C. H. Guenter
Im kalten
Schatten
des Kreml
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Es war Ho...
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C. H. Guenter
Im kalten
Schatten
des Kreml
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Es war Hochsommer in Italien. Trotzdem trug der Wachposten Mantel, Handschuhe und Ohrenschüt zer, denn über das Kloster San Pellegrino hoch in den Abruzzen pfiff ein eisiger Wind. Drüben am Gran Sasso war sogar Schnee gefallen. Der Posten hielt die Straße, die sich von Rom her in engen Windungen zur Adria hinüberzog, unter Beobachtung. Das kleine Radio im Inneren des Turmes dudelte ein neapolitanisches Lied. Gitarren begleiteten eine ölige Stimme. Plötzlich wurde die Sendung unterbrochen. Es war 20.00 Uhr. Die Abendnachrichten des Senders Rom begannen mit der Frontlage. „Die Kämpfe in Afrika sind beendet", meldete der Sprecher unter anderem. „Die I. Armee hat kapituliert. Einhundertzwanzigtausend unserer Soldaten gerieten in britische Gefangenschaft. Auf der Insel Pantelleria ergab sich die Besatzung nach heftiger Gegenwehr den britischen Divisionen. Auf der Insel Lampedusa wird weitergekämpft. Die Terrorangriffe alliierter Bomber auf die deutschen Städte halten an." Der Posten auf dem Turm des Klosters wurde abgelenkt. Von L'Aquila her näherten sich zwei Fahrzeuge. Er nahm sein Fernglas. Trotz des Staubes, den die Autos auf der ungeteerten Straße hochwirbel ten, erkannte er zwei schwarze Limousinen. Einen
großen Mercedes und einen 3,8-Liter-Fiat. Das Regierungsmodell. Der Posten ging in den Turm hinein, hob das Feldtelefon ab, kurbelte zweimal und übermittelte dem Wachhabenden: „Sie kommen, Tenente." Der Leutnant ließ die Besatzung hinaustreten. Nach kurzer Uniformmusterung fragte er einen der Soldaten: „Das Essen?" „Kann serviert werden." „Wein?" „Bereit, Tenente. Zwei Flaschen Asti und zwei Flaschen Spumante." „Kaminfeuer?" „Brennt." „Die Exzellenzen werden sonst zwischen den kalten Mauern frieren."
Dann ließ der Tenente die Tore öffnen.
Die Besucher ließen ihre Begleitung zurück. Im Kaminsaal nahmen sie an dem langen Refekto riumstisch der Mönche ihr Mahl ein. Der schmale, dunkelhaarige Gast mit dem Bärtchen aß selbst die Spaghetti mit lässiger Eleganz. Der Gastgeber hingegen, ein bulliger Glatzkopf mit Hammerkinn, verschlang sie gierig, nicht ohne die Nudeln vorher auf Römerart kleingeschnitten zu haben. Nachdem der Espresso serviert war, schickte der Italiener alle Diener hinaus. Die Tasse in der Hand, eine Zigarre zwischen den Lippen, begaben die Herren sich in die Nähe des Kaminfeuers. Beide redeten sich mit Exzellenz an. Mit zögern
der Vorsicht kam der dunkelhaarige Besucher zur Sache. „Exzellenz, dies ist ein Geheimgespräch, von dem ich hoffe, daß es den Deutschen nicht bekannt wurde. Also lassen Sie uns ganz offen sein. Die politische und militärische Lage hat sich im Som mer dieses Jahres neunzehnhundertdreiundvierzig dramatisch verschlechtert. Alles steuert auf eine Katastrophe zu. Die deutschen Armeen in Rußland befinden sich auf dem Rückzug. Afrika ging bereits verloren. Um die Inseln wird gekämpft. Die Lan dung der Alliierten auf Sizilien ist stündlich zu erwarten." „Ebenso auf dem Festland und irgendwo an der französischen Kanalküste", fügte der Italiener hinzu. „Unsere Bundesgenossen in Fernost stoßen auf wachsenden Widerstand der USA. Denken Sie, das wissen wir nicht?" Nach ausführlicher Erörterung der Lage und der weiteren Aussichten, rückte der Besucher endlich mit seinem Angebot heraus. „Exzellenz", sagte er mit gedämpfter Stimme. „Leiten Sie Friedensgespräche mit den Westmäch ten ein." Der Italiener war Realist genug, um die Lage richtig einzuschätzen. Aber seine Reaktion lief darauf hinaus, daß er erklärte, kein Feigling zu sein und nicht wortbrüchig werden zu können. Nun aber machte der Besucher ihm ein Angebot, das ihn Feigheit und Wortbruch leichter ertragen ließ. „Exzellenz", erklärte er. „Ich bin beauftragt und berechtigt, Ihnen oder Italien die Hälfte des Kron schatzes von König Carol zu offerieren. Dies als Hilfe meines Landes für den Fall, daß Italien durch
einen separaten Friedensschluß mit den Alliierten möglicherweise in eine schwierige Lage gerät." Dies war eine glänzende diplomatische Formu lierung. Die Hälfte des Staatsschatzes hatte einen Wert von nahezu hundert Millionen Dollar. Sie würden dem Italiener selbstverständlich so zur Verfügung stehen, daß er nach eigenem Ermessen damit umgehen konnte. Das machte den Italiener sehr nachdenklich. Sie tranken den vorzüglichen trockenen Spu mante, rauchten Zigarren, ließen noch einmal Kaffee bringen und das Kaminfeuer nachlegen. Nach vier Stunden - es war schon Mitternacht - wurden die Exzellenzen sich einig. Sie brachen auf, umarmten sich fast brüderlich und verließen mit ihren schweren Limousinen das Kloster San Pellegrino hoch in den Abruzzen. Der stellvertretende rumänische Ministerpräsi dent General Antonescu fuhr nach Pescara, wo ein Flugzeug auf ihn wartete. Benito Mussolini, Italiens Partei- und Staats chef, kehrte nach Rom zurück. Zwei Tage später schon erfuhr die deutsche Militärische Abwehr aus vertraulicher Quelle von diesem Geheimtreffen.
Am 11. Juli 1943 landete in den Abendstunden ein viermotoriger Savoia-Marchetti-Bomber auf dem Militärflugplatz von Bukarest. Beim letzten Licht der tief stehenden Sonne kam er herunter und rollte bis zu dem letzten Hangar im Osten. Kaum war die Dunkelheit hereingebrochen, näherten sich dem Flugplatz mehrere schwere Lastwagen. Begleitet von motorisierten Einheiten 10
der II. Rumänischen Gardefüsiliere, brachten sie ihre Ladung zu dem italienischen Bomber. Dabei handelte es sich um stabile Kisten aus Eichenholz mit blechbeschlagenen Kanten. Die Kisten waren sandgelb gestrichen und führ ten folgende Kennzeichnung: Artilleriemunition, Kal 8,8, Aufschlagzünder. Mit diesen Kisten wurde der italienische Bomber bis an die Grenze seiner Tragfähigkeit beladen. Diese mochte bei ca. 6.000 Kilo liegen. Der erste Pilot, ein Colonello aus der Flugstaffel des Staatschefs, bestätigte den Empfang der Kisten. Der Bomber wurde aufgetankt. Dann heul ten die vier Alfa-Romeo-Motoren auf. Jeder hatte 800 PS Leistung. Die Startbahnbefeuerung wurde kurz einge schaltet. Kaum war der Bomber in der Luft und flog Kurs West, verlosch die Beleuchtung wieder, und der Flugplatz lag so im Dunkel wie die ganze Stadt, das ganze Land und der ganze Balkan. Die italienische Viermotorige hatte knapp tau send Kilometer vor sich, was einer Flugzeit von etwa vier Stunden entsprach. Inzwischen hatte der Bomber seine Startzeit per Funk zum Heimathorst gemeldet. Man erwartete ihn auf dem Flugplatz von Guidonia noch vor der Dämmerung. Der viermotorige Bomber mit der äußerst wert vollen Fracht kam nie in Guidonia an. Den militärischen Behörden wurde auch nicht bekannt, ob die Maschine je italienischen Boden erreicht hatte oder schon vorher in die Schluchten des Balkan oder in die Adria gestürzt war. Obwohl nahe der Flugroute des Bombers Luft kämpfe zwischen deutschen Me-110-Nachtjägern und britischen Spitfires stattgefunden hatten, 11
wurde hektisch nach ihm gesucht. Jedoch ohne Ergebnis. - Schließlich gab man es auf. Im Verlauf der nächsten Wochen rückte die Angelegenheit in den Hintergrund. Es gab Wichti geres. Am 10. Juli landeten alliierte Verbände unter dem Oberbefehl von General Eisenhower an der Südostküste von Sizilien. Eine Woche später forderten Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill das italienische Volk auf, sich gegen das faschistische System zu erheben. Am 22. Juli eroberte die 7. US-Armee Palermo. Und am 25. Juli wurde Benito Mussolini nach einem Besuch bei König Viktor Emanuel III. beim Verlassen des Palastes verhaftet. 2. Auf ihrem Vormarsch nach Norden eroberte die 7. US Armee mit überlegenem Materialeinsatz ganz Sizilien. Später setzte sie über die Straße von Messina, um die alliierte Landung im Golf von Salerno zu unterstützen. Damals im September führte Captain Tom Joe Wallace eine Panzerkompanie, bestehend aus zwei undzwanzig Shermans. Die Einheit von Tokio-Joe Wallace galt als ziemlich wüster Haufen. Tokio-Joe nannten sie Captain Wallace deshalb, weil er in betrunkenem Zustand immer damit prahlte, daß er die Japse ganz allein zur Schnecke machen würde. Betrunken war er in diesen Monaten fast immer. Und weil er obendrein auch ein Rabauke war, 12
konnte seine Kompanie nicht ein Haufen von Betschwestern sein. Andererseits ging ihr der Ruf voraus, jeden Widerstand der Krauts zu brechen, selbst dann, wenn ihr SS gegenüberlag. So kämpfte sich Tokio-Joes Kompanie plün dernd nach Neapel durch, das am 30.9. eingenom men wurde. Weiter ging es an der Küste nach Norden. Im Winter wurde die Kompanie in die Kämpfe um Monte Cassino verwickelt. Wenn bei anderen Kompanien dies und jenes fehlte, Ersatzmotoren, Benzin, Munition und Ver pflegung, dann kam das bei Captain Wallace niemals vor. Er sorgte dafür, daß jeder abgeschos sene Panzer durch einen neuen ersetzt wurde. Ebenso sorgte er für Verwundete und dafür, daß man die Toten begrub und nicht einfach liegenließ. In seinem Kommandopanzer war immer alles vorhanden. Wein, Zigarren und Mädchen. Nicht nur lebendige, auch solche aus vergoldetem Holz oder auf Leinwand gemalt. Kunstwerke, die sie aus den Klöstern mitgenommen hatten. Der Captain hatte in seinem Gepäck schon die zusammengerollten Leinwände eines gewissen Tizian und eines Botticelli, als er südlich von Rom den Befehl erhielt, die Straße zur Adria freizu kämpfen. Einmal verbrannte sein Panzer ihm durch eine deutsche Haftladung unterm Hintern. Wallace kam gerade noch heraus. Zweimal schoß ihm die gefürchtete 8,8-Flak die Ketten weg. Sein Zugfüh rer Sergeant Holliway zog ihn am Haken aus der Schußlinie. Irgendwann im April standen sie oben auf den kahlen, windigen Höhen des Gran Sasso, wo man 13
Mussolini nach seiner Verhaftung gefangen gehal ten hatte. „Ein SS-Obersturmbannführer Skorzeny soll Benito da rausgehauen haben", berichtete man dem Captain. „Tapferer Junge", kommentierte Tokio-Joe. „Aber wozu? Irgendwie kriegen wir den Duce doch noch an seinem dicken Arsch." Am nächsten Tag ging es merkwürdigerweise nicht weiter nach Norden. Sie mußten die Berge entlang der Adriaküste von den letzten deutschen Widerstandsnestern freikämpfen. Captain Tom Joe Wallace wurde zum Major befördert und bekam die silberne Tapferkeits medaille. In der darauffolgenden Woche wurde er verwun det. Es war ein glatter Durchschuß an der Schulter. „Nur ein Loch im Fleisch", tat er es ab und blieb nicht länger von seiner Kompanie weg, als sie im Feldlazarett brauchten, um die Wunde zu ver arzten. Weiter räumten sie mit dem Rest der deutschen Wehrmacht auf bis hinüber zum Gargano, dem Sporn am italienischen Stiefel. Es war Ende Mai, sie hatten gerade eine deut sche Haubitzenstellung zum Schweigen gebracht, als Tokio-Joe an der Spitze seiner Panzer den Fahrer auf die Bremse treten ließ. Dicht an einer Felskante kam der Sherman zum Stehen. Einen Meter weiter ging es absolut senk recht hinunter, wie die Wand bei einem Topf, wenn man oben am Rand saß. Es war wirklich eine Art Topf. Innen fast weiß, hatte er etwa zwei Kilometer Durchmesser. 14
„Was'n das, Sir?" fragte Sergeant Holliway über Sprechfunk. „Ein Marmorbruch, Satch", sagte der Captain. „Und das Ding in der Mitte? Breit aus die Flügel beide, Herz Jesu meine Freude?" „Noch nie ein Flugzeug gesehen?" Wallace nahm das Glas. Es handelte sich um das Wrack eines drei- oder viermotorigen Bombers. „Notlandung oder Abschuß, Sir?" „Beides", vermutete Tokio-Joe. „Ein Italiener. Kommen Sie, Satch, Aussteigen. Wir klettern run ter und sehen uns das Ding mal an."
Der Savoia-Marchetti-Bomber zeigte Einschüsse im Leitwerk und in den Motoren. Bei der Notlan dung war er bis zur Kante des Marmorbruches gerutscht und dort zum Stehen gekommen. Im Cockpit saßen vier Mann. Die zwei Piloten, der Funker und der Bordmechaniker. Alle tot und verwest. Major Tokio-Joe Wallace und sein Sergeant kletterten in den Rumpf und entdeckten die festge zurrten Eichenholzkisten. „Nur Munition. Nicht mal Schnaps", fluchte der Sergeant. „Ich kenne die Italiener", sagte der Major und schlug mit dem Kolben des Maschinenkarabiners einen Kistendeckel auf. Schon kollerten ihm aus aufgerissenen Samtbeuteln Goldmünzen entgegen. Außerdem Diamanten. Der Sergeant schlug das Kreuz und fragte: „Sind das die von den Hollywoodfilmen her bekannten Mengen von Gold und Edelsteinen, Sir?" 15
„Genau das ist es, Satch." Der Sergeant faßte alles an und gestand: „Habe ich noch nie in natura gesehen, Sir." „Satch." Der Major hockte sich hin. „Ich habe das Gefühl, wir sitzen hier in 'ner verdammten Patsche. Das ist der Königsschatz der weggeschafft werden sollte. Und wir kriegen nicht mal 'nen Finderlohn dafür." „In unsere Taschen geht nur verdammt wenig davon rein, Sir. Das sind ja Tonnen. Tonnen von Gold und wer weiß was noch." Tokio-Joe schien darüber nachzudenken, ob sie eine Chance hätten, sich den Plunder unter den Nagel zu reißen. Er sah keinen Weg. Nicht vor den Augen seiner ganzen Panzerkompanie, vor all den Männern, die oben an der Steilkante auf Befehle warteten. Aber der Sergeant, ein Naturbursche und Holz fäller aus Wisconsin, hatte eine Idee. „Sir", sagte er, „wir sind hier auf Widerstand gestoßen. Erst ballern wir wild herum, dann ziehen wir uns zurück und fordern Jabo-Unterstützung an. Sie sollen den Bruch hier zusammenhauen. Wenn wir Glück haben, kracht der ganze mürbe Marmorshit über den Spargroschen Ihrer Majestät zusammen." „Du bist ein Genie, Satch", sagte der Major. „Versuchen wir es." Sie feuerten, was das Zeug hielt, so, als wären sie auf Widerstand gestoßen, und zogen sich zurück. Sie kletterten hinauf und hielten mit ihren Panzer kanonen erst einmal gegen die Felswände. Von dort kam einiges Gestein herunter, aber nicht genug. Also forderten sie Jagdbomber an. Es dauerte nicht lange, schon donnerten Thun derbolts und Mustangs in Wellen über die Berge 16
und luden ihre Fünfhunderter und Tausender Bomben im Steinbruch ab. Es staubte hinauf bis zum Firmament. Als sich der bittere Marmorstaub gelegt hatte, sah der Steinbruch aus wie ein mit Kies gefüllter Topf. Der Sergeant hockte neben Tokio-Joe auf dem Kommandopanzer und grinste seinen Boß an. „Jetzt sind die Krauts da unten ziemlich klein und häßlich, Sir." Major Wallace, der selbst von Deutschen abstammte, nickte nur versonnen. „Ja, heute haut wirklich alles hin", bemerkte er zweideutig. „Weiter geht's, Männer! Motoren anlassen, wenden und mir folgen." Eine Woche später haute gar nichts mehr hin. Im Norden gerieten sie in schwere Abwehrkämpfe. Sergeant Holliway wurde von seinem brennen den Sherman stark angeschmort, und Major Wal lace erwischte einen Lungenschuß. Man brachte sie ins Lazarett. Für beide war der Krieg zu Ende. Sie kehrten noch im Sommer in die USA zurück. Sergant Holliway in einem Sarg, Major Wallace mit Tuber kulose, die er in einem Sanatorium in den Bergen von Virginia auszukurieren versuchte. Manchmal stand es kritisch um seine Genesung, aber er biß sich durch. Nicht zuletzt half ihm der Gedanke an den Kronschatz in dem Marmorbruch in Süditalien. - Und daß er der einzige war, der davon wußte.
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Im Herbst 1946 reiste Tom Joe Wallace nach Europa. Er besaß vierzigtausend Dollar, bestehend aus einer Abfindung, einer kleinen Erbschaft und dem, was er sonst noch zusammengekratzt hatte. Erst tätigte er einige Geschäfte in Palermo. Er machte das für Freunde von Freunden. Vermutlich waren sie alle Gangster, aber das wollte er gar nicht so genau wissen. Nach Erledigung weiterer Geschäfte in Neapel mietete er einen Lancia und fuhr über die Berge zur Adriaküste. Zwei Tage suchte er, dann hatte er den Marmorbruch gefunden. Er lag noch so unbe rührt da, wie sie ihn zerbombt zurückgelassen hatten. Ein Topf mit weißem Kies am Boden. Wallace mietete sich in Campobasso ein und ermittelte einiges über die Besitzverhältnisse. Der Marmorbruch war aufgelassen worden, denn die Qualität des Steins entsprach nicht mehr den Anforderungen. Die Familie, zu deren Besitz er gehörte, dachte nicht an Verkauf. Sie war reich, besaß große Ländereien, und Dollars reizten sie wenig. Auch auf einen längeren Pachtvertrag ließ sie sich nicht ein. Die Grafen hielten den Amerika ner für unseriös und wollten sich keine Laus in den Pelz setzen, wie sie es nannten. Sie blieben höflich, aber unzugänglich. Wallace fuhr nach Neapel zurück und trug die Sache den Freunden seiner Freunde vor. „Diese Scheißadligen", fluchte der CamorraBoss. „Mit den De Campobassi habe ich schon lange ein Hühnchen zu rupfen." „Kannst du sie ein wenig zu meinen Gunsten einschüchtern, Amico?" fragte der Amerikaner. „Für Freunde meiner Freunde tue ich alles. Aber 18
eines sag mir, Giovanni, was willst du mit diesem verdammten Schotterhaufen?" Der Amerikaner hatte sich die Antwort längst überlegt. „Sieht so aus, als gebe es dort Edelmetalle. Wo weißer Marmor in roten übergeht, da verlaufen solche Adern. Ich war im Krieg da. Mit einem Mann, der 'ne Nase dafür hat. Der riet mir einzusteigen." „Mit Edelmetall meinst du Gold, Giovanni?" „Oder was Besseres." „Platin etwa?" „Tu etwas für mich", drängte der Amerikaner. „Wird dein Schaden nicht sein." Der Mann von der Comorra versuchte es bei den Grafen von Campobasso. Erst mit einer Andeu tung, dann mit einer Aufforderung. Als das nichts nutzte, versuchte er es mit einer deutlichen Dro hung. Da das alles nicht fruchtete, wurden eines Nachts Hunderte von Olivenbäumen auf dem Besitz der Campobassi umgesägt. Jetzt wurden die Grafen stur und bewaffneten ihre Bauern. Doch als eines ihrer RenaissanceSchlösser niederbrannte, strichen sie die Flagge. Am 2. November des Jahres 1946 wurde der Kauf beim Notar in Foggia besiegelt. Der alte Marmorbruch und vierzig Hektar rundherum lie gendes Land gingen an Tom Joe Wallace aus Washington/USA über. Und zwar zu einem Preis von dreißigtausend Dollar. Dafür konnten sich die Grafen ein anderes Gut kaufen - ein dreimal so großes.
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3.
Robert Urban war schlecht gelaunt. Bei einem Abendessen minderer Qualität in einem Restaurant zweiter Klasse nervte ein Hamburger Journalist ihn mit Fragen. Wie läuft dies, wie ist das, wie hängt jenes zusammen, wo liegen jetzt die internationalen Spannungsfelder? Was macht die Arbeit des Bun desnachrichtendienstes und Ihre Tätigkeit beim BND? Urban war schlecht gelaunt, weil er wußte, worauf es immer hinauslief. Aber man hatte ihn gebeten, den Termin wahrzunehmen. Als aner kannt schärfste Rasierklinge des BND konnte er es sich leisten, auch einmal Kotzbrocken zu spielen. Gegen Ende des rundum unerfreulichen Abends, als der Journalist Interna über den Dienst hören wollte und Urban sie ihm verweigerte, sagte er: „Sind wir uns einig darüber, daß der Nachrich tendienst der Bundesrepublik Deutschland für die Hunderte von Millionen Mark, die er jährlich kostet, so gut wie nichts leistet?" Urban hätte es wenig Mühe gekostet, mit zwei drei Fakten zu kontern, aber er durfte nicht. Seine Operationen unterlagen zehn Jahre der Geheim haltung. Weil von Urban nichts kam, provozierte der Hamburger weiter: „Ist es heutzutage, bei diesem rasanten Wandel in Europa und in der Welt, überhaupt noch sinn voll, einen Geheimdienst aufrechtzuhalten? Kön nen wir uns das leisten?" „Pardon", antwortete Urban. „Ich sehe keinen Wandel. Es sei denn, Sie meinen die Ereignisse, die sich offiziell vor den Augen der Fernsehkameras 20
und den Mikrofonen abspielen. Aber so was hat uns nie wirklich interessiert oder beschäftigt. Das ist nicht unsere Welt. Unsere Welt beginnt meilen weit hinter den Bergen." „Hinter welchen Bergen?" „Sie beginnen draußen vor diesem Lokal, an der tschechischen Grenze, am Balkan, in der UdSSR, in Asien, in Fernost, in den USA, auf dem Weg zum Mond." „Das würde euch Agenten so passen, wenn es noch so wäre. Eine Welt voller Gefahren, Geheim nisse und Rätsel, die nur Ihr allein zu deuten versteht."
Der Kaffee kam, und Urban bemerkte: „Am Anfang schuf der Herr Himmel und Erde. Und dann, noch vor Adam und Eva, den Geheim dienst. Oder wer, glauben Sie, hat ihm die Sache mit dem Sündenfall überbracht?" „Das ist die Bibel. Das sind Märchen." Urban winkte ab. „Ich habe erlebt, daß die Wirklichkeit jedes Märchen übertrifft. Wir sind da, um mehr zu wissen. Nichts zu wissen, können wir uns das leisten?" „Was haben Sie vor drei Monaten in Feuerland gemacht, Urban", bohrte der Mann aus Hamburg, „vor zwei Monaten in Ostsibirien und kürzlich in der Südsee?" „Ober, bitte zahlen!" rief Urban. „Das übernehme ich", erklärte der Journalist großzügig. „Zu so einem miesen Essen", entgegnete Urban, „lasse ich mich nicht einladen. Das ist, als würde Hans Albers für einen Groschen La Paloma gesun gen haben." Er war gegangen und immer noch schlechter 21
Laune, die sich nicht gerade besserte, als er, in der zweiten Reihe parkend, einen Strafzettel unter seinem BMW-Scheibenwischer vorfand. Vom Ring fuhr er hinüber nach Schwabing, um den Ärger mit einem doppelten Bourbon runterzu spülen und mit einer Havanna wegzurauchen, als sein Autotelefon ging. - Auch das noch. Eine Frau, die amerikanisches Englisch sprach, war dran. Erst glaubte Urban, sie hätte die falsche Num mer, doch dann nannte sie ihren Namen, und sein Ärger verflog. „Florence Ohara", wiederholte er. „Ich träume." Er erinnerte sich so sehr an sie, wie man sich an sein erstes wirklich heißbegehrtes Spielzeug erin nerte. Sie hatten sich in Kalifornien kennengelernt und sofort gemocht. Nein, es war mehr als nur das. Leider hatten sie nie Gelegenheit gefunden, es sich zu beweisen. „United Artists", sagte sie, „hat hier in den Bavaria Studios einen Film gemacht." „Ich hörte davon." „Nightmare", nannte sie den Titel und meinte wohl Nachtmahr, was immer das war, ein Alp traum oder Ähnliches. „Ich hatte die Hauptrolle." „Du hattest?" fragte er. „Haben sie dich ge feuert?" „Wir sind seit heute siebzehn Uhr abgedreht." Klar, eine Florence Ohara feuerte keiner, zumin dest jetzt nicht mehr, nachdem sie den Oskar bekommen hatte. Urban hatte die Übertragung im Fernsehen ver folgt. Florence Ohara, groß, schlank, in einem hautengen Silberseidenkleid, das alles zeigte, Brustwarzen, Nabel und Gesäßspalte, hatte, im 22
Scheinwerferlicht stehend, das goldene Kerlchen in Empfang genommen und ein paar Worte ins Mikrofon geflüstert. Mit dem S ganz vorne, denn sie lispelte ein wenig. Dabei hatte sie in einer unvergleichlichen Bewegung das Haar zurückge strichen, ein Haar, fast so titan-chrom-blond wie ihr Kleid. „Gratuliere", sagte Urban und hielt bei einer Ampel. Im Hintergrund von Florences Wohnung ver nahm er zärtliche Musik.
Als Grün kam, rollte er langsam weiter. „Ich wollte dich immer mal treffen", gestand sie. „Aber bin ich in Tokio, bist du sicher in Grönland. Genau weiß man das nie. Aber jetzt bin ich in Mühchen, und du bist auch in München. Wir sind nur wenige Meilen voneinander entfernt." Einmal waren sie weniger als zwei Meter vonein ander entfernt gewesen - vor ihrer Schlafzimmer tür in ihrer Villa in Beverly Hills. — Zum Teufel, warum hatte es damals nicht geklappt? Alles fiel ihm ein. Sie hatte ihm beim Abschieds kuß zugeflüstert: „Nie gehe ich mit einem Bur schen gleich ins Bett. Nie betrunken und nie in der ersten Nacht, und wenn er Jesus wäre." Am nächsten Morgen mußte er weiter nach Rio. Sie hatte ihn angerufen und gesagt, daß sie eine dumme Ziege war und daß sie es bereue. - Zu spät. „Wir haben ja noch Zeit", hatte er geantwortet oder etwas ähnlich Saublödes, „die Welt ist so klein." Okay, die Welt war wirklich klein. Für eine echt feine Sache, kam immer die richtige Stunde. „Wo bist du, Bob?" „Maximilianstraße", sagte er. „Und du?" 23
„In Grünwald. Die Produktion hat für mich eine Villa gemietet. Kommt billiger als eine Suite im Hotel Vierjahreszeiten." Ja, rechnen konnten sie in Hollywood noch immer. Angesichts der halben Million Dollar Gage, die Florence inzwischen forderte, sparten sie eben anderswo. „Champ und Swingmusik satt?" fragte er.
„Ich gebe eine Abschiedsparty." „Schon wieder ein Abschied." „Nicht einer muß sein wie der andere."
„Viele Leute?" „Ein paar nur." Er zögerte. Er lud sich nie selbst ein, und sie hatte ihn bis jetzt nicht eingeladen. „Was hältst du von Folgendem?" schlug sie vor. „Du wendest, fährst über diesen Fluß, wie heißt er doch? Dann nach Süden raus. Da kannst du Grünwald gar nicht verfehlen." „Ich war schon mal da", sagte er. Auf der anderen Isarseite lag Pullach und das BND -Hauptquartier. Er bekam noch die Straße und die Hausnummer. „Du kommst?" Bin schon unterwegs, dachte er. „Wenn ich bis Mitternacht nicht da bin, dann warte nicht auf mich." „Dann bring ich dich um und anschließend mich", warnte sie. Jetzt ging es auf 22.40 Uhr. Er wußte, daß er spätestens in zehn Minuten dort sein würde. Auch wenn eine Herde Elefanten die Straße sperrte.
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Der Bungalow und der Park lagen im Flutlicht. Vor dem Tor stand ein zehn Meter langer Schlitten mit US-Kennzeichen. Seitlich trug er ein dezentes Monogramm in Gold auf dem cremefarbenen Lack. Die Buchstaben F. O. umschlangen einander wie ein Liebespaar im Sinnenrausch. Urban stellte seinen trommelfeuerfarbenen BMW hinter den Lincoln und ging hinein. Die großen Fenstertüren zum Garten standen weit offen. Am Pool lag ein Handtuch und eine Flasche Sonnenöl. Auf der Terrasse blieb er stehen. Aus mehreren Lautsprechern donnerte eine Miles-Davis-Num mer. Bebop-Jazz war nicht unbedingt sein Ge schmack. Er steckte sich eine MC-Goldmundstück an, trat hinein und bemühte sich um einen lässig schlen dernden Gang. - Aber für wen? Es war keiner da. Irrtum. Die Göttin stand zwei Stufen höher, wo es von der Halle ins Kaminzimmer ging. Ein Deckenstrahler hatte sie in Studiolicht getaucht. Sie sah aus wie damals bei der Oskar-Verteilung. Nur mit dem Unterschied, daß er diesmal Robert hieß. Langsam breitete sie die Arme aus. Nackte Arme, nackte Schultern. Es war nur wenig Stoff, was vom Nabel über die Brüste in einer schmalen Kordel um den Nacken lief. Mit geöffneten Armen - Urban überlegte, warum sich auch blonde Frauen die Achseln rasierten — machte sie eine bestimmte Anzahl Schritte auf ihn zu. So, als hätte ein Regisseur ihr auf den Zentimeter genau gesagt, was sie zu tun habe. Und dann ein Schrei. Sie fiel gegen ihn, umarmte ihn und drängte sich 25
an ihn. Ihre Worte gingen in Stammeln und heißes Flüstern über. „Es gibt Sachen", verstand er, „die kann man sich nicht kaufen." Ihr Körper bewegte sich dabei so, wie Reptile sich bewegten. Im wesentlichen war es ein hinund herschwingendes Hüftkreisen. Kein Tanz, denn zu Miles Davis mußte erst ein passender Tanz erfunden werden. Sie drängte ihn bis zu einem Sofa. Als es nicht weiterging und er die Kante in der Kniekehle hatte, warf sie ihn um und sich auf ihn. Da lag sie nun, schweratmend, mit feuchten offenen Lippen. Er wartete darauf, daß sie zubiß wie ein Vampir. Doch plötzlich richtete sie sich auf und goß nach Hausfrauenart Champagner ein. „Ich habe sie alle rausgeschmissen", sagte sie. „Doch wenn ich ganz ehrlich bin, es war gar keiner da. Ich habe nur auf dich gewartet." Sie reichte ihm ein Glas. Er trank es durstig leer. „Ich liebe dich", sagte sie über den Rand des Sektkelches hinweg. Er glaubte es ihr. Er hatte sie auch sehr gern. Aber mehr in dem Sinne, daß sie ganz oben auf seiner Liste stand. - Was, zum Teufel, antwortete ein Mann, wenn eine Frau zu ihm sagte I love you? — Etwa dieses seit Jahrhunderten immer gleiche dämliche, abgedroschene Ich dich auch? „Liebe", antwortete er, „ist gar kein Ausdruck dafür." Mochte sie denken, was sie wollte. Sie goß erneut ein, und sie tranken. Dann legte sie eine andere Platte auf, und sie tanzten. Ab und zu griff er sich von der kalten Platte ein Kaviar brötchen. Er spürte Florence, als winde sich eine Schlange 26
um ihn. Ihre Zunge war die einer Kobra, ihr glitzender Körper der einer Boa constrictor. Ihre Lippen Öffneten sich meist schon, bevor sie etwas sagte. Möglicherweise eine Angewohnheit aus dem Filmstudio, einen Satz zu memorieren, ehe die Kamera lief und man ihn aussprach. Ihre Lippen bewegten sich, und sie sagte: „Bevor wir von uns reden, laß uns von anderen reden." „Über wen?" Todernst fragte sie:
„Was hältst du von den Chinesen?" Er war ein wenig verblüfft. „Dasselbe wie Bismarck von den Türken. Frei übersetzt: Was geht es uns an, wenn die Gelben jenseits der Wüste Gobi aufeinander schlagen." Sie fürchtete offenbar, daß er nicht ganz die Wahrheit sagte. „Dein Ernst?" „Mein bitterer." „Und was hältst du von den Mittelamerika nern?" „Operettenrevolutionen. Aber im Samba rhythmus." „Du nimmst mich auf den Arm, Bob." „In denselben", verbesserte er. „Und was hältst du von den Russen?" Er überlegte nicht lange. „Willst du mir den Abend verderben?" „Wie kann man das in bezug auf Moskau." „Man kann es in bezug auf Moskau wie in Bezug auf eine Frau, die eine Heilige ist, aber auch eine Hure." „Geht es nicht genauer?" wollte sie wissen. „Eine schizophrene Kämpferin für Emanzipation und Unterdrückung." 27
„Erklär mir das bitte." „Das Untier und die Schöne, gespielt in einer Doppelrolle von Josef dem Schrecklichen." „Du redest um den Brei herum." „Jetzt Schluß damit, bitte." Er ließ sie los und leerte sein Glas. „Bist du verärgert?" „Erklär mir deine Fragen jetzt zu dieser Stunde auf dieser Party zu zweit." „Und danach fährst du wütend nach Hause." „Kommt auf deine Erklärung an, Darling." „Dann bleib", flüsterte sie. „Was hältst du von uns, von Robert und Florence?" „Wo? Im Stehen oder im Liegen?" lenkte er ein. Er blickte ihr in die Augen, und ihre Augen blickten nach oben. Oben lagen meist die Schlafzimmer. In diesem Haus führte eine breite Treppe, bananenförmig gebogen, aus weißem Travertin, mit vergoldetem Gitter, hinauf. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich. Auf der dritten Stufe sah er sie für einen Moment verschwommen. Am Alkohol konnte es nicht liegen, er hatte kaum etwas getrunken. Vielleicht der Föhn, dachte er, oder die Erregung. Oben mußte er sich eine Sekunde festhalten. Verdammt, dachte er, was ist los mit dir. Gerade jetzt. - Es war, als hätte sich sein Motor ver schluckt, zog jetzt aber kraftvoll wieder an. Florence stand an der Tür. Sie umarmte ihn und öffnete die Tür mit dem Ellbogen. Die Tür schwang nach innen. Es war ein ganz normales Schlafzimmer in Weiß und Rosa, mit einem Himmelbett, umhüllt von Spitzenvorhängen. Urban kam bis zum Bettpfosten. Dort fing er 28
sich eben noch. Es war, als führe er Kettenkarus sell. „Was ist?" fragte Florence besorgt. Er verstärkte sein immerwährendes Lächeln. „Nichts, Darling." Er sah sie an der Spiegelwand. Mit der Rechten tastete sie nach hinten und zog den Reißverschluß bis zur Hüfte herab. Die andere Hand streifte das Kleid ab, das fließend zu Boden glitt. Es war warm. Sie hatte nicht viel darunter an. Nur ein Körper-Make-up, das ihre helle Haut zartbraun erscheinen ließ, und ein wenig Parfüm. Langsam drehte sie sich um. „Du sagst nichts", bemerkte sie. „Bist du ent täuscht?" „Nein." Er faßte sich an die heiße Stirn. „Alles wie gebont." „Sagtest du, alles wie geträumt?" Er nickte, setzte sich auf das Bett und lockerte die Krawatte. „Nun möchte ich es sein", flüsterte sie, „die ihre Träume in Erfüllung gehen sieht." Er fiel rückwärts in die rosa Kissen. Mit einem mal bohrte sich etwas durch seinen Leib, als hätte .ein handlanger Granatsplitter ihn, wirbelnd wie ein Mixermesser, getroffen. Es fing in Blinddarmnähe an und breitete sich bis zum Rippenbogen aus. Sein Herz hämmerte los. Er keuchte und bäumte sich hoch. Ein fürchterli cher alles paralysierender Anfall von Nieren-, Gallen-, Magen- und Darmkolik plus Herzanfall brachte ihn schier um. Er preßte die Fäuste in den Leib und wälzte sich zur Seite. „Einen Arzt!" sagte er so beherrscht wie mög lich. „Aber bitte schnell." 29
Der BND-Agent Robert Urban wußte nicht, wie er diese Hölle überstehen sollte. Durch schwarze Nebel sah er sie kommen, einen Mann in Weiß, dann noch zwei Männer in Weiß mit einer zusam mengefalteten Trage. Der Arzt setzte sich neben ihn, knöpfte ihm das Hemd auf, horchte, tastete, klopfte ihn ab. Er maß Puls und Blutdruck. Dann zog er eine Spritze auf und jagte sie in Urbans Armvene. In allmählich sich verlangsamenden spasmischen Wellen ließ der Schmerz nach. Aber da sah und hörte Urban schon fast nichts mehr.
„Infarkt", sagte der Arzt, oder etwas Ähnli ches. „Herz?" glaubte Urban fetzenweise zu verneh men. „Herzinfarkt?" „Nicht nur. Ein totaler Körperinfarkt. Wenn es das gibt." Urban fühlte sich angehoben und wieder abge setzt. Dann wurde er auf der Trage fortbewegt. Hinaus und die Treppe hinunter. Im Erdgschoß wurde die Unterlage wieder horizontal. Er glaubte, Florences Hand an der seinen zu fühlen. Dann schob man seine Trage auf Schienen irgendwo hinein. Türen schlugen zu. Ein Motor sprang an. Er glaubte, eine Sirene zu hören, aber sie entfernte sich rasch. Er hatte das Bewußtsein völlig verloren.
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4.
Pünktlich um 6.00 Uhr morgens zerstörte eine gewaltige Explosion den ersten unterirdischen Abschußbunker für Minuteman-Raketen in Texas/ USA. Im Abstand von wenigen Stunden flogen auch die anderen Startrampen in die Luft. Gemäß dem Genfer Abrüstungsabkommen reduzierten die Amerikaner auf diese Weise den Bestand ihrer interkontinentalen Atomraketen. Aus einem fahrbaren Beobachtungsstand filmte die Kontrollkommission die Vorgänge. Von Seiten der USA gehörte ihr Lt. Col. William Trapper an, von sowjetischer Seite Oberst Rurky tschew. Beide Offiziere - sie waren ungefähr gleich alt, Anfang Vierzig — standen an den Scherenfern rohren. „Für soviel Geld", sagte der Russe, „ist es ein miserables Feuerwerk. Was, glauben Sie, kostet ein gutes Feuerwerk, Colonel Trapper?" „Als mein Vater siebzig wurde, gab meine Fami lie zehntausend Dollar dafür aus", sagte der Ame rikaner. „Das Feuerwerk dauerte eine halbe Stunde, und alle sagten, etwas Besseres hätten sie nie gesehen!" „Und was, glauben Sie, Trapper", fuhr der Russe fort, „haben wir hier durch Knopfdruck ver nichtet?" Der Amerikaner steckte sich eine Camel an und wiegte den Kopf. „Gut und gern eine Milliarde Dollar." „Was bekäme man dafür?" Darauf blieb der Amerikaner die Antwort schul dig. Für eine Milliarde Dollar bekam man an 31
zivilen Gütern eine unvorstellbare Menge. Dafür konnte man in New York reihenweise Wolkenkrat zer kaufen, in Arizona riesige Ranches, in Holly wood Filmstudios, ein paar Ozeanriesen, eine Automobilfabrik, etliche Banken, Eisenbahnlinien, eine Million Hot-dog-Buden. „Schwer zu sagen", antwortete Trapper. „Dazu fehlt es mir an Phantasie." An diesem Tag, am nächsten und bis zum Rest der Woche wurden noch weitere unterirdische Raketenstartrampen für über vier Milliarden in die Luft gejagt. Samt den dazugehörigen Raketen, den Steuer- und Rechenzentren. Dann zog die Kommission weiter. Auf einem Truppenübungsplatz in New Mexico waren mehr Panzer aufgereiht, als zur Ausrüstung von zwei Armeen nötig gewesen wären. Es gab nur ein Problem: Kampfpanzer waren schwerer zer störbar als hochempfindliche Raketentechnik. Man hatte aber ein rationelles Verfahren entwik kelt. Man zündete in den Panzern Hohlladungen, die eigentlich dazu entwickelt worden waren, um sich von außen durch gegnerische Tanks zu schweißen. Die mehrere tausend Grad heißen Sprengsätze zerschmolzen im Inneren der Sherman- und Abrams-Panzer alles — Motor, Getriebe, Waffen und Elektronik - zu einem Klumpen Metall. Die Panzer taugten jetzt nur noch als Hochofen schrott. Auf diese Weise wurden abermals Milliarden Dollar vernichtet, wenn man davon ausging, daß ein Kampfpanzer mindestens eine Million gekostet hatte. Daß die Amerikaner die alten Shermans zerstör ten, das hatte der Russe erwartet. Daß sie aber 32
auch neue Turbinen-Abrams sprengten, versetzte ihn in Staunen, und er wertete es als gute Absicht der Amerikaner. Bei seinen täglichen Meldungen nach Moskau stellte er dies besonders heraus. Allerdings konnte er nicht wissen, daß es sich um Turbinen-Panzer der ersten Serien handelte, die Chrysler gebaut hatte und mit denen die US-Army nie besonders glücklich gewesen war. Sie hatten noch und noch Macken. Ende des Monats zog die Kommission weiter nach Baker-Airfield. Dort waren B-52-Bomber in so tiefen Linien gestaffelt, daß man einen Hub schrauber brauchte, um sie zu zählen. Die sündhaft teuren, achtdüsigen, strategischen Atombombenträger wurden verschrottet, da sie ohnehin ausgemustert werden sollten. Für ihre Aufgaben wurde der neue B-2-Tarnbomber einge setzt. Die alten Atombomber waren regelrecht ausgeschlachtet worden. Sie hatten keine Motoren mehr und keine Avionik. Die Leitwerke und Trag flächen waren weggeschnitten, der Rest taugte nur noch für die Aluminiumschmelze. An diesem Tag fragte der Russe den Amerikaner, ob es ihm erlaubt sei, über den Süden der Staaten zu fliegen. Er habe viel über Cowboys, über Indianer und das Leben am Mississippi gelesen, von der Prärie, dem Gran Canon, von den Moun tains und was es noch alles gab. Lt. Col. Trapper meinte zunächst unverbindlich, das sei schon irgendwie zu arrangieren. Am Abend sprach er mit seinem Vorgesetzten im Pentagon. Dieser wiederum setzte sich mit der CIA in Verbin dung. Umgehend bekam Lt. Col. Trapper Bescheid. „Versuchen Sie, sich mit dem Russen so gut 33
anzufreunden, wie es nur geht", hieß es. „Oberst Rurkytschew ist in der UdSSR der Mann, der die dortigen Kontrollkommissionen leitet. Was wir ihm hier erlauben, das kann er uns drüben nicht abschlagen. Sie haben also freie Hand, Trapper." Am Morgen - es war ein Tag wie aus einem Roman von Mark Twain, frisch, blauer Himmel und mit einem Wind, der nach Mais und Baum wolle roch — holte der Amerikaner den Russen mit dem Jeep in seiner Unterkunft ab. Sie fuhren zu den Hangars hinüber, wo eine aufgetankte Piper stand. „Das Flugzeug gehört Ihnen", sagte Trapper generös.
„Sie meinen uns, Colonel." „Nein, Ihnen, Oberst. Der Russe schob die Uniformmütze in den Nacken. „Heißt das, Sie lassen mich mutterseelenallein über Amerika gondeln?" „Soweit das Benzin reicht. Sie besitzen doch den Pilotenschein, Wladimir." Rurkytschew kam aus dem Staunen nicht heraus. Schnell wurde er mit den hier üblichen Sprech funkfrequenzen vertraut gemacht. Dann stieg er ein, schnallte sich fest und ließ an. Noch immer schien er es nicht glauben zu können, daß man ihn, einen militärischen Experten von hohem Rang, ohne Aufpasser in die Luft ließ, und dies so nahe bei den Atomwerken von Los Alamos, all den Sperrgebieten und Luftbasen. Er winkte hinaus. Lt. Col. Trapper winkte zu rück. Der Russe startete, und der Amerikaner blickte ihm nach. 34
Der Mechaniker, der mit zu den Hangars gekom men war, meinte: „Sie haben aber eine Masse Vertrauen, Sir. Der Mann ist doch hundertprozentig ein Spion." „Ja, das ist er." „Er nimmt Kurs auf Los Alamos." „Soll er ruhig. Er wird dort auch nicht mehr sehen als die russischen Satelliten. Aber er wird unsere Großzügigkeit genießen. Haben Sie den Kursschreiber, die Blackbox, eingebaut?" „Wir wissen jede Sekunde genau, wo er sich aufhält, Sir", bestätigte der Mechaniker,
William Trapper und Wladimir Rurkytschew tra fen sich in Minsk wieder. Dort kontrollierten die Amerikaner, wie die Stellungen der sowjetischen Interkontinentalrake ten vom Typ SS-20 abgebaut und die Raketen mit Schweißbrennern gevierteilt wurden. Die Kommission fuhr weiter nach Moskau und zu den Panzerfabriken bei Gorki. Dort führte Oberst Rurkytschew den Amerikaner stolz durch die riesigen Montagehallen. Auf den Bändern wurden jetzt Fertighäuser für Sibirien produziert. Häuser wie Schuhschachteln, aus Aluminium, Schaumstoffisoliert, komplett mit Heizung, Installation und Möbeln versehen. William Trapper nahm an, daß diese alte Fabrik ohnehin für den Bau der neuesten automatisierten Kampfpanzergeneration ungeeignet war und man ihm die modernen Rüstungsfabriken ohnehin nicht zeigen würde. Man wußte nicht einmal, wo sie lagen. Man hatte sie, für Satelliten unsichtbar, in riesige Tunnel im Uralgebirge eingebaut. 35
Nach außen hin zeigte der Amerikaner keine Zweifel, sondern Befriedigung. Ebenso verhielt er sich auf den sowjetischen Luftwaffenstützpunkten, wo man Tausende von MiG-Jägern, die Tu-26, die berühmte Backfire und die alten Bear-Typen mit vier Motoren und acht Propellern zerlegte, zer schnitt und zersägte. „Zufrieden?" fragte Oberst Rurkytschew immer wieder, wenn die Amerikaner fotografierten, film ten, zählten und aufschrieben. „Aber ja", sagte der Amerikaner dann. „Alles nach Plan bis jetzt. Wann nehmen wir uns Ihre Atombombenlager zur Brust, Oberst?" . „Erst die U-Boote", schlug der Russe vor. Der Amerikaner vermutete, daß sie drüben in Westsibirien noch dabei waren, das eine oder andere Depot zu tarnen oder mit uraltem Material aufzufüllen, das ohnehin nur noch Museumswert besaß. „Eines", sagte Trapper, als sie abends in einem Restaurant bei Lachs, Kaviar und Wodka saßen, „würden Sie mir wohl nie erlauben, nämlich mit einem Flugzeug über Ihr Land hin wegzufliegen, allein und wohin immer ich nur wollte." Rurkytschew wiegte seinen massigen Schädel. „Warten Sie es ab", sagte er. „Warten Sie nur ab, mein Freund." Inzwischen wurde der Amerikaner schon unge duldig. Er wollte endlich damit beginnen, seinen wahren Auftrag zu erledigen. Er rauchte eine Camel an und versteckte seine Zweifel hinter einem breiten, texanischen Grinsen, das man allge mein für ein wenig idiotisch hielt.
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5.
Im kleinen Konferenzraum des Weißen Hauses, genannt Konfi II, tagte der Sicherheitsrat der USA. Neben dem Präsidenten gehörten diesem Gre mium der Chef des Geheimdienstes CIA, der Ver teidigungsminister und erster Mann im Pentagon, mehrere Generäle, aber auch Senator Wallace an. Wallace war allgemein gefürchtet, denn er ver trat auch jene Ausschüsse, welche die Rüstungs ausgaben kontrollierten. An Senator Tom Joe Wallace, einem ehemals blonden, muskulösen, jetzt grauen und hager gewordenen Riesen, kam keiner vorbei. Wallace war gefürchtet ob seines unverbesserli chen Mißtrauens jeder Frage, jeder Antwort und sogar der Bibel gegenüber. An diesem trüben Vormittag, an dem noch nicht feststand, ob es regnen oder nur neblig bleiben würde, hielt Wallace sich betont zurück. Er lauschte dem vortragenden Stabsoffizier und dem NASA-Experten. Es ging um die Berichte der internationalen Abrüstungskommission und deren Auswertung. Das Material war so aufbereitet, wie es der Präsident gerne hatte, nämlich anschaulich, leicht faßbar und übersichtlich. Wenn der Präsident etwas haßte, dann waren es bunte Diagramme mit mehreren Zickzack-Linien, endlose Tabellen oder Computerausdrucke. Sehr hingegen schätzte er Film- und Videomaterial. „Was nicht in drei Sätzen zu erklären ist", pflegte er zu sagen, „da lassen Sie erst mal die Luft raus, Gentlemen. Meine Zeit ist zu kostbar für labyrinthische Spaziergänge." Der Präsident bekam den gewünschten Service,
und Senator Wallace hielt alles von Anfang an für eine Märchenoper. Über die Leinwand flimmerten Filme und Video projektionen. Aus Raketen, Panzern und Flugzeu gen wurde Schrott fabriziert. Es war erhebend anzusehen, wie gesprengt, zerbombt, zerschweißt, zersägt, zerschlagen und niedergewalzt wurde. Am Ende wurde das zerstörte Kriegsmaterial der Russen - denn nur das interessierte die Runde — aufgelistet. Dabei kamen stattliche Zahlen heraus. Der Präsident, der sich nur allzugerne beruhigen ließ, war zufrieden. Er leerte seine Kaffeetasse und wollte aufbrechen, ehe Senator Wallace mit seinem Gemotze anfing. Er hatte Wallace heimlich beobachtet. Wenn dessen Miene Unwillen ausdrückte, dann zog sich die Sitzung meist bis Mitternacht hin. Deshalb erhob der Präsident sich und sagte in seiner lässigen Art: „Gentlemen, es war mir wie immer ein exzellen tes Vergnügen. See you later!" Im letzten Moment erwischte der Senator ihn am Sakko. „Tut mir leid, Mister Präsident, so kann ich Sie nicht gehen lassen." Der Präsident protestierte zaghaft. „Der japanische Handelsminister erwartet mich." „Der kann warten. Japse sind Warten gewohnt, Mister Präsident." Gegen Wallaces Brutalo-Ton war kein Kraut gewachsen, auch nicht des Präsidenten bekannte Witzeleien, mit denen er sich vor Komplikationen drückte. 38
Seufzend nahm er wieder Platz, und Wallace sagte: „Jetzt bitte noch die Satellitenaufnahmen vier neun und vier-elf bis neunzehn." Die Generäle hatten damit gerechnet. Die Dias lagen im Vorführraum. Sie riefen sie telefonisch ab. Auf der Hochreflex-Leinwand erschienen die aus der Stratosphäre von militärischen Raum sonden gemachten Aufnahmen. Man hatte sie an den entsprechenden Stellen maximal vergrößert. Die Fotos bestätigten im großen und ganzen alles, was die Abrüstungskommission meldete. Der Stabschef des Präsidenten sagte abschlie ßend: „Die Abrüstung läuft nach Programm. Zufrie den, Gentlemen?" Die anwesenden Generäle hüllten sich in Schweigen, und der Senator bemerkte: „Rußland ist groß, Gentlemen." „Nun, um hier jede Quadratmeile der UdSSR zu betrachten, dazu brauchten wir eine Woche. Und soviel Zeit, Gentlemen, hat hier niemand. Auf gar keinen Fall der Präsident." „Jetzt die anderen Fotos!" forderte Wallace. „Alles bisherige ist doch nur eine Farce ge wesen." „Nun, dafür haben wir unsere Experten", ent schied der Präsident. „Ich kümmere mich ja gern um die Probleme der USA, aber nicht um die Probleme jedes einzelnen von zweihundert Millio nen Amerikanern. Ist das meine Aufgabe? Nein, es ist nicht meine Aufgabe. Good morning, Gentle men. " Diesmal war er nicht mehr aufzuhalten. 39
Die Generäle blickten sich stumm an, und Sena tor Wallace schob sein Hammerkinn wütend hinter dem Präsidenten her.
Der Verteidigungsminister nahm Senator Wallace in seinem gepanzerten Lincoln mit zum Pentagon. Dabei reichte er dem Senator weitere Fotos, die im Sicherheitsrat nicht gezeigt worden waren. „Die hätte man seiner Hoheit, dem Präsidenten, unter die Kaffeetasse schieben sollen", sagte Wal lace. „Das ging nicht."
„Warum?" „Sie kennen seine Standardfrage: Ist das gesi cherte Erkenntnis? — Ich hätte ihm antworten müssen: Es ist eine sichere Erkenntnis, aber noch fehlen uns die letzten Beweise, Sir." „Scheiße!" kommentierte Wallace. „Es gibt, es gab nie eine klare Erkenntnis über die Sowjet union und ihre militärischen Verhältnisse, sondern nur verschiedene Grade von Unwissenheit." Es waren ganz andere Fotos. Aufnahmen von riesigen Panzerdepots, von Raketenstellungen in selbst für Satellitenaugen undurchdringbaren Urwäldern, von Forschungsanlagen, so groß wie halb Washington. Die Panzer, die Raketen, die Flugzeuge, die UBoot-Werften waren Wallace bekannt. Aber auf das Gebiet der neuen Todeszonen starrte er wie gebannt. Er nahm seine Taschenlupe, ohne jedoch etwas erkennen zu können. „Was basteln die da?" „Weiß der Teufel." „Wo ist das?" 40
„In Transuralien." „Von wem aufgenommen?" „Von CIA-Agenten. Ich bekam die Bilder vom Chef in Langley." „Beweisbares Material?" „Die Agenten sind, nachdem sie die Bilder auf Umwegen herüberschickten, verschwunden." „Also keine lebenden Zeugen." „Alles ist inoffiziell und unbewiesen. - Aber es ist die Wahrheit." Der Senator reichte dem General die Fotos zurück. „Behalten Sie sie, Senator." „Danke, lieber nicht. Ich müßte sonst immerzu daran denken," „Woran?" Der Senator fluchte lange und anhaltend, wenn auch leise. Dann sagte er:
„Wir müssen es genau wissen." „Um jeden Preis." „Was kommt von Colonel Trapper?" „Er wird auf Schritt und Tritt beobachtet. Er versucht, was er kann. Sie lassen ihm Bewegungs freiheit, aber sie haben ihn an der Leine." „Soll er die Leine endlich durchschneiden, ver dammt." Der Wagen rollte den Roosevelt-Boulevard ent lang. In der Ferne tauchte das sternförmige fünfek kige Gebäude des Kriegsministeriums auf. Sie würden im Pentagon weiterplanen, aber es gab Dinge, die waren nur unter vier Augen zu erörtern. „Okay, wir müssen es endlich genau wissen", bekräftigte der General die Forderung des Sena tors. „Fragt sich nur wie. Auch die CIA ist ziemlich am Ende mit ihrem Latein, seitdem die besten Leute in Rußland ausgefallen sind." 41
Der Senator gab sich einen straffen Ruck. „Ich fliege morgen nach Europa", sagte er, „nach Österreich. Habe da noch ein Stück saftigen Braten im Rohr. Mal sehen." „Viel Glück", wünschte der General. „Sie sind ein vorsichtiger, guter Koch, Senator, aber viel leicht können Sie dem Bratrohr diesmal ein wenig mehr Hitze geben. Viel Zeit haben wir nicht mehr. Es ist immer häßlich, wenn der eine Indianer seinen Pfeil im Köcher behält, während der andere ihn schon in den Bogen einlegt." „Noch spannt er den Bogen ja nicht." „Kennen Sie die Russen?" fragte der General. „Ich kenne nicht mal die Indianer", gestand Senator Wallace, dessen Vater noch Walcher gehei ßen hatte, ehe er in die USA eingewandert war. 6.
Das Schloß lag im Salzkammergut an einem See. In das Zimmer gleißte die Nachmittagssonne. In der offenen Doppeltür zum Balkon stand ein Schatten, geformt wie eine Frau. Erst sah Urban den Schatten verkehrt herum. Sein Gehirn arbeitete offenbar noch nicht richtig. Doch dann, beim dritten Blinzeln, stand der Schat ten richtig. Kopf oben, Beine unten. Er richtete sich auf und saß benommen da. Rundherum um ihn war ein Bett. Er fühlte sich so müde, als hätte er wochenlang eine ruhige Kugel geschoben. Aber auch ein wenig matt, so als hätte er fürchterliche Kopfschmerzen mit einer Überdo sis Thomapyrin wegzudrücken versucht. Die scherenschnittartige Frau kam näher. Wie sie ging, wie sie duftete, das konnte nur 42
Silberfuchs sein, also Florence Ohara, die wegen ihrer Haare so genannt wurde. „Ich bitte um Verzeihung", sagte sie. Urban brauchte noch eine Weile, dann war er voll da. Er schaute schräg an ihr vorbei, hinaus und hinunter. Ihr Schlafzimmer in der Villa war das nicht. Ein Schlafzimmer vielleicht, aber nicht in München. Der See, die Berge, der zwiebeiförmige Kirchturm unten im Dorf. — Wolfgangsee oder Attersee, schätzte er. Sie hatten ihn hierhergebracht Er erinnerte sich an den Notarzt, an die zwei weißen Krankenhelfer mit der Trage und an die Wahnsinnsschmerzen, die er gespürt hatte. Urban schaute auf die Uhr. Das mußte lange her sein. Jetzt ging es auf 16.00 Uhr nachmittags. Also war es vor einem halben Tag gewesen. Etwa. „Verzeihung wofür?" fragte Urban und stand auf. Wider Erwarten war er fest auf den Beinen. Sie hatten ihn nicht einmal ausgezogen. Er trug noch die dunkelblaue Gabardinehose, das lichtblaue Hemd, den Glenchecksakko, den unifarbenen Schlips und seine Slipper. Er mußte dringend raus, deshalb ging er zur Zimmertür. Sie war verschlossen. Aber es gab noch eine zweite. Sie führte ins Bad und war offen. Er benutzte die Toilette, wusch sich den schmierigen Belag vom Gesicht und spülte sich den Mund. Als er zurückkam, stand Florence da wie vorher.
„Hoffentlich", sagte er, „sehen wir uns niemals wieder." „Darf ich etwas erklären?" „Du darfst alles, aber ich werde nicht zuhören." 43
„Du mußt. Du kömmst hier nicht raus und nicht umhin." Er schob sie beiseite und trat auf den Balkon, der oben aus der Seite eines schloßartigen Turmes ragte. Es ging gut dreißig Meter hinunter, und es gab keinen Sims, auf dem man hätte irgendwohin balancieren können. Auch das Dach war ohne Leiter nicht erreichbar. Er ging wieder hinein. „Und hinter der Tür steht ein Posten", vermutete er. „Was soll das Ganze eigentlich?" „Du sollst nur zuhören." „Dann sprich endlich." „Nicht nur mir zuhören, auch ihm." Urban stutzte. „Wem? Dem Schloßbesitzer?" Sie lächelte geheimnisvoll. „Sich so ein Schloß zu leisten, dazu hat er. . . keine Zeit." „Aber genug Moneten." „Das wohl." „Dich kann er sich offenbar schon leisten. Eine Frau kostet mehr als Zeit, als ein Haus. Eine Frau kostet Nerven. Besonders eine Frau wie du." „Auch dazu fehlt ihm die Zeit", sagte Florence. „Außerdem liebe ich einen Mann nicht unbedingt deshalb, nur weil er mich bezahlen kann." „Ja, das wäre falsch", sagte Urban. Da er sich nicht von der Stelle rührte, war sie nahe herangekommen. Sie legte ihre Arme an seinen Hals. „Fühlst du es nicht?" flüsterte sie. „Ich fühle so vieles, Gnädigste." „Verwechsle aber nicht das eine mit dem an deren." „Und was, bitte", fragte er, „ist das andere? 44
Darling, wir gehen jetzt beide brav nach Hause. Du nach Hollywood, wo du mit deinen Boys spielst, und ich gehe nach München und spiele mit meiner Eisenbahn. Okay?" Plötzlich wurde sie unendlich traurig. Nicht innen, aber außen. Man konnte zusehen, wie ihre Seele zerknitterte. „Ich hörte einmal", sagte sie, „daß in der Liebe es immer nur die Wonne des anderen ist, die glücklich macht. Ich habe dir weiß Gott keinerlei Wonnen bereitet. Und deshalb bin ich unglück lich." „Hoffentlich", sagte er und legte sich auf das Bett. „Ich bitte dich nur noch um diesen Abend heute", sagte sie. „Kannst du mir diesen Wunsch erfüllen?" „Ich wüßte nicht warum", äußerte er. „Man lebt nur einmal, dann ist es aus. Und ein verschenkter Abend ist ein Abend weniger." Aber er würde es wohl tun, weil ihn verdammt interessierte, was sie mit ihm vorhatte.
In der Halle mit der gewölbeartigen Decke, den Hellebarden und den Ritterrüstungen, den fast schwarzen Ölgemälden und dem Marmorboden; so sauber wie in einem Labor, stand ein Mann. Er starrte ins Kaminfeuer. Als Florence und der Gast die Treppe herunter kamen, richtete er sich auf. Er war groß, schwer und massiv. Die Haare hatten den Grauton von ehemals Blonden. Sein Gesicht hatte etwa soviel Fläche wie halb Texas. 45
„Das ist Robert Urban", stellte Florence Ohara vor. „Senator Wallace." Im Senat der USA hatte es schon viele Wallaces gegeben. Offenbar wurde man leichter Senator, wenn man diesen Namen trug. Die Wallaces kamen und gingen. Diesen jedenfalls kannte Urban nur vom Hören sagen. Man sagte Wallace einen Charakter nach, so vornehm wie eine Planierraupe, und einen Ver stand, so scharf wie eine Kettensäge. Angeblich beherrschte er die Kunst der Überzeugung so feinfühlig wie ein Preßluftbohrer. Urban irrte sich nicht. In herrischem Ton ließ der Senator das Essen auftragen. Dann winkte er die Diener mit Bewe gungen hinaus, als schleuderte er ihnen Ziegel steine ins Kreuz. Er speiste nicht, sondern er schlang. Er trank nicht, er soff, er rauchte nicht, er paffte seine Zigarre. „Genug der höflichen Worte. Jetzt kommen wir zur Sache, Dynamit. Schau dir das an." Er rollte den Fernseher näher und schob eine Kassette in den Recorderschlitz. Nach 3-2-1 kam das erste Bild. Es zeigte einen modernen Kampfpanzer in mit telschwerem Gelände bei hoher Geschwindigkeit. Der Panzer tobte durch die Landschaft. Mit einem mal drehte er sich und ging in Flammen auf. Man hatte keinen Schuß gehört, nur ein Zischen vernommen, so, als würde Wasser von einer heißen Herdplatte spritzen. Nächste Sequenz: Am Himmel flog ein schwerer strategischer Bomber. Offenbar flog er ziemlich hoch, denn um ihn herum standen Strato-ZirrusWolken. Wieder ein Feuerball. Der Bomber zer platzte. 46
Dritte Sequenz: Ein Schiff — es mochte ein älterer Zerstörer sein - fuhr auf hoher See. Seine Geschwindigkeit, der Bugwelle entsprechend, betrug etwa fünfundzwanzig Knoten. Ein Feuer ball, wie gehabt. Das Schiff stoppte brennend. Vierte Sequenz - doch bevor sie anlief, betätigte der Senator einen Knopf, der die Wiedergabe beendete. „Ihr Eindruck, Dynamit?" fragte er. „Panzer, Flugzeug, Zerstörer, alles Geräte russi scher Bauart. Ein T-sechsundsiebzig, ein Backfire, ein Zerstörer der Oktober-Klasse." „Gut aufgepaßt. Und wenn ich Ihnen nun versi chere, daß nicht die USA es waren, die diese Geräte zerstörten, was schließen Sie daraus?" „Dann müssen die Russen es selbst gewesen sein", kombinierte Urban ohne Zögern. „Man vernichtet aber nicht seine eigenen Waf fen. Es sei denn ..." „Es handelt sich um einen Waffentest", ergänzte Urban die Examensfrage. „Also?" „Die Russen testen eine Waffe, und Sie, Senator, kamen in den Besitz der Testaufnahmen oder hatten einen Beobachter vor Ort." „Was weiter?" drängte der Senator ungeduldig. Urban, dem diese Fotos ziemlich neu waren, zählte eins und eins zusammen. „Der Panzer, das Flugzeug, das Schiff wurden nicht durch Artillerieeinwirkung im weitesten Sinne, also durch Geschütze, Pak oder Flak, auch nicht durch Raketen oder Torpedos zerstört." „Sondern?" „Stets vor dem Treffer wurde das Bild blitzartig erhellt." „Wodurch?" 47
„Durch eben einen Blitz", mutmaßte Urban. „Es gab aber keine Anzeichen von Gewitter weit und breit." „Dann war es ein Lichtstrahl mit Blitzenergie, auf das jeweilige Objekt gerichtet und ausgelöst." „Vom Boden aus, vom Land aus?" „Zweifelsfrei." „Welche Distanz schätzen Sie?" „Schwer zu sagen. Der Panzer war wenige hundert Meter von der Kamera entfernt, das Flug zeug eine Meile, das Schiff mehrere Meilen, ohne daß man die Strahlenquelle sehen konnte." „Ergo?" „Die Russen sind mit dem Todeslaser schon verdammt weit. Falls das alles keine Trickaufnah men sind." „Sie sind echt wie die Cheopspyramide", beteu erte Wallace, „echt wie die Chinesische Mauer. — Und auch folgendes steht fest: Die Russen ver schrotten ihre konventionelle Rüstung, weil sie die neue Über-super-mega-Waffe des Jahres Zweitau send haben." Urban verstärkte sein Grinsen.
„Sie etwa nicht, Sir? — Die USA verschrottet
ebenfalls ihren konventionellen Plunder, dafür sind sie im Weltraum und bei SDJ die ersten." „Scheiß Weltraum", fluchte Wallace. „Die Kriege des nächsten Jahrhunderts finden immer noch auf der Erde statt. Und man schmiert uns Vaseline auf die Augen. Die Russen hacken ihre neuesten Panzer, Flugzeuge und U-Boote vor unse ren Augen in Stücke, denn sie haben den Todesla ser in der Tasche." Urban nahm einen Schluck von dem roten Bur genländer, steckte sich eine MC an und sagte: „Ist das nicht doch nur ein Ausschnitt aus dem 48
Film Night-mare, den Sie in München drehten, Sir?" Florence hatte ihm erzählt, daß der Senator unter anderem auch Filme finanzierte. Offenbar um Urbans Einwand zu entkräften, betätigte Wallace erneut den Videorecorder und ließ die Sequenz Nummer vier anlaufen. Sie zeigte nur einen Mann. Die Kamera schwenkte zum Kopf des Mannes, zu seiner Stirn. Die Stirn kam groß. Dort hatte der Mann ein Brandmal, als hätte man eine Zigarette auf seiner Haut ausgedrückt. Das Mal war flach und nicht, wie bei einem Schuß, eingedellt. Trotzdem war der Mann tot. Aber vielleicht gab es noch andere Verletzungen an ihm. „Das Ding da auf seiner Stirn", erklärte Wallace, „tötete ihn. Wofür halten Sie das, Commander Dynamit?" „Keine Ahnung." „Ein Narkoseschuß aus einer Impfpistole oder ein Millisekunden-Tod wie auf dem elektrischen Stuhl, nur mit hundertmal so starker Energie." „Von mir aus." Urban stand auf. „Ich danke weder für das Abendessen noch für die Gesell schaft, denn beides war so vorzüglich nicht. — Guten Abend, Sir." „Bleiben Sie!" schrie Wallace. Urban ging. Aber mit einemmal standen ihm zwei Typen im Weg. Leibwächter in taubenblauen Anzügen und Gesichtern wie Schläger. Urban glaubte, daß er mit ihnen fertig würde. Dem einen schwang er einen Aufwärtshaken in den Magen, dem anderen säbelte er die Handkante gegen den Halsansatz. Die beiden taumelten. Doch 49
hinter ihnen tauchte ein dritter auf. Er hatte einen 45er in der Hand. Smith&Wesson-Automatik. Urban richtete sich die Krawatte und machte kehrt. Wallace blinzelte ihn an wie ein Schweißer, der in die Funken schaut. „Sie kommen so nicht weg, Commander." „Was wollen Sie von mir, Sir?" „Daß Sie uns helfen, diese Vorfälle in Rußland zu klären. Sagen Sie nicht, das sei unmöglich." „Aber ich sage es." „Dann bleiben Sie solange mein Gast, bis Sie es sich anders überlegt haben." Dieser Wallace war ein komischer Hund. Er biß jeden. „Ihrem Hauptquartier gegenüber", erwähnte er noch, „werden Sie ein bißchen krankspielen." „Und Sie", konterte Urban, „werden auch noch dicke Luft zu atmen bekommen, Sir." „Mag sein", erwiderte Wallace. „Aber im Augen blick ist dort, wo ich bin, oben. - Bring unseren Gast zu Bett, Darling." Urban hatte einen langen Weg. Erst die Treppe hinauf, den Gang hinüber bis zum Turm, dann die Turmstufen hoch bis zum Gästezimmer. „Mit diesem Liebhaber", warnte er Florence, „wirst du noch einiges erleben." Sie stand an der Tür zum Balkon und schaute zu den Sternen, die jenseits des Sees über den Bergen begannen. „Wallace ist", entgegnete sie, „nur der Mann, der mir einen Hermelinmantel schenkte. — Das Präsent eines impotenten Millionärs." Mit diesem verlogenen Engelsgesicht, dachte er, wirst du noch weit herumkommen, Baby.
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7.
Dann kam der Tag, an dem die Russen nicht mehr anders konnten. Sie mußten dem Chef der ameri kanischen Kontrollkommission die gleichen Ver günstigungen einräumen, wie die Amerikaner sei nerzeit Oberst Rurkytschew in Texas. Es war eine Geste der Vertrauensbildung. Obwohl die Russen den Amerikanern so wenig trauten wie die Amerikaner den Russen, warben sie darum, daß man ihre Abrüstungsbemühungen für glaubwürdig hielt. „Sie haben die Wahl, Colonel Trapper", sagte Rurkytschew, „Hubschrauber, Kurierflugzeug oder Geländewagen." Lt. Col. Trapper, im Fliegen ebenso ausgebildet wie sein sowjetsicher Kamerad, entschied sich für den Hubschrauber. Wie sich jedoch herausstellte, war der MiL wegen eines Schadens am Rotorkopf nicht einsatz fähig, und es gab auch keinen Ersatz. Also stieg Trapper in die kleine, zweisitzige Kuriermaschine. Der Russe nannte ihm die Frequenzen für Sprech funk und Peilsender. „Die Tanks sind voll", sagte er. „Flugdauer zirka vier Stunden." Reichweite also etwa siebenhundert Kilometer, rechnete Colonel Trapper. Er hatte alles im Kopf. Die komplette Landkarte des westlichen Uralgebietes, jedes Tal, jeden Fluß lauf, jede Ansiedlung, jede Bahnlinie, die Straßen und vor allem die Lage des Sperrgebiets. Wie es aussah, reichte der Sprit bis dahin und wieder zurück. Die kleine Spezialkamera hatte er im Overall. Colonel Trapper schlug die Klappe der Glaskan 51
zel zu, arretierte sie und gurtete sich an. Dann zog er den Choke, schaltete auf Magnet eins und drückte den Anlasserknopf. Nach kurzem Summen der Treibstoffpumpe griff das Ritzel in den Zahnkranz des Motors. Nach ein paar ruckartigen Umdrehungen des Propellers erfolgte die erste Zündung. Der Motor lief. Ein wenig unrund zwar, aber er lief. - Wenn er erst warm war, würde sich das ändern. — Der Motor lief warm, aber immer noch auf drei Zylindern. Es knallte nur so aus dem Auspuff. So konnte er nicht fliegen. Vielleicht kam er hoch, aber wohl nicht allzuweit. Colonel Trapper stellte den Motor ab, löste die Gurte und öffnete die Kanzelhaube. Oberst Rurkytschew und ein Mechaniker eilten herüber. „Was ist?" „Hören Sie das nicht?" Sie wirkten beide untröstlich. „Wir überprüfen den Motor", erklärte der Mechaniker, „und bauen neue Kerzen ein. Dauert nur ein paar Minuten." Es dauerte eine geschlagene Stunde, dann sagten sie, es liege an einem Einlaßventil. Es sei ver brannt. Da kein anderes Flugzeug zur Verfügung stand und die US-Kommission am nächsten Tag schon wieder in Wolgagrad zu sein hatte, nahm Trapper wohl oder übel den Geländewagen.
Die sowjetischen Militärbehörden nannten das Sperrgebiet Todeszone. Daß sie ein so weites Gebiet vor den Augen der Abrüstungskommission 52
sperrten, wäre nicht zu vertreten gewesen. Für eine Todeszone hingegen gab es viele Erklärungen. „Bitte", hatte der Oberst gesagt, „meiden Sie das auf der Karte schraffiert angegebene Terrain. Wir haben dort Versuche mit Atombomben und Giftgas durchgeführt. Allerdings schon vor zehn Jahren, als wir uns noch im Kalten Krieg befanden. Leider ist das Gebiet für die nächsten hundert Jahre schwer verseucht. Wer sich dort aufhält, wird zu einer Gefährdung für alle anderen und muß für den Rest seines Lebens isoliert werden." Colonel Trapper hatte nur genickt. Er dachte nicht daran, sich an diese Warnung zu halten, denn er glaubte den Russen kein Wort. Agenten der CIA hatten sich hier aufgehalten. Es gab weder erhöhte radioaktive Strahlungen, noch hatten die Teststreifen für Kampfgifte eine Verfär bung gezeigt. Nur waren alle Agenten, die das Gebiet betreten hatten, verschwunden. In diesem Punkt also hatte Rurkytschew nicht gelogen. Wer das Gebiet betrat, der wurde für den Rest seines Lebens isoliert. Wegen der beschwerlichen Reise mit dem UAZGeländewagen hatte Trapper seinen Adjutanten mitgenommen. Der fuhr die ersten hundert Kilo meter. Einmal deutete der Captain nach links. „Jetzt sind es schon blaue Tafeln, Sir", rief er. „Erst rot, dann blau, dann gelb", sagte Trapper. „Bei Gelb sind wir drin." „Ob sie uns verfolgen, Sir?" „Nichts zu sehen." „Oder aus der Luft beobachten?" „Oben ist auch nichts zu sehen, aber es ist anzunehmen, daß sie den Jeep anpeilen. Vielleicht hat er auch einen Ortungssender eingebaut." 53
„Sollten wir nicht anhalten und nachsehen, Sir?" „Den Sender finden wir ja doch nicht. Der KGB ist nicht mehr der Geheimdienst des Zaren Niko laus." „Was, Sir", fragte der Captain, „erwarten Sie in der Todeszone?" „Alles, nur nicht den Tod." „Das Gegenteil davon ist Leben." „Unsichtbares Leben, in diesem Fall." „ Über Tarnhelme verfügen die Russen noch nicht, Sir." „Unsichtbar steht hier im Sinne von unterir disch, Captain." „Sie glauben also auch, was man im Pentagon munkelt, Sir." „Glauben und wissen sind zweierlei. Wir wissen nur, daß alle unsere Agenten verschwunden sind. Nun möchten wir wissen warum. Wird hier das System entwickelt, gebaut, getestet, mit dem uns die Russen so weit voraus sind wie wir den Kaffern bei Mikroprozessoren. - Oder ist alles nur Bluff?" Der Captain schaltete zurück, denn sie kamen an einen Graben. Mit schrägen Böschungen, beachtli cher Tiefe und dreißig Metern Breite war er nicht von der Natur erschaffen, sondern schnurgerade von Baggern durch die Landschaft gezogen worden. Drüben auf der anderen Seite standen jetzt die gelben Tafeln mit dem schwarzen Totenkopf.
Der Geländewagen überwand mit Allradantrieb den Graben und tastete sich in die Todeszone hinein. 54
„Minenfelder!" rief der Adjutant. „Das sind Minenfelder, Sir." „überall dort, wo Sie die Maulwurfhügel sehen." „Die Minen atomisieren uns, Sir." „Und die Russen werden behaupten, wir seien auf eine davon gerollt. Also seien Sie vorsichtig, Captain." Der Captain suchte mit Schrittempo im Minen feld eine Gasse. Der Colonel nahm eine Art Taschenradio aus seiner Combination. Es war ein hochsensibles Kombigerät, das sowohl Radioaktivität wie die Anwesenheit von Giftstoffen, von Dioxin bis Lost und von Botulinus bis Plutonium, anzeigte. Die Werte pendelten und blieben nahe Null. Endlich hatten sie den Minengürtel überwunden. In der Ferne tauchten Hügel auf. Möglicherweise waren sie mit automatischen, radargesteuerten MGs bestückt. Noch bevor sie die Hügel erreichten, brachte eine drohende Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern ihre Trommelfelle zum Vibrieren. Die Stimme warnte in mehreren Sprachen. Erst Russisch, dann Englisch. „Stop! Sie sind im Todesgürtel. Halten Sie sofort an!" „Oder . . . " ergänzte Colonel Trapper und schlug dem Captain auf den Arm. „Los, geben Sie vollen Speed mein Junge. Sie werden es nicht wagen, uns etwas anzutun, wenn sie nicht jede Glaubwürdig keit verlieren wollen." Der Captain schaltete zurück in den dritten Gang und trat das Gaspedal durch. Der Diesel wuchtete seine Kraft auf die Räder. Der UAZ-Jeep 55
preschte vorwärts. Er querte weiter die zwischen Perm, Ufa und Swerdlowsk gelegene Todeszone. Er passierte die Hügel und kam noch ungefähr vier Meilen weit. Dann fuhr aus dem blauen, wolkenlosen Himmel ein Blitz nieder — wisch-päng-wau — ohne Donner. Der grelle, dünne Lichtstrahl traf den Jeep hinten, wo der Tank war. Im Nu stand er in Flammen. Wie durch Preßluft wurden die Insassen heraus geschleudert. Während Colonel Trapper betäubt liegenblieb, kam der Captain auf die Beine und lief, wie von Furien gehetzt, davon. Aber wohl in die falsche Richtung. Ein zweiter Blitz tastete sich heran und traf ihn. Es dauerte einige Zeit, bis Colonel Trapper aus seiner Lähmung, aus seiner Ohnmacht erwachte. Er rollte sich aus der Hitze des brennenden Diesel kraftstoffs und kam auf die Beine. Er wankte zu dem Klumpen Mensch, der etwa dreißig Meter entfernt am Boden lag und beugte sich über ihn. Dann drehte er den Captain auf den Rücken und sah auf seiner Stirn ein Brandmal, das aussah, als hatte man dort eine Zigarette ausgedrückt. — Sein Adjutant war tot. Und wieder die entnervende Stimme: „Bleiben Sie, wo Sie sind! Keine Bewegung. Gehen Sie nicht einen Meter weiter!" Lt. Col. Trapper rührte sich nicht vom Fleck. Er stand da wie eine Statue, bis er das Rotorflattern eines Hubschraubers hörte. Der Kamow landete. Vermummte Gestalten stie gen heraus. Sie näherten sich ihm, umringten ihn 56
und warfen ein Netz über ihn, als wäre er ein wildes, gefährliches Tier. Einer jagte ihm den Stachel eines Insektes tief in den Oberschenkel.
Colonel Trapper wußte nicht, ob er träumte oder ob das, was er wahrnahm, Wirklichkeit war. Sie flogen ihn über endlose Steppen zu einer Festung. Der Hubschrauber landete in einem der Außen forts. Sie schleppten Trapper vom Hubschrauberlan dekreuz auf ein Gebäude zu, das wie ein grauer Würfel aus dem dürren Gras wuchs. Vermutlich ein Teil des Vorwerks. Trapper wußte es nicht. Der Bunker hatte weder Fenster noch Schieß scharten, nur eine Art Abluftkamin. Die Türen waren gepanzert wie bei Fort Knox, wo die Gold reserven der USA lagerten. Durch Kasematten und Gänge ging es in einen niederen Raum mit schimmeligen Wänden. Am Boden lagen in Reih und Glied Matratzen. Auf den Matratzen kauerten Menschen, lemurenartig, ver kommen, verdreckt, bärtig, und abgemagert. Sie warfen Trapper auf eine der stinkenden Matratzen. Die Türen wurden zugeschlagen und verriegelt. Von dem runden Dutzend Gefangener kniete einer neben dem Colonel und sprach ihn an. Mit Worten, die Trapper zunächst nicht verstand. Aber allmählich kapierte der Colonel, daß der Mann englisch sprach. „Wer bist du?" „Colonel William Trapper", antwortete Trapper automatisch. 57
„Amerikaner?" „So wahr mir Gott helfe." „Mir auch", bestätigte der hohlwangige Mann mit den tiefliegenden Augen. „Woher kommst du?" „Todeszone." „Wir auch", sagte der Mann. „Welcome in the hell! Willkommen in der Hölle der lebendigen Toten." Und dann setzte er noch hinzu: „Sir."
Im Hauptquartier des Bundesnachrichtendienstes in Pullach vor München traf eine Ansichtskarte ein, die die ganze Firma in Konfusion versetzte. Die Postkarte kam aus Spanien und zeigte ein romantisches Fischerdorf an der Costa Brava. Die Karte landete schließlich auf dem Schreib tisch des Chefs der Operationsabteilung. Der betrachtete sie, versuchte den Text zu ent ziffern und legte sie weg. „Urban hatte schon immer eine Schweinepfote", brummte Oberst i. G. a. D. Sebastian ins Doppel kinn. Nach einer Weile nahm er die Karte wieder in die Hand. „Da können wir lange suchen. Reist einfach ab in den Süden. Ohne uns zu unterrichten. Nicht einen Ton gab er von sich." Einer von Sebastians Assistenten - er arbeitete noch nicht lange in der Abteilung - erlaubte sich eine Bemerkung. „Ich kenne Urban noch nicht sehr lange, aber ich habe eine Menge über ihn gehört. Man kann hier keinen Schritt tun, ohne daß man seinen Geist spürt. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß es 58
sich bei dieser Karte um den Originalton von Urban handelt." Sebastian stemmte das Monokel ein und dachte nach. „Wie meinen Sie das bitte?" „Ging Ihr Agent Nummer achtzehn jemals wort los weg, so mir nichts dir nichts?" „Nur, wenn er stocksauer war." „War er letzte Woche sauer?" „Im Gegenteil. Er kam quietschvergnügt aus Arabien zurück." „Dann bricht er nicht gleich wieder heimlich nach Spanien auf." „Sie meinen also, er wurde unfreiwillig nach Spanien aufgebrochen", scherzte Sebastian mühsam. „In seiner Wohnung in Schwabing ist er nicht, nicht in seinem Jagdhaus, unter den Adressen diverser Damen ist er ebenfalls nicht erreichbar." Sebastian reichte dem jungen Mitarbeiter die Karte. „Lesen Sie mal vor." Der Assistent kannte den Text schon. „Wetter mies, Essen zu viel Knoblauch, Wein ein bitterer Jahrgang, häßliche Grüße aus San Felikú. Robert U. - Fahre weiter nach Rotanes Ecalla." Der Assistent setzte hinzu: „Klingt pessimistisch oder so, als sei er krank." „Prüfen! " entschied der O-Chef. „Prüfen, in welcher Weise, Herr Oberst?" fragte der Assistent. „Alles. Handschrift, Poststempel, Fingerab drücke und und und." Der Assistent nahm die Karte mit ins Labor. „Aber möglichst bis gestern abend!" rief der Alte hinter ihm her. 59
Schon wenige Stunden später lag die Analyse vor. Der Laborchef gab sie an die Operationsabtei lung durch: „Als erstes haben wir die Schrift mit der vorhan denen Schriftprobe abgeglichen. Der Graphologe hat keinen Zweifel. Es ist Urbans Handschrift." „Prints?" „Unter anderem konnten wir auch Urbans Zei gefingerabdruck an einer der Ecken, dort wo er die Karte in die Hand nahm, sichtbar machen. Auch hier ist jeder Zweifel ausgeschlossen." „Geruch?" „Ein feiner Duft nach Maja-Seife. Damit wäscht sich aber halb Spanien." „Karte, Briefmarke und Poststempel?" erkun digte der Assistent sich. „Alles original. Die Karte wird von einem klei nen Postkartenverlag in Barcelona gedruckt und vertrieben. Die Briefmarke stammt aus der. Dich terserie und zeigt Ortega y Gasset. Stempel von vorgestern." „Dann kam sie ziemlich rasch nach München." „Luftpost." „Ob man im Postamt in San Feliú noch erfahren könnte, wer sie aufgab?" Im Labor bezweifelte man dies. „Natürlich kann man es versuchen und jeman den runterschicken, der mit einem Brustbild von Urban herumgeht und die Briefkästen abfragt. Falls Bedarf dafür besteht." Der Bedarf bestand noch nicht, denn Urban ging erst eine knappe Woche ab. Die Erkenntnisse des Labors wurden dem OP. I. übermittelt. Sebastian hatte nichts Besseres erwar tet. Er überflog die Karte noch einmal, zuckte mit 60
der Schulter und wollte sie schon in die Ablage werfen, als er blitzartig eine Idee entwickelte. „Wurde die Karte auf Geheimzeichen hin über prüft?" „Sogar unter der Briefmarke. - Ohne Ergebnis." Der Alte hatte einen zweiten Geistesblitz. „Urban fährt weiter nach. .. nach Rotanes Ecalla. Wo liegt dieser Ort?" Der Assistent sah darin kein Problem. Soviel hatte er schon gelernt, daß es hier für alles Experten gab. Den einen davon rief er über Haustelefon an, machte es dringend und bekam die Antwort umge hend. Daraufhin wurden die Mienen schon länger und bedenklicher. „Einen Ort dieses Namens, also Rotanes Ecalla oder Ecalla Rotanes gibt es in ganz Spanien nicht." „Teufel, da haben wir es", fluchte Sebastian. „Das ist der Beweis, nach dem wir suchten. Urban nannte einen Ort, den es nicht gibt. Also will er damit etwas andeuten. Rotanes Ecalla. Versuchen wir das Wort zu analysieren." Der Assistent, ein cleverer Hochschulabsolvent, dessen Gehirn noch tadellos funktionierte, schrieb die Adresse hin, konzentrierte sich darauf und grinste breit. „Ich hab's", sagte er schon nach wenigen Mi nuten. „Was haben Sie?" „Allace Senator." „Wie kommen Sie darauf?" „Ganz einfach. Urban schrieb es verkehrt herum hin, einfach arabisch, von hinten beginnend." „Senator Allace", wiederholte der Oberst. 61
„Kenne keinen Senator Allace, aber einen Senator
Wallace kenne ich."
„Diesen amerikanischen Eisenfresser?"
„Eisen, Russen und Präsidentenfresser",
ergänzte Sebastian. „Holen Sie über Wallace her
aus, was immer zu finden ist."
Vorsichtshalber wandte sich die zuständige Abtei
lung nicht an den US-Geheimdienst, sondern
ergänzte das eigene Material über Senator Tom Joe
Wallace mit Hilfe des britischen MI-6 und des
italienischen SISMI.
Bald lag ein Kurzdossier von Wallace vor. Es war weniger als eine Maschinenseite, so wie es der Operationschef schätzte. Damit fuhr er hinauf zum BND-Vizedirektor. Sie diskutierten den Fall durch. „Senator Wallace ist deutschstämmig. Die Fami lie hieß Walcher." „Am Zweiten Weltkrieg nahm er in Italien teil. Nach einer Blitzkarriere als Offizier war er am Schluß Lieutenant Colonel, also Oberstleutnant", bemerkte der zweite Mann des BND. „Tapferer Bursche also." „Wenn er an der Front nur halb so mutig war wie im Senat in Washington, dann verstehe ich, daß man ihn Tokio-Joe nannte. Er bekam diesen Spitznamen, weil er immer allein nach Tokio marschieren wollte, um den Japanern in den Hin tern zu treten." „Jetzt tritt er offenbar den Präsidenten in den Hintern." „Ja, als Moskau-Joe", versuchte Sebastian zu scherzen, was ihm wie immer nicht gelang. „Dies 62
aber aus vielerlei Gründen. Er traut der hektischen Abrüsterei nicht. Und zwar aus Prinzip. Für ihn gilt nach wie vor Reagans Wort, Rußland sei das Reich des Bösen. Natürlich vertritt Wallace auch die Interessen der Rüstungsindustrie, wo jetzt eine Menge Projekte gestoppt wurden." Der Vizepräsident des BND unterstrich einen bestimmten Absatz in dem Dossier. „Hier steht, daß Wallace nach dem Krieg aus Europa zurückkehrte und über viel Kapital ver fügte. Woher hatte er das?" „Die Mafia ist auch erwähnt." „Geschäfte mit der Cosa Nostra?" „Alles schon zu lange her", befürchtete Seba stian. „Fünfundvierzig Jahre sind eine Ewigkeit. Und bekanntlich arbeiteten die USA bei der Lan dung in Sizilien eng mit der ehrenwerten Gesell schaft zusammen. Dieser Sumpf wird niemals ganz trockenzulegen sein." Der Vizepräsident lehnte sich zurück, legte die Hand auf das Wallace-Dossier, als könnte er die Ströme fühlen, die davon ausgingen, und be merkte« „Urban hat also etwas mit Wallace zu tun." „Wallace behauptet, die Russen würden an einer sensationellen Waffe bauen. So neuartig, wie einst die Atombombe." „Und Urban hatte oder hat mit ihm Kontakt. Wozu sonst die Bemerkung: Ich fahre weiter nach Rotanes Ecalla. — Was nichts anderes heißt als Senator Wallace." Der Operationschef zog die Ziehharmonikahose seines Billiganzugs über den Schmerbauch hoch und fügte noch etwas hinzu. „Senator Wallace hält sich nach Angaben aus London in Österreich auf." 63
„Wo dort?" „Man wird das eruieren müssen. Vielleicht krie gen wir so mit Urban Kontakt. Den Kontakt, den er allein nicht herzustellen in der Lage ist. — Er fährt zu Senator Wallace auf dem Umweg über Spanien. Eine Spur, so verschleiert, daß sie schon wieder deutlich wird. — Und dafür gibt es Gründe." „Die wir noch nicht kennen, aber die wir kennen sollten", bemerkte der Vizepräsident in seiner kühl hanseatischen Sprechweise. „Sonst noch eine Net tigkeit zum Fünfuhrtee?" „Allerdings", äußerte Sebastian. „Was Senator Wallaces weitere Pläne betrifft, erfuhren wir noch folgendes. . . " 9.
Beim gemeinsamen Frühstück setzte der Senator die Seelenmassage bei Urban fort.
„Sie allein sind der Mann, der uns helfen kann." „Glaube ich nicht", erwiderte Urban mit Bröt chen, Butter und Himbeermarmelade beschäftigt. „Sie kennen Rußland, haben Freunde beim KGB, die Sie notfalls nicht verkommen lassen, und Sie sind Spitzenklasse, Dynamit." „Nur fehlt mir jegliches Motiv", erwiderte Urban. „Moskaus geheime Front. Ist das denn nichts?" „,Ein erkannter Gegner ist nur noch ein halber Gegner", sagte einst Gneisenau." „Noch wissen wir nichts von dem, was die Russen hinter dem Ural treiben." „Halbwegs schon", äußerte Urban. „Nur befrie digt es Ihre Neugier nicht. Sie wissen nicht, wo die 64
Russen entwicklungsmäßig stehen, mit welcher Kapazität sie das Problem angehen, wie weit ihr Vorsprung gegenüber der US-Forschung ist. - Was mich das Leben kosten würde, das ist für Sie nur Geschäft, Senator." „Sie sind doch nicht naiv, Dynamit. Politik und Geschäft waren immer untrennbar." „Nur ist es diesmal nicht meines." „Sei nicht so stur", sagte Florence, schöner denn je. Nächte, in denen sie allein schlief, schienen ihr besonders gut zu bekommen. Ihr Teint war so frisch wie der Blutenstaub auf einer Marguerite. Das Telefon ging, der Senator wurde wegge rufen. An der amerikanischen Ostküste mochte es auf 3.00 Uhr morgens gehen. Also war die Nachricht wichtig. Als Wallace zurückkam, wirkte er leichenblaß. „Da haben wir es." Er setzte die Teetasse an, stellte sie jedoch zurück, ohne zu trinken, griff sich vom Servierwa gen die Bourbonflasche und goß ein. Aber auch das half offenbar wenig. „Da haben wir's", wiederholte er. „Der Leiter unserer Abrüstungs-Kontrollkommission, Colonel Trapper, ist tot." „Passierte es in der UdSSR?" fragte Florence Ohara. „Im Ostkaukasusgebiet. Angeblich fuhr Trapper mit seinem Adjutanten auf eine Mine. Beide waren sofort tot. Überführung ist nicht möglich. Es blieben nur Fleischfetzen." „Minen", sagte Urban, „gibt es gewöhnlich nur in Sperrgebieten." 65
Der Senator reagierte mit einem Fluch. Er zer knüllte die Serviette und warf sie auf den Tisch. „Und die anderen Männer!" rief er. „Dieses Dutzend anderer Männer. Wo sind die geblieben? Sind sie etwa auch auf Minen gefahren und zerfetzt worden?" „Männer?" Urban ließ sich das Frühstück wei terhin gut schmecken. „Sie meinen Agenten." „Was sonst." „Ein ganz normales Agentenrisiko also." „Mann, sind Sie abgebrüht, Dynamit." „Näherten sie sich auch diesem transkaukasi schen Sperrgebiet." „Vermutlich." „Der Agent mit dem Brandmal auf Ihrem Foto, ist das einer von denen?" „Sehen Sie endlich ein, daß wir so nicht weiter kommen? Die Operation ist festgefahren. Wenn diese Russen sich nicht einmal scheuen, den Leiter der internationalen Kommission . . . " Urban fixierte Wallace. Er sprach es nicht aus, aber was zum Teufel, suchte der Leiter einer Internationalen Kommission im Sperrgebiet? Wallace schien Urbans Gedanken zu erraten. „Von Ihnen habe ich mir mehr erwartet", brach es aus dem Senator heraus. „Ich dachte, Sie würden gute Freunde in der Not nicht im Stich lassen, Dynamit." Wallace stand wütend auf, eilte durch die Halle und in die Bibliothek, um zu telefonieren. Urban fühlte Florences Hand auf der seinen. „Hilf uns", flüsterte sie. „Ich denke nicht daran," „Tu es mir zuliebe." Er zog seine Hand unter der ihren weg.
„Wem zuliebe?" 66
„Mir." „Ich liebe dich nicht, Darling", sagte er. „Und jetzt mache ich einen Waldlauf, wenn es erlaubt ist." „Nur in Begleitung." „Klar. Ich bin ja euer Gefangener." „Unser Gast." „Euer Gefangener, solange ich nicht gekocht und gebraten bin. Aber diesmal geht euch vorher die Kohle aus, Madame." Als Urban im geliehenen Jogginganzug aus sei nem Zimmer kam, stand dort sein Aufpasser. Er trug ebenfalls Trainingsanzug und Laufschuhe. Urban nahm sich vor, ihn zu hetzen, bis er aufgab. „Schon mal zehn Meilen gerannt?" fragte er den Bodyguard. „Ich war kalifornischer Marathonmeister", sagte das mickrige Kerlchen.
Sie trabten durch den Hochwald hügelan, hinab in das Flußtal, wieder bergauf wie Gemsen. Nach der Hälfte seiner Strecke wurden Urbans Knie weich. Die vielen Zigaretten und die Bour bons. — Er biß die Zähne zusammen, denn er mußte etwas finden, um eine Nachricht weiterzu geben. Den Zettel hatte er in der Tasche. Darauf standen nur ein paar Worte: Dringend! Rufen Sie folgende Nummer: München ... Nachricht: BU auf Burg Atterstein. Südturm. Staatswichtig! Danke. Er hatte vor, die Nachricht unter den Scheiben wischer eines Autos zu klemmen, nach Möglichkeit 67
eines deutscher» Wagens mit Münchner Kennzei chen. Aber nach hier oben verirrte sich keiner. Er mußte also hinunter zum See und immer am Ufer entlang. Dort gab es Campingplätze. Er hielt sich mehr nach Norden. In seiner Beinmuskulatur kündigten sich Krämpfe an. Er schwitzte und keuchte. „Schon müde?" fragte der kalifornische Mara thonmeister. Urban ließ sich überholen und das Tempo vorge ben. An einer Stelle, wo es steil zum Seeufer hinabging, geriet der Amerikaner mit dem Fuß in ein Fuchsloch. Es knackte in seinem Knöchel. Obwohl er jetzt humpelte, war er immer noch so schnell wie Urban. Nach einem Kilometer sah Urban zwischen Hek ken und Bäumen den Campingplatz. Wohnwagen, Wohnmobile, Zelte in bunten Farben. Der Amerikaner wollte außenherum. Urban jedoch lief mittenhinein. Daß er die Nachricht unter einen Scheibenwi scher klemmen konnte, diesen Gedanken gab er auf. Aber da war ein kleiner Wohnwagen. Drinnen putzte eine Frau im Badeanzug Gemüse. Leider kam der Wagen aus Holland. Der nächste war aus Italien. Doch vor dem Italiener stand ein 12-MeterTrailer. Unter dem Vordach hockten Mann, Frau und Kinder. Die Kids stritten sich um einen Walkman. Die Frau lackierte ihre Fingernägel, der Mann blickte von seiner Zeitung auf. Urban warf ihm den Zettel zu, - Im selben Moment drehte der Amerikaner sich zu ihm um. „Keine Müdigkeit, Amigo!" rief er. Urban warf einen Blick zurück. Der Mann unter 68
dem Vorzelt hatte den Zettel aufgefaltet. Urban gab ihm ein Zeichen. Der Mann nickte. Okay, weiter! — Wenn alles gut ging, würde Pullach irgendwie Kontakt mit ihm aufnehmen. Urban war frohen Mutes und wartete geduldig. Beim späten Drink am Kaminfeuer sandte Flo rence ihm heimlich Signale mit Mund und Augen. Sie formte die Lippen zu einem Kuß und machte die Augen sinnlich schmal. — Schlafzimmerblick. Urban empfahl sich bald und sperrte das Turm zimmer von innen zu. Später hörte er Florence klopfen und am Holz kratzen wie eine Katze. Er reagierte nicht darauf. Und das war gut so. Wenig später - Urban lag gerade im Bett - sah er einen roten Punkt, geformt wie eine Perle, über die Zierdecke tanzen. Er trat auf den Balkon, steckte sich dort eine Zigarette an und gab Antwort, indem er das Streichholz einige Male mit der Hand abdeckte. Der rote Lichtpunkt kam schräg vom Rand des Hochwaldes durch die offene Tür zur Zimmer decke. Er stammte von einer Laserlampe. Nun begann der Punkt im Morserhythmus zu kommen und zu gehen. - Unten bei den Tannen stand ein Agentenkollege und übermittelte Urban auf diese Weise Nachrichten. Man hatte seine Postkarte aus Spanien erhalten und den Hinweis darin entdeckt. Dann hatte ein Mann angerufen und Urbans Standort mitgeteilt. - Nun folgte ein Extrakt aus dem Wallace Dossier. Dazu ein wichtiger Satz: S. W. — also Senator Wallace — tritt eine Rußlandreise an. Gehen Sie auf seine Wünsche ein. - Wiederholung: Das von Wallace möglicherweise angeregte Projekt wird vom Hauptquartier gebilligt. Am Fuß der hohen 69
Tanne im Moos befindet sich ein Mobilfunkgerät. Ende. Urban hatte verstanden und bestätigte, indem er das Licht ein und ausknipste. Er verarbeitete noch, was er erfahren hatte, als wieder geklopft wurde. Diesmal ließ er Florence herein. Sie trug nur etwas sehr Dünnes und fror. Also kroch sie zu ihm unter die Decke. „Du glaubst es nicht, aber ich liebe dich", sagte sie. „Ich lasse mich nicht mit Amore erpressen, Madame." „Bei Tag sieht das Leben anders aus als in der Nacht." „Und was erzählst du deinem Senator, daß du nicht neben ihm liegst?" „Er ist nicht mein Liebhaber." „Aber er finanziert deine Filme." „Irrtum, Wallace ist nur in der Rüstungsindu strie engagiert. Mit allem was er hat. Mit mehreren hundert Millionen Dollar." „Aha, deshalb", bemerkte Urban. „Das hindert ihn nicht, ein kritischer amerikani scher Patriot zu sein." „Woher stammt das Geld? Er hat weder geerbt, noch ist ein kleiner Rechtsanwalt in der Lage, in so kurzer Zeit Multimillionär zu werden." „Er arbeitete fast fünfzig Jahre schwer daran." „Lächerlich", antwortete Urban. „Er reiste mit Null nach Europa und kam als schwerreicher Bursche zurück. Woher stammt das Geld?" „Frag ihn doch." „Ausgerechnet ich?" „Warum nicht?" „Stammt das Geld etwa von den Russen?" 70
„Frag ihn, verdammt!" „Er würde mir niemals antworten", befürchtete Urban. „Aber ich antworte dir", flüsterte sie, „wenn du jetzt fragst, ob du mich vernaschen kannst." „Wer vernascht hier eigentlich wen?" bemerkte Urban. „Doch wohl die Dame den Herrn. Aber wenn es unbedingt sein muß." Es war ein Tag, aus dem er als Sieger hervorge gangen war. Er hatte erfahren, was er wollte, auch wenn das, was er zu hören bekommen hatte, nicht nach seinem Geschmack war. Aber diese Frau war heiß und scharf wie Chili, betäubend wie hochpro zentiger Rum, unersättlich wie ein Leopard im Frühjahr, der den ganzen Winter keine Beute gemacht hatte. Ab und zu preßte er das Kissen auf ihren Mund, damit sie unten im Schloß nicht von ihrem wilden Stöhnen erwachten.
An dem Morgen, als Urban zu erkennen gab, daß des Senators Seelenmassage bei ihm Wirkung zeigte, wurde die Bewachung gelockert. Er durfte die Burg verlassen. Nur telefonieren untersagte man ihm, ehe der Vertrag geschlossen war. — Und auf einem Vertrag bestand Wallace. Auf ein Telefon wiederum konnte Urban ver zichten. Im Moos, unten bei den Tannen, hatte man für ihn ein Mobiltelefon deponiert. Als der Senator sich zurückzog, um die Abma chungen mit Urban schriftlich zu fixieren, spa zierte Urban hinaus durch den Park und zog sich mit dem kleinen Mobiltelefon in die nächste Scho nung zurück. Der Platz war hoch gelegen und frei in Richtung Süden und Westen. 71
Er zog die Antenne aus. Ohne Mühe kam er nach München durch. Das Hauptquartier bestätigte die gemorste Nachricht des Agenten, Wenn Urban die Operation in der UdSSR übernahm, lag das auch im Interesse der NATO-Geheimdienste, und er bekam jede Unterstützung. Urban wandte ein, daß er nicht wisse, wie weit dem Senator zu trauen sei. In diesem Punkt konnte das Hauptquartier ihm nicht weiterhelfen. „Woher stammt sein Grundvermögen?" fragte Urban. „Ist es möglich, daß er perfekt die Rolle eines sowjetischen Doppelagenten spielt?" „Diese Gefahr besteht immer", sagte man ihm. „Aber dann müßte Wallace im Jahre sechsundvier zig auf einer Italienreise Kontakt zum KGB aufge nommen haben. Oder er fand eine Goldader. SISMI Rom hat alles versucht, um Näheres zu erfahren. Aber es gibt keine Aufzeichnungen darüber."
Urban beschloß, seine eigenen Verbindungen spielen zu lassen. Erst wechselte er den Standort, dann rief er eine Nummer in Italien am Lago Maggiore. Er kam lange nicht durch. Als er endlich die Verbindung hatte, hieß es, der Don sei außer Haus. Urban glaubte es nicht. Don Catanese, der mächtigste Mafioso Italiens, das absolute und unangetastete Oberhaupt aller Familien, war alt und kränklich. Er verließ seinen Palazzo bei Stresa nicht einmal, um anderswo zu sterben. „Ich muß den Paten sprechen", beharrte Urban. „Bestellen Sie, sein Neffe Roberto Dinamito meldet sich in einer Stunde wieder," Er war nicht Don Vito Cataneses Neffe, und Don Catanese war nicht sein Onkel. Urban legte wenig 72
Wert darauf, einer Mafia-Familie als Vollmitglied anzugehören. Aber es war wie im -Umgang mit einer Bank. Sie zahlte auf Einlagen Zinsen, oder sie forderte einem Schuldzinsen ab. Wenn man seinen Zahlungen nicht nachkam, drehten sie einem den Hals zu. Aber ohne die Banken ging nichts. — Das Verhältnis zwischen Urban und Catanese war wie die Symbiose zwischen Einsied lerkrebes und Seerose, wie zwischen Hai und Pilotfisch. Der eine benutzte den anderen. Es ging auf Mittag. Urban mußte zum Schloß zurück. Endlich erreichte er Don Catanese, den großen, alten Sizilianer, der seine späten Jahre im milden Klima Norditaliens verlebte. Ohne die üblichen Fragen nach Gesundheit und Familie bis zu den Enkelkindern ging nichts. Doch dann kam Urban zur Sache. Der alte Catanese war geistig absolut präsent. Er brachte es auf den Punkt. „Senator Wallace kam also neunzehnhundert sechsundvierzig in Italien zu einem Vermögen. Aber woher stammt es. Ciao! Saluti, auguri e tutto bene, amico mio!" Noch bevor Urban den Kontrakt mit Wallace unterzeichnete, wußte er alles über dessen dunkle Geschäfte. Mit Hilfe der neapolitanischen Camorra hatte Wallace 1946 ein größeres Areal in einem der Abruzzentäler erworben. Dazu gehörte auch ein Steinbruch. - Nachforschungen der Camorra hat ten ergeben, daß im Steinbruch das Wrack eines notgelandeten Savoia-Marchetti-Bombers lag. Das Wrack war von Marmorgestein zugeschüttet und leer. Es mußte sich aber um jenen sagenhaften Bomber handeln, der im Jahre 1943 - wie es gerüchteweise hieß - den Rumänischen Kron 73
schätz nach Italien gebracht hatte. Der Bomber hatte sein Ziel nie erreicht, und vom Kronschatz fehlte jede Spur. — Welche Erklärung gab es dafür? Vielleicht folgende: Wallace hatte als Captain bei der 7. US-Armee im Süden Italien gekämpft. Er hatte den Bomber gefunden und die Ladung später geborgen. Nach Recherchen der Mafia handelte es sich um Gold und Edelsteine im Wert von nahezu hundert Millionen Dollar. Man nahm an, daß der Rumänische Kronschatz noch nicht restlos in die USA gebracht worden sei. Ein Teil liege wohl noch versteckt in Italien. Für Hinweise, die zur Auffin dung des Restes führten, würde sich Don Catanese als hoch in der Schuld Urbans stehend betrachten. Also nichts mit KGB-Kontakten des Senators. Wallace hatte einfach bei den Rumänen abkassiert. An diesem Abend unterzeichnete Robert Urban die Abmachung mit Senator Wallace. Der Kontrakt sah vor, daß Urban alle während seiner Tätigkeit als BND-Agent im Dienst der NATO in der UdSSR gewonnenen Erkenntnisse dem Senator Tom Joe Wallace zugänglich machen würde. Der Vertrag hatte noch eine geheime Zusatz klausel. 10. Die Festung am Rand der Irtysch-Sümpfe war so gut wie uneinnehmbar. Das Fort im Innenbereich der Festung noch weniger, und der Bunker inner halb des Forts war sicherer als jeder andere Ort auf Erden. Dort hockten etwa ein Dutzend Gefangene, ame rikanische CIA-Agenten. Sie wußten alles über die 74
Todeszone, hatten aber keine Chance, es jemals weiterzugeben. Gerade weil sie alles wußten, was die UdSSR unbedingt geheimhalten mußte, war ihr Schicksal besiegelt. Es bedeutete Tod oder lebens längliche Haft. Es handelte sich aber auch um ein Dutzend Experten unter Führung eines Mannes mit unge brochener Energie. Verlaust, abgemagert und verkommen, wie sie waren, veranstalteten sie ein Brainstorming. Das Thema lautete: Flucht und Ausbruch. Jeder sollte beisteuern, was ihm dazu einfiel, und sei es der größte Blödsinn. Jede Idee wurde durch diskutiert. Was am Ende übrigblieb, war so wahnsinnig, wie der Ritt in einem Faß über die Niagarafälle. Aber mit einem Quentchen an Chance. „Daß sie uns hier krepieren lassen, Freunde", sagte Colonel Trapper, „dafür steht es hundert zu eins. Daß wir den Ausbruch schaffen, steht zehn zu eins. Was ist besser?" „Ausbruch", lautete die Abstimmung. „Und wenn wir draußen sind?" fragte einer der älteren, ein graubärtiger Bursche, gehärtet und gestärkt im Dienst der CIA seit dem Desaster in der Schweinebucht von Kuba. „Dann sind wir erst mal draußen, Mann."
Von hier ab konnten sie nur mutmaßen.
„Sie haben Panzer und Spähwagen."
„Helikopter und Flugzeuge. Man hört sie
starten." „Selten gab es so viele Fachleute auf einem Haufen", machte Trapper seinen Mitgefangenen Mut. „Ihr seid Piloten, Panzerfahrer, Raketen- und Artilleriefachleute, Funker, Elektroniker, Spreng stoffexperten. Wir müssen es einfach tun." 75
„Man erwartet es geradezu von uns", bemerkte ein Zyniker. „Wir müssen etwas unternehmen, solange wir noch bei Kräften sind und uns auf den eigenen Beinen fortbewegen können." „Fast ein Wunder bei der Kohlsuppe." „Und dem verschimmelten Brot." „Mit Fleischeinlage wie Käfer, Würmer und Maden."
„Immerhin ohne Umweltgifte wie Butter und Salami," Sie wußten, es würde ein Todeskommando. Der eine oder andere würde daran glauben müssen. Aber jeder hoffte auf sein Glück und wollte der eine oder andere nicht sein. Sie planten den Ausbruch, indem sie mehrere Vorschläge aufgriffen und von jedem die besten Details zu einem Fluchtmuster zusammenstrickten. Vorgesehen war die Flucht an jenem Tag im Oktober, wenn sie die Rote Revolution feierten. Dann floß überall im Land und auch in den Garnisonen der Alkohol in Strömen. Beim niederen Volk der Wodka, in höheren Kreisen Krimsekt. „Aber besoffen ist jeder", behauptete Lt. Col. Trapper, „hoffe ich."
Es ging auf Leben und Tod. Sie waren bereit, zu fliehen oder zu sterben. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Mit Messern, aus Blechtellern gefeilt, mit Fesseln und Knebeln, aus den Fasern ihrer Strohsäcke gedreht, mit Keulen aus Tischbeinen, warteten sie auf die Stunde. - Wenn man sie vom Schlafraum 76
des Bunkers in den Aufenthaltsraum trieb, wollten sie es tun. Colonel Trapper hatte entschieden, daß es vor dem Essen zu geschehen hatte. Erstens, weil die Kohlsuppe kaum Nährwert besaß, zweitens, weil ein Bauchschuß mit leerem Magen besser zu über stehen war. Einer lauschte mit dem Ohr an der Bunkerwand. Sie kamen heute etwas früher als gewöhnlich. Vermutlich wegen der Festivitäten in der Kaserne. Durch die tief im Boden verankerten Bunker mauern hörte man die Vibrationen. Gewöhnlich kamen sie mit zwei Autos. Mit einem LKW und dem Jeep. Auf dem kleinen Laster brachten sie den Kessel mit der Suppe und das Brot. Im Jeep saßen stets vier Mann. An der Prozedur änderte sich selten etwas. Ein Mann blieb draußen vor dem Bunker, einer im Zwischengang. Zwei überwachten, Maschinenpi stolen angeschlagen, die Suppenausgabe. Die Ver teilung besorgten der Fahrer des LKW und ein Kochgehilfe. „Ich höre nur einen Wagen", meldete der Mann mit den Luchsohren. „Um so besser." „Es muß der LKW sein." „Fängt gut an", munterte der Colonel seine Männer auf. In ihren Gesichtern stand verzweifelte Ent schlossenheit. Der LKW hielt. Draußen öffneten sie die eiser nen Bunkertüren. Dann dauerte es eine Weile. Man hörte Schritte und wie sie den schweren Suppen kessel über den Beton schleiften. Dann sperrte einer die Tür zur Tageszelle auf. 77
Es war ein Soldat mit Maschinenpistole. Er hatte die Waffe nach hinten gehängt. Die Gefangenen nahmen ihre Positionen ein. Sie verteilten sich wie abgesprochen, und dann pfiff der Colonel mit zwei Fingern. — Es war Sekunden sache. Lautlos überwanden sie den Posten und die Suppenverteiler. Der Mann draußen wehrte sich zwar, aber es kam zu keinem Schußwechsel. Sie fesselten und knebelten alle. - Das Ganze dauerte weniger als zwei Minuten. „Los, auf den LKW!" befahl der Colonel. Das Telefon im Bunker ging. Einer, der Russisch sprach, nahm ab und meldete sich, wie die Wachposten bei Kontrollanrufen sich stets gemeldet hatten. „Soldat Tymoffski. . . Keine besonderen Vor kommnisse, Genosse Hauptmann . . . Bunker belegt mit dreizehn Mann. Keine Erkrankung gemeldet." Er legte auf. Draußen hatte schon einer den Motor angelassen. Elf Mann waren auf die Pritsche geklettert. Im Fahrerhaus saß rechts der Colonel. „Zum Tor!" Es war offen. „Jetzt rüber zum Flugplatz." „Quer durch, Sir?" „Auf der Wachstraße, immer am Zaun entlang." „Und wenn uns einer begegnet, Sir?" „Erst in zehn Minuten." „Heute ist alles anders, Sir." Der Fahrer behielt recht. Kaum waren sie eine halbe Meile weit gekommen, immer dem Zaun folgend, nach Osten in Richtung Flugplatz abgebo gen, als sie Scheinwerfer sahen. „Du fährst stur weiter!" befahl der Colonel und 78
wandte sich zu den Männern auf der Pritsche. „Wer hat die MPis?" „Slizer und Hagen, Sir." „Sofort feuern, wenn sie uns anhalten. Unter sofort verstehe ich blitzartig." Der Wagen, der ihnen entgegenkam, hatte eng stehende und hochmontierte Scheinwerfer. Ein Militärjeep also. — Er blieb in seiner Spur. Der Küchen-LKW wich ihm aus. Der Jeep blinkte und hielt an. Der Scheinwerfer hinten im Jeep erfaßte sie. — Der Küchen-LKW stoppte neben dem Jeep. „Jetzt!" schrie der Colonel. Zwei Feuerstöße, und die Posten rissen die Arme hoch. Aber der Mann neben dem Fahrer war nicht gleich tot. Er schrie noch etwas ins Mikrofon des Sprechfunkgerätes. Nur ein paar Worte. Trappers Männer zogen die Russen aus dem Jeep, wendeten ihn und folgten damit dem Kü chen-LKW. Der Jeep war wichtig. Er hatte hinten neben dem Scheinwerfer ein MG montiert.
Wo der Flugplatz lag, sah man an der Hangarbe leuchtung. Als sie schön die Silhouetten der Flugzeuge erkannten, heulten die Sirenen los. Im Nu brannte jede elektrische Birne, die der Standort verfügbar hatte. In der Startbahnbefeue rung, in den Straßenlaternen, in den Tiefstrahlern. Auf dem Tower des Festungsflugplatzes kreiste der Suchscheinwerfer. „Totale Panik", sagte Trapper. „Die sind völlig 79
konfus - besoffen und konfus. Sie wissen nicht, was passiert ist." Der Küchen-LKW hielt bei der zweimotorigen Iljuschin, mit der wohl ein General gekommen war, um mit seiner Division den Revolutionstag zu feiern. Der Jeep raste indessen zum Hangar, hängte das Startgerät an und zog es zu der Propellermaschine hinaus. Die Männer waren abgesprungen und stürmten den Vogel. Ihr Pilot kletterte als erster durch die Rumpftür und tastete sich nach vorn ins Cockpit. Ein Mann riß die Bremsklötze weg, zwei andere schlössen die Kabel des Startgerätes an. Bis auf zwei Mann mit Maschinenpistolen und einem am Jeep-MG, saßen alle in der Passagierma schine. Zeichen von oben, Zeichen von unten. Der Pilot ließ an. Der linke Motor kam sofort, der zweite unwillig. Der Pilot ließ ihm eine Minute zum Warmlaufen. Der Jeep zog das Aggregat aus dem Weg, die Männer mit den MPis stiegen ein. Da sahen Colonel Trapper und der Mann am MG die Wagen kommen. - In breiter Front, als hätte man die gesamte sibirische Tieflandarmee aufgeboten, rasten sie herüber. Ihre rechte Flanke scherte in Richtung zur Startbahn aus. „Geben Sie Zunder!" schrie Trapper. Der Mann am MG feuerte. Die Leuchtspurmuni tion zog ihre silbernen Fäden durch die Dunkel heit. Für eine Weile sah es so aus, als würde das russische Abfangkommando gestoppt. Trapper stieß den MG-Schützen vom Jeep. „Nichts wie weg, Mann!" „Und Sie, Sir?" 80
„Ich ballere das Magazin leer." Die Iljuschinmotoren lärmten ohrenbetäubend, die Propeller dröhnten, das dürre Steppengras legte sich im Winddruck flach. Die Zweimotorige drehte um neunzig Grad und begann zu rollen. Trapper hatte das Magazin leergeschossen. Nun hechtete er vom Jeep und rannte in einem wahren Sprint hinter der Iljuschin her. Er war schneller als das startende Flugzeug. Hände streckten sich ihm aus der Rumpftür entgegen. Er erwischte eine Hand und verlor sie. Dann stolperte er. Als er sich aufrichtete, erwischte ihn ein fürchterlicher Schlag im Genick. Das linke Leitwerk warf ihn endgültig zu Boden. Er machte noch ein Zeichen mit der Hand und schrie: „Haut ab, Leute! Macht, daß ihr fortkommt!" Trapper lag da. Er hörte das satte Singen der Motoren. Er Öffnete die Augen. Verschwommen sah er das Flugzeug kleiner werden. Es strebte der Piste zu. Doch die war schon von schweren Fahr zeugen gesperrt. Also startete es quer über den Platz. Trapper sah, wie die Maschine ausbrach, aber abgefangen wurde, wie sich das Heck aufrichtete, wie sie abhob und flog. Jetzt sind sie nicht mehr aufzuhalten, dachte er. Sie kommen raus. — Dich kriegen sie. Aber das bedeutet nichts. Es ist das verbürgte Recht jedes Gefangenen, die Flucht zu versuchen. - Sie wer den dich fertigmachen, aber die Kameraden wer den es schaffen. Und die werden alles, was sie wissen, in ihren Köpfen aus diesem verdammten Land hinaustragen. Trapper kämpfte gegen die Ohnmacht. Er hatte 81
fürchterliche Schmerzen. Schädelbruch, Schleu dertrauma, analysierte er sich. Das Flugzeug war nicht mehr zu sehen. Er schätzte, daß es schon mehrere hundert Meter hoch war. Die Russen schössen aus allen Rohren hinter ihm her. Für Sekunden fühlte Trapper sich beinah glück lich. Sie schaffen es, dachte er. Deshalb war es mehr als ein Schock, als er erleben mußte, was plötzlich geschah. Dort, wo er die Iljuschin mit den Kameraden in Sicherheit wähnte, entstand plötzlich ein Feuer ball. Aus der glutroten Lohe heraus platzten Flug zeugtrümmer. Trapper preßte sich zum Schutz gegen die Druck- und Geräuschwelle fest an die Erde. Sen gend heiß und ohrenbetäubend fuhr es über ihn hinweg. — Als Trapper sich aufrichtete, war der Horizont schwarz. Nur am Rande des weiten Flugplatzes brannten ein paar Trümmer. „Mein Gott!" war alles, was Trapper heraus brachte. Er sah, wie die Fahrzeuge der Russen sich der Absturzstelle näherten. Kein Zweifel, sie würden annehmen, daß alle dreizehn Gefangenen ohne Ausnahme den Tod gefunden hatten. Was für ein Desaster. — Aber darin bestand eine Chance für ihn. Hinzu kam, daß er perfekt Rus sisch sprach. Er lag da und heulte hemmungslos. Doch während er noch den Verlust der Freunde betrauerte, begann sein Gehirn schon an einem neuen Fluchtplan zu arbeiten.
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11. „Es würde besser aussehen", sagte Florence Ohara zu Senator Wallace, „wenn du dich in der Öffent lichkeit mir gegenüber anders verhieltest. Wenn schon nicht liebevoll und besorgt, so zumindest doch höflich und zuvorkommend. Ich gelte immer hin als deine Verlobte." „Du kannst so schön bitte sagen", antwortete der Senator und widmete sich weiter seiner Aufgabe in Moskau. Er hielt Vorträge, in welchen er die Position der Vereinigten Staaten, was ihre Wirschafts- und Militärpolitik betraf, erläuterte. Anläßlich der vie len Pressekonferenzen ließ er offen seine Auffas sung durchblicken, daß man in der Abrüstung wirklich erst Taten zu sehen wünschte und nicht nur den Abriß Potemkinscher Dörfer. Als Journalisten von ihm wissen wollten, wie er das meine, sagte Wallace: „Fragen Sie die zuständigen Experten für Waf fenentwicklung in der Roten Armee." Im allgemeinen wurde das Auftreten von Senator Wallace in Moskau überraschend positiv bewertet. Sowohl in den Kommentaren von Tass und Prawda, als auch über Rundfunk und Fernsehsta tionen. Bei einem Empfang in der US-Botschaft wurden das frische Aussehen des Senators und seine jugendliche Elastizität allgemein bewundert. Er erklärte sie lächelnd mit drei Fastenkuren und sechs Schönheitsoperationen und fuhr mit Florence Ohara ins Hotel zurück. „Du verkaufst dich hervorragend, Tom Joe", sagte sie anerkennend. „Nicht besser als sonst auch", antwortete er. 83
„Nur die anderen verkaufen sich schlecht. Sie haben einen Buhmann erwartet und sind über rascht, daß ich offenbar ein ganz brauchbarer Typ bin." Die schwarze ZIL-Limousine hielt vor dem neuen Intercon-Hotel. Sie eilten durch die Halle. Auch hier warteten Zeitungsleute, aber der Sena tor winkte ab. „Ich bin rechtschaffen müde, Freunde", rief er in recht ordentlichem Russisch, verschwand im Lift und fuhr hinauf. Allein in seiner Suite mit Blick auf Kreml und Fluß bestellte der Senator einen Imbiß. „Nein, nicht schon wieder Champagner", sagte er. „Haben Sie kein Bier oder Whisky?" Noch in Mantel und Hut umarmte Florence Ohara ihn. „Du bist echt hollywoodreif, Bob", schwärmte sie. Ehe sie ihn küssen konnte, hielt Urban ihr die Lippen zu. Er schaute nach oben und in die Ecken der Zimmerdecke. „Mikros, Kameras, überall." Sie legte den Mantel ab und zog ihn ins Bade zimmer. Dort stellte sie den Wanneneinlauf und die Dusche an. Trotz des Rauschens und Prasseins brachte sie ihren Mund an sein Ohr. „Hältst du mich für so unwissend?" „Nur für leichtsinnig." „Okay, wir können nicht miteinander schlafen. Man würde es sogleich fotografieren. Aber wo, bitte, lieben wir uns? Im Lift, im Schrank, im Auto unterwegs oder auf der Herrentoilette?" Mitunter brachte diese Florence ihn zum Staunen. 84
„Man hat dich offenbar unterrichtet und vorge warnt." „Ich bin nicht nur eine dumme Kuh von Schau spielerin, nicht nur eine hübsche Textwiedergabe maschine." „Wo hat man dich geschult?" „In Langley", gestand sie. Er hatte es immer befürchtet, jetzt wurde es bestätigt. Die Agency, die CIA, hatte sie zur Agentin ausgebildet. Die hatten ihre Agenten über all sitzen, natürlich auch in Hollywood. Trotz des Dampfes, der im Badezimmer herrschte, steckte er sich eine MC an. „Darling ist also CIA-Agentin. Robert spielt Senator Wallace, und Senator Wallace ist nicht Filmproduzent, sondern Rüstungsindustrieller. Na fabelhaft!" „Ganz normal, oder?" „Ungeheuer normal. Vor allem, wenn man weiß, woher Wallace sein Grundvermögen hat. Ich sage nur: Rumänischer Kronschatz." „Ich weiß darüber Bescheid", erwiderte sie. „Im übrigen war es, historisch und staatsrechtlich gesehen, nicht mehr der Rumänische Staatsschatz. Es gab einen Vertrag, wonach er an Benito Musso lini überging. Mussolini starb auf der Flucht anno fünfundvierzig. Also gehörte das Rumänengold dem Finder.« „Wallace holte es ein Jahr später." „Einen Teil davon." „Mit Hilfe der Mafia." „Egal, mit wessen Hilfe man etwas erreicht. Hauptsache, man erreicht es." „Und wo ist der Rest?" faßte er sofort nach. „Das erzählt er mir doch nicht." „Dir erzählt er alles, Darling." 85
Sie zögerte, „Okay, ich mag so etwas wie ein seelischer Mülleimer für ihn sein. Der Rest des Rumäniengol des liegt irgendwo in der Provinz vergraben. Er konnte damals nicht alles mitnehmen. Auf dem von ihm gekauften Gelände wollte er es nicht zurück lassen. Er fürchtete, man würde jeden Meter umgraben, wenn es herauskam. Ich glaube, er brachte es an einen jener Orte in Italien, die man zwar verkommen läßt, wo der Schatz aber sicher ist. Wenn sie etwas nicht antasten, sind es alte Gräber und Tempelruinen." „Burgen, Paläste, Kirchen, verfallene Städte, davon gibt es Tausende in Italien." „Ich kenne diese altrömischen Götter nicht", bedauerte Florence. „Ich glaube aber, der Tempel hat etwas mit Poseidon zu tun." „Der war ein Griechengott." „Dann hat es eben mit seinem römischen Gegen gott zu tun." „Neptun?" „Ach laß mich in Frieden. Meine Kleider sind schon ganz durchgeweicht." Sie verließen das Badezimmer. Der Etagenkellner servierte mit dem mürrischen Gesicht aller sozialistischen Werktätigen den Imbiß. Er wurde erst freundlicher, als er eine Zehndollarnote in den Händen fühlte. - Er war blond. Seine gerade Haltung ließ den Offizier erkennen. Als er gegangen war, machte Florence Zeichen in der Fingersprache.
K-G-B, signalisierte sie. „Mit Sicherheit." „Auch das Zimmermädchen." „Sogar die Blumen." 86
„Sie mißtrauen uns." „Wie wir ihnen." Die Suite von Florence Ohara, der offiziellen Begleiterin von Senator Wallace, lag nebenan. Es gab auch eine Verbindungstür, aber die benutzten sie in dieser Nacht nicht.
Seine Vortrags- und Goodwill-Tour führte Senator Wallace weiter nach Gorki und Swerdlowsk. Da er auch Vorsitzender des amerikanischen Sicherheitsrates und diverser Abrüstungskommis sionen war, begehrte er unter anderem die Schrott plätze ausgemusterter Waffen zu sehen. Er zeigte sich davon beeindruckt und stellte dem General, den er für zuständig hielt, die Frage nach dem Schicksal von Lt. Col. Trapper und seinem Adjutanten. Man zeigte ihm Fotos und lieferte Erklärungen, die Wallace jedoch nicht befriedigten. Er zweifelte daran, daß Trapper auf eigene Faust losgefahren und zufällig in ein Minenfeld geraten war. Er bat darum, daß man ihm die Stelle zeige, wo es zu dem Unfall gekommen war. Man versprach ihm, die Bitte zu erfüllen. „Wenn es sich machen läßt", sagte der General, „bringen wir Sie selbstverständlich hin. Vorausge setzt, Sie scheuen die lange Fahrt nicht. Es sind mehrere tausend Kilometer." „Ich hörte, es soll Flugzeuge in diesem Land geben", entgegnete Senator Wallace ungehalten. „Bis Montag ist das geklärt", hieß es daraufhin.
„Heute ist erst Freitag", wandte Wallace ein. „Der Generalsekretär der Republik Westsibi riens bittet Sie und Madame auf seiner Datscha 87
seine Gäste zu sein. Er hörte, Sie seien leiden schaftlicher Fischer, Jäger und Reiter, Senator." Urban zügelte seine Begeisterung. Er fing nicht sonderlich gerne kleine Fische mit raffinierten Angeln oder schoß auf Tiere. Es sei denn, sie waren tollwütig und Killer. Auch vom Rücken der Pferde hielt er wenig. Nie hatte er dort das Glück der Erde gefunden. „Na wunderbar", log er. „Ich freue mich." „Und Madame?" „Madame", entgegnete er lächelnd, „erfreut stets, was auch mich erfreut." Weiter ging es per Flugzeug, auf der Bahnstrecke über den Ural im Salonwagen, dann wieder mit schweren ZIL-Limousinen. Nur wenn sie Pause machten, um die Beine zu vertreten, konnten Urban und Florence Ohara offen miteinander sprechen. Meist nur wenige Worte. „Wir nähern uns dem kritischen Gebiet", sagte er.
„Zu langsam." „Geduld ist der halbe Erfolg." „Ungeduld mitunter der ganze. Was nützt es uns, nahe daran zu sein. Wir müssen hinein. Frag sie weiter nach Trapper und den anderen Leuten aus den Kontrollkommissionen." „Bloß keine privaten Aktivitäten", warnte er sie. „Sobald ich einen fahrbaren Untersatz erwische, gehe ich los. - Wenn du es schon nicht tust." „Du bist so verrückt." „Dachte, du liebst das an mir."
„Bei passender Gelegenheit." „Hör zu", flüsterte sie und hakte sich fest bei ihm ein. „Wir sind hier zwei angesehene, promi 88
nente Staatsgäste. Uns gehören das Roulett, die Kugel und die Spielkarten." „Aber den Russen gehört das Spielkasino", erwähnte Urban. „Vergiß das nie." Der General kam ihnen entgegen. Sie lächelten über alle Zähne. „Es geht weiter", rief der General. „Der Minister erwartet Sie." Sie fuhren noch eine Stunde, dann wurde die eher wilde Landschaft kultiviert. Sie näherten sich einer Stadt. Aber vorher bogen sie in eine Villen kolonie am Südhang eines Berges ab. Die Straßen waren jetzt asphaltiert, die Geh steige mit Marmor eingefaßt. Überall Parks und Gärten. Zwischen den Palmen, Sykomoren und Pinien lugten palastartige Villen hervor. „Wie in Beverly Hills", rief Florence Ohara entzückt. „Gepflegter", meinte Urban. „Nur, daß hier keiner Englisch spricht." „So gut wie Charlie Brown können sie es auch." „Na ja, dafür können sie besser Russisch." Der sechs Meter lange Schlitten bog ab und nahm die Auffahrt zu einer Villa, deren Luxus nur schwer zu überbieten war.
In der Funktionärssiedlung der Republik Westsibi rien gab es alles, was man sich nur wünschen konnte. Eigenes Fernsehen, Golfplätze, Kraft- und Heizwerk. Aus den Hähnen kam links heißes und rechts eiskaltes Wasser. Es gab Saunen, Schwimm bäder, Sportstätten. Mehrere Spielclubs, eine Bar, ein Restaurant und eines der schönsten Jagdreviere in Transuralien. 89
Den Funktionären stand ein umfangreicher Autopark zur Verfügung. Sportwagen, Buggies, Limousinen und Luxusgeländefahrzeuge der ersten westlichen Marken. Es gab einen Flugplatz mit ein- und zweimotorigen Privatflugzeugen und Hubschraubern. Selbstverständlich gab es auch ein Hospital. Der Minister, ein leidenschaftlicher Jäger, holte Urban am frühen Morgen des Samstag ab. Sie streiften den ganzen Vormittag durch die Wälder. Der Minister verfehlte einen Hasen und zwei Wildenten. Urban schoß aus Höflichkeit auch daneben. Dann traf der Minister einen Fuchs, und Urban holte ein Rebhuhn im Flug herunter. Nicht mit Schrot, er erwischte es mit der Kugel. Er tat es weniger aus Jagdbegeisterung, sondern weil Sena tor Wallace als ausgezeichneter Schütze galt und Urban sich Mühe geben mußte, daneben zu treffen. - Außerdem hatte der Minister gesagt, ohne Beute gäbe es nur Essen aus der Konservendose. Der Jagdaufseher führte sie zu der Hütte. Sie bot Platz für den Minister, seinen Jagdgast und die Begleitung. Das fette Rebhuhn wurde gerupft und gegrillt und als Vorspeise verteilt. Dann gab es etwas Deftiges zwischen die Zähne. Wildschwein. Mitten im Schmaus ging das Funktelefon. Einer der Männer aus der Begleitung des Ministers nahm den Anruf entgegen. Offenbar wußte er nicht, wie er sich verhalten sollte, und gab dem Minister ein Zeichen. Der entschuldigte sich bei seinem Gast und verließ die fröhliche Runde. Als er zurückkam, saß er mit besorgtem Gesicht da. 90
Er nahm einen Wodka, noch einen und wandte sich dann ein wenig steif an seinen Gast. „Senator", begann er. „Senator Wallace, unan genehme Nachrichten." „Krieg mit der Schweiz?" scherzte Urban. „Schlimmer", antwortete der Minister, um einen lockeren Ton bemüht. „ Madame ist ver schwunden."
„Madame?" „Madame Ohara." „Sie wollte einen Ruhetag einlegen und ihn ganz ihrer Schönheit widmen." „Sie ist leider spurlos verschwunden, Exzellenz", sagte der Minister. „Und mit ihr einer unserer Hubschrauber." Urban beherrschte sich mühsam. „Hubschrauber?" staunte er. „Samt Piloten?" „Ohne den Piloten, Senator." Nun war es Urban, der einen Wodka brauchte. „Mein Ehrenwort, Herr Minister", schwor er. „Ich hatte bis jetzt keine Ahnung, daß Madame in der Lage sein soll, einen Hubschrauber auch nur einen Zentimeter vom Boden zu bewegen." Er mußte sich Mühe geben, um kühl zu bleiben, denn in seinem Inneren zog ein Wirbelsturm auf. 12. Ihr Fluglehrer in Passadena hatte zu Florence Ohara gesagt: „Sie sind schön und eine gute Schauspielerin, Gnädigste, aber Ihr Talent, einen Hubschrauber zu fliegen, ist absolut, begnadet. Es stellt alles in den Schatten. So rasch wie Sie hat noch keiner meiner Schüler die Koordination der Dreiachsen-Betäti 91
gung gelernt und seine Füße sowie die linke und rechte Hand unter Kontrolle gebracht." Hinzu kam Florences Verständnis für Technik. Ihr Vater war General-Motors-Händler in Phila delphia gewesen. Seitdem sie laufen konnte, hatte sie sich in den Werkstätten seiner Niederlassungen herumgetrieben und alles über Motoren gelernt. Sie hatte den Kamow-Hubschrauber problemlos zum Abheben gebracht. Nun flog sie in 300 Meter Hohe Kurs 76 Grad, also sanft nach Nordosten. Der Tank war voll, die Turbinen drehten sich rechts herum, wie in aller Welt. Nur die Gashebelei war etwas ungewohnt. Die Russen druckten sie nicht, sie zogen sie. Florence Ohara hatte es nur einmal falsch gemacht und dann kapiert. Sie holte die Kamera mit dem Teleobjektiv aus ihrem Trenchcoat und legte sie auf den rechten Sitz. Im Funk quäkte eine aufgeregte Stimme. Sie schaltete ab. Die meisten Flugdaten kannte sie auswendig. Die wichtigsten aber, die Entfernung, die Topogra phie und den Kurs hatte sie mit Spezialkugel schreiber auf ihrer Handfläche notiert. Auch eine Ausrede hatte sie sich zurechtgelegt. Aus Langeweile sei sie spazierengefahren, habe den Hubschrauber gesehen und sich einen Spaß erlaubt. Basta. Die Natur entsprach den Satellitenwerten. Man konnte es auch umkehren. Die Satellitendaten entsprachen der Natur. Das gebirgige Land wurde flacher und weitete sich in wellenförmigen Hügeln in die Ebene hinaus. Noch war das Land unter ihr bebaut. Viele der 92
Felder waren in Nordsüdrichtung von Mauern umgeben. Wenn man sehr tief flog und genau hinsah, dann erkannte man, daß es sich um Stütz mauern von Terrassen handelte. Auf den einen wuchsen bizarre schwarze Bäume, auf anderen wurde offenbar Gemüse angebaut. Sie überflog Kolchosen sowie mehrere dorfähnli che Ansiedlungen. Ständig suchte sie den Himmel ab. Er war hoch und frei. Die Sicht betrug viele Meilen. Jetzt mußte sie den Kamow hochziehen. Er arbeitete sich zwischen grün bewaldeten Bergen hindurch. Dahinter war es, als falle das Land in ein tiefes Tal, in ein Flußtal ab. Der Fluß führte wenig Wasser, Sein Bett zeigte Sand und Kies bänke. Jenseits des Flusses dehnte die Ebene sich end los. Im Norden stand Dunst. Dort begannen die riesigen Sümpfe. Ein Gebiet, so groß wie Holland, Belgien und Luxemburg zusammen. Was Florence Ohara Sorgen bereitete, war der Treibstoffverbrauch. Die russischen Triebwerke soffen wie eh und je. Der Kamow, ein Siebensitzer mit Frachtraum, der auch zur Versorgung entfern ter Stützpunkte eingesetzt wurde, hatte zwar genug Reserven, aber spätestens in zwei Stunden mußte sie umkehren. — Doch bis dahin hatte sie es wohl geschafft. Noch hundert Meilen maximal, und sie war mitten im Sperrgebiet, das sie hier Todeszone nannten. Sie flog so tief, wie es ökonomisch richtig war. Mitunter riß der Rotorwind Staub aus der Steppe. Unter ihr lief eine Autospur, später eine der hier üblichen Straßen, bestehend aus gewalztem Grob sand, den man mit Altöl getränkt hatte. 93
Die Straße führte genau dorthin, wohin auch ihr Kompaß zeigte. Und dann war sie früher da, als erwartet. Vielleicht lag es am Rückenwind, oder der Stau druckmesser zeigte zu wenig Geschwindigkeit an. - Unter ihr ragten gelbe Tafeln mit dem Totenkopf aus dem Boden. Beiderseits der Straße zogen sich Streifen hin, als hätte der Sand Pockennarben. Vermutlich die Minenfelder. Nach zehn Meilen kam gerollter Stacheldraht. Ganz neuer Draht. Seine Messer blitzten noch in der Sonne. Er hatte also noch keinen Rost ange setzt. Sie flog weiter. Unten auf der Straße staubte eine LKW-Kolonne. Sie nahm die Nikon und fotografierte. — Dann blitzte ein künstlicher See auf, vermutlich als Kühlwasserbecken eines Atom kraftwerkes angelegt. Weiter im Norden tauchte ein riesiges, senkrecht stehendes Ei auf. Ein Ei aus Beton, mindestens fünfzig Meter hoch. Ein Reaktorgebäude, daneben Turbinenhallen und Transformatoren. Starkstrom leitungen führten schräg in einen unterirdischen Kabelschacht hinein. - Ringsherum Hangars, fla che Hallen, Wohncontainer. Und Beton, Beton, Beton. Florence Ohara dehnte ihre Runde bis zu einem Schrottplatz aus. Dort hatte man offenbar sämtli che Waffen zusammengetragen, mit denen die Rote Armee ausgerüstet war. Panzer, Spähwagen, Kanonen aller Kaliber, Raketen, Flugzeuge, sogar Schiffsrümpfe konnte sie erkennen. Sie fotografierte einhändig mit der Rechten. Der Motor in der Kamera riß den Film bis zum letzten Bild durch. 94
Ein Blick auf den Treibstoffstand. Höchste Zeit, daß sie umkehrte. Außerdem wurde es dunkel. Sie mußte nach Hause finden. Eine Außenlandung wäre eine Blamage gewesen.
Die Nikonkamera hatte auf dem Platz des zweiten Piloten gelegen. Plötzlich war sie nicht mehr da. Florence Ohara beugte sich vor, suchte zwischen den Sitzen und schaute nach hinten. Dort sah sie die Kamera. Sie war nicht wegge rutscht, sondern zwei behaarte Hände umfaßten sie. Die ungepflegten kurzen Finger spielten damit herum. Der Mann, zu dem die Hände gehörten, trug einen dunkelgrünen Overall mit Rangabzeichen am Kragen. Links den Roten Stern, rechts drei goldene Streifen. „Kopf nach vorn!" befahl er auf englisch. „Wei terfliegen. " Instinktiv gab Florence Ohara Vollgas und ließ den Kamow steigen. Wenn sie irgend etwas mit dem Hubschrauber versuchte, sei es eine Rolle, ein Turn oder indem sie ihn trudeln ließ, dann war das in Bodennähe nicht möglich. „Auf fünfzig Meter gehen!" sagte der Mann. „Einen Dreck werde ich." Sie zog am Pitch. Da spürte sie den Druck im Nacken, wie von einem Daumen, der naß im Tiefkühlfach gelegen hatte, kalt und steif. Eine Waffe also. — Demnach waren sie zu zweit. O verdammt, dachte sie und vergaß all ihren Charme. 95
„Was tun Sie hier, Gnädigste?" fragte der mit der Kamera. „Fliegen." „Ausgerechnet in der Todeszone?" „Zufall, Gentlemen." „Dieses Sperrgebiet ist in der Karte markiert." „Ich habe keine Karte." „Sie tragen die Karte im Kopf, denn Sie sind Agentin, Madame. Amerikanische Spionin." Sie gab ihr reifstes Bühnenlachen zum besten. „Absoluter Blödsinn." „Und die Kamera?" „Sie macht Bilder." „Von der Todeszone?" „Woher sollte ich wissen, zum Teufel. . . " „Sie sind CIA-Agentin", betonte nun der zweite hinter ihr, der mit der Pistole. „Ich bin die Begleiterin von Senator Wallace", beharrte sie, „und habe mir einen Spaß - vielleicht einen etwas ungewöhnlichen, aber einen Spaß erlaubt. Nehmen Sie endlich diese verdammte Kanone weg. Und spielen Sie nicht mit meiner Nikon herum. Sie könnte losgehen." „Eine Klassefrau", bemerkte einer der zwei Männer. Sie gehörten offenbar zum KGB und hatten sich im Laderaum der Maschine hinter den Sitzen versteckt gehalten. „Weiß nicht", höhnte der andere. „Eine schöne Schauspielerin ist noch lange keine Klassefrau, nur weil Hollywood hinten draufsteht." Nervig wie ein Kettenhund riß Florence den Kamow hoch, um ihn in eine Fluglage zu bringen, die ihre blinden Passagiere durchschüttelte und kampfunfähig machte. Aber es kam nicht soweit. Der mit der Kanone hechtete nach vorn und 96
übernahm das zweite Steuersystem. Der andere band mit einer Art Kabel den Hals der Amerikane rin an der Nackenstütze des Sitzes fest. Sie wehrte sich und protestierte keuchend. „Dafür werden Sie büßen. Wir befinden uns hier in diplomatischer Mission. Wir haben Immunität. Der Senator wird alles tun, um Sie zur Rechen schaft zu ziehen." „Stopf ihr das Maul, dieser Hure", zischte der Pilot. Der andere knüllte mehrere Papiertaschentü cher zusammen und würgte sie Florence Ohara tief in den Rachen, obwohl sie zu beißen ver suchte. „Und was deinen feinen Senator betrifft", erklärte der hinter ihr, „dem ziehen wir auch noch den Zahn." „Ich hole schon die Zange", rief der Pilot und setzte zwischen den Hangars und den Wohncontai nern in der Todeszone zur Landung an. Sie brachten Florence Ohara in einen kahlen Raum neben der Wache. Sie hörte, wie sie den Film aus der Kamera holten. Dann dauerte es etwa eine Stunde. Der Pilot kam herein und zeigte ihr die Abzüge. „Das kostet Sie lebenslang Sibirien, Gnä digste." „Moskau will Sie selbst verhören", sagte der andre. „Das kam soeben über Telex durch. Sie fürchten, wir werden nicht mit ihr fertig." „In Moskau haben sie modernere Methoden." Der Pilot las das Fernschreiben. „In drei Stunden landet eine Kuriermaschine und holt Sie ab." Florence Ohara würgte an dem Papierknebel, würgte wieder, hustete, spuckte ihn heraus und schrie: 97
„Wie, bitte, übersetzt man Arschlöcher ins Rus
sische?"
Sie verstanden es auch so. Aber sie grinsten nur.
13. Der Staatsgast des Regierungschefs der sowjeti schen Republik Westsibieren mußte sein Abendes sen allein einnehmen. Auch der Minister ließ sich entschuldigen. Einmal — es war schon spät — wurde Urban angerufen. „Senator", sagte der Sekretär des Ministers. „Wir suchen weiter nach Madame Ohara. Bis jetzt leider ohne Erfolg. Außerdem kommt ein Unwetter auf. Zur Besorgnis gibt es jedoch keinen Anlaß. Ein Absturz wurde bis zur Stunde nicht gemeldet." „Danke." Urban spielte weiter seine Rolle als Tom Joe Wallace, auch wenn ihm das immer schwerer fiel. In seinem Kopf begannen sich die Dinge zu ordnen. Florence hatte offenbar die Geduld verloren und sich eigenmächtig Richtung Todeszone in Bewe gung gesetzt. Und das mit einem Hubschrauber. Wahrscheinlich baute sie auf die Höflichkeit der Russen einem Staatsgast und einer schönen Frau gegenüber. — Wenn sie Pech gehabt und man sie in flagranti, also nahe der Todeszone, erwischt hatte, dann half ihr kein Gott mehr. Dann gab es kein Pardon. Dann behandelte man sie wie eine Spionin und nahm sie in die Mangel. Man würde alles aus ihr herausquetschen, was man wissen wollte. Keine Frage, binnen kurzem würde sie kapitulieren und dann auch preisgeben, wer er wirklich war. Da saß er nun, mitten in der UdSSR, Tausende 98
von Kilometern von jeder Grenze entfernt, war noch keinen Schritt weitergekommen, dafür aber in höchste Gefahr geraten. Urban verfluchte diesen Wallace. Er erinnerte sich an das entscheidende Gespräch: Sie sind der einzige Mann, hatte Wallace gesagt. - Ich bin es nicht, Sir, hatte er geantwortet. Doch, Sie sind es, hatte Wallace behauptet. Er hätte es besser wissen sollen. — Zu spät! Urban leerte das Glas mit dem roten Krimwein, schaltete das TV-Programm durch, um sich abzu lenken, und ging dann in das Zimmer, das man ihm angewiesen hatte. — Die aus den USA importierte Klimaanlage hatte es auf angenehme zwanzig Grad heruntergekühlt. Angekleidet legte er sich hin. Er würde ohnehin nicht schlafen können. Später hörte er Schritte draußen. Jemand klopfte und radebrechte auf englisch: „Senator! Sir!" „Was gibt's?" „Alles in Ordnung bei Ihnen?" „Warum nicht?" „Es geht nur um Ihre Sicherheit." „Die ist offenbar nicht gefährdet." „Danke, Sir." „Okay", sagte Urban, stand auf und trat auf den Balkon. Abgesehen von fernem Wetterleuchten war es draußen still wie in Goethes Gedicht. Als er wieder hereinkam, sah er, daß der kost bare Vorhang aus Tüll und Spitze an einer Stelle feucht und beschlagen war. Die Stelle, oval und apfelgroß, lag in Stirnhöhe. - Das konnte nur durch den heißen Atem eines Mannes entstanden sein. Urban riß den Vorhang beiseite. 99
Da stand einer. Er legte den Finger senkrecht an die Lippen. - Eine Bitte, zu schweigen. Dieser Mann, das sah Urban sofort, war durch die Hölle gegangen und durch nichts mehr zu erschüttern. Sie blickten sich lange stumm an, bis der andere erleichtert zu lächeln schien. „Guten Abend", flüsterte er. „Wer sind Sie?" fragte Urban. „Ich frage auch nicht, wer Sie sind." „Das dürfte Ihnen bekannt sein." „Okay — Senator." Er betonte das Wort Senator auf sonderbare Weise. „Sie sind Amerikaner. Das riecht man, trotz Ihrer Muschik-Klamotten und des Drecks." Urban dämpfte das Licht, damit es am Fenster keinen Schatten warf. Dann deutete er nach links. „Der Schrank ist ein Versteck für alle Fälle. Aber das Badezimmer hat ein Fenster zum Dach, Colonel Trapper." Um nichts von der blitzsauberen Einrichtung zu beschmutzen, bewegte Trapper sich kaum von der Stelle. „Sie wissen also . . . Senator?" „Nein, wissen kann ich gar nichts. Wir hörten nur dies und das und stellten Kombinationen an. Wo kommen Sie her?" „Die anderen sind alle tot." „Sie meinen die, die nicht das Brandmal auf der Stirn hatten." „Zwölf Mann." „Sie fanden sie?" „Man brachte mich zur Festung Kimisklut. Dort traf ich andere Überlebende. Wir tauschten unsere Kenntnisse aus, und ich weiß nun alles über die Todeszone." 100
Urban legte sich wieder aufs Bett und steckte sich eine Zigarette von Wallaces Marke an. Colonel Trapper verzichtete lieber und erzählte. Urban stellte Zwischenfragen, ließ ihm aber im wesentlichen freien Lauf. „Die Russen dachten, ich wäre mit den anderen in der Iljuschin verbrannt. Ich versteckte mich im leeren Tank eines Benzintransporters. Von Kurgan aus schlug ich mich weiter durch. Ich spreche ja einigermaßen Russisch." Trapper hatte sich einen Bart wachsen lassen und war kaum von einem sibirischen Landarbeiter zu unterscheiden. „Arbeitskarte, Permit und Voucher beschaffte ich mir ebenfalls." „Sie beklauten einen Russen." „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, Sir. Und da es sich nicht um die wahre Liebe dreht, müssen wir uns wohl im Krieg befinden." „Wir sind hier", gestand Urban, „das heißt, diese ganze Reise wurde nur organisiert, um irgendwie Kontakt mit euch aufzunehmen. Und wenn das nicht möglich ist, dann zumindest, um dem Geheimnis der Todeszone auf die Spur zu kommen." „Letzteres dürfte unmöglich geworden sein", sagte der Colonel, „nach dem was ich hörte." Urban fürchtete das Schlimmste, fragte aber trotzdem. „Was hört man?" „Die Offiziere des Wachpersonals sprachen bei offenem Fenster darüber, daß eine Frau, die einen Hubschrauber entwendet hat, südlich der Todes zone vom Himmel geholt wurde. Es handle sich dabei um die Begleiterin des Senators, die wahr 101
scheinlich eine CIA-Agentin ist. Man brachte sie nach Moskau zum Verhör." Urban hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, aber nicht mit dem Allerschlimmsten. In Moskau verfügten sie über hochsensible Verhörmethoden. Florence würde ihnen nicht lange widerstehen. Dann ging es auch ihm an den Kragen. Seine Stunden waren gezählt. Natürlich würde man ihn nicht offiziell als Agenten enttarnen, man würde jeden Skandal vermeiden. Man würde sagen, es hätte einen Unfall gegeben. Und im Westen würde man klugerweise keine Nachforschungen anstellen, Schließlich hatte man den Russen einen BNDAgenten als Senator untergejubelt. - Nur, wie lebte der echte Wallace dann weiter? Wahrschein lich würde er eine neue Identität bekommen . . . „Wie fanden Sie mich?" fragte Urban. „Es steht in allen Zeitungen, daß Senator Wal lace Westsibirien besucht. Heute ist Weekend. Man bringt einen Mann wie Sie nicht in irgendeinem Hotel unter, sondern hier oben in den Bonzendat schas. Es war schwer, aber nicht unlösbar für einen alten Indianer." „Haben Sie Hunger, Colonel?" „Es geht." „Ich werde etwas besorgen." Urban telefonierte und ließ Sandwiches und Bier bringen. — Als der Diener kam, verschwand Trap per im Schrank. Der Russe schaute sich auffällig lange um. „Alles in Ordnung, Senator?" „Ich denke schon." Dann ging er wieder. Trapper sättigte sich an den belegten Broten. „Fast wie bei uns zu Hause." „Nur das Bier ist besser als in den USA", sagte 102
Urban. „Ich weiß nicht, Colonel, wie lange wir noch zusammenbleiben können und ob Sie je lebend aus diesem Land herauskommen. Deshalb muß ich wissen, was Sie über die Todeszone in Erfahrung brachten." „Es ist nicht allein mein Verdienst." „Nun gut, es ist Ihres und das der anderen Agenten." Trapper legte das angebissene Sandwich weg, ging zur Toilette, kam zurück und lehnte sich gegen die Wand. „In der Todeszone ist alles unterirdisch verbun kert. " „Was?" „Forschungsstätten, Fabrikationsstätten für die Prototypen, das neue Atomkraftwerk, das so lei stungsfähig ist, daß es Moskau und Kiew mit Energie versorgen könnte." „Was bauen sie?"
„Zehntausend Mann forschen daran", eröffnete
Trapper ihm. „Zehntausend Wissenschaftler und vierzehntausend Ingenieure, Techniker und Mechaniker schrauben es zusammen." Urban reagierte bestürzt. „Der brennende Tank, das brennende Flugzeug, das brennende Schiff", erwähnte er. „Todeslaser", nannte Trapper es beim Namen. „Die Russen sind uns auf diesem Gebiet ungefähr zwei Generationen voraus." Er nannte eine Formel. „Das bedeutet, ihr Röntgen-Chemie-Laser ist um eine Zehnerpotenz wirksamer als unserer, benötigt jedoch um eine Zehnerpotenz weniger an Energie." Urban kannte ungefähr den Stand der USForschung auf diesem Gebiet. „Um einen alten Aluminiumtank auf eine Meile Distanz mit gebündelter Lichtenergie zu zerbeulen, 103
benötigen wir im Westen noch die Tagesleistung mehrerer Kraftwerke, konzentriert auf eine Milli sekunde." „Das schaffen die Russen bereits mit einem Tornistergerät." „Unglaublich." „Und mit dem Zweimann-Gerät knacken sie Panzer." „Und mit dem fahrbaren Gerät?" „Mit dem schweren Gerät auf Selbstfahrlafette putzen sie jeden Bomber und jede Interkontinen talrakete vom Himmel." „Und Flugzeugträger vom Ozean." „Allerdings gehen einige Fische dabei mit drauf, Senator." Urban erfuhr Einzelheiten. Alles was der Colonel von seinen Mitgefangenen erfahren, analysiert und gesammelt hatte. „Das ist die berühmte Abrüstungspolitik der Russen. Sie hatten immer Recht mit Ihrem Miß trauen, Senator." „Himmel und Hölle", Urban fluchte auf Te xanisch, „Hegen meist dicht beisammen." „Stellen Sie sich nicht so an", sagte Trapper. „Mir brauchen Sie nichts vorzumachen — Se nator." „Was soll ich Ihnen nicht vormachen, Colonel?" „Es interessiert mich wenig", sagte der Colonel, „aber verschwenden wir nicht unsere Kräfte, um uns etwas vorzumachen. Konzentrieren wir sie lieber auf unsere Freiheit." „Freiheit", erwiderte Urban. „Die gibt es doch gar nicht, Mann." „Waren Sie schon mal eingebunkert in der Steppe mit der Aussicht, langsam zu krepieren, Senator?" 104
„Wenn jemand behauptet", entgegnete Urban, der dies alles längst hinter sich hatte, „ein Tag, in Freiheit gelebt, sei besser als hundert Jahre in Gefangenschaft, dann — so leid es mir tut — lügt er oder ist ein Fanatiker. Wir kommen weder mit Lügen noch mit Fanatismus weiter. Was wir wis sen — Sie und ich, Colonel -, muß auf irgendeine Weise nach draußen. Egal wie, aber es muß." „Sie", glaubte der Colonel, „haben die besseren Chancen, Senator." „Noch." „Ein Rennen gegen die Zeit." Wieviel Zeit bleibt mir, bis man Florence Ohara nach Moskau gebracht und dort auseinanderge nommen hat, fragte sich Urban, und überlegte auch, wie das Problem mit Trapper zu lösen sei. Im selben Moment summte das Zimmertelefon. Der Wachhabende des Prominentenviertels rief an. „Senator", sagte er. „Bitte schließen Sie sofort alle Fenster und Türen. Die Alarmanlage wird eingeschaltet. Nach unseren Erkenntnissen ist ein Terrorist in das Gelände eingedrungen. Meiden Sie die Fenster und löschen Sie alle Lampen." „Ab wann?" „In sechzig Sekunden", sagte der Wachhabende. Trapper hatte mitgehört und nickte. „Meine Chance, Senator, ist gegen Ihre tausend zu eins. Ich haue jetzt ab. Noch fünfzig Sekunden." Trapper griff sich ein Sandwich und die Flasche mit dem Bier. Urban löschte das Licht. Trapper wollte durch die Balkontür hinaus und über das Spalier und die Arkaden, dann an der Dachrinne entlang nach unten. So wie er hereinge kommen war. Doch im Park flammten Scheinwer 105
fer auf und erhellten ihn, daß sogar die Käfer sich verkrochen. „Es geht nur auf der Bergseite", befürchtete Urban. Im Badezimmer turnte der Colonel aus dem schmalen Dachfenster. Alles Gute. Okay. So long. Viel Glück! Urban legte sich wieder hin.
Jetzt geht's los, dachte er. Während er angestrengt über eine Lösung seines Problems knobelte, hörte er in der Ferne erst Hundegebell, dann Lautsprecher, dann Schüsse.
Wahrscheinlich hatten sie den Colonel erwischt. Hoffentlich, dachte Urban, war er so schlau, die verräterischen Sandwiches den Hunden hinzuwer fen . . . 14. Zuerst ging man psychologisch vor. Sie nahmen Florence Ohara alles ab, was ihr lieb und teuer war. Die Perlen, den Diamantring, die kostbare Cartier-Uhr, die sie sich von ihrer ersten TausendDollar-Gage gekauft hatte. „Das sehen Sie niemals wieder", hatte man ihr erklärt. Dann mußte sie sich entkleiden. Sie trennte sich von ihrem Ives-St.Laurant-Modell, von den seide nen Dessous, bis sie nackt dastand. Um sie zu demütigen, wurde die Prozedur nicht von weibli chem Lubjanka-Personal überwacht, sondern von männlichen KGB-Beamten.
„Und jetzt entlausen", lautete der Befehl. Kopf und Schamhaar bekamen eine Dusche aus DDT-Pulver. 106
„Haare runter. Alle." Ihre platinsilbernen Wellaform-Locken fielen einer elektrischen Schere zum Opfer. Vor dem Spiegel sitzend, hielt sie die Augen geschlossen. Als sie sie öffnete, mußte sie sich beherrschen, um nicht in einen Weinkrampf zu verfallen. Dann kam sie in ein heißes Bad, in dem man eine scharfe grüne Schmierseife aufgelöst hatte. Danach zog man ihr ein sackartiges Gebilde von Kleid an. Sie war müde und wollte nichts wie schlafen, auch wenn sie ausgeschlafen ihre Lage nur noch kritischer beurteilen würde. Sie kam nicht in eine der üblichen Zellen mit Spind und Pritsche, sondern in einen rundum weiß gekachelten Raum, eine Art Badekabine, die grell beleuchtet war. Sie kroch in eine Ecke und versuchte, die Augen vor dem Licht zu schützen. Es wurde heiß wie in einer Sauna. Es gab kein Wasser, kein WC, dafür überlaute Musik. Sie hämmerte aus verdeckten Lautspre chern russische Revolutionslieder, ohrenbetäubend und ohne Unterbrechung. Florence Ohara wußte, was danach kam. Man hatte es ihr auf der Agentenschule erläutert. Das alles war erst die Vorstufe. Sie wurde auf das eingestellt, was man mit ihr tun würde. Einmal am Tag bekam sie Tee. Der Tee schmeckte bitter. Danach fühlte sie sich wie ein Hund bei Gewitter. Man hatte dem Tee eine Angstdroge untergemischt. Auch für solche Situationen pflegten Geheim dienste ihre Agenten vorzubereiten. Sie lehrten sie 107
Mentaltraining, die Kunst, abzuschalten, an etwas anderes zu denken. Doch die Verfasser all dieser Theorien hatten noch nie eine Stunde in einem Moskauer KGBGefängnis der neuesten Generation verbracht.
Die Verhöre begannen.
„Name?" Florence Ohara lehnte sich in dem bequemen Sessel zurück. — Alles war anders, als man es ihr geschildert hatte. Kein kahler Raum, keine blen denden Scheinwerfer, auch keine schneidende Stimme eines Verhörroboters. - Es war eher ein elegantes Büro, mit Teppichen und holzgetäfelten Wänden. Hinter dem Schreibtisch hing ein Ölbild. Nicht das des großen Partei Vorsitzenden, sondern eines von Anna Pawlowa, der Göttin des Tanzes. „Meinen Namen kennen Sie doch wohl." Der junge; fast sympathische Offizier hakte eine Position ab. „Florence Jackie Ohara. Wie alt?" „Dreiundzwanzig oder so. Weiß es nicht genau." „Wie bitte? Dreiundzwanzig?" „Dreiundzwanzig kommt nach zweiundzwan zig", sagte sie rotzig. In einer Bewegung, die sie noch von früher an sich hatte, schüttelte sie das nicht mehr vorhan dene Haar zurück. „Ich bedauere das", sagte der scharf beobach tende Offizier. „Geben Sie mir lieber Zahnpasta", forderte sie. 108
Der Offizier tat, als notierte er eilfertig ihre Wünsche. „Sie sind CIA-Agentin", stellte er fest. „Ich habe einmal eine CIA-Agentin gespielt."
„Na also." „Im Film. — Ich habe aber auch schon eine KGBAgentin gespielt. - Im Film." „In der Tat", sagte der Russe, „aber leider ziemlich schlecht." „Ich vertiefte mich in die Rolle so gut es ging." „So gut wie in die der CIA-Agentin, Madame?" „ Dieser Job", gestand sie, „wäre mir zu schwierig." „Es gibt nichts Geheimnisvolles an diesem Beruf, Madame", sagte der Russe, „wenn man aus der Branche kommt." „Okay, dann ist mir der Beruf eben zu idiotisch." Der junge Offizier steckte sich eine Papirossa an und qualmte zur Decke. „Was verdienen Sie an einem Film?" „Mein Kurs steht bei einer halben Million Dollar." Der Russe lächelte. „Sie lügen. - Für den letzten Film bekamen Sie nur die Hälfte davon." „Aber für meinen nächsten werde ich eine Mil lion kassieren. Was glauben Sie, was ich in Holly wood wert sein werde, wenn man erfährt, daß ich Gefangene der Gestapo war — oder wie das bei Ihnen heißt." „Fraglich", bemerkte der Russe. „Ich werde die Million bekommen." „Fraglich, ob Sie jemals noch vor einer Kamera stehen werden, Madame", präzisierte der Russe. „Im übrigen behauptet man, daß Sie eine Luxusli mousine fuhren, deren Tank innen vergoldet war." 109
Sie lachte. „Da sind Sie nur teilweise unterrichtet, Sir", entgegnete sie. „Unsere Autos drüben haben keine innen vergoldeten Tanks mehr, die sind total out. Jetzt fahren alle Wagen mit Platin im Auspuff. Platin ist wertvoller als Gold. Wir nennen das Katalysator. Katalysator ist ein Begriff aus dem Umweltschutz. Ein Wort, das wohl nicht ins Russi sche übersetzbar ist, weil es in Ihrer Sprache noch nicht existiert."
Wieder hakte der Offizier eine Frage ab. Aber es war noch immer die erste Seite eines Stapels, der aussah, als bestehe er aus hundert Blättern. „So kommen wir nicht weiter", bedauerte der Offizier. „Die Qualität jeder Antwort hängt von der Qualität der Frage ab", stellte die Ohara klar. „Madame, wir meinen es nur gut mit Ihnen." „Zu gut. Wirklich. Ich bin kahlgeschoren, ent laust, schlafe auf Betonboden, bekomme zweimal am Tag Haferpamp und Tee mit Wahrheitsdrogen. Ich bin Ihnen zu allergrößtem Dank verpflichtet. Wenn Sie mir nun noch erklären, wozu das alles gut sein soll, dann kennt meine Begeisterung keine Grenzen." Der Offizier telefonierte. — Danach schwieg er, mindestens fünf Minuten lang, bis die Tür aufging. Sie schoben einen Mann herein. Er mochte um die Vierzig sein, sah aber aus wie ein Gefangener, den man nach der alten Methode verhört hatte. Er wirkte geschunden, gequält und gefoltert. Die Schulter hatte einen durchbluteten Verband mit Eiterrändern. Der Mann stand nur mit Mühe gerade auf eigenen Beinen. 110
„Kennen Sie diesen Burschen?"
„Nein."
„Kennen Sie diese Frau, Gefangener?"
„Nein", äußerte der Gefangene mühsam.
Er wurde wieder abgeführt.
Florence Ohara war diesem Mann nie begegnet.
Aber sie kannte sein Foto. Sie erinnerte sich genau: Das ist Lt. Colonel William Trapper, hatten sie ihr gesagt, für den Fall, daß Sie ihn in der UdSSR treffen. Das Verhör ging weiter. Sie reagierte jetzt weniger konzentriert und weniger vorsichtig. Sie wußte, daß das die Wirkung war, die man mit der Gegenüberstellung hatte hervorrufen wollen. Der Anblick des Colonel hatte sie geschockt. Sie bemühte sich krampfhaft, das jammervolle Bild dieses Menschen zu vergessen und zu verdrän gen. Doch daran wiederum hinderte sie die Chemi kalie, die man ihr durch den Tee einflößte. Sie hatte zwar versucht, so wenig wie möglich zu trinken, aber wenn ein Mensch etwas tun mußte, um am Leben zu bleiben, dann war es atmen und trinken. „Woher kennen Sie Senator Wallace?" lautete die nächste Frage.
„Er ist mein Onkel." „Sie sind nicht verwandt mit ihm." „Er war der Freund meines Vaters und versprach beim Tod meiner Eltern, sich meiner anzunehmen. Ich war damals . . . " „Zwanzig", ergänzte der Russe. „Und heute sind Sie seine Geliebte." „Dann wissen Sie mehr als ich." „Dieses Geheimnis werden wir auch bald lösen, Gnädigste. Und wenn es stimmt, was wir vermu 111
ten, dann haben wir einen unvorstellbaren Trumpf in der Hand." „Freuen Sie sich bloß nicht zu früh, Haupt mann.« „Wo haben Sie das Fliegen eines Hubschraubers gelernt?" „In Kalifornien." „Nicht etwa im Ausbildungscamp der CIA in South Carolina?" „Ich war mal in einem Pfadfindercamp in Colo rado." „Sie sind eine Frau wie ein Eisberg. Wir werden Sie schmelzen, Madame." „Worauf warten Sie denn noch? Fangen Sie an!" „Warum flogen Sie in die Todeszone?" Mit Zufall wollte sie sich nicht herausreden. „Ich wußte, daß sich dort geheime Anlagen befinden. Das interessierte mich." „Von wem wußten Sie das?" „Von Freunden." „Nein, Sie wußten es, weil Sie Agentin sind." „ Oft weiß ein guter Reporter mehr als ein riesiger Geheimdienstapparat." „Sie sind keine Reporterin, Madame." „Ich kenne genug Journalisten bei Zeitungen." „Die Fotos hätten Sie also für teures Geld an die Presse verkauft, he?" „Ebensogut könnte man Schuhkartons und ein Windrädchen in einem Sandspielkasten fotogra fieren." „Sind Sie so dumm, Madame, oder wissen Sie nicht, daß das, was Sie taten, unter Umständen zu einem Krieg führen kann?" „Nur", erwiderte sie, „wenn Sie da unten in der Todeszone etwas zu verbergen haben. Im übrigen sind Kriege idiotisch. — Es sterben immer nur die 112
ganz prima Jungens. Sie müssen sich totschießen lassen, damit andere so weiterleben können wie vorher. Und jetzt möchte ich bitte eine Zigarette." „Bedaure." „Dann muß ich aufs Klo." „Bedaure."
Sie saß da und lächelte. „Ihr Verhalten und was Sie mir vorwerfen, Hauptmann, beweist doch nur die Schwäche Ihres lächerlichen Systems und Ihres Polizeistaates auf das Eindrucksvollste. — Okay, von jetzt ab sage ich kein Wort mehr." Sie blieb dabei. Sie konnten machen, was sie wollten, Florence Ohara hielt es tagelang durch. Wieder stellten sie ihr Colonel Trapper gegen über. Sie schwieg, auch als sie draußen am Korri dor wüste Beschimpfungen hörte, Schläge, Tritte, seine Schmerzensschreie, sein Stöhnen, und sein Röcheln. - Nichts schien Wirkung auf sie auszu üben.
Florence Ohara wurde an eine hochkomplizierte Elektronik angeschlossen. Die Geräte maßen ihre Gehirnströme wie ein Lügendetektor, nur hundertmal empfindlicher. Man beklebte ihren Körper und den Kopf mit Sensoren, die alle Fragen beantworteten, auch wenn ihr Mund schwieg. Die Antworten bestanden aus den wechselnden Werten des Blutdrucks, des Pulses, der Atmung, der Hautfeuchtigkeit, der Gehirnströme und des Körpermagnetismus. Das Ergebnis befriedigte die KGB-Leute jedoch nicht. 113
Psychologen versuchten es mit Drohungen, aber auch mit Lockungen. Man zeigte ihr Fotos und Filme über Folterungen barbarischer Art, ver sprach ihr aber andererseits eine Weltkarriere als Schauspielerin, wenn sie aussagte und für den KGB arbeitete. Ein Wechselbad der Gefühle. „Sie hat eine Sperre aufgebaut", erklärten die Mediziner das Schweigen. „Das hat man ihr bei der CIA beigebracht." „Ist das erwiesen?" „Es ist höchste Wahrscheinlichkeit." „Aber nicht unbedingt die Erklärung. Es gibt Menschen, die können das von sich aus. Sie sind in der Lage, so gigantische Trotzreaktionen aufzu bauen, daß sie lieber unter Schmerzen krepieren, als von ihrem Trotz abzurücken. „Sie würde sich also eher umbringen lassen, als ein Wort zu sagen." „Richtig." Die Experten besprachen den Fall und kamen zu dem Schluß, daß es nur noch eine Chance gab, diese Festung zu knacken. Mit Samanta. „Samanta!" rief der Chefpsychologe entsetzt. „Bloß nicht diese Hexe." Der zuständige KGB-Oberst wunderte sich. „Sie hielten alles, was je mit Samanta zu tun hatte, stets für höheren Blödsinn. Warum, Genosse Professor?" „Ich halte es nach wie vor sogar für allerhöch sten Blödsinn", gestand der Wissenschaftler, „auch wenn man PSI inzwischen an unseren Universitä ten lehrt." „Aber wenn es kernen anderen Weg gibt, könnte man es doch mit Samanta versuchen." „Vertane Zeit." „Und angenommen, Samanta hätte Erfolg?" 114
„Was ich bezweifle." „Seien Sie nicht so stur, Leonid. Mal angenom men, Samanta käme bei dieser Gefangenen zum Ziel." „Selbst dann würde ich das Ergebnis für faulen Zauber halten", betonte der Psychologieprofessor. „Und Samanta für eine ausgekochte Betrügerin." In diesem Punkt war Professor Leonid unbeirr bar. Er gehörte zu den wenigen Skeptikern, die Samanta nicht als das begnadetste Medium auf dem Gebiet der Parapsychologie anerkannten. Die große Samanta, die schon mit Gottvater, Josef Stalin, und Adolf Hitler im Jenseits telefo niert hatte. 15.
Wie jeden Dienstag trat in Washington der Sicher heitsrat zusammen. Wie immer traf man sich im kleinen Konferenzraum des Weißen Hauses, Konfi II genannt. Um den ovalen Tisch versammelt waren heute der CIA-Chef, der Verteidigungsminister, der Stabschef des Präsidenten, der Secretary of State, mehrere Generäle und der Vorsitzende des Vertei digungsausschusses, Senator Wallace. Dem Verhalten der Generäle war zu entnehmen, daß sie dabei waren, einen Krieg zu verlieren. Keines der üblichen Scherzworte eröffnete die Runde. Es herrschte betretenes Schweigen. Verhal tenes Räuspern, mitunter ein Seufzer waren die vorherrschenden Geräusche. Der grippekranke Präsident wurde durch den Vizepräsidenten vertreten. Er stürzte herein, setzte sich und rief: 115
„Bitte, Gentlemen!" Alle blickten den Senator an. Der begann zögernd, aber in seiner deutlichen, beim Wählervolk beliebten Sprache die Lage zu schildern. In kurzen Zügen erwähnte er die bei der letzten Sitzung geäußerten Zweifel an der echten Abrü stungsbereitschaft der UdSSR. Dann kam er zu seinem Plan, den er mit dem Pentagon-Chef ausge kocht hatte. Dies mit Zustimmung der CIA, die in Rußland ihre besten Agenten verloren hatte. „Wir haben den Spitzenmann der NATOGeheimdienste für unseren Plan gewonnen. Er sitzt nun als Senator Wallace in Rußland und kommt von Stunde zu Stunde mehr in die Klemme." Der Vizepräsident stützte sein Kinn auf. „Mußte das denn sein?" „Wir hatten keine andere Wahl, Sir." „Hatte er denn Chancen auf einen Erfolg?" „Die hat er noch, Sir." „Mir scheint, er hat eher Chancen für ein riesiges Desaster. Man stelle sich vor, seine Begleiterin wird als CIA-Agentin entlarvt, und sie gibt preis, daß der angebliche Senator ein BND-Agent ist. Nicht auszudenken! Die Folgen sind einfach nicht vorstellbar, Gentlemen." Der Senator wagte eine Erwiderung. „Dann wird man auch die Russen fragen müssen, warum der angeblich tote Colonel Trapper noch am Leben ist." „Und was unter der Todeszone gebaut wird", ergänzte der Pentagon-Chef. Der zweite Mann im Staate winkte ab. „Gentlemen, ist das alles nicht ein Trugschluß? Niemand außer uns weiß, daß Colonel Trapper noch lebt und was passiert ist. Man wird für 116
Trappers Tod, ebenso wie für den von Florence Ohara und diesem BND-Agenten, eine plausible Erklärung bieten. Dann können wir behaupten, was wir wollen. Man wird uns nicht glauben." „Es sei denn, die drei kommen lebend aus der UdSSR heraus." „Besteht dafür überhaupt die geringste Aus sicht?" Der Chef der CIA war angesprochen. Er legte seinen goldenen Kugelschreiber hin und schüttelte nur den Kopf.. „Ich sehe keinen Weg, Sir." „Nur Sie oder auch alle zehntausend Mann Ihres Dienstes?" „Meine besten Leute arbeiten Tag und Nacht daran. Es besteht noch eine winzige Möglichkeit, diesen Urban alias Senator Wallace herauszuholen. Aber nur, wenn uns die Aussage von Florence Ohara nicht dazwischenfunkt. - Es kann sich nur noch um Stunden handeln, dann haben die Russen sie soweit. Sie ist eine Frau, und der KGB ist, was Verhöre betrifft, der erfahrenste Geheimdienstap parat der Welt. Besser noch als der der Chinesen." „Verdammt, dann holt diesen Urban in den Westen. Er ist unser größtes Risiko. Wenn er enttarnt wird, wie stehen wir dann da?" „Er soll wissen, was in der Todeszone los ist", sagte Wallace. „Er sprach mit der Botschaft. Von da habe ich es." „Dann holt ihn sofort heraus." „Er ist gerade von Westsibirien unterwegs nach Moskau." „Holt ihn heraus!" forderte der Vizepräsident der USA erneut. „Gern, wenn er bereit ist, die Ohara und Trapper im Stich zu lassen." 117
„Dieser Urban ist doch ein Profi und kein guter alter Kamerad, der das Leben anderer Profis höher einschätzt als den Erfolg eines Unternehmens. Oder?" Die Konferenz dauerte bis zum Mittag. Sie wuchs sich zu einem Brainstorming aus, wo jeder seine Ideen zu einer Lösung einbringen durfte. Aber es gab keine vernünftigere, als die, den BNDAgenten in den nächsten Stunden in den Westen zurückzuholen. Noch galt Urban in Moskau als US-Senator, und man würde nicht wagen, ihn anzutasten. - Es war ein Rennen gegen die Uhr. Der Vizepräsident erneuerte noch einmal seine Forderung: „Holt diesen Burschen aus der Kälte." Noch ehe der zweite Mann der USA die Konfe renz beendete, eilte der Außenminister zum Te lefon. Als Senator Wallace nach der Sitzung das Weiße Haus verließ, vergaß er nicht, seine Anwesenheit in den USA mit Hut und Brille zu tarnen.
Um 22.00 Uhr Moskauer Ortszeit holte der ameri kanische Botschafter Senator Wallace am Flug platz Domodjedowo ab. Der Senator kam mit einer Linienmaschine von Swerdlowsk. Man hatte ein Erster-Klasse-Abteil für ihn reserviert gehabt. Die sowjetischen Begleiter versuchten, den Sena tor in eine der wartenden SIL-Panzerlimousinen abzudrängen. Der Botschafter erkannte die Gefahr, eilte auf den Senator zu und umarmte ihn. „Wallace, mein Freund, kommen Sie. Fahren wir erst einmal zu mir." 118
Die russischen Begleiter wollten den Senator umstimmen. Seine Hotelsuite sei bereit, die Presse konferenz anberaumt. Sie drängten und schubsten, aber der Senator brachte es fertig, im Lincoln des Botschafters Platz zu nehmen. Der Botschafter ließ die Scheiben hochfahren und betätigte die Tür sperren. „Jetzt sind Sie erst einmal in Sicherheit, Se nator. " „Soll ich Ihnen danken, Exzellenz?" „Das überlasse ich Ihnen", sagte der höchste Diplomat der USA in Rußland. „Hören Sie erst zu, was ich Ihnen zu berichten habe." Urban schaute sich um. „Die Russen haben Richtmikrofone, Exzellenz." „Diesen Wagen umgibt ein Mikrowellennetz, das in ihren Empfängern immer nur ein Lied ertönen läßt: Glory, glory, halleluja! - Bin froh, daß Sie endlich hier sind." „Was ist geschehen?" fragte Urban. „Man hat mich in den letzten Tagen praktisch isoliert." „Ich erfuhr aus Washington", berichtete der Botschafter, „daß Florence Ohara in KGB-Haft pausenlos verhört wird." „Das war anzunehmen nach dieser Dummheit, die sie beging." „Und Sie konnten sie nicht davon abhalten?" „Eine Frau", reagierte Urban verwundert, „die sich etwas in den Kopf gesetzt hat? Wer vermag das. - Sie wurde in Washington programmiert und hat hier nur das Programm abgespult. Fragen Sie die Programmierer, ob es eine Dummheit war, und nicht mich." „Ich bin lediglich der Übermittler", erklärte der Botschafter, „nicht der Kommentator. Auch Colo nel Trapper soll hier sein." 119
„Dann spielt man die beiden gegeneinander aus." „Und Sie wird man zum Schluß als Joker ins Spiel bringen." Daß der Botschafter all diese Dinge wußte, wunderte Urban nicht. Auch nicht der Weg, den die Informationen nahmen. Irgendwie gelangten sie aus dem KGB-Bereich heraus in die USA, und von dort wieder nach Moskau. Umwege waren oft die kürzesten. - Nur, was Urban zu hören bekam, das schmetterte ihn nieder. „Was wissen Sie?" fragte der Botschafter. „Alles, was Trapper weiß. Trapper hat das Konzentrat aus den Ermittlungen der zwölf toten Agenten." „Und was weiß Florence Ohara?" Urban schwieg lange. Erst als sie auf dem neuen Zubringer den Majakovskiplatz erreicht hatten, sagte er: „Florence Ohara weiß das, was Sie vermuten, Exzellenz." „Sie meinen, was man mir tunlichst verschweigt, damit ich als Diplomat nicht in Gewissenskon flikte komme." „Genau das, Exzellenz." „O Gott!" stöhnte der Botschafter, „Senator, Senator. . , wer kam bloß auf diese Wahnsinns idee?" „Senator Wallace", antwortete Urban und lachte bitter. Es blieb sein letztes Lachen für lange Zeit. „Wenn die Ohara aussagt", faßte der Botschafter zusammen, „dann ist es aus für Sie." „Keine Bange, der KGB schafft das", bemerkte Urban bitter. „Dann ist es aus, für die Ohara, für Senator Wallace, für Colonel Trapper und für unsere 120
Glaubwürdigkeit. Die ist dann ebenso erschüttert wie die der Russen." „Okay, wir haben sie hinters Licht geführt wie sie uns", warf Urban ein. „Jeder führt den anderen hinters Licht. Das ist Politik, Nur ist immer derjenige der Buhmann, gegen den man zuerst die Beweise liefert, des halb . .." Der Lincoln fuhr nun den Smolenski-Boulevard hinunter Richtung Moskwabrücke und US-Bot schaft. Hinter ihnen rollte eine lange Wagenko lonne. Urban konnte sich vorstellen, wer darin saß. KGB-Agenten, Polizei, Fotografen, Journalisten. „Deshalb", machte der Botschafter weiter, „bringe ich Sie jetzt in die Embassy. Dort sind Sie erst einmal sicher. Das ist exterritoriales Gebiet. Dann müssen Sie so schnell wie möglich raus aus diesem Land. In den Westen. Geplant ist die Zwischenlandung einer PanAm-Maschine. Es könnte klappen. Morgen sind Sie in München." „Und Florence Ohara und Trapper?" „Die haben ihren Auftrag erledigt. In Washing ton besteht kein Bedarf mehr für sie. Hauptsache, die Russen können nicht nachweisen, daß man ihnen an Stelle eines US-Senators einen .. . na, Sie wissen schon .. . untergeschoben hat." Urban schaute auf seine Rolex. Noch ein paar Stunden, hatte man ihm gesagt. Aber was geschah, wenn der KGB schon in dieser Minute die Wahrheit aus der Ohara herausholte? Wie würden die Russen dann reagieren? Würden sie seinen CD-Status dann noch aner kennen? Oder würde der LincoIn des Botschafters auf dem Weg zum Internationalen Flughafen in einen Unfall verwickelt, der den Moskauer Behör den das Recht gab, die Verletzten in eines ihrer 121
Hospitäler zu bringen? — Dann hatten sie ihn unweigerlich. Urban fürchtete, daß es so laufen würde, wenn Florence Ohara ihr Schweigen brach. „Ich glaube", gestand der Botschafter, „wir haben heute beide eine schlaflose Nacht." „Nicht nur wir", schränkte Urban ein. Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte nervös. Der grauhaarige Diplomat Öffnete die im Lincoln eingebaute Bar und goß Bourbon ein. „Manchmal hilft er. - Cheers!" „Ja, manchmal macht er das Leben erträgli cher", sagte Urban. „Aber die ganze Sache war beschissen von Anfang an." Der Wagen bremste bei Rotlicht. Urban ver schüttete einige Tropfen des Bourbon auf seinen eleganten Kamelhaarmantel. 16. Der KGB-Verantwortliche für Florence Ohara, telefonierte von seinem Büro aus. Er sprach mit dem fernen Kasachstan und befahl ihnen, Samanta ausfindig zu machen. „Sie ist nicht bei ihrer Familie, sondern auf einer Tournee", hieß es. „Dann sucht sie über Rundfunk, mit der Polizei, mit der Armee", forderte Moskau. „Entweder sie ist binnen einem Tag hier, oder ich trete euch alle persönlich in den Hintern." Sie versprachen, alles zu tun, und der Mann in Moskau sagte, das Sonderflugzeug sei bereits un terwegs. Dann warteten sie. 122
Der Chefpsychologe des KGB hielt nach wie vor nichts von dem Versuch. „Sie ist eine einfache Bäuerin aus Gurjew am Kaspischen Meer, die hie und da Erscheinungen oder Erleuchtungen hat." „Hatten Sie jemals Erleuchtungen, Professor?" fragte der KGB-Mann. „Wozu? Ich habe studiert." „Samanta hat nicht studiert, aber sie hat Erscheinungen. Hätte man sie auf eine Schule geschickt und auf eine Universität, dann wäre sie eine weitere überflüssige Psychologin geworden. So aber hat sie nur Erscheinungen, und das kann man nicht erlernen." Professor Leonid lächelte über soviel Einfalt. „Da unten in der Steppe haben eine Menge Leute solche Visionen. Das machen die Hitze, die über steigerte Phantasie oder exorbitant starke sexuelle Wallungen." Der KGB-Offizier, der in das Medium Samanta seine letzte Hoffnung setzte, endlich weiterzukom men, sagte: „Sie und Ihre Experten kamen jedenfalls nicht ans Ziel." „Auch Samanta wird es nicht erzwingen können." „Probieren wir es einmal mit ihr." „Nun, wenn es Ihnen die Mühe wert ist, Oberst." „Vergessen wir Samantas Erfolge nicht." Der Professor winkte ab. „Fauler Zauber, Scharlatanerei, Humbug." „Sie wählte unter Hunderten von Apfelbaumsa men einen aus. Wir pflanzten ihn ein und nahmen das Bäumchen mit auf unsere Weltraumstation. Sie sagte vorher, wie viele Äpfel es tragen würde." 123
„Das war möglicherweise am Blütenansatz zu erkennen." „Sie sah das Bäumchen niemals." „Es gibt Erfahrungswerte bei bestimmten Apfel sorten und Bäumen, die man aus Kernen heran züchtet." „Hat sie nun die Zahl der Äpfel erraten oder nicht, Genosse Leonid?" „Na schön, sie hat sie erraten. - Zufällig", schränkte der Wissenschaftler ein. Der KGB-Oberst ließ nicht locker. „Und wie war es mit dem Wurf Katzen auf unserer Südpolstation? Sie strich nur einmal der Mutter übers Fell. Man brachte die Katze in die Antarktis. Samanta sagte vorher, wann sie werfen würde und wie viele Katzen und Kater." Wieder machte der Psychologe seine Einschrän kungen. „Katzen können keine beliebige Anzahl von Jungen kriegen. Maximal vier bis sechs. Und nach bestimmten biologischen Gesetzen, die gerade Naturkindern wie Samanta zur Genüge bekannt sind, ist das Verhältnis meist zwei zu eins. Zwei Katzen, ein Kater, oder umgekehrt." „Wir fanden das erstaunlich", erklärte der KGBOffizier. „Und ich finde es so erstaunlich wie den Umstand, daß eine Wettervorhersage zufällig ein mal zutrifft. Stets ist die Chance der Meteorologen fünfzig zu fünfzig. Und das ohne Computer, Meß stationen und komplizierte Berechnung. Das Wet ter ist entweder gut oder schlecht." „Sie sind ein ewiger Zweifler, Genosse Pro fessor. " „Ich wurde von sogenannten Medien schon zu oft enttäuscht", gestand der KGB-Psychologe. 124
„Und wie war das mit der Filmprojektion in Leningrad?" erinnerte der KGB-Mann. „Ach, Sie meinen, als man einem Medium in Leningrad einen Film vorführte und Samanta in Kiew erriet, welcher Film es war." „Nein, ich meine den schwierigeren Test, als man Samanta einen Film zeigte und sie aufforderte, den Film in ihrem Gehirn so ablaufen zu lassen, daß das Medium in tausend Kilometer Entfernung wußte, welcher Film das war." „Und was war es für ein Film?" fragte der Psychologe herablassend. „Peter der Große." „Und was erriet das andere Medium?" „Peter der Große." „Es war der größte Film des Jahres damals. Und mithin naheliegend." Sie gingen auseinander und trafen sich am Morgen wieder, weil der KGB-Oberst einen Anruf aus Astrachan erhalten hatte. „Sie ist unterwegs", berichtete er dem Professor. „Jetzt werden wir ja sehen, ob sie in der Lage ist, das denkwürdige Kerinsky-Psychogramm zu wie derholen." Der Professor hatte nur ein Kopfschütteln dafür übrig. „Beziehen Sie sich auf dieses Telefongespräch, das sie wiedergeben konnte, obwohl es in einem anderen Haus, in einer anderen Straße geführt wurde und sie nur die Telefondrähte berührte?"
„Samanta kann durch Handauflegen Gedanken lesen." „Das kann ich auch", erwiderte Leonid. „Samanta kann es auch ohne Handauflegen." „Ein Trick, den ich Ihnen gern vormache." „Und warum, zum Teufel, Professor, kommen 125
Sie dann bei dieser amerikanischen Schauspielerin nicht weiter?" „Weil ich nicht so haßlich und so fett bin, wie Samanta", witzelte der Psychologe. „Sie können soviel Magermilch, wie Sie wollen, in Quark ver rühren, es wird niemals Sahne daraus werden." Damit bei der Sache nichts schiefging und der Psychologe das Medium von Anfang an im Griff hatte, sagte der Oberst nach einem Blick auf die Uhr: „Die Maschine wird in wenigen Stunden landen. Ich schlage vor, Sie fahren hinaus nach Domodje dowo, Professor, und nehmen Samanta persönlich in Empfang." „Ich werde Samanta, falls Sie es wünschen, sogar küssen", höhnte der Psychologe, „damit sie den Eindruck hat, wir seien ihre Freunde." „Ich wünsche nur eines", forderte der KGBMann: Daß Sie Samanta so auf ihre Aufgabe vorbereiten, daß ich binnen einem Tag meinen Vorgesetzten melden kann, was es mit dieser Dreierbande auf sich hat. Mit Madame Ohara, Colonel Trapper und Senator Wallace."
Eine spezielle Fesselung sollte Florence Ohara daran hindern, daß sie Selbstmord beging, indem sie sich die Pulsadern oder die Schlagader aufriß. Nun entfernte man diese Fesseln und brachte sie in eine warme Zweipersonenzelle. Auf der linken Pritsche saß eine behäbige, bäu risch wirkende Frau im Drillichkleid der Gefange nen und mit dem üblichen Kopftuch. Sie saß da, starrte vor sich hin und schien erst 126
nach einiger Zeit ihre neue Mitgefangene wahrzu nehmen. Eine Stunde mochte vergangen sein, als Florence Ohara fragte:
„Hast du Tee?" Die Frau deutete auf die Blechkanne. Wieder verging lange Zeit. „Hat man dich zu mir gelegt, damit du mich aushorchst?" fragte die Russin. „Oder umgekehrt." „Ich bin seit sieben Monaten hier und warte auf meinen Prozeß." „Aber du sprichst Englisch." „Ich bin Englischlehrerin in Gurjew, vielmehr ich war Englischlehrerin in Gurjew." Samanta hatte Englisch auf ihren Vortragsreisen in den. Westen gelernt, wo man sie an allen möglichen Instituten für Parapsychologie vorge führt hatte. „Und warum bist du hier?" erkundigte Florence sich. „Die Männer", erzählte Samanta. „Den einen begehrte ich, der andere wollte mich haben, aber ich nicht ihn. Ich bekam den anderen, den ich begehrte. Dafür nahm der Abgewiesene Rache. Er zeigte mich an; ich würde es mit einem Terroristen und Konterrevolutionär treiben. — Zugegeben, mein Liebhaber verdiente sich mit Schmuggeleien ein wenig Zubrot. Als Fischer brachte er dies und jenes über den See nach Persien, oder von Persien in die Union. Der andere ist Parteimitglied. Ihm glaubt man mehr. Jetzt sitze ich hier, und sie glauben, ich wüßte etwas über den Terrorismus in Kasachstan." Sie fragte nicht, was man der Amerikanerin vorwarf. 127
„Ein Dieb zu sein", sagte die Amerikanerin, „ist schön und gut. Aber ein internationaler Dieb zu sein ist schöner, besser und einträglicher. Wenn man erwischt wird, kostet es ein und dieselbe Strafe." Samanta betrachtete Florences Hände. „Man hatte sie dir bandagiert." „Ich habe versucht, mir die Pulsadern zu öffnen. Es war aber nicht ernst zu nehmen." „Hier endete schon manches Leben durch Selbstmord, Tochter", flüsterte Samanta. „Manchmal bist du eben verzweifelt." „Wie erträgst du das, mein Täubchen?" staunte die Russin. „Dieser KGB-Folterknecht, wie ich ihn hasse. Gegen ihn waren Stalin und Hitler zwei Männer von wahrer Herzensgüte." „Wen meinst du?" „Jokotschow."
„Kenne ich nicht." „Du wirst ihn noch kennenlernen", prophezeite Samanta. „Dann kannst du nur noch dein Herz ins WC werfen und dreimal ziehen." Samanta fragte nicht, was ihre Zellengefährtin verbrochen hatte und wer sie sei. Sie wußte es, aber sie versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem sie nichts fragte. Und Florence begann von sich aus zu erzählen. Von Amerika, von ihrem Beruf, von ihrer Reise mit Senator Wallace. Sie erzählte nur, was der KGB schon wußte. In diesem Punkt blieb sie vorsichtig. „Dann standest du bisher auf der Sonnenseite des Lebens", stellte die Russin fest. „Nun, man kann sagen, beim Football war ich immer diejenige, die den Ball hatte." „O diese wunderbaren amerikanischen Aus 128
drücke", schwärmte die Russin, „sie klingen so kraftvoll." „Aber dieses hier ist ein Land des Mißtrauens", jammerte die Ohara. „Es gibt eben Menschen, die betrachten die Sonne nur, um Flecken darauf zu entdecken", pflichtete die Russin ihr bei. „Man kann nie vorsichtig genug sein." „Heutzutage ist besondere Vorsicht vonnöten. Du kannst nichts anderes machen, als sie zu lernen, mein Täubchen." „Ich war zu offen, zu gutgläubig, allen gegen über", sagte die Amerikanerin. „Gesundes Miß trauen kann nie enttäuscht werden." Daran hielt sie sich, denn sie traute der mütter lich wirkenden Russin nicht. Bald wurde es Nacht, doch sie fand keinen Schlaf. Mit der Dunkelheit kam die Angst, der Wunsch zu reden und sich mitzuteilen. „Du kennst dieses Gefängnis", setzte sie einmal an. „Glaubst du, man könnte sich freikaufen?" „Kommt darauf an, was du ihnen wert bist, mein Täubchen." „Wie hoch sind die Preise?" „Eine Million für einen General", schätzte die Russin, „zwei Millionen für einen Präsidenten, doch wieviel erst für eine so schöne Amerikanerin wie du. Warst du einmal blond, mein Täubchen?" „Ich bin es noch." „Alle, die jemals lebend hier herauskamen, waren grau wie Großmütter." „Eher sterbe ich." „Im Laufe der Jahre gewöhnt man sich daran", sagte die Russin. Wort für Wort schlich sich in das Gehirn von Florence. 129
Sie redeten die ganze Nacht. Immer wieder schlief die Amerikanerin ein. Sie sprach weiter, auch wenn sie schlief, denn sie hatte schwere Träume. Dann erwachte sie wieder. Sie sprachen vom Leben, vom Tod, von Männern und von der Liebe. Einmal fragte Samanta: „Wallace, wer ist das?" Florence Ohara schilderte ihr, wer der Senator war, Und während sie von ihm erzählte, hatte das Medium Samanta die erste Vision. „Er ist ein Mann von außerordentlich starker Persönlichkeit", sagte die Amerikanerin. „Ein schöner Mann?" „Männlich." „Du liebst ihn, mein Täubchen?" „Ich bewundere ihn, ich verehre ihn . . ." „Du liebst ihn. Ihr habt vieles gemeinsam." „Ja, vieles, fast alles." „Er ist älter als du?" „Keine unüberwindbare Anzahl von Jahren." Gegen Morgen hatte Samanta, das Medium, die zweite Vision. Als die Wärterin eine Kanne Tee, Brot und Margarine hereinschob, fragte Samanta die Wärterin: „Keinen Zucker heute?" Das war das Stichwort. „Für dich taugt auch Sacharin, du alte Vettel." Eine Stunde später wurde Samanta abgeholt. — Zum Verhör, wie es hieß.
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Wie in Trance zeichnete das Medium Samanta auf, was sie in den Stunden mit der Amerikanerin empfunden, an Visionen gesehen und was sie gespürt hatte. „Fiel das Wort Wallace?" fragte man sie. „Ja, Senator Wallace." „Mach für Wallace einfach einen Kreis, Sa manta." Sie malte ihn hin. „Und für das amerikanische Mädchen ein Kreuz." Rechts auf dem Papier war der Kreis, links das Kreuz. „Was hast du gesehen, Samanta?" fragte der Chefpsychologe des KGB mehr neugierig als wirk lich interessiert. Samantas Hand schien zu zittern. Sie hatte etwas gesehen und malte es blind hin. Ein Fünfeck. Sie legte den Kugelschreiber nicht weg, sondern malte noch ein weiteres Fünfeck. Also je eines unter das Kreuz und eines unter den Kreis. Dann schien sie zu erwachen. Sie starrte auf ihre Malerei und war zufrieden. „Was ist das?" fragte Professor Leonid. „Ist es unser roter Stern?" „Nein, ein Gebäude", sagte Samanta, das Medium. „Ich sah es. Ich sah es, weil die Amerika nerin ständig daran dachte. Sie dachte an den Mann, dachte an sich und an ein Ding mit fünf Ecken." „Ein Fünfeck", erkannte der Professor. „Ein Pentagon." Das Verteidigungsministerium der USA war auf einem fünfeckigen Grundriß errichtet. Das wußte hier jeder. „Wo ist dieses Fünfeck?" 131
„Sehr weit weg."
„In Amerika?"
Samanta nickte.
Wenn daraus zu schließen war, daß Wallace für
das Pentagon arbeitete, was den Tatsachen ent sprach, dann arbeitete also auch Florence Ohara für das Pentagon. „Was sahst du noch?" drängte der Professor. Inzwischen war der KGB-Oberst hinzugekom men. Er verhielt sich still und schaute Samanta über die Schulter. Ab und zu schenkte er ihr einen aufmunternden Blick. Samantas Hand begann wieder zu vibrieren. Nun zeichnete sie unter den Kreis etwas, das wie eine Kamera aussah. „Völlig klar", kommentierte Professor Leonid, „die Amerikanerin erzählt von Hollywood. Sie können das Band abhören, Oberst." „Das habe ich bereits." Samanta zeichnete noch dies und jenes, und wieder vibrierten ihre Hände. Jetzt schloß sie die Augen. Hinter den Kreis, der Senator Wallace bezeich nete, malte sie zwei parallel laufende Stäbe, oben mit halbrunden Verdickungen. „Was ist das?" flüsterte der Oberst.
„Streichhölzer."
„Wallace und Streichhölzer. Was kann das be
deuten?" Sie warteten, bis Samanta aus der Trance erwachte. Dann fragte der Professor, indem er auf die zwei Stäbe deutete: „Streichhölzer?"
„N-nein."
„Was dann?"
„Türme."
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„Türme wie Streichhölzer?" Samanta nickte und blieb dabei, daß die Ameri kanerin einmal, als von Liebe zu einem Mann die Rede war, diese Türme ihr Inneres projiziert habe. Sie holten einen Experten, der längere Zeit in Washington tätig gewesen war. Er hatte Türme dieser Art weder in Washington, noch sonst irgendwo in den USA gesehen. Wieder wurde Samanta befragt. „Türme einer Burg, eines Schlosses?" „Einer Kirche", meinte sie nach langem Nach fühlen. „In einer Stadt?" „In einer Stadt. Und ich sehe Wallace in dieser Stadt. Er hat mit der Stadt zu tun." „Aber er hat auch mit dem Fünfeck zu tun." „Das ist eine andere Sache." „Oder ein anderer Wallace", bemerkte der KGBOberst. „Wenn das zutrifft, was wir vermuten, dann würde ich sagen, sieht es miserabel aus für unsere Freunde im Wilden Westen." Sie waren noch nicht in der Lage, die Türme zu bestimmen oder sie einer Stadt zuzuordnen, aber sie fertigten eine Phantasiezeichnung an, machten Fotokopien davon und verteilten sie an die zustän digen Referate. Wenige Stunden später lagen einige Ergebnisse vor. Die Analysen gingen von Trommelschlägern bis zu Pfeffermühlen und Kartoffelstampfern. Einer hielt es für Motorventile, ein anderer für Felstürme in den Dolomiten. Nur ein Fachmann des Referates II/West hatte eine ausgefallene Idee. „Was halten Sie davon?" fragte der Oberst den Chef Psychologen. „Die Türme der Frauenkirche in München", las 133
der Professor vom Notizblatt. „Was hat Wallace in München zu tun?"
Wieder hakte er bei Samanta nach. Sie bestätigte ihre Vision. Unter zehn Stadtan sichten, die man ihr als Fotos vorlegte, zog sie mit nachtwandlerischer Sicherheit das Panorama von München heraus. „Was ist in München?" forschte der Psycho loge. „Zu München fällt mir nur eines ein", erklärte der Oberst. „Bundesnachrichtendienst, Pullach, Zentrale." Professor Leonid schrieb die Abkürzung hin.
„ Sagen dir die drei Buchstaben etwas, Sa manta?" „Das ist nicht kyrillisch."
„Hast du das jemals gesehen? Ich meine als Vision. Be-en-de?" Sie wiederholte leise. „Be-en-de, ja, das habe ich gesehen." „Wo?" Sie deutete auf ihren Kopf. „Gestern nacht." Der Oberst packte seine Sachen zusammen. „Völlig klar. Es gibt zwei Wallace. Der eine arbeitet mit dem Pentagon, der andere mit dem Bundesnachrichtendienst zusammen. Der echte hält sich versteckt, der falsche spielt seine Rolle. Kein Zweifel." „Und kein Beweis", dämpfte der Professor die allgemeine Freude. „Den", erklärte der KGB-Oberst, „den holen wir uns jetzt." „Danke, Samanta." Immer noch hielt der Profes sor alles für Zufall. Trotzdem äußerte er seine 134
Anerkennung: „Sie sind ein erstaunliches Medium, Samanta. Haben Sie einen Wunsch?" „Ich möchte wieder nach Hause", sagte sie. 17. Washington rief über die abhörsichere Leitung bei der Botschaft in Moskau an. Die Stimme des Secretary of State klang nach Katastrophe. „Die Situation ist eingetreten", berichtete er. „Kam soeben über Langley Headquarters von unserem Vertrauensmann beim KGB." „Ist über ihn eine Rettung möglich?" fragte der Botschafter. „Dazu müßten wir ihn opfern. Doch dafür ist er uns zu wertvoll." „Was weiß der KGB?" „Alles", bestätigte Washington. „Daß die Ohara CIA-Agentin ist, daß es zwei Wallaces gibt, und daß einer davon. . . nun, aus Hinweisen auf Mün chen und den BND zogen sie ihre Schlüsse. Wir sind im Augenblick völlig ratlos. Eine Lawine rollt auf uns zu. Wir wissen nicht, was wir tun können." Die Gespräche wurden stets so kurz wie möglich gehalten, denn die Russen verfügten neuerdings über japanische Computer, die jede Zerhackerein stellung binnen weniger Minuten entschlüsselten. Der Botschafter legte auf. Urban nahm die Muschel, über die er mitgehört hatte, vom Ohr. Der Botschafter war völlig außer sich. „Was nun?" „Die Russen wissen offenbar alles." „Verlassen Sie sofort die UdSSR. Solange man Sie nicht hat, besitzt man keine endgültigen Beweise." 135
„Und die armen zwei Schweine, die Ohara und Trapper?" „Die sind längst abgeschrieben. Aber angenom men, man ortet Wallace in Washington und schnappt Sie, dann fliegt das Doppelspiel auf," „Das der Russen bei der Abrüstung aber auch", wandte Urban ein. „Junge", fragte der im diplomatischen Dienst grau und weise gewordene alte Herr, „wollen Sie sich etwa opfern?" Nichts lag Urban ferner. „Nein. Aber ich möchte noch etwas versuchen. Darf ich telefonieren, Exzellenz?" „Wohin Sie wollen. Aber bloß nicht zu Ihrem Hauptquartier nach München. Gehen Sie davon aus, daß jedes Wort aufgezeichnet und übersetzt wird." „Ich bin Profi, Exzellenz", erinnerte Urban. Er hatte die Nummer im Kopf. Die internatio nale Vorwahl für Italien war 0039, dann Stresa, ohne die Null, dann den Hausanschluß. „Don Vito Catanese, bitte", sagte er zu dem Diener.
„Wen darf ich melden?" „Nipote Roberto." „Don Vito ruft zurück, Signor Dottore." „Unmöglich. Sagen Sie ihm, es sei lebenswichtig. Ich melde mich wieder. In einer Stunde." Urban legte auf und wartete. „Was bedeutet Nipote?" fragte der Botschafter. „Neffe." „Und wer ist Don Catanese?" „Der oberste Herr über Mafia und Camorra." „Und Sie sind sein Neffe?" „Nur symbolisch." 136
„Die Russen haben auch Übersetzer, die Italie nisch können." „Keine Sorge", sagte Urban. „Wir unterhalten uns in einem sizilianischen Dialekt, den so schnell keiner versteht." „Und was werden Sie ihm erzählen?" „Ich habe nur eine Bitte an ihn", erläuterte Urban. „Eine Bitte an Don Vito bleibt niemals unerfüllt. Aber man steht danach in seiner Schuld. Das bedeutet eine Gegenleistung." „Ein Scheck in die Zukunft also." „Den ich gerne ausstelle, wenn er mir hilft." „Ein Mafioso, ein Verbrecher, Ihnen helfen?" zweifelte der Diplomat. „Angesichts der in die Millionen gehenden Massenmorde für Recht und Freiheit in der Welt, ist die Mafia eine geradezu moralische Anstalt. Aber sparen wir uns diese Nummer, Exzellenz." Obwohl der Raum nicht abgehört wurde, senkte Urban die Stimme. „In der UdSSR", erklärte er weiter, „gibt es vier Kräfte. Die Partei, die Armee, den Geheimdienst und die Unterwelt. Ob Sie es glauben oder nicht, die russische Mafia existiert und ist so einflußreich wie die Cosa Nostra in den USA. Sie hat ein unsichtba res Netz über die Union gezogen, hat Behörden unterwandert, mischt überall mit, hat alles in der Hand und unter Kontrolle. Vor Jahren geriet ich hier in allergrößte Schwierigkeiten. Nicht einmal Breschnew konnte mir damals helfen. Aber die Mafia konnte es." (Siehe MD 556 »Im rosa Schatten der Venus«) „Ihr Wort in Gottes Ohr."
Der Botschafter verließ, als Urban noch einmal
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in Italien anrief, den Raum. Er wollte nicht Zeuge sein von Dingen, die er als Diplomat auf das schärfste mißbilligte.
Der alte Mafia-König war am Telefon und wach und hell wie damals vor fünfzig Jahren, als er seinem Clan die Vorherrschaft erkämpft hatte. Urban verwendete jenes Italienisch, das man in den Cantinas rund um Corleone in den Bergen Siziliens sprach. Don Catanese hatte sofort kapiert und umgeschaltet. Er verstand auch Urbans ein wenig verklausulierte Sprechweise. „Wir erwähnten das letzte Mal den Kronschatz Carols." „Den unauffindbaren." „Die Hälfte davon ist immer noch in Italien." „Und wo, mein Freund?" „Nahe dem Ort, den wir alle kennen, soll es einen Tempel geben. Hoch auf einem Berg. Er war nicht Poseidon gewidmet, aber seinem römi schen Pendant. Dort sollte man mit der Suche beginnen." „Und was möchtest du dafür, mio caro nipote?" „Holt mich hier raus. Mich, eine Frau namens Florence Ohara und einen Mann namens Trapper." „Von wo?" „Moskau. KGB-Gefängnis, die alte Lubjanka." „Das wird so schwierig wie die Spaltung des Atomkerns." „Auch dieses Problem wurde gelöst. Probleme haben euch immer beflügelt. Naturalmente ist es nicht wie Spaghetti kochen und Sugo zubereiten, aber es ist eine Herausforderung." Urban fürchtete schon, er müsse ihn noch stär 138
ker motivieren. Aber Don Vito hatte alles mitbe kommen. Nun lief der übliche Abspann. „Ich tue was ich kann." „Ich wäre in deiner ewigen Schuld, Onkel." „Nein, ich bin in deiner Schuld." „Es bleibt dabei, daß ich mich in deiner Schuld fühle, plus Zinsen.« „Ich werde dich nicht verkommen lassen, mein Junge", versprach der Mafiaboß. Als Urban das Gespräch beendet hatte, kam der Botschafter wieder in sein Arbeitszimmer. Urban setzte ihn unscharf ins Bild. „Und Sie glauben, das nützt etwas, Com mander?" „Ganovenehre übertrifft Mannesehre, Exzellenz." „Ich weiß von nichts, nichts, nichts." „Sie sind mich bald los, Exzellenz", versicherte Urban, „nur einen Anruf noch." Urban sprach mit jener Moskauer KGB-Dienst stelle, die den Fall bearbeitete. Dabei vermied er, seine Freunde beim KGB in die Sache hineinzuzie hen. Sie hätten ihm vielleicht geholfen, sich dabei aber selbst diskriminiert. Also sprach er mit Leuten, die die Sache in der Hand hatten, die er aber nicht persönlich kannte. Er stellte nur eine Forderung: „Ich möchte Florence Ohara und Lieutenant Colonel Trapper sprechen", forderte er. „Wer sind Sie?" „Senator Tom Joe Wallace." Damit hatten die Russen offenbar nicht so schnell gerechnet. „Wir erwarten Sie, Senator." „Wo?" „ Im Hauptquartier DzerzhinskyStraße", sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Ich schätze, Sie wissen, wo das ist - Senator Wallace." 139
„Und ich hoffe, Ihre Gefangenen sind in guter Verfassung." „Aber ja, Senator." „Ich werde Sie von ihrer Unschuld überzeugen." „Wir freuen uns auf ein Gespräch mit Ihnen, Senator", versicherte der Russe überfreundlich. Urban nahm seinen Kamelhaarmantel und den Hut. - Das Aussehen des Senators behielt er bei. Der Botschafter brachte ihn bis zum Foyer. „Sie gehen da einen schweren Gang, Oberst Urban", sagte er leise. „Schön", erwiderte Urban, „wieder einmal sei nen richtigen Namen zu hören, Exzellenz." Vor der Botschaft wartete eine Limousine des KGB auf ihn.
Sie empfingen Senator Wallace beim KGB nicht wie einen amerikanischen Politiker, sondern wie einen hochgeachteten Gegner. Fast untertänig half man ihm aus seinem Mantel. Urban fürchtete, ihn nie mehr wiederzusehen. Dann kam ein Russe, der ihn nach Waffen abta stete. Doch er unterließ es, den Magnetsensor zu benutzen. „Wenn etwas", sagte er, „Ihnen als Ruf voraus geht, Sir, dann ist es der, daß Sie nie eine Waffe verwenden." „Sie haben Ihre Lektion prima gelernt", bemerkte Urban. Man brachte ihn ins Büro jenes Offiziers, der die Operation Ohara leitete. Er hatte den Rang eines Oberst. Sie kannten sich nicht, hatten sich nie gesehen. Der Oberst verhielt sich so höflich wie beim 140
Besuch eines hohen Offiziers, auch wenn er zur Gegenseite gehörte. „Tee, Senator?" „Haben Sie auch Bourbon?" „Aber ja. Zigarre?" „Sie wissen doch", bemerkte Urban süffisant, „daß ich Zigarettenraucher bin," Aus der nächsten Bemerkung des Russen ging hervor, daß sie längst Bescheid wußten. „Ich verfüge leider nicht über Ihre Marke Monte Christo, Egyptian-Blend mit Goldmundstück, Se nator." „Sparen Sie sich den Senator." „Ich bewundere Ihren Mut", gestand der KGBOffizier. „Ich möchte jetzt die beiden Gefangenen spre chen." „Außerdem bewundere ich Ihre Opferbereit schaft. Sie tun etwas, das im Grunde nicht nötig ist." „Weil Sie schon alles wissen?" „Daß Madame Ohara CIA-Agentin ist, ebenso Colonel Trapper, der im Transural spionieren sollte, und daß Sie, Senator. . ." Urban hob leicht die Hand. „Ich weiß selbst, wer ich bin, Oberst." „Haben Sie eine Vorstellung davon, was wir in den letzten zehn Jahren aufwendeten, um Sie hierherzubringen?" „Mühe", faßte Urban es in ein einziges Wort. „Und nun sind Sie da."
„Da staunen Sie." Der KGB-Oberst wirkte unsicher. „Ich begreife es immer noch nicht. Was führen Sie im Schilde, Commander Urban?" 141
„Ich möchte nur mit Ihnen und Ihren Gefange nen reden." „Letzteres wird man nicht gestatten." Urban schaute auf die Uhr. „Wirklich nicht?" „Niemals." „Was für ein fürchterlich endgültiges Wort, dieses niemals." Offenbar wußte der Oberst nicht recht, wie er den Besucher behandeln sollte. Klar war nur, daß sie ihn zerlegen würden, bis nur noch Staub von ihm vorhanden war. Dann ging das Telefon. Der Oberst nahm das, was er hörte, bestürzt zur Kenntnis. Er legte auf und steckte sich nervös eine Papirossa an. Er kniff den Pappfilter dreimal ein, gab sich Feuer und machte ein paar Züge, die ihm offenbar nicht schmeckten. „Schlechte Nachrichten?" fragte Urban, schein bar besorgt. Der Oberst drückte die Zigarette aus. „Sie sind für uns hier eben eine Nummer zu groß." „Das heißt doch, Sie sind eine Nummer zu klein." „Der Fall wurde uns soeben aus der Hand genommen." „Schade", spottete Urban. „Sie fingen gerade an, mir sympathisch zu werden, Oberst." „Sie werden verlegt", sagte der Oberst. „Ich weiß nicht wohin. - Befehl vom Chef." „Doch der Segen kommt von oben", zitierte Urban. „Wie bitte?" „Schiller", sagte Urban. „Die Glocke." Der Oberst verstand das ebensowenig wie die 142
Anordnung, daß die zwei Gefangenen und der Senator sofort per Sonderflugzeug nach Leningrad zu bringen seien. 18. Don Vito Catanese hatte die Angelegenheit nicht dem Telefon anvertraut. Er bemühte seine Funk station im Kampanile neben seinem Palazzo. Über frequenzcodierte Kurzwelle erreichte er nahezu jeden Punkt der Erde, egal wo er lag. Sei es in Sizilien, in den USA, in Asien oder in Südamerika. Zweifellos war die Kontaktaufnahme mit den einflußreichen Clans in Nah- und Fernost schwie rig. Aber er bekam die Verbindung. Als er seine Wünsche angemeldet hatte, ging es eigentlich nur noch um Dollar und Cent. „Wenn Politiker, Diplomaten und Geheimdien ste, kurz: die großen Strategen, am Ende sind", sagte er zu seinem russischen Geschäftspartner, „treten wir in Aktion." „Die fünfte Kolonne", sagte der Russe. „Das ist der Grund, warum man uns am Leben läßt", erklärte Don Catanese. Er setzte seinen Partner, den er „Figlio" nannte, ins Bild. Figlio erwähnte die Schwierigkeiten. Doch Don Vito beharrte darauf, daß es durchaus in Figlios Macht stand, etwas zu tun. „Handelt schnell", sagte er, „im Sinne von sofort." „Sind diese Personen so wichtig?" „Zumindest einer von ihnen. Ich möchte ihn nicht unbedingt einen V-Mann zwischen Unterwelt und Oberwelt nennen, aber durch unser Zusam menwirken wurden schon Kriege verhindert." 143
„Wer ist dieser Mann?"
„Sie nennen ihn Dynamit." „Robert Urban, den kenne ich", sagte der Russe. „Man muß etwas für ihn tun. Jeder Krieg ist tausendmal dreckiger als alles, was Leute wie wir jemals an Dreck hinterließen. Kriege zerstören alles. Auch unsere Geschäfte. Urban hat es immer wieder verstanden, Brände zu löschen, Man muß also etwas für ihn tun." Dann ging das Feilschen los, denn ihre Moral war am besten in Dollar ausdrückbar. Don Vito erstellte einen Plan. Der Russe verfeinerte ihn und paßte ihn seinen Möglichkeiten und seinem Einfluß auf gewisse Kreise von Regierung und Armee an. „Wir versuchen etwas", versprach er. „Nein, nicht versuchen. Tut es!" „Na schön, wir tun es."
„Dann sei Gott mit euch." „Und auch mit dir, Don Vito." Dabei handelte es sich nicht um eine hohle Phrase. Sie alle waren gläubige Katholiken, gingen jeden Sonntag zur Kirche und legten dort brav ihre Beichte ab.
In der Solistengarderobe des Bolschoiballetts in Moskau ging das Telefon. Die Garderobiere nahm ab. Ein Mann wollte die Primaballerina assoluta sprechen. „Wen darf ich melden?" fragte die Garderobiere des Stars. „Ihren Onkel." Die Garderobiere legte die Hand auf den Hörer. „Dein Onkel, Tamara. Seit wann hast du einen Onkel?" 144
Tamara erbleichte unter der Schminke, ließ sich aber verbinden. Immerhin hatte der Onkel ihren Karriereweg geebnet. Sie meldete sich. Daraufhin begrüßte sie der Anrufer mit freundli chen Worten, lobte ihre Schönheit und ihre Lei stung in der neuen Abraxas-Aufführung und kam dann zur Sache. „Wo ist der Minister?" Tamara schickte die Garderobiere mit einem Wink hinaus. Dann erst antwortete sie. „In seinem Büro." „Richte ihm etwas aus, Tamara." „Wir haben heute schon miteinander telefo niert", wandte sie ein. „Und die ganze Nacht miteinander geschlafen", ergänzte der Onkel. „Das interessiert mich nicht, Tamara. Ruf ihn sofort an und bestell ihm folgendes: Wir haben einen Wunsch bei ihm offen. Es geht um den Transport von drei Personen." Der Anrufer drückte sich klar und deutlich aus. „Hast du verstanden, Tamara, Liebling? Sag ihm das wortwörtlich, und niemand wird jemals von seiner Affaire mit dir und von seinen Millionen auf den Nummernkonten in der Schweiz erfahren. Danke, Tamara. Liebling. Wir halten unsere Hände wie immer über dich." Der Mann, der sich Tamaras Onkel nannte, legte auf, und Tamara rief den Minister an. In der Telefonzentrale des Ministeriums kannte man sie. Sie gehörte zu den wenigen Personen, denen es gestattet war, immer und jederzeit das vielbeschäftigte und mächtige Politbüromitglied zu sprechen.
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Im Zentrum von Moskau, nahe der Tscherni schevski Straße, betrat ein Mann den Laden eines Uhrmachers. Das Geschäft lag im Souterrain eines renovierten Hauses und war nur wenige Quadratmeter groß. Der Meister verkaufte vorwiegend gebrauchte Uhren, die er vorher in seiner winzigen Werkstatt überholt hatte. Jetzt kam er heraus wie ein Fuchs aus seinem Loch und schob die Brille zur Stirn, Der Kunde, ein Bursche mit schiefem Gesicht, musterte das schmale Kerlchen von Uhrmacher, „Du bist Turgew?" „Ja, ich bin Turgew." „Mein Name tut nichts zur Sache", sagte der Kunde, „und der Name des Mannes, der mich schickt, auch nicht. Du sollst das da für uns machen." Er legte etwas in Papier Gewickeltes auf den Verkaufstisch. Der Uhrmacher holte es heraus und betrachtete es. „Ein Schlüssel." „Nachfertigen", wünschte der Kunde. Der Uhrmacher betrachtete den Schlüssel mit der Lupe. „Schwierig. Das neueste Modell. Das kann ich nicht, und das darf ich nicht." „Sie nennen dich den Ingenieur", erklärte der Kunde, „den begabtesten Mann mit der Feile. Nachmachen. Ein Stück!" Er hob den Daumen. „Ein Stück!" „Ich habe keinen Rohling", bedauerte der Uhr macher. „Ist ja nur Blech. Drei Millimeter." „Ich habe, ich schwor's, kein passendes Material im Haus." 146
Nun griff der Kunde in die Tasche und legte zwei Münzen auf den Tisch. Eine goldene und eine silberne. Die goldene war ein großer Tscherwonez. „Die goldene für dich, die silberne als Roh ling." Noch zögerte der Uhrmacher. „Oder es geht dir schlecht, Turgew." „Ich werde es versuchen. Bis morgen." Der Kunde schlug mit der Hand auf den Tisch. „Nein, jetzt sofort. Ich warte." Der Uhrmacher wußte, daß er bei diesen Leuten in der Falle saß. Hätte er doch nie diese gestohle nen japanischen Digitaluhren mit Bombenzündern eigener Konstruktion bezahlt. „Das dauert zwei Stunden." „Eine", verlangte der Kunde und streckte wieder den Daumen nach oben. „Eine." Stumm machte der Uhrmacher sich an die Arbeit.
Alexander Piemkin, der es trotz seiner Jugend schon zum Major einer Spezialeinheit der Armee gebracht hatte, verließ seine Datscha, um schwungvoll in das offene Skoda-Cabriolet zu flanken. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau. Sie war nicht gerade ein Ausbund an Schönheit, aber elegant gekleidet. Sie trug Klamotten, die aus dem Westen kamen. Das sah man sofort. „Major Piemkin?" fragte sie mit Unschulds miene. „Wer bist du, Schöne?" „Nur der Postbote", sagte sie und holte aus ihrer 147
Tasche einen steifen, dunkelbraunen Umschlag, wie er allgemein für Dienstpost benutzt wurde. Der Major riß ihn auf und fand darin Banknoten. Als er bemerkte, daß es sich um Dollar handelte, pfiff er erstaunt. „Bin ich vielleicht die falsche Adresse?" „Lies den Brief, Genosse Major." Außer einem kurzen Schrieb fand sich noch etwas Fingerlanges, Schmales, Gezacktes in dem Umschlag. „Warum ich?" fragte der Major erstaunt. „Weil du einem Mann namens Wladimir neun zehntausend Rubel schuldest." „Wladimir, dem Wucherer?" „Wladimir", erwähnte das Mädchen, „ist bekannt dafür, wie er seine Schulden eintreibt. Erst bricht er dir den Arm, dann zerschießt er dein Knie. Abgesehen davon, daß er deine Truppe über deine Weibergeschichten informieren wird, über deine Schulden und dann verbreitet, du wärst ein Westspion, wird er dir irgendwann noch den Schädel einschlagen." Der Major steckte den Umschlag ein. Seine Hand tastete zum Anlasserknopf. „Was habe ich zu tun?" „Das erfährst du noch." „Wo? Auf dem Tennisplatz?" „Du steigst aus, kehrst zurück in deine Wohnung und wartest auf den Anruf." „Ist das alles?" „Ohne dich zu besaufen, Piemkin. Denn mögli cherweise wirst du noch heute nacht dringend gebraucht." Der junge Offizier wußte, daß es schlimm endete, wenn er die Anordnungen nicht befolgte. Er ging 148
also ins Haus zurück, ohne das Mädchen noch eines Blickes zu würdigen. Sie stieg ebenfalls aus und schlenderte die Straße hinunter. An der Ecke wartete eine große Tatra-Limousine. „Geht in Ordnung", meldete sie. Der Mann im Wagen hakte eine Position von seiner Liste ab. „Das war Nummer drei." „Was folgt noch?" „Nicht mehr viel." Sie fuhren nach Moskau hinein.
19. Die Überführung sollte bei Nacht stattfinden. Die Gefangenen wurden in die Kleidung gesteckt, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatten. Allerdings wurden sie gefesselt. Man schloß ihre Handgelenke mit den stählernen Handschellen zusammen. — Dabei handelte es sich um die neuen Titanstahlmodelle, die nicht mehr mit gebogenen Haarnadeln geöffnet werden konnten. — Dann führte man sie getrennt aus den Kellerzellen in den hochummauerten Hof. Dort wartete ein gepanzer ter Gefangenentransportwagen auf sie. In seinem Innern sahen sie sich zum ersten Mal wieder. Sie blickten sich an und sagten kein Wort. Das war auch nicht möglich, denn man hatte ihre Münder mit handbreiten Leukoplaststreifen verklebt, die von der Nase bis zum Kinn und beiderseits bis zu den Ohren verliefen: Bei ihnen im Wagen saß ein Zivilist mit Maschi nenpistole. Dann begann die Fahrt. Sie fuhren 149
durch die nächtliche Stille nach Norden aus der Stadt hinaus. Es begann zu regnen. Dicke Tropfen prasselten auf das Blechdach des dunkelgrünen TschaikaTransporters. Nach etwa fünrundvierzig Minuten hielt der Wagen mehrmals an. Von draußen vernahm man Stimmen und ein aufgeregtes Hin und Her. Offen bar wurden Papiere überprüft. Ein Schlagbaum quietschte. - Die Fahrt ging weiter. Zum nächsten Tor, zur nächsten Kontrolle.
Nach etwa einem Kilometer auf Pflaster rollte der Wagen weich über eine Wiese. Ein harter Bremsruck. Minuten vergingen. In der Ferne heulten Flugzeugturbinen. Endlich wurde der Gefangenentransporter auf gesperrt. Draußen warteten bewaffnete Soldaten. „Aussteigen, Herrschaften!" Es war kalt und windig. Urban sah etwas Hohes, Schwarzes unmittelbar vor sich. — Ein Flugzeug hangar. Im Licht der Tiefstrahler grasten Schafe. Der Regen hatte das Fell der Tiere genäßt. Sie standen bis über die Gelenke im Morast.
„Los, weiter!" Etwa zweihundert Meter entfernt stand ein Flugzeug, ein Oldtimer. Tiefdecker, zweimotorig. Eine Iljuschin, die der DC-3 nachempfunden wor den war. Urban schätzte ihr Alter auf mindestens fünf undvierzig Jahre. Solche Mühlen hatten die Russen schon gegen Ende des Krieges geflogen, und sie benutzten sie immer noch. Im Vergleich zu den modernen Jets waren diese Apparate unverwüst lich. Für zehn Stunden Flugzeit brauchten sie 150
höchstens eine halbe Stunde Wartung. Bei den modernen Jets war es umgekehrt. Die zwei Motoren an der Iljuschin liefen schon, aber so langsam, wie man in Schottland amerika nischen Whisky schlürfte. Beinah konnte man den Propellern zusehen, wie sie sich drehten. Florence auf ihren Stöckelschuhen, Colonel Trapper in seinen Segeltuchlatschen und Urban in seinen Guccislippern stapften durch das nasse, matschige Gras zu der Maschine. Hoch droben im Cockpit saß grinsend der Pilot. Der Oldtimer hatte keine Treppe und keine Gangway. Man hatte eine Kiste hingestellt, um den Einstieg zu ermöglichen. Drinnen wartete ein Mann auf sie. Er sperrte jedem die Handschellen auf, führte sie um eine dicke Aluminiumstange, die an den Spanten fest geschweißt war und ließ sie wieder einrasten. Die Gefangenen hockten auf dem Boden. In der Mitte der Maschine, gegenüber dem Rumpfschott, stand ein grauer Kasten mit Schaltern und einigen Manometern. Urban hielt ihn zunächst für ein Funkgerät. Florence fing an zu husten. Röchelnd rang sie nach Luft. Es hörte sich an, als würde sie unter dem Knebel ersticken. Der KGB-Mann überkam offenbar Mitleid. Er riß ihr das Leukoplast ab, dann auch das von Trapper und Urban. „Kommt eh nicht mehr darauf an", sagte er. „Gute Reise, Genossen." „Wohin?" fragte Urban. „Ins Paradies", sagte der KGB-Mann, sprang ins Freie und schlug von außen das Schott zu. Es dauerte nicht lange, und der Gefangenen transporter fuhr weg. 151
Vom Cockpit her vernahmen sie das Quäken eines Sprechfunkgerätes. Es hörte sich an wie die Startfreigabe. Dann schob der Pilot die Gashebel vor. Die alten Sternmotoren liefen nun ein wenig schneller, etwa so, wie ein durstiger Amerikaner schottischen Whisky trank.
Nach dem Start, als sie bereits flogen und der Pilot das Gas zurücknahm, dröhnte es nicht mehr so stark in der leeren Aluminiumröhre. Sie konnten sich unterhalten. „Ich hörte, Sie hätten Schwierigkeiten gehabt, Colonel", stellte Urban fest. „Nur mit dem KGB", erwiderte Trapper iro nisch. „Wie hoch ging der Pilot, was schätzen Sie?" „Ein kurzer Steigflug. Bestenfalls bis tausend Meter." „Also dreitausend Fuß. Kurs?" Urban beugte sich, soweit die Fesselung es zuließ, nach rechts zum Bulleye hin. „Nordwest würde ich sagen." „Nowgorod?" „Eher Leningrad."
„Was sollen wir dort?" „Gar nichts", fürchtete Urban. „Wie darf ich das verstehen?" Ehe Urban weiterreden konnte, sagte Florence: „Danke, daß du gekommen bist, Bob." „Es hat leider wenig bewirkt." „Man stirbt nicht alleine. Das ist schon was. Oder?" Er überlegte, was er antworten sollte, um ihr zu helfen. Auch wenn es eine Lüge war. 152
„Ich konnte dich eben nicht vergessen, Darling." Sie lächelte verständnisvoll. „Aber eigentlich hast du es nie richtig versucht." „Vielleicht", gestand Urban. Florences Kopftuch hatte sich verschoben. Er sah ihr millimeterkurzes Haar. „Warum machen sie das eigentlich immer?" fragte Trapper. „Es wächst nach", hoffte Florence. „Schoner als es war. Man sagt, es wachse sogar noch im Grab. Die Haare und die Fingernägel." „So lang wie bei einer Katze." Der Colonel wandte sich wieder an Urban. „Was sollen wir bloß in Leningrad oder wo auch immer? Ihr Wissensstand, Senator, ist ein wenig aktueller als der unsere." „Ganz einfach", erklärte Urban ihm. „Noch leben Sie, also kamen Sie nicht um. Wo ergriff man Sie? In der Todeszone. Und wo brachte man Sie hin? Zu den anderen CIA-Agenten. Sie wissen alles, haben eine Menge zu erzählen. Also dürfen Sie niemals in den Westen gelangen." „Das ist mir klar." „Und ich bin nicht Senator Wallace. Damit könnten die Russen wahre Propagandaorgien star ten. Aber wir wissen zu viel. Also sind wir nicht nur überflüssig, sondern eine Gefahr.
„Washington wird die Trommel schlagen", hoffte Trapper. „Welche Trommel? Filmstar in Moskau verhaf tet. Florence Ohara eine CIA-Agentin. US-Senator der Spionage verdächtigt." „Senator Wallace entdeckte den Bau der gehei men S-Waffe in Westsibirien", ergänzte Trapper. „Deshalb bringen sie uns um", sagte Urban. „Sie meinen, diesmal endgültig." 153
„Endgültig und irreparabel. Und auch so, daß es auf einem Inlandflug passiert. Am besten, wir stürzen in einen See oder ein Sumpfgebiet." „Dann gibt es ja nicht mal Fotos von mir", bedauerte Florence. „Und wie werden sie es machen?" überlegte Trapper halblaut. Urban hatte eine ungefähre Vorstellung davon. „Sie werfen uns raus." „Vielleicht lassen sie uns auch drin." Sie schwiegen lange. Jeder mußte erst einmal mit der Situation fertig werden, daß es eine Reise ohne Wiederkehr sein würde. „Und warum, Commander Urban, ließen Sie sich verhaften?" fragte der Colonel. „Ich hatte die Chance, genauso behandelt zu werden wie ihr." „Eine Chance, die zu nichts gut ist." Der Pilot hatte die Drehzahlen der Maschine erhöht. Offenbar ging er in sanften Steigflug. „Was hat er vor?" fragte Trapper. „Will er über die Wolken?" „Ich sehe keine Wolken. Aber eine Stadt." „Kalinin schon?" Urban schaute auf die Uhr. Sie flogen jetzt siebzig Minuten. Wenn die Mühle viel machte, dann zweihundertfünfzig Kilometer in der Stunde. Kalinin mußte längst vorbei sein. Auch lag es zu weit nördlich.
Es mochte auf 2.00 Uhr morgens gehen. Sie hatten seit Moskau wenigstens fünfhundert Kilometer hinter sich gebracht, als vom Cockpit her wieder Sprechfunkverkehr einsetzte. 154
Es dauerte nicht lange, dann verließ der Pilot seinen Sitz und kam zu den Gefangenen in die Kabine. „Ich habe auf Autopilot geschaltet", sagte er. „Ich hoffe nur, daß er auch funktioniert." „Was haben Sie mit uns vor?" fragte Trapper. Urban wußte zumindest, was der Pilot vorhatte, denn zwischen seinen Schultern und dem Gesäß baumelte ein Fallschirmsack. Kein Zweifel, der Pilot würde abspringen und sie allein hier oben zurücklassen. „Das hier", der Pilot deutete auf den grauen Kasten, der etwa so groß wie ein tragbarer Fernse her war, „ist ein automatischer Sprengsatz. Inhalt zehn Kilogramm TNT, gekoppelt mit einem Zün der, einem Primer und einer Auslösevorrichtung. Sie arbeitet zweikreisig mit Zeituhr und Höhen dose. Das heißt, die Uhr ist auf nullzwei Uhr fünfzehn eingestellt, und die Höhendose springt an, wenn das Flugzeug eine Höhe von tausend Fuß unterschreitet. Sie sehen, wir haben vorgesorgt." „Und Sie werden vorher aussteigen", stellte Urban fest. „So ist es, Senator. Ich steige aus, und Sie bleiben da." Der Pilot hakte die Reißleine seines Fallschirms an eine Öse und öffnete die Rumpftür einen Spalt. Die Luft brauste herein, die Motoren brüllten lauter. Der Pilot hob die Hand als Abschiedsgruß, ging leicht in die Knie, um sich in die rabenschwarze Dunkelheit hinauszuschleudern, federte aber noch einmal hoch. So, als wollte er sich für eine Unterlassung entschuldigen, rief er: „Damit ich es nicht vergesse!" 155
Er zog den Handschuh aus, faßte in die Tasche seines Overalls und förderte etwas Fingerlanges zutage. Es war flach, schimmerte metallisch und hatte eine Menge Zacken und Kurven. Der Pilot fummelte den Schlüssel in Urbans Handschellen und sperrte sie auf. Den Schlüssel ließ er stecken. „Erledigen Sie den Rest, Senator. Ich denke, Sie sind hier der kompetenteste Mann an Bord." „Wem haben wir das zu verdanken?" stotterte Trapper mehr als verblüfft. „Keine Fragen bitte", antwortete der Pilot. „Nur gut, daß es mir noch einfiel, fast hätte ich es vergessen." Noch einmal ging er in die Hocke und katapul tierte sich mit Doppelarmzug hinaus. Sofort erfaßte der Luftstrom ihn. Urban schüttelte die Gelenke. Dann befreite er Florence Ohara und Colonel Trapper. „Träume ich?" fragte der CIA-Agent. Sie fielen sich wortlos in die Arme. Dann sagte Urban: „Jetzt räumen wir erst mal die Bombe weg." Sie prüften, ob der Kasten mit dem Flugzeug verschraubt oder verkabelt war. Man hatte ihn aber nur mit Lernen festgezurrt. Sie schoben die Bombe zum Rumpfschott und kippten sie in die Tiefe. Trapper schloß den Ausstieg, und Urban turnte nach vorn ins Cockpit. Der Autopilot hielt die Iljuschin auf Kurs 330 Grad. Die alten Sternmotoren schnurrten wie Näh maschinen. Treibstoff war genug in den Tanks. Urban klemmte sich in den Pilotensitz und nahm den Autopiloten heraus. Dann änderte er behutsam den Kurs um dreißig Grad in Richtung Süd. Plötzlich sah er in der Tiefe einen Blitz aufzuk 156
ken, als hätte man eine späte Fastnachtsrakete gezündet. Sie spürten jedoch weder die Druck welle, noch hörten sie einen Knall. Die Iljuschin zog ruhig dahin. „Das war die Sprengladung", vermutete Trap per. „Zu weit weg." „Also sind wir jetzt tot", ergänzte Urban. „Nach den Trümmern werden sie lange suchen müssen." „Keine Sorge, sie werden sie finden, auch wenn sie nichts finden." Trapper schob sich neben Urban in den Sitz des zweiten Piloten. Florence hatte in einem Segel tuchbeutel eine Thermosflasche entdeckt. Sie ent hielt starken, süßen, noch heißen Tee.
„Über den Finnischen Meerbusen bis Helsinki sind es keine hundert Meilen", sagte Trapper. „Die Finnen liefern uns aus", befürchtete Urban. „Also nach Schweden." „Stockholm", sagte Florence, selig vor Freude und Zuversicht. „Da habe ich mal gedreht." „Durchgedreht", scherzte Urban. „Ein Remake von Königin Christine." „Welche Rolle? - Das Pferd?" fragte Trapper. Sie fanden keine Karte. Aber beide hatten die Geographie soweit im Kopf, daß sie die Entfernun gen schätzen konnten. „Bis Stockhohn", erklärte Urban, „schaffen wir es nicht." „Nein, zweitausend Kilometer an einem Stück ist für diese alte Mühle treibstoffmäßig nicht drin." „Wenn wir Glück haben, dann bringen wir die Ostsee hinter uns. Knapp." 157
„Bis zu den Inseln." „Bis zur Provinz Uppsala vielleicht." „Das bedeutet Notlandung." „Die Küste ist flach, und das da ist ein sehr stabiles Flugzeug. Es ist noch mit der Hand genietet." „Wenn sie uns nicht vorher runterholen." „Wer?" „Iwan und Genossen." „Wir gelten als explodiert", erinnerte Urban. „Sie haben Radar." „Da flog mal ein Knabe mit einer müden Einmo torigen bis auf den Roten Platz in Moskau. Und rein ist verdammt viel schwieriger als raus." Urban flog so tief, wie er es ohne Karte wagen konnte. Irgendwann sahen sie, obwohl es mondlos war, den Übergang vom Land zum Meer, den hellen Strich der Dünung. Auf dem Meer gab es nur unbedeutende Hügel. Urban ging hinunter, bis man das Gefühl hatte, das Spornrad streife die Wellenkämme und die Propellerböen zögen Wasser hoch. Trapper machte Florence Platz. Er zog sich irgend etwas her, auf das er sich hocken konnte. So saßen sie zu dritt im Cockpit und zählten die Minuten, die sie von der Freiheit trennten. „Mal ehrlich", sägte Florence. „Du hast das gewußt, Bob." „Was?" „Daß wir noch eine Chance bekommen." „Ich habe daran gedreht", gestand Urban. „Aber ich wußte nicht, ob es klappen würde." „Wie kam der Pilot dazu, uns den Schlüssel zu geben. Wie kam er überhaupt zu dem Schlüssel?" „Das erzähle ich euch ein andermal." „Und wer bezahlt das?" 158
„Senator Wallace, hoffe ich." „Jetzt mal ganz ehrlich, Bob", ließ Florence sich wieder vernehmen. „Du konntest allein die Kurve kratzen, warum hast du das für uns getan?"
„Ich tat es auch für mich." „Erklär mir das bitte." Urban versuchte es. „Eigentlich", begann er, „konnte es mir ver dammt egal sein. Aber ihr seid arme Schweine, dachte ich mir, und ich bin auch eines. Und wenn man armen Schweinen etwas nicht verweigern soll, dann ist es die internationale Solidarität zu ande ren armen Schweinen. Also, arme Schweine der Welt, vereinigt euch. - Deshalb habe ich es eben gemacht." Trapper räusperte sich, und Urban lächelte Flo rence Ohara an. Sie küßte ihn auf seine unrasierte Wange. „Ganz schlicht und einfach, oder?" Da sah er Tränen in ihren Augen. Zwei davon bahnten sich schon den Weg über ihre zauberhaf ten Wangen abwärts. „Wußte gar nicht", bemerkte er, ,daß eine Frau wie du weinen kann." „Wer weint denn" antwortete sie und wischte mit dem Taschentuch über ihr Gesicht.
Urban erhielt eine Einladung mit Goldrand. Sie kam vom US-Hauptquartier Frankfurt. Erst sollte es einen Orden geben, dann etwas Anständiges zu futtern und zu schlucken und hinterher, gegen Mitternacht, einen Großen Zap fenstreich. — Welche Ehre. Ihm zu Ehren sollte also ein Großer Zapfen 159
streich mit Blasmusik, Fackeln, Stechschritt und so weiter stattfinden. Daraufhin antwortete Urban den Absendern, er habe die ganze Scheiße nicht mitgemacht, um an einem Vorbeimarsch teilzunehmen. Er wünsche aber weiterhin alles Gute. ENDE
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