. Normalerweise legten
die eine simultane Synchronisation über den Originalton. »CNN macht eine Direktübertragung, wie bei einer brandheißen Sache«, sagte Press. »Aber mit der Einspeisung der Übersetzung klappt es nicht.« »… unter den obwaltenden Umständen können die russischen Truppen keinen weiteren Rückzug aus den Radarstationen in Livland verantworten«, dolmetschte Burke Rogows Verlautbarung. »So lange die livländische Regierung keine geeigneten Schritte unternimmt, die Menschenrechte des russischen Bevölkerungsteils zu gewährleisten, halten die russischen Truppen ihre Stützpunkte besetzt. Vielleicht werden diese Truppen sogar verstärkt.« Ein lokaler Reporter sprang auf und schrie eine Frage auf livländisch, die Burke nicht verstehen konnte. Rogow ignorierte ihn und las weiter vom Blatt, doch wegen des Stimmengewirrs verstand Burke nichts mehr. Unvermittelt tauchten zwei bullige Anzugträger neben dem livländischen Journalisten auf und rissen ihn vom Stuhl. Ein zweiter Reporter sprang auf, offenbar zum Protest, aber einer von den beiden, stiernackig wie ein Preisbulle, wischte ihn mit einer Handbewegung beiseite. »Nanu«, knurrte Press. »Das ist keine Pressekonferenz. Das ist ein Diktat.« Rogow machte ein paar abschließende Bemerkungen zur russischen Ehre, faltete sofort seine Redevorlage zusammen und stakste von der Rednertribüne, den Rücken so steif wie das rechte Bein. Der einzelne Goldstern auf seinen Schulterstücken blitzte im Licht der Kamerascheinwerfer. Der Bildschirm wurde kurz dunkel, und dann sendete CNN ein Standfoto aus dem Moskauer Studio, von Stu Jorgenson, der sich bemühte, per Telefon eine halbwegs intelligente Spontaneinschätzung zu liefern. Ken Graves, der Leiter der Auslandsredaktion, trat hinter Burke und Press und schaltete mit der Fernbedienung den Ton aus. Er hatte ja seinen eigenen Analytiker neben sich. »Na schön«, sagte Graves. »Erklär mir, was das heißen soll.« Burke hasste Spontananalysen. Mit wachsender Berufserfahrung durchschaute er, dass die meisten Schnellschüsse eine Art journalistisches Soufflé waren – mehr heiße Luft als Biss. Die richtige Reaktion auf Graves’ Frage müsste darin bestehen, in
Moskau nachzuhaken, bis gut unterrichtete Quellen die Erklärung lieferten. »Also, schwer zu sagen«, versuchte Burke Zeit zu schinden. »Wenn ich darüber berichten müsste, würde ich zuerst rauskriegen wollen, warum Rogow überhaupt so eine Erklärung abgibt.« »Wer ist dieser Rogow?« »Der stellvertretende Verteidigungsminister. Wladimir Rogow. Spitzname Schesl, die Stange, wegen des Edelstahlstabs in seinem Bein, aber auch wegen seiner Persönlichkeit. Er ist klein und passt gut in ein Flugzeugcockpit, also wurde er Pilot. Einer der wenigen Helden, die sie in Afghanistan hatten. Abgeschossen, mit Oberschenkelhalsbruch. Hat überlebt, obwohl ihm die afghanischen Ärzte das Bein verpfuscht haben. Kam durch Gefangenenaustausch zurück in die Heimat und ging gleich wieder nach Afghanistan. War Stabschef der Luftwaffe dort, bis Gorbatschow alle Truppen abzog. Beim Putschversuch von 1991 nur Zaungast, aber seither steile Karriere, offenbar wegen seiner vielen Anhänger in unteren und mittleren Dienstgraden. Die sie in den Arsch getreten haben, mit den Budgetkürzungen in den letzten Jahren. Wurde voriges Jahr stellvertretender Verteidigungsminister. Hab ihn mal interviewt. Ein eiskalter Hund, aber nicht auf den Kopf gefallen, hab ich damals gedacht.« »Aber warum ist es interessant, dass er so eine Erklärung abgibt?« »Fällt überhaupt nicht in sein Ressort, so was zu erklären. Das ist Sache des russischen Präsidenten oder Verteidigungsministers.« »Warum tut er’s dann?« Burke zuckte die Schultern. »Vielleicht ist es nicht ernst gemeint, ein Warnschuss. Oder es war eine Eigenmächtigkeit, und in ein paar Tagen sagt jemand ungehalten, man solle sich um seine Sprüche nicht weiter kümmern.« »Und schlimmstenfalls?« Burke seufzte. »Schlimmstenfalls bedeutet das, dass die Armee auf eine viel härtere Linie umgeschwenkt ist und den Präsidenten zum Nachziehen zwingen will. Dass Rogow seinen Minister irgendwie ausmanövriert hat. Und dass sie das alles tun, obwohl sie genau wissen, dass die Vereinigten Staaten und der gesamte Westen großes Interesse an ihrem endgültigen Rückzug aus dem Baltikum haben. Dass es ihnen inzwischen schnurz ist, was der Westen
denkt.« »Klingt überzeugend«, erklärte Graves. Er lächelte. »Jetzt haben wir eine Schlagzeile für die Titelseite anzubieten.« »Rote Gefahr auf dem Vormarsch«, schlug Burke vor und versuchte dabei, seinen sarkastischen Ton zu dämpfen. »Aber Junge, sag mir doch mal eins«, grinste Graves. »Was denn?« »Macht Madonna nicht auch auf Sex, um mehr CD’s zu verkaufen?« »Hast ja recht.« »Gut. Komm also in die Redaktionssitzung um vier und unterstütz mich und die Rote Gefahr in unserem edlen Bemühen, mal ein paar Auslandsnachrichten ins Blatt zu hieven.«
3 Iwan Dmitrijewitsch Bykow zeigte dem korpulenten Schwarzen hinter dem Schalter mit dem Schild Non-U.S. Citizens seinen Pass. Der Beamte schlug ihn auf und blätterte ihn flüchtig durch. Dann griff er nach dem schweren Stahlsiegel und knallte das Visum hinein. Das Geräusch erinnerte Bykow an das Zuschlagen einer Zellentür. »Angenehmen Aufenthalt, Herr Müller«, wünschte der Beamte. Bykow nickte mit verbindlichem Lächeln. Er schritt weiter zur Gepäckausgabe und fand das Kofferkarussell, über dem rot auf schwarzem Hintergrund Lufthansa 61 blinkte. Er war leicht überrascht, dass seine Reisetasche noch nicht auf dem Oval kreiste. Vom goldenen Westen hatte er eigentlich mehr Effizienz erwartet. Aber dann freute es ihn auch wieder. Wo es ein bisschen schlampig zuging, war ihm irgendwie heimeliger. Die Reisetasche tauchte auf, und er trug sie über die grüne Zolllinie. Wie erwartet machte sich der Zöllner nicht die Mühe hineinzuschauen. Jetzt war Bykow bereits im Flughafengebäude und hatte damit die erste Hürde genommen. Sein nächster Gedanke galt seinem Äußeren. Er musste amerikanischer wirken und brauchte dafür etwas Typisches. Er ließ sich von einer Rolltreppe zu einer Galerie hinauftragen, wo Abflugpassagiere unter einem geschwungenen Betondach mit Glaswänden an allen Seiten auf ihren Aufruf warteten. Er warf einen kurzen Blick in die Runde und studierte dann eine ganze Weile, wie die Fluggäste gekleidet waren, bis er sicher war, Amerikaner von Ausländern unterscheiden zu können. Dann fand er eine Ladenzeile. Bücher und Zeitschriften. Pralinen. Und da, Andenken und Klamotten. Er suchte sich eine Jacke und eine Baseballmütze aus, braunrot und mit einem federgeschmückten Indianerkopf bestickt. Was der Indianer bedeuten sollte, wusste er nicht, aber in wenigen Minuten waren ihm mindestens ein Dutzend Leute begegnet, die rotbraune Sachen mit diesem Emblem trugen. Er ging mit der roten Jacke und der Kappe zur Kasse und reichte der Frau eine Hundertdollarnote. Die Kassiererin tippte den Betrag ein und hielt den Geldschein prüfend gegen das Licht.
Bykow spürte, wie sich sein Gedärm zusammenkrampfte, und dachte kurz an Flucht aus dem Laden. Seines Wissens war die Banknote echt. So genau konnte man das aber nie wissen. Er wich einen Schritt zurück. Doch die Frau beendete ihre Prüfung und legte den Geldschein in die Kasse. Auch wenn die Amerikaner im Ausland mit Hunderterscheinen reisten, zahlten sie daheim offenbar lieber mit Zehnern und Zwanzigern. Dem würde er sich anpassen müssen. Er ging auf die Herrentoilette und suchte sich eine leere Kabine. Als erstes nahm er das Springmesser aus der Reisetasche und steckte es in die Hose. Dann zog er den Mantel aus und stopfte ihn in die Reisetasche, riss die Preisanhänger von der rotbraunen Jacke und der Mütze und zog beides an. Bykow verließ den Flughafen durch die Tür mit dem Taxizeichen. Die Schlange war nur kurz, und die Luft war mild, mindestens drei oder vier Grad über null. Dem Taxifahrer streckte er einen Zettel hin, auf dem in gestochener Schrift die Adresse notiert war, die er von dem Hotelangestellten in St. Petersburg hatte. »Nr. 1475 R Street NW«, hieß es da. Auf das erste Problem, das sich ihm stellte, reagierte Bykow gelassen. Das Gebäude an der angegebenen Adresse hatte vier Wohnungen, je eine in den drei oberen Stockwerken, und eine kleinere im Souterrain. Auf keinem der Briefkästen stand ihr Name. Ob die Leute hier auch so ungemeldet wohnten wie in Russland? Egal. Dann würde er eben abwarten, bis er sie heimkommen sah. Das war ihm sowieso lieber. So konnte er seine Vorfreude langsam steigern. Er zog sich zurück auf die andere Straßenseite. »R« war ein kurzes Sträßchen von viktorianischen Bürgerhäusern mit Türmchen, schmiedeeisernen Geländern an den Vortreppen und großen Fenstererkern. Weiter unten unterbrach eine Querstraße die Fassadenfront mit ihren Erkern, Vortreppen und Eingangsportalen. Dort sah er eine Gruppe Männer, ihrem Äußeren nach Obdachlose. Sie wärmten sich an einem Feuer in einer blechernen Abfalltonne. Er ging auf sie zu. Wenn er sich in ihrer Nähe hielt, dachte er, könnte er unauffälliger warten, erst recht jetzt nach dem Dunkelwerden. Er sah auf die Uhr. Erst achtzehn Uhr.
Schon seltsam, dachte er, wieviel Geduld er aufbrachte. Normalerweise rastete er bereits aus, wenn eine Sache ein bisschen länger dauerte als geplant. Aber jetzt fühlte er sich irgendwie abgeklärt. So gelassen freute er sich auf nichts anderes sonst. Eben deswegen war er trotz der vielfältigen Aufgaben in St. Petersburg selbst hierher nach Washington geflogen, anstatt einen zu schicken, der die Sache für ihn erledigte. Da ging die Haustür von Nr. 1475 R Street schon wieder auf, und er spähte über die Straße. Diesmal trat eine Frau heraus, blaue Daunenjacke, Jeans und kniehohe braune Lederstiefel. Sie trug einen Hut und hatte rote Haare. Solange sie noch im Licht des Hauseingangs war, verglich er sie mit der Fotokopie des Passbildes, die er ebenfalls von dem Hotelangestellten hatte, als Zugabe zur Adresse. Keine Frage, das war Jennifer Morelli. Zeitsparender wäre es gewesen, dachte er, wenn sie nicht herausgekommen, sondern hineingegangen wäre. Jetzt musste er sie eben beschatten. Aber auch das hatte seinen Reiz. Er wartete, bis sie auf der anderen Seite der Querstraße war und in Richtung Dupont Circle ging, bevor er ihr nacheilte. Nach ein paar Häuserblocks wichen die Bürgerhäuser Ladenzeilen. Zugleich wurden die Passanten immer zahlreicher, für Bykow die Garantie, dass sie ihn nicht bemerken würde. Er hielt sich immer einen Häuserblock hinter ihr und achtete darauf, dass andere Fußgänger dazwischen waren. Sie schritt zielbewusst aus, aber auch nicht zu schnell, und sie hatte offenbar nicht den leisesten Verdacht, dass sie verfolgt wurde. Sie wandte sich nach rechts unter einem Straßenschild, das Bykow mit seinen beschränkten Kenntnissen des lateinischen Alphabets sehr gelegen kam, denn er brauchte keinen Namen zu buchstabieren, 19th Street NW hieß es da. Kinderleicht zu entziffern. Die Liefereingänge von einer Ladenzeile lagen an dieser Straße, und sie war mit Autos zugeparkt. Ein Schaufenster zog seinen Blick an, und unwillkürlich blieb er stehen, um genauer hinzusehen. Kopflose Schaufensterpuppen, alle sehr männlich, und alle in schwarzer Lederbekleidung mit Stahloder Silbernieten. Wegen des kurzen Aufenthalts hätte Bykow sie fast verloren. Doch er hatte sie aus dem Augenwinkel einen Häuserblock weiter in einen Laden verschwinden sehen. Die Schrift auf dem Ladenschild konnte er nicht entziffern, aber im Näherkommen erkannte er, es war ein Lebensmittelgeschäft.
Bykow kannte amerikanische Supermärkte aus dem Fernsehen und von Filmen, und der hier enttäuschte ihn, als er daran vorbeiging und durch das Schaufenster hineinblickte. Im Unterschied zu den Läden im Fernsehen, die alle weitläufig und hell gewesen waren und von frischem Obst und Gemüse derart überquollen, dass es in die Gänge zu fallen drohte, war der Laden hier klein und eng. Manche von den Sachen waren schon welk und ein bisschen angegammelt. Bestimmt wohnten hier in der Gegend Neger, dachte er. In der Zeit vor der Wende hatte das russische Fernsehen regelmäßig geschildert, wie dreckig es den Negern in Amerika ging, von allen Amerikanern am schlechtesten, und das war wohl eine der wenigen Wahrheiten in den Auslandsberichten gewesen. Er bezog Posten auf der anderen Straßenseite, gedeckt durch Leute, die auf einen Bus warteten, und sah ihr zu, wie sie ihre Einkäufe mit einer Kreditkarte beglich. Sie kam zurück, die 19th Street entlang. Doch gerade als er darauf gefasst war, sie nach links in die R Street abbiegen zu sehen, wandte sie sich nach Westen zum Dupont Circle. Auf der Connecticut Avenue machte sie einen Abstecher nach links in einen Laden mit einem Schaufenster voller Fotos und Bilderrahmen. Er erkannte das Werbelogo von Kodak. An den Fenstern der Touristenläden für Filme und Kamerabedarf in St. Petersburg klebte Ähnliches. Bykow lehnte sich an eine Straßenlaterne und behielt sie im Auge. Sie nahm einen Umschlag in Empfang, zahlte und kam wieder heraus. Doch sie enttäuschte ihn nochmals, indem sie nicht direkt zur R Street zurückging. Statt dessen betrat sie einen Häuserblock weiter einen Buchladen. Bykow musterte das Geschäft durch das Schaufenster. Es war weitläufig und wimmelte nur so von Kunden. Einer Eingebung folgend, ging er ebenfalls hinein. Mitten in der Buchhandlung war etwas, das ihm seltsam und exotisch vorkam – ein Café mit Bar. Sie blieb an einem der Marmortischchen stehen, deponierte ihre Einkaufstüten auf einem Stuhl, behielt die Fotos aber in der Hand und ging sich am Tresen einen Becher Kaffee holen. Er fluchte vor sich hin. Er hatte das Herumlungern und Beschatten allmählich satt. Außerdem war ihm klar, je länger er auf der Straße herumstand und hinter ihr her lief, desto eher fiel er auf. Mit Bedacht hielt er sich im Laden so fern wie möglich von ihr und
beobachtete sie durch ein Regal mit Reiseführern. Sie saß mit dem Rücken zu ihm und trank ihren Kaffee, riss den Umschlag auf und sah sich die Fotos an. Bykow schob sich unauffällig zur Bar. Er sah sich um und beschloss, sich auf einen der Hocker zu setzen, nachdem er gemerkt hatte, dass er Mütze und Jacke anbehalten konnte und trotzdem unter den anderen Gästen nicht auffiel. Er quetschte sich an der Bar zwischen zwei Männer, die über einem Bier ins Gespräch vertieft waren. Die beiden Amerikaner beachteten ihn nicht, und er stellte fest, dass auch sonst niemand zu ihm hersah. Vor den beiden lagen ein paar Banknoten und Münzen. Bykow zog das Wechselgeld vom Flughafen aus der Tasche und legte es auf den Tresen. Der Barmann, ein Neger, trat näher und fragte: »Was darf’s denn sein?« Bykow begriff, was der Mann von ihm wollte, auch wenn er die Worte nicht verstand. Er kramte in seinem spärlichen Wortschatz nach der richtigen Antwort. »Scotch«, stieß er dann hervor. »Welchen, und womit?« Da Bykow die Frage nicht ganz verstand, zuckte er die Schultern und hoffte, der Barmann würde aus seinem Schweigen schließen, es sei ihm egal, und ihm irgendwas einschenken. Zu seiner großen Erleichterung tat er genau das, goss einen einstöckigen Dewar’s in ein Whiskeyglas und stellte es vor Bykow hin. Daneben platzierte er einen Glasbecher mit Eiswürfeln. Er zählte sich vier Eindollarscheine von Bykows schmalem Notenbündel ab und tat sie in seine Kasse. Bykow schob dem Mann einen weiteren Dollar über den Tresen und lächelte ihm zu. Genauso wortlos lächelte der Barmann zurück und schob das Trinkgeld in die Schürzentasche. Beinahe hätte Bykow alles in einem Zug hinuntergestürzt. Doch gerade als er das Glas an den Mund setzte, fiel ihm ein, Amerikaner tranken ihren Whiskey immer nur schluckweise. Er nahm einen Eiswürfel und ließ ihn ins Glas fallen. Langsam ließ er sich den Scotch über die Zunge und durch die Gurgel rinnen, ein Gemisch von eiskalt und lauwarm. Er entspannte sich ein wenig und blickte in die Runde. Die Bar war voll, und es ging laut zu. Jeder Tisch war besetzt, und an der Bar saßen die Leute dicht gedrängt. Er zwang sich, den Blick langsam durch das Lokal schweifen zu lassen, anstatt ständig
Jennifer Morelli zu fixieren. Als er wieder zu ihr hinsah, stellte er fest, sie betrachtete noch immer die Fotos. Er unterdrückte den Impuls, zu ihr hinzulaufen und sie ihr aus der Hand zu reißen. Was aber, wenn sich jemand zu ihr setzte und sie ihm die Fotos zeigte? Er nahm wieder einen Schluck von dem Scotch und spürte, wie er ihm in den Kopf stieg. Doch er kannte seinen Stoffwechsel genau und wusste, das bisschen Alkohol konnte ihm nichts anhaben, es sei denn, es kam ein kräftiger Schuss Adrenalin hinzu. Er war ganz locker und zu allem bereit, so wie vor Jahren, wenn er vor dem Ringkampf ganz genau wusste, er konnte seinen Gegner nicht nur besiegen, sondern fertig machen und ihm die Rippen brechen. Bykow grinste in sein Whiskeyglas. Das war ja alles gar nicht so schwer. Er hatte mehr als genug Grips für die Sache. Er schob eine Zehndollarnote halb über den Tresen und bedeutete dem Barmann mit einem Blick nachzuschenken. Danach ließ er das Wechselgeld liegen und hatte die Hälfte hinuntergekippt, bevor er wieder daran dachte, dass er sich damit Zeit lassen musste. Sein Blick fiel auf einen anderen Tisch, an dem zwei Männer saßen. Gerade als er hinsah, streichelte der eine dem anderen die Hand. Bykow zog eine Grimasse. Schwuchteln, dachte er. Er hatte schon davon gehört, wie offen alle Perversionen in Amerika zur Schau getragen werden durften, und empfand eine kurze Aufwallung von Stolz, dass so etwas in Russland weiterhin strafbar war. Da stand Jennifer Morelli auf, und er konnte sehen, wie sich ihre Brüste durch den Pullover abzeichneten. Bykow schüttete sich den Rest Scotch in die Kehle und strebte rasch einem Ausgang zu. Er wollte unbedingt vor ihr draußen sein und schaffte es auch. Er hastete über die Straße und einen halben Häuserblock voraus. Als sie aus dem Café trat, war er bereits als unauffälliger Passant in die gleiche Richtung unterwegs, zu dem Haus mit ihrer Wohnung, bloß auf der anderen Straßenseite. Sie merkte nicht, wie er hinter ihr die Straße überquerte und ihr folgte. Bykow sah auf die Armbanduhr. Achtzehn Uhr dreißig. Jetzt wirkte sie wie in Eile, und das konnte bedeuten, sie erwartete einen Gast zum Abendessen. Er würde schnell und entschlossen handeln müssen. Er hielt Abstand und ließ sich zurückfallen, als sie das Haus betrat. Wenig später ging hinter den Fenstern im zweiten Stock Licht
an. Er sah nochmals auf die Uhr. Achtzehn Uhr vierzig. Drei Minuten wollte er ihr noch geben. Im Dunkeln sog er die unterschiedlichen Gerüche des Hauses ein. Rasch und entschlossen probierte er seinen Satz Dietriche durch, bis er einen für die Haustür gefunden hatte, und erklomm dann die Treppe. Im zweiten Stock fand er ihre Wohnungstür am Ende eines kleinen Treppenabsatzes. Er sah den schmalen Lichtstreifen unter der Tür und hörte Musik. Irgendwas Klassisches. Er klopfte auf die Manteltasche über der rechten Hüfte. Das Springmesser war griffbereit. Nun noch die Handschuhe. Er holte sie aus der Tasche und rollte das kühle Gummi langsam über die Finger bis zum Handgelenk und ballte und spreizte die Hände, bis sie saßen wie angegossen. Dann zog er wieder den Schlüsselbund heraus. Die Tür hatte zwar zwei verschiedene Schlösser, aber die waren recht simpel. Seelenruhig probierte er seine Dietriche aus, bis einer sich im unteren Schloss drehte. Er hakelte, bis der Riegel zurückschnappte. Das Geräusch war ihm fast zu laut. Doch aus der Wohnung kam kein Zeichen, dass das Schnappen die Musik übertönt hatte. Am oberen Schloss musste Bykow vier Dietriche ansetzen, bis endlich einer passte. Allmählich lief ihm der Schweiß herunter, so kalt es im Treppenhaus auch war. Der Schnapper von diesem zweiten Schloss klemmte, aber mit einem blechernen Geräusch schnappte auch dieses Schloss auf. Bykow drehte den Türknauf und drückte. Ein letztes Hemmnis, die von innen vorgehängte Sperrkette. Verächtlich warf er sich gegen die Wohnungstür und spürte, wie es die Schrauben aus dem Rahmen riss. Jetzt aber hatte sie was gemerkt, denn beim Aufschwingen der Tür konnte er sie rufen hören. »Ist da jemand?« Sein Englisch war zu dürftig, als dass er wissen konnte, ob sie damit einen Namen oder eine Frage meinte, doch aus dem Tonfall hörte er heraus, sie war immer noch ahnungslos. Rasch zog er die Wohnungstür hinter sich zu. Die nutzlose Kette klapperte gegen das Holz. »Was…?« Sie war aus der Küche gekommen und stand links von ihm in einem schmalen Flur. Sie riss wieder den Mund auf, diesmal zu einem Schrei. Er konnte sehen, wie sich ihre Nackensehnen spannten.
»Sie!«, keuchte sie. Doch bevor sie noch einen Ton von sich geben konnte, war er über ihr. Mit einer gezielten Bewegung seines rechten Arms hieb er ihr den Messergriff gegen den Kopf. Ihre Pupillen rollten nach oben, und sie sackte augenblicklich zusammen. Bykow arbeitete rasch. Die Wohnung bestand offenbar aus drei Räumen. Er klemmte sich ihren schlaffen Körper unter den rechten Arm und zerrte sie in ihr Schlaf- und Arbeitszimmer. Über dem Schreibtisch hing, was er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, ein altes Propagandaplakat der Partei. An der einen Wand stand ein Doppelbett mit einer weißen Tagesdecke und ein paar verstreuten Kissen. Er bettete sie darauf und schleuderte die Kissen beiseite. Er sah sich nach einer Kommode um, fand sie und riss ihre Strumpfhosen heraus. Mit den ersten beiden Paaren fesselte er sie mit Händen und Füßen an die vier Bettpfosten. Dann nahm er eine dritte Strumpfhose, riss sie auseinander und zog ihr eine Hälfte als Maske über den Kopf. Er wusste genau, er durfte ihr nicht in die Augen sehen dabei. Sonst klappte es nicht. Das andere Bein der Strumpfhose zerriss er zu einem Knebelband, das er ihr stramm durch die Mundwinkel zog. Er befühlte die Stelle an ihrem Hinterkopf, wo sie der Messergriff getroffen hatte. Sie hatte ein wenig geblutet, aber es kam nichts mehr. Sie war noch immer bewusstlos und atmete flach. Er begann seine Suche im Wohnzimmer, wo der Tisch schon teilweise zum Abendessen gedeckt war, und fand sofort, wonach er fahndete. Die Umschläge mit den Bildern und ein paar Filmrollen lagen neben Brotmesser und Suppenschöpfer auf dem Tisch. Er nahm sie aus dem Umschlag und sah sie sich an. Genau wie er befürchtet hatte. Sie hatte alles fotografiert. Er stopfte sie in die Manteltasche. Dann wandte er sich dem Aktenkoffer zu, den er im Flur gesehen hatte. Darin befand sich ein Notizbuch, nicht in Russland hergestellt, mit braunem Einband und Spiralheftung. Er blätterte kurz darin, konnte aber das Geschriebene nicht lesen. Er steckte auch das Büchlein ein, und jeden anderen Fetzen Papier, der so aussah, als könnte er Notizen enthalten. Dann griff er nach der schwarzen Tragetasche neben dem Aktenkoffer und zog den Reißverschluss auf. Ein Laptop, von Toshiba. Bykow hatte zwar keine Ahnung, wie man einen Computer
handhabt, aber er hatte schon etliche als Hehler verschoben und wusste, dass Daten auf losen Disketten und auf der Festplatte im Computer gespeichert werden. Er durchstöberte die Tragetasche und fand eine einzelne Diskette. Die stopfte er ebenfalls in die Manteltasche. Dann nahm er das Messer, schraubte alle zugänglichen Schrauben des Computers los und versuchte, das Gehäuse der Festplatte aufzustemmen. Es klaffte ein wenig, ging aber nicht auf. Er trieb die Messerklinge zwischen Festplatte und Plastikgehäuse und hebelte. Das Gehäuse brach auseinander, und er konnte die Festplatte herausreißen. Ein paar lose Drähte zog er gleich mit heraus. Das wanderte in die andere Manteltasche. Ein leises Wimmern aus dem Schlafzimmer teilte ihm mit, dass Jennifer Morelli aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war. Bykow ignorierte sie eine Zeit lang, um den Rest der Wohnung zu filzen. Er fand nichts, was nur annähernd so aussah, als enthalte es Informationen, die sie aus St. Petersburg mitgebracht haben konnte. Als er sich ihr wieder zuwandte, war sie schon im Begriff, gegen Fesseln und Knebel anzukämpfen. Sie wollte schreien, aber es wurde nur ein Quieken. Bykow nahm das Messer in die Rechte und schob die Klinge zwischen ihren Pulloverbund und den Gürtel ihrer schwarzen Jeans. Jennifer Morelli bäumte sich auf, als sie den kalten Stahl auf der Haut spürte. Mit einem Ruck zog er das Messer zu sich, und die scharfe Schneide durchtrennte Jeans und Gürtel. Zarter Flaum und das Dreieck boten sich seinem Blick. Sie wollte wieder schreien, doch als sie merkte, dass es wegen des Knebels nicht ging, wurde ein Wimmern daraus. Mit der freien Hand fasste er sich in die Hose. Allmählich wurde er steif. Bykow schob den kalten Messerrücken hoch bis unter das Mittelbändchen des Büstenhalters und ließ die weißen Schalen mit einem sachten Schnitt auseinanderfallen. Ihre Brüste waren kleiner als er sie mochte, doch die Brustwarzen waren mädchenhaft spitz, wie vor Angst geschrumpft. Das gefiel ihm schon besser. Langsam zog er ihr die Messerspitze über die linke Brust. Ein dünner Blutfaden quoll aus ihrer Haut. Wieder wollte sie schreien. Er tastete noch einmal nach seinem Penis. Jetzt war er stahlhart, und Bykow lächelte verzückt, als er ihn zu reiben begann.
4 »Warum bist du immer noch hier?«, fragte Graves. Burke sah auf die Weltzeituhr der Auslandsredaktion, die an einer grün gestrichenen Säule des Redaktionssaals hing, umflattert von schwarzen Plastikplanen. 21.30 Uhr. Da die Spätausgabe bereits gedruckt wurde, waren die Schreibtische zu drei Vierteln unbesetzt. Nur die Sportreporter und die Stallwache, die Baseballergebnisse und etwaige Eilmeldungen in die Morgenausgabe einzuklinken hatten, waren noch anwesend, zusammen mit den Putzfrauen und den paar Reportern, die das Heimfahren aus vielerlei Gründen so lange wie möglich hinauszögerten. Sie lungerten auf zurückgekippten Bürostühlen herum, den Telefonhörer am Ohr, und taten beschäftigt. Alle Spannung war aus dem Saal abgeflossen, wie aus dem Stadion, wenn das Spiel vorbei ist. »Ich kriege noch Besuch«, erklärte Burke. »Wie heißt sie denn?« Verblüfft blickte Burke hoch zu Graves, der ihm vom Schreibtisch gegenüber spöttisch zulächelte. »Woher weißt du, dass es eine Sie ist?«, fragte er misstrauisch. »Deine neue Krawatte«, sagte Graves. »Und weil du das Jackett heute auf den Bügel gehängt hast, anstatt über die Stuhllehne.« Burke lächelte schief. »Reporter meinen immer, Redakteure hätten keine Beobachtungsgabe«, stichelte Graves. »Haben wir doch.« Das klang nach Kollegenspott, und Burke durfte lässig kontern. »Und ihr denkt immer nur an das Eine.« Der Ausdruck auf Graves blassem Mondgesicht ließ darauf schließen, dass ihm die Unterstellung schmeichelte. Nach Burkes Erkenntnissen hatte er entweder überhaupt kein Geschlechtsleben oder er war extrem verklemmt. Graves war Junggeselle und brachte jeden Tag mindestens zwölf Stunden in der Redaktion zu, sechs, manchmal sogar sieben Tage die Woche. »Also wie heißt sie?«, fragte Graves direkt, mit einem Verschwörerblick hinter seiner Nickelbrille hervor. »Da muss ich dich leider enttäuschen, es geht um keine Liebesaffäre«, sagte Burke. »Sondern um eine freie Mitarbeiterin, um Jennifer Morelli. Ich bin ihr vor sechs Jahren in Moskau
begegnet. Sie war Ferienpraktikantin bei mir, in unserem damaligen Projekt mit dem Harriman-Institut.« »War sie gut?« »Aber sicher«, nickte Burke. »Sie hat Köpfchen. Sehr arbeitswillig. Regelrechte Arbeitswut. Wenn ich sie um eine kleine Recherche gebeten hatte, sagen wir zum russischen Rüstungshaushalt, für einen Absatz zum Hintergrund, blieb sie die ganze Nacht auf und lieferte mir eine Doktorarbeit.« »Den Typ kenn ich«, nickte Graves. »Na schön«, fuhr Burke fort, »bis vor etwa sechs Wochen habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie hat irgendeinen Studienkollegen von der Columbia-Universität geheiratet, der sich zum diplomatischen Dienst beworben hat. Sie ist mitgegangen und hat drei grauenhafte Jahre mit ihm in Taschkent verbracht. Dann, als er turnusmäßig nach Washington zurückbeordert wurde, haben sie sich getrennt.« In Wirklichkeit, dachte Burke, ohne es vor Graves zu erwähnen, hatte Jennifer Morellis Gatte sie abserviert und ihr alles genommen, was nach drei Jahren vergeblicher Bemühungen um eine sinnvolle Berufstätigkeit in Usbekistan von ihrem Selbstvertrauen noch übrig war. Bei der nächsten Begegnung, bei ihrer Bitte um Hilfe bei der Arbeitssuche, hatte sie Burke kaum in die Augen sehen können, aus lauter Angst vor neuerlicher Zurückweisung. »Und da hat sie dich angerufen?« »Ja, ich hab sie zum Lunch ausgeführt. Sie hat gesagt, sie will wieder als Journalistin arbeiten und freiberuflich über Russland berichten.« »Sehr realistisch«, knurrte Graves. »Gleich ganz oben einsteigen.« Graves hatte die Ochsentour absolviert, als Korrektor angefangen und jeden nur denkbaren Redaktionsposten ausgefüllt. Er beharrte darauf, wer Auslandskorrespondent für die Tribune werden wolle, müsse erst mal über Feuerwehreinsätze und Mord und Totschlag in einer Kleinstadt berichtet haben. Es gehörte zu den Dingen, die Burke an ihm mochte. »Normalerweise wäre ich ganz deiner Meinung gewesen«, rechtfertigte sich Burke. »Aber ich wollte nicht der Soundsovielste in ihrem Leben sein, der ihr sagte, es sei leider nichts zu machen. Es war einen Versuch wert. Immerhin kann sie fließend russisch. Also
hab ich ihr ein paar Tipps gegeben, wie dort gearbeitet wird, und sie mein Adressbüchlein für Moskau und St. Petersburg abschreiben lassen.« »Mit all deinen russischen Liebschaften?« Burke zuckte die Schultern. Das Macho-Getue ödete ihn allmählich an. »Jedenfalls ist sie heute aus St. Petersburg zurückgeflogen. Sie hat mich sogar angerufen und gesagt, sie hätte dort einen Knüller aufgetan. Können wir vielleicht brauchen.« »Um was geht’s denn?« »Das hab ich nicht rausgekriegt. Sie will mir die Fotos zeigen. Jedenfalls ist sie völlig aus dem Häuschen. Was immer es sein mag. Eins aber ist komisch. Sie ist zu spät dran. Dabei ist sie sonst immer überpünktlich.« »Wann hat sie denn hier sein wollen?« »Um neun.« »Vielleicht«, stichelte Graves, »versetzt sie dich und ist stattdessen zur Washington Post.« Burke lächelte. »Ich bin schon aus mancherlei Gründen versetzt worden, auch schon, weil ich Zeitungsmensch bin. Aber noch nie, weil ich beim falschen Blatt war.« »Jedenfalls hau ich jetzt ab«, verkündete Graves, stopfte ein paar Papiere in seine Aktentasche und zog den Mantel an. Burke wartete, bis Graves gegangen war und griff dann zum Telefon, um Jennifers Nummer zu wählen. Das Telefon ging nicht. Kein Ruf ton. Die Leitung war tot. Dann tutete es plötzlich besetzt. Er wählte erneut. Dasselbe noch mal. Eine halbe Stunde lang blätterte Burke müßig in Konkurrenzblättern aus anderen Städten. Um zehn rief er nochmals an. Wieder tote Leitung, und dann unvermittelt das Besetztzeichen. Er wurde wütend, wie sonst auch, wenn ihn jemand warten ließ. Allmählich aber verdrängte Sorge die Wut. Warum sollte sie ihn versetzen, wenn sie vorher extra aus Frankfurt bei ihm zu Hause angerufen hatte? Und warum ging ihr Telefon nicht? Er griff zu seinem Rolodex. Die Adresse hatte er. Die Blaulichter der Streifenwagen strichen über die roten Klinkerfassaden der Häuser in der R Street, ungefähr taktgleich mit dem Pochen hinter Burkes Schläfen.
Er hätte jetzt gerne geweint. Aber er wusste, er verfügte inzwischen über die Panzerung des erfahrenen Journalisten. Es ging nicht mehr. Über eigene Verwundungen weinte er nie. Er hatte stoisch reagiert, als seine Frau die Scheidung einreichte, und sich so großzügig wie möglich gezeigt. Erst ein paar Jahre später, als er einmal nachzählte, wie viele Frauen er nach der Scheidung verführt und sitzen gelassen hatte, war ihm aufgefallen, wieviel Wut über diese Trennung sich offenbar in ihm angestaut gehabt hatte. Jetzt hätte er gern geweint, weil er naiverweise glaubte, er könne damit ein wenig von seiner Wut und seinem Entsetzen loswerden. Der Mann von der Mordkommission neben ihm im Streifenwagen aber verhielt sich professionell ungerührt, und da durfte er nicht aus der Rolle fallen. Detective Robinson zückte Bleistift und Notizbuch. Ein schlanker, jüngerer Schwarzer mit Schnauzbart, italienischen Schuhen mit Troddeln und Trenchcoat, offenbar aus dem BurberryLaden in der Connecticut Avenue. Hätte als Fernsehreporter durchgehen können. »Nennen sie mir Namen«, forderte er. »Von Leuten, mit denen Sie in den letzten Stunden zusammen gewesen sind.« Burke zählte Personen auf. Wie betäubt sah er zu, wie Robinson aufschrieb. »Okay«, sagte der Detective. »Gehen wir jetzt das Ganze noch mal durch, zum Mitschreiben.« Burke hatte Robinson bereits alles berichtet, in aller Eile, auf dem Treppenabsatz vor Jennifer Morellis Wohnung. Trotz seiner Betäubtheit war ihm durchaus bewusst, dass der Detective alles, was er jetzt von sich gab, mit seiner Aussage von vorhin verglich und auf Widersprüche lauerte. »Sie sind wann hier angelangt?« »Etwa zwanzig Minuten nach zehn.« »Zu einer Verabredung mit Ms. Morelli?« »Nein. Ich hab es Ihnen doch schon gesagt. Sie sollte um neun zu mir in die Redaktion kommen. Sie ist aber nicht erschienen. Ich hab anzurufen versucht, aber mit dem Telefon stimmte was nicht. Also hab ich gedacht, ich fahr mal hin und seh nach.« »Und Ihr Verhältnis zu ihr war…« Burke stockte. Klar, Robinson musste zunächst jeden Mann in Jennifers Leben verdächtigen. Aber es brachte nichts, jede Art von
Beziehung zu leugnen. Er machte es nur schlimmer, wenn Robinson selber was fand. »Beruflich und ein klein wenig privat. Wir waren sozusagen Kollegen. Vor sechs Jahren in Moskau. Dann, vor einem Monat, hat sie mich aufgesucht und gebeten, ihr bei einer Reportagereise als freie Reporterin über Russland behilflich zu sein. Ich hab ihr ein paar Namen und Adressen gegeben. Anschließend haben wir zu Mittag gegessen…« »Verabredungen?« Burke schüttelte den Kopf. »Keine. Nur dieses eine Essen.« »Und mehr wollten Sie nicht von ihr?« Burkes Blick verfing sich an der neuen Krawatte, die er noch am Morgen umgebunden hatte. »Ich hab mir nicht mehr erwartet«, antwortete er. Er wusste schon, wie Robinsons nächste Frage lauten würde, und ebenso, dass es besser war, ihr zuvorzukommen. »Heute früh hat sie mich vom Frankfurter Flughafen aus angerufen und gesagt, sie hat einen echten Knüller, offenbar von einer der Quellen aus meiner Liste. Also wollten wir uns in der Tribune treffen und das Ganze bereden. Mehr weiß ich nicht.« »Suchen Sie auch sonst Leute privat auf, die ihre Termine nicht einhalten?« Burke verstand durchaus, warum Robinson diese Frage stellte. Das hätte er an seiner Stelle auch getan. Doch er nahm sie trotzdem übel. »Nein. Ich hab doch gesagt, sie war eine Kollegin. Ein ganz lieber Mensch. Sie hatte schwere Zeiten hinter sich, und ich hab mir Sorgen gemacht.« Burke hatte große Schwierigkeiten, die Erinnerungen an Jennifer, die Robinsons Fragen in ihm wachriefen, mit der blutüberströmten Leiche in Einklang zu bringen, die er oben gesehen hatte. Er verdrängte das Bild. »Sind Sie verheiratet?«, fragte Robinson. Burkes Lächeln erlosch, und er fühlte sich wieder wie auf einem heißen Grill, mit Sehnsucht nach etwas Kühlem. »Sehen Sie«, sagte er, »ich kapier schon, worauf Sie hinauswollen, aber sie pinkeln hier gegen den Wind. Sie können sich in der Tribune bestätigen lassen, dass ich bis zehn Uhr abends im Redaktionssaal war. Die forensischen Indizien kriegen Sie ja auch.
Und dann haben Sie…« Robinson wurde dienstlich. »Ich will Ihnen mal was sagen«, knurrte er. »Ich schreib Ihnen nicht vor, wie Sie Ihre Zeitung machen, und Sie mir nicht, wie ich meine Ermittlungen führe. Also, sind Sie verheiratet?« Burke seufzte genervt. »Nein«, antwortete er. »Je gewesen?« »Ja. Geschieden.« »Wie lange schon?« »Zwölf Jahre.« Robinson nickte. »Lange her.« Und dann: »Macht es Ihnen was aus, mir Name und Adresse Ihrer Ex zu nennen?« Burke seufzte. »Sie heißt Barbara. Inzwischen Barbara Burrell, und sie wohnt im kalifornischen Mill Valley. Sie hat dort eine Anwaltskanzlei und steht im Telefonbuch. Wenn Sie sie anrufen, wird sie Ihnen wahrscheinlich sagen, ich sei ihr Jugendirrtum gewesen und unserem Sohn alles andere als ein Mustervater, weil ich nach der Trennung in den Osten gezogen und als Auslandskorrespondent nach Moskau gegangen bin und in der kritischen Zeit nicht für ihn da war. Aber ich glaub nicht, dass sie Ihnen erzählen wird, ich sei mal mit dem Messer auf sie losgegangen.« Robinson machte sich Notizen und sah dann auf. »Und der Scheidungsgrund?« Burke seufzte wieder. »Unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten.« »Okay«, sagte Robinson und wartete offenbar, ob Burke noch etwas hinzufügen wollte. Aber die Rückschau auf seine gescheiterte Ehe zusammen mit dem Schmerz über das da oben in Jennifer Morellis Wohnung wurde ihm einfach zuviel. Er wollte das Thema wechseln und Robinson daran erinnern, dass er als braver Bürger, der ein Kapitalverbrechen entdeckt und gemeldet hatte, wohl kaum als Verdächtiger in Frage komme. »Kommen wir doch bitte auf den Fall zurück, ja? Wenn ich meine Ehegeschichten erörtern will, such ich mir einen Seelenklempner.« Robinson schob das Kinn vor und nickte. »Sie sind beim Reingehen keinem begegnet?« »Keinem.«
»Wie sind Sie in die Wohnung gelangt?« »Ich hab unten geklingelt. Da hat aber keiner reagiert. Gleich darauf ist dann ein Mieter rausgekommen, und da bin ich zum Hauseingang rein und die Treppe hoch. Die Wohnungstür stand offen. Das gefiel mir gar nicht. Da bin ich rein.« »Und was haben Sie drinnen gesehen?« »Nichts. Nicht im Wohnzimmer. Ich hab nach ihr gerufen. Ich hab in die Küche geguckt. Dann bin ich ins Schlafzimmer…« Burke stockte. Auch Robinson hatte gesehen, was da auf dem Bett im Schlafzimmer lag. »Und was haben Sie dann gemacht?« »Das nächste Telefon gesucht und den Notruf gewählt.« »Haben Sie sonst etwas angefasst?« »Nein.« Burkes weitere Antworten fielen meist verneinend aus. Er konnte Robinson keine Namen von Jennifer Morellis Freunden oder Familie nennen. Ihr Exgatte arbeitete im Auswärtigen Amt, wusste er noch, aber den Nachnamen kannte er nicht. Robinson steckte das Notizbuch zurück in die innere Jackentasche. »Und was halten Sie davon, Mr. Burke?«, fragte er dann. »Was für ein Mensch kann so etwas getan haben?« »Ein perverser«, brachte Burke bloß heraus. Robinson nickte. »Die Psychologen vom FBI haben eine Bezeichnung dafür. Sie nennen es Piqueurismus. Dem Kerl kommt’s nur, wenn er eine Frau zerstückelt. Meistens, weil ihn sein Schwanz beim Normalverkehr im Stich lässt. Also greift er sich eine Frau, fesselt sie wie die da oben, und macht dann das Messer zu seinem Phallus. Er fängt mit flachen Schnitten an. Und je erregter er wird, desto tiefer schneidet er.« Burke merkte, dass Robinson ihn noch immer scharf beobachtete. Er schüttelte angewidert den Kopf. Hoffentlich die richtige Reaktion. »Da werden wir sowieso die Bundespolizei um Amtshilfe bitten müssen«, fuhr Robinson fort. »Die verfügen über einen Computer, in dem solche Triebtäter gespeichert sind. Vor etwa acht Monaten hatten sie einen ähnlichen Fall, drüben in Alexandria, glaube ich. Ungelöst.« Burke schüttelte wieder den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen der Computer hier was nützt.«
Robinson blickte skeptisch. »Sie meinen, es könnte mit dem angeblichen Knüller zu tun haben?« Burke nickte. »Ja. Sie hat gesagt, sie hat Fotos, auf denen ich sehen könnte, warum es so ein Riesenknüller ist. Ich hab mich da oben ein bisschen umgesehen – ohne was anzufassen. Da war aber nichts. Vielleicht ist es irgendwo in der Wohnung, in einem Aktenkoffer oder so. Sie müssen danach suchen. Wenn Sie’s nicht finden…« »Fahnden wir immer noch nach einem Triebtäter, der es Frauen gern mit dem Messer besorgt«, schnitt ihm Robinson das Wort ab. »Ja«, nickte Burke verzagt. »Das müssen Sie wohl.«
5 Desdemona McCoy stand vor der Besucherschranke und sah dem Begleitoffizier zu, wie er nach ihr suchte. Eben noch war der Litzenträger an ihr vorbeigelaufen und hatte sie dabei wie Luft behandelt. Er hatte zehn Meter weiter in der weiten Marmorhalle eine andere Frau, eine Weiße, als Ms. McCoy angesprochen. Als die ihn kopfschüttelnd abwies, hatte er sich direkt vor der Sicherheitsschleuse aufgebaut, die Hände vor dem Hosenschlitz gekreuzt, und das Eingangsportal fixiert, ohne die leiseste Ahnung, was für ein Rassist er doch im Geheimen war. Sie sah auf die Uhr. Am liebsten hätte sie den Blödmann den ganzen Nachmittag rumstehen lassen, aber die Besprechung sollte schon in zwei Minuten beginnen. Sie trat zu dem Wachsoldaten mit dem weißen Kreuzkoppel der Militärpolizei. »Verzeihung«, sagte sie so laut, dass der Begleitoffizier es hören musste. »Mein Name ist Desdemona McCoy, und ich habe um zwei eine Besprechung in EUR-RO, Zimmer 3422. Die wollten einen schicken, der mich ab hier eskortiert, aber er ist noch nicht aufgetaucht. Würden Sie bitte mal oben anrufen und nachfragen?« Sie bekam genau die Reaktion, die sie erwartet hatte. Der Begleitoffizier wurde puterrot und räusperte sich. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ms. McCoy? Mein Name ist Paul Howard. Ich bin, äh, Ihr Begleitoffizier. Habe ich mit Ihnen am Telefon gesprochen? Tut mir Leid, aber ich hatte keine Ahnung, dass Sie, äh, äh…« Er suchte krampfhaft nach einem Wort, mit dem er sich nicht verriet, »… so hübsch sind«, stotterte er und lächelte verkrampft. Desdemona unterdrückte das Bedürfnis, dem Kerl die Meinung zu geigen. Manchmal fragte sie sich, ob es sich lohnte, diesen Ärger ständig zu schlucken, bloß der Karriere wegen. Doch das Gegenteil lohnte sich erst recht nicht. »Ist schon in Ordnung, Mr. Howard«, versetzte sie kühl. »Ich weiß, dass ich für manche Leute am Telefon nicht so…« sie legte eine tückische Kunstpause ein, »… hübsch klinge.« Howard blickte echt verlegen. »Es tut mir Leid«, stammelte er. »Sie sind nicht der erste«, sagte sie brüsk. »Gehen wir rauf.«
Sie trug sich in zwei verschiedene Listen ein, ließ ihre Handtasche durchsuchen und bekam einen Besucherausweis ans Revers geheftet. Das umständliche Standardverfahren für Außendienstler, die zu einer Einsatzbesprechung ins Pentagon gerufen wurden. Blieb sie länger als bloß ein paar Stunden, hätte sie wieder die eigene Kennkarte bekommen und sich das ganze Brimborium sparen können. Howard versuchte, Konversation zu machen, während sie auf den Fahrstuhl warteten. Sie ließ ihn auflaufen. »Wie ist das Wetter in Russland?« »Kalt.« Sie betraten den Aufzug. »Und wie war Ihr Flug?« »Lang.« Kann er doch sehen, dachte sie. Ihr graues Flanellkostüm, das sie nur im Pentagon trug, war zerknittert, und sie hatte rote Ränder um die Augen. Howard hielt endlich den Schnabel, lieferte sie an der Tür zu Raum 3422 ab und zog sich erleichtert zurück. Zu ihrer gelinden Überraschung saß Nils Ostendijk, der Nachrichtenoffizier für russische Angelegenheiten, am Kopfende des langen Konferenztisches. »Hallo Des«, begrüßte er sie wie eine gute Freundin. Wenigstens hatte er sich die Mühe gemacht, ihr Namenskürzel in der Personalakte nachzuschlagen. Nach allem, was sie wusste, hatte Nils Ostendijk mit perfekten Fehleinschätzungen der Sowjetunion und später Russlands steile Karriere gemacht. Aufgestiegen war er in den siebziger Jahren als Stabsassistent von Team B, einer konservativen Expertengruppe, von Präsident Ford in die CIA geholt, als Sparringpartner für die Sowjetologen des Diensts. Dafür hatte er notfalls leicht umfrisierte Daten zur Untermauerung der Prognose des Dienstes geliefert, die untrennbar mit der Rüstungsindustrie verkoppelte Hochleistungswirtschaft der Sowjets werde bis Mitte der neunziger Jahre eine atemberaubende Kriegsmaschinerie auf die Beine stellen. Das Vitamin B von damals hatte ihm in der Reagan-Ära zu einer Stabsstelle im Nationalen Sicherheitsrat verholfen. Anfang der Achtziger hatte er sich darauf spezialisiert, Reagan in dessen Vorurteil zu bestärken, die Sowjetunion sei zu keinerlei Wandel
fähig. Danach half er Reagan überreden, sich Gorbatschow 1986 und 1987 vom Leibe zu halten, also zu einer Zeit, als man diesen womöglich gerade noch hätte stützen können. Unter Busch zum Geheimdienst zurückversetzt, hatte er alle Anzeichen, die auf den später gescheiterten Putsch vom August 1991 hindeuteten, krass fehlgedeutet. Stets aber hatte er Positionen vertreten, die in Washington als nüchtern und unbeugsam galten, und sich ein paar rechtsgerichtete Zeitungskolumnisten und Senatoren warm gehalten. Er gab sich gern als Weiser; hochgewachsen, schlank, mit wohl gestutztem Bart, in welchem er gerade so viel Grau ungefärbt ließ, wie nötig war, um abgeklärten Ernst auszustrahlen. Diese dürftigen Aktiva hatten für seine Karriere mehr als ausgereicht. Was immer auch das Thema der Besprechung sein mochte, dachte sie, es war bestimmt wichtig. Sonst hätte Ostendijk sich nicht herbemüht. Von den Herren an seiner Seite kannte sie bloß einen: Charles Palmer, den stellvertretenden Leiter der Stabsabteilung Auslandsoperationen. Neben ihm saßen zwei jüngere Anzugträger, die aussahen, als kämen sie stracks vom Marinekorps, aus einer Unternehmensberatung oder woher auch immer die CIA die einfallslosen, auf Linie getrimmten Leisetreter rekrutierte, die sie schon seit jeher nervten. Alle trugen sie offenbar die gleichen ausgebeulten blauen Anzüge und Streifenkrawatten. In der Subkultur des Diensts galten schon Hosenträger als Anzeichen eines kompromisslosen Selbstverwirklichungsdrangs. Ostendijk stellte sie vor: Peter Strauss und Richard Ostrovsky. Ihre Dienststelle nannte er nicht, also ging sie davon aus, es waren Typen vom Stab, die vom bequemen Sessel aus Auslandsoperationen planten. Beim Händeschütteln hatte sie das bekannte Gefühl, taxiert zu werden. Sie fragte sich, ob diese ewige Anmache je enden würde. »Willkommen zu Hause«, sagte Ostendijk und lächelte eine Spur zu gastfreundlich. »Und vielen Dank, dass sie gleich vom Flughafen hergefahren sind.« Sie nickte, ganz mit dem Gedanken beschäftigt, was er wohl im Schilde führte. »Sicher sind Sie neugierig, warum wir Sie so kurzfristig zurückgerufen haben, und dazu komme ich gleich«, fuhr Ostendijk fort. »Aber lassen sie mich zunächst ausdrücken, welche
außerordentliche Wertschätzung ich der Qualität Ihrer Berichterstattung entgegenbringe. Erstklassig.« »Danke«, erwiderte McCoy vorsichtig. Sie wusste selbst, wie gut ihre Arbeit war. Sie spürte, seine Streicheleinheiten sollten sie auf eine Kröte vorbereiten, die sie gleich zu schlucken bekam. »Selbstverständlich bin ich neugierig.« Ostendijk zog ein paar Blätter aus einem roten Aktenordner auf dem Tisch und setzte die Halbbrille auf. »Wir sitzen heute zusammen, um über eine große Gefahr für die russische Regierung zu sprechen, über einen ausgewachsenen Korruptionsskandal.« »Den haben die doch jede Woche«, bemerkte Desdemona. »Nicht in der Größenordnung, mit der wir jetzt leider zu tun haben«, widersprach Ostendijk. Desdemona fühlte sich noch unbehaglicher als beim Betreten des Gebäudes. Offensichtlich betraf das Problem, das hier besprochen werden sollte, ihren eigenen Bereich. Sie sagte kein Wort mehr und wartete, bis Ostendijk die Katze aus dem Sack ließ. Nach quälenden fünf Sekunden war es soweit. »Des, Sie wissen sicher, dass Fjodor Wassiljew tot ist.« »Das ist passiert, kurz bevor ich Ihren Rückruf erhielt«, nickte Desdemona. Ostendijk sah sie über die Halbgläser hinweg an. »Hat Sie das überrascht?« Was jetzt wohl die richtige Antwort war? Sie hatte Fjodor Wassiljew gekannt. Ein Künstler und das Oberhaupt einer Familie, die seit vier Generationen die Kunstsammlungen der Eremitage pflegte. »Sollte es das?«, fragte sie Ostendijk zurück. Er schnitt ein Gesicht und sie wusste sofort, sie hatte irgendwie das Falsche gesagt. »Möglicherweise«, erwiderte er. »Wir haben den Bericht einer sehr gut unterrichteten Moskauer Quelle. Die Quelle lässt verlauten, es sei ein äußerst lukratives Geschäft über die Veräußerung von Kunstwerken der Eremitage abgeschlossen worden. Mit einem Privatsammler aus dem Ausland.« »Und Sie glauben, Wassiljew wurde umgebracht, weil er was dagegen hatte?« Ostendijk nickte.
»Also wie steht’s damit, könnten die Kerle Sachen aus der Eremitage verkaufen wollen?«, fragte er. »Wäre nicht das erste Mal«, sagte Desdemona. »In den dreißiger Jahren konnte Andrew Mellon die National Art Gallery mit mehreren Dutzend Renaissancegemälden gründen, die er der Eremitage mit Stalins Billigung abgekauft hatte. Er hat sechs Millionen Dollar dafür bezahlt.« Ostendijks Miene hellte sich auf. »Das wusste ich nicht«, räumte er ein. Eins zu Null für mich, dachte Desdemona. »Aber ich nehme an, Stalin hat das Geld für den Staatshaushalt vereinnahmt. Das ist hier leider nicht der Fall. Etliche Leute aus hohen Regierungskreisen halten bei diesem Geschäft die Hand auf. Ihre Provisionen aus dem Handel, heißt es, betragen jeweils weit über fünf Millionen Dollar.« Desdemona musste blinzeln. »Was verkaufen sie denn?« Ostendijk ballte eine Hand zur Faust. »In erster Linie die Restglaubwürdigkeit einer Regierung. Die Sache könnte sich zu einem Skandal erster Güte auswachsen, der der Öffentlichkeit, der Duma und der Armee den letzten Rest gibt. Aber wir wissen nicht genau, was es ist. Was, glauben Sie, könnte es sein?« Desdemona dachte kurz nach. Jetzt endlich erfasste sie die gesamte Tragweite und erkannte, warum sie hier war. »Die Kerle wollen hintenrum verkaufen?«, fragte sie nach, um sich zu vergewissern, dass sie alle Fakten kannte, bevor sie eine Vermutung riskierte, die gegen sie ausgespielt werden konnte, sofern sie sich als falsch erwies. Ostendijk nickte. »Und allein fürs Stillhalten kriegen Leute in Moskau jeweils fünf Millionen Dollar pro Nase?« Ostendijk nickte wieder. Desdemona stieß einen kurzen Pfiff aus. »Dann ist das, was sie verkaufen, mindestens zweihundert Millionen Dollar wert, wenn nicht gar das Doppelte.« »Das haben wir uns auch ausgerechnet«, sagte Ostendijk. Die Männer um den Tisch warteten auf Desdemonas Urteil. »Schön«, setzte sie an, zur Aufrichtigkeit entschlossen. »Ich kann aus dem Stand nicht sagen, was es sein könnte. Die Sammlungen der Eremitage sind gigantisch, weitaus mehr Objekte, als sie jemals
ausstellen könnten. Im Fundus werden Bilder verwahrt von Malern wie Bilotto, die fünf, zehn, vielleicht fünfzehn Millionen Dollar brächten, wenn sie die verkaufen würden – nicht ganz so viel wie manche Gemälde aus der ständigen Ausstellung, aber doch ganz hübsches Klimpergeld. Die könnten bis zu hundert Millionen Dollar bringen, wenn man ein Dutzend oder so bündeln würde. Aber alle Gemälde in den Lagern sind katalogisiert, die Kataloge sind öffentlich zugänglich, und Kunstwissenschaftler kommen und sehen sich die bedeutendsten regelmäßig an. Wenn sie so viele von denen verkaufen würden, dass sie auf die angesprochene Summe kommen, würde sie ganz gewiss jemand verpfeifen.« »So ungefähr sehen wir das auch«, bestätigte Ostendijk. »Und noch unmöglicher wäre es«, fuhr Desdemona fort, »Bilder aus der ständigen Ausstellung hintenrum zu verkaufen. Sie besitzen zum Beispiel ein paar Dutzend Rembrandts, die zusammen fast eine Milliarde Dollar wert sein dürften. Aber wenn sie bloß einen von denen veräußern, wird er augenblicklich vermisst.« »Also, was bleibt uns da?« Das war Palmer, der Desdemona erstmals direkt ansprach. »Lieber Charles, das ist offenbar die Unbekannte in der Gleichung«, ging Ostendijk dazwischen. Sein Dazwischengehen verblüffte Desdemona. Nils Ostendijk kannte sie kaum und schuldete ihr nichts. Warum hatte sie das Gefühl, dass er Partei für sie ergriff? Hier wurde ein Spielchen getrieben, bei dem sie als einzige Beteiligte weder den Einsatz noch die Regeln kannte. »Ließe es sich nicht arrangieren«, fragte sie, »den russischen Präsidenten über diesen Handel zu unterrichten? Warum kann er das nicht schlicht unterbinden?« Ostendijk schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Aus zwei Gründen. Erstens wollen wir nichts riskieren, was unsere Quelle auffliegen lassen könnte. Die Liste der möglichen Gewährsleute ist reichlich kurz. Zweitens wissen wir nicht, ob der Präsident nicht mit denen unter einer Decke steckt.« Desdemona nickte. Darauf hätte sie selber kommen können. »Unsere erste Priorität«, dozierte Palmer, »muss sein zu verhindern, dass die Sache sich zum Skandal auswächst. Vielleicht können wir den Handel nicht unterbinden. Bleibt er aber unter der Decke, ist das gar nicht nötig. Wir müssen nur sicherstellen, dass
nichts publik wird. Wir können auf keinen Fall eine Agenturmeldung riskieren. Es könnte durchaus Reporter geben, die in Wassiljews Ableben herumstochern. Die müssen unbedingt abgelenkt werden.« »In Ordnung. Was wissen wir über den Käufer?«, fragte Desdemona. »Einen Namen haben wir nicht«, antwortete Palmer. »Wir wissen nur, dass die Russen, die mit dem Handel befasst sind, darauf bauen, dass er Geld genug dafür hat und ganz bestimmt dichthalten wird.« »Auf wie viele Leute passt diese Beschreibung?« »Nicht auf viele«, erwiderte Palmer. »Auf ein paar japanische Versicherungskonzerne. Auf ein paar Milliardäre in Italien. Ein paar Typen in Kolumbien. Vielleicht auf einige Leute hier bei uns. Wir werden alle überwachen, die wir ausmachen können.« Desdemona spürte eine gewisse Erregung. Nach achtzehn Monaten mühevoller Pflege von Intelligenzija und Künstlern in Moskau und St. Petersburg fiel ihr jetzt so eine Erfolgsgelegenheit in den Schoß. »Die Kunstgalerie McCoy-Fokine steht zu Ihren Diensten«, erklärte sie mit bescheidenem Lächeln. Sie war stolz auf ihre Kunstgalerie. Ihr Auftrag in Russland lautete zu erkunden, wie Künstler und Intellektuelle dachten und was sie anzetteln mochten. Zur Tarnung hatte sie das Geschäft gegründet und dabei ihr fließendes Russisch und ihr Vordiplom in Kunstgeschichte eingebracht. Nach außen war es ein Joint Venture mit einem Partner in New York, dem namensgebenden und erfundenen Fokine, und sollte begabte russische Künstler entdecken und ihre Arbeiten im Westen verkaufen. Mit Filialen sowohl in St. Petersburg als auch in Moskau hatte sie einen Vorwand, im ganzen Land herumzureisen und Kontakte zu knüpfen. Zu ihrem großen Stolz hatte das Geschäft in den letzten sechs Monaten sogar einen kleinen Gewinn abgeworfen. »Das mag uns durchaus behilflich sein«, meinte Palmer. »Aber ich glaube, wir brauchen mehr. Nicht, dass Sie nicht ungeheuer fähig wären, Des.« Wut stieg in ihr auf. Jetzt verstand sie, was wirklich auf der Tagesordnung stand. »Aber?«, fuhr sie dazwischen. Palmer wurde rot. »Aber, äh, wir glauben, diese Operation müsste
jemand mit ein wenig mehr Erfahrung leiten.« So also lief der Hase. Der Männerklub wollte sich breit machen. Jetzt, da der Einsatz danach aussah, als könne jemand damit die Leiter hinauffallen, wollten sie ihr die Sache wegnehmen. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und mahnte sich, ihre Wut vorerst in Zaum zu halten und für den Moment aufzusparen, wo sie was nützen konnte. »Meine Herren, ich bin da ganz anderer Meinung«, erklärte sie so gelassen wie möglich. »Ja?«, fragte Ostendijk. Sie sah von Palmer zu ihm und versuchte, in seiner Miene zu lesen. Ostendijk blickte harmlos, sogar ermunternd drein. »Erstens bin ich die Einzige hier mit Kontakten. Hätten wir genau diesen Fall vorhergesehen und dafür vorausgeplant, hätten wir keine bessere Legende aufbauen können als die, über die ich jetzt verfüge. Zweitens bin ich in St. Petersburg bekannt wie ein bunter Hund. Da laufen nicht viele schwarze Kunsthändlerinnen herum. Als ich anfing, war ich eine Kuriosität, aber jetzt kennt mich jeder. Wenn wir einen Neuen reinschicken, macht er nur auf sich aufmerksam, und so ein Aufsehen könnte die Enthüllung, die wir vermeiden wollen, geradezu herbeiführen.« Sie hielt einen Augenblick inne und fragte sich, ob sie weit genug gegangen war. Dann entschied sie, dass dem nicht so war. Ihre Mutter hatte immer gesagt, ihr loses Mundwerk werde ihr nur Ärger einbringen, und vielleicht war das genau auf den heutigen Tag gemünzt. Aber sie konnte die Unverschämtheit unmöglich unter den Tisch fallen lassen. »Und schließlich«, sagte sie und sah Palmer dabei direkt ins Gesicht, »darf ich Ihnen sagen, wie enttäuscht ich bin, dass Sie mir, kaum dass etwas von Bedeutung ansteht, sofort jemand vor die Nase setzen wollen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie das auch dann tun würden, wenn ich von anderer Hautfarbe wäre, und keine Frau.« Palmer bekam eine knallrote Birne und den Männern um den Tisch verschlug es den Atem. Sie merkte, sie hatte ein Tabu gebrochen, indem sie ihre Rasse und ihr Geschlecht offen ansprach. Hätte sie in die Aktentasche gegriffen und eine tote Ratte auf den Tisch geknallt, hätte das die Herrschaften auch nicht peinlicher berühren können. Der Gedanke verschaffte ihr flüchtige Genugtuung.
»Verdammt nochmal, Des, das war unter der Gürtellinie«, polterte Palmer los. »Hier geht es doch überhaupt nicht um Rasse oder Geschlecht. Ich verbitte mir solche Unterstellungen. Hier geht es nur um Erfahrung.« »Wenn es um Erfahrung geht«, fauchte Desdemona zurück, »dann suchen Sie erstmal jemand, der mehr Erfahrung in St. Petersburg oder mehr Kunstverständnis aufzuweisen hat als ich. Und hier im Dienst bin ich schon acht Jahre.« Da fiel ihr auf, dass Ostendijk gar nicht so peinlich berührt dreinsah wie Palmer. In der Tat ließ seine Miene, wenn sie sie richtig las, sogar auf so etwas wie Befriedigung schließen. Aber warum? »Niemand hier will Ihnen die Erfahrung absprechen, Ms. McCoy«, wand sich Palmer, der plötzlich ihren Vornamen vergessen hatte. Er wollte gerade weiterreden, da fiel sie ihm schon wieder ins Wort. »Dann lassen sie mich gefälligst die Arbeit machen, für die ich ausgebildet worden bin.« Nils Ostendijk legte die Fingerspitzen zu einem Dach aneinander. Das sollte wohl väterlich ausgleichend wirken. »Charles, ich muss Dir sagen, dass ich Des in diesem Punkt zustimme. Sicher haben Rasse und Geschlecht nichts mit dem Bestreben zu tun, jemand Erfahreneres hinzuschicken, der eine so kritische Lage im Griff behält. Aber meiner Ansicht nach hat sie gute Argumente. Sie hat sich für diese Art Operation hervorragend in Stellung gebracht. Und neue Leute einzuweisen, birgt immer ein gewisses Risiko.« Desdemona fiel fast die Kinnlade herunter, so verblüfft war sie. Soweit ihr bekannt war, hatte sich Nils Ostendijk noch nie herabgelassen, für einen schwarzen Kollegen in die Bresche zu springen, geschweige denn für eine Frau. Seine Protegés in der CIA waren alle nach seinem Muster geklont – weiße Herrenmenschen, unversöhnlich gegenüber den Russen. Warum legte er sich jetzt ausgerechnet für sie so ins Zeug? Kaum hatte sie sich die Frage gestellt, kam sie auch schon auf die Antwort. Es war so empörend, dass sie es fast hinausgeschrien hätte. Doch konnte sie sich gerade noch bremsen. Er wollte ihr Scheitern. Er wollte die russische Regierung den Handel abwickeln lassen, und hatte ganz bestimmt kein Interesse daran, dass der Dienst die
Sache vertuschen half. Die russische Demokratie zu stabilisieren, gehörte nicht zu seinen Zielen. Im Gegenteil, der Aufstieg eines gewalttätigeren, bedrohlicheren Russland würde alles bestätigen, was er die letzten zehn Jahre gepredigt hatte. Das würde dem Kalten Krieg neues Leben einhauchen und gewährleisten, dass die CIA für die absehbare Zukunft in Geld nur so schwamm. Er hatte sie zu dieser Besprechung einbestellt und schon im Voraus einkalkuliert, dass sie ihr Arbeitsgebiet mit Klauen und Zähnen verteidigen würde. Und gewiss hatte er sich ebenso ausgerechnet, dass sie ihre Rasse und ihr Geschlecht gegen Palmer ins Feld führen würde, und dieser dem nichts entgegensetzen konnte, eben weil der Dienst bekanntermaßen so krass nach Rasse und Geschlecht diskriminierte wie die übrige amerikanische Staatsbürokratie auch. Tatsächlich zuckte Palmer auf der anderen Seite des Tisches vielsagend mit den Schultern. »In Ordnung, Nils. Es ist schließlich dein Bier«, gab er klein bei. Ostendijk gestattete sich ein schmallippiges Lächeln. »Also gut«, sprach er milde. »Weiter im Text.« Desdemona saß kerzengerade. Scheißkerl, dachte sie. Sie würde die Operation durchziehen, sagte sie sich, und obendrein mit Erfolg, und wenn auch nur, um Nils Ostendijk in die Suppe zu spucken. Und sich dann eine ehrliche Arbeit suchen.
6 Wie in Trance tappte Burke am nächsten Morgen im vierten Stock des Tribune-Gebäudes aus dem Fahrstuhl und wollte nach links in den Redaktionssaal. Er merkte, er hatte einen Tunnelblick und sah nur noch, was unmittelbar vor ihm war. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Bevor er das Großraumbüro betreten konnte, hielt ihn der Wachmann an. »Mr. Burke, da will Sie jemand sprechen«, sagte er. Er wies auf einen kleinwüchsigen, dicklichen Rotschopf im Trenchcoat, der in dem schmalen Empfangsbereich für Redaktionsbesucher wartete. Der Mann schoss sofort von seinem Stuhl hoch und wischte sich hastig die Hand am Mantel ab, bevor er sie Burke hinstreckte. »Jimmy Duxbury«, stellte er sich vor. »Schön, Sie kennen zu lernen.« Burke gab ein Brummen von sich. Leute, die sich in eine Redaktion bemühten, brachten seiner Erfahrung nach selten Verwertbares mit. Meist wollten sie einen nur anlabern, und er ertrug das gerade an diesem Morgen einfach nicht. Duxbury fasste Burke mit der Linken um die Schulter und grinste, als seien sie schon jahrelang miteinander bekannt und hätten sich Geschichten von früher zu erzählen. Er hatte rot geäderte Augen und ein käsiges Gesicht. Altersmäßig war er irgendwo zwischen dreißig und fünfzig. Ende dreißig wahrscheinlich, aber dem Aussehen nach eher fünfzig. Er roch meterweit nach Mundwasser. Burke kannte die Symptome zur Genüge. Er schüttelte die Hand ab und ging quer durch den Redaktionssaal zu seinem Schreibtisch. Duxbury trabte hinterher. Burke fragte sich kurz, ob er vielleicht Versicherungsvertreter sei. Er setzte sich und bemühte sich um Höflichkeit. »Was kann ich für sie tun, Mr. Duxterman?« »Duxbury.« Der Mann reichte ihm seine Visitenkarte. Burke legte sie auf den Schreibtisch. »Sie sind doch der Mann, der in Moskau gearbeitet hat, richtig?«, vergewisserte sich Duxbury.
Burke zwinkerte. An die Arbeit in Moskau wollte er gerade heute nicht erinnert werden. Er verdrängte jeden Gedanken daran. »Ja«, antwortete er. Duxbury langte in seinen Aktenkoffer und holte einen Stapel Unterlagen heraus. Das Deckblatt stammte von einem alten Nadeldrucker, wie ihn die meisten Leute schon längst ausrangiert hatten. Ganz oben stand: EILMELDUNG, KEINE SPERRFRIST. Und die Überschrift lautete: AMERIKANISCHER GESCHAEFTSMANN ENTHUELLT RUSSISCHES BETRUGSMANOEVER Danach folgten mehrere engbedruckte Seiten. Es wirkte, als habe das jemand verfasst, der zwar schon mal gesehen hatte, wie eine Agentur für Public Relations arbeitete, sich aber selbst keine leisten konnte. »Sie sind von den Russen abgezockt worden«, konstatierte Burke. Duxbury nickte heftig. »Genau. Sie…« »Na, dann sollten Sie mit der Wirtschaftsredaktion sprechen«, unterbrach Burke. »Die haben mich aber zu Ihnen geschickt«, widersprach Duxbury. Seine Stimme stieg um eine Oktave und wurde quengelig. Burke rieb sich die Augen und zog den Deckel von dem Plastikbecher mit Kaffee, den er sich aus dem Laden auf der anderen Straßenseite mitgebracht hatte. Er nahm einen Schluck. Brühheiß und bitter, gerade so, wie er es jetzt brauchte. »Und wie hat man Sie abgezockt?«, fragte er, Interesse heuchelnd. Duxburys Miene hellte sich auf. »Ich bin der Direktor einer Metallhandelsgesellschaft, Duxbury und Söhne, in Philadelphia. Von meinem Vater gegründet. Unser Geschäftszweig war ursprünglich, ausgediente Kriegs- und Handelsschiffe auf den Werften von Philadelphia abzuwracken und den Schrott zu verkaufen.« Burke nickte. »Und Sie haben gemerkt, dass die Sowjetunion zerfällt und gedacht, das ist ein vielversprechender Markt.« Duxbury nickte wieder. »Richtig. 1989 bin ich das erste Mal rübergeflogen. Ich bin ins Geschäft gekommen, ein paar ausgemusterte amerikanische Zerstörer abzuwracken, die seit den
Lend & Lease-Verträgen vom Zweiten Weltkrieg in der Roten Flotte gedient hatten. Ging ungefähr plus minus Null auf. Aber die Leute haben mir gefallen. Ich wollte weitere Abschlüsse mit denen tätigen. Eine Riesenchance für mich. Und dann hab ich von einem Posten Nickel gehört.« »Nickel? Fünfcentstücke?« »Nein. Nickel. Das Buntmetall.« Burke nippte wieder an seinem Kaffee und überlegte, wie er den Mann loswerden könnte. »Die Rüstungsbetriebe in Leningrad haben jahrzehntelang riesige Mengen Nickel verbraucht. Chromnickelstahllegierungen, für Panzerplatten. Aber plötzlich kriegten die keine Panzer und Schützenpanzer mehr zu bauen. Einer meiner Gewährsleute erzählte, die Russen suchten verzweifelt einen, bei dem sie den Nickel loswerden könnten. Ich war interessiert.« »Und Sie haben allerhand investiert, um den Handel ins Trockene zu bringen.« »Genau.« Duxbury blickte ein wenig konsterniert. »Und ordentlich Schmiergelder und Provisionen abgedrückt, damit die richtigen Leute ins Boot kommen und es auch mit der Exportgenehmigung klappt, und so weiter…« »Sie haben ja doch schon davon gehört«, konstatierte Duxbury leicht verschnupft. »Mit Nickel noch nicht. Sonst machen die das immer mit Öl oder Rohdiamanten.« Dem Mann schien das Doppelkinn zwischen die Jackettaufschläge zu sacken. »Ich bin auf dem Warenterminmarkt hoch eingestiegen, auf Spanne in Nickel, weil die mit mir einen Vertrag über eine Lieferung von fünftausend Tonnen gemacht hatten. Und dann haben mich die Russen gelinkt. Die Mafia hat das Verteidigungsministerium bestochen, die Ausfuhrgenehmigung zu verzögern. Sie haben mich am ausgestreckten Arm verhungern lassen, weil sie den Nickel nicht nur mir vorenthalten haben, sondern auch dem Warenterminmarkt allgemein. Meine Verluste…« Er wackelte mit dem Kopf, offenbar noch immer benommen ob der Höhe seiner Verluste. »Ich hab so ziemlich alles verloren«, schloss er matt. Burke nickte. Er hatte kein Mitgefühl mit dem Mann. In seinem Kopf pochte es langsam, aber heftig. »Ja, okay, tut mir Leid für Sie.
Wenn Sie Ihre Unterlagen hierlassen wollen, gebe ich sie an unsere Korrespondentin in Moskau weiter, damit sie sich das mal ansieht und nachrecherchiert, wenn sie dazu kommt.« »Aber ich muss das sofort veröffentlicht haben!«, widersprach Duxbury. »So lange dürfen Sie nicht damit warten!« »Warum nicht?« »Weil die Russen nächste Woche in St. Petersburg eine große Konferenz abhalten, mit internationalen Investoren in die Rüstungskonversion. Damit auch andere erfahren, was ihnen blüht.« »Tut mir Leid«, sagte Burke. »Aber so was können wir nicht ungeprüft bloß auf Ihr Wort hin drucken.« »Warum nicht? Sie drucken doch dauernd Anschuldigungen und Vorwürfe, ohne zu wissen, ob sie stimmen.« »Aber wir drucken nur Berichte, für die wir uns auf maßgebliche Quellen berufen können.« Burkes Intuition und Erfahrung sagten ihm erstens, dass das hier nur eine einseitige Sache werden konnte, motiviert von Eigennutz und Rachsucht, auch wenn die Fakten vielleicht stimmten. Zweitens, dass die Kollegen bei den Konkurrenzblättern den Mann ähnlich abwimmeln würden und er folglich nicht zu befürchten brauchte, ungewollt einen Reißer an sie zu verschenken. Und drittens, dass ein geschröpfter Schrotthändler wie dieser Duxbury so gut wie keine Chance hatte, die Medien für sich einzunehmen, so lange sich nicht die US-Regierung für ihn stark machte oder er sich eine professionelle PR-Agentur leisten konnte, die wusste, wie man für eine Sache trommelt. »Sie sollten vielleicht das Außenministerium aufsuchen«, schlug er vor, und suchte dabei seinen Schreibtisch nach Lesbarem ab, damit der Mann endlich begriff und sich trollte. »Im Außenministerium war ich auch schon. Der Beamte dort hat gesagt, sie würden es überprüfen, doch wenn ich Ergebnisse sehen wollte, müsste ich mich an die Medien wenden.« Das kam von Duxbury fast schon gejault. »Also, wir drucken sowas viel eher, wenn die Regierung irgendwie offiziell tätig wird«, vertröstete ihn Burke. Das Wissen, dass er Duxbury damit innerhalb der Bürokratie auf eine Kreisbahn schickte, war nicht gerade Arznei gegen seine depressive Verstimmung. »Waren Sie schon im Handelsministerium?« Duxburys Gesicht wurde krebsrot und bekam Zornesfalten. »Ihr
Saukerle!« zischte er. »Ihr seid noch korrupter als die Russen! Und wenn mal einer zu Euch kommt und Gerechtigkeit sucht…« Da ging auch Burke der Gaul durch. »Raus hier«, fauchte er den Mann an. »Sie haben ein Erbe gehabt und es vergeigt. Gäbe es ein bisschen Gerechtigkeit auf Erden, hätten sie nie eins gehabt.« Die Wut des Schrotthändlers war verzischt wie das Heliumgemisch aus einem Jahrmarktballon. Sein Gesicht war wieder teigig, blass und schlaff. Ohne ein weiteres Wort kramte er seine Papiere zusammen und verließ die Redaktion. »Arschloch«, murmelte Burke hinter ihm her. Er sah sich um, ob jemand die Szene mitbekommen hatte. Ein Redakteur drei Schreibtische weiter beugte sich mit großem Eifer über einen Stapel Agenturmeldungen. Burke drehte seinen Stuhl zum Computer und wünschte sich, er hätte so viel Grips gehabt, daheim zu bleiben. Es schneite an diesem Nachmittag, Pappschnee trieb aus Kentucky und West Virginia über die Berge ins südliche Pennsylvanien, wo Jennifer Morelli zuhause gewesen war, und verwandelte die braune Erde um ihr Grab in karamellfarbenen Matsch. Burke, der ein paar Meter entfernt von dem kleinen grünen Baldachin stand, der die nächsten Angehörigen schirmte, schlug den Mantelkragen hoch und fröstelte. »Gewähre Ihr ewigen Frieden, O Herr«, betete ein Pfarrer im schwarzen Talar, und sprenkelte ein paar Tropfen Weihwasser in die wässrigen Flocken, die auf dem bronzefarbenen Sarg zerschmolzen. Burke versuchte, die Gesichter unter dem Baldachin gegen die Namen der Angehörigen abzugleichen, die unter der Todesanzeige gestanden hatten. Die schlanke Frau mit den grauen Haaren und dem schwarzen Schleier musste die Mutter sein, Susan Morelli. Die anderen Erwachsenen waren wohl ihre zwei Schwestern und die beiden Brüder, von denen nur noch einer in Fairfield wohnte. Nach den Adressen in der Todesanzeige blieben nicht viele junge Leute in diesem Nest. Die Kinder waren wohl die Nichten und Neffen, und die übrigen wahrscheinlich Jugendfreunde oder Vettern und Kusinen. Insgesamt aber bestand die Trauergemeinde aus kaum einem Dutzend Leuten. Er blickte sich nach jemand um, der aussah wie ein Bulle aus dem fernen Distrikt Columbia, konnte aber keinen erkennen.
Der Pfarrer schloss sein Gebet, und eine der Schwestern nickte einem etwa zehnjährigen Mädchen zu. Das Mädchen trat vor und warf eine Blume auf den Sarg, eine rote Nelke. Nacheinander taten die übrigen Familienmitglieder desgleichen. Als sie fertig waren, hakte einer der Brüder seine Mutter unter, und der andere hielt ihr einen Schirm über den Kopf. Die Familie wandte sich ab und ging langsam mit gesenkten Köpfen auf eine Kolonne schwarzer Limousinen auf dem etwa fünfzig Meter entfernten Teerweg zu, denen weißer Dunst aus dem Auspuff wölkte. Als Burke sich zwischen den Grabplatten seinen Weg zum eigenen Auto suchte, löste sich eine der Schwestern aus der Familiengruppe und kam auf ihn zu. Unschlüssig blieb er stehen. Ihre Augen unter dem schwarzen Schleier waren rot geweint, doch ihr Gesicht war verschlossen und verriet wenig von ihren Gefühlen. »Entschuldigen Sie«, sprach sie ihn an. »Ich bin Connie, Jennys Schwester. Sind Sie Colin Burke?« Er nickte. »Ja. Mein herzliches Beileid.« Die Frau streckte ihm eine behandschuhte Hand entgegen, die er höflich drückte. »Meine Mutter möchte sich für Ihre Teilnahme bedanken und lässt fragen, ob Sie nicht mit zu uns kommen wollen. Sie hätte Sie gern gesprochen.« Einen Augenblick lang gewannen Burkes irrationale Schuldgefühle und Ängste beinahe die Oberhand und er dachte schon, Jennifers Mutter wolle ihm Mitschuld anlasten, wenn nicht an dem Mord, so doch, weil er ihre Tochter in diese Gefahr gebracht hatte, oder weil er nicht rechtzeitig zu ihr in die Wohnung gekommen war, oder wegen sonst etwas. In den letzten drei Tagen hatte er recht häufig solche Gefühle gehabt. Doch aus der Miene dieser Frau sprach keinerlei Vorwurf. Ihre Augen zeigten nur Trauer. Die eigene Trauer hatte er abgetötet, merkte er jetzt. Er war am nächsten Tag zur Arbeit gegangen, und am übernächsten auch, und hier konnte er sich jetzt erstmals nicht mehr um das Gedenken an Jennifer drücken. Er brauchte jetzt Menschen um sich, die ihrer ebenfalls gedachten, wurde ihm klar. Er brauchte jemand, der ihn um die Schulter fasste und mit ihm trauerte. Aus diesem Grund war er den weiten Weg hergefahren. Also stieg er in sein Auto, machte die Scheinwerfer an und folgte
den Limousinen nach Fairfield hinein, an einem Kriegerdenkmal, zwei Kirchen, einem Feuerwehrhaus vorbei zu einem weißen Fachwerkhaus mit grünen Läden, einem Basketballkorb über dem Garagentor und ein paar kahlen, schwarzästigen Ulmen, die sich über den verschneiten Vorgarten neigten. Ein Haus und ein Stadtteil, wie sie Regisseure abfilmten, wenn sie amerikanische Kleinstadtatmosphäre zeigen wollten. Drinnen standen ein Dutzend Leute beieinander, die einander allesamt zu kennen schienen, unterhielten sich gedämpft oder nahmen sich Lasagne von einer Warmhalteplatte auf dem Esszimmertisch. Burke stand anfangs etwas verloren herum. Jemand bot Scotch an, aus einer Flasche auf der Anrichte. Schon das bloße Hinsehen machte ihn kribbelig. Susan Morelli, Jennifers Mutter, suchte Blickkontakt und drängte sich zu ihm durch. Sie hatte rot geweinte Augen wie ihre Tochter, doch sie war gefasst und begrüßte ihn zurückhaltend, aber herzlich. Die Falten im Gesicht waren zwar ausgeprägt, aber an Augen und Jochbein erkannte Burke die Ähnlichkeit mit Jennifer. Sie bat ihn mitzukommen, und er folgte ihr aus dem Wohnzimmer, in dem die Nachbarn in leisem Gespräch beisammen standen, in ein kleines, holzgetäfeltes Arbeitszimmer. Bücher an allen Wänden, nur nicht an der mit dem Schreibtisch unter einem Fenster, das auf die Ulmen im Vorgarten hinausging. Bilder von lachenden Kindern auf dem Schreibtisch. Zwei braune Ledersessel standen an der gegenüberliegenden Zimmerwand, und Susan Morelli forderte Burke mit einer Handbewegung auf, sich in einem davon niederzulassen. »Das Arbeitszimmer von Jennys Vater«, erläuterte sie. »Was bin ich doch froh, dass er das nicht erleben musste. Sie war unsere Jüngste. Sein Liebling.« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie zupfte ein Papiertaschentuch aus der Tasche und betupfte sich die Wimpern. Burke wusste nicht, was er sagen sollte. »Sie haben die… sie, ich meine, äh…. an dem bewussten Abend gefunden«, setzte Susan Morelli an. »Ja«, sagte Burke, und fühlte sich unbehaglich dabei. »Wissen Sie das von Detective Robinson?« Die Mutter nickte. Als sie weitersprechen konnte, klang ihre
Stimme vor Zorn und Angst kratzig wie eine stumpfe Säge. »Wer… wer könnte ihr das angetan haben? Und warum?« Burke schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht war sie ein Zufallsopfer. In einer Stadt wie Washington gibt es viele, die krank im Kopf sind.« Er stockte, als ihm einfiel, die Frau im Sessel gegenüber könnte auch ihn für so einen halten. Susan Morelli brach das Schweigen. »Ich wollte Ihnen noch danken für Ihre Hilfsbereitschaft gegenüber Jenny. Sie hat uns schon vor Jahren aus Moskau geschrieben, wie viel sie von Ihnen gelernt hat. Und letzten Monat hat sie uns mitgeteilt, Sie hätten ihr mit der Russlandreise geholfen und würden vielleicht in der Tribune ein paar Reportagen von ihr drucken. Sie konnte Sie gut leiden.« Burke schloss die Augen und spürte, das Kopfweh kam wieder. Er bedankte sich und überlegte, was er ihr darauf erwidern könnte. »Ich muss gestehen, ich habe sie nicht sehr gut gekannt, und auch nicht lange genug«, sagte er dann. »Aber sie war immer so bescheiden, so klug und fleißig, und so… lieb, meine ich…« »Ja?« »Ich hätte sie gern näher kennen gelernt.« Für ihn selbst hörte es sich lahm an, aber Susan Morelli bekam wieder nasse Augen und tätschelte ihm den Arm. »Danke, dass Sie es ausgesprochen haben«, sagte sie. »Wir denken inzwischen genauso.« »Hat Jenny Ihnen was von dieser Reportage verraten, die sie mir mitbringen wollte?«, fragte er. »Von ihrem Knüller?« Es kam ihm selbst makaber vor, danach zu fragen, aber die Gewohnheit war so stark, dass er es einfach nicht lassen konnte. Erst recht nicht unter so einem Stress. Susan Morelli schüttelte den Kopf. »Als sie das letzte Mal mit mir telefonierte, war sie noch in St. Petersburg, etwa vor einer Woche. Sie meinte, es laufe alles ganz gut, aber von einer Sensation hat sie nicht gesprochen.« »Hat sie sonst noch was gesagt?« »Nur, dass sie am nächsten Tag zum Direktor der Eremitage wollte. Ist das wichtig?« Burke wollte den Kummer der Mutter nicht noch vergrößern. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Haben Sie das Detective Robinson erzählt?«
»Nein«, antwortete Susan Morelli. »Als er anrief, interessierte er sich nur für Jennys alte Jahrbücher von Schule und Uni, und für ihre Adressbücher. Was ich finden konnte, hab ich ihm gestern geschickt. Wahrscheinlich meint er, jemand, der sie kannte…« Ihr versagte die Stimme. »Wird wohl so sein«, nickte Burke. Dann wurde ihm kalt bei dem Gedanken, jemand, der sie kannte, könnte ihr zugefügt haben, was er da im Schlafzimmer gesehen hatte. »Sie haben ja gar nichts zu trinken«, sorgte sich Mrs. Morelli. »Hätten Sie gerne einen Scotch?« Burke musste schlucken. »Nein«, wehrte er ab. »Ich muss jetzt leider wieder zurück nach Washington.« Burke startete auf dem Computer neben seinem Schreibtisch die Suchmaschine. LO SOWSET, gab er ein. Das Gerät wählte einen anderen Computer in einer Kleinstadt in Virginia an. Die Computersimulation eines Ruftons, danach Rauschen, und dann zeigte ein Piepen an, dass die beiden Computer miteinander verbunden waren. Auf dem Bildschirm erschien Folgendes: WILLKOMMEN BEI SOWSET DATENVERWALTUNG DURCH COMTEX CENTER FOR STRATEGIC AND INTERNATIONAL STUDIES. SOWSET DIENT WISSENSCHAFTLERN, POLITIKERN, GESCHAEFTSLEUTEN, JOURNALISTEN UND ANDEREN FACHLEUTEN ZUR ERFORSCHUNG, ANALYSE UND EROERTERUNG VON RUSSLANDUND EURASIENPOLITIK BITTE DEN VORNAMEN EINGEBEN… Burke tippte COLIN. UND DEN NACHNAMEN… BURKE. SIE SIND COLIN BURKE. BITTE KENNWORT EINGEBEN…
SAM. ZULETZT EINGELOGGT: 6. JANUAR 11:07:12 BISHERIGE ZUGRIFFE: 18 LETZTE GELESENE MELDUNG: NR. 756 LETZTE GESPEICHERTE MELDUNG: NR. 1242 BENUTZERNUMMER: 833 BISHER HERUNTERGELADEN: 47 DATEIEN HEUTE ZWEI SAMMELBERICHTE ABRUFBAR SOWSET HAUPTMENUE (D)ATENB ANKEN (A)UFRUF DATEIARTEN (M)ELDUNG ABRUFEN (B)ENUTZERLISTE (S)TOERUNGSMELDUNG (E)INGABE DATEIEN (X)EXIT (L)OESCHEN (Z)USAMMENFASSUNG BEFEHL? Burke drückte (A). FOLGENDE DATEIARTEN KOENNEN GELADEN WERDEN: AM – AGENTURMELDUNGEN TA – TAGESZEITUNGEN WO – WOCHENSCHRIFTEN FO – FORSCHUNGSBERICHTE GEBEN SIE INTERESSENGEBIET EIN: Burke tippte AM, TA, WO und FO. Der Computer brauchte eine Weile, um das Kommando zu verdauen. KEIN AKTUELLER BERICHT SYSOP DATEI. GEBEN SIE DATEINAMEN EIN, L FUER LISTE, S FUER SUCHE. Burke gab S ein.
GESUCHTER OBERBEGRIFF? ERETIMAGE, gab er ein. Das Gerät machte eine Pause, dann kam die Antwort: SUCHBEGRIFF ERETIMAGE NICHT GEFUNDEN. »Scheiße«, murmelte Burke. Und wiederholte S. GESUCHTER OBERBEGRIFF? EREMITAGE Der Schirm wurde grau, während der Computer suchte. Dann zeigte er das Ergebnis an: ITAR 1394.1207 7. DEZEMBER 2K AUSSTELLUNG VON ZARENKUTSCHEN IN DER EREMITAGE STPKP1425.1215 15. DEZEMBER 1K BESUCHERRUECKGANG DER EREMITAGE DURCH RUECKLAUFIGE TOURISTENZAHLEN ITAR1633.0107 7. JANUAR 2K DIREKTOR DER EREMITAGE TOT AUFGEFUNDEN BITTE GEBEN SIE GEWUENSCHTEN DATEINAMEN EIN, H FUER HILFE, S FUER SUCHE ODER X FUER EXIT. Burke schnaufte. Und gab dann ITAR.1633.0107 ein. Kaum fünf Sekunden später erschien die Meldung. ITAR.1633 TOEDLICHER RAUBUEBERFALL AUF EREMITAGE DIREKTOR F. P. WASSILJEW ST. PETERSBURG, 7. JANUAR (ITAR-TASS) – FJODOR PAWLOWITSCH WASSILJEW, DER DIREKTOR DER EREMITAGE, WURDE HEUTE TOT Aus DEM GRIBOJEDOWKANAL GEBORGEN, OFFENBAR ALS OPFER
EINES RAUBUEBERFALLS. EIN MILIZSPRECHER ERKLAERTE, WASSILJEW SEI GESTERN NACH VERLASSEN DES MUSEUMS UM ETWA NEUN UHR ABENDS VERMUTLICH EINEM ODER MEHREREN STRASSENRAEUBERN BEGEGNET. BEI SEINER LEICHE SEIEN BRIEFTASCHE UND PAPIERE GEFUNDEN WORDEN, DOCH DIE BRIEFTASCHE SEI LEER GEWESEN. WASSILJEW WURDE 55 JAHRE ALT. ER HATTE 1989 DIE NACHFOLGE SEINES VATERS, DES AKADEMIEMITGLIEDS PAWEL WASSILJEW, ALS DIREKTOR DER EREMITAGE ANGETRETEN. DER BUERGERMEISTER VON ST. PETERSBURG, ARKADI KURJAGIN, BEZEICHNETE WASSILJEWS ABLEBEN ALS GROSSEN VERLUST FUER DIE STADT. ER ERKLAERTE, ER HABE DEN INNENMINISTER IN MOSKAU ANGERUFEN UND UM VERSTAERKUNG DER ORDNUNGS-KRAEFTE ZUR SICHERUNG DER STRASSEN VON ST. PETERSBURG GEBETEN. DER TOURISMUS IN DER FRUEHEREN ZARENMETROPOLE IST IM VERGANGENEN JAHR WEGEN MEHRERER RAUBUEBERFAELLE UND TAETLICHER ANGRIFFE AUF AUSLAENDER UM 30 PROZENT ZURÜCKGEGANGEN. ENDE DER MELDUNG ITAR-TASS Burke lud die Datei herunter. Er suchte auf seinem Schreibtisch herum, bis er die Visitenkarte von Detective Robinson gefunden hatte. Schon beim Wählen spürte er, wie sein Kopfweh nachließ.
7 Im Linienbus G44 von Siena nach Colle di Val D’Elsa fühlte sich Andruscha Karpow in Italien zum ersten Mal fast wie zuhause. In einen schmalen Hartschalensitz am Fenster gedrückt, konnte Karpow den Schmutz an Schuhen und Klamotten der Mitfahrer beinahe riechen. Wie bei Bauersleuten in russischen Überlandbussen. Die Frau neben ihm balancierte einen Sack aus faserverstärktem Papier voller Gemüse auf den Knien. Wahrscheinlich fuhr sie damit zum Markt. Ihre dicken Waden wabbelten, wenn der Bus durch ein Schlagloch schaukelte, und beide Bewegungsabläufe waren ihm von den Außenbezirken St. Petersburgs vertraut. Zwischen das breite Gesäß der Frau und seinem fast ebenso breiten Hintern hätte keine Zeitung gepasst. Genau wie daheim. Die Landschaft erinnerte allerdings kaum an Russland. Er sah Weinberge mit winterlich kahlen Rebstöcken an Drähten zwischen Holzpfosten. Wenn er den Blick allein auf sie konzentrierte, konnte er sich kurz in die Illusion wiegen, es seien Weinberge auf der Krim, wie einst bei seiner Gutscheinreise ins Ferienheim der Sowjetgewerkschaft Kunst und Wissenschaft am Schwarzen Meer. Aber dann brummte der Bus wieder durch ein Dorf von Backsteinhäusern mit seltsam runden Ziegeln auf den Dächern und kleinen Pritschendreirädern vor der Tür oder durchquerte einen Flickenteppich von Äckern und Weideflächen, die zum Teil sogar jetzt im Januar noch in unglaublich saftigem Grün dalagen, und da wurde ihm wieder klar, er war wirklich za rubezhom, in der Fremde, auf einem gefährlichen Einsatz. In solchen Schreckmomenten krampfte sich sein Gedärm zusammen. Der Bus nahm eine Kurve, und er erblickte auf einmal ein Flüsschen, das sich schmal und grau zum Mittelmeer schlängelte. Bestimmt die Elsa, nach der sein Reiseziel benannt war. Also wurde es allmählich ernst. Nun dröhnte der Bus das enge Flusstal hoch, und kroch dann durch Serpentinen an so steilen Hügelflanken hinauf, dass er sich fast im Gebirge wähnte. Dann sah er die Stadt und zwinkerte vor Erstaunen. Dergleichen hatte er noch nie gesehen. Colle di Val D’Elsa thronte wie ein Pilz hoch oben auf dem Gipfel eines grün bewachsenen Bergs, fast einer
Felsklippe. Hohe Mauern aus braun verwittertem Naturstein zogen sich wie ein Ring um das Städtchen, dahinter ein Würfelmosaik von gleichfarbenen Häusern, mit flachgeneigten Dächern aus runden Ziegeln und schießschartenähnlichen Fensterluken, die das ehrwürdige Alter verrieten. Ein kantiger toskanischer Glockenturm, mindestens fünfzig Meter hoch, ragte als größtes Bauwerk daraus hervor. Das Städtchen war so angelegt, dass es leicht verteidigt werden konnte. Doch gegen wen? Etwa die Franzosen? Er verzog missmutig das Gesicht. Die Geschichte Europas, zu dem Russland immerhin gehörte, war in seiner Schulbildung während der Sowjetzeit weitgehend ausgeklammert geblieben. Statt dessen hatten sie ihm den Kopf mit nutzlosen Klassenkampftheorien vollgestopft. Es krachte im Getriebe, als der Busfahrer vor der steilsten Stelle herunterschaltete. Von dem Geschaukel und der schwülen Wärme aus dem Heizgebläse war es Karpow ein wenig übel geworden. Doch das legte sich schnell, als er an der Endstation vor der alten Stadtmauer ausstieg, direkt oberhalb der Neustadt, die sich hügelab bis zum Flüsschen zog. Draußen waren es zwischen fünf und zehn Grad über Null, doch die italienischen Fahrgäste um ihn herum waren eingemummt wie für Sibirien. Für Karpow, der vor zwei Tagen noch in St. Petersburg gewesen war, war das Lüftchen hier der reinste Balsam, und er blieb kurz stehen und atmete tief durch. Karpow griff nach seinem Koffer. Im Mauerrund um die Altstadt erblickte er ein beidseitig von Rundtürmen flankiertes Eingangsportal, und dorthin machte er sich auf. Ein Taxi, ein fast neuer Fiat, bremste neben ihm. Der Fahrer ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. »Dove?«, fragte er. Karpow schüttelte den Kopf. Er verstand kein Italienisch, doch er wusste, für ein Taxi reichten seine Devisen nicht. Er schritt durch das Stadttor und kam auf einen kleinen, vollgeparkten Platz mit Kopfsteinpflaster. Das Museum, dachte er, lag bestimmt im Stadtkern in der Nähe des kantigen Turms, dessen hohe Spitze er weiter oben über den Dächern sehen konnte. Auf der anderen Seite der Piazza befand sich etwas, was er aus dem ebenen St. Petersburg nicht kannte, eine Treppengasse, die eng und steil hinauf ins Stadtzentrum führte, zu beiden Seiten Wände von Häusern. Karpow marschierte los, und bevor er den Hügel halb erklommen
hatte, kam er bereits ins Schnaufen und Schwitzen. Sein Körper war birnenförmig, und er bewegte sich schwerfällig und langsam, mit zu kurzen Schritten für jemanden von seiner Statur. Er riss den Reißverschluss seiner Daunenjacke auf. Weiter oben war eine kleine Bäckerei. Der Duft, der ihm von dort in die Nase zog, war von unwiderstehlicher Mandelsüße. Er blieb stehen und spähte durch das kleine Schaufenster hinein. Weißes Hefegebäck und Törtchen mit Schokolade, Zuckerguss und Butterkrem. Bunter als alles, was er aus St. Petersburg kannte. Er suchte nach einem Preisschild. Eins von den süßen Stückchen, mit Schokolade und Karamel, sollte zweitausend Lire kosten, nach seiner Umrechnung ungefähr einen Dollar. Zu seiner großen Erleichterung hatte er nämlich festgestellt, dass die italienische Lira fast genau doppelt so viel wert war wie ein Rubel, und das vereinfachte ihm die Ermittlung seiner Kaufkraft ungemein. Große Sprünge konnte er nicht machen, und er musste seine geringe Barschaft unbedingt zusammenhalten, damit er bezahlen konnte, wofür er so weit gereist war. Andererseits hatte er seit dem Aussteigen aus dem Fernzug in Rom nichts mehr zu sich genommen, und ihm war schon ziemlich flau im Magen. Er betrat den Laden und deutete auf das Backwerk. Eine alte Frau in einer Kittelschürze wickelte es ihm in ein Stück Wachspapier, und er bezahlte sie mit zweien der Tausendlirescheine, die er in Rom eingewechselt hatte. Eigentlich hatte er es ganz langsam genießen wollen, doch dann biss er in eine himmlische, sahnepuddingähnliche Füllung, die ihm zusammen mit dem Karamel und dem Schokoladenüberzug an den beiden Enden auf der Zunge zerging, wie er es noch nie erlebt hatte. Sekundenschnell war die Leckerei verschwunden, hastig nachgestopft von Knubbelfingern, die sich verselbständigt zu haben schienen, und Karpow geißelte sich im Stillen, weil er wieder mal so gierig geschlungen und den Genuss nicht ausgekostet hatte. Er schalt sich ein fettes russisches Schwein, das er auf ewig bleiben würde, wenn er nicht endlich Selbstbeherrschung lernte. Er riss sich den Hemdkragen auf, der schon immer zu eng gewesen war und ihn jetzt, während er sich den Berg hinaufmühte, regelrecht würgte. Voraus sah er schon, wie die Treppengasse breiter wurde und in
eine weitere Piazza mit Kopfsteinpflaster mündete. Doch bevor er sie erreichte, zog ein Café seinen Blick auf sich. Drei Tischchen im Freien, an denen niemand saß, die roten Sonnenschirme darüber zusammengefaltet wie Blumen vor der Kälte. Durch die Glastür aber konnte er weitere Tische und einen Kellner in weißer Schürze sehen, die ihm fast bis zu den Knöcheln reichte, und er konnte einfach nicht daran vorbei. Seine Armbanduhr sagte ihm, dass es hier in Italien kurz nach zwölf war, also in St. Petersburg lange nach zwei, und er hatte immer noch nicht zu Mittag gegessen. Eine Suppe würde er sich wohl noch leisten können. Was ihm von den Valuta geblieben war, die ihm Nadescha Petrowna mitgegeben hatte, brauchte er nicht zu zählen, er wusste es im Kopf. In seiner Brieftasche befanden sich etwa einhundertachtundneunzig Dollar, eingewechselt in Lire, minus dem einen, den er eben für Kuchen ausgegeben hatte. Im Café war es warm und gemütlich, und der Ober sprach ihn freundlich lächelnd mit Signore an und rückte ihm zuvorkommend den Stuhl zurecht. Ein paar Begriffe auf der Speisekarte verstand er sofort: zuppa, pizza und vino. Er fand alles teurer als erwartet, doch hatte er im Leben noch keine Pizza gegessen, abgesehen von faden Pappen, wie sie in St. Petersburg an Straßenkiosken verkauft wurden, und der Wein war offenbar aus der Gegend. Er entschied sich für einen Teller Minestrone, eine Käse-Pizza und ein Glas Chianti. Alles schmeckte köstlich. Eine Offenbarung für seinen Gaumen. Jetzt verstand er, warum die italienische Küche so berühmt war. Mit seiner um etwa fünfzigtausend Lire verminderten Reisekasse erklomm Karpow weiter die Treppengasse ins Zentrum der Altstadt. Im Gehen versuchte er auszurechnen, wieviel das in Dollar bedeutete. Für einen Mann von seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten war Karpow im Kopfrechnen nicht besonders gut, doch er konnte immerhin ermitteln, dass ihn das kulinarische Vergnügen ungefähr dreiundzwanzig Dollar gekostet hatte. Dann stand er auf einer Piazza, die schöner war als alles, was er bisher in Italien gesehen hatte. Eine Kirche beherrschte die linke Seite, und bei dem Palazzo zu seiner Rechten handelte es sich wohl um das Gebäude, das er suchte. Ein Schild neben dem Eingang wies es als: MUSEO CIVICO aus. Er trat ein und stand vor einem unästhetischen Kassenhäuschen
aus Holz und Glas mitten in einer reizvollen Eingangshalle mit Rippengewölben und Wandfresken. Er wollte daran vorbei, aber eine grauhaarige Alte schoss durch eine Seitentür heraus und packte ihn am Arm. Karpow griff auf sein Englisch zurück. Er hatte es in der Schule gelernt und erprobte es gelegentlich an Besuchern der Eremitage. Aber im Ausland hatte er es noch nie benutzen müssen, und er wusste genau, seine ersten Sätze würden gestelzt klingen und dumm. »I have letter«, radebrechte er. »For director.« Er zog den Brief Nadescha Petrownas aus der inneren Jackentasche und wies ihn der Kassenfrau vor. Sie zuckte nur verständnislos die Schultern und zeigte auf ein Schild, auf dem es hieß, der Eintritt koste zehntausend Lire. Karpow deutete auf den Brief. »Director«, beharrte er. Die Kassenfrau deutete auf das Schild und wollte Geld. Ein Wächter in einer verwaschenen blauen Uniform, dem ein Hemdzipfel heraushing, erhob sich träge von seinem Stuhl und watschelte zum Kassenhäuschen, um die Lage mit seiner Autorität zu klären. Karpow zeigte dem Wächter den Brief. Der sah kurz darauf und gab ihn dann kopfschüttelnd zurück. Und wies ebenfalls auf das Schild mit den zehntausend Lire. An seiner Haltung war zu erkennen, dass er schon alle Tricks kannte, mit denen sich Touristen um den Eintrittspreis zu drücken versuchten. Seufzend zog Karpow einen Geldschein aus der Brieftasche und bezahlte. Mit befriedigtem Grinsen nahm die Frau das Geld in Empfang und schickte ihn nach links. Karpow besaß keine Ausbildung in Kunstgeschichte, auch wenn er nebenbei allerhand aufgeschnappt hatte. Er konnte nicht so recht sagen, ob die Gemälde und Fresken, die er auf seinem Weg durch einen langen und schmalen Flur sah, von erster Güte waren oder nur Mittelmaß. Aber dass es sich hier um ein verarmtes Museum handelte erkannte er sofort und mit absoluter Sicherheit. Am Ende des Flurs war eine Stiege, die nur nach unten führte. Er zögerte kurz und ging sie dann hinunter. Der Keller, stellte er sogleich fest, war zu Büroräumen umgebaut. Eine Frau saß an einem Pult, eine Art Vorzimmerdame, und tippte etwas in einen Computer. Er hielt es für das Beste, ihr einfach sein Empfehlungsschreiben zu übergeben.
Der mit ausgelaugtem Farbband auf einfaches Holzpapier getippte Brief lautete wie folgt:
Eremitage St. Petersburg 11. Januar Doctor Luigi Galvano Museo Civico Colle di Val D’Elsa Italia Sehr verehrter Dr. Luigi! Der Überbringer dieses Empfehlungsschreibens ist mein Kollege Andrej Borissowitsch Karpow, Vizedirektor der Abteilung für Konservierungstechnik der Eremitage. Wir bitten Sie um Hilfe bei der Beschaffung von florentinischem Ocker im Stil der Renaissance, wie bei Cennini beschrieben. Wir brauchen dieses Pigment dringend für unsere Restaurierungsarbeiten. Für Ihre Bemühungen bedanke ich mich herzlich. Ihre sehr ergebene Nadescha Petrowna Naryschkina Direktorin der Restaurierung
Über der Unterschrift prangte das Siegel mit dem alten zaristischen Doppeladler. Die Frau las den Brief, nickte freundlich, stand auf und verschwand durch die mittlere der drei Türen, die aus dem Vorzimmer abgingen. Karpow sah sich um, trat von einem Bein aufs andere und mochte sich nicht so recht niederlassen. Sofort erschien die Frau wieder, mit diesmal noch freundlicherem Lächeln. Sie hielt die Tür auf und winkte ihn hinein. Karpow betrat einen kleinen Raum mit einem Kaminfeuer, in dem ein paar Holzscheite flackerten. Ein geschnitzter Schreibtisch aus hellem gemasertem Holz füllte die linke Raumhälfte aus. Dahinter
stand ein schlanker Glatzkopf von knapp sechzig Jahren in Zweireiher und brauner Krawatte. Seine Pergamenthaut wirkte auf Karpow aristokratisch. Er streckte ihm die Hand hin, und Karpow nahm sie. »Willkommen in Colle di Val D’Elsa, Signor Karpow. Ich bin Luigi Galvano und stehe Ihnen gern zu Diensten.« Ein dünner Schnurrbart hüpfte beim Sprechen. Er deutete auf einen Stuhl, der aussah wie tausend Jahre alt, und Karpow ließ sich dankbar nieder und horchte, ob das Holz vielleicht knackte. Aber der Stuhl brach nicht unter ihm zusammen. Galvano setzte sich und nahm den Brief in die Hand. »Und wie geht es Dr. Naryschkina? Eine tapfere Frau!« »Gut«, antwortete Karpow. Er hatte Schwierigkeiten, das italienisch eingefärbte Englisch zu verstehen, aber das war die einzige Sprache, die sie miteinander gemein hatten. »Wir sind uns mehrfach in der Eremitage begegnet. Und wie steht es im Museum?« »Auch gut«, antwortete Karpow, nicht ganz sicher, ob die Antwort passte. Aber Galvanos Miene ließ nicht auf Missfallen schließen. Karpow wurde ein wenig sicherer. »Aber sagen Sie mir doch bitte eins. Unser Kultusministerium kooperiert doch mit dem russischen Ministerium für Kultur. Sie hätten wegen des Pigments schreiben können. Warum sind Sie extra hergereist?« Verblüfft lehnte sich Karpow vor. »Wie bitte?« »Warum haben Sie nicht beim Kultusministerium angefragt?«, wiederholte Galvano seine Frage. »Warum kommen Sie ausgerechnet im Januar her, wo so scheußliches Wetter herrscht?« »Ich verstehe nicht«, erwiderte Karpow. »Es muss eine dringende Sache sein. Zu eilig für den Amtsschimmel, was?«, sagte Galvano. Karpow nickte. »Ja. Dringend.« »Eine Ausstellungseröffnung?« Karpow nickte wieder. Sie hatten ständig Ausstellungseröffnungen. Sollte der Mann doch denken, was er wollte. Galvano nickte wissend. »Natürlich. Also, ich würde Ihnen ja zu gern selber helfen. Aber wir sind ein kleines Museum und wir haben dieses Pigment normalerweise nicht auf Vorrat. Es gibt moderne
Ersatzmittel, die ganz ordentlich sind. Florentinischer Ocker, wie bei Cennini beschrieben! Der wird heute fast nicht mehr verwendet! Aber ich kann Ihnen sagen, wo er abgebaut wird. Im Kloster San Lorenzo. Die Klosterbrüder dort mischen Künstlerfarben an wie seit undenklichen Zeiten. Wissen Sie, wo das ist?« Karpow schüttelte wieder den Kopf. »Na gut, dann fahre ich Sie hin.« Das verstand Karpow. Und er wollte auf dieser Reise nur so viele Außenstehende einschalten wie unbedingt nötig. Je weniger Auskünfte er geben musste, desto besser. »Ach bitte, nein«, wehrte er ab. » Können Sie mir eine Karte zeichnen?« Galvano zuckte die Achseln, die Handflächen ausgebreitet. »Aber selbstverständlich«, sagte er. Karpow fand das Kloster, wie Luigi Galvano versprochen hatte, einen Kilometer außerhalb der Stadtmauern auf einem Felsvorsprung über einem Tal mit Weingärten. Es lag inmitten der Neustadt zwischen lauter zweckdienlichen, hässlichen Häusern und wirkte unter ihnen reichlich verloren und fehl am Platz. Wie die Bauten innerhalb der Stadtmauer war das Kloster aus verwittertem Sandstein erbaut und hatte seine eigene gemauerte Einfriedung gegen die Stadt. Während der Renaissance hatte es wohl noch außerhalb gelegen, mitten zwischen den Feldern, stellte sich Karpow vor. Er zog einen Glockenstrang neben einer hölzernen Pforte und wartete ein Weilchen. Dann schellte er nochmals. Er hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde und die Angeln sachte quietschten, während jemand von drinnen das Tor einen Spaltweit aufzog. Er sah einen Mann von etwa fünfzig Jahren vor sich, mit grau gesprenkeltem schwarzen Bart. Entgegen Karpows Erwartungen trug der Mann weder eine braune Kutte noch einen weißen Hüftstrick, sondern Jeans, farbenbespritzte Gummistiefel und ein Baumwollhemd. »Si«, sagte er. »Parla inglese?«, fragte Karpow. Mehr Italienisch konnte er nicht. Der Mann machte eine leichte Verbeugung. »Momento.« Karpow trat durch die Pforte und sah den Mann in den Jeans in ein Gebäude mit schönem Bogengang verschwinden. Kurz darauf
kam er wieder heraus, begleitet von einem Älteren. Dieser trug eine schwarze Kutte mit dem Oberteil eines Trainingsanzugs darüber. Sein Haar war schlohweiß und schütter. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Ältere. »Dr. Galvano hat mich zu Ihnen geschickt«, erklärte Karpow und gab ihm den Brief. Der alte Mann nickte und las den Brief sorgfältig durch. »Verstehe«, sagte er. Dann sagte er etwas auf italienisch zu dem Mann in Jeans, der ebenfalls verständnisvoll nickte. »Kommen Sie doch herein«, forderte der Ältere Karpow auf. »Ich bin Pater Domenico.« Sie schritten durch den Bogengang und durch ein Eichenportal und kamen in einen kleinen Vorraum. Muffiger Schimmelgeruch drang Karpow in die Nase. Eine matte Glühbirne in einer Wandnische erleuchtete den Raum, in dem vollkommene Stille herrschte. Die Bodenplatten unter seinen Füßen waren aus glatt gewetztem Naturstein und die Mauern verputzt. Schwach konnte er an den Wänden die Konturen verblasster Fresken erkennen. Sie gingen durch einen weitläufigen Flur in einen Saal mit zwei Fenstern mit Südlicht. »Unser Refektorium«, erklärte Pater Domenico. Karpow blickte verständnislos. »Der Speisesaal«, erklärte der Alte. Der Saal wirkte keineswegs, als habe in letzter Zeit jemand darin gespeist. Zwar standen zwei lange Tische da, aber auf denen gab es nur verschiedene Farbtöpfe und Schutzfolien und einen Eimer mit einer rosa Flüssigkeit. An der einen Wand ein abblätterndes Fresko der Verkündigung, das wohl jemand gerade zu restaurieren versuchte. Pater Domenico merkte, wie aufmerksam Karpow das Fresko begutachtete. »Es stammt von Vasari. Wir wollen es säubern und restaurieren, aber es ist eine schwierige Arbeit, wir haben wenig Geld und können keine Fachleute bezahlen.« »Was nehmen Sie denn zur Reinigung?«, fragte Karpow. Sein Englisch wurde bereits fließender. »Wasser, mit ein bisschen Wein vermischt.« Karpow rümpfte die Nase. Dieselbe althergebrachte Klosteressenz, mit dem sie da Vincis Abendmahl ruiniert hatten. Ikonen waren ihr in ganz Russland massenweise zum Opfer gefallen.
Bevor er wieder zurückfuhr, würde er ihnen seine Hilfe anbieten. Sie durchmaßen das Refektorium, einen weiteren stillen, menschenleeren Gang und kamen in eine kleine Kammer mit einem Schreibtisch und mehreren Stühlen. Wie der Empfang wurde sie nur durch eine einzige Birne aus einer Wandnische beleuchtet. »Setzen Sie sich doch bitte«, forderte ihn Pater Domenico auf. »Darf ich Ihnen etwas von unserem Wein anbieten?« Karpow, der inzwischen schon recht durstig war, nickte dankbar. »Vino«, sagte der Priester zu dem Bärtigen, der nickte und zurück in Richtung Refektorium verschwand. »Leider haben wir das gesuchte Pigment nicht unmittelbar vorrätig«, bedauerte Pater Domenico. »Aber wir können es beschaffen.« »Es eilt«, drängte Karpow. »Darf ich fragen, warum?« Karpow bezwang sich, nicht auf dem Stuhl herumzurutschen. »Äh, eine Ausstellung über Renaissancekunst. Wir sind mitten in mehreren Restaurierungen, und wir wollen so authentisch wie möglich bleiben.« Der Priester schien ihm zu glauben. Er nickte lächelnd. »Ich gratuliere. Die meisten Museen nehmen heutzutage den Ocker, den sie gerade zur Hand haben. Deshalb haben wir hier keinen vorrätig. Die Nachfrage ist schwach.« »Wo ist er denn?«, fragte Karpow. »Sie werden es gleich sehen«, erwiderte der Priester. Der Bärtige kam mit einer halbvollen Flasche und zwei Weingläsern zurück. Pater Domenico schenkte Karpow Rotwein ein. Der Wein, entschied Karpow, hatte ein vielschichtiges Bukett und bedrängte seine Zunge und Nase mit einem Dutzend verschiedener Empfindungen. Er quetschte ihn mit der Zunge ans Gaumendach, um ihn besser verkosten zu können, bevor er ihn die Kehle hinunterrinnen ließ. Er konnte sich nicht erinnern, je einen solchen Wein genossen zu haben. »Der ist gut«, lobte er. Der Priester lächelte wieder. »Aus einem unserer früheren Weinberge in San Gimignano. Fünfzehn Jahre alt.« Nachdem der Wein ausgetrunken war, führte der Priester Karpow und den Bärtigen durch den Hof des Kreuzgangs, auf den nach Karpows Vermutung die Wohnzellen der Klosterbrüder
hinausgingen. Nach Süden jenseits der Hauptgebäude erstreckten sich ausgedehnte Obstgärten, die er von der Straße aus nicht gesehen hatte. Weit und breit keine Menschenseele. Bis auf ein Standbild der Madonna war der Innenhof leer. »Wo sind«, sagte er, und stockte auf der Suche nach dem richtigen Begriff, »ihre Kollegen?« Der alte Priester lächelte. »Es gibt nur noch wenige. Ein paar arbeiten für die Stadt als Lehrer. Einige sind hier, aber sie sind alt und bleiben in ihren Zellen. Und dann ist da noch Bruder Francesco, den Sie ja kennen.« Karpow nickte. »In Russland haben die Klöster großen Zulauf. Und sind sehr beliebt.« Pater Domenico nickte wieder. »Russland ist ein glückliches Land.« Die drei Männer gingen durch den Hof in den Obstgarten. Zwischen den Bäumen, nach Karpows Vermutung Olivenbäume, standen Marmorsäulen mit eingemeißelten Kreuzigungsszenen. Am anderen Ende der Plantage stieg der Boden allmählich wieder an, bis an die Umwallung des Klosters. Hinter der Mauer ging es steil bergauf, fast wie auf eine Klippe. Und in der Mauer war ein hölzernes Portal. Bruder Francesco zog einen großen Bartschlüssel aus der Tasche und drehte ihn in einem riesigen Vorhängeschloss. Ächzend zog er an der Tür und riss sie auf. Sie standen am Eingang eines Stollens, schon einen Meter hinter dem Eingang war es stockfinster. Bruder Francesco tastete nach einem Schalter. Zwei Glühbirnen flammten auf. Der Stollen, sah Karpow, reichte vielleicht fünfzehn Meter weit in den Berg, und in der grauen Felswand erblickte er einen Streifen Gelb. »Die einzige Fundstätte florentinischen Ockers auf der ganzen Welt«, erklärte Pater Domenico stolz. »Aus diesem Grund wurde das Kloster hier gegründet. Die Kirche kaufte das Land, nachdem das Pigment entdeckt worden war.« »Und nutzte ihr Monopol, um darüber zu bestimmen, was damit gemalt wurde?«, bemerkte Karpow. Diese Art von Zensur war ihm geläufig. Pater Domenico nahm es ihm nicht krumm. Er wiegte den Kopf in verhaltener Zustimmung und lächelte. »Vielleicht.«
Bruder Francesco ergriff einen Pickel von der Wand nahe am Eingang und ging vor ihnen ein paar Meter in den Stollen hinein. Er wandte sich seitwärts, hieb den Pickel in die Wand und löste einen größeren Brocken gelbe Erde heraus. »Quanto?«, fragte er. »Wieviel brauchen Sie?«, übersetzte Pater Domenico. Karpow überlegte. Sie brauchten eine Notreserve. Er hatte sich ausgerechnet, dass zweihundert Gramm genügen müssten, aber mit einem halben Kilo ging er auf Nummer sicher. »Äh, wieviel macht es?« Pater Domenico antwortete nicht gleich. »Es ist immerhin recht selten, und es ist nicht mehr viel davon da«, erklärte er. »Wieviel?« »Tausend Dollar pro Kilo«, sagte Pater Domenico. Karpow ließ sich nicht abschrecken. Wenn Russen eines beherrschten, dann, wie man in Ermangelung von Barem feilscht. Und das Vasari-Fresko würde ihm die Sache erleichtern. »Ich habe da einen Vorschlag«, sagte er zu dem Priester. »Wenn ich Ihr Problem mit der Reinigung des Freskos im Refektorium lösen kann, geben Sie mir dann das Pigment?« Der Priester blickte skeptisch. »Kennen Sie sich mit so was aus?« Karpow nickte. »Zu meinem Arbeitsbereich in der Eremitage gehören auch Mischreagenzien zur Reinigung von Gemälden und Ikonen. Die Probleme bei Ikonen sind ähnlich wie bei Ihrem Fresko. Die russischen Kirchen waren jahrhundertelang voller Weihrauch und Kerzenschmauch.« Pater Domenico sprach mit Bruder Francesco auf Italienisch. Bruder Francesco zuckte in gespielter Gleichgültigkeit die Schultern. »In Ordnung«, sagte der Priester. »Sehen wir uns die Sache an.« Im Refektorium ging Karpow direkt zum Arbeitstisch und ergriff den Eimer mit Bruder Francescos traditionellem Lösungsmittel. »Wein«, erklärte er, »ist nur zum Trinken.« Pater Domenico nickte lächelnd. Bruder Francesco blickte skeptisch. »Ich zeige Ihnen jetzt, wie wir in der Eremitage den Reiniger AB57 nachmachen, den die Japaner bei der Restaurierung der Sixtinischen Kapelle verwendet haben. In Ordnung?« Pater Domenico übersetzte. Bruder Francesco blieb skeptisch. »Haben Sie Backpulver? Salmiakgeist? Fliesenreiniger?«
»Natürlich«, bejahte Pater Domenico. Er flüsterte Bruder Francesco etwas zu, der sofort auf die Suche nach den geforderten Zutaten ging. »Wir gehen in die Küche«, forderte Karpow auf. In der Küche zündete er eine der Gasflammen an und suchte sich einen sauberen Topf. »Mineralwasser?«, fragte er Pater Domenico. »Gelatine?« Pater Domenico rümpfte die Nase. »Leider ja, haben wir. Unser Koch tut sie mindestens einmal pro Woche ins Essen.« Er verschwand in einer Speisekammer und kam mit einem Karton Gelatine heraus. Dem Kühlschrank entnahm er eine Literflasche Mineralwasser. Genau da kehrte Bruder Francesco mit den Reinigungsmitteln zurück. Karpow schüttete das Wasser in den Topf, bis er halb voll war, und drehte die Flamme auf mittlere Stärke. Dann gab er eine halbe Tasse Backpulver, eine viertel Tasse Salmiakgeist hinein und fügte einen Teelöffel Fliesenreiniger hinzu. Bruder Francesco deutete auf den Fliesenreiniger und stellte Pater Domenico eine Frage. Karpow brauchte nicht auf die Übersetzung zu warten. »Schimmelpilze abtöten«, erklärte er, während er die letzte Zutat beigab. Jetzt hatte er ein ekliges, weißes Gebräu, das alsbald zu köcheln anfing. Karpow rührte den Inhalt des Gelatinekartons hinein, ging dann an den Kühlschrank und entnahm ihm alle Eiswürfel. Er drehte die Gasflamme ab, ließ das Eis in den Topf gleiten und rührte alles mit einem hölzernen Kochlöffel um. Nach kurzer Zeit hatte er eine sämige weiße Pampe. Er trug den Topf zurück ins Refektorium, gefolgt von Pater Domenico und Bruder Francesco. Karpow war sich seiner Sache sicher. Die Mischung, die er zusammengebraut hatte, war seine eigene Erfindung, ein harmloser, säurefreier Reiniger, eine improvisierte Version des teuren AB-57, mit dem die Sixtinische Kapelle behandelt worden war, den die Eremitage sich aber nicht leisten konnte. Bei Ikonen funktionierte die Improvisation wunderbar. Er sah keinen Grund für die Annahme, dass es bei Fresken nicht klappen würde. Nur um sicher zu sein, würde er die Verweildauer auf dem Putz verringern und damit sicherstellen, dass sich der Reiniger nicht in die Farbschicht fraß. Er
wusste genau, was passieren würde, wenn er abwusch, und dass sie sehr beeindruckt sein würden. Karpow nahm das Gemisch und trug es mit einem sauberen Pinsel auf einen etwa sechs Quadratzentimeter großen Flecken Fresko auf, ein Stückchen Mantelsaum der Jungfrau Maria. Er sah auf die Uhr und ließ es zwei Minuten einwirken. Dann wusch er das Gelöste mit einem Schwämmchen Mineralwasser von der Wand. Es war, als ziehe jemand in einem abgedunkelten Zimmer ein Rollo hoch. Das Gewand der heiligen Jungfrau, das fast schwarz gewirkt hatte, leuchtete nun in einem frischen Himmelblau, so fein abschattiert, dass Pater Domenico den Faltenwurf beinahe meinte ertasten zu können. Der Priester holte tief Luft und lächelte breit. »Magnifico!«, rief er aus. Sogar der abgebrühte Bruder Francesco schien beeindruckt. Karpow bemühte sich um Bescheidenheit, mit mäßigem Erfolg. »Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte«, griente er. Pater Domenico drückte ihm die Hand. Dann wickelte er den Klumpen Ocker in eine alte Ausgabe des Corriere della Serra und reichte ihn Karpow. »Mit unserem Segen«, sagte er. »Umsonst.« Karpow verbeugte sich. Nadescha Petrowna würde gewiss zufrieden mit ihm sein. Und sogar Ljuba bewunderte ihn vielleicht ein bisschen. Mit etwas Glück, dachte er, konnte er es zurück bis nach Siena schaffen, bevor die Restaurants schlossen.
8 Früh um halb sieben war die Eleventh Street North West noch stockfinster und kalt. Auf seiner Fahrt in den Washingtoner Norden kamen Burke nur wenige Menschen entgegen, die mit den Händen in den Manteltaschen und geduckt vor dem eisigen Wind zur Arbeit strebten. Beim erzwungenen Halt vor einer roten Ampel sah er schon von weitem die Neonreklame vom Florida Avenue Grill blinken, an der Fassade eines ehemaligen Bürgerhauses. Dunkel erinnerte er sich an ein Haushaltswarengeschäft auf dem Grundstück daneben. Das aber war offenbar inzwischen zum Parkplatz planiert und er war heilfroh, nicht irgendwo am Straßenrand parken und zweihundert Meter durch die Kälte laufen zu müssen. Auch war er erleichtert, dass Detective Robinson sich lieber zum Frühstück mit ihm hatte treffen wollen als zu einem späten Abendessen und das Glas so an ihm vorüberging. Im Florida Avenue Grill war er zuletzt Ende der siebziger Jahre ein paar Mal gewesen. Als er die einbruchgesicherte Kneipentür aufstieß, sah er sofort, in den Jahren seither hatte sich hier nicht viel verändert. Der Grill war ein schlauchförmiger Raum mit dem Tresen an der einen Längswand und einer Reihe enger Sitznischen an der anderen. Um diese unchristliche Tageszeit herrschte hier ein Gedränge von Schwarzen in T-Shirts, Baseballkappen und Monteuranzügen. Die Taxifahrer, Heizungswärter und Kanalarbeiter der Hauptstadt. Da sie nie eine Wahl gewannen und auch keine erfolgreichen Rapmusiker oder brutalen Killer waren, nahm die Tribune nicht mal im Lokalteil von ihnen Notiz. Vielleicht hatte Robinson die Kneipe gerade deswegen ausgesucht. Burke setzte sich in eine kakteenumwucherte Nische mit handsignierten Photos berühmter Gäste. Eine schwarze Kellnerin in fleckenlos weiß gestärkter Kittelschürze und rotweißem Käppchen mit gesticktem Kneipenlogo kam sofort vom Tresen herüber. »Was darf’s denn sein, Darlin’?« »Nur einen Kaffee, bitte«, bestellte Burke. Kopf und Magen waren noch überempfindlich von gestern. »Probieren Sie die Hafergrütze«, hörte er Edgar Robinson hinter sich sagen. »Emma, bitte zwei Teller Rührei mit Würstchen und
einen Schlag Hafergrütze, okay?« Das Gesicht der Kellnerin verzog sich zu einem Lächeln. »Morgen, Detective Robinson! Wie gehts uns heute? Kommt alles sofort.« Robinson zwängte sich Burke gegenüber auf die Bank. »Zweierlei darf man sich im Florida Avenue Grill auf keinen Fall entgehen lassen«, erklärte er. »Morgens die Hafergrütze, abends den Grünkohl.« Er bremste sich. »Aber Stammgast sind Sie hier ja wohl kaum.« Burke war mit Sicherheit der einzige Weiße im Lokal. »Endlich weiß ich, weshalb Sie in dem Ruf stehen, Sie folgerten stets so messerscharf«, spöttelte Burke. Dabei war ihm klar, dass er dem Mann besser den Bauch pinseln sollte, aber er konnte einfach nicht anders. Unter Druck wurde er immer sarkastisch. Sein altes Leiden. Robinsons Augenbrauen zuckten, er verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. »Also mit wem soll ich hier eigentlich reden, Mr. Burke?«, fragte er dann und sah dabei beharrlich die Tischplatte an. »Mit einem Zeitungsreporter, einem Zeugen, oder mit einem Hinterbliebenen? Wenn Sie von mir ein Interview zum Fall Morelli wollen, sage ich Ihnen lieber gleich, reden Sie mit dem Pressesprecher vom Präsidium und warten Sie, bis der Ihnen grünes Licht gibt. Aber auch dann rede ich mit Journalisten nicht über eine laufende Ermittlung.« »Es geht mir um Jennifer«, bestätigte Burke. »Also doch Morelli«, nickte Robinson. »Egal. Über laufende Ermittlungen rede ich mit Journalisten nie.« »Außer wenn Sie ein bisschen Publicity wollen«, stichelte Burke. Robinson sah ihm schräg von unten ins Gesicht, und seine Miene verhärtete immer mehr. Wieder fragte sich Burke, warum er das Gespräch von sich aus vermurkste wie ein Volontär, nur weil er sich den Sarkasmus einfach nicht verkneifen konnte. »Ja, außer wenn ich ein bisschen Publicity will«, bestätigte Robinson. »Also von mir aus kann unser Gespräch auch unter uns bleiben«, bot Burke an. »Wie läuft die Sache überhaupt?« Robinson sah Burke bewusst in die Augen. Burke wollte harmlos tun, aber darin war er noch nie gut gewesen.
»Na, wenigstens Ihr Alibi stimmt«, sagte der Detective. »Zum Todeszeitpunkt waren Sie in der Tribune.« Unwillkürlich fühlte sich Burke erleichtert, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen, und nickte bloß. »Wir ermitteln immer noch in Richtung Triebtäter. Die Computer arbeiten das gerade ab. Wir suchen Fälle, deren Tatausführungsmuster sich mit unserem Fall und mit dem in Alexandria deckt.« Burke verkniff sich mit Mühe den Einwand, dass der Computer bei diesem Verbrechen kaum behilflich sein konnte. »Ich frage mich, ob Sie die Filme gefunden haben, oder ihre Notizen.« Robinson blickte undurchdringlich. »Darf ich Ihnen nicht sagen.« »Warum nicht? Ich sage Ihnen doch, das Gespräch bleibt unter uns.« »Weil Sie als Zeuge aufgerufen werden könnten.« »Ach, kommen Sie, Detective. Sie führen doch ständig Gespräche mit potenziellen Zeugen, wenn es Ihnen in die Ermittlungstaktik passt.« »Tut mir Leid«, wies ihn Robinson ab. Aber seinem Tonfall nach tat ihm überhaupt nichts Leid. Er hörte sich eher an, als sei es ihm ein innerer Abgang, Nein sagen zu können. Burke war in Russland so häufig mit diesem Verhalten konfrontiert gewesen, dass er schon fast mit Hautausschlag darauf reagierte. Burke probierte es noch mal anders. »Ich dachte eigentlich, beim Austausch von Informationen wäscht eine Hand die andere.« Robinsons Miene versteinerte. »Wenn Sie uns sachdienliche Hinweise geben können, Mr. Burke, dann halten Sie damit jetzt besser nicht hinter dem Berg.« »Tut mir Leid«, konterte Burke. »Wenn Sie nicht tauschen wollen, sage ich Ihnen lieber gleich, reden Sie mit dem Presseanwalt der Tribune und warten Sie, bis der Ihnen grünes Licht gibt.« Das immerhin quittierte Robinson mit einem dünnen Lächeln. »Okay, der Punkt geht an Sie. Vielleicht können wir doch was tauschen. Was hätten Sie denn zu bieten?« »Also gut«, sagte Burke, »wissen Sie, dass der Direktor der Eremitage vor drei Tagen ermordet aufgefunden wurde?« »Der Eremitage?« »Großes Museum in St. Petersburg.«
»Na und?« »Also nochmals, haben Sie in Jennifers Wohnung irgendwelche Notizen oder Filme gefunden?« Robinson schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Auch keine Fotos. Und aus dem Computer hatte jemand die Festplatte rausgerissen.« »Das war’s dann also«, seufzte Burke. »Was?« »Von Jennifers Mutter weiß ich, dass ihre Tochter bei ihr angerufen hat, aus St. Petersburg, zwei Tage vor dem geplanten Rückflug, und von einem Termin am nächsten Tag erzählt hat, beim Direktor der Eremitage.« »Demselben, der dann umgebracht wurde?« Burke nickte. »Und Sie meinen, es hat was mit dem Knüller zu tun, den sie angeblich für Sie aufgetan hatte?« Burke nickte heftig. »Ja. Ihre Mutter sagt, Jennifer hat in diesem Telefonat nichts von einem Knüller erwähnt. Daraus folgt, dass sie erst tags darauf davon erfahren hat, in dem besagten Gespräch mit dem Direktor. Jetzt ist sie tot, der Direktor auch, und ihre Notizen und ihre Filme sind verschwunden.« Emma kam mit dem Frühstück. Robinson spießte einen Happen Wurst auf die Gabel und kaute hastig. Er wirkte dabei wie jemand, der häufig sein Essen verschlingt. »Und um was ging es dabei Ihrer Meinung nach?« Burke zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« »Ein Knüller, aus einem Museum?«, Robinson blickte skeptisch. »Keine Ahnung«, wiederholte Burke. »Kann ich mir selber kaum vorstellen.« Der Detective schüttelte den Kopf. »Reimt sich alles nicht zusammen«, sagte er. »Erstens, was könnte sie in einem Kunstmuseum rausgefunden haben, was so verdammt lebensgefährlich war? Und zweitens, warum hat der Killer sie so zerschnippelt?« »Und drittens, wieso hat er die Filme und Notizen geraubt?« »Behaupten Sie.« Robinson wirkte fest entschlossen, alles zu ignorieren, was Burke ihm mitgeteilt hatte. »Und was ist mit der Festplatte?« »Vielleicht hat Sie sie selber rausgenommen, um sie reparieren zu
lassen«, mutmaßte Robinson. »Oder jemand hat sie gestohlen, noch in Russland.« »Oder die Zahnfee hat sie geholt und zum Trost einen Vierteldollar dagelassen«, schnaubte Burke. Sie schwiegen sich eine Weile an. Burke probierte sein Rührei. Zu seiner Überraschung waren Eiweiß und Dotter nicht mal richtig verquirlt. Robinson hatte die Hafergrütze auf seinem Teller schon fast weggeputzt, auch die Rühreier waren vertilgt. »Ich wüsste einen Mann in der Verwaltungsspitze von St. Petersburg«, bot Burke an. »Meinen Glückwunsch«, gähnte Robinson und besah sich die Fingernägel. »Ich meine, Sie brauchen doch wohl einen Mann höheren Orts, den Sie um Amtshilfe bitten können.« »Damit er mir Ihre Theorie recherchieren hilft.« Robinson grinste spöttisch. »Warum nicht?« Robinson legte die Gabel weg. »Weil dafür der Dienstweg vorgeschrieben ist. Ich fülle ein Formular aus, an das FBI, wegen dringender grenzüberschreitender Ermittlungen. Die entscheiden dann, ob zu den Strafverfolgungsbehörden des betreffenden Landes Verbindung aufgenommen wird. Wenn das geschehen ist, und die darauf reagiert haben, bekomme ich per Post einen Ermittlungsbericht.« Robinsons Tonfall sagte Burke alles. »Und wie lange dauert so was?« Robinson zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen.« »Wollen Sie überhaupt um Amtshilfe ersuchen?« Robinson wurde offenbar allmählich wütend. »Wenn ich Zeit dafür finde.« »Hinfliegen können Sie wohl nicht?« Robinson schnaubte. »Klar. Ich geh mal rasch zum Spesenschalter, die schieben mir das Geld für den Flug rüber, und los geht’s. Ich hab ja sonst nichts zu tun.« »Ich weiß ja, dass Sie noch andere Fälle haben…«, setzte Burke an. »Ein kleines schwarzes Mädchen, nur sieben Jahre alt geworden. Vor zwei Tagen nebenbei von einem schwarzen Dealer erschossen,
im Vorbeifahren, aus einem Lexus. Hatte zufällig draußen auf der Veranda gespielt. Und eine schwarze Mutter von drei Kindern, letzte Woche von einer Straßenbande umgenietet, nur eine Ecke weiter. Ich weiß sogar, wer’s gewesen ist, aber bis jetzt will partout niemand als Zeuge aussagen. Zur Zeit hab ich siebzehn ungelöste Fälle auf meinem Ermittlungskonto, alles Morde. Wissen Sie, wie viele Morde wir letztes Jahr hier im Bezirk hatten?« »‘ne Menge«, mutmaßte Burke. »Vierhundertundsiebzehn. Und wissen Sie, wie viele wir aufgeklärt haben?« »Bestimmt nicht alle.« »Zweihundertundsiebenundvierzig.« »Ich sag ja nicht, dass Sie Däumchen drehen«, wehrte sich Burke, krampfhaft bemüht, seine weißen Schuldgefühle zu unterdrücken, und die aufsteigende Wut. »Ich sag ja bloß…« »Dass dieser Fall Vorrang hat?« »Nein. Aber dass ich Ihnen einen erstklassigen Ansatz für ihre Ermittlungen liefere, dem Sie nachgehen sollten.« Robinsons braune Augen wurden kalt und ausdruckslos. »Und ich bedanke mich verbindlichst, Sir. Wir werden der Sache nachgehen.« Die Luft über dem Resopaltisch war schwanger mit stummer Feindseligkeit. Auch ohne dass Robinson es ausgesprochen hatte, spürte Burke genau, wie übel es der Schwarze nahm, dass in einer Stadt, in der seine Familie und seine Freunde täglich um Leib und Leben bangen mussten, ein Reporter der Tribune erst dann zu ihm fand, wenn es mal eine Weiße erwischt hatte. Und ebenso klar war ihm, Robinson hatte genau verstanden, was Burke von Bürokraten hielt, die erst einmal Formulare ausfüllen mussten. Und über ihre wechselseitigen Voreingenommenheiten kamen sie einfach nicht hinweg. Burke stand auf und warf einen Zwanziger auf den Tisch. »Danke für das Frühstück.« Robinson schob den Geldschein zurück. »Ist schon geregelt.« Burke konnte sich die Häme nicht verkneifen. »Lassen Sie mal. Geht alles voll auf die Zeitung. Kommt aus unserer Spesenkasse extra für Polizisten.« »Einen Martini«, bestellte Graves. »Mit Zitronenschale.«
»Jawohl, Sir«, sagte der Kellner. »Und Sie, Sir?« »Eistee«, antwortete Burke und schnitt dazu eine Grimasse. Die Augenbrauen des Kellners zuckten kurz in die Höhe, aber das Personal im Restaurant des Jefferson war zu gut geschult, um die geänderten Trinksitten eines Stammgasts zu kommentieren. »Verdammt«, knurrte Graves, »und ich hab mir eingebildet, wenigstens in deiner Gesellschaft kann ich mir das schlechte Gewissen sparen, wegen des Drinks vor dem Mittagessen.« Burke lächelte ergeben. Würde er mit dieser Einladung zum Lunch nicht eine besondere Absicht verfolgen, hätte er Graves reinen Wein eingeschenkt. Aber solche Bekenntnisse würden Graves bestimmt nicht geneigter machen. »Ich muss Antibiotika nehmen«, erklärte er ihm. »Geht mit Alkohol nicht zusammen.« Graves nickte. Die Wahrheit war, dass Burke vor einer Woche drei Jack Daniel’s gekippt hatte, beim Lunch, ganz für sich allein, und anschließend leicht schwankend zurück in die Redaktion getapert war. Gemerkt hatte niemand was. Aber er hatte sich schon lange geschworen gehabt aufzuhören, sobald er solche Symptome an sich beobachtete. Also blieb er jetzt eisern trocken. Schwer gefallen war es ihm seither höchstens ein paar Dutzend Male. Der Kellner kam zurück und stellte die Gläser auf den Tisch. Ohne große Begeisterung drückte Burke Zitrone in seinen Eistee und sah Graves zu, wie er den ersten Schluck von seinem Martini nahm. Wenigstens hatte er keinen Jack Daniel’s bestellt. Er berichtete Graves, was er von Mrs. Morelli, Detective Robinson und aus dem Computer erfahren hatte. Graves hörte zu und nippte dabei an seinem Drink. »Also glaubst du, jemand hat sie umgebracht, wegen einer Sache, die sie in St. Petersburg recherchiert hat?« »Mit hoher Wahrscheinlichkeit.« »Hat die Polizei nicht erklärt, es bestehe ein Zusammenhang mit dem Fall in Alexandria?« »Stimmt«, bestätigte Burke. »Aber meiner Ansicht nach sind die Bullen da auf dem Holzweg.« Graves stellte sein Martiniglas auf die Tischdecke und quietschte mit dem Finger am Stiel auf und ab. »Und?« »Ich will nach St. Petersburg und mich vergewissern.«
»Ich habe schon befürchtet, dass du mir damit kommst«, sagte Graves. »Warum nicht? Sie hat gesagt, sie hätte einen Riesenknüller. Und jetzt, wo sie in Washington ermordet worden ist, fällt es sozusagen unter Recherche für den Lokalteil.« Graves schüttelte den Kopf, wie ein Erwachsener ob der Naivität eines Kindes. »Lass dich mal ein bisschen aufklären, über die Fakten des Lebens. Wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wie das hier läuft, weil du die vergangenen zehn Jahre im Ausland warst.« Er stockte und tat nachdenklich. »Oder waren es die letzten hundert?« »Schieß los«, fügte sich Burke. Er verschränkte die Arme. »Erstens«, Graves streckte den Zeigefinger wie ein Schiedsrichter beim Auszählen eines angeschlagenen Boxers, »haben wir in Moskau ein eigenes Büro. Und da sitzt eine sehr gute Korrespondentin. Müsstest du eigentlich wissen, du redigierst ihre Artikel. Wenn wir in Russland was zu recherchieren haben, fällt das in ihren Bereich. Und wenn ich mich recht erinnere, bist du in deiner Moskauer Zeit ziemlich giftig geworden, wenn dir jemand reinpfuschen wollte.« Burke starrte über Graves Schulter auf eine der englischen Jagdszenen, die den Speisesaal des Hotel Jefferson schmückten. »Die steckt doch über beide Ohren in der Scheiße, die in Moskau am laufenden Band produziert wird. Für St. Petersburg wäre die doch nicht mal dann abkömmlich, wenn sie es selber wollte.« Graves zuckte die Achseln, eine glatte Weigerung, Burkes Einwand gelten zu lassen oder auch nur zu widerlegen. »Zweitens«, fuhr er fort und streckte den Mittelfinger, »hab ich dich als Redakteur eingestellt, nicht als Reporter. Und das war nicht leicht durchzusetzen. Dein fulminanter Abgang bei America Weekly hat keinen vom Hocker gerissen.« »Ich hatte eine Enthüllung, und sie wollten sie nicht drucken«, wehrte sich Burke. »Wenn jeder Reporter, dem wir eine Enthüllung spießen, beleidigt hinschmeißen würde, müssten wir unsere Artikel über das Weiße Haus von den Hausmeistern schreiben lassen«, konterte Graves. »Und Colin, versteh mich jetzt nicht falsch. Als Reporter bist du verdammt gut gewesen. Aber jetzt hast du die vierzig hinter dir und musst kämpfen, damit du trocken bleibst. Leute wie dich
gibt’s wie Sand am Meer.« Burke wurde rot und verzog mürrisch das Gesicht. »Meinst du denn, ich kenne die Finte mit den Antibiotika nicht? Sag ich doch selber ständig«, gestand Graves mit schiefem Grinsen. »Ich bin kein Alki«, wehrte sich Burke. »Glückwunsch. Aber was ich sagen will, es ist Zeit für dich, ein bisschen kürzer zu treten. Bring deine Sachkenntnis aus Russland ein. Hilf mir, das Blatt zu steuern.« Burke seufzte. »Ich hab schon verstanden. Aber ich fühle mich schuldig am Tod dieser Frau. Ich hab sie zu der Russlandreise ermuntert. Ich hab ihr die Anlaufadressen gegeben.« »Und was soll dabei herauskommen, wenn du jetzt selber hinfliegst?« »Weiß ich nicht«, murmelte Burke unsicher, »vielleicht krieg ich raus, was für eine Sensation das war, und damit zugleich, wer sie umgebracht hat.« Da hob Graves die Hände vor die Augen und drehte sich weg, wie vor einem Lichtblitz. »Verschone mich«, flehte er, »der gleißende Schein deiner Gralsritterrüstung blendet mein schielendes Auge.« Genau da kam der Ober zurück, den Bestellblock in der Hand. »Haben die Herren schon entschieden?« Graves prustete los. »Was wir essen? Oder ob wir ihn in die geschlossene Anstalt einweisen?« Das brachte sogar den Ober aus dem Konzept, und er ließ beinahe Block und Bleistift fallen. »Nicht doch«, sagte Graves. »Nur ein kleiner Scherz. Ich nehm das Miesmuschelragout und dazu einen Salat.« »Für mich Forelle blau«, bestellte Burke. »Siehst du«, sagte Graves. »In dieser Beziehung weißt du genau, was gut für dich ist. Warum nicht auch in Bezug auf deinen Beruf.« »Ken, ich finde einfach, ich bin es mir schuldig.« Graves machte eine Gebärde, als müsse er gleich kotzen. »Ogottogott!«, stöhnte er. »Was für ein alberner Seich! Und wo hast du dein edles Streitross untergestellt?« Burke grinste. »In einem Mietstall.« Graves schnaufte ablehnend. »Bedaure, Colin.« »Schön, dann nehme ich eine Woche Urlaub.« Graves schüttelte den Kopf. »So kurz, wie du bei uns bist, hast du
noch keinen Urlaubsanspruch.« »Na schön. Dann muss ich dir eine traurige Mitteilung machen.« »Was denn nun schon wieder?« »Meine Mutter hat es schwer erwischt. In Kalifornien. Ich brauche unbedingt eine Woche frei. Klarer Härtefall.« Graves schnaubte nochmal und gestattete sich den Anflug eines Lächelns. »Du gibst nicht so schnell klein bei, was?« Burke tat verständnislos. »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« »Na gut, hau ab«, gab Graves nach. »Aber für den Fall, dass du ganz aus Versehen in einen Flieger in die falsche Richtung steigst, klär ich dich jetzt lieber gleich über ein paar Dinge auf. Erstens, glaub bloß nicht, dass ich dich decke, wenn du in der Scheiße landest. Da musst du dann alleine durch. Und zweitens, wenn mir Beschwerden kommen von Jill Smithfield aus Moskau, dass du in ihrem Revier wilderst oder dergleichen, dann rotte ich mich hier mit ihren Freunden zusammen und schlag mich nicht auf deine Seite, sondern auf ihre.« »Gebongt«, nickte Burke. »Drittens, Spesen gehen auf dich«, legte Graves nach. »Und zum Schluss, zieh dich bloß warm an. Nach allem, was ich so höre, ist es in Kalifornien um diese Jahreszeit schweinekalt.«
9 Burke blieb sitzen, bis fast alle seine Mitpassagiere nach Moskau, Erdölprospektoren, Unternehmensberater, Sektenprediger und Handelsvertreter, durch die beiden Mittelgänge des Flugzeugs verschwunden waren. Aussteigen wollte er für sich allein. Leicht belustigt merkte er, er ärgerte sich ein bisschen, dass jetzt solche Massen auf Scheremetjewo landen durften, fast wie über einen plötzlichen Ansturm von Schickimickis auf sein neu entdecktes Spezialitätenlokal, das so gar nicht überlaufen und so wunderbar ruhig gewesen war. Aber beim Aussteigen roch es noch genauso wie damals. Beißender Kerosingestank wehte mit der feuchtkalten Luft durch die Spalten der Gangway herein und ließ ihn frösteln. Scheremetjewo hatte noch immer das schummrigste Flughafengebäude der Welt. Die Deutschen hatten es vor der Olympiade von 1980 im Auftrag der Sowjets gebaut, doch die Bauherren hatten neun Zehntel der von den Architekten geplanten Glühbirnen gestrichen. Die übrig gebliebenen verbreiteten ein bedrückend diffuses Licht. Burke musste etwa zwanzig Minuten in einer Menschentraube vor dem Schalter der Passkontrolle ausharren, bis ein Grenzsoldat mit original sowjetmürrischer Miene seinen Pass und sein Visum prüfte und mit dumpfen Schlag den Sichtvermerk hineinstempelte. Weitere dreißig Minuten vergingen mit Warten auf die Koffer, die auf einem Gepäckkreisel auftauchten, der eindeutig für Fluggäste aus Delhi ausgewiesen war. Ob sich die Koffer aus Delhi zum Ausgleich auf dem Kreisel für den Flug aus Frankfurt drehten? Er sah auf die Uhr. Flugverspätungen und die bürokratische Trödelei in Scheremetjewo hatten ihn volle vier Stunden gekostet. Für eine Stippvisite in Moskau mit ein paar Kurzbesuchen war jetzt keine Zeit mehr. Er musste direkt zum Bahnhof, um den Nachtzug nach St. Petersburg noch zu erwischen. Ob die Taxifahrermafia am Flughafen immer noch so raffgierig war wie damals, als mit der Perestroika die Hunde des Kapitalismus soeben von der Kette gelassen worden waren? Ein Mitglied des beherrschenden Taxiunternehmens machte sich an ihn heran, als er das Zollgebäude verließ.
»Taxi?«, fragte der Mann. »Zum Leningrader Bahnhof?«, fragte Burke zurück. »Achtzig Dollar«, verlangte der Taxifahrer frech. »Sie sind ja verrückt«, konterte Burke. »Zwanzig.« Der Fahrer nickte sein Einverständnis. »Probieren kann man’s ja«, kommentierte Burke. Der Krasnaja Strelka, der Nachtschnellzug Roter Pfeil von Moskau nach St. Petersburg, stand zischend und dampfend abfahrbereit. Während Burke seine Koffer über die schwarze Teerfläche zum Ersteklassewagen an der Spitze des Zuges zerrte, war er voll froher Erwartung. Jetzt konnte er acht Stunden lang für sich sein, ohne Anrufe, ohne Anfragen aus anderen Büros, allein mit seinen Gedanken. Er reichte seine Fahrkarte der Schaffnerin, einer fülligen Frau, mit roten Haaren und weißer Bluse, die unter dem Saum ihres grünen Uniformjäckchens hervorquoll. »Tee, sobald es Ihnen möglich ist«. bestellte er. Sie nickte bestätigend. Eine neue Erfahrung, dachte er. Nur noch Tee auf einer Zugfahrt durch Russland. Er quetschte sich mit seinen Koffern an ihr vorbei die Trittbretter in den Wagen hinauf. In seinem Abteil direkt neben dem der Schaffnerin saß noch niemand. Er verstaute seine Koffer, setzte sich, legte die Füße auf die Liege gegenüber und hoffte, sie würde unbesetzt bleiben. Die Sitten der Schiene erheischten, dass Reisegefährten ihren Wodka teilten, und er wollte lieber nicht in Versuchung geraten. Gerade heute Abend nämlich wäre ihm so richtig danach gewesen, sich still und heimlich zu besaufen. Seit Jennifers Tod hatte er sich nicht einmal mehr den Gedanken daran gestattet. Burke war ein Trinker mit konservativen Gewohnheiten. Er trank an heißen Sommertagen Bier, Cognac in kalten Winternächten, zum Abendessen Wein und gelegentlich eine Bloody Mary zum Frühstück. In Russland war er zum Wodkatrinker geworden und hatte gelernt, den Kopf in den Nacken zu werfen und das Gift in einem Zug hinunterzustürzen wie die Russen. Wenn er in Amerika war, trank er am liebsten Bourbon aus Tennessee. Die Schaffnerin kam mit seinem Tee, nach russischer Art in
einem dünnen, zerbrechlichen Glas mit rotem Dekorstreifen, in filigranem Metallkörbchen mit Griff serviert. Burke steckte ihr ein paar Dollar zu. »Bitte bringen Sie ungefähr jede halbe Stunde frischen«, sagte er. Er brauchte ständig etwas, woran er nippen konnte. Er probierte den Tee. Ein Geschmack wie heißes Rostwasser. Er zog seine russische Taschenbuchausgabe der Brüder Karamasow hervor, über der er in den bisher zehn Wochen seines Leseversuchs jedesmal eingeschlafen war. Burke las Dostojewski im russischen Original, genau wie er morgens Liegestützen machte, nicht um des Genusses willen, sondern aus einer Art Pflichtgefühl. Er hatte über dem Atlantik ganze zwei Seiten geschafft, bevor er der Versuchung des Bordfilms erlegen war. Er spürte, wie sich der Zug anruckte, und nahm wieder einen Schluck Tee in der Hoffnung, er schmecke jetzt vielleicht besser. Aber dem war nicht so. »Ah, Bratja Karamasowy. Otschen wnuschitelno«, kommentierte eine Frau aus dem Flur vor dem Abteil. Burke blickte auf. Die Frau im Abteiltürrahmen war wohl nur wenig kleiner als einen Meter achtzig, mit gelocktem, schwarzem Haar, das auf den Rollkragen eines irischen Fischerpullis fiel. Sie trug Jeans, glänzend braune Stiefel und lange Silberohrringe, die frei pendelten, wenn sie den Kopf schräg hielt. Ihr Parfüm roch süß und blumig, aber dezent. Ihr Teint war von tiefem Kakaobraun. Er hatte noch nie eine Schwarze russisch sprechen hören. Er zog die Füße von der Liege gegenüber – sie war offensichtlich ihr zugedacht. »Wnuschitelno ist ein sehr nützliches Wort, finde ich auch immer«, antwortete er. »Es heißt beeindruckend, lässt aber offen, ob es lobend gemeint ist.« Die Frau musste lachen. »Also«, sagte sie, ins Englische fallend, »ich hab mir sagen lassen, Die Brüder Karamasow könne nur ein Muttersprachler im Original lesen.« »Hab ich auch gehört. Aber ich glaube, das ist gelogen.« Sie lachte tief in der Kehle, mit einem Klang, der ihn fast vergessen ließ, dass sie ihn in seinem Alleinsein gestört hatte. Sie trat ins Abteil, warf einen grünen Nylon-Reisesack auf die Bank und reichte ihm die Hand.
»Desdemona McCoy«, stellte sie sich vor. »Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, aber das ist offenbar das Ausländerabteil in diesem Zug, und wir müssen es uns teilen.« Sie bewegt sich so elegant wie ungeziert, dachte er. Burke stand auf und nahm ihre Hand. Kühl und trocken. Der Nagellack dunkelrot, fast braun. »Ich hab überhaupt nichts dagegen. Colin Burke.« Sie legte den Kopf schief. »Schreiben Sie nicht für America Weekly?« »Früher mal«, bestätigte Burke. »Jetzt bin ich in Washington bei der Tribune.« Sie nickte. »Ich habe Ihre Reportagen über Glasnost und Perestroika gelesen, da war ich noch in der Oberschule. Für einen Journalisten kennen Sie sich in Russland offenbar gut aus. Sie waren recht lange in Moskau.« »Danke für die Blumen«, grinste Burke. »Aber Sie hätten erst meine Reportagen über Stalin und Trotzki lesen sollen! Das war meine Glanzzeit.« Sie schenkte ihm ein langsam aufkeimendes Lächeln, das ihm zeigte, dass sie ihn als Gesprächspartner schätzte, und ließ sich im Abteil nieder. Ein kleiner Resopalklapptisch unter dem Abteilfenster ragte etwa einen halben Meter in den schmalen Gang zwischen den beiden Liegen. Sie saßen sich einander so nah gegenüber, dass sich ihre Knie fast berührten. Sie griff in ihre Reisetasche und zog eine Flasche heraus, die sie auf das Tischchen stellte. Rotwein, Château Margaux. »Ohne ein Glas Wein kann ich im Zug nicht einschlafen«, erläuterte sie. »Möchten Sie auch?« Burke zögerte. Dann deutete er auf die braune Neige in seinem Teeglas. »Auf Wein schlafe ich schlecht«, flunkerte er. »Ich trinke gerade Tee. Wollen Sie auch welchen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, bei Reportern gäbe es einen Gewerkschaftsbeschluss, grundsätzlich keinen Gratisdrink auszuschlagen.« »Stimmt«, nickte Burke. »Aber leider gehöre ich inzwischen zu den leitenden Angestellten.« »Na, wie schön für Sie«, sagte sie. Sie wühlte tiefer in der Reisetasche und förderte einen durchsichtigen Plastikbecher und ein Schweizer Armeemesser zutage, von dem sie den Korkenzieher
ausklappte. Sie hatte lange schmale Hände. Und trug keinen Ring. Er nahm den Korkenzieher, als sie ihn ihm hinstreckte und machte die Flasche auf. Als er ihren Becher halbvoll geschenkt hatte, hob er sein Teeglas und prostete ihr zu. Sie stieß sachte mit ihm an. Er konnte den Wein jetzt riechen, und er duftete reif, trocken und sehr fruchtig. Er sog das Aroma ein und war sich der zwangsweisen Intimität für die nächsten acht Stunden in diesem kleinen Abteil plötzlich sehr bewusst. Seltsam, dachte Burke bei sich, wie die Begegnung hier in Russland die Kluft einzuebnen schien, die normalerweise zwischen ihnen bestanden hätte. Amtrak würde wohl nie Männlein und Weiblein, einander wildfremd und von verschiedener Hautfarbe noch dazu, im Nachtzug von New York nach Chicago in ein gemeinsames Schlafwagenabteil pferchen. Und wenn es zufällig passieren sollte, würde es allerseits als Peinlichkeit empfunden werden und hektische Umquartierungsbemühungen auslösen. Der Zug beschleunigte, sie sahen eine Zeitlang schweigend hinaus, wie der Bahnsteig hinter ihnen zurückblieb und eine Reihe dunkler Gebäudesilhouetten und gelegentliche Straßenlampen vorbeihuschten. Nach Mitternacht brannte in Moskau nicht mehr viel Licht. Die wenigsten konnten sich den Strom dafür leisten. Sie setzte sich um, damit sie besser hinaussehen konnte, und stieß dabei mit dem Knie an seines. Nach einer Weile fragte er, wo sie studiert habe, und sie antwortete, an der Columbia-Universität. »Haben Sie Jennifer Morelli gekannt?«, entfuhr es ihm. »Ich glaube nicht«, sagte sie. Burke war erleichtert. »Eine Freundin von Ihnen?« »Ja«, sagte Burke. »Sie hat einen Sommer lang bei mir in Moskau gearbeitet, als Praktikantin. Dann ist sie zur Columbia gegangen, aber das ist wohl doch eine recht große Universität.« Sie sprachen eine Weile über russische Wissenschaftler, die ihnen beiden bekannt waren. Er trank die letzte Pfütze von seinem Tee, blieb unschlüssig sitzen und hoffte, die Schaffnerin möge endlich mit einem frischen Glas hereinkommen, damit er nicht bald sabbernd wie ein Hund auf ihre Weinflasche glotzte. Dann fragte er, was sie in Russland treibe, und sie berichtete ihm von der Kunstgalerie McCoy-Fokine und reichte ihm ihre
Visitenkarte. »Vielleicht haben Sie Fjodor Wassiljew gekannt«, vermutete Burke ins Blaue hinein. »Den Direktor der Eremitage?« Burke nickte. Ihre braunen Augen verdunkelten sich in Trauer. »Ich bin ihm ein paar Mal begegnet. Ausstellungseröffnungen, Empfänge. Wir hatten gemeinsame Freunde, waren aber selber nicht befreundet. Aber ich dachte, er ist ein ganz reizender Mensch, und meine russischen Freunde haben das auch alle gesagt.« Sie erschauerte. »Schrecklich, was ihm zugestoßen ist.« Burke nickte und schenkte ihr Wein nach. Sie nippte nur daran und stellte den Becher wieder ab. »Haben Sie Näheres gehört?«, wollte er wissen. Sie fragte wie nebenbei zurück: »Fahren Sie deswegen nach Peter? Wollen Sie darüber schreiben?« Sie verkürzte den Namen der Stadt wie eine Einheimische. Burke nickte. Sie schwieg kurz und überlegte. »Ich weiß nicht so recht, ob ich es Ihnen sagen soll…« Es klopfte, und die Schaffnerin brachte frischen Tee und verlangte fünfzehnhundert Rubel von jedem, Bettwäschegebühr. Burke, der die Taschen voll Rubelnoten hatte, zahlte für beide. Er wandte sich wieder seiner Abteilgenossin zu und nippte dankbar an seinem Tee. »Was sollten Sie mir lieber nicht sagen?« »Alles bloß Klatsch«, antwortete sie ausweichend. »Sie wissen ja, wie wir Männer so sind«, entgegnete er. »Die reinsten Klatschtanten.« Sie lächelte, wollte ihm aber offenbar immer noch nicht verraten, was sie hatte reden hören. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte sie. »Was kümmert die Washington Tribune ein Museumsdirektor, der in St. Petersburg umgebracht worden ist?« Burke schlürfte Tee und versuchte sich eine plausible Lüge auszudenken. »Unsere Verlegerin«, flunkerte er dann. »Sie hat ihn vor ein paar Jahren getroffen, bei seinem Besuch in der Nationalgalerie in Washington. Sie ist da im Verwaltungsrat. Sie konnte ihn gut leiden. Sie meint… sie versteht das als Beileidsbekundung, glaube ich.
Vielleicht springt was fürs Feuilleton dabei raus.« Desdemona lehnte sich gegen ihr Rückenkissen und verschränkte die Arme. »Also schlachten sie die Leiche aus, damit Sie ihren Artikel kriegen.« Der verächtliche Beiklang in ihrer Stimme verblüffte Burke. »Wie bitte?« »War nicht persönlich gemeint«, sagte Desdemona. »Aber wissen Sie… ich sehe ihresgleichen immer bei CNN. Manchmal bei einer Reportage aus Moskau. Das kenne ich schon aus New York. Ihr wollt nur euer Stück Fleisch. Um was anderes geht es euch nicht.« »Na, passt doch auf Russland wie die Faust aufs Auge, etwa nicht? Aber etwas Wahres ist dran«, räumte Burke ein. »Ich will meinen Namen noch ein einziges Mal auf der Titelseite lesen, bevor ich mein Ego einmotte und in den Ruhestand der Redaktionsarbeit trete.« Sie lachte. »Burke, wenn Sie so weitermachen, mag ich Sie am Ende sogar leiden, obwohl ich ein gebranntes Kind bin, was Presseleute angeht.« »Na, mit falscher Bescheidenheit hab ich meine Interviewpartner schon immer am Besten aus der Reserve gelockt.« Sie musste wieder lachen, schüttelte aber den Kopf. »Bei mir klappt das nicht.« Jetzt war Burkes Neugier geweckt. »Na gut«, sagte er. »Reden wir über etwas anderes. Wie kommen Sie zu dem Vornamen Desdemona?« Sie rollte in gespieltem Entsetzen die Augen. »Alles, bloß das nicht! Lieber verrate ich Ihnen alles, was Sie sonst wissen wollen.« »Dann sagen Sie mir was über Wassiljew.« Sie zögerte. Straßenlampen eines rasch vorbeihuschenden Dorfes ließen Schatten über ihr dunkles Gesicht zucken. »Lieber nicht.« Sie gehörte zu denen, die letztendlich gerne mitteilten, was sie alles wussten, entschied er, aber nicht unter Druck. Wenn er Interesselosigkeit vortäuschte, erfuhr er es am ehesten. »In Ordnung«, lenkte er ein. »Ich geb’s auf.« Er sah auf die Uhr. Es war schon nach eins. »Ich glaube, ich leg mich hin.« Sie trank ihren Wein aus, kramte in ihrer Reisetasche und zog einen blauen Trainingsanzug heraus, der auch zum Joggen geeignet
war, oder für den Fitnessraum. Auf der russischen Eisenbahn allerdings war er das Äquivalent zum Schlafanzug. Nach der Etikette der russischen Schlafwagen war Burke nun verpflichtet, ihr das Abteil zu überlassen und vor dem Klo eine Zigarette zu rauchen. Er empfahl sich, zog die Abteiltür hinter sich zu, stand ein paar Minuten im schmalen Gang herum und sah schemenhafte Telegrafenmasten vorbeihuschen. Dabei überlegte er, was für Klatsch ihr zu Ohren gekommen sein mochte. Ob sie wohl beleidigt über die Art war, wie er ihren Wein abgelehnt hatte? Ob ihr wie ihm durch den Kopf gegangen war, sie könnten hier als Wildfremde im Zug schnell mal leidenschaftlich miteinander vögeln? Wann war er wohl endlich so reif, mit dem Hirn zu denken statt mit den Hoden? Er ging zurück zum Abteil und stellte fest, das Licht war aus und sie hatte sich hingelegt. Im hereinfallenden Mondlicht sah er, sie hatte die mit dem Leintuch zusammengeknöpfte Wolldecke, von den Russen odejalo genannt, bis zum Hals hochgezogen und die Augen geschlossen. Rasch breitete er Leintücher und Decke über die eigene Liege, streifte die Schuhe ab und legte sich angezogen hin. Er trug wie in Russland bei Zugreisen üblich Jeans und Rollkragenpullover, die nicht knittern konnten, wenn er darin schlief. Eine Weile lauschte er dem Tuckern der Räder über die Schienen und wartete, bis es ihn in den Schlaf wiegen würde. Mit tiefer Stimme, offenbar schon im Halbschlaf, ließ sie sich von der anderen Abteilseite vernehmen. »Gute Nacht, Burke«, »Gute Nacht«, wünschte er ihr zurück. Aber sie war noch nicht fertig mit Reden. »Erzählen Sie mal was von sich. Hier im Dunkeln. Ist so schön beichtemäßig.« Er wandte den Kopf und linste über die Fläche des Resopaltischchens zu ihr hinüber. Soweit er erkennen konnte, hatte sie die Augen immer noch geschlossen. »Was wollen Sie denn wissen?« »Also, sind Sie verheiratet? Haben Sie Familie?« »Gewesen«, antwortete er. »Einen Sohn.« »Wie heißt er?« »Sam.« »Und Ihre Ex?« »Barbara.«
»Warum sind Sie geschieden?« Ihre Augen waren immer noch zu, und er fragte sich, warum sie plötzlich bei diesem Thema so wissbegierig wurde. Vielleicht war ihr genau dasselbe in den Sinn gekommen wie ihm. Aber womöglich war es bloß Neugier. Oder sie tastete sich heran, allen Klatsch preiszugeben, den sie über Wassiljew vernommen hatte. »Mit mir war schwer auszukommen«, sagte er. »Jede Wette«, antwortete sie. Sie wälzte sich auf ihrer Liege und drehte ihm den Rücken zu. »Manchmal kommt es halt so«, sagte er und starrte dabei an die Abteildecke. »Wir sind uns auf dem College begegnet und hatten eine schöne Zeit miteinander. Wir waren beide ein bisschen alternativ. Gelebt haben wir in einer großen Wohngemeinschaft. Wir haben am Daily Californian mitgearbeitet und Leitartikel gegen den Krieg geschrieben.« Er fragte sich, ob sie wohl wusste, gegen welchen, dachte sich dann aber, so unbeleckt könne sie nicht sein. »Nach dem Examen wurde sie Lehrerin, und ich schrieb für das Szeneblättchen Berkeley Barb. Wir haben geheiratet als sie schwanger wurde, und dann war das Kind da. Irgendwann wollten wir aber beide einen richtigen Beruf. Ich hab mich bei der Oakland Tribune beworben, und sie hat ein Jurastudium angefangen. Sie hat sich oft beschwert, ich sei für sie und Sam zu selten da. Damals hab ich manchmal Tag und Nacht durchgearbeitet. Ich hab mich gewehrt, das mit dem Jurastudium und dem Kind dazu sei schließlich ihre Idee gewesen. Am Ende ist sie dann ausgezogen. Ich war nur noch sauer, und so hab ich mich so weit wie möglich wegbeworben, zur Tribune in Washington. Und von dort dann ins Ausland. Sie ist wieder verheiratet, mit einem Anwaltskollegen, die BMWs kaufen sie sich im Partnerlook. Meinen Sohn seh ich ein paar Wochen im Sommer, und ich schick ihm Schecks.« Er merkte, er hatte ihr viel mehr erzählt als sie hatte wissen wollen. Warum wohl? »Und seither führen Sie also ein wildes Junggesellenleben? Jede Nacht eine andere?« Er hatte allerhand Frauen gehabt, dachte er, nicht so viele, wie er hatte haben wollen, und mehr, als er gebraucht hätte. Weitaus öfter aber hatte er nachts allein gelegen. »In etwa«, antwortete er.
»Schade, dass Ihre Ehe schief gegangen ist«, bedauerte sie. »Meine eigene Schuld«, bekannte er. »Ich glaube, Sie sind zu hart zu sich selbst«, antwortete sie aus der Dunkelheit. »Danke.« »Aber wahrscheinlich war es wirklich schwer, mit Ihnen zusammenzuleben«, setzte sie hinzu. Er lächelte im Dunkeln. »Und jetzt müssen Sie mir sagen, warum Sie Desdemona heißen«, forderte er sie auf. Weil sie gegen die Abteilwand sprach, klang ihre Stimme ein wenig dumpf. »Meine Mutter war Lehrbeauftragte für englische Literatur.« »Ach so«, sagte er. »Wahrscheinlich darf ich mich sogar glücklich schätzen«, fuhr sie fort, »dass sie mich nicht Ophelia getauft hat.« Burke musste lächeln. »Wenn ich verspreche, Sie nicht Ophelia zu nennen«, sprach er ins Dunkel hinein, »erzählen Sie mir dann, was Sie über Wassiljew gehört haben?« Kurzes Schweigen. Bei ihrer Antwort blieb sie mit dem Gesicht zur Wand gekehrt. »Na gut«, gab sie nach. »Es heißt, Wassiljew sei schwul gewesen. Und ein anderer Schwuler habe ihn umgebracht.« »Warum?« »Eine Art Liebesdrama, nach allem, was ich gehört habe.« »Haben Sie auch gehört, wer es gewesen ist?« »Nein.« Er setzte sich schweigend auf und erwog, was sie ihm mitgeteilt hatte. Das war nur schwer mit Jennifer Morellis Ermordung in Washington in Verbindung zu bringen. »Darf ich fragen, woher Sie das haben?« Sie drehte sich zu ihm um und streckte ihm die Handfläche entgegen, wie abwehrend. Er konnte den Umriss im Mondlicht von draußen erkennen. »Bedaure. Das verrate ich nicht, und wenn Sie mir Bambussplitter unter die Fingernägel treiben. Sie sind doch der Starreporter. Bestimmt finden Sie das selber heraus.« Er spürte, es war ihr ernst damit. Dann war wie auf Knopfdruck das blasse Mond- und Sternenlicht weg, und das Tuckern der Räder und das Heulen des Fahrtwinds klangen anders und gingen in Dröhnen über.
Sie drehte den Kopf zum Fenster und versuchte hinauszusehen. »Was ist denn jetzt los?«, fragte sie. »Ein Tunnel«, antwortete er. Sie drehte sich wieder mit dem Gesicht zur Wand. »Das ist der Beweis«, sagte er. »Der Beweis wofür?« Sie klang schläfrig. Er seufzte leise. »Dass ein Zug, der in den Tunnel fährt, manchmal wirklich nur in den Tunnel fährt.« Sie musste lachen.
10 Charles Hamilton Merrill blickte auf die Weidefläche hinaus, die er aus seinem Schlafzimmerfenster sehen konnte, und musste wieder staunen, dass eine der zehn besten privaten Kunstsammlungen der Welt an einem derart entlegenen Ort gelandet war. Er befand sich seines Wissens irgendwo im Hinterland von Kolumbien, eine Flugstunde mit einem kleinen Privatjet in südwestlicher Richtung von Bogota entfernt. Seine Begleiter hatten allerdings kein Bedürfnis verspürt, ihm die Koordinaten zu nennen. Und er hätte es nicht besonders schlau gefunden, sich danach zu erkundigen. Merrill nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, die vor ihm auf einer Damasttischdecke von so schwerer Qualität stand, dass sie sich wie Moosgummi anfühlte. Der Kaffee war hervorragend, und er lächelte selbstzufrieden. Guter Kaffee war das Mindeste, was er in dieser Ecke der Welt erwarten durfte. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich eine grasende Büffelherde bewegte, etwa eine Meile entfernt, und er ließ das Auge erneut über die Hazienda schweifen, die sich vor ihm ausbreitete. Gemälde waren nicht die einzigen ausgefallenen Sammlerstücke seines Gastgebers und Klienten. Auf der Hazienda lebten, wie ihm auf Anfrage höflich mitgeteilt worden war, siebzehn afrikanische, asiatische und nordamerikanische Wildtiere mit zwölftausend Quadratkilometern freiem Auslauf. Er hatte Zebras, Giraffen und mehrere Arten kleinerer Huftiere gesehen, die er nicht hätte benennen können. Es klopfte, und eine Dienerin trat ein, eine gedrungene Frau in einem Kleid aus selbstgewebtem Leinen und einer weißen Bluse. »Don Rafa«, sagte sie, und zeigte dabei erst nach unten und dann auf Merrill. Er begriff, dass nach seiner Person verlangt wurde, nickte und zog sein Jackett an. Sie reagierte mit einem breiten Grinsen und zeigte dabei statt der Zähne fast lauter schwarze Stummel. Er folgte ihr hinaus in einen weitläufigen Innenhof. Rafael Santera Calderons Landsitz was so etwas wie eine Kreuzung aus traditioneller iberoamerikanischer Hazienda, Bunkerfestung und einem der Atriumhotels, mit der die Amerikaner derzeit ganz Europa
und Asien verschandelten. Das Gebäude war ein gigantisches, innen offenes Rechteck mit mindestens vierzig Zimmern, Wänden aus halbmeterdickem Beton, Stuckputz und rotem Ziegeldach. Im Innenhof gab es einen Garten, einen Mini-Regenwald mit Brunnen und einem Halbdutzend Palmen. Holzveranden waren den Außenwänden vorgehängt, und Männer in Tarnanzügen, wohl geölte schwarze Maschinenpistolen über der Brust, schliefen dort nächtens in Hängematten zwischen den Stützen. Merrill fand seinen Gastgeber allein am Kopf des langen Glastisches im Speisesaal vor. Er las gerade im Wertgutachten. Die Inneneinrichtung war ein Mischmasch aus spanischen Antiquitäten, Glas, Chrom und Gemälden aus der Zeit der Renaissance. Im Speisesaal hing Tintorettos Anbetung der drei Könige von 1552, bekannt für das Spiel von Licht und Schatten in der Maltechnik, später von Rembrandt übernommen und nach Ansicht mancher Kritiker, aber nicht aller, sogar verbessert. Den Ankauf durch Santera hatte Merrill 1991 eingefädelt, für sieben Millionen Dollar. In dem Wertgutachten, das sein Mäzen gerade beim Frühstück las, wurde das Gemälde auf zehn Millionen taxiert. Er berichtete seinen Kunden gern, ihre Gemälde seien im Wert gestiegen, auch wenn sowohl die Festlegung des damaligen Kaufpreises als auch die jetzige Nachbewertung auf derselben nebelhaften Grundlage fußten, nämlich auf Charles Hamilton Merrills anerkanntem Expertentum. Besonders gern arbeitete er so, wenn ein Klient im Begriff war, einen erneuten Großkauf zu tätigen. Allerdings hatte er noch mit keinem aus seiner Klientel ein Geschäft in der Größenordnung abgewickelt, wie er es jetzt mit Rafael Santera vorhatte, und seine Kunsthändlerkollegen ebenso wenig. Sofern Santera irgendwelche Zweifel an Merrills Wertgutachten hatte, wusste er sie gut zu verbergen. Heute trug Santera einen cremefarbenen Anzug, und dazu eine grelle Krawatte in grau und orange. Der stämmige Mann mit seinem grauen, streng nach hinten gekämmten Haar wäre mit seinem blassen, verwaschenen Teint fast ein Herr gewesen, hätten seine hellbraunen Augen nicht einen Deut zu eng beieinander gestanden. Das Gebiss, das er jetzt in einem strahlenden Lächeln aufblitzen ließ, kam Merrill zu ebenmäßig und schneeweiß für ein eigenes vor. Wahrscheinlich die Schöpfung eines Prominentenzahnarztes in Miami.
Santera stand auf und verbeugte sich bei Merrills Eintreten. Er hob das Gutachten hoch und wies mit einer Kopfbewegung darauf. »Hervorragende Arbeit, mein Freund«, lobte er. »Freut mich sehr. Heute muss ich Ihnen ein paar Dinge zeigen, in Cali.« Merrill nickte bescheiden. Santera hatte Grund zur Freude. Seine Gemäldesammlung war nach dem Gutachten hundertfünfundsiebzig Millionen Dollar wert. Merrill nickte mehrfach, als sein Gastgeber sich erkundigte, ob er gefrühstückt habe und mit zu einer Besprechung nach Cali fahren wolle. Wenig später saß Merrill auf dem Rücksitz einer riesigen schwarzen Karosse in Pontonform, die innen durch eine Klimaanlage auf zwanzig Grad heruntergekühlt war, und verweigerte höflich das von Santera angebotene Perrier. Der Chauffeur, durch eine Glaswand von ihnen getrennt, ließ den Motor laufen, bis vier weitere Fahrzeuge, die Merrill für irgendwelche Jeeps oder Landrover hielt, sich vorn und hinten eingereiht hatten. Die Männer darin, stellte er fest, trugen allesamt Tarnanzüge und hatten die gleichen Maschinenpistolen wie das Wachpersonal auf den Veranden. Auf ein Zeichen, das Merrill nicht mitbekommen hatte, setzte sich die Kolonne in Bewegung. »Wie weit ist es von der Hazienda bis Cali?«, erkundigte sich Merrill. Santera lächelte gönnerhaft und verzichtet diesmal darauf, seine unglaublich ebenmäßigen weißen Zähne zu blecken. »Meinen Sie von der Einfahrt aus, oder vom Haus?« Sein Englisch war beinahe akzentfrei, doch hatte er Lücken im Wortschatz. Merrill hatte gehört, er habe sich vor Jahrzehnten ein paar Semester auf einem amerikanischen College herumgetrieben. Vermutlich hatte er nur soviel von der Sprache gelernt, wie er fürs Geschäft brauchte. »Beides.« »Vom Haus sind es vierzig Meilen. Von der Einfahrt noch zwanzig.« Merrill hob die rechte Augenbraue. Seiner Erfahrung nach reagierten seine Kunden empfänglicher, wenn er so tat, als beeindrucke ihn ihr Wohlstand nicht. Das galt besonders für Neureiche.
Sie kamen hügelab an der Landebahn vorbei, wo ein Jet, eine Gulfstream IV, weiß in der Sonne glänzte. Daneben stand ein Hubschrauber, viel größer und bedrohlicher als die filigranen Rotorvögel, wie sie manche von Merrills anderen Klienten flogen. Unter dem hier hingen Raketenwerfer. Merrill fragte sich, warum sein Gastgeber sich den Ausflug nach Cali nicht damit abkürzte. Aber vielleicht wollte er auch unterwegs noch reden oder renommieren. Hinter der Landebahn kamen sie in einen Streifen dichten Dschungels, etwa eine Meile breit, und fuhren dann in eine sanft gewellte grüne Ebene, nahmen eine Kurve und machten eine Vollbremsung. Merrill spähte durch die gläserne Trennwand und die Windschutzscheibe und konnte plötzlich seine blasierte Pose nicht mehr halten. Die Kinnlade klappte ihm herunter. Eine kleine Elefantenherde, alles in allem etwa ein Dutzend, blockierte die Straße. Einige rupften Zweige von den Bäumen, andere trotteten gemächlich dahin. Einer der größten, ein Bulle von bestimmt nicht weniger als fünf Metern vom Rist bis zu den Zehen und mit mindestens meterlangen fleckigen Stoßzähnen, hatte sich umgewandt und beobachtete die Kolonne, wie Merrill schien, mit misstrauischen Blicken. »Elefanten?«, vergewisserte er sich bei Santera. Sein Gastgeber zuckte die Achseln. »Meine Frau wollte welche.« Der Fahrer des Spitzenfahrzeugs sprang heraus und rannte zu seinem Kofferraum. Er riss die schwarze Klappe auf und holte ein langes, olivgrünes Rohr mit einer Messingspitze am Ende hervor. Sah aus wie eine stilisierte, konisch verjüngte Ananas. Dann merkte Merrill, das Rohr hatte Schulterstütze, Abzug und Visier. Eine Art Granatwerfer. Der Mann wandte das Gesicht fragend zu Santera, der das Fenster heruntergefahren hatte und nickte. Dann ging der Mann etwa auf fünfzig Meter Abstand zu dem Bullen in Stellung und ließ sich aufs rechte Knie nieder. Auf ein Signal des Mannes hin gaben seine drei Kollegen im Spitzenfahrzeug Warnschüsse ab und fuchtelten wild mit den Armen. Der Riese wirkte bloß verdattert und rührte sich nicht von der Stelle. Dann patschte es wie von einem Knallfrosch, zischte raketenartig, und Merrill sah, wie es den Mann mit dem Werfer nach hinten riss.
Einen Lidschlag später verschwand der Elefantenbulle in einem grellen Explosionsblitz und einer Rauchwolke. Als sich der Qualm verzogen hatte, blockierte das Tier immer noch die Straße, aber jetzt mit einer klaffenden Wunde mit Schmauchrändern am Hals, die säulenartigen Beine abgespreizt. Und über den schwarzen Asphalt blubberte rot eine riesige Blutlache. Die übrige Herde war in Panik ostwärts geflohen. Merrill wurde schlecht. Nur mit Mühe konnte er den Brechreiz unterdrücken. »Warum?«, fragte er Santera. Der Hals war ihm trocken, und seine Stimme klang rauh. Santera zuckte die Achseln. »Alles ersetzbar.« Eine Stunde später fuhr die kleine Kolonne bergab durch die Außenbezirke von Cali, durch Barrios aus Betonhütten mit Wellblechdächern und jauchigen Rinnsteinen. Männer und Frauen in luftiger Baumwollkleidung standen in Gruppen unter Palmen an Straßenecken. Überall tummelten sich Kinder in kurzen Hosen, TShirts und Sandalen aus Reifengummi, alle ungewaschen, mager und braunhäutig, wie es Merrill vorkam. Santera wies nach links, wo Flutlichtmasten um ein riesiges Stadion gen Himmel ragten. »Dort spielt meine Hausmannschaft«, erklärte er. »Sind sie auch Fußballfan?« »Nicht besonders«, antwortete Merrill abwesend. Obwohl es im Auto immer noch kühl war, war die Luftfeuchtigkeit hügelab in die Stadt ständig gestiegen, und er spürte, wie ihm das Hemd am Rücken klebte. Santeras Miene verfinsterte sich. »Fußball ist meine Leidenschaft«, versetzte er barsch. Merrill merkte, er musste nachbessern. »Ein toller Sport, wenn man es recht bedenkt. Als ich noch jünger war, hab ich mit Begeisterung Fußball gespielt. Aber diese Schlachtenbummler von heute – die sind mir zuwider.« Santera nickte weise. »Ich habe davon gelesen. Aber meine Fans benehmen sich einwandfrei.« Merrill verkniff sich die Bemerkung, er könne sich schon denken, warum. Er lächelte. Der Fahrer bog rechts ab und sie fuhren an einem langgestreckten Ziegelgebäude mit Zaun und Einfahrtstor vorbei.
»Meine Schuhfabrik – die besten Schuhe der westlichen Hemisphäre«, sagte Santera. Er machte eine Pause. »Hoffentlich stört es Sie nicht, wenn ich Ihnen ein wenig von meiner Stadt und meinen Unternehmen zeige.« »Im Gegenteil«, beeilte sich Merrill zu versichern. »Es ist faszinierend. Ich habe Ihnen ja auch meine Stadt gezeigt.« Santera war in London gewesen, um die zwei vorigen Gemälde zu inspizieren, die er über Merrill gekauft hatte, einen Tizian und einen Velasquez. Vor Merrill hatte er seine Kunstwerke ausschließlich durch Strohmänner ersteigert. Sie fuhren an einem Funkgebäude vorbei – Santeras Radio- und Fernsehsender. Und dann am weißen Büroturm einer Ölgesellschaft – gleichfalls zu Santeras Besitz gehörig. Nach einer Weile fragte sich der Engländer, warum Santera diese Besichtigungsfahrt durch sein legales Geschäftsimperium für ihn veranstaltete. Santera machte sich doch hoffentlich nicht vor, sein Gast wisse nichts über die wahre Herkunft seines Reichtums, egal, in was für saubere Branchen er inzwischen investiert haben mochte. Schließlich hatte sogar die Financial Times Santeras Konterfei abgedruckt und ihn als Führungsfigur des Kokainkartells von Cali ausgemacht. Santera musste längst klar sein, dass seinem Kunsthändler nur eines wichtig war: ob die Schecks gedeckt waren – und nicht, aus welchen Quellen das Geld stammte. Und bisher waren noch alle Schecks anstandslos zugebucht worden. Warum war es Santera so wichtig, was er von ihm hielt? Der Wagen bremste und hielt. Sie befanden sich in einem Stadtteil voller pieksauberer, weiß verputzter Bungalows mit roten Ziegeldächern und kleinen Rasenflächen davor. Hier und da funkelte ein Toyota oder Ford in der Auffahrt. Weder Eigenheime noch Autos schienen älter als ein Jahr, auch der Asphalt unter den Rädern der Limousine nicht. Die Hochhäuser der Innenstadt von Cali ragten kaum eine Meile entfernt empor. Die Männer stürzten aus dem Führungsfahrzeug und bildeten einen Halbkreis, die Waffen schussbereit. Merrill fühlte sich an einen Vietnamfilm erinnert, an amerikanische Soldaten bei der Sicherung eines Dorfs. Santera schwieg, bis der Bewaffnete neben dem Fahrer ausgestiegen war und ihm den Schlag aufgerissen hatte. Der Chauffeur stieg ebenfalls aus und machte Merrills Wagentür auf.
»Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht, wo ich herkomme«, sagte Santera. Merrill nickte. Er fühlte sich immer unbehaglicher. »Selbstverständlich«, nickte er und stieg aus. Die heißfeuchte Tropenluft umfing ihn wie in einer Dampfsauna, und er spürte, wie ihm binnen Sekunden die Schweißtropfen auf die Stirn traten. Sein Anzug, dachte er, würde bald durchgeschwitzt sein und das Toupet ihm am Kopf kleben. Er trat zu Santera vor die Limousine. Der Kolumbianer deutete auf einen kleinen Bungalow auf der anderen Straßenseite. »Dort drüben bin ich auf die Welt gekommen«, erklärte er. »Natürlich war es damals nur eine Hütte. Ohne fließend Wasser. Gestampfter Lehmfußboden. Im Winter pfiff der Wind durch die Löcher in der Wand. Einige in meiner Familie meinten, ich solle die Hütte stehen lassen, als eine Art Gedenkstätte.« Santera lächelte. »Aber so unbescheiden bin ich nicht.« Merrill nickte, schwer damit beschäftigt, eine freundschaftlich beeindruckte und gläubige Miene zu machen. »Vor ein paar Jahren hab ich sie abreißen lassen, als ich das Wohngebiet hier bauen ließ. Ein paar von meinen Angestellten wohnen hier. Nach drei Jahren bei mir gewähre ich ihnen eine zinslose Hypothek.« »Sehr großherzig«, lobte Merrill. Santera blickte erfreut. Zwei Dutzend Kinder umwimmelten sie jetzt. So weit Merrill sehen konnte, waren sie genauso angezogen wie die Kinder in den Elendsquartieren, aber sauberer. Sie hielten respektvollen Abstand vom Ring der Leibwächter. »Don Rafa«, rief ein Junge in einem T-Shirt mit dem Aufdruck Dallas Cowboys und fügte etwas auf Spanisch hinzu. Einer der Leibwächter sah zu seinem Chef her, und Santera nickte gutmütig. Auf ein Zeichen, das Merrill nicht bemerkt hatte, drängten die Kinder nach vorn und umschwirrten ihren Wohltäter wie kleine Vögel den Futterspender. Ein anderer Leibwächter überreichte Santera ein Leinesäckchen. Er fasste hinein, zog eine Handvoll Silbermünzen heraus und verteilte sie dann mit breitem Lächeln ringsum, bis jedes Kind eine hatte. Immer noch lächelnd gab er auch Merrill eine. »Andenken an Cali«, sagte er dazu. Merrill besah sich die Münze.
Ein Silberdollar. Merrill drehte die Münze um, stutzte, sah sich die Rückseite genauer an und nahm dies dankbar zum Vorwand, seinen Gesichtsausdruck zu verbergen. Der Charakter des Menschen, fiel ihm ein, ist doch von unendlich rührender Komik. Der Mann da besaß eine Gemäldegalerie, die inzwischen mindestens hundert Millionen Dollar wert war – mit seinem Wertgutachten hatte er nicht einmal so sehr übertrieben – und das Kapital, ein Vierfaches davon anzulegen und die teuerste Privatsammlung der Welt daraus zu machen. Er verfügte über genügend Rüstungsgüter und Soldaten, um einen Kleinstaat zu erobern, und hatte vermutlich direkt oder indirekt mehr Menschen zu Tode gebracht als die Menschheitsgeißel AIDS. Und trotzdem hatte er das dringende und neurotische Bedürfnis, sich vor seinem Kunsthändler in Szene zu setzen. Und lechzte nach Lob und Anerkennung bei dieser Besichtigung. Merrill war sonnenklar, dass er sich unbedingt jedes ironische Lächeln verkneifen musste. Wieder im Wagen, verflüchtigten sich durch die Klimaanlage allmählich die Schweißtröpfchen auf Merrills Stirn, und diesmal nahm er dankbar die Limonade an, die ihm Santera anbot. Seinem Gastgeber, stellte er fest, war überhaupt nicht anzumerken, dass er draußen in der Schwüle gewesen war. Keine Spur von Schweiß auf der Haut, auch die Haare klebten ihm nicht am Kopf. Merrill fragte sich kurz, wer wohl seine Vorfahren gewesen sein mochten. Die Spanier, die er kannte, schwitzten alle, zumindest auf Mallorca. Der Mann neben ihm hatte mit Sicherheit Indioblut in den Adern. »Meines Wissens haben Sie doch in Cambridge studiert«, sagte Santera plötzlich, und Merrill wurde schlagartig hellwach. Er hatte nie etwas von Cambridge erwähnt. Das war nie ein Thema gewesen. Santera hatte offenbar Nachforschungen angestellt, und Merrill machte sich klar, dass sein Gegenüber mit allen Wassern gewaschen war, so unsicher er in anderer Hinsicht auch auftreten mochte. »Ja, warum?« »Kennen Sie den Historiker Nigel Hamilton?« Merrill hätte nicht verblüffter sein können, wenn Santera ihn gefragt hätte, ob er mit Boy George näher bekannt sei. »Schon. Aber nur flüchtig. Eine Zufallsbekanntschaft aus der Bibliothek, oder so ähnlich. War in Cambridge auf einem anderen
College, Sie wissen schon.« Santera nickte. »Verstehe.« Merrills Neugier gewann die Oberhand. »Warum fragen Sie?« Santera veränderte die Sitzhaltung und saß jetzt bolzengerade. »Ich wüsste gern, was er derzeit für einen Ruf hat.« Merrill war ratlos. Er erinnerte sich dunkel an ein erfolgreiches Buch über Präsident Kennedys Jugend. Selber fand er Politik langweilig, und er hatte es nicht gelesen. »Einen recht guten, würde ich sagen. Sein Buch über den jungen Kennedy war ziemlich erfolgreich, wenn ich mich recht entsinne.« »Es ist angekommen?« Santera wirkte ernsthaft verärgert. »Soweit ich mich erinnere, schon«, bestätigte Merrill und grübelte, worauf Santera wohl hinauswollte. Instinktiv machte er einen Rückzieher. »Aber vielleicht täusche ich mich. Das ist nicht mein Fachgebiet. Was halten Sie von dem Buch?« Santera verzog angewidert das Gesicht. »Schrott!« »Warum?« »Übler Tratsch, sowohl über den Sohn als auch über den Vater. Er schreibt dauernd, Joseph sei ihm ein schlechter Vater gewesen, und zitiert trotzdem einen Brief nach dem anderen, den der Vater dem Sohn ins Internat geschrieben hat! Hätte ein schlechter Vater so viele Briefe geschrieben?« Jetzt blickte Merrill endlich durch. Ja, das musste es sein. »Nun«, begütigte er mit einem wohldosiert schuldbewussten Lächeln, »ich fürchte, wir Briten haben nie so recht verkraftet, wie Botschafter Kennedy die Vereinigten Staaten neununddreißig und vierzig aus dem Krieg herausgehalten hat. Da sind wir wahrscheinlich voreingenommen. Soweit mir bekannt ist, erfreut sich Joseph Kennedy in den Vereinigten Staaten allgemeiner historischer Wertschätzung. Dort wird dieses Buch als Versuch eines britischen Stubengelehrten betrachtet, einen großen Mann mit Schmutz zu bewerfen.« Genau ins Schwarze. Santeras Stirn glättete sich, und er lehnte sich wieder bequem zurück. Merrill beglückwünschte sich im Stillen zu seiner Menschenkenntnis. Im Kunsthandel war sie entscheidend, mindestens so wichtig wie Kunstverstand. Bestimmt einer der Faktoren, warum die Kunstgalerie Merrill so blendend lief. Selbstverständlich reagierte Santera mit Wut auf Hamiltons
Attacke gegen Joseph Kennedy. Der war sozusagen sein Vorbild als Gründer einer Dynastie, der mit Alkoholschmuggel während der Prohibition illegal ein Riesenvermögen zusammengerafft, es legal investiert hatte und am Ende mit seinen Söhnen geehrt und bewundert da stand. Santera hatte einen Sohn, erinnerte sich Merrill, und der studierte in Harvard. Genau das war es gewesen. Die Fahrzeugkolonne rauschte jetzt durch die Innenstadt von Cali, und Merrill sah wieder hinaus. Was da als Kulisse vorbeizog, überraschte ihn angenehm. Zwar hatte er nicht gerade in Schlaglöchern sandbadende Hühner erwartet, doch auf eine Niederlassung von Daimler-Benz war er nicht gefasst gewesen. Aber da stand sie, und daneben eine für Acura und Lexus, dazwischen Luxusgeschäfte von Hermes und Gucci, und Restaurants und Cafés mit leuchtend roten Sonnenmarkisen über Tischen und Stühlen im Freien. In Cali saß eindeutig Geld. Bestimmt ließ sich da ein Vermögen machen, wenn man eine ordentliche Kunstgalerie eröffnete und das Bedürfnis der Neureichen nach Zurschaustellung ihrer Kultiviertheit stillte. Aber dergleichen würde er nicht nötig haben, dachte Merrill befriedigt. Nach diesem Geschäft würde er allerhand Schulden abzahlen können und nur noch mit Leuten und Bildern zu tun haben, die ihm zusagten. Die Wagenkolonne bog nach rechts in eine Straße mit dem Schild Avenida de Colombia ab und bremste neben einer hohen Betonwand vor einem Torhaus mit Schießscharten. Augenblicklich schwang das Tor langsam auf, von einem unsichtbaren Motor angetrieben. Zugleich senkten sich drei Betonpfeiler, die wie Stalagmiten die Einfahrt blockiert hatten, geräuschlos in den Untergrund. Die Kolonne fuhr ein und hielt vor einem langen, vielleicht drei Stock hohen Betonbau mit einer kleinen Veranda und gläsernen Türen. Die Männer aus den Begleitfahrzeugen vor der Limousine sprangen heraus und hasteten zurück, um die Wagenschläge aufzureißen. »Mein Büro«, erklärte Santera und lächelte dazu, sichtlich erwartungsvoll. Sie gingen hinein, an einer Dreiergruppe von Türhütern vorbei, die sich von den Männern in den Begleitfahrzeugen nur insoweit unterschieden, dass alle graue Zweireiher trugen. Ein paar Frauen saßen in Büros und tippten, aber der Bau wirkte funktionslos und fast menschenleer. Merrill wunderte sich nicht allzusehr, als sie in
einen Aufzug stiegen und einer der Männer im Zweireiher den Abwärtsknopf drückte. Der Aufzug sank eine ganze Weile; Merrill hatte keine Vorstellung, wie weit, doch offensichtlich ging es in einen Tiefbunker. Sie stiegen in einem Untergeschoss aus und befanden sich offenbar in Santeras Unternehmenszentrale. In fensterlosen Büros konnte Merrill telefonierende Männer auf spanisch diskutieren, verhandeln und brüllen hören. Santera führte ihn in einen holzgetäfelten Saal mit einem langen Konferenztisch aus Mahagoni. Auf diesem stand ein weißes Architektenmodell eines Gebäudes im Stil Edward Durrell Stones, dessen Arbeiten dank des dilettantischen Architekturverständnisses seiner königlichen Hoheit Prinz Charles in Großbritannien schon lange nicht mehr gefragt waren. Es war niedrig, fast geduckt, mit einem Flachdach, das von einer halbkreisförmigen Palisade schmaler Bronzesäulen irgendwie getragen wurde. »Sie sind ein Experte für Kunst und Museen, mein Freund«, erklärte Santera stolz. »Deshalb wollte ich Ihnen zeigen, was ich bauen werde.« Der Kaffee in Merrills Magen wurde gallig und machte ihm plötzlich Sodbrennen. Misstrauisch umkreiste er das Modell und bemerkte dabei ein Täfelchen mit der Aufschrift Calderon Museum of Art. »Nach meiner verstorbenen Mutter benannt«, erklärte Santera. Er stand dicht hinter ihm. »Sehr beeindruckend«, lobte Merrill mit dem Adjektiv, mit dem er gewöhnlich hässliche Ölschinken von Klienten bedachte, die gegen sich aufzubringen er sich nicht leisten konnte. Eine Vokabel, fiel ihm ein, die er wohl bald aus seinem Wortschatz würde streichen dürfen. Santera sagte etwas auf spanisch, und zwei der Anzugträger hoben vorsichtig das Dach des Modells ab, um die Innengestaltung zu enthüllen. Mit sichtlichem Stolz deutete Santera auf die Räume für Ausstellungen, Restaurierung und Malunterricht. Und dann zeigte er auf den größten Ausstellungssaal links an der Stirnseite des Gebäudes. »Und da«, verkündete er mit stolzer Geste, »kommt nur ein einziges Bild hin: unsere wunderschöne Nackte von Leonardo.« Merrill spürte, wie ihm plötzlich speiübel wurde. »Aber Sie hatten doch gesagt – ich meine äh – ich dachte – ich will sagen, ich
habe den Russen verbindlich zugesichert, es kommt in eine Privatsammlung und wird nicht ausgestellt.« Bei den letzten Worten versagte ihm fast die Stimme. Santera lachte breit und zeigte dabei alle seine unglaublich ebenmäßigen weißen Zähne. »Da haben Sie sich eben vertan.«
11 Eisige Schneekörner, vom Sturm über dem finnischen Meerbusen getrieben, trafen Burke wie Schrot im Gesicht. Danach, wie schnell ihm der Rotz in der Nase gefror, schätzte er die Temperatur auf etwa minus zwanzig Grad. Er zog die Schultern ein, duckte sich so weit wie möglich in den wärmenden Schal, stopfte die Hände tief in die Manteltaschen und fragte sich, wie er sich je nach Russland hatte zurücksehnen können. Seine Füße fanden rasch zum russischen Schlurfen zurück, einem langsamen, zögerlichen Tapsen für eisglatte Gehwege und depressive Gemüter. Sein Blick haftete an den schneefleckigen grauen Hosen und abgetretenen braunen Absätzen der Leute, die niedergeschlagen vor ihm herschlurften, die Gribojedowstraße hinunter auf den massiven Granitbau zu, der die Miliz von St. Petersburg beherbergte. Die Tür des Gebäudes, entdeckte er, bestand aus Rauchglas, durch das die Polizisten drinnen die Fußgänger auf der Straße beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Für Burke, der gern die Anlage von Gebäuden analysierte, passte dieser Eingang zur Miliz wie die Faust aufs Auge. Er schob die Tür auf und ging an den beiden Gedenktafeln im Vestibül vorbei: eine für die Milizionäre, die bei der Belagerung von Leningrad gefallen waren, und die zweite für die Opfer im Kampf gegen das Verbrechen. Wie er aus der Länge der Namenslisten auf beiden Seiten ersehen konnte, hatten die russischen Verbrecher der deutschen Wehrmacht vor kurzem den Rang abgelaufen. Zur Linken befand sich wie in allen russischen Milizstationen, die er je betreten hatte, ein kleines Wartezimmer für die Bürger. In diesem hier schälte sich die Farbe in giftgrünen Streifen von der Wand, und der Boden war ein Geschmier aus angetrocknetem Schneematsch und ausgetretenen Zigarettenkippen. Doch dort stand auch das vorschriftsmäßige Tischchen mit dem gelangweilten Milizionär dahinter; er hatte Feldwebelstreifen auf den Schulterstücken. Burke überreichte dem Feldwebel seinen Presseausweis und sagte, er wolle den Chef der Mordkommission sprechen. Der Milizionär nahm Haltung an und wählte am Haustelefon eine
dreistellige Nummer. Er führte ein abgehacktes Gespräch mit einem am anderen Ende der Leitung und deutete dann auf die Bank gegenüber. »Warten Sie bitte«, sagte er. Die Leute auf der Bank sahen aus, als warteten sie auf den letzten Bus in die Vorhölle. Schwer zu sagen, was sie waren: Spitzel vielleicht, die ihre Silberlinge kassieren wollten. Oder Naive, die immer noch wähnten, man müsse zur Polizei, wenn man ausgeraubt worden war. Gleich darauf betrat ein korpulenter Milizionär, dem der unterste Knopf seiner grauen Uniformbluse abgesprungen war, den Raum und nickte Burke zu. »General Kornilow lässt bitten«, sagte der Mann. Burke folgte ihm eine Marmortreppe hinauf. In General Kornilows Amtszimmer war der halbe Schreibtisch mit Technik vollgestellt, mit einem Computer links und einem Videorekorder mit Fernseher rechts. Offensichtlich nicht das Büro eines schlichten Kriminalbeamten, und auch nicht das des Chefs der Mordkommission. Burke vermutete, General Kornilow war der Milizkommandeur, der oblast, des Bezirks. Das passte ihm überhaupt nicht. Kornilow war kleinwüchsig, gedrungen und glatzköpfig, mit einer Geschwulst von Walnußgröße im Nacken direkt über den Schulterstücken mit dem gewirkten goldenen Stern. »Also«, begann er, nachdem Burke an dem Konferenztisch Platz genommen hatte, der an den Schreibtisch anschloss. »Sie wollen etwas über unsere Mordfälle schreiben?« Sein Gesichtsausdruck war für Burke schwer zu lesen. Wie er wusste, gab es immer noch Polizisten, die jeden Versuch der Westpresse, über die Verbrechen hier zu schreiben, als Teil einer kapitalistischen Weltverschwörung betrachteten. Kornilow aber schien keiner von denen zu sein. Eine Sekretärin trat ein und stellte Teetassen vor sie hin. Burke wartete, bis sie eingeschenkt hatte. »Über einen bestimmten Mordfall«, berichtigte Burke, »über Fjodor Wassiljew.« »Ach so«, sagte Kornilow, als erkläre das allerhand. »Der war ziemlich prominent, nicht wahr?« Burke nickte.
»Jetzt begreife ich, was Sie interessiert«, grinste Kornilow. »Könnte ich dann den zuständigen Kriminalbeamten sprechen?« Kornilows Mondgesicht legte sich in Kummerfalten. »Ach, verstehen Sie, er ist gerade völlig überlastet.« Burke ahnte schon, welche Richtung das Gespräch jetzt nehmen würde, versprühte jedoch eine perverse Neugier, wie direkt der Wunsch nach Schmiergeld kommen würde. Daher spielte er mit. »Schön, wann meinen Sie, wird er mich empfangen können?« Kornilow legte grüblerisch die Fingerspitzen aneinander. »Sehen Sie, eines der Probleme dabei ist, dass wir im Gegensatz zu ihren amerikanischen Polizeibehörden in unserem Budget keine Mittel für Öffentlichkeitsarbeit haben.« »Das ist ja die reinste Tragödie«, sagte Burke mitfühlend. »Ein Engpass bei der Öffentlichkeitsarbeit.« Kornilow nickte schwermütig. »Deshalb ist es bei uns Praxis, wenn Journalisten kommen und uns um Mitarbeit bitten, dass wir als Gegenleistung für diesen Aufwand einen Kostenbeitrag verlangen.« »Scheint mir nur recht und billig.« Kornilow lächelte breit. »In der Tat. Wir verwenden diese Mittel zur Bezahlung von Überstunden der betroffenen Beamten und für dringend benötigte Kriminaltechnik.« »Wie den Videorekorder da«, sagte Burke. Kornilow nickte. »Ein unerlässliches Werkzeug für die Verbrechensbekämpfung«, bestätigte Burke, und wartete, was als nächstes kam. Kornilow räusperte sich. »Den Videorekorder zum Beispiel haben wir von Nippon Television. Sie haben einen Korrespondenten mit Kamerateam aus Moskau hergeschickt, für einen Fernsehbericht über den Schmuggel. Außer dem Videorekorder haben sie uns zehntausend Dollar gespendet.« »Ach, diese japanischen Fernsehkorrespondenten«, seufzte Burke. »Die wissen ja gar nicht wohin mit ihren Dollars. Wo sie auch hinkommen in der Welt, immer sind die Taxifahrer und die Nutten hinterher teurer.« Kornilow verzog kurz das Gesicht, entschied aber dann, die Beleidigung war so unterschwellig formuliert, dass er unbeschwert weiter feilschen konnte. »Da Sie Amerikaner sind und wir die Amerikaner lieben, könnten wir es Ihnen vielleicht ein bisschen billiger machen.«
Im Prinzip hatte Burke nichts dagegen, Gewährsleute zu honorieren. Da es aber seine eigene Recherche war, würde er aus eigener Tasche zahlen müssen. Auch wenn er Kornilow von dessen Eröffnungsgebot herunterhandelte, blieb die Summe immer noch sehr beträchtlich. Und als Gegenleistung bekam er womöglich nur die Meldung, die bereits von TASS verbreitet worden war. Wenn er schon Polizisten bestechen musste, wollte er wenigstens direkt mit den zuständigen Kriminalisten verhandeln. Die waren bestimmt billiger und ergiebiger. »Ich frage bei meinem Chefredakteur nach und werde sehen, was er dazu sagt«, versprach Burke. Kornilow blickte enttäuscht, und Burke fragte sich, ob er zurückstecken würde. Doch er zuckte nur in gespielter Gleichgültigkeit die Schultern. »Wie Sie wünschen«, sagte er. Burke stand auf, um zu gehen. »Und, Gospodin Burke«, rief Kornilow hinter ihm her. »Seien Sie vorsichtig. Unsere Straßen sind nicht sicher.« Burke nickte. Wahrscheinlich, dachte er, betrieb Kornilow nebenher eine Agentur für Leibwächter. Eine Schlange von Rentnertouristen vor dem Einstieg zu einem Bus blockierte den Eingang zum Hotel Jewropeiskaja. Burke betrat das Hotel, am Portier vorbei, in dessen Arbeitsplatzbeschreibung offenbar nichts von Schneeräumen stand. Das Jewropeiskaja war eines der ältesten Hotels in Russland. Es war vor der Oktoberrevolution erbaut und hatte früher neben dem Eingang eine Gedenktafel gehabt, die an einen Besuch Lenins im Bankettsaal erinnerte. Die Tafel war 1992 entfernt worden, als eine deutsche Firma Anteile am Hotel erwarb und es renovierte. Jetzt verfügte es über viel glänzendes Messing und Glas, teure Teppichböden, doch nach dem Portier zu urteilen noch über dasselbe Personal. Käme Lenin jetzt wieder nach St. Petersburg, hätte er sicher nicht die Devisen für ein Gelage. Der Hauptgrund für Burkes Buchung waren die Telefone des Jewropeiskaja, die ebenfalls neu und von deutscher Bauart waren. Das Hotel hatte Direktverbindung zu einem Satellitensystem, unter Umgehung der russischen Relaisstationen. Und genau diesen Umstand wollte sich Burke zunutze machen.
Die Hotelhalle hatte sich während seiner morgendlichen Abwesenheit verändert. Mittlerweile hing ein breites blaues Spruchband mit weißer Beschriftung in Russisch, Deutsch, Japanisch und Englisch von der Decke: »Ein herzliches Willkommen den Teilnehmern der internationalen Konferenz zur Rüstungskonversion.« Irgendwer hatte offenbar auf ihn gelauert, denn sofort nach seinem Betreten in die Hotelhalle schoss ein glatzköpfiger, birnenförmiger Mann in schlecht geschnittenem Frack hinter dem Empfangstresen hervor und rief ihn beim Namen. Burke schüttelte den Schnee vom Kragen und unterdrückte ein Stöhnen. »Gospodin Burke, bitte tausend Mal um Vergebung. Ich muss Sie dringend sprechen.« »Ich hab aber heute Morgen viel zu tun.« Der Mann – nach dem Namensschild auf seinem Revers hieß er Nikolai – lächelte und machte eine angedeutete Verbeugung. »Es tut mir schrecklich Leid. Es ist unbedingt nötig. Würden Sie mir bitte folgen?« Burke verzog das Gesicht und ging hinter ihm zum Empfangstresen. Dort blieb Nikolai stehen und blätterte in einem dicken roten Reservierungsbuch. Dann hob er sein Mondgesicht zu Burke. »Es tut uns ganz furchtbar Leid, Mr. Burke, aber mit Ihrer Buchung ist etwas schief gelaufen.« »Ich habe für eine Woche gebucht«, widersprach Burke. »Ich fürchte, das war gar nicht möglich. Sehen Sie, das Hotel war schon ausgebucht für die Konferenz zur Rüstungskonversion, die morgen beginnen soll. Wir bitten tausendmal um Entschuldigung für das Miss Verständnis. Gern buchen wir für Sie ein Zimmer im Pribaltiskaja«, bot Nikolai mit öligem Lächeln an. Burke seufzte. Im Pribaltiskaja hatte er schon einmal genächtigt. Es lag in einem Randbezirk der Stadt, eine Stunde von allen Anlaufstellen entfernt, und die Telefone schafften nicht einmal ein Gespräch bis zur anderen Straßenseite. Er musterte Nikolai, der plötzlich verblüffende Ähnlichkeit mit General Kornilow hatte. »Und wie wäre es, wenn ich ein Freund und Förderer des Hotels werden würde?«, bot er an.
Nikolai bekam einen sehnsüchtigen Blick und war ganz Ohr. »Zum Beispiel sehe ich, Sie haben mein Intelligenzblatt nicht ausliegen, die Washington Tribune. Ich könnte ein Abonnement stiften, damit Ihre Gäste sie lesen können. Zweihundert Dollar dürften dafür wohl genügen.« Nikolai blickte zweifelnd. »Dreihundert.« Nikolai lächelte. »Und das mit dem Pribaltiskaja vergessen wir.« Nikolai nickte. »Sicher, Gospodin Burke. Ganz unter uns, eine grauenhafte Absteige.« Burke überreichte das Geld und machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Er betrat das Zimmer mit dem Gedanken ans Telefonieren, aber dann fiel sein Blick auf die zweite deutsche Wohltat, den kleinen braunen Kühlschrank, der unter dem Schreibtisch brummte. Er machte ihn auf, sah geflissentlich über die Spirituosenfläschchen hinweg und nahm eine Diätcola heraus. Sie schmeckte widerlich süß. Dann musste er wieder an Kornilow denken und verzog angeekelt das Gesicht. Der rangniederste rumänische Zollinspektor hätte die Schmiergeldforderung eleganter formuliert. Sogar der Empfangschef im Hotel beherrschte das. Er sah auf die Uhr. Er hatte noch vier Stunden bis zu seinem Termin in der Eremitage. Zu lange, um mit dem Kühlschrank allein zu bleiben. Er stand auf, ging an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein, lud das Adressbuch und rief die Datei St. Petersburg auf. Sie enthielt etwa fünfundsiebzig Namen, die bei etwa einem halben Dutzend Reportagen im Lauf des letzten Jahrzehnts zusammengekommen waren. Darunter war jedoch nur ein einziger Künstler, ein gewisser Sascha Winogradow. Sie waren einander vor ein paar Jahren begegnet, als Burke Material über Menschen gesammelt hatte, denen Glasnost die Zunge gelöst hatte. Am Ende hatte er Winogradow gar nicht erwähnt, sondern sich auf ein paar Rock’n Roll Bands und einen Filmregisseur konzentriert. Ob Winogradow ihm das wohl nachtrug? Er wählte die Nummer, aber niemand antwortete. Er versuchte es
nochmals, für den Fall, dass das neue Satellitensystem vorübergehend gestört war. Immer noch keine Antwort. Er trank seine Cola aus und sah krampfhaft vom Kühlschrank weg. Er hatte noch die andere Quelle, auf die ihn Desdemona McCoy im Zug gebracht hatte, und konnte wohl ebenso gut dort ansetzen. Oder im Hotelfernseher CNN glotzen, bis bei Sascha Winogradow jemand ans Telefon ging. Er schloss die Datei St. Petersburg und ging die von Moskau durch, bis er an die Adresse Kieran Gilbrides gelangte. In Russland wimmelte es von Amerikanern mit missionarischem Auftrag. Die meisten waren dort, um die Heiden zu taufen. Manche kamen, um russische Rechtsanwälte über Erfolgshonorare, Stundensätze, Anwaltshaftung und ähnliche Blüten der amerikanischen Jurisprudenz ins Bild zu setzen. Andere wiederum wollten die russischen Frauen über den Feminismus aufklären und ihnen auf den Weg zu denselben idealen Geschlechterbeziehungen helfen, wie sie die Vereinigten Staaten bereits genießen durften. Wieder andere kamen, um die reine Lehre von Unternehmensberatung, Produktwerbung und anderen Zierden der amerikanischen Zivilisation zu verbreiten, deren die Russen in ihrer Rückständigkeit noch entbehren mussten. Kieran Gilbride hatte mit einem kurzen Blick auf das postsowjetische Russland erkannt, dass es jetzt am dringendsten einer Schwulenbewegung bedurfte. Um diese zu organisieren, war er von New York nach Moskau umgezogen, und Burke war ihm vor sechs Monaten begegnet, als er über die erste landesweite Konferenz der Allrussischen Schwulen- und Lesbenunion berichten musste. Burke wählte die Vorwahl von Moskau und dann Gilbrides Nummer. Zu seiner großen Erleichterung funktionierte der Satellit. »Schwulenunion«, meldete sich Gilbride. »Kieran, hier ist Colin Burke von der Washington Tribune. Wie geht’s Ihnen?« Gilbride ging es gut. »Und was macht die Union?« Auch diese wuchs und gedieh. »Das höre ich gern. Ich bin gerade in St. Petersburg, für eine Reportage über Verbrechen, und ich möchte einen Fall von Schwulenhatz recherchieren, der mir zugetragen worden ist.«
Gilbride fragte, um wen es gehe. »Das darf ich Ihnen leider nicht sagen. Ich hab meiner Quelle versprechen müssen, sie nicht namhaft zu machen, bevor ich Genaueres weiß«, log Burke. Er wollte Wassiljews Namen nicht am Telefon nennen. »Aber ich brauche für meine Nachforschungen ein paar Namen von hiesigen Aktivisten der Schwulenbewegung.« Gilbride wollte nur zu gern einen Bericht über Schwulenhatz in der Zeitung sehen. »Die wichtigste Adresse in St. Petersburg ist Larissa Damba«, sagte er. »Bleiben Sie dran, bis ich die Nummer herausgesucht habe.« Burke behielt den Hörer in der Hand. »Die Nummer ist 137-29-82. Ihre Büroadresse ist Budjonnowski 13.« »Und wer ist das? Was macht sie?«, fragte Burke, während er sich die Nummer aufschrieb. Gilbride lachte verhalten. »Das dürfen Sie selber rausfinden. Ich sag Ihnen bloß den Spitznamen. Mamotschka Golubych.« In Rohübersetzung hieß das »Mütterchen der Schwulen«. Als er die Budjonnowski 13 gefunden hatte, war Burke verwirrt. Auf einem Schild an der Gebäudefront stand »Stadtkrankenhaus Nummer 46«. Lysol und Formalin konnte er schon von der Straße aus riechen. Er steckte den Kopf in die Tür und sah einen schmalen Vorraum mit einer Portiersfrau hinter einer Glaswand. Er ging hinein und fragte nach Larissa Damba, und die Frau schickte ihn den Flur hinunter und dann nach links, Zimmer 14. Im Flur rekelte sich eine Frau in einem Ledersessel, aus dem der Kapok quoll. Wasserstoffblondes Haar, dick geschminkt, rote Stöckelschuhe, und als Burke ein bisschen genauer hinsah, ein Bartschatten. Er blinzelte ihr zu und betrat durch die offene Tür das Zimmer. Das Büro war klein und vollgestellt, ein verschrammter Schreibtisch stand in der Mitte, an dem zwei Frauen saßen. Die mit dem Gesicht zu Burke war irgendwo zwischen vierzig und sechzig. Stämmig und gedrungen, kurz geschorenes rotes Haar, und ein Monokel in einem der rot umränderten Augen. Sie trug ein weißes T-Shirt und Jeans. Die Fingernägel waren dunkelrot lackiert. Die Frau mit dem Rücken zu Burke hatte glattes,
kastanienbraunes Haar fast bis zur Taille und trug einen Rock. Auf Burkes Schritte hin wandte sie sich um. Tatsächlich eine Frau, entschied er, jung und hellhäutig, mit dezenten Sommersprossen auf Nase und Wangen. Bei Burkes Anblick sprang die ältere auf und wies mit dem Zeigefinger auf ihn. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, fragte sie in Tonfall und Haltung eines Großinquisitors. »Ein grundehrlicher Reporter, der in einer Welt voller Nepp sein Brot verdienen muss«, stellte sich Burke vor. »Und wie ist es mit Ihnen?« »Sie sind Ausländer!«, schnaubte die Frau. Burke wusste, sein Russisch war nicht akzentfrei. Er nickte. »Amerikaner?« Er nickte wieder. »Also was suchen Sie? Mädchen? Jungs? Männer? Oder beides?« Burke musste lachen. »Im Moment nur sachdienliche Hinweise.« Die Frau ging in die Luft. »Sachdienliche Hinweise! Lügenbeutel! Scheinheiliger Amerikaner! Ich hab doch gesehen, wie Sie die da draußen angeglotzt haben. Meinen Sie nicht, das war überdeutlich?« Die Frau schien es darauf anzulegen, ihn aus der Fassung zu bringen und zu verwirren. Burke konnte sich die Umstände, unter denen jemand wie sie in der Sowjetunion großgeworden war, nur schwer vorstellen, doch dass die Umgangsformen dabei zu kurz gekommen waren, schien wenig verwunderlich. Also begnügte er sich mit einem Lächeln. »Setzen Sie sich«, sagte die Frau und deutete auf einen Stuhl. Vorsichtig ließ Burke sich nieder. Burke fröstelte. »Und Sie sind ihre Rechtsberaterin?« »Ich bin Larissa Konstantinowna Damba. Anwältin und Mitglied der Anwaltskammer von St. Petersburg«, schnaubte sie und überreichte Burke eine Visitenkarte aus der Schreibtischschublade. Burke gab ihr seine. »Kieran Gilbride sagte mir, Sie werden Mamotschka Golubych genannt.« »Sie kennen Kieran?« »Er hat mich an Sie verwiesen.« »Er ist unser Freund! Unser Retter!« Sie klopfte sich zur
Bekräftigung mit der Faust auf die Brust. »Tatsächlich.« Die Frau lächelte. Krumme Mausezähne. »Ja, ich bin Mamotschka Golubych. Ich verteidige und schütze die Schwulen. Genau wie Kieran. Sie werden krank. Man bringt sie hierher. Nach dem Gesetz müssen sie ihre Sexualpartner namhaft machen. Dann kommen die Bullen und jagen ihnen Angst ein, damit sie noch mehr Namen preisgeben. Alle ihre schwulen Freunde und Bekannten. Damit die Bullen noch ein paar kaschen und einbuchten können. Ich kann die Bullen nicht daran hindern, sie nach ihren Sexualpartnern zu fragen. Aber ich versuch es hinzukriegen, dass sie keinen anderen verraten. Ich berate die armen Jungs, welche Rechte sie haben.« »Und wer bezahlt Sie dafür?« »Die Justizbehörden.« Sie war also eine Art Pflichtverteidigerin. »Da kennen Sie sich sicher unter den Schwulen hier aus.« Sie nickte energisch. »Ich kenn sie alle. Bis auf die ganz jungen, die Hähnchen!«, kicherte sie. »Ich untersuche den Tod eines Älteren, Fjodor Wassiljew.« Mamotschka Golubych runzelte die Stirn. »Wassiljew?« »Der Direktor der Eremitage. Er wurde vor einer Woche ermordet. Die Presseberichte schilderten es als Raubüberfall, aber es könnte auch Schwulenhatz gewesen sein.« »Ach, der Wassiljew«, rief Damba aus. Sie überlegte kurz, wobei sie einen Fingernagel in den Mund steckte und daran knabberte. »Nein«, verkündete sie schroff. »Glaub ich nicht. Ich glaub nicht, dass der schwul war.« »Warum nicht?« Sie schnaubte. »Glauben Sie mir, ich wüsste das. Ich bin mit vier Leuten vom Personal der Eremitage befreundet, die schwul sind. Ich war schon zu Parties in deren Wohnung. Einen von denen hab ich als Mandanten gehabt. In diesen Kreisen kenn ich mich aus. Und ich hab nie etwas läuten hören, dass dieser Wassiljew dazu gehört.« Burke seufzte. So, wie sich der Fall bisher entwickelte, war er alles andere als überrascht. »Können Sie mir vielleicht helfen, Kontakt zu Ihren Freunden in der Eremitage aufzunehmen, damit ich der Sache nachgehen kann?« Eigentlich hatte er erwartet, Mamotschka Golubych wäre hell empört über ein solches Ansinnen. Statt dessen aber nickte sie und
erhob sich aus ihrem Stuhl. Sie zog die Schreibtischschublade auf und entnahm ihr einen Ring mit großen Schlüsseln. »Kommen Sie mit«, befahl sie. Sie ging über den Flur in Richtung Eingangstür, nahm aber kurz davor eine klaustrophobisch schmale Stiege und erklomm sie zwei Stockwerke weit auf von zahllosen Füßen ausgetretenen Stufen. Auf einem Treppenabsatz im dritten Stock blieb sie vor einer Stahltür mit einem Guckfenster aus Panzerglas stehen. Sie zog einen Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss. »Die geschlossene Abteilung für Geschlechtskranke«, erklärte sie. Es waren zwei Säle, jeder mit etwa vierzig Betten, einer für Männer und der andere für Frauen. Manche der Männer in den ersten Betten waren offenbar Rekruten mit Pickelgesichtern. Sie lungerten in T-Shirts und Bademänteln herum und genossen offenbar die Abwechslung vom Militärdienst. Ein Stück weiter blieb Damba stehen. »Hier liegen meine golubyje«, verkündete sie. Burke nickte einem halben Dutzend Männer zu, von denen zwei offenbar Transvestiten waren. Einer von ihnen, mit langen gebleichten Haaren, klappernden Ohrringen und rosa Bademantel, kam zu Damba und flüsterte ihr mit übertriebener Schüchternheit etwas ins Ohr. »Sie will wissen, ob es stimmt, dass Geschlechtsumwandlungen in Amerika kostenlos sind«, wandte sich Damba an Burke. »Ich fürchte, das ist auch bloß eine kapitalistische Propagandalüge«, antwortete Burke. Der Transvestit kicherte. Damba schloss eine weitere Stahltür auf, zwischen der Männerund der Frauenabteilung. Von den Insassinnen dieser Station gehörten viele zum Bodensatz der russischen Prostitution, Alkoholikerinnen vom Bahnhof mit aufgeschwemmten, verbrauchten Leibern und blutunterlaufenen Augen, unter ihnen auch zwei Mütter, die mit Kleinkindern schäkerten. Am Ende dieser Station standen sie vor einer stählernen Trennwand, die ein paar Nuancen heller und neuer gestrichen war als die Wände ringsum. »Hier kommen unsere AIDS-Patienten zum Sterben her«, erläuterte Damba, während sie den Schlüssel im Schloss drehte. Die Luft drinnen war stickig und heiß, geschwängert vom
Gestank nach Desinfektionsmitteln und Ausscheidungen. Etwa zehn Betten standen da, in allen lagen Männer. In den ersten beiden hatten die Patienten ihre Bettwäsche verunreinigt. Burke sah weder einen Pfleger noch eine Krankenschwester, die frisch beziehen hätten können. Vor dem dritten Bett blieben sie stehen. Larissa Damba setzte sich auf die Bettkante und nahm den Kopf des Bettlägrigen in die Arme, knutschte ihn am Hals und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein hagerer Mann mit eingesunkenen, fiebrigen braunen Augen und den dunklen Flecken des Kaposi-Sarkoms überall auf der papierdünnen gelben Haut. Die Halssehnen zeichneten sich wie Stricke ab. Burke konnte sein Alter nicht schätzen, aber es war ersichtlich, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Damba schüttelte das Kissen hinter ihm auf, und der Mann bemühte sich vergeblich, sich aufzusetzen. »Das ist Gennadi«, stellte sie ihn vor. »Er arbeitet in der Eremitage, in der Porzellansammlung.« Der Mann streckte die Hand aus, und Burke ergriff sie. Sie fühlte sich heiß an und trotzdem leblos. Burke sagte: »Ich versuche herauszufinden, wer Fjodor Wassiljew umgebracht hat.« »Er ist tot?« Gennadis Stimme war ein raschelndes Flüstern, und Burke musste sich über ihn lehnen, um ihn zu verstehen. »Letzte Woche umgebracht. Die Polizei spricht von einem Raubüberfall. Dagegen habe ich gehört, er sei überfallen worden, weil er schwul war.« Gennadi verzog das Gesicht. »Was kümmert Sie das?« Burke räusperte sich. Jetzt konnte er flunkern und behaupten, der Tribune sei die Eremitage so wichtig, dass sie wissen wolle, wie deren Direktor gestorben sei. Gennadi würde das vielleicht sogar glauben. Aber es fiel ihm schwer, einen Sterbenden zu belügen. »Weil eine Frau, die mir wichtig war, nach einem Gespräch mit Wassiljew umgebracht worden ist«, sagte er. »Oder zumindest hat sie gesagt, dass sie sich mit ihm treffen würde. Und weil ich an eine Verbindung zwischen den beiden Morden glaube.« Die Erinnerung an Jennifers Leiche, wie er sie an jenem Abend gesehen hatte, blitzte in ihm auf, und er fröstelte. »Außerdem habe ich aber auch gehört, Wassiljew sei umgebracht
worden, weil er ein Schwuler war. Ich weiß nicht, welche Version stimmt.« Gennadi schien vor ihm ins Kissen zu schrumpfen. »Also«, fragte Burke so sanft wie möglich, »war Wassiljew schwul?« Gennadi lächelte fast, aber es wäre ein kaltes, freudloses Lächeln geworden, hätte er es zustandegebracht. »Nein«, röchelte er. »Woher wissen Sie das so genau?« Gennadi mühte sich erneut, den Kopf zu heben. »Ich hab nicht immer so ausgesehen. Vor zehn Jahren war ich ganz… attraktiv. Da hab ich im Museum angefangen. Ich bin dort von einem zum anderen weitergereicht worden. Das machen sie mit allen neuen Jungs. Ich hab sie alle kennen gelernt. Alle schwulen Kollegen. Einer von denen hat mich angesteckt.« »Und Wassiljew gehörte nicht dazu?« Der Kopf sank wieder in die Kissen. »Nein.« »Es reicht!«, zischte Damba. »Er kann nicht mehr.« Müde nickte Burke. Er war wieder in einer Sackgasse gelandet. Aber es fiel ihm schwer, jetzt darüber nachzudenken, wo sein ganzer Verstand von dem Wunsch beherrscht wurde, wieder durch die Stahltür und aus diesem Gebäude hinauszugelangen, und von seinem schlechten Gewissen, weil er das auch konnte, im Gegensatz zu Gennadi.
12 Vor Zeiten, als St. Petersburg noch Leningrad geheißen hatte und ihm Glasnost und Perestroika unendlich vielversprechend erschienen waren, hatte Burke die Stadt großartig gefunden. Damals hatte der Schnee offenbar alles Grau und allen Staub seinem Blick entzogen. Nun aber deckte er nichts mehr davon zu, sondern färbte sich aschgrau oder schwarz, kaum dass er aus gleichförmig bleiernen Wolken herabgerieselt war. Im Bestreben, dem Wind zu entgehen, überquerte er die Bogenbrücke über die Moika, einen Stadtkanal zur Entwässerung des Sumpfs, den Peter der Große seiner Hauptstadt aufgezwungen hatte, und wandte sich am Kanalufer nach rechts. Es war ein kleiner Umweg, aber die senfgelben Gebäude entlang des Kanals gewährten Schutz vor dem eisigen Wind. Er hätte gern beim Vorbeigehen in die Schaufenster geblickt, um zu sehen, was zu welchen Preisen im Angebot war. Aber sie waren dick bereift, mit Frostblumen in den Ecken. Er schwenkte in einen Bogengang von etwa fünfundzwanzig Metern, der unten durch das alte Kriegsministerium ging. Der Tunnel war düster und kalt, bot aber ein wenig Schutz vor dem Wind und dem Schnee. Alte Frauen, in schwarze Wintermäntel und Wollschals gehüllt, hockten auf Schemeln, zu erstarrt, um zu zittern. Jede hatte auf einem Tischchen Besitztümer zum Verkauf ausgelegt. Eine hatte ein paar Stücke Tafelsilber, zwei Löffel und einen Salzstreuer. Eine andere vier zueinander passende Weingläser aus Bleikristall. Eine dritte offerierte eine Spitzentischdecke und eine Flasche georgischen Wein. Sie wirkten alle alt genug, dachte Burke, die Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg überlebt zu haben. Er konnte sich vorstellen, wie sie jetzt dahinvegetierten, allein in Einzimmerwohnungen, ohne ausreichende Rente für Brot und mit der ständigen Frage, womit es zuerst zu Ende gehen würde, mit ihren paar Besitztümern oder mit ihrem Leben. Dann spielte ein Junge Saxophon, obwohl sich Burke nicht vorstellen konnte, wie er dafür die Finger warm genug hielt. Ihre Blicke kreuzten sich, und Burke wusste, der Junge hatte ihn als Ausländer erkannt. Er wechselte in eine gekonnte, oft geübte Wiedergabe von All of Me. Burke ließ ein paar Dollar in seinen
Saxophonkoffer fallen. Eine der alten Frauen sah die Dollars, huschte ihm in den Weg und ließ ihn nicht weiter. Er gab ihr einen Dollar. Sie kreischte irgend etwas auf russisch, was er nicht ganz verstand. Im Handumdrehen war er von alten Frauen mit ausgestreckten Händen umzingelt. Manche plärrten. Eine riss den Mund auf zu einem stummen, zahnlosen Loch; Tränen liefen ihr aus den Augen. »Milosti prossim, milosti prossim«, leierte eine andere und zupfte ihn am Ärmel. Wieder eine andere, kräftiger und verzweifelter, langte nach seiner Brieftasche. Er riss die Brieftasche weg und hielt sie hoch über den Kopf, wie ein Basketballprofi den Ball aus der Reichweite kleinerer Spieler. Er zog eine Handvoll Dollars heraus und stopfte sie der kräftigen Frau in die Hand. »Für euch alle«, sagte er dazu laut. Die Frauen ließen schreiend und geifernd von ihm ab und umringten ihre Genossin. Burke rannte um die Ansammlung herum und auf das rutschige Kopfsteinpflaster des Palastplatzes hinaus. Seine Stiefelsohlen schlugen stumpf auf den trockenen Schnee, er hatte Gummiknie und spürte trotz der Kälte einen Schweißfilm auf der Stirn. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass ihm niemand folgte, rannte aber weiter, herum um einen Obelisken zu Ehren des Sieges Alexanders I. über Napoleon im Jahre 1812. Jetzt stand er vor dem Winterpalast. Sogar an diesem eisigen Tag mitten im tiefsten Winter hatte sich eine Schlange gebildet und erstreckte sich vom Eingang fünfzig Meter weit bis zu ihm, so groß war die Anziehungskraft der Kunstsammlung da drin. Die Sammlung war von Peter dem Großen begonnen worden, doch ihre wahre Begründerin war die deutsche Fürstin Sophie von Anhalt-Zerbst, die mit dem Enkel Peters des Großen verheiratet worden war, mit Peter III. Auf Katharina umgetauft, hatte sie sich mit einem Liebhaber verschworen und einen Staatsstreich angezettelt, bei dem ihr schwachsinniger Ehemann ums Leben kam. Als Zarin wusch sie dann ihre Hände in Unschuld und beschloss, ihr Gastland müsse die asiatische Barbarei abschütteln und seinen Platz unter den geachteten Nationen Europas finden. Zu diesem Zweck
kaufte sie Kunst. Sie kaufte sie raffgierig und in Massen. Ihre Agenten in Frankreich und Deutschland hatten ständige Anweisung, sich auf jede bedeutende Kunstsammlung zu stürzen, die zum Verkauf stand. Häufig stellten sie sich der Witwe eines Kunstsammlers bei der Beerdigung vor und machten horrende Angebote für die komplette Sammlung, die sie dann einpackten und nach St. Petersburg verfrachteten. Bald hatte Katharina so viele Gemälde, dass sie zur Aufbewahrung einen gesonderten Flügel an den Palast anbauen ließ. Da sie einen Hang zur französischen Kultur hatte, nannte sie dieses Gebäude ihre Eremitage. Als sie starb, enthielt die Eremitage fast viertausend Gemälde europäischer Meister. Die Zaren nach ihr erweiterten die Sammlung und fügten die Kriegsbeute eines Imperiums hinzu. Gold kam aus den Ruinen von Königreichen und Kulturen, die auf der eurasischen Ebene geblüht hatten, von Russland erobert und in den Orkus der Geschichte verwiesen worden waren. Edelsteine wurden aus neuen sibirischen Bergwerken eingezogen. Auf Eroberung ausgesandte Generale schleppten mongolische, persische und osmanische Beuteschätze heran. Das alles sammelte sich im Winterpalast. Die Bolschewisten fügten zu diesem Hort nach ihrer Machtergreifung konfiszierte Monets, Picassos und Cézannes hinzu, von plutokratischen russischen Kaufleuten in den Jahren vor der Revolution gesammelt. Der Winterpalast wurde eine der großen Kunstgalerien der Welt, mit mehr als zwei Millionen Kunstschätzen. Burke duckte sich gegen den Wind an der Touristenschlange vorbei und dachte dabei an diesen Reichtum inmitten der ganzen Armut. Die Diskrepanz konnte vielleicht erklären, welche Verbindung zwischen dem Tod Jennifer Morellis und dem von Fjodor Wassiljew bestand. Die Schätze im Winterpalast mussten unweigerlich Diebe anlocken wie Fallobst die Wespen. Er konnte sich vorstellen, wie Museumswächter kleine Gegenstände – Kameen, Juwelen, Goldmünzen – in Mund, Mastdarm oder Taschen hinausschmuggelten und auf dem schwarzen Markt verhökerten. Aber eine Sache, die so wichtig und wertvoll war, dass Jennifer Morelli einen Knüller zu haben glaubte, war nur schwer im Stillen beiseitezuschaffen. Alles im Museum war katalogisiert. Alle berühmten Objekte waren ausgestellt. Ihr Fehlen würde sofort auffallen.
Dennoch war es die beste Arbeitshypothese, die er für das angesetzte Interview hatte entwickeln können. Hundert Meter jenseits des Touristeneingangs kam er zu einer Tür mit der Aufschrift Administratiwhy Otdel. Er blieb stehen. Direkt vor ihm war ein Kanal, grau und voller Eismatsch, aber immer noch im Fluss, vermutlich wegen der wärmeren Abwässer, die aus der Kanalisation von St. Petersburg hineinströmten, bevor er sich in kurzer Entfernung in die Newa ergoss. Er wandte sich an einen alten Mann mit Krückstock, der langsam und methodisch, gegen den Wind vorgebeugt, in die Richtung schlurfte, aus der Burke gekommen war. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und deutete auf den Kanal. »Ist das der Gribojedow-Kanal?« Der Alte sah kaum auf, nickte eilfertig und schlurfte vorbei. »Da«, nuschelte er durch seinen Schal. »Gribojedow.« Burke nickte. Wassiljew musste das Gebäude durch die Tür zum Verwaltungstrakt verlassen haben. Ein Räuber hätte ihn angesprungen, sobald er aus dem Museum trat, ihn töten und die Leiche sofort in den Kanal werfen müssen, keine zehn Meter vom Eingang entfernt. Burke sah sich um. Sogar bei diesem Wetter zählte er ein Dutzend Passanten, entweder auf der Kanalseite oder der Palastseite der Straße. Wassiljew war abends umgekommen, aber nicht so spät nachts, dass die Gehwege menschenleer gewesen waren. Seine Mörder waren entweder unglaublich dreist vorgegangen, oder es gab irgendeinen Umstand bei seinem Tod, der im Polizeibericht unerwähnt geblieben war. Er klinkte die Tür auf und zeigte seinen Presseausweis einem müden und gleichgültigen Milizionär, der ihn den Flur hinunterwinkte. Er blieb kurz stehen und wartete darauf, dass ihn die Wärme des Hauses umfing. Einer der kleinen Genüsse des russischen Winters, wie er sich entsann, das Gefühl, Licht, Obdach und Wärme erreicht zu haben. Dann wurde ihm klar, dass es hier drin keineswegs so warm war wie üblich. Er stieß langsam den Atem aus und meinte, die Dunstwolke sehen zu können. Der Verwaltungsbereich des Museums war in einem im achtzehnten Jahrhundert angebauten Flügel untergebracht. Vielleicht ursprünglich Dienstbotenunterkunft, dachte er, oder Wohnsitz für Hofstaat, weil nichts von dem Marmor, Kristall und Blattgold zu sehen war, das im Repräsentationsbereich nachgerade von den
Wänden zu tropfen schien. Er blickte in einen schnurgeraden, engen Flur, nur spärlich erleuchtet vom dämmrigen Tageslicht durch die Fenster. Die elektrische Beleuchtung, einfache weiße Kugellampen unter der Decke, war entweder ausgeschaltet oder funktionierte nicht. Ein abgetretener roter Läufer bedeckte den einfachen Parkettboden. Burke klopfte an die hohe blaue Doppeltür mit der Aufschrift »Internationale Beziehungen«. Eine Alte mit einem gestrickten Umhängetuch über den gebeugten Schultern öffnete, und er trat in ein Vorzimmer mit ein paar zierlichen, antiken Schreibtischen aus tief dunklem Holz, hochglanzpoliert und mit helleren Intarsien versehen. Sie hoben sich krass von dem verschrammten, schmutzigen Parkett, den klobigen Plastiktelefonen und dem verbeulten alten Teekessel auf dem Fenstersims ab. Drei Gemälde in schweren geschnitzten Rahmen hingen an den Wänden. Sie wirkten alt und wertvoll, doch Burke konnte weder die Darstellung noch die Künstler erkennen. Die Alte setzte sich an den näheren der beiden Schreibtische, direkt neben einen elektrischen Heizlüfter. »Ich habe einen Termin mit Gennadi Gawrilitsch«, erklärte er. »Mein Name ist Colin Burke, von der Washington Tribune.« »Ist nicht da«, blaffte die Alte. Burke sah auf die Uhr. Es war vier. Er war genau pünktlich. »Ich habe vor zwei Tagen aus Washington angerufen und den Gesprächstermin vereinbart.« Die Alte zuckte gleichgültig die Achseln. »Ist nicht da«, wiederholte sie und klang dabei noch mürrischer. »Erwarten Sie ihn?« Die Frau zuckte wieder die Schultern und wandte sich einigen Papieren auf den Schreibtisch zu. Mit Bleistift begann sie Formulare auszufüllen. »Dann warte ich«, trotzte Burke. Die Frau füllte ungerührt weiter Formulare aus. Burke merkte, wie seine Toleranz gegenüber dieser demonstrativen sowjetischen Indolenz allmählich erlahmte. Vielleicht war das der Effekt von den paar Monaten im Westen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er heute noch nicht weitergekommen war. Oder er wurde womöglich einfach alt. Hätte er das russische Wort für Indolenz oder demonstrativ gewusst, hätte er der Alten die Meinung geigen
können, da das aber nicht der Fall war, blieb er in unterdrückter Wut sitzen, bis es auf seiner Uhr viertel nach vier war. Er stand auf, gab der Frau seine Visitenkarte, bedankte sich und trat wieder hinaus in den Flur. Seiner Ansicht nach hatte er die russischen Regeln eingehalten, wie das für ausländische Journalisten Vorschrift war. Aber jetzt, wo der Mann ihn versetzt hatte, fühlte er sich berechtigt herumzuschnüffeln. Er ging den Flur ein Stück weiter bis zu einer größeren Doppeltür mit dem Schild »Direktor«. Er trat ohne Anklopfen ein. Dieses Vorzimmer war viel größer, und die antike Möblierung passte besser zu dem Orientteppich auf dem Boden und dem stromlinienförmigen Faxgerät auf dem Beistelltischchen. Auch die Empfangsdame war ein Kontrast. Sie war jung, höchstens neunzehn, die Haare von einer Farbe, die die Russen ryschi nannten, ein leuchtender Zwischenton zwischen Rot und Braun. Sie trug einen beigen Kaschmirpullover, der zwei üppige Brüste zur Geltung brachte. Sie wäre hübsch gewesen, hätte sie sich auf Make-up verstanden, aber sie legte es viel zu dick auf, angefangen bei den Lippen, die grellrot geschminkt waren, über den Rand hinaus. Als er sich vorstellte, lächelte sie und reckte ihm den Busen entgegen, wobei sie sich mit dem Stuhl leicht drehte und die Beine übereinanderschlug. Ein extrem kurzer Rock und hochhackige Stöckelschuhe wurden sichtbar. »Ausländische Journalisten müssen sich bei Gennadi Gawrilitsch anmelden«, erklärte sie, ließ es aber so klingen, als würde sie am liebsten selbst ein Gespräch mit ihm führen. »Aber er ist nicht da.« Sie zuckte die Schultern. Nicht ihr Problem. »Es geht eigentlich nur um eine Kleinigkeit. Ich möchte nur wissen, ob hier irgendwer anwesend war, als meine Kollegin Jennifer Morelli mit Fjodor Pawlowitsch gesprochen hat, vor etwa einer Woche«, erklärte Burke. Das Gesicht der Frau spannte sich, und der grellrote Mund wurde verkniffen. »Sie erinnern sich an sie, nicht wahr?«, fasste Burke nach. »Ausländische Journalisten müssen sich bei Gennadi Gawrilitsch anmelden«, leierte sie ihr Sprüchlein herunter. Diesmal hatte ihre Stimme einen schroffen Beiklang, als sage sie eingetrichterte Anweisungen auf.
»Sie war groß, rote Haare, blaue Augen, Amerikanerin…« Ihm versagte die Stimme, vielleicht weil ihm seine Beschreibung Jennifers die Erinnerung zu nahe brachte, wie sie als Leiche ausgesehen hatte, aber auch weil er bereits wusste, dass diese Frau hier keinerlei Fragen beantworten würde. Sein Blick fiel auf die ledergepolsterte Tür hinter ihr, die nur angelehnt war. Sie trug immer noch das Plastikschildchen mit dem Namen Fjodor Wassiljews. Er lächelte sie harmlos an. »Es ist wohl nichts dabei, wenn ich kurz einen Blick in sein Büro werfe«, sagte er, und betrat den Raum, bevor sie reagieren konnte. Vielleicht hatte Wassiljew einen Terminkalender gehabt, aus dem hervorging, wer bei seinem Termin mit Jennifer Morelli anwesend war, wenn überhaupt. Das Büro des Direktors ähnelte dem Arbeitszimmer eines französischen Intellektuellen aus der Aristokratie des achtzehnten Jahrhunderts. Obwohl Burke von Möbeln fast nichts verstand, wusste er gleich, dass die Stücke in diesem Raum sehr alt, hervorragend gearbeitet und maßlos teuer waren. Sie waren aus einem polierten Rotholz, vielleicht Kirsche, und auf allen flachen Partien befanden sich Intarsien aus einem helleren, fein gemaserten Holz, das er für Pappel hielt. Auch der Boden war anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Hervorragendes Parkett, mit einem Muster, das an eine Tierkreisdarstellung erinnerte. Die Gemälde an der Wand waren von der Art, wie sie das Museum in einer vergangenen Ära nicht ausstellen durfte, weil sie die entartete westliche Moderne vertraten. Ein Landschaftsgemälde wirkte wie ein Cézanne. Auf zwei anderen waren üppige polynesische Frauen nackt in einem Wald voll schwellender Früchte und üppigem Blattwerk zu sehen. Er wusste wenig von Malerei und hatte noch weniger Interesse dafür, aber er hatte genug Kalender und Plakate zu Gesicht bekommen, um sie sofort als Gauguins zu erkennen. Zwischen den Gemälden stand eine Vitrine, und neben den ledergebundenen Büchern enthielt sie kleine Kostbarkeiten – primitive Skulpturen aus Gold und Elfenbein und eine mit Gold und Juwelen besetzte Ikone. Passende Beistelltischchen flankierten die Vitrine zu beiden Seiten, auf jedem eine Lampe und ein paar Bände mit Kunstreproduktionen. Auf einem der Bücherstapel lag beiläufig ein verbeulter alter Kürassierhelm – aus Goldblech. Es gab Museen, wurde ihm klar, die
mit Freuden ihre komplette Sammlung für das eingetauscht hätten, was sich ihm allein in diesem Raum darbot. Das alles nahm er aber nur am Rande wahr, weil sein Blick etwas viel Neuzeitlicheres suchte, den Kalender auf dem Schreibtisch des Direktors. Er ging hin und drehte ihn zu sich. Aufgeschlagen war er am 31. Januar, also vor fünf Tagen. Wassiljew, rechnete Burke zurück, dürfte Jennifer am 30. Januar empfangen haben. Er begann zurückzublättern, auf der Suche nach Namen. Wassiljews Handschrift war eng und winzig und er musste sie regelrecht entziffern. Am 29. Januar war jemand namens Gorbunow eingetragen. Am 30. Januar eine Platonowa und entweder ein Waskanian oder Baskanian, so genau konnte er es nicht erkennen. Da packte irgendeine Kraft seine rechte Schulter wie ein Schraubstock und drückte zu. Sogleich war ihm als werde ihm das Schlüsselbein herausgerissen und zerquetscht. Burke stöhnte auf vor Schmerz und fuhr herum wie ein Fuchs im Schlageisen, um loszukommen. Es ging nicht. Im Umdrehen sah er einen Mann, der ihn mit der Rechten gepackt hielt. Er war einen Kopf kleiner als er selbst und trug einen grauen Anzug mit weißem Hemd und brauner Krawatte. Die Beine waren fast zwergwüchsig, kurz und krumm, aber vom Gürtel aufwärts sah er aus wie ein Preisboxer, muskelbepackt und mit langen, kräftigen Armen. Der Kopf saß ohne sichtbaren Hals auf der Schulter, rund wie eine Billardkugel, mit einem Kranz schwarzer Löckchen, die sich in einer breiten Scheitelglatze verloren. Er hatte Zornesfalten auf der Stirn. Die braunen Augen waren weit aufgerissen, aber eigenartig ausdruckslos. In Angst und Wut packte Burke den Mann am Unterarm und stieß ihn zurück. Aus dem Schultergriff kam er damit frei, spürte aber, dass der Mann ihn beliebig lange hätte festhalten können, hätte er nicht von sich aus losgelassen. Schmerzwellen schossen wie Blitze seinen Arm hinunter und zum Kopf, bis ihm ein wenig schwindlig und schwach war. Er zitterte. »Wer sind Sie?«, fragte der Mann mit tiefer, heiserer Stimme. »Und was haben Sie hier drin zu suchen?« Burke bewegte die Schultern, bis der Schmerz nachließ und das Zittern aufhörte. »Danke schön«, sagte er zu dem Mann. »Genau da hatte ich noch vom Flugzeug her eine Verspannung im Nacken. Vielleicht sollten Sie Chiropraktiker werden.«
Der Mann legte die Stirn in Falten und wurde noch röter im Gesicht. Er machte einen drohenden Ausfallschritt nach vorn. »Wer sind Sie?«, wollte er wieder wissen. Burke griff in die Tasche und reichte ihm eine Visitenkarte. Der Russe studierte sie eingehend, offenbar in dem Bemühen, Worte in einem Alphabet zu lesen, an das er sich von der Schule her nur schwach erinnerte. »Wash-hing-ton Trie-buhn«, buchstabierte er. Burke nickte. »Und wer sind Sie?« Der Mann stierte ihn wieder an und rückte ihm dicht auf die Pelle. »Was suchen Sie hier drin?« »Eine Massage«, witzelte Burke. »Vielleicht hast du noch nicht gemerkt, dass du hier nicht in Washington bist, du Arschloch«, knurrte der Mann. Sein Bass hatte jetzt einen metallischen Klang. »Das hier ist Hausfriedensbruch. Eine Straftat. Ich könnte dich von der Miliz einsperren lassen.« Burke überdachte die Möglichkeiten. Wer immer der Mann auch sein mochte, er hatte offenbar irgendwelche Befugnisse. Und wenn nicht, wirkte er absolut fähig, ihm eigenhändig das Genick zu brechen. »Na schön, ich wollte etwas über ein Interview wissen, das eine Kollegin mit Wassiljew gemacht hat, vor seinem, äh…« Burke unterbrach sich und suchte nach dem passenden Wort. »… Unglück.« Jetzt setzte der Mann ein harmloses Allerweltsgesicht auf und atmete so kräftig aus, dass Burke ein Aroma von Zwiebeln und Knoblauch mitbekam. Burke bemerkte, dass das Empfangsfräulein mit offenem Mund in der Tür stand. Der Wächter vom Eingang kam hinter ihr zum Vorschein, erfasste mit einem Blick, was los war, und blieb unschlüssig stehen. »Welche Kollegin?« »Jennifer Morelli.« Der Mann fixierte kurz Burkes Blick. »So ein Interview hat’s nie gegeben«, erklärte der Mann. »Aber das kann nicht sein.« »So ein Interview hat’s nie gegeben«, wiederholte der Mann lauter. Dabei grinste er Burke fast spöttisch an, als wolle er sagen, ich weiß schon, dass du mir das nicht glaubst, aber mach mal was
dagegen. »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich bin hier der Sicherheitschef im Museum. Ich weiß über alle Journalisten Bescheid, die zu Interviews herkommen. Sie ist nicht dagewesen.« »Und Sie heißen?« Der Mann hatte wieder dieses spöttische Grinsen. »Bykow«, sagte er. »Iwan Bykow.« Zehn Minuten später machte Bykow die Tür zu seinem Büro hinter sich zu, das gegenüber vom Empfangszimmer des Direktors lag. Er setzte sich an den Schreibtisch und rief die Vorzimmerdame. Sie kam sofort. Er ermahnte sich, dass sie seine Nichte war und er in ihrem Leben derjenige, der noch am ehesten Vaterstelle vertrat. Und eben deswegen war sie auch fast wie eine eigene Tochter. Obwohl sein Drang, ihr ein Veilchen in die hübsche Fresse zu pflanzen, fast übermächtig wurde, unterdrückte er ihn. »Marina, warum hast du den Kerl in das Büro gelassen?« Das Mädchen zuckte die Schultern und verzog den grellrot geschminkten Mund zum Flunsch. »Ich hab dich doch geholt, sobald es ging«, maulte sie. »Das ist doch kein reicher Amerikaner aus einer Devisenbar!«, knurrte er und bemühte sich, nicht zu schreien. Jetzt wurde auch das Mädchen wütend. »Leck mich doch!«, zischte sie. »Ich sag doch, ich hab dich geholt, sobald es ging.« Er nickte. Vielleicht stimmte das. Außerdem gehörte sie zur Familie, was im Zweifelsfall für sie sprach. Und wenn er sie zu sehr triezte, durchlöcherte sie womöglich sein Dementi, Jennifer Morelli sei nie bei Fjodor Wassiljew gewesen. »In Ordnung«, bemühte er sich um Versöhnlichkeit. »Ruf Merrill in London an. Sag ihm, er muss so schnell wie möglich herkommen. Die Nummer hast du.« Marina nickte und stakste hinaus. Zu ihren Gaben gehörten auch Englischkenntnisse, die sie schon mit sechzehn entwickelt hatte, auf der Suche nach Freiern in den Devisenhotels. Bykow griff zum Telefon, wählte und wartete kurz. »Sascha«, sagte er. »Ich hab Arbeit für dich. Einen amerikanischen Journalisten.« Er nahm die Visitenkarte, die ihm Burke geben hatte, und buchstabierte den Namen. »Hotel weiß ich
nicht. Eine von den Touristenburgen. Such ihn. Beschatte ihn. Sag mir, wo er hingeht.« Er lauschte auf Saschas Antwort. »Nein, Sascha. Mach mit ihm nichts von alledem. Sonst weißt du wieder nicht, wann du aufhören musst.« Er hängte ein und gestattete sich ein flüchtiges Grinsen. Er mochte Sascha. Einer von den wenigen, die ihn zum Lachen bringen konnten.
13 Desdemona McCoy nahm ihr neues Kommunikationsmodul aus seinem Behältnis, einer leinenen Aktentasche, die äußerlich wirkte, als sei sie von einem alternativen Versand, legte es auf den Beifahrersitz und stöpselte es in den Zigarettenanzünder. Stumm ging sie im Kopf die Bedienungsanleitung durch. Das Modul als solches sah aus wie ein Laptop von Compaq. Das war tatsächlich auch wahr, und keine Sicherheitsdurchleuchtung am Flughafen würde je etwas anderes nachweisen können. Wenn jemand die Software auf der Festplatte ansprach, fand er nur Dateien über die Finanzen der Kunstgalerie McCoy-Fokine, Geschäftsbriefe und andere Routinesachen. Nur ein Informatiker, der das Innenleben genauestens untersuchte, würde die Hardware entdecken, die daraus weit mehr als einen Computer machte. Sie schaltete das Gerät ein und vergewisserte sich, dass die Dioden über der Tastatur in der richtigen Reihenfolge aufleuchteten. Die für den Zahlenblock blinkte rot, die für Großbuchstaben leuchtete weiß auf und erlosch. Rollen leuchtete weiß und ging ebenfalls aus. Sie vergewisserte sich draußen an ihrem Volvo, dass die Antenne ausgezogen war. Alles in Ordnung. Sie parkte in der Nähe des Sommergartens, des größten Parks der Innenstadt. Ausgesucht hatte sie sich die Stelle, weil sie weit genug von allen Hochhäusern entfernt war, die Sende- und Empfangssignale stören konnten. Ein kurzer Rundblick, aber sie sah keine Menschenseele. Das Schneetreiben hatte aufgehört, aber der Wind blies immer noch Schneefahnen von den Zweigen. Das Tageslicht war fast verschwunden, und es war hundekalt. Nicht die angenehmste Zeit für einen Spaziergang im Park. Ohne es zu wollen, und trotz ihres wachsenden Ekels vor ihrem Arbeitgeber gefiel ihr das Gerät. Zuvor hatte sie ihr Material über die russische Intelligenzija sammeln und auf einen Geschäftsflug nach Helsinki oder New York warten müssen, wo sie es dann in der jeweiligen Residentur abgab. Jetzt aber brauchte sie Sofortverbindungen, und sie war beeindruckt und dankbar, was die Techniker des Dienstes leisten konnten. Wären die Politstrategen doch bloß auch so kompetent. Sie sah auf die Uhr. Es war drei Uhr nachmittags. Der Satellit
musste jetzt in Reichweite sein. Die Großbuchstaben-Diode blinkte rot. Sie war in Reichweite. Sie drückte F1 und schickte ihren Bericht in den Himmel. Die RollenDiode blinkte rot. Bericht empfangen. Und schon ruhte er wohl geborgen in einem Computer in Fort Meade im US-Staat Maryland und harrte der Weitergabe auf gesichertem Kabel nach Langley. Sie konnte hören, wie die Festplatte im Computer mit einem automatischen Programm jede Spur der eben gesendeten Nachricht löschte. Das Bemerkenswerteste an dem Gerät war allerdings seine Chiffrierkapazität. Irgendein Spionagesatellit oder eine Bodenstation, die die Sendung zufällig abfingen, würden ein Allerweltsgespräch zwischen einer Frau aus Brighton Beach in Brooklyn und ihrem alten Mütterlein in St. Petersburg aufzeichnen. Desdemona wusste nicht, wie das Gerät das bewerkstelligte. Sie dachte kurz an die eigene Mutter und die Gereiztheit zwischen ihnen in letzter Zeit. Egal womit sie anfing, ihre Mutter schaffte es immer, das Thema zu wechseln und ihren Herzenswunsch anzusprechen, Desdemona solle in die Vereinigten Staaten zurückkommen, egal wohin, wo sie, wenn schon keinen Mann, so doch zumindestens Freunde finden könne. Die letzten paar Male hatte Desdemona gespürt, dass sie allmählich weich geklopft war. Acht Jahre Auslandseinsatz waren eine lange Zeit. Wie viele Amerikaner, die die Sprache gelernt und eine Zeit lang unter Russen gelebt hatten, hing sie in einer Art Hassliebe an diesem Land. Sie hatte Hunderte von russischen Bekannten und konnte viele von ihnen gut leiden. Aber die kulturelle Kluft und die rassische, von ihrer geheimen Arbeit ganz zu schweigen, waren zu groß für eine engere Beziehung. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie sich irgendeine ahnungslose und unbedarfte Russin suchen können, wie sie Agenten oft mit voller Zustimmung der Personalabteilung in Langley sogar ehelichten. Aber sobald eine Frau sich einließ, wurde angenommen, dass sie von einem feindlichen Agenten verführt worden sei – sie gebrauchten dafür sogar den Begriff »penetriert«. Für viele Frauen war das Tätigwerden für den Dienst daher etwas Ähnliches wie der Eintritt ins Kloster. Sie drückte F2 und wartete. Die Rollen-Diode blinkte grün und dann wieder rot. Sie hatte eine Botschaft empfangen, auf die gleiche Weise verschlüsselt wie ihre Sendung.
Dann wurde sie kurz schwankend. Von dem Augenblick, wo eine Meldung einging, bis sie sie gelesen und gelöscht hatte, war die Gefährdung am höchsten. Das Gerät würde die Mitteilung nicht preisgeben, sofern sie nicht ihren eigenen Zahlencode eingab und F4 drückte. Dass jemand zufällig auf genau diese Zahlenfolge tippte, war höchst unwahrscheinlich. Dennoch war es Vorschrift, die Mitteilung sofort zu lesen und im Kopf zu speichern. Schön und gut, dachte Desdemona, für einen Agenten, der in Paris im geheizten Hotelzimmer saß. Doch sie war darüber hinweg, sich gewissenhaft an alle Verfahrensregeln zu halten, und sie hatte auch nicht mehr genug Vertrauen in die Leute, die sie aufgestellt hatten. Sie schloss den Computer, betätigte den Anlasser und fuhr zur Galerie. Die Kunstgalerie McCoy-Fokine befand sich in einem umgebauten Souterrain am Newski Prospekt 80, etwa drei Kilometer südöstlich von Admiralität und Winterpalast. Sie fühlte sich dort nicht wohl: Es war kalt und feucht, und die Decke war zu niedrig. Zur Kunstgalerie war das Souterrain Ende der achtziger Jahre von einer Künstlergenossenschaft umgebaut worden, die später zahlungsunfähig geworden war. Sie hatte die Räume billig mieten und sich die Zeitvergeudung ersparen können, die Renovierung geeigneterer Räumlichkeiten beaufsichtigen zu müssen. Sie fuhr langsam durch das Gässchen, das den Boulevard mit dem Innenhof des Gebäudes verband. Schon wieder hatte jemand die Glühbirne geklaut. Sie parkte und sah sich um. Mit Neuschnee bedeckt wirkte der Hof sauberer und einladender. Der Schnee verbarg die Haufen von Schutt und alten Rohren, die aus dem Asphalt zu wachsen schienen, egal wie oft sie jemand fürs Wegräumen bezahlte. Zu ihrer großen Erleichterung war es in der Galerie noch dunkel. Im Sommer, auf dem Höhepunkt der Touristensaison, beschäftigte sie den Russen Wolodja als Aushilfsverkäufer. Jetzt im Winter aber kamen die Touristen seltener, und es fiel nicht auf, wenn die Galerie gelegentlich während der Geschäftszeit geschlossen blieb. Sie schloss die Tür hinter sich ab und ging an den weißen Sockeln und Würfeln vorbei, auf denen die Kunstgegenstände zum Verkauf ausgestellt waren: Bronzeplastiken, Bleiglas, Schachfiguren aus Malachit. An den Wänden zeigte sie Webteppiche, Stoffe, Miniaturen, Propagandaplakate aus der ehemaligen Sowjetunion und
ein paar große Ölgemälde von einem Künstler namens Serjoscha, von denen jedes einen aufgeblähten Teil von Stalins Anatomie zeigte: eine verquollene Hand, einen buschigen Schnurrbart, ein Glotzauge. Nur zweierlei verkaufte sie grundsätzlich nicht: Lackschachteln mit Miniaturmalerei und Matrjoschka-Puppen. Sie schloss ihr Büro auf, drehte wiederum hinter sich den Schlüssel herum und stellte den Computer auf den Schreibtisch. Die Meldung erschien auf dem Bildschirm, sobald sie ihren persönlichen Code und F4 eingegeben hatte. In gelblichem Orange leuchtete auf dem Bildschirm: TSEODI. Das hieß »Top Secret, Eyes Only, Destroy Immediately.« Desdemona wäre von diesem »Streng Geheim, Strikt Persönlich, Sofort Vernichten« beeindruckter gewesen, hätte sie dieselben sechs Buchstaben nicht einst über einer Aufforderung an sich gelesen, ihre Reisepläne zu ändern und drei Tage früher in Washington zu erscheinen. Die Meldung lautete weiter: VON OSTENDIJK KAEUFER FUER EREMITAGEKUNST ERMITTELT ALS RAFAEL SANTERA CALDERON. MAKLER IST CHARLES MERRILL AUS LONDON. ERWARTETER PREIS 400 MILLIONEN DOLLAR. KUNSTWERK WIRD ALS WEIBLICHER AKT VON LEONARDO BEZEICHNET. NACH UNSEREN RECHERCHEN IST Es DIE MADONNA LITTA. NEUE LAGE: CALDERON WILL RUSSREG NACHTRAEGLICH TAEUSCHEN UND BILD IN KOLUMBIEN AUSSTELLEN. SKANDAL WUERDE INTERESSEN VON RUSSREG UND USREG SCHWER BEEINTRAECHTIGEN. SPITZENQUELLE MUSS NACH WIE VOR VERDECKT BLEIBEN. VERKAUF TORPEDIEREN IHRE SACHE. SCHLAGE EINSATZ VON WASHINGTON TRIBUNE KORRESPONDENTEN ZUR ZEIT IN ST. PETERSBURG ZUR ENTHUELLUNG VOR. DAMIT SACHE BEENDEN BEVOR NACHWEISLICH GELD FLIESST. SKANDAL LOKAL EINGRENZEN HAT ABSOLUTEN VORRANG. SANTERA CALDERON UND MERRILL ANGEBLICH UMGEHEND IN ST. PETERSBURG ERWARTET. WW DIESER DATEN NEUNZIG PROZENT. ERWARTEN BALDIGST IHREN PLAN.
Desdemona zog unwillkürlich Luft durch die Schneidezähne. Sie las die Mitteilung mehrfach, bis sie sich das Wesentliche eingeprägt hatte, und drückte dann die Tasten, die den Text in Zeichensalat verwandelten. Dann legte sie die Handflächen aneinander wie zum Gebet, stützte sich mit einem Ellenbogen auf den Schreibtisch und legte die Stirn auf die Hände, wobei die Wangenknochen auf den Daumen ruhten. Doch bevor sie sich auf die vorliegenden Daten konzentrieren konnte, hatte sie einen Erinnerungsblitz, wie ihre Mutter genau so dasaß, mit dem Kopf in den Händen am Küchentisch. Die Grübelhaltung. Desdemona fragte sich, wie lange sie selbst diese Gebärde wohl schon unbewusst nachahmte. Wer Rafael Santera Calderon war, wusste sie ungefähr. Artikel in Nachrichtenmagazinen über kolumbianische Drogenbarone waren gelegentlich mit seinem Foto bebildert. Dass er Kunst sammelte, hatte sie nicht gewusst, aber es war keine Überraschung. Mit dem vielen Geld musste er schließlich irgendwas anfangen. »WW« stand für »Wahrheitswahrscheinlichkeit«, die neueste Vokabel des Dienstes zur Einordnung von Daten nach Wahrheitsgehalt, nach möglicher Wahrhaftigkeit. Ein WW-Wert von neunzig war sehr hoch. Er bedeutete im Allgemeinen, dass die Erkenntnisse entweder durch elektronische Überwachung von einer unfreiwilligen Gewährsperson abgeschöpft worden war, oder aus einer identifizierten Quelle stammte und zumindest durch eine weitere vertrauenswürdige Quelle bestätigt worden war. Sie ging davon aus, dass die technischen Genies des Dienstes eine Möglichkeit gefunden hatten, Rafael Santera, seinen Makler Merrill oder beide zu verwanzen. Wenn Santera wirklich vorhatte, das gekaufte Kunstwerk auszustellen, untertrieb Ostendijk nach ihrer Überzeugung die Folgen. Das russische Volk ließ sich von seiner Regierung ein unerhörtes Maß an Leiden und Not zumuten, aber nur so lange es glauben konnte, dass die Fehler der Regierung auf ehrliche Inkompetenz zurück zu führen seien. Es erduldete Korruption und Bestechung in gigantischem Umfang, so lange es die Überzeugung behielt, die Regierung sei im Grunde patriotisch und werde Russland in die richtige Richtung vorantreiben. Doch Unterschlagung und Hehlerverkauf eines Alten Meisters aus dem russischen Kulturerbe würden diese Regierung unweigerlich hinwegfegen, sobald sie
publik wurden. Sie erschauerte bei dem Gedanken, was womöglich danach kam. Spöttisch schnauben musste sie allerdings im Hinblick auf die »Wahrheitswahrscheinlichkeit« der Mutmaßung, Santera wolle die Madonna Litta kaufen. Der Dienst verfügte über allerhand Wissen, angefangen vom Sexualleben italienischer Politiker bis zum Wanderverhalten sibirischer Elche. Über Kunst wusste er aber so gut wie nichts. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie irgendein Taschenträger aus Ostendijks Büro zur Library of Congress rüberwetzte, sich einen Hochglanzbildband über die Eremitage auslieh und nach dem Durchblättern stolz verkündete: »Da haben wir’s, Boss. Es ist bestimmt diese Madonna Litta. In der ganzen Sammlung sind nur zwei Leonardos, und die andere ist hoch geschlossen. Aber die Litta zeigt ein Stück Titte.« Sie wusste auf Anhieb etliche Gründe, warum diese Theorie keinen Sinn ergab. Die Madonna Litta stammte noch nicht einmal zweifelsfrei von Leonardo. Manche Fachleute sahen sie fast gänzlich als das Werk von Gesellen an, die in Leonardos Atelier geschuftet hatten. Desdemona hatte das Bild bei ihren Besuchen in der Eremitage gründlich studiert. Es gab weniger als ein Dutzend echte Leonardos auf der Welt, und sie sah sie sich an, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatte. Sie wusste, dass der Kopf der jungen Frau, ein Dreiviertelprofil, genau mit einer Zeichnung im Louvre übereinstimmte, die eindeutig von Leonardo stammte. Die Argumentation, das Gemälde sei ein echter Leonardo, stützte sich ausschließlich auf die Mutmaßung, die Zeichnung sei eine Vorstudie des Meisters gewesen. Dem konnte sie sich anschließen. Kopf und Hals der jungen Frau in der Madonna Litta hatten zu viele Merkmale mit den besten Leonardos gemein, von der Kopfneigung bis zur kunstvollen Linienführung, als dass sie hätte glauben können, sie stammten von einem anderen, unbedeutenderen Künstler. Doch die Jungfrau in der Madonna Litta konnte schwerlich als Akt bezeichnet werden, denn sie stillte nur ihr Kind. Ihre Brust war durch einen Schlitz der Renaissanceversion einer Stillbluse zu sehen, deren Verschnürung allein hierzu aufgenestelt war. Das übrige Gemälde, meinte sie, mochte von einem Schüler stammen. Besonders der Kopf des Säuglings war grotesk verzeichnet: zu groß für den Körper und zu einem Gesichtsausdruck
verzerrt, den man nur als hochnäsiges Feixen bezeichnen konnte. Desdemona konnte sich nicht vorstellen, dass Leonardo mit seinem geschärften Sinn für die richtige Proportion von Körperteilen so etwas gemalt haben könnte. Sie war ohne weiteres bereit, darin die Arbeit eines mäßig begabten neunzehnjährigen Lehrlings mit einer Busenfixierung zu sehen. Und dann war da noch der Zustand des Gemäldes. Es war mindestens zwei Mal plump »restauriert« worden, das erste Mal von einem Mailänder Künstler fünfzehn Jahre nach der Entstehung und dann nochmals im neunzehnten Jahrhundert, als die Kuratoren des Winterpalasts es von Holz auf Leinwand übertragen ließen. Im Ergebnis dieser Bemühungen waren alle von Leonardo ursprünglich gemalten Feinheiten verschwunden. Die Farben waren glanzlos und trübe. Am linken Ärmel der Madonna war die Deckschicht von blauem Firnis, die dem Gewebe Leben und Struktur eingehaucht hatte, fast völlig dahin. Alles in allem, dachte Desdemona, ein Gemälde von ungewissem Ursprung, uneinheitlicher Qualität und schlechtem Zustand. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass die Welt nur so wenige Gemälde von Leonardo besaß, wäre diese Madonna schon längst in die riesigen Speicher der Eremitage abgeschoben worden, die Heimstatt tausender zweitrangiger Gemälde, die von Katharinas Agenten en gros eingekauft worden waren. Und es war absolut unmöglich, meinte sie, dass das Gemälde selbst auf einem von kolumbianischen Drogendollars geblähten Kunstmarkt auch nur annähernd vierhundert Millionen Dollar einbrachte. Dennoch war die Madonna Litta als das von Rafael Santera begehrte Gemälde wahrscheinlicher als der andere Leonardo in der Sammlung der Eremitage, die Madonna Benois. Von den zwei Leonardos in der Eremitage mochte Desdemona die Madonna Benois viel lieber, und sei es auch nur, weil sie eine glückliche Jungfrau zeigt, die ihrem Säugling lächelnd eine Blume hinhält. Doch die Madonna Benois war vollständig bekleidet. Und in der Tat, wenn sie sich ihre Erinnerung an andere Frauen in Leonardos Gemälden vergegenwärtigte, fiel ihr keine ein, die nicht hoch geschlossen gekleidet gewesen wäre. Meist waren es entweder die Jungfrau Maria oder eine Heilige. Außer der Dame mit einem Hermelin in der Krakauer Sammlung Czartoryski, von der sie nur
eine Fotografie besaß, hatte sie fast alle Gemälde von Leornado mit eigenen Augen gesehen. Sie konnte sich an keinen erwachsenen Akt erinnern. Die Madonna Litta kam dem noch am nächsten. Aber wie wollten sie die hintenrum verkaufen? Tausende von Besuchern sahen sie sich jeden Tag an. Ob es eine Fälschung war? Die Eremitage verfügte über eine legendäre Malschule, in der unter anderem gelehrt wurde, wie man Gemälde restaurierte und kopierte. Aber es war so gut wie unvorstellbar, dass die russische Regierung darauf verfiel, einem von Charles Merrill vertretenen Verkäufer eine Fälschung anzudrehen. Vielleicht vor hundert Jahren. Aber seit der Erfindung des Röntgenapparates hatte die Technik Kunstkäufern immer mehr Werkzeuge zur Aufdeckung von Fälschungen zur Verfügung gestellt. Merrill, wenn nicht sogar sein Mäzen, würde schon wissen, welches Verfahren dazu eingesetzt werden musste. Sie überlegte kurz, was jemand widerfahren dürfte, der dumm genug war, sich dabei erwischen zu lassen, wie er Rafael Santera Calderon eine Fälschung unterschob. Die Vergeltung würde blitzartig und brutal ausfallen. Sie musste mehr in Erfahrung bringen. Und dabei unbedingt ihre Legende wahren. Die nahe liegendste Lösung war, Burke eine Indiskretion zukommen und ihn dann die Fragen aufwerfen zu lassen. Und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass er die Geschichte hinausposaunte, womit das Geschäft geplatzt war. Beim Gedanken an Burke runzelte sie die Stirn. Es war typisch für die Idioten in Langley, dass sie nicht einen einzigen Schritt vorausdachten. Vor achtundvierzig Stunden hatten sie sie angewiesen, ihn im Zug abzufangen und ihn auf eine falsche Fährte zu locken. Ihm den Floh ins Ohr zu setzen, Wassiljew sei schwul gewesen, hatte da noch recht schlau gewirkt. Dem weißen Hetero, der nicht überzeugt war, mindestens die Hälfte der Männer in der Kunstszene seien homosexuell, musste sie erst noch begegnen. Aber jetzt wollten sie, dass sie sich sein Vertrauen erschlich und ihn auf die richtige Spur setzte. Sie konnte nur hoffen, dass Burke noch nicht dazu gekommen war, ihrem Hinweis nachzugehen. Wenn er sich von ihr benutzen lassen sollte, musste sie für ihn über jeden Zweifel erhaben sein. Es kam ihr kurz in den Sinn, dass es für Ostendijk noch immer bestens lief, sollte er sie insgeheim scheitern lassen wollen. Denn
wenn Burke ihre Irreführung konsequent nachrecherchiert hatte, würde er schwerlich noch Lust auf Zusammenarbeit haben. Während ihrer Schulung hatte Desdemona allerhand Geschichten über trunksüchtige und ahnungslose Reporter gehört, die in ihren Hotelzimmern sitzen blieben und jede Desinformation weiterverbreiteten, die ihnen die CIA nach Gusto zuspielte. Doch Burke passte nur äußerlich in die Stereotypen des Diensts. Er war zwar geschieden, vom Leben gebeutelt, hatte rot geränderte Augen, und nach seinem Schielen auf ihre Weinflasche war ihm der Alkohol nicht fremd. Doch auf der gemeinsamen Zugfahrt hatte er nur Tee getrunken. Er sprach fließend russisch. Er wusste seine Fragen zu stellen. Unter anderen Umständen hätte sie noch viel mehr Gemeinsamkeiten mit ihm empfunden. Vielleicht hatte Ostendijk sich das auch schon gedacht und sich ausgerechnet, dass sie gar nicht imstande sein würde, Burke zu steuern. Jedenfalls wollte sie verdammt sein, wenn sie sich von Ostendijk verheizen ließ. Sie hatte versagt, wenn sie zuließ, dass dieser Skandal losbrach und die geringen Aussichten zerstörte, dass Russland es bis zur nächsten Wahl schaffte. Sie würde halt mit dem hantieren müssen, was sie in die Finger bekam. Und sich irgendwie der Hilfe Burkes versichern, über sein Misstrauen hinweg und ohne dass er es merkte. Zum Lachen hatte er sie immerhin gebracht, erinnerte sie sich. In einer russischen Winternacht war das nicht eben wenig. Sie griff zum Telefon und rief im Hotel Jewropeiskaja an.
14 Burke schritt entschlossen am Portier und der kurzen Schlange von Taxigangstern vor dem Hotel Jewropeiskaja vorbei in Richtung der Metrostation Gostinny Dwor. Er hatte die russischen Taxifahrer mit ihren Mondpreisen schon immer verabscheut. Er wusste, sie erzwangen ihr Minimonopol, indem sie jedem, der ihre Tarife zu unterbieten wagte, Gesicht und Reifen schlitzten. Das ging gegen sein Gerechtigkeitsgefühl. Zwar setzte er sich oft darüber hinweg, wenn er es eilig hatte und auf Spesen reiste, doch das hier ging auf eigene Kosten, und er hatte schon unvorgesehene dreihundert Dollar aufgewandt. Er blieb an einem Schnapskiosk in der Nähe des Metroeingangs stehen und überlegte, was er Sascha Winogradow mitbringen sollte. Sascha würde irgendeine Spirituose erwarten, Importware natürlich. Aber bei dem Gedanken, mit einer Flasche unterwegs zu sein, wurde ihm mulmig. Er ging zu einem anderen Kiosk und kaufte eine Schachtel Pralinen. Pralinen aß er nicht besonders gern, und so würde er zumindest nicht in der Bahn sitzen und gegen die Versuchung kämpfen müssen, das Geschenk aufzuschrauben und anzutrinken. Dann fuhr er mit der Rolltreppe in die Metro hinunter. Der Zug fuhr ein, und Burke klemmte sich zwischen zwei ältere Herren, die beide die Rossiskaja Gaseta lasen. Er schielte dem Mann zur Linken über die Schulter und begann einen Artikel über die Ankündigung der Duma mitzulesen, die Agrarsubventionen im Haushalt des Präsidenten um vierzig Prozent zu erhöhen. Der Alte merkte es, bedachte ihn mit einem giftigen Blick und blätterte raschelnd weiter. Ertappt kramte Burke in seiner Schultertasche nach seinem Exemplar der Brüder Karamasow. Er blickte auf den Metroplan über der Waggontür. Die Station von Winogradow war die nächste. Diesmal hätte er gern weitergelesen. Sascha Winogradow wohnte auf der anderen Seite der Newa in einem Viertel, das immer noch nach der Krasnogardewski oder Roten Garde benannt war. Seine Wohnung lag nur ein paar hundert Meter von der Metrostation entfernt, war ihm gesagt worden. Der Wind hatte
aufgefrischt und machte sich kräftig bemerkbar, ließ die Hosenbeine flattern und saugte an seiner Körperwärme, während er vornübergebeugt dahinschlurfte und die Buchstaben auf den Straßenschildern zu entziffern suchte. Er fand die Straße, den Prospekt Energetikow, und ging einen Häuserblock weit in die falsche Richtung, bis er einen Bau mit Hausnummer entdeckte und sich orientieren konnte. Er war schon daran vorbei. Fluchend kehrte er um, ging zurück und schob schließlich völlig durchgefroren die hölzerne Pendeltür in das stockfinstere Treppenhaus von Nummer 42 auf. Burke tastete herum und wunderte sich, dass es kein Licht gab. Er schlurfte langsam vorwärts, bis seine Hand auf ein poliertes Stück Holz traf, das er für die Endschnecke des Treppengeländers hielt. Richtig vermutet. Er erklomm die Treppe in der Hoffnung, dass wenigstens auf einem der Treppenabsätze eine funktionierende Glühbirne übrig wäre, mit der er Wohnung Elf finden konnte. Ohne Zweifel ein Altbau, womöglich noch aus der Zeit vor der Revolution. Die Treppen waren breiter als in Gebäuden aus der Sowjetzeit und die steinernen Stufen von den schlurfenden Füßen von Generationen ausgehöhlt. Im vierten Stock brannte eine winzige Glühbirne. Schwer atmend besah er sich die Zahlen auf den vier Türen, die vom Treppenabsatz abgingen. Fünfzehn bis achtzehn. Ein Stockwerk zu hoch. Mit einer Hand am Geländer stieg er wieder hinunter in den dritten Stock und klopfte an die Tür, hinter der er Wohnung Elf vermutete. Sascha Winogradow machte auf. Bei ihrer letzten Begegnung 1988 hatte Winogradow Jeans und ein altes Baumwollhemd getragen. Ein üppiger roter Bart hatte Kinn und Hals verdeckt. Jetzt war er glatt rasiert. Sein roter Schopf, in den Jahren seither schütter geworden, war kurz geschnitten. Winogradow trug eine schwarze Fliege zum grauen Frack, und sein weißes Hemd hatte einen Vatermörder zum Kragen. Burke hatte dergleichen bisher nur im Theater gesehen, und einen Augenblick lang dachte er, Winogradow probe gerade als Laienschauspieler. Solche Kostüme trugen Akteure in Stücken von Tschechow. Im Frackaufschlag steckte eine Stahlbrosche. Burke fixierte sie und entdeckte den Doppeladler, das Zarenwappen. »Gospodin Burke«, begrüßte ihn der Künstler, verbeugte sich und
bat ihn herein. »Danke«, sagte Burke. »Wie geht’s Ihnen denn, und seit wann sind Sie Monarchist?« Winogradow errötete leicht. »Schon immer.« »Das haben Sie aber gut verborgen«, stichelte Burke. Der Künstler deutete auf einen Stuhl, und Burke setzte sich. »Früher musste man allerhand verbergen«, sagte Winogradow. Er hatte eine prätentiöse, irgendwie abgehackte Aussprache entwickelt, die sich seltsam in einer Stadt anhörte, wo viele russische Vokale und Konsonanten einfach unter den Tisch fielen. Aus der Küche erschien Jelena Winogradowa. Als Burke ihr erstmals begegnete, war sie jung verheiratet gewesen, ein Status, der ihr nach vielen Jahren wechselnden Modellstehens für ihren nunmehrigen Gatten zuteil geworden war. Doch die sieben Jahre seither hatten auch sie verändert. Damals hatte sie eine dralle Figur gehabt, soweit sich Burke erinnerte – und sein Gedächtnis war da gut – und hatte Sachen getragen, in denen ihre Rundungen zur Geltung kamen. Jetzt aber trug sie eine hoch geschlossene, langärmelige weiße Baumwollbluse und wirkte darin bloß noch fett. Am Halse baumelte ihr ein mit Lapis besetztes Silberkreuz. Als er die Hand ausstreckte, zögerte sie kurz, bevor sie sie sacht und geziert ergriff. Sie nahm die Pralinenschachtel mit gemurmeltem Dank entgegen und entschwand wieder in die Küche. Winogradow entschuldigte sich und folgte ihr, und Burke sah sich um. Die Bilder an den Wänden passten zum Wandel in Kleidung und Auftreten der beiden. Ende der achtziger Jahre hatte Sascha einer Art unbekümmertem Eklektizismus gehuldigt und große, bunte Bilder mit widersprüchlichen Motiven gemalt. Burke erinnerte sich besonders an eines mit Juri Androwpow als Jesus Christus und Jelena als Maria Magdalena. Winogradow war deswegen aus der Künstlergewerkschaft geflogen. Die jetzigen Bilder an den Wänden zeigten alle irgendein Dorf mit zerfallener orthodoxer Kirche und Leuten, die wie die Winogradows nach dem vorigen Jahrhundert gekleidet waren. Auf einem Bild hielt eine Familie ein Picknick unter einer Linde ab, im Hintergrund die Kirche, bei der Löcher in den Zwiebelhauben den Himmel durchscheinen ließen. Auf einem anderen angelten zwei Männer in langärmeligen weißen Hemden und Krawatten mit Bambusruten in einem blauen Teich. Ein Drittes zeigte einen
Trauerzug unterwegs zum Friedhof neben der Kirche. Alle Bilder waren irgendwie elegisch, fast wie mit Weichzeichner fotografiert. Jelena Winogradowa kam aus der Küche, mit einem Tablett, darauf eine reifbeschlagene Flasche Wodka, braune Brotscheiben, Butter und ein Tellerchen Kaviar. Schweigend stellte sie alles auf den Couchtisch neben Burke. Mit einem Küchenmesser strich sie Butter aufs Brot, darüber einen Hauch Kaviar, und stellte das auf einer Untertasse vor Burke hin. Dasselbe tat sie für ihren Gatten. Zu Burkes gelinder Überraschung zog sie sich daraufhin in die Küche zurück. Er wusste noch genau, dass sie 1988 beim Interview dabeigesessen, manchmal gelächelt und eine Bemerkung eingeworfen hatte. Was hatte sie wohl so verändert? Winogradow goss den Wodka in zwei Wassergläser und brachte einen Trinkspruch aus. »Auf Ihre Rückkehr«, sagte er. Burke nickte. Er sah zu, wie sich Winogradow den Wodka mit Schwung in den Hals kippte, setzte das Glas an den Mund und stellte es dann wieder hin. Winogradow saß kurz stocksteif da und genoss, wie ihm der Wodka bis in den Magen brannte. Dann merkte er, dass Burkes Glas immer noch voll war. »Sie haben ja nichts getrunken«, staunte er. »Sie hatten schon immer ein scharfes Auge für menschliche Schwächen, Sascha«, antwortete Burke. »Aber Sie müssen«, beharrte Winogradow. »Wegen der…« Er stockte auf der Suche nach einem Grund. »Wegen der Freundschaft«, sagte er dann. »Ich darf nicht«, entgegnete Burke. »Wegen der Leber.« Winogradow runzelte die Stirn und nickte beleidigt. »Jelena«, rief er dann. Wie ein Kastenteufel erschien sie aus der Küche. »Mach Mr. Burke einen Tee«, befahl er in einem Ton, als solle sie Burke ein Paar von ihren Socken borgen. Winogradow goss sich noch mal ein Wasserglas voll, stürzte es hinunter und schüttelte sich. »Schon bei dem bloßen Gedanken zu verzichten wie Sie, wird mir ganz anders«, sagte er und lächelte dann. »Außerdem ist es starker Wodka. Sogar mit Pfeffer drin. Wir brennen ihn selber, im Sommer auf der Datscha.« Burke musste schlucken. »Bestimmt ist er köstlich.«
Jelena kam mit einer Kanne Tee zurück und schenkte Burke ein. Er sah zu, wie die Teeblätter unten in der Tasse kreisten. Jetzt war er mit einem Trinkspruch dran. Er dachte an einen auf die Gesundheit des Zaren, entschied aber dann, dass Winogradow in den letzten Jahren neben dem Stilgefühl auch den Sinn für Humor eingebüßt haben könnte. »Auf Ihre hervorragende Kunst«, sagte er und hob die Tasse. Wenn ihm sonst nichts Rechtes einfiel, hatte Burke festgestellt, kam er bei den meisten seiner Gesprächspartner mit Bauchpinselei am besten durch. Winogradow lächelte in gespielter Bescheidenheit, und sie kippten ihr jeweiliges Getränk. »Würden Sie gerne sehen, woran ich jetzt arbeite?« Burke war an Sascha Winogradows jüngsten Kunstprodukten ungefähr so brennend interessiert wie an einer durchschnittlichen Briefmarkensammlung. Aber er nickte so zuvorkommend wie möglich. Jedes Gespräch hatte sein Ritual, und zuallererst musste dafür gesorgt werden, dass sich der Gesprächspartner wohl fühlte und obenauf. Winogradow stand auf und öffnete eine bisher von einem Vorhang verdeckte Flügeltür. Sie ging in einen Nebenraum, in dem es nach frischen Künstlerfarben roch. Burke lächelte. »Also haben Sie doch Ihr Atelier bekommen.« Winogradows Ausschluss aus der Künstlergewerkschaft 1988 war vor allem deswegen ein Einschnitt gewesen, weil die Mitglieder der Kulturgewerkschaft im alten Sowjetsystem nach einiger Speichelleckerei einen Anspruch auf eine Wohnung mit einem Extrazimmer zum Schreiben oder Malen oder zu sonstigen Tätigkeiten der Systemverherrlichung erwarben. Winogradow hatte das hehre Ziel der offiziellen Zuweisung fast erreicht gehabt, als er ausgeschlossen wurde. Damit war er verurteilt gewesen, in einer Einzimmerwohnung zu leben und im selben Raum zu schlafen, zu essen und zu malen. »Ich bin wieder in die Gewerkschaft aufgenommen worden«, erläuterte Winogradow, »schon 1992.« »Teilt die Gewerkschaft immer noch die Ateliers zu?« »Freilich. Warum auch nicht?« Er war versucht, zu fragen, wie Winogradow es unter einen Hut brachte, als Monarchist eine Wohnung der Künstlergewerkschaft zu belegen, überlegte es sich aber dann anders. Die Frage würde
Winogradow, wie er wusste, deplatziert oder unsinnig vorkommen. Für die meisten Russen bestand da kein Widerspruch. Winogradow betätigte einen Schalter und erleuchtete so das Zimmer. Seine neueren Werke verlängerten das Dorfthema der Bilder aus dem Wohnzimmer. Nach den Gemälden zu urteilen, war die Dorfkirche vor kurzem restauriert worden, weil ihre Zwiebelhauben auf den neuesten Bildern neu gedeckt und vergoldet waren. Sie strahlten hell in der Wintersonne. Diese stilisierten Dorfidyllen, dachte Burke, zeigten bloß, dass Winogradow immer abgeschmackter wurde. Wenn er so weitermachte, würde er als alter Mann russische Ableger von Holiday Inn mit süßlichen Landschaften ausmalen. »Sie sind wundervoll«, log Burke. Der Künstler hüstelte bescheiden. »Und zu verkaufen.« »Ach, ich könnte mir bestimmt keines leisten«, bremste Burke hastig. »Sie müssten verhungern, wenn Sie Reportern Bilder verkaufen wollten. Aber in New York könnten Sie sicher welche loswerden.« Winogradow zuckte gleichgültig die Schultern. »Kaum«, widersprach er. »Der New Yorker Kunstmarkt ist restlos verjudet.« Das ließ Burke ihm durchgehen, aus demselben Grund, aus dem er nicht gefragt hatte, ob ein Monarchist nicht Skrupel habe, in der Gewerkschaft zu sein. »Ich kenne eine, die nach New York Gemälde verkauft«, erzählte er. »Und sie hat auch hier eine Art Galerie. Sie heißt Desdemona McCoy.« »Die Negerin?«, fragte Winogradow. Dass es zwei Schwarze im Kunsthandel von St. Petersburg gab, war so unwahrscheinlich, dass Burke bestätigend nickte. »Was für eine Verbindung kann denn so eine zu Leuten haben, die sich Gemälde leisten können?«, fragte Winogradow. »Wer würde sich denn auf so einen Geschmack verlassen?« »Ich hab den Eindruck, sie macht ihre Sache ganz gut«, erwiderte Burke scharf. »Ich würde Ihnen ihre Karte geben, aber offenbar haben Sie gar kein Interesse.« Winogradow, der irgendwie spürte, er hatte jemand mit harten Devisen verprellt, aber keinen Schimmer hatte, womit, regte eine Rückkehr ins Wohnzimmer an. Diesmal machte Burke sich nicht die Mühe eines Trinkspruchs.
Er sah zu, wie Winogradow sich den Alk einschüttete und wartete ab. Er fühlte sich fast wie der Versuchsleiter in einem klinischen Experiment, der durch den Einwegspiegel zusieht, was der minderbemittelte Proband so alles treibt. Er beschloss, so viel wie möglich herauszukriegen, bevor Winogradow noch mehr Gesprächsfähigkeit einbüßte. »Was haben Sie über Fjodor Wassiljews Tod gehört?« Winogradow schenkte sich selbst Wodka und Burke Tee nach. Burke kam ins Staunen, mit welcher Beiläufigkeit er selber früher während seiner Interviews etliche solcher fünfstöckigen Wodkas zur Brust genommen hatte. »Sind Sie deswegen nach St. Petersburg gekommen?«, wollte Winogradow wissen. Allmählich verschliff seine monarchistische Diktion und seine Stimme klang wieder so, wie Burke sie von früher kannte. Burke nickte. Immerhin die halbe Wahrheit. »Also, wenn Sie mich fragen, ein Raubüberfall war das nicht«, sagte Winogradow. »Jedenfalls nicht so, wie es die Miliz hinstellt.« »Warum nicht?« Winogradow zuckte die Schultern. »Ich hab gehört, die Mörder haben sein Auto stehen gelassen. Dabei war es ganz in der Nähe geparkt. Und das in einer Stadt, in der sogar die Wischerblätter geklaut werden.« »Und wer, glauben Sie, hat ihn dann umgebracht?« Winogradow lehrte sein Glas. »Die Mafia«, rülpste er. Die Russen gaben an allem »der Mafia« die Schuld. Das Wort konnte alles bedeuten, von Verbrecherbande bis zu einer Seilschaft gesetzestreuer Geschäftsleute, die es fertig brachten, einen Gewinn zu erzielen. »Wer? Warum?« Winogradow schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer. Aber ich habe da meine Vermutungen.« Er stockte. Offenbar wollte er, dass Burke ihm die Zunge lüpfte. Oder er meinte, Burke wisse schon alles. »Wer?« »Natürlich Slema Tschawtschawadse.« »Von dem hab ich gehört«, sagte Burke, und es war nur ein bisschen gelogen. »Ist das nicht der Kopf der Mafia von St.
Petersburg?« Winogradow schüttelte den Kopf. »Nicht bloß von Petersbourg«, widersprach er, die Nachsilbe französisch betonend. »Slema hat in Moskau, Kiew, Riega, Perm seine Pferdchen laufen. Slema ist überall.« Burke fiel auf, dass er den Vornamen benutzte. »Sie kennen ihn?« Winogradow nickte. »Wie das?« Der Künstler kniff die Augen zusammen. »Es ist fünf oder sechs Jahre her«, sagte er leise, »da hat Slema sein Fundament gelegt. Er war führend im illegalen Export von Ikonen. Nach meinem Ausschluss aus der Künstlergewerkschaft hat er mich beschädigte restaurieren lassen. Er hat gut gezahlt.« »Mochten Sie ihn?« Winogradow schüttelte den Kopf. »Er ist doch Ossete. Aber gut gezahlt hat er.« »Was wissen Sie sonst noch über ihn?« Der Künstler zuckte die Schultern und grinste dann verschwörerisch. »Ich weiß, was Slema bedeutet.« »Was denn?« »Stalin, Lenin, Marx.« Burke wusste, dass Sowjetbürger einer gewissen Altersstufe häufig mit Vornamen wie Wladlen oder Proletarier geschlagen waren, aus Bolschewistennamen und -parolen von Eltern zusammengemanscht, die entweder selbst eifrige Anhänger der Revolution oder bemüht gewesen waren, sich mit solchen gut zu stellen. »Also ist er wohl vor 1953 geboren.« Winogradow nickte. »Sein Vater war Ossete, Erster Sekretär einer oblast irgendwo in den georgischen Bergen. Seine Mutter war allerdings Russin. Aus St. Petersburg. Sie haben ihn hier zur Schule geschickt.« »Wo könnte ich ihn finden?« Winogradow lachte. »Also, nach Slema würde ich nicht suchen«, warnte er. »Es würde ihm vielleicht missfallen. Wenn Sie ihn sprechen wollen, er geht fast jeden Abend ins Ballett. Er ist jetzt dort der große Mäzen, verstehen Sie. Ohne ihn könnte das Mariinski dicht machen.«
»Er schätzt das Ballet?« Winogradow schnaubte. »Die Balletteusen. Besonders die blutjungen.« Burke fragte sich, wieviel ihm sein spezieller Freund, der Empfangschef Nikolai, für Ballettkarten abknöpfen würde. »Warum sollte er Wassiljew umbringen lassen?« Winogradow zuckte die Schultern. »Da gäbe es zweierlei Gründe. Wahrscheinlich aber, weil seine Leute das Museum beklauen.« Dass er das so ungerührt von sich gab, verblüffte Burke. »Beklauen?« Winogradow lachte auf eine Art, die seine Verachtung sowohl für die Diebe als auch für die amerikanische Naivität kundtun sollte. »Aber freilich.« »Und was?« »Alles, was klein genug ist zum Rausschleppen! Münzen. Juwelen. Miniaturen. Bestecke. Die Eremitage behauptet, zwei Millionen Kunstobjekte in ihren Beständen zu haben, aber das sind bloß Schätzungen. Das ganze Zeug ist in Schränken und Speichern und Kellern verstaut. Vieles davon könnte verschwinden, ohne je vermisst zu werden.« »Und wer klaut es? Angestellte?« Winogradow nickte. »Und dann verkaufen sie es an die Mafia, an Tschawtschawadse, und der exportiert es. Das ist einer der Gründe, weshalb Wassiljew umgebracht worden sein könnte. Vielleicht hatte er was dagegen.« Burke dachte an seine Begegnung mit dem Sicherheitschef vom selben Morgen. »Und was wissen Sie über Iwan Bykow?« Winogradow erstarrte. »Warum fragen Sie?« »Dem bin ich heute Morgen begegnet. In der Eremitage. Er ist der Sicherheitschef.« Winogradows Miene verzog sich schmerzlich. »Da sei Gott vor! Der Sicherheitschef in der Eremitage ist ein alter Apparatschik namens Kyrillow. Schon seit vielen Jahren.« Burke schüttelte den Kopf. »Na, der Kerl hat behauptet, er sei es, und ist mit mir umgesprungen, als habe er das Sagen. Warum sagen Sie ›da sei Gott vor‹?« »Der Bykow, von dem ich weiß, ist ein Typ, der aus der sowjetischen Olympiamannschaft für Ringen oder Boxen oder dergleichen rausgeschmissen wurde, weil man ihn erwischt hat, wie
er bei Mannschaftsreisen Ikonen aus dem Land schmuggelte«, erklärte Winogradow. »Das war etwa vor zehn Jahren. Jetzt arbeitet er für Slema.« »Ein Typ, knapp ein Meter siebzig, sehr breite Schultern, schwarzer Haarkranz?« Winogradow hob die Schultern. »Ich hab ihn nie zu Gesicht bekommen oder mit ihm zu tun gehabt. Nur von ihm gehört.« »Wie könnte so jemand, wenn er es denn ist, zum Sicherheitschef ernannt werden?« Winogradow rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, die internationale Geste für Bestechung. »Da müssen Sie das Kulturministerium in Moskau fragen.« Winogradow goss sich noch einen Wodka ein, stürzte ihn hinunter und schüttelte sich. »So ein Skandal! So eine Schande! Unter dem Zaren wäre das nie passiert!« »Nein«, stimmte Burke zu. »Unter dem Zaren wäre Bykow wahrscheinlich längst Polizeioffizier.« Winogradow war indes längst schon zu betrunken und zu erregt, um das mit dem Zaren krumm zu nehmen. »Das hat uns Ihre Demokratie eingebrockt!«, knurrte er. Er spuckte zur Bekräftigung aus, haarscharf am Kaviar vorbei. Burke kratzte sich hurtig Kaviar auf eine Brotscheibe und platzierte sie außer Spuckweite. »Na, eigentlich nicht«, widersprach er. »In unserer Demokratie machen die Leute ihre Raubzüge auf dem freien Markt und spenden hinterher was an Museen. Eine höhere Entwicklungsstufe, auf die sich Russland noch freuen darf.« Winogradow sah plötzlich älter und trauriger aus, gar nicht mehr wütend. »Das ist nicht zum Lachen«, wehrte er sich schwach. »Tut mir Leid«, entschuldigte sich Burke und meinte es. »Und woher wissen Sie, dass geklaut wird?« Winogradow hob phlegmatisch die Schultern. »Hört man so.« Burke runzelte die Stirn. »Haben Sie je gesehen, wie etwas angeboten wurde?« Winogradow schnaubte. »Natürlich nicht! Geht alles ins Ausland.« Burke machte einen letzten Versuch, Konkreteres zu erfahren. »Haben Sie je davon gehört, dass jemand verhaftet oder verurteilt worden ist?«
Winogradow schüttelte den Kopf. Auch Burke musste den Kopf schütteln. »Wenn ich einen Dollar für jedes heiße Gerücht hätte, könnte ich alle Ihre Gemälde aufkaufen.« Winogradow nahm den Köder nicht. Statt dessen versank er in einstudierte Teilnahmslosigkeit, ein Verhalten, das er sich vermutlich aus der Lektüre von Oblomow zu eigen gemacht hatte. »Sie sagten, es gäbe zwei mögliche Gründe. Und wie lautet die zweite Theorie?« »Na, die Eremitage hat ein Joint Venture mit ein paar Judenlümmeln in den Vereinigten Staaten. Mit Emigranten, die Wanderausstellungen von Kunstobjekten durch Museen im Westen arrangieren. Vor einem Jahr haben Sie die Krönungskutsche von Katharina der Großen nach Kalifornien und Texas geschickt, glaube ich. Die Museen zahlen für so was. Bringt ordentlich Devisen.« »Und?« »Wassiljew hat sich geweigert, wirklich Wertvolles – zum Beispiel die Leonardos, die Rembrandts oder die Matisses – auf Auslandsreise zu schicken. Damit hätten Sie noch viel mehr Valuta gemacht. Liegt doch auf der Hand.« Burke nickte. »Woher wissen Sie, dass Wassiljew nicht mitmachen wollte?« Winogradow zuckte die Achseln. »Na schön, wenn wir schon bei Gerüchten sind«, fasste Burke nach, »haben Sie je was läuten hören, dass Wassiljew…« Er stockte. Es gab kein russisches Äquivalent für das eher neutrale Wort »schwul«, nur massenhaft russische Äquivalente für »warmer Bruder«, wie goluboi, aber die wollte er vermeiden. »… homosexuell ist«, schloss er, nachdem er sich an das Wort gomosek erinnert hatte. Winogradow musste laut lachen. »Sie meinen, ob er ein warmer Bruder war?« Burke nickte. »Um Gottes willen, nein. Er hatte eine Frau. Ich glaube, sogar Kinder. Vor zwei Jahren hatte er eine Affäre mit einer Assistenzkuratorin. Einer Frau. Die ganze Stadt hat davon gewusst.« Burke nickte. Noch so ein unbestätigtes Gerücht. »In Ordnung«, sagte er. »Vielen Dank. Sie haben nicht zufällig Namen und Adresse von Wassiljews Witwe, oder?«
Winogradow kicherte. »Ich weiß nicht, ob sie mit einem Amerikaner reden würde. Oder überhaupt dazu imstande ist.« Aber er rief nach Jelena, sie solle das Buch holen und ihm die Adresse aufschreiben. »Sie hat was gegen Amerikaner?« »Das erklärt Ihnen Galina Wladimirowna besser selbst.« Burke nahm den Notizzettel von Jelena entgegen, dankte ihr und ging in den Flur, wo er seine Schuhe gelassen hatte. Eins war da noch. »Hat eine amerikanische Journalistin namens Jennifer Morelli je mit Ihnen gesprochen?« Winogradows Miene hellte sich auf. »Ja, hat sie. Ist sie mit Ihnen befreundet?« Burke nickte stumpf. »Ich hab ihr Ihre Nummer gegeben.« »Sie war ganz reizend. Sie hat vor ungefähr drei Wochen angerufen, ist vorbeigekommen, und wir haben geredet. Alles mögliche über die Eremitage. Ich hab ihr sogar Wassiljews Telefonnummer gegeben.« Burke nickte wieder. Sprechen konnte er nicht. »Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Winogradow liebenswürdig. »Haben Sie sie in letzter Zeit getroffen?« »Nein«, sagte Burke mit brüchiger Stimme. »In letzter Zeit nicht.« Die Stoßzeit war vorbei und die Stadt zur nächtlichen Ruhe gekommen. Die Menschen waren daheim. Burke trat aus Winogradows Haus und überprüfte die Temperatur auf die gewohnte Art, indem er durch die Nase einatmete. Wenn beim ersten Atemzug nichts gefror, war es nicht zu kalt, zu Fuß zu gehen und dabei den Verstand auszulüften. Galina Wassiljewa wohnte in der Straße der Roten Flotte, der Verlängerung der Uferpromenade vor dem Winterpalast. Ob das zu Fuß zu weit war, wusste er nicht, aber notfalls fuhr eine Straßenbahn. Das Haus lag letztendlich näher als erwartet, nur ein paar Häuserblocks von der Isaakskathedrale entfernt. Ein massiver, sechsstöckiger Haufen grauen Kalksteins, verrußt von den Auspuffgasen der altersschwachen Laster, die auf der Uferstrafe vom flussabwärts gelegenen Hafen daherstanken.
Erst als er eine Schneewehe überklettert und die Rückfront erreicht hatte, begriff er, was für ein Bau das war. Für die herrschende Klasse einer klassenlosen Gesellschaft errichtet, verbarg er vor Straßenpassanten seine Opulenz. Hinten auf der Eingangsseite gab es nur drei Treppenhäuser. Normal hätte ein Wohnblock dieser Größe sechs oder acht haben müssen, aber die Wohnungen hier waren zwei- oder dreimal so groß wie der Durchschnitt. Und genossen erkennbar noch Vorzugsbehandlung, zumindest nach russischen Maßstäben. Der Parkplatz war vom Schnee geräumt, der kleine Kinderspielplatz neu ausgestattet, mit einer kleinen Blockhütte und drei holzgeschnitzten Rehen. Die einfache Eingangstür ging in eine richtige Vorhalle, in der sogar Glühbirnen brannten. Ein alter Mann schnarchte neben der Tür still vor sich hin, in einen Schal und eine speckige alte Schapka gehüllt. Burke weckte ihn nicht. Er hatte sich nicht telefonisch angemeldet, weil Sascha Winogradow ihn gewarnt hatte, sie würde mit einem Amerikaner vielleicht nicht reden. Am Telefon hätte sie ihn leicht abwimmeln können. Aber seiner Erfahrung nach waren sogar die fremdenfeindlichsten Russen viel zu gastfreundlich, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Der Aufzug befand sich in einem maschendrahtumsponnenen Schacht im Treppenhaus. Das Zufallen der Fahrstuhltür weckte den Türhüter schließlich, aber bevor er reagieren konnte, war Burke bereits im zweiten Stock. Er sah die gesuchte Wohnung im dritten, drückte auf den Knopf für den vierten und stieg das Treppenhaus wieder hinab. Als er die Türklingel betätigte, hörte er drinnen einen Gong. Eine alte Frau, viel zu betagt für Fjodor Wassiljews Witwe, machte auf. Sie war winzig und krumm gezogen, mit Haaren, die er als schneeweiß bezeichnet hätte, wäre nicht der Schnee, der es durch die Abgaswolken von St. Petersburg bis auf den Boden schaffte, viel zu grau gewesen. Sie wirkte so zart, als könne sie vom Wind weggepustet werden. Sie ließ ihn eintreten. Als er ihr sagte, er wollte Galina Wassiljewa besuchen, und ihr seine Visitenkarte aushändigte, krächzte sie kaum Verständliches, bedeutete ihm, im Flur zu warten, und huschte davon. Burke ging den Flur in die andere Richtung und stand zum ersten
Mal in einem russischen Wohnzimmer, das groß genug für einen Flügel war. Zwei Panoramafenster boten einen Blick auf die weiße Fläche der Newa, hier ungefähr einen Kilometer breit. An den Wänden hingen Bilder und Familienfotos, auf allen ein Mann, dessen Gesicht er fast vergessen hatte, obwohl es einst an der Wand seines Moskauer Büros gehangen hatte, auf dem Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros: Wladimir Natschalnik, Parteichef von Leningrad unter Breschnew und eine Zeit lang Rivale Michail Gorbatschows im Kampf um die Macht. Ein mondgesichtiger, gedrungener Mann mit Schweinsäuglein und üppigem Haarschopf. Auf den Fotos hier wirkte er eine Spur menschlicher als auf den offiziellen. Auf einem davon waren außer ihm noch Breschnew und ein etwa zwölfjähriges Mädchen zu sehen. Die Männer trugen Strohhüte und langärmelige Hemden mit offenem Kragen, in der krampfhaften Lässigkeit irgendeiner Sommerfrische, das Mädchen kurze Hosen und das rote Halstuch der Jungen Pioniere. Nach dem halbwegs wachen Blick Breschnews zu urteilen, musste das Foto irgendwann in den frühen siebziger Jahren entstanden sein, bevor Breschnews Gesicht und Hirn immer mehr Ähnlichkeit mit einer Pellkartoffel bekamen. Und das war bestimmt seine ehemalige Wohnung, dachte Burke. Er blickte auf einen Notizzettel, den ihm Sascha Winogradow gegeben hatte. »Galina Wladimirowna Wassiljewa«, stand darauf. Auf den mittleren Namen, im Russischen immer eine Ableitung vom Vornamen des Vaters, hatte er nicht geachtet. Wladimir Natschalniks Tochter. »Ich dachte, die Leute im Westen hätten immerhin so viel Anstand, einen Termin zu vereinbaren, bevor sie die Leute überfallen.« Eine tiefe, rauhe Frauenstimme, und Burke fuhr herum. Sie stand am Eingang zum Wohnzimmer, in schwarzem Kleid und schwarzen Strümpfen, das Trauerschwarz nur durch himmelblaue Hauspantoffeln gemildert. Sie hatte die schwarzen Haare zu einem strengen Dutt zurückgezerrt und ein hageres Gesicht mit mehr Falten, als sie dem Alter nach haben durfte. Die Augen waren blutunterlaufen. »Machen die meisten auch«, entschuldigte sich Burke. »Aber Reporter sind eben nekulturny.« Das russische Wort bedeutete »unkultiviert«, bezog sich aber auf
viele kleine Sünden, wenn man etwa keinen Aufhänger im Mantel hatte, um es den Frauen der garderob leichter zu machen, oder wenn man seinen Hund auf den Gehweg kacken ließ. Die Miene der Frau verlor an Strenge, genau wie Burke erwartet hatte. Russen waren gewöhnlich entwaffnet, wenn Ausländer zugaben, nekulturny zu sein. »Es ist keine gute Zeit für Besucher«, sagte sie immer noch ein wenig streng, und offenbar alles andere als gesprächswillig. »Das ist mir bewusst, Galina Wladimirowna, aber ich arbeite an einem Zeitungsbericht, der aufdecken könnte, wer Ihren Mann umgebracht hat«, sagte er. Die trüben Augen der Frau weiteten sich ein wenig. »Und ich glaube, Sie können mir helfen«, fuhr er fort, in der Hoffnung, sie werde den Köder schlucken. Es klappte. Sie nickte und bat ihn, auf dem Sofa beim Flügel Platz zu nehmen. Dann wies sie die Alte an, Tee zu bringen. »Sie sind also Wladimir Natschalniks Tochter«, sagte Burke. »Ich erinnere mich noch, wie ich Ihren Vater auf dem Lenin-Mausoleum stehen gesehen habe, immer am siebten November.« Sie wartete offenbar darauf, ob er noch etwas hinzufügen würde, und er suchte nach etwas Nettem über einen Mann, dessen Grausamkeit allen Berichten nach nur noch von seiner Leibesfülle übertroffen worden war. »Ein beeindruckender Mann«, war alles, was ihm einfiel. Da lächelte Galina Wladimirowna und zeigte dabei braune Zähne. Wieder schickte Burke ein stummes Dankgebet an den längst vergessenen Russen, der ihm die Vokabel für »beeindruckend« beigebracht hatte. »Solche Männer hat Russland nicht mehr. Oder kerkert sie ein. Die Tragödie unserer Nation«, klagte sie. »Ja«, nickte Burke. Es drängte ihn nachzufragen, wie es ihrem alten Herrn gehe, aber er erinnerte sich leise, dass Wladimir Natschalnik 1992 unbetrauert verschieden war. »Er war ein beeindruckender Mann«, wiederholte er. Diesmal kam kein Lächeln mehr, und Burke war erleichtert, als die Alte das Teetablett hereinbrachte. Er konnte die Gravur darauf lesen: »Wladimir Natschalnik vom finnischen Brudervolk. 17. November 1979.« Die Alte stellte Burke eine Teetasse hin. Er bemerkte, dass die
Flüssigkeit in Galina Wladimirownas Tasse wasserhell war, was darauf schließen ließ, dass sie bereits das fortgeschrittene Stadium erreicht hatte. Russische Alkoholiker im mittleren Stadium mischten seiner Erfahrung nach immer noch Tee in den Wodka, damit er ein bisschen Farbe annahm. Tranken sie ihn pur, waren ihnen Äußerlichkeiten bereits schnurz. In sechs Monaten, vermutete er, würde sie auch die Teetasse weglassen. Ein Gutes hatten Leute in diesem Stadium des Alkoholismus allerdings, dachte Burke. Sie boten einem nichts mehr an. »Kein amerikanischer Reporter wird die Wahrheit über meinen Gatten schreiben«, sagte sie plötzlich mit schon leicht verschliffener Stimme. »Warum nicht?« fragte Burke und nippte an seinem Tee. »Weil ihn die CIA umgebracht hat, natürlich«, sagte sie in einem Ton, als erläutere sie, dass Wasser bergab läuft. »Die CIA? Woher wissen Sie das?« Achselzuckend nahm sie einen tiefen Schluck aus der Teetasse. »Wer hat denn sonst einen Nutzen davon?« »Einen Nutzen?« »Freilich«, blinzelte sie. »Die CIA hat den Auftrag, Russland zu vernichten. Erst haben sie die kommunistische Partei und die Sowjetunion zerschlagen. Und jetzt richten sie die Männer zugrunde, die Russland neuen Stolz hätten geben können.« »Diese verdammte CIA«, sagte Burke und schüttelte tief ernst den Kopf. »Ab und zu lassen wir sie ein kleines Land wie Guatemala übernehmen. Aber denken Sie, sie wären mit Guatemala zufrieden? Nie.« Das letzte Wort dehnte er. Galina Wladimirowna starrte ihn kurz an, völlig baff, und streckte dann den Arm mit der leeren Teetasse in Richtung Flur. Die Alte schlurfe mit verhaltener Missbilligung heran und nahm die Tasse. Dann schlappte sie zurück in den Flur und die Küche, wo sie nachfüllen würde, wie Burke vermutete. »Diese Schweinehunde«, nuschelte sie nun. Burke machte zustimmende Geräusche. Die Alte kam zurück und stellte die Tasse mit einer verächtlichen Geste zwischen Burke und Galina Wladimirowna auf den Tisch. Wodka schwappte auf die Platte. Als Galina Wladimirowna die Tasse nahm, sah Burke, wie ihr die Hände zitterten. »Sie wissen ja«, sagte er, »wie gern die amerikanische Presse die
Missetaten der CIA enthüllt.« Sie runzelte die Stirn. »Alles Fraktionskämpfe innerhalb der herrschenden Bourgeoisie«, versicherte er ihr. Sie nickte. »Dafür aber brauche ich Dokumente, vertrauliche Angaben und dergleichen.« Galina Wladimirowna starrte nur mit leerem Blick vor sich hin. »Hat Ihr Gatte an etwas Ungewöhnlichem mitgearbeitet, bevor er umgebracht wurde?« Ihr Blick wurde noch starrer, und sie fing an zu flennen. Binnen Sekunden lief ihr die Wimperntusche herunter. Burke biss die Zähne zusammen, stand auf und tätschelte der Frau die Schultern. »Mein Beileid«, sagte er, »ich weiß, wie Ihnen zu Mute sein muss.« »Der Saukerl«, schluchzte sie. »Stirbt und hinterlässt mir nicht mal Devisen. Hat alles für seine Nutten ausgegeben! Wissen Sie, wieviel Pension ich kriege?« »Bestimmt nicht, was Ihnen gebührt«, sagte Burke so aufrichtig wie er vermochte. »Fünfzigtausend Rubel!« Das war der Gegenwert von etwa fünfzehn Dollar. Doch es fiel ihm schwer, sie zu bedauern. Wenn sie wollte, konnte sie die Wohnung, die ihr Vater hinterlassen hatte, für mehrere hunderttausend Dollar versilbern. Das war weit mehr, als die Partei den meisten Russen vermacht hatte. »Das ist ja schrecklich«, sagte er, und sie schluchzte kurz lauter, bevor sie sich mit sichtlicher Anstrengung halbwegs fasste und laut den Schnodder hochzog. »Also, äh, Sie wissen nichts von irgend etwas Besonderem, an dem er arbeitete?« Sie schüttelte den Kopf. »Hat er vielleicht irgendwelche Papiere hinterlassen? Hatte er hier ein Arbeitszimmer?« Das Schluchzen brach ab. Die roten Äderchen in ihren Augen waren jetzt noch ausgeprägter. »Ja. Er hatte ein Arbeitszimmer. Sein Schreibtisch ist voller Papiere.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich sie mir kurz ansehe?« Ihre Augen wurden zu Schlitzen. »Was geben Sie?«
Burke konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Das ganze beschissene Land war feil. »Ich werde ihm in meinem Bericht Tribut zollen.« Sie zog eine Grimasse. »Ich meine Geld.« »Hatte ich schon verstanden.« »Zehntausend Dollar«, sage sie. »Zehntausend Dollar!«, wiederholte er. »Dafür kann ich mir ja einen amerikanischen Kongressabgeordneten kaufen!« Betrunkene konnten, wie er wusste, recht stur sein. Nur Leute mit Urteilsvermögen sind flexibel. Er selber war wie vernagelt gewesen, wenn er besoffen war. Da es um sein eigenes Geld ging, musste er jetzt feilschen. Zuerst aber musste er das höhere Interesse formulieren. »Ich dachte, Sie wollten mir helfen, die CIA wegen der Ermordung Ihres Mannes bloßzustellen.« »Sie wollen Zeitungen verkaufen und einen großen Profit machen«, nuschelte sie mit schwerer Zunge. »Ich will meinen Anteil davon.« Burke dachte kurz daran, ihr wie auf der Journalistenschule zu erklären, warum eine Zeitung mit einem einzigen Bericht keinen Profit machen könne. Aber eigentlich glaubte er selbst nicht daran. Wieviel hatte Watergate der Washington Post eingebracht? »Sehen Sie«, begann er. »Ich weiß nicht mal, was unter den Papieren sein mag. Wie wäre es, wenn ich sie mir ansehe, und wir dann, wenn ich was finde, was ich brauchen kann, über den Preis reden?« Sie schwankte. »Fünftausend Dollar. Nehmen Sie alles.« Es war Zeit, ein Angebot auf den Tisch des Hauses zu legen. »Na schön«, sagte er. »Ich sehe ja, dass Sie in einer schwierigen Lage sind, aber ich kann Ihnen höchstens fünfzig Dollar zahlen.« »Tausend«, hielt sie dagegen und faltete die Hände vor der flachen Brust. Burke stand auf, in Erinnerung an einen Teppichhändler, mit dem er einmal im Suk vom Damaskus zu tun gehabt hatte. Der Mann hatte unterm Feilschen um einen Teppich recht schlau den Abort aufgesucht. »Ich kann bis auf fünfundsiebzig gehen, aber nicht weiter. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss mal auf die Toilette.« Er ging in den Flur, fand das Klo, schloss die Tür hinter sich ab
und wartete. Bald vernahm er, worauf er gehofft hatte, Schritte über den Flur in die Küche und zurück, bestimmt mit einer vollen Tasse. Der syrische Teppichhändler, erinnerte er sich, hatte ihm sein Schlussangebot genannt, war auf den Lokus gegangen und hatte ihm gerade genug Zeit gelassen, fickrig zu werden, aber zum Weggehen zu wenig. Er betätigte die Spülung und trat zu dem Haken, auf dem sein Mantel hing. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer. Sie kippte gerade die nächste Tasse. »Hundert Dollar«, sagte sie mit kratziger Stimme. »Abgemacht«, sagte Burke. »Und ich darf bemerken, dass es mir eine Ehre ist, Geschäfte mit einem treuen Parteimitglied zu machen.« Sie verzog das Gesicht. »Das haben erst Sie uns beigebracht.« Fjodor Wassiljew, entschied Burke sofort, war ein Pedant gewesen. Seine Papiere waren in Fächern eines altertümlichen Sekretärs verstaut, der Burke an eine Antiquität aus dem Winterpalast erinnerte. Das war er allerdings nicht, soweit er sagen konnte, nur ein alter Eichenschreibtisch voller Schrammen und Kratzer, mit einer Schreibunterlage aus rissigem schwarzen Leder. Vielleicht früher mal ein Rollpult, Überbleibsel einer gutbürgerlichen Familie, die über viele Generationen in St. Petersburg ansässig gewesen war. Nichts in den ersten Papierbündeln lieferte einen Hinweis. Lauter Briefe, offenbar von Verwandten in Saratow mit einer Bitte um Geld. Er verbrachte eine Stunde damit, alle nacheinander durchzugehen, und las klagende Berichte über Beinbrüche, Fieber, Entlassungen und Beerdigungskosten. Der nächste Stapel war interessanter. Briefe von einem Mann aus Connecticut, der mit »Wolodja« unterschrieb, sie hatten offenbar mit dem von Sascha Winogradow erwähnten Joint Venture der Eremitage zu tun. Die Briefe erstreckten sich über die letzten drei Jahre und waren offenbar Ergänzungen zum offiziellen Schriftwechsel mit dem Büro der Eremitage, wie Burke vermutete. Wolodja beschrieb Verhandlungen mit Museumsdirektoren in Dallas, San Francisco und Kansas City, die allesamt Werke aus den Beständen der Eremitage ausstellen wollten, auch wenn keiner von ihnen so viel zu zahlen willens war wie nach Wolodjas Ansicht nötig. Ein paar Briefe über eine umstrittene Verbindlichkeit des Joint Venture gegenüber einem Verleger von Kunstkatalogen in London.
Ein Brief zur Organisation einer Spendensammlung für die Eremitage in New York. Aber keinerlei Hinweis darauf, dass die Geschäftsbeziehung, der paar Schulden ungeachtet, auf ein gewaltsames Ende hinauslief. Das letzte Fach enthielt nur ein Blatt linierten Papiers, aus einem Notizbuch gerissen. Es war mit Bleistift beschrieben, und Burke hatte Mühe, es zu entziffern. Soweschtschanije Lida las er in der ersten Zeile. Soweschtschanije war ein wissenschaftlicher Kongress. Lida ergab für Burke keinen Sinn. Kein russischer Name. Darunter hatte Wassiljew Ijun geschrieben. Juni, aber von welchem Jahr? War das das Datum der Konferenz? In der nächsten Zeile hieß es Glazvnije dokladtschiki: die Hauptredner, vermutlich der Konferenz, vermutlich zu Lida, vermutlich im Juni. Dann folgte eine Liste mit vier Namen: Martin Arnold, Oksford, proiskschoschdenije David Bull, Vashington, udostowerenije Augusto Donatelli, Firenze, snatschenije Nadescha Petrowna, vosobnowlenije Burke kannte keinen davon, und die daneben stehenden Begriffe gaben ihm keinen Hinweis. Proiskschoschdenije bedeutete Abstammung oder Ahnen, udostowerenije war eine Beglaubigung. Sein alter Presseausweis, vom Außenministerium erteilt, wurde als udostowerenije bezeichnet. Snatschenije hieß Bedeutung, vosobnowlenije Erneuerung. Sollte dies eine Konferenz über die Abstammung, die Echtheitszeugnisse, die Bedeutung und die Erneuerung von etwas oder jemand namens Lida sein? Die Ortsnamen waren die russische Umschreibung für Oxford, Washington und Florenz. Vermutlich die Orte, in denen diese Leute zu Hause waren. Nadescha Petrowna, der einzige Name ohne Ortsangabe, war zudem der einzig russische. Das bedeutete vermutlich, dass sie in St. Petersburg wohnte. Petrowna aber war der Vatersname, nicht der Familienname. Dass er sie so notiert hatte, bewies, dass Wassiljew sie kannte und ihr Achtung zollte. Er faltete den Zettel zusammen, stopfte ihn in seine Schultertasche und überlegte dabei, wie er jetzt vorgehen sollte. Vielleicht kannte seine Gastgeberin Nadescha Petrowna.
Er ging zurück ins Wohnzimmer. Galina Wladimirowna lag ausgestreckt auf dem Sofa und schnarchte leise. Ihr Rock war verrutscht, und an einem mit dunklen Äderchen marmorierten, dürren Oberschenkel war ein Strumpfband sichtbar. Er dachte daran, sie zu wecken, überlegte es sich dann aber anders. So verzweifelt war er noch nicht.
15 Nadescha Petrowna Naryschkina sah ungeduldig auf die Armbanduhr. 18 Uhr 37. Sie blickte zu dem seltsamen schwarzen Ofen hinüber, der auf der anderen Seite des Ateliers stand, und fürchtete fast, Rauch aus der Ritze der Ofenklappe aufsteigen zu sehen. Sie sah erneut nach der Zeit. 18 Uhr 38. Sie saß im Rollstuhl in einem Zimmer unter der Dachtraufe des Winterpalasts. Einst hatte es zur Unterkunft irgendeines rangniederen Mitglieds des Zarenhofs gehört. Er hatte Parkettboden, zwei kleine Fenster zur Newa und einen Stuckfries dort, wo die hellgelben Wände und die weiße Decke aneinander stießen. Rotbraune und schwarze Wasserflecken entstellten Decke und Wände. Schon lange Jahre gab es kein Geld für Dachreparaturen. »Andruscha«, sagte sie, »bist du sicher, dass es nicht schon zu lange drin ist? Weißt du, du trocknest da keine alten Galoschen. Sondern was Empfindliches.« Andruscha Karpow hörte sofort auf, in den Computer zu tippen. Ein Teil von Nadescha Petrownas Besorgnis sprang auf ihn über wie Konzerthusten. Er zog einen Flunsch, und seine Pausbacken bekamen missmutige Falten. »Nadescha Petrowna, machen Sie sich bitte keine Sorgen«, beruhigte er sie. Sie hörte es wohl, aber sie gehörte zu den Menschen, die sich lieber auf ihre Augen verließen, und Andruschas Gesicht sagte ihr, sie hatte Grund zur Besorgnis. Er ging hinüber zu ihrem Rollstuhl und brachte ihr einen braunen Umschlag. »Sie wissen doch, dass wir es ausprobiert haben«, sagte er. Sie tätschelte ihm die Hand. »Ich weiß, Andruscha. Ich bin sicher, es klappt.« »Sehen Sie doch selbst«, sagte er und gab ihr den Umschlag. Sie machte ihn auf und zog zwei Abschnitte schwarzen Röntgenfilms heraus. Sie schimmerten dunkel im Licht von der Decke. Sie sah sich die obere Aufnahme an. Ein graues, schemenhaftes Abbild, wie es beim Röntgen eines Gemäldes entsteht. Hinter dem Gemälde konnte sie den dunklen Umriss eines Holzkreuzes erkennen, die Spannstreben für die Leinwand. Sie sah sich den Film
genau an. Das Gemälde erschloss sich nicht unmittelbar. Die Farbschichten reflektierten die Röntgenstrahlen unterschiedlich und wurden jeweils anders abgebildet. Es war, als sähe sie das Bild durch Lagen grauer Gaze. Dann erkannte sie eine Linie, eine Kurve, und nun wurde das Bild sofort klar. Die Madonna Litta. »Hier«, sagte Andruscha. Mit seinem Wurstfinger zog er die Stirnlinie der Jungfrau nach. »Sehen Sie die Pünktchen?« »Wo ist meine Brille?«, fragte sie gereizt. Andruscha wusste wahrscheinlich bis hinters Komma wie viele Dioptrien ihre Gläser hatten, trotzdem war es ihr unangenehm, sie jetzt zu brauchen. Ihre Augen und ihre Hände waren fast die einzigen Teile ihres Körpers, die überhaupt noch funktionierten, und sie war eitel. »Ljuba«, rief sie. »Meine Brille!« Sie spürte, wie Andruscha beim Namen der Tochter zusammenzuckte. Sie tat ihm Leid. Andruscha war unsterblich in ihre Tochter verliebt, seit beide sechzehn waren. Ljuba Naryschkina nahm diese Liebe wahr und wusste sie zu schätzen, konnte sie aber nicht erwidern. Sie konnte höchstens versuchen, Andruscha nicht zu kränken, ihn nicht zu reizen oder ihm keine Hoffnungen zu machen. Darauf hatte Nadescha Petrowna jedenfalls bestanden, und Ljuba hatte sich gefügt. Bereitwillig, wie ihre Mutter befriedigt festgestellt hatte. Ljuba Naryschkina kam aus dem angrenzenden größeren Atelier herein, wo weniger hoch qualifizierte Fachleute der Restaurierungsabteilung der Eremitage arbeiteten, sofern Geld zu ihrer Bezahlung vorhanden war. Sie schloss die Tür sorgfältig hinter sich. »Schließ ab«, wies Nadescha Petrowna sie an, und Ljuba befolgte die Anweisung unverzüglich. Sie trat unter die nackte Neonleuchte, die den Raum erhellte, und dabei bemerkte Nadescha, dass das Licht fast alle Farbe aus ihrem Gesicht zog. Ihr Teint, der bei ihr als Kind noch rosig gewesen war, wurde allmählich blass. Ihre ohnehin schmalen Gesichtszüge wurden hager. Ljuba war immer noch eine schöne Frau, hoch gewachsen, gerade, mit aschblondem Haar und blauen Augen. Mit siebenundzwanzig war sie aber kein hübsches junges Ding mehr, und Nadescha Petrowna fragte sich, wie viele Winter in St.
Petersburg bei vitaminloser Kost und ohne Sonne es noch dauern würde, bis ihre Schönheit endgültig verblasst war. Nadescha Petrownas Leiden hatte ihr die eigene Jugend gestohlen, und sie wusste noch genau, wie sie sich erträumt hatte, der Tochter möge dieses Los erspart bleiben. »Deine Brille, Mama, liegt vermutlich direkt vor deiner Nase«, sagte Ljuba, doch ohne Tadel in der Stimme. Sie sah der Mutter über die Schulter und fand einen Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch, offenbar Briefe. Ljuba hob sie hoch und fand die Brille darunter. Sie setzte sie ihrer Mutter auf und gab ihr einen Wangenkuss. Sie schob die Brille hoch und starrte auf die Röntgenaufnahme, fest entschlossen, dort auch zu sehen, was Andruscha ihr zeigen wollte. Andruscha, der bewusst Abstand von Ljuba hielt, deutete wieder auf den Profilumriss. »Sehen Sie die Pünktchen?«, fragte er. Jetzt konnte sie es sehen, winzige Pünktchen, auf der Röntgenaufnahme weiß, in Wirklichkeit schwarz, unter Leonardos Konturenzeichnung. Sie rührten natürlich von einem Verfahren her, das alle angehenden Künstler in Florenz im fünfzehnten Jahrhundert lernten. Leonardo fertigte eine Zeichnung für jede Gestalt seiner Gemälde, wobei er wieder und wieder skizzierte, bis er Proportionen, Ausdruck und Haltung genau so hatte, wie er sie wollte. Dann nahm er eine Nadel, durchstieß sorgfältig jede Linie der Skizze und lochte sie so alle paar Millimeter. Er heftete die durchlöcherte Zeichnung auf den Malgrund: eine frisch verputzte Mauer, wenn es ein Fresko werden sollte, oder eine grundierte Holztafel bei einem Gemälde. Sodann nahm er ein grobmaschiges Säckchen Holzkohlepulver und schlug damit auf die Zeichnung. Die Kontur der Gestalt erschien in Kohlepünktchen auf dem Putz oder Kreidegrund. Er zog mit Holzkohle nach und malte dann aus. Genau dieselbe Methode hatte auch sie angewandt. »Nun sehen Sie sich das hier an«, forderte sie Andruscha auf. Er zeigte ihr das zweite Röntgenbild. Es war eine Nahaufnahme von der Schulter ihrer eigenen Leda. Die Pünktchen waren gegen den Malgrund sichtbar, genau wie bei der Madonna Litta. »Sieht sehr echt aus«, bestätigte Nadescha Petrowna Andruscha. Ihre Stimme war voller Hoffnung, aber nicht frei von Zweifeln. »Ach, Andruscha, wie kannst du so sicher sein, dass es klappt?«,
mischte sich Ljuba ein. »Ich weiß doch, dass so was nicht geht! Diese Leute sind doch nicht blöd. Sie haben Instrumente, von denen du noch nicht mal was weißt. Sie kriegen’s raus, und dann bringen sie Mutter um!« Andruschas rundes Gesicht verzog sich schmerzlich. Andere mochten Zweifel an ihm hegen, aber die konnte er als Ignoranz abtun. Ljubas Mangel an Vertrauen traf ihn ins Mark. »Wir haben vielleicht nicht alle technischen Mittel, Ljuba«, antwortete er so gelassen wie möglich. »Aber ich kenne die Technik und weiß, was sie leistet. Und die Tests, die sie veranstalten können, kenne ich auch. Wir haben auf jeden die passende Antwort. Sie können die Zusammensetzung und das Alter der Holztafel prüfen. Unsere Holztafel hier ist aus italienischer Pyramidenpappel, wie sie Leonardo bevorzugte. Die Altersbestimmung nach der Radiokarbonmethode datiert sie auf Ende vierzehntes oder Anfang fünfzehntes Jahrhundert. Sie ist sogar mit derselben Partie ins Museum gelangt wie der echte Leonardo. Vielleicht benutzen sie auch unseren Gaschromatographen und schwatzen Bykow ein Muster der Malschicht ab. Dann können sie das Pigment analysieren. Alle unsere Pigmente sind dieselben, die auch Leonardo verwendet hat. Der Aufbau unseres Gemäldes ist derselbe wie bei Leonardo Kreidegrund, Punktriss, Holzkohlevorzeichnung, Malschicht, Firnis. Sie können das Gemälde röntgen, sogar eine Kamera für Infrarotreflektographie einsetzen, wenn sie ein Frachtflugzeug auftreiben, in das eine reinpasst. Sie werden nichts finden, was nicht auch Leonardo gemacht hätte. Sie können Pinselführung, Wischtechnik, sfutnato prüfen. Deine Mutter hat alles genauso ausgeführt wie der Meister. Du hast das Gemälde doch gesehen. Konntest du einen Unterschied feststellen?« »Nein«, gestand Ljuba verschämt. »Das Gemälde ist makellos. Aber Mutters Finger- und Ballenabdrücke sind drauf! Sie hat doch die Wischtechnik von Hand machen müssen! Was ist, wenn sie die Abdrücke vergleichen?« Diesen Punkt hatte Nadescha Petrowna nicht bedacht. Sie beugte sich im Rollstuhl vor. »Kein Problem«, beharrte Andruscha. »Selbst wenn sie Zugang zu Mikroskop-Fotografien von Leonardos Gemälden hätten, was ich bezweifeln möchte, sind die Finger- und Handabdrücke auf seinen
Bildern für eine Identifizierung zu verwischt.« »Und was ist mit der craquelure?« Ljubas Liste von Einwänden war noch lange nicht erschöpft. »Wie kannst du da sicher sein?« Andruscha zuckte die Schultern. Selbst ihr gegenüber riss ihm langsam der Geduldsfaden. Sie war für ihre Mutter eine gute Assistentin, aber sie wusste einfach nicht so viel wie er über Malerei und Wissenschaft. »Wie können die denn sicher sein?«, erwiderte er. »Niemand hat dieses Gemälde je fotografiert. Wir müssen lediglich sicherstellen, dass die craquelure zu einem Gemälde passt, das fast fünfhundert Jahre alt ist. Und das schaffen wir spielend.« »Wie lange noch, Andruscha?«, fragte Nadescha Petrowna. Er sah auf die Uhr. »Noch vierzig Minuten.« Nadescha Petrowna sah sich nervös im Zimmer um. Dir Blick fiel auf einen Bildschirm, den Andruscha an die Überwachungskameras des Sicherungssystems angeschlossen hatte. Ein untersetzter Mann bewegte sich über den Flur auf ihr Atelier zu. Er war etwa dreißig Sekunden entfernt. »Bykow!«, zischte sie. Sofort sprang Andruscha an den Computer, drückte die Paniktaste und vergewisserte sich, dass sich das Kamerabild in eine grob gerasterte Infrarot-Reflektographie der Madonna Litta verwandelte. Ljuba rollte Nadescha Petrowna an eine Staffelei mitten im Raum und ließ sie dort stehen. Von dem Gemälde dort hob sie die Staubhülle ab. Andruscha stürzte sich auf Nadescha Petrownas Arbeitstisch und griff sich eine Palette und einen zernagten alten Dachshaarpinsel. Er streckte sie Ljuba hin, die beides wiederum sanft an ihre Mutter weiterreichte. Andruscha ließ sich auf dem Stuhl vor dem Computerbildschirm nieder. »Der Trockenofen!«, zischte Ljuba. Nadescha Petrowna riss angstvoll die Augen auf. »Er hat keine Ahnung, was das ist«, beschwichtigte Andruscha. »Es sind nur vierzig Grad da drin und das ganze Atelier riecht nach Firnis. Keine Sorge.« Es klopfte. Ljuba stand auf, holte tief Luft, ging zur Tür, schloss auf und wischte sich dabei an ihrem Arbeitskittel den Schweiß von den Händen. Iwan Bykow kam herein wie ein großer Bulle in einen Pferch, dachte Andruscha, mit drohend vorgestreckter Brust, geblähten
Nüstern und misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Seine Säbelbeine schienen dem Torso eher zu folgen, als ihn zu tragen. Er hatte einen braunen Anzug an, von dem Andruscha vermutete, dass er teuer gewesen war. Aber es hätte mehr als erlesener Schneiderkunst bedurft, um Kleidung an dieser Figur elegant wirken zu lassen. Bykow tat sehr zuvorkommend. Er lächelte Nadescha Petrowna an, nickte Andruscha zu und machte vor Ljuba eine angedeutete Verbeugung. Einen unruhigen Moment lang meinte Andruscha, er werde sich vorbeugen und Ljuba die Hand küssen. Doch statt dessen starrte er gebannt das Gemälde auf der Staffelei an. Er verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Es ist fertig!«, rief er mit kehliger Stimme aus. »Nicht ganz«, verbesserte ihn Nadescha Petrowna. »Es braucht noch ein wenig Firnis.« Das war gelogen. Die geringfügige Restaurierung, deren das Bild bedurft hatte, war in der Tat fertig, und das schon seit Tagen. Doch für Nadescha Petrowna war es eine Kleinigkeit, die Deckschicht da oder dort zu mattieren und dann mit einer Schicht Klarfirnis wieder auf Hochglanz zu bringen. Bykow war nicht im Stande, den Unterschied auszumachen. »Wie lange dauert es noch?«, fragte er in leicht verärgertem und gekränktem Ton. »Ein paar Tage noch, denke ich«, antwortete Nadescha Petrowna. Sie blickte seitlich auf Andruscha. Er nickte bestätigend. »Ja, ein paar Tage«, wiederholte sie. Bykow beugte sich vor, um das Gemälde genauer zu untersuchen. Dabei stieß er mit dem Ellenbogen an Ljubas Brust. Sie zuckte unwillkürlich zurück, doch er ließ sich nichts anmerken, sofern er überhaupt etwas gespürt hatte. »Ein wundervolles Kunstwerk«, sagte Bykow. »Eine Schande, dass wir es verkaufen müssen. Aber Ihr wisst ja, dass das Museum sonst keine Mittel erhält. Der Verkauf bringt euch eine enorme Zuweisung! Ein paar Millionen Dollar in Devisen! Da habt Ihr dann, was Ihr zur Pflege der Sammlung braucht.« »Wir sind ganz bestimmt dankbar«, sagte Nadescha Petrowna. Jede Silbe strotzte von Aufrichtigkeit. Sie war wohl geübt darin, mächtige Männer anzulügen. Sie hatte es ihr ganzes Leben lang tun müssen.
Bykow lächelte gönnerhaft. Ein Mund wie eine stählerne Schlagfalle, dachte Nadescha Petrowna. »Und selbstverständlich kriegt Ihr alle eure Prämie«, versprach er. »Eine dicke.« »Und selbstverständlich spenden wir sie dem Museumsfond«, reagierte Nadescha Petrowna prompt. Sie spürte, das war die Antwort, die Bykow hören wollte. Sie ließ auf übersteigerten Idealismus schließen, den er natürlich von Einfalt nicht unterscheiden konnte. Bykow lächelte gnädig. Dann besah er sich wieder das Gemälde auf Nadescha Petrownas Staffelei. Er trat von einem Bein auf das andere und wirkte auf Nadescha Petrowna plötzlich schüchtern. Dann räusperte er sich. »Morgen Abend«, sagte er, »kommt unser Käufer nach St. Petersburg. Wir veranstalten für ihn ein kleines Bankett. Würden Sie, äh, gern dabei sein?« Nadescha Petrowna blinzelte. Der Gedanke, dass dieser Mann sie im Ernst einlud, mit ihm zu speisen, erfüllte sie mit Wut und Ekel. Sie hatte zu kämpfen, sich nichts anmerken zu lassen. »Danke schön, aber ich glaube, das geht nicht«, sagte sie leise. Sie senkte den Blick rasch auf die Wolldecke, die ihre Beine verhüllte. »Aus Gesundheitsgründen.« Bykow nickte mitfühlend. »Verstehe.« Dann wandte er sich Nadescha Petrownas Tochter zu. »Aber, äh, würden Sie mitkommen, Ljuba Naryschkina?« Seine Stimme war plötzlich rauh vor Anspannung. Jetzt aber kochte Nadescha Petrowna. Sie konnte den Gedanken von Ljuba zusammen mit Bykow nicht ertragen, nicht einmal in einem Raum voller Leute. »Sie muss…«, setzte sie an, doch sie brachte den Satz nicht zu Ende. »Ich fürchte, es geht nicht«, sagte Ljuba zu Bykow. Ihre Züge waren gespannt, die Lippen ein Strich. Bykow errötete ob der Peinlichkeit und zwang sich dann zu einem Lächeln, bei dem er zwei Goldzähne blitzen ließ. »Ich bin sicher«, sagte Bykow, »Ihre Mutter braucht Sie.« Bei der Rückkehr in sein Büro wenig später fühlte sich Iwan Bykow immer noch gedemütigt.
Seine Stippvisite im Atelier für Konservierung und Restaurierung war, entschied er, ein komplettes Fiasko gewesen. Zwar war das Gemälde fast fertig für den Käufer. Aber welcher Teufel hatte ihn geritten, Ljuba Naryschkina zum Bankett mit dem Kolumbianer zu bitten? Vor zwei Jahren, dachte er, hätte er es noch besser gewusst. Die Zeiten hatten sich geändert. Für Leute mit Geld war in St. Petersburg fast alles käuflich, und in ein paar Tagen würde er in Geld nur so schwimmen. Aber es würde immer noch Dinge geben, die er nicht kaufen konnte, dachte er. Die er sich nehmen musste, wenn er sie haben wollte. Auf seinem Schreibtisch klingelte das Telefon. Er ging in sein Büro zurück und nahm ab. »Ja«, meldete er sich. »Iwan Dimitrjewitsch? Hier ist Sascha.« »Ich höre, Sascha.« »Ich hab den Amerikaner ausgemacht. Er wohnt im Jewropeiskaja. Bis jetzt hat er zwei Adressen aufgesucht. Willst du wissen, welche?« »Ja.« »Die erste war Nummer 42 am Prospekt Energetikow.« Die Adresse sagte Bykow nichts. Er schrieb sie sorgfältig auf. »Und die zweite?« »Die zweite war auf der Naberhzhnaya Krasnogo Flota. Nummer 16.« Bykow umkrampfte den Hörer. Fjodor Wassiljews Adresse. Er überlegte kurz. »Sascha?« »Ich bin noch dran.« »Ich möchte, dass du ihm irgendwo auf der Straße auflauerst und ihm ein bisschen Leningrader Gastlichkeit erweist. Nimm ihm das Geld ab, aber lass ihm den Pass. Richte ihn so zu, dass er zu einem Arzt muss. Einem in Helsinki. Ich möchte nicht, dass er hier weiter rumschnüffelt.« »In Ordnung«, sagte Sascha. »Kein Problem.« Bykow hängte auf und fragte sich dabei, ob er sich darauf verlassen konnte, dass sich Sascha nicht hinreißen ließ und den Amerikaner umbrachte. Um sicherzugehen, dass eine Sache richtig gemacht wurde, nahm er sie normalerweise selbst in die Hand. Aber in den nächsten paar
Tagen hatte er zu viele eigene Dinge zu regeln.
16 Ein hellgrauer Volvo überfuhr eine rote Ampel und schoss nur einen halben Meter an Burke vorbei, als er auf dem Weg ins Literarische Café gerade den Newski Prospekt überqueren wollte. Ein Schwall Eismatsch pladderte gegen ihn und durchnässte ihn vom Knie bis zur Sohle. Burke fuhr herum und sandte dem Fahrer seine Flüche nach, aber der Wagen schlingerte schon hundert Meter weiter die Uferstraße der Moika entlang, die in die Newa floss. Burke zeigte den Rücklichtern den Stinkefinger und stampfte beim Weitergehen, um den Matsch abzuschütteln. Auf der anderen Straßenseite blieb er kurz stehen, halblaut vor sich hinknurrend und -schimpfend. Er blickte an sich hinunter, um zu prüfen, ob er jetzt wie ein Penner aussah, doch im schwachen Streulicht aus den Gebäuden ringsum konnte er nichts erkennen. Burke überlegte kurz, ob er mit den vor Nässe quatschenden Schuhen zum Hotel zurück gehen und sich umziehen sollte. Aber es war sechs lange Häuserblocks weit, und was er im Hotel an Ersatzkleidung hatte, war schon in Washington beim Einpacken zerknittert gewesen. Außerdem kam er ohnehin schon fünf Minuten zu spät zu der Verabredung, um die Desdemona McCoy per Anruf gebeten hatte. Nachdem sie ihn mit dem Hinweis auf Wassiljews angebliches Schwulsein in die Irre geführt hatte, war ihm allerdings ziemlich egal, wie er in diesem Aufzug auf sie wirken würde. Er konnte sich nur zwei Erklärungen für die falsche Fährte denken. Entweder war es bloß ein Gerücht, das sie unbedarft weiterverbreitet hatte. Oder aber sie hatte ihn bewusst angelogen. Falls sie gelogen hatte, wollte er rauskriegen warum und für wen. Und wenn sie bloß dumm daherschwätzte, war es immer noch besser, sich mit ihr zu unterhalten, als im Hotelzimmer zu sitzen und auf den Minikühlschrank zu starren. Da war das Café schon, komplett mit einem Bleistiftporträt Puschkins im Fenster. Wahrscheinlich zierte den Flur zwischen den Toiletten eine Büste von Dostojewski. Er schob sich durch die Schwingtür, übergab seinen klammen Mantel an die alte Frau in der garderob und ging in den Speisesaal. Grüppchen skandinavischer Touristen und ein paar Russen
speisten zu Abend, aber mindestens der halbe Saal stand leer. In einer Ecke spielte ein junger Geiger gedämpft einen Walzer. In einer schummrigen Ecke am anderen Ende des Saales stand Desdemona auf und winkte ihm zu. Diesmal trug sie einen schwarzen Kaschmirpullover über einer elfenbeinfarbenen Seidenbluse, ein paar Goldfäden von Collier, beigefarbene Hosen und glänzende, kniehohe Stiefel. Sie gab sich gezielt leger. Und war mit Abstand die attraktivste Frau im Saal. Er ging zu ihrem Tisch und sah beim näher kommen, wie ihr Blick zu seinen Knien wanderte. Er sah auf seine Schienbeine hinunter. Dort hing die Hose schlapp und dunkel an ihm herunter wie nasse Putzlappen. »Wenn man tolle Beine hat, muss man sich so kleiden, dass sie zur Geltung kommen«, ulkte er. »Aber da kennen Sie sich ja aus.« Sie lächelte erneut, und das Licht der Kerze auf dem Tisch spiegelte sich in ihren dunklen Pupillen. Burke mahnte sich, dass er Gründe genug hatte, sauer auf sie zu sein. »Danke schön«, erwiderte sie. »Ich nehm’s als Kompliment.« »War auch so gemeint«, antwortete er. Sie trank Weißwein und hatte eine Karaffe und zwei Gläser vor sich auf dem Tisch stehen. Ihre Augen weiteten sich, als er ihr Anerbieten ablehnte, ihm davon einzuschenken. »Trinken Sie nie, oder bloß nicht mit mir?«, fragte sie. Aus irgendeinem Grund hatte Burke keine Lust mehr auf Ausreden wie Antibiotika oder Einschlafstörungen. »Das hat nichts mit Ihnen zu tun«, erläuterte er. »Sie wissen doch, wie Boxer zu Blumenkohlohren kommen?« Sie nickte. »Reporter kriegen Blumenkohllebern.« Sie zwinkerte verblüfft. Er hatte sie irgendwie aus dem Konzept gebracht. Der Ober kam, und Burke bestellte Mineralwasser und ossetrina, russischen Stör. Burke bot ihr von seinem Mineralwasser an. Sie nahm dankend an. »Noch einmal auf den Fremden im Zug«, sagte sie und hob ihr Glas. Er stieß mit ihr an. »Also«, sagte sie. »Wie läuft’s mit ihrer Reportage?« Er war versucht, ihr vorzuwerfen, ihr Tipp mit Wassiljews
Schwulsein sei Irreführung gewesen, absichtlich oder nicht. Doch dann entschied er sich, ihr nicht zu verraten, dass er Bescheid wusste. Damit war nichts zu holen. »Ungefähr so rasant wie Die Brüder Karamazow«, sagte er. Sie biss sich kurz auf die Lippen. »Nun, das ist einer der Gründe, weshalb ich Sie treffen wollte.« »Einer von mehreren?« »Mal abgesehen von Ihrem weltmännischen Charme«, erwiderte sie lächelnd. »Und meinen klatschnasssen Socken.« Sie musste lachen. »Noch ein Grund.« Er schwieg. Eine gute Gelegenheit, die psychoanalytische Methode auszuprobieren. »Schön«, fuhr sie fort, »Sie haben mich neugierig gemacht. Ich habe die letzten zwei Tage etliche Gespräche mit befreundeten Künstlern geführt und dabei gehört, dass Wassiljew sich gegen einen größeren Verkauf aus den Beständen des Museums gestellt hat.« »Einen Verkauf?« Sie nickte. »Museen machen das öfter. Sie nennen es ›Bestandsbereinigung‹. Ist auch in der Eremitage schon mehrfach vorgekommen. In den dreißiger Jahren war Stalin in Geldnot, und Andrew Mellon wollte Washington ein Kunstmuseum stiften. Ein Makler hat zwischen beiden ein Geschäft über sechs Millionen Dollar vermittelt, für mehr als ein Dutzend Gemälde aus den Beständen der Eremitage. Mehrere Rembrandts, ein Van Eyck, zwei Raffaels. Die wurden zum Grundstock der heutigen Nationalgalerie. Und schon zuvor hat Nikolaus I. in den achtzehnhundertfünfziger Jahren Dutzende Gemälde aus den Käufen Katharinas der Großen versteigern lassen.« Burke hatte nicht erwartet, dass sie ihm nochmals einen Köder auslegen würde, diesmal viel näher an dem, was er bereits selbst zu vermuten begonnen hatte. Die Verkaufstheorie reizte Burke, aber er sah schon jetzt riesige Löcher darin. »Stalin und Nikolaus konnten machen, was ihnen passte, ohne auf Widerstand zu stoßen«, wandte er ein. »Wenn die russische Regierung heute was Bedeutendes außer Landes verkaufen wollte, würden die Leute das nicht merken und Krach schlagen? Würde das nicht einen Skandal auslösen?« Sie schürzte die Lippen. »Ja, wenn es jemand merkt.«
»Wie könnten die so was geheim halten?« »Zwei Möglichkeiten«, sagte Desdemona. »Erstens könnten sie was aus dem Fundus verkaufen.« Er erinnerte sich, auch Sascha Winogradow in seinem Alkoholdusel hatte den Fundus erwähnt. »Aus dem Fundus?«, fragte er. »Aus dem Fundus. Sie haben keine Ahnung, wie groß die Bestände der Eremitage sind, oder? Millionen von Kunstobjekten. Und nur ein winziger Bruchteil ist ausgestellt. Sie wollen jetzt die Gebäude des alten Kriegsministeriums übernehmen und renovieren, bloß damit sie ein paar von den Schätzen zeigen können, die sie im Fundus verwahren.« »Wahrscheinlich aber«, widersprach Burke, »sind die besten Sachen, die das große Geld bringen könnten, längst ausgestellt, und wenn sie davon was verhökern, merken’s die Leute, weil es fehlt.« Sie nickte. »Würden sie wohl, außer sie planen so was wie ein Duplikat.« »Ein Duplikat? Sie meinen, Kopien von den echten Gemälden machen und ersatzweise aushängen?« Sie nickte. »Und Sie meinen, Wassiljew hat sich geweigert mitzumachen, und wurde deswegen umgebracht.« »Ich sehe jetzt«, sagte sie, »warum Sie ein guter Reporter sind. Sie blicken schnell durch.« Das war genau so ein plumpes Kompliment, wie unprofessionelle Pressesprecher es austeilten. Damit hatte sie sich verraten. Sie wollte ihn schon wieder für dumm verkaufen. Er entschied sich, es sie wissen zu lassen. »Und ich sehe, warum Sie in Ihrer Branche so erfolgreich sind«, konterte Burke. »Sie können andere Leute hervorragend verscheißern.« Sie lachte, aber ihr Lachen klang gezwungen und ihr Gesicht wurde gewollt undurchdringlich. »Gut, beantworten Sie mir jetzt eine Frage«, forderte er. »Welche?« Ihre Miene wurde noch verschlossener. »Warum wollen Sie mich benutzen?« »Sie benutzen?« Normalerweise ließ er es nicht durchgehen, wenn jemand eine Frage einfach zurückgab, aber hier ließ er mal fünfe gerade sein. »Ja.
Erst steigen Sie in meinen Zug und lassen gezielt den Hinweis fallen, Wassiljew sei schwul gewesen, obwohl Sie genau wissen, dass das nicht stimmt. Jetzt finden Sie raus, wo ich wohne, laden mich hierher ein, und wollen mich den Furz jagen lassen, dass die Russen die halbe Eremitage verkaufen.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und ihre Haltung wurde hölzern. »Was wollen Sie damit sagen, ich hätte genau gewusst, dass er nicht schwul gewesen ist?« »Ich hab mich heute erkundigt. Ich weiß doch, wie klatschsüchtig die Russen sind. Wäre er’s gewesen, hätten Sie das bestimmt gewusst.« »Sie haben sich erkundigt?« »Bei seiner Frau. Und bei einem Schwulen vom Personal der Eremitage, der gerade an AIDS verreckt und keinen Grund zum Lügen hat.« Sie zwinkerte kurz und sagte nichts mehr. »Also, wie sollte ich da nicht annehmen, Sie schicken mich schon wieder in den April?« »Tu ich aber nicht«, wehrte sie sich. Der Ober kam mit dem Stör, und sein serviles Gewusel überspielte das peinliche Schweigen, das Burke gern mit einer sarkastischen Bemerkung gebrochen hätte. »Eben hab ich Ihnen aber was gesagt, von dem ich aus gutem Grund überzeugt bin, dass es stimmt«, versicherte sie. Er biss in den Stör. Der Fisch war von einer knusprigen Panade umhüllt und schmeckte schwach nach Motorenöl. »Warum erzählen Sie das mir?«, fasste er nach. »Mal abgesehen von Ihrer Fasziniertheit von meinem weltmännischen Charme und meinen nassen Hosen.« Da lachte sie wieder, diesmal trockener, nachdenklicher. »So seltsam das klingt, Burke, ich mag Sie wirklich leiden. Und ich bin nicht sicher, ob ich sagen könnte, warum.« »Ich bin überwältigt. Aber Sie weichen aus.« »Es ginge mir sehr gegen den Strich, tatenlos zusehen zu müssen, wie die Eremitage geplündert wird«, sagte sie und legte dabei offenbar jedes Wort auf die Goldwaage. »Wenn Sie rauskriegen, warum Wassiljew umgebracht wurde, und von wem, können Sie Krach schlagen und die Schweinerei stoppen.« »Und warum dann die Finte im Zug?«
»Ich könnte das durchaus erklären«, sagte sie. »Aber wenn ich das täte, würden Sie wohl nicht mehr mit mir sprechen, leider. Und ich möchte Ihnen helfen. Akzeptieren Sie doch einfach mein Wort, dass die Lage jetzt eine andere ist, sagen wir mal seit gestern.« Allmählich dämmerte es ihm, aber manches war ihm noch immer nicht klar. »Warum sollte ich nicht mehr mit Ihnen sprechen wollen?« Sie schob ihre Kartoffel auf dem Teller hin und her und dachte über die Antwort nach. »Weil ich glaube, dass Sie so etwas wie Berufsehre haben. Und wenn gewisse Dinge ausgesprochen würden, müssten Sie auf bestimmte Art reagieren. Wenn sie aber im Unklaren bleiben, können wir vielleicht zusammenarbeiten.« Da begriff Burke. Sie war Geheimdienstlerin, und das Verhältnis zwischen einem amerikanischen Journalisten und einer Agentin der CIA war im Allgemeinen voller ethischer Fallstricke. »Damit kann ich leben«, versicherte Burke, »aber ich muss wissen, warum Sie erst hü sagen, und dann hott.« »Das kann ich Ihnen so genau nicht erklären«, wich sie aus. »Aber ich habe gehört, der Käufer ist ein Mann namens Rafael Santera.« »Der Drogenbaron?« Sie nickte. »Bis vor ein paar Tagen hieß es, er wolle seinen Erwerb unter der Decke halten. Und jetzt höre ich das Gegenteil.« »Also wollten Sie erst keine Enthüllung, um einen Skandal zu vermeiden. Und jetzt meinen Sie, ein Bericht könne verhindern, dass sich der Skandal zu einer gigantischen Staatsaffäre auswächst.« Sie nickte. »Diese Schlussfolgerung liegt absolut im Bereich der Logik.« »Aha«, sagte er, »die klassische Bestätigung durch halbes Dementi. Beherrschen Sie ziemlich gut.« »Ist das ein Kompliment?« »Wollten Sie eins?« »Burke«, sagte sie, »warum habe ich manchmal das Gefühl, dass tief in Ihrem Inneren, verborgen hinter Ihrem harten und zynischen Äußeren, ein hartes und zynisches Herz schlägt?« »Na«, erwiderte er, »wenn ich merke, jemand will mich benutzen, setzt sich das durch gegen mein sonst so liebes und nettes Wesen.« Ihr Gesicht zeigte Betroffenheit. »Normalerweise bin ich immer
offen und ehrlich.« Er spürte, sie meinte es so, oder wünschte es sich zumindest. »Na gut«, machte er einen Vorschlag zur Güte, »einigen wir uns doch darauf, dass ich unter anderen Umständen lieb und nett wäre, und Sie offen und ehrlich. Und dass Sie es nicht persönlich nehmen, wenn ich ein bisschen zynisch reagiere.« Sie lächelte. »Und Sie nehmen’s mir nicht übel, wenn Sie merken, sie werden ein klein bisschen benutzt?« »Nicht, solange das kompetent geschieht«, nickte er, »und für eine gute Sache.« Sie hielt ihm über den Tisch hinweg die Hand hin. »Für die beste Sache der Welt«, versicherte sie. Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. »Okay. Jetzt, wo wir das geklärt haben, was haben Sie für Quellen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann wirklich nicht zulassen, dass Sie die auffliegen lassen. Wenn Sie diesen Bericht richtig hinkriegen, gibt es einen Riesenwirbel.« »Aber Sie schwören, sonst sind Sie offen und ehrlich?« Sie lächelte kokett und nickte. »Na schön«, lenkte er ein, »weil Sie sonst immer so offen und ehrlich sind.« Sie lachte in sich hinein. »Aber mein Bericht steht erst, wenn ich weiß, was die verhökern wollen«, stellte er fest. »Irgendwelche Vermutungen?« Sie nickte. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, es könnte einer von den Leonardos sein.« »Ich frag lieber nicht, wie Sie gerade darauf kommen.« »Sehr gut«, lobte sie. Was sie sagte, ergab einen gewissen Sinn. Die Eremitage besaß Gemälde von Leonardo. Und sie wusste offenbar mehr darüber als er. Er beschloss, ihr zu zeigen, was er am Nachmittag in Wassiljews Wohnung gefunden hatte, und holte das Notizbuch aus der Tasche. »Die trauernde Witwe Wassiljew ließ mich aus Gründen, die ich hier nicht breittreten möchte, im Schreibtisch ihres verstorbenen Gemahls herumwühlen«, berichtete er. Sie sah ihn gebannt an. »Und?« Er schlug das Notizbuch auf und nahm das Stück Rechenpapier heraus. Sie rückte mit dem Stuhl um den Tisch herum, damit sie mitlesen konnte.
»Die Lida-Konferenz«, las er. »Was könnte das sein?« »Die Eremitage hat einen Leonardo, der als Madonna Litta bezeichnet wird. Vielleicht hat er das falsch geschrieben? Oder vielleicht ist es die russische Schreibweise?« Burke zuckte die Schultern. »Und diese Namensliste? Die Hauptredner?« »Martin Arnold, Oxford, proiskschoschdenije. David Bull, Washington, udostozverenije. Augusto Donatelli, Florenz, snatschenije. Nadescha Petrowna, vosobnozvlenije«, las sie. Ihre Stimme bekam einen dringlichen Unterton. »Irgendwelche Vermutungen?« »Offenbar eine Liste von Kunstexperten«, konstatierte sie. »Zwei der Namen kenne ich. Martin Arnold ist einer der besten Renaissancefachleute. David Bull ist ebenfalls weltbekannt. Von der Nationalgalerie in Washington. Bei Donatelli bin ich mir nicht sicher. Und ich habe keinen Schimmer, wer Nadescha Petrowna ist.« »Nadescha Petrowna Naryschkina«, erklärte Burke, »heißt die Direktorin für Konservierung und Restaurierung der Eremitage.« Sie blickte ihn mit leicht geweiteten Augen an. »Woher wissen Sie denn das?« »Ein befreundeter Künstler hat’s mir gesagt.« Er hatte Sascha Winogradow unmittelbar vor diesem Abendessen von seinem Zimmer im Jewropeiskaja aus angerufen. Er merkte, sie war von seiner Recherche beeindruckt, und es tat ihm gut. »Und wie«, fragte er, »verstehen Sie diese Worte: ›Abkunft‹, ›Beglaubigung‹, ›Bedeutung‹, und ›Erneuerung.‹?« Er hatte die gängigen englischen Übersetzungen für die russischen Begriffe nach jedem Namen genannt. »Ich vermute, vosobnowlenije hinter Nadescha Petrownas Namen könnte ›Restaurierung‹ bedeuten statt ›Erneuerung‹.« Sie nickte. »In der Kunstwissenschaft hat proiskschoschdenije eine besondere Bedeutung. Gewöhnlich wird es als ›Herkunft‹ übersetzt, nicht als ›Abkunft‹. Es beschreibt die Geschichte eines bestimmten Bildes, und welche Eigentümer es gehabt hat. Und udostovereniye wird in einem künstlerischen Kontext normalerweise als ›Echtheitszertifikat‹ übersetzt, nicht als ›Beglaubigung‹.« »Also hatte er vor, eine Konferenz über die Madonna Litta zu veranstalten, mit Sprechern zu ihrer Herkunft, Echtheit, Bedeutung und Restaurierung?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht, aber viel Sinn ergibt das nicht. Die Madonna Litta wird seit mehr als einem Jahrhundert untersucht. Es herrscht ziemliche Einhelligkeit über ihre Vorzüge, und wie viel von ihr wirklich Leonardo gemalt hat. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum man jetzt eine internationale Expertenkonferenz über sie abhalten sollte…« Ihre Stimme wurde leiser. »Und dann ist da noch die Schreibweise.« Sie nickte. »Eben, die Schreibweise.« Er langte nach der Karaffe und goss ihr nochmals Wein ein. Sie nippte daran und stellte das Glas plötzlich wieder hin. »Verdammt, Burke«, sagte sie. »Ihretwegen habe ich ein schlechtes Gewissen. Fast schon wie eine Süchtige.« Er nahm einen Schluck Mineralwasser. »Macht nichts«, sagte er. »Wir alle, die wir reinen Herzens sind, müssen mit solchen Gewissensbissen leben.« Sie musste lachen. »Ich hab den Verdacht, viel Übung haben Sie darin noch nicht.« »Sie meinen, mit einem reinen Herzen?« »Burke«, sagte sie, »ich halte Sie für berechnend und moralisch heruntergekommen. Aber keine Angst. Ich mag das an einem Mann.« »Wie schön«, sagte er, »ich hatte schon immer was übrig für Frauen mit gutem Geschmack.« Sie wurde plötzlich wieder ernst, und die Vertrautheit, die sich zwischen ihnen ergeben hatte, schwand wieder. »Ich glaube, ich kann Ihnen morgen helfen, den Kontakt zu Nadescha Petrowna herzustellen.« »Die Adresse und Telefonnummer hab ich«, sagte Burke. »Colin«, tadelte sie ihn mit gespielter Strenge, »nehmen Sie sich in Acht, sonst zwingen Sie mich, alle meine Vorurteile gegenüber Journalisten über Bord zu werfen.« »Na«, sagte er, »keine voreiligen Schlüsse.« Dass die Dinge nun geklärt waren, schien sie erleichtert zu haben. Überm Essen wurde sie fast redselig. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit. Ihr Vater war eine Zeit lang Footballprofi gewesen, ein Rempler bei den New Yorker Giants. Danach war er Versicherungsvertreter geworden. Ihre Mutter war eine sensible
Sprachgelehrte mit einer Vorliebe für Shakespeare. Als Heranwachsende hatte sich Des wie ein Junge aufgeführt, um mehr Zuwendung von ihrem Vater zu bekommen. Sie hatte eine Schwester namens Julia, die wie die Eltern auf Long Island lebte. Burke genoss es, ihre Stimme über sich hinplätschern zu lassen. Er bestand darauf, die Zeche zu zahlen, gegen ihren Einwand, sie habe ihn eingeladen und müsse mindestens die Hälfte begleichen. »Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, fragte sie, als sie das Lokal verließen. »Klar, das wird mir das Mineralwasser aus dem Kopf blasen«, antwortete er. Sie musste wieder lachen. Die Nacht war kalt geworden. Mit dem Nasentest ermittelte er, es waren etwa fünfzehn Grad unter Null. Im Gehen spürte er ihre Nähe. Sie gingen so nahe nebeneinander, dass sie miteinander reden konnten, ohne dass jemand mithörte. Sie spazierten auf die stille, weiße Newa zu, zwischen dem Turm der Admiralität und dem riesigen, dunklen Klotz des Winterpalasts hindurch, und bogen in die menschenleere Uferpromenade ein. Die Lichter auf der anderen Flussseite wurden durch einen Frostnebel gedämpft, der die Stadtsilhouette irgendwie glitzern und ein wenig wärmer erscheinen ließ. »Diese Jennifer Morelli«, fragte sie, »hat sie Ihnen was getan?« Er war verblüfft. »Nein. Warum fragen Sie?« »Im Zug«, erläuterte sie. »Gleich, als ich Ihnen erzählt hatte, dass ich auf der Columbia Universität war, haben Sie mich gefragt, ob ich sie kenne.« Er war überrascht, dass sie sich erinnerte. »Sie hören sehr genau hin«, stellte er fest. Sie stritt es nicht ab. »Also ist sie der Grund für die Blumenkohlleber?« Er wollte lachen, aber bei der Erinnerung, wie sie gestorben war, blieb es ihm im Halse stecken. »Nein. Sie war einen Sommer lang Praktikantin bei mir in Moskau. Sie sind ungefähr in ihrem Alter. Ich dachte, vielleicht erinnern Sie sich an sie.« »Ist das alles?« »Nein«, sagte Burke. »Was sonst noch?« »Sie wurde vor rund einer Woche in Washington ermordet, als sie
gerade aus St. Petersburg zurückgekommen war. Ich hab sie zu der Russlandreise ermuntert und ihr meine Liste von Kontaktleuten gegeben. Von unterwegs hat Sie mir mitgeteilt, sie hätte einen Riesenknüller. Sie war tot, bevor sie mir sagen konnte, um was es ging.« »Also sind Sie hier, um herauszufinden, um was es ging. Und wer sie umgebracht hat.« »Ja.« Er wollte nicht mehr daran denken und wechselte das Thema, bevor sie ihn weiter bedrängen konnte. »Sie haben hier wohl ein schweres Leben«, mutmaßte er. Sie stutzte. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Bei dem, was Sie tun, meine ich. Was Sie sind. In einem fremden Land. All das.« »Sie meinen, als Schwarze in einer der weißhäutigsten Gegenden der Welt?« Sie nahm es ihm offenbar nicht krumm. »Teils, teils«, schränkte er ein. »Teils als Ausländerin in einem seltsamen Land. Und teils, weil Sie bei Ihrer Arbeit Geheimnisse wahren müssen.« »So schlimm ist es auch wieder nicht.« Sie lachte, aber es wirkte aufgesetzt. »Wenn ich Sie wäre«, sagte er, »wäre ich einsam. Ich war in Moskau auch allein, und ich hatte immerhin eine Menge Kollegen.« »Das kommt vor«, sagte sie. »Sind Sie je verheiratet gewesen?«, fragte er. »Tut mir Leid, Burke. Keine persönlichen Fragen«, wehrte sie ab und klang dabei, als meine sie es ernst. Er musste daran denken, dass es ihr nichts ausgemacht hatte, beim Abendessen über Persönliches zu reden, aber das waren Dinge aus ihrer Kindheit gewesen. »Im Zug haben Sie aber persönliche Fragen gestellt«, erinnerte er sie. »Stimmt, aber ich verrate Ihnen nicht, ob ich verheiratet war oder bin. Es spielt keine Rolle.« »Aber Sie streiten nicht ab, dass mit Ihnen schwer auszukommen ist«, sagte er. »Ich immerhin hab das bereits eingeräumt.« »Ich weiß«, bestätigte sie und lachte glucksend. »Na gut, mit mir ist auch schwer…« Burke hörte Schritte hinter sich, vom Schnee gedämpft, und
wollte gerade über die Schulter sehen, als der Schlag ihn traf. Hätte er sich nicht halb gedreht, um zu sehen, wer da kam, hätte es ihn voll am Hinterkopf erwischt. Die Gewalt des Schlages jagte ihm einen Schmerzschauer den Arm hinunter und den Nacken hinauf ins Hirn. Ihm wurde seltsam zumute, als seien die Knie plötzlich aus Quecksilber, und dann fiel er rücklings in den Schnee. Er sah einen stämmigen Mann in schmieriger Parka und Zobelmütze, vom Widerschein der Straßenlampe im Schnee schwach angestrahlt, der eine kleine Keule in der Rechten schwang, wie ein Beil. Der Arm holte aus zum zweiten Schlag. Burke warf sich nach vorn auf die Knie in den feuchtkalten Schnee. Mit der Linken bekam er die Keule zu fassen, und sie rangen kurz darum. Burke merkte, der Kerl war stärker und würde sie ihm gleich entwinden und auf den Schädel niedersausen lassen. Doch bevor es dazu kam, ging Desdemona dazwischen. Mit beiden Händen fasste sie den Arm des Mannes knapp überm Handgelenk. Zugleich schnellte ihr linker Fuß hoch und dem Mann in die Eier. Sogar in seiner Benommenheit konnte Burke den dumpfen Aufprall hören und zuckte unwillkürlich selbst zusammen, als der Angreifer vor Schmerz aufjaulte. Beide ließen sie die Keule los, und sie flog ein paar Meter weg in einen Schneehaufen. Der Angreifer ging in die Knie und fasste sich mit der Linken an die Hoden. Bei ihrem Tritt war Desdemona mit dem Standbein im festgetretenem Schnee ausgeglitten und wie ein Käfer auf den Rücken gefallen. Sekundenlang war es ein Stillleben, Burke und sein Angreifer mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien, und Desdemona auf dem Rücken. Sie kam als erste wieder hoch, doch der Angreifer nur einen Augenblick später. Mit einem wütenden Grunzen wollte er sich auf sie stürzen. Diesmal hatte sie im Schnee einen besseren Stand. Wieder packte sie ihn beidhändig am Unterarm. Sie kniete mit einem Bein, um der Hebelkraft willen, und machte einen sauberen Schulterwurf. Der Kerl kam mit Rücken und Kopf auf, und sein Schädel knirschte auf dem Harsch. Desdemona war noch nicht fertig mit ihm. In einer einzigen flüssigen Bewegung trat sie seitlich neben ihn und mit dem anderen
Fuß heftig gegen seinen Kopf, genau über dem Ohr. Seine Pelzschapka dämpfte den Tritt, aber nicht völlig. Seine Arme wurden schlaff. Burke kroch auf allen Vieren zu dem Schneehaufen, wo die Keule – in Wirklichkeit ein ellenlanges Stück Bleirohr – eine Kuhle hinterlassen hatte. Er packte sie und kam taumelnd hoch. Desdemona blieb kurz über dem Angreifer stehen, ein wenig außer Atem, aber mit durchgedrückten Knien, jederzeit schlagbereit. Als sie sich vergewissert hatte, dass er sich nicht mehr rührte, wandte sie sich Burke zu. Mit erhobener Keule in der Linken wankte er auf den im Schnee Hingestreckten zu. »Lass das! Wir müssen hier weg!«, zischte sie. Sie hielt seinen Arm fest, bis sie sicher war, er würde den Kerl nicht erschlagen. Ungelenk schleuderte Burke die Keule mit der Linken über die Ufermauer auf die Eisfläche der Newa. Sie schlug polternd auf. Sein rechter Arm und seine Schulter brannten jetzt wie Feuer. »Los jetzt!«, befahl sie. »Vielleicht hat er Kumpane.« Vorsichtig setzte sich Burke in Bewegung, immer einen Fuß vor den anderen. Sie stützte ihn ein paar Schritte weit am Ellenbogen, über die Fahrbahn der Uferstraße hinweg. Dann waren sie auf dem Newski Prospekt, und er schaffte einen gelinden Trab. Die nächsten anderthalb Häuserblocks legten sie so zurück, bis Desdemona auf Schritttempo schaltete und über die Schulter zurückblickte, vom Scheitelpunkt der Brücke aus, die sich elegant über einen Kanal schwang. Sie sah keinerlei Anzeichen, dass ihnen jemand folgte. Die Gehsteige waren fast menschenleer. Nur ein alter Mann mit Buckel, der zahnlos die beiden im Schnee vorbeijoggenden Ausländer verschiedener Hautfarbe begaffte, schien sie bemerkt zu haben. Burke nutzte die Atempause, um ans Brückengeländer zu treten und sein Abendessen auf die Eisfläche des Kanals zu befördern. Ein schmutziggelber Fleck im weißen Schnee. Er spuckte die Galle aus, wandte sich um und versuchte den rechten Arm zu heben. Auf halber Höhe musste er ihn vor Schmerz wieder sinken lassen. »Was gebrochen?«, erkundigte sie sich. »Weiß nicht«, stöhnte er. »Aber meine Chancen für Wimbledon nächsten Sommer stehen jetzt schlecht.« Sie lächelte knapp und drückte auf seine Schulter. Der Schmerz schoss ihm wieder bis in Hand und Kopf. Er stieß einen Schrei aus
und wich taumelnd vor ihr zurück. »Wohl nur eine Prellung«, diagnostizierte sie. »Wenn was gebrochen wäre, wärst du jetzt zusammengeklappt. Keine große Erfahrung im Straßenkampf, was?« »Den letzten hatte ich mit zwölf, glaube ich«, sagte Burke. »Und da hab ich gleichfalls den Kürzeren gezogen.« »Du bist halt aus der Übung«, tröstete sie. Es ging ihm gegen den Strich, sich bei einer Frau für seine Rettung bedanken zu müssen, aber es musste sein. »Jedenfalls vielen Dank für dein promptes Eingreifen«, sagte er. »Du warst sehr beeindruckend.« »Aha, schon wieder dieses Wort«, antwortete sie. Sie gingen weiter, bis sie unter der Markise des Jewropeiskaja standen. »Ich glaube nicht, dass du hier übernachten solltest«, warnte sie. »Ich glaube, du solltest dir ein paar Sachen holen und bei mir bleiben. Ich hab ein Sofa, das bestimmt lang genug ist für dich. Und morgen früh helfe ich dir dann Nadescha Naryschkina suchen.« Er erwog ihr Angebot. Er wäre gern darauf eingegangen, nicht bloß, weil es wahrscheinlich sicherer war, nicht im Hotel zu schlafen. Aber irgendwas hielt ihn ab. Er sagte sich, es musste ein Zweckbündnis bleiben. Bloß nichts Privates. »Ein verlockendes Angebot«, bedankte er sich. »Aber wenn ich mich gleich beim ersten Rendezvous von dir abschleppen lasse, meinst du vielleicht, ich bin leicht zu haben.« Sie stützte die Linke in die Hüfte und wurde laut. »Burke, wirst du ausfallend, oder bist du bloß benommen?« »Darf ich’s mir aussuchen?« »Jemand wollte dir gerade was antun – dich vielleicht töten.« »Vielleicht bloß ein Straßenräuber«, wehrte er ab. »Oder vielleicht jemand, der was gegen dein Rumschnüffeln hat!«, gab sie zurück. »Wenn ich dir den Arsch retten will, könntest du dir das wenigstens gefallen lassen.« Burke schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Des«, sagte er. »Lass mir doch den Wahn, dass ich alles im Griff habe.« »Aber du…« Sie brach schulterzuckend ab und lächelte. »In Ordnung«, fügte sie sich. »Ganz wie du willst.« »Vielen Dank für den wunderschönen Abend«, sagte er und wollte ihr die Hand geben. Sie lachte und küsste ihn rasch erst auf
die rechte, dann auf die linke Backe. Seine Schulter machte sich energisch bemerkbar, als er die Hotelhalle vom Jewropeiskaja betrat. Der erste Schock ließ langsam nach, und er wusste, jetzt hatte er eine Nacht voller Schmerzen vor sich. Er brauchte Eis. In einer Ecke der Hotelhalle spielte ein hervorragendes Streichquartett etwas Lebhaftes, das an Mozart erinnerte. An den Tischen um die Bar herrschte Gedränge. Burke erinnerte sich, dass die Konferenz zur Rüstungskonversion morgen beginnen sollte. Durch das Violinengezirpe hörte er hinter der Bar Eiswürfel klappern. Er kämpfte sich durch und klemmte sich zwischen zwei japanische Anzugträger, die Scotch tranken. Er wollte gerade den Barkeeper auf sich aufmerksam machen, als ihn jemand auf die lädierte Schulter tippte. Er zuckte zusammen und wandte sich um. »Na, wenn das nich unser Starreporter ist.« Jimmy Duxbury, der bankrotte Schrotthändler aus Philadelphia mit dem Teiggesicht und den roten Haaren. Duxbury war sturzbetrunken. In seinen Augen waren rote Äderchen geplatzt, er schielte nach links und konnte nur noch nuscheln. Speichel rann ihm aus dem linken Mundwinkel übers Kinn. Er wischte ihn mit dem Handrücken ab. »Jawoll, ich bin besoffen«, bestätigte er Burkes stumme Musterung. »Aber mornfrüh binnich wier nüchtern, un du bis dann immer nochn arrogantes Aaschloch.« »Also sind Sie nicht nur ein geriebener und erfolgreicher Geschäftsmann, sondern kennen auch ihren Churchill«, lobte Burke. »Leckmich«, antwortete Duxbury. »Churchill hätte es nicht besser sagen können«, nickte Burke. »Bistu wegen der Konfrenz da?« Duxbury wechselte unvermittelt von hasserfüllt zu weinerlich. »Nein«, sagte Burke. »Wegen was anderem. Und Sie?« »Mach denen sovill Ärger, wie ich kann«, kündigte Duxbury an. »Bissie mich rausschmeißn. Oder bis mich der verfickte Slema Tschaw.tschaw.adse abstechn lässt.« Eine junge Frau glitt mit besorgtem Blick an Duxburys Seite. Sie hatte ein hautenges schwarzes Strickkleid an, dessen tiefer Ausschnitt ihr Dekolleté zur Geltung brachte und das die
Oberschenkel halb frei ließ. Ihr Haar war schulterlang und rotblond, und sie hatte zuviel Lippenstift aufgelegt. Sofort fiel Burke ein, wo er ihr begegnet war. Im Vorzimmer von Wassiljews Büro in der Eremitage. Sie hakte Duxbury unter und brachte ihren Mund an sein Ohr. »Jimotschka«, turtelte sie. »Warum lässt du mich stehen?« Duxbury grinste Burke an. »Jimotschka?«, hob Burke die Augenbrauen. Hätte Duxbury nicht vom Alkohol und Blutdruck schon so eine Birne gehabt, wäre er vielleicht rot geworden. »Kosename für mich«, erläuterte er. Die Frau beugte sich wieder zu ihm herunter – sie war einen halben Kopf größer als Duxbury – und flüsterte ihm was ins Ohr. Er lächelte und tätschelte ihr die Hand. Sie ergriff seine und begann ihn mitzuzerren. »Okay Schätzchen«, sagte er. Er wandte sich Burke zu. »Muss weg jetzt. Sie sagt, Sie hat ‘ne Freundin, und ich kriech ‘nen flottn Dreier fürs selbe Geld.« »Sie Glücklicher«, gratulierte Burke und sah zu, wie sie sich durch die Hotelhalle zum Ausgang durchdrängten und die Russin den kleinen Amerikaner abschleppte. Ob es wohl Zufall war, dass er diese Frau erst in der Eremitage traf, und dann zusammen mit Jimmy Duxbury? Einen kurzen Moment war ihm, als sei er blind und ahnungslos mitten auf eine Bühne getappt, wo alle außer ihm wussten, was gespielt wurde. Doch viele junge Russinnen waren nebenberuflich Nutten. Jimmy Duxbury, dachte er, sollte lieber auf seine Brieftasche aufpassen. Dann pochte es heftig in seiner Schulter, und er konnte sich dem Barkeeper bemerkbar machen, nur um zu erfahren, dass ein Becherchen Eis fünf Dollar kostete. Zornig schob er einen Geldschein über die Bar und nahm einen Pappbecher halbgeschmolzener Würfel in Empfang. Er fuhr mit dem Fahrstuhl hoch, steckte die Codekarte in den Schlitz an der Tür und wartete, bis es grün leuchtete. Vergeblich. Er versuchte es nochmal. Fehlanzeige. Vor sich hinfluchend, fuhr er mit dem Fahrstuhl wieder hinunter in die Hotelhalle. Der Empfangschef der Nachtschicht drängte Burke, es noch ein weiteres Mal zu probieren, aber Burke weigerte sich, Desdemonas
Warnung vor der Gefährlichkeit einer Übernachtung im Hotel noch im Ohr. Er bestand darauf, dass ein Page mit ihm hoch kam und die Tür öffnete. Der Empfangschef versprach es widerstrebend. Burke fuhr wieder hinauf und wartete. Kurz danach kam der Page, ein schlanker Junge mit Schmalztolle, noch keine zwanzig, den Flur entlanggeschlendert. Ohne seine Verachtung für den Gast zu verhehlen, der mit der Schließtechnik nicht zurechtkam, schob der Page eine Generalcodekarte in das Schloss. Es blinkte grün, und er stieß die Tür auf. »Prüfen Sie doch bitte die Heizung für mich«, sagte Burke. Der Junge nickte, knipste das Licht an und ging hinein. Burke blieb bedächtige drei Schritte hinter ihm. Im Zimmer war niemand. Burke kam sich ziemlich blöde vor, sah zu, wie der Page den Thermostat überprüfte, und gab ihm drei Dollar Trinkgeld. Wie lange diese Nervosität wohl anhalten würde? Er schlief ein über dem Gedanken, was sich alles hätte ergeben können, wäre er auf Desdemonas Angebot eingegangen.
17 Der Mann hatte gesagt, er heiße Wladimir, aber noch bevor er den Mund aufmachte, hatte Bykow gewusst, der war kein Russe. Groß genug war er, aber die braunen Augen über der Adlernase standen zu eng beieinander. Der Mann hatte ein Fuchsgesicht – voller Tücke. Bykow hatte noch nie einen Russen gesehen, der so aussah. Bei Russen war der Augenabstand größer. Ein Russengesicht mochte einfältig wie ein Ochse sein, hündische Treue oder wölfische Wildheit widerspiegeln und bisweilen leuchten vor Intelligenz, aber so eine Visage hatten Russen nie. Kaum hatte der Kerl den Mund aufgemacht, hatte Bykow gewusst, woran er bei ihm war. Er hatte einen Akzent wie einer aus einem der ehemaligen sozialistischen Bruderländer, der sein Russisch in der Schule gelernt hatte und mit slawischen Vokalen und Konsonantenhäufungen aufgewachsen war. Also war er entweder Deutscher oder Rumäne, aber für einen Deutschen hatte er einen zu dunklen Teint. Wahrscheinlich, entschied Bykow, ein Veteran der Securitate, der jetzt schwere Zeiten durchmachte. Tschawtschawadse kannte Dutzende von denen und wusste mit großem Geschick zu finden, wen er gerade brauchte. Zum Glück war der Mann, wie Bykow sah, für seine Rolle bestens ausstaffiert, mit einem Kamelhaarmantel und einem anthrazitfarbenen Zweireiher, der von einem Herrenschneider in London oder Frankfurt stammen mochte. Und er hatte einen unauffälligen, aber teuren Aktenkoffer aus handgearbeitetem Spanischleder dabei. Wie Bykow wusste, beurteilten die Russen Leute immer noch danach, was sie anhatten und was sie mit sich herumtrugen. Das Auto, ein Mercedes, kam vor dem Haupteingang zum Hotel Jewropeiskaja zum Stehen. Bykow machte gerade Anstalten, seine Beifahrertür zu öffnen, doch der Rumäne hielt ihn mit sanftem Druck auf den Unterarm davon ab. »Warten«, sagte er. Nach zehn Sekunden kam der Portier mit verdrossener Miene durch die dünne Schicht Schnee geschlurft, der seit Mitternacht gefallen war. Er riss den hinteren Schlag auf. Wladimir stieg aus, Bykow folgte. Er fragte sich, ob es klug war, den Portier hinaus in
die Kälte zu zwingen. Erhöhte das denn nicht die Wahrscheinlichkeit, dass er sich an ihre Gesichter erinnerte? Oder war dies die Art, wie sich ein deutscher Geschäftsmann gab? Er musste sich darauf verlassen, dass Wladimir Erfahrung hatte und genau wusste, was er tat. Soweit er sagen konnte, zogen sie keine Blicke auf sich, als sie die Hotelhalle betraten. Obwohl es fast ein Uhr nachts war, war die Bar immer noch gut besetzt. Leute aus dem Westen, erinnerte er sich, kamen aus Zeitzonen, wo es jetzt erst Abend oder Spätnachmittag war. Rasch tastete er die Bar mit Blicken ab. Er sah weder Marina noch Duxbury. Hatte er auch nicht erwartet. Aber vergewissern musste er sich. Sie stiegen in den Aufzug und fuhren hinauf in den sechsten Stock. Marinas Angaben zufolge hatte Duxbury Zimmer 614. Links den Flur hinunter war es die zehnte Tür. Bykow zog die Generalcodekarte vom Jewropeiskaja aus der Tasche, die er sich schon vor Monaten beschafft hatte, wie er auch Generalschlüssel für sämtliche Touristenhotels von St. Petersburg besaß. Die Diode über dem Schloss blinkte grün, und sie traten ein. Das Doppelbett war frisch bezogen, die Decken aufgeschlagen, und ein Stück Schokolade lag auf jedem Kissen. Duxburys Gepäck war sauber im Schrank gestapelt, sein Toilettenzeug um das Waschbecken platziert. Er hatte an diesem Abend sichtlich nicht viel Zeit in diesen vier Wänden verbracht. Sofort stellte Wladimir seinen Aktenkoffer auf den Tisch neben den Fernseher und ließ die Schlösser aufschnappen. Er entnahm zwei Paar Gummihandschuhe, zog eins davon an und reichte das zweite an Bykow weiter. Dann zog er ein Taschentuch aus der Brusttasche und wischte den Türknauf ab. Bykow beobachtete ihn fasziniert, während er seine eigenen Handschuhe musterte. Das Latex war überraschend weich und pudrig. Fühlte sich an wie Menschenhaut. Dann ging Wladimir ans Fenster, zog die Vorhänge zurück und sah hinaus. Bykow trat zu ihm und sah ihm über die Schulter. Ungehinderter Blick auf den Hoteleingang. »Okay«, sagte Wladimir. Er grinste schief. »Schlafenszeit.« Bykow sah in stummer Überraschung zu, wie der Rumäne sorgfältig Mantel, Anzug, Hemd und Krawatte, Schuhe und Socken auszog. Im Handumdrehen trug er nur noch Unterwäsche,
dunkelblau und mit Jockeyschnitt. Er war drahtig und sportlich gebaut, und Bykow fragte sich kurz, wie wohl ein Ringkampf mit ihm ausgehen würde. Wäre nett zu wissen, was der bei der Securitate gelernt hatte. Wladimir ging hinüber zum Bett und machte, immer noch mit den Gummihandschuhen, bedachtsam Knautschfalten hinein. Dann holte er eine dünne Polyäthylenfolie aus seinem Aktenkoffer. Bykow konnte Zielfernrohr und Kolben eines Gewehrs erkennen. Wladimir zog das Polyäthylen auseinander und reichte Bykow die Hälfte. »Sie werden wohl leider auf dem Boden liegen müssen«, sagte er und lächelte über Bykows erstauntes Gesicht. Sorgfältig und exakt zog er das Plastik auseinander, bis er eine dünne Folie hatte, die so groß war wie das Bett. Er breitete sie aus, legte sich darauf und schloss die Lider. Binnen einer Minute schien er zu schlafen. Bykow breitete die zweite Folie auf den Boden, da er begriffen hatte, dass es nicht anging, zwei Betten zu zerwühlen. Dann fiel ihm etwas ein. Er fasste nach Wladimirs Fuß und kniff. Sofort fuhr der Mann hoch, aber Bykow fiel auf, dass er dabei körperlich locker und entspannt blieb, wie es bei einem guten Sportler sein muss. »Sollen wir keinen Wecker stellen?« Wladimir lächelte, ohne seine Herablassung zu verbergen. »Nein«, sagte er. »Ich wache schon auf.« Er schloss wieder die Augen und lag nach Haltung und Erscheinungsbild sofort wieder in tiefem Schlaf. Bykow zog sich aus und beobachtete den Mann zehn Minuten lang. Er schien fest zu schlafen. Für Bykow kam Schlaf nicht in Frage. Er war zu besoffen. Unruhig blätterte er in der Broschüre, die auf dem Fernseher lag. In englisch, deutsch, japanisch und russisch waren da die gebührenpflichtigen Videos beschrieben. Zwei davon, stellte er fest, waren nicht jugendfrei. Duxbury war seiner Ansicht nach genau der Typ, der sich so was ansah. Vorsichtig langte er zum Fernseher, schaltete zuerst den Ton aus und wählte einen Film mit dem Titel Burning at Both Ends. Auf der Mattscheibe erschien eine Frau zwischen zwei Männern. Der eine hatte seinen Schwanz in ihrer Scheide. Der zweite drang gerade langsam von hinten in sie ein. Bykow konnte sich unschwer
vorstellen, was für Laute sie von sich gab. Er warf noch einmal einen Blick auf Wladimir. Der hielt die Augen weiterhin geschlossen und hatte sich überhaupt nicht gerührt. Verstohlen begann Bykow zu onanieren. Bykow wachte steif gelegen und mit Druckschmerzen auf. Er rollte sich auf die Seite und hörte Plastik unter sich rascheln. Dann knallte er mit dem Kopf gegen den Fernsehständer. Ihm wuchs eine kleine Beule. »Scheiße«, murmelte er und sah sich um. Augenblicklich fiel ihm wieder ein, wo er sich befand, und zu welchem Zweck. Er sah auf die Uhr. Zwölf nach sieben. Sie mussten noch etwa fünfundvierzig Minuten warten. Wladimir saß bereits voll angekleidet auf der Kante des Betts, das immer noch mit der dünnen Polyäthylenfolie überzogen war. Sein Aktenkoffer war aufgeklappt, und er übte Zerlegen und Zusammensetzen seines Gewehrs. Eine Weile beobachtete Bykow ihn dabei. Er bewegte sich mit geübter Präzision. Er konnte binnen zwanzig Sekunden sein Gewehr auseinandernehmen und jedes Teil in das passende Futteral im Aktenkoffer stecken. In zusammengesetztem Zustand hatte das Gewehr einen langen stahlblauen Lauf, ein Zielfernrohr, und einen hölzernen Kolben von einer Art, die Bykow nicht kannte. Er war mit allen Waffen vertraut, die im alten Sowjetblock üblich gewesen waren, aber dieses Gewehr gehörte nicht dazu. »Was ist denn das für eins?«, fragte er Wladimir. Der Rumäne, wenn er wirklich einer war, bedachte ihn mit dem gleichen verkniffen herablassenden Lächeln wie gestern Abend. »Eigenbau«, antwortete er. Allmählich wurde er Bykow zuwider. Er wünschte sich, er hätte sich für diese Sache nicht breit schlagen lassen. Aber Befehl war Befehl. Er stützte sich mit einer Hand ab und stand auf, wobei er vorsichtig mit den Füßen auf der Folie blieb. Er dachte kurz an das Klopapier, auf das er gestern Abend abgespritzt hatte. Er hatte es hinuntergespült. Das war bestimmt sicher genug. Wenn sie hier wieder rausgingen, würden sie keinerlei Ausscheidungen, Fingerabdrücke oder Fasern hinterlassen.
Er zog sich an, schlüpfte in die Schuhe und faltete sein Stück Folie sorgfältig zusammen. Dann versuchte er Konversation zu machen. »Wie heißen Sie denn richtig?« »Wladimir«, antwortete der Mann. Er schien ob Bykows Frage weder beleidigt noch amüsiert. Seine Antwort klang so beiläufig, dass Bykow ihm fast geglaubt hätte. Sie verfielen in Schweigen. Wladimir hörte auf zu üben. Er überprüfte das Magazin und vergewisserte sich, dass es voll war. Dann ließ er es einrasten. Das Hotel hatte eine moderne Abwandlung der traditionell russischen Belichtung mit fest eingebautem Hauptfenster und einer Luke, die sich öffnen ließ, der fortotschka. So blieb eine kleine Öffnung zum Lüften, damit ein Zimmer im Winter, wenn Tag und Nacht geheizt wurde, nicht zu trocken und miefig wurde. Wladimir machte die fortotschka auf und probierte eine Weile verschiedene Stellungen und Schusspositionen aus, bis er die gefunden hatte, bei der er einen sicheren Stand und den Gewehrlauf in Schusslinie hatte. Dann warteten sie wieder ein Weilchen. »Gratschenko kennen Sie doch?«, fragte Bykow. Die Frage schien albern, aber es fiel ihm nichts anderes ein, und das Schweigen ging ihm allmählich auf den Wecker. »Das ist der mit dem großen goldenen Stern auf den Epauletten«, bestätigte Wladimir. »Aber vielleicht ist noch ein zweiter Marschall dabei.« Wladimir lachte verächtlich. »Ich kenn mich doch aus. Ich hab Fotos gesehen. Und Filme. Ich weiß, wie er aussieht, und geht, und wie er sich vorbeugt, wenn er aus dem Auto steigt. Den kenne ich.« Bykow wurde rot und sagte nichts mehr. »Sehen Sie mal«, fuhr Wladimir fort, »ich denke, Sie kennen sich aus mit Ihrem Job, mich hier reinzuschleusen und wieder raus. Warum gehen Sie nicht einfach davon aus, dass ich mich mit meinem auch auskenne?« Zum ersten Mal war Schärfe in seiner Stimme, und Bykow wurde klar, dass sogar der Mann hier langsam die Anspannung spürte, während der entscheidende Augenblick nahte. Er dachte kurz daran, den Kerl zu erwürgen, sobald er den Abzug betätigt hatte, und die Leiche hier im Zimmer der Miliz zu hinterlassen.
Ein angenehmer Gedanke, aber zu viele Unwägbarkeiten. Wladimir sah auf die Uhr und ging wieder in Schussposition. Bykow trat auf die andere Seite des Fensters und sah von dort aus zu. Genau um acht erschien ein blaugelbes Milizauto mit Blaulicht auf dem Newski Prospekt. Ihm folgte eine lange schwarze Staatskarosse, ein SIL. Bykow holte tief Luft. Wladimir hob das Gewehr über die Kante der offenen fortotschka und zielte auf den Bordstein vor dem Haupteingang des Hotels. Zehn Sekunden später fuhr die kleine Kolonne vor. Bykow sah, wie sie bremste und zum Stehen kam. Seine Zeitwahrnehmung war völlig verzerrt. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Ein Adjutant in olivgrünem Armeemantel stieg aus der Beifahrertür und riss mit einem Schritt den hinteren Schlag auf. Er schien volle fünf Sekunden dafür zu brauchen, obwohl Bykow genau wusste, der Mann bewegte sich mit Zack. Nach einer Weile, die ihm wie zehn Minuten vorkam, streckte sich ein Bein aus dem Auto, in olivgrüner Hose mit roter Biese. Ganz langsam, wie bei einer Geburt, folgte der Körper, und dann das andere Bein. Die Bärengestalt und der große gelbe Stern auf der Schulter waren unverkennbar. Gratschenko. Wladimir schob den Gewehrlauf zum ersten Mal durch die fortotschka hinaus. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, dann drückte er ab. Bykow konnte Gratschenkos Kopf nach vorne rucken sehen, als habe sich jemand hinter ihn geschlichen und ihm eins mit dem Schmiedehammer verpasst. Er sah einen Sprühnebel aus Gratschenkos Kopf entweichen und den Schnee hinter ihm rosa färben. Langsam sackte der Verteidigungsminister in sich zusammen. Der Schütze nahm den Gewehrlauf ein Stück in den Raum zurück, bis die Mündung auf dem Sims der fortotschka ruhte. Dann schoss er nochmals und hinterließ eine deutliche Schmauchspur auf dem weißen Leinölfirnis. »Okay, Abmarsch«, befahl Wladimir. Er hatte das Zielfernrohr abmontiert und das Magazin entnommen, bevor Bykow wieder ganz bei sich war.
Fünf Minuten später gingen sie gemächlich, aber zielbewusst in Richtung Hafen. Fünfzehn Minuten später saß Wladimir wohl verborgen in einem Frachter, der zu seinem wöchentlichen Törn über den finnischen Meerbusen nach Helsinki ablegte.
18 Burke wachte auf, saß senkrecht im Bett und wähnte, er sei hinter einem Bus herrennend längelang auf die Straße hingeschlagen, und der Bus habe eine Fehlzündung gehabt. Einen Augenblick später vernahm er wieder diesen Knall und wusste sofort, das war zu nah und zu peitschend gewesen, um von einem Bus zu kommen. Es klang nach Gewehrfeuer. Wie gelähmt blieb er im Bett sitzen, schüttelte den Kopf und bemühte sich, Traum und Wirklichkeit auseinander zu sortieren. Langsam unterschied sein Gedächtnis zwischen Außengeräuschen und Traum. Der Knall, zumindest der letzte, schien von irgendwo über ihm gekommen zu sein. Er stand auf und ging ans Fenster, wo seine fortotschka einen Spalt offenstand. Er blickte auf den Newski Prospekt hinunter. Dort stand eine lange SIL-Staatskarosse von der Art, über die nur der Präsident und Mitglieder des Kabinetts verfügten. Er sah eine Gruppe von Offizieren in Armeemänteln über irgendwas auf der Straße gebeugt und andere Soldaten und Milizionäre mit gezogenen Pistolen die Hotelfassade absuchen. Da wusste er, was da vorging, und was er gehört hatte. Hektisch warf er sich in die Kleider und vergewisserte sich, ob sein alter russischer Presseausweis in der Brieftasche steckte. Seine Schulter fühlte sich steif und wund an, aber der Schmerz war nicht stechend. Offenbar doch nichts gebrochen. Im Flur drückte er den Abwärtsknopf und wartete. Aber dann hatte er nicht mehr die Geduld. Er rannte durch die Tür ins Treppenhaus und raste hinunter, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm und sich mit der Linken am Geländer um die Treppenabsätze schwang. Unten in der Hotelhalle herrschte Chaos. Männer brüllten Befehle. Eine Frau kreischte. Binnen kurzem, wusste er, würde jemand die Kommandogewalt übernehmen, und Miliz und Armee würden gemeinsam alles abriegeln und jeden im Hotel verhören. Ein Sprecher würde ernannt werden, damit man einen hatte, der der Presse Antworten verweigern konnte. An Fakten würde kaum noch heranzukommen sein. Aber die nächsten paar Minuten konnte er die Verwirrung und
das Entsetzen nutzen, die auf den Gesichtern der vom Newski Prospekt Hereinkommenden zu lesen waren. Er packte einen vorbeieilenden Pagen am Ärmel und fragte ihn, was passiert sei. »Da ist einer erschossen worden!«, schrie der Page und riss sich los. Weiß ich selber, dachte Burke. Er schob sich zur Eingangstür, gegen eine regelrechte Flut von Leuten, die her eindrängten. Er rempelte einen Offizier in knöchellangem Armeemantel an. »Wer ist erschossen worden?«, fragte er und hielt den Mann dabei an der Schulter fest. »Gratschenko«, antwortete der Offizier. »Wo ist das nächste Telefon?« »Beim Hoteldirektor«, antwortete Burke und deutete mit dem Daumen hinter sich. Der Offizier rannte weiter. Burke blieb stehen und sah auf die Uhr. In St. Petersburg war es jetzt acht Uhr dreißig, in Washington halb ein Uhr morgens. Im Redaktionssaal der Tribune machten ein paar Umbruchredakteure gerade die Morgenausgabe fertig und ergänzten dabei hauptsächlich die Sportseiten um die Ergebnisse von Basketball und Eishockey an der Westküste. Er hatte höchstens noch eine halbe Stunde, bevor die Rotation anlief. Fünfzehn Minuten würde er brauchen, um einen kurzen Aufmacher für die Titelseite zu verfassen und durchzugeben. Also blieb noch eine Viertelstunde, um zwei grundlegende Fragen zu recherchieren. Handelte es sich wirklich um Gratschenko? Und wie schwer war er verletzt? Er drückte gegen die inzwischen zur Springflut angewachsene Menge der im Hotel Schutz Suchenden. Manche hatten noch Schnee an den Schuhen und ihre Augen flackerten. Vermutlich aus Angst vor dem Heckenschützen. Von draußen vernahm er Sirenen. Neben dem Ausgang erblickte er einen älteren Offizier mit Spitzbauch und grauen Haaren, der sich mit einigen Untergebenen gegen die Eingangstür stemmte. »Das Hotel abriegeln!«, brüllte er. »Und wo bleibt der Notarzt, Himmeldonnerwetter? « Aber Hotelabriegeln gehörte offenbar nicht zu dem Stoff, der auf der Offiziersschule durchgenommen wurde. Draußen rannten die
Militärs herum wie Hühner ohne Kopf. In ihrer Mitte lag jemand auf dem Schnee hingestreckt. Burke drängte sich bis zu dem grauhaarigen Offizier durch und zeigte kurz seinen Presseausweis. Der Offizier, selber abgelenkt und verwirrt, fuhr zu Burke herum. »Arzt?«, brüllte er. Burke sagte nichts. Der Offizier sagte auch nichts, machte aber widerwillig Platz. Burke ging in die Hocke und sah sich die Leiche an. Jemand hatte sich den Offiziersmantel ausgezogen und ihn der Leiche untergelegt, und ein großer Fleck dunkelroten Blutes tränkte den Wollstoff. Burke konnte den Marschallsstern auf den Epauletten des Toten erkennen. Auf der Seite zu Burke hin war der halbe Schädel weggesprengt. Sachte hob er den Kopf an, um in das Gesicht blicken zu können. Es war Pjotr Gratschenko. Sein Kürbiskopf war unverwechselbar. Und er war ohne jeden Zweifel tot. Die Kugel hatte seinen Hinterkopf gespalten wie ein Tranchiermesser einen HaloweenKürbis. In Burke stieg leichte Übelkeit auf, aber er spürte auch einen Adrenalinstoß. »Heckenschütze?«, fragte Burke, an den grauhaarigen Offizier gewandt. »Da«, bejahte dieser. »Wie viele Schüsse und von wo?« »Zwei. Aus dem Hotel.« Der Offizier merkte plötzlich, das waren keine Fragen, wie sie ein Notarzt stellen würde. Er sah sich Burke genauer an. »Sind Sie Arzt?«, fragte er wütend. »Nein. Journalist. Ich habe Ihnen meinen Presseausweis gezeigt«, antwortete Burke. Die Gesichtsfarbe des Mannes sprang von Rot auf Violett. Burke erhob sich und machte sich davon, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, ihn zu verhaften. Zurück in seinem Zimmer klappte er den Laptop auf und fing an zu tippen. Doch bevor er drei Worte auf dem Bildschirm hatte, zwang er sich, eine halbe Minute nur da zu sitzen und nachzudenken, was für Auswirkungen das Gesehene haben konnte. Womit konnte er die nackte Tatsache dieses Attentats auf Gratschenko ergänzen?
Er konnte und wollte nicht darüber spekulieren, wer den Mord verübt hatte oder wer vielleicht dahintersteckte. Angesichts des Durcheinanders in Russland kamen dafür zu viele Kräfte in Frage. Und der Attentäter musste nicht unbedingt Russe sein. Womöglich ein Iraker, aus Rache, weil Russland die Vereinigten Staaten im Golfkrieg unterstützt hatte. Oder ein Afghane, der noch eine Rechnung im Zusammenhang mit Gratschenkos Beteiligung am russischen Einmarsch offen hatte. Auch ein fanatischer Tschetschene kam in Betracht. Es konnte sonst wer gewesen sein. »St. Petersburg«, tippte er. »7. Februar.« Der russische Verteidigungsminister Marschall Gratschenko wurde heute morgen vor einem Hotel in St. Petersburg erschossen. Mit seinem Tod hat die derzeitige russische Regierung eine ihrer wichtigsten Säulen verloren. Einer oder mehrere unbekannte Schützen feuerten auf Gratschenko bei dessen Ankunft zu einer Konferenz über die Konversion russischer Rüstungsindustrien zur Zivilproduktion. Ein anwesender Offizier meldete, zwei Schüsse gehört zu haben, die seiner Überzeugung nach aus dem Hotel Jewropeiskaja kamen. Gratschenko erlitt einen massiven Kopfdurchschuss und war offenbar auf der Stelle tot. In der Hotelhalle herrschte unmittelbar nach dem Attentat Chaos. Es gibt keine Hinweise, dass der oder die Attentäter verhaftet wurden. Er stockte. Er hätte etwas über sich anhängen können, nach der Masche »wie unser Korrespondent direkt vom Ort des Geschehens meldet«, aber dergleichen überließ er lieber Fernseh- und Boulevardzeitungsreportern. Er fügte sechs knappe Absätze hinzu, wie wichtig Gratschenkos Unterstützung für Präsident Jelichew während der letzten fünf Jahre gewesen sei, und alles, was er von einer Pressekonferenz Rogows in Riga aus der Vorwoche noch wusste. Dann schloss er das Modem ans Telefon an und übermittelte den Artikel nach Washington. Wieder empfand er Genugtuung, sich ein Zimmer mit guter Telefonverbindung gesichert zu haben. Das zahlte sich jetzt aus, dachte er. Jetzt konnte er die dreihundert Dollar Schmiergeld an Nikolai und einen Teil seiner Reisekosten bei der
Tribune als Spesen abrechnen. Als der Artikel gesendet war, zog er den Modemstecker wieder heraus und wählte die Auslandsredaktion der Tribune. Es meldete sich eine Nachwuchsredakteurin, die in dieser Nacht Stallwache hatte. »Haben Sie gelesen, was ich gerade geschickt habe?« Sandra McInerney klang aufgeregt und skeptisch zugleich, als vermute sie einen Schabernack der Altredakteure, die sehen wollten, ob sie darauf reinfiel und das Ding ins Blatt hob. »Jaa«, bestätigte sie und dehnte die Silbe dabei. »Warum stellen Sie nicht eine Konferenzschaltung mit Graves her«, schlug er vor. »Den müssen Sie ohnehin anrufen. Am besten bin ich gleich mit dabei.« Sie rief bei Graves zu Hause an. Er war noch wach, klang aber ein bisschen nuschelig. Burke konnte sich vorstellen, wie er herumsaß und sich David Lettermans Late Night Show ansah, während er gerade den vierten Whiskey in einem Glas voller zerstoßener Eiswürfel kreisen ließ. Wie alle Redakteure der Tribune hatte Graves zu Hause einen Computer mit Anschluss an den der Zeitung. McInerney nannte ihm die Nummer, die der Computer Burkes Meldung zugewiesen hatte. Er rief sie auf, und es herrschte kurz Schweigen in der Leitung, zu etwa zehn Dollar die Minute. »Schöne Scheiße«, sagte Graves endlich. Das war sein zweithöchstes Lob. »Heilige Scheiße« behielt er Berichten vor, die für den Pulitzerpreis in Frage kamen. »Und du warst dabei?« »Ich wohne in dem Hotel. Ich bin von den Schüssen geweckt worden. Die Leiche hab ich mit eigenen Augen gesehen. Und mit einem Augenzeugen gesprochen«, bestätigte Burke. »Saubere Arbeit, für jemand, der auf Besuch bei der kranken Großmutter ist«, knurrte Graves. »Der Mutter«, berichtigte Burke. »Wie auch immer. Saubere Arbeit.« Burke lauschte, während Graves McInerney Anweisungen zur Umgestaltung der Titelseite gab. Er spürte, wie sich seine frohe Laune zum Triumphgefühl steigerte. Ihm war sauwohl. McInerney legte auf. »Ach Burke«, meldete sich Graves noch einmal. In seiner Stimme
klang ein wenig die Gefühlsduseligkeit eines Angetrunkenen mit. »Du bist wie ein alter Feuerwehrgaul.« Er hielt inne. »Kaum riecht’s nach Rauch, galoppierst du los.« »Na gut«, erwiderte Burke. »Ich hab schon geglaubt, du sagst jetzt, ich sei grau, lahm und reif fürs Gnadenbrot.« Plötzlich wechselte Graves den Ton. »Also, und was bringen wir morgen?« Der Gedanke an die Zeitung von morgen piekste ein Loch in den Ballon, und Burkes Hochgefühl entwich langsam. Er war doch immer das Gleiche. »Na, das Naheliegende«, antwortete er. »Wer’s gewesen ist. Warum er’s getan hat. Was jetzt mit der Armee passiert.« »Es gibt einen Hintergrund in Moskau und einen in St. Petersburg«, sagte Graves. »Ich überlege, ob ich nicht Smithfield mit dir tauschen lassen soll. Damit kriegt sie den Aufmacher, aber für die politischen Weiterungen in Moskau hast du die besseren Kontakte.« Burke hatte nicht die geringste Absicht, sich aus St. Petersburg fortloben zu lassen. »Na, ich weiß nicht, Ken«, sagte er und suchte fieberhaft nach einem plausiblen Einwand. »Die Flugpläne hier sind recht unzuverlässig. Vielleicht bleibt einer von uns irgendwo auf dem Flughafen hängen.« »Ja«, stimmte Graves zu. »Du hast Recht. Ich sag Jill, sie soll das in Moskau abdecken. Aber ruf sie an und hilf ihr aus. Mit Gewährsleuten und so.« Burke versprach es. Er legte auf und sah zum Fenster hinaus. Die Straße war voller Polizeifahrzeuge. Als Ort war sie so gut wie jeder andere, um mit dem Artikel von morgen zu beginnen. Desdemona McCoys Computer begann zu blinken, als sie in ihrem Büro in der Kunstgalerie McCoy-Fokine gerade den Mantel ausziehen wollte. Sie war erstaunt. In der einen Woche, die sie das Gerät jetzt besaß, hatte sie Mitteilungen nur während des Sendefensters erhalten, das sich nach dem Durchgang des Satelliten richtete. Ihr war gesagt worden, Mitteilungen außerhalb davon kämen höchst selten vor. Sie zog den Mantel aus und warf ihn hastig über eine Gipsskulptur mit üppigen Rundungen, die ihr gefallen hatte. Sie hatte sie vor sechs Monaten gekauft und nicht loswerden können.
Sie gab ihren persönlichen Code ein und drückte dann F4. Auf dem Bildschirm leuchtete die Meldung auf. TSEDOI ABS OSTENDIJK MORGENAUSGABE DER WASHINGTON TRIBUNE WIRD MELDUNG UEBER ATTENTAT AUF GRATSCHENKO VOR HOTEL JEWROPEISKAJA ENTHALTEN, VON COLIN BURKE. TATZEIT GEMAESS MELDUNG 0800 ORTSZEIT. ALLE VERFUEGBAREN EINZELHEITEN UEBER ATTENTAT, MOTIV UND WEITERE SACHDIENLICHE HINWEISE DRINGEND ERFORDERLICH. TERMIN 1445. HOECHSTE PRIORITAET. Burke! Sie rechnete sich aus, wieviel Zeit er zwischen der Schießerei und dem Redaktionsschluss der Washington Tribune gehabt haben konnte. Der Mann war schnell. Die Journalistenmeute drüben in Moskau würde glauben, es sei Glückssache, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Sie selbst hätte das wohl auch vermutet, würde sie ihn nicht kennen.
19 Bis Burke die Gribojedowstraße erreichte, hatte ein finnisches Fernsehteam aus Helsinki schon einen Sendewagen auf der anderen Straßenseite vom St. Petersburger Milizhauptquartier stationiert. Die Wolken hatten sich plötzlich verzogen, und die Spitze des Sendemasts war in kaltes Schwefellicht getaucht. Er schob sich eilig durch die Rauchglastür und schritt an den beiden Ehrentafeln mit den Namen der im Krieg gegen Verbrechen und Faschismus Gefallenen vorbei. Statt des Feldwebels, der vor zwei Tagen am Empfang gesessen hatte, fand er jetzt zwei Offiziere vor, einen Major und einen Oberst. Burke zeigte seinen Presseausweis und versuchte, zu Atem zu kommen. Die letzten drei Häuserblocks war er gerannt. »Wo ist die Pressekonferenz?«, fragte er. »Hat sie schon angefangen?« Die Kabelschlangen von dem Sendewagen zur Tür herein und die Marmortreppe hinauf waren nicht zu übersehen, und so war unschwer zu erraten, wo die Pressekonferenz stattfinden würde. Die Treppe führte zu General Kornilows Büro. Der Oberst sah auf den Presseausweis und zuckte die Schultern. Er winkte einen Feldwebel herbei, und der eskortierte Burke höflich die Treppe hinauf. Burke sah auf die Uhr. Zehn nach zwei. Die Pressekonferenz, hatte er im Rundfunk gehört, sollte um zwei Uhr nachmittags anfangen. Er eilte seinem Begleiter voraus die Treppe hinauf. Das Kabelgewirr führte direkt in das Vorzimmer vor Kornilows Büro und von dort aus hinein. Schon auf dem Treppenabsatz konnte er lautes Stimmengewirr vernehmen, und er entspannte sich. Hörte sich ganz nach Reportern an, die vor einer Pressekonferenz die Zeit totschlagen mussten. Sie hatten sich in General Kornilows Konferenzzimmer neben seinem Büro versammelt. Ein Saal von etwa fünfzehn Meter Länge, beherrscht von einem massiven polierten Birkentisch mit Stühlen für vierzig Personen. Die Zuerstgekommenen hatten die Sitzplätze am Tisch ergattert. Die anderen standen an den Wänden unter Karten von diversen Ortschaften der oblast St. Petersburg. Elliott Lantz vom ABC-Büro in Moskau stand hinten im Saal vor
einer Karte des Dorfes Pawlowsk. Im blauen Zweireiher und glänzenden schwarzen Halbschuhen war er der einzige gut gekleidete Mann im Raum. Seine Designerklamotten kaufte er in Rom. Als er Burke erblickte, schüttelte er den Kopf. »Wenn ich eines im Leben für sicher gehalten habe«, moserte Lantz, »dann, dass ich nie wieder so einen Scheißanruf aus New York mit der Aufforderung kriege, einen Nachtrag zu einem Knüller von Colin Burke zu bringen. Du Hundesohn. Hast du ihn selber erschossen, damit du zu deiner Autorenzeile auf der Titelseite kommst?« »Ich wollte dir einen Gefallen tun«, gab Burke zurück. »Ich bin auf eigene Kosten rübergeflogen, um mir die Eremitage anzusehen«, erklärte er dann. »Neben meiner Arbeit in Moskau hab ich eigentlich nie richtig Gelegenheit dazu gehabt.« »Für eine Reportage?« »Ja«, bestätigte Burke. Einzelheiten wollte er nicht nennen. Statt dessen lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung. »Und wie bist du so schnell von Moskau hergekommen?« »CBS hat sofort ein Flugzeug gechartert, sobald dein Knüller raus war«, sagte Lantz. »Und die hatten noch Sitzplätze frei.« Burke nickte, wandte sich um und sah sich die Schar wartender Reporter an. Denen kroch schon Langeweile in die Gesichter. Am Eingang entstand Unruhe, und Stu Jorgenson kam herein, der Moskauer Korrespondent von CNN. Hinter ihm eine Frau, beladen mit Kamera und Tonausrüstung. Am anderen Saalende schlossen sie ihre Scheinwerfer an und stöpselten ihr Mikro in den Verteiler, den die Erstankömmlinge aufgebaut hatten. Wie auf Stichwort kamen General Kornilow und ein zweiter, ebenfalls olivgrün gekleideter General, aber mit den hellblauen Schulterstücken des Sicherheitsministeriums, aus Kornilows Büro herein, hinter ihnen zwei rangniedere Offiziere, die eine Filmleinwand und einen Projektor aufbauten. General Kornilows Kopf schien in den letzten vierundzwanzig Stunden noch röter geworden zu sein, er glühte förmlich im Licht der Fernsehscheinwerfer. Vor Aufregung, nahm Burke an. Bestimmt hatte der General seinen Terminplan zum Schmiergeldkassieren wegen des Attentats auf Gratschenko umschmeißen müssen. Kornilow räusperte sich und nahm ein Blatt Papier in die Hand.
»Guten Tag, meine Damen und Herren«, las er vom Blatt, absichtlich ohne jede Betonung, woraus sich entnehmen ließ, wie ungewohnt es für ihn war, vor einem Saal voller Leute zu reden, die vor ihm nicht stramm stehen mussten. »Wir sind hier aus einem traurigen Anlass zusammengekommen. Wir bedauern den frühen Tod von Marschall Gratschenko. Er hat für den Frieden gekämpft, für das russische Vaterland und für die Demokratie. Wir werden seiner stets in Ehren gedenken. Nach den Gesetzen der russischen Föderation fallen die Ermittlungen in diesem Mordfall unter die gemeinsame Verantwortung von Innenministerium und Sicherheitsministerium. Ich darf Ihnen General Pawlenko vorstellen, den Befehlshaber der Abteilung des Sicherheitsministeriums für den Bezirk St. Petersburg.« General Pawlenko nickte wortlos. »Sobald die Nachricht von dem Attentat auf Marschall Gratschenko einging, hat das Innenministerium zweihundert Mann für den Fall abgestellt. Unter anderem vierzehn forensische Experten von der Abteilung Tatortsicherung.« »Die bestimmt über alle Indizien gelatscht sind und alles restlos zertrampelt haben«, flüsterte Lantz Burke zu. »Ich darf erklären, dass wir in diesem Fall eine Verhaftung vornehmen konnten«, sagte Kornilow. Er machte eine dramatische Pause. »Vielleicht aber auch nicht«, flüsterte Burke zu Lantz zurück. »Der Beschuldigte heißt Dugsburi, Vorname Tschems. Er ist Bürger der Vereinigten Staaten und wohnt in Philadelphia.« Einer seiner Untergebenen betätigte einen Schalter, und auf der Filmleinwand erschien eine Verbrecheraufnahme von Jimmy Duxbury. Er glotzte restlos entgeistert und, wie Burke fand, schwer verkatert in die Kamera. »Ach du dickes Ei«, stöhnte Lantz. »Ein Amerikaner!« Vom Tisch stieg überraschtes Gemurmel auf. Eine Reporterin von AP stieß ihren Stuhl um und rannte aus dem Saal. Burke wusste, sie suchte jetzt nach einem Telefon. Auf so einer Meldung konnte sie nicht bis zum Ende der Pressekonferenz sitzen bleiben. Ein halbes Dutzend Reporter schrien jetzt Fragen, aber Kornilow ließ nur Jorgenson von CNN zu. »Welche Beweise haben Sie für Ihre Anschuldigungen gegen
diesen Dugsburi?«, fragte Jorgenson. Kornilow wühlte in seinen Papieren, offenbar auf der Suche nach dem Blatt, auf dem die vorbereitete Antwort stand. »Ich darf erklären, unsere Tatortexperten haben festgestellt, dass die tödlichen Schüsse auf Marschall Gratschenko aus dem Zimmer des Beschuldigten im Hotel Jewropeiskaja gekommen sind«, erklärte Kornilow. »Zusatzfrage!«, rief Jorgenson. »Woher wissen Sie das?« Kornilow pumpte sich auf. Er war sichtlich froh über den bisherigen Verlauf der Ermittlung. »Es gibt forensische Indizien. Und Geschosshülsen.« »Augenzeugen?«, fasste Jorgenson nach. »Ich darf keine weiteren Einzelheiten nennen«, blockte Kornilow ab. Eine Deutsche mit Flaschenböden im Brillengestell, eine Reporterin von BILD, kam als nächste an die Reihe. »Kennen Sie das Motiv?« Kornilow blätterte wieder in seinen Papieren. »Dugsburi war offenbar unzufrieden mit den Ergebnissen eines Joint Venture, das er unter Beteiligung des Verteidigungsministeriums betrieb«, las er ab. »Ein Joint Venture? Was für ein Joint Venture?« »Ich verfüge über keine weiteren Einzelheiten. Unsere Ermittlungen nehmen ihren Fortgang.« Burke schrie eine Frage dazwischen. »Wo wurde Duxbury verhaftet, und ist die Mordwaffe gefunden worden?« Kornilow erkannte Burke und legte die Stirn in Falten. »Er wurde in der Hotelhalle festgenommen. Die Mordwaffe wurde noch nicht gefunden. Wir glauben, er hat das Hotel verlassen und sie beseitigt«, antwortete er. Bevor Burke eine Zusatzfrage stellen konnte, drängte sich Timothy Crater von der BBC dazwischen. »Welche Auswirkungen, glauben Sie, wird das auf die russischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zum Westen haben, General Kornilow?« Kornilow wog mit undurchdringlicher Miene die Antwort ab. »Diese Frage müssen Sie den Politikern stellen«, zog er sich aus der Affäre. Im Hinausgehen tippte Neil Fenno, der Korrespondent des
Guardian, Burke auf die Schulter. »Du hast doch gewusst, wie man diesen Duxbury richtig ausspricht«, sagte er. »Kennst du ihn?« Burke zögerte, wegen dreier einander widersprechender Erwägungen. Er wusste Dinge über Duxbury, die plötzlich sehr brisant waren. Wenn sie sonst niemand wusste, konnte er damit den Artikel der Tribune über die Verhaftung garnieren und in der Sache, die er enthüllt hatte, der Meute einen Schritt vorausbleiben. Andererseits war er gegenüber seinen Konkurrenten mit Hintergrundinformationen immer freigiebig gewesen, in Erwägung, dass er eines Tages auf Gegenleistung angewiesen sein könnte. Was sich stets als zutreffend erwiesen hatte. Aber nicht nur das sprach dafür. Duxbury hatte in seinen Bemühungen um Veröffentlichung seiner Beschwerde bestimmt auch bei anderen Zeitungen vorgesprochen. Burke war also wohl nicht der einzige Journalist, der Bescheid wusste. Und außerdem fand er Duxburys Blitzverhaftung nicht koscher. Er war Burke gar nicht wie ein potentieller Attentäter vorgekommen. Gestern Abend noch nicht mal wie jemand, der vor acht Uhr morgens wach sein könnte. Wenn er vorhatte, Gratschenko umzulegen, warum hätte er dann versuchen sollen, seine Geschichte an Zeitungen loszuwerden? Und warum hätte sich Duxbury dann in der Hotelhalle so auffällig benehmen sollen? »Weißt du, wie er sich schreibt?«, hakte Fenno nach. »D-U-X-B-U-R-Y«, diktierte Burke. »Also kennst du ihn.« Burke nickte. »Wie hast du das gerade buchstabiert?«, fragte Catherine Morrison von der New York Times, die den letzten Teil seines Gesprächs mit Fenno mitbekommen hatte. Als sie bei ihm stehen blieb, kam auch Elliot Lantz hinzu. Im Nu war Burke von einer kleinen Traube von Reportern umringt und hielt seine eigene inoffizielle Pressekonferenz ab, im Flur vor Kornilows Büro. »Ein Schrotthändler«, erklärte Burke. »Er war vor etwa einer Woche in Washington bei mir und wollte unser Blatt für eine Geschichte interessieren, wie er in einem Joint Venture ausgenommen worden ist. Irgendwas mit dem Verkauf von Nickel, der früher für Panzerplatten gebraucht wurde.« »Und deswegen war er sauer auf Gratschenko?«, fragte Morrison.
»Er sagt, er ist bankrott gegangen, weil er einen Haufen Warenterminkontrakte über Nickel nicht erfüllen konnte. Er behauptet, Schuld daran sei die Mafia, die das russische Verteidigungsministerium bestochen habe, die Ausfuhrgenehmigung für den Nickel hinauszuzögern. Er sagt, sie hätten das Metall vom Markt zurückgehalten, um den Preis zu treiben. Ich bin sicher, wenn ihr bei eurer Auslands- oder Wirtschaftsredaktion rückfragt, findet ihr einen Kollegen, der die gleiche Geschichte gehört hat.« »Also hatte er ein Motiv«, konstatierte Lantz. »Ja«, versetzte Burke, »oder jemand hat dafür gesorgt, dass es so aussieht.«
20 Burke tigerte in seinem Hotelzimmer auf und ab und sah sich an, wie CNN den bevorstehenden Ausbruch eines neuen Kalten Krieges verkündete. Die Duma in Moskau tobte. Eine Koalition aus rechtsextremen Nationalisten und Altkommunisten verlangte die Ernennung Marschall Rogows zum Verteidigungsminister und den sofortigen Abbruch aller Kooperations- und Hilfsprogramme mit den Vereinigten Staaten. Eine Quelle im Kreml ließ verlauten, Rogows Ernennung werde wahrscheinlich noch am selben Abend durchkommen. In Washington trat der Nationale Sicherheitsrat zusammen. Das Weiße Haus sprach in einer Erklärung sein Beileid zu Gratschenkos Tod aus, bestand aber auf einem ordentlichen Gerichtsverfahren für Duxbury. Die CIA dementierte schroff, dass Duxbury je bei ihr beschäftigt gewesen sei. Aus St. Petersburg wurde Stu Jorgenson zugeschaltet, der die Enthüllungen Burkes gegenüber Fenno wiederkäute und sie »gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen« zuschrieb. In Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts verkündete Staranwalt Alan Dershowitz, er habe sich mit der Familie Duxbury in Verbindung gesetzt und fliege nach St. Petersburg, um die Verteidigung zu übernehmen. Das russische Fernsehen sendete Chaos und Drohgebärden. Aus Moskau bezeichnete Wladimir Schirinowski das Attentat als kriegerischen Akt der Vereinigten Staaten gegen Russland. Er verlangte den Rücktritt der gesamten Regierung, angefangen mit dem Präsidenten, wegen der fehlgeschlagenen Annäherungspolitik an den Westen. Und aus Havanna zählte Fidel Castro in einem fünf Minuten langen Interview die nicht geglückten Attentate der CIA auf seine eigene Wenigkeit auf. Burke fummelte an der Fernbedienung herum, bis er den Ausknopf gefunden hatte. Der Cursor seines Computers blinkte unbarmherzig vom Schreibtisch herüber, wie ein hungriges Haustier, das auf die Fütterung durch das Herrchen wartet. Er war restlos unzufrieden mit seinem halbfertigen Artikel, einem Bericht über Duxburys Verhaftung, zusammengestückelt aus der Pressekonferenz und ein paar Informationsbröckchen, die er von
Polizisten auf der Straße und Hotelangestellten aufgeschnappt hatte. Er hatte zwei Stunden in der Eremitage mit Warten auf Wassiljews Vorzimmerdame vergeudet. Sie war nicht zur Arbeit erschienen. Somit hatte er nicht mal annähernd eine Antwort auf die Fragen, die er für wesentlich hielt, um begreifen zu können, wer Gratschenko umgebracht hatte und warum. Warum war Duxbury mit einer Frau zusammen gewesen, die ihre Anweisungen von Iwan Bykow erhielt und vielleicht auch von Slema Tschawtschawadse? Was hatten die zu gewinnen, wenn sie Gratschenko ermorden ließen und Duxbury dafür ans Messer lieferten? Und welche Verbindung bestand zu Jennifer Morelli und Fjodor Wassiljew, wenn überhaupt? Noch schlimmer war, dass in seinem Artikel Slema Tschawtschawadses Name nicht einmal auftauchte und er sich nicht entscheiden konnte, ob er einen triftigen Grund hatte, ihn zu erwähnen. Er fühlte sich wie ein Archäologe, der eine Kultur aus ein paar Lehmmauern und Keramikscherben rekonstruieren soll. Er sah Bruchstücke des Puzzles, nicht aber das Gesamtbild. Archäologen kannten allerdings keinen Redaktionsschluss. Und bis zu seinem waren es nur noch ein paar Stunden. Er setzte sich wieder an den Computer und suchte nach einem Weg, wie er um die offenen Fragen in seinem Artikel herumschreiben konnte. Aber sein Verstand streikte. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Er ließ die Fingergelenke knacken, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und knabberte am rechten Daumennagel. Er blätterte durch eine Ausgabe der Petersburgskaja Istina, einer lokalen Boulevardzeitung der russischen Faschisten, und las sich halb durch einen Artikel, in dem behauptet wurde, Juden und Homosexuelle hätten den Stadtrat unterwandert. Angeekelt wollte er das Blatt in den Papierkorb schmeißen. Er traf vorbei, und die Seiten segelten einzeln zu Boden. Er suchte im Nachttisch nach der Bibel. Vergeblich. Frustriert ging Burke zum Fenster und starrte hinaus in die Lichter des hereinbrechenden Abends, als enthielten sie irgendwelche Antworten. Aber das war nicht der Fall. Er setzte sich wieder an den Computer und rieb sich die Augen, bis er rote und gelbe Blitze sah. Doch immer noch wirbelten seine Gedanken durcheinander wie
feuchte Unterhosen in einem Trockner. Burke tigerte weiter herum. Diesen Teil seiner Arbeit hasste er. Er hatte nur zwei Methoden gefunden, damit fertig zu werden. Wenn er in einer Redaktion mit anderen Leuten arbeitete, klönte er gern. Dann suchte er sich einen Kollegen, der genauso auf dem Schlauch stand und redete, bis sich sein Gemüt beruhigt und sich seine Gedanken soweit geklärt hatten, dass er sie niederschreiben konnte. Wenn er allein war und von dieser Schreibhemmung heimgesucht wurde, hatte er immer festgestellt, dass ihn ein Drink ruhig und arbeitsfähig machte. Er blieb vor dem kleinen Kühlschrank stehen und machte ihn auf. In der Tür war ein Fach mit einer Reihe Fläschchen, zwei davon waren sogar Jack Daniel’s. Das wusste er genau, weil er nachgesehen hatte, als er das Zimmer bezog. Und in dem winzigen Kühlfach war ein Plastikbeutel mit den Überbleibseln von seinen Eiswürfeln für fünf Dollar vom Abend zuvor. Er nahm sich ein Glas und füllte es halb mit Eis. Dann machte er das erste Fläschchen auf und goss sich ein. Er sah zu, wie der braune Bourbon, durchsetzt mit orangefarbenen Lichtreflexen, bis zum Boden des Glases durchsickerte und die Lücken zwischen den Eiswürfeln ausfüllte. Dann setzte er das Glas an den Mund. Der Whiskey schmeckte kalt und unbestimmt süß, und er behielt ihn kurz auf der Zunge und ließ sich das Aroma in den Kopf steigen, bevor er ihn schluckte. Er spürte, wie er ihm den Hals hinunterlief und in seinen Stoffwechsel überging. Er staunte, wie rasch er schwach geworden war. Nur dieses eine Mal, dachte er. Morgen würde er von vorne anfangen. Dann sah er nach dem zweiten Fläschchen, machte es auf und schenkte sich ein. Er war ruhig, klar im Kopf und entschlussfähig. Schnell schrieb er drei Absätze, mit denen er die Verbindung zwischen Duxbury und Tschawtschawadse herstellte, wobei er Tschawtschawadse namentlich nannte. Duxburys Ängste zitierte er, allerdings ohne die Kraftausdrücke. Er ließ die Eiswürfel in seinem Drink kreisen und genoss es, wie der Whiskey das Glas benetzte. Er spürte keine Taubheit in den Lippen, keine Schwere in den Lidern und auch keinen Leberschmerz. Er konnte sich vorstellen, wie er voll
Selbstverachtung aufwachte, aber das hatte Zeit bis morgen. Jetzt aber fühlte er sich stark und heiter. Würde Alkohol immer so positiv wirken, dachte er, hätte er schon längst irgendwo auf dem Rost gelegen. Nun brauchte er nur noch eines, um seinen Artikel abzurunden: einen Kommentar von Tschawtschawadse. Das Telefon klingelte. Desdemona. Sie wollte ihn treffen. »Ich dachte gerade, es wär doch ein wundervoller Abend, um eine schöne Frau ins Ballett auszuführen«, lud er sie ein. »Treffen wir uns im Theater.« Burke trat an den Empfangstresen. Nikolai hatte Tagschicht. »Schwerer Tag, was, Kolja?«, begrüßte er ihn. Einen Russen, den er kaum kannte, mit dem Kosenamen anzusprechen, war wohl leicht beleidigend, aber er meinte für dreihundert Dollar Schmiergeld ein bisschen Herablassung zeigen zu dürfen. »Sehr«, stimmte der Empfangschef zu. Er sah müde aus. »Ich habe soeben beschlossen, dass es vielleicht gerade der richtige Abend ist, um mir ein Ballett im Mariinski anzusehen«, sagte Burke. »Was können Sie für mich tun?« Nikolai schaffte einen traurigen Hundeblick, während er den Kopf schüttelte. »Nichts, fürchte ich. Alles ausverkauft.« Burke nickte. »Haben Sie die Telefonnummer des Theaters?« Nikolais Gesicht spannte sich. »Ich bin sicher, es ist ausverkauft, Gospodin Burke«, bekräftigte er. »Ich möchte bloß die Nummer.« Er erhielt sie und rief von Nikolais Anschluss aus im Theater an. Er bat darum, mit der Pressestelle verbunden zu werden. Er stellte sich vor und sagte, er sei in St. Petersburg und wollte die günstige Gelegenheit nutzen, für die Washington Tribune eine Reportage über das Mariinski zu schreiben, die gewiss von Interesse für Leute in den Vereinigten Staaten sei, die ein russisches Ballettensemble buchen könnten, sofern dieses auf eine Tournee in den Vereinigten Staaten und ein paar Extradevisen scharf sei. Dreißig Sekunden später waren zwei Tickets für ihn an der Kasse zurückgelegt. Lächelnd reichte er den Hörer zurück an Nikolai, der den Gesichtsausdruck eines Mannes hatte, der gerade einen Fünfzigdollarschein an die Toilettenspülung verloren hat. »Kopf hoch, Junge. Sie können noch genug absahnen«, sagte er
auf Englisch. Wenn Nikolai das Wörtchen »absahnen« in diesem Zusammenhang verstand, ließ er es sich nicht anmerken. Er setzte wieder seine undurchdringliche Empfangschefmiene auf. Burke wusste Anmut und sportliches Können im Tanz durchaus zu schätzen, doch nach einer halben Stunde Pirouetten und Spitzentanz hatte er von den Hupfdohlen gewöhnlich die Nase voll. Und daher ging ihm auf seinem Weg die Straße der Dekabristen entlang zum Theater nur zweierlei durch den Sinn: Erstens, wie er vorzeitig wegkommen konnte, falls sich herausstellte, dass Slema Tschawtschawadse nicht im Publikum saß, und zweitens Desdemona McCoy. Er stampfte den Schnee von den Schuhen und überreichte seine Parka der Alten in der garderob. Dann ging er zur Kasse und holte die Karten ab. Keine Spur von Desdemona. Das Licht wurde trüber und wieder hell, ein Hinweis auf baldigen Vorstellungsbeginn. Nachzügler strebten durch die Türen zu ihren Plätzen. Burke sah auf die Uhr. Dann hörte er sie, oder genauer das Klappern hoher Absätze auf dem Marmorboden des Foyers. Er drehte sich um und sah sie rasch näher kommen, den Mantel über dem Arm. Sie kam ganz in Schwarz – weite schwarze Hosen und schwarze Stiefel, schwarze Seidenbluse mit den oberen drei Knöpfen offen, schwarze Armreifen. Um den Hals trug sie drei massive Goldketten, die auf den Ansatz ihres Dekolletés herabhingen. Die Haare hatte sie hochgesteckt, und einzelne Strähnen bewegten sich im Luftzug. Sie küsste ihn erst auf die linke Backe, und dann auf die rechte. »Du hast mir nicht viel Zeit gelassen, mich fertigzumachen«, sagte sie. »Meinst du damit, du könntest noch besser aussehen?« Das brachte sie zum Lächeln, und er dachte kurz, es gelte tatsächlich ihm. Dann erinnerte er sich daran, wer sie war und für wen sie arbeitete. Alles, was sie tat, war wohl berechnet. »Und was rieche ich da in deinem Atem?«, fragte sie. Burke wurde rot. »Was soll ich sagen?«, antwortete er. »Der Artikel wollte einfach nicht.« Sie nickte. Zu seiner Erleichterung verurteilte sie ihn offenbar nicht. Wenn überhaupt, war sie nur ein wenig betrübt.
»Ist es dann am schwersten?«, fragte sie. »Wenn du am Schreiben bist?« »Nein«, erwiderte er. »Nur dann, wenn’s mit dem Schreiben nicht klappt.« Die Beleuchtung wurde nochmals dunkler und wieder hell, und sie gingen in den Ballettsaal. Er war ganz in Weiß und Gold gehalten, wie das Schlafzimmer einer französischen Kurtisane, und die Sesselpolster waren mit abgewetztem Goldplüsch überzogen. Der Platzanweiser war ein krummrückiger Mann mit einem Kranz grauer Haare und einem blauen Anzug von der Machart, wie er zur Sowjetzeit im Theater obligatorisch gewesen war. Er führte sie zu Plätzen in der siebten Reihe, Mittelgang. Das Ballett, dachte Burke, war sichtlich scharf auf eine Tournee im Westen. »Ach übrigens«, fragte Burke den Platzanweiser, »können Sie mir sagen, ob Slema Tschawtschawadse heute Abend hier ist?« Der Platzanweiser verzog das Gesicht, als habe Burke gefragt, wann die Nackttänzerinnen aufträten. »Dort oben«, sagte er und wies mit dem Kopf auf eine Loge rechts über dem Orchestergraben. Es war nicht schwer, Tschawtschawadse auszumachen. Er saß allein in der vorderen Reihe der Loge. Drei weitaus größere Männer in Anzügen in der Reihe unmittelbar hinter ihm achteten überhaupt nicht auf die Bühne. Statt dessen blickten sie mit der leicht gelangweilten Wachsamkeit von Leibwächtern über das Publikum hinweg. Zwei weitere standen hinten an der Logentür. Burke setzte sich und sah in sein Programm: Schwanensee. Er verzog das Gesicht. Er war vielleicht insgesamt zehn Mal in Russland im Ballett gewesen und dabei sechs oder sieben Mal in Schwanensee. Er lauschte der Ouvertüre und sah sich die Eingangsszene an, aber seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich hauptsächlich auf Tschawtschawadses Loge. »Wolltest du wegen Slema so plötzlich ins Ballett?«, flüsterte sie. Er nutzte die Gelegenheit, seinen Mund ganz nah an ihr Ohr zu bringen. Ihr Parfüm war sehr dezent. »Unter anderem«, flüsterte er zurück. Der Gegenstand von Tschawtschawadses Interesse wurde deutlich, sobald die Prinzessin erschien. Kaum drehte sie ihre ersten Pirouetten über die Bühne, sprang Tschawtschawadse hoch und applaudierte. Wie eine Fußballmannschaft auf das Signal des Trainers erhoben sich auch die Männer in der Loge und klatschten
mit. Und wie auf Stichwort standen auch Hunderte von Leuten auf dem obersten Balkon auf. »Brava!«, brüllte Tschawtschawadse. »Brava! Bravissima«, echote die übrige klakjori. Burke hatte das schon früher in Balletttheatern erlebt, und es war einer der Gründe, weshalb er lieber ins Schauspiel ging. Alle Primaballerinen hatten ihre eigene Beifallgemeinde, ihre klakjori. Aber eine so große und roboterhaft begeisterte war ihm noch nie untergekommen. Wahrscheinlich hatte Tschawtschawadse denen die Karten gekauft und noch was zugesteckt, damit sie wirklich aus dem Häuschen gerieten. Er suchte den Namen der Lieblingsballerina im Programm. »L. Fedotowa«, hieß es da. Weitere Angaben fehlten. Burke sah sie sich an. Sie war blond und ihre Gesichtszüge unter der weißen Federhaube ihres Kostüms waren von klassischer Schönheit. Sie wurde rot, als sie auf Zehenspitzen stand, und beim Luftholen keuchte sie leicht. Sie wirkte blutjung. Das übrige Ensemble tanzte weiter. Bald war es wieder Zeit für eine Einlage von Mademoiselle Fedotowa. Wieder erhoben sich Tschawtschawadse und die klakjori zu einer lautstarken und anhaltenden Ovation. Inzwischen schienen die übrigen Tänzer abgelenkt und bewegten sich unsicherer. Schon vor der Pause hatten sie so gut wie aufgegeben. Das Ballett war in eine Reihe zusammenhangloser Fragmente zerfallen, unterbrochen durch die Solos der Fedotowa und dem frenetischen Beifall ihrer klakjori. Als die Saallichter wieder angingen und sich Burke von seinem Sessel erhob, tippte ihm jemand auf die Schulter. Er drehte sich um und sah eine schlanke Frau mittleren Alters mit kurzem schwarzen Pagenkopf in blauer Bluse, schwarzer Hose und schwarzen Pumps. »Swetlana Markowskaja, Leiterin der Pressestelle«, stellte sie sich auf Englisch förmlich vor. »Sind Sie Mr. Burke?« Burke nickte und lächelte. Sie lächelte verhalten zurück. »Vielen Dank für die Karten«, sagte er und stellte Desdemona vor. »Wir freuen uns, dass Sie uns besuchen«, sagte die Markowskaja. »Aber sagen Sie, sind Sie wegen dieses Artikels nach St. Petersburg gekommen oder sind Sie hier wegen dem…«
»Dem Attentat?«, ergänzte er. Sie nickte. »Eigentlich weder noch«, sagte er. »Ich bin hauptsächlich wegen eines Beitrags über die Eremitage hergekommen. Aber wo ich schon hier war, konnte ich das Mariinski nicht auslassen.« Sie lächelte wieder, etwas beruhigt. Zumindest war er kein Kulturbanause. »Und wen würden Sie gerne sprechen?«, fragte sie. »Ich glaube, ich könnte ein Treffen mit unserem Ballettdirektor arrangieren, mit Gospodin Budrjakow. Er kann Ihnen alles über das Ensemble sagen, was Sie wissen wollen.« »Vielleicht«, zögerte Burke. »Aber eigentlich wäre ich dankbar für eine Möglichkeit, mit Miss Fedotowa zu sprechen. Wie heißt Sie denn mit Vornamen?« »Ludmila«, antwortete die Frau. Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Aber sie ist bloß eine Anfängerin. Viel interessanter für Sie wäre Olga Bitmanowa. Sie ist seit zehn Jahren Primaballerina und war in London und New York auf Tournee. Sie spricht fließend englisch. Heute tanzt sie hier die Odette.« »Nein«, lehnte Burke ab. »Mich interessiert Ms. Fedotowa. Und russisch spreche ich gut genug.« Swetlana Markowskajas Miene spiegelte fast körperlichen Schmerz. »Aber sie ist wirklich nicht…« »Nicht was?« »Nicht, äh, an Interviews gewöhnt«, improvisierte die Markowskaja. »Sie ist erst siebzehn.« »Aha, also ein phänomenales Jungtalent«, nickte Burke. Die Markowskaja verzog wieder das Gesicht. »Nun ja, aber…« »Dann machen wir es nach der Aufführung, in der Künstlergarderobe«, sagte Burke. Die Markowskaja wirkte zunehmend bedrängt. »Nun, ich weiß nicht, ob das möglich sein wird.« »Ohne dieses Interview wird aus dem ganzen Artikel nichts«, beharrte Burke. »Na schön«, gab die Markowskaja resigniert nach. »Ich hole Sie unmittelbar nach der Vorstellung hier ab.« Sie gingen hinter der Markowskaja hinaus ins Foyer. »Möchtest du was trinken?«, fragte Burke Desdemona. Sie sah ihn zweifelnd an. »Bist du sicher, dass du weißt, was du
da tust?«, fragte sie. »Der einzige Ort, wo ich ganz genau weiß, was ich tue, ist eine Bar«, sagte Burke. Er holte ihr ein Glas Champagner und zögerte dann. Der Barkeeper harrte seiner Bestellung. »Saft«, sagte er dann. Da lächelte sie zu ihm hinauf und stieß mit ihm an. »Bravo«, lobte sie. Vom Rest des Balletts sah sich Burke nur die Szenen an, wo Ludmila Fedotowa ihren Auftritt hatte, und er erkannte allmählich, warum Swetlana Markowskaja versucht hatte, ihn auf ein Interview mit einer anderen Ballerina festzulegen. Tänzerinnen wie Olga Bitmanowa oder jede andere erstklassige russische Ballerina tanzten so exakt wie Industrieroboter. Jede Bewegung begann und endete im Takt mit der Musik. Jeder Schritt spiegelte genau die Interpretation des Choreographen. Auf dem Gipfel ihrer Kunst erreichten sie diese Präzision und behielten trotzdem ihre Persönlichkeit und trugen etwas Eigenes zum Ausdruck bei. Verglichen mit diesem Maßstab tanzte Ludmila Fedotowa ein bisschen außer Takt, auch wenn es kaum zu merken war. Manchmal zitterten ihr die Beine, wenn sie stocksteif stehen sollte, oder sie vollendete eine Pirouette einen Sekundenbruchteil vor oder nach dem Orchester. Sie hatte nur einen eindeutigen Vorzug vor den anderen Tänzerinnen: Sie war mit Abstand die hübscheste. Aber er fragte sich, ob sie je den Sprung aus dem corps de ballet schaffen würde, wenn Tschawtschawadse ihrer erst mal überdrüssig war. Ungeduldig ertrug er die Rituale nach der Vorstellung. Tschawtschawadses klakjori ließ sich nicht lumpen, erstickte die Fedotowa fast mit ihren Ovationen und füllte ihr beide Arme mit roten Blumensträußen, säuberlich in Zellophan gehüllt. Als das Licht anging, tippte Swetlana Markowskaja wieder auf Burkes linke Schulter. Ihre Bedenken von vorhin gegen das Interview mit Ludmila Fedotowa schienen geschwunden zu sein. Sie blickte ruhig und gefasst. Schweigend führte sie Burke und Desdemona hinter die Kulissen, dann drei Flure entlang vor eine Tür ohne Aufschrift. Zu Burkes Überraschung gab es keinen Sicherheitsdienst. Die Markowskaja klinkte die Tür auf, und sie standen in der Künstlergarderobe.
Sie durchmaßen einen Raum ungefähr von der Größe eines Hotelzimmers, der voller weißem Tüll zu sein schien und in kaltes Neonlicht getaucht war. Der Umkleideraum für die weiblichen Hintergrundtänzerinnen. Die Markowskaja klopfte an der nächsten Tür. Eine ältere Frau in grauer Kutte und dazu passender Frisur machte auf. Burke vermutete, dass sie den Ballerinen mit den Kostümen behilflich war. Ludmila Fedotowa hatte die weiße Federhaube ihres Kostüms abgesetzt, saß vor einem kleinen Spiegel und bürstete sich die blonden Haare. Sie war immer noch für die Bühne geschminkt. Eine andere hätte damit unter der grellen Beleuchtung aufgetakelt gewirkt. Bei ihr aber betonte es nur die Anmut ihrer Wangenknochen und die schönen hellgrauen Augen. Sie war gertenschlank, ihr Körper schien noch im Wachstum zu sein, und sie musterte Burke und Desdemona im Spiegel, während sie sich weiter die Haare bürstete. Er stand kurz da und beobachtete das Muskelspiel in Schulter und Arm und das parallele Heben und Senken der Brüste. Als die Markowskaja sie vorstellte, nickte die Tänzerin und lächelte. Ihre Zähne waren klein und gelblich, ein Makel in ihrem vollkommenen Antlitz. Sie lächelte erneut, als Burke ihr sagte, er wolle sie in seinem Artikel in der Washington Tribune über das Ensemble herausstellen. Burke holte einen kleinen Kassettenrecorder und ein Notizbuch aus der Manteltasche, setzte an – und blieb mit halb offenem Mund stehen. Er war nicht darauf gefasst, dieses Mädchen tatsächlich interviewen zu müssen. Er hatte erwartet, Tschawtschawadse bereits in der Künstlergarderobe vorzufinden, wenn er dort anlangte. Was zum Teufel fragte man eine Balletttänzerin – wie sie ihr plié bewerkstelligte? Er war nicht einmal sicher, ob er plié richtig aussprechen konnte, geschweige denn, um was es sich dabei handelte. Er beugte sich zu Desdemona. »Was fragt man denn eine Ballerina?«, flüsterte er. »Aber der Reporter bist doch du«, wisperte Desdemona unkooperativ zurück. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ihn die Markowskaja entgeistert beobachtete. »Äh, erzählen Sie mir was von sich«, fing er an. Die Ballerina zuckte die Achseln. »Da gibt’s nichts zu erzählen«,
sagte sie. »Na, woher kommen Sie denn?« »Aus Wologda.« »Wologda. Wo liegt das?« »Weiß nicht. Dreihundert Kilometer von hier.« »Eine Großstadt oder eine Kleinstadt?« Sie zuckte die Achseln. Burke brach der Schweiß aus. Das Mädchen da am Reden zu halten, bis Tschawtschawadse auftauchte, lief nach Nikita Chrustschows berühmtem Ausspruch darauf hinaus, einem Schwein das Pfeifen beizubringen. Er starrte auf die durchsichtige Flüssigkeit in dem Glas auf dem Schminktisch und fragte sich plötzlich, ob da Wodka drin sei. »Und wann haben Sie angefangen zu tanzen?«, quälte er sich. »Mit vier.« »Warum?« Wieder ein Achselzucken. »Weil’s mir gefallen hat.« »Und warum hat es Ihnen gefallen?« Wieder ein Achselzucken. Ein leises Kichern. Entweder war sie unglaublich schüchtern, oder er ging ihr bereits auf den Geist. »Und wie sind Sie ans Mariinski gekommen?« »Sie haben mich geholt.« Burke kratzte sich den Kopf. »Ist Schwanensee Ihre erste große Rolle?« Sie nickte. »Und macht es Spaß?« »Es geht.« Burke wurde es allmählich zuviel. »Und was sagt Ihrer Meinung nach die Beliebtheit von Beavis and Butthead über das kulturelle Niveau Ihrer amerikanischen Altersgenossen aus?« Die Ballerina verzog das Gesicht und hob den Kopf, als wolle sie ihn bitten, die Frage zu wiederholen. Eine seltsam hohe Männerstimme, wie ein Bariton im Falsett, ertönte. »Und was zum Teufel ist Beavis and Butthead?« Burke fuhr herum. Slema Tschawtschawadse stand unter der Tür. Zwei seiner Leibwächter waren hinter ihm zu sehen. Er wirkte zugleich beeindruckender und harmloser als aus der Entfernung. Aus der Nähe jedenfalls sah Burke, dass er ein Sitzriese war. Die Beine waren kurz, und er war wohl nicht größer als einen
Meter siebzig. Seine Gesichtshaut war von alten Aknenarben zerklüftet. Aber er wirkte geschmeidig. Haar und Augen waren vom selben glänzenden Schwarz. Das Haar war straff zurückgekämmt und zeigte die einzige gebräunte Stirn, die Burke seit seiner Ankunft in Russland gesehen hatte. Die Nase war lang und gebogen wie ein Raubvogelschnabel, passte aber zu seinem Gesicht. Er hatte einen Londoner Schneider. Sein Hemd war entweder ein Turnbull & Asser oder eine sehr gute Kopie, und sein Anzug im grauen Fischgrätmuster hing ihm maßgeschneidert von den breiten Schultern und verdeckte einen leichten Bauchansatz. Er konnte fünfundzwanzig und viel herumgekommen sein oder fünfundvierzig und gut erhalten. Mehr als alles andere war Burke von seiner Haltung beeindruckt. Er hielt sich wie jemand, der Ehrerbietung gewohnt ist, von beiden Geschlechtern. Die Ballerina lächelte, erhob sich und ging zu Tschawtschawadse. Dabei schaffte sie es, die Bewegung zugleich aufreizend und anmutig wirken zu lassen. Sie küsste ihn auf den Mund, die Lippen leicht geöffnet. Tschawtschawadse strich ihr mit der Rechten hinten den Schenkel hinauf, bis er ihre kleinen Pobacken unter dem abstehenden Tüll zu fassen bekam, ein so deutlich demonstrierter Besitzanspruch, dass Burke sich an einen Hund erinnert fühlte, der an einen Hydranten pisst. Dann ließ er die Hand wieder fallen und wandte seine volle Aufmerksamkeit Burke zu. »Also was ist Beavis and Butthead?« »Zwei amerikanische Fernsehstars. Unsere besten und klügsten«, erklärte Burke und streckte ihm die Hand hin. »Colin Burke. Von der Washington Tribune. Das ist eine Freundin von mir, Desdemona McCoy. Ich bin gerade im Begriff, Miss Fedotowa für einen Artikel über das Mariinski zu interviewen.« Tschawtschawadse starrte Desdemona so neugierig und unverfroren an wie ein Tier im Zoo, und Burke fragte sich wieder, wie es wohl sein mochte, in diesem Weltteil weithin das einzige schwarze Gesicht zu haben. Tschawtschawadse nahm ihre Hand, umfasste sie auch mit der Linken und schüttelte sie mehrmals. Offenbar hatte er beschlossen, sich zunächst charmant zu geben.
»Slema Tschawtschawadse«, sagte Burke, als er ihm die Hand schüttelte. »Ich hab den Namen schon einmal gehört, wo mag das bloß gewesen sein?« Tschawtschawadses Augen wurden zu Schlitzen. »Wahrscheinlich alles nur Lügen«, sagte er. »Aus irgendeinem Grund gebe ich Anlass zu allerlei falschen Gerüchten.« »Was für Gerüchten?«, fragte Burke. Tschawtschawadse lächelte gepresst. »Zum Beispiel dem, dass ich meinen Namen gern in der Zeitung sehe.« Burke schüttelte den Kopf. »Nein, das war es nicht… oh, jetzt erinnere ich mich. Mr. Bykow von der Eremitage hat gesagt, ich soll Sie ansprechen. Ich schreibe an einem Artikel über Kunstschmuggel.« Tschawtschawadse starrte ihn kurz fassungslos an, als könne er nicht glauben, welche Frechheit ihm da glatt ins Gesicht gesagt worden war. »Ich kenne keinen Iwan Bykow«, dementierte er. »Aber immerhin seinen Vornamen«, trumpfte Burke auf. »Na, vielleicht habe ich Ihren Namen aber auch von Jimmy Duxbury. Er hat mir erzählt, wie er mit einem Nickelgeschäft gelinkt worden ist und dass er fürchtet, Sie lassen ihn abstechen, wenn er motzt.« Tschawtschawadses Gesicht versteinerte, und er schwieg. Doch die beiden Leibwächter machten einen Schritt in den Raum hinein, bis sie Burke in Reichweite hatten. Hinter sich konnte er Ludmila Fedotowas Haarbürste auf das Schminktischchen vor dem Spiegel fallen hören. Aus dem Augenwinkel sah er Swetlana Markowskaja die Hand vor den Mund schlagen und erbleichen. Von allen Leuten im Raum gab sich nur Desdemona ungerührt. »Der ist mir nie begegnet«, sagte Tschawtschawadse schließlich ruhig und tonlos. »Nach dem zu urteilen, was er mit Marschall Gratschenko gemacht hat, ist er eindeutig verrückt.« Tschawtschawadse machte eine kurze Pause. »Nur ein Narr würde dem etwas glauben.« »Und General Kornilow ist bestimmt kein Narr«, sagte Burke. Tschawtschawadse zeigte wieder das gepresste Lächeln. »Nein. Ein sehr kluger Mann.« Burke nickte. »Und Sie sind nicht in der Nickelbranche?« Tschawtschawadse zuckte die Schultern. »Ich betätige mich in vielen Branchen.«
»Auch in der Kunstbranche?« »In vielen Branchen«, wiederholte er. »Einschließlich Ikonen und Gemälden«, sagte Burke und betonte die Frage dabei als Tatsache. »Kennen Sie irgend jemanden in der Eremitage?« Jetzt konnte Tschawtschawadse nicht mehr gelassen bleiben. Die Mundwinkel gingen nach unten, und Blut schoss ihm in die Wangen. »Raus jetzt, du Arsch«, befahl er. Burke lächelte so aufreizend wie möglich. »Warum denn? Habe ich Sie irgendwie verärgert? Ich bin doch gerade mitten in einem Interview.« Tschawtschawadse gab dem Leibwächter zu seiner rechten ein Zeichen mit der Augenbraue, und der Mann machte einen Ausfallschritt. Eine Hand wie eine Schweineschulter packte Burke an der Krawatte. Sein Kopf wurde nach vorn gerissen und bumste gegen den Türrahmen. Einen Moment sah er Sternchen. Dann schmiss der Kerl ihn hinaus in den Flur. Burke knallte an die Gegenwand und ging zu Boden. Benommen schüttelte er den Kopf. Tschawtschawadses Leibwächter ersparte ihm die Mühe, aufzustehen. Er riss Burke hoch wie einen Kartoffelsack und schleuderte ihn den Flur entlang. Er landete auf der gleichen Schulter, auf die er am Abend vorher den Schlag abbekommen hatte. Der Schmerz schoss ihm bis ins Gehirn. Alle Luft wich aus seinen Lungen, er konnte kaum mehr atmen und lag benommen und halb erstickt am Boden, außerstande, sich zu erheben. Slema Tschawtschawadse beobachtete Burke kurz und wandte sich dann an Swetlana Markowskaja. »Ich bin befremdet, dass Sie in diesem Theater solchen Müll herumliegen lassen«, sagte er. »Sehen Sie zu, dass das wegkommt.« Die Markowskaja, die mittlerweile zitterte wie Espenlaub, nickte schweigend und huschte in den Flur hinaus. Desdemona ging hinter ihr her. Tschawtschawadse machte die Tür hinter ihr zu. Dann sagte er zu dem anderen Leibwächter etwas auf Ossetisch, einer Kaukasussprache, die Ludmila Fedotowa nicht verstand. »Warte, bis er draußen und allein ist«, befahl er. »Und dann mach ihn kalt.«
21 »Na, du warst mir ja eine große Hilfe«, sagte Burke zu Desdemona und hinkte neben ihr zu dem am andern Ende des Theatergebäudes geparkten Auto. Der Schmerz in der Schulter war wieder da, doppelt so heftig. Ein penetrantes Pochen vom Schulterblatt bis zum Ellenbogen. Und das linke Knie hatte er sich auch aufgeschrammt. »Wie meinst du das?«, fragte Desdemona scharf. »Na, wo warst du mit deinem ganzen Karate, als ich dich gebraucht hätte?«, knurrte er. Er wusste, das war nicht fair, aber ihm tat jeder Knochen einzeln weh, und sein Verstand verlangte hartnäckig nach einem Beruhigungsdrink. Er fühlte sich beschissen. »Das wären dann zwei gegen eine gewesen. Obendrein zwei mit Kanonen. Und wenn du so einen Kerl mit deinen Fragen derart provozierst, kannst du dir doch denken, was passiert.« Sie erreichten das Auto, einen blauen Volvo. Sie setzte sich hinters Steuer. »Warum hast du ihn bloß so provoziert?«, fragte sie im Anfahren. »Damit ich bekomme, was mir fehlt«, erklärte Burke. »Was denn, eine Abreibung?« Sie bog in die Uferstraße ein, mit hoher Geschwindigkeit und ständigem Blick in den Rückspiegel. »Nein. Aber nimm mal an, ich hätte höfliche Fragen gestellt.« »Den Tritt in den Arsch hättest du dir wohl erspart.« »Stimmt, aber auch bloß höfliche Antworten gekriegt. Alles gelogen, doch genau so hätte ich ihn zitieren müssen. Womöglich hätten es die Leser sogar gefressen. So aber kann ich wahrheitsgemäß schreiben, er hat alle Vorhaltungen wütend dementiert und den Reporter, der Näheres erfragen wollte, von zwei Gorillas gegen die Wand schmeißen lassen. Da blicken die Leser voll durch.« »Und es war ganz sicher nicht, weil du gerade von deinen Drinks runtergekommen bist?« »Runtergekommen? Aber Des, Alkohol ist doch kein Kokain!« Sie sah ihm in die Augen, als eine Straßenlaterne kurz das Wageninnere erhellte. »Ich weiß«, sagte sie, und er sah dieselbe Trauer und
Verletzlichkeit in ihrem Blick wie vorhin im Theaterfoyer. »Du fährst ja an der Abzweigung zum Hotel vorbei«, rief er. »Da wollen wir auch nicht hin«, erklärte sie. »Hey«, protestierte er. »Aber ich muss.« »Du bist da nicht sicher.« »Wegen dem Kühlschrank auf meinem Zimmer?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wegen dem Kerl, den du gerade auf hundertachtzig gebracht hast. Meinst du denn im Ernst, er lässt dir das so einfach durchgehen?« »Nein«, sagte Burke. Er seufzte. »Weißt du, ich sehne mich zurück nach der guten alten Zeit, als der KGB noch alles im Griff hatte. Da wurde ein amerikanischer Reporter auch mal erpresst, oder sie haben ihn des Landes verwiesen. Aber an Leib und Leben wollten die einem damals noch nicht.« »Das ist Fortschritt«, sagte sie. »Na, danke«, sagte er und musste lachen. Es ging ihm schon besser. Er dachte wieder ans Hotel. »Ich muss kurz da rauf, damit ich meinen Artikel fertig schreiben und absenden kann. Danach kann ich ja die Bleibe wechseln.« »Ich nehme deine Codekarte und hol dir deinen Computer«, bestimmte sie. »Übermitteln kannst du dann von meiner Wohnung aus.« Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee vor die Nase. »Austrinken«, befahl sie. Burke starrte auf die Tasse. So verlockend wie altes Motorenöl. Dann sah er Desdemona an. Sie war im Schlafzimmer gewesen und hatte sich umgezogen, während er am Computer gesessen hatte. Sie trug jetzt Jeans und einen Rollkragenpulli, genau wie im Nachtzug. Ihre Haare fielen offen herunter. Sie sah immer noch hinreißend aus. »Danke, aber du hast nicht zufällig eine Flasche Wodka, mit der ich mich in die Gosse legen könnte?« »Bitte keine solchen Witze«, wehrte sie ab. »Die sind überhaupt nicht lustig.« »Entschuldige. War nur Galgenhumor.« »So was geht mir zu nahe«, antwortete sie. »Mein Vater ist Alkoholiker.« Burke zuckte zusammen. »Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich
noch einmal. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Er ist jetzt schon fast zehn Jahre trocken. Das musst du ihm erst mal nachmachen.« »Ich weiß«, sagte er und glaubte es im selben Augenblick. »Er hat immer noch zu kämpfen. Tag um Tag«, sagte sie. »Leicht wird das nicht.« Er gab keine Antwort und wandte sich wieder dem Computer zu. Sein Artikel war fast fertig. Hauptsächlich mit der Linken tippend, fügte er die letzten Worte in den Bericht ein. Dann koppelte er das Modem an ihr Handy. Auch ihr Anschluss war zum Glück an den Fernmeldezentralen von St. Petersburg vorbei direkt mit dem Satelliten verbunden. Während das Modem sendete, sah er sich in der Wohnung um. Sichtlich für eine Ausländerin eingerichtet und nach sowjetischen Maßstäben luxuriös, aber auch irgendwie neutral und unpersönlich. Alles nagelneu, die Wände schneeweiß und die Möbel wie aus dem Katalog von Stockmann in Helsinki. Sie selbst kam in der Wohnung nicht vor. »So hab ich mir deine vier Wände aber nicht vorgestellt«, sagte er. »Ach weißt du«, antwortete sie, »wenn du so oft umziehst wie ich und in solche Länder, lässt du Sachen, an denen du hängst, lieber zu Hause.« Er nickte. Hätte er noch ein Zuhause gehabt, als er das erste Mal nach Moskau ging, hätte er die besseren Sachen ebenfalls dort gelassen. Er griff zum Telefon, zog das Modem wieder heraus und rief auf seine Kreditkarte Graves an. »Gar nicht schlecht«, lobte Graves, nachdem er sich den Artikel in Washington auf den Bildschirm geholt und überflogen hatte. »Bestimmt mehr, als alle anderen haben.« Burke bedankte sich für die Blumen. »Und jetzt brauch ich dich wieder hier in Washington«, forderte Graves. »Aber ich bin hier noch nicht soweit«, wandte Burke ein. Graves sprach nun in abgehacktem Befehlston. »Sieh mal, Colin, ich weiß, wie dir zumute ist wegen Jacqueline…« »Jennifer«, verbesserte ihn Burke.
»Wegen Jennifer. Tut mir Leid.« Tat es ihm überhaupt nicht. »Ich hab dir ja so viel Leine gelassen wie möglich. Aber inzwischen haben wir in Moskau die Krise. Das mit dem Kerl da, diesem Schesl, das wird noch der reinste Bonapartismus. Die Smithfield reißt sich in Moskau den Arsch für uns auf, und sie hat auch was auf dem Kasten, aber sie braucht einen Kollegen, der ihr hier aus der Redaktion die Bälle zuspielt, so was wie Anleitung. Für das haben wir dich schließlich eingestellt.« Streiten hatte keinen Sinn, das war Burke sonnenklar. Im übrigen hätte er an Graves’ Stelle genauso argumentiert. Kurz schoss ihm durch den Kopf, Graves zu sagen, das Redakteursdasein liege ihm nicht, er wolle wieder Reporter werden und daher kündigen. Aber nachdem er neulich wieder die Semestergebühren für seinen Sohn an die Universität von Colorado überwiesen hatte, waren noch etwa zwanzigtausend Dollar auf dem Konto verblieben. Arbeitslosigkeit konnte er sich nicht leisten. »In Ordnung, Ken«, sagte er. »Ich nehme den nächsten Flieger.« »Ich erwarte dich dann morgen Abend«, bestätigte Graves. Burke hängte auf. »Sie wollen mich daheim in Washington haben«, berichtete er Desdemona. »Schon morgen. Ich kann vielleicht noch einen oder zwei Tage rausschinden, indem ich denen erzähle, die Flüge seien ausgebucht. Mehr aber nicht. Wenn ich also die Story haben will, wegen der ich hergekommen bin, muss ich jetzt los und Nadescha Petrowna Naryschkina suchen. Heute Abend noch.« Desdemona nickte. »Begleitung gefällig?« Er überlegte kurz. Normalerweise machte er so was allein. Aber es war schon zu spät, sich auf Taxis zu verlassen. Er hatte kein Auto, sie schon. Aber es war mehr als das. Er wollte sie dabeihaben. Lächelnd antwortete er schließlich. »Das beste Angebot seit Wochen.« Sie lächelte zurück. »Bevor wir fahren«, sagte sie, »will ich mir aber deine Schulter ansehen und ein bisschen einreiben. Zieh dein Hemd aus.« »Das Angebot wird immer besser.« Mit der Linken knöpfte er sich das Hemd auf, während Desdemona zum Arzneischränkchen im Badezimmer ging. Sie kam
mit einer Tube in der Hand zurück. Sie blieb vor ihm stehen und hob mit der rechten Hand auf seiner Schulter und der Linken unter seinem Ellenbogen den Arm langsam an, bis Burke eine Grimasse schnitt. Sie drückte noch ein bisschen höher, bis er den Arm drei Viertel vom Normalen über den Kopf gehoben hatte. »Aua«, klagte er. »Na, da wirst du wunderschön grün und blau«, verhieß sie ihm. »Aber ich glaube, schlimmer ist es nicht.« Sie fing auf seinem Rücken mit der Salbe an. Ihre Finger waren kräftig und sanft zugleich. Burke merkte, wie ihm Wärme in die geprellten Muskeln kroch. Aber eigentlich spürte er es nicht so richtig, denn ihr Duft und ihre Finger wurden viel wichtiger. Sie ging um ihn herum, immer noch die Salbe in seinen Arm und unter sein Schlüsselbein massierend. Ihre Bewegungen wurden langsamer, als sie ihr Gesicht seinem näherte, bis sie unmittelbar vor ihm stand und ihre Hand ganz langsam wurde. Ihre Pupillen waren weit, ganz weit. Er küsste sie, indem er vorsichtig ihre Lippen streifte, unsicher, wie sie reagieren würde. Doch sie trat näher. Er presste seinen Mund auf ihren, tastete und probierte, und sie öffnete die Lippen, und der Kuss wurde intensiver, bis sie Luft holte und er einen Schritt zurück tat, verblüfft nicht über den Kuss an sich, sondern weil er so heftig gewesen war. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht der rechte Moment«, sagte er und begann sein Hemd zuzuknöpfen. »Nein«, stimmte sie zu, den Mund zu seinem gehoben. »Jetzt nicht.« »Vielen Dank für die Abreibung«, sagte er. »Mir wird schon ganz heiß.« Er mahnte sich zur Vernunft. Entweder erinnerte er sie an den alkoholkranken Vater, den sie immer hatte retten wollen, oder sie wollte ihn verrückt machen. Aber wie dem auch sei, er verstieß mit jeden Augenblick ihres Zusammenseins gegen die Vorsicht und gegen die journalistische Moral. »Beeil dich«, rief er ihr hinterher. »Wir müssen dort sein, bevor sie schlafen gehen.«
Das Gebäude war einer von den bröckelnden Betonwohnblocks aus der Sowjetzeit, die am nordwestlichen Stadtrand in Vierer- und Fünferreihen neben der Straße nach Vyborg standen. Nadescha Petrowna Naryschkina wohnte in Nummer 46, Gebäudeteil II, Wohnung 156. Aber vier Wohnblocks trugen die Hausnummer 46, und der Besucher durfte raten, wo Teil II war. Die Straßenlampen waren alle abgeschaltet und die meisten Hausnummern und Gebäudeschilder längst gestohlen. Nachdem sie in zwei Häusern gewesen waren, kamen sie schließlich darauf, dass Teil II, von der Straße aus gesehen, der dritte Block sein musste, und strebten darauf zu. Burke rutschte auf einer Eisfläche unter dem Pulverschnee aus und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv riss er den rechten Arm hoch und bremste den Sturz, indem er den untersten Zweig eines Linde packte. Ihm war, als würde ihm die Schulter herausgerissen. Desdemona half ihm auf, und er lehnte sich kurz an den Baum, keuchend und etwas schwindlig, bis er wieder Luft bekam und klar im Kopf wurde. Dann gingen sie weiter. Zu seiner Freude lag die Wohnung 156 im Erdgeschoß. Langsam kam es ihm nämlich so vor, als müsse er immer in Wohnungen hinauf, die mindestens im dritten Stock lagen. Er suchte nach einem Lichtstreifen unter der Tür und fand ihn. Er sah auf die Uhr. Fast Mitternacht. Wenn man in Washington zu dieser Nachtstunde irgendwo klingelte, hatte man gute Aussichten, erschossen oder verhaftet zu werden. Aber in Russland, hatte er festgestellt, blieben Intellektuelle lange auf und redeten und tranken. Zur Arbeit gingen sie, wann es ihnen passte. Dies galt besonders in Zeiten politischen Umbruchs, wenn sich die Leute abends trafen und anschließend stundenlang herumtelefonierten und sich mit Freunden über die Neuigkeiten austauschten. Er hatte sich daran gewöhnt, bei Russen bis ein Uhr nachts zu klingeln. Das Attentat auf Gratschenko war nicht so aufrührend wie die Perestroika, aber heute Abend mit Sicherheit Thema von einigen Küchendebatten. Die Wohnungstür von Nummer 156 war zur Geräuschdämpfung mit Leder gepolstert. Er drückte auf den Knopf zur Linken und hoffte, die Klingel würde funktionieren. Drinnen schrillte es. Bald vernahm er das laute Schlurfen von Pantoffeln auf rauhem,
ungebohnertem Parkettboden. Die Frau, die die Tür aufmachte, kam ihm später verängstigt und noch später sehr schön vor. Aber sie war nicht sein erster Eindruck. Er war ganz überwältigt von dem Gemälde, das an der Wand hinter ihr hing. Es maß etwa neunzig mal hundertzwanzig Zentimeter und hatte einen geschnitzten Goldrahmen. Das Porträt eines Mannes in strengem Schwarz, bis auf die schneeweiße Halskrause. In der einen Hand hielt er einen Gänsekiel, mit dem er etwas aus einem umfangreichen Manuskript abschrieb. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck mundoffener Überraschung, als sei jemand unerwartet in seine Büchernische getreten, und sein Kopf badete in einem weichen, weißen Licht. Burke kannte sich in Kunstgeschichte nicht aus, wusste aber genug, um sagen zu können, dass das ein ganz hervorragendes Werk war. Die Halskrause und die Aureole von Licht um den Kopf ließen darauf schließen, dass es von Rembrandt stammte. Er sah Desdemona an. Auch sie starrte auf das Gemälde, als wolle sie dessen Wert schätzen. Die Frau an der Tür brachte sie wieder zu sich. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« Burke wurde rot und zog seine Visitenkarte heraus. Sie nahm sie entgegen und blickte kurz darauf. »Und das hier ist Desdemona McCoy«, ergänzte er. Er wollte gerade hinzufügen, von der Kunstgalerie McCoy-Fokine, aber dann bremste er sich. Sollte sie sich doch selber vorstellen. Desdemona zog ebenfalls eine Visitenkarte aus der Manteltasche und gab sie der Frau, die stumm dastand und sie musterte wie Seuchenträger. »Es tut uns furchtbar Leid, dass wir Sie so spät in der Nacht überfallen«, entschuldigte sich Burke. »Aber es ist dringend. Sind Sie Nadescha Petrowna Naryschkina?« »Nein«, sagte die Frau. Doch der Rembrandt an der Wand ließ darauf schließen, dass es die richtige Wohnung war. »Aber sie wohnt hier?« Die Frau schürzte die Lippen. »Warum wollen Sie das wissen?« Burke fragte sich, welches Bröckchen Wahrheit ihm über die Schwelle und in die Wohnung helfen würde. »Nun«, setzte er an, »ich arbeite an einem Artikel über die
Eremitage.« Sofort machte sie Anstalten, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Und über den Tod Fjodor Wassiljews«, fügte er hinzu. Genau das Falsche. Die Frau riss die Augen auf und knallte die Tür zu. Doch in letzter Sekunde hörte er eine andere Frauenstimme rufen: »Ljuba! Lass sie rein!« Burke hörte kurz Stimmengewirr hinter der geschlossenen Wohnungstür. Es hörte sich an wie Streit. Dann ging die Tür wieder auf. Die Frau hatte einen roten Kopf und war sichtlich verlegen. Doch bat sie sie mit einer Kopfbewegung herein. Er schälte sich aus seiner Parka und wandte sich im Flur dorthin, wo es in fast jeder russischen Wohnung, die er je betreten hatte, ein paar Haken für Mäntel und ein Gestell für die Hauspantoffeln gab, wie sie die meisten Russen daheim trugen. Doch dort hing ein kleineres Gemälde in einem einfachen braunen Rahmen. Ein äußerst gelungenes Porträt einer Madonna mit Kind. Die junge Frau, die dafür Modell gestanden hatte, sah aus wie fünfzehn. Sie hatte das Haar zu einem Kranz geflochten und trug eine Edelsteinbrosche auf dem rost- und aquamarinfarbenen Umhang, der so echt wirkte, dass Burke meinte, den Stoff anfassen und zwischen den Fingern prüfen zu können. Das aus unerfindlichen Gründen überproportional große Jesuskind saß ihr auf dem Schoß und grabschte nach einem Blütenzweig, den sie ihm vors Gesicht hielt. Desdemona sah sich das Gemälde genau an, aber er konnte sich keinen Reim auf ihren Gesichtsausdruck machen. Er erinnerte sich dunkel, das Bild schon mal gesehen zu haben. Aber er kam nicht darauf, wo. Etwa in der Eremitage? »Raffael?«, mutmaßte er. Die Frau, die immer noch sehr abweisend wirkte, lächelte kurz über seine Ignoranz. »Leonardo«, berichtigte sie. Dann deutete sie mit dem Kopf nach links. Desdemona ging voran. Burke folgte. Er kam sich vor, als betrete er ein kleines und ziemlich vollgestopftes Museum. Die übrige Wohnungseinrichtung war von armseliger, fadenscheiniger und minderer Beschaffenheit, wie in der
Sowjetunion üblich, lange über die vorgesehene Gebrauchszeit hinaus benutzt, bis auf das, was an den Wänden hing. Sie waren mit Gemälden bedeckt, jede freie Stelle, bis hinauf zur Zimmerdecke. Kleinere Bilder waren übereinander aufgehängt, aber es gab auch ein Kolossalgemälde, das fast die halbe Rückwand einnahm. Ein graubärtiger Alter in rotem Umhang über golddurchwirkter Kleidung umarmte einen jungen Mann in Lumpen mit kahl geschorenem Kopf. Wie das Bild im Eingangsflur war auch dieses von einem weichen Licht überstrahlt, und er vermutete wieder, es müsse ein Rembrandt sein. Aber das war doch gar nicht möglich. Eine gedruckte Reproduktion konnte es aber auch nicht sein, denn er sah auf der Leinwand deutlich die Pinselstriche. Die Namen der meisten Künstler hätte er nicht mal raten können, aber dass es sich um Renaissancegemälde handelte, war jedenfalls klar. Lauter Madonnen, Heilige, Göttinnen, und Bürger in schmucklos schwarzer Kleidung mit weißen Halskrausen. Und dann sprangen ihm in einer Ecke etliche Impressionisten ins Auge. Eine Landschaft, die wie ein Cézanne aussah. Und darunter dasselbe Bild polynesischer Frauen, das er im Büro des Direktors in der Eremitage hängen sehen und für einen Gauguin gehalten hatte. »Das sind Kopien«, stellte er fest. »Richtig.« Er wandte sich der Stimme zu, die aus einer Ecke rechts hinter ihm gekommen war. Und erblickte eine alte Dame, deren grau durchzogenes, strähnig schwarzes Haar streng zum Dutt zurückgekämmt war. Ihre Gesichtshaut ähnelte altem Pergament, trocken, durchsichtig und voll feiner Runzeln. Aber sie hatte hellblaue Augen, die gegen ein paar dunkelblaue Farbkleckse auf der abgewetzten Malkutte abstachen. Hände und Unterarme wirkten im Gegensatz zu den Schultern und der eingefallenen Brust zupackend und kräftig. Sie saß im Rollstuhl, eine Wolldecke über den Beinen. »Nadescha Petrowna?« Sie nickte. »Das bin ich. Und das hier ist meine Tochter Ljuba. Es tut mir Leid, dass sie so unhöflich zu Ihnen war.« Sie gaben ihr die Hand. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Unhöflich sind wir, weil wir ungebeten so spät noch klingeln. Haben Sie das alles selbst gemalt?«
Sie nickte bestätigend, ein wenig belustigt ob der Reaktion ihrer Besucher. »Mein Metier«, erläuterte sie. »Sie arbeiten in der Eremitage?« Sie nickte wieder. »Und wie haben Sie uns gefunden?« Das kam von der Tochter, reichlich nervös. »Woher wissen Sie, wo wir wohnen?« Burke räusperte sich und überlegte, wo er anfangen sollte. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, forderte ihn Nadescha Petrowna auf, noch bevor er antworten konnte. Ihre Stimme war heiser, doch irgendwie weich und kultiviert. Sie sprach das fließende, melodische Russisch, typisch für die Crème der Intelligenzija. Burke hatte diese Aussprache und Betonung immer bewundert, aber nie nachahmen können. »Etwas Tee«, bot sie an. »Kekse?« Burke musste schlucken. Er war froh, dass sie keinen Wodka angeboten hatte, weil offenbar jede Zelle seines Hirns strammstand und nach Alkohol schrie. »Ja, bitte«, sagte Desdemona. Wie selbstverständlich ging Ljuba in die Küche. Ein Schlafsofa stand an der gegenüberliegenden Wand, das einzige Möbel in dem vollgestellten Zimmer, auf das zwei Leute passten. Sie setzen sich. Nadescha Petrowna drehte ihren Rollstuhl zu ihnen hin, sagte aber nichts. Ihre überwältigende Präsenz ging nur von ihrem hellblauen Augenpaar und ihren kräftigen Händen aus. »Nadescha Petrowna«, setzte Desdemona an. »Es ist sehr spät, und deshalb ist es wohl das Beste, wenn wir gleich zur Sache kommen.« Sie sah Burke an. »Colin, sind wir uns einig, dass das, was ich jetzt sage, vertraulich bleiben muss?« »Ich hab bestimmt nicht vor, dich in einem Artikel zu erwähnen«, versicherte er. »Das wäre schwer zu erklären.« Sie lächelte kurz, wurde dann wieder ernst und wandte sich Nadescha Petrowna zu. »Mir ist bekannt, dass die Eremitage in ein Vorhaben hineingezogen worden ist, ein sehr wertvolles Gemälde zu veräußern, oder sogar mehrere«, sagte sie. »Beteiligt sind Amtsträger auf höchster Regierungsebene in Moskau. Der Verkauf soll geheim gehalten werden, aber ich darf Ihnen sagen, dass das
nicht lange gut gehen wird. Wenn es herauskommt, gibt es einen Riesenskandal. Und jetzt, nach dem Attentat auf Gratschenko, könnte das die Regierung… zu Fall bringen.« Ljuba Narischkina kam aus der Küche, wo sie offenbar mitgehört hatte, ins Zimmer zurück. »Woher wissen Sie das?«, fragte sie. Ihre Stimme war jetzt eine halbe Oktave schriller und verriet panische Angst. Desdemona sah sie gleichmütig an. »Ich kann Ihnen nur sagen, es gehört zu meinen Aufgaben, dergleichen zu wissen. Und außerdem darf ich Ihnen mitteilen, dass ich Kontakte zu Regierungsstellen der Vereinigten Staaten habe, die Ihnen behilflich sein können.« »Uns behilflich sein? Womit?«, Ljubas Stimme kiekste bei den hellen Vokalen. »Wenn Sie mir alles sagen, was ich wissen muss, um die Lage voll und ganz zu erfassen, den Verkauf zu unterbinden und damit die Machtergreifung von Leuten wie Marschall Rogow zu verhindern, bin ich ermächtigt, Ihnen sicheres Geleit außer Landes zu bieten, und dazu wirtschaftliche Sicherheit durch eine Beschäftigungszusage in Ihrem Fach in den Vereinigten Staaten.« Nadescha Petrowna kniff die Augen zusammen. »Bedaure«, sagte sie. »Wir haben Ihnen nichts mehr zu sagen.« »Aber…«, wollte Desdemona widersprechen. »Bitte, es ist schon sehr spät«, sagte Ljuba. »Meiner Mutter geht es nicht gut.« Desdemona kniff die Lippen zu einem Strich zusammen, sagte aber nichts mehr. »Moment mal«, ging Burke dazwischen. »Miss McCoy hat sich ein bisschen, sagen wir mal, zu forsch geäußert, doch bestimmt mit den besten Absichten. Ich dagegen bin nur Reporter. Ich habe keine solchen Verbindungen zu amerikanischen Regierungsstellen. Aber wir beide achten Ihre Vaterlandsliebe und Ihren Wunsch, im Lande zu bleiben und das russische Kulturerbe zu bewahren.« Der Blick der Frau im Rollstuhl milderte sich. Desdemona streckte das Kinn vor und presste die Lippen aufeinander. »Wenn Sie wollen, dass wir jetzt gehen, tun wir das natürlich. Ich meine allerdings, Sie haben Ljuba vorhin gebeten, uns hereinzulassen, weil Sie möchten, dass ich gewisse Dinge erfahre. Dinge, über die ich schreiben soll, weil das von Miss McCoy erwähnte Komplott daran scheitern könnte.«
Nadescha Petrowna lächelte verhalten. »Nein, Mama, nein! Das ist viel zu gefährlich!« Ljuba war so blass wie die Winterdämmerung von St. Petersburg. Nadescha Petrowna blickte liebevoll zu ihr hin. »Meine Tochter will mich beschützen, Mr. Burke«, sagte sie. »Aber ich fürchte, in dieser Lage gibt es keinen Schutz ohne Risiko. Ich muss Sie nur um eines ersuchen: Mit der Veröffentlichung zu warten, vielleicht ein paar Tage, bis ich Ihnen sage, dass es für uns nicht mehr gefährlich ist.« »Einverstanden«, sagte Burke. Desdemona räusperte sich. »Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte, Nadescha Petrowna.« Und an Burke gewandt: »Ich lass jetzt lieber dich die Fragen stellen.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Miss McCoy«, sagte Nadescha Petrowna. »Sie sollen ruhig wissen, was hier vorgeht. Aber verstehen Sie bitte, dass ich nicht für Ihre, äh, Kontakte tätig werden kann.« Dabei lächelte sie, aber das Lächeln war eisern. Desdemona machte ein Gesicht, als wolle sie Nägel fressen und Gewehrkugeln spucken. Doch sie bezwang ihren Stolz, dachte Burke, Hut ab. Er stellte Nadescha Petrowna zunächst Fragen zur Person, in der Hoffnung, sie werde sich entspannen und so redselig werden wie möglich. »Sie malen Kopien für die Eremitage?« Die alte Dame nickte. »Wie sind Sie denn dazu gekommen?« Nadescha Petrowna legte die Hände übereinander in den Schoß. »Das ist eine lange Geschichte.« »Ich mag lange Geschichten«, ermunterte Burke sie. Nadescha Petrowna schien froh über die Gelegenheit. »Als Katharina die Große Gemälde zu sammeln begann«, erzählte sie, »gründete sie in der Eremitage eine kleine Akademie. Sie hatte sich vorgenommen, russische Künstler an ihrer Sammlung zu schulen. Und andererseits sollten Russen die Kunstwerke pflegen können. Wissen Sie, eigentlich war sie Deutsche, aber sie liebte Russland.« »Ich weiß«, sagte Burke. »Wahrscheinlich wissen Sie, dass Gemälde von dem Augenblick an verfallen, wo der Künstler sie vollendet hat. Wenn sie über große Entfernungen transportiert werden, wie die für Katharina, nehmen
sie Schaden. Oder die Malschicht blättert mit der Zeit ab, wird rissig oder blass. Um Kunstwerke durch Restaurierung zu erhalten, muss man alles nachahmen können, was der Urheber getan hat – Pinselführung, Materialien, alles. Also begann diese Akademie damit, Künstler zu schulen, deren Spezialität das Kopieren wurde. So war es unter den Zaren, und so blieb es unter den Bolschewiken.« »Und Sie sind ebenfalls dort ausgebildet worden«, riet Burke. Die alte Dame lächelte bescheiden. »Nicht nur ich. Mein Großvater war unter Alexander III. Leiter der Restaurierung. Mein Vater war Restaurierer und wurde Kurator für die spanischen Meister. Es ist schlicht Familientradition. Ich bekam schon mit acht Unterricht an der Akademie.« In diesem Moment brachte Ljuba die Teekanne ins Wohnzimmer und stellte sie auf einem Tischchen vor dem Schlafsofa ab. Das Gespräch wurde unterbrochen, während Burke und Desdemona dampfende Teetassen in Empfang nahmen, in denen Teeblätter kreisten, und die wie überall angebotenen Zuckerkekse dankend ablehnten. »Meine Mutter ist von allen die Beste«, sagte Ljuba ruhig. »Niemand auf der Welt beherrscht das so gut wie sie.« Die alte Dame lächelte wieder. »Meine Begabung«, erklärte sie, plötzlich lebhafter werdend. »Ich habe natürlich auch eigene Bilder gemalt. Aber irgendwie hatten sie kein Leben. Keine eigene Sicht der Dinge. Wenn ich ein Gemälde kopiere, ist das so, als ginge der Blick des Künstlers auf mich über.« Ljuba meldete sich. »Sie haben noch nicht beantwortet, wie Sie uns gefunden haben«, mahnte sie Burke. Burke zögerte und entschied sich dann für Aufrichtigkeit. »Den Namen habe ich aus Papieren in Fjodor Wassiljews Schreibtisch. Und die Adresse von einem Künstler hier in St. Petersburg.« Das Lächeln verschwand von Nadescha Petrownas Gesicht. »Und was hatten Sie mit Fjodor Michailowitschs Papieren zu schaffen?« »Das ist eine lange Geschichte«, wich Burke aus. »Und es ist schon spät.« Die alte Dame lächelte bitter. »Ich schlafe nicht mehr sehr viel, Mr. Burke«, erwiderte sie. »Offenbar brauche ich es nicht mehr. Vielleicht ein Gottesgeschenk, zum Ausgleich für das da.« Sie deutete auf die lahmen Beine. »Daher mag auch ich lange Geschichten.«
Burke stellte fest, die Frau gefiel ihm. Er erzählte ihr von Jennifer Morelli, dem verheißenen Knüller und ihrer Ermordung, und wie er nach St. Petersburg gekommen war und ihren Namen in Wassiljews Papieren gefunden hatte. »Jennifer«, sagte Nadescha Petrowna. »Wie sah sie denn aus?« »Sie war fast dreißig, hoch gewachsen, blaue Augen, Sommersprossen, sehr ernst. Kurzgeschnittenes Haar, ryschi«, beschrieb sie Burke. Nadescha Petrowna nickte mitfühlend. »Ja, ich hab mit Ihrer Jennifer gesprochen«, bestätigte sie. »Sie ist bei Fjodor Michailowitsch gewesen.« Bei diesen Worten spannte sich Burke und beugte sich vor. »Wissen Sie noch, was er ihr gezeigt hat? War es die Madonna Litta?« »Mama!«, ging Ljuba dazwischen, bevor ihre Mutter antworten konnte. Sonst sagte sie nichts, aber ihr Gesicht glühte, und die Haut spannte über Wangenknochen und Kiefer. Sie wirkte zu Tode erschrocken. Eine Träne tropfte von den Wimpern und rollte ihr langsam die Wange herunter. Nadescha Petrowna wandte sich zu ihrer Tochter und streichelte sie unterm Kinn, und er sah sie kurz, wie es vor fünfundzwanzig Jahren gewesen sein mochte, wenn die Mutter sie trösten musste. Ljuba hörte auf zu weinen, vielleicht wie damals. »Alles halb so schlimm«, begütigte Nadescha Petrowna. »Wir tun hier schon das Rechte. Das Gemälde«, fuhr sie dann zu Burke gewandt fort, »stammt von Leonardo. Aber es ist nicht die Madonna Litta. Sondern Leda mit dem Schwan.« Desdemona verschluckte sich und fragte dazwischen: »Leda mit dem Schwan?« »Sie haben also davon gehört«, stellte Nadescha Petrowna fest. »Ich hatte es vergessen, aber jetzt fällt mir wieder ein, ich habe auf dem College was darüber gelesen«, sagte Desdemona. »Raffael hat eine Kopie davon gemalt, aber das Original…« Sie runzelte die Stirn in dem Versuch, sich einen Abschnitt aus einem alten Buch über Kunstgeschichte zu vergegenwärtigen. »Es wurde vernichtet, nicht wahr?« Nadescha Petrowna schüttelte den Kopf. »Getarnt.« Burke holte ein Notizbuch aus der Tasche. »Getarnt? Wie denn?
Und wie buchstabieren Sie ›Leda‹?« Nadescha Petrowna beugte sich zum ersten Mal zum Tisch herüber und nahm einen Schluck Tee. Dann machte sie es sich wieder in ihrem Rollstuhl bequem. »Leonardo«, sagte sie, »hat Leda mit dem Schwan irgendwann um 1510 gemalt. Sie war einzigartig unter seinen Gemälden – der einzige Akt, den er je gemalt hat, und der schönste. Haben Sie die Mona Lisa gesehen?« »Aber klar«, bestätigte Desdemona. Burke sagte nichts. Während seiner Zeit in Paris hatte ein Besuch im Louvre keinen Platz auf seiner Prioritätenliste gehabt. »Sie ist mit der Mona Lisa vergleichbar.« »Aber seit mehreren hundert Jahren hat sie niemand gesehen!«, wandte Desdemona ein. »Sie ist vernichtet worden!« Nadescha Petrowna schüttelte den Kopf. »Das Gemälde wurde vom französischen Hof erworben. Es erscheint 1692 und 1694 in den Inventarlisten von Fontainebleau. Danach ist es verschollen.« »Aber nicht vernichtet worden?« Sie lächelte. »Nein. 1697 heiratete Ludwig XIV. die Marquise de Maintenon zur linken Hand. Sie war eine sehr schamhafte, sensible Frau, oder tat wenigstens so.« »Schamhaft und sensibel?« »Sie meinte, es solle nicht so viel Gerede und Zurschaustellung von…« Nadescha Petrowna stockte, »… geschlechtlichen Dingen geben.« Offenbar war sie selbst ein wenig prüde. »Und das Gemälde war ein Akt«, ergänzte Desdemona. Nadescha Petrowna nickte. Burke begriff plötzlich. »Sie hat alle Aktgemälde vernichten lassen?« »Das wird allgemein geglaubt«, sagte Nadescha Petrowna. »Aber wenn es nicht vernichtet wurde«, fragte Burke, »wo ist es hingekommen, und wie?« »Ganz genau wissen wir das nicht«, sagte sie. »Meine Vermutung geht dahin, dass irgendwer, vielleicht der Kurator in Fontainebleau, gemerkt hat, was für ein furchtbarer Verlust es wäre, das Gemälde zu vernichten. Er sah sich in der Sammlung um und fand eine große, aber absolut mittelmäßige Landschaft von einem französischen Künstler namens D’Amboise. Jacques D’Amboise. Er löste das Landschaftsgemälde aus seinem ursprünglichen Rahmen und zog es
über Leda mit dem Schwan. Diese Landschaft von D’Amboise hat dann hundertfünfzig Jahre später irgendwie einen Weg in die Sammlung eines deutschen Adligen gefunden, des Grafen Brühl. Katherinas Aufkäufer hätten den D’Amboise bestimmt nicht für sie ausgesucht. Aber sie wollten ein paar von den anderen Gemälden in der Sammlung des Grafen. Er hatte drei oder vier Rembrandts, fünf Rubens’, glaube ich. Watteau, Billotto, andere. Als er starb, schickte sie einen Aufkäufer zur Beerdigung des Grafen, und der hat an Ort und Stelle alle sechshundert Gemälde von der Witwe erworben, für hundertachtzigtausend Goldrubel.« »Das war damals ein Haufen Geld, glaube ich«, sagte Burke. »Es wäre noch viel mehr gewesen, wenn die gewusst hätten, was hinter diesem Ölschinken von D’Amboise steckte.« »Und wie haben Sie es herausgefunden?« »Die Sammlung Brühl wurde bei ihrer Ankunft in St. Petersburg geschätzt und katalogisiert. Die Rembrandts und Rubens’ wurden ausgestellt. Die Landschaft von D’Amboise kam zusammen mit vielen anderen Bildern auf den Speicher. Und dort blieb sie bis vor ein paar Monaten.« »Und was ist dann passiert?« Nadescha Petrowna verzog das Gesicht. »Unser Museum ist so arm! Wir haben Tausende von Gemälden in unserem Fundus, und wir können sie nicht richtig erhalten. Wir können nicht mal die in der Ausstellung richtig pflegen! Großartige Kunstwerke vergehen allmählich! Also beschlossen Fjodor Michailowitsch und ich, dass wir über die Gemälde auf dem Speicher eine Art Triage abhalten sollten – um die zu retten, die wir vielleicht eines Tages ausstellen können, wenn wir genug Platz haben, und die anderen, die wir nicht mehr in Stand halten können, abzugeben. Als unbefristete Leihgaben – einfach abzugeben«, sagte sie und betonte dabei die letzten beiden Worte, »an Museen anderer Länder, die damit überglücklich wären. Als Leihgabe des russischen Volkes.« »Und der D’Amboise…«, half Burke nach. »War eines von den Bildern, die wir abgeben wollten. Aber die Leinwand war an einer Stelle durchgescheuert und musste repariert werden. Als ich mit der Arbeit anfing, merkte ich, was darunter steckte.« »Leda mit dem Schwan«, sagte Burke.
Sie nickte. »In glänzender Verfassung. Der D’Amboise hatte sie all die Jahre geschützt. Von den Dutzend Leonardos auf der Welt würde ich sagen, ist sie nach ihrem Zustand der Malerei Leonardos am nächsten.« »Mein Gott«, seufzte Desdemona. »Ist Ihnen klar, wieviel sie wert ist?« »Nicht so genau«, bemerkte Nadescha Petrowna trocken. »Leonardos werden nicht jeden Monat bei Sotheby’s versteigert. Aber viele Millionen Dollar.« »Ein paar hundert Millionen«, verbesserte Desdemona. »Und Wassiljew wollte eine Konferenz abhalten, um der Welt das Bild vorzuführen?«, fragte Burke. »Und Sie sollten als Expertin unter den Hauptreferenten sein?« »Ich sollte berichten, wie kleine Makel des Gemäldes ausgebessert worden sind.« »Und was ist dann passiert?« Sie senkte die Stimme und wurde diskreter. »Vor etwa einem Monat ist er zu mir gekommen und hat mir gesagt, es läuft alles schief. Das Kulturministerium in Moskau war von der Entdeckung unterrichtet worden. Aber anstatt das Gemälde auszustellen, wollen sie es insgeheim verkaufen. Ein Kunstwerk verkaufen, für das unsere Vorfahren bezahlt haben, mit Blut und Tränen!« »Und wer genau will es verkaufen?« Nadescha Petrowna schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher. Aber ich denke, es muss der Kulturminister sein und dazu entweder der Präsident selbst oder jemand aus seiner unmittelbaren Umgebung. Und unsere St. Petersburger Mafia hat auch damit zu tun, glaube ich. Ein Mann namens Iwan Bykow ist plötzlich an die Stelle unseres alten Sicherheitschefs gesetzt worden. Ein Gauner und verurteilter Ikonenschmuggler. Er soll auf das Gemälde aufpassen und sicherstellen, dass mit der Restaurierung nichts schief geht.« »Können Sie sagen, ob Slema Tschawtschawadse damit zu tun hat?« »Nein«, sagte Nadescha Petrowna. »Aber es heißt, Bykow arbeitet für ihn. Deshalb meine ich, auch er hat damit zu tun.« »Ich weiß mit Sicherheit, dass Tschawtschawadse Bykow kennt«, sagte Burke. Ljuba, die gerade beim Teeeinschenken war, fing an zu zittern
und vergoss etwas auf das Tischchen. Nadescha Petrowna tätschelte ihrer Tochter beruhigend den Arm. »Und dann hat Wassiljew das Gemälde Jennifer Morelli gezeigt«, half Burke nach. »Ja. Er hat mir nicht gesagt, warum, aber ich weiß, er wollte, dass in der amerikanischen Presse darüber geschrieben wird. Wäre sie nicht nach St. Petersburg gekommen, hätte er sicher versucht, Moskauer Korrespondenten dafür zu interessieren. Aber dann wurde er umgebracht.« »Wissen Sie, wer es gewesen ist?« »Nein. Aber der Grund scheint mir auf der Hand zu liegen.« »Und jetzt sind Sie am selben Punkt angelangt. Sie wollen, dass in der amerikanischen Presse etwas über das Gemälde erscheint, damit die Öffentlichkeit Wind davon bekommt und der Verkauf platzt. Ich würde diesen Artikel gern schreiben. Aber dazu muss ich das Gemälde mit eigenen Augen sehen und fotografieren. Und Sie als Expertin dafür zitieren, dass es ein Leonardo ist. Verstehen Sie?« Nadescha Petrowna nickte. »Ja, natürlich. Bis auf eins. Ich möchte, dass Sie den Artikel erst drucken, wenn das Geschäft abgewickelt ist.« »Abgewickelt?«, fragte Burke verblüfft. »Warum das denn?« Die alte Dame lächelte abgeklärt. »Weil wir denen eine Kopie andrehen.«
22 Iwan Bykow war fasziniert von dem Privatjet. Ihm gefielen die messerscharfen Flügelkanten. Auch die glatten, phallischen Triebwerke. Er mochte das hohe, kraftvolle Jaulen, das der Jet beim Gegenschub erzeugte, hier auf der Ostwestlandebahn des Titow-Luftwaffenstützpunktes fünfzehn Kilometer nördlich St. Petersburgs. Das Flugzeug war weiß wie der Schnee zu beiden Seiten der Landebahn und reflektierte die kraftlose Sonne, die dadurch heller erschien. Neben ihm stampfte seine Nichte Marina auf dem eiskalten Betonboden des kleinen Behelfsgebäudes der Flugbereitschaft, wo sie warten mussten. Er sah auf ihr Schuhwerk hinunter. Dünne schwarze Kunstlederpumps, die sich vielleicht für Devisenbars eigneten, aber nicht für einen Aufenthalt in einer unbeheizten Baracke der russischen Luftwaffe. »Du hättest Stiefel anziehen sollen«, sagte er. Marina wandte sich zu ihm um. »Leck mich«, sagte sie. Bykow sagte nichts. Er drehte sich zum Fenster und tat so, als sei er ganz in den Anblick des Flugzeugs versunken, das jetzt etwa einen Kilometer entfernt beinahe zum Stillstand kam und dann eindrehte, um zu ihnen zurückzurollen. »Und was hat Duxbury«, fragte er in Fortsetzung der unterbrochenen Unterhaltung, »dem Journalisten erzählt?« »Bloß, dass ich ihn Jimotschka nenne«, antwortete Marina. »Und dass wir zusammen mit Larissa einen flotten Dreier machen wollen.« Marina, die ebenfalls in Richtung Flugzeug blickte, sah den Schlag nicht kommen. Er fuhr ihr wie eine Panzerfaust in die Magengrube und presste ihr die Luft aus den Lungen. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie sank zu Boden. Eine halbe Minute später hellte sich das Schwarz allmählich wieder auf. Sie merkte, dass sie hustete und nach Atem rang. Mit der einen Gesichtshäfte lag sie auf dem harten Beton und fror dort fast schon an. Sie blickte auf. Ihr Onkel stand über ihr, die Rechte immer noch zur Faust geballt. Im Gesicht war er fast blaurot, und er brüllte etwas zu ihr hinunter. Eine kleine Speichelblase bildete sich im Winkel seines
Froschmunds. Dann verstummte das Glockenspiel in ihren Ohren, und sie konnte hören, was er schrie. »… blöde Fotze! Hast du dir nicht denken können, dass er dich wiedererkennt?« Sie schob einen Arm unter ihre Seite und versuchte aufzustehen. Dabei stachen die Rippen. Trotz der Schmerzen schien aber nichts gebrochen. Das überraschte sie nicht. Ihr Onkel hatte ihr schon öfter gezeigt, dass er grausame Schmerzen zufügen konnte, ohne etwas kaputtzumachen. Er wusste genau, wie man eine Frau so verdrischt, dass ihr nur der Wille gebrochen wird, aber kein einziger Knochen im Leib. Er holte mit dem Bein aus, trat aber nicht zu, sondern tippte sie nur mit der Fußspitze sachte dort an, wo sein Faustschlag gesessen hatte. Der Schmerz war schier unerträglich, und sie sackte auf den steinkalten Beton zurück und starrte zu ihm hinauf. »Damit du Bescheid weißt. Wenn er das mit Duxbury rauskriegt, reiß ich dir eigenhändig die Titten ab«, drohte Bykow. Dann wandte er sich zurück zum Fenster und sah wieder auf den heranrollenden Learjet. Marina wartete, bis sie wieder richtig atmen konnte, und versuchte dann nochmals aufzustehen. Sie schaffte es auf die Ellenbogen und dann vorsichtig auf die Knie und wieder auf die Füße. Im Aufstehen sah sie aus dem Augenwinkel einen jungen, pickelgesichtigen Soldaten im knöchellangen Wintermantel, wie er sie anglotzte. Dem Jungen stand der Mund noch halb offen, als könne er nicht so recht glauben, was er gerade mitangesehen hatte. Marina wurde rot. Es war ihr sehr zuwider, vor einem anderen Mann gedemütigt zu werden. »Leck mich«, sagte sie wieder zu ihrem Onkel. »Was hätte ich denn machen sollen? Sie miteinander quatschen lassen?« »Du hättest ihn von Larissa holen lassen müssen«, sagte Bykow, den Blick immer noch auf der Landebahn. Marina spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Du Arschloch! Du hast mir doch gesagt, ich soll sie in der Wohnung warten lassen!«, keifte sie. »Damit er auf jeden Fall weg ist aus dem Hotel…« Bykow ballte die Faust, und sie verstummte sofort. Sie sah an sich herunter. Ihr Rock hatte vom Saum bis zur Hüfte einen grauen Staubfleck. Und eine Laufmasche hatte sie auch in den
schwarzen Strümpfen. Sie flennte los. »Geh und mach dich sauber«, befahl Bykow, ohne sie auch nur anzusehen. »Du siehst beschissen aus.« Sie wischte sich mit der Hand über die Augen, verschmierte sich dabei das Make-up, und stöckelte dann davon. Bykow beobachtete wieder das Flugzeug, immer noch voll Wut auf sie. Er wusste nicht, warum er sich von Marina so häufig zu solchen Ausbrüchen hinreißen ließ, sondern nur, dass es mit irgendwas an ihr selber zu tun hatte. Das Kopfweh fing wieder an. Manchmal bekam er nach so einem Wutausbruch grauenhafte Kopfschmerzen, so hundsgemeine, dass nichts sie lindern konnte, weder Wodka noch das Kokain, mit dem er es mal probiert hatte. Hoffentlich war jetzt nicht wieder so eine Migräne im Anzug. Ob der amerikanische Journalist wohl irgendwas aus seinem Zusammentreffen mit Duxbury und Marina gefolgert hatte? Nach Marinas Version war er gleichfalls betrunken gewesen, und so hatte er wohl nichts gemerkt. Besonders schlau war er Bykow nicht vorgekommen. Trotzdem fragte er sich, ob er Tschawtschawadse davon unterrichten sollte. Dann verwarf er den Gedanken. Tschawtschawadse hatte ihm oft genug gesagt, mit Einzelheiten wolle er nicht behelligt werden. Bei dem zählten nur Resultate. Das Flugzeug rollte auf der Piste langsam auf einen Einweiser mit zwei roten Taschenlampen zu. Jetzt konnte Bykow durch das Cockpitfenster schon den Kopf des Piloten erkennen. Er ging hinüber zu dem Flur, in dem Marina verschwunden war. Dort gab es ein stinkendes Pissoir ohne Tür. Da stand sie, hielt ein Taschentuch unter das Rinnsal aus dem rostigen Hahn über dem Waschbecken und tupfte sich dann das Gesicht damit ab. »Los jetzt«, befahl er. »Sie sind da.« Sie wandte sich mit einem Ausdruck puren Ekels zu ihm um. So schlecht sah sie gar nicht aus. Eher besser, da sie jetzt einen Teil der überflüssigen Schminke abgewischt hatte und nicht mehr neu hatte auflegen können. Wortlos drückte sie sich an ihm vorbei. Sie verließen das Gebäude durch eine massive Holztür und gingen zu dem Flugzeug, das gerade zum Stillstand kam. In Bykows Kopf begann ein Specht zu hämmern.
Gleich darauf ging eine Klappe im Rumpf des Flugzeugs auf und schwang geräuschlos als Ausstiegstreppe nach unten. Bykow griff unter seinen Mantel und reichte Marina einen Strauß in Klarsichtfolie gehüllte Nelken. Den ersten Mann, der aus dem Flugzeug stieg, kannte er schon. Merrill, der Kunsthändler aus London. Der Mann hinter ihm allerdings passte nicht in sein vorgefasstes Bild eines Kolumbianers. Er war jung, klapperdürr und hatte aschblonde Wuschelhaare bis auf die Schultern, wie einer von den deutschen Rucksacktouristen, die manchmal mit der Fähre von Helsinki nach St. Petersburg herüberkamen, auf der Suche nach einem preiswerten Rausch und einem Billigfick. Gekleidet war er in zerrissene Jeans, eine blaue Lederjacke und eine Strickmütze mit der Aufschrift »Adidas«. Doch das musste Rafael Santera Calderon sein. Der Mann kam hinter Merrill die Bordtreppe herunter und schüttelte Bykow die Hand. Der Kunsthändler trug einen für St. Petersburg äußert unpraktischen Kamelhaarmantel und eine hoch elegante Zobelmütze. Marina dolmetschte rasch die Begrüßung. »Gospodin Calderon«, sprach Bykow den jüngeren Mann hinter Merrill an. »Willkommen in St. Petersburg.« Marina übergab die Blumen und dolmetschte. Der Junge grinste, und Bykow erschrak über die verfärbten, schadhaften Zähne, deren sich sogar ein karelischer Rentierhirt hätte schämen müssen. »Ich fürchte, da haben Sie den Falschen«, sagte der junge Mann. In diesem Moment erschien in der Flugzeugtür ein Dritter im knöchellangen Daunenmantel und mit der gleichen Zobelmütze wie Merrill. Er blieb kurz stehen und musterte die verschneite Ebene um die Luftwaffenbasis und ihren fernen Horizont aus kahlen Lärchenund Birkenwäldern. Bykow überlegte, ob er dem Wuschelkopf die Blumen wieder abnehmen solle. Ihn für Santera zu halten, war ein verständlicher Fauxpas gewesen. Tschawtschawadse hatte schließlich nur zwei Einreisevisa beschafft. Eine innere Stimme sagte ihm jedoch, dass er diese Frage jetzt besser überging. Er wartete, bis der Dritte die Bordtreppe heruntergekommen war, und begrüßte ihn dann. Marina dolmetschte. Santera erwiderte Bykows Händedruck kaum.
»Und wo ist Tschawtschawadse?«, fragte er. Glühende Nadeln stachen in Bykows Schläfen, er konnte es kaum noch aushalten. Ob Santera die Adern außen an seinem Kopf pochen sah? Die Knie wurden ihm plötzlich weich und er meinte, sich vor Schmerz krümmen zu müssen, riss sich aber zusammen. »Er lässt sich entschuldigen«, presste Bykow durch die zusammengebissenen Zähne hervor. »Ein Geschäftstermin, den er persönlich wahrnehmen muss. Er trifft Sie beim Abendessen.« Santera nickte zu Marinas Übersetzung ins Englische. Tschawtschawadses Nichterscheinen am Flughafen war, soweit Bykow wusste, ein kalkulierter Schachzug, um vor dem Handel die Hackordnung festzulegen. Warum Tschawtschawadse derlei Spielchen trieb, wusste Bykow nicht. Denn nach einem Blick auf Santeras Miene hatte er nicht den Eindruck, dass dieser dadurch verhandlungsbereiter gestimmt wurde. Santeras Gesicht hellte sich plötzlich auf, und er wandte sich Marina zu. »Und wer sind Sie?«, fragte er. Marina lächelte und stellte sich vor. Santera lächelte zurück und küsste ihr die Hand. Bykow konnte sehen, wie Erwartung in Santeras Blick und Gier in den Augen seiner Nichte aufblitzte. Er kannte das schon und wusste genau, was jetzt kam. Wahrscheinlich würde sie noch vor dem Dessert unterm Tisch knien und dem Kerl Hundertdollarnoten aus der Hose lutschen. Die Schmerzen pochten immer heftiger innen an seine Schädeldecke. Er hatte Druck auf den Ohren wie im Flugzeug bei der Landung. »Entschuldigen Sie«, sprach er Santera an und deutete auf den jungen Mann mit den Blumen, der schüchtern von der Bordtreppe zurückgetreten war, als Santera ausstieg. »Wer ist das, und hat er ein Visum?« Santera lächelte wieder. »Verzeihung. Ihre Dolmetscherin ist so schön, dass ich die Regeln der Höflichkeit vergessen habe. Gerhard Schlegel von der Alten Pinakothek in München«, stellte er ihn vor. »Wir haben ihn auf dem Herflug abgeholt. Meine Freunde im Verteidigungsministerium in Moskau haben ein Visum für ihn ausstellen lassen. Ich habe ihn als Sachverständigen engagiert, für die Echtheitsprüfung.« Der junge Mann nickte zu Bykow hin.
Bykow hasste Komplikationen, und hier gab es schon wieder zwei neue. Wenn der Kolumbianer im Verteidigungsministerium anrufen und stante pede ein Besuchervisum ausstellen lassen konnte, mischten bei diesem Geschäft mit Sicherheit einflussreiche Kreise mit, von denen er keine Ahnung hatte. Das schlug ihm auf den Magen. Und dass Santera einen weiteren Fachmann eingeschaltet hatte, kostete im Zweifel nur noch mehr Zeit. »Es kommt noch ein Flugzeug hinterher«, erklärte Santera, »mit Herrn Schlegels Ausrüstung und ein paar von meinen Männern.« Vom Scheitel ausgehend die Schädelnähte entlang rann jetzt flüssiges Blei, und Bykow war, als müsse ihm gleich der Kopf auseinander platzen.
23 Langsam wurde Burke wach. Das trübe Morgenlicht fiel ihm aus ungewohntem Winkel auf die Lider. Er schlug die Augen auf. Das Fenster war nicht, wo es hingehörte. Und da hing ein Bild an der Wand, zwei schwarze Augen, eng beieinander, ein paar Falten an der Nasenwurzel und dämonisch erhobene schwarze Augenbrauen. Stalin. Er erblickte eine Kommode, braun, niedrig und skandinavisch, mit Büchern und Zeitschriften auf Mützen und Schachteln mit Plastikohrringen gestapelt. »Guten Morgen«, sagte halblaut eine Frauenstimme links von ihm. Er wandte den Kopf und blickte in Desdemona McCoys braune Augen. Sie lag auf der Seite, auf den Ellenbogen gestützt, den Kopf in die Hand geschmiegt. Ihr Haar kräuselte und ringelte sich ihr um Schulter und Gesicht, fast bis zum Brustansatz. Es umrahmte ein vorsichtiges Lächeln mit ungefähr gleichviel Fremdheit und Lust. Sie war lang und schlank – sehnig an Hals und Armen, üppiger weiter unten. Er langte hinüber und strich ihr eine Haarsträhne aus den Augen. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, sie beugte sich zu ihm herüber und pustete ihm lasziv ins rechte Ohr. »Ich glaube, wir müssen reden«, sagte er. Sie schlang ihm den linken Arm um den Hals, zog sein Gesicht zu sich heran und antwortete mit einem ausdauernden, langsamen und trägen Kuss. Sie schmeckte süß und roch schwach nach Parfüm, Schweiß und ausgelebter Leidenschaft. Ihr Bein kam hoch und lag locker auf seinem Schenkel. Er strich ihr mit der Hand langsam aus der Kniekehle über die Hüften und den Rücken und zog die Hand heran, bis er ihre Brust umfasste. Er spürte, wie die Brustwarze gegen seine Handfläche steif wurde. Er beugte sich hinunter, nahm ihre linke Brustwarze in den Mund und lutschte behutsam. Fast unmerklich bäumte sie sich auf, und er hörte und spürte ihren Atem schneller werden. Ihr Zeigefinger fuhr seinen linken Schenkel nach, dann umfasste sie seinen Sack.
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie mit Erregung in der Stimme, »sind wir deswegen gestern Abend nicht zum Reden gekommen.« Er ließ seinen Mund von der Brustwarze über den kleinen Hügel ihres Busens zu ihrem Schlüsselbein wandern. Ihre Haut fühlte sich weich und warm an, und er hörte, wie ihr Atem noch schneller ging. »Dann rede halt jetzt mit mir«, forderte sie ihn auf. Sie zog ihre Hand ein bisschen höher und ließ seinen schwellenden Penis hineinwachsen. Dann streichelte sie ihn sanft. »Das hier«, sagte er und knabberte ihr dabei am Ohrläppchen, »ist völlig unmöglich.« Sie sah auf ihre Hand hinunter. »Ich weiß nicht, für mich sieht das sehr möglich aus.« Er fuhr ihr mit der Hand zwischen die Schenkel und langsam zu ihrer Vulva. Sie war glatt und nass und hob sich sofort seiner Hand entgegen. »Ich meine uns. Wir sind völlig unmöglich«, sagte er und ließ seine Finger eindringen. »Du dürftest nicht bei mir sein. Und ich nicht bei dir.« Langsam bewegte er einen Finger ein und aus. »Stimmt«, sagte sie und passte ihr Auf and Ab an seinem Penis der Bewegung seines Fingers in ihr an. »Das stimmt.« »Was stimmt?« »Ist mir egal«, flüsterte sie. »Ich will dich.« Sie rollte sich auf ihn, und er hörte sie auf dem Nachttisch nach etwas kramen. Dann setzte sie sich plötzlich auf seinen Schenkeln auf, und er sah zu, wie sie die Packung aufriss und ihm das Kondom überstreifte. Dann ließ sie sich langsam und bedächtig auf ihn herunter. »Du fühlst dich heute Morgen noch besser an als gestern Abend«, flüsterte er, und sie reagierte, indem sie seinen Kopf mit beiden Armen umfasste und ihn an sich drückte, während sie sich im gleichen Takt bewegten. Er rollte sich herum, ohne die Verbindung abreißen zu lassen, und stellte beim Aufstützen auf die Ellenbogen fest, dass die Nachtruhe seiner Schulter gutgetan hatte. Sie wurde schneller, und dann kämpfte sie unter ihm, krallte sich mit den Fingern in seinen Rücken und hob ihn mit der Kraft ihres Höhepunkts fast vom Bett. In Reaktion auf sie kam auch er.
Eine Weile lagen sie fast keuchend nebeneinander. Dann lächelte sie und küsste ihn sacht. »Du hast recht«, sagte sie. »Wir sind völlig unmöglich. Wir hätten so was nicht tun dürfen. Aber ich freu mich.« Er küsste sie zurück. »Ich auch.« Er drückte sie an sich und sah über ihre Schulter hinweg auf die Armbanduhr. Der halbe Vormittag war schon herum. »Wir müssen los«, sagte er. »Wer duscht zuerst?« »Du«, antwortete sie. »Ich muss noch ein paar Sachen im Computer überprüfen.« Als er angezogen war und seinen Kaffee trank, stellte er ihr Radio in der Küche an und hörte BBC. Das Attentat vom Vortag wurde aufgewärmt, und Burke lauschte, bis er beruhigt war, dass die BBC nichts ausgegraben hatte, was er nicht bereits selbst gemeldet hatte. Sie kam in weiten schwarzen Hosen und einer schneeweißen Bluse mit einer offenen schwarzen Lederweste darüber aus dem Schlafzimmer, die Parka über dem Arm. Sie wirkte taufrisch und energiegeladen. Sie reichte ihm ein paar Blatt Papier. »Ich hab was aus dem Internet gezogen«, sagte sie. »Ich dachte, vielleicht bringt es dir was.« Er überflog die Seite. Offenbar ein Artikel aus einem Nachschlagewerk. LEDA: Eine schöne und jungfräuliche Prinzessin aus der griechischen Mythologie, dem griechischen König Tyndareos von Sparta versprochen. Vor der Hochzeit badete sie mit ihren Hofdamen in einem Fluss. Zeus beobachtete sie vom Himmel und entbrannte ob ihrer Schönheit in Begehren. Zeus befahl Aphrodite zu sich und versicherte sich ihrer Hilfe bei einer List. Er verwandelte sich in einen Schwan, und sie in einen Adler. Sie flogen zu dem Bach, wo Leda badete, und taten so, als greife der Adler den Schwan an. Voll Mitgefühl eilte Leda dem Schwan zu Hilfe. Kaum war sie nahe genug, umschlang sie Zeus als Schwan mit seinen Schwingen und entjungferte sie. Als Ergebnis dieser Vereinigung gebar sie vier Kinder, die aus Eiern schlüpften – Castor, Pollux, Helena und Klytämnestra.
Nach manchen Versionen des Mythos wurde sie später zum Olymp erhoben und zur Nemesis, der Göttin der rächenden Gerechtigkeit. Burke legte den Artikel weg. »Danke«, sagte er. »Irgendwie kann ich Nadescha Petrowna als Nemesis sehen.« »Bitte schön«, antwortete Desdemona. »Colin, da ist noch was.« »Ja?« »Egal was ich im Bett vielleicht gesagt hab, was uns beide angeht, bin ich die Kunstgaleriebesitzerin. Sonst nichts. In Ordnung? Das ist mir wichtig. Kann ich dir trauen?« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Sicher so weit, dass ich nichts über dich schreibe. Aber ansonsten weiß ich nicht mal, ob ich mir selber traue.« Sie lächelte traurig. »Am Ende ist’s ja doch nur ein Job, nicht? Eben dein Job. Und meiner.« »Ich weiß nicht«, sagte Burke. »Wie ich schon sagte, ich traue nichts und niemand mehr.« Sie trafen Andruscha Karpow dort, wo Nadescha Petrowna ihnen gesagt hatte, nämlich neben dem Kartenschalter für ausländische Touristen im ersten Stock der Eremitage. »Brauchen Sie vielleicht einen Führer«, schlug er vor. »Ich kenne mich im Museum sehr gut aus.« »Gute Idee«, lobte Burke. »Bezahl ihn«, sagte Desdemona leise. Burke runzelte kurz die Stirn, kapierte aber dann. Er griff in die Brieftasche und zog eine Fünfdollarnote heraus. Vor aller Augen reichte er sie dem gedrungenen Russen. »Also«, sagte Andruscha, »was würden Sie denn gern zuerst besichtigen?« »Italienische Renaissancegemälde«, antwortete Burke. »Wissen Sie«, sträubte sich Andruscha, »eigentlich wollte ich Ihnen die französischen Impressionisten zeigen.« Burke war zunächst nicht klar, ob Karpow begriffsstutzig war oder nicht genug Englisch verstand. Dann kam er drauf, dass keins von beidem zutraf. Er wollte lediglich, dass sie zuerst zu den französischen Impressionisten gingen. Rasch schritten sie zu einer Treppe aus weißem Marmor, breit
genug für eine Militärparade und mit einem roten Läufer belegt. »Das hier ist die Jordantreppe von Rastrelli«, erklärte Andruscha im Hinaufsteigen, seiner Rolle als Fremdenführer getreu. Danach durchschritten sie Säle mit tonnenschweren Bronzekronleuchtern, Flure voller Rüstungen, Galerien mit Porträts russischer Kriegshelden und Gemälden Rembrandts, Riesenzimmer voller Porzellan und Thronsäle in Purpur und Blattgold. Der schiere Umfang der Sammlungen erschöpfte Burkes Aufnahmefähigkeit. Nichts schien besonders bemerkenswert, und sein übersättigter Verstand hörte auf, die Gegenstände zu katalogisieren, auf die Andruscha im Vorbeigehen pflichteifrig hinwies. Statt dessen vermerkte er, wie alt das Gebäude war: gesprungene Fenster, Wasserflecken auf manchen Tapeten, Stellen, wo das Parkett zu federn schien. Desdemona hingegen schien von der fünfzehnten Kreuzigung ebenso fasziniert wie von der ersten, und nach einer Weile merkte Burke, sie war es tatsächlich. Er empfand ein wenig stummen Neid. Bildende Kunst gehörte zu den höheren Dingen im Leben, die er nie richtig hatte meistern wollen. Sie stiegen eine weitere, schlichtere Treppe empor, und plötzlich war alles anders. Blattgold und Marmor an den Wänden wichen nüchternem Grau. »Das ist die Sammlung von Gemälden aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert«, erklärte Andruscha. »Viele Jahre lang, in der Stalinzeit und danach, durften sie nicht ausgestellt werden. Fast wären sie vernichtet worden.« Andruscha lächelte spöttisch. »Zu dekadent.« Sie gingen um eine Ecke und standen vor einem großen, leuchtenden Monet, dem Bildnis einer Frau in knöchellangem weißen Kleid mit einem weißen Sonnenschirm, die durch einen lichtdurchfluteten Garten voller grünem Gras und roter Blumen schreitet. »Ich sehe schon, was er meinte«, sagte Burke. »Gefährlich dekadent.« Andruscha wurde ernst. »Gerettet wurden sie von Nadescha Petrownas Vater«, sagte er. »Er hat die Bürokraten, die sie loswerden wollten, ständig ausmanövriert. Schließlich haben sie ihn 1952 ins Straflager geschickt. Es heißt, Stalin sei kurz vor
Unterzeichnung des Befehls gestorben, die Bilder zu verbrennen.« »Was ist mit Nadescha Petrownas Vater passiert?« »Er wurde 1956 entlassen. Seine Gesundheit war ruiniert.« »Und wie kommt es, dass Nadescha Petrowna gelähmt ist?«, wollte Desdemona wissen. »Kinderlähmung«, erklärte Andruscha. »Als junge Frau, während ihr Vater im Straflager war. Etwa im Jahr fünfundfünfzig oder sechsundfünfzig, glaube ich.« »Da hatten sie wohl noch keinen Impfstoff«, meinte Desdemona. Andruscha zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Aber bestimmt nicht für die Tochter eines Volksfeinds.« Andruscha blieb an einer schmalen grünen Tür stehen, die unauffällig am Ende der Galerie für moderne Kunst in die Wand eingelassen war. Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, wählte einen Schlüssel und schloss auf. Er winkte ihnen, ihm zu folgen, machte dann die Tür hinter sich zu und verschloss sie wieder. Jetzt waren sie in einem Korridor, der viel schmaler war als die beiden Verbindungsflure der Galerien. Weißgekalkte Wände und als Fußbodenbelag der sowjetische Standardläufer, dreckig und abgetreten. »Das ist der Hintereingang zum Fundus und zum Konservierungsbereich für Malerei«, erklärte er. Burke blickte um sich. Von diesem Flur ging ein Halbdutzend Türen ab, alle verschlossen. Über einer sah er jedoch eine Überwachungskamera. Unter dem Objektiv blinkte die rote Leuchtdiode. Er blieb stehen, fasste Andruscha beim Ellenbogen und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kamera. »Wir werden doch nicht beobachtet? Das Vergnügen mit ihrem Sicherheitschef hatte ich schon. Dem möchte ich nicht nochmals begegnen.« Andruscha lächelte stolz wie ein kleiner Junge, der im Naturkundeunterricht was Besonderes vorzuweisen hat. »Was die Kamera in diesem Bereich aufnimmt, habe ich ausgetauscht«, erklärte er. »Gegen ein Endlosband, das die gewohnten Leute zeigt, das übliche Kommen und Gehen.« Burke blickte skeptisch. »Ganz bestimmt?« Andruscha nickte. Burke wandte sich an Desdemona. »Geht das denn?« Sie nickte ernst, offenbar beeindruckt. Sie gingen im
Kamerabereich ans andere Ende des Flurs. »Dieser Sicherheitschef«, fragte Andruscha. »Wie hieß er denn?« »Bykow«, antwortete Burke. Andruschas verzog das pausbäckige Gesicht und nickte. »Kennen Sie ihn?« »Ja«, sagte Andruscha. »Er ist – ich glaube, er hat Fjodor Michailowitsch umgebracht.« »Ein Mörder?«, fragte Burke. Andruscha zuckte die Achseln. »Manche sagen das. Gefragt hab ich ihn nicht.« »War er in letzter Zeit ein paar Tage verreist?« Andruscha schien von der Frage überrascht. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Warum fragen Sie.« »Reine Neugier«, wich Burke aus. Andruscha entschied sich, die Ausrede zu akzeptieren. Er hatte anderes im Kopf. Er blieb vor der Tür am anderen Ende des Flurs stehen und gab einen Zugangscode in den Schließmechanismus ein. Ein Bolzen klickte zurück. Er schob die Tür auf. Der Geruch von Tempera stieg Burke in die Nase. Dann fiel ihm die Beleuchtung auf. Sie standen in einem Atelier von der Größe einer kleinen Turnhalle, erhellt durch vier große Firstfenster und ein Sammelsurium von Scheinwerfern. Etwa ein Dutzend Künstler, meist Frauen, standen jede an einem Arbeitstisch. Alle hatten ein Gemälde auf einer Staffelei vor sich. »Das ist die Restaurierungsabteilung«, erklärte Andruscha. Desdemona blieb am nächst gelegenen Arbeitstisch stehen. Eine schlanke, blasse Frau Mitte dreißig arbeitete an einer Landschaft mit weißer Villa am Ufer eines ruhig spiegelnden Flusses. Blaugrüne Bäume umgaben das Haus gegen einen rotvioletten Himmel. »Ist das ein Cézanne?«, fragte Desdemona die Restaurateurin. Die Künstlerin nickte. »Das Ufer der Marne.« »Ein schönes Bild«, äußerte Desdemona ihre Bewunderung. Die Frau nahm mit einem winzigen Pinsel Farbe von einer Palette und begann einem Bildausschnitt mit Bäumen zu bearbeiten. Ihre Pinselstriche waren so winzig, dass Burke erst gar nicht glaubte, dass sie tatsächlich Farbe auftrug. Er trat näher und vergewisserte sich. »Sie übermalen einen Cézanne?«
Die Künstlerin wandte sich zu ihm um, mit einem leicht amüsierten Lächeln in ihrem blassen Gesicht. »Das ist kein Übermalen, sondern Restaurierung. In diesem Bildausschnitt war die Malschicht gerissen und abgeplatzt. Ich kann Ihnen noch ein Beispiel zeigen«, bot Andruscha an. Er ging zum nächsten Arbeitstisch, wo eine andere Künstlerin, eine Frau in den Sechzigern, an einem Großgemälde von mehr als zwei Meter zwanzig Höhe und einem Meter achtzig Breite arbeitete. Es zeigte eine üppige nackte Frau, die sich selbstsicher und aufreizend an eine Vase lehnte. Vor ihr erhob sich ein muskulöser Neptun aus der Meeresbrandung, komplett mit Dreizack. Eine Nixe hielt ihr ein Blumenkränzchen über das Haupt. Das Gemälde war sichtlich alt, in seiner unbeschwerten Sinnlichkeit aber verblüffend modern. Die Frau retuschierte geduldig das Muschelhorn, in das einer von Neptuns Tritonen blies. »Die Vermählung der Erde mit dem Wasser, von Rubens«, sagte Andruscha. Er wandte sich an die Restauratorin. »Kann ich es mal kurz haben?« Die Frau lächelte scheu und nickte. Lässig hielt Andruscha das Gemälde an seinem Holzrahmen hoch. »Wieviel ist das deiner Ansicht nach wert?«, flüsterte Burke Desdemona zu. Sie zuckte die Schultern. »Von Rubens kommt nicht viel auf den Markt. Ich würde sagen fünfzig Millionen, aber das ist nur gemutmaßt.« Burke schüttelte den Kopf. »Und das übermalen die so einfach!« Desdemona hob die Schultern. »Das muss sein. Oder es ist bald keine fünfzig Millionen mehr wert.« Andruscha schleppte das Gemälde an ihnen vorbei und sagte, »Kommen Sie mal mit.« Er klinkte eine Tür an einer Seitenwand des Ateliers auf und sie betraten einen kleinen Raum, kaum größer als ein Abstellschrank. Andruscha stellte das Gemälde auf eine andere Staffelei. Dann griff er hinter sich und schaltete das Neonlicht aus. Er betätigte einen weiteren Schalter, und der Raum war in mattes Schwarzlicht getaucht. »Unter diesem Licht können Sie sehen, wie oft das Gemälde restauriert worden ist«, erläuterte Andruscha. »Je älter die Farbe, desto schwächer erscheint sie unter Ultraviolett.«
Burke sah sich das Bild an. Unter dieser Beleuchtung war fast alle Farbe daraus verschwunden. Der Rubens sah aus, als habe ein Kind einen Pinsel tiefviolette Farbe genommen und sie auf der Leinwand verteilt. Sie war scheckig von Punkten und Strichen in verschiedenen Violettönen. Bei genauerem Hinsehen wurde Burke klar, jeder Punkt oder Strich bezeichnete eine Stelle, wo ein Restaurator Farbe auf Rubens’ Malerei aufgetragen hatte. Es gab kaum einen Quadratzentimeter, der nicht auf irgendeine Weise derart verunziert war. Burke war entsetzt. »Von dem Rubens ist ja fast nichts mehr da!«, rief er aus. Andruscha schaltete die Normalbeleuchtung wieder ein. Desdemona versuchte eine Antwort. »Nein«, sagte sie. »Wäre nie was restauriert worden, wäre das Bild jetzt nicht mehr, was Rubens gemalt hat. Es wäre ausgeblichen, rissig, zerbröselt. Ich glaube nicht, dass er das gewollt hätte. Er hätte sich bestimmt gewünscht, dass qualifizierte Restauratoren es so erhalten, wie er es vollendet hat.« Sie wandte sich zu Andruscha. »Und die Restauratoren der Eremitage gehören zu den besten der Welt.« Andruschas Pausbacken färbten sich rosa, und er deutete eine knappe Verbeugung an. Dann ging er zurück ins Hauptatelier und gab den Rubens der Frau zurück, die daran arbeitete. »Und jetzt«, sagte er wie zur Vorbereitung auf den Höhepunkt eines Theaterstücks, »wollen Sie mir bitte folgen.« Sie gingen ohne weiteren Aufenthalt stracks durch das übrige Atelier und gelangten zu einer Tür am anderen Ende. Andruscha zog wieder seinen großen Schlüsselring aus der hinteren Hosentasche und wählte einen langen, altertümlichen Schlüssel mit zylindrischem Hals und stark gezacktem Bart. Nachdem er aufgeschlossen hatte, klopfte er einmal. Ljuba machte auf. Sie befanden sich in einem kleineren Atelier mit nur einem Oberlicht, doch demselben Geruch nach Terpentin, Tempera und Leinölfirnis, der auch das große Atelier beherrscht hatte. Nadescha Petrowna saß in ihrem Rollstuhl in der Mitte des Raums vor zwei Staffeleien. Auf jeder stand eine identische Version des schönsten Gemäldes, das Burke je gesehen hatte. »Großer Gott«, sagte Desdemona.
Wer immer damals Leonardo Modell gestanden hatte, musste eine atemberaubend schöne junge Frau gewesen sein. Sie war schlank, und das in der Mitte gescheitelte, rötlichbraune Haar umrahmte, teils zu Schnecken geflochten, teils lose ihr Gesicht. Der Teint war rosig, die Nase schmal und keck und der Mund sinnlich. Der Künstler hatte ein bemerkenswertes Mienenspiel eingefangen. Die Augen waren gesenkt und halb von den Lidern verdeckt, verrieten jedoch zusammen mit dem angedeuteten Lächeln um den Mund untrennbar zugleich Unschuld und Wollust. Ihr Körper bot sich dem Betrachter in strahlender Nacktheit dar, die Brüste hoch und fest, der Bauch gerundet und fruchtbar. Den linken Arm hatte sie um den Schwan geschlungen, der sie wiederum mit der rechten Schwinge umfasst hielt. Mit der Linken koste sie den S-förmig aufgerichteten Schwanenhals. Auf dem Boden davor zwei Knäblein, offenbar Castor und Pollux. Das große Ei neben ihnen enthielt, wie Burke annahm, die noch nicht geschlüpften Töchter unter den mythologischen Vierlingen, Helena und Klytämnestra. Im Hintergrund eine liebliche Landschaft, vielleicht Griechenland, wahrscheinlicher aber die Toskana. Burkes Augen nahmen diese Einzelheiten auf, doch sein Gehirn konnte sie kaum registrieren. Er konnte sich einfach nicht vom Antlitz der Frau lösen. In jüngeren Jahren hat er diesen Ausdruck flüchtig bei verliebten Mädchen gesehen. Aber so festgehalten noch nie. »Sie haben die Kamera dabei?«, riss ihn Nadescha Petrowna aus seinen Gedanken. Jetzt verglich er beide Gemälde. Eines, wusste er genau, war fast fünfhundert Jahre alt, das andere vermutlich in den letzten Monaten entstanden. Er konnte keinerlei Unterschied erkennen. Er hatte gemeint, das echte Gemälde unterscheide sich durch den Prozess der Alterung. Doch von Haarrissen waren beide überzogen. Er ging um sie herum in dem Versuch, irgendwas zu entdecken. Doch sogar von hinten waren sie fast identisch. Jedes war auf eine Holztafel von altem, rötlichbraunem Holz gemalt, und auf der Rückseite jeder Tafel befanden sich ausgeblichene Buchstaben, sowohl lateinische als auch kyrillische. »Ich hatte gefragt, ob Sie die Kamera dabei haben«, wiederholte Nadescha Petrowna.
»Oh, Entschuldigung, ja«, bestätigte Burke. Bei Reportagen hatte er immer eine kleine Nikon dabei, in der Manteltasche. Er nahm sie heraus und stellte Belichtung und Abstand ein. Dann machte er mehrere Aufnahmen, eine nur mit beiden Gemälden nebeneinander, und eine mit Nadescha Petrowna dazwischen. Er legte einen neuen Film ein und wiederholte das Ganze. »Sie müssen mir sagen, welches das Original ist und welches die Fälschung«, sagte er, »damit sie in der Bildunterschrift richtig bezeichnet werden.« »Sie können’s nicht sagen, oder?«, sagte Nadescha Petrowna, und klang dabei selbstzufrieden. »Nein«, gab Burke zu. »Aber er ist kein Experte«, mischte sich Desdemona ein. »Wer das Geld und das Interesse für dieses Kunstwerk aufbringt, ist aber unbedingt selbst einer oder muss welche beauftragen. Und die prüfen wissenschaftlich. Ich verstehe nicht, wie Sie glauben können, mit so was durchzukommen.« »Sie unterschätzen meine Mutter«, versetzte Ljuba, offensichtlich pikiert. »Und Andruscha«, fügte sie hinzu. Desdemona achtete nicht auf das Geplänkel. »Also, die können zum Beispiel das Alter der Holztafel feststellen, mit der Radiokarbonmethode.« »Hoffentlich tun sie das«, sagte Andruscha. »Wir haben ein altes, fast wertloses italienisches Gemälde auf einer Holztafel aus der Zeit Leonardos genommen, die Farbe abgeschmirgelt und die Tafel für die Kopie benutzt. Wenn sie das untersuchen, stellen sie fest, dass es italienische Pyramidenpappel ist, genau wie bei Leonardo, und fünfhundert Jahre alt.« Burke war noch beeindruckter als Desdemona. »Na schön«, sagte sie. »Aber alle guten Fälscher verwenden alte Leinwand oder alte Holztafeln. Es gibt noch allerlei andere Tests.« »Und wir sind für alle gewappnet«, beharrte Andruscha. »Aber glauben Sie nicht…« Ljuba, die ins andere Zimmer gegangen war, kam zurück und unterbrach. »Bykow«, zischte sie. »Er hat sein Büro verlassen. Er kommt her.« Nadescha Petrowna sah auf die Uhr. »Wir haben drei Minuten«, sagte sie zu Andruscha.
Dann wandte sie sich an Burke. »Haben Sie genug Fotos für Ihre Zwecke?« Er war sich einigermaßen sicher. Er hatte die Belichtung variiert. Etwas Druckbares hatte er bestimmt. Er nickte. Desdemona fragte, »Woher wissen Sie, dass er heraufkommt?« »Wir haben da drüben einen Computerbildschirm«, sagte Andruscha hastig. »Er ist mit den Überwachungskameras vernetzt.« Andruscha trat zu den Gemälden und fixierte sie kurz. Dann ergriff er das linke und blickte fragend auf Nadescha Petrowna. Sie nickte. Beiläufig warf er ein altes Tuch darüber. »Folgen Sie mir«, forderte er Burke und Desdemona auf. Sie gingen im Gänsemarsch hinter ihm her. Er schritt durch das angrenzende Zimmer, wo sie den erwähnten Computermonitor stehen sahen. Der Schirm zeigte ein Schwarzweißbild des Flurs vor Bykows Büro, wie ihn Burke in Erinnerung hatte. Andruscha blieb kurz stehen, drückte ein paar Tasten, und das Bild sprang auf eine Seite Text. Sie traten hinaus in einen engeren, dunkleren Flur als den, der sie von der Galerie der Impressionisten hergeführt hatte. Burke hatte seinen Richtungssinn eingebüßt. Er hatte keine Ahnung, wohin es jetzt ging. »Das hier sind Vorratsräume für Materialien«, erklärte Andruscha und zeigte mit dem Kopf auf die geschlossenen Türen links und rechts. »Ehemalige Dienstbotenzimmer.« »Wie viele Räume gibt’s in dem Bau hier?«, erkundigte sich Burke. »Über tausend«, sagte Andruscha. Er blieb vor der letzten Tür stehen und wartete, bis ihn Burke eingeholt hatte. »Halten Sie mal«, sagte er und übergab Burke das Gemälde. »Vorsicht.« Es lag ihm unerwartet schwer in den Händen. Es war etwa einen Meter fünfzig hoch und neunzig Zentimeter breit, und das Holz der Tafel war fest und schwer, fast wie Eiche. Wie Andruscha bemühte er sich um einen festen Griff, ohne mit den Fingern auf die Malschicht zu geraten. Er überlegte kurz, wieviel Schaden er wohl anrichten würde, wenn er das Gemälde fallen ließ oder damit gegen einen Türrahmen rannte. Und einen kleinen Riss oder Kratzer verursachte. Vielleicht einen von fünfzehn Millionen Dollar. Andruscha hatte wieder einen Schlüssel herausgesucht und
schloss auf. Dann nahm er Burke das Gemälde wieder ab. Sie traten in einen kleinen vollgestellten Raum. Überall Regale mit einem Durcheinander von Farbtuben, aufgerollter Leinwand und Pinseln. Andruscha schleppte das Gemälde ans andere Ende des Zimmers und öffnete eine weitere Tür. Er knipste das Licht an. Burke und Desdemona folgten. Jetzt befanden sie sich auf einer schmalen, steilen Wendeltreppe, nicht mal einen Meter breit. Andruscha manövrierte vorsichtig das Gemälde an den Wänden entlang. »Die Geheimtreppe, auf der die Kammerzofe rasch ins Schlafgemach konnte«, erklärte Andruscha. Sie landeten in einer Art Zwischengeschoss unter dem Atelier, in einem weiteren menschenleeren Korridor. Dieser hier war breiter und hatte wie der vor dem Atelier einen roten Läufer und eine Überwachungskamera. Andruscha ging rasch zur dritten Tür zu seiner Linken und übergab Burke wieder das Bild. Er schloss auf. »Mein Labor«, sagte er. Der Raum stand voller Geräte – Mikroskope, Kolben, Farbdosen, einem Computer und Werkzeugen, die Burke nicht bestimmen konnte. In einer Ecke der Trockenofen, in dem die Fälschung vor ein paar Tagen rissig gebacken worden war. Andruscha betätigte einen Schalter am Computer und ein paar Tasten. Gleich darauf zeigte der Schirm ein Schwarzweißbild des Ateliers, das sie soeben verlassen hatten. Aus der Vogelperspektive sah man Nadescha Petrowna und Ljuba warten. Zugleich ging die Tür auf und Iwan Bykow trat ein. Burke sah zu, wie der Mann stracks zu dem falschen Bild ging. Er betrachtete es kurz, sagte etwas zu Nadescha Petrowna und wartete auf eine Antwort, die für sie leider unhörbar war. Bykow schien sein Gespräch beendet zu haben. Er entfernte sich auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Nadescha Petrowna und Ljuba blieben. Einen Augenblick später betraten zwei Monteure das Atelier, die ein Gerät von der Größe eines Couchtisches trugen, komplett mit Computermonitor und Kamera. »Eine Kamera für Infrarotreflektografie«, erklärte Andruscha gelassen. »Damit können Sie eine Art Röntgenbild des Gemäldes erstellen. Die Strahlen durchdringen bestimmte Farbschichten, aber zum Beispiel nicht die Holzkohle der Vorskizze.«
»Und was machen sie damit?«, fragte Burke. »Sie können die Vorskizze sehen und sie mit den Vorskizzen anderer Leonardos vergleichen«, erläuterte Desdemona. »Eine der wichtigsten Methoden, ein Gemälde zu untersuchen und Fälschungen aufzudecken.« »Aber sie werden genau das finden, was sie finden sollen«, sagte Andruscha. »Wir haben drei Leonardos, die Madonna Benois, die Madonna Litta und Leda mit dem Schwan. Wir haben alle Vorskizzen untersucht. Nadescha Petrowna ist Expertin für Leonardos Methode. Sie war im Stande, sie exakt nachzuahmen.« Er erläuterte, wie sie Leonardos Verfahren kopiert hatten, kleine Löcher in die Vorskizze zu machen, sie dann an der Holztafel zu befestigen und mit einem Säckchen Holzkohlenstaub abzuklopfen, um einen gepunkteten Umriss des Bildaufbaus zu erzielen. »Aber die prüfen doch sicher nicht nur das«, wandte Desdemona ein. »Das wissen wir«, sagte Andruscha. »Wir sind auf alles gefasst. Das Gemälde, das jetzt noch im Atelier ist, ist in praktisch jeder Hinsicht ein Leonardo. Bloß einer, der von Nadescha Petrowna ausgeführt worden ist.« »Aber Fälscher werden am Ende doch erwischt«, beharrte Desdemona. »Kein Fälscher hat je über solche Mittel verfügt wie wir«, entgegnete Andruscha. Desdemona wirkte nicht überzeugt. Sie nahm das Tuch von dem Gemälde und sah es sich sehr lange an. Auf dem Bildschirm schleppten die Arbeiter weitere Geräte in Nadescha Petrownas Atelier. Schließlich wandte sich Desdemona an Burke. »Weißt du, was mir an diesem Bild wirklich zu schaffen macht?« »Du magst die Haartracht nicht«, sagte Burke. »Nein«, antwortete sie. »Mich stört an diesem Bild, dass es eine Frau zeigt, die gerade vergewaltigt worden ist, und sieh dir bloß den Gesichtsausdruck an! Genau wie in allen Männerphantasien! Es hat ihr Spaß gemacht!« Burke wiegte in gespielter Trauer das Haupt. »Dieser Leonardo«, sagte er. »Was für ein unsensibler Macho.«
24 Charles Hamilton Merrill stand mit verschränkten Armen in einer Ecke von Nadescha Petrownas Atelier und pflegte seinen Zorn. Er war ein Mann, der äußerst empfindlich auf Symbole von Status und Prestige reagierte. Er hatte ein Elefantengedächtnis dafür, wo er bei Dinnerpartys platziert worden war. Er kannte sich in der Hackordnung der Oxbridge-Kollegen bestens aus und nutzte sie, um die Geschmacksrichtung seiner Kunden auszuloten. Er erwies allen angemessene Ehrerbietung, die seiner Meinung nach über ihm standen. Und von denen, die entsprechend unter ihm rangierten, erwartete er gebührend hofiert zu werden. Daher saß es im quer im Hals, dass Rafael Santera Calderon in München zwischengelandet war, um Gerhard Schlegel mitzunehmen. Nicht, dass er etwas gegen Santeras Entscheidung gehabt hätte, zur Begutachtung einen ausgewiesenen Fachmann beizuziehen. Das war zu erwarten, besonders wenn der Käufer vor der Entscheidung stand, vierhundert Millionen Dollar in ein Gemälde zu investieren, das derart verschlungene Wege hinter sich hatte. Deshalb hatte er sich darauf vorbereitet und einen seiner Freunde, den besten Fachberater in Großbritannien, einen Mann mit dreißig Jahren Erfahrung in der National Gallery, gebeten, sich reisefertig zu halten. Und da teilte Santera ihm mit, er habe bereits diesen Deutschen angeheuert. Merrill nahm sich vor, so wenig mit ihm zu reden wie möglich. Er würde sich nicht an einer Überprüfung beteiligen, die sich nur als Beleidigung seiner eigenen Fähigkeit und Glaubwürdigkeit begreifen ließ. Er verschränkte seine Arme noch enger vor der Brust und runzelte die Stirn. Übelnehmen war eine Kunst, in der er es schon lange zur höchsten Vollendung gebracht hatte. Schlegel war inzwischen mit einer Rasierklinge zugange. Sorgfältig schabte er einen dünnen Holzspan von der Rückseite der Holztafel. Er trug ihn zu einem Mikroskop, brachte ihn auf einen Objektträger und untersuchte ihn. Dann schlug er einen dicken Katalog auf, den er mit ins Atelier gebracht hatte, und verglich das mikroskopische Bild mehrfach mit Abbildungen von Maserung und
Körnung verschiedener Holzarten. Dieser Schritt, vermutete Merrill, war lediglich eine Vorführung für Santera, dem Schlegel so zeigen wollte, dass er ganz akribisch vorging. Jeder Fachmann wusste, wie die üblichen Holzarten unter dem Mikroskop aussahen. »Italienische Pyramidenpappel«, meldete Schlegel Santera. »Könnte durchaus aus dem selben Wäldchen stammen wie die Tafel für die Madonna mit Kind in der Alten Pinakothek. Möchten Sie mal sehen?« Santera stand vor dem Bild wie von einer Vision gebannt. Offensichtlich, dachte Merrill, hatte das Bild ihn gepackt. Verzaubert war vielleicht das bessere Wort. Bykows Flittchen von Nichte, nach außen hin Dolmetscherin, stand ganz nahe, sie war nicht von Santeras Seite gewichen, seit er das Flugzeug verlassen hatte. Merrill hätte seiner Abneigung gegen Marina ausgiebiger frönen können, hätte ihn ihr Onkel, dieser sogenannte »Sicherheitschef«, nicht noch viel mehr abgestoßen. Merrill verstand schon, weshalb Tschawtschawadse und seine Freunde im Kulturministerium Bykow hatten einsetzen müssen, damit er alles überwachte, bis dieses Bild das Land verließ. Aber er fand den Kerl widerwärtig. So was ausgerechnet in der Eremitage! Erstens roch er. Und dann sah er auch noch wie ein Gorilla aus. Das eine Prozent Provision, das er bei diesem Verkauf bekam, entschied Merrill, war keine angemessene Entschädigung dafür, solchen Gestalten die Hand geben zu müssen. Es waren zu viele Leute im Raum und es wurde stickig. Zwei von Santeras kolumbianischen Leibwächtern lungerten in einer Ecke. Merrill rümpfte die Nase. In dem Zeug, das sie da in Kolumbien fraßen, musste viel Knoblauch sein. Santera trat fast zögernd von dem Bild zurück und an den Tisch, wo Schlegel das Mikroskop aufgebaut hatte. Er blickte hinein und sah etwas wie gestreckte, durchscheinende Spaghetti. »Ach ja, verstehe«, sagte Santera. Schlegel nahm den Objektträger aus dem Mikroskop und legte den winzigen Holzspan in einen Metallbehälter von der Größe eines Kaviarglases. Er schob das Döschen oben in einen grauen Metallapparat, der einem Aktenschrank ohne Griffe ähnelte, verband das Gerät durch einen Stecker mit seinem Computer und betätigte einen Schalter. »Dieses Gerät misst, wieviel C14 die Probe enthält, dadurch
erfahren wir, wie alt das Holz ist«, sagte Schlegel zu Santera. »Wie funktioniert das?« »Lebende Organismen bilden ein Kohlenstoffisotop, das als C14 bezeichnet wird«, erläuterte Schlegel. »Wenn sie sterben, hört das auf. Es fängt dann an, zu zerfallen und sich in einem stetigen, vorhersagbaren Tempo in Stickstoff zu verwandeln. Wenn man feststellt, wieviel vom ursprünglichen C 14 noch in einer Probe steckt, kann man sagen, wie alt sie ist. Bis auf fünfzig Jahre genau.« Der Deutsche begann Daten und Parameter in den Computer einzugeben. Santera wandte sich an Nadescha Petrowna. »Wie ich höre, mussten Sie eine kleine Reparatur an der Holztafel vornehmen«, sagte er. Marina begann sofort, die Worte ins Russische zu übersetzen. Merrill beobachtete dabei Nadescha Petrownas Gesicht. Er vermutete, dass die alte Dame genug Englisch verstand, um ohne Dolmetscherin auszukommen. Er fragte sich, warum sie wohl wartete, bis Marina fertig war. Nadescha Petrowna nickte, als Marina ihre Übersetzung beendet hatte. Sie antwortete mit mehreren Sätzen auf Russisch. »Sie sagt ja, das hat sie gemacht«, sagte Marina. Santera hakte nach, obwohl die Angaben über den Riss in der Holztafel schon in seinem Erstgutachten von Merrill gestanden hatten. »Was war beschädigt?« Marina dolmetschte. Nadescha Petrowna antwortete. Marina stockte, war verwirrt. »Ein äh…« »Riss«, half Merrill aus. Marina errötete leicht. »Ja, genau. Ein Riss von etwa drei Millimetern Breite. In unterer Ecke von Bild, rechts. Wir haben von hinten die…« Sie wandte sich wieder an Merrill, offenbar der Meinung, er spreche russisch. »Holztafel«, schlug er vor. »Holztafel geklebt«, nickte sie, »und Farbe auf anderer Seite ausgebessert.« Merrill konnte ein erneutes Schnauben gerade noch unterdrücken. Santera bekam mehr Aufschluss, wenn er mit den Wänden sprach, als durch diese unfähige Kuh.
Schlegel war an seinem Computer fertig und wandte sich zu Santera. »Der Baum für diese Tafel wurde zwischen 1470 und 1530 gefällt«, erklärte er. Santera strahlte. »Genau!« Merrill stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Er wusste, dass die Daten stimmen mussten. Doch die frohe Erwartung in Santeras Miene zerstreute seine letzte Befürchtung, der Kolumbianer könnte nach Besichtigung des Gemäldes abspringen. Er war eindeutig scharf darauf. Schlegel gab den zwei Leibwächtern einen Wink, und zusammen schoben sie eine Kamera auf einer Art Stativ bis auf sechzig Zentimeter vor das Gemälde. Schlegel hantierte eine Weile mit Steckern, indem er die Kamera mit dem Computer verband und die Verwendung zum Radiokarbongerät unterbrach. Dann wandte er sich an Santera. »Das hier ist eine Kamera für Infrarot«, sagte er. »Sie zeigt uns die Vorskizze.« Er betätigte ein paar Schalter, und das Gerät begann leise zu summen. Auf dem Bildschirmgerät zeigte sich etwas, und er winkte Santera zu sich her. Das Bild auf dem Monitor hatte unbestimmte Ähnlichkeit mit einer Röntgenaufnahme, außer dass es kein Schwarzweißnegativ war. Es war unbestimmt und schemenhaft, zeigte aber ganz eindeutig die Konturen der Gestalten auf dem Gemälde. »Sehen Sie, das Infrarotlicht durchdringt die Pigmentschichten des Gemäldes und wird von der weißen Kreidegrundierung zuhinterst reflektiert«, erläuterte Schlegel dem Kolumbianer. »Nur nicht von Substanzen, die Kohle enthalten, die die Infrarotwellen schluckt. Der Computer verarbeitet, was das Gemälde reflektiert, und liefert uns dieses Bild. Alles, was schwarze Kohle enthält, etwa eine Vorskizze mit Graphit oder einem Holzkohlenstift, erscheint auf dem Bildschirm.« Er verschob die Kamera auf einer Stange am Stativ, und das Bild blinkte und veränderte sich. »Sehen Sie die Pünktchen?«, fragte Schlegel, und zum ersten Mal konnte Merrill leichte Erregung aus seiner Stimme heraushören. Santera beugte sich vor und sah auf den Bildschirm. »Ja, ja, ich sehe sie«, bestätigte er, aber sein Tonfall war zweifelnd. »Ähnliche Punkte sehen Sie, wenn Sie sich eine Infrarot-
Reflektografie eines Leonardo ansehen«, erklärte Schlegel. »So hat er gearbeitet.« Er erläuterte Leonardos Methode, eine Skizze auf der mit Kreide grundierten Holztafel zu befestigen und die Skizze mit einem Beutel Holzkohlestaub abzuklopfen, bis die Konturen auf den Kreidegrund übertragen waren. »Ist das ein Echtheitsnachweis?«, fragte Santera. Schlegel schüttelte den Kopf. »Es bedeutet nur, dass es echt sein kann«, sagte er. »Um es genauer zu prüfen, brauche ich eine Farbprobe.« Er nahm wieder die Rasierklinge und ging auf das Gemälde zu. Er verharrte kurz schweigend und versuchte die Stelle zu wählen, wo sich ein winziges Muster der Farbschicht am leichtesten restaurieren ließ. Nadescha Petrowna, die von der Seite wachsam zugesehen hatte, rollte sich näher an die Staffelei. Als Schlegel die Hand ausstreckte, schoss ihre vor und packte ihn am Handgelenk. Erschrocken fuhr er zurück. »Njet!« schrie sie heiser. Auf Merrill, den die plötzliche Bewegung überrascht hatte, wirkte sie zornentbrannt, ängstlich, oder beides zugleich. Er konnte es nicht sagen. Schlegel erstarrte, wo er stand, und blickte sich dann verwirrt um, schockiert, dass diese gebrechliche, stille Frau sich so rasch bewegen konnte. Mit wachsendem Zorn in der Stimme schoss Nadescha Petrowna ein paar knappe russische Sätze auf Santera ab. »Sie sagt, sie haben Bild nicht gekaufen und können kein Farbmuster nehmen«, dolmetschte Marina. Sie überlegte kurz. »Sie sagt, Muster kann nur genommen werden, nachdem Bild gekaufen.« Schlegel wandte sich an Santera. »Sie hatten versichert, das sei unproblematisch.« Santera Calderon wandte sich an Bykow, dann an Marina. »Sag ihm, ohne Muster kein Geschäft«, sagte er. Marina dolmetschte. Bykow sah die alte Dame drohend an. Dann sagte er etwas auf Russisch zu ihr. Sie unterbrach ihn, offenbar bevor er ausgeredet hatte. Der Streit eskalierte schnell, bis Bykow unmittelbar über der Frau im Rollstuhl stand und beide einander anschrien. Merrill konnte nur
ahnen, um was es ging. Aber er verstand ganz genau, als Bykow den Rollstuhl nahm, ihn herumwirbelte und ihn grob von Gemälde wegstieß. Die alte Dame raste auf eine Werkbank zu. Im letzten Augenblick schaffte sie es, den Arm auszustrecken und sich an der Kante abzufangen. Sonst wäre sie voll dagegen geprallt. Merrill erschauerte, musste schlucken, und betrachtete ostentativ einen Rubens, der in einer entfernten Ecke des Ateliers restauriert wurde. Ein mittelmäßiges Werk, dachte er. Aber der Anblick war viel angenehmer, als darüber nachzudenken, mit was für Leuten er sich eingelassen hatte, und auf welchen Handel. Nadescha Petrowna blieb kurz sitzen, den Rücken zu den anderen im Raum und ihre Schultern bebten. Merrill dachte, sie weine vielleicht. Er überlegte, ob er zu ihr hingehen und fragen sollte, ob alles in Ordnung sei, aber dann drehte sie den Rollstuhl herum. Ihre Miene war gefasst, das Gesicht völlig ausdruckslos. Sie sah aus wie jemand, der seine Gefühle eisern unter Kontrolle hat. Sie sagte nichts mehr. Ljuba trat rasch zu ihrer Mutter, fasste sie an der Hand und starrte die Männer im Raum an, blanken Hass im Blick. Bykow sah zu ihnen hinüber und dann zu Boden. Er bedeutete Schlegel weiterzumachen, und der Deutsche griff wieder nach seiner Rasierklinge. Vorsichtig schabte er ein paar Schüppchen Farbe vom Schnabel des Schwans, und dann weitere von den Körbchen der Alandblüten um Castors Beine.
25 Andruscha Karpow starrte schweigend auf das Überwachungsbild auf seinem Monitor. Dann wandte er sich an Burke und Desdemona. »Er bereitet die Farbschüppchen von dem Bild zu Proben auf«, sagte er. »Wie lange dauert das?«, fragte Burke. Andruscha verzog das Gesicht. »Weiß ich nicht genau. Wenn ich Farbproben überprüfen will, gieße ich sie in Kunstharz ein. Es dauert acht oder zehn Stunden, bis der so fest ist, dass ich Feinschnitte davon machen kann. Aber ich hab gehört, dass sie im Westen ein neues Plastikmaterial haben, das viel schneller aushärtet.« Desdemona deutete auf den Bildschirm. »Da. Die meisten gehen jetzt.« Auf dem Bildschirm konnte Burke sehen, wie Santera, seine Leibwächter, Bykow und Merrill die Mäntel anzogen und sich zum Gehen anschickten. Nur Nadescha Petrowna und Schlegel blieben. Er sah auf die Armbanduhr. Es war sieben Uhr abends. Die Eremitage war offiziell schon seit zwei Stunden geschlossen. Desdemona fragte: »Gehen Sie für heute, oder nur zum Abendessen?« »Ich wette, bloß zum Abendessen«, sagte Burke. »Ich vermute, sie machen durch, bis das Geschäft unter Dach und Fach ist.« »Ich kann es rausfinden«, bot Andruscha an. »Sofern dieser Experte kein Russisch spricht.« Andruscha verließ sein Labor, und sie hörten seine Schlüssel gegen seine breite Hüfte schlagen, als er sich durch den Lagerraum wand, der zum Flur und zurück ins Atelier führte. Kurz darauf erblickten Burke und Desdemona ihn auf dem Computermonitor, wie er ins Atelier trat, Schlegel die Hand gab und sich kurz mit Nadescha Petrowna unterhielt. Er war bald wieder zurück. »Sie sind für drei Stunden weg, zum Abendessen«, berichtete Andruscha. »Etwa um zehn kommen sie wieder. Der Experte ist Deutscher, aus der Alten Pinakothek in München. Bis dahin sind seine Proben prüfbereit. « »Ist Bykow auch mit zum Abendessen?«, fragte Burke. »Soweit ich weiß.« »Mit Ihrem Schlüsselbund da«, sagte Burke. »Können Sie da jede
Tür im Gebäude aufschließen?« Andruscha wurde sofort misstrauisch. »Warum wollen Sie das wissen?« »Ich sammle alle möglichen Einzelheiten«, erklärte Burke. »Wie sind Sie an die Schlüssel gekommen?« Andruscha zögerte, ob er ein weiteres Geheimnis aufdecken sollte. Dann sagte er: »Die haben Nadescha Petrownas Vater gehört. Im Krieg und während der Belagerung von Leningrad wurden alle Gemälde und die kleinen Gegenstände fortgebracht, hinter den Ural. Aber vieles musste da bleiben – Kutschen, Rüstungen. Und der Winterpalast selbst musste geschützt werden. Die Funktionäre waren natürlich alle mit den Gemälden nach Swerdlowsk geflohen. Aber ein Teil des Personals ist geblieben. Sie haben im Keller gehaust und sind fast verhungert. Nachts sind sie mit Eimern aufs Dach gestiegen und haben die Brände von deutschen Granateinschlägen gelöscht. Und Nadescha Petrownas Vater war der Direktor.« »Und nach dem Krieg hat er die Schlüssel behalten?« Andruscha nickte. »Als er starb, hat Nadescha Petrowna sie bekommen. Und sie hat sie mir gegeben.« Desdemona mischte sich ein. »Moment mal. Sie meinen, die haben seit 1944 keine Schlösser ausgewechselt?« Der rechte Mundwinkel Andruschas hob sich zu einem halben Lächeln. »Für Sie wahrscheinlich schwer zu verstehen. Aber Schlösser durfte nur der KGB ändern, und der hatte keinen Grund. Seit 1991 gibt’s bei uns natürlich keinen KGB mehr. Aber auch kein Geld für moderne Sicherheitsschlösser.« »Also haben Sie Zugang zum ganzen Gebäude?«, fragte Burke. »Auch zu Bykows Büro?« »Auch«, bestätigte Andruscha. »Bitte nicht«, sagte Desdemona. »Colin, da runter kannst du nicht. Das ist zu gefährlich.« Sie wandte sich an Andruscha. »Laufen hier keine Wachleute herum? Gibt’s keine Nachtwächter? Alarmanlagen?« »Doch«, sagte Andruscha. »In den Galerien. An den Gebäudeeingängen.« »Aber nicht im Verwaltungstrakt«, stellte Burke fest. Andruscha schüttelte den Kopf. »Und Sie können mich da runterbringen, ohne durch die Galerien
oder an den Eingängen vorbei zu müssen, nicht wahr?« »Könnte ich«, sagte Andruscha. »Lassen Sie das«, mischte sich Desdemona ein. »Das ist zu riskant. Und nicht notwendig.« Andruscha blickte zweifelnd. »Ich glaube, Sie hat recht«, sagte er zu Burke. »Andruscha«, begann Burke zu argumentieren, »ich muss mich in diesem Büro umsehen. Wenn ich dort finde, was ich suche, könnte ich einen Artikel schreiben, auf den hin die Polizei aktiv werden muss. Er würde Bykow hindern, noch anderen was anzutun. Er könnte ihn abhalten, gegen Ljuba und Nadescha Petrowna vorzugehen und könnte zu seiner Verhaftung führen. Oder wollen Sie, dass er das alles hier weiter unter seiner Fuchtel hat?« Er hatte den richtigen Knopf gedrückt. »In Ordnung«, sagte Andruscha. »Ich führe Sie hin.« »Den Teufel werden Sie tun!« Desdemona war wütend. Sie wandte sich an Burke. »Und was glaubst du, was du dort findest?« »Ich weiß nicht so recht«, sagte Burke und stand auf. »Flugscheine. Einen Pass mit Visum. Etwas von der Art.« »Und was soll das bringen?« Er dachte an den Artikel, den er schreiben würde. »Eine Lücke füllen«, erklärte er. »Eine Lücke«, schnaubte sie. »Wir sitzen hier auf einem Gemälde für vierhundert Millionen Dollar, die russische Regierung wankt, und er redet davon, Lücken zu füllen.« »Deswegen bin ich hergekommen«, beharrte Burke. »Mach das nicht, Colin«, sagte sie. »Du bekommst einen Enthüllungsartikel, wenn du’s klug angehst. Sei klug.« »Wenn ich klug wäre«, sagte Burke, »hätte ich Medizin studiert.« Er ging mit Andruscha zur Tür. »Scheiße«, sagte Desdemona. »Da komm ich lieber mit.« Er fragte sich kurz, ob sie mitkam, weil ihr etwas an ihm lag oder weil sie Schadensbegrenzung betreiben wollte. Eine naive Frage, entschied er dann. Sie traten in den verdunkelten Flur hinaus und gingen in die entgegengesetzte Richtung von Nadescha Petrownas Atelier. Burke hatte keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden. So leise sie konnten, bewegten sie sich weiter, im Gänsemarsch hinter Andruschas gemächlichem Watschelgang. Die Flure waren dunkel,
manchmal völlig finster. In anderen brannte eine einzelne Glühbirne. Nach etwa fünf Minuten gelangten sie an eine Tür. Vorsichtig schloss Andruscha auf und schob sie einen Spalt auf. »Das ist die Teatralnajatreppe«, flüsterte er. »Sie führt zum Verwaltungstrakt.« Die Stufen waren ebenfalls aus Marmor, doch unter der trüben Beleuchtung schienen sie aus einem einfacheren, graueren Material als die leuchtend weiße Jordantreppe. Vorsichtig schlichen sie die Stufen hinunter. Endlos lange, wie es Burke vorkam. Dann vernahmen sie Schritte. Sie kamen aus der Galerie zur Linken des Treppenhauses. Absätze klappten auf dem Parkettboden und kamen näher. »Schnell«, zischte Desdemona. »Unter die Treppe!« Sie fasste das Marmorgeländer und schwang sich leicht und elegant hinunter, unter Verzicht auf die letzten sechs Treppenstufen. Burke tat es ihr nach. Er landete mit einem hörbaren Plumps. Andruscha versuchte die Flanke erst gar nicht. Rasch und ungeschickt wollte er sich vom Geländer herablassen, verfing sich aber mit dem Fuß zwischen zwei Geländersäulchen. Eine kleine Ewigkeit blieb er dort hängen, ein Bein immer noch auf dem Geländer, hektisch zappelnd. Die Schritte kamen näher, und Burke sah den schwachen Schein einer Taschenlampe in der Ritze unter der Doppeltür zwischen Galerie und Treppenhaus. Dann hörte man einen Schlüssel sich im Schloss drehen. Er langte hinauf, packte Andruscha um die Hüfte und riss ihn nach hinten. Der schwere Körper von Andruscha fiel Burke voll in die Arme, bis auf den rechten Fuß, der immer noch im Geländer klemmte. Burke schnaufte und merkte, wie seine Knie nachgaben. Er hielt den Atem an und versuchte sich zu ducken und Andruscha mit unter den Rand der Treppe zu ziehen. Dabei musste er sich mit der rechten Hand auf dem Boden abstützen, und seine Schulter begann wieder zu brennen. Die Tür ging auf, und der Strahl der Taschenlampe stach in den Treppenbereich. Er schwenkte die gegenüberliegenden Wand das Treppenhaus hoch und zuckte dabei kurz über das Geländer. Burkes Oberschenkel fingen an sich zu verkrampfen, während er
das Gewicht zu halten suchte. Die Tür konnte er nicht sehen, weil sein Kopf in Andruschas strammer Kehrseite vergraben war. Er roch einen Hauch von Angstschweiß. Der Strahl der Taschenlampe verschwand. Die Tür ging zu. Gleich darauf drehte der Schlüssel sich wieder im Schloss, und die Schritte entfernten sich. »Himmel, zieh seinen Fuß da raus«, keuchte Burke, das Gesicht zu Desdemona gewandt. Sie sprang auf und nestelte stumm Andruschas Schnürsenkel auf. Dann half sie ihm, den Fuß herausziehen. Andruscha rutschte nach hinten und stürzte mit dem ganzen Gewicht auf Burke. Burke fiel um. Mit dem Hinterkopf knallte er auf den Marmor und verlor das Bewusstsein. Gleich darauf kam er wieder zu sich. Er sah Desdemona über sich gebeugt. Mit kühler Hand tastete sie seinen Hals ab. Er blinzelte. Dann wurde ihm klar, sie suchte den Puls. »Ich bin in Ordnung«, sagte er. Seine Worte klangen für ihn, als spreche er unter Wasser. »Ich hätte nie gedacht, dass Schlossgespenst spielen solchen Spaß macht.« Desdemona lachte leise. »Burke«, sagte sie und tätschelte ihm dabei die Wange. »Wenn ich nicht aufpasse, kann ich dich am Ende noch leiden.« Sie fasste ihn an den Händen und half ihm auf die Beine. Zusammen hoben sie Andruscha auf, der nach rechts von Burke abgerollt war. Burke lehnte sich kurz gegen das Treppengeländer, bis er sicher war, dass er das Gleichgewicht wieder erlangt hatte. Dann zog Andruscha einen Schlüssel heraus und schloss die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenabsatzes auf. Schemenhafte Beleuchtung durch ein paar schmutzige Fenster, die auf einen Innenhof hinausgingen. Doch Burke konnte die Umrisse der Lampen ausmachen, an denen er diesen Korridor als denjenigen erkannte, in dem er vor drei Tagen gewesen war. Sie blieben vor einer Tür gegenüber der Direktorsuite stehen. Andruscha suchte einen weiteren Schlüssel heraus. Vom Flur darüber hörten sie Schritte. Burkes Nackenhaare sträubten sich. Die Tür ergab sich dem dritten Schlüssel, den Andruscha probierte, und sie waren drin. Der Raum war etwa zwei Drittel so groß wie Wassiljews Büro. Burke zog das Rollo herunter und
knipste das Licht an. Der Schreibtisch war die sowjetische Standardausrüstung, aus irgendeinem unpolierten hellen Holz. Er erinnerte Burke an die Pulte seiner Lehrer in der Grundschule. Auf dem Schreibtisch drei Telefone, ein Kalender und eins der lokalen Schmutzblättchen. In der Ecke stand ein Aktenschrank. »Okay, sieh dich schnell um«, sagte Desdemona. »Wir sollten unser Glück nicht überstrapazieren.« Burke probierte die Schreibtischschubladen. Sie waren verschlossen. »Einen Schlüssel dafür haben Sie nicht zufällig?«, fragte er Andruscha. Andruscha schüttelte den Kopf. Desdemona zog etwas wie ein kleines Taschenmesser raus. Sie fuhr damit zwischen die Oberkante und die Schreibtischplatte, fummelte ein bisschen und zog dann die Schublade auf. Burke hob erstaunt die Augenbrauen. »Übung macht die Meisterin«, sagte sie. Burke ging den Schubladeninhalt langsam durch. Alle Papiere schienen aus der Zeit vor Bykows Einstellung in der Eremitage zu stammen. Schichtpläne für Wächter, die bis 1993 zurückgingen. Papierfetzen mit Buchstabenkürzeln und Telefonnummern darauf. Quittungen in russisch für irgendwelche Lieferungen. Nichts davon sagte Burke was. Desdemona durchsuchte inzwischen hastig die Aktenschränke. »Nichts«, sagte sie und schob die letzte Schublade zu. »Bloß Museumsakten. Sieh selber nach, wenn du willst, aber rasch. Wir müssen hier raus.« Burke schüttelte den Kopf. Er fühlte sich seltsam erleichtert. Er hatte alles Menschenmögliche unternommen, um Belege für seinen Verdacht zu finden, um einen Täter dingfest zu machen, dem er die Schuld an Jennifer Morellis Tod geben konnte. Vergeblich. Aber versucht hatte er es. Nun konnte er vielleicht die Frage verdrängen, die ihm im Hinterkopf gespukt hatte, als sie die Teatralnajatreppe hinabgestiegen waren: Was tun, wenn er den Beweis fand? Er schob die Schreibtischschublade zu und richtete sich auf zum Gehen. Desdemona schloss sich ihm an, blieb aber plötzlich stehen. Er sah zu ihr hin und merkte, dass sie in eine Ecke starrte. Er folgte ihrem Blick bis zu dem Kleiderständer links der Tür. Es hing nichts weiter drauf, nur eine fabrikneue rotbraune
Fanmütze mit dem Indianerkopf der Washington Redskins.
26 Iwan Bykow schüttelte sich. Dieses Gefühl froher Erwartung und Gefahr hatte er schon lange nicht mehr gehabt, nicht mehr, seit er angefangen hatte, als Kampfringer Ikonen aus dem Land zu schmuggeln, in der grauen Vorzeit, wo es noch eine Partei und einen KGB gegeben hatte und man sich noch nicht mit einem Schmiergeld aus der Affäre hatte ziehen können, wenn man erwischt worden war. Vor jener Zeit war er nur beim Warten auf seinen Wettkampf etwa bei den Olympischen Spielen ähnlich aufgeregt gewesen, wenn er im hautengen roten Trägertrikot, die Muskeln schon aufgewärmt und nach frischem Körperschweiß riechend, darauf gebrannt hatte, endlich loslegen zu dürfen. So war es ihm immer gegangen vor seinen Spitzenleistungen, das sichere Omen, dass er nicht nur gewinnen, sondern seinen Gegner ausheben und fertigmachen, mit gebrochenem Willen in den Schwitzkasten nehmen und auf den Rücken werfen würde wie einen hilflos rudernden Kakerlak. Er genoss das Gefühl. Zum ersten Mal in drei Tagen hatte er keine Kopfschmerzen mehr. Dann wandte er sich zu Marina, die auf einem kleinen Diwan neben ihm saß, und seine Hochstimmung verflog. Sie war versunken in die Betrachtung ihrer rot lackierten Fingernägel. Er fragte sich kurz, ob sie je anders aussehen würde, selbst wenn er ihr die Schminke aus dem Gesicht schrubbte und sie in unauffällige Putzfrauenkluft steckte. Er hatte da seine Zweifel. Das Mädchen war schon genetisch eine Nutte. Ihr Vater, wer immer das war, war bestimmt ein Zuhälter gewesen. »Geh rauf in Santeras Suite und erinnere ihn, dass es Zeit ist«, knurrte er sie an. Sie musterte ihn in stummer Verachtung und blieb sitzen. Am liebsten hätte er sie an den Haaren gerissen und ihr in die hochmütige Fresse geschlagen, bis sie flennend die Treppe raufrannte und tat wie befohlen. Aber in einer Hotelhalle ging das nicht. Er senkte die Stimme, versuchte aber, sie so bedrohlich klingen zu lassen, dass sie aufstehen würde. »Geh rauf und sag Don Rafael und den anderen, dass wir sie zum Abendessen abholen«, knurrte er nochmals.
»Nein«, bockte sie. Bykow spürte, wie ihm die rote Wut die Luft abschnürte. »Tu, was ich sage«, fauchte er. Träge erhob sie sich. »Ich mach’s mit dem Haustelefon«, erklärte sie. Er trat auf sie zu und blieb vor ihr stehen. »Mit dem Haustelefon?« »Onkelchen«, lachte sie ihn aus, tätschelte ihm die Wange. »Jedes gute Hotel hat so was. Damit man von Zimmer zu Zimmer telefonieren kann.« Seine Herzkranzgefäße schienen sich zu verkrampfen, und vor Wut und Scham wurde ihm kurz schwindlig. »Du musst es ja wissen!«, zischte er. Marina war so klug, ihn nicht weiter zu provozieren. Sie stöckelte hüftwackelnd quer durch die Hotelhalle und nahm den Hörer ab. Während die kleine Wagenkolonne durch die Straßen von St. Petersburg rollte, war Bykow bemüht, sich nicht ertappen zu lassen, wie er den Aktenkoffer auf Santeras Schoß anstarrte. Er war schlicht und schwarz, mit Kombinationsschlössern aus Messing. Jeder der schwedischen und finnischen Mittelschichtler, die auf der Suche nach einträglichen Geschäften in Russland einfielen, hätte so ein Ding mit sich führen können. Aber ihm war aufgefallen, dass einer von Santeras Leibwächtern, den sie Miguel nannten, keinen Schritt von dem Aktenkoffer wich. Miguel hatte ihn sogar in die Hotelhalle hinuntergetragen und dann hinaus zum Wagen, bevor er ihn seinem Boss auf den Schoß legte und sich daneben setzte. Bykow hatte mit dem Klappsitz Vorlieb nehmen müssen. Der Aktenkoffer, dachte Bykow, enthielt vermutlich die zwei Millionen Dollar, die er als seinen Anteil gefordert hatte, unbedingt in bar. Alle anderen würden mit Computerüberweisungen auf Bankkonten in Wien und Zürich bedient werden. Er aber wollte Bares. Er wollte das Geld fühlen, anfassen können. Und er wollte eigentlich mehr. Je öfter er darüber nachdachte, desto unzufriedener war er mit seinem Anteil. Irgendwelche verdammten Tschinowniki, Sesselfurzer der Moskauer Bürokratie, würden mehr kriegen als er, bloß weil sie ein Auge zudrückten. Und er war doch derjenige, der dafür sorgen musste, dass die Sache
überhaupt zustandekam. Er trug das gesamte Risiko. Ihm stand mehr zu. Schlagartig flackerte die Migräne wieder auf, und er knetete sich mit den Wurstfingern die Augen. Marina machte auf der Rückbank gegenüber eine Bewegung und spreizte dabei die Beine. Sie saß zwischen Santera und Miguel, und der Rock war ihr bereits halb hochgerutscht. Er konnte die weißglänzende Haut ihrer Schenkel über dem Strumpfband sehen. In ein paar Jahren, dachte er, würde sie so fett werden wie seine Schwester. Sein einziger erhebender Gedanke in der vergangenen Viertelstunde, und er hätte deswegen beinahe gelächelt. Mit etwa hundert Sachen fuhren sie auf der Liteinybrücke über die Newa und dann nach rechts. Bykow spähte durch das Rückfenster, um sich zu vergewissern, dass die nachfolgenden Fahrzeuge richtig einbogen. Es waren zwei: Ein Mercedes, der auf Miguels Drängen von einem der Kolumbianer gefahren wurde und Santeras Auto nach hinten sicherte, und ein Volvo, in dem der Kunsthändler Merrill saß, zusammen mit weiteren Kolumbianern. Sie kamen jetzt in ein Viertel von St. Petersburg, in dem sogar Bykow in seiner Jugend ungern nachts allein unterwegs gewesen wäre. Ein Stadtteil mit fünfstöckigen Wohngebäuden, Mietshäusern aus der Zeit vor der Revolution, die in Gemeinschaftswohnungen unterteilt waren, wobei sich fünf Familien Küche und Bad teilten. Dazwischen rußige Backsteinwände kleiner Fabriken, viele leer und auf Abbruch, weil das Verteidigungsministerium aufgehört hatte, Jahr für Jahr Abermillionen für Schraubenbolzen, Zahnräder, Achsen und Panzerkettenglieder hineinzupumpen. Bykow beobachtete, wie Santera die vorbeiziehende Kulisse in sich aufnahm. Wenn sie ihn erstaunte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Der Fahrer verlangsamte, als sie das Portal einer der alten Fabriken erreichten. Irgendeiner drinnen legte einen Schalter um, und das Portal schwang auf. Vor einem Jahr hatte Bykow zugesehen, wie die Anlage montiert wurde. Er kannte den Umfang des Betonfundaments und der Stahlarmierung. Hätte der Fahrer mit dieser schweren Limousine oder sogar mit einem Lastwagen voller Dynamit den gewaltsamen Durchbruch versucht, wäre er nur davorgeknallt wie eine Fliege vor die Windschutzscheibe. Dieses Tor widerstand sogar einem Panzer.
Auf einem neuen Schild über dem Tor stand ALLRUSSISCHER GEWERBEPARK. Ansonsten sah der Ort aus, als sei seit Stalins Zeiten nichts Neues dazugekommen. Die Staatskarosse bremste und hielt im Hof vor dem Verwaltungsgebäude. Bykow spähte zum Fenster hinaus. Zu seiner Überraschung stand Tschawtschawadse vor der Tür. Normalerweise erwartete er die Gäste drinnen. Er genoss es, ihr Mienenspiel zu beobachten, wenn sie in die Welt traten, die er innerhalb der bröckelnden Ziegelmauern geschaffen hatte. Tschawtschawadse, barhaupt in der eisigen Nachtluft, trat vor und riss den Schlag auf. Bykow krabbelte hinaus und wartete, bis Marina und die beiden Kolumbianer ausgestiegen waren. »Willkommen in St. Petersburg und in meinem kleinen Unternehmen«, sagte Tschawtschawadse zu Santera. Sie schüttelten sich die Hand, aber nur knapp. Der Kolumbianer wollte offenbar so schnell wie möglich ins Warme. Drinnen waren die Überraschungen nach dem ersten, hoch willkommenen Warmluftstoß visueller Art. Tschawtschawadse hatte beschlossen, sein Hauptquartier in Stil und Stimmung wie eine diskrete Züricher Anwaltskanzlei auszugestalten, in der er einmal gewesen war. Und nach einem Jahr Bauzeit hatte er das mit Hilfe eines sündhaft teuren Schweizer Generalunternehmers auch geschafft. Die Wände waren in einem dunkelglänzenden Holz getäfelt, das die Baufirma in einem alten Wiener Bankgebäude aufgetrieben hatte. Die Ledersessel mit ihren Faltenknopfpolstern waren englischen Originalen des neunzehnten Jahrhunderts nachempfunden. Die Beleuchtung kam aus Wandnischen. Der Teppichboden war weich, kastanienbraun und unaufdringlich. Blickfang des Empfangsbereichs war ein gigantischer Marmorkamin, in dem die Flammen aus einem Halbdutzend Birkenscheite flackerten. Die Innenarchitektur vermittelte Wärme, Solidität und Wohlstand, ein Eindruck, der durch den Kontrast zum Straßenbild ringsum noch verstärkt wurde. Zwei Männer in Lakaienfräcken wie aus dem Kostümfundus eines Theaters fungierten als Butler, wobei der eine die Mäntel entgegennahm und der andere Salzkekse mit Butter und Kaviar sowie Champagner in Sektflöten servierte. Sie hatten zurückgekämmte Pomadefrisuren und einen nussbraunen Teint. Nach Bykows Meinung Osseten aus der kleinen Privatarmee von
Männern aus dem Kaukasus, die das Gros von Tschawtschawadses Organisation ausmachten. Slema Tschawtschawadse war gekleidet wie Bykow ihn noch nie gesehen hatte, Tweedjackett, Streifenkrawatte und graue Gabardinehosen. Er wollte unbedingt wie ein waschechter Engländer wirken. Würde er nie schaffen, dachte Bykow. Seine Fresse verriet ihn immer. Doch ins Gesicht sagen würde er ihm das lieber nicht. Bykow nahm sich ein Glas Champagner und einen Kaviarkeks. Der Kaviar war vom Feinsten – glatt, glänzend mit einem grauen Schimmer – und er schlang ihn rasch hinunter. Dann nippte er widerstrebend am Champagner. Er war unerwartet trocken, so trocken, dass er erst stutzte, ob es wirklich welcher war. Er stürzte das Glas hinunter. Schmeckte gut, doch zum Kaviar war ihm Wodka lieber. Der Raum hatte sich mittlerweile fast gefüllt. Tschawtschawadses Ballerina hatte ein paar Freundinnen mitgebracht, und sie machten pärchenweise Konversation mit den Kolumbianern. Der Teufel mochte wissen, was die einander zu sagen hatten, und in welcher Sprache. Tschawtschawadse hatte den Arm um Santeras Schulter gelegt und sprach auf ihn ein. Bykow trat näher und spitzte die Ohren. »… ungeheures Wachstumspotential«, sagte Tschawtschawadse gerade. »Wir erschließen neue Märkte in Rüstungsgütern, Erzen, Bauholz. Es gibt zur Zeit keinen besseren Ort für Investitionen als Russland.« Marina dolmetschte stockend. »Vielleicht für Russen«, versetzte Santera. »Aber ich habe einen Freund im Schuhgeschäft, der hergekommen ist und ein Joint Venture aufziehen wollte. Er hat drei Millionen Dollar investiert, und pffht.« Er wedelte abschätzig mit der Rechten und deutete einen Luftballon an, dem die Luft entweicht. Marina sah ihn ratlos an. Sie fing an zu dolmetschen, stockte dann aber. Und vergewisserte sich: »pffht heißt ›nichts‹?« Santera nickte und lächelte ihr zu. Bykow konnte sehen, wie er ihr ins Dekolleté glotzte. »Hübsche Dolmetscherin haben Sie da«, fügte Santera hinzu. Marina tat geschmeichelt. Tschawtschawadse grinste anzüglich. Er tätschelte Marina den Hintern. »Hoffentlich bedient sie Sie gut, in jeder Hinsicht.«
Marina dolmetschte wieder und trat so nahe an Santera heran, dass ihre Brüste seinen Arm streiften und sie ihm ins Ohr tuscheln konnte. Bykows Zorn wurde noch größer, vor allem, weil er nichts dagegen machen konnte. Nie wieder würde er ihr den Gefallen tun, sie zum Dolmetschen zu holen. Tschawtschawadse kam wieder aufs Geschäftliche. »Das ganze Problem Ihres Freundes war, dass er das Joint Venture ohne mich aufziehen wollte«, brüstete er sich. »Genau wie ich keine Geschäfte in Kolumbien versuchen würde ohne Sie als Partner. Man darf mich hier nicht umgehen wollen.« Santera reagierte mit einem höflichen Nicken und einem halben Lächeln. Tschawtschawadse ließ sein Champagnerglas gegen das in Santeras Linker klirren. »Auf unsere Partnerschaft«, sagte Tschawtschawadse. Der Kolumbianer nickte und nahm ein Schlückchen. »Aber was ist mit der Regierung? Bedeutet dieses Attentat einen politischen Umschwung?« Tschawtschawadses Antwortlächeln bedeutete, dass er um ein teures Geheimnis wisse und es nur zu gern preisgeben wolle, aber nicht dürfe. »Man kann wohl mit einiger Sicherheit sagen, dass wir bald eine andere Regierung haben werden«, bestätigte er. »Und mit einiger Sicherheit lässt sich voraussagen, dass es mit der neuen ein sehr gutes Arbeiten sein wird.« »Rogow?« Tschawtschawadse nickte. »Ein alter Freund von uns. Ihnen ist ja bekannt, welche Rolle er bei vielen Ihrer anderen Einkäufe gespielt hat.« Santera stieß mit Tschawtschawadse an. »Auf unsere Exportlizenzen«, lautete sein Trinkspruch. »Auf Freunde in hohen Ämtern«, antwortete Tschawtschawadse. »Aber ich sehe, es ist Zeit zum Abendessen.« Tschawtschawadses Köchin war in den Raum getreten. Wie das übrige Personal war auch sie Ossetin, eine rundliche Frau mit Dutt. Schon ihre Eltern hatten, wie Bykow wusste, Tschawtschawadses Vater bedient, als dieser in der Kaukasusregion Erster Parteisekretär gewesen war. Sie kochte grusinisch, und die gelegentliche Einladung zu einem Essen in Tschawtschawadses Privatgemächern gehörte zu den Dingen, die es Bykow erträglich machten, für den Mann zu
arbeiten. Im Speisesaal war, wie Bykow sah, mit neuen Leinentischtüchern, Porzellan, Bleikristallgläsern und Silberbesteck gedeckt worden, alles vermutlich extra aus England importiert. Eine lange Tafel war an die Stelle der drei Rundtische getreten, die sonst dort standen, und neue Bilder hingen an den Wänden – englische Jagdszenen mit Hunden, Pferden und Reitern in rotem Frack. Am Ende des Raums flackerte ein Feuer im Kamin. Und es gab Tischkarten, noch so eine Neuerung. Mürrisch suchte Bykow seinen Namen. Er war ziemlich weit unten an der Tafel platziert, zwischen zwei von Santeras Leibwächtern, in gehöriger Entfernung von den Ballerinen und vom Machtzentrum am Kopf der Tafel. Er setzte sich und versuchte, sich statt auf die Hierarchie aufs Essen zu konzentrieren. Doch seine Kiefer mahlten und knirschten vor Wut. Nach dem dritten Gang gaben die Osseten eine Gesangseinlage. Den Anfang machte einer der Leibwächter, der in schrillem Falsett eine Schäferklage vortrug, wie sie nur Menschen aus dem Kaukasus verstanden. Nach wenigen Takten fiel einer der Kellner ein, mit einer leicht abgewandelten Melodie, im Kontrapunkt zur ersten. Und dann sprang ein dritter auf, und ein vierter, bis alle Osseten im Raum einschließlich Slema Tschawtschawadses auf den Beinen waren und lauthals schmetterten. Es war kein Chor, auch nicht harmonisch, aber irgendwie anrührend, zumindest für die Kolumbianer. Bykow dagegen nannte es Niggergesinge, allerdings nie vor seinem Chef. Er leerte sein Champagnerglas in einem Zug und schenkte sich nach. Als das Lied vorbei war, sagte Santera etwas zu Miguel, der verneinend den Kopf schüttelte. Santera forderte ihn nochmals auf, und Miguel kam schwankend auf die Beine. Er fing an zu singen. Gleich darauf sangen alle Kolumbianer, eine Kakophonie, gegen die die Osseten der reinste Opernchor gewesen waren. Bykow stürzte noch ein Glas Champagner hinunter. Als das Lied vorbei war, klatschten Tschawtschawadse und Santera laut Beifall. Alle anderen im Raum schlossen sich an. Dann sah Bykow, wie Santera etwas zu Marina sagte. Er zog die Brieftasche und gab ihr Geld. Wieviel es war, konnte Bykow nicht erkennen, aber es waren grüne Scheine. Dollar.
Sie schüttelte den Kopf, und Santera pellte zwei weitere Geldscheine von dem Bündel. Diesmal nickte Marina. Dann lehnte sich Santera zu Miguel hinüber und flüsterte ihm was ins Ohr. Der Leibwächter nickte grinsend. Marina und Miguel erhoben sich beide leicht beschwipst und gingen auf die Tür an der Rückwand des Speisesaals zu. Die Kolumbianer, die schon öfter erlebt hatten, wie ihr Führer Männer derart belohnte, reagierten mit Olé-Rufen und Pfiffen. Die Osseten fielen ein und randalierten ebenso fröhlich. Es war mehr, als Bykow ertragen konnte. Er vertrat Marina den Weg. »Wo willst du hin?«, zischte er. »Geht dich einen Scheißdreck an«, giftete sie. »Und ob mich das was angeht«, brüllte er und ohrfeigte sie so brutal, dass sie mit einem Bein einknickte. Aus dem Augenwinkel sah er Miguel in die Jacketttasche greifen. Bykow war schneller. Mit einem Handkantenschlag brach er dem Kolumbianer fast den Kiefer und ließ ihn gegen die Wandtäfelung knallen. Miguel sackte zusammen, sein Kopf rutschte an der Wand hinunter, und aus dem Mundwinkel rann ihm Blut. Im selben Augenblick waren vier Schusswaffen, alles kleine, mattglänzende Uzis, auf Bykow gerichtet, der herausfordernd Positur einnahm und verhalten keuchte. Santera, rasenden Zorn im Gesicht, stand so abrupt von der Tafel auf, dass er sein Glas umstieß. Er bebte vor Wut und war kurz davor, Schießbefehl zu geben. »Moment!«, schrie Tschawtschawadse den Kolumbianern zu. Mit einer Bewegung der Rechten gebot Santera seinen Leibwächtern Einhalt. »Ich bitte um Vergebung, aber sie ist sein Schwesterkind«, sagte Tschawtschawadse zu Santera. Santeras Wutgrimasse verflachte allmählich zu grimmigem Stirnrunzeln, während er die Lage überdachte. Er nickte kurz und sagte dann etwas auf Spanisch zu seinen Männern. Sie steckten die Maschinenpistolen weg, und einer ging hin und kümmerte sich um Miguel. Santera nahm wieder Platz. Dabei bedachte er Bykow so lange mit einem Eisesblick, bis Bykow verstanden hatte. Das würde ein Nachspiel haben.
Bykow starrte zurück. Schön, dachte er. Von ihm aus konnten sie gern abrechnen – aber zuerst übers Geld. Das festliche Abendessen war jetzt natürlich verdorben. Tschawtschawadse tat das einzig Mögliche. »Ich schlage vor«, sagte er, »wir fahren zurück in die Eremitage und sehen zu, wie Ihr Mann seine Prüfung abschließt.« Marina, der am linken Auge ein Veilchen schwoll, dolmetschte. Grimmig nickte Santera Zustimmung. Schlegels Ausrüstung hatte sich über Nadescha Petrownas Atelier hinaus ins Hauptatelier der Restaurierungsabteilung ausgebreitet. Das Gerät, das er jetzt einsetzte, erinnerte Bykow an die Instrumententafel in einem Flugzeug. Es war groß wie ein Kleinwagen und voller Bildschirme und Skalen. »Das ist ein Rasterelektronenmikroskop«, erläuterte Schlegel der kleinen Menschentraube, in der auch Santera, Tschawtschawadse, Merrill und Marina standen, die jetzt für Tschawtschawadse ins Russische dolmetschte. Niemand von den Vieren hatte das Wort an Bykow gerichtet, seit er Miguel zusammengeschlagen hatte. Die Atmosphäre war eigenartig gespannt. »Wenn Sie hierher sehen wollen, sehen Sie die Pigmentpartikel aus der Probe, die ich entnommen habe«, sagte Schlegel. Er deutete auf eine Monitorkonsole. Die Vier drängten sich darum und ließen Bykow nicht zusehen. Stirnrunzelnd trat er beiseite und spähte zwischen Merrills und Marinas Schultern hindurch. »Das hier ist das dunkelgelbe Pigment, ein Hauptbestandteil der Farbe für das Innere der Blümchen«, sagte Schlegel. Für Bykow sah das aus wie das unscharfe Foto eines Kohlkopfs. »Es handelt sich um florentinischen Ocker von der Art, wie er im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in Leonardos Region Italiens verwendet wurde«, erläuterte Schlegel. »Ich habe ihn in unserer eigenen Madonna mit dem Kind und auch in anderen zeitgenössischen Farbproben vorgefunden.« »Wird er jetzt nicht mehr verwendet?«, wollte Santera wissen. »Nein«, bestätigte Schlegel. »Er wird nicht mehr abgebaut.« Zum ersten Mal, seit sein Leibwächter bewusstlos geschlagen worden war, entspannte sich Santeras Miene. »Gut«, knurrte er. »Und was für andere Tests haben Sie noch?«
»Es gibt noch einen, den ich anstellen könnte, wenn wir dieses Bild in München hätten«, sagte Schlegel. »Mit einem FourierWandelmikroskop könnten wir die organischen Bestandteile der Malschicht analysieren und das Bindemittel feststellen – Eigelb oder Fischleim und so. Aber sie wollten ja kein zweites Flugzeug chartern, und in das erste passte das Ding nicht mehr rein.« »Ich konnte keines mehr chartern«, korrigierte ihn Santera. »So kurzfristig stand kein weiteres zur Verfügung.« »Okay«, stimmte Schlegel zu. »Also wie lautet Ihr Urteil? Ist es ein Leonardo?« Schlegel lächelte. »Nun, das ist eine komplizierte Frage.« Santera riss die Geduld. »Ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie mir sagen, wie kompliziert alles ist. Stammt das Bild von Leonardo oder nicht?« Schlegel schluckte und nickte so selbstgewiss wie jemand, der bereits wusste, wie er das Geld für diesen Job anlegen würde. »Die Tests beweisen, dass dieses Gemälde in Italien zu Lebzeiten Leonardos entstanden ist«, sagte Schlegel. »Vorskizze und Pinselführung decken sich mit Leonardos Stil, wie ich es bei unserer eigenen Madonna mit Kind und bei anderen gesicherten Leonardos gesehen habe, die überprüft worden sind. Während Sie weg waren, habe ich sogar ein paar Fingerabdrücke in der Malschicht gefunden. Was für Fingerabdrücke Leonardo hatte, ist unbekannt, aber wir wissen, dass er nasse Künstlerfarben mit Fingern und Ballen verrieb, wegen des Effekts.« »Na also. Ihre Schlussfolgerung?« Schlegel lächelte seinen Klienten beschwichtigend an. »Ich habe die Zeichnung gesehen, Leonardos Vorskizze für die Leda mit dem Schwan. Sie befindet sich in der Windsor Library in England. Sie deckt sich vollständig mit dem herrlichen Haupt und den Schultern der Leda auf diesem Gemälde.« »Und?« »Mehr kann ich dazu nicht sagen«, sagte Schlegel. »Ich bin Fachmann für Malwissenschaft. Ich habe mich bereit erklärt, dieses Gemälde zu begutachten. Das ist geschehen. Die Tests lassen darauf schließen, dass das Gemälde echt ist. Und davon bin auch ich überzeugt.« Tschawtschawadse lächelte breit, nachdem er den letzten Satz vernommen hatte. Er schlug Santera auf die Schulter. Bykow atmete
auf. Er blickte um sich, um zu sehen, wo Santera den Aktenkoffer abgestellt hatte. Das Geld war so gut wie sein. Schlegel hob die Hand. »Aber«, sagte er, »ich bin kein Fachmann für Leonardo da Vinci. Ich bin Techniker. Der Leonardo-Experte ist Mr. Merrill. Er soll das letzte Wort haben.« Charles Hamilton Merrill nickte Schlegel zu, sichtlich erfreut von dieser höchsten Anerkennung seiner unentbehrlichen Kennerschaft. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in St. Petersburg verlor sein Gesicht den Ausdruck würdevoller Gekränktheit. Zum ersten Mal seit seinem vorigen Besuch geruhte er, sich dem Bild zu nähern, das auf seiner Staffelei aus Nadescha Petrownas Atelier hergebracht worden war. Jetzt würde er seinem Klienten für das Geld eine Schau bieten, indem er das Bild gemächlich und mit Sorgfalt untersuchte. Bykow runzelte die Stirn. Noch mehr Zeitvergeudung, bis er endlich sein Geld bekam. Und wozu das Ganze? Merrill hatte schon vor sechs Wochen anderthalb Tage mit dem Gemälde zugebracht. Wenn sich da nicht entschieden hätte, dass es echt war, hätte er den verdammten Kolumbianer nicht zum Kauf her geschleppt. Zu seiner Überraschung trat Merrill hinter das Bild und begann die Rückseite der Holztafel zu mustern. Er blieb lange hinter der Staffelei. Nach einer Weile bemerkte Bykow, dass er eine Taschenlupe herausgezogen hatte und hektisch die ganze Rückseite absuchte. Als Merrill hinter dem Gemälde hervortrat, sah er aus, als sei er gerade dazu verurteilt worden, sich lebenslänglich den Unterhalt auf einem Abluftschacht der Underground vor dem Buckingham Palace zu erbetteln. Er war blass im Gesicht, und der Kiefer hing ihm herunter. Die Taschenlupe in seiner Hand zitterte sichtlich. »Was gibt’s?«, wollte Santera wissen. Merrill richtete sich langsam auf und kämpfte um Haltung. »Ich bedaure…«, murmelte er, und die Stimme versagte ihm. »Ich bedaure, feststellen zu müssen, dass…« Santera trat vor und packte Merrill an den Aufschlägen. Sein Gesicht war verzerrt. »Was?« »Nun, meine Initiale. Ich hab mein ›C‹ hinten auf der Tafel eingekerbt. Manchmal mache ich das bei einem Gemälde, das ich bewundere, bei einem wichtigen. Aber nur ganz klein. Diskret. Damit später ersichtlich ist, dass ich damit zu tun hatte.«
»Und?« Santera hielt Merrills Aufschläge immer noch gepackt. Aber jetzt, wo ihm dämmerte, auf was es hinauslief, ließ er Merrill los und die Arme sinken. »Es ist nicht da«, sagte Merrill heiser. »Es ist nicht da. Ich habe alles abgesucht.« »Also?«, heischte Santera. »Also«, sagte Merrill und schluckte. »Kann ich nur folgern, dass das hier nicht das Gemälde ist, das ich vor sechs Wochen vor mir hatte.«
27 Slema Tschawtschawadse bildete sich allerhand ein auf seinen Mutterwitz, mit dem er bisher jede brenzlige Situation gemeistert hatte, aber diese hier wurde zunehmend brisant. »Warten Sie«, forderte Tschawtschawadse Santera auf. »Ich bin sicher, wir können das klären.« Marina dolmetschte. Santera hielt im Mantelanziehen inne. Sein sonnengebräuntes Gesicht war immer noch rot vor Zorn. Tschawtschawadse wandte sich an Merrill. »Sie sind sicher, dass Sie vor sechs Wochen ein anderes Gemälde vor sich hatten?« Merrill nickte, zum Sprechen zu erschüttert. »Und es war echt?« Merrill nickte wieder. Tschawtschawadse wandte sich an Bykow. »Und du bist sicher, das Originalgemälde hat den Winterpalast nicht verlassen?« »Absolut«, nickte Bykow. »Alle Ausgänge werden überwacht.« »Na, dann liegt auf der Hand, dass das Gemälde immer noch hier ist«, konstatierte Tschawtschawadse. Er war die Vernunft und Zuvorkommenheit in Person. »Affenscheiße«, schnaubte Santera. Nach kurzem Zögern dolmetschte Marina wortwörtlich. Santera deutete mit dem Finger auf Tschawtschawadse. »Sie haben mir eine Fälschung andrehen wollen.« Dann deutete er auf Bykow. »Oder der ist es gewesen. Ich bin sicher, Sie halten das echte Bild irgendwo versteckt. Wahrscheinlich wartet schon ein anderer Käufer darauf.« Er wandte sich sarkastisch an Merrill. »Wenn es jemals vorhanden war.« »Es war da«, winselte Merrill. »Wirklich.« Tschawtschawadse wandte sich an Bykow. »Sorg dafür, dass alle Ausgänge besetzt sind«, befahl er. Bykow gab den Befehl an Sascha weiter, der augenblicklich mit der Ausführung begann. Tschawtschawadse wandte sich wieder an Santera. »Wir haben zuviel zu verlieren, wenn wir Sie gegen uns aufbringen«, stellte er fest. »Wir sind das nicht gewesen. Ich glaube, es war die da.« Er deutete auf Nadescha Petrowna.
Santera schien zu überlegen. »Nehmen Sie auch ein paar von meinen Männern«, bot er an. Er sagte etwas auf Spanisch, und drei Kolumbianer traten zu Sascha. Jetzt wandte sich Tschawtschawadse Nadescha Petrowna zu. Sie hatte das Geschehen der letzten paar Minuten mit undurchdringlicher Miene verfolgt. Nur das Zittern ihrer Hände auf den Rädern ihres Rollstuhls verriet, wieviel Angst sie hatte. Weglaufen konnte sie natürlich nicht. Tschawtschawadse trat langsam an den Rollstuhl heran. Er sprach sie in einem Ton an, der durch Liebenswürdigkeit nur noch bedrohlicher wirkte. »Verehrte Nadescha Petrowna«, begann er. »Sie haben diese Kopie gemalt, nicht wahr?« Nadescha Petrowna sagte nichts. Sie starrte ihn trotzig an. Tschawtschawadse machte Bykow ein Zeichen, und der trat auf die andere Seite des Rollstuhls. Mit der Rechten packte er Nadescha Petrownas Linke. Dann bog er den kleinen Finger zurück, bis er mit vernehmlichem Knacken brach. Die alte Dame stieß einen Wehlaut aus. Dann wich ihr das Blut aus dem Gesicht, und sie wurde ohnmächtig. Tschawtschawadse wartete einen Augenblick und fing dann an, sie verhalten auf die Backen zu schlagen, erst auf die rechte, und dann auf die linke. Beide wurden wieder ein bisschen rosiger. Nach etwa einer halben Minute schlug Nadescha Petrowna die Augen auf und stöhnte. »Sie haben diese Kopie gemalt, oder?«, wiederholte Tschawtschawadse. Diesmal nickte sie. Der gebrochene Finger stand in unnatürlichem Winkel ab. »Warum haben Sie das getan?« Sie starrte ihn wieder trotzig an. »Weil Sie es mir befohlen haben«, sagte sie. Ihre Stimme war kratzig, von Schmerz und Erschöpfung gebrochen. Doch die Augen blieben unbeugsam. Marina erschauerte, kam ins Stottern, und dolmetschte dann weiter für Santera. Tschawtschawadse stieg die Wut ins Gesicht. Er trat vor und schlug der alten Dame brutal ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite, und ein Zahn fiel ihr aus dem Mund, gefolgt von einem Spritzer Blut. Ein Blutfaden rann ihr aus dem Mund.
Nadescha Petrowna war verstummt, aber bei Bewusstsein. Tschawtschawadse gab Bykow wieder ein Zeichen. »Jetzt die rechte Hand«, sagte er. Bykow packte den kleinen Finger ihrer Rechten und begann ihn nach hinten zu biegen. »Ihre Künstlerhand«, erläuterte ihr Tschawtschawadse. »Bis jetzt haben wir sie nicht angerührt.« Bykow bog den Finger noch weiter zurück, und Nadescha Petrowna reagierte mit einem Aufschluchzen. »Und jetzt noch mal von vorn«, sagte er, »hab ich Ihnen befohlen, die Kopie zu malen?« Der Kopf fiel ihr auf die Brust. »Nein«, murmelte sie. »Nein.« Trotz der Antwort drückte Bykow weiter. Der Finger brach mit einem lauteren Knacken als der erste. Marina schrie auf. Santera verschränkte die Arme vor der Brust und blickte über die Szene vor sich hinweg auf die Wand. Nadescha Petrowna stöhnte und bekam wieder keine Luft mehr. Die Augäpfel rollten nach oben und die Lider fielen ihr zu. Auf ihrem kreideweißen Gesicht standen Schweißtropfen. Sie schnappte und winselte wie ein gefolterter junger Hund. Tschawtschawadse sah Bykow streng an, und Bykow ließ die Hand los. Sie schlug auf der Lehne ihres Rollstuhls auf, und Nadescha Petrowna stöhnte laut bei dem erneuten Schmerz, der ihr den Arm hochzuckte. Tschawtschawadse beugte sich über sie und fasste sie unterm Kinn. Er drehte ihr den Kopf herum, bis ihre Augen nur Zentimeter von seinen entfernt waren. »Wer hat Ihnen gesagt, sie sollen das da malen?« »Bykow«, stöhnte Nadescha Petrowna. Es hörte sich an wie ein Fluch. Jetzt war Bykow an der Reihe auszurasten. Er ließ seine Pranke auf ihre rechte Schulter fallen. Unter seinen klobigen Fingern wirkte sie so zerbrechlich wie ein rohes Ei. Er fing an zu pressen. Nadescha Petrownas Wimmern wurde lauter und schneller und steigerte sich zum Crescendo. »Du lügst«, fuhr Bykow sie an. »Sag, dass du lügst. Und sag uns, wo das Bild ist.« Sie starrte ihn an und schaffte es, das Wimmern zu unterdrücken. Sie hob den Kopf.
»Und wenn ihr mich umbringt«, sagte sie so leise, dass Bykow und Tschawtschawadse sich über sie beugen mussten. »Aber das sag ich euch nie. Ihr seid Schweinehunde und Landesverräter. Von mir bekommt ihr im Leben nicht, was Russland gehört.« Dann spuckte sie Bykow ins Gesicht. Seine Visage verzerrte sich, und er presste ihre Schulter noch brutaler. Tschawtschawadse hörte die Knochen brechen. Ihre Augen kippten zurück, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und sie verlor das Bewusstsein. Diesmal kam sie nicht mehr zu sich, als Tschawtschawadse sie ohrfeigte. Er nahm ihr Handgelenk und fühlte nach dem Puls. »Sie lebt noch«, sagte er. »Glaube ich.« Dann wandte er sich an Bykow. »Aber wir können nicht warten, bis sie wieder sprechen kann. Wenn es stimmt, was du sagst, ist das Bild immer noch im Winterpalast. Wir suchen einfach, bis wir es haben.«
28 Zu seinem Selbstekel konnte Burke kein Auge von der Medizinflasche auf Andruscha Karpows Labortisch mit der Aufschrift »Äthylalkohol« wenden. Erstmals aufgefallen war sie ihm vor einer Stunde. Und während sich die erzwungene Untätigkeit hinzog, waren seine Gedanken immer öfter von dem Bildschirm mit Nadescha Petrownas Atelier zu der Flasche gewandert. Einmal war er so weit gegangen, aufzustehen, abzupassen, bis Desdemona bestimmt nicht hersah, die Flasche hochzuheben, die Flüssigkeit zu schwenken und Dämpfe freizusetzen, die er mit gierigen Nüstern aufsog. Entsetzt über sich selbst, hatte er die Flasche wieder hingestellt. Aber sie war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt, da auf dem Bildschirm zu sehen war, wie Bykow Nadescha Petrowna folterte, und allmählich klar wurde, dass etwas katastrophal schief gelaufen war, wurde seine Gier nach Alkohol immer heftiger. Er zwang sich, wieder auf den Bildschirm zu sehen. »Wir müssen ihr helfen«, sagte Andruscha Karpow, gebannt von dem grausigen Stummfilm. »Ich fürchte, wir können im Augenblick nichts für sie tun«, stellte Desdemona fest. »Es sind einfach zu viele.« Auf dem Bildschirm brach Bykow Nadescha Petrowna gerade den zweiten Finger. Andruscha zuckte zusammen. Burke bekam Gänsehaut. »Was, glaubst du, ist schief gelaufen?«, wollte Desdemona von Burke wissen. »Ich weiß es nicht«, sagte Burke. »Aber ich glaube nicht, sie brechen ihr die Finger nur so zum Spaß. Das wäre höchstens Bykow zuzutrauen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ihr irgendwie auf die Schliche gekommen sind.« »Das heißt, sie können jeden Moment hier sein«, sagte Desdemona. »Auch wenn sie nicht sagt, wo das Bild ist, werden sie suchen. Wir müssen weg hier.« Burke nickte stumm. Desdemona wandte sich an Andruscha. »Können wir das Bild rausschaffen? Angenommen, sie haben Leute an den üblichen
Ausgängen?« »Scheiß auf das Bild«, ging Burke dazwischen. »Können wir denn gar nichts für sie tun? Kommen wir selber noch raus?« »Wir dürfen sie nicht im Stich lassen«, beharrte Andruscha. »Wir müssen Hilfe holen«, versuchte ihn Burke zu beschwichtigen. »Sobald wir können, kommen wir zurück und kümmern uns. Mehr können wir nicht tun.« Andruscha sah wieder auf den Bildschirm. Bykows Pranke lag jetzt auf Nadescha Petrownas Schlüsselbein. »In Ordnung«, sagte er deprimiert und enttäuscht. Desdemona packte ihn am Arm. »Ich verspreche Ihnen, wir kommen zurück. Und jetzt, wie hier raus?« »Es gibt einen Kellerausgang«, erklärte Andruscha. »An einer Hintertreppe. Da passt keiner auf. Ich hab die Schlüssel.« »Also los. Zeigen Sie uns den Weg«, herrschte Desdemona Andruscha an. Andruscha hob den Hörer ab, wählte rasch eine Nummer. Offenbar war Ljuba dran. Er sagte ein paar abgehackte Worte und legte auf. »Sie holt uns ab«, sagte er. »Gehen wir.« Sie hoben das Bild an und um nicht hineinzugreifen, fassten sie es an der Rückseite, die Malfläche nach oben. Sie stellten es schräg, schoben es zentimeterweise durch die Tür und wandten sich hinter Andruscha nach rechts. Irgendwo in der Entfernung, durch ein paar Mauern von ihnen getrennt, hörten sie Gerenne. »Schneller«, zischte Desdemona über die Schulter. Andruscha schritt rascher aus und schloss eine Tür zur Linken auf. Langsam kippte Burke das Bild und wartete, bis Desdemona richtig vor der Tür positioniert war. Dann schob sie sich rückwärts hindurch. Sie manövrierte das Gemälde durch die Türöffnung und zog Burke hinter sich her. Er tastete mit dem Fuß nach der Tür und wollte sie gerade mit einem Tritt schließen, als er hörte, wie jemand die Tür am anderen Ende des Flurs aufriss. »Alle Räume durchsuchen«, befahl eine Männerstimme. »Und ich nehm den nächsten Flur.« »Nicht zuschmeißen«, flüsterte Desdemona. Er hörte vom anderen Ende des Flurs, wie die erste Tür aufgerissen und wieder zugeschlagen wurde. Dann die nächste,
schon näher. So leise wie möglich drückte er die Tür hinter sich zu, ohne das Schloss einschnappen zu lassen. Die unverschlossene Tür würde auffallen, aber vielleicht nicht gleich. Am anderen Ende des Raums hatte Andruscha die Gegentür aufgeschlossen. Dahinter konnte Burke eine dunkle Wendeltreppe erkennen. So leise und rasch wie möglich manövrierten sie das Bild durch die Tür. Sie achteten nicht mehr darauf, nicht ins Bild zu fassen. Burke hielt einfach fest und hoffte, das Bild werde nicht auf etwas Spitzem auftreffen, wenn es ihm aus den Händen glitt. Das Türenschlagen kam näher. Er hatte es etwa vier Mal gehört. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie selbst die siebte Tür im Flur genommen hatten. Er klinkte die Tür zur Wendeltreppe hinter sich zu, und sie tasteten sich treppab. Bis sie auf den ersten Treppenabsatz kamen, waren zwei weitere Türen aufgerissen und zugeschlagen worden. Ungeduldig wartete Burke, während Desdemona das Bild andersherum kippte, um es um die Ecke zu kriegen. »Lassen wir das verdammte Ding doch da«, zischte er. »Nein!« Ihr Ton war gebieterisch. Er bewunderte ihre Ausdauer. Allerdings würde sie auch nicht die erste Kugel abkriegen, dachte Burke. Das erste Ziel war sein eigener Rücken. Genau als sie um die Ecke bogen und den nächsten Treppenlauf erreichten, hörte er einen Schrei. Die unverschlossene Tür war entdeckt. Er begann an den ohnehin feuchten Handflächen stark zu schwitzen. Er schob nach und drückte Desdemona fast die Treppe hinunter. »Nicht so hastig«, zischte sie. Wieder vernahm er Schritte über sich. Es hörte sich an, als kämen sie nur von einem. Und sie waren langsamer geworden. Burke stellte sich vor, wie der Mann kurz vorm Ziel plötzlich vorsichtiger wurde. Er fragte sich, ob Desdemona eine Schusswaffe dabei hatte und sie benutzen würde. »Hast du eine Kanone dabei?«, flüsterte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte Schiss vor den Metalldetektoren am Museumseingang«, flüsterte sie, und nahm aus Versehen zwei Stufen auf einmal. Burke sagte nichts und drängte stärker. Vor ihnen schloss Andruscha wieder eine Tür auf. Es roch
modrig und feuchtkalt. Der Keller. Hinter sich konnte Burke hören, wie die Tür zum Treppenhaus langsam aufknarrte, aber nicht sogleich Schritte auf den Stufen. Der Verfolger war drei Treppen hinter ihnen und ging mit Umsicht vor. Vielleicht wollte er auf Verstärkung warten, bevor er sich hinunterwagte. Dann hörte Burke tastende Schritte auf der ersten Stufe. Vergebliche Hoffnung. Sie kanteten das Bild nochmals um und gelangten in den Kellerflur. Desdemona ging schneller, bis sie halb in Trab fielen und Andruscha überholten. Die schweißfeuchten Hände taten Burke allmählich weh. Sie waren bestimmt keine hundert Meter von den kalten Wassern der Newa entfernt. Die Kellerluft erweckte den Eindruck, es sei viel näher. In der feuchten Luft roch er faulende Algen. Der Gang, in dem sie sich jetzt befanden, war wie eine Stallung angelegt und das vielleicht auch einst gewesen. Zu beiden Seiten waren Abteile wie Pferdeboxen. Eine einsame Glühbirne sorgte für trübes Licht. Die Boxen waren voller Sperrmüll vom Zarenhof: Kutschen, die in der feuchten Luft langsam vor sich hinrotteten, Bruchstücke von Tischen und Stühlen. Jetzt rannten sie bereits und stolperten über herumliegende Hocker, Besen und sonstigen Abfall. Desdemona stieß mit dem Fuß an einen alten Blecheimer, der gegen eine Boxentür schepperte. Es hallte dumpf im Gewölbe wider. Hoffentlich kein Omen, dachte Burke. Direkt voraus kam jetzt ein Quergang. »Nach rechts«, keuchte Andruscha. Den ersten Schuss hörten sie, als sie gerade um die Ecke bogen. Er hörte sich an wie eine mittlere Explosion und hallte in alle Richtungen durch die Gänge. Aus dem rechten Augenwinkel sah Burke den Umriss eines Mannes, der sich in Schützenstellung auf ein Knie niedergelassen hatte und auf sie zielte, während sie ihm aus dem Blickfeld entschwanden. Der neue Gang war dunkler und enger als der von eben. Am anderen Ende, etwa fünfzig Meter weiter, brannte wieder eine einzelne Glühbirne, und Burke konnte ein Tor erkennen. Er rechnete aus, welche Strecke der Verfolger zurücklegen musste, bevor sie den
etwa zehn Meter entfernten Ausgang erreichten. Andruschas Aufschließen musste sie aufhalten. Der Mann mit der Kanone bekam dann Zeit genug, etwa ein halbes Dutzend Mal abzudrücken. Da musste er einfach treffen. Hektisch blickte Burke um sich. Die Box zu seiner Rechten enthielt diverse Teile von Rüstungen – ein paar Helme, Brustharnische und etliche verrostete Schwerter. »Andruscha«, sagte Burke. »Fass mal das Ende hier.« Er schob ihm den Gemälderahmen hin, und der Russe griff unbewusst zu. »Ab mit euch!«, zischte Burke Desdemona zu. »Nein«, sagte sie. »Wir müssen zusammenbleiben!« »Los!«, brüllte er sie an. Sie sah ihn verzweifelt an, doch es war keine Zeit zum Streiten. Er sah sie eilends rückwärts den Gang hinunterfußeln, gefolgt von Andruschas wackelndem Hinterteil. Burke beugte sich in die Box und griff sich das erstbeste Schwert, das er zu fassen bekam. Es war schwerer als er gedacht hatte. Der Griff war kunstgeschmiedet und so lang, dass er mit beiden Händen zupacken musste. Die Klinge war schon lange stumpf. Er konnte nicht mal richtig erkennen, wo die Schneide war. Aber das war ja wohl auch nicht wichtig. Er ging in Stellung, in den Boxeneingang gekauert, das Schwert hinter das rechte Ohr erhoben. Aus irgendeinem Grund kam ihm plötzlich sein Vater in den Sinn, der ihm vor vielen Jahren vor seiner ersten Saison in der Juniorenliga beigebracht hatte, wie man beim Baseball abschlägt. »Immer waagerecht schlagen«, hatte sein Vater gemahnt. »Mit Ausfallschritt.« Er hörte die Schritte näherkommen und versuchte die Luft anzuhalten, damit sein Schnaufen ihn nicht verriet. Der Kerl rannte nun, weil er seine Beute unbewaffnet wusste. Andruscha und Desdemona am Ende des anderen Gangs kamen jetzt langsamer voran. Dann hörte er den Verfolger herankeuchen. Er beschloss zu warten, bis er den Pistolenlauf um die Ecke kommen sah. Er musste darauf bauen, dass der Verfolger mit Schwung um die Ecke kam, wenn der Kerl kurz davor stehen blieb, schlug er zu früh, ohne den Schwung aus der Drehung, und der Hieb saß nicht. Dann sah er den Pistolenlauf, lang und schwarz, und versuchte
genau darunterzuschlagen, indem er mit dem linken Fuß einen Ausfallschritt machte, mit dem Schwert beidhändig einen Bogen beschrieb und mit dem rechten Arm den letzten Schwung gab. Er hörte einen Schmerzensschrei und sah die Kanone durch die Luft fliegen. Sie knallte an die gegenüberliegende Gangwand und ging los, mit einem Schlag gegen sein Trommelfell, der ihn fast taub machte. Zittrig an Händen und Armen, trat Burke vor ins Licht. Der Mann lag benommen am Boden und griff in etwas Rotes, das über und unter seinem Gürtel hervorsickerte. Burke erkannte ihn. Es war der Kerl, der ihn auf der Uferpromenade überfallen hatte. Er sah plötzlich rot, riss das Schwert über den Kopf und ließ es so kraftvoll wie möglich auf Kopf und Schultern des Mannes niedersausen. Er schlug flach und hatte sich dabei ein wenig verschätzt. Anstatt satt zu treffen wie eben, geriet er mit der Spitze über den Kopf des Mannes hinweg auf den Steinboden und prellte sich den Arm bis hinauf in die Schulter. Er sah kurz auf den Mann hinunter. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Bewusstsein. Burke hob das Schwert erneut, ließ es dann aber fallen. Ihn umzubringen, war nicht nötig. Er machte kehrt und rannte den Gang hinunter. Andruscha steckte gerade den Schlüssel ins Schloss und hielt das Gemälde dabei mit der Linken. Desdemona starrte mit halb offenem Mund her. Burke übernahm Andruschas Seite des Bildes. »Macht schneller«, sagte er. »Da kommen gleich noch andere.« Die Tür knarrte auf, und ein kalter Windstoß fuhr herein. Burke holte gierig Luft. Die Kälte drang ihm sofort durch den Mantel. Egal. Er wollte ins Freie. Sie traten hinaus und befanden sich auf dem weiten Platz an der flussabgewandten Seite des Winterpalasts. Der Platz war menschenleer. »Wohin?«, fragte Desdemona. »Ljuba müsste mit dem Auto auf uns warten«, sagte Andruscha. »Durch den Torbogen.« Sie rannten über den Platz und durch den Torbogen, die selbe Strecke, die Burke vor ein paar Tagen in die entgegengesetzte Richtung zurückgelegt hatte. Ein paar einzelne Schneeflocken fielen auf das Gemälde.
Heraus kamen sie auf der Straße neben dem Gribojedowkanal. Andruscha spähte ins Dunkel. »Dort.« Ein klappriger alter Schiguli parkte mit laufendem Motor an der Bordsteinkante. Sie klemmten das Bild auf den Rücksitz und quetschten sich daneben. Ljuba fuhr an. Burke schwitzte leicht, wegen des Adrenalinstoßes und seiner Gewissensbisse beim Gedanken an die alte Dame dort oben im Winterpalast. Desdemona, die mit angezogenen Knien auf dem Rücksitz kauerte, tätschelte ihm tröstend die Hand. »Großartig, was du da drin geleistet hast«, sagte sie. »Herzlichen Dank.« Burke lächelte trübe. Mehr als alles andere wünschte er sich jetzt, in seinem Hotelzimmer zu sitzen, einen Jack Daniel’s zur Brust zu nehmen und die Flugpläne Richtung Westen zu studieren.
29 »Warum fährst du uns nicht einfach alle bis an die finnische Grenze«, wollte Burke wissen, »bestellst einen von diesen Tarnkappenhubschraubern her und fliegst uns außer Landes?« »So einfach ist das nicht«, sagte Desdemona. »Dass es nicht einfach ist, weiß ich selber…«, begann Burke zu streiten. »Nein!«, ging Andruscha scharf dazwischen. »Das Gemälde bleibt hier in Russland! Und wir hauen auch nicht ab, bevor wir für Nadescha Petrowna nicht alles Menschenmögliche getan haben.« Ljuba Naryschkina schien überrascht von der Heftigkeit von Andruschas Ausbruch, doch sie nickte. »Andrei Borissowitsch hat recht«, sagte sie und nannte ihn dabei vor Burke zum ersten Mal respektvoll bei Vor- und Vatersnamen. »Wir dürfen meine Mutter nicht preisgeben. Auch das Gemälde nicht. Wenn ein Kunstwerk erst mal in einem anderen Land ist, kann es äußerst schwierig werden, es zurückzubekommen.« »Na, lange werden Sie es hier bestimmt auch nicht behalten«, bremste Burke. »Hier werden die es doch zuerst suchen.« Sie standen noch im Mantel im Vorraum von Nadescha Petrownas Wohnung vor ihrer Kopie von Rembrandts Gelehrtem. »Er hat recht«, sagte Desdemona. Jetzt aber blickte Ljuba verwirrt und verärgert, sie machte schon den Mund auf und wollte etwas einwenden. »Da ist doch noch die Datscha«, fiel Andruscha plötzlich ein. »Welche Datscha?«, sprang Desdemona sofort darauf an. »Die von Nadescha Petrowna.« »Wo?« »Etwa zwanzig Kilometer nördlich von hier. In dem Dorf Paschkino auf einer alten Kollektivwirtschaft namens Sawety Iljitscha.« »Hat sie die von der Eremitage?«, fragte Burke. In der Sowjetgesellschaft waren Datschen gewöhnlich vom Betrieb an auserwählte Belegschaftsmitglieder verteilt worden. Hatte die Eremitage die Datscha an die Naryschkins vergeben, konnte Bykow sie ohne weiteres auffinden. »Nein«, sagte Ljuba. »Diese Datscha ist schon fast seit der
Revolution in unserer Familie. Es war das Aufseherhäuschen auf dem alten Familiengut. Nach der Revolution haben sie das Herrenhaus in eine kommunistische Parteischule umgewandelt. Das Land haben sie der Kollektivwirtschaft übereignet. Aber das Häuschen haben sie uns gegeben.« »Und wie viele Leute in der Eremitage wissen, dass sie es haben?«, fragte Desdemona. »Nicht viele«, sagte Ljuba. »Seit mein Vater tot ist, kommen wir kaum noch hin.« »Hat sie ein Atelier dort draußen? Vorräte?« Ljuba nickte. »Vielleicht ist es für ein paar Tage sicher«, sagte Desdemona. »Und danach?« »Lass uns erst mal über die nächsten achtundvierzig Stunden kommen«, schlug Desdemona vor. »Wenn die überstanden sind, können wir uns um das danach kümmern.« »Und was ist mit Bykow?«, fragte Burke. »Was soll mit ihm sein?« »Unternimmt jemand was gegen ihn? Sie vielleicht?« »Was denn unternehmen?« Ljubas Stimme war brüchig. »Und wer? Etwa die Miliz? Die hat Tschawtschawadse doch auch in der Tasche.« »Das Beste, was sich in diese Richtung tun lässt«, erklärte Desdemona, zu Burke gewandt, »ist, dafür zu sorgen, dass er das hier nicht zurückbekommt.« Sie deutete auf das Gemälde. »Und dann kannst du heimfliegen und deinen Artikel schreiben.« Burke nickte. Sie hatte wohl Recht. »Vorher aber brauch ich deine Hilfe«, sagte sie. Sie zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und gab ihn Burke. »Ich möchte, dass du in meine Galerie fährst. Schließ sie damit auf. Hol meinen Computer. Und dann bring mit diesem Autoschlüssel meinen Wagen raus zu dieser Datscha.« »Deinen Computer?« »Frag nicht«, sagte sie. Burke zuckte die Achseln. Er würde seine Fragen später stellen. »Andruscha«, sagte Desdemona. »Wir beide bringen das Bild zur Datscha und verstecken es.« »Nein«, gab Andruscha entschlossen zurück. »Ich will zurück in den Winterpalast. Vielleicht kann ich doch etwas für Nadescha
Petrowna tun.« »Ich glaube nicht, dass das klug ist«, sagte Desdemona. »Klug ist es nicht. Es ist meine Schuldigkeit. Vielen Dank, Andruscha«, sagte Ljuba. »Aber gehen muss ich.« Andruscha erhob Einwände. »Du kannst da nicht allein hin!« Desdemona rieb sich müde die Augen. »Nein, so Leid es mir tut. Selbst wenn Nadescha Petrowna… in Ordnung ist, ist die Wahrscheinlichkeit zu groß, dass du erwischt wirst. Wenn du erwischt wirst, quetschen sie aus dir heraus, wo das Gemälde versteckt ist. Danach bringen sie dich um. Wir verlieren alles.« Sie wandte sich an Ljuba, von Frau zu Frau. »Es tut mir Leid, Ljuba. Ich weiß, dass du deine Mutter liebst und achtest. Aber es kommt einfach nicht in Frage.« »Nicht in Frage«, wiederholte Ljuba wie betäubt. »Aber es muss sein!«, widersprach Andruscha. Desdemona verschränkte die Arme. »Es tut mir so Leid«, wiederholte sie. »Ich glaube, deine Truppe meutert, Stabsfeldwebelin McCoy«, sagte Burke. »Andruscha und Ljuba haben Recht. Wir sind Nadescha Petrowna den Versuch schuldig, sie da rauszuholen.« »Das ist zu gefährlich!« Burke zuckte die Achseln. Er deutete mit dem Kopf auf Ljuba. »Zynikerin ist sie bereits«, sagte er zu Desdemona auf Englisch. »Ich hab absolut keine Lust auf die Rolle des Schuldigen, wenn sie die nächsten vierzig Jahre zu vergessen suchen muss, ihre Mutter im Stich gelassen zu haben.« Desdemona schoss wütende Blicke, beherrschte sich aber. »Na gut. Ich glaube zwar nicht, dass es irgendwas nützt. Aber sei’s drum«, fügte sie sich. »Aber du musst mit. Andruscha muss mir da draußen helfen, und das kann nicht warten. Und seid vorsichtig. Wartet, bis ihr ganz sicher seid, dass sie weg sind.« Burke wandte sich an Ljuba. »Wie kommen wir rein?« »Auf demselben Weg wie ihr vorhin rausgekommen seid«, sagte Ljuba. »Woher wissen wir, dass sie weg sind?« »Haltet Ausschau nach Autos«, schlug Desdemona vor. »Dann, wenn ihr in den Palast kommt, seht auf Andruschas Bildschirm nach. Wenn ihr Nadescha findet, bringt sie nicht hierher. Ich hab den
Verdacht, die kreuzen bald hier auf.« »Ich kenne einen Arzt«, meldete sich Andruscha. Er schrieb eine Adresse auf und gab sie Ljuba. Desdemona sah auf die Uhr. »Machen wir, dass wir hier wegkommen.« Sie küsste Burke, rasch und flüchtig. »Pass auf dich auf.« »Worauf du dich verlassen kannst«, versicherte Burke. »Du aber auch.« Ljuba Naryshkina sah auf die Uhr und ging schneller. »Wir müssen uns beeilen«, sagte sie. »Die letzte U-Bahn geht ein paar Minuten nach Mitternacht.« Burke versuchte, mit ihr Schritt zu halten. »Es tut mir Leid, dass wir ihr vorhin nicht helfen konnten«, sagte er. Ljuba sah ihn kurz an und senkte den Blick dann wieder auf den eisglatten Weg. »Sie ist das Risiko selber eingegangen«, sagte sie. »Ich hätte es genauso gemacht. Unsere Familie pflegt die Kunst im Winterpalast jetzt schon seit sechs Generationen. Wir haben sie vor den Bolschewiki bewahrt. Wir haben sie vor den Nazis bewahrt. Und wir werden sie auch vor diesen Leuten bewahren.« »Wie lange noch?« »Bis Russland eine Regierung hat, die den Namen wert ist«, antwortete sie schlicht. »Verstehe«, sagte Burke. Sie stiegen die breiten Granitstufen in die Metrostation Lesnaja hinunter. Burke sah den Bahnsteig entlang zur Uhr am anderen Ende. Der vorletzte Zug war vor sechs Minuten durch. Dann hörte er Getöse vom Tunnelausgang. Der letzte Zug ratterte in die Station. Sie stiegen ein. Burke ließ sich auf eine der braunen Kunstlederbänke fallen, Ljuba war zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. Sie blieb stehen, als der Zug langsam anfuhr und biss sich auf die Lippen. Er stand auf und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. »Wir sind so bald wie möglich da«, sagte er. »Wir tun, was wir können.« »Ich verstehe immer noch nicht, warum sie uns nicht hinbringen konnten«, sagte sie leise. »Weil die Datscha in der entgegengesetzten Richtung liegt. Sie mussten so schnell wie möglich raus aus der Wohnung«, wiederholte
Burke Desdemonas Erklärung. Ljuba schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sie stiegen in der Station Gostinny Dwor aus und fanden die Kunstgalerie McCoy-Fokine in dem kleinen Hinterhof am Newski Prospekt. Genau nach Desdemonas Anweisung schloss er auf und tippte den Code ein, um die Alarmanlage abzuschalten. Die Galerie lag fast völlig im Dunkel, nur durch die Straßenlampe draußen im Hof erhellt, und er beließ es so. Es war nicht angebracht, auf sich aufmerksam zu machen. Er tastete sich durch den Ausstellungsraum um ein paar kleine Skulpturen herum, bis er das Büro gefunden hatte. Der Computer stand auf dem Schreibtisch, wie sie gesagt hatte. Probeweise hob er ihn an. Er wirkte nicht schwerer als ein gewöhnlicher Laptop, und er fragte sich kurz, ob er wirklich nichts anderes war. Ihr Volvo stand in der Parkbucht. Er ließ ihn an und fuhr so schnell aus dem Hof, wie er konnte, ohne einem Milizionär aufzufallen. Der Newski Prospekt war nicht völlig ausgestorben, obwohl es inzwischen nach Mitternacht war. Gelegentlich fuhr ein Taxi vorüber, oder ein anderes Auto. Er sah Scheinwerfer im Rückspiegel und fuhr rechts ran, um zu sehen, ob der Wagen überholen würde. Er rauschte vorbei, und er sah einen Mann und eine Frau darinsitzen. Sie achteten überhaupt nicht auf ihn, und er fand sich allmählich paranoid. »Schneller, bitte«, flüsterte Ljuba. Sie hatte in den letzten zehn Minuten kaum ein Wort gesprochen, und er konnte spüren, wie sehr sie litt. Er gab Gas, und sie nahmen die Bogenbrücke über den Gribojedowkanal und erblickten voraus die Newa. Er bog nach rechts ab und näherte sich langsam dem Winterpalast. Er war beinahe darauf gefasst gewesen, das Gebäude taghell erleuchtet und von Milizfahrzeugen mit Blaulicht umzingelt zu sehen. Doch es lag still und dunkel da. Er fuhr die endlose Uferfront entlang, an den Touristeneingängen neben dem Verwaltungstrakt vorbei. Drei schwarze Fahrzeuge standen hintereinander vor der Tür zu diesem Trakt, mit ausgeschalteten Scheinwerfern. In einem konnte er die Umrisse von Männern sehen: Die Fahrer, die sich gemeinsam die Zeit vertrieben. »Ein SIL, ein Mercedes und ein Volvo«, stellte Burke fest. »Ich
würde sagen, das heißt, dass Tschawtschawadse und sein Kunstkäufer immer noch drin sind.« Er beschleunigte und fuhr möglichst unauffällig vorbei. Ljuba drehte sich auf ihrem Sitz um und starrte zu den Autos zurück. »Wenn sie noch drin sind«, sagte sie, »bedeutet das, dass sie sich nicht sicher sind, ob Sie mit dem Bild rausgekommen sind oder ohne. Die suchen da drin immer noch.« »Und wie lange könnte das dauern?« »Tagelang«, sagte sie. »Es gibt mehr als tausend Räume. Wenn sie den ganzen Gemäldefundus gründlich filzen, könnten sie Wochen brauchen.« »Meiner Ansicht nach sehen sie sich nur heute Nacht um. Aber sie werden kein Aufsehen erregen wollen, indem sie die Durchsuchung morgen fortsetzen, wenn das Museum geöffnet ist. Was auch immer sie tun, sie müssen sich beeilen.« Er fuhr ein paar hundert Meter weiter, bis der Eingang zur Eremitage außer Sicht war. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus und wendete. Er ließ den Wagen langsam zurück in die Kurve rollen, die er eben durchfahren hatte, und parkte am Bordstein, weil er von dort aus freie Sicht auf die drei Autos vor dem Winterpalast hatte. Sie waren etwa zweihundertfünfzig Meter entfernt. Er stellte den Motor ab. »Und was jetzt?«, fragte Ljuba. »Warten?« »Warten.« Schließlich sah er eine Bewegung an der Tür zum Winterpalast. Er beugte sich vor und wischte mit der Hand den Beschlag auf der Innenseite der Windschutzscheibe weg. Er spähte hinaus. Eine Gruppe von etwa einem Dutzend Leuten kam zum Verwaltungseingang heraus. Er konnte die Gestalten kaum ausmachen und keine Gesichter erkennen. Aber bei einem merkte er an der massigen Untersetztheit, das konnte nur Bykow sein. Er sah zu, wie sie in die Autos stiegen. Die drei Fahrzeuge teilten sich auf. Eines bog in den Newski Prospekt in Richtung Hotel Jewropeiskaja ein. Die anderen rasten über die Brücke in Richtung Nadescha Petrownas Wohnung. Burke wartete, bis ihre Rücklichter außer Sicht waren und ließ dann den Motor an. Er steuerte vorsichtig um den Palast herum und parkte auf der Straße zum Palastplatz.
»Schnell jetzt«, sagte er. Sie stiegen aus und hasteten über den Platz, bemüht, nicht wie Einbrecher zu wirken, während sie die ganze Gegend ausspähten. Da hörte er von hinten Schritte. Er packte sie am Arm und zog sie an sich. »H…« Er wirbelte sie herum, mimte den Betrunkenen, umarmte sie und spähte über ihre Schulter. Ein Milizionär kam heran und musterte sie prüfend, ganz nebenbei, mit gelangweilter Miene. »Miliz«, flüsterte er ihr ins Ohr und machte auf verliebt. Schwer atmend klammerte sie sich kurz an ihn. Sie fühlte sich leicht und gebrechlich an, und er konnte an ihrer Halsschlagader hören, wie ihr Puls raste. Die Schritte setzten wieder ein, und der Milizionär ging seines Weges über den Platz zum Newski Prospekt. Dankbar duckten sie sich in den Schatten der Palastfassade. Sie zog den Schlüssel heraus, und gleich danach waren sie drinnen. Die Birne über der Tür brannte noch. Sie blieben kurz stehen und lauschten. Doch sie hörten nichts außer dem eigenen Atem und dem schwachen Knirschen und Ächzen des alten Gemäuers. Langsam schlichen sie den Flur zu der Kreuzung entlang, wo Burke dem Verfolger aufgelauert hatte. Das Licht war hier schwächer, aber er sah das Schwert noch liegen, wo er es hatte fallen lassen. Die Pistole war nicht mehr da. Der Verfolger auch nicht. In dem Schmutz auf dem Steinboden erkannte er Blut. Sie ging jetzt voraus, da sie sich besser auskannte. Burke war verblüfft, wie kurz die Flure und das Treppenhaus waren. Vor einer Stunde waren sie ihm noch so lang vorgekommen wie der Tunnel heraus aus Vietnam. Sie horchten sorgfältig, bevor sie die Tür zu dem Korridor aufmachten, der zu Andruschas Labor führte. Er flüsterte eine Frage: »Warum hören wir keine Wachleute? Als Bykow und seine Leute das Gebäude durchsucht haben, müssen sie doch auf welche gestoßen sein?« Ljuba runzelte die Stirn. »Er schaltet und waltet, wie ihm beliebt. Wenn ihm jemand dazwischenkommt, erzählt er von einer privaten Abendführung für einen potentiellen Sponsor. Kommt öfter vor.« Er machte die Tür auf und schob den Kopf hinaus. Der Flur lag
im trüben Licht verlassen da. Rasch gingen sie zu Andruschas Labor. Das Labor war auf den Kopf gestellt worden. Papiere lagen überall auf dem Dielenboden, und ein Regal war bei der Suche nach dem Gemälde umgestürzt. Hellgelbe Farbe tropfte aus einem zerbrochenen Glas langsam auf den Rücken eines blauen Handbuchs über Künstlerfarben. Doch der Computer stand immer noch so da, wie Andruscha ihn zurückgelassen hatte, mit einer harmlosen Grafik auf dem Bildschirm. »Kannst du den wieder auf die Kameras umschalten?«, fragte Burke. Sie beugte sich über die Tastatur und probierte ein paar Tasten. Nach zwei Fehlschlägen fiel ihr der richtige Code wieder ein. Das Bild des Restaurierungsateliers erschien, hüpfte ein paar Mal und blieb dann auf dem Schirm. »Aber da ist niemand«, stellte sie verzweifelt fest. Der von der Kamera erfasste Raum war in der Tat leer. Die Arbeitstische der Konservatoren standen unverändert und stumm im trüben Licht. Ljubas Stimme war dumpf vor Schrecken. »Was haben sie mit Mama gemacht?« Er hatte Angst, ihr zu antworten. »Gehen wir nachsehen«, schlug er vor und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. Auf dem Weg in das große Atelier stellte er fest, dass es zur gefährlichen Sache wurde, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Manche Dielen ächzten, andere nicht. Er konnte kein Muster feststellen. Jedes Ächzen hörte sich für ihn an wie die Vollbremsung eines Güterzugs, als kreische Metall auf Metall, und er erwartete ständig einen Schrei und Fußgetrappel als Antwort. Doch das alte Gemäuer bewahrte Ruhe. Die Schlüssel, die Andruscha Ljuba mitgegeben hatte, brauchten sie gar nicht. Die Tür stand halb offen, stummes Zeugnis der Hast, mit der Bykow und seine Leute den Palast durchsucht und dann verlassen hatten. Aus irgendeinem Grund verspürte Burke den Drang, sich beim Eintreten zu ducken und voranzupirschen wie ein Soldat auf Feindgebiet. Aber dazu gab es keinen Grund mehr, wurde ihm klar, und er richtete sich auf.
Der falsche Leonardo stand auf seiner Staffelei, Burke betrachtete ihn flüchtig und fragte sich, warum der echte etliche hundert Millionen Dollar wert war und die perfekte Kopie keinen Heller. Ljuba schob sich an ihm vorbei und durchsuchte mit den Augen das ganze Atelier ab. Mit einem kleinen Aufschrei stürzte sie in eine Ecke, die wegen eines Arbeitstischs außerhalb seines Blickfelds lag. Dann sah er, was sie dorthin zog. Ein schmaler Knöchel in einem dicken braunen Baumwollstrumpf ragte hinter dem Tisch hervor. Bis er dort war, kniete sie bereits auf dem Boden und wiegte den Kopf ihrer Mutter in den Armen. Mit tränennassen Augen wandte sie sich zu ihm um. »Sie lebt!« So kam Nadescha Petrowna Burke aber durchaus nicht vor. Ihre Gesichtshaut war bleich und wächsern, und sie hielt die Augen geschlossen. Ihr Rollstuhl stand ein paar Meter entfernt. Offenbar war sie herausgestoßen worden oder gestürzt. Er kniete sich neben sie und nahm ihr Handgelenk, auf der Suche nach einem Puls. Ihre Haut fühlte sich kalt an und glatt wie Pergament. Der kleine Finger stand nach hinten ab, wie auf einer Kinderzeichnung. Fast wurde ihm schlecht, als ihm einfiel, wie es dazu gekommen war. Doch unter der Haut konnte er schwach einen Puls spüren. »Wir müssen sie hier rausschaffen«, zischte Ljuba. Er nickte, obwohl er Zweifel hatte, dass sie einen Transport überleben würde. »Heben wir sie erst mal in ihren Stuhl.« Er schob seine Hand unter ihre Schultern und ihr Knie und schickte sich an, sie hochzuheben. Ljuba half mit einem Rettungsgriff um die Brust. Doch sobald Druck auf den Brustkorb ausgeübt wurde, stöhnte Nadescha Petrowna auf. Ein schwaches, rasselndes Stöhnen, aber der erste Ton, den sie von ihr vernahmen. Nadescha Petrowna schlug die Augen auf. »Mama«, flüsterte Ljuba. »Ich bin’s.« Sie nahm den Kopf ihrer Mutter in die Arme. »Nicht anfassen«, hauchte Nadescha Petrowna. Jedes Wort kostete sie immense Kraft. »Er hat mich getreten.« Ljuba fing an zu weinen. Sie knöpfte ihrer Mutter den Arbeitskittel auf und zog ihn vorsichtig in die Höhe, so dass die faltige weiße Haut über der rechten Hüfte sichtbar wurde. Burke konnte sehen, dass die Rippen nach innen gedrückt waren und sich über der Leber ein dunkelvioletter Erguss gebildet hatte. Sie hatte
offensichtlich innere Blutungen. Er wandte den Blick ab. »Der Makler«, hauchte Nadescha Petrowna. »Ja, Mama?« Nadescha Petrowna hielt inne, um Kraft zu sammeln. »Der Makler hat den englischen Buchstaben C hinten auf dem echten Bild eingeritzt. In der oberen rechten Ecke. Als Kennzeichen.« »Nicht sprechen, Mama.« »Daran haben sie es gemerkt.« »Ich versteh schon, Mama. Nicht sprechen. Wir holen Hilfe.« Nadescha Petrownas Lider senkten sich langsam wieder. Ljuba wandte sich an Burke. »In Mamas Atelier ist ein Telefon. Rufen Sie einen Rettungswagen.« »Nein«, sagte Nadescha Petrowna. »Ich bleibe hier.« Burke zögerte und nahm erneut das Handgelenk, das er eben abgetastet hatte. Kein Puls mehr. Ljuba fing an zu schluchzen und flüsterte, »Mama.« Er ließ sie eine Weile gewähren. Dann hob er sanft Nadescha Petrownas Kopf aus den Händen der Tochter und ließ ihn zu Boden gleiten. Er half Ljuba auf und hielt sie fest, mehr zum Trost für sich selbst als für sie. Stummes Schluchzen schüttelte sie und er wartete, bis es sich legte. Dann bat er sie, ihm die Kopie der Leda hinunter in den Keller und hinaus zum Auto tragen zu helfen. Sie sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Warum?« »Weil uns die Kopie jetzt, da wir wissen, wo der Hund begraben liegt, noch sehr nützlich werden könnte.« Und da geschah etwas Bemerkenswertes. Fast augenblicklich stellte Ljuba die Tränen ab, straffte die Schultern und nickte. Ihm kam es so vor, als sei die enorme Willensstärke ihrer Mutter wie ein Vermächtnis auf sie übergegangen. Die Datscha hatte als Versteck sichtlich allerhand Vorzüge. Sie stand ganz für sich in einem Birkenwäldchen in einer bewaldeten Ecke des Kolchos Sawety Iljitscha, Iljitschs Vermächtnis. Doch obwohl sie sich auf dem Land des Kolchos befand, gehörte sie nicht dazu. Sie hatte ihre eigene Zufahrt, einen unbefestigten Weg, der sich von der Landstraße St. Petersburg-Vyborg durch den Lärchen-
und Birkenwald schlängelte. Das Dorf der Kolchosarbeiter lag an einem anderen Nebenweg, einen Kilometer südlich. Durch die Fenster der Datscha war es nicht zu sehen. Für eine Zuflucht war der Standort mitten im Wald allerdings ein Nachteil. Wer sich der Datscha näherte, war nicht zu sehen, bis er unmittelbar davor stand. Desdemona McCoy hielt das Gemälde, das jetzt in eine Decke gewickelt und mit Schnur verzurrt war, während sie wartete, bis Andruscha Karpow die Tür der Datscha aufgeschlossen hatte. Sie zitterte. Es war in der Stunde vor der Morgendämmerung kälter geworden, und der Wind hatte erneut aufgefrischt. Sie fühlte sich durchgefroren bis auf die Knochen. Andruscha fluchte leise und zog den Handschuh aus. Dann bearbeitete er weiter das Schloss. »Ich fürchte, es ist eingefroren«, sagte er. Er ging in die Hocke, riss den Mund auf und hauchte auf das Schloss. Dann probierte er es wieder mit dem Schlüssel. Diesmal ging die Tür auf. Die Datscha hatte vier Zimmer, darunter einen Wintergarten mit Musselinvorhängen vor den großen Fenstern, Linoleumboden und zwei Schlafsofas mit Überwürfen aus mottenzerfressenen afghanischen Tagesdecken, ein ähnlich eingerichtetes Wohnzimmer, dessen Fußboden sich zur Küche hin gesenkt hatte, und ein Atelier an der Südseite des Hauses, das Licht zusätzlich durch ein altes Firstfenster bekam. Drinnen im Haus war es so kalt wie draußen, bis auf den Wind. Sie stellten das Bild vorsichtig ab, und sie schlug die Arme um sich in dem Versuch, warm zu werden. »Draußen müssten noch Kohlen sein«, sagte Andruscha. »Ich heize den Ofen an.« Die Küche verfügte über einen großen altrussischen petsch, einen von den Kachelöfen, die das Herzstück einer russischen Bauernkate bilden und Wärme, Essenzubereitung und einen Schlafplatz auf einer Liegefläche gewähren. »Nein.« Er drehte sich überrascht um. »Das würde zuviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen«, erläuterte sie. »Die Leute könnten sehen, dass Rauch aus dem Schornstein kommt.«
»Aber anders erfrieren wir«, wandte Andruscha ein. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht aber auch nicht.« »Doch«, beharrte Andruscha. »Sie kennen den russischen Winter nicht.« Sie zögerte. »Außerdem«, sagte er, »bläst der Sturm den Rauch fort, bevor ihn jemand sehen kann.« Sie ließ sich überzeugen. »In Ordnung«, sagte sie, und binnen weniger Minuten hatte Andruscha Feuer gemacht. Zehn Minuten später begann der Ofen ein wenig Wärme zu verströmen. Desdemona ging noch einmal hinaus in die Kälte und sah nach dem Schornstein. Andruscha hatte recht. Der Wind verblies den Rauch, bevor er bis zu den Wipfeln der Bäume hinaufkam. Solange es windete, würde niemand im Dorf etwas merken. Beruhigt ging sie hinein und sah sich die Datscha ein bisschen genauer an. Zu ihrer Überraschung waren die Bilder an den Wänden keine Kopien von Klassikern der Renaissance, sondern kleine, abstrakte Studien, meist geometrische Muster in leuchtenden Farben auf weißem Hintergrund nach der Art Mondrians. »Hat Nadescha Petrowna die gemalt?« »Nein«, sagte Andruscha. »So was mag sie nicht. Ljuba hat sie vor ein paar Jahren kopiert, als sie noch jünger war. Sie haben sie aber hier draußen verwahrt. Es wäre nicht gerade gut gewesen, hätte das in der Stadt jemand gesehen.« Desdemona nickte, ganz in Gedanken. Dann nahm sie den Leonardo und hielt ihn gegen das größte von Ljubas abstrakten Gemälden. Der Leonardo ragte um etliches darüber hinaus. »Das Problem mit denen hier«, sagte Desdemona, »ist nicht, dass sie abstrakt sind. Sie sind zu klein.« »Zu klein?« »Für das, was ich damit machen will.« Andruscha blickte verwundert. »Wir tarnen es, genau wie damals vor der Maintenon«, erklärte sie. In seinem Blick glomm Verstehen auf. »Gibt es hier auch unbemalte Leinwand und ein paar Farbtuben?« fragte sie. »Klar.« »Dann ans Werk.«
Desdemona riss ein Stück Leinwand zurecht, groß genug, um es auf Leonardos Holztafel aufzuziehen, und Andruscha schnitt Abdeckpapier zum Schutz der ehrwürdigen Malschicht unter der neuen Leinwand. Sie zogen das Leinen stramm auf und hefteten es auf der Rückseite mit Reißzwecken fest. Desdemona strich weiße Akrylfarbe auf die Leinwand. Während sie trocknete, verdünnte sie Künstlerfarben mit Terpentin. Dann nahm sie einen Pinsel mittlerer Größe und zog ein Dutzend breite Streifen in verschiedenen Farben eng nebeneinander von oben nach unten. »Morris Louis«, sagte sie zu Andruscha. Er lächelte. Sie hängten das Bild auf, und Desdemona runzelte die Stirn. »Noch ein Problem«, sagte sie. »Es ist größer als die anderen Bilder. Es fällt auf. Wir müssen noch ein zweites malen.« Andruscha fand ein paar Spannrahmen und noch mehr Leinwand und grundierte weiß wie zuvor. Er nahm den Pinsel und tippte ihn in Akrylfarbe. Dann schleuderte er den Pinsel auf das Bild ab. Es gab Kleckse und Spritzer. »Jackson Pollock«, grinste er.
30 Die schwarze Tschaika, die langsam durch das Tor des Allrussischen Industrieparks hereinrollte, hörte sich an, als brauche sie eine Generalüberholung. Der Motor klopfte den Takt zum Geräusch des Schnees unter den Reifen. Die Tschaika war eine verkleinerte Ausführung des SIL, der Staatskarosse für Politbüromitglieder, wie Rafael Santera Calderon eine besaß. Die Tschaika hatte das Sowjetministerium für Maschinenbau für Staatsfunktionäre unterhalb der Parteispitze entworfen. Als er das Auto heranrollen sah, fragte sich Santera, ob er wieder mal nicht für voll genommen wurde, weil sie einen Subalternen zu ihm schickten. Der Wagen war sogar dreckig. Die Strahlen der Sonne, die auf diesem verdammten Breitengrad gerade erst über den Horizont krochen, fielen auf eine Schmutzschicht über dem Lack. Santera nahm ein paar Schlucke aus dem Teeglas, das ihm Marina in die Hand gedrückt hatte, und wandte sich vom Fenster ab. Tschawtschawadse und Bykow saßen an dem Tisch, der sich gestern Abend unter den Speisen gebogen hatte. Jetzt war er fast leer, trug nur ein Tischtuch und zwei Teegläser. Santera hatte mit keinem von beiden gesprochen, seit er mit Rogow in Moskau telefoniert hatte. Das Schweigen im Raum war unversöhnlich und erdrückend. Es passte zu seiner Stimmung. Hoffentlich fühlten sich die beiden Russen immer beschissener. Er selber fühlte sich auch reichlich schlecht. Sein Alter Meister hatte sich als gestohlen oder als Fälschung entpuppt. Dann hatte Merrill verlangt, zum Bahnhof und zum nächstbesten Zug nach Finnland gebracht zu werden, da er mit der Sache nichts mehr zu tun haben wolle. Schlegel ebenso. Santera zweifelte kurz, ob er richtig daran getan hatte, den Engländer und den Deutschen ziehen zu lassen. Aber dann entschied er, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Zu viele Leute wussten, dass Merrill und Schlegel mit ihm nach Russland geflogen waren. Sie umzulegen, hätte nur lästige Frager auf den Plan gerufen. Und die beiden waren zu schlau, um das Maul aufzureißen über das Erlebte. Die Tschaika hielt vor der Eingangstür, und ein großer gepflegter Mann mit einem nach hinten geglätteten grauen Haarschopf stieg
aus. Er trug den hässlichsten grauen Anzug, der Santera je vor Augen gekommen war. Aus einer Art Polyester, knotig wie ein schlechter Teppich, und auch noch gestreift und mit überbreitem Revers und ausgestellten Hosen. Der Typ hatte wohl selten Zivilklamotten an. Zur Begrüßung gingen sie in die Eingangshalle. Der Offizier blinzelte ein paarmal, und Santera sah seinen Blick rasch durch den Raum schweifen und die unerwartete Eleganz der Inneneinrichtung registrieren. Dann trat er mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Grebenschikow, Walentin Nikolajewitsch«, stellte er sich Santera vor. Bevor Santera ihm die Hand schütteln konnte, schob sich Tschawtschawadse dazwischen und ergriff sie als erster. Er stellte sich vor und hieß Grebenschikow ostentativ im eigenen Büro willkommen. Doch der Versuch der Statuswahrung schlug offenbar fehl. Grebenschikow schüttelte ihm die Hand ungefähr so begeistert wie einem Leprakranken. Jedesmal das gleiche Problem, wenn man einen Handel in einem neuen Land aufzog, dachte Santera. Fast immer fing man mit den falschen Leuten an und musste geduldig warten, bis man rauskriegte, wo die Richtigen saßen. In Anbetracht von Grebenschikows sichtlicher Verachtung für Tschawtschawadse dämmerte ihm allmählich, wer in Russland das Sagen hatte. In diesem Land war das Militär stets die einzige funktionierende Institution gewesen. Tschawtschawadse, der hartnäckig so tat, als sei er der Gastgeber und habe zu diesem Treffen eingeladen, stellte Grebenschikow Santera vor. »Minister Rogow hat mich gebeten, seine Grüße zu überbringen«, sagte Grebenschikow auf Spanisch. »Meinen verbindlichen Dank«, entgegnete Santera, erfreut über die gemeinsame Sprache. »Darf ich mich bitte nach Ihrem Rang und Ihrer Stellung erkundigen?« Grebenschikow blickte überrascht. »Hat Ihnen das Minister Rogow nicht gesagt?« »Äh, nein, hat er nicht. Er hat nicht mitgeteilt, wen er schickt.« Grebenschikow erwog dies kurz. Santera fragte sich, ob er vielleicht zu irgendeiner Art Geheimnisverrat aufgefordert habe. »Generaloberst«, antwortete Grebenschikow, nachdem er vermutlich entschieden hatte, dass Tschawtschawadse es ohnehin
wusste. »Und stellvertretender Minister für Verteidigung.« »Hervorragend«, sagte Santera und lächelte zum ersten Mal in den vergangenen zwölf Stunden. »Und wo haben Sie ihr glänzendes Spanisch gelernt?« »Auf Kuba«, antwortete Grebenschikow. Sie gingen ins Speisezimmer und setzten sich an den Tisch. Marina brachte frischen Tee. Grebenschikow nahm einen Schluck. »Also, womit können wir Ihnen behilflich sein«, fragte er, an Santera gewandt. »Minister Rogow hat mir gesagt, Sie hätten etwas verloren.« »Das ist richtig«, sagte Santera. »Ein Gemälde. Entwendet. Schuld sind die Idioten da.« Bykow blickte finster. Er spürte, dass sie über ihn sprachen, und zwar nicht gerade schmeichelhaft. »Und Sie wissen weder, wer es hat, noch, wo es ist?« »Das ist richtig. Aber wir haben einen Anhaltspunkt.« »Einen Anhaltspunkt?« Santera wandte sich an Marina. »Sagen Sie Ihrem Onkel, er soll ihm das Foto zeigen«, sagte er auf Englisch. Marina dolmetschte. Bykow zog das Foto aus der Tasche und schob es über den Tisch Grebenschikow hin. Ein Schwarzweißfoto zweier Frauen, vermutlich Mutter und Tochter, die vor einer Datscha in die Kamera lächelten. Es war eindeutig Sommer, und sie hatten Baumwollblusen und Faltenröcke von der Art an, wie sie Sowjetfrauen in den Achtzigern getragen hatten. Die eine saß im Rollstuhl. »Wir wissen nicht, wo diese Datscha liegt«, sagte Tschawtschawadse zu Grebenschikow auf Russisch. »Aber die Frauen auf dem Bild haben etwas mit dem Diebstahl zu tun. Wir haben ihre Wohnung durchsucht. Es war niemand da, aber das Foto haben wir gefunden, in einem Album. Wir glauben, dass sie das Gemälde vielleicht auf der Datscha verstecken.« Grebenschikow zuckte die Schultern. »Aber im Umkreis von St. Petersburg gibt es Tausende.« »Nicht viele wie die hier«, widersprach Tschawtschawadse. »Sehen Sie diese verglaste Veranda? Ein vorrevolutionärer Bau. Und die Bäume überall im Hintergrund? Sie muss irgendwo für sich im Wald stehen. Und im Gegensatz zu den meisten Datschen ist sie zur Zeit bewohnt. Dafür muss es Anzeichen geben.«
Grebenschikow nickte. »Und Sie glauben, wir könnten sie finden…« »Mit Hubschraubern«, sagte Tschawtschawadse. »In Ordnung«, sagte Grebenschikow. »Meine Befehle lauten, Ihnen jede mögliche Unterstützung zu leisten. Aber wir können nicht die Arbeit des Innenministeriums tun. Das würde zu viele politische Probleme in Moskau aufwerfen. Ich kann ein paar Hubschrauber nach diesem Haus suchen lassen. Wir können Patrouillen an die finnische Grenze und in die Häfen schicken, um sicherzustellen, dass niemand das Gemälde außer Landes schmuggelt. Aber wenn wir das Bild finden, müssen Sie die Miliz rufen, damit diese die Verhaftung vornimmt.« »Oder uns selber drum kümmern«, sagte Tschawtschawadse. Grebenschikow sah ihm ins Gesicht. »Sagen Sie mir nichts, was ich nicht wissen will.«
31 Mit dem Auto war Desdemonas Galerie schwerer zu finden als das letzte Mal zu Fuß. In der Stunde vor der Morgendämmerung war der Himmel am schwärzesten, was die kleinen Nummernschildern an den Gebäuden fast unsichtbar machte. Burke musste den Newski Prospekt ein paar mal hinauf- und hinunterfahren, bis er das richtige Gässchen zum richtigen Hinterhof fand. Wenigstens hatte ihn die Suchaufgabe abgelenkt. Für die Frau, die auf dem Beifahrersitz saß und mit leerem Blick durch die Windschutzscheibe starrte, gab es keine solche Zerstreuung. Wie betäubt half sie ihm die Kopie aus dem Auto ausladen und wartete, während er sich am Türschloss zu schaffen machte. Schließlich ging die Tür auf, und er machte Licht. Versenkte Deckenleuchten strahlten das Angebot der Galerie an und ließen den übrigen Raum im Dämmerlicht. Er wirkte finster und unheildrohend. Burke schloss die Bürotür mit dem zweiten Schlüssel an dem kleinen Schlüsselbund auf, den Desdemona ihm mitgegeben hatte. Dann schleppte er das Gemälde hinein und sah sich nach einem Versteck um. Sie hatte einen riesigen Schreibtisch aus poliertem hellen Holz, vermutlich Birke, der aussah, als stamme er aus einem skandinavischen Designerstudio. Bestimmt hatte er ein paar Geheimfächer. Vor dem Schreibtisch standen Sessel für die Kunden, Klassiker von Charles Eames in braunem Leder und Chrom. An den Wänden hingen nicht Gemälde, sondern Tapisserien mit russischen Sakraldarstellungen. Der größte Wandteppich bedeckte die halbe hintere Wand. Dahinter fand er die Tür zu einem ziemlich großen Tresor mit Drehgriff und schwarzem Kombinationsschloss. Er rüttelte an dem Hebel, aber der bewegte sich nicht. Als Versteck für das Gemälde fand er nur einen Kleiderschrank, und so stopfte er die Kopie dort zwischen ein paar alte Parkas, gestützt auf schwarze Stöckelschuhe. Die Leda wirkte im Schrank irgendwie obszön, als solle er ihre Nacktheit verbergen, oder vielleicht auch wegen der Art, wie ihre linke Hand den Hals des selbstzufriedenen Schwans liebkoste. Er starrte kurz auf das Bild, das vom echten nur durch eine kleine Einkerbung auf der Rückseite zu unterscheiden war. Und das erinnerte ihn daran, was er noch zu
tun hatte. Die Schreibtischschubladen waren verschlossen wie der Tresor. Aber auf dem Schreibtisch fand er in einem Keramikbecher für Bleistifte und Kugelschreiber einen Brieföffner. Er ging zum Kleiderschrank und drehte das Bild herum. Zu seiner Überraschung waren auf der Rückseite der Holztafel lauter Buchstaben und Zahlen, offenbar vor langer Zeit mit Bleistift oder Holzkohle darauf geschrieben. Manche erkannte er als kyrillisch, und dann sah er eine Jahreszahl – 1769. In jenem Jahr war diese Holztafel, was immer ursprünglich daraufgemalt gewesen war, in die Sammlung der Eremitage gekommen. Auch lateinische Buchstaben waren vertreten, aber Worte konnte er nicht erkennen. »Rechte obere Ecke«, sagte er sich vor. Die Kennzeichnung würde klein und diskret sein müssen. Er kratzte sie ein. Unter der stumpfen Spitze des Brieföffners gab das Holz nur widerwillig nach. Er rieb ein paarmal mit dem Daumen über das C, um zu kaschieren, dass die Einkerbung so frisch war. Damit ließ er es bewenden. Er hörte Ljuba hinter sich treten, und als er sich umwandte, stand sie da, das Gesicht immer noch in Trauer erstarrt und die Schultern gebeugt unter ihrer Seelenlast. Ihre Augen waren noch rot, aber sie weinte nicht mehr. Die Haare fielen ihr in verschwitzten Strähnen und Löckchen ins Gesicht, und sie hatte die Hände vor den Bauch ineinander geschlungen. Sie knetete sich die Finger, und die Haut über ihren Knöchel wurde erst weiß, dann rot, und wieder weiß. »Jetzt ist es perfekt«, sagte sie und fing an zu weinen. Ljuba schluchzte erst leise, und dann laut, mit ziehenden Schmerzlauten beim Luftholen. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Sie stand mit gesenkten Schultern da, die Hände vor sich gefaltet und weinte, bis ihr reichlich Tränen über beide Backen liefen. Er fühlte sich hilflos, wie immer, wenn eine Frau weinte. Schließlich umarmte er sie und zog sie an seine Schulter. »Mein Beileid«, sagte er. »Und wenn es Ihnen ein Trost ist, ich weiß, welch schweren Verlust Sie zu tragen haben. Ich weiß, wie zornig Sie sind.« Sie hob den Kopf, ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie wies auf die neue Einkerbung auf der Rückseite des Gemäldes. »Warum haben Sie das gemacht? Warum ist das jetzt noch von Belang?«
»Weil ich glaube, die finden Ihre Datscha früher oder später, wenn wir sie nicht ablenken. Sie brauchen vielleicht ein paar Tage, aber es muss irgendwo einen Besitznachweis geben. Dort können sie nachsehen. Oder sie fassen einen von uns. Und bevor das geschieht, will ich mir was ausdenken, um sie hierherzulocken. Sollen sie doch das hier finden. Vielleicht fallen sie darauf rein.« Sie riss sich sichtlich zusammen. »Und war das nicht fein«, sagte sie, »so etwas hätte Mama bestimmt froh gemacht.« »Bestimmt nicht nur sie«, nickte Burke. Als er sah, dass unter dem drückend grauen Himmel der Morgendämmerung so gut wie kein Verkehr herrschte, fiel ihm ein, dass Samstag war. Er beschleunigte auf hundertdreißig, und die Fahrt zur Datscha wurde kürzer als er gedacht hatte. Die Straße verengte sich auf eine grobe, zweispurige Splittbahn ohne weißen Mittelstreifen. Um sich zu orientieren, hielt Burke Ausschau nach der Sonne. Sie war nur ein heller Fleck zwischen ein paar tief hängenden Wolken zu seiner Rechten. Und beim Hinsehen erblickte er den Hubschrauber. Er flog tief und langsam, knapp hundert Meter über den Baumwipfeln und etwa zweihundert Meter von der Straße entfernt. Noch während Burke hinsah, kippte der Hubschrauber nach links, zog eine enge Schleife und flog dann weiter geradeaus. Burke fuhr langsamer und ließ dem Hubschrauber Vorsprung, bis er nur noch ein Fleck am Horizont war. Er sah sich um. In einiger Entfernung zu seiner Linken sah er einen zweiten Hubschrauber in gleicher Höhe fliegen. Er blickte zu Ljuba hinüber. Wenn ihr irgend etwas aufgefallen war, ließ sie es sich nicht anmerken. Nach dem kurzen Aufflackern in der Galerie war sie wieder in denselben betäubten Schockzustand versunken, in dem sie seit Verlassen der Eremitage verharrte. Er deutete auf den Hubschrauber, bis auch sie ihn bemerkte. »Offenbar sitzen wir schlimmer in der Tinte, als ich dachte«, konstatierte Burke. Sie schien nicht zu begreifen. Sie rasten an einem aus Wasserrohren geschweißten Torbogen vorbei, bei dem der Rost durch die abblätternde hellblaue und rote Farbe blühte, mit der er einst gestrichen gewesen war. Er las die Worte Sawety Iljitscha, Iljitschs Vermächtnis, in stählernen Lettern
über dem Torbogen, und sah dahinter eine lange und niedrige weiße Scheune. Keinerlei Anzeichen, dass da jemand arbeitete. »Die Abzweigung kommt gleich«, sagte sie. »Ungefähr nach einem Kilometer. Auf der rechten Seite.« Die Kolchosfelder gingen in einen Mischwald von Kiefern und Birken über, der den größten Teil des Lichts aus der Wolkendecke schluckte. Er schaltete die Scheinwerfer ein. »Langsamer«, sagte sie. Die Abzweigung führte stracks in den Wald, und er konnte die Reifenspuren erkennen, die Desdemona bei der Ankunft im Schnee hinterlassen hatte. Ein prüfender Blick in den Rückspiegel. Niemand hinter ihnen. Er bog nach rechts ein. Der trockene Schnee auf der Fahrbahn war unproblematisch. Nach etwa hundert Metern beschrieb der Weg eine Kurve und er konnte durch die Bäume die Datscha erkennen. Die Fenster der Veranda glänzten in der Morgensonne. Die Datscha war größer als die bescheidenen und baufälligen Hütten mit zwei oder drei Räumen, Stolz und Zuflucht vieler seiner Moskauer Freunde. Sie war wohl ziemlich betagt, dachte er. Es gab sogar eine Scheune hinter dem Haus. Bevor er die Datscha erreichte, erblickte er Desdemona, die wachsam unter der Tür stand und so verharrte, bis sie das Auto geparkt hatten, ausgestiegen waren und sie sicher sein konnte, dass sie keinen unerwünschten Besuch hinter sich hergezogen hatten. Sie wirkte abgespannt und nervös. »Gott sei dank habt Ihr’s geschafft«, sagte sie, indem sie Burke umarmte und ihm zugleich den Computer aus der Hand riss, als habe sie Angst, er könne ihn fallen lassen. »Seid ihr in den Winterpalast hineingekommen?« Burke nickte. »Und habt ihr sie gefunden?« Dann sah sie Ljuba und begriff. Ljuba stand da und schwieg. Desdemona trat zu ihr und nahm sie in den Arm. Die Russin ließ sich kurz gegen Desdemonas Schulter fallen und straffte sich dann wieder. Ihre Haltung besagte, dass sie die Trauer vertagen und das Nächstliegende tun wollte, nämlich das Gemälde schützen, für das sich ihre Mutter geopfert hatte. »Wo habt ihr den Leonardo hingetan?«, fragte Ljuba. »Frag lieber nicht.«
Desdemonas Antwort kam Burke unter diesen Umständen schroff vor, egal, unter welcher Anspannung sie stand. »Wo ist Andruscha?«, fragte Ljuba. »Er schläft«, sagte Desdemona. Ljuba schüttelte den Kopf. »Typisch.« Zu Burkes Überraschung ergriff Desdemona Partei. »Er hat eine Ruhepause verdient«, sagte sie. »Bis eben hat er schwer gearbeitet. Die ganze Nacht. Und gut. Er ist sehr fähig.« »Ich weiß, aber…«, Ljuba brach ab, als habe sie sagen wollen, dass an Andruscha nicht alles vollkommen sei. Desdemona beließ es dabei. Sie nahm den Computer aus seinem Gehäuse, stellte ihn auf den Tisch und schaltete ihn ein. Dann begann sie zu tippen. Ljuba ging in die hinteren Räume des Hauses. Auf der Suche nach der Küche folgte ihr Burke. Als er sie einholte, stand sie da und starrte offenen Mundes auf eine der Wände. Burke sah sich in dem Zimmer um. Wie Nadescha Petrownas Salon in St. Petersburg wirkte es wie ein kleines Museum. Doch die Kunst hier an den Wänden bestand ausschließlich aus modernen, abstrakten Mustern, Umrissen, Farben und Strukturen. Er folgte ihrem Blick auf zwei besonders große Leinwände und begriff sofort. »Neue Stücke?« »Ja, äh, nein. Ich meine, die habe ich gemalt«, erklärte Ljuba und stockte dabei nach jedem Wort. Burke nahm ihr die Notlüge nicht übel. Er wollte irgend etwas sagen, das nicht gerade unfreundlich war, aber deutlich machte, dass er sich so leicht nicht hinters Licht führen ließ. Aber Takt war ihm schon immer schwer gefallen, und er bremste sich. Genau in diesem Moment hörte er Zweierlei – einen wütenden Fluch von Desdemona und von oben das anschwellende Knattern eines Hubschraubers. Er rannte zurück auf die Veranda, zu den Fenstern. Desdemonas Blick wechselte von Computerbildschirm zu den Fenstern nach draußen. »Was ist?«, fragte er. »Das verdammte Ding hier sendet erst wieder in vier Stunden, wenn der Satellit über uns ist. Und jetzt…« »Ist jemand anders über uns«, beendete er ihren Satz.
Sie nickte und trat zu ihm ans Fenster. Das Hubschrauberknattern wurde schwächer und schwoll dann wieder an. »Sie kommen zurück«, sagte sie. Sie konnten kurz den Bauch der riesigen Maschine sehen, die Raketenhalterungen waren leer. Trotzdem wirkte sie übermächtig und gefährlich. »Fliegt sehr tief«, bemerkte Burke. »Ja«, sagte Desdemona. »Vielleicht bloß eine Übung.« Sie horchten, ob sich das Geräusch entfernte, aber dem war nicht so. »Entweder üben sie Stillstand in der Luft, oder wir sind entdeckt«, stellte Burke fest. Sie nickte grimmig. Das Motorengeräusch war jetzt direkt über ihnen, und sie konnten sehen, wie der Schnee im Hof vom Rotorsog aufgewirbelt wurde. »Sie haben uns«, stellte sie fest. »Und es ist meine Schuld, verdammt nochmal, weil ich zugelassen habe, dass der Ofen angemacht wird. Ich hatte ganz vergessen, dass die Hubschrauber haben.« Er fragte sich, ob das Ding in der engen Lichtung überhaupt landen konnte. Mit einem geschickten Piloten vielleicht. Er stellte sich vor, wie sich bis an die Zähne bewaffnete Männer in Springerstiefeln vom Hubschrauber abseilten, und fragte sich, wie lange sie ihn wohl verhören mussten, bevor er ihnen das versteckte Gemälde an der Wand hier im Wohnzimmer verriet. Vielleicht eine Minute, dachte er. Vielleicht zwei, wenn er einen Anfall von Courage bekam. Und dann verzog sich das Rotorengeräusch so plötzlich wie ein Sommergewitter. Diesmal flog der Hubschrauber keine Schleife und kam nicht zurück. Er entfernte sich stetig, bis sie außer ihrem keuchenden Atem nur noch das leise Rauschen des Windes durch die Birken und Kiefern draußen hörten. Er spürte ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und wischte sie ab. Die Haut fühlte sich fettig an. »Na, die Zeit für einen gründlichen Blick haben sie ja gehabt«, sagte er zu Desdemona. »Glaubst du, Tschawtschawadse hat Verbindung zur Luftwaffe?« »Aber klar.« Das war von Ljuba gekommen, die leise auf die
Veranda getreten war, während sie nach oben gestarrt hatten. »Er hat alle in der Tasche.« »Wir müssen annehmen, dass Sie Recht haben«, bestätigte Desdemona. »Sie werden unseren Standort weitergeben, und Tschawtschawadse wird herkommen – in etwa fünfzehn Minuten.« »So lang haben wir ungefähr auch gebraucht«, bestätigte Burke. »Also schön«, setzte Desdemona an. Ihr Tonfall, fand Burke, war bemerkenswert ruhig und gefasst für eine Frau, die bereits vierundzwanzig Stunden unter Hochspannung stand. An ihrer Stelle wäre er nicht so ruhig geblieben. »Also, wir müssen jetzt Folgendes tun. Colin, du musst dir ein Telefon suchen und einen Anruf für mich erledigen.« »Gibt’s hier draußen keins?« »Nein«, sagte Ljuba. »Es ist fast unmöglich, eines gelegt zu bekommen, nicht mal in der Stadt.« Er nickte. »Selbstverständlich.« »Gut. Schreib dir die Nummer auf: 235-26-12. Such dir ein Telefon, aber geh nicht in dein Hotel. Sie lauern dir dort wahrscheinlich auf. Ruf diese Nummer an. Es ist die Bereitschaftsnummer für den FBI-Stützpunkt hier in St. Petersburg. Sag jedem, der rangeht, dass du wegen eines Visums für eine Bekannte anrufst, die deinen Vetter in North Dakota besuchen will. Hast du das?« Burke zog sein Notizbuch heraus und schrieb die Nummer auf. »North Dakota. Hab ich.« »Wahrscheinlich sagen sie dir, du sollst in der Leitung bleiben, sie verbinden dich. Dann sagst du ihnen, wer du bist, wo ich bin, und dass ich Hilfe brauche. Sofort. Klar?« »Klar«, bestätigte er. »Nimm Ljuba und Andruscha mit«, sagte Desdemona. »Dann begebt ihr euch alle irgendwohin, wo sie euch nicht suchen – zu Freunden. Nicht in die eigene Wohnung oder ins Hotel. Klar? Dort wartet ihr. Ich ruf dein Hotel an, Burke, und hinterlasse Nachricht, wenn es sicher ist. Du kannst dort anrufen und abfragen.« »Nein«, sagte Ljuba. »Ich fahre nicht mit.« »Ljuba?« Es war Andruschas Stimme aus einem anderen Zimmer, durch die Wand gedämpft. Gleich darauf stürzte er ins Zimmer, ganz zerknittert und mit
wirrem Schopf, die Augen blöde vom Schlaf. »Ich hab von einem Hubschrauber geträumt«, sagte er. »Und dann hab ich deine Stimme gehört. Wie geht es Nadescha Petrowna?« Ljuba mied seinen Blick. Burke ging zu Andruscha. »Sie ist leider nicht mehr unter uns«, sagte er und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Andruscha war zu geschockt, um zu weinen oder irgendwie zu reagieren. »Sie ist tot?« Burke nickte. Andruschas Augen füllten sich mit Tränen. »Sie war mir wie eine Mutter«, sagte er zu Burke. Dann trat er zu Ljuba und umarmte sie. Sie ließ die Arme schlaff herabhängen, wirkte aber durch seine Nähe leicht getröstet. Schließlich hob sie die Hände zu seinen Schultern und klammerte sich zitternd an ihn. »Wir schaffen das schon«, sagte Andruscha zu ihr. »Wir schaffen das schon.« »Aber nicht, wenn ihr hier nicht abhaut«, mahnte Desdemona. »Ich fahre nicht«, wiederholte Ljuba. »Aber Sie müssen«, beharrte Desdemona entschieden. »Nein«, versetzte Ljuba und klang dabei unbeugsam. »Meine Mutter hat sich geopfert, um das Gemälde hier zu retten. Ich lass es nicht im Stich.« »Sie können hier nichts tun«, widersprach Burke. »Und ich brauche vielleicht Hilfe in St. Petersburg.« »Ich fahre auch nicht«, sagte Andruscha. »Aber Sie müssen mit, Andruscha«, sagte Burke. »Schon weil Sie mir helfen müssen, ein Versteck zu finden.« Andruscha schien schwankend. »Fahr schon«, sagte Ljuba. »Er braucht dich.« »Und du?« »Ich bleib hier.« Desdemona zuckte die Achseln. »Wir haben keine Zeit zum Streiten. Wenn sie unbedingt wollen, dann bleiben sie eben.« Eines musste Burke noch wissen. »Wie lautet die Kombination zum Tresor in deinem Büro?« fragte er Desdemona. »Warum?« »Vielleicht kann ich sie brauchen«, sagte Burke. »Frag nicht. Hab
Vertrauen.« Desdemona lächelte verkniffen. »Er ist leer«, sagte sie. »Um so besser.« »Es ist der Geburtstag meiner Mutter. Sechs nach links, zwanzig nach rechts, siebenunddreißig nach links.« »Hab ich«, bestätigte Burke. »Nimm den Schiguli«, sagte Desdemona. »Er ist hinten in der Scheune. Der Hubschrauber kann ihn nicht gesehen haben.« Sie gab ihm die Schlüssel, und sie gingen hinaus. Der Schnee unter seinen Schuhen fühlte sich weich und flockig an, aber der Wind fuhr ihm in die Jacke und stach ihm in die Wangen. Burke und Andruscha schoben das schwere Scheunentor auf. Burke drehte sich um und sah Desdemona dastehen, zwei Schritte entfernt. Er trat auf sie zu, sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn, nur ganz kurz. Dann trat sie zurück. »Pass auf dich auf«, sagte Burke und wünschte, ihm wäre was Besseres eingefallen. »Du auch«, antwortete sie. Rasch stieg Burke ein und brachte den alten blauen Schiguli in Gang. Die Sitze waren so kalt, dass er glaubte, die Schenkel frören ihm an. Andruscha stieg gleichfalls ein. Sie fuhren rückwärts den Weg hinaus, an Desdemonas grauem Volvo vorbei, durch den verschneiten, schattigen Wald zur Straße. Burke erhaschte einen letzten Blick auf Desdemona, die mit den Händen in die Seiten gestützt vor der Veranda stand, bevor der Weg sich wand und ihm die Bäume den Blick verstellten. Er beneidete sie nicht darum, zurückbleiben zu müssen. »Sie haben sie umgebracht«, murmelte Andruscha. »Umgebracht.« Burke stieß rückwärts auf die Straße und sah sich nach Gegenverkehr um. Aber nichts kam. Er fuhr los in Richtung St. Petersburg und war sich dabei sehr bewusst, wie das klapprige Sowjetauto sich mühte, achtzig zu schaffen, wo der Volvo mit Tempo hundertdreißig dahingesummt war. Er hatte etwa zwei Kilometer zurückgelegt, als er mehrere Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkommen sah. Der Abstand schrumpfte erstaunlich schnell. Er duckte sich auf den Fahrersitz, schlug den Kragen hoch und wies Andruscha an, es ihm gleichzutun.
Dann rauschte der Gegenverkehr an ihnen vorbei. An der Spitze die schwarze SIL-Karosse, die er schon vor der Eremitage gesehen hatte, wie ein Hausboot auf Rädern. Dann kam ein Mercedes, nur um weniges kleiner. Ein schwarzer Volvo donnerte dicht hinterher. Die Kolonne hatte wohl hundertfünfzig Stundenkilometer drauf, dachte er. Der Schiguli schlingerte und schaukelte im Sog. Burke musste kämpfen, ihn auf der Straße zu halten. Er sah in den Rückspiegel. Die Fahrzeuge wurden nicht langsamer. Offenbar war er unerkannt geblieben.
32 Rafael Santera stand dicht am warmen Kachelofen in der Küche der Datscha und musterte die beiden Frauen, die ein paar Schritte entfernt auf steiflehnigen Holzstühlen saßen. Attraktiv waren sie beide. Die eine war dunkel und die andere blond. Sie erinnerten ihn an Vanille- und Schokoladeneis und an die Zeit, als er mit elf genug Geld mit dem Verhökern von Pfandflaschen zusammengekratzt hatte, um sich eine Eistüte mit einer Kugel von beidem zu kaufen. Ein denkwürdiger Tag war das gewesen. Es würde so fesselnd sein, sie gemeinsam zu verhören, dass er fast hoffte, Miguel werde das Gemälde nicht entdecken. Wie zur Antwort auf seinen unausgesprochenen Wunsch kamen Miguel, Bykow, Tschawtschawadse, Marina und drei weitere Kolumbianer wieder in die Küche, mit leeren Händen, bis auf die Maschinenpistolen, die alle Männer außer Tschawtschawadse mit sich führten. »Wenn es hier ist, ist es gut versteckt«, berichtete ihm Miguel auf Spanisch. »Wir haben in der Scheune gesucht, in der ganzen Datscha, und wir haben es nicht gefunden«, fügte Tschawtschawadse hinzu. Marina übersetzte ins Englische. »Vielleicht müssen wir das ganze Haus einreißen.« Santera schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das nötig wird.« Gelangweilt machte er zwei Schritte nach links und gab einen weiteren Befehl auf Spanisch. Blitzschnell und punktgenau umstellten Miguel und vier Kolumbianer Bykow und richteten ihre Waffen aus einer Entfernung von etwa dreißig Zentimeter auf seinen Kopf. Miguel grinste gehässig. Er fasste nach dem Lauf von Bykows Pistole und wollte sie ihm wegnehmen. Bykow, sichtlich überrascht und bestürzt, klammerte sich daran fest. »Sagen Sie ihm, er soll sie hergeben«, wies Santera Tschawtschawadse an. »Oder wir blasen ihm den Kopf weg. Und anschließend Ihnen.«
Stotternd und blass dolmetschte Marina. Tschawtschawadse zögerte. Seine Männer waren alle auf die Hotels und die anderen möglichen Anlaufstellen Burkes und Andruschas in der Stadt aufgeteilt worden. Als Leibwache hatte er nur Bykow dabei. Santera sah ihn an und wusste genau, was er dachte und wie er reagieren würde. »Gib sie ihnen, Wanja«, sagte Tschawtschawadse. Langsam löste sich sein Griff, und er gab die Pistole hier. Miguel steckte sie in die Jackentasche, immer noch grinsend. »Und jetzt«, fuhr Santera fort, indem er leicht den Kopf wandte und die Stimme hob, um auch Ljuba und Desdemona einzubeziehen, »haben wir die drei hier. Die eine ist Tochter und Assistentin der Frau, von der die geniale Fälschung stammt. Die zweite, die Schwarze, ist nach eigenen Angaben Kunsthändlerin. Ich denke mir, dass sie in diesem Punkt die Wahrheit sagt. Und der dritte, Ihr Freund Bykow, war Sicherheitschef der Eremitage und hatte das Atelier der beiden Frauen unter Videoüberwachung.« Tschawtschawadse nickte stumm, als er die Übersetzung vernahm. »Von einer Fälschung habe ich nichts gewusst«, fauchte Bykow. Santera ignorierte ihn. »Und ich sage Ihnen, alle drei müssen damit zu tun haben.« Tschawtschawadse nickte. Bei diesem Nicken rötete sich Bykows Gesicht noch mehr, die Adern an seinem Hals traten hervor. »Du Drecksau!«, zischte er. Santera fiel auf, dass er anfing zu zittern. Jetzt musste schnell gehandelt werden. »Wir könnten nun dieses Haus einreißen, aber das würde zu lange dauern und vielleicht nicht zum Erfolg führen. Ich schlage stattdessen vor, dass wir die drei da dazu bringen, uns zu sagen, wo das Gemälde ist.« Tschawtschawadse nickte wieder. Santera nickte Miguel zu. Dieses Stück hier hatten sie schon öfter aufgeführt, wenn auch in anderer Besetzung. Miguel wusste genau, was zu tun war. Mehr noch, er hatte große Lust darauf, seit dem gestrigen Abend, als Bykow ihn in Tschawtschawadses Speisezimmer gedemütigt hatte. Blitzschnell senkte Miguel den Lauf seiner Maschinenpistole und gab einen gezielten Einzelschuss ab. Der Knall dröhnte in dem kleinen Raum, ließ alle kurz ertauben und erfüllte die Luft mit
Pulverschmauch. Marina schrie auf. Die Kugel fuhr Iwan Bykow durchs linke Knie, zerschmetterte die Kniescheibe und zerriss das vordere Kreuzband. Vor Schmerz aufbrüllend, fiel Bykow schwer auf die linke Seite. Die übrigen vier Kolumbianer hielten alle anderen mit der Waffe im Anschlag in Schach: Tschawtschawadse, Marina und die zwei Frauen. Bykow wand sich auf dem Boden und umklammerte instinktiv sein Knie, um die Blutung zu stillen und es zusammenzuhalten. Das Blut sickerte ihm durch die braunen Hosen und über die Finger. »Los jetzt«, sagte Miguel auf Spanisch. »Bringt ihn raus.« Zwei der Kolumbianer packten Bykow grob an Armen und Beinen. Sie hoben ihn nicht mal vom Boden hoch, sondern schleiften ihn einfach zur Haustür hinaus. Bykow brüllte erst, winselte dann, und wurde schließlich still. Er war, merkte Santera, bereits im Schock. Sie deponierten ihn vor der Datscha im Schnee. Die zwei anderen Kolumbianer liefen in die Scheune und kamen kurz darauf mit Stricken, einem Vorschlaghammer und ein paar eisernen Zeltheringen wieder heraus. Miguel, der sie durch das Küchenfenster beobachtete, grinste beim Anblick der Ausrüstung. Er hielt Tschawtschawadse und die beiden Frauen noch kurz in Schach und bedeutete ihnen dann mit dem Lauf der Maschinenpistole, nach draußen zu gehen. Sie gehorchten. Draußen sah sich Miguel nach der geeigneten Stelle um und wählte zwei junge Birken, schlank, biegsam und etwa sieben Meter hoch, zweieinhalb Meter auseinander und etwa drei Meter von der südlichen Außenwand der Datscha entfernt. »Zu den Bäumen da drüben«, wies er die zwei Männer an, die Bykow nach draußen geschleift hatten. Sie nickten, hoben ihn wieder auf und schleiften ihn zur exakten Mitte zwischen den Stämmen. Die beiden Kolumbianer mit den Seilen begannen diese an Bykows Knöcheln festzubinden. Er kam so weit zu sich, dass er stöhnen, den Kopf heben und nachsehen konnte, was sie da mit ihm trieben. Sobald er sich aber im Schnee herumzuwälzen begann, als wolle er flüchten, verdrehte ihm einer von den beiden den linken Fuß und gab so Druck auf das zerschmetterte Knie. Bykow zog pfeifend die Luft ein, und sein Kopf fiel zurück. Er war leichenblass,
und trotz des klirrenden Frosts standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Die drei Frauen und Tschawtschawadse sahen zu, immer noch im Ungewissen, was jetzt geschehen würde. Santera kam nur kurz heraus, um Tschawtschawadse und den beiden Frauen zu erläutern: »Das machen wir in Kolumbien, um Auskünfte zu erhalten, nur mit ganz anderen Bäumen. Es klappt fast jedesmal.« Er nickte Miguel zu und trat wieder ins Haus. Bei dieser Art Verhör war er im Allgemeinen nicht gern Zuschauer, und schon gar nicht in so einer arktischen Kälte. Auf Miguels Befehl erklommen die beiden Kolumbianer, die in der Scheune gewesen waren, die beiden Birken bis zum Wipfel. Sie knoteten zwei weitere Stricke an den oberen Teil der Stämme, zwischen die kahlen Zweige. Dann schwangen sie sich mit einer Hand am Stamm und der anderen am Seil nach innen, so dass sich die beiden Bäume unter ihrem Körpergewicht mit den Wipfeln einander zuneigten. Doch das allein hatte noch zu wenig Wirkung, die Wipfel blieben immer noch zwei Meter auseinander. Da stießen sich die beiden von den Stämmen ab und sprangen die restlichen zwei Meter hinunter, die Stricke fest in den Händen. Auch die anderen zwei Kolumbianer packten jetzt zu, und zu viert zogen sie die Stämme weiter herunter, bis sich die Wipfel etwa zweieinhalb Meter über dem schneebedeckten Boden kreuzten. Zwei der Kolumbianer banden die Seile um Bykows Knöchel an den Birkenstämmen fest, fast in Höhe der Knoten der Kletterer. Langsam gaben die zwei Kletterer Seil, und die Wipfel begannen sich in Richtung ihrer natürlichen Stellung zu heben. Bykows Körper wurde hochgezogen, bis er stöhnend kopfunter zwischen den beiden Bäumen hing. Miguel nickte den beiden Männern an den Halteseilen abermals zu, und sie gaben noch mehr Seil. Bykow wurde noch höher gezogen, und die beiden Bäume begannen seine Beine auseinander zu zerren. Bykow schrie auf vor Angst und Schmerz. Desdemona zuckte zusammen. Ljuba zitterte. Marina biss sich auf die Lippen. Tschawtschawadse sah ungerührt hin. Die Bäume waren immer noch zu einem Winkel von fünfundvierzig Grad gebogen, und es war klar, was passieren würde, wenn die Kolumbianer die Halteseile losließen.
»Und jetzt frag ihn, wo das Gemälde ist«, wies Miguel Marina an. Marina musste sichtlich schlucken, brachte aber kein Wort heraus. »Los, frag ihn«, befahl Miguel. Er blickte um sich, und seine Mundwinkel gingen nach oben, nur so viel, dass Marina sehen konnte, wieviel Vergnügen ihm diese Übung machte. »Da sind noch mehr Bäume«, drohte er. Marina blinzelte, machte den Mund auf und versuchte zu sprechen. Es kam kein Ton heraus. Sie hustete und riss wieder den Mund auf. »Onkel, sag ihnen, wo das Gemälde ist«, sagte sie. Bykow verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. Er schwebte zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, hin- und hergerissen zwischen dem Schmerz in seinem Knie und dem Wissen, was passieren würde, wenn die Seile losgelassen wurden. »Sag ihm, er hat den Falschen. Das Mädchen weiß es.« Marina dolmetschte. Miguel lauschte, nickte wieder und deutete dann auf den Vorschlaghammer. Die zwei müßig danebenstehenden Kolumbianer begannen, die eisernen Heringe neben Bykows Schultern in den Boden zu rammen. Sie brauchten ein paar Schläge, um durch die Frostschicht zu kommen, waren aber im Handumdrehen fertig. Dann wickelten sie die Enden der Halteseile um die Heringe und ließen Bykow stöhnend hängen. Miguel wandte sich Ljuba und Desdemona zu. »Wollt ihr beiden es mir jetzt sagen?«, fragte er. »Oder auch gleich mitmachen beim Bäumchenspiel?«
33 Burke fuhr den Schiguli rechts ran und parkte neben einem kniehohen, schwarzverkrusteten Schneehügel auf dem stadtauswärts gelegenen Abschnitt des Newski Prospekt, zwei Häuserblocks von Desdemonas Galerie entfernt. Auf der Straße machten die Leute ihre Samstagseinkäufe. Sie verstopften die Gehwege, glotzten in Schaufenster und versuchten durch die Eisblumen, die sich über Nacht auf dem Glas gebildet hatten, etwas zu erspähen, was sie sich leisten konnten. Bei so einem Gedränge war unmöglich festzustellen, ob jemand die Kunstgalerie beobachtete oder nicht. Er sah Andruscha Karpow an. Der Russe knabberte am Nagel seines rechten Zeigefingers. Sein Blick war wie erstorben, und er starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, wie schon auf der ganzen Fahrt herein in die Stadt. »Andruscha«, sprach ihn Burke an. »Wie fühlen Sie sich?« Die Anrede schien den Russen zu erschrecken. Er riss den Finger aus dem Mund, verschränkte die Hände über dem Bauch und rührte damit wie in einem Getriebe. »Gut«, sagte Andruscha. »Ich fühle mich gut. Was soll ich tun?« Die Worte waren zu rasch und automatisch gekommen, um auch nur annähernd zu überzeugen, doch Burke wusste den guten Willen zu schätzen. Er zog Desdemonas Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn vor Karpows Gesicht baumeln, bis dieser wie selbstverständlich danach griff. Dann gab er Karpow den Zettel, auf den er die Tresorkombination geschrieben hatte. »Andruscha«, sagte er und betonte jede Silbe, als rede er mit einem Betrunkenen. »Wir müssen uns trennen. Ich muss ein Telefon suchen, um Hilfe herbeizurufen. Und du musst in die Galerie. Siehst du den Eingang dort? Drüben unter dem alten Schild Gastronom. Siehst du das?« Andruscha nickte wie in Zeitlupe. »Du gehst dort rüber, in den Innenhof, und suchst nach dem Schild Kunstgalerie McCoy-Fokine, im Erdgeschoß. Klar? Dann gehst du rein und drinnen in ihr Büro. Mit dieser Kombination hier öffnest du den Tresor. Klar?« Andruscha reagierte nicht.
»Klar?« Burke packte ihn an der Schulter, und Andruscha stieß einen schweren Seufzer aus. »Verstanden«, sagte er. »Gut. Dann gehst du an den Schrank und holst die Kopie, die Nadescha Petrowna gemalt hat. Ich hab sie so hergerichtet, dass sie jetzt genau wie das Original ist.« Er machte eine Pause und wartete, ob Andruscha fragen würde, wie. Aber er schwieg. »Das Bild schließt du in den Tresor, und dann sieh zu, dass du wegkommst«, sagte Burke. »Warum?« Andruscha sah jetzt so aus, als habe er zum ersten Mal seit dem Einsteigen ins Auto das Gehirn eingeschaltet. »Die nehmen uns nicht ab, dass wir so was Wertvolles im Kleiderschrank verstecken, wenn wir es genau so gut in den Tresor schließen können«, erläuterte Burke. »Ach so«, sagte Andruscha. Die Verstörtheit wich aus seinem Gesicht, und sein Doppelkinn schien sich zu straffen. »Denk daran, geh nicht in deine Wohnung zurück«, mahnte Burke. »Geh irgendwohin, wo sie dich bestimmt nicht suchen. Fahr den ganzen Tag U-Bahn, wenn es sein muss.« Andruscha lächelte ihn verkrampft an, beugte sich herüber und klopfte ihm auf die Schulter. »Keine Sorge«, sagte er. »Und schreien Sie nicht so. Ich höre gut.« Burke war verblüfft, wie plötzlich Andruscha Verstand und Tatkraft mobilisieren konnte. Zum ersten Mal seit der Abfahrt von der Datscha vertraute er darauf, dass Andruscha tun würde wie geheißen. Ohne ein weiteres Wort machte Andruscha die Tür zum Schneehügel hin auf, quetschte seine Körperfülle wie ein Aal durch den Spalt und machte sich auf zur Galerie. Burke fuhr zwei Häuserblocks bis zum Platz des Aufstands und stellte das Auto vor dem Moskauer Bahnhof ab, da die vielen wartenden Zugreisenden vermutlich gute Deckung boten. Er drückte sich an den Devisenschiebern, Sauerkrautverkäufern, Hütchenspielern und Anbietern von Selbstgebranntem am Bahnhofseingang vorbei, ging hinein und sah sich nach dem roten Neon-M um, das den Eingang zur Metro bezeichnete. An UBahneingängen gab es immer Telefone. Er fand eine Reihe von fast einem Dutzend Telefonapparaten, grub in seiner Manteltasche und
seufzte vor Erleichterung. Er hatte noch ein halbes Dutzend Telefonjetons dabei. Er zog das Notizbuch heraus und wählte die Nummer, die Desdemona ihm gegeben hatte. Besetzt. Er wählte die Nummer nochmals, sorgfältig Zahl für Zahl. Wieder besetzt. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, legte den Hörer auf und sah sich nach einem anderen Apparat um. Vielleicht war der hier kaputt. Er sah einen unbesetzten und ging hin. Er wählte wieder. Besetzt. Er wählte erneut. Immer noch besetzt. »Scheiße«, murmelte er und legte auf. Er trat zurück und sah zu, wie eine alte Frau an dasselbe Telefon ging, eine Nummer wählte, eine Wertmünze einwarf und ein lebhaftes Gespräch begann. Offenbar funktionierte das Ding doch. Er wartete, bis die Alte fertig war, nahm dann den Hörer wieder ab und wählte. Wieder dudelte ihm das Besetztzeichen Hohn in die Ohren. Wütend knallte er den Hörer auf. »Ärger, Alter?« Es war einer von den hübschen Bengeln, die sich in Bahnhöfen den Lebensunterhalt verdienen. »Ich krieg eine Nummer nicht. Immer besetzt«, erläuterte Burke. »Na so was. Wo wollen Sie denn anrufen?« Der Junge hatte offenbar gemerkt, dass er Ausländer war, und Burke hoffte, dass er bloß helfen wollte. »Jemand an der Uliza Petra Lawrowa«, sagte er. Der Junge nickte. »Fängt die Nummer mit 274,215 oder 235 an?« fragte er. Misstrauisch nickte Burke. Es passte ihm gar nicht, so viel einem Dritten preiszugeben, einem potentiellen Spitzel. »Mann, da können Sie von hier aus nicht anrufen«, sagte der Junge. »Warum nicht? Das ist doch auch in der Stadt.« Der Junge zuckte die Achseln. »Das Telefonnetz ist im Arsch, Mann. Probier’s von irgendwo um die Puschkinskaja herum. Von dort aus kommst du durch.« Er drängte sich an Burke vorbei, nahm den Hörer und führte sein Gespräch. Burke sah ihm noch kurz dabei zu. Der Junge lauschte, bis jemand abnahm, warf seine Wertmünze ein und begann ein Gespräch, das aus ein paar überzeugenden Grunzern und einem
lauten Schnaufer bestand. Es gab keinen Grund für die Annahme, dass er gelogen hatte. Doch Burke ging sehr vorsichtig zurück zum Schiguli, halb darauf gefasst, Schritte hinter sich zu hören und eine schwere Hand auf der Schulter zu spüren. Aber nichts geschah. Er merkte nur, wie gewöhnliche Reisende im Vorbeigehen seine Schuhe oder seinen Mantel musterten und sofort stumme Mutmaßungen darüber anstellten, ob er Ausländer sei oder neureicher Russe. Wo die Station Puschkinskaja war, wusste er ungefähr. Er machte mit dem Schiguli kehrt und fuhr den Newski Prospekt zurück, wohl wissend, dass die Zeit ihm davonlief. Er drückte das Gaspedal voll durch, überholte eine klapperige Straßenbahn und bog verbotenerweise nach links in den Liteiny Prospekt ab. Die Bremsen der Straßenbahn kreischten, er fuhr vor der Puschkinskaja vor und stellte das Auto ab, ohne zu prüfen, ob er im Parkverbot stand. Er sprang die breiten grauen Granitstufen mit ihrem Belag von Schneematsch hinunter und fand eine Telefonreihe, die genau so aussah wie die im Moskauer Bahnhof. Doch die hier lag mehr im Freien. Er erschauerte, als ihm ein Windstoß ins Genick fuhr. Diesmal klingelte es am anderen Ende, und er atmete ganz langsam völlig aus. Er hielt die Wertmünze bereit, aber irgendwie fiel sie ihm runter. Er hob sie gar nicht erst auf, sondern fuhr mit der Hand in die Tasche und fischte eine andere heraus, aber bevor er sie in den Schlitz stecken konnte, war die Verbindung gestorben. Fluchend wählte er noch einmal. Diesmal kam er durch. »Connors.« »Äh, hallo, hier spricht Colin Burke«, sagte er. Er kam sich plötzlich blöd vor. Codeworte hatte er noch nie gebraucht. Sie erinnerten ihn an die alten Schwarzweißfilme über den Zweiten Weltkrieg. Nicht seine Generation. »Ja«, sagte Connors auffordernd. »Ich rufe wegen eines Besuchervisums für eine Bekannte an, die North Dakota besuchen will«, sagte Burke sein Sprüchlein auf. »Wer sind Sie, und von wo aus rufen Sie an?«, fragte Connors und klang plötzlich hellwach. »Mein Name ist Burke, und ich telefoniere vom Bahnhof Puschkinskaja, im Auftrag von Desdemona McCoy.« »Scheiße«, sagte Connors. »Um was geht’s?«
»Sie hat einen Haufen Ärger und braucht dringend Hilfe«, sagte Burke. Er berichtete, wo die Datscha lag und wie viele Autos zu Tschawtschawadses Kolonne gehörten. »Scheiße«, fluchte Connors zum zweiten Mal. »Sie haben genau den passenden Moment erwischt. In Moskau ist die Hölle los, und fast alles, was wir haben, ist jetzt dort.« »Die Hölle los?« »Straßenkrawalle. Eine Menschenmenge hat einen Teil des Kremls besetzt. Die Regierung sucht Truppen, die sie da wieder rauswerfen.« »Spontane Krawalle?« »Wer zum Teufel kann das wissen?« »Können Sie McCoy also helfen?« Connors zögerte, und Burke konnte ihn atmen hören. »Wir tun, was wir können. Ich gehe davon aus, dass sie da draußen kein Telefon hat.« »Richtig.« »Na, eine schnelle Eingreiftruppe hab ich nicht parat. Ich sammle, was da ist, und komm dann raus.« Für Burke hörte sich der Mann wie ein Bürokrat an, und er wusste auch, dass das FBI der CIA so liebend gern aushalf wie die Hutus den Tutsis. »Wie lange wird das dauern?« »Weiß nicht«, sagte Connors. »Hoffentlich nur eine halbe Stunde.« »Aber vielleicht auch länger?« »Sie sind doch auch hier im Land. Wissen Sie, wie lange es dauert, bis man hier was auf die Beine gestellt kriegt?« »Kann ich was tun?« »Nein«, sagte Connors. »Gehen Sie zurück in ihr Hotel. Bleiben Sie dort. Oder noch besser, kommen Sie ins Konsulat. Dort sind Sie sicher. Irgendwer wird Ihnen ein Mittagessen spendieren.« »Danke«, sagte Burke, »kein Appetit.« Burke sah auf die Armbanduhr. Ungefähr fünfundzwanzig Minuten waren vergangen, seit das schwarze Wagentrio auf der Chaussee an seinem Schiguli vorbeigerauscht war. Weitere fünf Minuten für Anfahrt und Sichern, und vielleicht noch mal zehn für die Haussuchung. Wenn sie das Gemälde nicht gefunden hatten, bedeutete das, dass sie Ljuba und Desdemona verhörten, seit
ungefähr zehn Minuten. Konnte es etwas nützen, wieder dort hinaus zu fahren? Das verwaschene Schwarzweißbild auf dem Monitor, wie Bykow Nadescha Petrowna folterte und ihr mit bloßer Hand das Schlüsselbein brach, stieg in ihm auf. Sie hatte sich lieber umbringen lassen, als zu verraten, was er wissen wollte. Ihre Tochter, spürte er, würde sich genauso verhalten. Auch Desdemona. Dass er sie da draußen nicht im Stich lassen konnte, stand für ihn fest. Und wenn er für Desdemona und Ljuba nur eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten Aufschub herausschinden konnte, würde die Kavallerie, die Connors hoffentlich soeben zusammentrommelte, vielleicht die Lage retten. Eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten. Das Bild im Tresor würde ihnen diese Zeit verschaffen. Als er darauf bestanden hatte, die Kopie hier aus der Eremitage mitzunehmen, und als er das C auf der Rückseite der Holztafel eingrub, hatte er noch geglaubt, es gebe eine andere und bessere Möglichkeit, den Köder für Tschawtschawadses auszulegen. Aber es gab sie nicht. Burke sah wieder auf die Uhr. In Washington war es jetzt fast Mitternacht. Immer noch Zeit, zu einem anderen Hotel zu fahren, sich eine internationale Telefonverbindung zu suchen und rasch einen Artikel für die Nachtausgabe zu diktieren. Aber als er sich den Artikel vorzustellen versuchte, blieb er an der kritischen Lücke hängen. Dass der Mann, den er durch die Überwachungskamera gesehen hatte, tatsächlich Santera war, war blanke Mutmaßung. Auch die Verbindung zwischen dem Gemäldeverkauf und dem Attentat auf Marschall Gratschenko konnte er noch nicht herstellen. Er konnte nicht einmal gesichert behaupten, dass Slema Tschawtschawadse in die Sache verwickelt war. Außerdem hatte er Nadescha Petrowna versprochen, über das Bild nicht zu schreiben, bevor sie ihm nicht grünes Licht gegeben hatte. Zwar konnte er so tun, als habe ihr Tod ihn von dieser Verpflichtung entbunden. Aber natürlich stimmte das nicht. Er musste dem Geist des Versprechens schon treu bleiben und durfte den Artikel erst durchgeben, wenn er das Gemälde damit nicht mehr in Gefahr brachte.
Er stieg wieder ins Auto, fädelte sich kurz zwischen Fußgängern durch, die ihre Taschen und Pakete zur U-Bahn schleppten, und hatte dann freie Fahrt auf den Liteiny Prospekt. Beim Linksabbiegen auf den Newski Prospekt schnitt er eine weitere Straßenbahn, drückte die Tachometernadel so weit gegen hundert, wie es ging, und musste dann eine Vollbremsung machen. Vor ihm marschierte eine Menschenwand langsam den Boulevard hinunter, über ihr flatterten rote Fahnen im Wind von der Newa. Zwei Milizautos fuhren mit blitzendem Blaulicht zur Sicherung voraus. Rasch zog Burke das Auto vom Newski Prospekt nach rechts in eine Seitenstraße und würgte den Motor ab, da er beim Anhalten vergaß, die Kupplung zu treten. Er sah auf seine Hände. Sie zitterten. Die Marschierer kamen näher, und über das Heulen des Windes hinweg konnte er hören, dass sie ein Lied aus der Zeit des Sozialismus sangen. Sie führten Sowjetflaggen mit sich und Porträts von Lenin und Stalin. Aber es war keine große Demonstration, und auch keine geordnete. Den ersten beiden geschlossenen Reihen folgte nur noch eine lockere Menschenmenge, alles in allem nicht mehr als tausend. Auf den Gehsteigen blieben die Leute stehen und glotzten. Manche verharrten stumm, andere feuerten die Marschierer an. Ein älteres Ehepaar reihte sich ein. Als die vorderste Reihe die Seitenstraße erreichte, wo Burke geparkt hatte, verließ eine Gruppe von etwa einem Dutzend Männern die Menge und rannte zu einem geschlossenen Kiosk vor einem Brotladen. Er sah, wie ein Stock geschwungen wurde, und hörte Glas klirren. Im Handumdrehen langten die Männer durch die zerbrochenen Scheiben hinein und reichten Flaschen an ihre Genossen heraus. Andere auf dem Gehweg ergriffen die unverhoffte Gelegenheit beim Schopf. Ein alter Mann, dem fettige graue Locken unter der Schapka hervorkringelten, rannte Burke bei seinem Sprint zu dem zerstörten Kiosk fast um. Unmittelbar darauf kam er zurück, eine Flasche in jeder Hand. In der einen polnischen Wodka, in der anderen billigen amerikanischen Bourbon. Hinter ihm umschwärmten die Russen den Kiosk wie aufgestörte Bienen den Bienenstock. Er stürzte krachend um.
Bevor er richtig nachdachte und registrierte, was geschehen war, war Burke schon losgelaufen. Er wand sich zwischen ein paar Männern durch, die sich unter der eingedrückten Kioskwand durchquetschten wie Hunde unter einem Zaun. Er sah hinein und erblickte Glasscherben, ein Durcheinander von Schokoriegeln und ein paar unberührte Flaschen Bourbon. Er griff sich eine Flasche und riss das Zollsiegel ab. Wie selbstverständlich drehte er die Kappe ab und setzte den Flaschenhals an den Mund. Der billige Fusel brannte ihm auf der Zunge und in der Kehle, und er hätte fast gehustet und wieder ausgespuckt. Doch er unterdrückte den Würgereflex und schluckte weiter, bis der Pegel in der Flasche bis zum Halsansatz gefallen war. Er atmete tief ein und spürte, wie sich der Alkohol in seinem Magen ausbreitete, und alsbald auch in seinem Blut. Ein Gefühl von Ruhe und Wohlbefinden. Dann schraubte er die Flasche wieder zu und wandte sich um. Wie eine Stafette reichte er sie an einen Mann mit schütterem braunen Bart und schmieriger Filzjoppe weiter, der sich von den Demonstranten gelöst hatte und zu dem eingedrückten Kiosk hingelaufen war. Der blieb er jetzt stehen und drehte sich zu Burke um, völlig baff. »Meine Spende für die gerechte Sache, Genosse«, sagte Burke. Der Mann blickte fast verstört. »Aber es ist doch Ihre«, sagte er, unschlüssig, ob er sie zurückgeben sollte. »Keine Sorge«, sagte Burke. »Ich bin Abstinenzler.« Andruscha Karpow stand in Desdemona McCoys Büro und bemühte sich, zu begreifen, was der amerikanische Journalist mit der Bemerkung gemeint hatte, er habe die Gemäldekopie verbessert und sie sei jetzt genau wie das Original. Er starrte sie an, hob sie dann hoch, und betrachtete sie im Lichtkegel des Deckenstrahlers. Er konnte keine Veränderung ausmachen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Dann musste er halt tun, was Burke ihm aufgetragen hatte. Er drehte das Bild um, um es hochzuheben, und da sah er ihn sofort, den kleinen, auf der Rückseite der Holztafel eingegrabenen Buchstaben C. Er kratzte mit dem Fingernagel. An den Seiten schien die
Einkerbung nicht mit der dünnen Staubschicht bedeckt, die sich auf der übrigen Rückfläche gebildet hatte. Höchstwahrscheinlich war das erst vor kurzem eingekerbt worden. Er überlegte kurz und kramte dann auf dem Schreibtisch nach einem Bleistift. Ganz sachte und fast ohne Berührung fuhr er mit der Bleistiftspitze in dem eingeritzten C hin und her. Als er zufrieden war, nahm er das Bild hoch und trug es in den Tresor. Dann schob er die schwere Tresortür zu, drehte die Zahlenscheiben, und hängte die Tapisserie wieder vor die Tresortür. Dann sah er auf die Uhr. Achtzehn Stunden waren vergangen, seit er das letzte Mal gegessen hatte. Und fast zehn Minuten, seit Burke ihn abgesetzt hatte. Auf der Fahrt in die Stadt hatte er Burke nicht gefragt, was dieser vorhatte. Da hatte er noch unter Schock gestanden. Aber jetzt war er bereit, die Initiative zu ergreifen. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um darauf zu kommen, dass Burke Tschawtschawadse und seinen Käufer mir der Kopie herlocken wollte. Sie würden kommen, um sie zu untersuchen. Bald. Aber ein bisschen Zeit hatte er noch. Seine Wohnung war nur zehn Minuten entfernt. Er konnte durch den Kellereingang ins Haus; den würde niemand beobachten. Von dort konnte er mit dem Andenken zurückkommen, das er aus seiner Leidenszeit als Reserveoffizier der Armee zurückbehalten hatte – mit seinem Schießeisen. Andruscha schloss hinter sich ab und trat in den Hof. Ein neues Schneetreiben hatte vom finnischen Meerbusen her eingesetzt und ließ Pulverschnee herabrieseln, der bis auf einen halben Meter anwachsen mochte. Er verließ den Innenhof und schob sich unbeholfen durch eine entgegenkommende Menschenmenge, wohl irgendwelche Demonstranten.
34 Burke hatte schon den halben Rückweg zur Kolchose Iljitschs Vermächtnis zurückgelegt, als Schnee an der Windschutzscheibe des Schiguli zu kleben begann und er merkte, jemand hatte die Wischerblätter geklaut, als er an dem Kiosk kurz ausgestiegen war und sich den Schluck genehmigt hatte. Die nackten Wischerarme kratzten über das Glas wie Kreide auf einer Tafel. Unwillkürlich erschauerte er. Ob wegen der Eiseskälte, der Angst oder den paar Schlucken Whiskey, wusste er nicht. Er fuhr langsamer, da er kaum was sehen konnte. Der Wischerarm erzeugte einen kleinen Sehschlitz, wo er über das Glas kratzte, und er duckte sich, um hindurchspähen zu können. Es war, als blicke man durch einen Mauerspalt in Nebel. Er kurbelte das Seitenfenster runter und streckte den Kopf raus. Jetzt flog ihm der Schnee in die Augen und stach ihm in die Wangen, aber er sah immerhin ein bisschen besser. Er trat wieder aufs Gas. Er hätte sich die Entfernung von der Stadt zum Kolchos genauer merken sollen, schalt er sich. Da hätte er zumindest gewusst, ab wann er Ausschau nach der Einfahrt zur Datscha der Naryschkinas halten musste. Er wünschte, er hätte eine Mütze. Die Schneedecke wurde schnell dicker, und es fiel ihm zunehmend schwerer, zwischen Straßenrand und Bankett zu unterscheiden. Er verlangsamte noch mehr, bis die Nadel des Tachos um die dreißig zitterte. Ein paar hundert Meter weiter erspähte er die grauen Konturen der Stahlpfosten des Kolchosportals. Zur Vergewisserung hielt er kurz an, kurbelte das Beifahrerfenster hinunter und spähte hinaus. Er konnte die Worte »Iljitschs Vermächtnis« gerade noch lesen. Jetzt war er gleich da. Er fuhr im Kriechtempo weiter, bis er an einer Lücke zwischen den Bäumen erkannte, dass die Einfahrt zur Datscha näher kam. Wieder hielt er an. Verloren blickte er in den Rückspiegel und hoffte, Connors rücke mit seinen Männern an. Aber nur Schnee trieb über die leere Straße. Langsam fuhr er in die Zufahrt hinein und erblickte nach wenigen
Metern das Schlussfahrzeug von Tschawtschawadses Autokolonne, den schwarzen Volvo. Der SIL und der Mercedes parkten davor, weiß überpudert, außer wo der Schnee auf warmen Motorhauben geschmolzen war. Kaum war er etwas näher herangekommen, lösten sich drei der sonnengebräunten Männer, die er für Tschawtschawadses Osseten hielt, aus dem Bereich der Datscha und rannten in seine Richtung, mit Maschinenpistolen im Anschlag und die Bäume als Deckung nutzend. Er hielt an, stieg aus und achtete darauf, dass seine Hände gut zu sehen waren. Das Trio kam hinter den Bäumen hervor und über die Zufahrt zu ihm her. Ihre Waffen wirkten gutgeölt und häufig benutzt. »Wie halten Sie’s hier?«, fragte Burke. »Soll ich die Hände heben?« Keiner gab Antwort. Stattdessen kamen sie in Dreierformation auf ihn zu, wobei der eine auf Burke zielte und die anderen über seine Schultern sicherten. Jetzt sah Burke, es waren gar keine Osseten. Sie hatten breitere und flachere Nasen als die Kaukasier. Als sie ihn erreichten, fuhr ihm der Mann an der Spitze grob mit der Hand in den Mantel, zog ihm die Brieftasche heraus und tastete ihn auf Waffen ab. Als er nichts fand, packte er Burke am Kragen. »Vamos«, sagte er, und Burke begriff, seine Begleiter sprachen spanisch. Sie gingen an den Autos vorbei, kamen in Sichtweite des Hauses, und Burke blieb unwillkürlich stehen. Vor ihm im Birkenwäldchen hing Iwan Bykow kopfunter zwischen zwei Bäumen, die Beine unglaublich weit gespreizt. Bykow winselte leise und unaufhörlich, und sein linkes Hosenbein hatte einen dunklen Fleck, offenbar nicht vom Schweiß. Die Bäume wippten sachte im Wind und trugen Bykows Gewicht mit Leichtigkeit. Burke sah die Seile, mit denen die Wipfel heruntergezogen waren, und konnte sich vorstellen, was passieren würde, wenn sie durchgeschnitten wurden. Zehn Meter weiter hatte ein anderer Südamerikaner Ljuba zwischen ein ähnliches Paar junger Birken platziert. Um einen ihrer Knöchel schlang sich ein Strick, und der Mann hatte einen weiteren in der Linken. Mit der Rechten hielt er Ljuba und Desdemona mit
vorgehaltener Waffe in Schach. Beide Frauen starrten Burke an, maßlose Verwunderung im Gesicht. Er sah auf die Uhr. Fünfzehn Minuten waren seit seinem Telefonat mit dem FBI-Agenten verstrichen. Er sprach den Mann an, der ihn beim Kragen hatte, und kramte dazu ein paar Brocken Spanisch aus seiner Kindheit hervor. »Donde esta Tschawtschawadse, por favor?« Der Mann deutete mit dem Kopf zum Haus und erwiderte etwas auf Spanisch, was Burke nicht verstand. Sie schubsten ihn zum Haus. Tschawtschawadse, Rafael Santera und Marina standen in der verglasten Veranda, vor dem Schneetreiben geschützt, und sahen zu, wie er hereingebracht wurde. Der Anführer von Burkes Begleitmannschaft trat vor und überreichte Santera die Brieftasche, der sie aufklappte, untersuchte, und an Burkes Presseausweis hängenblieb. »Washington Tribune«, las er in seinem Englisch mit spanischem Akzent. »Was haben Sie hier zu suchen?« »Colin Burke«, stellte sich Burke vor und streckte ihm die Hand hin. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Der Mann sah auf Burkes Hand, ergriff sie jedoch nicht. »Ich bin Rafael Santera Calderon.« »Aus Cali?« Santera lächelte schmallippig. »Richtig. Und was suchen Sie hier?« »Meinen Sie hier in der Datscha oder in St. Petersburg?« Ein leichtes Nicken Santeras zu dem Mann hin, der Burke am Kragen hielt, dieser trat vor ihn hin, ballte die Rechte und boxte Burke in den Unterleib. Burke stürzte zu Boden und krümmte sich. Er spürte, wie ihm Galle und Alkohol hochkamen und hinten im Hals brannten. Bevor der Schmerz nachließ, packten ihn zwei der Kolumbianer unter den Armen und stellten ihn wieder auf die Beine. Ihm schwindelte, seine Knie zitterten, und sie hielten ihn aufrecht, bis er das Gleichgewicht wieder fand. Burke schluckte und machte ein paar vorsichtige Atemzüge, bis er wieder bei sich war und die Knie sich fester anfühlten. »Verschonen Sie mich bitte mit ihren Scherzen«, tadelte Santera sanft. Burke nickte. Als er sprechen wollte, kamen die ersten Worte
gequetscht heraus: »Ich bin hergekommen, um ihnen ein Angebot zu machen. Sie kriegen das Gemälde und lassen uns dafür laufen.« »Woher wollen Sie wissen, wo es ist?« »Eine Reporterin und Kollegin von mir war vor ein paar Wochen in St. Petersburg. Sie hat Fjodorow interviewt. Er hat ihr das Bild gezeigt. Bykow hat sie bis nach Washington beschattet und umgebracht, bevor sie das Ding veröffentlichen konnte. Doch vor ihrem Tod hat sie mir noch gesagt, was sie wusste. Ich bin wegen der Sache hergekommen. Ich hab rausgefunden, dass die beiden da draußen, McCoy und Naryschkina, Ihnen eine Fälschung andrehen und das echte Gemälde nach Amerika schmuggeln wollten, wo McCoy es verkaufen sollte.« Santeras Augen ließen nicht erkennen, was er davon hielt. »Und Sie haben damit gedroht, die Sache auffliegen zu lassen?« Burke nickte. »Ja. Und da haben wir uns geeinigt. Ich sollte die Meldung zurückhalten, bis sie in Amerika sind und das Bild verkauft haben.« »Und was noch?« »Wie, was noch?« Burke wollte sich von Santera die Würmer aus der Nase ziehen lassen. »Was war für Sie drin?« »Prozente.« Santera nickte, und Burke merkte, er kaufte es ihm ab. »Und warum kommen Sie plötzlich hier heraus und bieten mir das an?« »Ich war hier, als der Hubschrauber kam«, erklärte Burke. »Ich sehe, Sie haben die Armee auf Ihrer Seite. Und die Regierung. Und das heißt, wir können nicht außer Landes, bevor Sie nicht haben, was Sie wollen.« Santera zeigte keine Regung. »Und so krieg ich wenigstens meine Sensationsmeldung«, sagte Burke. »Und außerdem bin ich scharf auf Ljuba.« Burke beobachtete Santera genau und konnte erkennen, wie sich dessen Miene entspannte. Die Todsünden Habgier und Wollust, dachte Burke, überzeugen einen Katholiken immer. »Na gut«, sagte Santera. »Wo ist das Gemälde?« »Im Tresor der Kunstgalerie McCoy-Fokine am Newski Prospekt Nummer achtzig. Durch den Innenhof, Erdgeschoß«, sagte Burke. »Sie können hinfahren und von dort aus anrufen. Wahrscheinlich
haben Sie ein Handy. Lassen Sie es hier, und wenn Sie dort sind, rufen Sie hier an, und ich nenne Ihnen die Tresorkombination, wenn Sie McCoy und Ljuba freilassen. Und dann, wenn Sie das Bild haben und damit zufrieden sind, lassen Sie mich laufen.« Es war ein Handel ohne Garantien für ihn selber, dachte Burke. Aber unter den gegebenen Umständen war ihm nichts Besseres eingefallen. Das müsste ihnen mindestens zwanzig Minuten verschaffen. Tschawtschawadse tippte Marina auf die Schulter, und sie übersetzte eine Zusammenfassung von Burkes Vorschlag. »Wir können jeden Tresor aufsprengen«, erklärte Tschawtschawadse. »Binnen drei Minuten.« Santera legte die Stirn in Falten, als Marina gedolmetscht hatte. »Und das Gemälde ruinieren«, erklärte er so geduldig wie einem Schwachsinnigen. »Nein«, widersprach Tschawtschawadse. »Wir haben die besten Leute! Vom KGB geschult!« Santera achtete nicht auf ihn. »Ich mach Ihnen ein Gegenangebot«, sagte er mit zuversichtlichem Lächeln zu Burke. »Sie nennen mir die Kombination jetzt gleich, und ich verzichte darauf, dass Miguel Ihnen die Eier abschneidet.« Burke sah auf die geballte Faust des Mannes, der ihn geboxt hatte. »Bei dieser Sachlage muss ich ihr Angebot wohl annehmen«, fügte er sich. Santera nickte. »Schön. Das dachte ich mir.« »Die Kombination lautet sechs nach links, zwanzig nach rechts, siebenunddreißig nach links.« »Wenn Sie wollen, schick ich ein paar Männer«, drängte sich Tschawtschawadse auf. »Die können das Bild holen.« Santera wischte seinen Vorschlag beiseite. »Lassen Sie Ihre Männer auf ihren Posten«, sagte er. »Die haben schon genug Unheil angerichtet. Und wie sollen die überhaupt den Unterschied merken, zwischen einem Alten Meister und einer Fotografie?« Er wandte sich an Burke. »Sie bleiben hier. Wenn ich das Bild habe, ruf ich von dieser Galerie aus an.« Burke nickte. Zwischen seinen Beinen pochte der Schmerz im Gleichtakt mit den Zweifeln, die in ihm wuchsen und ihm sagten, so werde das nicht laufen. Santera wandte sich um und sagte etwas zu dem Mann unter der
Tür, der soeben geräuschlos ins Haus getreten war. Er nannte ihn Miguel. Miguel nickte, nahm einen Strick und fesselte Burke die Hände hinter dem Rücken. Dann schubste er ihn ins Freie. Burke zögerte oben auf den Stufen, die von der Veranda zu der zwischen Datscha und Autos festgetretenen Spur führten. Miguel schubste wieder, und da er mit den Armen nicht auspendeln konnte, stürzte er Gesicht voraus in den Schnee. Die Schneedecke verhinderte, dass er sich auf dem gefrorenen Boden das Gesicht blutig schlug. Doch der Aufschlag betäubte ihn, und er verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, schaffte er es, den Kopf so weit aus dem Schnee zu heben, um zu erkennen, dass nur ein paar Sekunden vergangen waren. Santera und drei seiner Männer stiegen gerade in den SIL und ließen dabei Miguel und einen weiteren Kolumbianer zurück. Tschawtschawadse und Marina standen neben der Staatskarosse und stritten offenbar mit Santera um irgendwas. Doch der Streit brach plötzlich ab, noch bevor Burke etwas erlauschen konnte. Wut und Rachsucht im Blick, stapfte Tschawtschawadse wieder zur Datscha zurück, Marina hinter ihm her. Der Motor des SIL sprang an, und das Monstrum rollte im Rückwärtsgang zur Landstraße hinaus. Burke schaffte es, sich auf die Seite zu rollen. Aber ohne Arme konnte er nicht aufstehen. Eine Weile wälzte er sich im Schnee herum wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er konnte Miguel und den anderen Kolumbianer lachen hören und sah, wie sich Tschawtschawadses Miene beim Vorbeigehen zu einem Grinsen verzog. Er kam einfach nicht auf die Beine. Keuchend fiel er zurück in den Schnee und spürte, wie es ihm nasskalt durch die Hosenbeine drang. Er fing an zu zittern. Dann hörte er einen der Kolumbianer etwas auf Spanisch sagen, das er nicht verstand. Er hörte, wie er es wiederholte, diesmal noch befehlender. Er verdrehte den Hals, um sehen zu können, was los war. Desdemona kam mit auf den Rücken gefesselten Händen auf ihn zu, Ljuba ein paar Schritte hinter ihr. Der Kolumbianer fuchtelte wütend mit seiner Maschinenpistole in
dem Versuch, sie auf ihren Platz zwischen den Birken zurückzuscheuchen, aber er schoss nicht. Desdemona erreichte ihn und ging neben ihm in die Hocke, mit dem Rücken zu ihm. Ljuba kam gleich darauf und nahm auf seiner anderen Seite dieselbe Stellung ein. Jede von den beiden griff ihn mit den gefesselten Händen unterm Arm, und gemeinsam zogen sie ihn hoch. Dabei glitt Burke Desdemona aus den Händen. Doch konnte er sich immerhin abfangen und hinknien. Der Kolumbianer sah aus ein paar Schritten Entfernung ungehalten zu, mischte sich aber nicht ein. Vorsichtig richtete sich Burke ganz auf, bis er leicht schwankend im Schnee stand und kalte Luft in die Lungen zu ziehen suchte, bis sich sein Hirn wieder normaler anfühlte. Ljuba und Desdemona blieben an seiner Seite und stützten ihn, während sie dem Wink des Kolumbianers mit dem Lauf der Maschinenpistole gehorchten und langsam mit ihm zurück zu den Birken gingen. Desdemona lehnte sich zu ihm hin und flüsterte ihm ins Ohr. »Kommen sie?« Burke nickte nur. Er hatte keine Lust, ihr zu erzählen, wie unwirsch Connors reagiert hatte. Davon kam die Hilfe nicht schneller. Als sie an den Bäumen vorbeikamen, an denen Bykow hing, erkannte dieser Burke, und der Anblick schien ihm neue Kraft einzuflößen. Er erholte sich so weit, dass er Burke und Tschawtschawadse auf Russisch mit einer Kette zotiger Flüche belegen konnte. Im Gesicht war er rotviolett, und der dunkle klebrige Fleck auf seiner Hose reichte jetzt schon fast bis zum Schritt. Die Anstrengung des Schreiens erschöpfte ihn aber, und er verfiel wieder in gequältes Winseln. »Na, wie es auch kommen mag«, sagte Burke zu Ljuba mit Blick auf Bykow, »für das hier hat es sich fast gelohnt.«
35 In der Wohnung, fiel Andruscha Karpow plötzlich auf, war seit dem Tod seiner Mutter vor einem Jahr ein furchtbares Durcheinander entstanden. Zu Lebzeiten seiner Mutter hatte er immerhin gewusst, wo sich alles befand. Jetzt war das Chaos vollkommen. Aber irgendwo war eine Schachtel mit Schmelzklebstoff. Die musste er finden. Er hatte nur noch sehr wenig Zeit. Wann hatte er ihn zum letzten Mal benutzt? Er wusste es nicht. Da der Klebstoff aber vor der Verwendung erhitzt werden musste, hatte er ihn wahrscheinlich in die Küche getragen, zum Herd. Er ging in die Küche und stapelte alle schmutzigen Pfannen und Töpfe vom Herd auf die Spüle um. Nichts. Er riss das Schränkchen unter der Spüle auf und überprüfte die Plastikschublade, wo Mutters Spülmittel und Putzlappen immer gewesen waren. Und da fand er sie, sechs Stäbchen hochdichten PolypropylenKlebstoffs, angeschmutzt und vergilbt, in einer kleinen Bonbonschachtel. Er nahm sie heraus. Der Leim war aus russischer Produktion und nicht besonders geeignet für das, was er vorhatte. Zyanakrylat wäre ihm lieber gewesen. Aber in Russland wurde kein Zweikomponentenkleber hergestellt, zumindest nicht für die Allgemeinheit. In seinem Labor in der Eremitage hatte er zwei kleine Importtuben davon. Aber das war zu weit weg und zu riskant zu holen. Und er wusste, wie er diesen Kleber kräftiger machen konnte. Er schabte die Krusten alter Hirsegrütze aus einer Kasserole und stellte sie auf den Herd. Er drehte das Gas unter der Kasserole an, fand ein Streichholz zum Anzünden und riss die Hand vor der Stichflamme zurück. Dann drehte er den Brenner auf Höchststufe und ließ drei Kleberstäbchen in die Kasserole fallen. Danach rannte er aus der Wohnung in den Keller hinunter. Dort war es stockfinster, weil alle Glühbirnen längst gestohlen waren, aber er fand auch im Dunkeln die Ecke, wo die Fernheizungsrohre ins Haus führten. Er suchte sich eine Kiste, zerrte sie in die Ecke und stieg hinauf. Die Isolierung um die Rohre war aufgeschlitzt. Er spürte
herunterhängende Streifen vor seinem Gesicht. Er polkte mit dem Ziegefinger in der Isolierung, bis er auf frische Glasfaser stieß, und zerrte eine Handvoll heraus. Die stopfte er sich in die Tasche und rannte wieder nach oben. Keuchend stürzte er in die Küche. Der Kleber wurde gerade flüssig. Er riss die Glasfasern in so kleine Flocken, wie es mit seinen dicken Fingern überhaupt ging, und warf sie zu dem Kleber in die Kasserole. Dann schnappte er sich den saubersten Löffel, den er finden konnte, und verrührte Leim und Glasfaser, bis die Masse ungefähr die Konsistenz von Motoröl hatte. Mit den Glasfasern würde der Kleber dreimal so fest werden wie sonst. Er machte das Schränkchen unter der Spüle nochmals auf und kramte herum, bis er eines von den alten Einmachgläsern seiner Mutter fand. Er schraubte das Glas zu und steckte es in die Tasche. Dann fiel ihm noch etwas ein. Er schnappte sich den elektrischen Tauchsieder, mit dem er Teewasser heißmachte, wenn das Gas abgedreht war. Sollte seine Zeiteinteilung nicht ganz stimmen, würde er den Kleber in der Galerie aufwärmen müssen. Er sah einen Malerpinsel auf der Anrichte liegen und steckte auch diesen ein. Jetzt musste er nur noch eines mitnehmen, und wo sich das befand, wusste er genau. Die Pistole lag seit seiner letzten Reserveübung in einer Wollsocke unter seinem Bett. Er überprüfte das Magazin. Voll. Er schob es hinein. Jetzt war er fertig zum Gehen. Die Makarow zog die rechte Tasche von Andruschas Daunenjacke viel tiefer hinunter als das Weckglas mit dem langsam abkühlenden Kleber die linke. Rechts hing ihm die Jacke wohl bis zu den Knien und ließ ihn ein wenig verwachsen aussehen, während er die Uliza Schedrinskogo zum Newski Prospekt entlangschlurfte. Mit diesem vorsichtigen Schlurfen brauchte er fünf Minuten, um die drei langen Häuserblöcke zwischen der Uliza Schedrinskogo und dem Newski Prospekt zurückzulegen, und vier weitere auf einer fest getretenen Decke aus Eis und Schnee bis zur Kunstgalerie McCoyFokine. Er blieb stehen und begutachtete sorgfältig Gehweg und Straße vor Hausnummer achtzig. Sie sahen noch genauso aus wie vorhin. Die Reifenspuren, die Burke am Morgen beim Hineinfahren in den Innenhof hinterlassen hatte, waren inzwischen fast zugeschneit und
nur noch sanfte Vertiefungen. Neue Spuren gab es nicht. Vorsichtig ging er durch das Sträßchen zwischen den Hausnummern achtzig und achtundsiebzig und spähte um die Ecke in den Hof. Außer überschneiten Fußstapfen vor der Galerie sah er nichts. Andruscha nahm seinen Schlüssel heraus und ging hinein, wobei er die Tür hinter sich abschloss und das »Geschlossen«-Schild nicht berührte. Wieder blickte er sichernd um sich, diesmal drinnen. Die Kunstgalerie McCoy-Fokine stellte ihre Skulpturen und ihre Keramiken auf mehr als einem Dutzend weißer Sockel aus. Manche waren hoch und schmal. Andere Würfel von der Größe eines Kaffeetischs. Andruscha ging zum größten dieser Würfel, der an der Ostwand des Ausstellungsraums an einer Backsteinmauer stand, etwa fünf Meter vom Eingang entfernt. Er nahm die schwere Bronzeskulptur mit der Bezeichnung Schlafende herunter. Daneben war ein Schildchen mit der Nummer neunzehn. Bestimmt gab es irgendwo eine Liste, auf der jeder Kunstgegenstand mit einer solchen Nummer samt Preisangabe verzeichnet war. Er bettete die Schlafende auf den Boden. Dann bückte er sich und versuchte, den Würfel zu lüpfen. Wie erwartet war er innen leer und bestand aus weißen, hochglanzlackierten Holzfaserplatten. Er war an jeder Kante mehr als einen Meter lang. Wenn er sich gebückt hinhockte, passte er bestimmt darunter. Er senkte den Würfel wieder auf den Boden ab und sah sich noch einmal um. Sein Blick fiel auf eine zerbrechliche Glasschale, die von Hand mit unbestimmt religiösen Figuren bemalt war. Er erkannte darin ein Exemplar karelischer Bauernkunst. In der Sammlung der Eremitage gab es ein paar ähnliche Stücke. Er hob die Schale hoch. Sie war schwerer, als er gedacht hatte, etwa zwei Kilo. Er ließ den Blick wieder in der Runde schweifen und war sich dabei bewusst, dass er Herzklopfen hatte und zu schwitzen anfing. Aber ein leichteres Ausstellungsstück gab es nicht. Rasch platzierte er die Bronzeskulptur auf dem Podest, auf dem die Glasschale gestanden hatte. Sie passte gerade noch darauf. Dann ging er wieder zurück zu dem großen Würfel und drehte die Glasschale mit dem Boden nach oben. Er nahm den Pinsel und das Glas mit dem Kleber aus der Manteltasche, kippte das Glas und fluchte. Der Leim war erkaltet,
nicht kernseifenfest wie bei Zimmertemperatur, aber immerhin so zäh, dass er sich unmöglich verstreichen ließ. Er schraubte das Glas auf und holte den Tauchsieder aus der Tasche. Jetzt brauchte er nur noch die Steckdose. In McCoys Büro fand er eine. Er schloss den Tauchsieder an, steckte ihn in das Glas und wartete darauf, dass er heiß wurde. Die Zwangspause beunruhigte ihn. Plötzlich konnte er draußen auf dem Newski Prospekt den Wind heulen hören und den allmählich wieder heiß werdenden Kleber riechen. Er sah auf die Uhr. Die Zeit wurde bestimmt schon knapp. Schließlich wurde der Tauchsieder heiß und schmolz einen kleinen Graben in den Kleber. Er wartete, bis er eine klebrige Pfütze von etwa einem Zentimeter Durchmesser hatte. Dann zog er den Tauchsieder aus dem Weckglas und hastete mit dem Kleber zurück in den Ausstellungsraum. Mit dem Pinsel bestrich er hektisch den Boden der Glasschale mit dem Klebstoff. Er wusste, dass eine dünne Leimschicht bei dieser Temperatur sehr rasch trocknen würde. Er musste den exakten Zeitpunkt erwischen. Langsam zählte er bis zwanzig. Dann drehte er die Glasschale wieder um und stellte sie oben auf den Würfel, so nahe zum Mittelpunkt, wie er das in der Eile vermochte. Er schraubte das Glas zu und stopfte es mit dem Pinsel wieder zurück in die Tasche. Dann sah er auf die Armbanduhr, bis dreißig Sekunden verstrichen waren. Ob es haftete, würde er jetzt gleich wissen. Vorsichtig fasste er die Schale hinten am Rand und zog. Fast erwartete er, sie werde sich lösen und der Kleber darunter Fäden ziehen. Aber nichts passierte. Der Leim hielt. Trotz seiner Angst musste Andruscha lächeln. Er knipste das Licht aus und sah sich nochmals in der Galerie um. Er hatte nichts hinterlassen außer der schwachen Kontur eines nassen Fußabdrucks auf dem Boden. Das würde trocknen, und wenn nicht, würden die Kerle, die er erwartete, wegen eines nassen Fußabdrucks keinen Verdacht schöpfen. Sie würden beim Hereinkommen selber welche machen. Da hörte er einen Automotor in der Einfahrt. Ein tiefes, kraftvolles Brummen. Hektisch kippte Andruscha den Würfel nach hinten. Er passte auf, ob die Schale dort blieb, wo sie angeklebt war. Sie hielt. Rasch probierte er aus, ob sich der Würfel ohne Umfallen so weit kippen ließ, dass er darunterkriechen konnte.
Als er schon auf dem Boden hockte, die Unterkante des angekippten Würfels beidhändig hielt und die Beine gerade darunter hatte, sah er die lange Schnauze der Staatskarosse in den Hof einbiegen. Hektisch verrenkte er sich, um den Kopf unterzubringen. Er stieß ihn sich an der Unterseite der Würfelplatte, verlor mit der schweißnassen Hand seinen Griff und spürte, der Würfel wollte nach hinten umfallen. Während er noch auf der Kippe stand, zog er um so stärker mit der anderen Hand. Einen Augenblick lang hatte er die grauenhafte Vision, wie der Würfel nach hinten fiel, die Glasschale zersplitterte und die Männer aus dem SIL mit gezogenen Pistolen in den Raum stürzten, während er sich verzweifelt nach einem anderen Versteck umsah. Er wischte die Linke am Hosenbein ab und konnte mit ihr gerade wieder richtig zupacken, als er spürte, wie ihm die Kante aus der Rechten glitt. Verzweifelt krümmte er sich und zog. Die Anstrengung presste ihm die Luft aus den Lungen. Was um ihn herum vorging, konnte er jetzt nicht mehr sehen. Aber er hörte Stimmen, die spanisch sprachen, und ein kräftiges Knacken von der Eingangstür. Er zog den Hohlwürfel weiter herunter, bis er von sich aus in die ursprüngliche Lage fiel. Dabei fasste er mit einer Hand unter die Kante, damit er nicht zu schnell abrutschte und aufknallte. Der Streifen Licht aus dem Fenster zum Hinterhof unter der Würfelunterkante wurde immer schmaler – aber dann ging es nicht weiter. Der Würfel saß ihm auf Schultern und Nacken. Zwischen Unterkante und Boden klaffte immer noch ein Spalt von etwa zwei Zentimetern. Der Würfel stand also schräg und jeder, der genauer hinsah, musste das bemerken. Zitternd versuchte sich Andruscha enger zusammenzukauern, bis er Schmerzen in Oberschenkeln und Kniekehlen bekam. Langsam, viel zu langsam wurde der Lichtstreifen schmaler, bis die Unterkante des Würfels mit einem Poltern aufsetzte. Dann waren die Männer im Ausstellungsraum. Andruscha taten die Beine höllisch weh, ebenso der Nacken, denn er musste den Kopf in unnatürlichem Winkel gegen die Oberseite des Würfels pressen. Er zwang sich zur Konzentration. Es waren mindestens zwei, weil er sie miteinander reden hörte, auch wenn er ihr Spanisch nicht
verstand. Er hörte sie im Ausstellungsraum herumlaufen. Daran, wie zielbewusst ihre Schritte klangen und leiser und wieder lauter wurden, merkte er, sie gingen im Ausstellungsraum und im Büro herum und überprüften alles auf Sicherheit. Er zog die Pistole aus der Tasche und legte sie neben seinem Knie auf den Boden. Soweit er überhaupt einen Plan hatte, bestand dieser darin, den geeigneten Moment abzupassen, den Würfel abzuwerfen und schießend darunter hervorzukommen. Aber wann war der richtige Moment? Schweißtropfen rannen ihm die Nase entlang. Sie kitzelten. Er spürte, gleich musste er niesen. Da fasste er sich ein Herz, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drückte mit dem Finger so lange gegen die Nase, bis er sicher sein konnte, dass der Niesreiz vergangen war. Dann konnte er die Schritte und die zwei spanischen Stimmen aus der Richtung von McCoys Büro hören. Da fielen ihm das Glas mit Kleber und der Tauchsieder ein, die immer noch auf dem Schreibtisch standen. Ihm wurde eiskalt. Wenn sie stutzig wurden? Gesehen hatten sie es bestimmt. Was, wenn sie sich fragten, was ein Glas mit warmem Kleber in einer geschlossenen Kunstgalerie zu suchen hatte? Aber nein, er hatte doch alles wieder eingesteckt. Plötzlich bewegten sich die Füße eines der Männer in der Kunstgalerie in seine Richtung, gingen einen knappen Meter vor seinem Würfel vorbei und zur Eingangstür. Er hörte, wie sie geöffnet wurde, und dann weitere Sätze auf Spanisch. Gleich darauf kam eine dritte Stimme in den Raum. Sie sprach kürzere, abgehackte spanische Sätze, die nur aus wenigen Worten bestanden. »Bueno«, hörte er. Klar, das war der Mann, auf den er lauerte. Das Ziel. Die ersten beiden waren in die Galerie gekommen, um sie zu überprüfen und sich zu vergewissern, dass keine Gefahr bestand. Jetzt war der Boss gekommen. Es war der richtige Moment zum Zuschlagen, um Nadescha Petrownas Tod zu rächen. Aber er würde allein gegen drei antreten müssen. Für ihn selbst gab es überhaupt keine Überlebenschance, wenn er vor drei bewaffneten Männern aus der Deckung kam und anfing zu
schießen. Er würde blindlings herumballern müssen und nicht mal wissen, auf wen er schoss. Es gab noch eine andere Möglichkeit, eine bessere. Seine Zielperson war gekommen, um das Gemälde zu holen. Sie hatte zwei Untergebene dabei. Wenn sie das Gemälde erst hatten, würden es die beiden Handlanger tragen. Die Waffen würden sie dazu wegstecken müssen. Der Boss würde leicht auszumachen sein, als der mit den leeren Händen. Und wenn sie zur Tür gingen, würden sie ihm den Rücken zukehren. Das war dann der Moment. Er wartete. Die Stimmen und Schritte kamen an ihm vorbei, so nahe, dass ihm schien, er müsse sie riechen können. Dann wurden die Geräusche etwas schwächer, und er wusste, jetzt waren sie im Büro. Undeutlich hörte er spanische Worte für Zahlen, und ihm wurde klar, dass sie sich ihren Weg in den Tresor nicht mit Gewalt bahnen mussten. Sie kannten die Kombination. Die mussten sie von McCoy haben, dachte er, von der Dunkelhäutigen. Und das hieß, sie waren bereits auf der Datscha gewesen. Sie hatten Ljuba. Ob sie noch am Leben war? Inzwischen reute ihn das gesamte Unterfangen. Alles wäre nie passiert, wenn er Nadescha Petrowna nicht versichert hätte, gemeinsam könnten sie die perfekte Kopie schaffen. Und obwohl er Recht behalten hatte, wäre es besser gewesen, den Ausländern das Gemälde, Tschawtschawadse und Bykow das Geld zu schenken und die Eremitage, ja das ganze Land zum Teufel gehen zu lassen. Seine Muskeln schmerzten in der unnatürlichen Stellung. Wenn er noch eine Sekunde in dieser fötalen Haltung bleiben musste, würde er vor Schmerzen laut schreien. Verzweifelt gestattete er sich eine leichte Bewegung aus der Hocke nach oben. Damit aber hob sich der Würfel ein paar Zentimeter vom Boden, und er konnte die Stimmen wieder deutlicher hören. Sie waren immer noch nebenan. Diesmal klangen sie aufgeregt, und er konnte sich vorstellen, wie sie die Kopie aus dem Tresor ans Licht zogen. Sie würden davon genauso fasziniert sein wie er und alle anderen aus dem kleinen Personenkreis, der sie zu Gesicht bekommen hatte. Die Leda war bestimmt die schönste Figur, die er je gemalt gesehen hatte, und er
arbeitete immerhin seit fünfzehn Jahren in einer der größten Kunstsammlungen der Welt. Einen kurzen Moment lang verspürte er Stolz. Beide waren seine Bilder. Das Original und die Kopie. Und beide waren großartige Kunstwerke. Sie hätten einfach die Kopie behalten sollen, dachte er. Worin bestand denn der verdammte Unterschied? Niemand würde sie dem Aussehen nach unterscheiden können. Sie hätten die Kopie behalten und den Käufer das Original in seine Privatsammlung verbringen lassen sollen. Das wäre der echt russische Weg gewesen. Die Verluste abschreiben und überleben, mit einer großen Lüge. Zwei der Stimmen verstummten, und er hörte wieder den Boss. Er sagte was, aber die andere Seite des Gesprächs war nicht vernehmbar. Ein Anruf, dachte er. Er telefoniert. Aber mit wem? Mit einem von denen auf der Datscha? Die Stimme hörte sich ruhig an, aber Andruscha hörte Triumph heraus. Der glaubte jetzt zu haben, was er aus Russland hatte wegschleppen wollen. Andruscha zog sich zusammen und schloss den Spalt zwischen Würfel und Fußboden wieder. Jetzt war es so weit. Er langte nach der Makarow, fasste sie um den Griff und entsicherte sie. Seine Rechte zitterte. Die Beine auch. Sein Atem ging pfeifend und stoßweise. Er hätte nicht sagen können, ob es die Nerven waren oder bloß das Warten in einer so verkrampften und unnatürlichen Stellung. Er lauschte, bis die Schritte näher kamen. Und dann hörte er sie, jetzt schlurfend, wie sie an seinem Würfel vorbeikamen. Er stellte sich vor, wie der Boss vor seinen zwei Untergebenen herging und die Tür aufmachte. Er zählte mit. Eins. Zwei. Drei. Vier. Die Schritte entfernten sich von ihm. Fünf. Sechs. Er hörte die Tür aufgehen und dann ein paar Worte auf Spanisch. Wie viele Sekunden jetzt noch? Noch zwei. Acht. Neun. Er begann sich zu erheben. Aber irgendwie hatte sich sein Hintern in dem Würfel verklemmt wie ein Fußball in einer zu engen Schachtel. Als er die Beine zu strecken versuchte, verstärkte sich der Druck, und er kam nicht frei. Er keuchte und zitterte. Er kam einfach nicht raus. Zehn. Die Tür fiel zu. Er kauerte sich noch tiefer zusammen, bis er spürte, dass eine Lücke zwischen seinem Hintern und dem Würfel entstanden war.
Und dann versuchte er aufzustehen. Da stieß er plötzlich mit dem Kopf an die Oberseite des Würfels, verlor das Gleichgewicht und rutschte nach hinten, bis er zwischen den Wänden des Würfels auf dem Rücken lag wie ein Käfer. Er hörte schwach draußen im Hof Autotüren und einen Kofferraumdeckel zuschlagen. Da versuchte er wieder auf Hände und Knie zu kommen und nach oben zu drücken. Und hörte das Auto langsam aus dem Hof fahren. Im Dunkeln, immer noch zusammengekauert wie ein Fötus, ließ Andruscha seinen Tränen freien Lauf.
36 »Was hält die nur so lange auf?«, zischte Desdemona. Burke trat von einem Bein auf das andere und erzeugte ein leises Knirschen im Schnee. Der Schnee in seinen Schuhen war geschmolzen und hatte ihm die Socken durchnässt. Er konnte die Zehen fast nicht mehr spüren. Burke, Desdemona, Marina und Ljuba standen mit hinter dem Rücken gefesselten Händen da und wurden von einem schweigsamen Kolumbianer mit einer Maschinenpistole bewacht. Ein paar Meter weiter, außer Hörweite, zupfte der andere Kolumbianer, Miguel, träge an einem der straffen Seile, die die Birkenwipfel nach unten zogen und verhinderten, dass Bykow auseinandergerissen wurde. Jedesmal kamen die Wipfel ein bisschen nach unten, federten wieder zurück und spreizten Bykows Beine ein wenig weiter, worauf er stöhnte und winselte. Der Wind drehte sich kurz, und Burke konnte riechen, dass Bykow sich in die durchgeblutete Hose gemacht hatte. »Wenn er doch bloß aufhören würde, den Mann zu foltern«, brach es aus Ljuba heraus, die vor dem Anblick erschauerte. »Wenn schon, sollen sie ihn umbringen. Aber nicht das. Nicht mal ein Bykow hat so etwas verdient.« »O doch«, widersprach Burke. Im Mercedes läutete das Handy. Der Kolumbianer, der sie bewachte, hörte es und rief Miguel. Miguel wandte sich sofort von Bykow ab und trabte durch den Schnee zum Mercedes. Sie hörten seine Hälfte des kurzen Gesprächs, die hauptsächlich darin bestand, dass Miguel »Si« zu dem Mann am anderen Ende sagte. Miguel legte auf und kam zu ihnen herüber, wobei er Bykows Pistole aus der Tasche seiner Parka zog. In raschem Spanisch sagte er etwas zu dem anderen Kolumbianer. Dieser stieß Burke mit dem Lauf der Maschinenpistole in Richtung Datscha. Burke sah auf die Uhr. Es war schon mehr als eine Dreiviertelstunde her, eher eine Stunde. Wo blieb Connors? Der Kolumbianer stieß ihn wieder, direkt über der Niere, und Burke begann auf die Datscha zuzugehen. Miguel schubste Ljuba, und die drei Frauen mussten sich Burke anschließen.
Nun verdrängte der Gedanke, den Burke die ganze Zeit gemieden hatte, alles andere aus seinem Kopf. Was, wenn Connors nicht kam? »Hat dein Boss das Gemälde?«, rief er und hoffte, Miguel würde antworten. Aber der tat ihm nicht den Gefallen. Sie könnten in alle Himmelsrichtungen auseinander und in den Wald laufen, dachte Burke. Aber wahrscheinlich würden sie erschossen, bevor sie zehn Meter weit gekommen waren. Die beste Chance lag immer noch im Abwarten. Er stellte fest, dass sein Verstand sich nicht mit der Möglichkeit seines eigenen Abgangs auseinandersetzen wollte, sondern hartnäckig nach Möglichkeiten forschte, wie er am Leben bleiben konnte. Dass er sich so brennend wünschte, weiter zu leben, überraschte ihn. Es gab nicht mehr viel, was er nicht gern für weitere zwanzig Minuten Galgenfrist geopfert hätte. So gemächlich wie möglich stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und trat ins Haus. »Halt«, sagte Miguel, als sie alle drin waren. Burke genoss die Wärme. Miguel sagte zu dem anderen Kolumbianer irgendwas auf Spanisch. Im Handumdrehen war der Mann draußen im Schnee und sammelte die restlichen Stricke ein. Er kam wieder rein, hockte sich auf den Boden, zog ein langes Jagdmesser aus seinem Wadenfutteral und schnitt meterlange Stücke. Dann ging der Mann nach hinten und kam mit zwei Holzstühlen zurück. Sie stammten aus der Küche, erkannte Burke. Er ließ sie neben Miguel stehen, ging noch mal in die Küche, brachte aber diesmal nur einen Stuhl mit zurück. Vier Gefangene. Drei Stühle. Burke fragte sich, wer ausgespart werden sollte. Miguel stupste ihn mit der Pistole. »Setzen!«, befahl er. »Sie haben doch jetzt das Bild«, sagte Burke. »Die Abmachung lautet, dass Sie uns laufen lassen.« Miguel schnaubte kurz und würdigte ihn keiner Antwort. »Stimmt«, sagte Desdemona. »So lautet die Abmachung. Ich dachte, wir hätten mit Ehrenmännern zu tun.« Miguel schlug ihr ins Gesicht, und sie fiel nach hinten gegen das Fenster. Miguel wandte sich an Burke. »Hinsetzen, oder ich schieße«,
befahl er. Burke setzte sich. Der andere Kolumbianer ging rasch ans Werk. Er band Burkes Füße an den Stuhlbeinen fest. Der Strick schnitt ihm in die Knöchel. Burke sah hinunter. Die Knoten wirkten fachmännisch. Als Burke fest an seinen Stuhl gebunden war, befahl Miguel Ljuba, sich zu setzen. Sie wurde genauso angebunden. Und ebenso Desdemona. Burke schoss durch den Kopf, Miguel hätte sie ja einfach erschießen können, und vielleicht wollte er sie nur anbinden und hierlassen. Das ergab keinen Sinn, aber Burke wollte es unbedingt glauben. Er sah Ljuba und Desdemona an. Beiden stand die Angst ins Gesicht geschrieben, aber er spürte, sie machten sich die gleichen Hoffnungen. Miguel wandte sich an Marina. Auch sie war blass und verängstigt, doch hatte sie inzwischen aufgehört zu heulen. Auch sie, vermutete er, hatte die Zahl der Stühle mit der Zahl der Gefangenen verglichen und hoffte verschont zu werden. »Raus«, sagte Miguel, und Marina setzte sich in Bewegung. Wie eine Marionette stakste sie die Stufen hinunter in den verschneiten Hof. Die zwei Kolumbianer gingen hinterher und schlossen sorgfältig die Tür hinter sich. Auf einen Befehl von Miguel nahm der eine den Kolben seiner Maschinenpistole und schlug methodisch die Scheiben der Datscha ein, angefangen mit denen der Veranda, in der Burke, Desdemona und Ljuba auf ihren Stühlen saßen. Burke spürte, wie der Eiswind vom finnischen Meerbusen durch die zerschlagenen Fenster strich und ihn noch weiter auskühlte. »Warum machen die das?«, fragte Ljuba. Sie schien empört über den Vandalismus und den Tränen nahe, als meine sie, mit vorgehaltener Pistole an einen Stuhl gefesselt zu werden sei noch erträglich, aber die mutwillige Zerstörung der Sommerfrische ihrer Kindheit gehe entschieden zu weit. Burke lauschte kurz auf das Splittern von Glas an der Gebäuderückseite. »Sie wollen sicher gehen, dass wir genug frische Luft haben«, sagte Burke. »Warum?«, fragte Ljuba mit zitternder Stimme.
»Mach’s ihr nicht noch schwerer, Burke«, tadelte Desdemona. »Sie hat deinen schwarzen Humor nicht verdient.« »Durchzug«, antwortete sie Ljuba. »Durchzug?« »Ich glaube, sie wollen das Haus niederbrennen«, erklärte Desdemona. Wie zur Bestätigung stieg der Kolumbianer in den Mercedes und setzte ihn näher an die Datscha. Dann verließ er das Auto und ging suchend ums Haus herum. Als er zurückkam, hatte er einen alten Gartenschlauch in der Hand. Sie sahen zu, wie er den Tank des schwarzen Autos aufschraubte und ein Schlauchende hineinsteckte. Er saugte kurz am anderen Ende. Dann fuhr er hustend und spuckend zurück, als der Treibstoff aus dem Tank zu fließen begann. Mit dem Schlauch besprenkelte er die Außenwand der Datscha. Der Wind blies den Benzindunst auf die Veranda. »Warum wollen sie uns verbrennen?«, Ljubas Stimme bebte. »Es ist einfacher, wenn es ein Brandunglück war«, sagte Desdemona. »So entsteht kein Erklärungsbedarf für Schusswunden.« Das Rinnsal versiegte, und der Kolumbianer mit dem Gartenschlauch wies auf den Tank und fragte Miguel etwas. Dieser schüttelte den Kopf. Offenbar war es Brandbeschleuniger genug. Miguel packte Marina am Arm und zog sie die paar Meter dorthin, wo kopfunter ihr Onkel hing. Ein Windstoß bewegte die Birkenwipfel. Bykow stöhnte laut auf. Dann hörte Burke, wie er abwechselnd fluchte und Marina anflehte, ihn abzuschneiden. »Übersetz«, befahl Miguel dem Mädchen. »Wir haben jetzt das Bild.« Marina schluchzte nur. Miguel gab ihr einen Klaps. »Übersetz!« Stotternd übersetzte Marina seine Worte ins Russische. Sie schienen Bykow wieder neue Kraft einzuflößen, und er brach in einen Schwall russischer Worte aus, die nicht mal Burke verstehen konnte, so genuschelt waren sie. Marina wandte sich an Miguel und dolmetschte sehr verkürzt: »Er möchte, dass sie ihn abschneiden.« Miguel grinste nur. »Übersetz«, befahl er wieder. »Zuerst stecken wir die Bude an.«
Burke musste schlucken. Auf seiner Armbanduhr konnte er nichts sehen, aber er meinte, mindestens fünf Minuten seien vergangen, seit Miguel den Anruf erhalten hatte. »Wo zum Teufel bleiben deine Leute?«, zischte er Desdemona zu, während Marina dolmetschte. Desdemona saß mit geweiteten Pupillen da, das Kinn auf die Brust gepresst, und zuckte nur die Achseln. Draußen beugte sich Miguel bis auf Zentimeter vor Bykows Gesicht. »Zuerst«, sagte er, »wirst du angebraten.« Er wartete, bis Marina gedolmetscht hatte. Bykow traten die Adern am Hals hervor, und seine Gesichtsfarbe schlug um in Blauviolett. Miguel beugte sich vor und fasste an die eisernen Heringe, an denen die Spannseile festgeknotet waren, mit denen die Birkenwipfel niedergezurrt waren. Er rüttelte sie ein bisschen. »Und dann schmilzt in der Hitze der Schnee und der Boden wird weich.« Er hielt inne. »Übersetz!« Marina dolmetschte. »Das Eisen wird rausgezogen.« Marina dolmetschte weiter. Miguel spuckte in den Schnee. »Hoffentlich bist du dann noch so weit bei Bewusstsein, dass du alles mitkriegst.« Er tätschelte Bykow die Wange. »Fick deine Mutter«, fluchte Bykow auf russisch. Seine Stimme war heiser und schwach. Er hatte brüllen wollen, aber es kam nur gekrächzt. Marina dolmetschte. Miguel richtete sich lachend auf. »Nein. Ich fick deine Nichte. Auf der Rückbank. Während der Fahrt zum Flughafen.« Er fasste sich in die Hosentasche und zog ein paar zerknitterte Geldscheine heraus. Er stopfte sie ihr in die Manteltasche. »Da, nimm«, sagte er zu ihr. »Bezahlt haben wir dich schon, das hier ist nur das Trinkgeld.« »Nein«, wehrte sie sich mit zitternder Stimme. Er schlug ihr brutal ins Gesicht, machte kehrt in Richtung Auto und zerrte sie am Arm hinter sich her. Immer noch unter Tränen stolperte Marina, fiel beinahe hin, und stieg dann hinter ihm ein. Der andere Kolumbianer hatte inzwischen ein Streichholz an einen benzingetränkten Lappen gehalten. Er flammte auf.
Vorsichtig, fast affektiert tänzelte er zum Haus, den brennenden Lappen dabei vor sich hertragend wie eine krepierte Ratte. Aus einer Entfernung von etwa anderthalb Metern warf er ihn gegen die benzingetränkte Hauswand. Burke konnte das Wuhusch hören, als das Benzin Feuer fing, sah den Widerschein im Gesicht des Mannes, als er zurücksprang. Einen Augenblick später erblickte er die ersten orangefarbenen Flammenzungen und roch den Gestank von brennendem Benzin. Der Kolumbianer blieb noch kurz stehen und vergewisserte sich, dass die Datscha richtig loderte. Dann rannte er zum Wagen. Keine dreißig Sekunden später war das Auto in einer Wolke Pulverschnee durch die Einfahrt verschwunden. Burke kämpfte mit den Stricken, die seine Hände fesselten. Sie waren und blieben stramm. Von draußen hörte er Bykow aufheulen vor Wut und Verzweiflung, wie ein Echo seiner eigenen Angst, die ihm den Hals immer enger schnürte. Er grub die Absätze in die Bodendielen und stellte fest, dass er durch Verrenkungen mit dem Stuhl ein paar Zentimeter zurückrutschen konnte. »Versuchen wir, Rücken an Rücken zu kommen«, wies er Desdemona an, die gegen die eigene Fesselung kämpfte. Schon stieg ihm Qualm in die Nase, während er mühsam seinen Stuhl anders auszurichten versuchte. Der Rauch versetzte ihn in blanke Panik. Er blieb mit dem Stuhl stehen und versuchte wieder, die Fesseln mit Gewalt zu sprengen. Aber davon wurde er nur völlig zittrig. Er sah über die Schulter. Desdemona hatte ihren Stuhl rumgedreht, bis er mit der Lehne zu ihm stand, und hoppelte jetzt in kleinen Rucken zu ihm her. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich auf die Bewegungen von Füßen, Zehen und Oberschenkeln, mit denen sich der Stuhl verrücken ließ. Jetzt sah er Rauch durch Spalten zwischen den Fußbodendielen in die Veranda dringen. Er konnte das Holz in den Flammen knistern hören. Jetzt brannte schon die Datscha, nicht bloß das Benzin. Draußen zwischen den Birkenbäumen wurde Bykows Geheul immer schriller und lauter, bis es sich mehr wie Affengekreisch anhörte. Burke spürte Desdemonas tastende Finger und schob sich die letzten Zentimeter an sie heran. »Lass mich’s erst bei dir probieren«, schrie sie. Er fügte sich.
Er spürte, wie ihre Finger an den Knoten um seine Handgelenke zerrten. Doch die Stricke blieben stramm. »Lass locker!«, brüllte sie. Er wollte locker lassen, aber es ging nicht. In dieser Fesselungshaltung waren die Arme nach hinten gezogen und spannten ihm Brust und Oberkörper. Sein Herz klopfte. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Er schnappte gierig nach Luft. Jeder Muskel seines Körpers schrie nach Erlösung, aber vergebens. Ihm war, als kämen die Wände der Veranda auf ihn zu. »Verdammt«, fluchte sie, und er konnte die gleiche Anspannung aus ihrer Stimme heraushören. »Ich krieg sie nicht auf! Versucht bei mir!« Sie ließ ihre Hände erschlaffen, und Burke begann an ihren Fesseln herumzuzupfen. Jetzt schlugen die Flammen schon über die Fenstersimse herein. Der Rauch wurde dichter. Er hustete – einen harten, keuchenden Dauerhusten, den er eine ganze Weile nicht abstellen konnte. Mit größter Willensanstrengung konzentrierte er sich auf die Knoten, die er mit den Fingerspitzen ertasten konnte. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr er den Verlauf des Strickes nach. Er fand eine Stelle, wo der Strick eine Schlinge bildete, und begann daran zu zerren. Doch konnte er nur mit Daumen und Zeigefinger nesteln, und das Seil widerstand seinen Bemühungen mit Leichtigkeit. Es rutschte ihm immer wieder aus den Fingern. Er wollte beide Hände ansetzen, mit der einen gegen den Knoten drücken und mit der anderen am freien Ende ziehen. Er verrenkte sich, um die Linke heben zu können. Aber dadurch schnitt ihm der Strick nur noch tiefer in die Handgelenke. Er wedelte vergebens mit den Fingern und brachte sie nicht zusammen. Ziehender Schmerz bis in die Schultern und Lenden zwang ihn, die Hände ruhen zu lassen. »Ich schaff’s nicht«, keuchte er. Der Rauch wurde jetzt heißer und brannte ihm in den Lungen. Er musste wieder husten und konnte diesmal nicht mehr aufhören, bis er den Kopf senkte und sich zur Flachatmung zwang. Die Augen brannten und tränten. Er versuchte sich nochmals an den Knoten. Aber so richtig anstrengen konnte er sich jetzt schon nicht mehr. Die Finger glitschten jetzt schon vom Schweiß und er bekam die Schlaufe, die
er lockern wollte, kaum richtig zu fassen. »Es geht nicht«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. Er ließ die Hände wieder hängen. Ljubas stoische Haltung löste sich in einem ähnlichen Hustenanfall auf. Sie fing an zu schluchzen. »Wir müssen was tun!«, schrie Desdemona. Jetzt stieg mit dem Rauch auch Hitze auf, und in der Veranda wurde es plötzlich heiß. Die Flammen erfassten die Hauswand oberhalb des benzingetränkten Teils, bis der Blick durch die Fenster dieser Hausseite nur noch in rotgelbes Lodern ging. Das Feuer kroch um die Hausecke und fraß sich in die Vorderfront. »Versuchen wir’s mit der Tür«, brüllte Burke, obwohl Desdemona nur einen halben Meter entfernt war. »Ich zuerst. Ich steh dafür richtig«, ächzte sie. An der Wand gegenüber schlug eine Feuerzunge herein, loderte über dem Fenster hoch und leckte an der Holzdecke. Hektisch ruckelten sie auf die Tür zu, Desdemona voraus. Burke schloss die Augen, um sie vor dem beizenden Rauch zu schützen, der ihm von den brennenden Wänden immer mächtiger ins Gesicht wallte. Er stieß gegen Desdemona. »Nicht schubsen, verdammt!«, brüllte sie. »Du schmeißt mich noch um!« Er machte die Augen auf und blickte über die Schulter zurück. Vor lauter Rauch sah er fast nichts mehr. Nur, dass die Flammen an der entgegengesetzten Seite der Veranda, vielleicht sieben Meter entfernt, schon durch die Dielen schlugen. Der Raum wurde allmählich heiß wie ein Bratenrohr. Hinter sich sah er Desdemona, die mit geschlossenen Augen und Rauchfäden aus Haar und Mantel grimmig entschlossen darum kämpfte, sich zur Tür zu schieben und zu drücken. Die Tür war aus massiver Eiche und hatte keine Klinke, sondern einen Drehknauf. Rasch schätzte Burke die Höhe. Fast dreißig Zentimeter höher als die gefesselten Hände. Desdemona erreichte die Tür und zerkratzte sie mit den Fingernägeln in dem Versuch, die Hände bis zum Knauf hochzubringen. Sie schaffte es nicht und fiel wieder in ihre vorige Haltung zurück, vornübergebeugt, hustengeschüttelt und krampfhaft Rauch von Augen und Nase wegpustend. Sie versuchte, die
Fußsohlen auf den Boden zu bekommen und sich aufzurichten, doch die hinteren Stuhlbeine verkanteten sich an der Schwelle, und sie fiel vornüber, beinahe voll aufs Gesicht, konnte sich in letzter Sekunde aber noch so drehen, dass sie mit der Schulter aufkam. Und so blieb sie liegen, leicht benommen und außerstande zu jeder Regung. Jetzt züngelten die Flammen durch den Boden auf sie zu. Die Hälfte der Dielen zwischen der entfernten Wand der Veranda und ihren Stühlen brannte lichterloh. Er spürte, wie sich seine Haut rötete und glühendheiß wurde. Gleich mussten sich Brandblasen bilden. Jetzt bekam er schon fast keine Luft mehr, und wegen des tosenden Brandes konnte man auch kein Wort mehr verstehen. Überall um ihn herum knatterte und prasselte es. Ljubas Stuhl stieß gegen seinen. Sie rutschte verzweifelt auf die Tür zu und schrie etwas auf Russisch, das er nicht mitbekam. Er sah seine Hosenbeine schwelen. Er musste unbedingt zur Tür kommen. Er schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern, wo Desdemona lag, und hoppelte langsam um sie herum. Er versuchte durch die zusammengebissenen Zähne zu atmen, damit sie vielleicht den Rauch filterten und etwas Sauerstoff durchließen. Aber hier gab es keinen mehr. Seine Stuhlbeine stießen gegen ein Hindernis, vermutlich Desdemona, er drückte die Zehen auf den glühenden Boden und wollte um sie herum. Sein rechter Hosenaufschlag hatte jetzt Feuer gefangen, und er spürte, wie ihm die Haare am Wadenbein abgesengt wurden. Entweder kippelte sein Stuhl, oder er verlor das Gleichgewicht. Er hätte es nicht sagen können. Er spürte, wie er vornüberfiel, ungeschickt nach rechts, über Desdemona hinweg, aber langsam, wie ein trockenes Blatt, das kurz über dem Feuer schwebt, bevor es hineintrudelt und zu Asche wird. Dann spürte er einen kalten Luftzug am Hals und dachte, jemand müsse die Tür aufgekriegt haben. Hände packten ihn an den Schultern und schleiften ihn die Stufen der Datscha hinunter, ohne Rücksicht auf Schienbeine und Schulter, und warfen ihn in den kalten, sauberen Schnee. Er wollte darin baden, sich nackend ausziehen und sich eine Ewigkeit darin herumwälzen. Er riss den Mund auf und sog so viel Luft ein wie irgend möglich. Sein Körper verkrampfte sich vor Husten, um den
Rauch aus der Lunge zu bekommen. Die kalte Luft schmeckte wie eisgekühlter Weißwein. Burke machte die Augen auf. Er lag auf der rechten Seite, immer noch an den Stuhl gefesselt. Vor ihm war die rechte Hälfte der Datscha vollständig in Flammen gehüllt, und die linke Hälfte qualmte schon. Im Eingang zur Datscha erblickte er den Quadrathintern von Andruscha Karpow. Der scharrte wie ein Hund, der sich unter einem Zaun durchgräbt, griff abwechselnd mit beiden Händen vor sich, um Desdemona packen und aus dem Haus zerren zu können. Wie zuvor schon Burke schleifte Andruscha sie samt Stuhl die Stufen herunter. Desdemona stöhnte. »Ljuba!«, schrie er und kroch wieder ins Feuer. Burke musste hilflos zusehen. Wenige Meter neben ihm erlangte Desdemona das Bewusstsein wieder und fing an zu schreien. Sein rechtes Hosenbein, auf der bodenabgewandten Seite hoch über dem Schnee, brannte immer noch. Er verrenkte sich in dem Versuch, sich herumzuwälzen und die Flammen im Schnee zu ersticken. Es ging nicht. Dann erschien wieder Andruschas Hintern in der Türöffnung. Diesmal zerrte er Ljuba in ihrem Stuhl heraus. Zum dritten Mal schleppte er einen Körper die Treppen hinunter und in den Schnee. Ljubas Rock und Parka standen in Flammen. Sie sah fast wie eine lebende Fackel aus. Hektisch zog Andruscha ein Taschenmesser und hieb auf die Stricke ein, mit denen Ljuba an den Stuhl gefesselt war. Desdemona war immer noch am Schreien. Burke hatte sie nicht im Blickfeld, vermutete jedoch, dass auch sie irgendwo brannte. Andruscha bekam Ljubas Fesseln endlich durch, riss sie aus dem Stuhl und wälzte ihren schlaffen Körper im Schnee. Dann schnitt er Desdemonas Fesseln durch und wiederholte den Vorgang. Schließlich kam er zu Burke, zerschnitt die Stricke, riss sie auseinander und half Burke aus dem Stuhl. Burke rollte sich beiseite und wälzte sich wie ein Fisch im Schnee hin und her. Inzwischen war Andruscha über Ljuba gebeugt und versuchte, sie wieder zu sich zu bringen. Hustend kroch Desdemona auf Händen und Knien dorthin, wo Ljuba auf dem Rücken lag, schob Andruscha sachte beiseite und beugte sich mit dem Gesicht über das von Ljuba. Burke sah, wie sie ihr die Nase zu hielt und ihr in die rauchgefüllten
Lungen blies. Eine ganze Weile beschäftigte sich so mit ihr, wobei sie in regelmäßigen Abständen unterbrach, um selbst ein- und auszuatmen. »Komm schon«, sagte sie jedes Mal. »Komm schon, Mädchen.« Ein verstörter Mann stakte steifbeinig über die beiden Frauen auf dem Boden hinweg und stellte sich als stummer Gaffer neben Andruscha. Hinter ihm erblickte Burke ein Taxi mit offenen Türen und laufendem Motor. Er konnte nur vermuten, mit welchem Druckmittel Andruscha den Fahrer bewogen hatte, bis hier heraus zu fahren. Dann hustete Ljuba. Desdemona ließ sie kurz weiterhusten und drehte die Russin dann auf den Bauch und half ihr, den restlichen Rauch und Ruß aus Lungen und Mund loszuwerden. Andruscha stand auf und fixierte die brennende Datscha. Drei Viertel der Veranda brannten jetzt lichterloh, und der Hauptteil des Gebäudes stand ebenfalls schon in Flammen. »Das Bild! Die Leda!«, schrie er. »Ich kann’s noch holen.« Desdemona kam unsicher auf die Füße. Schwankend stellte sie sich zwischen Andruscha und die Tür. Mit ausgebreiteten Armen hielt sie ihn sanft zurück. »Nein, Andruscha«, sagte sie. »Genug. Es ist verloren.« »Aber ich kann es noch retten!«, beharrte er und schob sich an ihr vorbei. »Hilf mir!«, schrie er Burke über die Schulter zu. Burke stolperte ihm nach. Seine Knie waren wie aus Butter, und er wäre fast gestürzt. Doch die Bewegung brachte ihm frische Luft in die Lungen und half ihm, sich zu erholen. Sein Husten hörte auf. Sie stolperten wie irrsinnig durch den Schnee um die Datscha herum auf die Rückseite, wo das Atelier war. Andruscha vor ihm rutschte aus und fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Burke wäre fast über ihn gestolpert und ebenfalls gestürzt. Er streckte den Arm aus und zog Andruscha auf die Beine. Andruscha war puterrot im Gesicht, seine Augen füllten sich mit Tränen und spiegelten den Widerschein der Feuersbrunst. Tief in seinem Inneren spürte Burke, er selber wollte da auf keinen Fall noch mal rein. »Schneller!«, mahnte Andruscha und rannte wieder los. Der Russe stürmte um die Ecke und erreichte die großen Fenster des Ateliers. Burke holte ihn ein und spähte ins Innere. »Da drüben hängt es, an der Wand«, sagte Andruscha.
Der Raum war voller Rauch, und es war schwer zu sagen, ob die Bilder an der Wand bereits Feuer gefangen hatten oder nicht. Burke sah Flammen, doch der Brand schien das Atelier erst am Rande erfasst zu haben und sich derzeit noch auf die Küche und die Veranda vor dem Haus zu konzentrieren. Er streckte sich so hoch er konnte, kam mit dem Kinn über den Fenstersims und starrte drinnen auf den Boden. Durch die Dielenritzen züngelten bereits Flämmchen empor. »Wir müssen schnell machen«, sagte er. »Gibt’s eine Hintertür?« Andruscha schüttelte den Kopf. Dann drehte er sich um und deutete auf eine Sitzbank unter einer Linde im Garten. »Hilf sie mir herschleppen«, keuchte er. Gemeinsam wankten sie durch den Schnee zu der Bank und hoben sie auf. Sie war unglaublich schwer und tief verschneit. Beim Hochheben rutschte Burke ein halber Kubik Pulverschnee über den Kopf. Er spürte, wie es ihm nasskalt zwischen Hals und Kragen rieselte. Er versuchte den Schnee abzuschütteln und vermeinte, die nassen Haare frören ihm bereits an die Stirn. Als Burke und Andruscha die Bank an das Datschenfenster trugen, wie Leichenträger eine Bahre, kamen Desdemona und Ljuba um die Hausecke. »Höher! Überkopf!«, schrie Burke. Andruscha schob die Zungenspitze zwischen die Lippen in seinem Bemühen, die Last schulterhoch zu stemmen. Burke wäre fast in den Schnee gefallen, brachte sein Ende jedoch hoch genug. Seine Schultern zitterten von der Anstrengung. »Ins Fenster! Hauruck!«, brüllte Burke, und gemeinsam schwangen sie die Bank vorwärts. Er hörte die Fensterrahmen splittern und blickte hoch. Die Bank hing jetzt am Fenstersims, halb in den Raum hinein. »Zurück!«, brüllte Burke und sie zerrten. Doch ein Fuß der Bank hatte sich hinter dem Sims verfangen und sie brauchten ein Weilchen, bis sie sie wieder draußen hatten. Burke konnte hören, wie das Feuer auf den Sauerstoffnachschub reagierte und fauchend das Atelier erfasste. Als er wieder hinsah, sah es darin nicht mehr grau aus, sondern rotgelb. »Ich geh rein!«, schrie Andruscha. Er kletterte auf die umgedrehte Bank. Als er mit der Brust in Höhe des Fensters war, packte er den Sims und versuchte sich
hineinzuziehen, aber er schaffte es nicht. Strampelnd wollte er eines seiner stämmigen Beine in Simshöhe heben. Auch das ging nicht. Burke trat hinter ihn, fasste ihn an beiden Knöcheln und hob ihn an. Langsam kam Andruscha höher und verschwand mit Kopf und Schultern im Fenster. Burke hörte erneut Glas splittern. Seine Armmuskeln krampften unter der Last. Mit einem letzten energischen Ruck streckte Burke die Arme, und Andruscha purzelte Kopf voraus durch das Fenster. Sie hörten einen Aufprall. Und dann nichts mehr. »Andruscha!«, schrie Ljuba. Burke kletterte auf die Bank und sah hinein. Flammenzungen brachen durch den Dielenboden. Die Rückwand mit den Bildern begann zu schwelen. Schemenhaft sah er durch den Rauch Andruscha auf dem Boden liegen. »Er rührt sich nicht!«, schrie Burke Desdemona zu. Er fasste mit den Händen nach dem Sims. Das Holz war heiß. »Macht mir die Räuberleiter!« Er konnte ihre verschränkten Hände unter seinen Sohlen fühlen, zog sich mühsam hoch und versuchte dabei, sich nicht an den Glassplittern zu schneiden. Dann war er mit den Schultern durch, spürte die Hitze, wie von einem Brenner, und hörte die Flammen tosen, während sie das Atelier zu verzehren begannen. Desdemona gab ihm einen Schubs. Er fiel durch das Fenster hinein und versuchte mit vorgestreckten Armen einen Purzelbaum über Andruscha hinweg. Die Fußbodendielen sengten ihm die Hände und er zog sie unwillkürlich an den Leib, schaffte es aber doch, sich mit eingezogenem Genick über den Hingestreckten abzurollen. Rauch füllte ihm die Lungen, als er neben dem Russen zu liegen kam, und er begann wieder so zu husten, wie er vorhin nie wieder im Leben hatte husten wollen. Er wälzte sich herum. Mit dem Kopf so tief wie möglich über dem Boden beugte er sich über Andruscha, schlang die Arme um dessen massigen Leib und wollte ihn hochziehen, doch der war so schlapp und so schwer zu fassen wie etliche Sack Portlandzement. Wenigstens seinen Kopf aber brachte er über den Sims des Fensters, durch das er Ljuba und Desdemona hereinspähen sah. Sie langten zu und packten Andruscha an den Mantelaufschlägen. Husten erschütterte Burke, und er verlor kurz den Griff.
Andruscha sackte zurück und riss dabei die beiden Frauen fast mit herein. Burke schnappte an der Öffnung nach Frischluft und hielt dann den Atem an. Hinter sich hörte er Holz herunterbrechen. Die rauchgebeizten Augen brannten. Verzweifelt stemmte er noch einmal, und Andruschas Körper scheuerte langsam über das Fenstersims und fiel ins Freie. Burke streckte den Kopf hinaus und sah nach. Alle drei waren in den Schnee gekollert, Andruscha über die beiden Frauen. Desdemona sah her. »Raus da!«, schrie sie. »Sofort!« Dann stand Ljuba auf, kletterte langsam auf die Bank und streckte ihm die Hände hin. »Zieh mich rein!«, kreischte sie. »Bitte!« Burke wandte sich von den ausgestreckten Händen ab und sah in die Datscha zurück. Die Wände brannten jetzt ringsum, und die Flammen verzehrten bereits die Dielen. Hinter dem Atelier, wo das Dach über dem Vorderteil des Hauses eingestürzt war, sah er Tageslicht. Das Tosen der Flammen machte ihn fast taub. Obwohl er fast nichts mehr sehen konnte, wusste er doch genau, wo die zwei großen neuen Gemälde hingen, etwa vier Meter von ihm entfernt. Er prüfte, ob die Dielen noch trugen. Seine Hosenbeine schwelten schon wieder. Er wandte sich noch mal zu dem zerschlagenen Fenster, holte tief Luft, drehte sich auf dem Absatz um und preschte los, mit gesenktem Kopf, geschlossenen Augen und tastend vorgestreckten Händen. Er spürte, wie ihm das Feuer die Schuhsohlen verbrannte. Er erreichte die Wand und erfühlte mit der Hand den Bilderrahmen. Die Augen aufmachen, um nachzusehen, ging nicht, wenn überhaupt noch was zu sehen war. Er riss das Bild von der Wand und den Haken gleich mit heraus. Schwer war es. Fühlte sich an wie das Bild, das sie aus der Eremitage geschleppt hatten. Die Lungen platzten ihm jetzt schier, und er merkte, wie sich ihm die Haare auf dem Kopf kräuselten. Die Hitze war das Schlimmste, was er je zu spüren bekommen hatte. Er konnte fast fühlen, wie seine Nackenhaut Blasen warf. Er stürzte zum Fenster. Ein Schritt, zwei Schritte, drei, und dann stand er davor, schmiss das Bild hinaus, packte den Sims mit beiden Händen und streckte den Kopf hinaus wie ein Wal, der zum Luftholen auftaucht, und dann spürte er
Hände an den Schultern, die ihn ins Freie zerrten. Burke zog die Beine an und ging auf alle Viere. Dann setzte er erst den einen Fuß, dann den anderen und stand auf. Er sah auf sein rechtes Bein hinunter. Die Hosen waren von unten bis zu den Knien weggebrannt und die Haut war rot und warf Blasen. Verbrennungen zweiten Grades, dachte er. Er drehte sich um und sah Desdemona vor sich auf dem Rücken liegen. Offenbar hatte er sie umgerissen. Ihre braunen Augen waren rot geädert und ihr Gesicht voller Ruß. Feuchte Strähnen hingen ihr über die Stirn. Er zog sie hoch. Wortlos streckte sie die Arme aus und ließ sich gegen ihn fallen, umklammerte ihn zitternd, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Allmählich legte sich das Zittern, und sie drückte ihn nicht mehr so fest. »Du kennst doch sicher den Kerl aus dem Fernsehen, der behauptet, man kann über Feuer laufen, ohne es zu spüren?« Sie nickte. »Na«, sagte er, »der redet doch wohl nur Mist.« Sie lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. Hinter ihr konnte er Ljuba sehen, wie sie Andruscha versorgte, der eine pflaumengroße Beule an der Schläfe hatte. Er hatte jetzt die Augen offen, sie weinten beide und sahen immer wieder zu dem Bild hin, das neben ihnen im Schnee lag, an den Rändern braun versengt. Das Bild bestand aus diversen farbigen Streifen, die auf Burke irgendwie hochstaplerisch wirkten. »Das ist mir aber ein Schinken«, sagte er. Seine Stimme hörte sich an wie Schmirgelpapier auf Beton. »Wer malt denn bloß so was?« »Ich«, meldete sich Desdemona. »Im Stil von Morris Louis. Wird so langsam mein Lieblingsmaler.« »Ist es das Richtige?«, fragte er sie. Sie küsste ihn. Sie hatte Ruß auf den Lippen, und ihr Haar roch nach Rauch. Egal. »Es ist das Richtige«, bestätigte sie. »Du weißt aber, dass ich darüber schreibe, und dass ich alles daransetze, einen Riesenskandal aufzurühren.« Sie tätschelte ihm die Wange. »Nur zu. Und wenn’s meinen Leuten nicht passt, scheißen wir drauf.« Burke stolperte zu Andruscha, der benommen in Ljubas Armen
lag. Er dankte ihm für sein Leben, war aber nicht sicher, ob der ihn überhaupt hörte. Dann ging er auf steifen und wackligen Beinen um die Datscha herum zu dem Birkenwäldchen. Bykow hing noch da. Sein Anzug war nirgends angebrannt und Burke fragte sich, warum er nicht verkohlt war wie eine Bratwurst zu dicht über der Holzkohlenglut. Dann spürte er einen leichten Windstoß und hatte die Antwort. Der Wind blies von Bykow auf die Datscha zu. Bykow hing stumm und bewegungslos, obwohl die Beine so weit gespreizt waren, dass er schon beim Hinsehen das Gesicht verzog. Im Nähertreten glaubte Burke, er sei tot. Dann aber trat er noch näher heran, bückte sich und sah, dass Bykows Glubschaugen vor Entsetzen geweitet waren und weiß in seinem blauroten Gesicht rollten. Er brachte die Lippen auseinander. »Schneid mich ab«, bat er mit heiserer, schwacher Stimme. Burke folgte Bykows Blick zu den Eisenheringen, die die Birkenwipfel gebogen hielten. Er erkannte einen Zentimeter dunkler Nässe vor ihrer rostigen Oberfläche, dicht über dem jetzt schneefreien Boden. Sie hatten sich gelockert, als der gefrorene Boden aufweichte, genau wie Miguel vorhergesagt hatte. Wie lange würde es noch dauern, bis sie frei kamen und die Wipfel nach oben schnellten? Nur noch ein Weilchen. Nicht mehr lange. »Schneid mich ab«, bettelte Bykow wieder. »Ach, eigentlich finde ich, das ist jetzt genau der Moment für ein Interview«, sagte Burke. »Wer ist bei diesem Handel in Moskau geschmiert worden?« »Krimjagin. Kulturminister«, hauchte Bykow. Burke musste sehr nahe an ihn heran, um zu verstehen. »Und andere. Die kennt Tschawtschawadse.« »Und für wieviel wurde der Leonardo verkauft?« »Vierhundert Millionen«, röchelte Bykow. Die Zahl überraschte Burke, und er sah kurz in die Flammen, in denen die Datscha verloderte. Hätte ein teures Feuerchen werden können. »Dollar?« Er musste sich vergewissern. »Dollar«, bestätigte Bykow. »Und wer hat Gratschenko erschossen?« Bykow tat sichtlich jedes Wort weh. »Ein Mann namens
Wladimir. Tschawtschawadse hat ihn angeheuert.« »Und Sie selbst haben Jimmy Duxbury mit dem Attentat kompromittiert?« »Ja«, murmelte Bykow. »Steckt Tschawtschawadse unter einer Decke mit Marschall Rogow?« »Ja.« »Wie?« »Rogow hat an Santera Waffen verkauft. Tschawtschawadse war der Mittelsmann. Hat sie aus Russland nach Kolumbien geschmuggelt. Provision gekriegt.« »Was?« Das musste Burke ihm schon fast ins Ohr schreien, da Bykow kurz davor schien, das Bewusstsein zu verlieren. »Eine Provision – wahrscheinlich fünfzehn oder zwanzig Prozent«, flüsterte Bykow. »Haben Sie irgendwelche Belege dafür?« »Nein«, sagte Bykow und schwieg. Burke streckte die Hand aus und berührte einen der Heringe. »Nicht richtig eingeschlagen, was?«, sagte er im Plauderton. »Ich weiß nicht, ich glaube, die Jungs haben was gegen Sie.« Bykow riss die Augen noch weiter auf, als Burke den Hering berührte. Er schnappte ein paar Mal krampfhaft nach Luft wie ein Karpfen. Dann sprach er weiter. »Im Bürotresor vom Direktor. Eremitage. Die Frachtbriefe.« Burke nickte. »Und die Kombination?« Bykow nannte langsam vier Zahlen: 18, 20, 45 und 10. Burke sprach sie ihm nach, bis er sie sich eingeprägt hatte. Der Tresor war bestimmt kein Problem für Andruscha, da war er sicher. »Nur noch eine Frage«, sagte er. »Haben Sie Fjodorow und Jennifer Morelli umgebracht?« Bykow zögerte wieder, aber nicht so lange wie eben wegen der Frachtdokumente. »Ja«, gab er zu. Seine Stimme hörte sich an, als würde Stahl entrostet. Burke erhob sich. »Das war alles«, sagte er. »Keine weiteren Fragen.« »Und jetzt schneid mich ab«, forderte Bykow so laut er konnte, doch über dem Rascheln des Winds in den Birkenzweigen und dem
Flammengeprassel aus der Datscha kaum vernehmlich. Mit einer Willensanstrengung zwang sich Burke deutlich vor Augen, wie er Jennifer Morelli in ihrer Wohnung vorgefunden hatte. »Tut mir Leid«, sagte er. »Aber Reporter mischen sich nicht ein. Lernt man schon im ersten Semester Journalistik.« Und ging davon.
37 Sie wartete, bis er die Reportage und die gescannten Fotos durchgegeben hatte und das Modem aus dem Computer zog, bevor sie hinter ihn trat, ihm die Arme um den Hals legte und ihn aufs rechte Ohrläppchen küsste. »Alles erledigt?«, fragte sie ihn. Er nickte und freute sich am Duft ihrer Hände und ihrer Haare. »Komm ins Bett«, sagte Desdemona. »Ich brauch dich.« Lächelnd wandte sich Burke zu ihr um. Sie trug ein weißes TShirt mit dem blauen Aufdruck COLUMBIA. Darunter sah er lange und nackte Beine. Er küsste sie, und es schmeckte wie Geißblatt in schwüler Sommernacht. Sie gingen ins Schlafzimmer, und bevor er noch die Socken ausziehen konnte, schlief er in ihren Armen ein. Ein traumloser Schlaf. Das Telefon weckte ihn. Tastend drehte er sich um und erwischte Desdemonas Schulter. Er schlug die Augen auf. Ihr Haar fiel verwuschelt auf das blaue Kopfkissen, und sie hatte den Telefonhörer am Ohr. »Ja, er ist hier«, sagte sie. »Einen Moment.« »Dein Büro«, hauchte sie ihm zu, als sie den Hörer übergab. Burke rieb sich die Augen und blickte zum Fenster. Desdemona hatte die Rollos heruntergezogen, und deswegen hatte er keine Ahnung, wie spät es war oder wie lange er geschlafen hatte. »Burke«, meldete er sich. »Colin, die Sache hat ein Riesenloch.« Graves. Burke bemühte sich, seinen Ärger nicht durchklingen zu lassen. Er hatte sich daran gewöhnt, Redakteuren stets das Gefühl zu geben, auch sie hätten ihren Beitrag geleistet. Seine Artikel kamen dadurch besser raus. »Wieso denn, Ken?« »Na, die Frau malt eine haargleiche Kopie von dem Leonardo. Düpiert alle damit. Aus deinen Fotos kann man sehen, dass sie identisch sind. Also warum ist dann das eine vierhundert Millionen Dollar wert und das andere einen Dollar neunundneunzig? Das
ästhetische Erlebnis ist doch das gleiche, oder?« »Sind die Fotos gut rübergekommen?« »Ja. Für einen Fotoreporter wird dich zwar niemand halten, aber wir können die Auflösung verstärken, und dann geht’s. Also, wie lautet deine Antwort auf die Frage?« Er meint es tatsächlich ernst, entschied Burke. »Verdammt nochmal, woher soll ich das wissen«, sagte er. »Es ist eben so. Vielleicht sollte ich irgendeinen Ästhetikprofessor anrufen und es mir erklären lassen.« »Ich wollt dich doch bloß vergackeiern«, sagte Graves. Burke merkte, er konnte darüber lachen. Also lachte er. »Okay. Was noch?« Er konnte durchs Telefon fast hören, wie Graves grinste. »Also weißt du, allerheiligste Scheiße. Ein Megareißer. Glückwunsch.« Burke atmete vorsichtig auf. »Danke.« »Ein potentielles Problem allerdings haben wir.« »Welches?« »Die geben doch heute eine Pressekonferenz, um das Bild vorzustellen, oder?« Desdemona hatte nämlich darauf bestanden, dass Andruscha und Ljuba sofort in der Eremitage eine Pressekonferenz abhielten, bevor in Kolumbien die Sonne aufging und die Banken aufmachten. Santera, hatte sie sich ausgerechnet, würde es durchs Fernsehen erfahren und die Überweisungen sperren. Wenn nicht bezahlt wurde und der Leonardo sicher in Russland verwahrt blieb, wurde dem Skandal die Spitze genommen, bevor er den russischen Präsidenten erfasste. Burke sah auf die Armbanduhr. Es war sechs Uhr morgens. »Ja«, sagte er. »In vier Stunden.« »Na schön«, verlangte Graves. »Was machen wir, wenn dieser Santera behauptet, er hat das echte?« »Ist in meinem Artikel nicht erwähnt, weil ich es Karpow hab schwören müssen. Noch bevor er es in den Tresor getan hat, wo Santera es sich geholt hat, hat er hinten ein paar kyrillische Buchstaben hinzugefügt – N, P, N, E, K, S. Unter den anderen Beschriftungen auf der Rückseite fallen sie nicht auf.« »Und?« »Die russischen Anfangsbuchstaben für Nadescha Petrowna Narischkina etu kartinu sdyelala – ›Nadescha Petrowna Naryschkina
hat dieses Bild gemalt. ‹« »Raffiniert«, lobte Graves. »Ja. Er ist schon ein schlaues Kerlchen.« »Ich möchte nicht neben diesem Santera stehen, wenn ihm ein Licht aufgeht«, sagte Graves. »Er wird’s verschmerzen«, antwortete Burke. »Hoffentlich.« »Aber für einige Leute in Moskau wird’s doch brenzlig, wenn die russische Öffentlichkeit davon erfährt«, fuhr Graves fort. »Was, glaubst du, wird passieren?« »Ich meine«, sagte Burke, »Rogow muss abtreten. Und ein paar Minister dazu. Tschawtschawadse werden sie hoppnehmen müssen. Dem Präsidenten wird kein Haar gekrümmt. Womöglich wird er sogar wiedergewählt. Ich weiß nicht. Aber ich glaube, die Russen sind viel geübter darin, sich durchzuwursteln, als wir glauben. Einen neuen Kalten Krieg wird’s auch nicht geben, so gern das manche Leute gesehen hätten.« Er zog Desdemona an sich und vergrub seine Nase in ihrem Haar. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Graves. »Aber der Kerl, der dir die Frachtbriefe zugänglich gemacht hat, die die Verbindung zwischen Tschawtschawadse, Santera und Rogow belegen, was ist eigentlich aus dem geworden?« »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, antwortete Burke. »Bestimmt längst ausgerissen«, sagte Graves. »In so einer Situation ginge ich auch ab durch die Mitte.« »Bestimmt«, bestätigte Burke, mit einem Augenrollen zu Desdemona hin. »Allerheiligste Scheiße«, wiederholte Graves. »Ich werd empfehlen, dass wir’s zum Fünfspalter auf Seite eins machen und mit dem Rest ein paar Innenseiten füllen.« »Danke«, sagte Burke. »Und wir haben einen Tag Vorsprung vor der Konkurrenz.« »Wo ist das Bild denn jetzt?« »Keine Ahnung«, sagte Burke. »Ich werd’s auf der Pressekonferenz wiedersehen. Bis dahin will ich’s lieber nicht wissen.« »Eins weiß ich noch«, sagte Graves. »Du solltest ursprünglich heute wieder zurück sein. Aber wahrscheinlich willst du jetzt noch ein paar Tage frei.« »Ja«, sagte Burke. »Will ich.«
»Du kriegst zwei Tage, und keinen länger«, raunzte Graves. »Wahrscheinlich vertreibst du sie dir mit der Stimme eben vom Telefon.« »Na hoffentlich«, sagte Burke. »Sei dir gegönnt. Eins noch«, fuhr Graves fort. »War das dein Ernst mit dieser Doppelnennung in deiner Autorenzeile: ›Von Colin Burke und Jennifer Morelli‹? Ist das nicht ein bisschen rührselig?« »Einer meiner guten Vorsätze zum Neuen Jahr, Ken«, antwortete Burke. »Rührseliger werden.« »Zum Neuen Jahr?«, Graves klang überrascht. »Lieber Gott, wir haben doch schon Mitte Februar.« »Ich weiß«, sagte Burke. »Aber ich war schon immer ein Spätentwickler.«