Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Bänden
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KSA 2: KSA 3:
KSA 4: KSA 5: KSA 6:
KSA 7: KSA 8 KSA 9: KSA 10: KSA 11 KSA 12 KSA 13: KSA 14:
KSA 15:
Die Geburt der Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV Nachgelassene Schriften 1870-1873 Menschliches, Allzumenschliches I und II Morgenröte Idyllen aus Messina Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist • Ecce homo Dionysos-Dithyramben • Nietzsche contra Wagner Nachgelassene Fragmente 1869-1874 Nachgelassene Fragmente 1875-1879 Nachgelassene Fragmente 1880-1882 Nachgelassene Fragmente 1882-1884 Nachgelassene Fragmente 1884-1885 Nachgelassene Fragmente 1885-1887 Nachgelassene Fragmente 1887-1889 Einführung in die KSA Werk- und Siglenverzeichnis Kommentar zu den Bänden 1-13 Chronik zu Nietzsches Leben Konkordanz Verzeichnis sämtlicher Gedichte Gesamtregister
Friedrich Nietzsche Nachgelassene Fragmente 1885-1887 Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter
Die vorliegende Ausgabe ist text- und seitenidentisch mit Band n der,Kritischen Studienausgabe 4 (KSA) in 15 Bänden, die erstmals 1980 als Taschenbuchausgabe erschien, ediert auf der Grundlage der »Kritischen Gesamtausgabe', herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen im Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1967 fr". Der Band wurde für die 2. Auflage im Jahre 1988 durchgesehen.
Neuausgabe 1999 Deutscher Taschenbuch Verlag G m b H & Co. KG, München €) 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage) Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, Berlin • New York Umschlagkonzept: Balk &; Brumshagen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Gesamtherstellung: C.H.Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Gemany cjtv Kassettenausgabe: ISBN 3-423-59044-0 de Gruyter Kassettenausgabe: ISBN 3-110-16599-6
Inhalt Vorbemerkung j Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889 i.Teil: Herbst 1885 bis Herbst 1887 (1-10) 9 Inhaltsverzeichnis 583
Vorbemerkung Band 12 und 13 der Kritischen Studienausgabe enthalten zusammen Nietzsches nachgelassene Fragmente von Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889, das heißt die achte Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe. Die Fragmente sind in 22 Handschriften erhalten, und zwar 15 größere Hefte, 3 Notizbücher und 4 Mappen. Die Grundsätze, nach denen die Veröffentlichung von Nietzsches nachgelassenen Fragmenten erfolgt, sind in der Vorbemerkung zu Band 7 nachzulesen. Zu Band 12 und 13 der Kritischen Studienausgabe sei noch folgendes angemerkt: Diesen Bänden kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie - durch die vollständige und manuskriptgetreue Wiedergabe aller Fragmente, Entwürfe, Pläne, Titel von Herbst 1885 bis zum Ende von Nietzsches Schaffen Anfang 1889 - die Grundlage für eine endgültige Lösung des vieldiskutierten Problems von Nietzsches angeblichem philosophischem Hauptwerk mit dem Titel Der Wille %ur Macht ausmachen. Die Fragmente, in ihrer chronologischen Reihenfolge gelesen, ergeben eine genaue, fast lückenlose Darstellung seines Schaffens und seiner literarischen Intentionen von Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889. Sie lassen deutlich werden, daß und warum die in den bisher vorliegenden Nietzsche-Ausgaben enthaltene, von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche zusammengestellte
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Vorbemerkung
Kompilation Der Wille %ur Macht editorisch unhaltbar und sachlich zutiefst fragwürdig ist. Der Kommentar (Kritische Studienausgabe Band 14) wird dies im einzelnen darlegen und erweisen, daß und wie Nietzsche seine literarischen Pläne im Lauf der Jahre änderte, bis er zuletzt, Ende August 1888, auf die Veröffentlichung eines Werkes unter dem Titel Der Wille %ur Macht. Versuch einer Umwerthung alle Werthe ganz verzichtete. Es ist ein Verdienst K. Schlechtas, die Veröffentlichung des Nachlasses in chronologischer Reihenfolge zur prinzipiellen editorischen Forderung erhoben zu haben1. Doch hat er gerade diese Forderung in seiner Ausgabe von Nietzsches Nachlaß aus der sogenannten „Umwertungszeit" nicht erfüllt, da er genau dasselbe Material des tradierten Willens %ur Macht bloß in einer (scheinbar) chronologischen Reihenfolge veröffentlicht hat. Mit anderen Worten: Schlechta hat die Auswahl von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche aus der Masse der nachgelassenen Fragmente der achtziger Jahre, ohne es zu wollen, inhaltlich gutgeheißen. Band 12 der Kritischen Gesamtausgabe entspricht folgenden Bänden und Seiten der achten Abteilung in der Kritischen Gesamtausgabe: VIII/i, S. 3-348 (Berlin/New York 1974) und VIII/2, S. 1-248 (Berlin 1970). Er enthält somit die Fragmente von Herbst 1885 bis Herbst 1887. Mazzino Montinari
1
Vgl. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München und Darmstadt 1954-56, III, S. 1393 ff-
[1 = N VII 2b. Herbst 1885 - Frühjahr 1886]
I[I]
Eigentlich sollte ich einen Kreis von tiefen und zarten Menschen um mich haben, welche mich etwas vor mir selber schützten und mich auch zu erheitern wüßten: denn für einen, der solche Dinge denkt, wie ich sie denken muß, ist die Gefahr im5 mer ganz in der Nähe, daß er sich selber zerstört.
Möge Niemand glauben, daß man unversehens und mit beiden Füßen eines Tags in einen solchen herzhaften Zustand der Seele hineinspringt, dessen Zeugniß oder Gleichniß das eben abgesungene Tanzlied sein mag. Bevor man solchermaaßen tanzen 15 lernt, muß man gründlich gehn und laufen gelernt haben, und schon auf eigenen Beinen stehn ist Etwas, für das, wie mir scheint, immer nur Wenige vorbestimmt sind. In der Zeit, wo man sich zuerst auf den eignen Gliedmaaßen hinauswagt und ohne Gängelbänder und Geländer, in den Zeiten der ersten *° jungen Kraft und aller Anreize eines eigenen Frühlings, ist man am schlimmsten gefährdet und geht oft schüchtern, verzagt, wie ein Entlaufener, wie ein Verbannter, mit einem zitternden Gewissen und mit wunderlichem Mißtrauen seines Wegs: — wenn die junge Freiheit des Geistes wie ein Wein ist
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i[3]
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*o
1
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Der Spiegel. Mangel einer herrschenden Denkweise. Die Schauspieler. Gleba. Die neue Schamlosigkeit (die der Mittelmäßigen z. B. Engländer, auch der schreibenden Frauen) Der Wille zum Vorurtheil (Nationen, Parteien usw. Der latente Buddhismus. Der Mangel an Einsamkeit (und folglich an g u t e r Gesellschaft) Alkohol, Buch und Musik und andere Stimulantia. Die Philosophen der Zukunft. Die herrschende Kaste und der Anarchismus. Die curiosen Schwierigkeiten des Ungewöhnlichen, den seine plebejische Bescheidenheit stört. Mangel einer Charakter-Erziehung. Mangel der höheren Klöster Allmähliche Beschränkung der Volksrechte.
i[4] — D i e L e h r e v o n d e n G e g e n s ä t z e n (gut, böse io usw.) hat Werth als E r z i e h u n g s - M a a ß r e g e l , weil sie Partei ergreifen macht. — die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zu Grunde geht, sind so gründlich in Acht gethan, daß damit die mächtigsten Men*5 sehen selber unmöglich geworden sind oder sich als b ö s e , als „schädlich und unerlaubt" fühlen müßten. Diese Einbuße ist groß, aber nothwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte groß gezüchtet sind, durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust 3° an der Verwandlung und Täuschung) ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit
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haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsere Künstler und Staatsmänner an — Die Synthesis der Gegensätze und Gegentriebe ein Zeichen von der Gesamtkraft eines Menschen: w i e v i e l kann 5 sie bändigen? — ein neuer Begriff von Heiligkeit: Plato's Naivetät — Nicht mehr der Gegensatz der verketzerten Triebe im Vordergrund 10
— zu demonstriren, in wiefern die griechische Religion die h ö h e r e war als die jüdisch-christliche. Letztere siegte, weil die griechische Religion selber entartet (zurück g e g a n g e n ) war.
Ziel: die Heiligung der mächtigsten furchtbarsten und bestverrufenen Kräfte, im alten Bilde geredet: die Vergöttlichung 15 des Teufels i[5] — Ich messe darnach, wie weit ein Mensch, ein Volk die furchtbarsten Triebe bei sich entfesseln kann und zu seinem Heile wenden, ohne an ihnen zu Grunde zu gehn: vielmehr zu seiner Fruchtbarkeit in That und Werk 20 — die Auslegung aller Unglücksfälle als die Wirkungen unversöhnter Geister ist das, was bisher die großen Massen zu religiösen Gülten trieb. Selbst das höhere moralische Leben, das des Heiligen, ist nur als e i n e s der Mittel erfunden worden, um unversöhnte Geister zu befriedigen. 2
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— die Auslegung unserer E r l e b n i s s e als providentieller Winke einer gütigen, erziehenden Gottheit, auch unserer Unglücksfälle: — Entwicklung des v ä t e r l i c h e n Gottesbegriffs, von der patriarchalischen Familie aus.
— die absolute Verderbtheit des Menschen, die Unfreiheit 3° zum Guten und folglich die Auslegung aller unserer Handlun-
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gen mit der Interpretation des bösen Gewissens: endlich Gnade. Wunder-Akt. Plötzliche Umkehr. Paulus, Augustin, Luther — die Barbarisirung des Christenthums durch die Germanen: die zwischen göttlichen Wesen, und die Vielheit der Sühn5 Kulte, kurz der vorchristliche Standpunkt kommt wieder. Ebenso das Compositions-system. — Luther giebt wieder die Grundlogik des Christenthums, die U n m ö g l i c h k e i t der M o r a l und folglich der Selbstzufriedenheit, die Nothwendigkeit der Gnade und folgio lieh der Wunder und auch der Prädestination. Im Grunde ein Eingeständniß des Überwundenseins und ein Ausbruch von Selbst-Verachtung. — „es ist unmöglich, seine S c h u l d e n zu bezahlen", Ausbrüche der Heilsbegierde und der Culte und Mysterien. „Es 15 ist unmöglich, seine Sünde loszuwerden** Ausbruch des Christenthums des Paulus Augustin und Luther. Ehemals war das äußere Unglück der Anstoß religiös zu werden: später das innere Unglücks-Gefühl, die Unerlöstheit, Angst, Unsicherheit. Was Christus und Buddha auszuzeichnen scheint: es scheint das innere 20 Glück zu sein, das sie religiös mache i[6]
— das Gefühl der höheren Rangordnung anzugehören ist dominirend im sittlichen Gefühle: es ist das Selbst-zeugniß der höheren Kaste, deren Handlungen und Zustände nachher wieder als Abzeichen einer Gesinnung gelten, mit der man in jene 25 Kaste g e h ö r t oder gehören s o l l t e — i[7l — zuerst wird das sittliche Gefühl in Bezug auf Mensch (Stände voran!) entwickelt, erst später auf Handlungen und Charakterzüge übertragen. Das P a t h o s der D i s t a n z ist im innersten Grunde jenes Gefühls.
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l[8] — die Unkenntniß des Menschen und das Nicht-Nachdenken macht, daß die individuelle Zurechnung erst spät gemacht wird. Man fühlt sich selber zu unfrei, ungeistig, durch plötzliche Antriebe fortgerissen, als daß man über sich anders denken 5 sollte als in Betreff der Natur: es wirken auch in uns D ä monen. i[9] — Menschliches, Allzumenschliches. Man kann nicht über Moral nachdenken, ohne sich nicht unwillkürlich moralisch zu bethätigen und erkennen zu geben. So arbeitete ich damals !° an jener Verfeinerung der Moral, welche „Lohn" und „Strafe*1 bereits als „unmoralisch" empfindet und den Begriff „Gerechtigkeit" nicht mehr zu fassen weiß als „liebevolles B e g r e i fen", im Grunde „ G u t h e i ß e n " . Darin ist vielleicht Schwäche, vielleicht Ausschweifung, vielleicht auch I[IO] l
S
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— die „Strafe" entwickelt sich im engsten Räume, als Reaktion des Mächtigen, des Hausherrn, als Ausdruck seines Zorns gegen die Mißachtung seines Befehls und Verbotes. — V o r der Sittlichkeit der Sitte (deren Kanon will „alles Herkömmliche soll geehrt werden") steht die Sittlichkeit der herrsehenden Person (deren Kanon will, daß „der Befehlende allein geehrt werde") Das Pathos der Distanz, das Gefühl der Rangverschiedenheit liegt im letzten Grunde aller Moral. i[n] — „Seele" zuletzt als „Subjektsbegriff" l [ l 2 ]
2
— Wenn die Dinge unbekannt sind, so i s t es a u c h 5 d e r M e n s c h . Was ist da loben und tadeln!
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Nachgelassene Fragmente
i [i3l — ich begreife es nicht, wie man Theolog sein kann. Ich möchte nicht gern gering von dieser Art Menschen denken, welche doch nicht nur Erkenntniß-Maschinen sind
— Jede Handlung, deren ein Mensch nicht fähig ist, wird 5 von ihm mißverstanden. Es ist auszeichnend, mit seinen Handlungen immer mißverstanden zu werden. Es ist dann auch nothwendig und kein Anlaß zur Erbitterung. i[i5] — Es ist nicht u n e i g e n n ü t z i g , wenn ich lieber über die Causalität als über den Prozeß mit meinem Verleger nach10 denke; mein Nutzen und mein Genuß liegt auf der Seite der Erkenntnisse, meine Spannung, Unruhe, Leidenschaft ist gerade dort am längsten thätig gewesen. i [16] Gedanken sind Handlungen i[i7] — wie haben wir in fünfzig Jahren u m g e l e r n t ! Die l 5 ganze Romantik mit ihrem Glauben an das „Volk" ist widerlegt! Keine Homerische Dichtung als Volks-Poesie! Keine Vergötterung der großen Naturmächte! Kein Schluß aus Sprachverwandtschaft auf Rassen-Verwandtschaft! Keine „intellektuelle Ansdiauung" des Ubersinnlidien! Keine in der Religion 10 verschleierte Wahrheit! I[I8]
Das Problem der Wahrhaftigkeit ist ganz neu. Ich bin erstaunt: Wir betrachten solche Naturen wie Bismarck als schuldig
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hierin aus Fahrlässigkeit, solche wie Richard Wagner aus Mangel an Bescheidenheit, wir würden Plato mit seiner pia fraus verurtheilen, Kant wegen der Ableitung seines kategorischen Imperativs, während der Glaube ihm sicher nicht auf diesem 5 Wege gekommen ist
— Endlich wendet sich der Zweifel auch gegen sich selber: Zweifel am Zweifel. Und die F r a g e nach der B e r e c h t i g u n g der Wahrhaftigkeit und ihrem Umfange s t e h t da — i [20] — Alle unsere bewußten Motive sind Oberflächen-Phäno10 mene: hinter ihnen steht der Kampf unserer Triebe und Zustände, der Kampf um die Gewalt. 1[2I]
— Daß diese Melodie schön klingt, wird n i c h t den Kindern durch die Autorität oder Unterricht beigebracht: ebenso wenig das Wohlgefühl beim Anblick eines ehrwürdigen Men*S sehen. D i e W e r t h s c h ä t z u n g e n s i n d a n g e b o r e n , trotz Locke!, angeerbt; freilich, sie entwickeln sich stärker und schöner, wenn zugleich die Menschen, welche uns hüten und lieben, mit uns gleich schätzen. Welche Marter für ein Kind, immer im Gegensatz zu seiner Mutter sein Gut und Böse anzu20 setzen und dort, wo es verehrt, gehöhnt und verachtet zu werden! — Wie vielfach ist das, was wir als „ s i t t l i c h e s G e f ü h l " empfinden: darin ist Verehrung, Furcht, die Berührung wie von etwas Heiligem und Geheimem, darin redet etwas Be2 5 fehlendes, etwas, das sich wichtiger nimmt als wir; etwas, das erhebt, entflammt oder ruhig und tief macht. Unser sittliches
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Gefühl ist eine Synthesis, ein Zugleich-Erklingen aller herrschaftlichen und unterthänigen Gefühle, welche in der Geschichte unserer Vorfahren gewaltet haben i [23] — Z u G u n s t e n d e r G e g e n w a r t . Die Gesund5 heit wird gefördert, asketisch-weltverneinende Denkweisen (mit ihrem Willen zur Krankheit) kaum begriffen. Alles Mögliche gilt und wird gelten gelassen und anerkannt, feuchte milde Luft, in der jede Art Pflanze wächst. Es ist das Paradies für alle k l e i n e üppige Vegetation
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l[24] — Seele und Athem und D a s e i n esse gleich gesetzt. Das L e b e n d e ist das Sein: weiter giebt es kein Sein.
— „Die guten Leute sind alle schwach: sie sind gut, weil sie nicht stark genug sind, böse zu sein" sagte der Latuka-Häuptling Comorro zu Baker
r
5
I [*
„Für schwache Herzen giebt es kein Unglück" sagt man im Russischen
20
1 [28] — alle B e w e g u n g e n sind als Gebärden a u f z u f a s s e n , als eine Art Sprache, wodurch sich die Kräfte verstehn. In der unorganischen Welt fehlt das Mißverständniß, die Mittheilung scheint vollkommen. In der organischen Welt beginnt der I r r t h u m . „Dinge" „Substanzen" Eigenschaften,
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Thätig-„keitena — das alles soll man nicht in die unorganische Welt hineintragen! Es sind die spezifischen Irrthümer, vermöge deren die Organismen leben. Problem von der Möglichkeit des „Irrthums"? Der Gegensatz ist nicht „falsch" und „wahr", son5 dern „ A b k ü r z u n g e n der Z e i c h e n " im Gegensatz zu den Zeichen selber. Das Wesentliche ist: die Bildung von Formen, welche viele Bewegungen r e p r ä s e n t i r e n , die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen. — alle Bewegungen sind Z e i c h e n eines inneren Ge!o schehens; und jedes innere Geschehen drückt sich aus in solchen Veränderungen der Formen. Das Denken ist noch nicht das innere Geschehen selber, sondern ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten.
— die Vermenschlichung der Natur — die Auslegung nach *5 uns. i[30] A. Psychologischer A u s g a n g s p u n k t : — unser Denken und Werthschätzen ist nur ein Ausdruck für dahinter waltende Begehrungen. — die Begehrungen spezialisiren sich immer mehr: ihre Ein20 heit ist d e r W i l l e z u r M a c h t (um den Ausdruck vom stärksten aller Triebe herzunehmen, der alle organische Entwicklung bis jetzt dirigirt hat) — Reduktion aller organischen Grundfunktionen auf den Willen zur Macht 2 5 — Frage, ob er nicht das mobile ebenfalls in der unorganischen Welt ist? Denn in der mechanistischen Weltauslegung bedarf es immer noch eines mobile. — „Naturgesetz**: als Formel für die unbedingte Herstellung der Macht-Relationen und -Grade.
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— die mechanische B e w e g u n g ist nur ein Ausdrucksmittel eines inneren Geschehens. — „Ursache und Wirkung" i[3i] — der Kampf als das Mittel des Gleichgewichts
5
i [3*] — die Annahme von Atomen ist n u r eine Consequenz vom Subjekts- und Substanz-Begriff: irgend wo muß es »ein Ding" geben, von wo die Thätigkeit ausgeht. Das Atom ist der letzte Abkömmling des Seelenbegriffs.
1 [33] — das furchtbarste und gründlichste Verlangen des Men10 sehen, sein Trieb nach Macht, — man nennt diesen Trieb „Freiheit" — muß am längsten in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die Ethik bisher, mit ihren unbewußten Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten, darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst in Schranken zu halten: sie verunglimpft das tyrannische In15 dividuum und unterstreicht, mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge und der Vaterlandsliebe, den Heerden-Machtinstinkt. i[34] — Naturgemäß müssen sich die Kräfte der Menschheit in der Reihenfolge entwickeln, daß die u n g e f ä h r l i 20 c h e n voran entwickelt (gelobt, gutgeheißen) werden, daß umgekehrt die stärksten am längsten verketzert und verläumdet bleiben.
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i [35] Der W i l l e zur Macht. Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. Von Friedrich Nietzsche.
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i[3<5] die Welt des Denkens nur ein zweiter Grad der Erscheinungswelt — 1 [37]
— die Bewegungen sind nicht „ b e w i r k t" von einer „U r s a c h e" : das wäre wieder der alte Seelen-Begriff! — sie io sind der Wille selber, aber nicht ganz und völlig! i [38] NB. Der Glaube an Causalität geht zurück auf den Glauben, daß ich es bin, der wirkt, auf die Scheidung der „Seele" von ihrer T h ä t i g k e i t . Also ein uralter Aberglaube! i[39] Die Zurückführung einer Wirkung auf eine Ursache ist: zu1 5 rück auf ein S u b j e k t . Alle Veränderungen gelten als hervorgebracht von Subjekten. 1 [40] — die j e t z i g e Stufe der Moralität fordert: a) keine Strafe! 1 . . ,y , 2) keinen Lohn - ) ^ V e r g e l t u n g ! 3) keine Servilität 4) keine pia fraus! 1 [41] — wir ertragen den Anblick nicht mehr, schaffen wir die Sclaven ab
folglich
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l [ 4 2 ]
. Es ist ein Lieblingswort der Schlaffen und Gewissenlosen tout comprendre c'est tout pardonner: es ist auch eine Dummheit. Oh wenn man erst immer auf das „comprendre" warten wollte: es scheint mir, man würde da zu selten zum Verzeihen 5 kommen! Und zuletzt, warum sollte man gerade verzeihen, wenn man begriffen hätte? Gesetzt, ich begriffe ganz und gar, warum dieser Satz mir mißrieth, dürfte ich ihn darum nicht d u r c h s t r e i c h e n ? — Es giebt Fälle, wo man einen Menschen durchstreicht, w e i l man ihn begriffen hat.
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i [43] — der Begriff „Veränderung" setzt schon das Subjekt voraus, d i e S e e l e a l s S u b s t a n z
1 [44] — der Anstoß, den man nimmt an der Lehre „von der Unfreiheit des Willens" ist der: es scheint als ob sie behaupte „du thust, was du thust, nicht freiwillig, sondern unfreiwillig d. h. 15 gezwungen". Nun weiß jeder, wie einem zu Muthe ist, wenn er etwas unfreiwillig thut. Es scheint also mit jener Lehre gelehrt zu werden: alles, was du thust, thust du unfreiwillig also u n g e r n , „wider deinen Willen" — und d a s giebt man nicht zu, weil man vieles g e r n thut, auch gerade viel „Moralisches". 20 Man versteht also „unfreier Wille" als „gezwungen durch einen f r e m d e n Willen": als ob die Behauptung wäre: „alles, was du thust, thust du gezwungen durch einen fremden Willen". Den Gehorsam gegen den eigenen Willen nennt man nicht Zwang: denn es ist Lust dabei. D a ß du d i r s e l b e r b e f i e h l s t , 25 das heißt „Freiheit des Willens" i[45] Sapientia victrix. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft.
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Die Religionen leben die längste Zeit ohne mit der Moral verquickt zu sein: moralfrei. Man erwäge, was eigentlich jede Religion will — man kann es ja heute noch mit Händen greifen: man will durch sie nicht nur Erlösung von der N o t h , son5 dern vor Allem Erlösung von der F u r c h t v o r N o t h . Alle Noth gilt als Folge von bösem, feindseligem Walten von Geistern: alle Noth, die einen trifft, ist zwar nicht „verdient", aber es weckt den Gedanken, w o d u r c h ein Geist gegen uns gereizt sein mag; der Mensch zittert vor unbekannten schwei*o fenden Unholden und möchte sie hold stimmen. Dabei prüft er sein Verhalten: und wenn es überhaupt Mittel giebt, bestimmte Geister, die er kennt, sich freundlich zu stimmen, so fragt er sich, o b er auch wirklich Alles gethan habe, was er dazu hätte thun können. Wie ein Höfling sein Verhalten zu dem Fürsten ij prüft, wenn er an ihm eine ungnädige Stimmung wahrgenommen hat: — er sucht nach einer Unterlassung usw. „Sünde" ist ursprünglich das, wodurch irgend ein Geist sehr beleidigt werden könnte, irgend eine Unterlassung, ein : da hat man etwas wieder g u t zu m a c h e n . — Nur insofern ein Geist, 20 eine Gottheit ausdrücklich auch gewisse moralische Gebote als Mittel, i h m zu gefallen und zu dienen hingestellt hat, kommt in die „Sünde" auch die sittliche Werthschätzung: oder vielmehr: dann erst kann ein Verstoß gegen ein sittliches Gebot als „Sünde" empfunden werden, als etwas, das von Gott trennt, ihn belei2 $ digt und auch von seiner Seite Gefahr und Noth im Gefolge hat. i[47] Klugheit, Vorsicht und Vorsorge (im Contrast zur Indolenz und zum Leben im Augenblick) — man meint jetzt beinahe eine Handlung zu e r n i e d r i g e n , wenn man diese Motive nennt. Aber was hat es gekostet, diese Eigenschaften groß zu züchten! 3° Die K l u g h e i t als T u g e n d zu betrachten — ist noch griechisch!
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Nachgelassene Fragmente
Ebenso dann die Nüchternheit und „Besonnenheit" im Gegensatz zum Handeln aus gewaltsamen Impulsen, zur „Naivetät" des Handelns. i[48] Die absolute Hingebung (in der Religion) als Reflex der skla5 vischen Hingebung oder der weiblichen (— das Ewig-Weibliche ist der idealisirte Sklavensinn) i [49] Den moralischen Werth der Handlung nach der Absicht messen: setzt voraus, daß die Absicht wirklich die Ursache der Handlung ist — was doch heißt die Absicht als eine vollkom10 mene Erkenntniß als „ein Ding an sich" betrachten. Zuletzt ist sie doch nur das Bewußtsein von der Auslegung eines Zustandes (von Unlust, Begehren usw.) i[50] — mit der Sprache sollen Zustände und Begehrungen bezeichnet werden: also Begriffe sind Zeichen zum Wieder15 erkennen. Die Absicht auf Logik liegt nicht darin; das logische Denken ist ein Auflösen. Aber jedes Ding das wir „begreifen", jeder Zustand ist eine Synthesis, die man nicht „begreifen", wohl aber bezeichnen kann: und auch dies nur indem man eine gewisse Ähnlichkeit mit Dagewesenem anerkennt. „Unwissen20 schaftlich" ist jede innere geistige Aktion thatsächlich, auch j e d e s Denken. x [51] Denker von bescheidener oder unehrlicher Abkunft begreifen die Herrschsucht falsch, auch schon den Trieb der Auszeichnung: sie rechnen beides unter die Eitelkeit, wie als ob es *5 sich darum handele, in der M e i n u n g anderer Menschen geachtet, gefürchtet oder angebetet dazustehn.
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Nach wissenschaftlichem Maaße gemessen, ist der Werth jedes sittlichen Werthurtheils von Mensch über Mensch sehr gering: es ist ein Tasten und Tappen und viel Wahn und Ungewißheit in j e d e m Wort. i [53] 5 Das sind getrennte Aufgaben: 1) die gegenwärtig (und in einem begrenzten Culturbereich) herrschende Art der moralischen Abschätzung von Mensch und Handlungen zu fassen und festzustellen 2) der gesamte Moral-Codex einer Zeit ist ein S y m 10 p t o m z. B. als Mittel der Selbst-Bewunderung oder Unzufriedenheit oder TartüfFerie: es ist also noch außer der Feststellung des gegenwärtigen C h a r a k t e r s der M o ra 1 zweitens die D e u t u n g u n d A u s l e g u n g d i e s e s C h a r a k t e r s zu geben. Denn an sich ist sie viel15 deutig. 3) die Entstehung dieser gerade jetzt herrschenden Urtheilsweise zu erklären, 4) die Kritik derselben zu machen resp. fragen: wie stark ist sie? worauf wirkt sie? was w i r d aus der Menschheit 20 (oder aus Europa) unter ihrem Banne? Welche Kräfte fördert sie, welche unterdrückt sie? Macht sie gesünder, kränker, muthiger, feiner, kunstbedürftiger usw.? Hier ist schon vorausgesetzt, daß es keine ewige Moral giebt: dies darf als bewiesen gelten. So wenig es eine ewige Art der Ur2 5 theile über Ernährung giebt. Aber neu ist die Kritik, die Frage: ist „gut" wirklich „gut"? Und welchen Nutzen hat vielleicht das jetzt Zurückgesetzte und Beschimpfte? Die Zeitdistanzen kommen in Betracht. 1 [54]
Der Charakter des unbedingten Willens zur Macht ist im
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ganzen Reidie des Lebens vorhanden. Haben wir ein Recht, das Bewußtsein zu leugnen, so doch schwerlich das Recht, die treibenden Affekte zu leugnen z. B. in einem Urwalde. (Bewußtsein enthält immer eine doppelte Spiegelung — es 5 giebt nichts Unmittelbares.) i Css] Grundfrage: wie tief geht das Sittliche? Gehört es nur zum Angelernten? Ist es eine Ausdrucksweise? Alle tieferen Menschen sind darin einmüthig — es kommt Luthern Augustin Paulus zum Bewußtsein —, daß unsere Mo10 ralität und deren Ereignisse nicht mit unserem b e w u ß t e n W i l l e n sich decken — kurz, daß die Erklärung aus ZweckAbsichten n i c h t r e i c h t . i [56] O b j e k t i v , h a r t , f e s t , s t r e n g b l e i b e n im Durchsetzen eines Gedankens — das bringen die Künstler noch M am besten zu Stande; wenn Einer aber Menschen dazu nöthig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.) da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem „interesselosen" Arbeiten an seinem Marmor, mag dabei von Menschen geopfert *o werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und n i c h t d a r a n z e r b r e c h e n . — Bisher waren fast immer Inspirations-Täuschungen nöthig, um selbst den G l a u b e n an s e i n R e c h t und seine H a n d nicht zu verlieren.
*5
r [57] Verwandlungen des Willens zur Macht, seine Ausgestaltungen, seine Spezialisirungen — parallel der morphologischen Entwicklung darzustellen!
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1[54—59]
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I [58] Von jedem unserer Grundtriebe aus giebt es eine verschiedne perspektivische Abschätzung alles Geschehens und Erlebens. Jeder dieser Triebe fühlt sich in Hinsicht auf jeden anderen gehemmt, oder gefördert, geschmeichelt, jeder hat sein eigenes Ent5 wicklungsgesetz (sein Auf und Nieder, sein Tempo, usw.) — und dieser ist absterbend, wenn jener steigt. Der Mensch als eine V i e l h e i t v o n „Willen zur Macht": jeder mit einer V i e l h e i t von Ausdrucksmitteln und F o r m e n . Die einzelnen 10 a n g e b l i c h e n „Leidenschaften" (z. B. der Mensch ist grausam) sind nur f i k t i v e E i n h e i t e n , insofern das, was von den verschiedenen Grundtrieben her als g l e i c h a r t i g ins Bewußtsein tritt, synthetisch zu einem „Wesen" oder „Vermögen", zu einer Leidenschaft zusammengedichtet wird. Ebenso 15 also, wie die „Seele" selber ein A u s d r u c k für alle Phänomene des Bewußtseins ist: den wir aber als U r s a c h e a l l e r d i e s e r P h ä n o m e n e a u s l e g e n (das "Selbstbewußtsein" ist fiktiv!) 1 [59] Alles Materielle ist eine Art von Bewegungssymptom für 20 ein unbekanntes Geschehen: alles Bewußte und Gefühlte ist hinwiederum Symptom von unbekannten . Die Welt, die uns von diesen beiden Seiten her sich zu verstehen giebt, könnte noch viele andere Symptome haben. Es besteht kein nothwendiges Verhältniß zwischen Geist und Materie, als ob sie *S irgendwie die Darstellungsformen erschöpften und allein repräsentirten. Bewegungen sind Symptome, Gedanken sind ebenfalls Symptome: die Begierden sind uns nachweisbar hinter beidem, und die Grundbegierde ist der Wille zur Macht. — „Geist an sich" 3° ist nichts, so wie „Bewegung an sich" nichts ist
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Nachgelassene Fragmente
i [60] Es ist beinahe komisch, daß unsere Philosophen vei langen, die Philosophie müsse mit einer Kritik des Erkenntnißvermögens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich, daß das Organ der Erkenntniß sich selber „kritisiren" kann, wenn man miß5 trauisdi geworden ist über die bisherigen Ergebnisse der Erkenntniß? Die R e d u k t i o n der Philosophie auf den „Willen zu einer Erkenntnißtheorie" ist komisch. Als ob sich so S i c h e r h e i t finden ließe! —
Alles, was in Bewußtsein tritt, ist das letzte Glied einer 10 Kette, ein Abschluß. Daß ein Gedanke unmittelbar Ursache eines anderen Gedankens wäre, ist nur scheinbar. Das eigentlich verknüpfte Geschehen spielt (sich) ab unterhalb unseres Bewußtseins: die auftretenden Reihen und Nacheinander von Gefühlen Gedanken usw. sind Symptome des eigentlichen Geschehens! 15 — Unter jedem Gedanken steckt ein Affekt. J e d e r G e d a n k e , jedes Gefühl, jeder Wille ist n i c h t geboren aus Einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein G e s a m t z u s t a n d , eine ganze Oberfläche des ganzen Bewußtseins und resultirt aus der augenblicklichen Macht-Feststellung a l l e r der 2 o uns constituirenden Triebe — also des eben herrschenden Triebes sowohl als der ihm gehorchenden oder widerstrebenden. Der nächste Gedanke ist ein Zeichen davon, wie sich die gesammte Macht-Lage inzwischen verschoben hat. 1 [62] „Wille" — eine falsche Verdinglichung. i[<3] 25
— Wi e wird sich später einmal Goethe ausnehmen! wie unsicher, wie schwimmend! Und sein „Faust" — welches zufällige und zeitliche, und wenig nothwendige und dauerhafte
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1[60—66]
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Problem! Eine Entartung des Erkennenden, ein Kranker, nichts mehr! Keineswegs die Tragödie des Erkennenden selber! Nicht einmal die des „freien Geistes". i [64] Menschenliebe. 5 Gerechtigkeit. Grausamkeit. alles hat sein Für und Wider Lohn und Strafe. schon gehabt Selbst-Genügsamkeit. Vernünftigkeit 10 Rangordnung. Sklaverei (Hingebung) alles Loben und Tadeln ist perspektivisch von einem Willen zur Macht aus. „angeborne Ideen" 15 die Seele, das Ding — falsch. Ebenso „der Geist" 1
[65]
Capitel über die A u s l e g u n g die V e r d i n g l i c h u n g das N a c h l e b e n untergegangener (z. B. Sclavensinn bei Augustin)
Ideale
1 [66] Die M e n s c h e n l i e b e des C h r i s t e n , welche keinen Unterschied macht, ist erst möglich bei der fortwährenden Anschauung Gottes, im Verhältniß zu dem die Rangordnung zwischen Mensch und Mensch verschwindend klein wird, und d e r Mensch selber überhaupt so unbedeutend wird, daß die *S Größenverhältnisse kein Interesse mehr erregen: wie von einem hohen Berge aus Groß und Klein ameisenhaft und ä h n l i c h wird. — Man soll diese G e r i n g s c h ä t z u n g des Menschen überhaupt nicht übersehen, welche im christlichen Gefühle 20
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Nachgelassene Fragmente
der Menschenliebe liegt: "du bist mein Bruder, ich weiß schon, wie es dir zu Muthe ist, was du auch seist — schlecht nämlich!" usw. Thatsächlich ist ein solcher Christ eine äußerst zudringliche und unbescheidene Art. 5 Umgekehrt: läßt man Gott fahren, so fehlt uns ein Typus eines Wesens, das höher ist als der Mensch: und das Auge wird f e i n für die Differenzen d i e s e s „höchsten Wesens". I[67]
— Ich bin mißtrauisch gegen die Beschaulichen, Selbst-insich-Ruhenden, Beglückten unter den Philosophen: — es fehlt io da die gestaltende Kraft und die Feinheit der Redlichkeit, welche sich den Mangel als Kraft eingesteht 1
[6S]
. Die Verwandlung des sittlich-Verworfenen in sittlich-Verehrtes — und umgekehrt. i[65>] — die Einen suchen im Inneren eine unbedingte Verbind15 lichkeit aus und erdichten sie unter Umständen, die Anderen wollen es beweisen und zugleich damit pflanzen — i[7o] — wie unbescheiden nimmt sich der Mensch mit seinen Religionen aus, auch wenn er sich noch vor Gott wälzt, gleich dem heiligen Augustin! Welche Zudringlichkeit! Dieses väterliche 20 oder großväterliche Princip im Hintergrunde! i[7i] — Die Moral galt unter Sterblichen bisher als das Ernsthafteste, was es giebt: das ist den Moralisten zu Gute gekommen, auf welche unter Göttern — und vielleicht auch einmal unter Menschen — kein kleines Gelächter wartet: man trägt auf
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [66—76]
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die Dauer niemals ungestraft die Würde eines Lehrmeisters. Menschen zu „belehren", Menschen zu „verbessern" — die Anmaaßung eines solchen Vorhabens i[7*l Daß die Katze Mensch immer wieder auf ihre vier Beine, 5 ich wollte sagen auf ihr Eines Bein „Ich" zurückfällt, ist nur ein Symptom seiner p h y s i o l o g i s c h e n „Einheit", richtiger „Vereinigung": kein Grund, an eine „seelische Einheit" zu glauben. i[73] Moral ist ein Theil der Lehre von den Affekten: wie weit io reichen die Affekte ans Herz des Daseins? 1 [74]
Wenn es überhaupt ein „an sich" gäbe, was wäre dann das „An sich" eines G e d a n k e n s ? I[7J]
Die Gedanken sind Z e i c h e n von einem Spiel und Kampf der Affekte: sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln 1 5 zusammen 1 [76]
Wer den Werth einer Handlung nach der Absicht mißt, aus der sie geschehen ist, meint dabei d i e b e w u ß t e A b s i c h t : aber es giebt, bei allem Handeln, viel unbewußte Absichtlichkeit; und was als „Wille" und „Zweck" in den Vorder-° grund tritt, ist v i e l f a c h ausdeutbar und an sich nur ein Symptom. „Eine ausgesprochene, aussprechbare Absicht" ist eine Ausdeutung, eine Interpretation, welche f a l s c h sein kann; außerdem eine willkürliche Simplifikation und Fälschung usw
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Nadigelassene Fragmente
i [77] Die B e r e c h n u n g auf L u s t als eine mögliche Folge einer Handlung und die mit einer Thätigkeit selber verbundne Lust, als Auslösung einer gebundnen und aufgestauten Kraft: was für Mühe hat es schon gemacht, diese beiden Lüste ausein5 ander zu halten! Es giebt zu lachen! Ebenso wie die Annehmlichkeit des Lebens — und S e l i g k e i t als moralische Trunkenheit und Selbst-Anbetung verwechselt wird. i[7»] Mit der Menschenkenntniß hat auch die Moral sich verfeinert a) statt der Sünde als Vergehen an Gott — 1° „das Unrecht an mir selber" b) statt des Betens und des Verlangens nach wunderbarer Hülfe — c) statt der Interpretation des Erlebnisses als Lohn und Strafe — M d) statt der Feindschaft gegen alle Art Noth und Unruhe und Streit — e) statt der zudringlichen gleichsetzenden Menschenliebe des Christen — 1
[79]
. Die größte Aufrichtigkeit und Überzeugung vom Werthe des 20 eigenen W e r k e s vermag nichts: ebenso kann die zweiflerische Unterschätzung den Werth desselben nicht berühren. So s t e h t es m i t a l l e n H a n d l u n g e n : wie moralisch ich mir mit einer Absicht auch vorkommen mag, an sich ist damit (nichts) über den Werth der Absicht und noch weniger *5 über den Werth der Handlung ausgemacht. D i e g a n z e H e r k u n f t e i n e r Handlung müßte bekannt sein, und nicht nur das Stückchen, das davon ins Bewußtsein fällt (die sogenannte Absicht) Aber damit wäre eben absolute Erkenntniß verlangt —
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1[77—83]
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l[8o] In w i e f e r n e i n e Ü b e r w i n d u n g d e s m o r a lischen Menschen möglich ist: wir messen den Werth einer Handlung nicht mehr nach ihren Folgen 5 wir messen ihn auch nicht mehr nach ihrer Absicht l [ 8 , ]
So wenig wir noch beten und die Hände nach Oben strecken, so wenig werden wir eines Tages die V e r l e u m d u n g und V e r l ä s t e r u n g nöthig haben, um gewisse Triebe in uns als F e i n d e zu behandeln; und ebenso kann unsere Macht, welche io uns zwingt, Menschen und Institutionen zu zerstören, dies einmal thun, ohne daß wir selbst darüber in Affekte der Entrüstung und des Ekels gerathen: mit göttlichem Auge und ungestört vernichten! Die Vernichtung der Menschen w e l c h e s i c h g u t f ü h l e n , voran! experimentum crucis. i [8z] l
S
Jenseits
von Gut und
Böse
Versuch einer Überwindung der Moral. Von Friedrich Nietzsche.
*o
i [83] Die religiöse A u s l e g u n g überwunden. Moral gehört in die Lehre von den Affekten (nur ein Mittel ihrer Bändigung, während andere groß gezüchtet werden sollen.
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Nachgelassene Fragmente
i[84] Die Überwindung derMoral. Bisher der Mensch kümmerlich sich erhaltend, indem er die ihm gefährlichsten Triebe bösartig behandelte und verlästerte und ebenso vor den ihn erhaltenden servil schmeichelte. 5 Gewinnung neuer Mächte und Länder a) der Wille zur Unwahrheit b) der Wille zur Grausamkeit c) der Wille zur Wollust d) der Wille zur Macht 1 [85]
io
auf das V e r s t e h e n d e r A u ß e n w e l t und die Mittheilung an dieselbe eingerichtet müssen Intellekt und Sinne o b e r f l ä c h l i c h sein. Vollkommene Leerheit der Logik —
i [86] Arbeitstheilung, Gedächtniß, Übung, Gewohnheit, Instinkt, 15 Vererbung, Vermögen, Kraft — alles Worte, mit denen wir nichts erklären, aber wohl bezeichnen und andeuten.
Das „Ich" (welches mit der einheitlichen Verwaltung unseres Wesens n i c h t eins ist!) ist ja nur eine begriffliche Synthesis — also giebt es gar kein Handeln aus „Egoismus"
20
1 [88] — daß irgend eine bewußte oder unbewußte B e r e c h n u n g d e r L u s t , die man im Gefolge eines Thuns hat (sei es i m Thun, oder nachher), wirklich U r s a c h e des Thuns ist, ist eine Hypothese!!!
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [84—93]
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l[89] Wir gehören zum Charakter der Welt, das ist kein Zweifel! Wir haben keinen Zugang zu ihr als durch uns: es muß alles Hohe und Niedrige an uns als nothwendig ihrem Wesen zugehörig verstanden werden! i [90] 5 NB. Wir wollen unsere Neigungen und Abneigungen redlich eingestehn und es uns wehren, dieselben aus moralischen Farbentöpfen zu schminken. So gewiß wir unsere Noth nicht mehr als unseren „Kampf mit Gott und Teufel" auslegen werden! Seien wir naturalistisch und gestehen wir ein gutes Recht auch 10 Dem zu, was wir bekämpfen müssen, an uns oder außer uns!
Durch die Arbeitstheilung sind die Sinne vom Denken und Urtheilen beinahe gelöst: während früher dies in ihnen lag, ungeschieden. Noch früher müssen die Begierden und die Sinne E i n s gewesen sein. 1 [92]
15
A l l e r K a m p f — alles Geschehen ist ein Kampf — b r a u c h t Dauer. Was wir „Ursache" und „Wirkung" nennen, läßt den Kampf aus und entspricht folglich nicht dem Geschehen. Es ist consequent, die Zeit in Ursache und Wirkung zu leugnen. 1 [93]
20
Thun wir einigen Aberglauben von uns ab, der in Bezug auf Philosophen bisher gang und gäbe war
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Nachgelassene Fragmente
I [94] Die neue
Aufklärung
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche. 1 [95]
5
Freie Geister und andere Philosophen. Jenseits von Gut und Böse. 11 9 6] Moralisten-Moral.
i[97l Zur Verwechslung von Ursache und Symptom Lust und Unlust sind die ältesten Symptome aller W e r t h 10 u r t h e i l e : n i c h t aber Ursachen der Werthurtheile! Also: Lust und Unlust gehören wie die sittlichen und aesthetischen Urtheile unter E i n e K a t e g o r i e . i[9«] Die Worte bleiben: die Menschen glauben, auch die damit bezeichneten Begriffe! 1
15
^ Es fehlen uns viele Begriffe, um Verhältnisse auszudrücken: wie schnell sind wir mit „Herr und Diener" „Vater und Kind" usw. fertig! 1 [100] Grundmißverständniß: ein Mensch legt nach sich jeden Anderen aus; daher Mißverständniß vieler Tugenden und Affekte,
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [94—105]
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die einer höheren Art eignen. Selbst der selbe Mensch versteht sich falsch, wenn er in einem niederen Augenblick auf seine hohen Festzeiten zurückblickt. „Selbst-Erniedrigung* „Demuth" i
[IOI]
Ach, kennt ihr die stumme Zärtlichkeit, mit der der böse und 5 furchtbare Mensch jenen Augenblicken nachhängt, wo er einmal — oder noch — „anders" war! Niemand sieht die Tugend so verführerisch, so sehr Weib und Kind. i [102] Im reinsten Quell ist Ein Tropfen Schmutzes genug — 1 [103] Die Hand, die sich zu einem Gebete ausstrecken wollte, der 10 zum Seufzer bereite Mund — hier hat der freie Geist seine Überwindung, aber auch seine Stauung. Eines Tags wird der Damm überstürzt von den wilden Wassern — 1 [104] Viele Feinere wollen R u h e , Frieden vor ihren A f f e k t e n — sie streben nach O b j e k t i v i t ä t , Neutralität, sie 15 sind zufrieden als Z u s c h a u e r übrig zu bleiben, — und als kritische Zuschauer mit einer neugierigen und muthwilligen Überlegenheit. Andere wollen Ruhe nach A u ß e n , Ungefährlichkeit des Lebens, — sie möchten nicht beneidet und nicht angegriffen wer*o den — und geben lieber „Jedem sein Recht" — nennen's „G e r e c h t i g k e i t " und Menschenliebe usw. Zum Capitel: „Die Tugenden als Verkleidung". 1
^I0^ Der Verlust bei aller Spezialisirung: die synthetische Natur ist die h ö h e r e . Nun ist schon alles organische Leben eine
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Nachgelassene Fragmente
Spezialisirung; die dahinterstehende u n o r g a n i s c h e W e l t ist die g r ö ß t e S y n t h e s i s v o n K r ä f t e n und deshalb das Höchste und Verehrungswürdigste. — Der Irrthum, die perspektivische Beschränktheit fehlt da.
5
i [106] . K ü n s t l e r : begeistert, sinnlich, kindsköpfig, bald übermißtrauisch, bald überzutraulich i [107] — Bist du Einer, der a l s D e n k e r seinem Satze treu ist, nicht wie ein Rabulist, sondern wie ein Soldat seinem Befehle? Es giebt nicht nur gegen Personen Untreue.
10
1 [108] — Mitleiden bei einem, der Glücks und Muths genug hat, um auch abseits stehen und abseits b 1 i c k e n zu können, gleich einem epikureischen Gotte. 1 [109] Der Spiegel. P h i l o s o p h i e des v e r b o t e n e n Wissens.
15
Von Friedrich Nietzsche. I[IIO]
Gott ist widerlegt, der Teufel nicht. Für hellsichtige und mißtrauische Augen, welche tief genug in die Hintergründe zu blicken wissen, ist das Schauspiel des Geschehens kein Zeugniß 20 weder von Wahrhaftigkeit noch väterlicher Fürsorge oder überlegener Vernünftigkeit; weder etwas Vornehmes, noch etwas Reines und Treuherziges.
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1[105—114]
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l[m] D i e n o r d i s c h e U n n a t ü r l i c h k e i t : alles mit silbernen Nebeln überzogen, man muß künstlich erst zum Wohlgefühle kommen, die Kunst ist dort eine Art Ausweichen vor sich selber. Ach, diese blasse Freude, dies Oktober-Licht auf allen 5 Freuden! Die n o r d i s c h e K ü n s t l i c h k e i t I[II2] Der Versucher. Von Friedrich Nietzsche. i[n3] Harmlosigkeit unserer kritischen Philosophen, welche nicht bemerken, daß Scepsis : sie meinen, wenn man erst das Werkzeug prüfe, bevor man es anwendet, nämlich das Erkenntnißvermögen . Dies ist schlimmer noch als ein Streichholz prüfen wollen, bevor man es brauchen will. Es ist das i $ Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird io
i [114] Die unbedingte Nothwendigkeit alles Geschehens enthält nichts von einem Zwange: der steht hoch in der Erkenntniß, der das gründlich eingeschn und eingefühlt hat. Aus seinem Glauben ergiebt sich kein Verzeihen und Entschuldigen — ich streiche 10 einen Satz durch, der mir mißrathen ist, so gut ich die Nothwendigkeit einsehe, vermöge deren er mir mißrieth, denn der Lärm eines Karrens störte mich — so streichen wir Handlungen, unter Umständen Menschen durch, weil sie mißrathen sind. „Alles begreifen" — das hieße alle perspektivischen Verhältnisse aufhe*s ben das hieße nichts begreifen, das Wesen des Erkennenden verkennen.
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Nachgelassene Fragmente
i[»5] Der interpretative Charakter alles Geschehens. Es giebt kein Ereigniß an sich. Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen a u s g e l e s e n und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen.
5
Die F u r c h t ist weitergebildet worden zum E h r g e f ü h l , der N e i d zur B i l l i g k e i t („jedem das Seine" und gar „gleiche Rechte") die Zudringlichkeit der Vereinsamten und Gefährdeten zur Treue,
i[»7] die Schwerfälligkeit des Geistes, der sich festsetzt, wohin er io einmal gerathen ist, die Bequemlichkeit, die nicht umlernen will, die gutmüthige Unterwerfung unter eine Macht und Freude am Dienen, das feuchtwarme Brüten auf Gedanken, Wünschen — alles deutsch — Ursprung der T r e u e und G l ä u b i g k e i t . i["8] Die Theilung eines Protoplasma in 2 tritt ein, wenn die 15 Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu bewältigen : Zeugung ist Folge einer Ohnmacht. Wo die Männchen aus Hunger die Weibchen aufsuchen und in ihnen aufgehn, ist Zeugung die Folge eines Hungers. i[ii9] Der v ö l l i g g l e i c h e V e r l a u f aber die h ö 20 h e r e A u s d e u t u n g des V e r l a u f s ! ! Die mechanistische Einerleiheit der Kraft, aber die Steigerung des Machtgefühls! „Das zweite Mal" — aber es giebt kein „zweites Mal". Die absolute W i r k u n g s l o s i g k e i t des inneren Ge25 fühls der Macht als Causalität,
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1[115—123]
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I [120]
Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es giebt keine „richtige" Auslegung. l[l2l] Gai saber. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 5
10
i. 2. 3. 4.
Freie Geister und andere Philosophen. Welt-Auslegung, nicht Welt-Erklärung. J e n s e i t s von G u t u n d Böse. D e r S p i e g e l . Eine Gelegenheit zur Selbstbespiegelung für Europäer. 5. D i e P h i l o s o p h e n d e r Z u k u n f t .
I[I22]
Ü b e r w i n d u n g d e r A f f e k t e ? — Nein, wenn es Schwächung und Vernichtung derselben bedeuten soll. S o n d e r n i n D i e n s t n e h m e n : wozu gehören mag, sie lange zu tyrannisiren (nicht erst als Einzelne, sondern als Gemeinde, 15 Rasse usw.) Endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will. i[«3] Glück und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder „Seligkeit" bei „schönen Seelen" oder schwindsüchtige Liebe bei herrn20 huterischen Pietisten beweisen nichts in Bezug auf die R a n g o r d n u n g der Menschen. Man müßte, als großer Erzieher, eine Rasse solcher „seligen Menschen" unerbittlich in das Unglück hineinpeitschen: die Gefahr der Verkleinerung, des Ausruhens ist sofort da: g e g e n das spinozistische oder epikure2 5 ische Glück und gegen alles Ausruhen in contemplativen Zuständen. Wenn aber die Tugend das Mittel zu einem solchen Glück
40
Nachgelassene Fragmente
ist, nun, so m u ß man a u c h H e r r ü b e r d i e gend werden
Tu-
i [124] Wie entsteht die perspektivische Sphäre und der Irrthum? Insofern, vermöge eines organischen Wesens, sich nicht ein We5 sen, s o n d e r n d e r K a m p f s e l b e r e r h a l t e n w i l l , w a c h s e n w i l l und sich b e w u ß t sein will. Das, was wir „Bewußtsein" und „Geist" nennen, ist nur ein Mittel und Werkzeug, vermöge (dessen) nicht ein Subjekt, sondern e i n K a m p f s i c h e r h a l t e n w i l l . J o Der Mensch ist das Zeugniß, welche ungeheuren Kräfte in Bewegung gesetzt werden können, durch ein kleines Wesen vielfachen Inhalts (oder durch einen perennirenden Kampf Concentrin auf viele kleine Wesen) Wesen, die mit Gestirnen spielen
15
i[»S] — E>er Glaube „so und so ist es" zu verwandeln in den Willen „so u n d (so) s o l l es w e r d e n " . i[iz6] — D i e W e g e z u m H e i l i g e n . Schluß von „der Wille zur Macht". I[l27]
— es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, ^0 nicht nur Essen und Trinken: und nicht nur im Gedächtniß an sie, oder im Eins-Werden mit ihnen, s o n d e r n i m m e r v o n N e u e m u n d auf n e u e W e i s e soll diese Welt verklärt werden.
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [123—134]
41
I [128]
— das Wesentliche des organischen Wesens ist eine n e u e A u s l e g u n g d e s G e s c h e h e n s , die perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist. i [129] — die Heiligen als die s t ä r k s t e n M e n s c h e n (durch 5 Selbstüberwindung und Freiheit, Treue usw. 1 [130] — das Verdienst l e u g n e n , aber das thun, was über allem Loben, ja über allem Verstehen ist 1 [131] Der Wille zur Macht. 1 [13^] — ein großer Mensch, der ein Recht dazu fühlt, Menschen 10 zu opfern wie ein Feldherr Menschen opfert; nicht im Dienste einer „Idee", sondern weil er herrschen will. 1 [133] — es ist immer weniger physische Kraft nöthig: mit Klugheit läßt man Maschinen arbeiten, der Mensch wird m ä c h t i ger u n d g e i s t i g e r . 1
'-134-' — weshalb es heute nöthig ist, zeitweilig grob zu reden und grob zu handeln. Etwas Feines und Verschwiegenes wird nicht mehr verstanden, selbst nicht von denen, welche uns verwandt sind. Wovon man nicht l a u t s p r i c h t und schreit, d a s i s t n i c h t d a : Schmerz, Entbehrung, Aufgabe, die lange 20 Pflicht und die große Überwindung — Keiner sieht und riecht etwas davon. Die Heiterkeit gilt als Zeichen des Mangels an 15
42
Nachgelassene Fragmente
Tiefe: daß sie die Seligkeit nach allzu strenger Spannung sein kann, wer weiß es? — Man geht mit Schauspielern um und thut sich viel Zwang an, um auch da zu ehren. Aber Niemand versteht, inwiefern es mir hart und peinlich ist, mit Schauspielern 5 umzugehn. Oder mit einem phlegmatischen Genüßling, der Geist genug hat, um — i[i35] — ich habe es den Deutschen als Philisterei und Bequemlichkeit angerechnet: aber dieses S i c h - g e h e n - l a s s e n ist europäisch und „jetztzeitig", nicht nur in der Moral und io Kunst. I[I36]
— sich nicht erlauben, daß aus der Neugierde und dem Eifer des Forschern eine Tugend gemacht wird, ein „Wille zur Wahrheit". Die Gelehrten von Port Royal wußten und nahmen das strenger. Aber wir haben alle unsere Hänge ins Kraut schieM ßen lassen und möchten hinterdrein auch den schönen Namen der Tugenden dafür haben. D i e T u g e n d g e h ö r t a b e r zu den E r z e u g n i s s e n der s t ä r k e r e n u n d b ö s e ren Z e i t a l t e r : sie ist ein Privilegium von Aristokraten. i[i37] Ich wundere mich über die anerkanntesten Dinge der Moral 20 — und andere Philosophen, wie Schopenhauer, sind nur vor den „Wundern" in der Moral stillgestanden. i [i38] Zwiste und Zwiegespräche 1
^ll9) Die Künstler fangen an, ihre Werke zu schätzen und zu überschätzen, wenn sie aufhören, Ehrfurcht vor sich selber zu
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [134—143]
43
haben. Ihr rasendes Verlangen nach Ruhm verhüllt oft ein trauriges Geheimniß. Das Werk gehört nicht zu ihrer Regel, sie fühlen es als ihre Ausnahme. — 5 Vielleicht auch wollen sie, daß ihre Werke Fürsprache für sie einlegen, vielleicht, daß Andere sie über sie selber täuschen. Endlich: vielleicht wollen sie Lärm i n sich, um sich selber nicht mehr zu „hören**. 1
^ 4 °]
„Gott will mein Bestes, als er mir das Leid schickte**. — Das io steht bei d i r, es zu deinem Besten auszulegen: m e h r bedeutete es auch bei dem religiösen Menschen nicht. i [141] J e n s e i t s v o n Ja u n d
Nein.
Fragen und Fragezeichen für Fragwürdige.
1 15
20
4 ^Wir f wissen es besser als wir es uns eingestehen, daß W(agner>
arm ist, daß ihm selten ein Gedanke kommt, daß er selber am meisten über sein Erscheinen erschreckt, entzückt, umgeworfen ist und eine überlange Zeit nicht müde wird, diese Wunder von Gedanken zu streicheln und herauszuputzen. Er ist zu dankbar und kennt die kalte Leutseligkeit der Reichen nicht, noch weniger ihren zärtlichen Ekel, die Müdigkeit solcher, welche nichts thun als verschenken — gleich Mozart, gleich Rossini: nur die überreichen Quellen springen und tanzen. 1 Cl43
*s
^ „W ir E i d e c h s e n d e s Glücks.** Gedanken eines Dankbaren.
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Nachgelassene Fragmente
l [144]
Die l e t z t e Tugend. Eine Moral für Moralisten 1 [i45] — diese letzte Tugend, u n s e r e Tugend heißt: Redlichkeit. In allen übrigen Stücken sind wir nur die Erben und vielleicht 5 die Verschwender von Tugenden, die nicht von uns gesammelt und gehäuft wurden 1 [146] Ein Moralist: darunter verstehe ich unsere Frage und Einwurf: hat es je schon einen solchen wahren rechten M(oralisten) gegeben? — Vielleicht"nein, vielleicht ja; jedenfalls darf es von 10 jetzt ab nur noch solche MMoralisten) geben. 1 [i47] Fliehen wir, meine Freunde, vor dem, was langweilig ist, vor dem bedeckten Himmel, vor der Watschel-Gans, vor dem ehrsamen Weibe, vor den alten Jungfern, welche schreiben und Bücher „legen" — ist das Leben nicht zu kurz, sich zu lang15 weilen? 1 [148] „Die Welt als Wille und Vorstellung" — ins Enge und Persönliche, ins Schopenhauer'sche zurückübersetzt: „die Welt als Geschlechts-Trieb und Beschaulichkeit". 1
^49^ Das deutsche Reich liegt mir fern, und es giebt keinen Grund 20 für midi, in Bezug auf eine Sache, die so fern liegt, freund oder feind zu sein.
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [144—156]
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I [150]
Wir waren bisher so artig gegen die Frauen. Wehe, es kommt die Zeit, wo man, um mit einer Frau verkehren zu können, ihr vorerst auf den Mund schlagen muß. 1 [151]
D i e Wege zum H e i l i g e n . Was s i n d s t a r k e G e i s t e r ? Von der Hee r d e n t h i e r - M o r a 1
5
i[i5*]
10
Neue Gefahren und neue S i c h e r h e i t e n Ein Buch für starke Geister. 1 [153] NB. Gegen Arisch und Semitisch. Wo Rassen gemischt sind, der Quell großer Cultur. 1 l>54] Was i s t v o r n e h m ? Gedanken über Rangordnung.
IJ
Worauf warten wir doch? Ist es nicht auf einen großen Herolds- und Trompeten-Lärm? Welches Glück liegt in lauten Tönen! Es giebt eine Stille, welche würgt: wir horchen schon zu lange. I[I56]
Wer die größten Geschenke zu vergeben hat, sucht nach 20 Solchen, welche sie zu nehmen verstehen — er sucht vielleicht umsonst? Er wirft endlich sein Geschenk weg? Dergleichen ge-
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Nachgelassene Fragmente
hört zur geheimen Geschichte und Verzweiflung der reichsten Seelen: es ist vielleicht der unverständlichste und schwermüthigste aller Unglücksfälle auf Erden. i[i57] Daß das moralische Urtheil, sofern es sich in Begriffen dar5 stellt, sich eng, plump, armselig, beinahe lächerlich ausnimmt, gemessen an der Feinheit desselben Urtheils, sofern es sich in Handlungen, im Auswählen, Abweisen, Schaudern, Lieben, Zögern, Anzweifeln, in jeder Berührung von Mensch und Mensch darstellt.
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i [158] wie heute die brave Mittelmäßigkeit in Deutschland sich bei der Musik ihres Brahms wohl, nämlich verwandt fühlt — : wie die feinen und unsicheren Windhunde des Pariser Geistes heute mit einem wollüstigen Geschmeichel um ihren Renan herumschnüffeln — 1 [i59] Der Werth der M o n a r c h e n im Steigen! 1 [160] Wie verrätherisch sind alle Parteien! — sie bringen etwas von ihren Führern ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer Kunst unter den Scheffel gestellt ist I[I6I]
Es hat Jeder vielleicht seinen Maaßstab für Das, was ihm " als „oberflächlich" gilt: wohlan, ich habe den meinen — einen groben, einfältigen Maaßstab zu meinem Hausgebrauche, wie er mir in die Hand paßt — mögen Andere ein Recht auf kitzlichere, feinzüngigere Werkzeuge haben! Wer das Leiden als Argument gegen das Leben fühlt, gilt
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [156—165]
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mir als oberflächlich, mithin unsre Pessimisten; insgleichen, wer im Wohlbefinden ein Ziel sieht. I[l62] Die orgiastische Seele. — Ich habe ihn gesehn: seine Augen wenigstens — es sind bald 5 tiefe stille, bald grüne und schlüpfrige Honig-Augen sein halkyonisches Lächeln, der Himmel sah blutig und grausam zu die orgiastische Seele des Weibes ich habe ihn gesehn, sein halkyonisches Lächeln, seine io Honig-Augen, bald tief und verhüllt, bald grün und schlüpfrig, eine zitternde Oberfläche, schlüpfrig, schläfrig, zitternd, zaudernd, quillt die See in seinen Augen i [i63] 1. Cäsar unter Seeräubern 15 2. An der Brücke 3. Die Hochzeit. — und plötzlich, während der Himmel dunkel herniederfällt 4. Ariadne. I[I64]
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Diese Musik — doch dionysisch? der Tanz? die Heiterkeit? der Versucher? die religiöse Fluth? unter Piatos Kopfkissen Ar (istophanes) ? I[I65]
unsre Spielleute und M(enschen) des unehrlichen Begrab-
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Nachgelassene Fragmente
nisses — es sind die Nächstverwandten der Hexen, sie haben ihre Blocksberge i [166] die mystische Natur, durch Laster besudelt und schäumend
die gütige und reine Quelle, die niemals mehr mit einem 5 Tropfen Unraths fertig wird der in sie fiel, bis sie endlich gelb und giftig durch und durch ist: — die verderbten Engel 1 [168] „Wir I m m o r a l i s t e n . "
„Heil dir, so du weißt, was du thust; doch weißt du es nicht, so bist du unter dem Gesetze und unter des Gesetzes Fluch" 10 Jesus von N a z a r e t h . 1 [170] Arbeitsamkeit, als Anzeichen einer u n v o r n e h m e n Art Mensch (die, wie sich von selber versteht, deshalb noch eine schätzenswerthe und unentbehrliche Art Mensch ist — Anmerkung für Esel) möchte in unserem Zeitalter
5
i[i7i] im Verhältniß zu Rabelais und jener überschäumenden Kraft der Sinne, deren Merkmal es ist, 1 [172] Raff ael ohne Hände die Klöster und Einsiedeleien der Cultur Diese Musik ist nicht aufrichtig
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [165—175]
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„So wenig Staat als möglich" — die antinationalen Mächte Für Einen, dem „Objektivität" „Beschaulichkeit" schon der höchste Zustand ist, wie Schopenhauer — der weiß nicht genug das Glück, einen ungebrochenen naiven Egoismus zu rinden 5 die Tartüfferie der Deutschen! die alte Frau als Ausfluß ihres Pflichtgefühls darstellen — ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Geschrei und Geschreib der häßlichen Mädchen — der abnehmende Einfluß des Weibes. jo die neue Melusine Möglichst viel Militaria, die angeschossenen Könige — die Entbehrung des Feldlagers, ohne Thür und Fenster der geladene Revolver „die Ursache jeder Handlung ein Akt des Bewußtseins", ein 15 W i s s e n ! Folglich die schlechten Handlungen nur Irrthümer usw. Das berühmte Wort „vergieb ihnen", die Verallgemeinerung „tout comprendre" — o b e r f l ä c h l i c h e Worte „der große Zweideutige und Versucher" 1
*o
[l7 i]
. ein kalter widerwilliger See, auf dem sich kein Entzücken kräuselt
1 [i74] noch nicht eine Stunde unter meines Gleichen, bei jedem Thun und Geschäfte den heimlichen Wurm „du hast Anderes zu thun" gemartert von Kindern Gänsen und Zwergen, Alpdruck 2 5 — es giebt nur Solche um ihn, an denen er weder Vergeltung üben, noch Belehrung geben 1 [175] verzärtelte Gewissen
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Nachgelassene Fragmente
i [i76] das kleine Wehsal i[*77] Von einehi großen Menschen. Die Nachgekommenen sagen von ihm: „seitdem stieg er immer höher und höher". — Aber sie verstehen nichts von diesem 5 Martyrium des Aufsteigens: ein großer Mensch wird gestoßen, gedrückt, gedrängt, hinauf gemartert in s e i n e Höhe. 1 [l78]
Dies ist das Problem der Rasse, wie ich es verstehe: denn an dem plumpen Geschwätz von arisch 1
^75^ Der Jesuitismus der Mittelmäßigkeit, welcher den ungewöhn10 liehen und gespannten Menschen wie einen ihm gefährlichen Bogen zu brechen oder abzuschwächen sucht, mit Mitleiden und bequemer Handreichung so gut als mit Vergiftungen seiner n o t wendigen Einsamkeit und heimlicher Beschmutzung seines Glaubens —: der seinen Triumph hat, wenn er sagen kann „der 15 ist endlich wie unser-Einer geworden", dieser herrschsüchtige Jesuitismus, der die treibende Kraft in der gesammten demokratischen Bewegung ist, wird überall sehr abseits von der Politik und den Fragen der Ernährung 1 [180] Mozart die Blume des deutschen Barokko — I[I8I] 20
Inspiration. — 1 [18z] Es ist schwer verstanden zu werden. Schon für den guten
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1[176—186]
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Willen zu einiger F e i n h e i t der Interpretation soll man von Herzen dankbar sein: an guten Tagen verlangt man gar nicht mehr Interpretation. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß zugestehen. Es dünkt mich bes5 ser mißverstanden als unverstanden zu werden: es ist etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? — Comprendre c'est egaler. Es schmeichelt mehr, mißverstanden zu sein als unverstanden: gegen das Unverständliche bleibt man kalt, und Kälte be!° leidigt. i [i83] Ach, dies ist das Meer: und hier soll dieser Vogel sein Nest bauen? An jenen Tagen, wo das Meer stille wird und I[I«4]
Von der H a b g i e r des G e i s t e s : wo, wie beim 15 Geize, das Mittel Zweck wird. Die Unersättlichkeit Man liebt h e u t e alles fatalistische Ungeheure: so auch den Geist. I[I85]
D i e Z u c h t des G e i s t e s . 20
Gedanken ü b e r das i n t e l l e k t u e l l e G e w i s s e n . Die Habgier und Unersättlichkeit des Geistes: — das Ungeheure, Fatalistische, Nächtlich-Schweifende, Erbarmungslose, Raubthierhafte und Listige daran.
i [186] Der Gelehrte. *J Was i s t W a h r h e i t .
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Nachgelassene Fragmente
V o n der Z u c h t l o s i g k e i t d e s G e i s t e s . D a s D e m a g o g i s c h e in u n s r e n K ü n s t e n . H e r r e n - und S k l a v e n m o r a l . Moral und Physiologie. Frömmigkeit. Zur G e s c h i c h t e des f r e i e n Geistes. Wir Immoralisten. Die vornehme Seele. Die Maske. i [187] 1. Was ist Wahrheit? 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Zur Naturgeschichte des Gelehrten. Die Maske. Von der vornehmen Seele. Wir Immoralisten Heerden-Moral. Von der Demagogie der Künste. Frömmigkeit.
9. Die guten Europäer. 10. Die Philosophen der Zukunft. Skeptiker. Freie Geister. Starke Geister. Versucher. Dionysos. 1 [188] Erstes Hauptstück: unser Muth Zweites Hauptstück: unser Mitleid
25
DrittesHauptstück: unsre Einsicht Viertes Hauptstück: unsre Einsamkeit.
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [186—190]
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I [189]
5
i. 2. 3. 4. 5.
Moral und E r k e n n t n i ß . Moral und Religion. Moral u n d K u n s t . „W i r E u r o p ä e r . " Was ist v o r n e h m ? Inspiration
1 [190] Unter denen, welche sich von der Religion losgelöst haben, finde ich Menschen von vielerlei Art und Rang. Da sind die Unenthaltsamen, welche sich von ihren Sinnen haben überreden J o lassen (weil ihre Sinne den Zwang und Vorwurf des religiösen Ideals nicht mehr ertrugen) — und die sich der Vernunft, des Geschmacks als ihrer Fürsprecher zu bedienen pflegen, wie als ob sie das Unvernünftige, das Geschmackwidrige an der Religion nicht mehr zu ertragen wüßten: — dieser Art Mensch eignet der 15 antireligiöse Haß, die Bosheit und das sardonische Lachen, ebenso aber, in gut verheimlichten Augenblicken — eine sehnsuchtsvolle Scham, eine innere Unterwürfigkeit unter die Wertschätzungen des verleugneten Ideals. Der Kirche durch Sinnlichkeit entfremdet, verehren sie, wenn sie wieder zu ihr zurückkehren, das Ideal 10 der Entsinnlichung, als das religiöse „Ideal an sich": — eine Quelle vieler und schwerer Irrthümer. Da sind die geistigeren, gefühlsärmeren, trockneren, auch gewissenhafteren Menschen, welche von Grund aus an ein Ideal zu glauben überhaupt unfähig sind und die im feinen Neinsagen 25 und kritischen Auflösen noch ihre größte Stärke und Selbstachtung zu finden wissen: sie sind losgelöst, weil nichts in ihnen ist, das fest binden könnte; sie lösen los, weil Phasen — Verlust, Oede, einbegriffen ein Gefühl der Untreue, Undank3° barkeit, Loslösung, alles überwogen durch eine unwiderrufliche bittere Gewißheit
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Nachgelassene Fragmente
das Gefühl der ehrfurchtsvollen Nachsicht und eines schönen Ernstes (mit großer Milde gegen die h(omines) religiosi) das Gefühl der überlegenen gütigen Heiterkeit gegen alle Religionen gemischt mit einer leichten Geringschätzung gegen 5 die Unsauberkeit des intellektuellen Gewissens, welche es immer noch Vielen erlaubt, religiös zu sein, oder einem kaum verhehlten Erstaunen, daß es möglich ist zu „glauben" i [191] NB. Zuletzt war das G a n z e einer griechischen Stadt doch mehr w e r t h als ein Einzelner! es ist nur nicht erhalten! 10 — so gewiß der Leib mehr werth ist als irgend ein Organ. Gehorchen lernen, 1000 Mal im Leibe, das höchste leisten! 1 [192] reiner gewaschen und reinlicher gekleidet tüchtige Turner mit einem Schloß vor dem losen Maule, sich zum Schweigen erziehend, auch zu einiger Selbstbeherrschung in Venere (und 15 nicht, wie so häufig, verhurt und verhunzt von Knabenalter an): möchten wir sie bald nach dieser Seite hin „europäisirt" sehn 1 [i93] ich liebe die prachtvolle Ausgelassenheit eines jungen Raubthiers, das zierlich spielt, und indem es spielt zerreißt 1 [i94] Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutz20 losigkeit der m o d e r n e n Welt — nicht der Welt und des Daseins. 1
t195^
Es scheint mir immer mehr daß wir nicht flach und nicht gutmüthig genug sind, um an dieser märkischen Junker-Vater-
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [190—200]
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länderei mitzuhelfen und in ihre haßschnaubende Verdummungs-Parole „Deutschland Deutschland über Alles" einzustimmen. i [i96] — man muß schon bis zum letzten Wagner und seinen Bay5 reuther Blättern hinuntersteigen um einem ähnlichen Sumpf von Anmaaßung, Unklarheit und Deutschthümelei zu begegnen, wie es die Reden an die D {eutsche) N(ation) sind. i [*97] Die alten Romantiker fallen um und liegen eines Tags, man weiß nicht wie, vor dem Kreuze ausgestreckt: Das ist auch io Richard Wagner begegnet. Die Entartung eines solchen Menschen mit anzusehen gehört zum Schmerzhaftesten was ich erlebt habe: — daß man es in D (eutschland) n i c h t schmerzhaft empfunden hat, war ein starker Anstoß für mich, jenem Geiste, der jetzt in D(eutschland) herrscht, noch mehr zu mißtrauen.
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i [i98] Buatschleli batscheli bim bim bim Buatscheli batschleli bim! 1 U99] Das Glück fassen und erdrosseln, erwürgen, ersticken mit seiner Umarmung: — die Melancholie solcher Erlebnisse — es würde sonst fliehen und entschlüpfen? 1 [200] Wie viel Einer aushält von der Wahrheit? Wie viel Einer auf sich nimmt, zu verantworten? Wie viel Einer auf sich nimmt, zu versorgen und zu schützen?
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Nachgelassene Fragmente
Die Einfachheit — und was der bunte Geschmack der Künstler verräth? i [201]
Mittelstand-Moral
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1 [202] Es giebt etwas Unbelehrbares im Grunde: einen Granit von fatum, von vorausbestimmter Entscheidung im Maaße und Verhältniß zu uns, und ebenso ein Anrecht auf bestimmte Probleme, eine eingebrannte Abstempelung derselben auf unseren Namen. Der Versuch, sich anzupassen, die Qual der Vereinsamung, das Verlangen nach einer Gemeinschaft: dies kann sich bei einem Denker so äußern, daß er an seinem Einzelfall gerade das Persönlichste und Werthvollste subtrahirt und, indem er verallgemeinert, auch v e r g e m e i n e r t . Dergestalt ist es möglich, daß die ganze ausgesprochene Philosophie eines merkwürdigen Menschen nicht eigentlich seine Philosophie, sondern gerade die seiner Umgebung ist, von der er als Mensch a b w e i c h t , paratypisch. Inwiefern Bescheidenheit, Mangel an muthigem „Ich bin" bei einem Denker verhängnißvoll wird. „Der Typus ist interessanter als der Einzel- und Ausnahme-Fall": insofern kann die Wissenschaftlichkeit des Geschmacks Jemanden dazu bringen, für sich nicht die nöthige .Theilnahme und Vorsicht zu haben. Und endlich: Stil, Litteratur, der Wurf und Fall der Worte — was fälscht und verdirbt dies Alles am Persönlichsten! Mißtrauen im Schreiben, Tyrannei der Eitelkeit des G u t Schreibens: welches jedenfalls ein Gesellschafts-Kleid ist und uns auch versteckt. Der Geschmack feindlich dem Originellen! eine alte Geschichte. Stil, der mittheilt: und Stil, der nur Zeichen ist, „in memoriam". Der todte Stil eine Maskerade; bei anderen der lebendige Stil. Die Entpersönlichung.
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [200—209]
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1 2 3
t°^
Gegen einen Feind giebt es kein besseres Gegenmittel als einen zweiten Feind: denn Ein Feind i [204] Allzuviel auf mir, seit wann?, fast von Kindesbeinen an. Meine Philologie war nur eine begierig ergriffene Echappade: 5 ich kann mich nicht darüber täuschen, die Leipziger Tagebücher redeten zu deutlich. — Und keine Gefährten! — Leichtfertig im Vertrauen? Aber ein Einsiedler hat immer zu viel Vorrath davon aufgehäuft, ebenso freilich auch von Mißtrauen. 1
^2°5^
Das tiefste Mißverständniß der Religion, „böse Menschen 10 haben keine Religion". 1 [206] R u s s i s c h e Musik: wie kommt es, daß 1
t2°7]
Die extreme Lauterkeit der Atmosphaere in die ich ihn gestellt habe, und mir erlaubt, Dinge 1 [208] ich bin widerstandsunfähiger gegen den phys(ischen) Schmerz ij geworden: und wenn jetzt Tage kommen mit den alten Anfällen, so verwandelt sich der Schmerz sogleich in eine seelische Tortur, mit der ich nichts vergleichen kann 1 [209] Man giebt an sein Werk auch die Höhe und Güte seiner Natur weg: hinterdrein Dürre oder Schlamm. —
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Nachgelassene Fragmente
I [2I0] Wie das gute Gewissen und das Wohlbefinden loslöst von den tiefen Problemen! 1 [211] Jenseits von Gut und Böse: dergleichen macht Mühe. Ich übersetze wie in eine fremde Sprache, ich bin nicht immer 5 sicher, den Sinn gefunden zu haben. Alles etwas zu grob, um mir zu gefallen.
I [zu] Auf braunen, gelben, grünen Purpur-Teppichen kommt 1 [2131 Wir Früh-Aufsteher, die wir auf den 1 [214] Gegensatz, es giebt Wahrheiten zum Erbrechen, materia 10 peccans, welche man schlechterdings los werden will: man wird sie los, indem man sie mittheilt. i[»5] Auf die Noth der Massen sehen mit ironischer Wehmut: sie wollen etwas, das w i r können — ah! I[ll6]
Ich habe den heiligen Namen der Liebe nie entweiht. x5
1 [217] ausgeschlafene Kräfte 1 [218] acht in seiner Objektivität, in seinem heiteren Totalismus, ist er falsch und gewollt in seinen Affekten, künstlich und raffinirt im Erfassen des Einzelnen, selbst in den Sinnen
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [210—222]
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I [219]
NB Wie im Abnehmen der Lebenskraft man zum Beschaulichen und zur Objektivität h e r u n t e r s i n k t : ein Dichter kann es fühlen (Sainte-Beuve).
5
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M
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1 [220] Das ungeheure Genießen des Menschen und der Gesellschaft im Zeitalter L(udwigs) XIV machte, daß der Mensch in der Natur sich langweilte und verödet fühlte. Am peinlichsten war die oede Natur, das Hochgebirge. Die P r e z i e u s e n wollten den Geist, mindestens den esprit in die Liebe bringen. Symptom eines ungeheuren Genusses am G e i s t e (dem hellen, distinguirenden, wie zur Zeit der Perserkriege) Die künstlichsten Formen (Ronsard, selbst die Skandinavier) machen die größte Freude bei sehr saftigen und kräftigen sinnlichen Naturen: es ist ihre Selbst-Überwindung. Auch die künstlichste Moral. Unsere Menschen wollen hart, fatalistisch, Zerstörer der Illusionen sein — Begierde schwacher und zärtlicher Menschen, welche das Formlose, Barbarische, Form-Zerstörende goutiren (z. B. die „unendliche" Melodie — Raffinement der deutschen Musiker) Der Pessimismus und die Brutalität als Reizmittel unsrer Preziösen. 1 [22l]
. Catilina — ein Romantiker neben Caesar, modo celer modo lentus ingressus 1 [222] Die Gewissensfreiheit ist nur im großen Despotismus nutzes lieh und möglich — ein Symptom der A t o m i s i r u n g
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Nachgelassene Fragmente
i ["3] NB Die letzte Tugend. Wir sind die Verschwender der Tugenden, welche unsere Vorfahren angesammelt haben und, Dank ihnen, in Hinsicht auf ihre lange Strenge und Sparsamkeit, mag es eine geraume 5 Zeit noch angehn, daß wir uns als die reichen und übermüthigen Erben (gebärden.) i [224] düster oder ausgelassen, ein Geist, der in allem, was er aussinnt, Rache für etwas nimmt, das er gethan hat (oder dafür, daß er Etwas n i c h t gethan hat) — der das Glück nicht ohne 10 Grausamkeit versteht i[«5] Hier, wo die Halbinsel ins Meer läuft 1 [226] Wer kein Vergnügen daran hat, Tölpel tanzen zu sehen, soll keine deutschen Bücher lesen. Ich sehe eben einen deutschen Tölpel tanzen: Eugen Dühring, nach dem Anarchisten-Motto „ni 15 dieu ni maftre". i[«7] Bei den M e i s t e n ist auch heute immer noch ihre K l u g h e i t das Ächteste, was sie haben: und nur jene Seltenen, welche wissen, welche fühlen, wie sie im Zwielichte einer alternden Cultur aufgewachsen sind
*o
i[«8] Ich verstehe nicht, was die Laien an R
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [223—231] I [229]
J
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Halkyonische Reden. Cäsar unter Seeräubern. Die Stunde, wo die Sonne hinunter ist — Die Menschen zu lieben um Gottes Willen — Für die, welche golden lachen. Dankbar für das Mißverstandenwerden — Am goldenen Gitter. Wir Eidechsen des Glücks — Unter Kindern und Zwergen. An der Brücke. Auf der alten Festung. Das Bad. Das größte Ereigniß — Immer verkleidet otium Armut, Krankheit — und der vornehme Mensch das langsame Auge „Seines-Gleichen* — gegen die Vertraulichkeit Schweigen-können Schwer-versöhnlich, schwer-ergrimmt Alles Förmliche in Schutz nehmen. Frauen. — Tanz, Thorheit, kleine Schmuckkästen der Versucher. Vom Geblüt. Die Maske. 1 [230]
2
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Halkyonische
Lieder.
1 [231] A r i a d n e.
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Nachgelassene Fragmente
i [232] D a s P r o b l e m der R a n g o r d n u n g . Vorläufige Gedanken und Gedankenstriche von Friedrich Nietzsche.
5 X [233]
NB. Der Schaden macht k l u g , sagt der Pöbel. — So weit er klug macht, macht er auch schlecht. Aber wie oft macht der Schaden dumm! 1 [2}4
1
In wiefern ein Handwerk leiblich und geistig deformirt: 10 ebenso Wissenschaftlichkeit an sich, ebenso Gelderwerb, ebenso jede Kunst: — der S p e z i a l i s t ist nothwendig, aber gehört in die K l a s s e d e r W e r k z e u g e . 1 [235] Es ist sehr interessant, einmal Menschen ohne Zügel und Grenze zu sehn: fast alle höheren Menschen (wie Künstler) fal15 len in irgend eine Unterwerfung zurück, sei es das Christenthum oder die Vaterländerei.
Wenn dies kein Zeitalter des Verfalls und der abnehmenden Lebenskraft mit viel Melancholie ist, so ist es zum mindesten eines des unbesonnenen und willkürlichen Versuchens: — und es 20 ist wahrscheinlich, daß aus seiner Überfülle m i ß r a t h e n e r Experimente ein Gesammt-Eindruck wie von Verfall entsteht: und vielleicht die Sache selbst, d e r Verfall.
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [232—239]
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i [*37] Das Problem der Rangordnung. Das Problem von Zucht und Züchtung. Die Zucht des Willens. Die Zucht des Gehorchens. NB. « Die Zucht des Befehlens. Die Feinheit der Unterscheidung. Die Bildung, welche die Spezialität ausschließt. i[*3«] Die tiefe Notwendigkeit der Aufgabe, welche über allen möglichen Schicksalen jedes Menschen waltet, in dem eine Aufio gäbe leibhaft wird und „zur Welt kommt" — in der Mitte des Lebens begreife ich, was das P r o b l e m d e r R a n g o r d n u n g für Vorbereitungen nöthig hatte, um in mir endlich aufzusteigen: — wie ich die vielfachsten Glücks- und Nothstände m(einer) Seele und meines Leibes erfahren mußte, nichts ver15 lierend, alles auskostend und auf den Grund prüfend, Alles vom Zufälligen reinigend und aussiebend. 1
t239J
Jede Moral, welche irgend wie geherrscht hat, war immer die Zucht und Züchtung eines bestimmten Typus von Menschen, unter der Voraussetzung, daß es auf diesen Typus vornehmlich, 20 ja ausschließlich ankomme: kurz, immer unter der Voraussetzung eines Typus. Jede Moral glaubt daran, daß man m 11 A b s i e h t und Zwang am Menschen Vieles ändern („bessern") könne: — sie nimmt die Anähnlichung an den maaßgebenden Typus immer als »Verbesserung" (sie hat von ihr gar keinen an*5 deren Begriff —).
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Nachgelassene Fragmente
I [240] Über Naivetät. Die Reflexion kann noch ein Zeichen von N(aivetät) sein. „Naiver Egoismus". 1 [241] das Wohl des „Nächsten" ist an sich erstrebenswerther 1) 5 wenn Wohl erstrebenswerth ist 2) wenn feststeht, welche Art von Wohl, da es solche giebt, die sich als Ziele widersprechen und hemmen, 3) wenn schon ein Werth der Personen feststeht und klar ist, daß „der Nächste" höheren Werth als ich hat. — Die angenehmen begeisterten sentiments der Hingebung usw. 10 müssen erbarmungslos kritisirt werden; an sich enthalten sie vermöge des Tropfens Annehmlichkeit und Begeisterung, der in ihnen ist, noch kein Argument f ü r , sondern nur eine V e r f ü h r u n g dazu. 1 [242] Menschenkenntniß: es kommt darauf an, was Einer schon 15 als „Erlebniß" faßt, fühlt; die Meisten brauchen eine plumpe Ausführlichkeit des Geschehens und hundertmalige Wiederholung, und Einige haben Keulenschläge nöthig, um da hinter ein Erlebniß zu kommen und aufmerksam zu werden 1
t24^ Die Barbarisirung des Christenthums durch die Deutschen
1 t244
20
.^ Wissenschaft als Mittel zur Erziehung. An sich getrieben eine Barbarei mehr, ein barbarisirendes Handwerk 1 [245] Iti vuttakam (Also sprach (der Heilige)
Herbst 1885—Frühjahr 1886 1 [240—247]
i [246] nicht betrügen nicht Compromisse verachten solche U n k l a r h e i t , W( agner). 1
5
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wie Bismarck und
'-147-' Wie an Gott die Menschen krank waren und sich d e m Menschen entfremdeten.
[2 - W I 8. Herbst 1885 - Herbst 1886]
Es giebt eine vornehme und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen Schluß und Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der überreichen Seele, die sich nie um Freunde b e m ü h t hat, sondern nur die Gastfreundschaft kennt, immer nur Gast5 freundschaft übt und zu üben versteht — Herz und Haus offen für Jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder Krüppel oder Könige. Dies ist die ächte Leutseligkeit: wer sie hat, hat hundert „Freunde", aber wahrscheinlich keinen Freund.
Dieser herrliche Geist, sich selbst jetzt genug und gut gegen io Überfälle vertheidigt und abgeschlossen: — ihr zürnt ihm wegen seiner Burg und Heimlichkeit und schaut dennoch neugierig durch das goldne Gitterwerk, mit dem er sein Reich umzäunt hat? — neugierig und verführt: denn ein unbekannter undeutlicher Duft bläst euch boshaft an und erzählt etwas von ver15 schwiegenen Gärten und Seligkeiten. 213]
Wir sind mitten im gefährlichen Carneval des Nationalitäten-Wahnsinns, wo alle feinere Vernunft sich bei Seite geschlichen hat und die Eitelkeit der ruppigsten Winkel-Völker nach den Rechten der Sonder-Existenz und Selbstherrlichkeit schreit 20 — wie (kann) man heute es den Polen, der vornehmsten Artung
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Nachgelassene Fragmente
der slavischen Welt, verargen Hoffnungen zu unterhalten und man sagt mir, daß D(eutschland) dabei das große Wort spreche.
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HalkyonischeZwischenreden. Zur Erholung von „Also sprach Zarathustra" seinen Freunden geweiht von Friedrich Nietzsche
10
Das ausschließliche Interesse, was jetzt in Deutschland den Fragen der Macht, dem Handel und Wandel und — zu guterletzt — dem „Gut-leben" geschenkt wird, das Heraufkommen des parlamentarischen Blödsinns, des Zeitungslesens und der litteratenhaften Mitsprecherei von Jedermann über Jegliches, M die Bewunderung eines Staatsmannes, der von Philosophie eben so viel weiß und hält, als ein Bauer oder Corpsstudent, und seine kühne rücksichtenlose Augenblicks-Politik durch eine altertümliche Verbrämung mit Royalismus und Christenthum dem deutschen Geschmacke (oder Gewissen —) „acceptabler" zu machen 20 glaubt — : alles das hat in dem unheimlichen und vielfach anziehenden Jahre 1815 seinen Ursprung. Da fiel plötzlich die Nacht hernieder für den deutschen Geist, der bis dahin einen langen fröhlichen Tag gehabt hatte: das Vaterland, die Grenze, die Scholle, der Vorfahr — alle Arten Bornirtheit begannen 25 plötzlich ihre Rechte geltend zu machen. Damals e r w a c h t e oben die Reaktion und Beängstigung, die Furcht vor dem deutschen Geiste, und folglich unten der Liberalismus und Revolutionismus und das ganze politische Fieber, — man versteht dies Folglich. Seitdem — seit es politisirt — verlor Deutschland
Herbst 1885—Herbst 1886 2[3—8]
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die geistige Führerschaft von Europa: und jetzt gelingt es, mittelmäßigen Engl (ändern), den D(eutschen)
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2 [6] Die vorletzten Jahrhunderte. — Deutschland hat erst in dem 17. und 18. Jahrhundert seine eigenste Kunst, die Musik, auf die Höhe gebracht: man vergebe es einem mitunter melancholischen Beobachter, wenn er die deutsche Musik des neunzehnten Jahrhunderts auch nur als eine glänzende vielfache und gelehrte Form des Verfalls zu erkennen vermag. Es hat in demselben vielverlästerten Jahrhundert ebenfalls in den bildenden Künsten eine verschwenderische Lust und Kraft gezeigt: der deutsche Barockstil in Kirche und Pallast gehört als Nächstverwandter zu unsrer Musik — er bildet im Reiche der Augen dieselbe Gattung von Zaubern und Verführungen, welche unsere Musik für einen anderen Sinn ist. Zwischen Leibnitz und Schopenhauer (geboren 1788) hat Deutschland den ganzen Kreis origineller Gedanken ausgedacht, also ebenfalls innerhalb jener Jahrhunderte: — und auch diese Philosophie, mit ihrem Zopf und Begriffs-Spinngewebe, ihrer Geschmeidigkeit, ihrer Schwermuth, ihrer heimlichen Unendlichkeit und Mystik gehört zu unserer Musik und ist eine Art Barokko im Reiche der Philosophie. 2 [ 7 ]
Dem Geiste, den wir begreifen —, dem g l e i c h e n wir nicht: dem sind wir überlegen! 2 [8]
Was noch jung ist und auf schwachen Beinen steht, macht *5 immer das lauteste Geschrei: denn es fällt noch zu oft um. Zum Beispiel der „Patriotismus" im heutigen Europa, „die Liebe zum Vaterlande", die nur ein Kind ist: — man soll den kleinen Schreihals ja nicht zu ernst nehmen!
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Nachgelassene Fragmente
An m e i n e F r e u n d e . Dieses Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewußt hat und irgend eine Kunst verstehen muß, durch die auch spröde und widerspän5 stige Ohren verführt werden: gerade dieses Buch ist meinen näheren Freunden am unverständlichsten geblieben: — es war ihnen, als es erschien, ein Schrecken und ein Fragezeichen und legte eine lange Entfremdung zwischen sie und mich. In der That, der Zustand, aus dem es entsprang, hatte genug des Räthio seihaften und Widersprechenden an sich: ich war damals zugleich s e h r glücklich und s e h r leidend — Dank einem großen S i e g e , den ich über mich selbst davongetragen hatte, einem jener gefährlichen Siege, an denen man zu Grunde zu gehen pflegt. Eines Tages — es war im Sommer 1876 — kam mir eine 15 plötzliche Verachtung und Einsicht: und von da an gieng ich unbarmherzig über all die schönen Wünschbarkeiten hinweg, an die meine Jugend ihr Herz verschenkt hatte 2[I0]
Der Nationalitäten-Wahnsinn und die Vaterlands-Tölpelei sind für mich ohne Zauber: „Deutschland, Deutschland über io Alles" klingt mir schmerzlich in den Ohren, im Grunde, weil ich von den Deutschen mehr will und wünsche als — . Ihr erster Staatsmann, in dessen Kopfe sich braver Grund von Royalismus und Christenthum mit einer rücksichtenlosen AugenblicksPolitik verträgt, der nicht mehr von der Philosophie berührt ist *5 als ein Bauer oder ein Corpsstudent, erregt meine ironische Neugierde. Es scheint mir sogar nützlich, daß es einige Deutsche giebt, die gegen das d(eutsche) R(eich) gleichgültig geblieben sind: nicht einmal als Zuschauer, sondern als Wegblickende. W o h i n blicken sie denn? Es giebt wichtigere Dinge, gegen welche ge3° rechnet diese Fragen nur Vordergrunds-Fragen sind: z. B. das wachsende Heraufkommen des demokratischen Mannes und die
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dadurch bedingte Verdummung Europas und V e r k l e i n e r u n g des europäischen Menschen. a[n] Das intellectuelle Gewissen. Versuch einer Kritik der geistigeren Menschen. 5
Der Philosoph. Der freie Geist. Der Künstler. Der religiöse Mensch. Der Gelehrte. Der vornehme Mensch. Dionysos.
2 [12] Inter pares: ein Wort, das trunken macht, — so viel Glück und Unglück schließt es für den ein, welcher ein ganzes Leben allein war; der Niemandem begegnet ist, welcher zu ihm gehörte, io ob er schon auf vielerlei Wegen gesucht hat; der im Verkehre immer der Mensch der wohlwollenden und heiteren Verstellung, der gesuchten und oft gefundenen Anähnlichung sein mußte und jene gute Miene zum bösen Spiele aus allzulanger Erfahrung kennt, welche „Leutseligkeit" heißt, — mitunter freilich auch l S jene gefährlichen herzzerreißenden Ausbrüche aller verhehlten Unseligkeit, aller nicht erstickten Begierde, aller aufgestauten und wild gewordenen Ströme der Liebe, — den plötzlichen Wahnsinn jener Stunde, wo der Einsame einen Beliebigen umarmt und als Freund und Zuwurf des Himmels und kostbarstes *o Geschenk behandelt, um ihn eine Stunde später mit Ekel von sich zu stoßen, — mit Ekel nunmehr vor sich selber, wie beschmutzt, wie erniedrigt, wie sich selbst entfremdet, wie an seiner eignen Gesellschaft krank — . ^ [13] Dies ist mein Mißtrauen, das immer wieder kommt, meine *5 Sorge, die sich mir nie schlafen legt, meine Frage, welche Niemand hört oder hören mag, meine Sphinx, neben der nicht nur Ein Abgrund ist: — ich glaube, wir täuschen uns heute über die
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Dinge, welche wir Europäer am höchsten lieben, und ein grausamer (oder nicht einmal grausamer, nur gleichgültiger und kindsköpfischer) Kobold spielt mit unserem Herzen und seiner Begeisterung, wie er vielleicht mit Allem schon gespielt hat, was sonst lebte und liebte — : ich glaube, daß Alles, was wir in Europa heute als „Humanität", „Moralität" „Menschlichkeit", „Mitgefühl", Gerechtigkeit zu verehren gewohnt sind, zwar als Schwächung und Milderung gewisser gefährlicher und mächtiger Grundtriebe einen Vordergrunds-Werth haben mag, aber auf die Länge hin trotzdem nichts Anderes ist als die Verkleinerung des ganzen Typus „Mensch" — seine endgültige V e r m i t t e l m ä ß i g u n g , wenn man mir in einer verzweifelten Angelegenheit ein verzweifeltes Wort nachsehen will; ich glaube, daß die commedia umana für einen epikurischen Zuschauer-Gott darin bestehen müßte, daß die Menschen vermöge ihrer wachsenden Moralität, in aller Unschuld und Eitelkeit sich vom Thiere zum Range der „Götter" und zu überirdischen Bestimmungen zu erheben wähnen, aber in Wahrheit s i n k e n , das heißt durch Ausbildung aller der Tugenden, vermöge deren eine Heerde gedeiht, und durch Zurückdrängung jener andren und entgegengesetzten, welche einer neuen höheren stärkeren h e r r s c h a f t l i c h e n Art den Ursprung geben, eben nur das Heerdenthier im Menschen entwickeln und vielleicht das Thier „Mensch" damit f e s t s t e l l e n — denn bisher war der Mensch das „nicht festgestellte Thier" —; ich glaube, daß die große vorwärts treibende und unaufhaltsame d e m o k r a t i s c h e Bewegung Europa's — das, was sich „Fortschritt" nennt — und ebenso schon deren Vorbereitung und moralisches Vorzeichen, das Christenthum — im Grunde nur die ungeheure instinktive Gesammt-Verschwörung der Heerde bedeutet gegen alles, was Hirt, Raubthier, Einsiedler und Cäsar ist, zu Gunsten der Erhaltung und Heraufbringung aller Schwachen, Gedrückten, Schlecht-Weggekommenen, Mittelmäßigen, Halb-Mißrathenen, als ein in die Länge gezogener, erst heimlicher, dann immer
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selbstbewußterer Sklaven-Aufstand gegen jede Art von Herrn, zuletzt noch gegen den Begriff „Herr", als ein Krieg auf Leben und Tod wider jede Moral, welche aus dem Schooße und Bewußtsein einer höheren stärkeren, wie gesagt herrschaftlichen Art Mensch entspringt, — einer solchen, die der Sklaverei in irgend welcher Form und unter irgend welchem Namen als ihrer Grundlage und Bedingung bedarf; ich glaube endlich daß bisher jede Erhöhung des Typus Mensch das Werk einer aristokratischen Gesellschaft war, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubte und die Sklaverei nöthig hatte: ja daß ohne das P a t h o s d e r D i s t a n z , wie es aus dem eingefleischten Unterschiede der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge, und ihrer ebenso beständigen Übung im Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, auch jenes andre geheimnißvollere Pathos gar nicht entstehen kann, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz die „Selbst-Überwindung des Menschen", um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Eine Frage kommt mir immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen in's Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdigen Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus „Heerdenthier" jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Z ü c h t u n g des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn Jemand käme, der sich ihrer b e d i e n t e —, dadurch daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei — als welche sich einmal die Vollendung der euro-
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Nachgelassene Fragmente
päischen Demokratie darstellen wird, — jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche diese neue Sklaverei nun auch — n ö t h i g hat? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu i h r e n Fernsichten? Zu i h r e n Aufgaben? 2 [ l 4]
5
Unsre vier Cardinal-Tugenden: Muth, Mitleid, Einsicht und Einsamkeit — sie würden sich selber unerträglich sein, wenn sie sich nicht mit einem heiteren und spitzbübischen Laster verbrüdert hätten, genannt „Höflichkeit". — 2 [ l 5 ]
Grausamkeit kann die Erleichterung von gespannten und io stolzen Seelen sein, von solchen, die gewohnt sind, beständig gegen sich Härten auszuüben; es ist ein Fest für sie geworden, endlich einmal wehe zu thun, leiden zu sehn — alle kriegerischen Rassen sind grausam; Grausamkeit kann, umgekehrt, auch eine Art Saturnalien gedrückter und willensschwacher Wesen sein, M von Sklaven, von Frauen des Serails, als ein kleiner Kitzel der Macht, — es giebt eine Grausamkeit böser und auch eine Grausamkeit schlechter und geringer Seelen. 2 [16]
1°
Was i s t v o r n e h m ? Glaube an die Rangordnung. Arbeit (über Künstler, Gelehrte usw.) Heiterkeit (Symptom des Wohlgerathenseins). Herren-Moral und Heerden-Moral.
^ [17] Die genannten Schriften, sorgsam und langwierig befragt, möchten als Mittel benutzt werden, um vielleicht den Zugang *S zum Verständniß eines noch höheren und schwierigeren Typus
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zu erschließen, als es selbst (der) Typus des freien Geistes ist: — es führt kein anderer Weg zum Verständniß von «fr * •»•
5
Schriften aus der Jugend desselben Verfassers. Die Geburt der Tragödie, i. Auflage 1872. 2. Aufl. Unzeitgemässe Betrachtungen 1873-76.
Ein Gott der Liebe könnte eines Tages sprechen, gelangweilt durch seine Tugend: „versuchen wir's einmal mit der Teufelei!" — und siehe da, ein neuer Ursprung des Bösen! Aus Lan10 geweile und Tugend! * [19] „Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter" — auch ein Symbolon und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verrathen und errathen. — i [20] „ G e r a d e z u s t o ß e n d i e A d l e r " . Die Vornehm15 heit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie a n g r e i f t — „geradezu".
Es giebt auch eine Verschwendung unsrer Leidenschaften und Begierden, nämlich in der bescheidenen und kleinbürgerlichen 20 Art, in der wir sie befriedigen: — was den Geschmack verdirbt, noch mehr aber die Ehrfurcht und Furcht vor uns selber. Der zeitweilige Ascetismus ist das Mittel, sie zu s t a u e n , — ihnen Gefährlichkeit und großen Stil zu geben
76 2 [
Nachgelassene Fragmente
"]
In Hinsicht darauf, was fruchtbare Geister zu oberst und zu unterst nöthig haben, um nicht an den Würmern ihres Gewissens zu leiden — nämlich „Eier legen, gackern, Eier brüten" und so weiter mit oder ohne Grazie — mögen sie sich mit gutem 5 Grunde, wie es Stendhal und Balzac gethan haben, — Keuschheit zur Diät verordnen. Und mindestens darf man nicht zweifeln, daß gerade dem „Genie" das Ehebett noch verhängnißvoller sein kann als concubinage und libertinage. — Auch in vieler andrer Hinsicht — zum Beispiel, was „Nachkommenio schaft" betrifft — muß man mit sich bei Zeiten zu Rathe gehn und sich entscheiden: aut liberi aut libri. 2 [23]
Lange nachgedacht über jenen Ursprungshecrd der religiösen Genialität und folglich auch des „metaphysischen Bedürfnisses", die „religiöse Neurose"; — unwillig eingedenk jenes in FrankIJ reich berühmten und selbst sprichwörtlichen Ausdrucks, der so viel über die „Gesundheit" des französischen Geistes zu verstehen giebt: „le genie est une neurose". — 2 [24]
— Und nochmals gesagt: die Bestie in uns will b e l o g e n werden, — Moral ist Nothlüge. io
„Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen, sagte ich einmal zu dem Gotte Dionysos: nämlich die Menschen zu Grunde zu richten?" — „Vielleicht, antwortete der Gott, aber so, daß dabei etwas für mich heraus kommt." — Was denn? fragte ich neugierig. — „Wer denn? solltest du fragen." Also a 5 sprach Dionysos und schwieg darauf, in der Art, welche ihm zu eigen ist, nämlich versucherisch. — Ihr hättet ihn dabei sehen sollen! Es war Frühling, und alles Holz stand in jungem Safte.
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2 [26]
J e n s e i t s v o n Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche.
5
* [*7] J e n s e i t s v o n Gut und Böse. Allerhand Nachdenkliches für halkyonische Geister. Von ro
Friedrich Nietzsche. 2[28]
Mein leidlich radikales Fragezeichen bei allen neueren StrafGesetzgebungen ist dieses: gesetzt, daß die Strafen proportional wehe thun sollen gemäß der Größe des Verbrechens — und so wollt ihr's ja Alle im Grunde! — nun, so müßten sie jedem S Verbrecher proportional seiner Empfindlichkeit für Schmerz zugemessen werden: — daß heißt, es dürfte eine v o r h e r i g e Bestimmung der Strafe für ein Vergehen, es dürfte einen Strafcodex g a r n i c h t g e b e n ! Aber, in Anbetracht, daß es nicht leicht gelingen möchte, bei einem Verbrecher die Grado Skala seiner Lust und Unlust festzustellen, so würde man in praxi wohl auf das Strafen verzichten müssen? Welche Einbuße! Nicht wahr? Folglich 2 [29] Die Musik offenbart n i c h t das Wesen der Welt und ihren
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Nachgelassene Fragmente
„Willen", wie es Schopenhauer behauptet hat (der sich über die Musik betrog wie über das Mitleiden und aus dem gleichen Grunde — er kannte beide zu wenig aus Erfahrung — ): die Musik offenbart nur die Herrn Musiker! Und sie wissen es sei5 ber nicht! — Und wie gut vielleicht, daß sie es nicht wissen! — 2 [30]
Unsere Tugenden. Allerhand Fragen und Fragwürdiges für feinere Gewissen. Von Friedrich Nietzsche. 2 [31] Unsere Tugenden. Fingerzeige zu einer Moral der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche. 15
io
Von der Stärke der Seele. Von der Redlichkeit. Von der Heiterkeit. Vom Willen zur Einsamkeit. „Was ist vornehm?"
DiePhilosophenderZukunft. Eine Rede. 1.
Ist heute solch eine Größe möglich? —
Herbst 1885—Herbst 1886 2[29—33]
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2.
Aber vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. — Ich sehe neue Ph(ilosophen) heraufkommen usw.
Es giebt ein Mißverständniß der Heiterkeit, welches nicht 5 zu heben ist: aber wer es theilt, darf zuletzt gerade damit zufrieden sein. — Wir, die wir zum Glücke f l ü c h t e n — : wir, die wir jede Art Süden und unbändige Sonnenfülle brauchen und uns dorthin an die Straße setzen, wo das Leben sich wie ein trunkener Fratzen-Festzug — als etwas das von Sinnen bringt — io vorüberwälzt wir, die wir gerade das vom Glücke verlangen, d a ß es „von Sinnen" bringt: scheint es nicht, daß wir ein Wissen haben welches wir f ü r c h t e n ? Mit dem wir nicht allein sein wollen? Ein Wissen, vor dessen Druck wir zittern, vor dessen Flüstern wir bleich werden? Diese hartnäckige Abkehr 15 von den traurigen Schauspielen, diese verstopften und harten Ohren gegen alles Leidende, diese tapfere, spöttische Oberflächlichkeit, dieser willkürliche Epicureismus des Herzens, welcher nichts warm und ganz haben will, und die M a s k e als ihre letzte Gottheit und Erlöserin anbetet: dieser Hohn 20 gegen die Melancholiker des Geschmacks, bei denen wir immer auf Mangel an Tiefe rathen — ist das nidit alles eine Leidenschaft? Es scheint, wir wissen uns selber als allzu zerbrechlich, vielleicht schon als zerbrochen und unheilbar; es scheint, wir fürchten diese Hand des Lebens, daß es uns zerbrechen muß, und 2 5 flüchten uns in seinen Schein, in seine Falschheit, seine Oberfläche und bunte Betrügerei; es scheint, wir sind heiter, weil wir ungeheuer traurig sind. Wir sind ernst, wir kennen den Abgrund: d e s h a l b wehren wir uns gegen alles Ernste. wir lächeln bei uns über die Melancholiker des Ge3° schmacks — ach wir beneiden sie noch, indem wir sie verspotten! — denn wir sind nicht glücklich genug, um uns ihre zarte
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Nachgelassene Fragmente
Traurigkeit gestatten zu können. Wir müssen noch den Schatten der Traurigkeit fliehen: unsere Hölle und Finsterniß ist uns immer zu nahe. Wir haben ein Wissen, welches wir fürchten, mit dem wir nicht allein sein wollen; wir haben einen Glauben, vor 5 dessen Druck wir zittern, vor dessen Flüstern wir bleidi werden — die Ungläubigen scheinen uns selig. Wir kehren uns ab von den traurigen Schauspielen, wir verstopfen das Ohr gegen das Leidende; das Mitleiden würde uns sofort zerbrechen, wenn wir nicht uns (zu) verhärten wüßten. Bleib uns tapfer zur Seite, io spöttischer Leichtsinn: kühle uns, Wind, der über Gletscher gelaufen ist: wir wollen nichts mehr ans Herz nehmen, wir wollen zur M a s k e beten. Es ist etwas an uns, das leicht zerbricht: wir fürchten die zerbrechenden kindischen Hände? wir gehen dem Zufall aus IJ dem Wege und retten uns ^ [34] Ich habe Richard Wagner mehr geliebt und verehrt als irgend sonst Jemand; und hätte er zuletzt nicht den schlechten Geschmack — oder die traurige Nöthigung — gehabt, mit einer mir unmöglichen Qualität von „Geistern** gemeinsame Sache zu 10 machen, mit seinen Anhängern, den Wagnerianern, so hätte ich keinen Grund gehabt, ihm schon bei seinen Lebzeiten Lebewohl zu sagen: ihm, dem Tiefsten und Kühnsten, auch Verkanntesten aller Schwer-zu-erkennenden von heute, dem begegnet zu sein meiner Erkenntniß mehr als irgend eine andere Begegnung för* 5 derlich gewesen ist. Vorangestellt, was voran steht, daß seine Sache und meine Sache nicht verwechselt werden wollte, und daß es ein gutes Stück Selbst-Überwindung bedurfte, ehe ich dergestalt „Sein" und „Mein" mit gebührendem Schnitte zu trennen lernte. Daß ich über das außerordentliche Problem des Schau3° Spielers zur Besinnung gekommen bin — ein Problem, das mir vielleicht ferner liegt als irgend ein andres, aus einem schwer
Herbst 1885—Herbst 1886 2[33—37]
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aussprechbaren Grunde — daß ich den Schauspieler im Grunde jedes Künstlers entdeckte und wiedererkannte, das TypischKünstlerhafte, dazu bedurfte es der Berührung mit jenem (Manne) — und es scheint mir, daß ich von Beiden höher und — 5 schlimmer denke als frühere Philosophen. — Die Verbesserung des Theaters geht mich wenig an, seine „Verkirchlichung" noch weniger; die eigentliche Wagner'sche Musik gehört mir nicht genug zu — ich würde sie zu meinem Glücke und zu meiner Gesundheit entbehren können (quod erat demonstrandum et deio monstratum). Was mir am fremdesten an ihm war, die Deutschthümelei und Halbkirchlichkeit seiner letzten Jahre
Eine neue Denkweise — welche immer eine neue Meß weise ist und das Vorhandensein eines neuen Maaßstabes, einer neuen Empfindungs-Skala voraussetzt — fühlt sich im Widerspruch 15 mit allen Denkweisen und sagt, indem sie ihnen widerstrebt, beständig „das ist falsch". Feiner zugesehn, heißt solches „das ist falsch" eigentlich nur „ich fühle darin nichts von mir", „ich mache mir nichts daraus" „ich begreife nicht, wie ihr nicht mit mir fühlen könnt" * [36] 20
Von der Loslösung. Von der Verhärtung. Von der Maske. Von der Rangordnung. Europäisch und über-europäisch. 2[37]
2
5
Man hat immer etwas Nöthigeres zu thun, als sich zu verheirathen: Himmel, so ist mir's immer gegangen!
82
Nachgelassene Fragmente
* [38] J e n s e i t s v o n Gut und Böse. Fingerzeige zu einer Moral der Stärksten. * [39] Maske und Mittheilung. 2 [40] Die Philosophen der Zukunft. 5 Zur Naturgeschichte des freien Geistes. Unsere Tugenden. Völker und Vaterländer. Die Entweiblichung. homo religiosus. 2 [41] 10 Zur N a t u r g e s c h i c h t e
15
20
des h ö h e r e n
Gedanken eines Erziehers. 1. Die Philosophen von Ehedem. 2. Künstler und Dichter. 3. Das religiöse Genie. 4. Wir Tugendhaften. 5. Das Weib. 6. Die Gelehrten. 7. Die „Versucher". 8. Völker und Vaterländer. 9. Weisheit der Maske. 10. Moral-Psychologie. Sprüche und Gedanken-Striche. Was ist vornehm? A n h a n g . Lieder des Prinzen Vogelfrei.
Menschen.
Herbst 1885—Herbst 1886 2[38—44]
83
2 [42]
Jenseits
von Gut und
Böse.
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Mit einem Anhang: Lieder und Pfeile des Prinzen Vogelfrei. 5
Von Friedrich Nietzsche.
^ [43] Zur
Naturgeschichte
des
höheren
Menschen.
Gedankenstriche eines Psychologen. 10
15
ao
1. Der Philosoph. 2. Der freie Geist. 3. Das religiöse Genie. 4. Zur Moral-Psychologie. 5. Was ist vornehm? 6. Völker und Vaterländer. 7. Das Weib an sich. 8. Die Gelehrten. 9. Wir Tugendhaften. 10. Weisheit und Maske. 11. Die Kommenden. 12. Sprüdie eines Schweigsamen. A n h a n g . Lieder und Pfeile des Prinzen Vogelfrei.
^ [44] Vorrede.
25
1. Was war der Philosoph? 2. Zur Naturgeschichte des freien Geistes* 3. Selbstgespräch eines Psychologen.
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5
10
Nachgelassene Fragmente
4. Das Weib an sich. 5. Das religiöse Genie. 6. Wir Gelehrten. 7. Wir Tugendhaften. 8. Was ist vornehm? 9. Völker und Vaterländer. 10. Die Masken. 11. Die Versucher. Dionysos Anhang: Inhalts-Verzeichniß. * [45] Nichts von Advokat: kein Parteimann, mißtrauisch gegen das, was man „Überzeugung" nennt; ungläubig gegen Unglauben; 2 [46] Zur N a t u r g e s c h i c h t e
15
des h ö h e r e n
Menschen.
Gedanken eines Müssiggängers. Von Friedrich Nietzsche. * [47] J e n s e i t s von Gut und Böse.
20
Selbstgespräche eines Psychologen. Mit einem Anhang: Lieder und Pfeile des Prinzen Vogelfrei. Von Friedrich Nietzsche.
Herbst 1885—Herbst 1886 2 [44—50]
85
Anhang: Lieder und Pfeile des Prinzen Vogelfrei. I. 2.
3456. 78. 910. r
5
ii. 12. 13. 14.
A n den Mistral. A n Goethe. A n gewisse Lobredner. Sils-Maria. Einsiedlers Mittag. N a c h neuen Meeren. „Die Tauben von San Marco". Über der Hausthür. D e r ächte Deutsche. Parsifal-Musik. An Spinoza. Rimus remedium. N a r r in Verzweiflung. Nachgesang.
2[48]
D a s Weib ist so wenig sich selbst genug, d a ß es sich lieber 20 noch schlagen läßt als — 2
^ In den meisten Lieben giebt es Einen, der spielt, und Einen, der mit sich spielen läßt: Amor ist vor Allem ein kleiner Theater-Regisseur. 2 [50] *5
Inhalt: Vorrede. 1. V o n den Vorurtheilen der Philosophen. 2. D e r freie Geist.
86
5
Nachgelassene Fragmente
3. 4. 5. 6. 7. 8.
Das religiöse Genie. Das religiöse Wesen. Das Weib an sich. Sprüche und Zwischenspiele. Zur Naturgeschichte der Moral. Wir Gelehrten. „Carcasse, tu trembles? Tu Unsere Tugenden. tremblerais bien davantage, si tu Völker und Vaterländer, savais, oü je te mene."
9. Masken. Turenne. 10. Was ist vornehm? Anhang: Lieder und Pfeile des Prinzen Vogelfrei. 2 [51] J
o
Selbstgespräche eines Psychologen. Von Friedrich Nietzsche.
15
Zur Naturgeschichte des höheren Menschen. Was ist vornehm?
^ [52] Sprüche und S e l b s t g e s p r ä c h e . Mit einer gereimten Zuthat. Von Friedrich Nietzsche. 2 [53] io
M
Jenseits
von Gut und Böse Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.
Einleitung. Erstes Buch: von den Vorurtheilen der Philosophen. Zweites Buch: Fingerzeige einer Moral-Psychologie.
Herbst 1885—Herbst 1886 2[50—57]
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Drittes Buch: wir Europäer. Eine Gelegenheit zur Selbstbespiegelung. 1154]
Jenseits von Gut und Böse. Von Friedrich Nietzsche.
5 ^ [55]
Vorletztes Capitel Alkuin der Angelsachse, der den königlichen Beruf des Philosophen so bestimmte: prava corrigere, et recta corroborare, et sancta sublimare.
tu*] 10
C o r r u p t i o n des kräftigen Naturmenschen im Zwang der civilisirten Städte (— geräth zu den aussätzigen Bestandteilen, lernt da das schlechte Gewissen).
2 [57] Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, deren Gleichen es noch nicht 15 gegeben hat. Und dies ist noch nicht das Wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzten, eine Herren-Rasse her aufzuzüchten, die zukünftigen „Herren der Erde"; — eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebe baute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird: — eine höhere Art Menschen, welche sich, Dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichthum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienten als ihres gefügigsten *s und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die
88
Nachgelassene Fragmente
Hand zu bekommen, um am „Menschen" selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird. ich glaube, wir ermangeln der politischen Leidenschaft: wir 5 würden es unter einem demokr(atischen) Himmel so gut als unter einem abs (olutistischen) mit Ehren aushalten. 2 [59] Zul Zuletzt aber: wozu müßte man das, was kommen w i r d , so laut und mit solchem Ingrimm sagen! Sehen wir es kälter, 10 ferner, klüger, höher an, sagen wir es, wie es unter uns gesagt werden darf, so heimlich, daß alle Welt es überhört, daß alle Welt u n s überhört . . . Nenne man es eine Fortsetzung. 2 [60] Wie? Das Drama ist der Zweck, die Musik immer nur das Mittel? Das mag W{agner)s Theorie sein: seine Praxis war da15 gegen: die (dramatische) A t t i t ü d e ist der Zweck, die Musik nur ein Mittel zu einer Attitüde (zu ihrer Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung —) 2[6l]
.
Die Entwicklung der mechanistisch-atomistischen Denkweise ist sich heute ihres nothwendigen Ziels immer noch nicht be20 wüßt; — das ist mein Eindruck, nachdem ich lange genug ihren Anhängern zwischen die Finger gesehen habe. Sie wird mit der Schaffung eines Systems von Zeichen endigen: sie wird auf Erklären verzichten, sie wird den Begriff „Ursache und Wirkung" aufgeben. 25
Nicht täuschen wollen — und sich nicht täuschen lassen wollen: das ist etwas als Gesinnung und Wille Grundverschiedenes,
Herbst 1885—Herbst 1886 2[57—66]
89
aber der eine wie der andere Hang pflegt sich des Wortes „Philosophie" zu bedienen, sei es zum Schmuck oder zum Versteck oder aus Mißverständniß. *[«3] Die Physiologen sollten sich besinnen, den Erhaltungstrieb 5 als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen: vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft a u s l a s s e n : die „Erhaltung" ist nur eine der Consequenzen davon. — Vorsicht vor ü b e r f l ü s s i g e n teleologischen Principien! Und dahin gehört der ganze Begriff „Erhaltungstrieb".
10
2 [6 4 ] Jeder Philoktet weiß, daß ohne seinen Bogen und seine Pfeile Troja nicht erobert wird.
In m e d i a v i t a . Selbstgespräche eines Psychologen. Von Friedrich Nietzsche.
15 2 [66]
— Z u r V o r r e d e . — Vielleicht eine Fortsetzung: der K ü n s t l e r-Philosoph (bisher Wissenschaftlichkeit, Stellung zur Religion und Politik erwähnt): höherer Begriff der K u n s t . Ob der Mensch sich so fern stellen kann *° von den anderen Menschen, um an i h n e n z u g e s t a l t e n ? (Vorübungen: 1) der Sich-selbst-Gestaltende, der Einsiedler 2) der b i s h e r i g e Künstler, als der kleine Vollender, an einem Stoffe — nein ! — ) — dazu gehört die R a n g f o l g e der höheren Men*S sehen, welche dargestellt werden muß.
90
Nachgelassene Fragmente
— E i n C a p i t e l : M u s i k . — Zur Lehre vom „Rausche" (Aufzählung, z. B. Anbetung der petits faits) — Deutsche und französische und italienische Musik. (Unsere politisch niedrigsten Zeiten die f r u c h t b a r 5 s ten : — ) Die Slaven? — das kulturhistorische Ballet: — hat die Oper überwunden. io
15
20
— ein Irrthum, daß das, was W(agner) geschaffen hat, eine Form sei, — es ist eine Formlosigkeit. Die Möglichkeit eines d r a m a t i s c h e n Baus ist immer noch zu finden. Schauspieler-Musik und Musiker-Musik. — Rhythmisches. Der Ausdruck um jeden Preis. — zu Ehren von „Carmen". — z u Ehren von H. Schütz (und „Liszt-Verein" — ) — hurenhafte Instrumentation — zu Ehren Mendelssohn's: ein Element Goethe darin, und nirgends sonst! ebenso wie ein andres Element Goethe in der Rahel zur Vollendung kam ! ein drittes H. Heine. Zum Capitel „ f r e i e r G e i s t " — 1) Ich will ihn nicht „verherrlichen": ein Wort zu Gunsten der gebundenen Geister.
2
5
2) die Lasterhaftigkeit des Intellekts: der Beweis aus der L u s t („es macht mich glücklich, also ist es wahr") Dabei die Eitelkeit zu unterstreichen in dem „mich".
Zum Capitel „ u n s e r e T u g e n d e n " : 3) neue Form der Moralität: T r e u e - G e l ü b d e in Vereinen über das, was man lassen und thun will, ganz b e s t i m m t e Entsagung 3° von Vielem. Proben, ob r e i f dazu. — Zum Capitel „ r e l i g i ö s e s G e n i e " , T) das Mysterium, die vorbildliche Geschichte einer Seele. („Drama" — bedeutet ?)
Herbst 1885—Herbst 1886 2[66—67]
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2) die Ausdeutbarkeit des Geschehens; der Glaube an den „Sinn" wird Dank der Religion festgehalten — 3) in wiefern die höhere Seele auf Unkosten der niederen wächst und gedeiht? 5 4) was widerlegt ist, ist die M o r a l des Christen thums als essentiell in den Welt-Seelegeschicken: — womit noch nicht der Wille beseitigt ist, sie hineinzubringen und herrschend zu machen. — Letzteres könnte zuletzt doch nur eine Don-Quixoterie sein: — aber d i e s wäre kein Grund, ge10 ring von ihr zu denken! 5) inwiefern das religiöse Genie eine Abart des künstlerischen ist: — die g e s t a l t e n d e Kraft. 6) inwiefern erst das K ü n s t l e r - Gewissen die Freiheit vor „wahr" und „unwahr" giebt. Der unbedingte Glaube zu 15 verwandeln in den unbedingten W i l l e n 7) religiöse Litteratur, der Begriff „heiliges Buch". zu „ u n s e r e T u g e n d e n " . Woran wir unsere Wissenschaftlichkeit auslassen können, das nehmen wir nicht mehr schwer und ernst: eine Art Immoralität. *o Zum C a p i t e l „ N a t u r g e s c h i c h t e d e r M o r a l " ? C o r r u p t i o n , was ist das? Z. B. der natürliche kräftige Mensch der in die Städte kommt. Z. B. der französische Aristokrat, vor der französischen Revolution. 2
5
Zum Capitel „ M a n n u n d W e i b " . Der S i e g des Manns über das Weib, überall wo die Cultur anhebt. NB. magister liberalium artium et hilaritatum. NB. ich habe irgend etwas bei den Hörnern gepackt — nur zweifle ich, ob es gerade ein Stier war. 2 [67]
30
„Ich" „Subjekt" als Horizont-Linie. Umkehrung des perspektivischen Blicks.
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Nachgelassene Fragmente
[68] Am L e i t f a d e n des L e i b e s . Das sich theilende Protoplasma V2 + V2 n i c h t = 1, sondern = 2. (Damit) wird der Glaube an die Seelen-Monas hinfällig. Selbsterhaltung nur als eine der Folgen der Selbsterweite5 rung. Und „Selbst"? 2
2 [69] Die mechanische Kraft ist uns nur als ein W i d e r s t a n d s g e f ü h l bekannt: und dieses wird mit D r u c k und S t o ß nur sinnfällig a u s g e l e g t , nicht e r k l ä r t . Welcher Art ist der Zwang, den eine stärkere Seele auf eine 10 schwächere ausübt? — Und es wäre möglich, daß der anscheinende „Ungehorsam" gegen die höhere Seele im Nicht-verstehen-ihres-Willens beruhte, z. B. ein Fels läßt sich nicht kommandiren. Aber — es bedarf eben einer langsamen Grad- und Rangverschiedenheit: nur die Nächstverwandten können sich veriy stehen und folglich kann es hier Gehorsam geben. Ob es möglich, alle Bewegungen als Zeichen eines seelischen Geschehens zu fassen? Naturwissenschaft als eine Symptomatologie — Es ist vielleicht falsch, weil die Lebens-Gebilde sehr klein 20 sind (Zellen z. B.) nun nach noch kleineren Einheiten, „KraftPunkten" usw. zu suchen? Das V o r s t a d i u m d e r H e r r s c h a f t s - G e b i l d e . H i n g e b u n g an die Person (Vater, Vorfahr, Fürst, Priester, Gott) als E r l e i c h t e r u n g der Moral. * [70] 2
5
Jenseits von Gut und Böse — Problem des Gesetzgebers. Am Leitfaden des Leibes. Mechanismus und Leben. Der Wille zur Macht. — Auslegung, nicht Erkenntniß. Zur Methoden-Lehre.
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Die ewige Wiederkunft. Der Künstler. Cultur und deren Unterbau. Wir Gottlosen. Musik und Cultur. Von großer und kleiner Politik. „Mysterium". — Die Guten und Gerechten. Die Gelobenden. — Zur Geschidite des Pessimismus. — Erziehung.
— — — —
*[7i] Zum „Zarathustra". Calina: braunroth, alles zu scharf in der Nähe. Höchste Sonne. Gespenstisch. Sipo Matador. 15
Und wer sagt es, daß wir dies nicht wollen? Weldie Musik und Verführung! Da ist nichts, das nicht vergiftete, verlockte, annagte, umwürfe, umwerthete! I Der e n t s c h e i d e n d e
10
Moment:
D i e R a n g o r d n u n g . 1) Zerbrecht die Guten und Gerechten! 2)
Die ewige Wiederkunft. M i t t a g und E w i g k e i t . Buch des Wahrsagers.
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Nachgelassene Fragmente
2[72]
Mittag und Ewigkeit. Von F.N. 5
I Das Todtenfest. Zarathustra findet ein ungeheures Fest vor: II Die neue Rangordnung. III Von den Herrn der Erde. IV Vom Ring der Wiederkunft. 2 [73] Die Titel von 10 neuen Büchern:
10
(Frühling 1886)
G e d a n k e n über die alten Griechen. Von Friedrich Nietzsche.
Inwiefern im Werden Alles e n t a r t e t und u n n a t ü r l i c h wird. Die Entartung der Renaissance — der Philologie 15 Beispiel für die u n m o r a l i s c h e n Grundbedingungen einer höheren Cultur, einer Erhöhung des Menschen. Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Welt-Auslegung. 20
Die Künstler. Hintergedanken eines Psychologen. Von Friedrich Nietzsche.
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Wir G o t t l o s e n Von Friedrich Nietzsche M i t t a g und E w i g k e i t . Von Friedrich Nietzsche
5
J e n s e i t s v o n Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche.
io
Gai saber. Lieder des Prinzen Vogelfrei. Von Friedrich Nietzsche. Musik. Von Friedrich Nietzsche.
15
Erfahrungen eines Schriftgelehrten. Von Friedrich Nietzsche. Zur G e s c h i c h t e der m o d e r n e n Verdüsterung. Von Friedrich Nietzsche.
*°
* [74]
2
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1. 2. 3. 4.
Der W i l l e zur Macht. Physiologie der Rangordnung. Der große Mittag. Zucht und Züchtung. Die ewige Wiederkunft.
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Nachgelassene Fragmente
D i e e w i g e W i e d e r k u n f t . Buch neuer Feste und Wahrsagungen. Die ewige
5
Wiederkunft Heilige Tänze und Gelöbnisse.
M i t t a g und E w i g k e i t . Heilige Tänze der Wiederkünftigen. 2 [ 7 6] V
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V o n der R a n g o r d n u n g : Zul. Z u r P h y s i o l o g i e d e r M a c h t . Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Gewebe? Die Sklaverei und die Arbeitstheilung: der höhere Typus nur möglich durch H e r u n t e r d r ü c k u n g eines niederen auf eine Funktion Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht. Ernährung nur eine Consequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht. Die Zeugung, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen das Angeeignete zu organisiren. Die g e s t a l t e n d e Kraft ist es, die immer neuen „Stoff" (noch mehr „Kraft") vorräthig haben will. Das Meisterstück des Aufbaues eines Organismus aus dem Ei. „Mechanistische Auffassung": will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität: die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären. Der „Zweck". Auszugehn von der „Sagacität" der Pflanzen. Begriff der „Vervollkommnung": n i c h t nur größere Complicirtheit, sondern größere M a c h t (— braucht nicht nur größere Masse zu sein —). Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervoll-
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kommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug) Die Künstler als die kleinen Gestaltenden. Die Pedanterie 5 der „Erzieher" dagegen Die Strafe: Aufredit-Erhaltung eines höheren Typus. Die Isolation. Falsche Lehren aus der Geschichte. W e i l etwas Hohes mißrieth oder mißbraucht wurde (wie die Aristokratie) ist es io nicht widerlegt!
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* [77] Der Anschein des Leeren und Vollen, des Festen und Lockeren, des Ruhenden und Bewegten und des Gleichen und Ungleichen. (der absolute Raum der älteste Anschein ist zur (die Substanz) M e t a p h y s i k gemacht. — : es sind die menschlich-thierischen S i c h e r h e i t s Werthmaaße darin. Unsere B e g r i f f e sind von unserer B e d ü r f t i g k e i t inspirirt. Die Aufstellung der Gegensätze entspricht der Trägheit (eine Unterscheidung, die zur Nahrung, Sicherheit usw. g e n ü g t , gilt als „ w a h r " ) simplex veritas! — Gedanke der Trägheit. Unsere Werthe sind in die Dinge h i n e i n i n t e r pretirt. Giebt es denn einen S i n n im An-sich?? Ist nicht nothwendig Sinn eben Beziehungs-sinn und Perspektive? Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihn auflösen). Ein Ding = seine Eigenschaften: diese aber gleich allem, was u n s an diesem Ding a n g e h t : eine Einheit, unter die
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Nachgelassene Fragmente
wir die für uns in B e t r a c h t k o m m e n d e n Relationen zusammenfassen. Im Grunde die an uns w a h r g e n o m m e n e n Veränderungen (— ausgelassen die, welche wir nicht wahrnehmen z. B. seine Elektrizität). In summa: Objekt ist die Summe der erfahrenen H e m m u n g e n , die uns b e w u ß t geworden sind. Eine Eigenschaft drückt also immer etwas von „nützlich" oder „schädlich" für uns aus. Die Farben z.B. — jede entspricht einem Lust- oder Unlustgrade und jeder Lust- und Unlustgrad ist das Resultat von Schätzungen über „nützlich" oder „unnützlich". — Ekel. ^ [78] Themata.
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Ausdeutung, n i c h t Erklärung. Reduktion der l o g i s c h e n Werthurtheile auf moralische und politische (Werth der Sicherheit, der Ruhe, der Faulheit („kleinste Kraft") usw. Das Problem des Künstlers, seine Moralität (Lüge, Schamlosigkeit, Erfindungsgabe für das ihm Fehlende). Die Verleumdung der unmoralischen Triebe: in Consequenz betrachtet eine V e r n e i n u n g des Lebens. Das Unbedingte und woher die idealen Züge stammen, die man ihm beimißt. Die Strafe als Züchtungsmittel. Gravitation mehrfach ausdeutbar: wie alles angeblich „Faktische". Das Prädikat drückt eine Wirkung aus, die auf uns hervorgebracht ist (oder werden könnte) n i c h t das Wirken an sich; die Summe der Prädikate wird in Ein Wort zusammengefaßt. Irrthum, daß das Subjekt causa sei. — Mythologie des SubjektBegriffs, (der „Blitz" leuchtet — Verdoppelung — die Wirkung verdinglicht.
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Mythologie des Causalitäts-Begriffs. Trennung von „Wirken" und „Wirkendem" g r u n d f a l s c h . Der Schein des Unverändert-Bleibenden, nach wie vor Unsere europäische Cultur — worauf sie d r ä n g t , im 5 Gegensatz zur buddhistischen L ö s u n g in Asien? — Religion, wesentlich Lehre der R a n g o r d n u n g , sogar Versuch einer k o s m i s c h e n Rang- und Machtordnung. Schwäche Lüge, Verstellung *o Dummheit in w i e f e r n i d e a l i s i r e n d ? Herrschsucht Neugierde Habsucht Grausamkeit 2
M
[79]
Meine Schriften sind sehr gut vertheidigt: wer zu ihnen greift und sich dabei vergreift als Einer, der kein Recht auf solche Bücher hat — der macht sich sofort lächerlich — , ein kleiner Anfall von Wuth treibt ihn, sein Innerstes und Lächerlichstes auszuschütten: und wer wüßte nicht, was da immer heraus^o kommt! Litteratur-Weiberchen, wie sie zu sein pflegen, mit krankhaften Geschlechtsorganen und mit Tintenklexen auf den Fingern — Die Unfähigkeit, das Neue und Originale zu sehen: die plumpen Finger, die eine Nuance nicht zu fassen wissen, der 1 5 steife Ernst, der über ein Wort stolpert und zu Falle kommt: die Kurzsichtigkeit, welche vor dem ungeheuren Reiche ferner Landschaften bis zur Blindheit sich steigert Habe ich mich je über mein Schicksal beklagt, zu wenig gelesen, so schlecht verstanden zu sein? Aber für wie Viele darf }o denn überhaupt etwas Außerordentliches geschaffen werden! — Meint ihr denn, daß Gott die Welt um der Menschen willen geschaffen hat?
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2 [80]
Zur E i n l e i t u n g . Die düstere Einsamkeit und Oede der campagna Romana, die Geduld im Ungewissen. Jedes Buch als eine Eroberung, Griff — tempo 1 e n t o 5 bis zum Ende dramatisdi gesdiürzt, zuletzt K a t a s t r o p h e und plötzliche Erlösung. 2 [81] (15)
Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in eine überreiche plas10 tische wiederherstellende Kraft. D e r s t a r k e M e n s c h : Schilderung 2 [82] J e n s e i t s v o n Gut und Böse. Zweiter und letzter Theil
*5
*o
Vorrede. Auslegung, n i c h t Erklärung. Es giebt keinen Thatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsere Meinungen. Sinn-hineinlegen — in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordene Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist.
Zur Physiologie der Macht. Eine Betrachtung, bei der der Mensch seine stärksten Triebe und seine Ideale (und sein gutes Gewissen) als identisch fühlt. Wir Gottlosen. Was sind Künstler? 25 Recht und Gesetzgebung. Zur Geschichte der modernen Verdüsterung. Die Schauspielerei.
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Von den Guten und Gerechten. Rang und Rangordnung. An den Mistral. Ein Tanzlied. Jenseits von Gut und Böse als Aufhellung für Einige als 5 tiefste Verdüsterung für Viele.
=3
:*
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*s
Zur Geschichte der modernen Verdüsterung. Psychologie des Künstlers. Von der Schauspielerei. Das Problem des Gesetzgebers. Die Gefahr in der Musik. Auslegung, n i c h t Erkenntniß. Die Guten und Gerechten. Von großer und kleiner Politik — Wir Gottlosen. An den M i s t r a l . T a n z l i e d . I n 30 S e i t e n . 2 Bogen. (Vorrede: das Gemeinsame meiner Schriften) Auslegung, n i c h t Erklärung. Zur Physiologie der Macht. Von der Schauspielerei. Zur Geschichte der modernen Verdüsterung. Wir Gottlosen. Die Guten und Gerechten. Von der Rangordnung. Recht und Gesetzgebung. Künstler.
*1»3] (7) Der Mensch glaubt sich als Ursache, als Thäter — y> alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte
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In jedem Urtheile steckt der ganze volle tiefe Glauben an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung; und dieser letzte Glaube (nämlich als die Behauptung daß jede Wirkung Thätigkeit sei und daß jede Thätigkeit einen Thäter voraussetze) ist sogar ein Einzelfall des ersteren, so daß der Glaube als Grundglaube übrig bleibt: es giebt Subjekte Ich bemerke etwas und suche nach einem G r u n d dafür: das heißt ursprünglich: ich suche nach einer A b s i c h t darin und vor allem nach einem der Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Thäter: — ehemals sah man in a l l e m Geschehen Absichten, alles Geschehen war Thun. Dies ist unsere älteste Gewohnheit. Hat das Thier sie auch? Ist es, als Lebendiges, nicht auch auf die Interpretation nach s i c h angewiesen? — Die Frage „ w a r u m ? " ist immer die Frage nach der causa finalis, nach einem „Wozu?" Von einem „Sinn der causa efficiens" haben wir nichts: hier hat H u m e Recht, die Gewohnheit (aber n i c h t nur die des Individuums!) läßt uns erwarten, daß ein gewisser oft beobachteter Vorgang auf den andern folgt: weiter nichts! Was uns die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Causalität giebt, ist n i c h t die große Gewohnheit des Hintereinanders von Vorgängen, sondern unsere U n f ä h i g k e i t , ein Geschehen anders i n t e r p r e t i r e n zu können denn als ein Geschehen aus A b s i c h t e n . Es ist der G l a u b e an das Lebendige und Denkende als das einzig W i r k e n d e — an den Willen, die Absicht — daß alles Geschehn ein Thun sei, daß alles Thun einen Thäter voraussetze, es ist der Glaube an das „Subjekt". Sollte dieser Glaube an den Subjekt- und Prädikat-Begriff nicht eine große D(ummheit) sein? Frage: ist die Absicht Ursache eines Geschehens? Oder ist auch das Illusion? Ist sie nicht d a s Geschehen selbst? „Anziehen" und „Abstoßen" in rein mechanischem Sinne ist eine vollständige Fiktion: ein Wort. Wir können uns ohne eine Absicht ein Anziehen nicht denken. — Den Willen sich
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einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen — d a s „verstehen wir": das wäre eine Interpretation, die wir brauchen könnten. Kurz: die psychologische Nöthigung zu einem Glauben an Causalität liegt in der U n v o r s t e l l b a r k e i t eines G e s c h e h e n s o h n e A b s i c h t e n : womit natürlich über Wahrheit oder Unwahrheit (Berechtigung eines solchen Glaubens) nichts gesagt ist. Der Glaube an causae fällt mit dem Glauben an teXt) (gegen Spinoza und dessen Causalismus).
2 [8 4 ] 10
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(30)
Das Urtheilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes für-Wahr- oder für-Unwahrhalten Im Urtheile liegt unser ältester Glaube vor, in allem Urtheilen giebt es ein Fürwahrhalten oder für Unwahrhalten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich „erkannt" zu haben — w a s wird in allen Urtheilen als wahr geglaubt? Was sind P r ä d i k a t e ? — Wir haben Veränderungen an uns n i c h t als solche genommen, sondern als ein „an-sicha, das uns fremd ist, das wir nur „wahrnehmen": und wir haben sie n i c h t als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als „Eigenschaft" — und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d.h. wir haben die W i r k u n g als W i r k e n d e s angesetzt und das W i r k e n d e a l s S e i e n d e s . Aber auch noch in dieser Formulirung ist der Begriff „Wirkung" willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, n i c h t selbst die Ursachen zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: „zu jeder Veränderung gehört ein Urheber". — Aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er t r e n n t das Wirkende u n d das Wirken. Wenn ich sage „der Blitz leuchtet", so
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Nachgelassene Fragmente
habe ich das Leuchten einmal als Thätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponirt, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr b l e i b t , i s t , und nicht „wird". — D a s G e s c h e h e n a l s W i r 5 k e n a n z u s e t z e n : und die W i r k u n g a l s S e i n : das ist der d o p p e l t e Irrthum, oder I n t e r p r e t a t i o n , deren wir uns schuldig machen. Also z. B. „der Blitz leuchtet" —: „leuchten" ist ein Zustand an uns; aber wir nehmen ihn nicht als Wirkung auf uns, und sagen: „etwas Leuchtendes" als ein io „An-sich" und suchen dazu einen Urheber, den „Blitz". ^ [8 5 ] (32)
Die Eigenschaften eines Dings sind Wirkungen auf andere „Dinge": denkt man andere „Dinge" weg, so hat ein Ding keine Eigenschaften d. h. es g i e b t k e i n D i n g o h n e a n d e r e 15 D i n g e d. h. es giebt kein „Ding an sich". 2 [86] (30)
Was kann allein E r k e n n t n i ß n i c h t „Erklärung".
sein? — „Auslegung",
*[*7] 1°
25
(32) Alle Einheit ist n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also G e g e n s a t z der atomistischen A n a r c h i e ; somit ein Herrschafts-Geb i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins i s t. Man müßte w i s s e n , was Sein i s t , um zu e n t s c h e i d e n , ob dies und jenes real ist (z. B. „die Thatsachen des Be-
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wußtseins)"; ebenso was G e w i ß h e i t ist, was E r k e n n t n i ß ist und dergleichen. — Da wir das aber n i c h t wissen, so ist eine Kritik des Erkenntniß Vermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selber kritisiren können, wenn es eben nur 5 s i c h zur Kritik gebrauchen kann? Es kann nicht einmal sich selbst definiren! wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? aber das „Ding" an das wir glauben, ist nur als Ferment zu verschiedenen Prädikaten h i n z u e r f u n d e n . Wenn das Ding : ° „wirkt", so heißt das: wir fassen a l l e ü b r i g e n Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. w i r n e h m e n d i e S u m m e s e i n e r E i g e n s c h a f t e n — xals Ursache d e r E i g e n s c h a f t -5 x: was doch g a n z dumm und verrückt ist! „Das Subjekt" oder das „Ding" 2 [88] (33) Eine Kraft, die wir uns nidht vorstellen können (wie die sogenannte rein mechanische Anziehungs- und Abstoßungskraft) *> ist ein leeres Wort und darf kein Bürgerrecht in der W i s s e n s c h a f t haben: welche uns die Welt v o r s t e l l b a r m a c h e n w i l l , nichts weiter! Alles Geschehen aus Absichten ist reduzirbar auf die A b s i c h t der M e h r u n g von Macht.
^5
2 [8?] Illusion, daß etwas e r k a n n t s e i , wo wir eine mathematische Formel für das Geschehen haben: es ist nur b e z e i c h n e t , b e s c h r i e b e n : nichts mehr!
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Nachgelassene Fragmente
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(30 Gleichheit und Ähnlichkeit. 1) das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit 2) der Geist w i l l Gleichheit d. h. einen Sinneneindruck subsumiren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich a s s i m i 1 i r t. Zum Verständniß der L o g i k : : : d e r W i l l e z u r Gleichheit ist der W i l l e zur Macht. — der Glaube, daß etwas so und so sei, das Wesen des U r t h e i 1 s, ist die Folge eines Willens, es s o l l so viel als möglich gleich sein. *[<M]
(3°) M
Wenn unser „Ich" uns das einzige S e i n ist, nach dem wir Alles s e i n machen oder verstehen: sehr gut! dann ist der Zweifel sehr am Platze ob hier nicht eine perspektivische I l l u s i o n vorliegt — die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des 20 Leibes zeigt sich eine ungeheure V i e 1 f a c h h e i t ; es ist methodisch erlaubt, das besser studirbare r e i c h e r e Phänomen zum Leitfaden für das Verständniß des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt alles ist Werden, so ist E r k e n n t n i ß n u r m ö g l i c h a u f G r u n d d e s G l a u b e n s an 25 S e i n . 2 [92] Die Sinneswahrnehmungen nach „außen" projicirt: „innen" und „außen" — da kommandirt der L e i b — ? — dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außen-
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weit: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das R e s u l t a t dieser A n ä h n l i c h u n g und G l e i c h s e t z u n g in Bezug auf a l l e Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den „Eindruck" — 2 [93] 5
(34)
Inwiefern die Dialektik und der Glaube an die Vernunft noch auf moralischen Vorurtheilen ruht. Bei Plato sind wir als einstmalige Bewohner einer intelligibelen Welt des Guten noch im Besitz eines Vermächtnisses jener Zeit: die göttliche : ° Dialektik, als aus dem Guten stammend, führt zu allem Guten (— also gleichsam „zurück" —) Auch Descartes hatte einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welche an einen g u t e n Gott als Schöpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile v e r 15 b ü r g t . Abseits von einer religiösen Sanktion und Verbürgung unsrer Sinne und Vernünftigkeit — woher sollten wir ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein haben! Daß das Denken gar ein Maaß des Wirklichen sei, — daß was nicht gedacht werden kann, nicht i s t , — ist ein plumpes non plus ultra einer mora-3 listischen Vertrauens-seligkeit (auf ein essentielles WahrheitsPrincip im Grund der Dinge), an sich eine tolle Behauptung, der unsre Erfahrung in jedem Augenblicke widerspricht. Wir können gerade gar nichts denken, in wiefern es i s t . . . 2 [94] Wir können schlecht genug die Entstehung eines Qualitäts: 5 Urtheiles beobachten Reduktion der Qualitäten auf Werthurtheile. ^ [95] Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe aller der Wahrnehmungen, deren B e w u ß t w e r den uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nütz-
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Nachgelassene Fragmente
lieh und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (z. B. nicht die elektrischen) Das heißt: wir haben S i n n e nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen — solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. B e w u ß t s e i n 5 i s t so w e i t d a , a l s B e w u ß t s e i n n ü t z l i c h ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit W e r t h u r t h e i l e n (nützlich schädlich — folglich angenehm oder unangenehm) Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Werth für uns aus (obwohl wir es uns selio ten oder erst nach langem ausschließlichem Einwirken derselben Farbe (z. B. Gefangene im Gefängniß oder Irre) eingestehn) Deshalb reagiren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben sie z. B. Ameisen. i [96] Ironie gegen die, welche das Christenthum durch die moder15 nen Naturwissenschaften ü b e r w u n d e n glauben. Die christlichen Werthurtheile sind damit absolut n i c h t überwunden. „Christus am Kreuze" ist das erhabenste Symbol — immer noch. — *[97] Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der 20 Maaßstab bleibt die Efflorescenz des Leibes, die Sprungkraft, Muth und Lustigkeit des Geistes — aber, natürlich auch, w i e v i e l v o n K r a n k h a f t e m er auf s i c h n e h m e n u n d ü b e r w i n d e n k a n n — gesund m a c h e n kann. Das, woran die zarteren Menschen zu Grunde gehen würden, *S gehört zu den Stimulanz-Mitteln der g r o ß e n Gesundheit. 2[?8] (35) A r m u t , D e m u t h und K e u s c h h e i t — gefährliche und verleumderische Ideale, aber, wie Gifte, in gewissen
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Krankheitsfällen, nützliche Heilmittel z. B. in der römischen Kaiserzeit. Alle Ideale sind gefährlich, weil sie das Thatsächliche erniedrigen und brandmarken, alle sind Gifte, aber als zeitwei5 lige Heilmittel unentbehrlich * [99] Wie hat sich der gesamte organische Prozeß verhalten g e g e n die übrige Natur? — Da enthüllt sich sein G r u n d wille. 2 [100] :°
Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern. Erstes Buch:
:s
die Gefahr der Gefahren (Darstellung des Nihilismus) (als d e r n o t h w e n d i g e n Consequenz der bisherigen Werthschätzungen)
Zweites Buch: Kritik der Werthe (der Logik usw. Drittes Buch: das Problem des Gesetzgebers (darin die Geschichte der Einsamkeit) W i e müssen Men-s sehen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen? Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln. -5
Viertes Buch: der Hammer ihr Mittel zu ihrer Aufgabe Sils-Maria, Sommer 1886
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Nachgelassene Fragmente
Ungeheure Gewalten sind entfesselt; aber sich widersprechend die e n t f e s s e l t e n Kräfte sich gegenseitig v e r nichtend die entfesselten Kräfte neu zu binden, daß sie sich 5 nicht gegenseitig vernichten und Augen aufmachen für die wirkliche V e r m e h r u n g an Kraft! Überall die Disharmonie aufzuzeigen, zwischen dem Ideal und seinen einzelnen Bedingungen (z. B. Redlichkeit bei Chriio sten, welche fortwährend zur Lüge gezwungen sind) Zu Buch 2. Im demokratischen Gemeinwesen, wo Jedermann Spezialist ist, fehlt das Wozu? für Wen? der Stand, in dem alle die tausendfältige Verkümmerung aller Einzelnen (zu Funktio15 nen) S i n n bekommt. Die Entwicklung der Sinnlichkeit der Grausamkeit der Rache zur Summe der Narrheit der C u 11 u r. 20 der Habsucht der Herrschsucht usw.
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Über Die Gefahr in allen bisherigen Idealen Kritik der indischen und chinesischen Denkweise, ebenso der christlichen (als Vorbereitungen zu einer n i h i l i s t i schen — ) Die Gefahr der Gefahren: Alles hat keinen Sinn. (2)
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Der Hammer: eine Lehre, welche durch E n t f e s s e l u n g des todsüchtigsten Pessimismus eine A u s l e s e der L e b e n s f ä h i g s t e n bewirkt
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Der Rückschluß vom Werk auf den Schöpfer: die furchtbare Frage, ob die Fülle oder die Entbehrung, der Wahnsinn des Entbehrens zum Scharfen drängt: der plötzliche Blick dafür, daß jedes romantische Ideal eine Selbstflucht, eine Selbst-Ver5 achtung und Selbst-Verurtheilung dessen ist, der es erfindet. Es ist zuletzt eine Frage der Kraft: diese ganze romantische Kunst könnte von einem Überreichen und willensmächtigen Künstler ganz ins Antiromantische oder — um meine Formel zu brauchen — ins D i o n y s i s c h e umgebogen werden, io ebenso wie jede Art Pessimismus und Nihilismus in der Hand des Stärksten nur ein Hammer und Werkzeug mehr wird, mit dem man sich ein neues Paar Flügel zusetzt. Ich erkannte mit einem Blick, daß Wagner zwar sein Ziel erreicht, aber nur so wie Napoleon sein Moskau erreicht hatte 15 — an jeder Etappe war so viel verloren, unersetzbar verloren, daß gerade am Ende des ganzen Aufmarsches und scheinbar im Augenblick des Siegs das Schicksal schon entschieden war. Verhängnißvoll die Verse Brünnhildes. So kam Napoleon nach Moskau (R. Wagner nach Bayreuth — ) *o Sich mit keinen krankhaften und von vornherein besiegten Mächten verbünden — Hätte ich mir selber mehr getraut: mir hat die Wagner(sche) Unfähigkeit zu g e h n (noch mehr zu t a n z e n — und ohne Tanz giebt es für mich keine Erholung und Seligkeit) *5 immer Noth gemacht. Das Verlangen n a c h vollständigen Passionen ist verrätherisch: wer ihrer fähig ist, verlangt den Zauber des Gegentheils d. h. der S k e p s i s . Die von Grund aus Gläubigen haben ihre gelegentliche Wohlthat und Erholung in der Scepsis. 3°
Wagner von den Entzückungen redend, die er dem christlichen Abendmahle abzugewinnen wisse: das entschied bei mir, er galt mir als b e s i e g t . — Es kam hinzu, daß ein Mißtrauen
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bei mir erwachte, ob er nicht für möglich hielte zum Zweck seiner neuen Einbürgerung in Deutschland etwas den Christen und Neubekehrten zu spielen: dies Mißtrauen schadete ihm noch mehr bei mir als der Verdruß, auf einen alt werdenden 5 Romantiker Hoffnungen gesetzt zu haben, dessen Kniee schon müde genug zum Niederfallen vor dem Kreuze waren. 2 [102]
Der Glaube an den L e i b ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus den Aporien der unwissenschaftlichen Betrachtung des Leibes (etwas, das ihn verio läßt. Glaube an die W a h r h e i t des T r a u m e s —) 2 [103]
Mißtrauen gegen die Selbstbeobachtung. Daß ein Gedanke Ursache eines Gedankens ist, ist nicht festzustellen. Auf dem Tisch unseres Bewußtseins erscheint ein Hintereinander von Gedanken, wie als ob ein Gedanke die Ursache des Folgenden sei. 15 Thatsächlich sehen wir den Kampf nicht, der sich unter dem Tische abspielt 2 [104]
Bei Plato als bei einem Menschen der überreizbaren Sinnlichkeit und Schwärmerei ist der Zauber des Begriffs so groß gewesen, daß er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform ver20 ehrte und vergötterte. D i a l e k t i k - T r u n k e n h e i t , als das Bewußtsein, mit ihr eine Herrschaft über sich auszuüben — — als Werkzeug des Machtwillens. 2 [105]
Druck und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches. Es setzt ja schon etwas voraus, das z u s a m m e n 25 h ä l t und drücken und stoßen k a n n ! Aber woher hielte es zusammen?
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Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen P a n t h e i s m u s auszudenken, bei dem das Böse, der Irrthum und das Leid n i c h t als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden. D i e s e g r a n d i o s e l n i t i a t i v e ist miß5 braucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktionirt. Schopenhauer erscheint dagegen als hartnäckiger MoralMensch, welcher endlich, um mit seiner moral(ischen) Schätzung - Recht zu behalten, zum W e l t - V e r n e i n e r wird. Endlich zum „Mystiker". Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich? — Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in g l e i c h e n Formen, als ein '5 zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental aber schien mir das Ewig-Schaffende als das e w i g - Z e r s t ö r e n M ü s s e n d e gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge, unter dem Willen, einen Sinn, einen n e u e n Sinn in das sinnlos Gewordene zu legen: die -3 angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißrathen, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen? — Die Täuschung A p o l l o s : die E w i g k e i t der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung „so s o l l es i m m e r *5 s e i n ! " D i o n y s o s : Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.
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NB. Die Religionen gehn an dem Glauben der Moral zu Grunde: der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich „Atheismus" — wie als ob es keine andere Art Götter geben könne. 5 Insgleichen geht die Cultur am Glauben an die Moral zu Grunde: denn wenn die nothwendigen Bedingungen entdeckt sind, aus denen allein sie wächst, so w i l l man sie nicht mehr: Buddhismus. 2 [108]
Daß der W e r t h der W e l t in unserer Interpretation 10 Hegt (— daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind als bloß menschliche —) daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, daß jede E r h ö h u n g d e s M e n 15 s e h e n die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt — dies geht durch meine Schriften. Die Welt, die u n s e t w a s a n g e h t , ist falsch d. h. ist kein Thatbestand, son20 dem eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist „im Flusse", als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn — es giebt keine „Wahrheit".
Die „Sinnlosigkeit des Geschehens": der Glaube daran ist 25 die Folge einer Einsicht in die Falschheit der bisherigen Interpretationen, eine Verallgemeinerung der Muthlosigkeit und Schwäche — kein n o t h w e n d i g e r Glaube. Unbescheidenheit des Menschen — : wo er den Sinn nicht sieht, ihn zu l e u g n e n !
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Zur „ G e b u r t der T r a g ö d i e " . Das „Sein" als die Erdichtung des am Werden Leidenden. Ein Buch aus lauter Erlebnissen über ästhetische Lust- und Unlustzustände aufgebaut, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde. Zugleich ein Romantiker-Bekenntniß, endlich ein Jugend-Werk voller Jugend-Muth und Melancholie. Der Leidendste verlangt am tiefsten nach Schönheit — er e r z e u g t sie. Psychologische Grunderfahrungen: mit dem Namen „apollinisch" wird bezeichnet das entzückte Verharren vor einer erdichteten und erträumten Welt, vor der Welt des s c h ö n e n S c h e i n s als einer Erlösung vom W e r d e n : auf den Namen des Dionysos ist getauft, andererseits, das Werden aktiv gefaßt, subjektiv nachgefühlt, als wüthende Wollust des Schaffenden, der zugleich den Ingrimm des Zerstörenden kennt. Antagonismus dieser beiden Erfahrungen und der ihnen zu Grunde liegenden B e g i e r d e n : die erstere will die Erscheinung e w i g , vor ihr wird der Mensch stille, wunschlos, meeresglatt, geheilt, einverstanden mit sich und allem Dasein: die zweite Begierde drängt zum Werden, zur Wollust des Werden-machens d. h. des Schaffens und Vernichtens. Das Werden, von innen her empfunden und ausgelegt, wäre das fortwährende Schaffen eines Unbefriedigten, Überreichen, Unendlich-Gespannten und -Gedrängten, eines Gottes, der die Qual des Seins nur durch beständiges Verwandeln und Wechseln überwindet: — der Schein als seine zeitweilige, in jedem Augenblick erreichte Erlösung; die Welt als die Abfolge göttlicher Visionen und Erlösungen im Scheine. — Diese Artisten-Metaphysik stellt sich der einseitigen Betrachtung Schopenhauers entgegen, welcher die Kunst nicht vom Künstler aus, sondern vom Empfangenden aus allein zu würdigen versteht: weil sie Befreiung und Erlösung im Genuß des Nicht-Wirklichen mit sich bringt, im Gegensatz zur Wirklichkeit (die Erfahrung eines an sich und seiner Wirklichkeit Lei-
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denden und Verzweifelnden) — Erlösung in der F o r m und ihrer Ewigkeit (wie auch Plato es erlebt haben mag: nur daß dieser auch im Begriff schon den Sieg über seine allzu reizbare und leidende Sensibilität genoß) Dem wird die z"weite That5 sache, die Kunst vom Erlebniß des Künstlers aus, entgegengestellt, vor Allem des Musikers: die T o r t u r des Schaffenmüssens, als d i o n y s i s c h e r T r i e b . Die tragische Kunst, an beiden Erfahrungen reich, wird als Versöhnung des Apoll und Dionysos bezeichnet: der Erscheine nung wird die tiefste Bedeutsamkeit geschenkt, durch Dionysos: und diese Erscheinung wird doch verneint und mit L u s t verneint. Dies ist gegen Schopenhauers Lehre von der R e s i g n a t i o n als tragische Weltbetrachtung gekehrt. Gegen Wagner's Theorie, daß die Musik Mittel ist, und 15 das Drama Zweck. Ein Verlangen nach dem tragischen Mythus (nach „Religion" und zwar pessimistischer Religion) (als einer abschließenden Glocke worin Wachsendes gedeiht) Mißtrauen gegen die Wissenschaft: obwohl ihr augenblick2° lieh lindernder Optimismus stark empfunden ist. Heiterkeit des theoretischen Menschen. Tiefer Widerwille gegen das Christenthum: warum? Die Entartung des deutschen Wesens wird ihm zugeschoben. Nur aesthetisch giebt es eine Rechtfertigung der Welt. Gründ*5 licher Verdacht gegen die Moral (sie gehört mit in die Erscheinungswelt). Das Glück am Dasein ist nur möglich als Glück am S c h e i n Das Glück am Werden ist nur möglich in der V e r n i c h t u n g des Wirklichen des „Daseins", des schönen Anscheins, in 3° der pessimistischen Zerstörung der Illusion. in der V e r n i c h t u n g a u c h d e s s c h ö n s t e n S c h e i n s k o m m t das d i o n y s i s c h e G l ü c k auf seinen Gipfel.
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Das Problem vom Sinn der Kunst: w o z u Kunst? Wie verhielten sich die lebenskräftigsten und wohlgerathensten Menschen die G r i e c h e n zur Kunst? Thatsache: die Tragödie gehört ihrer reichsten Zeit von Kraft an — warum? Zweite Thatsache: das Bedürfniß nach Schönheit, ebenso nach Logisirung der Welt gehört in ihre decadence D e u t u n g beider Thatsachen: F e h l e r h a f t e N u t z a n w e n d u n g auf die Geg e n w a r t : ich deutete den Pessimismus als F o l g e der höheren Kraft und Lebensfülle, welche sich den Luxus des Tragischen erlauben kann. Insgleichen deutete ich die deutsche Musik als Ausdruck einer dionysischen Überfülle und Ursprünglichkeit d.h. i) ich überschätzte das deutsche Wesen 2) ich verstand die Quelle der modernen Verdüsterung nicht 3) mir fehlte das kulturhistorische Verständniß für den Ursprung der modernen Musik und ihre e s s e n t i e l l e Romantik. Abgesehen von dieser fehlerhaften Nutzanwendung bleibt das Problem bestehn: w i e w ü r d e e i n e M u s i k s e i n , welche n i c h t romantischen Ursprungs wäre — sondern eines dionysischen? 2[II 2]
. ein Romantiker ist ein Künstler, den das große Mißver*f gnügen an sich schöpferisch macht — der von sich und seiner Mitwelt wegblickt, zurückblickt 2 [113]
Ich fieng an mit einer metaphysischen Hypothese über den Sinn der Musik: aber zu Grunde lag eine p s y c h o l o g i s c h e E r f a h r u n g , welcher ich noch keine genügende h i s t o -
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r i s c h e Erklärung unterzuschieben wußte. Die Übertragung der Musik in's Metaphysische war ein Akt der Verehrung und Dankbarkeit; im Grunde haben es alle religiösen Menschen bisher so mit ihrem Erlebniß gemacht. — Nun kam die Kehrseite: die unleugbar s c h ä d l i c h e und zerstörerische Wirkung eben dieser verehrten Musik auf mich — und damit auch das Ende ihrer religiösen Verehrung. Damit giengen mir auch die Augen auf für das moderne Bedürfniß n a c h Musik (welches gleichzeitig in der Geschichte erscheint mit dem zunehmenden Bedürfniß nach Narcoticis) Gar das „Kunstwerk der Zukunft" erschien mir als Raffinement des Aufregungs- und BetäubungsBedürfnisses, wobei alle Sinne zugleich ihre Rechnung finden wollen, eingerechnet der idealistische, religiöse, hypermoralische Widersinn — als eine Gesamt-Excitation der ganzen nervösen Maschinerie. Das Wesen der Romantik gieng mir auf: der M a n g e l einer fruchtbaren Art von Menschen ist da zeugend geworden. Zugleich die Schauspielerei der Mittel, die Unächtheit und Entlehntheit aller einzelnen Elemente, der Mangel an Probität der künstlerischen Bildung, die abgründliche F a l s c h h e i t dieser modernsten Kunst: welche wesentlich Theaterkunst sein möchte. Die psychologische Unmöglichkeit dieser angeblichen Helden- und Götterseelen, welche zugleich nervös, brutal und raffinirt sind gleich den Modernsten unter den Pariser Malern und Lyrikern. — Genug, ich stellte sie mit hinein in die moderne „Barbarei". — Damit ist über das D i o n y s i s c h e Nichts gesagt. In der Zeit der größten Fülle und Gesundheit erscheint die Tragödie, aber auch in der Zeit der Nervenerschöpfung und -Überreizung. Entgegengesetzte Deutung. — Bei Wagner ist bezeichnend, wie er schon dem Ring des Nibelungen einen nihilistischen (ruhe- und endesüchtigen) Schluß gab. 2 [114]
Das Kunstwerk, wo es o h n e Künstler erscheint z. B. als Leib, als Organisation (preußisches Offiziercorps, Jesuitenor-
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den). In wiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Was bedeutet das „Subjekt" — ? Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk Ist die Kunst eine Folge des U n g e n ü g e n s am W i r k l i e h e n ? Oder ein Ausdruck der D a n k b a r k e i t ü b e r g e n o s s e n e s G l ü c k ? Im ersten Falle R o m a n t i k , im zweitenGlorien-schein und Dithyrambus (kurz A p o t h e o s e n - K u n s t ) : auch Raffael gehört hierhin, nur daß er jene Falschheit hatte, den A n s c h e i n der christlichen Weltauslegung zu vergöttern. Er war dankbar für das Dasein, wo es n i c h t spezifisch-christlich sich zeigte. Mit der m o r a l ( i s c h e n ) Interpretation ist die Welt unerträglich. Das Christenthum war der Versuch, damit die Welt zu überwinden: das heißt zu verneinen. In praxi lief ein solches Attentat des Wahnsinns — einer wahnsinnigen Selbstüberhebung des Menschen angesichts der Welt—(auf)Verdüsterung, Verkleinlichung, Verarmung des Menschen hinaus: die mittelmäßigste und unschädlichste Art, die heerdenhafte Art Mensch, fand allein dabei ihre Rechnung, ihre F ö r d e r u n g , wenn man will... H o m e r a l s A p o t h e o s e n - K ü n s t l e r ; auch Rubens. Die Musik hat noch keinen gehabt. Die Idealisirung des g r o ß e n F r e v l e r s (der Sinn für seine G r ö ß e ) ist griechisch; das Herunterwürdigen, Verleumden, Verächtlichmachen des Sünders ist jüdisch-christlich. 2[n5] „Gott ist todt". Gefahr in der Gottes Verehrung nach jüdischchristlichen Schemen. 2[ll6]
Jene Selbst-Erkenntniß, welche Bescheidenheit ist — denn wir sind nicht unser eigen Werk — aber ebensosehr auch Dank3° barkeit ist — denn wir sind „gut gerathen" —
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Psychologie des wissenschaftlichen Bedürfnisses. Die Kunst aus Dankbarkeit oder aus Ungenügen. Die moralische Welt-ausdeutung endet in Weltverneinung (Kritik des Christenthums). 5 Antagonismus zwischen „Verbesserung" und Verstärkung des Typus Mensch. Unendliche Ausdeutbarkeit der Welt: jede Ausdeutung ein Symptom des Wachsthums oder des Untergehens. Die bisherigen Versuche, den m o r a l i s c h e n Gott zu io überwinden (Pantheismus Hegel usw.) Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfniß der inertia; die Mehrheit der Deutung Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und änigmatischen Charakter n i c h t a b s t r e i ten w o l l e n ! *[»8] ( I . Der Nihilismus in allen Anzeichen vor der Thür. ^ II. Unvermeidlich, falls man nicht seine Voraussetzungen begreift. Diese sind die Wertschätzungen ( n i c h t die socialen Thatsachen: welche alle erst durch eine bestimmte A u s d e u t u n g bald pessimistisch, bald 2° optimistisch wirken) 15
2. 3. 4.
25
III. Genesis der Wertschätzungen, als Kritik derselben. IV. Die Umgekehrten. Ihre Psychologie. V. Der Hammer: als die Lehre, welche die E n t s c h e i d ü n g herbeiführt. 1. 2. 3. 4.
Die Gefahr der Gefahren. Kritik der Moral. Wir Umgekehrten. Der Hammer.
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„Wie weit reicht die Kunst ins Innere der Welt? Und giebt es abseits vom ,Künstler* noch künstlerische Gewalten?" Diese Frage war, wie man weiß, mein A u s g a n g s p u n k t : und ich sagte Ja zu der zweiten Frage; und zur ersten „die Welt 5 selbst ist nichts als Kunst." Der unbedingte Wille zum Wissen, zur Wahr- und Weisheit erschien mir in einer solchen Welt des Scheins als Frevel an dem metaphysischen Grundwillen, als Wider-Natur: und billigerweise wendet sich (die) Spitze der Weisheit g e g e n den Weisen. Das Widernatürliche der Weis10 heit offenbart sich in ihrer Kunstfeindlichkeit: erkennen wollen, wo der Schein eben die Erlösung ist — weldie Umkehrung, welcher Instinkt zum Nichts! 2 [120]
Alle Culte stellen ein e i n m a l i g e s Erlebniß, das Zusammenkommen mit einem Gotte, einen Heils-Akt in irgend »5 einem Sinne, fest, und führen es immer wieder vor. Die Ortslegende als Ursprung eines Dramas: wo die Poesie den Gott spielt. 2[121]
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25
(38) Die Schauspielerei Die Farbenbuntheit des modernen Menschen und ihr Reiz. Wesentlich Versteck und Überdruß. Der Litterat. Der Politiker (im „Nationalen Schwindel") Die Schauspielerei in den Künsten Mangel an Probität der Vorbildung und Schulung (Fromentin) die Romantiker (Mangel an Philosophie und Wissenschaft und Überfluß an Litteratur) die Romanschreiber (Walter Scott, aber auch die Nibe-
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lungen-Ungeheuer mit der nervösesten Musik) die Lyriker Die „Wissenschaftlichkeit** Virtuosen (Juden) die volksthümlichen Ideale als überwunden aber noch nicht v o r dem V o l k : der Heilige, der Weise, der Prophet
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(37) Zur G e s c h i c h t e der m o d e r n e n Verdüsterung. Die Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne „Heimat** — Der Niedergang der Familie. „Der gute Mensch" als Symptom der Erschöpfung. Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung) Geilheit und Neurose. Schwarze Musik: — die crquiddiche Musik wohin? Der Anarchist. Menschenverachtung Ekel. Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß s c h ö p f e r i s c h wird? Ersterer erzeugt die I d e a l e der R o m a n t i k nordische Unnatürlichkeit. das Bedürfniß nach Alcoholica und die Arbeiter-„Noth" der philosophische Nihilismus.
2[I2
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Die Christen müssen an die W a h r h a f t i g k e i t G o t ^5 t e s glauben: da bekommen sie leider den Glauben an die Bibel und an deren „Naturwissenschaft** mit in Kauf; sie d ü r f e n durchaus keine relative Wahrheit (oder deutlicher gesagt ) zugestehen. An dem u n b e d i n g t e n Charakter seiner Moral zerbricht das Christenthum. — Die Wissenschaft hat den 3° Zweifel an der Wahrhaftigkeit des christlichen Gottes geweckt:
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an diesem Z w e i f e l s t i r b t (Pascals deus absconditus).
das
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Christenthum
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1. Geburt der Tragödie. 2. Unzeitgemässe Betrachtungen.
3. Menschliches Allzumenschliches. 15 4. Vermischte Meinungen und Sprüche.
Artisten-Metaphysik. Der Bildungsphilister. Der Ekel. Leben und Historie — Grundproblem. Der philosophische Einsiedler. „Erziehung" Der Künstler-Einsiedler. Was an Wagner zu lernen ist. Der freie Geist.
Der Pessimist des Intellekts.
(7) Causalität. Warum bin i c h so und so? Der unsinnige Gedanke für sein Dasein, auch für sein So- und So-sein selbst frei wählend sich zu denken. Hintergrund: die Forderung, es m ü ß t e ein Wesen geben, welches ein sich selbst verachtendes Geschöpf, wie ich es bin, am Entstehen v e r h i n d e r t hätte. Sich als Gegenargument gegen Gott f ü h l e n — 5. Wanderer und Schatten.
Einsamkeit als Problem.
6. Morgenröthe.
Moral als eine Summe von Vorurtheilen Hohn über die europäische Moralistik.
M
7. Fröhliche Wissenschaft.
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Nachgelassene Fragmente
Aussicht auf eine Überwindung der Moral. Wie müßte ein Mensch beschaffen sein, der jenseits lebte? Z <arathustra>
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Sieben Vorreden. Ein Nachtrag zu sieben Veröffentlichungen.
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Zur Geschichte des Pessimismus. Die moderne Verdüsterung. Die Schauspielerei. 2 [126]
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Zu i) Kritik der hödisten Werthe. Zur Geschichte der V e r l e u m d u n g . Wie man I d e a l e macht. Cultur (und „Vermenschlichung": antagonistisch) Moral als Instinkt der Scham, als Verkleidung, Maske, grundsätzlich wohlmeinende Interpretation (37) Urtheile über die P e s s i m i s t e n einzumisdien! Die Inder Der Pessimismus (als Instinkt) und der Wille z u m Pessimismus: Haupt-Contrast Der Pessimist des Intellekts jener dem Unlogischen, dieser dem Schmerzhaften Der Pessimist der nachspürend. Sensibilität — a l l e diese Maaßstäbe sind es nur aus m o r a l i s c h e n Gründen
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— oder, wie Plato, auch die fjÖovr), als Werth-Umwertherin und Verführerin gefürchtet
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A. B. C. D. E. F.
Was ist Wahrheit? Gerechtigkeit. Zur Geschichte der Mitgefühle. Der „gute Mensch". Der „höhere Mensch". Der Künstler.
(36) W a s i s t W a h r h e i t ? (inertia, die Hypothese, bei der Befriedigung entsteht, geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.) 1[1Z7] (2)
Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser 15 unheimlichste aller Gäste? — I. 1. Ausgangspunkt: es ist ein I r r t h u m , auf „sociale Nothstände" oder „physiologische Entartungen" oder gar auf Corruption hinzuweisen als U r s a c h e des Nihilismus. Diese erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutun20 gen. Sondern in einer g a n z b e s t i m m t e n A u s d e u t u n g , in der christlich-moral(ischen) steckt der Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Noth, seelische, leibliche, intellektuelle Noth ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus d. h. die radikale Ab*5 lehnung von Werth, Sinn, Wünschbarkeit hervorzubringen 2. Der Untergang des Christenthums — an seiner Moral (die unablösbar ist —) welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das 3° Christenthum hodi entwickelt, bekommt E k e l vor der
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Nachgelassene Fragmente
Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von „Gott ist die Wahrheit" in den fanatischen Glauben „Alles ist falsch". Buddhismus der T h a t . . . . 3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der m o r a l ( i s c h e n ) Weltauslegung die keine S a n k t i o n mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus „Alles hat keinen Sinn" (die Undurchführbarkeit Einer Weltauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist — erweckt das Mißtrauen ob nicht a l l e Weltauslegungen falsch sind — ) Buddhistischer Zug, Sehnsucht in's Nichts. (Der indische Buddhism hat n i c h t eine grundmoralische Entwicklung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrthum combinirt, der Irrthum also als Strafe — eine moralische Werthschätzung) Die philosophischen Versuche, den „moralischen Gott" zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volksthümlichen Ideale: der Weise. Der Heilige. Der Dichter. Antagonismus von „wahr" und „schön" und „gut" 4. Gegen die „Sinnlosigkeit" einerseits, gegen die moralischen Werthurtheile andererseits: in wiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urtheilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Anti-wissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus. D i e christlichen Werthurtheile überall in den socialistischen und positivistischen Systemen rückständig. Es fehlt eine K r i t i k d e r c h r i s t l i c h e n Moral. 5. die nihilistischen Consequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (nebst ihren Versuchen ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betriebe f o l g t endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen s i c h , eine Anti-Wissen-
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schaftlichkeit. — Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x 6. Die nihilistischen Consequenzen der politischen und volkswirthschaftlichen Denkweise wo alle „Principien" nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit, Unaufrichtigkeit usw. Der N a tionalismus, der Anarchismus usw. Strafe. Es fehlt der e r l ö s e n d e Stand und Mensch, die Rechtfertiger — 7. die nihilistischen Consequenzen der Historie und der „ p r a k t i s c h e n Historiker" d. h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absolute U11 Originalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethes angebliches Olympier-thum. 8. Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus. Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß)
^ [128] I. Grundwiderspruch in der Civilisation und der Erhöhung des Menschen. Es ist die Zeit des g r o ß e n M i t t a g s , d e r f r u c h t b a r s t e n Aufhellung: meine A r t v o n P e s s i m i s m u s : — großer Ausgangspunkt. 2 ° IL Die moral(ischen) Werthschätzungen als eine Geschichte der Lüge und Verleumdungskunst im Dienste eines Willens zur Macht (des H e e r d e n - Willens) welcher sich gegen die stärkeren Menschen auflehnt III. Die Bedingungen jeder Erhöhung der Cultur (der Ermög25 lichung einer A u s w a h l auf Unkosten einer Menge) sind die Bedingungen alles Wachsthums. IV. Die V i e l d e u t i g k e i t der Welt als Frage der K r a f t , welche alle Dinge unter der P e r s p e k t i v e i h r e s W a c h s t h u m s ansieht. Die m o r a l i s c h e n c h r i s t 30
l i e h e n Werthurtheile als Sklaven-Aufstand und Sklaven-Lügenhaftigkeit (gegen die aristokratischen Werthe der a n t i k e n Welt)
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Nachgelassene Fragmente
Wie weit reicht die K u n s t hinab in das Wesen der K r a f t ? 2 [129]
Die ewige Wiederkunft. Zarathustrische Tänze und Umzüge. Erster Theil: GottesTodtenfest.
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Von Friedrich Nietzsche.
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1. 2. 3. 4.
Gottes Todtenfest. Am großen Mittag. „Wo ist die Hand für diesen Hammer?" Wir Gelobenden.
I. Die Peststadt. Er wird gewarnt, er fürchtet sich nicht und geht hinein, verhüllt. Alle Arten des Pessimismus ziehen vorbei. 15 Der Wahrsager d e u t e t jeden Zug. Die Sucht zum Anders, die Sucht zum Nein, endlich die Sucht zum Nichts folgen sich. Zuletzt giebt Zarathustra die E r k l ä r u n g : Gott ist todt, dies ist die U r s a c h e der größten Gefahr: wie? sie könnte auch die Ursache des größten Muths sein! 20
II.
Das Erscheinen der Freunde. Der Genuß der Untergehenden an d e m V o l l k o m m e n e n : Abziehende. Die Rechenschaft der Freunde. 25 Festzüge. Die entscheidende Zeit, der große Mittag. Das große Dank- und Todtenopfer an den todten Gott.
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III. Der Tod Gottes, für den Wahrsager das furchtbarste Ereigniß, ist das Glücklichste und Hoffnungsreichste für Zarathustra. Zarathustra stirbt.
Die neue Aufgabe. Das Mittel der Aufgabe, Die Freunde verlassen ihn. s
IV. Wir Gelobenden 2 [130]
Das Phänomen „Künstler" ist noch am leichtesten d u r c h s i c h t i g : — von da aus hinzublicken auf die G r u n d 10 i n s t i n k t e der M a c h t , der Natur usw.! Auch der Religion und Moral! „das Spiel", das Unnützliche, als Ideal des mit Kraft Überhäuften, als „kindlich". Die „Kindlichkeit" Gottes, Jtalg jtai^cov 2 [131]
15
P l a n des e r s t e n B u c h e s . Es dämmert der Gegensatz der Welt, die wir verehren, und der Welt, die wir leben, die wir — sind. Es bleibt übrig, entweder unsere Verehrungen abzuschaffen oder uns selbst. Letzteres ist der Nihilismus. io 1. Der heraufkommende Nihilismus, theoretisch und praktisch. Fehlerhafte Ableitung desselben. (Pessimismus, seine Arten: Vorspiele des Nihilismus, obschon nicht nothwendig.) Übergewicht des Nordens über den Süden. 2* 2. Das Christenthum an seiner Moral zu Grunde gehend. „Gott ist die Wahrheit" „Gott ist die Liebe" „der gerechte Gott" — Das größte Ereigniß — „Gott ist todt" —, dumpf gefühlt. Der deutsche Versuch, Christen thum) in eine Gnosis umzuwandeln, ist zum tiefsten Mißtrauen ausge-
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3. 5 4.
J
o 5.
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6.
7. 20 8.
es
9. 3°
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schlagen: das „Unwahrhaftige" dabei am stärksten empfunden (gegen Schelling z. B.) Moral, ohne Sanktion nunmehr, weiß sich selbst nicht mehr zu halten. Man läßt die moralische Ausdeutung endlich f a l l e n — (Das Gefühl überall noch voller Nachschläge des christlichen Werthurtheils — ) Aber auf moralischen Urtheilen beruhte der W e r t h bisher, vor Allem der Werth der Philosophie! („des Willens zur Wahrheit" — ) die volkstümlichen Ideale „der Weise" „der Prophet" „der Heilige" hingefallen N i h i l i s t i s c h e r Zug in den Naturwissenschaften. („Sinnlosigkeit"—) Causalismus, Mechanismus. Die „Gesetzmäßigkeit" ein Zwischenakt, ein Überbleibsel. Insgleichen in der Politik: es fehlt der Glaube an s e i n Recht, die Unschuld, es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei Insgleichen in der Volks wirthschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines R e c h t f e r t i g e r s , — Heraufkommen des Anarchismus. „Erziehung?" Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus, die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißrathen. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! — (der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske, es giebt keine Thatsachen) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr G e g e n s c h l a g (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen) die reinen Artisten (gleichgültig gegen den Inhalt) Letzteres, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr
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Gegenschlag, der Versuch, sich rein artistisch zum „Menschen* zu stellen, — auch da wird noch nicht die u m g e k e h r t e Werthschätzung g e w a g t ! ) io. Das ganze europäische System der menschlichen Bestre5 bungen f ü h l t s i c h theils sinnlos, theils bereits „unmoralisch". Wahrscheinlichkeit eines neuen Buddhismus. Die höchste Gefahr. „Wie verhalten sich Wahrhaftigkeit, Liebe, Gerechtigkeit zur w i r k l i c h e n Welt?" Gar nicht! — Die Anzeichen *° Der europäische Nihilismus. Seine Ursache: die Entwerthung der bisherigen Werthe. Das unklare Wort „Pessimismus": Leute, die sich schlecht befinden und Leute, die sich zu gut befinden — beide sind P(essimisten) gewesen. 15 Verhältniß von Nihilismus, Romantik und Positivismus (letzterer ein Gegenschlag gegen die Romantik, Werk enttäuschter Romantiker) „Rückkehr zur Natur" 1. seine Stationen: Hintergrund christliche Vertrauensseligkeit (ungefähr schon Spinoza „deus sive 20 natura"!) Rousseau, die Wissenschaft nach dem romantischen Idealismus Der Spinozismus höchst einflußreich: 1) Versuch, sich zufrieden zu geben mit der Welt, w i e s i e i s t 25
2) Glück u n d Erkenntniß naiv in A b h ä n g i g k e i t gesetzt (ist Ausdruck eines Willens z u m Optimismus, an d e m sich ein tief Leidender verräth — ) 3) Versuch, die moralische W e l t o r d n u n g l p s z u w e r d e n , u m „Gott", e i n e v o r d e r V e r n u n f t b e s t e h e n d e 30 W e l t übrig z u behalten . . . . „ W e n n der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf es z u sein —" G u t u n d böse sind nur Interpretationen, und durchaus kein Thatbestand, kein A n sich. M a n kann hinter den
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Nachgelassene Fragmente
Ursprung dieser Art Interpretation kommen; man kann den Versuch machen, damit sich von der eingewurzelten Nöthigung, moralisch zu interpretiren, langsam zu befreien. Zum z w e i t e n Buche. 5 E n t s t e h u n g und K r i t i k der moralischen Wertschätzungen. Beides fällt n i c h t zusammen, wie man leichthin glaubt (dieser Glaube ist schon das R e s u l t a t einer moralischen Schätzung „etwas so und so Entstandnes ist wenig werth, als unmoralischen Ursprungs") io Maaßstab, w o n a c h der Werth der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist: Kritik der Worte „Besserung, Vervollkommnung, Erhöhung". Die ü b e r s e h e n e Grundthatsache: Widerspruch zwischen dem „Moralischer-wer den" und der Erhöhung und Verstärkung 15 des Typus Mensch Homo natura. Der „Wille zur Macht". Zum dritten Buche. Der Wille zur Macht. Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwerte thung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur, das Schwächste Klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Ge25 walten sich unterjochend Zum vierten Buche. Der g r ö ß t e Kampf: dazu braucht es einer neuen W a f f e . Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor d i e C o n s e q u e n z stellen, ob sein Wille zum 30 Untergang „will" Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!
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(36) Die Voraussetzung, daß es im Grunde der Dinge so moralisch zugeht, daß die menschliche Vernunft Recht behält, — ist eine Treuherzigkeit und Biedermanns-Voraussetzung, die Nachwir5 kung des Glaubens an die göttliche Wahrhaftigkeit — Gott als Schöpfer der Dinge gedacht. — Die Begriffe eine Erbschaft aus einer jenseitigen Vorexistenz Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit k r i t i s i r e n : der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht 10 sein Wohlgerathensein oder sein Mißrathensein bestimmen. — „Erkennen" ist ein Zu r ü c k b e z i e h n : seinem Wesen nach ein regressus in infinitum. Was Halt macht (bei einer angeblichen causa prima, bei einem Unbedingten usw.) ist die F a u l h e i t , die Ermüdung M So gut man immer noch die Bedingungen verstanden haben mag, unter denen eine Sache e n t s t e h t , d e s h a l b versteht man sie selbst noch nicht: — den Herrn Historikern ins Ohr gesagt. 2 [i33] G e g e n das Versöhnen-Wollen und die Friedfertigkeit. Da20 zu gehört auch jeder Versuch von Monismus. ^ [134] (39) Die Volks- und Massen-Wirkung von Seiten der Künstler: Balzac V. Hugo, R. Wagner 2 [135] — Error veritate simplicior —
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2 [l36] — Eines jener s c h l a g e n d e n schlägt, der es anwendet —
Argumente, das den
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Gedanken-Wegweiser. Hülfsmittel zu einem ernstlichen Studium meiner Schriften. Grundsätzliches. Zur Lehre vom Machtgefühl. Zur psychologischen Optik. Zur Kritik der Religionen Zur disciplina intellectus. Das Fragwürdige an den Tugenden. Zu Ehren des Bösen. Das Problem des Künstlers. Politika. An die Logiker. Gegen die Idealisten. Gegen die Wirklichkeits-Gläubigen. Von der Musik. Aufklärung über das Genie. Aus den Geheimnissen der Einsamkeit. Was ist griechisch? Zur Kunst des Lebens. Die moderne Verdüsterung. Weib und Liebe. Bücher und Menschen. Völker und „Volk".
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Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche
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Neue verständlichere Ausgabe. Zweiter Band. Mit einem Anhang: G e d a n k e n w e g w e i s e r . Ein Hülfsmittel zum ernsthaften Studium meiner Schriften. * [i39] (7) Zum „Causalismus". Es liegt auf der Hand, daß w e d e r Dinge an sich mit einander im Verhältniß von Ursache und Wirkung stehen können, n o c h Erscheinung mit Erscheinung: womit sich ergiebt, daß der 15 Begriff „Ursache und Wirkung" innerhalb einer Philosophie, die an Dinge an sich und an Erscheinungen glaubt, n i c h t a n w e n d b a r ist. Die Fehler Kants — .. Thatsächlich stammt der Begriff „Ursache und Wirkung", psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille *o wirkend glaubt, — die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an „Seelen" (und n i c h t an Dinge) Innerhalb der mechanistischen Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren Anwendung auf Raum und Zeit) reduzirt sich jener Begriff auf die mathematische Formel — mit der, wie man immer wieder unteres streichen muß, niemals Etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet, v e r z e i c h n e t wird. Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein „Gesetz", sondern ein Machtverhältniß zwischen
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Nachgelassene Fragmente
2 oder mehreren Kräften. Zu sagen: „aber gerade dies Verhältniß bleibt sich gleich!" heißt nichts Anderes als: „ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein". — Es handelt sich nicht um ein N a c h e i n a n d e r , — sondern um ein 5 I n e i n a n d e r , einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente n i c h t als Ursachen und Wirkungen sich bedingen Die Trennung des „Thuns" vom „Thuenden", des Geschehens von einem (Etwas), das geschehen m a c h t , des Proio zesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, — der Versuch das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und StellungsWechsel von „Seiendem", von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an „Ursache und Wirkung" festgestellt, 15 nachdem er in den sprachl {ichen) grammat(ikalischen) Funktionen eine feste Form gefunden hatte. — 2 [140]
(30)
Gegen beide Behauptungen „es kann das Gleiche nur vom Gleichen erkannt werden" und „es kann das Gleiche nur vom 20 Ungleichen erkannt werden" — um welche schon im Alterthum ein Kampf von Jahrhunderten gekämpft worden ist — läßt sich heute einwenden, von einem strengen und vorsichtigen Begriff des Erkennens aus: es k a n n gar n i c h t e r k a n n t w e r d e n — und zwar ebendeshalb, weil das Gleiche nicht das Gleiche 25 erkennen kann, und weil ebensowenig das Gleiche vom Ungleichen erkannt werden kann. — 2 [141]
Diese Scheidungen des Thuns und des Thuenden, des Thuns und des Leidens, des Seins und des Werdens, der Ursache und der Wirkung
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schon der Glaube an die Veränderungen setzt den Glauben an e t w a s voraus, das „sich ändert". die Vernunft ist die Philosophie des A u g e n s c h e i n s 2[142] (30)
5
die „Regelmäßigkeit" der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, w i e a l s ob hier eine Regel befolgt werde: kein Thatbestand. Ebenso „Gesetzmäßigkeit". Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir k e i n „ G e s e t z " e n t d e c k t , noch JO weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas i m m e r so und (so) geschieht, wird hier interpretirt, als ob ein Wesen in Folge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom „Gesetz", Freiheit hätte, anders zu han15 dein. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das n i c h t in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes thun, ist weder frei, noch unfrei, sondern 20 eben so und so. D e r F e h l e r s t e c k t in der H i n e i n dichtung eines Subjekts 2 [143]
Gesetzt, die Welt verfügte über Ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an irgend einer Stelle das ganze System bedingt — also neben der Causali25 tat h i n t e r einander wäre eine Abhängigkeit n e b e n und m i t e i n a n d e r gegeben.
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Nachgelassene Fragmente
2 [144] (40)
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Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal in Hinsicht auf eine f u r c h t b a r e Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christenthum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß, selbst wenn es ein Irrthum wäre, man zeitlebens doch den großen Vortheil und Genuß dieses Irrthums habe: es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrecht erhalten werden solle, — also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonistische Wendung, der Beweis aus der L u s t ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der K r a f t , aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der F u r c h t . Thatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christenthum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem o p i a t i s c h e n Christenthum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft hat, noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des „Vielleicht-Verurtheilten". Aber ein Christenthum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines „Gottes am Kreuze" überhaupt n i c h t n ö t h i g : weshalb im Stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht. 2 [145]
Die Auslegung eines Geschehens als e n t w e d e r Thun o d e r Leiden — also jedes Thun ein Leiden — sagt: jede Veränderung, jedes Anderswerden setzt einen Urheber voraus und 3° einen, a n d e r n „verändert" wird.
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l[l46]
Es läßt sich eine vollkommene Analogie führen zwischen dem Vereinfachen und Zusammendrängen zahlloser Erfahrungen auf General-Sätze u n d dem Werden der Samenzelle, welche die ganze Vergangenheit verkürzt in sich trägt: und ebenso zwischen 5 dem künstlerischen Herausbilden aus zeugenden Grundgedanken bis zum „System" u n d dem Werden des Organismus als einem Aus- und Fortdenken, als einer R ü c k e r i n n e r u n g des ganzen vorherigen Lebens, der Rück-Vergegenwärtigung, Verleiblichung. io Kurz: das s i c h t b a r e organische Leben und das u n s i c h t b a r e schöpferische seelische Walten und Denken enthalten einen Parallelismus: am „Kunstwerk" kann man diese zwei Seiten am deutlichsten als parallel demonstriren. — In wiefern Denken, Schließen und alles Logische als A u ß e n s e i t e an*s gesehen werden kann: als Symptom viel innerlicheren und gründlicheren Geschehens? 2 [M7] (30)
„Zweck und Mittel" als Ausdeutung (n i c h t als Thatbestand) „Ursache und als Ausdeutung alle im Sinne eines Wirkung" 20 „Subjekt und Objekt" als Ausdeutung Willens zur Macht „Thun und Leiden" („Ding an sich und Erscheinung") als Ausdeutung und inwiefern vielleicht n o t h w e n d i g e Ausdeutungen? (als „erhaltende") 2 [148]
25
Der Wille zur Macht i n t e r p r e t i r t : bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; er grenzt ab, bestimmt Grade, Macht Verschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es
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Nachgelassene Fragmente
muß ein wadisen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt. D a r i n gleich In Wahrheit ist I n t e r p r e t a t i o n e i n M i t t e l s e l b s t , um H e r r ü b e r e t w a s z u w e r d e n . ( D e r 5 organische Prozeß setzt fortwährendes Interpretiren v o r a u s . * [i49] Ein „Ding an sich" ebenso verkehrt wie ein „Sinn an sich", eine „Bedeutung an sich". Es giebt keinen „Thatbestand an sich", s o n d e r n ein Sinn muß immer erst h i n e i n g e l e g t 10 w e r d e n , d a m i t es e i n e n T h a t b e s t a n d g e b e n könne Das „was ist das?" ist eine S i n n - S e t z u n g von etwas Anderem aus gesehen. Die „Essenz", die „W e s e n h e i t" ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zu 15 Grunde liegt immer „was ist das für m i c h ?" (für uns, für alles, was lebt usw.) Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr „was ist das?" gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eigenen Relationen und Perspektiven zu 2° allen Dingen, fehlte: und das Ding ist immer noch nicht „definirt". 2[150] Kurz, das Wesen eines Dings ist auch nur eine M e i n u n g über das „Ding". Oder vielmehr: das „es g i l t " ist das eigentliche „ d a s i s t " , das einzige „das ist".
25
Man darf nicht fragen: „ w e r interpretirt denn?" sondern das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein „Sein", sondern als ein P r o z e ß , ein W e r d e n) als ein Affekt.
Herbst 1885—Herbst 1886 2[148—154]
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Die Entstehung der „Dinge" ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Erfindenden. Der Begriff „Ding" selbst ebenso als alle Eigenschaften. — Selbst „das Subjekt" ist ein solches Geschaffenes, ein „Ding", wie alle Andern: eine Vereinfachung, um die K r a f t , welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst. Also das V e r m ö g e n im Unterschiede von allem Einzelnen bezeichnet: im Grunde das Thun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Thun (Thun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Thuns) zusammengefaßt
NB. Aus der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht n a c h z u w e i s e n : so weit kann man euch heute zwingen und treiben: — aber welchen Schluß zieht ihr heraus? Er ist u n s 15 nicht nachweisbar: Skepsis der Erkenn tniß. Aber ihr Alle f ü r c h t e t den Schluß: „aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer Gott n a c h w e i s b a r sein, ein solcher, der zum Mindesten n i c h t humanitär ist" und, kurz und gut, d. h. ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die 20 uns n i c h t b e k a n n t ist. 2 [154]
(36) Gegen das w i s s e n s c h a f t l i c h e V o r u r t h e i l . — Die größte Fabelei ist die von der Erkenntniß. Man möchte wissen, wie die D i n g e an s i c h beschaffen sind: aber siehe M da, es giebt keine Dinge an sich! Gesetzt aber sogar, es gäbe ein An-sich, ein Unbedingtes, so könnte es eben darum n i c h t e r k a n n t w e r d e n ! Etwas Unbedingtes kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben n i c h t unbedingt! Erkennen ist aber
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Nachgelassene Fragmente
immer „sich-irgend-wozu-in-Bedingung-setzen" ; ein solcher „Erkennender" will, daß das, was er erkennen will, ihn nichts angeht; und daß dasselbe etwas überhaupt Niemanden nichts angeht: wobei erstlich ein Widerspruch gegeben ist, im j Erkennen- W o l l e n und dem Verlangen, daß es ihn nichts angehen soll (wozu doch dann Erkennen!) und zweitens, weil etwas, das Niemanden nichts angeht, gar nicht i s t , also auch nicht erkannt werden kann. — Erkennen heißt „sich in Bedingung setzen zu etwas": sich durch etwas bedingt fühlen und zwischen io uns es ist also unter allen Umständen ein F e s t s t e l l e n BezeichnenBewußtmachenvonBedingungen (nicht ein E r g r ü n d e n von Wesen, Dingen, „An-sichs")
Tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen; Zauber der entgegengesetzten M Denkweise; sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen. 2[!j6] Zum Capitel „K ü n s 11 e r" (als Bildner, Werthzuleger, Besitzergreifer) Unsere Sprachen als Nachklänge der ä l t e s t e n B e s i t z 20 e r g r e i f u n g e n der D i n g e , von Herrschenden und Denkern zugleich — — : jedem gemünzten Wort lief der Befehl neben her „so s o l l das Ding nunmehr genannt werden!" 2[I57]
Sollten nicht alle Q u a n t i t ä t e n Anzeichen von Q u a l i t ä t e n sein? Die größere Macht entspricht einem anderen Be2j wußtsein, Gefühl, Begehren, einem anderen perspektivischen Blick; Wachsthum selbst ist ein Verlangen, m e h r zu s e i n ; aus einem q u ä l e heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von Quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre alles
Herbst 1885—Herbst 1886 2[154—161]
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todt, starr, unbewegt. — Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn: was sich ergiebt, ist daß eins und das andere beisammen steht, eine Analogie — 2 [l58] Psychologische Geschichte des Begriffs „Subject". Der Leib, 5 das Ding, das vom Auge construirte „Ganze" erweckt die Unterscheidung von einem Thun und einem Thuenden; der Thuende, die Ursache des Thuns immer feiner gefaßt, hat zuletzt das „Subjekt" übrig gelassen.
Ist jemals schon eine Kraft constatirt? Nein, sondern Wir10 kungen, übersetzt in eine völlig fremde Sprache. Das Regelmäßige im Hintereinander hat uns aber so verwöhnt, daß wir uns ü b e r d a s W u n d e r l i c h e d a r a n n i c h t w u n dern 1 [160] Heute, wo es gilt, diesem Buch, das offen steht aber trotzdem 15 nach seinem Schlüssel verlangt, hierzu einen Eingang eine Vorrede zu geben, soll es das Erste sein, zu sagen, warum ich mich damals vor einer Vorrede f ü r c h t e t e . 2 [161] (41) Zur V o r r e d e . 20 Gegen die erkenntnißtheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte (ich) es, bald aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blikken, hütete mich, (mich) darin festzusetzen, hielt sie für schädlich — und zuletzt: ist es wahrscheinlich, daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisiren k a n n ? ? — Worauf ich 1 5 Acht gab, war vielmehr daß niemals eine erkenntnißtheoretische
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Nachgelassene Fragmente
Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, — daß sie einen Werth zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, w a s im Grunde zu dieser Stellung z w a n g : selbst schon der Wille zur Gewißheit, wenn er nicht der Wille „ich will erst 5 leben" Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel als Schopenhauer — sowohl die skeptisch-epochistische Haltung, als die historisirende als die pessimistische sind m o r a l i s c h e n Ursprungs. Ich sah Niemanden, der eine K r i t i k d e r m o r a l i s c h e n W e r t h g e f ü h l e gewagt hätte: und den spärio liehen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den Rücken. — Wie erklärt sich Spinoza's Stellung, seine Verneinung und Ablehnung der moralischen Werthurtheile? (Es war e i n e Consequenz einer Theodicee?) 2[l62]
*5
Man bemerkt, bei meinen früheren Schriften, einen guten Willen zu unabgeschlossenen Horizonten, eine gewisse kluge Vorsicht vor Überzeugungen, ein Mißtrauen gegen die Bezauberungen und Gewissens-Überlistungen, welche jeder starke Glaube mit sich bringt; mag man darin zu einem Theile die Be20 hutsamkeit des gebrannten Kindes, des betrogenen Idealisten sehen — wesentlicher scheint mir der epikureische Instinkt eines Räthselfreundes, der sich den änigmatischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, am wesentlichsten endlich ein aesthetischer Widerwille gegen die großen tu^5 gendhaften unbedingten Worte, ein Geschmack, der sich gegen alle viereckigen Gegensätze zur Wehr setzt, ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen w ü n s c h t und die Gegensätze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben, Schatten, Nachmittagslichtcr und endlosen Meere*
Herbst 1885—Herbst 1886 2[161—163]
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X [163] Gewöhnliche Fehler der Moral-Historiker: 1. sie sagen, daß es bei verschiedenen Völkern verschiedene moralische Schätzungen giebt und schließen daraus deren Unverbindlichkeit überhaupt. — Oder sie behaupten 5 irgend einen consensus der Völker, mindestens der christlichen, in gewissen Dingen der Moral und schließen daraus auf dessen Verbindlichkeit für uns: — Beides ist gleich naiv. 2. sie kritisiren die Meinung eines Volkes über seine Moral 10 (über die Herkunft, Sanktion, Vernünftigkeit usw.) und Glauben eine Moral selbst kritisirt zu haben, welche mit diesem Unkraut von Unvernunft überwachsen ist. 3. sie stehen selbst unter dem Regiment einer Moral, ohne es zu wissen und thun im Grunde nichts anderes als ihrem 15 Glauben an sie zum Siege zu verhelfen: — ihre Gründe beweisen nur ihren eigenen Willen, daß das und das geglaubt würde, daß das und das durchaus wahr sein solle. Mit den bisherigen Moral-Historikern hat es wenig auf sich: sie stehen gewöhnlich selbst unter dem Commando einer Moral ^0 und thun im Grunde nichts Anderes als deren Propaganda zu machen. Ihr gewöhnlicher Fehler ist, daß sie die thörichten Meinungen eines Volkes über seine Moral kritisiren (also über deren Herkunft, Sanktion, Vernünftigkeit) und eben damit die Moral selbst kritisirt zu haben glauben, welche mit diesem Unkraut von 25 Unvernunft überwachsen ist. Aber der Werth einer Vorschrift „du sollst" ist unabhängig von der Meinung über dieselbe, so gewiß der Werth eines Medikaments unabhängig davon ist, ob ich wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denke 30 Oder wiederum sie behaupten irgend einen consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Dinge der Moral und schließen daraus auf deren unbedingte Verbindlich-
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Nachgelassene Fragmente
keit, auch für dich und mich: was Beides gleich große Naivetäten sind — ^[164] Ein durch Kriege und Siege gekräftigter Geist, dem die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum 5 Bedürfniß geworden ist; eine Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne; eine Art sublimer Bosheit und letzten Muthwillens der Rache, denn es ist Rache darin, Rache am Leben selbst, wenn ein Schwerleidender das Leben in seine Protektion nimmt. Dies 10 Buch, dem nicht nur Eine Vorrede noth thun mag, ist aus vielen Gründen schwerverständlich, nicht durch ein Ungeschick seines Urhebers, noch weniger durch dessen schlechten Willen, sondern (durch) den letzten Muthwillen eines Schwer-Leidenden, der sich beständig über ein Ideal lustig macht, an das das Volk 15 glaubt, welches er vielleicht in diesen Zuständen erreicht hat. — Und vielleicht habe ich ein Recht, über diese Zustände mitzureden, weil ich ihnen nicht nur zugesehen habe. Ich zweifle nicht: es war der Zustand des Weisen, wie ihn das Volk sich denkt, über den ich damals mit einer ironischen 20 Selbst-Überlegenheit hinweglebte: die sanfte Unfruchtbarkeit und Selbstbefriedigung des Weisen, wie ihn sich das Volk denkt, das Abseits und Jenseits des „Rein-Erkennenden**, der ganze sublime Onanismus eines Geistes, dem der gute Wille zur That, zur Zeugung, zum Schaffen in jedem Sinne abhanden gekom25 men ist. Wer fühlt mir das wunderliche Glück jener Zeit nach, in der das Buch entstand! Die sublime Bosheit einer Seele, welche Meinem Geschmack von heute sagt etwas anderes zu: der Mensch der großen Liebe und der großen Verachtung, den seine 3° überflüssige Kraft aus allem „Abseits** und „Jenseits** mittenhinein in die Welt treibt, den die Einsamkeit zwingt, sich Wesen
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zu schaffen, die ihm gleich sind — ein Mensch mit dem Willen zu einer furchtbaren Verantwortlichkeit, an sein Problem geschmiedet Was vielleicht am schwersten an diesem schwerverständlichen 5 Buch zu begreifen ist, dem nicht nur Eine Vorrede noth thut, das ist die Ironie des Gegensatzes zwischen seinem Thema, einer Auflösung und Aufdröselung der moralischen Werthe — und seinem Ton, dem der höchsten mildesten weisesten Gelassenheit, an dem ein Schwer-Leidender, ein dem Leben Abgewandter sich io wie an seinem letzten Muthwillen ergetzte. 2 [l65] (41)
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Zur V o r r e d e der „ M o r g e n r ö t h e " . Versuch über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch gegen die Uberlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt, die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist — die sich fortwährend b e w e i s t — durch Leitung des Einzelnen und Allgemeinen —: dies die christliche Anschauung, aus der wir Alle stammen. Durch ein Wachsthum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist d i e s e Interpretation uns immer mehr u n e r l a u b t worden. Feinster Ausweg: der Kantsche Kriticismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als zur A b l e h n u n g der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich, mit einem M e h r von Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen „Ideal" (Gott) die Lücke auszufüllen.
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Nachgelassene Fragmente
Der Hegelische Ausweg, im Anschluß an Plato, ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns, einer neuen K r a f t : der „Geist" selbst ist das sich enthüllende und verwirklichende Ideal, im „Prozeß", im „Werj den" offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben —, also das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Z u k u n f t , in der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz, i) Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar — Hinio tersinn der erkenntnißtheoretischen Bewegung 2) Gott ist nachweisbar, aber als etwas Werdendes —, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen — Hintersinn der historisirenden Bewegung Aber derselbe historische Sinn, in die Natur übertretend, 15 hat
Man sieht: es ist n i e m a l s die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht oder warum es nicht nachweisbar im Kleinen und Großen ist. 20 Das Ideal des W e i s e n in wiefern grundmoralisch bisher? - - Es macht den größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem Verlangen heraus diesen Nothstand als Nothstand fühlt oder ob man ihn mit der Spitze des Gedankens *5 und einer gewissen Kraft der historischen Imagination gerade noch als ein Problem erreicht.... Abseits von der religiös-philosophischen Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Socialismus, der Demokratismus) kritisirt die Herkunft der moralischen Werth3° Schätzungen, a b e r er g l a u b t an sie, ebenso wie der Christ. (Naivetät, als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionirende G o t t fehlt. Das „Jenseits" absolut nothwendig, wenn der Glaube an Moral aufrecht erhalten werden soll.)
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G r u n d p r o b l e m : woher diese Allgewalt des G l a u b e n s ? D e s G l a u b e n s an d i e M o r a l ? (— der sich auch darin verräth, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens zu Gunsten der Moral falsch interpretirt werden: trotz Kenntniß der Thierwelt und Pflanzenwelt. die „Selbsterhaltung": darwinistische Perspektive auf Versöhnung altruistischer und egoistischer Principien. (Kritik des Egoismus, z. B. Larochefoucauld) Mein Versuch, die moralischen Urtheile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißrathens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachsthumsbedingungen verrathen: eine InterpretationVWeise vom Werthe der Astrologie. Vorurtheile, denen Instinkte souffliren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen wie Jugend oder Verwelken usw.) Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urtheile sind Anzeichen von Verfall, von Unglauben an das L e b e n , eine Vorbereitung des Pessimismus. Was bedeutet es, daß wir einen W i d e r s p r u c h in das Dasein hineininterpretirt haben? — Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen anderen Werthschätzungen stehen commandirend jene moralischen Werthschätzungen. Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? und welchen Werth haben dann Erkenntniß usw. usw. ??? M e i n H a u p t s a t z : es g i e b t k e i n e m o r a l i s c h e n P h ä n o m e n e , sondern nur eine moral (ische)
Interpretation dieser Phänomene. Diese Int e r p r e t a t i o n s e l b s t i s t a u ß e r m or a 1 i sc he n Ursprungs. 2 [166]
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Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft" Eine Lustbarkeit vor einer großen Unternehmung, zu der man jetzt endlich die Kraft bei sich zurückkehren fühlt: wie
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Buddha sich 10 Tage den weltl(ichen) Vergnügungen ergab, als er seinen Hauptsatz gefunden. Allgemeiner Spott über alles Moralisiren von heute. Vorbereitung zu Z a r a t h u s t r a s n a i v - i r o n i s c h e r S t e l 5 l u n g z u a l l e n h e i l i g e n D i n g e n (naive Form der Überlegenheit: das Spiel mit dem H e i l i g e n ) Über das M i ß v e r s t ä n d n i ß der „ H e i t e r k e i t " . Zeitweilige Erlösung von der langen Spannung, der io Übermuth eines Geistes, der sich zu langen und furchtbaren Entschließungen weiht und vorbereitet. D e r „N a r r a in d e r F o r m d e r „Wis s en sc h a f t". Diesem Buche thut vielleicht nicht nur Eine Vorrede noth: von seiner „fröhlichen Wissenschaft" hat man gar nichts ver15 standen. Selbst über den Titel Von dieser „fröhlichen Wissenschaft" hat man gar Nichts verstanden: nicht einmal den Titel, über dessen provenzalischem Sinn vergaßen viele Gelehrten Der triumphirende Zustand, aus dem dies Buch hervorgieng, io ist schwer zu begreifen — ich selbst war aber aus einem Zustand hervorgegangen. das Bewußtsein des Widerwillens gegen Alles, was hinter mir lag, gepaart mit einem sublimen Willen zur Dankbarkeit selbst für das „Hinter mir", welcher nicht zu fern von dem *5 Gefühl des Rechts auf eine lange Rache war ein Stück graues eiskaltes Greisenthum, an der unrechtesten Stelle des Lebens eingeschaltet, die Tyrannei des Schmerzes überboten durch die Tyrannei des Stolzes, der die F o l g e r u n g e n des Schmerzes ablehnt, die Vereinsamung als Nothwehr gegen 3° eine krankhafte hellseherische Menschen-Verachtung und deshalb noch als Erlösung geliebt und genossen, andererseits ein Verlangen nach dem Bittersten Herbsten Wehethuendsten der Erkenntniß
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Es gehört zu den Dingen, die ich nicht vergessen werde, daß man mir zu keinem Buche so aufrichtig gratulirt hat wie zu diesem, man gab mir selbst zu verstehen, wie gesund eine solche Denkweise sei 5
Nichts beleidigt so tief als die Höhe und Strenge der eigenen Ansprüche an sich merken zu lassen.
Nichts beleidigt so tief, nichts trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge, mit der man sich selbst behandelt, merken zu lassen: oh wie entgegenkommend und liebreich zeigt sich io alle Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen** wie alle Welt! Es gehört zu den Dingen, die ich nicht vergessen werde, daß man mir zu diesem Buche des „gai saber** mehr Glückwünsche gesagt hat als zu allen übrigen zusammen: man war plötzlich M versöhnt, man zeigte sich wieder entgegenkommend und liebreich, alle Welt sah darin eine Genesung, Rückkehr, Heimkehr, Einkehr — nämlich als Rückkehr zu „aller Welt**. Abgesehen von einigen Gelehrten, deren Eitelkeit an dem Worte „Wissenschaft" Anstoß nahm (— sie gaben mir zu ver" stehen, Das sei „fröhlich** vielleidit, sidierlich aber nicht „Wissenschaft** —) nahm alle Welt dies Buch wie eine Rückkehr zu „aller Welt** und zeigte sich um seinetwillen entgegenkommend und liebreich gegen mich: und ich errieth n a c h t r ä g l i c h , wie Nidits am tiefsten beleidigt und am gründlichsten gegen *5 uns NB Vielleidit daß man zum Schluß auch einigen übermüthigen Liedern Gehör schenkt, in denen ein Dichter sich über Dichter lustig macht und deren schöne lyrische Gefühle.
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NB!! Zarathustra, der auf eine heilige Weise allen heiligen Dingen Muth und Spott entgegenstellt und seinen Weg zum Verbotensten, Bösesten mit Unschuld geht 2[l67] L e u g n u n g d e r C a u s a l i t ä t . Um nicht für Jegliches 5 Alles verantwortlich zu machen und den Faden k u r z zu nehmen, an dem etwas hängt. „Zufall" existirt wirklich. 2 [l68] T e n d e n z d e r M o r a l - E n t w i c k l u n g . Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. 10 G r u n d t e n d e n z f o l g l i c h d e r S c h w a c h e n u n d M i t t e l m ä ß i g e n aller Z e i t e n , die S t ä r k e r e n s c h w ä c h e r zu m a c h e n , herunterzuziehen: H a u p t m i t t e l d a s moralische Urtheil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höhe15 ren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen. Der Kampf der Vielen gegen die Wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken — eine seiner feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten Feinen Anspruchsvolleren sich als die Schwachen 20 präsentiren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen — 2 [169]
(34) Es könnte scheinen als ob ich der Frage nach der Gewißheit ausgewichen sei. Das Gegentheil ist wahr: aber indem ich nach dem Kriterium der Gewißheit fragte, prüfte ich, nach wel25 chem Schwergewichte überhaupt bisher gewogen worden ist — und daß die Frage nach der Gewißheit selbst schon eine a b h ä n g i g e Frage sei, eine Frage z w e i t e n Ranges.
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(44) Es fehlt das Wissen und Bewußtsein davon, welche Umdrehungen bereits das moralische Urtheil denn durchgemacht hat, und wie wirklich mehrere Male schon im gründlidisten Sinne 5 „Böse" auf „Gut" umgetauft worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe ich mit dem Gegensatze „Sittlichkeit der Sitte" und Auch das Gewissen hat seine Sphäre vertauscht: es gab einen Heerden-Gewissensbiß 10
In wiefern auch unser Gewissen, mit seiner anscheinenden persönlichen Verantwortung doch noch Heerden-Gewissen ist.
(43) Der G e w i s s e n s b i ß wie alle r e s s e n t i m e n t s bei einer großen Fülle von Kraft fehlend (Mirabeau, B. Cellini, 15 Cardanus). 2 [172] Das „Sein" — wir haben keine andere Vorstellung davon als „leben". — Wie kann also etwas Todtes „sein"? ^[173] Zu l'art pour l'art cf. Doudan pensees p. 10 wie der Cultus der Farben depravirt Scherer VIII p. 292. 2 [174] Man findet in den Dingen nichts wieder als was man nicht selbst hineingesteckt hat: dies Kinderspiel, von dem ich nicht
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gering denken möchte, heißt sich Wissenschaft? Im Gegentheil: fahren wir fort mit Beiden, es gehört guter Muth zu Beiden — die Einen zum Wiederfinden, die Andern — w i r Andern — zum Hineinstecken! 5 — der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder als was er selbst in sie hineingesteckt hat: das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken — Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In Beidem, wenn es selbst Kinderspiele sein sollten, *['7$] (45) i° NB. G e g e n die Lehre vom Einfluß des milieu und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich ü b e r l e g e n ; Vieles, was wie Einfluß von Außen aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her. Genau dieselben milieu's können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenutzt werden: es giebt keine *S Thatsachen. — Ein Genie ist n i c h t erklärt aus solchen Entstehungs-Bedingungen — 2 [l76] Was den s t a r k e n Menschen des 20. Jahrhunderts ausmacht: — ^[177] 20
(46) Volksthümliche Ideale z. B. Franz von Assisi: Leugnung der Seelen-Hierarchie, vor Gott Alle gleich.
2 [178] Es thut gut, „Recht" „Unrecht" usw. in einem bestimmten engen bürgerlichen Sinn zu nehmen, wie „thue Recht und scheue Niemanden": d.h. einem bestimmten groben Schema gemäß, 25 innerhalb dessen ein Gemeinwesen besteht, seine Schuldigkeit thun.
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* [W9] Vorrede Von einer Vorstellung des Lebens ausgehend (das nicht ein Sich-erhalten-wollen, sondern ein W a c h s e n-Wollen ist) habe ich einen Blick über die Grundinstinkte unserer politischen gei5 stigen gesellschaftlichen Bewegung Europas gegeben. Wovon ich vielleicht einen Begriff gegeben habe? 1) daß hinter den grundsätzlichsten Verschiedenheiten der Philosophien eine gewisse Gleichheit des Bekenntnisses steht: die unbewußte Führung durch m o r a l i s c h e H i n t e r a b 10 s i c h t e n , deutlidier: d u r c h v o l k s t h ü m l i c h e I d e a l e ; — daß folglich das moralische Problem radikaler ist als das erkenntnißtheoretische 2) daß einmal eine Umkehrung des Blicks noth thut, um das Vorurtheil d e r M o r a l und aller volksthümlichen 15 Ideale ans Licht zu bringen: wozu alle Art „freier Geister" — d. h. unmoralischer — gebraucht werden kann. 3) daß das Christenthum, als plebejisches Ideal, mit seiner Moral auf Schädigung der stärkeren höher gearteten männlicheren Typen hinausläuft und einen Heerdenart-Menschen begünio stigt: daß es eine Vorbereitung der demokratischen Denkweise ist 4) daß die Wissenschaft im Bunde mit der GleichheitsBewegung vorwärts geht, Demokratie ist, daß alle Tugenden des Gelehrten die R a n g o r d n u n g ablehnen ^5
5) daß das demokratische Europa nur auf eine sublime Züchtung der Sklaverei hinausläuft, welche durch eine starke Rasse kommandirt werden muß, um sich selbst zu ertragen 6) daß eine Aristokratie nur unter hartem langem Druck entsteht (Herrschaft über die Erde)
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Vielleicht giebt es ein Paar Menschen in Europa, auch in Deutschland, welche an das Problem dieses Buches reichen, und nicht nur mit ihrer Neugierde, nicht nur mit den Fühlhörnern eines verwöhnten Verstandes, ihrer errathenden Ein- und Nach5 bildungskraft, ihres „historischen Sinns" zumal, sondern mit der Leidenschaft des Entbehrenden: deren Seele Höhe genug hat, um meine Conception des „freien Geistes" als ein Ausdrucksmittel, als eine Feinheit, wenn man will, als eine Bescheidenheit zu verstehn: diese werden sich nicht über meine Dunkelheit io beklagen. Es giebt viele Dinge, gegen welche ich nicht nöthig gefunden habe, zu reden: es versteht sich von selbst, daß mir der „Litterat" widerlich ist, daß mir alle politischen Parteien von heute widerlich sind, daß der Sozialist von mir nicht nur mit Mitleiden 15 behandelt wird. Die beiden vornehmsten Formen Mensch, denen ich leibhaft begegnet bin, (waren) der vollkommene Christ — ich rechne es mir zu Ehren, aus einem Geschlechte zu stammen, das in jedem Sinne Ernst mit seinem Christenthum gemacht hat — und der vollkommene Künstler des romantischen 20 Ideals, welchen ich tief unter dem christlichen Niveau gefunden habe: es liegt auf der Hand, daß, wenn man d i e s e n Formen den Rücken gekehrt hat, weil sie Einem nicht genügen, man nicht leicht in einer anderen Art Mensch von heute sein Genüge findet, — in sofern bin ich zur Einsamkeit verurtheilt, 25 obwohl ich mir sehr gut eine Art Menschen denken kann, an der ich mein Vergnügen hätte. Mein duldsamer und milder Ekel vor der Selbstgenügsamkeit unserer mit Bildung sich putzenden Großstadter, unserer Gelehrten — — — 2 [181] (42)
3°
Die Ironie des Plato, mit der eine übergroße Zartheit des Gefühls und der Sinne, eine Verletzlichkeit des Herzens sich
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zu schützen, mindestens zu verbergen weiß, jenes olympische Wesen Goethes, der Verse über seine Leiden machte, um sie loszuwerden, insgleichen Stendhal, Merim^e — 2 [182] (10)
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Damit etwas bestehen soll, was länger ist als ein Einzelner, damit also ein W e r k bestehen bleibt, das vielleicht ein Einzelner geschaffen hat: dazu muß dem Einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe Verehrung Dankbarkeit 10 gegen die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantirt sind, wenn ich jenes W e r k (z. B. die JIOXIC;) garantire. M o r a l ist wesentlich das Mittel, über die Einzelnen hinweg, oder vielmehr durch eine V e r 1 5 s k 1 a v u n g der Einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke geben wird, als die von oben nach unten. Ein Macht-Complex: wie wird er e r h a l t e n ? Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern, d. h. 2 [183] io
Zur E i n l e i t u n g . Für Jeden, der mit einem großen Fragezeichen wie mit seinem Schicksale zusammengelebt hat und dessen Tage und Nächte sich in lauter einsamen Zwiegesprächen und Entscheidungen verzehrten, sind fremde Meinungen über das gleiche *s Problem eine Art Lärm, gegen den er sich wehrt und die Ohren zuhält: überdies, gleichsam etwas Zudringliches Unbefugtes und Schamloses, von Seiten solcher, welche, wie er glaubt, kein Recht auf ein solches Problem besitzen: weil sie es nicht gefunden haben. Es sind die Stunden des Mißtrauens 50 gegen sich selbst, des Mißtrauens gegen das eigene Recht und
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Vorrecht, wo der einsiedlerische Liebende — denn das ist ein Philosoph — zu hören verlangt, was Alles über sein Problem gesagt und geschwiegen wird; vielleicht, daß er dabei erräth, daß die Welt voll solcher eifersüchtig Liebender ist, gleich ihm, 5 und daß alles Laute, Lärmende, öffentliche, der ganze Vordergrund von Politik, Alltag, Jahrmarkt, „Zeit" nur erfunden zu sein scheint, damit alles, was uns heute Einsiedler und Philosoph ist, sich dahinter verstecken könne — als in i h r e eigenste Einsamkeit; Alle mit Einem beschäftigt, in Eins verliebt, auf 10 Eins eifersüchtig, gerade auf s e i n Problem. „Es wird gar nichts Andres heute gedacht wo überhaupt gedacht wird" — sagt er sich endlich; „es dreht sich Alles gerade um dies Fragezeichen; was mir vorbehalten schien, darum bewirbt sich das ganze Zeitalter: es begiebt sich im Grunde gar nichts Anderes; 15 ich selbst — aber was liegt an mir!" 2 [184]
(47) Spät komme ich zum Bewußtsein, wie weit die moralistische Skepsis gegangen ist: woran erkenne ich mich wieder? der Determinismus: wir sind für unser Wesen nicht ver2.0 antwortlich der Phänomenalismus: wir wissen nichts von einem „Ding an sich" M e i n P r o b l e m : Welchen Schaden hat die Menschheit bisher von der Moral sowohl wie von ihrer Moralität gehabt? 25 Schaden am Geiste usw. mein Ekel am Weisen als einem Zuschauer mein höherer Begriff „Künstler" 2 [185]
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(47) „Wir I m m o r a l i s t e n " 3° wirkliche Kritik des moralischen Ideals
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— des guten Menschen, des Heiligen, des Weisen — von der Verleumdung der sogenannten b ö s e n Eigenschaften — welchen Sinn haben die verschiedenen moralischen Interpretationen? — was ist die Gefahr der jetzt in Europa herrschenden Interpretation? — was ist das Maaß, woran gemessen werden kann? („Wille zur Macht")
2[i86] Glaubt ja nicht, daß ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde! Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit. Denn wer auf eigenen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die „eigenen Wege" mit sich. Niemand kommt ihm M dabei zu „Hülfe", und mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß er selbst fertig werden. Er hat eben seinen Weg f ü r s i c h , und auch seinen gelegentlichen Verdruß über dieses harte unerbittliche „für sich": wozu es zum Beispiel gehört, daß selbst seine guten Freunde *° nicht immer sehen und wissen, wo er eigentlich geht, wohin er eigentlich will — und sich bisweilen fragen: wie? geht er überhaupt? hat er einen W e g ? .. — Indem ich hiermit den Versuch mache, denen, weldie mir bisher — trotz alledem — wohlgesinnt geblieben sind, M einen Wink über den Weg zu geben, welchen ich gegangen bin, empfiehlt es sich zuerst zu sagen, auf welchen Wegen man mich bisweilen gesucht und selbst zu finden geglaubt hat. Man pflegt mich zu verwechseln: ich gestehe es ein; insgleichen, daß mir ein großer Dienst geschehen wäre, wenn Jemand Anderer mich 3° gegen diese Verwechslungen vertheidigte und abgrenzte. Aber, wie gesagt, ich muß mir selbst zu Hülfe kommen: wozu geht man „auf eigenen Wegen"?
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Nachgelassene Fragmente
antimetaphysisch, antiromantisch, artistisch, pessimistisch, skeptisch, historisch Eine artistische Weltbetrachtung eine antimetaphysische — ja, aber eine artistische — 5 eine pessimistische-buddhistische — eine skeptische — eine wissenschaftliche — n i c h t positiv (istische)
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2 [l87] — placatumque lum —
nitet
diffuso
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coe-
2 [188] daß sich die Geschichte sämmtl(icher) Ph(änomene) der Moralität dermaaßen vereinfachen lasse, wie es Schopenhauer glaubte — nämlich so, daß als Wurzel jeder bisherigen moral15 (ischen) Neigung das Mitleiden wiederzufinden sei — zu diesem Grade von Widersinn und Naivetät konnte nur ein Denker kommen, der von allem historischen Instinkte entblößt war und in der wunderlichsten Weise selbst jener starken Schulung zur Historie, wie sie die Deutschen von Herder bis Hegel durch20 gemacht haben, entschlüpft war. 2 [189]
Die Frage nach der Herkunft unserer Wertschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird: so gewiß auch die Einsicht in irgend eine pudenda origo für das Gefühl eine Werthver25 minderung der so entstandenen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.
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(47) was sind unsere Werthschätzungen und moralischen Gütertafeln selber werth? Was k o m m t bei i h r e r H e r r s c h a f t h e r a u s ? Für wen? In Bezug worauf? — Antwort: 5 für das Leben. Aber w a s i s t L e b e n ? Hier thut also eine neue bestimmtere Fassung des Begriffs „Leben" noth: meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht. was b e d e u t e t das W e r t h s c h ä t z e n selbst? weist es auf eine andere metaphysische Welt zurück oder hinab? 10 Wie noch Kant glaubte (der vor der großen historischen Bewegung steht) Kurz: w o i s t es „ e n t s t a n d e n " ? Oder ist es nicht „entstanden"? Antwort: das moralische Werthschätzen ist eine A u s l e g u n g , eine Art zu interpretiren. Die Auslegung selbst ist ein S y m p t o m bestimmter physiolo15 gischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urtheilen. Wer l e g t a u s ? — Unsere Affekte. 2 [191] M e i n e B e h a u p t u n g : daß man die moralischen Werthschätzungen selbst einer Kritik unterziehn muß. Daß man dem moralischen Gefühls-Impuls mit der Frage: warum? Halt geio bieten muß. Daß dies Verlangen nach einem „Warum?", nach einer Kritik der Moral, eben unsere j e t z i g e F o r m der M o r a l i t ä t s e l b s t ist, als ein sublimer Sinn der Redlichkeit. Daß unsere Redlichkeit, unser Wille, uns nicht zu betrügen sich selbst ausweisen muß: „warum n i c h t ? " — Vor *5 welchem Forum? — Der Wille, sich nicht betrügen (zu) lassen, ist anderen Ursprungs, eine Vorsicht gegen Überwältigung, Ausbeutung, ein Nothwehr-Instinkt des Lebens. Das sind meine Forderungen an euch — sie mögen euch schlecht genug zu Ohren gehen —: daß ihr die moralischen 30 Werthschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß
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Nachgelassene Fragmente
ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und n i c h t Kritik verlangt, mit der Frage: „warum Unterwerfung?" Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem „Warum?*, nach einer Kritik der Moral, eben als 5 eure j e t z i g e Form der Moralität selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Rechtschaffenheit, die euch und eurer Zeit Ehre macht. 2 [192]
das Gefühl: du sollst!, die Unruhe beim Zuwiderhandeln — Frage: „wer befiehlt da? Wessen Ungnade fürchten wir da?" * [193]
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Unsere Unart, ein Erinnerungs-Zeichen, eine abkürzende Formel als Wesen zu nehmen, schließlich als U r s a c h e z. B. vom Blitz zu sagen: „er leuchtet". Oder gar das Wörtchen „ich". Eine Art von Perspektive im Sehen wieder als U r s a c h e 15 des S e h e n s s e l b s t zu setzen: das war das Kunststück in der Erfindung des „Subjekts", des „Ichs"!
* [i94] (23)
Stendhal: „Combien de lieues ne ferais-je pas ä. pied, et & combien de jours de prison ne me soumettrais-je pas pour en20 tendre D o n J u a n o u l e Matrimonio segreto; et je ne sais pour quelle autre chose je ferais cet effort." Damals war er 56 Jahre alt. 2 [195]
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Hegel: seine populäre Seite die Lehre vom Krieg und den 2 $ großen Männern. Das Recht ist bei den Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar.
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Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen Kant: uns entzogen, unsichtbar, wirklich, ein Reich der moralischen Werthe 5 Hegel: eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reichs Wir wollen uns weder auf die Kantische noch Hegeische Manier betrügen lassen: — wir g l a u b e n nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien io zu gründen, d a m i t die Moral Recht behalte. Sowohl der Kriticismus als der Historicismus hat für uns nicht d a r i n seinen Reiz: — nun, welchen hat er denn? — 2[I96]
. W i r H e i m a t l o s e n — j a ! Aber wir wollen die V o r t h e i l e unserer Lage ausnützen und, geschweige an ihr 1 5 zu Grunde zu gehn, uns die freie Luft und mächtige Lichtfülle zu Gute kommen lassen. Ungläubige und Gottlose, ja! — aber ohne jene Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus dem Unglauben einen Glauben, einen Zweck, oft ein Martyrium zurecht macht: io wir sind abgesotten und kalt geworden in der Einsicht, daß es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach vernünftigem, barmherzigem, menschlichem Maaß; wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist unmoralisch, ungöttlich, unmenschlich — wir haben sie allzulange im Sinne unserer Ver-5 ehrung interpretirt. Die Welt ist nicht das werth, was wir geglaubt haben: und der letzte Spinnefaden von Trost, den Schopenhauer gesponnen hat, ist von uns zerrissen worden: eben das sei der Sinn der ganzen Geschichte, daß sie hinter ihre Sinnlosigkeit kommt und ihrer selber satt wird. Dies Am-Da50 sein-Müde-werden, dieser Wille zum Nicht-mehr-wollen, das
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Zerbrechen des Eigenwillens, des Eigenwohls, (des) Subjekts (als Ausdruck dieses umgekehrten Willens) — dies und nichts Anderes wollte Schopenhauer mit der höchsten Ehre geehrt wissen: er hieß es Moral, er dekretirte, daß alles selbstlose Handeln er glaubte selbst der Kunst ihren Werth zu sichern, indem er in den indifferenten Zuständen, welche sie schafft, Vorbereitungen für jene gänzliche Loslösung und Sattheit des Ekels erkennen möchte. — aber wären wir wirklich in Hinsicht auf den Anblick einer unmoralischen Welt P e s s i m i s t e n ? Nein, denn wir glauben nicht an die Moral wir glauben, daß Barmherzigkeit, Recht, Mitleid, Gesetzlichkeit bei weitem ü b e r s c h ä t z t sind, daß ihr Gegentheil verleumdet worden ist, daß in Beidem, im Übertreiben und Verleumden, in der ganzen Anlegung des m o r a 1 {ischen) I d e a l s und Maaßstabes eine ungeheure Gefährdung des Menschen lag. Vergessen wir auch den guten Ertrag nicht: das Raffinement der A u s l e g u n g , der moralischen) Vivisektion, der Gewissensbiß hat die F a l s c h h e i t des Menschen aufs Höchste gesteigert und ihn geistreich gemacht. An sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu thun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen R(eligion) sind beide w e s e n t l i c h moralische Religionen, solche, die darüber Vorschriften geben, wie gelebt werden s o l l und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen. 2 [198] die aera Bismarcks (die aera der deutschen Verdummung) auf solchem Sumpfboden gedeihen, wie billig, auch die eigentlichen Sumpfpflanzen, z. B. die A(ntisemiten)
— national zu sein, in dem Sinne und Grade, wie es jetzt von der öffentlichen Meinung verlangt wird, würde an uns 30 geistigeren Menschen, wie mir scheint, nicht nur eine Abge-
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schmacktheit: sondern eine Unredlichkeit sein, eine willkürliche Betäubung unseres besseren Wissens und Gewissens. 2[200] Insgleichen sind wir keine Christen mehr: wir sind dem Christenthum entwachsen, nicht weil wir ihm zu fern, sondern $ weil wir ihm zu nahe gewohnt haben, mehr noch weil wir a u s ihm gewachsen sind — es ist unsere strengere und verwöhntere Frömmigkeit selbst, die uns heute v e r b i e t e t , noch Christen zu sein — 2 [201] Wenn ich einstmals das Wort „unzeitgemäß" auf meine ; a Bücher geschrieben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte aus! Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufriedenheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte. 2 [202] Kant: die bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, : 5 welcher man sich auf mancherlei Wegen zu nähern sucht, so lange, bis der einzige, sehr durch Sinnlichkeit verwachsene Fußsteig entrückt wird" — 2 [203] Und auch heute noch geben die Philosophen, ohne daß sie es wissen, den stärksten Beweis, wie weit diese Autorität der Moral -3 reicht. Mit allem ihrem Willen zur Unabhängigkeit, mit ihren Gewohnheiten oder Grundsätzen des Zweifels, selbst mit ihrem Laster des Widerspruchs, der Neuerung um jeden Preis, des Hochmuths vor jeder Höhe — was wird aus ihnen, sobald sie über „du sollst" und „du sollst nicht" nachdenken? Es giebt soij fort gar nichts Bescheideneres auf Erden: die Circe Moral hat sie eben angehaucht und verzaubert! Alle diese Stolzen und Ein-
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sam-Wandelnden! — Nun sind es mit einem Mal Lämmer, nun wollen sie Heerdc sein. Zunächst wollen sie allesammt ihr „du sollst" und „du sollst nicht" mit Jedermann gemein haben, — erstes Zeichen der preisgegebenen Unabhängigkeit. Und was ist ihr Kriterium einer moralischen Vorschrift? Alle sind darüber einmüthig: deren Gemeingültigkeit, ihr Absehen von der Person. Dies heiße ich „Heerde". Darauf freilich trennen sie sich: denn jeder will mit s e i n e r besten Kraft der M(oral) zu Diensten sein. Die meisten von ihnen verfallen darauf „die Moral zu begründen", wie man sagt, nämlich sie mit der Vernunft zu verschwistern und zu vereinbaren, womöglich bis zur Einheit; die Feineren finden umgekehrt in der Unbegründbarkeit der Moral das Anzeichen und Vorrecht ihres Ranges, ihres der Vernunft überlegenen Ranges; andere werden sie historisch ableiten wollen (etwa mit den Darwinisten, welche das Hausmittelchen für schlechte Historiker erfunden haben „erst Nützlichkeit und Zwang, dann Gewohnheit, endlich Instinkt, sogar Vergnügen"), wieder Andere widerlegen diese Ableitungen und leugnen überhaupt jede historische Ableitbarkeit der Moral, und dies ebenfalls zu Ehren ihres Ranges, ihrer höheren Art und Bestimmung: alle aber sind einmüthig in der Hauptsache „die Moral ist da, die Moral ist gegeben!", sie glauben alle, redlich, unbewußt, ungebrochen an den Werth dessen, was sie Moral nennen, das heißt, sie stehen unter deren Autorität. Ja! Der W e r t h der Moral! Wird man es erlauben, daß hier jemand das Wort nimmt, der gerade über diesen Werth Zweifel hat? Der nur in dieser Hinsicht sich auch um ihre Ableitung, Ableitbarkeit, psychologische Möglichkeit und Unmöglichkeit kümmert? 2 [204]
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F ü n f t e s B u c h : Wir U m g e k e h r t e n . Unsere neue „Freiheit" Gegen die volksthümlichen Idealmenschen
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Wie weit geht Kunst und Falschheit in's Wesen des Seins? Warum wir nicht mehr Christen sind. Warum wir antinational sind. Pessimismus und Dionysismus. Unser Mißtrauen gegen die Logik L'art pour Tart Die Beschränktheit aller Teleologie. Gegen den Causalitäts-Fatalismus. Gegen die Lehre vom Milieu: Maske und Charakter. Zum Begriff „Phänomenalismus". Gegen die Romantik. Begriff der Sklaverei d. h. Verwerkzeugung Mißverständniß der Heiterkeit. Was die Rangordnung macht. Kritik der neueren Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es „Thatsachen des Bewußtseins" gäbe — und keinen Phänomenalismus in der Selbst-Beobachtung 2 [205]
Es giebt gar keinen Egoismus, der bei sich stehen bliebe und nicht übergriffe — es giebt folglich jenen „erlaubten", -s „moralisch indifferenten" E(goismus) gar nicht, von dem ihr redet. „Man fördert sein Ich stets auf Kosten des Andern"; „Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens". — Wer das nicht begreift, hat bei sich noch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit M gemacht. 2 [206]
(48) Welches Freiheitsgefühl liegt darin, zu empfinden, wie wir befreiten Geister empfinden, daß wir n i c h t in ein System von „Zwecken" eingespannt sind! Insgleichen, daß die Begriffe 3° „Lohn" und „Strafe" nicht im Wesen des Daseins ihren Sitz
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Nachgelassene Fragmente
haben! Insgleichen daß die gute und böse Handlung nicht an sich, sondern nur unter der Perspektive der Erhaltungs-Tendenzen gewisser Arten von menschlichen Gemeinschaften, gut und böse zu nennen ist! Insgleichen, daß unsere Abrechnungen über 5 Lust und Schmerz keine kosmische, gesdiweige denn eine metaphysische Bedeutung haben! — Jener Pessimismus, der Lust und Unlust des Daseins selbst auf die Wagschale zu setzen sich anheischig macht, mit seiner willkürlichen Einsperrung in das vor-kopernikanische Gefängniß und Gesichtsfeld, würde etwas io Rückständiges und Rückfälliges (sein), falls er nicht nur ein schlechter Witz eines Berliners ist (der P(essimismus) E(duard) von Hartmanns 2 [207]
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Anfang Schluß. In wiefern diese Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen und es ist nichts, was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das wohin? noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet, die uns jetzt hinaus treibt in die Ferne, in's Abenteuer, (durch die wir) in's Uferlose, Unerprobte, Unentdeckte hinausgestossen werden, — es bleibt uns keine Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir heimisch sind, wo wir „erhalten" möchten. Nein, das wißt ihr besser, meine Freunde! Das verborgene Ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank und süditig seid; und wenn ihr aufs Meer müßt, ihr Auswanderer, so zwingt euch ein G l a u b e dazu . . .
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das nicht-fertig-werden mit dem Christenthum 2 [209] Es ist Ehren-Sache meiner Freunde, für meinen Namen, Ruf und weltliche Sicherheit thätig zu sein und mir eine Burg zu bauen, wo ich gegen die grobe Verkennung bewahrt bin: ich 5 selbst will keinen Finger mehr dafür rühren 2 [210] die vollkommene Funktions-Sicherheit der regulirenden Instinkte
[3-WI 7b. WI 3b. Mp XVI 2b. Mp XVI Ib. Anfang 1886 —Frühjahr 1886] 3[0 Naturgeschichte des freien Geistes.
3W Zur N a t u r g e s c h i c h t e des f r e i e n G e i s t e s . Gedanken und Gedankenstriche von Friedrich Nietzsche. 3 [3] Widmung
und Abgesang. „Dem, der alle Himmel hell Und alle Meere brausen macht — a
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Der W i l l e zur Macht. Vorzeichen einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche. 3 [5] Mißverständniß der Herrschsucht. Die Heiterkeit als Erlösung.
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Nachgelassene Fragmente
Der Tanz. Spott über „Göttliches" — Symptom der Genesung. Das Verlangen nach „festen Thatsachen" — Erkenntnißtheorie wie viel Pessimismus ist darin! Z(arathustra) als seinen G e g n e r sich schaffen 3 [6] Die Vaterlandsliebe ist in Europa etwas Junges und steht noch auf schwachen Beinen: sie fällt leicht um! Man darf sich durch den Lärm den sie macht nicht täuschen lassen: kleine Kinder schrcin am lautesten.
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3 [7] „Dumm bis zur Heiligkeit" sagt man in Rußland. 3 [8] Nach
neuen
Meeren.
Allerhand Fragen und Fragwürdiges, für gute Europäer. Von Friedrich Nietzsche.
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J e n s e i t s v o n Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Erstes Buch: Zweites Buch: Drittes Buch: Viertes Buch: Fünftes Buch:
Moral und Erkenntniss. Moral und Religion. Moral und Kunst. Unsere Tugenden. von der Rangordnung.
Anfang 1886—Frühjahr 1886 3[5—13]
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3fio] Unsere
Tugenden.
Allerhand Fragen für Fragwürdige. Von Friedrich Nietzsche.
3 tu] 5
Menschliches,
Allzumenschliches.
Ein Buch für freie Geister. Neue Folge. Und wenn dies Buch ein Spiegel ist und folglich eine Gelegenheit zur Selbst-Bespiegelung: nun, ihr guten Europäer, was io haltet ihr von unserer Eitelkeit? Sieht sie sich selber gern — „im Spiegel"? — 3 [12] Aus der Naturgeschichte des freien Geistes. Die Philosophie der Zukunft. Wissenschaftliche Arbeiter. 15 Künstler. Zur Philosophie des höheren Menschen. Zur Verdüsterung Europas. 3 [13] Diese Einsamkeit ist es, welche wir h ü t e n , wenn wir der religiösen Organisation der Menschheit das Wort reden: — und *o vielleicht unterscheidet uns nichts so bestimmt von den mißbräuchlich „Freigeister" genannten Heerdenthieren und Gleichheits-Aposteln: — welche allesammt die Einsamkeit nicht ertragen k ö n n t e n . Religion als Fortsetzung und Vertiefung
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Nachgelassene Fragmente
der politischen Grundlehre gedacht, welche immer die Lehre der ungleichen Rechte, der Notwendigkeit eines Gesellschafts-Baus mit Hoch und Niedrig, mit Gebietenden und Gehorchenden ist: Religion bedeutet uns die Lehre von der Rangverschiedenheit s der Seelen, der Züchtung und Ermöglichung der höheren Seelen auf Unkosten der niederen. 3 [14] Die Welt ist d a s nicht werth, was wir geglaubt haben: man ist dahinter gekommen. Der Pessimist giebt uns sogar zu verstehn, dies eben sei ihr Rest von Werth, den sie für uns be10 halte, d a ß wir dahinter kommen können — und sie d a s nicht werth sei was wir geglaubt haben. Die Welt wäre dergestalt ein Mittel, sich die Welt zu verleiden, sich selber bestmöglich zu „entweltlichen"; ein Unsinn, der sich endlich nach unse(li)gen Umschweifen zu begreifen beginnt, eine etwas langl 5 gesponnene Komödie der Irrungen, die sich beschämt ins Nichts verliert 3 [15] Es bleibt genug gegen ein langes Siechthum einzuwenden; am wenigsten wohl möchte ich es den christlichen Moralisten zugeben, daß es den M(enschen) verbessert, namentlich wenn 20 er durch die langwierigen Schmerzen heimgesucht wird, denen man mit kalter Besonnenheit (zuschaut) — weder jenes orientalische stumme taube Sich-Auslöschen, Sich-Ergeben noch jene Überreizung der Willenskraft und der Tapferkeit, die einem solchen Feinde, wie der Schmerz ist, den Stolz, den Hohn, *5 Inmitten langer Marter, verbrannt gleichsam mit grünem Holze und ohne die Wohlthat, welche Fieber, Ohnmächten
Anfang 1886—Frühjahr 1886 3[13—19]
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3 [16] Manzoni Stifter (G. Keller) 3 [i7] „Maledetto colui — 5 che contrista un spirto immortal!" Manzoni (2. Akt des Conte di Carmagnola) 3 [18] gangasrotogati „wie der Strom des Ganges dahinfließend" = presto kurmagati „von der Gangart der Schildkröte" = lento 10 mandeikagati „von der Gangart des Frosches" = staccato 3 [19] Wir Philosophen des Jenseits — des Jenseits von Gut und Böse mit Verlaub!, die wir in Wahrheit gewitzte Interpreten und Zeichendeuter sind — wir, denen das Schicksal aufgespart blieb, als Zuschauer der europäischen Dinge vor einen geheim15 nißvollen und u n g e l e s e n e n Text hingestellt zu sein: der sich uns mehr und mehr verräth — welche Noth haben wir, zu schweigen und die Lippen zusammenzudrücken, während immer mehrere und seltnere Dinge sich in uns drängen und häufen und nach Licht, Luft, Freiheit, W o r t verlangen! 20 Aber das Wort
[4 = D 18. M p X V 2c. M p X V I I 3a. M p X V I I b . Anfang 1886 — Frühjahr 1886]
4[i] Ein Philosoph: was für eine bescheidene Creatur, wenn er wirklich seinem N a m e n treu bleibt! — als welcher nicht einen „Freund der Weisheit" bezeichnet, Vergebung einem alten Philologen! sondern nur „einen, der weise Männer gern hat". 5 Wollt ihr also, daß es Philosophen geben soll, im griechischen Sinne und Wortverstande, heran zuerst mit euren „weisen Männern"! — Aber, es scheint mir, meine Freunde, w i r lieben zuletzt die unweisen Männer mehr, als die weisen, gesetzt selbst es gäbe Weise — ? Und vielleicht steckt darin, gerade darin mehr io Weisheit? Wie? Sollten gar die Weisen selbst — aus der Nähe gesehn, vielleicht — keine „Philosophen" sein? Sondern „Philasophen"? Freunde der Narrheit, gute Gesellschaft für Spielleute und närrisches Volk? Und nicht für — sich? —
4M Zum Problem der Maske. „Une croyance presque instinc15 tive chez moi, c'est que tout homme puissant ment, quand il parle, et a plus forte raison, quand il £crit." Stendhal, vie de Napoleon, pr^face p. XV. 4 [3] „Je sais, quel est le pouvoir des hommes, sagte Napoleon auf Sankt Helena; les plus grands ne peuvent exiger d'etre *o aim^s." — Fügen wir sofort hinzu, was sich auf allzugute
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Nachgelassene Fragmente
Gründe hin vermuthen läßt: sie verlangen es auch nicht einmal von sich selbst, — und sie lieben sich auch nicht!
4W „Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen, man möchte glauben, du wolltest den Menschen zu Grunde richten?" 5 — sagte ich einmal zu dem Gotte Dionysos. „Vielleicht, antwortete der Gott, aber so, daß dabei Etwas für ihn heraus kommt." — „Was denn? fragte ich neugierig. — Wer denn? solltest du fragen." Also sprach Dionysos und schwieg darauf in der Art, die ihm eigen ist, nämlich versucherisch. Ihr hättet 10 ihn dabei sehen sollen! — Es war Frühling, und alles Holz stand in jungem Safte.
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4 [5] Es giebt einen Theil der Nacht, von welchem ein Einsiedler sagen wird: „horch* jetzt hört die Zeit auf!" Bei allen Nachtwachen, insbesondere, wenn man sich auf ungewöhnlichen nächtliehen Fahrten und Wanderungen befindet, hat man in Bezug auf diesen Theil der Nacht (ich meine die Stunden von Eins bis Drei) ein wunderliches erstauntes Gefühl, eine Art von „Viel zu kurz!" oder „Viel zu lang!", kurz den Eindruck einer ZeitAnomalie. Sollten wir es in jenen Stunden, als ausnahmsweise Wachende, abzubüßen haben, daß wir für gewöhnlich um jene Zeit uns in dem Zeit-Chaos der Traumwelt befinden? Genug, Nachts von Eins bis Drei haben wir „keine Uhr im Kopfe". Mich dünkt, daß eben dies auch die Alten ausdrückten mit „intempestiva nocte" und „ev dcoQovuxu" (Aesdiylos), also „da in der Nacht, wo es keine Zeit giebt"; und auch ein dunkles Wort Homer's zur Bezeichnung des tiefsten stillsten Theils der Nacht lege ich mir etymologisch auf diesen Gedanken zurecht, mögen die Übersetzer es immerhin mit „Zeit der Nachtmelke" wiederzugeben glauben —: wo in aller Welt war man denn je dermaaßen thöricht, daß man da die Kühe des Nachts zwischen
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Eins und Drei melkte! — Aber wem erzählst du da deine Nachtgedanken? — 4 [6]
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(Bei den) Ehen im b ü r g e r l i c h e n Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbarsten Sinne des Wortes „Ehe", handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebenso wenig als es sich dabei um Geld handelt — aus der Liebe läßt sich keine Institution machen — : sondern um die gesellschaftliche Erlaubniß, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung an einander ertheilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das I n t e r e s s e der G e s e l l s c h a f t im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Betheiligten und sehr viel guter Wille — Wille zu Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge für einander — zu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinne des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol, für den einen Theil, wie gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. — Bei der Ehe im adeligen, altadeligen Sinne des Wortes handelt es sich um Z ü c h t u n g einer Rasse (giebt es heute noch Adel? Quaeritur), — also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert. Es versteht sich, daß hierbei n i c h t Liebe das erste Erforderniß war, im Gegen theil! und noch nicht einmal jenes Maaß von gutem Willen für einander, welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts zunächst entschied, und über ihm — der Stand. Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen, wie noch im Europa des achtzehnten Jahrhunderts, ein
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wenig frösteln, wir warmblütigen Thiere mit kitzlichem Herzen, wir „Modernen"! Eben deshalb ist die Liebe als Passion, nach dem großen Verstände des Wortes, für die aristokratische Welt e r f u n d e n worden und in ihr, — da, wo der Zwang, 5 die Entbehrung eben am größten waren... 4 [7] — „Die Krankheit macht den Menschen besser": diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre 10 Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die „Verbesserung des Menschen", im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends 15 — ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat „die Krankheit" den Europäer „besser gemacht"? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität — unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen 20 möge — der Ausdruck eines physiologischen R ü c k g a n g s ? . . . Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo „der Mensch" sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei 2s dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen ¥ä\kn, TJO es a n d e r s s c h e i n e n w i l l , eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: „je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender 30 ein Mensch sich fühlt, um so „unmoralischer" wird (er) auch". Ein peinlicher Gedanke! dem man durdiaus nidit nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augen-
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blickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern — die Vermenschlichung, die „Verbesserung", die wachsende „Civili5 sirung" des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und „Jeder Jedermanns Krankenpfleger" wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten „Frieden auf Erden"! Aber auch so wenig „Wohlgefallen an io einander"! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig „Werke", um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine „Thaten" mehr! Alle g r o ß e n Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden — waren M sie nicht alle im tiefsten Verstände große Unmoralitäten? . . . 4 [8] Daß die bloße Stärke eines Glaubens ganz und gar noch nichts hinsichtlich seiner Wahrheit verbürgt, ja sogar im Stande ist, aus der vernünftigsten Sache langsam, langsam eine dicke Thorheit herauszupräpariren: dies ist unsre eigentliche Euro20 päer-Einsicht, — in ihr, wenn irgend worin, sind wir erfahren, gebrannt, gewitzigt, w e i s e geworden, durch vielen Schaden, wie es scheint . . . „Der Glaube macht selig": gut! Bisweilen wenigstens! Aber der Glaube macht unter allen Umständen d u m m , selbst in dem seltneren Falle, daß er es nicht i s t , M daß er von vornherein ein kluger Glaube ist. Jeder lange Glaube w i r d endlich dumm, das bedeutet, mit der Deutlichkeit unsrer modernen Psychologen ausgedrückt, seine Gründe versinken „ins Unbewußte", sie verschwinden darin, — fürderhin ruht er nicht mehr auf Gründen, sondern auf Affekten (das heißt er läßt 3° im Falle, daß er Hülfe nöthig hat, die Affekte für sich kämpfen und n i c h t m e h r die Gründe). Angenommen, man könnte herausbekommen, welches der bestgeglaubtc, längste, unbestrit-
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tenste, ehrlichste Glaube ist, den es unter Menschen giebt, man dürfte mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit muthmaaßen, daß er zugleich auch der tiefste, dümmste, „unbewußteste", vor Gründen am besten vertheidigte, von Gründen am längsten verlassene Glaube sei. — Zugegeben; aber welches ist dieser Glaube? — Oh ihr Neugierigen! Aber nachdem ich mich einmal auf's Räthsel-Aufgeben eingelassen habe, will ich's menschlich treiben und mit der Antwort und Lösung schnell herausrücken, — man wird sie mir nicht so leicht vorwegnehmen. Der Mensch ist vor Allem ein u r t h e i 1 e n d e s Thier; im Urtheile aber liegt unser ältester und beständigster Glaube versteckt, in allem Urtheilen giebt es ein zu Grunde liegendes Fürwahr-halten und Behaupten, eine Gewißheit, daß Etwas so und nicht anders ist, daß hierin wirklich der Mensch „erkannt" hat: w a s ist das, was in jedem Urtheil unbewußt als wahr geglaubt wird? — Daß wir ein Recht haben, zwischen Subjekt und Prädikat, zwischen Ursache und Wirkung zu u n t e r s c h e i d e n — das ist unser stärkster Glaube; ja im Grunde ist selbst schon der Glaube an Ursache und Wirkung, an conditio und conditionatum nur ein Einzelfall des ersten und allgemeinen Glaubens, unsres Urglaubens an Subjekt und Prädikat (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung eine Thätigkeit sei und daß jedes Bedingte einen Bedingenden, jede Thätigkeit einen Thäter, kurz ein Subjekt voraussetze) Sollte dieser Glaube an den Subjekts- und Prädikats-Begriff nicht (eine große Dummheit sein?)
4w Nachspiel. — Aber hier unterbrecht ihr mich, ihr freien Geister. „Ge3° nug! Genug! höre ich euch schrein und lachen, wir halten es nicht mehr aus! Oh über diesen schauerlichen Versucher und Gewissens-Störenfried! Willst du uns denn bei der ganzen
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Welt den Ruf verderben? Unsren guten Namen anschwärzen? Uns Zunamen anhängen, die sich nicht nur in die Haut einfressen? — Und wozu am hellen blauen Tage diese düstern Gespenster, diese moralischen Gurgeltöne, diese ganze tragische 5 rabenschwarze Musik! Sprichst du Wahrheiten: nach solchen Wahrheiten können keine Füße t a n z e n , also sind es noch lange keine Wahrheiten für u n s ! Ecce nostrum veritatis sigillum! Und hier ist Rasen und weicher Grund: was gäbe es Besseres als geschwind deine Grillen wegjagen und uns, nach io deiner Nacht, einen guten Tag machen? Es wäre endlich Zeit, daß sich wieder ein Regenbogen über dies Land ausspannte, und daß uns Jemand sanfte tolle Lieder zu hören und Milch zu trinken gäbe: — wir Alle haben wieder Durst nach einer frommen, von Herzen thörichten und milchichten Denkungsart." — Meine 15 Freunde, ich sehe es, ihr verliert meine Geduld, — und wer sagt euch, daß ich nicht längst schon gerade d a r a u f wartete? Aber ich bin zu eurem Willen; und ich habe auch, was ihr braucht. Seht ihr nicht dort meine Heerden springen, alle meine zarten sonnigen windstillen Gedanken-Lämmer und Gedanken20 Böcke? Und hier steht auch schon für euch ein ganzer Eimer Milch bereit; habt ihr aber erst getrunken — denn ihr dürstet alle nach T u g e n d , ich sehe es — so soll es nicht an Liedern fehlen, wie ihr sie wollt! Anzufangen mit einem Tanzliede für die muntersten Beine und Herzen: und wahrlich, wer es singt, * 5 der thut es Einem zu Ehren, der Ehre verdient, einem der Freiesten unter freien Geistern, der alle Himmel wieder hell und alle Meere brausen macht. —
[5 = N V Ü 3 . Sommer 1886—Herbst 1887] 5[i] Bücher Th. Ziegler Geschichte der Ethik
JW Morgenröthe und fröhliche Wissenschaft J[3]
Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt, — wo wir nicht mehr weiter sehn können z. B. das Wort „ich", das Wort „thun", das Wort „leiden": das sind vielleicht Horizontlinien unsrer Erkenntniß, aber keine „Wahrheiten**. 5 U] J
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Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung „Erscheinung** und „Ding an sich** — er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insoM fern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt ablehnte — gemäß seiner Fassung
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Nachgelassene Fragmente
des Causalitätsbegriffs und dessen rein-intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung anderseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie als ob „das Ding an sich" nicht nur erschlossen sondern g e g e b e n sei. 5 [5] Der Ursprung der moralischen Empfindungen von Dr. Paul Ree: ein kluges langsames Büchlein ohne Schwärmereien und tugendhafte Attitüden, dem überhaupt auf eine angenehme Weise der Charakter der J u g e n d abgeht. Die Worte, mit welchen ich an dieser Stelle seinen jungen und abseits gestellten 10 Verfasser in den Bereich der Wissenschaften zu treiben suchte — starke Worte, die man mir sogar zum Vorwurf gemacht hat — gehören vielleicht wirklich unter meine Dummheiten; mindestens waren sie bisher umsonst gesprochen... (Ich gedenke mit Verdruß, wie man merkt, einer getäuschten Hoffnung, 15 von jener Art Hoffnungen, wie sie mir mehrfach gerade die Begabung von Juden erregt hat, — als die Art Mensch, die im jetzigen Europa bei weitem am ersten Geistigkeit angeerbt bekommen, zugleich aber auch ein tempo der Entwicklung, das verhängnißvoll rasch zur R e i f e (und leider auch noch über 20 sie hinaus . . . ) treibt) 5
5 [«] Und wollt ihr ernstlich „das Jenseits" loswerden: ich fürchte, es giebt kein anderes Mittel, ihr müßt euch erst zu m e i n e m „Jenseits" entschließen. 5 [7] Das Glück, von dem die Bescheidenen glauben, sein rechter 2$ Name sei auf Erden „So! So!" Wer etwas ist, das leicht zerbricht, fürchtet sich vor Kinderhänden und Allem, was nicht lieben kann, ohne zu zerstören.
Sommer 1886—Herbst 1887 5[4—10]
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Wer in Dornen greift, schont seine Finger weniger als wer einen Dolch führt. gehörnte Wagnerianer 5 [8] Das psychologische Kunststück dieser Jahre war, über einen 5 furchtbaren Abgrund zu gehen und nicht h i n u n t e r zu blicken; sondern heiter Schritt für Schritt thun, als ob es sich darum handle, eine bunte Wiese zu überschreiten, an deren Ende vielleicht eine große Gefahr auf uns wartet: kurz, muthig über eine Gefahr weggehn, mit dem Glauben, einer Gefahr entgegenio zugehen. 5 [9] Exoterisch — esoterisch 1. — alles ist Wille gegen Willen 2 Es giebt gar keinen Willen 1 Causalismus 1 5 2 Es giebt nichts wie Ursache-Wirkung.
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Alle Causalität geht psychologisch auf den Glauben an A b s i c h t e n zurück: Gerade die Wirkung e i n e r Absicht ist u n beweisbar. (Causa efficiens ist eine Tautologie mit finalis) psychologisch angesehn —
5 [10] Was ist „erkennen"? Zurüdtführen von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, Vertrautes. Erster Grundsatz: das, woran wir uns g e w ö h n t haben, gilt uns nicht mehr als Räthsel, 25 als Problem. Abstumpfung des Gefühls des Neuen, Befremdenden: alles, was r e g e l m ä ß i g geschieht, scheint uns nicht mehr fragwürdig. Deshalb ist die R e g e l s u c h e n der erste Instinkt des Erkennenden: während natürlich mit der Feststel-
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Nachgelassene Fragmente
lung der Regel noch gar nichts „erkannt" ist! — Daher der Aberglaube der Physiker: wo sie verharren können d.h. wo die Regelmäßigkeit der Erscheinungen die Anwendung von abkürzenden Formeln erlaubt, meinen sie, sei e r k a n n t wor5 den. Sie fühlen „Sicherheit": aber hinter dieser intellektuellen Sicherheit steht die Beruhigung der Furchtsamkeit: s i e w o l l e n d i e R e g e l , weil sie die Welt der Furchtbarkeit entkleidet. D i e F u r c h t v o r d e m U n b e r e c h e n b a r e n als H i n t e r - I n s t i n k t der Wissenschaft. 10 Die Regelmäßigkeit schläfert den fragenden (d. h. fürchtenden) Instinkt ein: „erklären" d.h. eine Regel des Geschehens aufzeigen. Der Glaube an das „Gesetz" ist der Glaube an die Gefährlichkeit des Willkürlichen. Der gute W i l l e , an Gesetze zu glauben, hat der Wissenschaft zum Siege verholfen (nament15 lieh in demokratischen Zeitaltern) 5 ["] Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisiren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellekten und weil sein Vermögen zu erkennen erst Angesichts der „wahren Wirklichkeit" zu Tage treten würde d. h. weil, um den Intellekt 20 zu kritisiren, wir ein höheres Wesen mit „absoluter Erkenntniß" sein müßten. Dies setzte schon voraus, daß es, abseits von allen perspektivischen Arten der Betrachtung und sinnlich-geistiger Aneignung, e t w a s g ä b e , ein „ An-sich" — Aber die psychologische Ableitung des Glaubens an D i n g e verbietet uns *5 von „Dingen an sich" zu reden. 5 [12] Grundfrage: ob das P e r s p e k t i v i s c h e zum Wesen gehört? Und nicht nur eine Betrachtungs-form, eine Relation zwischen verschiedenen Wesen ist? Stehen die verschiedenen Kräfte in Relation, so daß diese Relation gebunden ist an Wahr3° nehmungs-Optik? Diese wäre möglich, w e n n a l l e s S e i n essentiell e t w a s W a h r n e h m e n d e s w ä r e .
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5 [13] Daß Ähnlichkeit der Form auf Verwandtschaft hinweist, Herkunft aus gemeinsamer Form, — daß Ähnlichkeit des Lautens bei Worten auf Verwandtschaft der Worte hinweist, ist eine Art zu folgern, bei der die inertia soufflirt: als ob es 5 w a h r s c h e i n l i c h e r wäre, daß eine Form Ein Mal als daß sie mehrcrcmal entstanden s e i . . . Die Succession von Erscheinungen, noch so genau beschrieben, kann nicht das W e s e n des Vorgangs geben — aber die C o n s t a n z des fälschenden Mediums (unser „ich" —) ist 10 mindestens da. Es ist als ob Reime aus einer Sprache bei einer Übersetzung in eine andre verloren gehen: aber der G l a u b e hervorgerufen wird, d a ß in jener Ursprache es ein Gedicht in Reimen war. So erweckt die Folge die Succession den Glauben an eine Art „Zusammenhang" j e n s e i t s des von uns ge15 sehenen Wechsels. 5 [14] Die Entwicklung der Wissenschaft löst das „Bekannte" immer mehr in ein Unbekanntes auf: sie w i l l aber gerade das U m g e k e h r t e und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. 2° In summa bereitet die Wissenschaft eine s o u v e r ä n e U n w i s s e n h e i t vor, ein Gefühl, daß „Erkennen" gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmuth war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nidit den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur „Erkennen" als eine M ö g l i c h k e i t gelten zu *5 lassen — daß „Erkennen" selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir ü b e r s e t z e n eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Thatsache: so wenig Ding an sich, so wenig ist „Erkenntniß an sich" noch e r l a u b t als Begriff. Die Verführung durch „Zahl und Logik" 30 durch die „Gesetze"
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Nachgelassene Fragmente
„W e i s h e i t a als Versuch über die perspektivischen Schätzungen (d. h. über die „Willen zur Macht") h i n w e g zu kommen ein lebensfeindliches und auflösendes Princip, Symptom wie bei den Indern usw. S c h w ä c h u n g der Aneig5 nungskraft. 5 [i5] So gut der Versuch gemacht wird, Alles ins Todte Unlebendige in unseren Sinnen zu übersetzen (also z. B. in Bewegungen usw. aufzulösen), so erlaubt ist (es}, alles Gesehene, Gehörte, was unsere Sinne bieten, in unsre v i t a l e n Funktionen aufJ o zulösen, also als Begehren, Wahrnehmen, Fühlen usw. 5 [16] Die wissenschaftliche Genauigkeit ist bei den o b e r f l ä c h l i c h s t e n Erscheinungen am ersten zu erreichen also wo gezählt, gerechnet, getastet, gesehn werden kann, wo Quantitäten c o n s t a t i r t werden können. Also die armseligsten 15 Bereiche des Daseins sind zuerst fruchtbar angebaut worden. Die Forderung, Alles müsse mechanistisch erklärt werden, ist der Instinkt, als ob die werthvollsten und fundamentalsten Erkenntnisse gerade da am e r s t e n gelungen wären: was eine Naivetät ist. Thatsächlich ist uns Alles, was gezählt und 20 gegriffen werden kann, wenig werth: wo man n i c h t hinkommt mit dem „Begreifen", das gilt uns als „höher". Logik und Mechanik sind nur auf das O b e r f l ä c h l i c h s t e anwendbar: eigentlich nur eine Schematisir- und Abkürzungskunst, eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des 25 Ausdrucks, — kein „Verstehen", sondern ein Bezeichnen zum Zweck der V e r s t ä n d i g u n g . Die Welt auf die Oberfläche reduziert denken heißt sie zunächst „begreiflich" machen. Logik und Mechanik berühren n i e die Ursächlichkeit
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5 [17] Wie die skeptischen, an der Unsicherheit l e i d e n d e n Zeitalter zu einem starren Glauben übergehn: andrerseits, Menschen, mit einem Widerwillen gegen vorzeitige Dogmen und Einengungen, nur langsam und spät sich einen Gesammt-Glauben 5 a b z w i n g e n l a s s e n (weil sie an der Unsicherheit nicht l e i d e n , sondern Lust haben) Diese letztere Art von abgezwungenem Gesammt-Glauben und Generalisation haben entscheidenden W e r t h : sie sind trotz des Gegenhangs gewachsen. Über den Ursprung d e r s y s t e m a t i s c h e n 10 C o n c e p t i o n e n : a) aus den schematischen Köpfen b) aus dem Leiden an der Ungewißheit c) seltnerer Fall, bei solchen, die ungern schematisiren und incerti amici (sind.) S [18] „Was sich beweisen läßt, ist wahr" Das ist eine willkürliche Festsetzung des Begriffs „wahr", die sich n i c h t b e w e i s e n 15 läßt! Es ist ein einfaches „das s o l l als wahr gelten, soll „wahr" heißen!" Im Hintergrunde steht der Nutzen einer solchen Geltung des Begriffs „wahr": denn das Beweisbare appellirt an das Gemeinsamste in den Köpfen (an die Logik): weshalb es natürlich nicht mehr ist als ein Nützlichkeits-Maaßstab im 20 Interesse der Meisten. „Wahr" „bewiesen" d. h. aus Schlüssen abgeleitet, vorausgesetzt, daß die Urtheile, welche zum Schlüsse gebracht werden, schon „wahr" sind (d. h. a l l g e m e i n z u g e s t a n d e n ) Somit ist „wahr" etwas, das nach einer allgemein zugestandenen Art des Schließens auf allgemein zuge*j standene Wahrheiten zurückgeführt wird. D a s b e d e u t e t a l s o : „was sich beweisen läßt, ist wahr" setzt bereits W a h r h e i t e n als gegeben v o r a u s 5 [19] Die Welt, die uns etwas angeht, ist nur scheinbar, ist unwirklich. — Aber den Begriff „wirklich, wahrhaft vorhanden" haben
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wir erst gezogen aus dem „uns-angehn"; je mehr wir in unserem Interesse berührt werden, um so mehr glauben wir an die „Realität" eines Dinges oder Wesens. „Es existirt" heißt: ich fühle midi an ihm als existent. — Antinomie. So viel Leben aus jenem Gefühl kommt, so viel S i n n setzen wir in das, was wir als Ursache dieser Erregung glauben. Das „Seiende" wird also von uns gefaßt als das auf uns Wirkende, das d u r c h s e i n W i r k e n S i c h - B e w e i s e n d e . — „Unwirklich" „scheinbar" wäre das, was nicht Wirkungen hervorzubringen vermag, aber sie hervorzubringen scheint. — Gesetzt aber, wir legen in die Dinge gewisse Werthe hinein, so wirken diese Werthe dann auf uns z u r ü c k , nachdem wir vergessen haben, daß wir die Geber waren. Gesetzt, ich halte Jemanden für meinen Vater, so folgt daraus vielerlei für jede seiner Äußerungen gegen mich: sie werden anders i n t e r p r e t i r t . — Also unsere Auffassungen und Ausdeutungen der Dinge, unsere Interpretation der Dinge gegeben, so folgt, daß alle „wirklichen" Einwirkungen dieser Dinge auf uns daraufhin anders erscheinen, neu interpretirt, kurz a n d e r s w i r k e n . Wenn nun alle Auffassungen der Dinge falsch waren, so folgt, daß alle Einwirkungen der Dinge auf uns auf e i n e f a l s c h e C a u s a l i t ä t hin empfunden und ausgelegt werden: kurz, daß wir Werth und Unwerth, Nutzen und Schaden abmessen auf Irrthümer hin, daß die Welt, die u n s e t w a s a n g e h t ) falsch ist. S[*>] Die Luft geht kühl und rein — ich möchte gern der Tag blickt gram
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Am Abend, wenn dein tapferes Herz zweifelt und müde blickt. die Flamme mit weißgrauem Bauche, deren Hals begehrlich sich nach reinen Höhen biegt und dreht 5 [«] Die Probleme, vor welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich beinahe jedes Jahr ein Paar Mal mich zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen, denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit bei Seite legen müßten, um sich einstweilen ganz io m e i n e n Angelegenheiten zu widmen. Das, was dann jedes Mal statt dessen g e s c h a h , war in so komischer und unheimlicher Weise das Gegentheil davon, was ich erwartet hatte, daß ich alter Menschenkenner mich meiner selber zu schämen lernte (und) immer von Neuem wieder in der Anfänger-Lehre umzu15 lernen hatte — daß die Menschen ihre Gewohnheiten hunderttausend Mal wichtiger nehmen als selbst — ihren Vortheil... 5
5["] Grundlösung: wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen B e g r i f f e , die Sprache ist auf die aller naivsten 20 Vorurtheile hin gebaut nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir n u r in der sprachlichen Form d e n k e n — somit die „ewige Wahrheit" der „Vernunft" glauben (z.B. Subjekt Prädikat usw. 25
wirhörenaufzudenken,wennwiresnicht i n d e m s p r a c h l i c h e n Z w a n g e t h u n w o l l e n , wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn.
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Nachgelassene Fragmente
Das v e r n ü n f t i g e D e n k e n ist ein I n t e r p r e tiren nach einem Schema, w e l c h e s wir nicht abwerfen können. 5l>3] freiwillig abseits, gelassen, gegen Ding und Zufall leutselig, 5 den kleinsten Sonnenblicken der Gesundheit dankbar, den Schmerz wie eine Regel, wie eine Bedingung, wie etwas Selbstgewolltes annehmend, und mit listigem Zwang zu unseren Zwecken ausnutzend, ausfragend — 5[24]
Menschen, in deren Leibe beständig das innere Vieh grunzt iö und rumort 5 [*$] nicht nur die Moral als Vorurtheil, sondern über den höchstgeehrten Typus der bisherigen Moralität hindurchlebend mit einer ironischen Allwissenheit über die ganze bisherige vita contemplativa stehen bleiben 15 Mit einem sehr schlechten Willen, in einem der bisherigen Weltbetraditungs-Winkel sitzen zu bleiben, so tief auch die Neugierde mich in jeden von ihnen einmal hineingetrieben hat: mit einem um so strengeren Willen, den Zustand, aus dem jede einzelne dieser Weltwinkel-Perspektiven, die man eine 20 Philosophie oder eine „Religion" nennt, (entstanden ist,) einmal selbst zu erleben 5 [*«] die erlebte Andeutung von etwas Unendlichem, das zu erobern uns freisteht 5 [27] Um dies Buch zu verstehen, muß man mir einige Voraus25 Setzungen zugeben
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5 U8] Daß Jemand selbst die Moral als Vorurtheil nehmen kann, und hinterdrein gar noch in diesem Sieg der Skepsis ein morgenröthliches Glück genießen kann — 5 I>9] Man muß die großen Probleme mit Leib und Seele e r 5 l e b e n wollen s [30] Das Volk hat billigerweise den falschesten Begriff von dem Zustand, von dem es am entferntesten ist, von der Weisheit 5 [31] Jedes große Problem ist ein Symptom: ein Mensch mit einem gewissen Quantum von Kraft, Feinheit, Verfänglichkeit, mit 10 dieser Gefahr, mit diesem Vorgefühl hat es aus sich herausgetrieben
5 M Das Volk hat Menschen nöthig, die ihm mit gutem Beispiel vorangehn: und wieder aus sich und alledem, was es an sich zu überwinden hat, als Ideal eines siegreichen Uberwinders 15 ausgedeutet hat, hat es eine Art Kriterium gewonnen für seine Art h ö c h s t e r M e n s c h e n . Darin steckt eine große Gefahr. Man sei doch aufrichtig und gestehe sich zu, weshalb Christus z. B. nur ein Ideal des „gemeinen Mannes" ist. 5 [33] Das Volk pflegt sich bei einem Philosophen mit biederem 20 Ernste zu fragen, ob er wirklich so g e l e b t hat, wie er g e l e h r t hat: es urtheilt bei sich, daß Moral-Predigen leicht sei und wenig zu bedeuten habe, daß es aber etwas damit auf sich habe, Moral, irgend eine Art Moral zu l e b e n . Dies ist eine
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Nachgelassene Fragmente
Naivität: denn wie sollte Einer anders zum Wissen kommen, wenn er nicht in dem Lande gelebt hat, von dem er redet! Gesetzt, daß ein Philosoph Das Volk verlangt von einem Philosophen, daß er nicht 5 lüge: denn es glaubt, daß nur die Wahrhaftigen die Wahrheit erkennen- Insgleichen daß er ohne Sinnenlust lebe, entsagend 5 [34] Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge wie es sich die anderen Menschen, solche io mit den „fleischernen Herzen" gar nicht vorstellen können — auch nicht vorstellen dürften: — sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Werth zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie das heißen mag, was man, in 15 der Sprache des Volkes, „Geist" nennt. Die Kraft und Macht der Sinne — dies ist das Wesentlichste an einem wohlgerathenen und ganzen Menschen: das prachtvolle „Thier" muß zuerst gegeben sein — was liegt sonst an aller „Vermenschlichung"! 5 [35] NB Die ganze Moral E(uropa)s hat den Nutzen der Heerde 20 auf dem Grunde: die Trübsal aller höheren seltneren Menschen liegt darin, daß alles, was sie auszeichnet, ihnen mit dem Gefühl der Verkleinerung und Verunglimpfung zum Bewußtsein kommt. Die S t ä r k e n des jetzigen Menschen sind die Ursachen der pessimistischen Verdüsterung: die Mittelmäßigen *5 sind, wie die Heerde ist, ohne viel Frage und Gewissen, — heiter. Zur Verdüsterung der Starken: Schopenhauer Pascal NB. Je g e f ä h r l i c h e r e i n e E i g e n s c h a f t d e r H e e r d e s c h e i n t , um so g r ü n d l i c h e r w i r d s i e in A c h t g e t h a n .
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5 [56] Unser „Erkennen" beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen d. h. aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Q u a 1 i t ä t ist eine 5 p e r s p e k t i v i s c h e Wahrheit für u n s ; kein „an sich". Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktioniren d. h. wir empfinden groß und klein im Verhältniß zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsere Sinne um das Zehnfache verschärften oder io verstumpften, würden wir zu Grunde gehn. D. h. wir empfinden auch G r ö ß e n v e r h ä l t n i s s e in Bezug auf unsre ExistenzErmöglichung als Q u a l i t ä t e n . 5 [37] Zu beschreiben, wie es Einem thut bei erkenntnißtheoretischem Denken, physiologisch. P r i m i t i v e , — wie? 5 [38] Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radicaliter n ö t h i g habe — Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß — ich als ebenso viel Entbehrungen empfinde, insofern ich glück20 licher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer AbstraktionsApparat bin. Ich muß hinzufügen, daß mir in jedem Falle die s o l i d e G e s u n d h e i t fehlt — und daß ich nur in Momenten der Gesundheit die Last jener Entbehrungen w e n i g e r h a r t f ü h l e . Auch weiß ich immer noch nicht die fünf 25 Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche mittlere meiner labilen Gesundheit sich basiren ließe. Trotzdem wäre es ein verhängnißvoller Fehler, wenn ich, um mir die 5 Bedingungen zu schaffen, mich jener 8 Freiheiten beraubte: Das ist eine o b j e k t i v e Ansicht meiner Lage. — 15
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Die Sache complicirt sich, insofern ich außerdem Dichter bin, wie billig, mit den Bedürfnissen aller Dichter: wozu Sympathie, glänzender Haushalt, Ruhm und dergleichen gehören (in Bezug auf welche Bedürfnisse ich für mein Leben keine 5 andere Bezeichnung habe als Hundcstall-Existenz). Die Sache complicirt sich noch einmal, insofern ich außerdem Musiker bin: so daß mir eigentlich nichts im Leben 5 [39] — daß ich die Sprache der Volks-Moralisten und „heiligen Männer" rede und dies unbefangen ursprünglich ebenso begeiJ o stert als lustig, aber zugleich mit einem Artisten-Genüsse daran, der nicht zu fern von der Ironie ist — darüber nämlich, daß hier die raffinirteste Form des modernen Gedankens beständig in die Sprache der Naivetät zurückübersetzt wird — also mit einem heimlichen Triumphe über die besiegte Schwierigkeit und schein15 bare Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens > Uo] Zur Genealogie der Moral.
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Erste Abhandlung von Friedrich Nietzsche. 2. das asketische Ideal 3. Verantwortlichkeit. 4. „ich" und „er".
5 [41] Vorspiel des P(arsifal), größte Wohlthat, die mir seit langem ** erwiesen ist. Die Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme
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und so scharf zum Mitgefühl brächte. Ganz erhoben und ergriffen — kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermüthigen und zärtlichen B l i c k gemalt wie Wagner die Größe im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, aus der 5 etwas wie Mitleiden quillt: das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Größe i m Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen dunklen, schwermüthigen io Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Lionardo nicht. Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir über die Probleme redete, die mich bekümmern, nicht natürlich mit den Antworten, die ich eben dafür bereit halte, sondern mit 15 den christlichen — welche zuletzt die Antwort stärkerer Seelen gewesen ist als unsere letzten beiden Jahrhunderte hervorgebracht haben. Man legt allerdings beim Hören dieser Musik den Protestant wie ein Mißverständniß bei Seite: so wie die Musik Wagners in Montecarlo mich dazu brachte, wie ich nicht leugnen 20 will, auch die sonst gehörte s e h r g u t e Musik (Haydn Berlioz Brahms Revers Sigurd-Ouvertüre) ebenfalls wie ein Mißverständniß der Musik bei Seite zu legen. Sonderbar! Als Knabe hatte ich mir die Mission zugedacht, das Mysterium auf die Bühne zu bringen;
25
5 [4*] Kritik des c h r i s t l i c h een n Ideals der Armut, der Keuschheit, der Demuth. Die europäischen Aspirationen zum F a k i r t h u m .
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5 [43] „ce jeune Juif, a la fois doux et terrible, fin et imperieux, nai'f et profond, rempli du z&le desinteresse d'une moralit£ sublime et de l'ardeur d'une personnalite exaltee" („les evangiles") Renan. 5
C'est du regime feodal et non de sa chute, que sont n£s l'egoisme, Tavidite, les violences et la cruaute, qui conduisirent aux terreurs des massacres de septembre v.Sybelü
5 [44] Ehren wir dergestalt die Blinden, die Vertrauenden, die Ein10 fachen, die Friedlichen, die Esel, schützen wir und vertheidigen wir sie vor uns selbst alle diese arglosen fraglosen kuhwarmen Milchherzen die Nichts vom Leben haben als seine verfänglichste Auszeichnung, u n s n i c h t zu k e n n e n . . . retten wir sie mit dieser Kunst des schnellen Verstummens für unsre eignen bösen 15 Tage — denn auch wir haben zeitweilig Oasen nöthig, Menschen-Oasen, in denen man vergißt, vertraut, einsdiläft wieder träumt wieder liebt wieder „menschlich" wird .. . 5 [45] Inzwischen hat ein sehr sonderbarer Herr, Namens Theodor Fritsch aus Leipzig mit mir correspondirt: ich konnte nicht 20 umhin, da er zudringlich war, ihm ein paar freundliche Fußtritte zu versetzen. Diese jetzigen „Deutsohen" machen mir immer mehr Ekel.
5 Mi Wir H y p e r b o r e e r .
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Weder zu Wasser, noch zu Lande kannst du den Weg zu den Hyperboreern finden Pindar. j
Jenseits des Nordens, des Eises, der Härte, des Todes — u n s e r L e b e n ! U n s e r Glück!
5 [47] Wie sollten sie unser rechtes auditorium abgeben, diese Moralisten, die mit einer schändlichen Zudringlichkeit nur auf das hinhören, was f ü r s i e dabei herauskommt und überhaupt, io o b etwas für sie dabei herauskommt. Zur Vorrede. „Was habe i c h davon? Wie nehme ich mich dabei aus? „Was nehme ich mir dabei heraus?" — die unerlaubten Geister.
!
J
5 [48] N B „Deutsche Jünglinge" und Hornvieh — kuhwarme Milchherzen
andres
5 [49] Die Moral als des Menschen g r ö ß t e
schwärmerisches
Gefahr
Die Tugend, z. B. als Wahrhaftigkeit, als u n s e r vornehmer und gefährlicher Luxus; wir müssen nicht die Nachtheile ab*o lehnen, die er mit sich bringt. 5 [50] 1) Jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. F(laubert) unter Deutschen R. W(agner) das deutlichste Beispiel abgiebt: zwischen 1830 und 1850 wandelt sich
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Nachgelassene Fragmente
der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts. d a s t r a g i s c h e Z e i t a l t e r für Europa: bedingt durch den Kampf gegen den Nihilismus. Vielleicht T i t e l von N r . 10. Was bedeutet der Sinn für F a r b e n bei Franzosen, für Ton (und „ H a r m o n i e " speziell) bei Deutschen? Reizmittel theils für eine g r ö b e r e Art Mensch theils für eine b l a s i e r t e r e Art Mensch. Der Pessimismus und die aesthet(ische) Theorie die griechische Philosophie von Socrates ab als Krankheitssymptom und folglich Vorbereitung des Christenthums. Der Anarchismus Gegen den Causalismus. Bedingungen zu einer Ursache. die erzieherische Lüge. Plato. Dazu gehören alle „Ideale". Aber Erziehung w o z u ? D a u e r hafte Gebilde zu schaffen, in denen Etwas Langes wachsen kann. Wie entsteht der R u h m einer moralischen Qualität? Moral geht auf Vermittelmäßigung, Erniedrigung des N i veaus hinaus. Inwiefern hier ein Instinkt der E r h a l t u n g redet. Im g r o ß e n M e n s c h e n sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens, Unrecht, Lüge, Ausbeutung am größten. Insofern sie aber ü b e r w ä l t i g e n d gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretirt worden. Typus Carlyle als Interpret. Antagonismus zwischen Verstärkung und Verbesserung. Gegen die Atomistik. Der Glaube an das Ich eine neue Vollkommenheit ausdenken, bei der unsre ganze menschliche Noth und Ungewißheit nicht revoltirt. Wie entsteht der s t a r k e M e n s c h ? v. Die Arten des Rausches? Was b e d e u t e t unser Sinn für Hochgebirge, Wüste, cam-
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pagna Romana, Nationalismus? Verkleinerung des Menschen seit Copernicus. Die Werthschätzungen als Ursache und als Folge Das Hintereinander ist auch nur B e s c h r e i b u n g . Agnostiker Von der Zuchtlosigkeit des Geistes — was ist Lasterhaftigkeit des Intellekts? Was b e d e u t e t die Herrschaft der Musik? Hingebung an die Person als Erleichterung der Moral. (Vater, Vorfahr, Fürst, Priester, Gott) Mysterien („Drama"). Strafe: Aufrechterhaltung eines höheren Typus. Der wissenschaftliche „Anschein". Zur Schauspielerei Zur Physiologie der Macht unsere europäische Cultur — worauf sie d r ä n g t , im Gegensatz zur buddhistischen Lösung in Asien? Auslegung, n i c h t Erklärung. Zur Logik: der Wille zur Gleichheit als Wille zur Macht. „Ding an sich" gegen die Mechanistik Das m o r a l ( i s c h e ) Vorurtheil im Glauben an die Dialektik Das Verleumderische an den Idealen. Psychologie des wissenschaftlichen Bedürfnisses. moderne Verdüsterung die Schauspielerei das Demagogische in den Künsten Hedonism im jetzigen Christenthum. sowohl Kant als Hegel als Schopenhauer durch m o r a 1 ( i s c h e s ) Grundurtheil bestimmt. Ebenso Plato, Spin (oza). Mißverständnis der Heiterkeit, der Ironie. „Gewissensbiß" Umdrehungen des moralischen) Urtheils
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Lehre vom milieu Volksthümliche Ideale, Fr. v. Assisi. „Wir Immoralisten." Freiheitsgefühl. Was ist vornehm? ( r o t h - m a r m o r i r t e s B u c h ) alle großen Menschen böse Menschen Tartüfferie der Wissenschaftlichkeit wie Descartes die Wahrheit der Sinneswahrnehmung aus der Natur G o t t e s begründete, könnte man Kants Lehre 10 von der Vernunft, die Illusion schafft, ablehnen. Insofern ist selbst die Erkenntnißtheorie abhängig von einer v o r h e r i g e n Entscheidung über den moralischen Charakter des Daseins. Die Engländer meinen, man werde nur einem moralischen 15 Gotte gehorchen. — Die Atheisten sind gerade in moralischen Fragen am befangensten. 53) das Wohlgefühl als das an leichten Widerständen sich auslösende M a c h t g e f ü h l : denn im gesammten Organismus giebt es fortwährend Überwindung zahlloser Hemmungen, 20 — dies S i e g s gefühl kommt als G e s a m m t g e f ü h l zum Bewußtsein, als Lustigkeit, „Freiheit" umgekehrt: giebt es schwere Hemmungen, so wird auch das Machtgefühl nicht ausgelöst: NB. Also Unlustgefühl ist grundverschieden von Lustgefühl, 25 letzteres ist Machtgefühl, welches, um erregt zu werden, zu seiner Voraussetzung kleine Hemmungen und Unlustgefühle nöthig hat. 5 [51] Rangordnung Vergeltung. 30 Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Recht, Strafe usw. Mitleiden
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Maxime: mit keinem Menschen umgehn, der an dem verlognen Rassen-Schwindel Antheil hat. (Wieviel Verlogenheit und Sumpf gehört dazu, um im heutigen Mischmasch-E(uropa) Rassenf ragen aufzurühren!) 5 [53] 5 Das Jahrhundert als Erbe des v o r i g e n 1) sensualistisch, hedonistisch (oder pessimistisch) 2) schwärmerisch — moralisch Freiheit, Erkenntniß, Glück 10 im Bunde 3) 5 [54] Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die e w i g e Wiederkehr. 5 [55] H a u p t i r r t h u m d e r P s y c h o l o g e n : sie nehmen IJ die undeutliche Vorstellung als eine niedrigere A r t der Vorstellung gegen die helle gerechnet: aber was aus unserem Bewußtsein sich entfernt und deshalb d u n k e l w i r d , k a n n deshalb an sich vollkommen klar sein. D a s D u n k e l w e r d e n i s t S a c h e der B e w u ß t s e i n s - P e r s p e k t i v e . 10 Die „Dunkelheit" ist eine Folge der Bewußtseins-Optik, nicht n o t h w e n d i g etwas dem „Dunkeln" Inhärentes. $ [56] Alles, was als „Einheit" ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizirt: wir haben immer nur einen A n s c h e i n von Einheit. 25
D a s P h ä n o m e n des L e i b e s
ist d a s reichere, deutlichere,
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Nachgelassene Fragmente
faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung. NB. Wenn das C e n t r u m d e s „ B e w u ß t s e i n s " audi nicht mit dem p h y s i o l o g i s c h e n C e n t r u m zusammen5 fällt, so wäre doch möglich, daß dennoch das physiologische C e n t r u m auch das psychische Centrum ist. Die I n t e l l e k t u a l i t ä t d e s G e f ü h l s (Lust und Schmerz) d. h. es ist b e h e r r s c h t von jenem Centrum aus. 5 [57] Das Problem des Nihilismus (gegen Pessimismus usw.) 10 Der Kampf gegen ihn verstärkt ihn. Alle p o s i t i v e n Kräfte des Jahrhunderts scheinen ihn nur vorzubereiten z. B. Naturwissenschaft Erklärung: U n t e r g a n g e i n e r W e r t h u n g d e r D i n g e , 15 die den Eindruck macht, als sei keine andere Werthung möglich. 5 [58] Moral als I l l u s i o n d e r G a t t u n g , um den Einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Werth zugestehend, so daß er, mit diesem 20 S e l b s t b e w u ß t s e i n , andere Seiten seiner Natur tyrannisirt und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist. Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber j e t z t n u r n o c h e i n D r u c k , der zum Verhängniß werden würde! S i e s e l b s t z w i n g t als Redlichkeit zur 25 Moral-Verneinung. 5 [59] Die Voraussetzung der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Arb e i t : ein Glaube an den Verband und die Fortdauer der wissen-
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schaftlichen Arbeit, so daß der Einzelne an jeder noch so kleinen Stelle arbeiten darf, im Vertrauen, n i c h t u m s o n s t z u a r b e i t e n . Diese Es giebt Eine große Lähmung: u m s o n s t arbeiten, 5 u m s o n s t kämpfen. Die a u f h ä u f e n d e n Zeiten, wo Kraft, Machtmittel gefunden werden, deren sich einst die Zukunft bedienen wird: W i s s e n s c h a f t als m i t t l e r e S t a t i o n , an der die mittleren vielfacheren complicirteren Wesen ihre natürlichste Entio ladung und Befriedigung haben: a l l e d i e , d e n e n d i e That s i c h w i d e r r ä t h. 5[6o]
Der dogmatische Geist bei Kant
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Ein Zeitpunkt, wo der Mensch K r a f t im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese S k l a v e r e i d e r N a t u r herbeizuführen. Dann bekommt der Mensch M u ß e : sich selbst a u s z u b i l d e n , zu etwas Neuem Höherem. Neue Aristokratie Dann werden eine Menge T u g e n d e n überlebt, die jetzt E x i s t e n z b e d i n g u n g e n waren. Eigenschaften nicht mehr nöthig haben, f o l g l i c h sie verlieren. W i r h a b e n d i e T u g e n d e n n i c h t m e h r nöthig: f o l g l i c h verlieren wir sie: sowohl die Moral vom „Eins ist noth", vom Heil der Seele wie der Unsterblichkeit: ein Mittel, um dem Menschen eine ungeheure S e l b s t b e z w i n g u n g zu e r m ö g l i c h e n (durch den Affekt einer ungeheuren Furcht::: die verschiedenen Arten N o t h , durch deren Zucht der Mensch geformt ist: N o t h lehrt arbeiten, denken sich zügeln Die p h y s i o l o g i s c h e Reinigung und Verstärkung
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Nachgelassene Fragmente
die n e u e A r i s t o k r a t i e hat einen Gegensatz nöthig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. die zwei Z u k ü n f t e der M e n s c h h e i t : 5 i) die Consequenz der Vermittelmäßigung 2) das bewußte Abheben, sich-Gestalten eine Lehre, die eine K l u f t schafft: sie erhält die o b e r s t e u n d die n i e d r i g s t e Art (sie zerstört die mittlere) die bisherigen Aristokratien, geistliche und weltliche, be10 weisen n i c h t s gegen die Nothwendigkeit einer neuen Aristokratie. Theorie der Herrschaftsgebilde statt: Sociologie 5 [^] Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn als man bereits e r h ö h t genug ist, um nicht mehr die Z w a n g s 15 s c h u l e d e s I r r t h u m s nöthig zu haben. Falls man das Dasein moralisch beurtheilt, d e g o u t i r t es. 5 [63] Man soll nicht falsche Personen erfinden z. B. nicht sagen „die Natur ist grausam". Gerade einzusehen, d a ß es k e i n solches C e n t r a l w e s e n d e r Verantwortlichkeit *o giebt, erleichtert! E n t w i c k l u n g d e r M e n s c h h e i t . A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. Die Moral war nöthig, u m den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und „wildem Thier". *S
B. I s t die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um s i c h s e l b s t frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.
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5 [6 4 ] Was ist „passiv"? widerstehen und reagiren. G e h e m m t sein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion 5 Was ist „ aktiv"? nach Macht ausgreifend „Ernährung" ist nur abgeleitet, das Ursprüngliche ist: Alles in sich einschließen wollen „Zeugung" nur abgeleitet: ursprünglich, wo Ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu 10 organisiren, tritt ein G e g e n w i l l e in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen Lust als Machtgefühl (die Unlust voraussetzend) 5 [65] 15 Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als V e r g l e i c h e n hat als Voraussetzung ein „Gleichsetzen", noch früher ein „Gleichmachen". Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amoebe ist. Erinnerung spät, insofern hier der gleichmachende Trieb bereits 20 g e b ä n d i g t erscheint: die Differenz wird bewahrt. Erinnern als ein Einrubriziren und Einschachteln, activ — wer? 5 [66] Der Werth der u n v e r n ü n f t i g e n N e i g u n g e n z. B. Mutterliebe, Liebe zum „Werke" usw. n i c h t „altruistisch"!
*S
5 [67] Keine „moralische Erziehung" des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der Irrthümer ist nöthig, weil die „Wahrheit" degoutirt und das Leben verleidet, vorausgesetzt, daß der
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Nachgelassene Fragmente
Mensch nicht schon unentrinnbar in seine B a h n gestoßen ist und seine redliche E i n s i c h t mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt. 5 [68] Die Physiologen, wie die Philosophen glauben, das B e 5 w u ß t s e i n , im Maaße es an Helligkeit z u n i m m t , wachse im W e r t h e : das hellste Bewußtsein, das logischste kälteste Denken sei e r s t e n Ranges, Indessen — wonach ist dieser Werth bestimmt? Das oberflächlichste, v e r e i n f a c h t e s t e Denken ist in Hinsicht auf A u s l ö s u n g d e s W i l l e n s das io am meisten nützliche (weil es wenig Motive übrig läßt) — es könnte deshalb das usw. NB. die P r ä c i s i o n des H a n d e l n s steht in Antagonismus mit der w e i t b l i c k e n d e n und oft ungewiß urtheilenden V o r s o r g l i c h k e i t : letztere durch den t i e f e r e n Instinkt 15 geführt. NB. W e r t h zu b e m e s s e n nach der W e i t e der Nützlichkeit. 5 [6 9 ] Unsere Leidenschaften und Hänge wollen i h r e Befriedigung und d a z u die Herrschaft auch über den Intellekt
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5 [70] 1. Philosophie der Geschichte. 2. 3. 4. 5.
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Psychologie. Cultur der Griechen. Philosophie der Moral. Geschichte der griechischen Philosophie. Nihilismus: Untergang einer Gesammtwerthung (nämlich der moralischen) es fehlen die neuen interpretativen Kräfte.
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Zur Geschichte der Werthe. Der Wille zur Macht und seine Metamorphosen. (was der bisherige Wille zur Moral war: eine Schule) Die ewige Wiederkunft als Hammer. S[7i] 5
Der europäische N i h i l i s m u s . Lenzer Heide den io. Juni 1887 1.
Welche V o r t h e i 1 e bot die christliche Moral-Hypothese? 1) sie verlieh dem Menschen einen absoluten W e r t h , im 10 Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens 2) sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leid und Übel den Charakter der V o l l k o m m e n h e i t ließ, — eingerechnet jene „Freiheit" — das 15 Übel erschien voller S i n n . 3) sie setzt ein W i s s e n um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß sie verhütete, daß der Mensch sich als Menschen verachtete, 2 ° daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein E r h a l t u n g s m i t t e l ; — in Summa: Moral war das große G e g e n m i t t e l gegen den praktischen und theoretischen N i h i l i s m u s .
15
Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die W a h r h a f t i g k e i t : d i e s e wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Te 1 eo 1 o g i e , ihre i n t e r e s s i r t e Betrachtung — und jetzt wirkt die E i n s i c h t in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzu3° thun, gerade als Stimulans. Zum Nihilismus. Wir constatiren
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Nadigelassene Fragmente
jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antago5 nismus, das was wir erkennen, n i c h t zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu d ü r f e n : — ergiebt einen Auflösungsprozeß. 3Thatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den e r s t e n io Nihilismus nicht mehr so nöthig: das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig, in unserem Europa. Eine solch ungeheure P o t e n z i r u n g vom W e r t h des Menschen, vom Werth des Übels usw. ist jetzt nicht so nöthig, wir ertragen eine bedeutende E r m ä ß i g u n g dieses Werthes, wir dür15 fen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte M a c h t des Menschen erlaubt jetzt eine H e r a b s e t z u n g der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. „Gott" ist eine viel zu extreme Hypothese. 4Aber extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber u m g e k e h r t e . Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch nothwendige A f f e k t , wenn der Glaube an Gott und eine essentiell mora25 lische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, n i c h t weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen „Sinn" im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. E i n e Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als d i e Interpreta3° tion galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles u m s o n s t sei. 2°
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5t)aß dies „Umsonst!" der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage 5 „sind nicht alle „Werthe" Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?" Die D a u e r , mit einem „Umsonst", ohne Ziel und Zweck, ist der l ä h m e n d s t e Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne io Macht (ist), sich nicht foppen zu lassen. 6. Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: „die ewige 15 Wiederkehr". Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das „Sinnlose") ewig! Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft z w i n g t zu einem solchen Glauben. Es ist die 20 w i s s e n s c h a f t l i c h s t e aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein. 7Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus 25 angestrebt wird: denn „Alles vollkommen, göttlich, ewig" zwingt e b e n f a l l s zu e i n e m G l a u b e n an d i e „ e w i g e W i e d e r k u n f t " . Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. 3Ö Hat es einen Sinn, sich einen Gott „jenseits von Gut und Böse" zu denken? Wäre ein Pantheismus in d i e s e m Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und
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Nachgelassene Fragmente
bejahen wir t r o t z d e m den Prozeß? — Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben e r r e i c h t würde — und immer das Gleiche Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern 5 jeder Moment eine l o g i s c h e Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine s o l c h e Weltbeschaffenheit. 8. Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. J e d e r G r u n d io c h a r a k t e r z u g , der j e d e m Geschehen zu Grunde liegt, der sich an jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als s e i n Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben 15 darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust empfindet. 9Nun hat die M o r a l das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen ge20 schützt, welche von M e n s c h e n ver(ge)waltthätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, n i c h t die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die „Herren" überhaupt als die *S Feinde behandelt, gegen welche der gemeine M(ann) geschützt, d. h. z u n ä c h s t ermuthigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten h a s s e n und v e r a c h t e n gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: i h r e n W i l l e n z u r M a c h t . Diese Moral abschaf3° fen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer u m g e k e h r t e n Empfindung und Werthung versehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte d e n G l a u b e n v e r -
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l ö r e , ein R e c h t zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem „Willen zur 5 Moral" nur dieser „Wille zur Macht" verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker a u f g l e i c h e m B o d e n steht und daß er kein V o r r e c h t , keinen h ö h e r e n R a n g vor jenem habe. io
10.
Vielmehr u m g e k e h r t ! Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grade der Macht — gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die S c h l e c h t w e g g e k o m m e n e n vor Nihilismus, indem sie 15 J e d e m einen unendlichen Werth, einen metaphysischen Werth beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demuth usw. G e s e t z t , d a ß der G l a u b e an d i e s e M o r a l zu G r u n d e g e h t , so würden die 20 Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben — und zu G r u n d e g e h e n . 11.
Das z u - G r u n d e - G e h e n präsentirt sich als ein — S i c h - z u - G r u n d e - r i c h t e n , als ein instinktives Aus25 lesen dessen, was z e r s t ö r e n muß. S y m p t o m e dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nöthigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu T o d f e i n d e n macht (— gleichsam sich seine 30 Henker selbst züchtend) der W i l l e z u r Z e r s t ö r u n g als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des W i l l e n s ins N i c h t s .
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Nachgelassene Fragmente 12.
Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen 5 Grund mehr haben, „sich zu ergeben" — daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Princips stellen und auch ihrerseits M a c h t w o l l e n , indem sie die Mächtigen z w i n g e n , ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das N e i n - t h u n , nachdem alles Dasein seinen io „Sinn" verloren hat. 13-
Die „Noth" ist nicht etwa größer geworden: im Gegentheil! „Gott, Moral, Ergebung" waren Heilmittel, auf furchtbaren tiefen Stufen des Elends: der a k t i v e N i h i l i s m u s tritt 15 bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon, daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Cultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungs20 losen Scepsis g e g e n Philosophie gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs n i e d e r e n Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde g e l e h r t e Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddha<s> solche hatte z. B. Begriff der Causalität 25 usw.). 14.
Was heißt jetzt „schlechtweggekommen"? Vor Allem p h y s i o l o g i s c h : nicht mehr politisch. Die u n g e s u n d e s t e Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses 30 Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen F l u c h empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern
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Alles auslöschen m a c h e n , was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war — auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. — Der Werth 5 e i n e r s o l c h e n C r i s i s ist, daß sie r e i n i g t , daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich an einander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist — auch unter ihnen die schwächeren, unsichereren ans Licht bringend und so zu io e i n e r R a n g o r d n u n g der K r ä f t e , vom Gesichtspunkte der Gesundheit, den Anstoß giebt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen. ISWelche werden sich als die S t ä r k s t e n dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze n ö t h i g haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, 20 ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten — Menschen die i h r e r M a c h t s i c h e r s i n d , und die die e r r e i c h t e Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren. 15
*5
16.
Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? — 5 [72] S e l b s t a u f h e b u n g der Moral die Redlichkeit Gerechtigkeit, Strafe, Mitleid usw.
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Nachgelassene Fragmente
5 [73] Jenseits von Gut und Böse 17 Bogen die 2 te Hälfte 5 [74] Zur Genealogie der Moral Eine Streitschrift
5
Von Friedrich Nietzsche. Unbekümmert,
spöttisch,
gewalt-
thätig — so will u n s die Weisheit: 10
sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann. Also
sprach
Zarathustra.
Leipzig, Verlag von C. G. Naumann. 5 t75] IJ
Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. 1.
Vom Werth der Wahrheit. 2.
*o
Was daraus folgt. 3Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.
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219
4Die ewige Wiederkunft. 5f7<] Moral als Wille 5 [77] Sprüche und P f e i l e . von Friedrich Nietzsche. Aus dessen Schriften zusammengebracht und hervorgebracht von E. V. W. 5 [78] Sprüche eines Immoralisten. 5 [79] Diesem mesquinen Zeitalter, mit dem ich mich nun einmal irgendwie abfinden muß, eine Probe davon zu geben, was Psychologie im g r o ß e n S t i l e ist, hat eigentlich keinen Sinn; — wer käme mir auch nur mit dem Tausendstel von Leidenschaft 15 und Leiden entgegen, um begreifen zu können, w i e man zum Wissen in solchen fremden und entscheidenden Dingen kommt?... Und was muß Einer Alles in sich erlebt haben, um mit seinen 25 Jahren die Geburt der Tragödie zu concipiren! Ich habe mich nie beklagt über das Unbeschreibliche meiner *o Entbehrung: nie einen verwandten Laut zu hören, nie von gleichem Leiden und Wollen. Ich selbst kenne in keiner Litteratur Bücher, welche diesen Reichthum an seelischen Erfahrungen hätten, und dies vom Größten bis zum Kleinsten und Raffinirtesten. Daß dies außer
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Nachgelassene Fragmente
mir im Grunde Niemand sieht und weiß, hängt an der Thatsache, daß ich verurtheilt bin, in einer Zeit zu leben, wo das Rhinozeros blüht, und noch dazu unter einem Volke, welchem in psychologischen Dingen überhaupt noch jede Vorschulung 5 fehlt (einem Volk, das Schiller und Fichte ernst genommen hat!!). Wenn ich denke, daß solche M(enschen) wie R(ohde) sich im Grunde wie Hornvieh gegen mich benommen haben: was soll eigentlich 5 [80] 8. Zuletzt, daß ich wenigstens mit Einem Worte auf einen ungeheuren und noch gänzlich unentdeckten Thatbestand hinweise, der sich nur langsam, langsam festgestellt hat: es gab bisher keine grundsätzlicheren Probleme als die moralischen, i h r e treibende Kraft ist es, aus der alle großen Conceptionen im 15 Reiche der bisherigen Werthe ihren Ursprung genommen haben (— zum Beispiel alles was gemeinhin „Philosophie" genannt wird; und dies bis hinab in die letzten erkenntnißtheorethischen Voraussetzungen). A b e r es g i e b t n o c h g r u n d s ä t z l i c h e r e P r o b l e m e a l s d i e m o r a l i s c h e n : diese kom20 men Einem erst in Sicht, wenn man das moral(ische) Vorurtheil h i n t e r sich hat... 10
5 [81] a) Der g r o ß e S t i l Das N a c k t e : psychologische Reinigung des Geschmacks. *5 b) die synthetischen Menschen k ö n n e n nicht aus der „Ameise" wachsen. Unsre Gesellschaft r e p r ä s e n t i r t nur die Bildung der „Gebildete" fehlt. c) die Selbsttödtung Har (ak) iri Japans
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d) das Recht auf A f f e k t e wiedergewinnen für den E r kennenden 5 [82] Recht entsteht nur da, wo es Verträge giebt; damit es aber Verträge geben kann, muß ein gewisses G l e i c h g e w i c h t 5 v o n M a c h t da sein. Fehlt ein solches Gleichgewicht, stoßen zwei zu verschiedene Macht-Quanten auf einander, so greift das Stärkere über nach dem Schwächeren zu dessen fortgesetzter Schwächung, bis endlich Unterwerfung, Anpassung, Einordnung, Einverleibung eintritt: also mit dem Ende, daß aus Zwei Eins io geworden ist. Damit Zwei zwei bleibt, ist wie gesagt ein Gleichgewicht nöthig: und deshalb geht alles Recht auf ein vorangehendes W ä g e n zurück. Es ist deshalb nicht gut zu heißen — denn es führt irre — wenn man die Gerechtigkeit mit einer Wage in der Hand darstellt: das richtige Gleichniß wäre, die 15 Gerechtigkeit auf einer Wage stehen zu machen dergestalt, daß sie die beiden Schalen im G l e i c h g e w i c h t h ä l t . Man stellt aber die Gerechtigkeit) falsch dar: man legt ihr auch falsche Worte in den Mund. Die Gerechtigkeit spricht nicht: „jedem das Seine", sondern immer nur „wie du mir, so ich dir". Daß 10 zwei Mächte im Verhältniß zu einander dem rücksichtslosen Willen zur Macht einen Zaum anlegen und sich einander nicht nur als g l e i c h lassen, sondern auch als gleich w o l l e n , das ist der Anfang alles „guten Willens" auf Erden. Ein Vertrag enthält nämlich nicht nur eine bloße Affirmation in Bezug 25 auf ein b e s t e h e n d e s Quantum von Madit, sondern zugleich auch den Willen, dieses Quantum auf beiden Seiten als etwas D a u e r n d e s zu affirmiren und somit bis zu einem gewissen Grade selbst aufrecht zu erhalten: — darin steckt, wie gesagt, ein K e i m von allem „guten Willen".
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5 [83] Hier, wo wir vorläufig das Problem des aesthetischen Zustan-
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Nachgelassene Fragmente
des noch nicht vom Künstler aus visiren, sondern von der Perspektive des Zuschauers aus, ist vor allem nöthig zu erklären, daß es n i c h t das Problem ist, „was ist der contemplative Zustand und wie ist er möglich?" Man hat bisher seitens der Phi) los(ophen) den contemplativen Zustand und den aesthetischen arglos v e r w e c h s e l t und in Eins gerechnet: aber ersterer ist nur eine Voraussetzung des zweiten und nicht er selber: nur dessen Bedingung, aber, wie man sofort hinzufügen muß, auch dies nicht in dem Sinne, als ob er etwa dessen eigentliche causa und io Werdegrund wäre. Dies würde vollkommen irrthümlich behauptet werden: das eine „Muß", aus dem heraus man „aesthetisch" wird ist grundverschieden von dem „Muß", dessen Folge der contemplative Zustand ist, obwohl letzterer, wie gesagt, eine Voraussetzung für jenen ist, und erreicht sein muß, damit der 15 aesthetisdie Zustand in die Erscheinung treten kann. Aber ebenso gut kann, nachdem einmal der Boden rein gemacht 5 [84] Möglichst viele i n t e r n a t i o n a l e Mächte — um die W e l t - P e r s p e k t i v e einzuüben. 5 [8j] Jedes Jahr 5 Capitel
20
5 [86] Und wie der Beduine spricht: „auch der Rauch ist zu etwas gut" — denn er verräth dem, der unterwegs ist, die Nähe eines gastfreundlichen Heerdes.
5 [»?] Pour qu'un homme soit au-dessus de Thumanit^, il en coutc trop eher a tous les autres. 2 5 Montesquieu.
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5 [88]
Geschichte der Juden typisch für die Entstehung des „Idealisten". „Gott und Israel** im Bunde. i te Verfeinerung: nur mit dem gerechten Israel bleibt der gerechte Gott im Bunde. 2) aber zuletzt liebt er Israel, auch wenn es leidet, auch noch wenn es um 5 seiner Schuld willen leidet, usw. Das alte Israel und die Deutschen des Tacitus gleich: ebenso die Araber der Beduinenlande und die Corsen. Die Genueser aus der Zeit, wo sie der Präsident de Brosses besuchte, und die heutigen. 5 [89] Gegen den g r o ß e n I r r t h u m , als ob unsere Zeit (Europa) den h ö c h s t e n T y p u s M e n s c h darstelle. Vielmehr: die Renaissance-Menschen waren höher, und die Griechen ebenfalls; ja vielleicht stehen wir z i e m l i c h t i e f : das „Verstehen" ist kein Zeichen höchster Kraft, sondern einer t ü c h t i 15 g e n E r m ü d u n g ; die M o r a l i s i r u n g selbst ist eine „Decadence". 10
5 [90] Ein Wort Napoleons (2. Februar 1809 zu Röderer): „J'aime le pouvoir, moi; mais c'est en a r t i s t e que je l'aime... Je l'aime c o m m e un m u s i c i e n a i m e son 20 v i o 1 o n ; je Paime pour en tirer des sons, des accords, des harmonies." 5 [91] (Revue des deux mondes, 15. Febr. 1887. Ta i n e.) „Plötzlich entfaltet sich die faculte maitresse: der K ü n s t l e r , eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er *S schafft dans Pideal et l'impossible. Man erkennt ihn wieder als das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michel Angelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Contouren
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Nachgelassene Fragmente
seiner Vision, die Intensität, Cohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermensdilidie Größe seiner Conception, so ist er ihnen gleidi et leur egal: son genie a la meme taille et la meme structure; il est un de trois 5 esprits souverains de la renaissance italienne." Nota bene Dante, Michel Angelo, Napoleon 5 [92] Vom höheren Menschen. Oder: die Versuchung Zarathustra's. von Friedrich Nietzsche. 5 [93] Dionysos philosophos.
15
Eine Satura Menippea. Von Friedrich Nietzsche.
20
5 [94] D i e A n t a g o n i s m e n Probleme, deren Lösung(en) zuletzt vom Willen abhängig sind (von der Kraft —) 1. zwischen S t ä r k e der M(enschen) und D a u e r d e r Rasse 2. zwischen der s c h a f f e n d e n Kraft und der „M e n s c h l i c h k e i t " 3.
Sommer 1886—Herbst 1887 5[91—98]
225
5 [95] Nach einem solchen Anrufe aus der innersten Seele keinen Laut von Antwort zu hören, das ist ein f u r c h t b a r e s Erlebniß, an dem der zäheste Mensch zu Grunde gehen kann: es hat mich aus allen Banden mit lebendigen Menschen heraus5 gehoben. 5 [96] G e d a n k e n über die G r i e c h e n . Mit einem Vorwort an Jakob Burckhardt. 10
Von
Friedrich Nietzsche. 5 [97] 1. Der europäische Nihilismus. 2. Die bisherige Moral als lebensfeindlich. 3. Die bisherige Moral „unmoralisch" selbst 5 [98] 15
1.
Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im Wesentlichen auf das 20 Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der That consumirt eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienste, daß eine u m g e k e h r t e Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren zarte2 5 ren mittleren Existenzen haben nöthig Partei zu machen g e g e n
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Nachgelassene Fragmente
jene Glorie von Leben und Kraft und dazu müssen sie vor sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurtheilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Tendenz ist daher der Moral zu eigen, insofern 5 sie die stärksten Typen des Lebens überwältigen will. 5 [99] NB 1) Versuch, die Ä s t h e t i k durch die Elimination des „Ich" der u n e g o i s t i s c h e n E t h i k anzunähern (als deren Vorbereitung) 10 2) Versuch sie der E r k e n n t n i ß anzunähern (reines Subjekt, „reiner Spiegel des Objekts") — dagegen: das Objekt, in der aesthetischen Betrachtung, ist durch und durch g e f ä l s c h t „reines willenloses schmerzloses zeitloses Subjekt der Er15 kenntniß" — durchaus n i c h t „Erkenntniß"! — der Wille, der alles das u n t e r s t r e i c h t (und das Übrige eliminirt), was ihm an einem Objekte dazu dient, m i t s i c h s e l b s t z u f r i e d e n u n d h a r m o n i s c h zu s e i n 20 die E r d i c h t u n g u n d Z u r e c h t m a c h u n g e i n e r W e l t , bei der wir selbst in unseren innersten Bedürfnissen uns b e j a h e n Farben Töne Gestalten Bewegungen — u n b e w u ß t e s G e d ä c h t n i ß thätig, in dem nützliche Eigenschaften dieser 25 Qualitäten (oder Associationen) erhalten bleiben eine im höchsten Grad interessirte und rücksichtslos interessirte Z u r e c h t m a c h u n g der Dinge eine wesentliche Fälschung, eine A u s s c h l i e ß u n g gerade des bloß feststellenden erkennenden o b j e k t i v e n 3° Sinnes das Vereinfachen, Hervorheben des Typischen — Genuß
Sommer 1886—Herbst 1887 5[98—104]
227
an der Ü b e r w ä l t i g u n g durch H i n e i n l e g e n e i n e s Sinnes das W e g d e n k e n aller schädigenden und feindseligen Faktoren im Angeschauten (z. B. einer Landschaft, eines Ge5 witters) der aesthetische Zuschauer g e s t a t t e t ein Ü b e r w ä l t i g e n , und thut das Gegentheil von dem, was er sonst gegen das von außen Kommende thut — er hängt sein Mißtrauen aus, keine Defensive — ein Ausnahmezustand: das z u io t r a u e n d e e h r f u r c h t s v o l l e l i e b e v o l l e E m p f a n gen der Wille ? Interesse für die U r s a c h e n und das T y p i s c h e (Dominirende)
15
5 [ioo] Zur K r i t i k der I d e a l e : diese so beginnen, daß man das Wort „Ideal" abschafft: Kritik der Wünschbarkeiten. 5 [101]
einem armen Anarchisten-Schreiteufel ein Ohr schenken, der indem er die ganze Geschichte mit dem Gifte seines Hasses bespritzt, uns überreden möchte, damit der Geschichtsschreiber zu 10 sein. 5 [102]
Ein Leben unter Hornvieh! 5 [103] Was muß man erlebt haben, um mit dem 16 Jahr die Geburt der Tragödie schreiben zu können! 5 [104] ma non si deve fischiar in presenza d'un professore: ci6 25 pecca contro la buona creanza
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Nachgelassene Fragmente
5 [105]
Eine Handlung g u t , zu der das Gewissen Ja gesagt hat! als ob ein Werk schön wäre, bloß weil es dem Künstler gründlich gefällt! Der „Werth" abhängig von begleitenden L u s t g e f ü h l e n des Thäters! (— wer rechnet da Eitelkeit, Ruhen im 5 Herkömmlichen usw. auseinander!) Andrerseits sind alle e n t s c h e i d e n d e n und werthvollen Handlungen o h n e jene Sicherheit gethan worden . . . Man muß zusehn, nach o b j e k t i v e n Werthen zu urtheilen. Ist „der Nutzen" der Gemeinschaft ein solcher? Ja: nur wird 10 er gewöhnlich wieder mit den „Lustgefühlen" der Gemeinschaft v e r w e c h s e l t . Eine „schlimme Handlung" die für die Gemeinschaft als Stimulans wirkt und sehr unangenehme Gefühle zunächst erregt, wäre in sofern eine w e r t h v o l l e Handlung. 5[!06]
Gegen die Heerden-Moral. Eine Kriegserklärung.
*5
20
Kritik der „Gerechtigkeit" und „Gleichheit vor dem Gesetz": was eigentlich damit w e g g e s c h a f f t werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß, — aber ein Irrthum ist es, daß dergestalt „das Glücka g e m e h r t wird: die Corsen genießen mehr Glück als die Continentalen
G r u n d f e h l e r : die Ziele in die Heerde und n i c h t in einzelne Individuen zu legen! Die Heerde ist Mittel, nicht mehr! Aber jetzt versucht man, d i e H e e r d e a l s I n d i v i d u u m zu verstehen und ihr einen höheren Rang als dem Einzelnen zuzuschreiben, — tiefstes Mißverständnißü! Insgleichen das, was 25 heerdenhaft macht, die Mitgefühle, als die w e r t h v o l l e r e Seite unserer Natur zu charakterisiren!
Sommer 1886—Herbst 1887 5[105—110]
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5 [109]
Diese Pariser Dichter und romanciers von heute, feine neugierige Hunde, welche mit aufgeregtem Auge „dem Weibe" bis in seine übelriechendsten Heimlichkeiten nachgehen 5 [110]
Gury, Compendium theologiae Moralis Ratisb(onae) 1862 Stein, Studien über die Hesychasten 1874 Braid, Hypnotism, deutsch von Preyer 1882 Cremer, Culturgeschichte des Orients „ Geschichte der herrschenden Ideen des Islams 1868 „ Geschichtliche Streifzüge auf dem Gebiet des Islams 1873
[6 = Mp XIV 1, S. 416-420. Mp XVII 3 a. Mp X V 2d. P II 12b, S. 37. Sommer 1886 - Frühjahr 1887]
6[i] Wenn man eine tapfere und wohlgerathene Seele im Leibe hat, kann man sich schon diesen artigen Luxus von Immoralität erlauben. N a c h s p i e l und A b g e s a n g 6 [2] 5
Jenseits
v o n Gu t u n d S c h 1 ec h t ? Eine philosophische Streitschrift.
(Zur Ergänzung und Verdeutlichung des letztveröffentlichten Buches „Jenseits v. Gut und Böse") °
Von Friedrich Nietzsche.
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Sieben Vorreden Mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei.
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Nachgelassene Fragmente „Ich wohne in meinem eignen Haus, „Hab Niemandem nie nichts nachgemacht, „Und — lachte noch jeden Meister aus, „Der nicht sich selber ausgelacht"
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Von Friedrich Nietzsche. Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 6 [4]
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V o r r e d e n und N a c h r e d e n . Meine Schriften reden nur von meinen eignen Erlebnissen — glücklicherweise habe ich Viel erlebt —: ich bin darin, mit Leib und Seele — wozu es verhehlen?, ego ipsissimus, und wenn es hoch kommt, ego ipsissim u m. Aber es bedurfte bei mir immer erst einiger Jahre Distanz, um jene gebieterische Lust und Kraft zu verspüren, welche jedes solches Erlebniß, jeden solchen ü b e r l e b t e n Zustand darstellen heißt. Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings sehr wesentlichen Ausnahme z u r ü c k d a t i r t . Manche sogar wie die ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen, sogar hinter die Entstehungsund Erlebnißzeit eines früher herausgegebenen Buches, der „Geburt der Tragödie": wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben wird. Jener zornige Ausbruch gegen dieDeutschthümelei, Behäbigkeit und Selbstbewunderung des alten David S t r a u ß machte Stimmungen Luft, mit denen ich als Student inmitten deutscher Bildung und Bildungs-Philisterei gesessen hatte; und was ich gegen die „historische Krankheit" gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr g e n e s e n lernte und welcher ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf „Historie" zu verzichten. (Quod demonstratum est —). Als ich meine Dankbarkeit gegen meinen ersten und einzigen Er-
Sommer 1886—Frühjahr 1887 6[3—4]
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zieher, gegen Arthur Schopenhauer ausdrückte — ich würde sie jetzt noch viel stärker ausdrücken — war ich für meine eigne Person mitten in der moralistischen Scepsis und Auflösung drin und glaubte bereits an „gar nichts mehr", wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück „über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", — aber schon in der „Geburt der Tragödie" und ihrer Lehre vom D i o n y s i s c h e n erscheint der Schopenhauerische Pessimismus als überwunden. Meine Festrede zu Ehren Richard Wagners, bei Gelegenheit seiner Bayreuther Siegesfeier — Bayreuth bedeutet den größten Sieg, den je ein Künstler errungen hat — war zugleich ein Lossage- und Entfremdungs-Akt. Wagner selbst täuschte sich darüber nicht: so lange man liebt, malt man keine solchen „Porträts" und „betrachtet" überhaupt nicht — „jeder, der sich genau prüft, weiß, daß selbst zum Betrachten eine geheimnißvolle G e g n e r s c h a f t , die des E n t g e g e n s c h a u e n s gehört", heißt es p. 46 der genannten Schrift. Die Gelassenheit, um über lange Jahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens reden zu k ö n n e n , kam mir erst mit dem Buche „Menschliches, Allzumenschliches", auf ihm liegt die heitere und neugierige Kälte des Psychologen, der eine Menge schmerzlicher Dinge, lauter facta, richtiger fata, seiner Vergangenheit für sich feststellt und mit der Nadel gleichsam fest s t i c h t : — bei einer solchen Arbeit hat man wie bekannt immer etwas Blut an den Fingern . .. Um es schließlich zu sagen, worauf ich mit den eben gegebenen Winken die Leser dieses Buches vorzubereiten für nöthig finde: es steht auch mit diesem Buche, dessen letzter Theil hiermit ans Licht gegeben wird, nicht anders als es bisher mit meinen Schriften stand, — es ist ein Stück meines H i n t e r - m i r . Was ihm zu Grunde liegt, Gedanken, erste Niederschriften und Hinwürfe aller Art, das gehört meiner Vergangenheit an: nämlich jener räthsel reichen Zeit, in der „ A l s o s p r a c h Z a r a t h u s t r a " entstand: es dürfte schon um dieser Gleichzeitigkeit willen nütz-
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Nachgelassene Fragmente
liehe Fingerzeige zum Verständnisse des eben genannten s c h w e r v e r s t ä n d l i c h e n Werkes abgeben. Namentlich auch zum Verständnisse seiner Entstehung: mit der es etwas auf sich hat. Damals dienten mir solcherlei Gedanken sei es zur 5 Erholung, sei es als Selbstverhör und Selbstrechtfertigung inmitten eines unbegrenzt gewagten und verantwortlichen Unterfangens: möge man sich des aus ihnen erwachsenen Buches zu einem ähnlichen Zwecke bedienen! Oder auch als eines vielverschlungenen Fußwegs, der immer wieder unvermerkt zu jenem io gefährlichen und vulkanischen Boden hinlockt, aus dem das eben genannte Zarathustra-Evangelium entsprungen. So gewiß auch dies „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" keinen Commentar zu den Reden Zarathustra's abgiebt und abgeben soll, so vielleicht doch eine Art vorläufiges Glossarium, in dem die IJ wichtigsten Begriffs- und Werth-Neuerungen jenes Buchs — eines Ereignisses ohne Vorbild, Beispiel, Gleichniß in aller Litteratur — irgendwo einmal vorkommen und mit Namen genannt sind. Gesetzt endlich, meine Herrn Leser, daß gerade diese Namen e u c h nicht gefallen, e u c h nicht verführen, gesetzt 20 sogar daß vestigia t e r r e n t . . . , wer sagt e u c h , daß ich's anders — will? Für meinen Sohn Zarathustra verlange ich Ehrfurcht; und es soll nur den Wenigsten e r l a u b t sein, ihm zuzuhören. Über mich dagegen seinen „Vater" — darf man lachen, wie ich selbst es thue: das gehört Beides sogar zu meinem Glücke. *5 Oder, um einer Redensart (mich) zu bedienen, (die) über meiner Hausthür steht, und alles Gesagte noch einmal kurz zu sagen:
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ich wohne in meinem eignen Haus, hab Niemandem nie nichts nachgemacht, und lachte noch jeden Meister aus, der nicht sich selber — ausgelacht. •fr
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6 [5]
Poetes et Melodes. £tude sur les origines du rhythme tonique dans rhymnographie de Peglise grecque. Par le P. Edmond B ou v y XVI, 384 p. 5 Nimes, Maison de l'Assomption 1886. W. M e y e r Anfang und Ursprung der lateinischen und griechischen rhythmischen Dichtung. Abhandlung der königlichen bairischen Akademie der Wissenschaften 1884.
10
Barbey d'Aurevilly O e u v r e s et h o m m e s . Sensations d'histoire. 6 [6]
15
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*5
Grundsätzliches. An die Logiker. Zur Lehre vom Machtgefühl. Gegen die Idealisten. Gegen die Wirklichkeits-Gläubigen. Aufklärung über das Genie Das Fragwürdige an den Tugenden. Zu Ehren des Bösen. Das Problem des Künstlers. Politika. Weib und Liebe. Völker und „Volk". Musik und Musikanten Zur Kritik der Religionen. Die geistigen Menschen Einsamkeit.
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Nachgelassene Fragmente
6 [7] Zur Psychologie der Philosophen. Wie es Einem zu Muthe ist bei langem Verweilen in abstractis; die abkühlende Wirkung, die Plato empfand; die hypnotisirende, welche vielleicht die Inder empfanden und suchten. Ob nicht das Verlangen ins Om 5 im Grunde das Verlangen des Fakirs ist, durch alle möglichen Mittel gefühllos zu werden; ebenso bei der Stoa? — Nebeneinander sinnliche derbste Lustbarkeit und speculative Träumerei. 6 [8] Wenn wir unsere Sinne um das Zehnfache verschärften oder abstumpften, würden wir zu Grunde gehn. Die Art des Sinnes 10 steht im Verhältniß zu einem Mittler von Erhaltungs-Möglichkeit. Ebenso was wir als groß, als klein, als nah, als fern empfinden. Unsre „Formen" — daran ist nichts, was andere Wesen wahrnehmen könnten als der Mensch: — unsre Existenz-Bedingungen schreiben die allgemeinsten Gesetze vor, innerhalb derer 15 wir Formen, Gestalten, Gesetze sehn, sehn d ü r f e n . . . 6 [9] Wenn kein Ziel in der ganzen Geschichte der menschlichen Geschicke liegt, so müssen wir eins hineinstecken: gesetzt nämlich, daß ein Ziel uns n ö t h i g ist, und uns andrerseits die Illusion eines immanenten Zieles und Zwecks durchsichtig ge20 worden ist. Und wir haben Ziele deshalb nöthig, weil wir einen Willen nöthig haben — der unser Rückgrat ist. „Wille" als Schadenersatz für „Glaube", d. h. für die Vorstellung, daß es einen g ö t t l i c h e n Willen giebt, Einen, der etwas mit uns vorhat... 6 [10] 25
Befreien wir uns, wenn wir nicht zu Schanden den Namen der Philosophie machen wollen, von einigen Abgeschmacktheiten. Z. B. vom Begriff „Weltprozeß": davon wissen wir
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nichts. Schon der Begriff „Welt" ist ein Grenzbegriff: mit diesem Wort fassen wir ein Reich, wohin wir alle unsere notwendigen Unwissenheiten schicken. 6
[II]
Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, 5 arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: — es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten, bei „Substanz" „Subjekt" „Objekt" „Sein" „Werden". — Die Mächtigen sind es, welche die Namen io der Dinge zum Gesetz gemacht haben: und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben. 6[l2]
Je gefährlicher der Heerde eine Eigenschaft erscheint, uin so gründlicher muß sie in Acht gethan werden. Dies ist ein Grund15 satz innerhalb der Geschichte der Verleumdung. Vielleicht, daß die ganz furchtbaren Mächte heute noch in Fesseln gelassen werden müssen. (Schluß von M. Allz. 2.) 6 [13] Wir werden am letzten den ältesten Bestand von Metaphysik los werden, gesetzt daß wir ihn loswerden k ö n n e n 20 — jenen Bestand, welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaaßen unentbehrlich gemacht hat, daß es scheinen möchte, wir würden aufhören, denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten. Gerade die Philosophen wissen sich am schwersten vom *5 Glauben frei zu machen, daß die Grundbegriffe und Kategorien der Vernunft ohne Weiteres schon ins Reich der metaphysischen Gewißheiten gehören: von Alters her glauben sie eben an die Vernunft als an ein Stück metaphysischer Welt selbst, — in
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Nachgelassene Fragmente
ihnen bricht dieser älteste Glaube wie ein übermächtiger Rückschlag immer wieder aus.
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*5
6 [14] Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr auf einander reduzirbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort „Erkenntniß" Sinn hat, bezieht sidi auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität —; während umgekehrt alle unsere Werthempfindungen (d. h. eben unsere Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, das heißt, an unseren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen „Wahrheiten**, die schlechterdings nicht „erkannt" werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsere eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsere menschlichen Auslegungen und Werthe allgemeine und vielleicht constitutive Werthe sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes, der immer noch in der Religion seinen festesten Sitz hat. Muß ich umgekehrt noch hinzufügen, daß Quantitäten „an sich" in der Erfahrung nicht vorkommen, daß unsere Welt der Erfahrung nur eine qualitative Welt ist, daß folglich Logik und angewandte Logik (wie Mathematik) zu den Kunstgriffen der ordnenden, überwältigenden, vereinfachenden, abkürzenden Macht gehört, die Leben heißt, also etwas Praktisches und Nützliches, nämlich Leben-Erhaltendes, aber ebendarum auch nicht im Entferntesten etwas „Wahres" ?
6 [15] Den Sinn nicht in den Dingen suchen: sondern ihn h i n 30 e i n s t e c k e n !
Sommer 1886—Frühjahr 1887 6[13—22]
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6[x6]
Wozu noch Ideen, wenn man Ideale hat! Schöne Gefühle genügen. 6 [17] Wünschbarkeit sage ich, nicht Ideal. 6 [18] Man ißt eine Speise nicht mehr aus Moral; so wird man ein5 mal auch nicht mehr aus Moral „Gutes thuna. 6 [19] Phaenomeno-Manie. 6 [20] Geister ohne Nase oder mit Stockschnupfen, die ganze Spezies Geist, die ich Thierochs nenne 6 [2I ]
. Ein Ideal zu haben entbindet beinahe davon Ideen zu haben. 10 Es genügen schöne Augen, schöne Gefühle an einem rechten Platze, und, vor allem, hier und da eine unverzeihlich thörichte Handlung Wozu noch Ideen, wenn man Ideale hat! Da genügen schon schöne Augen, schwellende Busen und hier und da eine thörichte 15 Handlung ersten Ranges, die gegen jede Vernunft gefeit ist. 6 [22]
U n t e r K ü n s t l e r n d e r Z u k u n f t . — Ich sehe hier einen Musiker, der die Sprache Rossini's und Mozart's wie seine Muttersprache redet, jene zärtliche, tolle, bald zu weiche, bald zu lärmende Volkssprache der Musik mit ihrer schelmi20 sehen Indulgenz gegen Alles, auch gegen das „Gemeine", — welcher sich aber dabei ein Lächeln entschlüpfen läßt, das Lächeln
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2°
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Nachgelassene Fragmente
des Verwöhnten, Raffinirten, Spätgeborenen, der sich zugleich aus Herzensgrunde beständig noch über die gute alte Zeit und ihre sehr gute, sehr alte, altmodische Musik l u s t i g m a c h t : aber ein Lächeln voll Liebe, voll Rührung selbst . . . Wie? ist das nicht die beste Stellung, die wir heute zum Vergangnen überhaupt haben k ö n n e n — auf diese Weise dankbar zurückblicken und es selbst „den Alten" nachmachen, mit viel Lust und Liebe für die ganze großväterliche Ehrbarkeit und Unehrbarkeit, aus der wir herstammen, und ebenso mit jenem sublimen Körnchen eingemischter Verachtung, ohne welches alle Liebe zu schnell verdirbt und modrig wird, „dumm" wird . .. Vielleidit dürfte man sich etwas Ähnliches auch für die Welt des W o r t s versprechen und ausdenken, nämlich daß einmal ein verwegener Dichter-Philosoph käme, raffinirt und „spätgeboren" bis zum Exceß, aber befähigt, die Sprache der Volks-Moralisten und heiligen Männer von Ehedem zu reden, und dies so unbefangen, so ursprünglich, so begeistert, so lustig-geradewegs, als wenn er selbst einer der „Primitiven" wäre; dem aber, der Ohren noch hinter seinen Ohren hat, einen Genuß ohne Gleichen bietend, nämlich zu hören und zu wissen, was da eigentlich geschieht, — wie hier die gottloseste und unheiligste Form des modernen Gedankens beständig in die Gefühlssprache der Unschuld und Vorwelt zurückübersetzt wird, und in diesem Wissen den ganzen heimlichen Triumph des übermüthigen Reiters mitzukosten, der diese Schwierigkeit, diesen Verhau vor sich aufthürmte und über die Unmöglichkeit selbst hinweggesetzt ist. —
6 [23] Es macht mir wenig aus, ob sich heute Einer mit der Bescheidenheit der philosophischen Skepsis oder mit religiöser Ergebung sagt: „das Wesen der Dinge ist mir unbekannt" oder 3° ein Andrer, Muthigerer, der noch nicht genug Kritik und Mißtrauen gelernt hat: „das Wesen der Dinge ist mir zu einem guten Theile unbekannt". Beiden gegenüber halte ich aufrecht, daß
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sie unter allen Umständen noch viel zu viel zu wissen vorgeben, zu wissen sich einbilden, nämlich als ob die Unterscheidung, welche sie beide voraussetzen, zu Recht bestehe, die Unterscheidung von einem „Wesen der Dinge" und einer ErscheinungsWelt. Um eine solche Unterscheidung machen zu können, müßte man sich unsern Intellekt mit einem widerspruchsvollen Charakter behaftet denken: einmal, eingerichtet auf das perspektivische Sehen, wie dies noth thut, damit gerade Wesen unsrer Art sich im Dasein erhalten können, andrerseits zugleich mit einem Vermögen, eben dieses perspektivische Sehen als perspektivisches, die Erscheinung als Erscheinung zu begreifen. Das will sagen: ausgestattet mit einem Glauben an die „Realität", wie als ob sie die einzige wäre, und wiederum auch mit der Einsicht über diesen Glauben, daß er nämlich nur eine perspektivische Beschränktheit sei in Hinsicht auf eine wahre Realität. Ein Glaube aber, mit dieser Einsicht angeschaut, ist nicht mehr Glaube, ist als Glaube aufgelöst. Kurz, wir dürfen uns unsern Intellekt nicht dergestalt widerspruchsvoll denken, daß er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben als Glauben. Schaffen wir das „Ding an sich" ab und, mit ihm, einen der unklarsten Begriffe, den der „Erscheinung"! Dieser ganze Gegensatz ist, wie jener ältere von „Materie und Geist", als unbrauchbar bewiesen 6 [24]
Dies Schicksal liegt nunmehr über Europa, daß gerade seine 25 stärksten Söhne spät und selten zu ihrem Frühling kommen —, daß sie zumeist schon jung verekelt, verwintert, verdüstert zu Grunde gehn, gerade weil sie den Becher der Enttäuschung — und das ist heute der Becher der E r k e n n t n i ß — mit der ganzen Leidenschaft ihrer Stärke getrunken, ausgetrunken 3° haben: — und sie würden nicht die Stärksten sein, wenn sie nicht auch die Enttäuschtesten gewesen wären! Denn das ist die Probe ihrer Kraft: erst aus der ganzen Krankheit der Zeit
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Nachgelassene Fragmente
heraus müssen sie zu i h r e r Gesundheit kommen. Der s p ä t e Frühling ist ihr Abzeichen; fügen wir hinzu: auch die späte Thorheit, die späte Narrheit, die späte Übermüthigkeit! Unsere J u g e n d kommt, wenn sie nicht mehr vermuthet wird, wir 5 verschieben die Jahreszeiten des Lebens. Mag uns darin begreifen, wer sich gleich uns über sich selbst am meisten verwundert hat. Denn so gefährlich steht es heute: alles, was wir geliebt haben, als wir jung waren, hat uns betrogen; unsere letzte Liebe — die, welche uns dies gestehen macht — unsere Liebe zur io Wahrheit — sehen wir zu, daß uns nicht auch diese Liebe noch betrügt! — 6 [25] Kritik des bisherigen Pessimismus Abwehr der eudämonologischen Gesichtspunkte als letzte Reduktion auf die Frage: welchen S i n n hat es? Reduktion 15 der Verdüsterung. — U n s e r Pessimismus: die Welt ist nicht d a s werth, was wir glaubten, — unser Glaube selber hat unsre Triebe nach Erkenntniß so gesteigert, daß wir dies heute sagen m ü s s e n . Zunächst gilt sie damit als weniger werth: sie wird so z u n ä c h s t e m p f u n d e n — nur in diesem Sinne sind 20 wir Pessimisten, nämlich mit dem Willen, uns rückhaltlos diese Umwerrhung einzugestehn und uns nichts nach alter Weise vorzuleiern, vorzulügen . . . Gerade damit finden wir das Pathos, welches uns vielleicht treibt, n e u e W e r t he zu sudien. In summa: die Welt könnte viel mehr werth sein, als wir glaubten, 25 — wir müssen hinter die N a i v e t ä t u n s r e r I d e a l e kommen, und daß wir vielleicht im Bewußtsein, ihr die höchste Interpretation zu geben, unserem menschlichen Dasein nicht einmal einen mäßig-billigen Werth gegeben haben. was ist v e r g ö t t e r t worden? die Werthinstinkte 30 innerhalb der G e m e i n d e (das, was deren Fortdauer ermöglichte); was ist v e r l e u m d e t worden? das, was die höheren
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Menschen abtrennte von den niederen, die Klüfte-schaffenden Triebe. Kritik des Causalismus. Er ist eine Auslegung n o c h n i c h t e i n m a l , nur 5 eine Formulirung, Beschreibung; „das Nacheinander" e r w a r t e t immer noch die Auslegung. Kritik des Begriffs „Erkenntniß". Gegen „Erscheinung". io Unsere große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen. Unsere „neue Welt": wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unserer W e r t h if g e f ü h l e s i n d , — also „Sinn" in die Geschichte legen können ... Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Consequenz — ihr wißt, wie sie lautet: — daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten giebt, es der Schein ist, der angebe betet werden muß, daß die Lüge — und n i c h t die Wahrheit — göttlich ist...? 6
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Zur Geschichte des europäischen Nihilismus. D i e Lehre v o n der ewigen Wiederkunft. V o n der Rangordnung. 25
Kritik der höchsten Werthgefühle Ihr Ursprung 1) aus der Sphäre der Kranken und Verunglückten.
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2) aus der Heerde und deren Instinkten — heitere und düstere Religionen. Ansätze e n t g e g e n g e s e t z t e r Werthe: — weshalb unterlegen? Kritik des „guten Menschen" (Kritik G o t t e s ) . Kritik der bisherigen Affekt-Beurtheilung (der Rangordnung). Kritik der bisherigen Philosophien (als Consequenzen theils krankhafter, theils heerdenhafter Wünschbarkeiten). Der Wille zur Wahrheit Furcht, Faulheit, Sinnlichkeit, Herrschsucht, Habsucht — und deren Metamorphosen. Krankheit, Alter, Müdigkeit —
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M o r p h o l o g i e d e r A f f e c t e : Reduction derselben auf den W i l l e n z u r M a c h t . D i e o r g a n i s c h e n F u n k t i o n e n , betrachtet als Ausgestaltung des Willens zur Macht. T h e o r i e der H e r r s c h a f t s g e b i l d e : Entwicklung der Organismen. D i e H e e r d e : eine Ubergangsform, ein Mittel zur Erhaltung des v i e l f a c h e r e n s t ä r k e r e n Typus. „ V e r v o l l k o m m n u n g " : Reduction auf das M ä c h t i g e r - w e r d e n des T y p u s . Bedingungen: Sklaverei, Stände. Im menschlichen Organismus erscheint die höchste Wesens-Gattung als v e r geistigter Affekt, befehlend, vorherrschend. Was ist „Geistigkeit" ? Kosmologische Perspective.
— in wiefern ist auch der Rückgang und Auseinandergang ein „Wille zur Macht"? 30
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Die h e r r s c h a f t l i c h e n Typen und ihre Psychologie der Mann (Folge eines Siegs) der Gesetzgeber der Eroberer der Priester der „Hirt" im Gegensatz zum „Herrn" (ersterer M i t t e l zur Erhaltung der Heerde, letzterer Z w e c k , weshalb die Heerde da ist. die noblesse was ist S c h ö n h e i t ? Ausdruck des S i e g r e i c h e n und H e r r g e w o r d e n e n .
Entwurf des Plans zu: der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. — Sil s M a r i a am letzten Sonntag des Monat August 1888 Wir Hyperboreer. — G r u n d s t e i n l e g u n g d e s P r o b l e m s . Erstes Buch: „ w a s i s t W a h r h e i t ? " E r s t e s C a p i t e l . Psychologie des Irrthums. Z w e i t e s C a p i t e l , Werth von Wahrheit und Irrthum. D r i t t e s C a p i t e l . Der Wille zur Wahrheit (erst gerechtfertigt im JaWerth des Lebens Zweites Buch: H e r k u n f t d e r W e r t h e . E r s t e s C a p i t e l . Die Metaphysiker. Z w e i t e s C a p i t e l . Die homines religiosi. D r i t t e s C a p i t e l . Die Guten und die Verbesserer. Drittes Buch: K a m p f d e r W e r t h e E r s t e s C a p i t e l . Gedanken über das Christenthum. Z w e i t e s C a p i t e l . Zur Physiologie der Kunst. D r i t t e s C a p i t e l . Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.
Psychologen-Kurzweil. Viertes Buch: D e r g r o s s e Erstes
Capitel.
Mittag.
Das P r i n z i p des L e b e n s nung". Z w e i t e s C a p i t e l . Die zwei Wege. D r i t t e s Capitel. Die ewige Wiederkunft.
„Rangord-
Vgl. Bd. 13, 18[17]: letzter Plan zum „Willen zur Macht". Nach den Kapitelüberschriften dieses Planes hat Nietzsche einen Teil der Fragmente der Gruppen 7 und 8 rubriziert.
[7 = M p X V I I 3 b. Ende 1886 - Frühjahr 1887] (Erstes B u c h : „ w a s i s t W a h r h e i t ? " ) ( E r s t e s C a p i t e l . Psychologie des Irrthums.) 7[i] P s y c h o l o g i e des I r r t h u m s Wir haben von Alters her den Werth einer Handlung, eines Charakters, eines Daseins in die Absicht gelegt, in den Zweck, um dessentwillen gethan, gehandelt, gelebt worden ist: diese ur5 alte Idiosynkrasie des Gesdimacks nimmt endlich eine gefährliche Wendung, — gesetzt nämlich, daß die Absicht- und Zwecklosigkeit des Geschehens immer mehr in den Vordergrund des Bewußtseins tritt. Damit scheint eine allgemeine Entwerthung sich vorzubereiten: „alles hat keinen Sinna — diese melandioio lische Sentenz heißt „aller Sinn liegt in der Absicht, und gesetzt daß die Absicht ganz und gar fehlt, so fehlt auch ganz und gar der Sinn". Man war, jener Schätzung gemäß, genöthigt gewesen, den Werth des Lebens in ein „Leben nach dem Tode a zu verlegen; oder in die fortschreitende Entwicklung der Ideen 15 oder der Menschheit oder des Volkes oder über den Menschen weg; aber damit war man in den Zweck-progressus in infinitum gekommen, man hatte endlich nöthig, sich einen Platz in dem „Welt-Prozeß" auszumachen (mit der dysdämonistischen Perspektive vielleicht, daß es der Prozeß ins Nichts sei). *o Dem gegenüber bedarf der „Zweck" einer strengeren Kritik: man muß einsehen, daß eine Handlung n i e m a l s v e r u r s a c h t w i r d d u r c h e i n e n Z w e c k ; daß Zweck und
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Mittel Auslegungen sind, wobei gewisse Punkte eines Geschehens unterstrichen und herausgewählt werden, auf Unkosten anderer und zwar der meisten; daß jedes Mal, wenn etwas auf einen Zweck hin gethan wird, etwas Grundverschiedenes und Anderes geschieht; daß in Bezug auf jede Zweck-Handlung es so steht, wie mit der angeblichen Zweckmäßigkeit der Hitze, welche die Sonne ausstrahlt: die übergroße Masse ist verschwendet; ein kaum in Rechnung kommender Theil hat „Zweck", hat „Sinn" — ; daß ein „Zweck" mit seinen „Mitteln" eine unbeschreiblich unbestimmte Zeichnung ist, welche als Vorschrift, als „Wille" zwar kommandiren kann, aber ein System von Gehorchenden und Eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen (d. h. wir imaginiren ein System von zweck- und mittelsetzenden k l ü g e r e n aber engeren Intellekten, um unserem einzig bekannten „Zwecke" die Rolle der „Ursache einer Handlung" zumessen zu können: wozu wir eigentlich kein Recht haben (es hieße, um ein Problem zu lösen, die Lösung des Problems in eine unserer Beobachtung unzugängliche Welt hineinstellen — ) Zuletzt: warum könnte nicht „ein Zweck" eine B e g l e i t e r s c h e i n u n g sein, in der Reihe von Veränderungen wirkender Kräfte, welche die zweckmäßige Handlung hervorrufen — ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientirung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, n i c h t als dessen Ursache? — Aber damit haben wir den W i l l e n s e l b s t kritisirt: ist es nicht eine Illusion, das, was im Bewußtsein als Willens-Akt auftaucht, als Ursache zu nehmen? Sind nicht alle BewußtseinsErscheinungen nur End-Erscheinungen, letzte Glieder einer Kette, aber scheinbar in ihrem Hintereinander innerhalb Einer Bewußtseins-Fläche sich bedingend? Dies könnte eine Illusion sein. —
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Widerspruch gegen die angeblichen „Thatsachen des Bewußtseins" . Die Beobachtung ist tausendfach schwieriger, der Irrthum vielleicht Bedingung der Beobachtung überhaupt. Ich habe die Absicht, meinen Arm auszustrecken; ange5 nommen, ich weiß so wenig von Physiologie des menschlichen Leibes und von den mechanischen Gesetzen seiner Bewegung als ein Mann aus dem Volke, was giebt es eigentlich Vageres, Blasseres, Ungewisseres als diese Absicht im Vergleich zu dem was darauf geschieht? Und gesetzt, ich sei der scharfsinnigste io Mechaniker und speziell über die Formeln unterrichtet, die hierbei angewendet werden, so würde ich um keinen Deut besser oder schlechter meinen Arm ausstrecken. Unser „Wissen" und unser „Thun" in diesem Falle liegen kalt auseinander: als wie in zwei verschiedenen Reichen. — Andrerseits: Napoleon führt M den Plan eines Feldzugs durch — was heißt das? Hier ist alles g e w u ß t , was zur Durchführung des Plans gehört, weil Alles befohlen werden muß: aber auch hier sind Untergebene vorausgesetzt, welche das Allgemeine auslegen, anpassen an die Noth des Augenblicks, Maaß der Kraft usw. -o
Die Welt ist n i c h t so und so: und die lebenden Wesen sehen sie, wie sie ihnen erscheint. Sondern: die Welt besteht aus solchen lebenden Wesen, und für jedes derselben giebt es einen kleinen Winkel, von dem aus es mißt, gewahr wird, sieht und nicht sieht. Das „Wesen" f e h l t : Das „Werdende", „Phäno-5 menale" ist die einzige Art Sein. | ? „Es verändert sich", keine Veränderung ohne Grund — setzt immer schon ein Etwas voraus, das hinter der Veränderung steht und bleibt. „Ursache" und „Wirkung": psychologisch nachgerechnet ist « es der Glaube, der sich im V e r b u m ausdrückt, Activum und Passivum, Thun und Leiden. Das heißt: die Trennung des Geschehens in ein Thun und Leiden, die Supposition eines Thuen-
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den ist vorausgegangen. Der Glaube an den T h ä t e r steckt dahinter: w i e als o b , w e n n a l l e s T h u n v o m » T h ä t e r " a b g e r e c h n e t w ü r d e , er s e l b s t n o c h ü b r i g b l i e b e . Hier soufflirt immer die „Ich-Vorstellung*: Alles Gesdiehen ist als T h u n ausgelegt worden: mit der Mythologie, ein dem „Ich" entsprechendes Wesen
( Z w e i t e s Capitel. Werth von Wahrheit und Irrthum.)
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W e r t h von W a h r h e i t und I r r t h u m Der Ursprung unsrer Werthschätzungen: aus unsren Bedürfnissen Ob nicht der Ursprung unsrer anscheinenden „Erkenntnisse" auch nur in ä l t e r e n W e r t h s c h ä t z u n g e n zu suchen ist, welche so fest einverleibt sind, daß sie zu unsrem Grundbestand gehören? So daß eigentlich nur j ü n g e r e Bedürfnisse mit dem R e s u l t a t der ä l t e s t e n Bedürfn i s s e handgemein werden? Die Welt, so und so gesehen, empfunden, ausgelegt, daß organisches Leben bei dieser Perspektive von Auslegung sich erhält. Der Mensch ist n i c h t nur ein Individuum, sondern das Fortlebende Gesammt-Organische in Einer bestimmten Linie. Daß er besteht, damit ist bewiesen, daß eine Gattung von Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt hat. „Anpassung" Unser „Ungenügen", unser „Ideal" usw. ist vielleicht die C o n s e q u e n z dieses einverleibten Stücks Interpretation, unseres perspektivischen Gesichtspunkts; vielleicht geht endlich das organische Leben daran zu Grunde — so wie die Arbeitsteilung von Organismen zugleich eine Verkümmerung und Schwächung der Theile, endlich den Tod für das Ganze mit sich
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bringt. Es muß der U n t e r g a n g des organischen Lebens auf seiner höchsten Form ebenso angelegt sein wie der Untergang des Einzelnen. Werth von Wahrheit und Irrthum (19)
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Die W e r t h s c h ä t z u n g e n A) als Folge (Leben, oder Niedergang B) als Ursache miß verständliche Auslegung Maskerade als Kunst der Verleumdung, der Selbstverherrlichung ständisch bedingt rassemäßig bedingt S o n n t a g s - und A l l t a g s - W e r t h e in K r i s e n , in K r i e g e n u n d G e f a h r e n im F r i e d e n
oder
die Entstehung im R u h m eines Ideals, in der Verurtheilung seines Gegentheils. A n t a g o n i s m u s zwischen Verstärkung und „Verbesserung", zwischen V e r s t ä r k u n g des Individuums und V e r s t ä r k u n g einer Rasse, zwischen Verstärkung einer Rasse und Verstärkung der „Menschheit".
NB. Das „Schöpferische" wie tief hinein? warum alle T h ä t i g k e i t , auch die eines S i n n e s , mit Lust verknüpft? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Thun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und V e r m e h r u n g des M a c h t g e 3° f ü h l s giebt? — Die Lust im Denken. — Zuletzt ist es nicht
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nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und a m G e s c h a f f e n e n : denn alle Thätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines „Werks"
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Werth von Wahrheit und I r r t h u m Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück, seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding werth ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt, er glaubt daran, daß, je mehr subtilisirt verdünnt verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, u m so m e h r s e i n W e r t h z u n i m m t : je weniger r e a l , u m so m e h r W e r t h . Dies ist Piatonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: — er maß den Grad Realität nach dem Werthgrade ab und sagte: je mehr „Idee", desto mehr Sein. Er drehte den Begriff „Wirklichkeit" herum und sagte: „was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrthum, und wir kommen, je näher wir der ,Idee* kommen, (um so näher) der Wahrheit'". — Versteht man es? Das w a r d i e größte U m t a u f u n g : und weil sie vom Christenthum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde d e n S c h e i n , als Artist, der er war, dem Sein v o r g e z o g e n : also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit, das Unwirkliche dem Vorhandenen, — er war aber so sehr vom Werthe des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute „Sein" „Ursächlichkeit" und „Gutheit", Wahrheit, kurz Alles Übrige beilegte, dem man Werth beilegt. Der Werthbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht
( D r i t t e s Capitel. Der Wille zur Wahrheit.)
7 [3] Der Wille zur Wahrheit Die „ A g n o s t i k e r " , die Verehrer des Unbekannten und Geheimnißvollen an sich, woher nehmen sie das Recht, ein Fragezeichen als Gott anzubeten? Ein Gott, der sich dergestalt 5 im Verborgenen hält, verdient vielleicht Furcht, aber gewiß nicht Anbetung! Und warum könnte das Unbekannte nicht der Teufel sein? Aber „es m u ß angebetet werden" — so gebietet hier der Instinkt für den Anstand: das ist englisch. Die T r a n s c e n d e n t a l i s t e n , welche finden, daß 10 alle menschliche Erkenntniß nicht den Wünschen ihres Herzens genugthut, vielmehr ihnen widerspricht und Schauder macht, — sie setzen unschuldig eine Welt irgendwo an, welche dennoch ihren Wünschen entspricht, und die eben nicht unserer Erkenntniß (sich) zugänglich zeigt: diese Welt, meinen sie, sei die IJ w a h r e Welt, im Verhältniß zu welcher unsere erkennbare Welt nur Täuschung ist. So Kant, so schon die Vedanta-Philosophie, so manche Amerikaner. — „Wahr", das heißt für sie: was dem Wunsche unseres Herzens entspricht. Ehemals hieß wahr: was der Vernunft entspricht. 20
Das a l l g e m e i n s t e Z e i c h e n d e r m o d e r n e n Z e i t : der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an W ü r d e eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-
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Held des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich verwandt mit der entscheidenden und an sich werthvollen Seite des Daseins zu beweisen — wie es alle Metaphysiker thun, die die W ü r d e d e s M e n s c h e n festhalten 5 wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werthe cardinale Werthe sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest.
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Wille zur Wahrheit A b s c h w ä c h u n g e n des A f f e k t s . A. a Wille, Absicht, vehemente Begierde in Eine Richtung b Zweck, weniger vehement, weil die Vorstellung des Mittels und Wegs dazwischen tritt, c „Grund", ohne Begierde: der Satz vom G r u n d e hat seine psychologische Sicherheit in dem Glauben an A b s i c h t als Ursache jedes Geschehens B. u n t e r s c h e i d e n d e s D e n k e n a l s F o l g e d e r Furcht und Vorsicht bei dem W i l l e n zur Aneignung. das r i c h t i g e Vorstellen eines Objekts ist ursprünglich nur M i t t e l zum Zweck des Ergreifens, des Fassens und Sich-b e m ä c h t i g e n s . S p ä t e r wird dieses richtige Vorstellen selbst schon als ein Ergreifen empfunden, als ein Z i e l , bei dem B e f r i e d i g u n g eintritt. D e n k e n zuletzt als Ü b e r w ä l t i g u n g und Ausübung von Macht: als ein Zusammenfügen, als Einordnen des Neuen unter alte Reihen usw. C. das N e u e macht Furcht: andrerseits muß Furcht schon da sein, um Neues als neu zu fassen das E r s t a u n e n ist die a b g e s c h w ä c h t e
Furcht.
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Nachgelassene Fragmente
Das B e k a n n t e erregt V e r t r a u e n „wahr" ist etwas, das das Sicherheitsgefühl erweckt die i n e r t i a versucht zunächst das Gleichsetz e n bei jedem Eindruck: das heißt den neuen Eindruck 5 und die Erinnerung gleichsetzen; sie will W i e d e r holung, die F u r c h t lehrt U n t e r s c h e i d e n , V e r g l e i c h e n Im U r t h e i l ein Rest W i l l e (es s o l l so u n d so sein) ein Rest L u s t - G e f ü h 1 ( L u s t der Bejahung:) io N B . Das V e r g l e i c h e n ist k e i n e ursprüngliche Thätigkeit, sondern das Gleichsetzen! Das Urtheil ist ursprünglich nicht der Glaube, daß etwas so und so ist, sondern der W i l l e daß etwas so u n d so sein s o l l . N B . der S c h m e r z ein Urtheil (verneinend) in seiner 15 gröbsten Form. die L u s t eine Affirmation Z u r psychologischen Genesis von „Ursache und Wirkung". Wille zur Wahrheit Interpretation 20 In wiefern die Welt-Auslegungen Symptom eines herrschenden Triebes sind» Die a r t i s t i s c h e Welt-Betrachtung: sich vor das Leben hinsetzen. Aber hier fehlt die Analysis des aesthetischen Anschauens, seine Reduktion auf Grausamkeit, Gefühl der Sicheres heit, des Richter-seins und Außerhalb-seins usw. Man muß den Künstler selbst nehmen: und dessen Psychologie (die Kritik des Spieltriebs, als Auslassen von Kraft, Lust am Wechsel, am Eindrücken der eigenen Seele, der absolute Egoismus des Künstlers usw.) Welche Triebe er sublimisirt? l*
Die w i s s e n s c h a f t l i c h e des psychologischen Bedürfnisses
Welt-Betrachtung: Kritik n a c h Wissenschaft. Das
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Begreiflich-machen-wollen; das Praktisch-, Nützlich-, Ausbeutbar-machen-wollen —: in wiefern anti-aesthetisch. Der Werth allein, was gezählt und berechnet werden kann. In wiefern eine durchschnittliche Art Mensch dabei zum Übergewicht kommen $ will. Furchtbar, wenn gar die G e s c h i c h t e in dieser Weise in Besitz genommen wird — das Reich des Überlegenen, des Richtenden. Welche Triebe er sublimirt! D i e r e l i g i ö s e W e l t - B e t r a c h t u n g : Kritik des religiösen Menschen. Es ist n i c h t nothwendig der moralische, io sondern der Mensch der starken Erhebungen und tiefen Depressionen, der die ersteren mit Dankbarkeit oder Verdacht interpretirt und nicht von s i c h herleitet (— die letzteren auch nicht —) Wesentlich der sich „unfrei" fühlende Mensch, der seine Zustände, die Unterwerfungs-Instinkte sublimisirt. i*
Die m o r a l i s c h e Welt-Betrachtung. Die socialen Rangordnungs-Gefühle werden ins Universum verlegt: die Unverrückbarkeit, das Gesetz, die Einordnung und Gleichordnung werden, weil am höchsten geschätzt, auch an der höchsten Stelle g e s u c h t , über dem All, oder hinter dem All, ebenso so Was gemeinsam ist: die herrschenden Triebe wollen auch als h ö c h s t e W e r t h - I n s t a n z e n ü b e r h a u p t , ja als s c h ö p f e r i s c h e und r e g i e r e n d e Gewalten b e t r a c h t e t w e r d e n . Es versteht sich, daß diese Triebe M sich gegenseitig entweder anfeinden oder unterwerfen (synthetisch auch wohl binden) oder in der Herrschaft wechseln. Ihr tiefer Antagonismus ist aber so groß, daß wo sie alle Befriedigung wollen, ein Mensch von tiefer M i t t e l m ä ß i g k e i t zu denken ist.
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Nachgelassene Fragmente
„Schönheit" ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: — daß keine Gewalt mehr 5 noth thut, daß alles so leicht f o l g t , g e h o r c h t , und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht — das ergötzt den Machtwillen des Künstlers. Die Welt-Auslegungen und was ihnen gemein ist.
(Zweites Buch: Herkunft der Werthe.) ( E r s t e s C a p i t e l . Die Metaphysiker.)
7 [4] Die
Metaphysiker
Die Naiven: Lamennais, Michelet, Victor Hugo
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Aus der Gewöhnung an unbedingte Autoritäten ist zuletzt ein tiefes Bedürfniß nach unbedingten Autoritäten entstanden: — so stark, daß es selbst in einem kritischen Zeitalter, wie dem Kants, dem Bedürfniß nach Kritik sich als überlegen bewies, und, in einem gewissen Sinne, die ganze Arbeit des kritischen Verstandes sich unterthänig und zu Nutze (zu) machen wußte. — Es bewies, in der darauf folgenden Generation, welche durch ihre historischen Instinkte nothwendig auf das Relative jeder Autorität hingelenkt wurde, noch Ein Mal seine Überlegenheit, als es auch die Hegeische Entwicklungs-Philosophie, die in Philosophie umgetaufte Historie selbst sich dienstbar machte und die Geschichte als die fortschreitende Selbstoffenbarung, Selbstüberbietung der moralischen Ideen hinstellte. Seit Plato ist die Philosophie unter der Herrschaft der Moral: auch bei seinen Vorgängern spielen moralische Interpretationen entscheidend hinein (bei Anaximander das Zu-Grunde-gehn aller Dinge als Strafe für ihre Emancipation vom reinen Sein, bei Heraklit die Regelmäßigkeit der Erscheinungen als Zeugniß für den sittlich-rechtlichen Charakter des gesammten Werdens)
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Nachgelassene Fragmente
Was ist das K r i t e r i u m der moralischen Handlung? i) ihre Uneigennützigkeit 2) ihre Allgemeingültigkeit usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß die Völker studiren und zusehn, was jedes Mal das Kriterium ist, und was sich 5 darin ausdrückt. Ein Glaube „ein solches Verhalten gehört zu unseren ersten Existenz-Bedingungen". Unmoralisch heißt „untergang-bringend". Nun sind alle diese Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden, zu Grunde gegangen: einzelne dieser Sätze sind immer von Neuem unterstrichen worden, 10 weil jede neu sich bildende Gemeinschaft sie wieder nöthig hatte z.B. „du sollst nicht stehlen". Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl für die Gesellschaft (z. B. imperium romanum) nicht verlangt werden konnte, warf sich der Trieb auf's „Heil der Seele", religiös gesprochen: oder „das größte Glück" philo15 sophisch geredet. Denn auch die griechischen Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer nofoq. Spinoza's psychologisdier Hintergrund. Spärlich! 1) Der hedonistische G e s i c h t s p u n k t im Vordergrund: Worin besteht die b e h a r r l i c h e F r e u d e oder 20 wie kann der freudige Affekt verewigt werden? So lange die Freude sich auf etwas Einzelnes bezieht, ist sie besdiränkt und vergänglich; sie wird vollkommen, wenn sie nicht mehr mit den Dingen wechselt, sondern in dem wandellosen Zusammenhange ruht; sie ist ewig, wenn ich das All in 25 mein Eigenthum, omnia in mea, verwandle und von diesen omnia mea jeden Augenblick sagen kann „mecum porto" Im tract. de intell. emendatione Op. II p. 413. „Ich habe den Entschluß gefaßt zu untersuchen, ob sich etwas finden ließe, dessen Besitz mir den Genuß einer dauernden und höchsten 3° Freude ewig gewährte." „Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Wesen erfüllt das Gemüth mit einer Freude, die jede Art Trauer ausschließt." „Das höchste Gut ist die E r k e n n t n i ß der Einheit unseres Geistes mit dem Universum."
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[4]: Die Metaphysiker
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2) der n a t ü r l i c h -egoistische Gesichtspunkt: Tugend und Macht identisch. Sie entsagt nicht, sie begehrt, sie kämpft nicht gegen, sondern für die N a t u r ; sie ist nicht die Vernichtung, sondern die Befriedigung des mächtigsten 5 Affekts. G u t ist, w a s unsere Macht fördert: böse das Gegentheil. Tugend folgt aus dem Streben nach Selbsterhaltung. „Was wir thun, thun wir, um unsere Macht zu erhalten und zu vermehren." „Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe." Finis = appetitus. Virtus = potentia. Eth. I V Defin. 10 V I I . V I I I . 3) der spezifische „Denker" verräth sich. D i e Erkenntniß wird Herr über alle anderen Affekte; sie ist stärker. „Unsere wahre Thätigkeit besteht in der denkenden N a t u r , in der vernünftigen Betrachtung. D i e Begierde zur Thätigkeit = der 15 Begierde vernunftgemäß zu leben. „idi gebe nicht viel auf die Autorität eines Plato, Aristoteles und Sokrates"; die Lehre v o n den „substantiellen Formen" (Zweckbegriff in der scholastischen Ausdrucksweise) nennt er „eine Narrheit unter tausend anderen". 20
F e u e r b a c h ' s „gesunde und frische Sinnlichkeit" „Grundsätze d e r Philosophie der Zukunft" 1843. gegen „die abstrakte Philosophie"
D i e antike Philosophie hatte den Menschen als Z w e c k der N a t u r im Auge 25 D i e christliche Theologie dachte die Erlösung des Menschen als Z w e c k der göttlichen Vorsehung. Merkwürdig S p i n o z a : „ich verstehe unter conscientiae morsus die Traurigkeit, begleitet v o n der Vorstellung einer vergangenen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist". 30 Eth. III Prop. X V I I I . Schol. I. IL p. 147. 48. Affect. Def.
XVII p. 188.
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Nachgelassene Fragmente
Als Gegensatz das gaudium, wenn der erwartete Ausgang nicht eintrifft und die Furcht plötzlich aufhört. Trotz K. Fischer wäre es möglich, daß hier Spinoza die Bezeichnung a potiori gewählt habe: und daß er als den objektiven Kern 5 jedes „Gewissensbisses" das Bezeichnete ansah. Er mußte ja bei s i c h die Schuld leugnen: was war also ihm die Thatsache „conscientiaemorsus", w e l c h e ü b r i g b l i e b ?
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Wenn Alles im letzten Grunde vermöge der göttlichen Macht geschieht, so ist Alles in seiner Art vollkommen, so giebt es kein Übel in der Natur der Dinge; ist der Mensch durchgängig unfrei, so giebt es kein Böses in der Natur des menschlichen Willens; so sind die Übel und das Böse nicht in den Dingen, sondern nur in der Einbildung des Menschen. In Gott fehlt Wille und Verstand und Persönlichkeit und Zweck. Spinoza wehrt sich gegen die, welche sagen, Gott wirke Alles s u b ratione boni. Diese scheinen etwas außerhalb Gottes anzunehmen, das von Gott nicht abhängig ist, worauf er sich wie auf ein Musterbild in seinem Handeln richtet oder wohin er, wie nach einem Ziele trachtet. Das heißt fürwahr Gott dem Schicksale unterwerfen: was die größte Ungereimtheit ist. Eth. I Prop. XXXIII Schol. 2. Der letzte Grund jeder Begebenheit „Gott hat sie gewollt" Asylum ignorantiae. Der Wille Gottes aber ist dem Menschen undurchdringlich. Bei dieser Denkweise würde die Wahrheit dem Menschen in alle Ewigkeit verborgen geblieben sein, w e n n n i c h t d i e M a t h e m a t i k (die sich nicht mit Zwecken, sondern lediglich mit der Natur und den Eigenschaften der Größe beschäftigt) dem M e n s c h e n e i n e andere R i c h t s c h n u r der W a h r h e i t v o r g e h a l t e n h ä t t e . Descartes sagt „ich habe Vieles für w a h r gehalten, dessen Irrthum ich jetzt einsehe". Spinoza „ich habe Vieles für G u t gehalten, von dem ich jetzt einsehe, daß es eitel und werthlos
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ist". „Wenn es ein achtes und unverlierbares Gut giebt, so ist die Befriedigung daran ebenso dauernd und unzerstörbar, so ist meine Freude ewig." P s y c h o l o g i s c h e r F e h l s c h l u ß : als ob die Dauer5 haftigkeit eines Dings die Dauerhaftigkeit der Affektion verbürgte, die ich zu ihm habe!
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(vollkommene Abwesenheit des „Künstlers") Höchste und komische Pedanterie eines Logikers, d e r s e i n e n Trieb vergöttert Spinoza glaubt, Alles absolut erkannt zu haben. Dabei hat er das g r ö ß t e Gefühl von Macht. Der Trieb dazu hat alle anderen Triebe überwältigt und ausgelöscht. Das Bewußtsein dieser „Erkenntniß" hält bei ihm an: eine Art „Liebe zu Gott" resultirt daraus, eine Freude am Dasein, wie es auch sonst ist, an a l l e m Dasein. Woher kommen alle Verstimmungen, Trauer, Furcht, H a ß , Neid? Aus Einer Quelle: aus unserer Liebe zu den v e r g ä n g l i c h e n Dingen. Mit dieser Liebe verschwindet auch das ganze Geschlecht jener Begierden „Obgleich ich die Nichtigkeit der Güter der Welt klar durchschaute, so konnte ich doch Habsucht, Sinneslust und Ehrgeiz nicht ganz ablegen. Eins aber erfuhr ich: s o l a n g e m e i n G e i s t i n j e n e r B e t r a c h t u n g l e b t e , war er diesen Begierden abgewendet — und dies gereichte mir zu großem Tröste. Denn daraus sah ich, daß jene Übel nicht unheilbar seien. Anfangs das neue Leben seltene, kurze Augenblicke — "
N i c h t s hat Werth gegenüber dem W e r t h e k l a r e n F o 1 g e r n s. Alle anderen Werthe sind nur Folge unklaren 30 Denkens. Schnöde Verwerfung aller Güter des Lebens; beständige V e r l e u m d u n g von Allem, um Eins in die höchste Höhe zu bringen, das k l a r e D e n k e n . „Aller Z w e i f e l
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rührt davon her, daß die Dinge ohne Ordnung untersucht werden."! ! ! Wie bei Schopenhauer: die Begierden schweigen unter der Gewalt der aesthetischen Contemplation. 5 Eine psychologische Erfahrung, falsch und generell a u s gedeutet. Leibniz: „Man muß mit mir ab effectu urtheilen: weil Gott diese Welt, so wie sie ist, gewählt hat, d a r u m i s t sie d i e b e s t e " . Theod. p 506. 10
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Das theologisdie Vorurtheil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend Das jtQojtov tyeuöog: wie ist die Thatsache der Erkenntniß möglich? ist die Erkenntniß überhaupt eine Thatsache? was ist Erkenntniß? Wenn wir nicht w i s s e n , was Erkenntniß ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntniß giebt. Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon „weiß", ob es Erkenntniß giebt, geben kann, kann ich die Frage „was ist Erkenntniß" gar nicht vernünftigerweise stellen. Kant g l a u b t an die Thatsache der Erkenntniß: es ist eine Naivetät, was er will: d i e E r k e n n t n i ß d e r E r kenntniß ! „Erkenntniß ist Urtheil!" Aber Urtheil ist ein G l a u b e , daß etwas so und so ist! Und n i c h t Erkenntniß! „alle Erkenntniß besteht in synthetischen Urtheilen" — eine nothwendige und allgemeingültige Verknüpfung verschiedener Vorstellungen — mit dem Charakter der Allgemeinheit (die Sache verhält sich in allen Fällen so und nicht anders) mit dem Charakter der Notwendigkeit (das Gegentheil der Behauptung kann nie stattfinden)
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Die R e c h t m ä ß i g k e i t im Glauben an die Erkenntniß wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit im Gefühl des Gewissensurtheils vorausgesetzt wird. Hier ist die m o r a l i s c h e O n t o l o g i e das h e r r s c h e n d e Vorurtheil. Also der Schluß ist: i) es giebt Behauptungen, die wir für allgemeingültig und nothwendig halten 2) der Charakter der Notwendigkeit und AlKgemein>gültigkeit kann nicht aus der Erfahrung stammen 3) folglich muß er ohne Erfahrung, a n d e r s w o h e r sich begründen und eine andere Erkenntnißquelle haben! Kant schließt 1) es giebt Behauptungen die nur unter gewissen Bedingungen gültig sind 2) diese Bedingung ist, daß es nicht aus der Erfahrung stammt, aus der reinen Vernunft stammt Also: die Frage ist, w o h e r u n s e r G l a u b e an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt? Nein, woher er seine Urtheile hat! Aber die E n t s t e h u n g e i n e s G l a u b e n s , einer starken Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine s e h r begrenzte und enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er s e t z t b e r e i t s v o r a u s , daß es nicht nur „data a posteriori" giebt, sondern auch data a priori, „vor der Erfahrung". Notwendigkeit und Allgemeinheit können nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß sie ohne Erfahrung überhaupt da sind? Es giebt keine einzelnen Urtheile! Ein einzelnes Urtheil ist niemals „wahr", niemals Erkenntniß, erst im Z u s a m m e n h a n g e , in der B e z i e h u n g von vielen Urtheilen ergiebt sich eine Bürgschaft. Was unterscheidet den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntniß? Er „weiß" es, das ist himmlisch! Notwendigkeit und Allgemeinheit können nie durch Er-
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fahrung gegeben werden. Also unabhängig von der Erfahrung, v o r aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig von aller Erfahrung a u s d e r b l o ß e n Vernunft, 5 „eine r e i n e Erkenntniß". Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen. — Aber das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel! 10 U m die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen Urtheile zu begründen, muß der Raum b e griffen werden als e i n e F o r m der reinen Vernunft. Hume hatte erklärt: „es giebt gar keine synthetischen Ur15 theile a priori". Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also solche Urtheile giebt, giebt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntniß der Dinge durch die reine Vernunft! Quaeritur. Mathematik ist möglich unter Bedingungen, unter denen 20 Metaphysik n i e möglich ist alle menschliche Erkenntniß ist entweder Erfahrung oder Mathematik Ein Urtheil ist synthetisch: d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen 25 es ist a priori: d. h. jene Verknüpfung ist eine allgemeine und nothwendige, die nie durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann. Soll es synthetische Urtheile a priori geben, so wird die Vernunft im Stande sein müssen, zu verknüpfen: das Ver3° knüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß f o r m g e b e n d e Vermögen besitzen. Raum und Zeit als B e d i n g u n g der E r f a h r u n g Kant bezeichnet die französiche Revolution als den Über-
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gang aus dem m e c h a n ( i s c h e n ) in das o r g a n i s c h e Staatswesen! Die erfinderischen und bahnbrechenden Geister in den Wissenschaften, die sogenannten „großen Köpfe", urtheilt K a n t , 5 sind spezifisch vom G e n i e verschieden: was sie entdeckt und erfunden haben, hätte auch können gelernt werden und ist vollständig begriffen und gelernt worden. In Newton's Werk ist nichts Unlernbares; Homer ist nicht ebenso begreiflich als Newton! „Im W i s s e n s c h a f t l i c h e n a l s o i s t d e r 10 größte Erfinder vom m ü h s e l i g s t e n Nacha h m e r u n d L e h r l i n g e nur d e m G r a d e n a c h verschieden." P s y c h o l o g i s c h e r Idiotismus!! „der Musik hängt ein gewisser Mangel an Urbanität an", „sie drängt sich gleichsam auf", „sie thut der Freiheit Abbruch" *s die Musik und die Farbenkunst bilden eine eigene Gattung unter dem Namen des „schönen Spiels der Empfindungen" Malerei und Gartenkunst zu einander gesellt. Die Frage, ob die Menschheit eine T e n d e n z z u m G u t e n hat, wird durch die Frage vorbereitet, ob es eine Begebenes heit giebt, die gar nicht anders erklärt werden kann als durch jene moralische Anlage der Menschheit. Dies ist die Revolution. „Ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur z u m B e s s e r e n aufgedeckt hat, dergleichen *5 kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte." Wenn sich die Menschheit zunehmend verschlechtert, so ist ihr Ziel das a b s o l u t S c h l e c h t e : die t e r r o r i s t i s c h e Vorstellungsart im Gegensatz zu der e u d ä m o n i s t i s c h e n )° Vorstellungsart oder dem „Chiliasmus". Schwankt die Ge-
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schichte zwischen Fort- und Rückschritt hin und her, ist ihr ganzes Treiben zweck- und ziellos, nichts als eine geschäftige Thorheit, so daß sich G u t e s u n d B ö s e s g e g e n s e i t i g n e u t r a l i s i r e n u n d das G a n z e a l s e i n P o s s e n 5 s p i e l e r s c h e i n t : das nennt Kant die a b d e r i t i s c h e Vorstellungsart. (Kant) sieht in der G e s c h i c h t e eine moralische Bewegung.
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nichts anderes als
„Ein gewissenhafter Ketzerrichter ist eine contradictio in adjecto" Psychologischer Idiotismus
ohne die Wiedergeburt sind alle menschlichen Tugenden nach Kant glänzende Armseligkeiten. Diese Besserung ist möglich nur vermöge des intelligiblen Charakters; ohne ihn giebt es keine 15 Freiheit weder in der Welt, noch im Willen des Menschen, noch zur Erlösung vom Bösen. Wenn die Erlösung nicht in der Besserung besteht, kann sie nur in der V e r n i c h t u n g bestehn. Der Ursprung des empirischen Charakters, der Hang zumBösen> die Wiedergeburt sind bei Kant Thaten des intelligiblen Charak*o ters; der empirische Charakter muß an seiner Wurzel eine Umkehr erfahren. der g a n z e S c h o p e n h a u e r . Das Mitleid eine Verschwendung der Gefühle, ein der moralischen Gesundheit schädlicher Parasit, „es kann unmöglich *5 Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren". Wenn man bloß aus Mitleid wohlthut, so thut man eigentlich sich selbst wohl und nicht dem Anderen. M beruht nicht auf Maximen, sondern auf Affekten; es ist pathologisch; das fremde Leiden steckt uns an, Mitleid ist eine Ansteckung.
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die ganzen Gebärden und Worte der Unterwürfigkeit; „als in welcher Pedanterie die Deutschen <es> unter allen Völkern der Erde am weitesten gebracht haben" „sind das nicht Beweise eines ausgebreiteten Hangs zur Kriecherei unter den Menschen?" 5 „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird." „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himio mel über uns und das moralische Gesetz in uns." Er fährt fort: „der erste Anblick einer zahllosen Weltenmenge v e r n i c h t e t g l e i c h s a m m e i n e W i c h t i g k e i t als eines t h i e r i s c h e n G e s c h ö p f e s , das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkte im M Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit, man weiß nicht wie, mit lebender Kraft versehen gewesen. Der zweite dagegen erhebt meinen Werth als e i n e I n t e l l i genz u n e n d l i c h Die Denkbarkeit der Freiheit beruht auf der transscenden20 talen Ästhetik. Kommen Zeit und Raum den Dingen als solchen zu, so sind die Erscheinungen gleich den Dingen an sich, so ist zwischen beiden keine Erscheinung möglich, so giebt es nichts von der Zeit unabhängiges, so ist die Freiheit schlechterdings unmöglich. Freiheit kann nur gedacht werden als 2 5 Eigenschaft eines Wesens, das den Bedingungen der Zeit nicht unterliegt, also nicht Erscheinung, nicht Vorstellung, sondern Ding an sich ist. Warum sind Erscheinungen nicht Dinge an sich? Weil sie in Raum und Zeit sind, und Raum und Zeit reine Anschauungen 30 sind. Gegen die angebliche psychologische Freiheit sagt Kant:
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„Wenn unsere Freiheit darin bestände, daß wir durch Vorstellungen getrieben werden, als ein automaton spirituale", so „würde sie im Grunde nicht besser als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet." Die Freiheit ist undenkbar in der Erscheinungswelt, es sei die äußere oder die innere
(Zweites Capitel. Die homines religiosi.) 7[J] homines religiosi Die Reformation: Eine der verlogensten Eruptionen von gemeinen Instinkten Eine Anzahl starker, unbändig gewordener und gründlich 5 gemeiner Triebe will in freie Luft: es thut Nichts noth als Vorwände, namentlich großartige Worte zu erfinden, unter denen diese wilden Thiere herausgelassen werden dürfen. L u t h e r d e r p s y c h o l o g i s c h e Typus: ein wüster und uneigentlicher Bauer, der mit der „evangelischen Freiheit" io allen aufgehäuften gewaltthätigen Bedürfnissen Luft macht. man will einmal wieder Herr sein, rauben, niederwerfen, verfluchen, eingerechnet daß die Sinne ihre Rechnung finden wollen: vor Allem, man sieht lüstern nach dem ungeheuren Reichthum der Kirche. M
Der Priester zeitweilig der Gott selbst, mindestens sein Stellvertreter An sich sind asketische Gewohnheiten und Übungen noch fern davon, eine widernatürliche und daseinsfeindliche Gesinnung zu verrathen: ebensowenig Entartung und Krankheit *o die Selbstüberwindung, mit harten und furchtbaren Erfindungen: ein Mittel Ehrfurcht vor sich zu haben und zu verlangen: Asketik als Mittel der M a c h t
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Der Priester als Repräsentant eines übermenschlichen Machtgefühls, selbst als guter S c h a u s p i e l e r eines Gottes, den darzustellen sein B e r u f ist, wird instinktiv nach solchen Mitteln greifen, wodurch er eine gewisse Furditbarkeit in der Gewalt über sich erlangt Der Priester als Repräsentant von übermenschlichen Mächten, in Hinsicht auf Erkenntniß, Vorherwissen Fähigkeit zu schaden und zu nützen, auch in Hinsicht auf übermenschliche Entzückungen und Arten des Glücks: — — der Schauspieler von „Göttern" vor Gesunden, Glücklichen, Hoffenden, Mächtigen — der Schauspieler vom „Heilande", wesentlich sich an Kranke und Entbehrende wendend, an Menschen des ressentiments, an Unterdrückte und — die Priester sind die Schauspieler von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben, sei es von Idealen, sei es von Göttern, oder von Heilanden: darin finden sie ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie möglidi zu machen, müssen sie in der AnähnHchung so weit wie möglich gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem d a s g u t e G e w i s s e n bei ihnen erzielen, mit Hülfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.
(Drittes Capitel. Die Guten und die Verbesserer.)
7 [6] Die Guten rücksichtslose Rechtschaffenheit. (?) Der S i e g eines moralischen Ideals wird durch dieselben 5 „unmoralischen" Mittel errungen wie jeder Sieg: Gewalt, Lüge, Verleumdung, Ungerechtigkeit „Du sollst nicht lügen": man fordert Wahrhaftigkeit. Aber die Anerkennung des Thatsächlichen (das Sich-nicht-belügenlassen) ist gerade bei den Lügnern am größten gewesen: sie io erkannten eben auch das U n thatsächliche dieser populären „Wahrhaftigkeit". Es wird beständig zu viel oder zu wenig gesagt: die Forderung, s i c h zu e n t b l ö ß e n mit jedem Worte, das man spricht, ist eine Naivetät. Man sagt, was man denkt, man ist „wahrhaft" nur u n 15 t e r V o r a u s s e t z u n g e n : nämlich unter der, v e r s t a n d e n zu werden (inter pares), und zwar wohlwollend verstanden zu werden ( n o c h e i n m a l inter pares) Gegen das F r e m d e verbirgt man sich: und wer etwas erreichen will, sagt was er über sich gedacht haben will, n i c h t aber 20 was er denkt. (Der „Mächtige lügt immer") Ein Ideal das sich durchsetzen oder noch behaupten will
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sucht sich zu stützen a) durch eine u n t e r g e s c h o b e n e Herkunft b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutirbare Macht rede 5 d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale e) durch eine lügnerische Lehre des V o r t h e i 1 s, den es mit sich bringt z. B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihülfe eines mächtigen Gottes usw. Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet *o Hat man die ganzen Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit w i d e r l e g t ? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst — sie sind allesammt „unmoralisch". Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren 15 es Leben und Wachsthum giebt, sind mit dem B a n n e d e r M o r a l belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien. Die Guten Zur Kritik der Heerden-Tugenden. io Die inertia thätig i) im Vertrauen, weil Mißtrauen Spannung, Beobachtung, Nachdenken nöthig macht 2) in der Verehrung, wo der Abstand der Macht groß ist und Unterwerfung nothwendig: um nicht zu fürchten, wird 2j versucht zu lieben, hochzuschätzen und die Machtverschiedenheit als W e r t h Verschiedenheit auszudeuten: so daß das Verhältniß n i c h t m e h r r e v o l t i r t . 3) im Wahrheitssinn. Was ist wahr? Wo eine Erklärung gegeben ist, die uns das minimum von geistiger Kraftanstren30 gung macht. Überdies ist Lügen sehr anstrengend. 4) in der Sympathie. Sich gleichsetzen, versuchen gleich zu empfinden, ein vorhandenes Gefühl a n z u n e h m e n ist
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eine Erleichterung: es ist etwas Passives gegen das activum gehalten, welches die eigensten Rechte des Werthurtheils sich wahrt und beständig bethätigt. Letzteres giebt keine Ruhe. 5) in der Unparteilichkeit und Kühle des Urtheils: man 5 scheut die Anstrengung des Affekts und stellt sich lieber abseits, „objektiv*4 (18)
6) in der Rechtschaffenheit: man gehorcht lieber einem vorhandenen Gesetz als daß man sich ein Gesetz s c h a f f t , als 10 daß man sich und Anderen befiehlt. Die Furcht vor dem Befehlen — Lieber sich unterwerfen als reagiren. 7) in der Toleranz: die Furcht vor dem Ausüben des Rechts, des Richtens d i e maskirten A r t e n d e s W i l l e n s z u r M a c h t 15
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1) Verlangen nach F r e i h e i t , Unabhängigkeit, auch nach Gleichgewicht, Frieden, C o o r d i n a t i o n ; auch der Einsiedler, die „Geistesfreiheit"; in niedrigster Form: Wille überhaupt dazusein „Selbsterhaltungstrieb" 2) die E i n o r d n u n g , um im größeren Ganzen dessen Willen zur Macht zu befriedigen: die U n t e r w e r f u n g , das Sich-Unentbehrlich-machen, -Nützlichmachen bei dem, der die Gewalt h a t ; die L i e b e , als ein Schleichweg zum Herzen des Mächtigeren, — um über ihn zu herrschen 3) das Pflichtgefühl, das Gewissen, der imaginäre Trost, zu einem h ö h e r e n Rang zu gehören als die thatsächlich Gewalthabenden; die Anerkennung einer Rangordnung, die das R i c h t e n erlaubt, auch über die Mächtigeren; die Selbstverurtheilung. Die Erfindung n e u e r W e r t h t a f e l n (Juden klassisches Beispiel)
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Moral als Werk der U n m o r a l i t ä t . A. Damit moralische Werthe zur H e r r s c h a f t kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen. Br Die E n t s t e h u n g moralischer Werthe selbst ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten. Moral
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Moral mit sich selbst a l l g e m a c h im W i d e r s p r u c h , Vergeltung. Wahrhaftigkeit, Zweifel, Epoche, Richten. „Unmoralität" des G l a u b e n s an die Moral. Die Schritte: i) absolute Herrschaft der Moral alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen und g e r i c h t e t 2) Versuch einer Identifikation von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Scepsis: Moral soll nicht mehr als Gegensatz gefühlt werden) mehrere Mittel, selbst ein transscendenter Weg 3) E n t g e g e n s e t z u n g von L e b e n und M o r a l ; Moral vom Leben aus gerichtet und verurtheilt. In wiefern die Moral dem Leben s c h ä d l i c h war a) dem Genuß des Lebensader Dankbarkeit gegen das Leben usw. b) der Verschönerung, Veredelung des Lebens c) der Erkenntniß des Lebens d) der Entfaltung des Lebens, insofern es die h o c h s t e n Erscheinungen desselben mit sich selbst zu entzweien suchte
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Gegenrechnung: ihre N ü t z l i c h k e i t für das Leben, die Moral als Erhaltungsprincip von größeren Ganzen, als Einschränkung der Glieder: „das Werkzeug" die Moral als Erhaltungsprincip im Verhältniß zur inneren Gefährdung des Menschen durch Leidenschaften: „der Mittelmäßige" die Moral als Erhaltungsprincip gegen die lebensvernichtenden Einwirkungen tiefer Noth und Verkümmerung: „der Leidende" die Moral als Gegenprincip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen: der „Niedrige" Bornirter Hochmuth einzelner Philosophen als Rein- V e r n u n f t gemäßer gegen das Gefühl überhaupt in der Moral (Kant) gegen das Mitleid gegen die Affekte
Die Guten G e f a h r in der B e s c h e i d e n h e i t . — Sich zu früh anpassen an ein milieu, an Aufgaben, Gesellschaften, All20 tags- und Arbeits-Ordnungen, in welche der Zufall uns setzt, zur Zeit, wo weder unsere Kraft, nodi unser Ziel uns gesetzgeberisch ins Bewußtsein getreten ist; die damit errungene allzufrühe Gewissens-Sidierheit, Erquicklichkeit, Gemeinsamkeit, dieses vorzeitige Sich-Bescheiden, das sich als Loskommen von der inneren *5 und äußeren Unruhe dem Gefühle einschmeichelt, verwöhnt und hält in der gefährlichsten Weise nieder; das Achten-lernen nach Art von „Seinesgleichen", wie als ob wir selbst in uns kein Maaß und Recht hätten, Werthe anzusetzen, die Bemühung, gleich zu schätzen g e g e n die innere Stimme des Geschmacks, 30 der auch ein Gewissen ist, wird eine furchtbare feine Fesselung: wenn es endlich keine Explosion giebt, mit Zersprengung aller Bande der Liebe und Moral mit Einem Male, so verkümmert und verkleinlicht, verweiblicht und versachlicht sich ein solcher
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Geist. — Das Entgegengesetzte ist schlimm genug, aber immer noch besser: an seiner Umgebung leiden, an ihrem Lobe sowohl wie an ihrer Mißbilligung, verwundet dabei und unterschwürig werden, ohne es zu verrathen; unfreiwillig-mißtrauisch sich 5 gegen ihre Liebe vertheidigen, das Schweigen lernen, vielleicht indem man es durch Reden verbirgt, sich Winkel und unerrathbare Einsamkeiten schaffen für die Augenblicke des Aufathmens, der Thränen, der sublimen Tröstung — bis man endlich stark genug ist, um zu sagen: „was habe ich mit e u c h zu io schaffen?" und s e i n e s Weges geht. Die Tugenden sind so gefährlich als die Laster, insofern man sie von außen her als Autorität und Gesetz herrschen läßt und sie nicht aus sich selbst erst erzeugt, wie es das Rechte ist, als persönlichste Nothwehr und Nothdurft, als Bedingung gerade 15 u n s e r e s Daseins und Wohlthuns, die wir erkennen und anerkennen, gleichgültig ob Andere mit uns unter gleicher oder verschiedener Bedingung wachsen. Diese Satzung von der Gefährlichkeit der unpersönlich verstandenen, o b j e k t i v e n Tugend gilt auch von der Bescheidenheit: an ihr gehen viele der 10 ausgesuchten Geister zu Grunde. Die Moralität der Bescheidenheit ist die schlimmste Verweichlichung für solche Seelen, bei denen es allein Sinn hat, daß sie bei Zeiten h a r t werden. Die Guten. Es gelingt den Wenigsten, in dem, worin wir leben, woran wir von Alters
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gründen weiß, ähnlich wie der Geschlechtstrieb, soll n i c h t unter die Verurtheilung der Triebe fallen; umgekehrt, er soll ihr Werthmesser und Richter sein! Das Problem der Gleichheit, während wir Alle nach Aus5 Zeichnung dürsten: hier gerade sollen wir umgekehrt an uns genau die Anforderungen wie an Andere stellen. Das ist so abgeschmackt, sinnfällig verrückt: aber — es wird als heilig, als höheren Ranges empfunden, der Widerspruch gegen die Vernunft wird kaum gehört, io Aufopferung und Selbstlosigkeit als auszeichnend, der unbedingte Gehorsam gegen die Moral, und der Glaube, vor ihr mit Jedermann gleich zu stehn. Die Vernachlässigung und Preisgebung von Wohl und Leben als auszeichnend, die vollkommene Verzichtleistung auf 15 eigne Werthesetzung, das strenge Verlangen, von Jedermann auf dasselbe verzichtet zu sehn. „Der Werth der Handlungen ist b e s t i m m t : jeder Einzelne ist dieser Werthung unterworfen." Wir sehn: eine Autorität redet — wer redet? — Man darf es *o dem menschlichen Stolze nachsehn, wenn er diese Autorität so hoch als möglich suchte, um sich so wenig als möglich unter ihr gedemüthigt zu finden. Also — Gott redet! Man bedurfte Gottes, als einer unbedingten Sanktion, welche keine Instanz über sich hat, als eines „kategorischen Impe*5 rativs" —: oder, sofern man an die Autorität der Vernunft glaubt, man brauchte eine Einheits-Metaphysik, vermöge deren es logisch war Gesetzt nun, der Glaube an Gott ist dahin: so stellt sich die Frage von Neuem: „ w e r redet?" — Meine Antwort, nicht 3° aus der Metaphysik, sondern der Thier-Physiologie genommen: d e r H e e r d e n - I n s t i n k t r e d e t . Er w i l l Herr sein: daher sein „du sollst!" er will den Einzelnen nur im Sinne des Ganzen, zum Besten des Ganzen gelten lassen, er haßt die SichLoslösenden — er wendet den Haß aller Einzelnen gegen ihn
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Nachgelassene Fragmente
Erwägen wir, wie theuer sich ein solcher moralischer Kanon (ein „Ideal") bezahlt macht. Seine Feinde sind — nun, die Egoisten der melancholische Scharfsinn der Selbstverkleinerung in 5 Europa (Pascal, Larochefoucauld) die innere Schwächung, Entmuthigung, Selbstannagung der Nicht-Heerdenthiere die beständige Unterstreichung der Mittelmäßigkeits-Eigenschaften als der werthvollsten (Bescheidenheit, in Reih und io Glied, die Werkzeug-Natur) das schlechte Gewissen eingemischt in alles Selbstherrliche, Originale: die Unlust also: — also V e r d ü s t e r u n g der Welt der Stärker-Gerathenen 15 das Heerdenbewußtsein in die Philosophie und Religion übertragen: auch seine Ängstlichkeit, seine lassen wir die psychologische Unmöglichkeit einer rein selbstlosen Handlung außer Spiel Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet: nicht auf 20 eine individualistische Moral. Der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, — aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Heerde bedürfen einer grundverschiedenen Werthung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die „Raubthiere" usw. *5
Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die collektivistische Moral, denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem Einen die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit der dem Einen oder dem Anderen oder 3° Allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von M a c h t , den Einer oder der Andere über Andere oder Alle ausüben soll, resp. in wiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst,
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zur Hervorbringung eines h ö h e r e n T y p u s die Basis giebt. In größter Form gedacht: w i e k ö n n t e m a n d i e E n t w i c k l u n g d e r M e n s c h h e i t o p f e r n , um einer höheren Art als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen? — 5
Daß man sich nicht über sich selbst vergreift! Wenn man in sich den moralischen Imperativ so hört, wie der Altruismus ihn versteht, so gehört man zur H e e r de. Hat man das umgekehrte Gefühl, fühlt man in seinen uneigennützigen und selbstlosen Handlungen seine Gefahr, seine Abirrung, so gehört man io nicht zur Heerde. Der anscheinend verrückte Gedanke, daß Einer die Handlung, die er dem Anderen erweist, höher halten soll als die sich selbst erwiesene, dieser Andere ebenso wieder usw.,
Wir sehn das allgemeine Treiben: Jeder Einzelne wird geopfert und dient als Werkzeug. Man gehe durch die Straße, ob man nicht lauter „Sklaven" begegnet. Wohin? Wozu? Die moralischen Phänomene haben mich beschäftigt wie Räthsel. Heute würde ich eine Antwort zu geben wissen. Was
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bedeutet es, daß für mich das Wohl des Nächsten höheren Werth haben s o l l als mein eigenes? Daß aber der Nächste selbst den Werth seines Wohls anders schätzen s o l l als ich, nämlich demselben gerade m e i n Wohl überordnen soll? 5
Ob ein Mensch von Kindheit an gewöhnt wird Vortheil eines Abseits von seiner Zeit. Das gesammte Moralisiren als Phänomen ins Auge bekommen. Auch als R ä t h s e 1.
Was bedeutet das „du sollst" und selbst eine Philos io als „gegeben" betrachtet? Zuletzt nämlich braucht man sehr viel Moralität, um in dieser feinen Weise unmoralisch zu sein: ich will ein Gleichniß gebraudien. Ein Physiologe, der sich für eine Krankheit interessirt, und 15 ein Kranker, der von ihr geheilt werden will, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal an, daß jene Krankheit die Moral ist — denn sie ist eine Krankheit —, und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine Qual und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich 20 auch deren neugierige Beobachter und Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft wünschen, von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Daß wir von der Frage absehen, ob wir es k ö n n e n ? Ob wir „geheilt" werden können? — Die Bescheidung z. B. für die Frage des Pessimism, ob Lust 25 oder Unlust überwiegt insgleichen für die Frage über den Werth unsrer Erkenntniß — was war gehemmt bisher? Unser Trieb zum Versuchen, die Gefahr war zu groß, „das Heil der Seele"
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der Sieg über den alten Gott als über ein w e l t v e r l e u m d e r i s c h e s Princip — Sieg des Heidenthums — aber die Welt zeigt sich in neuer Furchtbarkeit — das „Eins thut noth" und das „trachte nach dem Reiche 5 Gottes: dann wird dir das Andre alles zufallen!" („das Andre" ist z. B. auch die Liebe zum Nächsten die Moral im jetzigen Sinne) (8) NB! D e m b ö s e n M e n s c h e n d a s g u t e G e l ° w i s s e n z u r ü c k g e b e n — ist das mein unwillkürliches Bemühen gewesen? Und zwar dem bösen Menschen, insofern er der s t a r k e M e n s c h ist? (Das Urtheil D o s t o i j e w s k y ' s über die Verbrecher der Gefängnisse ist hierbei anzuführen.) J
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Die Guten Der G e w i s s e n s b i ß : Zeichen, daß der Charakter der T h a t nicht gewachsen ist. Es giebt Gewissensbisse auch nach g u t e n W e r k e n : ihr Ungewöhnliches, das was aus dem alten milieu heraushebt —
Die nächste Vorgeschichte einer Handlung bezieht sich auf diese: aber w e i t e r z u r ü c k liegt eine Vorgeschichte, die w e i t e r h i n a u s deutet: die einzelne Handlung ist zugleich ein Glied einer viel umfänglicheren s p ä t e r e n Thatsache. Die k ü r z e r e n und die l ä n g e r e n Prozesse sind nicht *S getrennt —
(Drittes Buch: Kampf der Werthe.) (Zweites Capitel. Zur Physiologie der Kunst.)
7 [7] Zur Physiologie der
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Kunst
An die Künstler. Unterscheidung: solche, die von ihrer Kunst leben wollen und andre, wie Dante, Goethe Aus welchem B e d ü r f n i ß ? Rückschluß vom „Werk" auf den Künstler. Was „der Erfolg" beweist: jedenfalls ein Mißvers t a n d n i ß des Künstlers, z u m e i s t auch des Werks. Die anspruchsvollen S i n n e — was bedeutet das? Der Mangel an L o g i k — der esprit, das sujet. an Probität der B i l d u n g Der „Naturalismus" — was bedeutet er? Vor allem ein R e i z m i t t e l — das Häßliche und Ungeheure macht Emotion. Die „Romantik" — was bedeutet sie? Stellung der Nationen zur Entwicklung der „europäischen Seele". Verhältniß der Kunst zur Kirche. Der Pessimismus in der aesthetischen Theorie („interesseloses Anschauen" „les Parnassiens").
Ende 1886—Frühjahr 1887 7 [7]: Zur Physiologie der Kunst
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— Ich bin für diese ganze romantische) Musik (Beethoven eingerechnet) nicht glücklich genug, nicht gesund genug. Was ich nöthig habe, ist Musik, bei der man das Leiden vergißt; bei der das animalische Leben sich vergöttlicht fühlt und triumphirt; 5 bei der man tanzen möchte; bei der man vielleicht, cynisch gefragt, gut verdaut? Die Erleichterung des Lebens durch l e i c h t e kühne selbstgewisse ausgelassene Rhythmen, die Vergoldung des Lebens durch g o l d e n e zärtliche gütige Harmonien — das nehme ich mir aus der ganzen Musik heraus. Im Grunde i° sind mir wenige Takte genug. Wagner vom Anfang bis zum Ende ist mir unmöglich geworden, weil er nicht g e h e n kann, geschweige denn tanzen. Aber das sind physiologische Urtheile, keine aesthetische: nur — habe ich keine Aesthetik mehr! M Kann er gehen? Kann er tanzen? — die entliehenen Formen z. B. Brahms, als typischer „Epigone" Mendelssohn's gebildeter Protestantismus ebenfalls (eine frühere „Seele" wird n a c h gedichtet...) 20 — die moralischen und poetischen Substitutionen bei W(agner> die eine Kunst als Nothbehelf für Mängel in den anderen. — der „historische Sinn", die Inspiration durch Dichten, Sagen jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert, unter D(eutschen) R. W das deutlichste Bei*5 spiel ist wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich umwandelt, 1830 in 1850 wenn irgend Etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere wohlwollendere 30 Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit insgleichen eine stolzere Empfindung in Betreff des Erkennens: so daß der „reine Thor" wenig Glauben findet
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Nachgelassene Fragmente
Physiologie der Kunst Beethoven — un pauvre grand homme, sourd, amoureux, m^connu et philosophe, dont la musique est pleine de reves gigantesques ou douloureux. 5
Mozart — g a n z d e u t s c h e G e f ü h l e ausdrückend, la candeur naive, la tendresse melancholique, contemplative, les vagues sourires, les timidites de Tamour.
Das Piano exalte et raffine. Mendelsohn les entoure de reves ardents, delicats, maladifs. io Les apres desirs tourmentes, les cris brises, revoltes, les passions modernes, sortent de tous les accords de Meyerbeer. In Hinsicht auf die M a 1 e r. tous ces modernes sont des p o e t e s , qui ont volu etre p e i n t res. L'un a cherche des drames dans Phistoire, Pautre 15 des scenes de mceurs, celui-ci traduit des religions, celui-la une Philosophie. Jener ahmt Raffael nach, ein anderer die ersten italienischen) Meister; die Landschafter verwenden Bäume und Wolken, um Oden und Elegien zu machen. K e i n e r ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Scene-Setzer *o irgendwelcher Erinnerung oder Theorie. Sie gefallen sich an unsrer Erudition, an unsrer Philosophie. Sie sind, wie wir, voll und übervoll von allgemeinen Ideen. Sie lieben eine Form nicht um das, was sie ist, sondern um das, was sie a u s d r ü c k t . Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektirten 2 5 Generation — Tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen, und nur dran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben. U n s e r Zustand: der Wohlstand macht die Sensibilität wachsen; man leidet an den kleinsten Leiden; unser Körper ist 3° besser geschützt, unsere Seele kränker. Die Gleichheit, das bequeme Leben, die Freiheit des Denkens, — aber zu gleicher Zeit
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[7]: Zur Physiologie der Kunst
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Penvie haineuse, la fureur de parvenir, Pimpatience du präsent, le besoin du luxe, Pinstabilite des gouvernements, les souffrances du doute et de la recherche. — man verliert ebenso viel als man gewinnt — 5 Ein Bürger von 1850, verglichen mit dem von 1750, glücklicher? moins opprime, plus instruit, mieux fourni de bien-etre, aber n i c h t p l u s g a i Im i7ten Jahrhundert war nichts häßlicher als ein Gebirge; man hatte tausend Gedanken ans Unglück dabei. M a n w a r 10 m ü d e d e r B a r b a r e i , w i e w i r h e u t e m ü d e d e r C i v i l i s a t i o n s i n d . Die Straßen heute so reinlich, die Gendarmes in Überfluß, die Sitten so friedlich, die Ereignisse so klein, so vorhergesehen, daß man aime l a g r a n d e u r e t ] ' i m p r £ v u . Die Landschaft wechselt wie die Litteratur; 15 damals bot sie lange zuckersüße Romane und galante Abhandlungen: h e u t e bietet sie la po&ie violente et des drames physiologistes. Diese Wildniß, die allgemeine unversöhnliche Herrschaft der nackten Felsen ennemi de la vie — nous delasse de nos 20 trottoirs, de nos bureaux et nos boutiques. Nur d e s h a l b lieben wir sie ZuDelacroix: chanter avec la couleur „das Echo der Stimme Victor Hugo's 25 während der Kriege hatten sich in die französische Seele eingeschlichen la melancholie poetique d'Angleterre, le lyrisme philosophique d'Allemagne Päme complementaire de Victor Hugo das Übergewicht der M u s i k 30 1830 und 40 Delacroix
in den Romantikern von
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Nachgelassene Fragmente
Ingres ein leidenschaftlicher Musiker, Cultus für Gluck Haydn, Beethoven Mozart sagte seinen Schülern in Rom „si je pouvais vous rendre tous musiciens, vous y gagneriez comme peintres" —) 5 insgleichen Horace Vernet, mit einer besonderen Leidenschaft für den Don Juan (wie Mendelssohn bezeugt 1831) insgleichen Stendhal, der von sich sagt: Der Präsident De Brosses sagt von der campagna Romana: „il fallait que Romulus füt ivre, quand il songea a bätir une 10 ville dans un terrain aussi laid" Fenelon vergleicht den gothischen Stil mit einer schlechten Predigt. Chateaubriand 1803 in einem Briefe an M. de Fontanes giebt den ersten Eindruck der campagna Romana. 15 Lamartine hat für Sorrent und den Posilipp die Sprache — V. Hugo schwärmt für Spanien, parce que „aucune autre nation n'a moins imprunte a Tantiquite\ parce qu'elle n'a subi aucune influence classique" Auch Delacroix wollte Rom nicht, es machte ihm Furcht. Er 20 schwärmte für Venedig, wie Shakespeare, wie Byron, wie G. Sand. Die Abneigung gegen Rom auch bei Th. Gautier — und bei R. Wagner. Was an unsrer D e m o c r a t i e zum Lachen ist: der sdiwarze Rock . . . *5 Tenvie, la tristesse, le manque de mesure et de politesse, les heros de George Sand, de Victor Hugo et de Balzac (et de Wagner) le goüt dela R e n a i s s a n c e ein Ameublement darin, eklatant et sombre, d'un style 30 tourmente et magnifique
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[7]: Zur Physiologie der Kunst
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cet äge de force et d'effort, d'audace inventive, de plaisirs effrenes et de labeur terrible, de sensualite et d'heroi'sme Jeanne d'Albret, die Mutter Heinrich IV, nach d'Aubigne's Unheil: $ „princesse n'ayant de la femme que le sexe, l'äme entiere aux choses viriles, Tesprit puissant aux grandes affaires, le cceur invincible aux adversitis." Agir, oser, jouir, depenser sa force et sa peine en prodigue, s'abandonner ä la Sensation presente, etre toujours presse de io passions toujours Vivantes, supporter et rechercher les exces de tous les contrastes, voilä la vie du seizieme siecle. Parmi ces violences et ces voluptes la devotion etait ardente. Die Religion war damals nicht eine Tugend, sondern eine Passion. Man gieng zur Kirche wie zur Schlacht oder zum 15 Rendezvous. die Ritter in der Zeit der Kreuzzüge — enfants robustes. Im Tödten und Heulen ein Raubthier. Ist die Wuth vorüber, dann kommen sie auf Thränen zurück und werfen sich munter an den Hals, zärtlich. *o
Das Urtheil „angenehm" „unangenehm" vgl. Musik — wechselt und formirt sich nach dem, was wir als „gesetzlich", vernünftig, sinnvoll, bedeutsam empfinden.
P h y s i o l o g i e der K u n s t Der Sinn und die Lust an der Nuance (die eigentliche M o *5 d e r n i t ä t ) , an dem, was n i c h t generell ist, läuft dem Triebe entgegen, welcher seine Lust und Kraft im Erfassen des T y p i s c h e n hat: gleich dem griechischen Geschmacke der
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Nachgelassene Fragmente
besten Zeit. Ein Überwältigen der Fülle des Lebendigen ist darin, das Maaß wird Herr, jene R u h e der starken Seele liegt zu Grunde, welche sich langsam bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzu-Lebendigen hat. Der allgemeine Fall, das Gesetz wird v e r e h r t und heraus g e h o b e n ; die Ausnahme wird umgekehrt bei Seite gestellt, die Nuance weggewischt. Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt — das „ g e f ä l l t " : d. h. das correspondirt mit dem, was man von sich hält.
( D r i t t e s Capitel. Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.)
7 [8] Nihilismus Zur V o r r e d e . Ich habe eine Tortur bisher ausgestanden: alle die Gesetze, auf denen das Leben sich entwickelt, schienen mir im Gegensatz 5 zu den Werthen zu stehen, um derentwillen Unsereins zu leben a u s h ä 11. Es scheint das nicht der Zustand zu sein, an dem Viele b e w u ß t leiden: trotzdem will ich die Zeichen zusammenstellen, aus denen ich annehme, daß es der G r u n d charakter, das eigentlich t r a g i s c h e Problem io unsrer modernen Welt und als geheime Noth Ursache oder Auslegung aller ihrer Nöthe ist. D i e s P r o b l e m i s t in m i r bewußt geworden. Nihilismus A. J 5 Von einer vollen herzhaften W ü r d i g u n g unserer jetzigen M<enschheit> auszugehen: sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen (diese Menschheit ist weniger „effektvoll", aber sie giebt ganz andere Garantien der D a u e r , ihr tempo ist langsamer, aber der io Takt selbst ist viel reicher die G e s u n d h e i t nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der „Asketismus" ironice —
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Nachgelassene Fragmente
die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum „rechten Weg", keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werthe (wie „Vaterland"), wie „Wissenschaft" usw. dies ganze Bild wäre aber immer noch z w e i d e u t i g : 5 — es könnte eine a u f s t e i g e n d e — oder aber eine a b s t e i g e n d e Bewegung des Lebens sein. B. D e r G l a u b e an d e n „ F o r t s c h r i t t " — in der io niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber da ist Selbsttäuschung; in der höheren Sphäre der Intelligenz als a b s t e i g e n d e s Schilderung der Symptome. Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in Betreff der iy Werthmaaße. F u r c h t vor einem allgemeinen „Umsonst" Nihilismus. C. Die Abhängigkeit a l l e r Werthmaaße von den moraio lischen der religiösen, ästhetischen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen D. Anzeichen eines Niedergangs im Glauben an die Moral.
*s
Nihilismus. Nichts ist gefährlicher als eine dem Wesen des L e b e n s widerstreitende Wünschbarkeit. die nihilistische Conscquenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der moralischen) Werthschätzung
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[8]: Der europäische Nihilismus
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d a s E g o i s t i s c h e i s t u n s v e r l e i d e t (selbst nach der Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen) das N o t h w e n d i g e i s t u n s v e r l e i d e t (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium und 5 einer „intelligiblen Freiheit") wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werthe gelegt haben, nicht erreichen — damit hat die andere Sphäre, in der wir leben, n o c h k e i n e s w e g s an Werth gewonnen: im Gegentheil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verio loren haben. „Umsonst bisher!" Hemmung der Erkenntniß durch die Moral. z.B. Versuch, das L e b e n mit der Moral zu v e r e i n b a r e n (zu identificiren) und vor der Moral zu rechtfertigen 15 Altruismus uranfänglich die selbstlose Denkweise möglich auch sans Obligation und sanction In w i e f e r n d i e M o r a l d i e E r k e n n t n i ß g e h e m m t hat. io der Werth des Individuums, die „ewige Seele", Fälschung der Psychologie Widerstand gegen die Causalität: Fälschung der Physik gegen die Entstehungsgeschichte überhaupt: Fälschung der Historie. *s Fälschung der Erkenntnißtheorie
(Viertes B u c h : D e r grosse Mittag.) ( E r s t e s C a p i t e L Das Prinzip des Lebens „Rangordnung".)
7 [9]
Methodisch: der Werth der i n n e r e n und der ä u ß e r e n Phänomenologie. A. Das B e w u ß t s e i n spät, kümmerlich entwickelt, zu äußeren Zwecken, den gröbsten Irrthümern ausgesetzt, sogar 5 e s s e n t i e l l etwas Fälschendes, Vergröberndes, Zusammenfassendes B. dagegen das Phänomen der s i n n l i c h e n Welt hundert Male vielfacher, feiner und genauer zu beobachten. Die äußere Phänomenologie giebt uns den bei weitem reichsten 10 Stoff und erlaubt die größere Strenge der Beobachtung; während die inneren Phänomene schlecht zu fassen sind und dem Irrthum verwandter (die inneren Prozesse sind essentiell I r r t h u m - e r z e u g e n d , weil Leben nur möglich ist unter der Führung solcher verengender perspektive-schaffender Kräfte) 15 NB. Alle Bewegung als Zeichen eines inneren Geschehens: — also der ungeheuer ü b e r w i e g e n d e Theil a l l e s inneren G e s c h e h e n s i s t u n s n u r a l s Z e i chen gegeben. Princip des Lebens 20 G r u n d i r r t h ü m e r der bisherigen Biologen: es handelt sich n i c h t um die Gattung, sondern um s t ä r k e r a u s z u w i r k e n d e I n d i v i d u e n (die Vielen sind nur Mittel)
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[9]: Prinzip des Lebens »Rangordnung*
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das Leben ist n i c h t Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr „Äußeres" sich unterwirft und einverleibt diese Biologen s e t z e n die moralischen) Werthschätzun5 gen f o r t (der an sich höhere Werth des Altruismus, die Feindschaft gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang- und Ständeordnung). Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vortheil der G a t t u n g , seiner Nachkommenschaft im Auge hat, io auf Unkosten des eigenen Vortheils: das ist nur S c h e i n die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den g e s c h l e c h t l i c h e n I n s t i n k t nimmt, ist nicht eine F o l g e von dessen Wichtigkeit für die Gattung: sondern das Zeugen ist die eigentliche L e i s t u n g des Individuums und M sein höchstes Interesse folglich, s e i n e h ö c h s t e M a c h t ä u ß e r u n g (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurtheilt, sondern von dem Centrum der ganzen Individuation) Princip des Lebens Das B e w u ß t s e i n , ganz äußerlich beginnend, als Co*o Ordination und Bewußtwerden der „Eindrücke" — anfänglich am weitesten entfernt vom biologischen Centrum des Individuums; aber-ein Prozeß, der sich vertieft, verinnerlicht, jenem Centrum beständig annähert. Zur E n t s t e h u n g d e r L o g i k . Der fundamentale *5 Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modihzirt, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den E r f o l g : es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zugleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser Prozeß ist ganz 3° entsprechend jenem äußeren mechanischen (der sein Symbol
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Nachgelassene Fragmente
ist), daß das P l a s m a fortwährend, was es sich aneignet, sich gleich macht und in seine Formen und Reihen einordnet. Die I n d i v i d u a t i o n , vom Standpunkte der Abstammungstheorie beurtheilt, zeigt das beständige Zerfallen 5 von Eins in Zwei, und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf d e n G e w i n n v o n wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedes Mal ab („der Leib**) Das Grundphänomen: u n z ä h l i g e I n d i v i d u e n geopfert um w e n i g e r w i l l e n , als deren *o Ermöglichung. — Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den V ö l k e r n und R a s s e n : sie bilden den „Leib** zur Erzeugung von einzelnen w e r t h v o l l e n I n d i v i d u e n , die den großen Prozeß fortsetzen. Princip des Lebens Die M ä c h t e in der G e s c h i c h t e sind wohl zu erkennen, bei Abstreifung aller moralischen und religiösen Teleologie. Es müssen die Mächte sein, die auch im ganzen Phänomen des organischen Daseins wirken. Die deutlichsten Aussagen im P f l a n z e n r e i c h . 20 Die großen Siege über das T h i e r : das Thier als Sklave, oder als Feind. — des Mannes über das W e i b : das Weib neben den grossen Schwankungen z. B. zwischen den Gesunden und Kranken. *J Wohinein die W ü r d e des Menschen gesetzt worden ist: über das Thier im Menschen Herr geworden zu sein griechisches über das Weib im Menschen Herr Ideal geworden zu sein 30 dagegen die c h r i s t l i c h e Würde: über den Stolz im Menschen Herr geworden zu sein über den J
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Ende 1886—Frühjahr 1887 7[9]: Prinzip des Lebens „Rangordnung"
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P r i n c i p des L e b e n s — die größere Complicirtheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder — wenn das V o 11 k o m 5 m e n h e i t ist, so ergiebt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge dessen h e r r s c h a f t l i c h e g e s t a l t e n d e b e f e h l e n d e K r ä f t e immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ w a c h s e n d . io
— nützlich in Bezug auf die Beschleunigung des tempos der Entwicklung ist ein anderes „Nützlich" als das in Bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.
der Geist ist nur ein Mittel und Werkzeug im Dienste des 15 höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens: und was das Gute anbetrifft, so wie es Plato (und nach ihm das Christenthum) verstand, so scheint es mir sogar ein lebensgefährliches, lebcnverleumdendes, lebenverneinendes Princip.
7 [IO] Man kennt die Art Mensch, welche sich in die Sentenz tout comprendre c'est tout pardonner verliebt hat. Es sind die Schwachen, es sind vor Allem die Enttäuschten: wenn es an Allem etwas zu verzeihen giebt, so giebt es auch an Allem etwas 5 zu verachten? Es ist die Philosophie der Enttäuschung, die sich hier so human in Mitleiden einwickelt und süß blickt. Das sind Romantiker, denen der Glaube flöten gieng: nun wollen sie wenigstens noch z u s e h e n , wie Alles läuft und verläuft. Sie nennen's l'art pour l'art, „Objektivität" usw. 7 ["] Sind nicht aus dem Anschein des Leeren und Vollen, des Festen und Lockeren, des Ruhenden und Bewegten, des Gleichen und Ungleichen — ist nicht der älteste Anschein zur Metaphysik gemacht? Das europäische Philosophiren der letzten Jahrhunderte, 15 das mit einer Würde und Biederkeit — was ist erkennen? Kann ich erkennen? io
7 t»] Die volkstümlichen Ideale, der gute Mensch, der Selbstlose, der Heilige, der Weise, der Gerechte. Oh Mark Aurel!
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[10—15]
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7 [13] Man muß die Augen auf haben: wenn irgend ein von Anbeginn altersschwacher Gesell immer seine Müdig(keit) als Weisheit Pessimismus) und Verklärung zur Schau trägt. Wenn ein müder verunglückter von Anbeginn alters$ schwacher Gesell seine Müdigkeit immer als Ergebniß eines tiefen kämpfenden, leidenden Innen- und Bierlebens oder eine vorlaute und unruhige Gackergans ihren Ehrgeiz in bedrucktes Papier aushaucht was habe ich schon Alles in Hinsicht auf philosophische 10 Falschmünzerei erlebt: der müde von Anbeginn altersschwache Esel, der seine Müdigkeit 7 [14] Philosophie von Kant definirt als „ W i s s e n s c h a f t von den G r e n z e n der Vernunft"! Daß es eine „Wahrheit* gäbe, der man sich irgendwie nä15 hern könne — Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in eine F o r m e l bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt usw. Aber ich habe kein „Gesetz" constatirt, sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier *o Etwas sich wiederholt: es ist eine Vermuthung, daß der Formel ein Complex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen entspricht: es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetze gehorchen, so daß in Folge ihres Gehorsams wir jedes Mal das gleiche Phänomen haben.
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7 [15] Ethik oder „Philosophie der Wünschbarkeit". „Es s o l l t e anders sein", es s o l l anders werden: die Unzufriedenheit wäre also der Keim der Ethik.
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2°
Nachgelassene Fragmente
Man könnte sich retten, erstens indem man auswählt, wo man n i c h t das Gefühl hat; zweitens, indem man die Anmaaßung und Albernheit begreift: denn verlangen, daß E t w a s anders ist als es ist, heißt: verlangen, daß A l l e s anders ist, — es enthält eine verwerfende Kritik des Ganzen — es ist insofern . . . A b e r L e b e n i s t s e l b s t e i n s o l c h e s Verlangen ! Feststellen, w a s ist, w i e es ist, scheint etwas unsäglich Höheres, Ernsteres als jedes „so sollte es sein": weil Letzteres, als menschliche Kritik und Anmaaßung, von vornherein zur Lächerlichkeit verurtheilt erscheint. Es drückt sich darin ein Bedürfniß aus, welches verlangt, daß unsrem menschlichen Wohlbefinden die Einrichtung der Welt entspricht; auch der Wille, so viel als möglich auf diese Aufgabe hin zu thun. Andrerseits hat nur dies (Verlan)gen „so sollte es sein" jenes andere Verlangen nach dem, was i s t , hervorgerufen: (das W>issen nämlich darum, was ist, ist bereits eine Consequenz jenes Fragens: „wie? ist (es) möglich? warum gerade so?a Die Verwunderung über die Nicht-Übereinstimmung unsrer Wünsche und des Weltlaufs hat dahin geführt, den Weltlauf kennen zu lernen. Vielleicht steht es noch anders: vielleicht ist jenes „so sollte es sein", unser Welt-Uberwältigungs-Wunsch,
7 [16] U n s r e A b z e i c h e n z. B. die kritische Stellung zum Christenthum MA 2,182 *5 T a f e l der A b g r e n z u n g e n z. B. gegen Idealisten und Romantiker als Schauspieler und Selbstbelügner gegen die Beschaulichen gegen den Nationalismus. 3° Zur P s y c h o l o g i e der E i n s a m k e i t . Zu E h r e n d e s I r r t h u m s .
Ende 1836—Frühjahr 1887 7[15—18]
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Antagonismus zwischen Vermenschlichung und Vergrößerung des Menschen. Die Vollen und Schenkenden im Gegensatz zu den Suchenden, Begehrenden. Die aesthetischen Zustände zwiefach. Bücher und Menschen. Fragen der Gesundheit. Moderne Musik. Classische Erziehung, Großstadt. Laster des Intellects 7[I7]
Den größten Ekel haben mir bisher die Schmarotzer des Geistes gemacht: man findet sie, in unserem ungesunden Europa, überall sitzen, und zwar mit dem besten Gewissen von der 15 Welt. Vielleicht ein wenig trübe, ein wenig air pessimiste, in der Hauptsache aber gefräßig, schmutzig, beschmutzend, sich einschleichend, einschmiegend, diebisch, krätzig, — und unschuldig wie alle kleinen Sünder und Mikrobien. Sie leben davon, daß andere Leute Geist haben, und ihn mit vollen Händen aus*o geben: sie wissen, wie es selbst zum Wesen des reichen Geistes gehört, unbekümmert, ohne kleinliche Vorsicht, auf den Tag hin und selbst verschwenderisch sich auszugeben — denn der Geist ist ein schlechter Haushalter und hat kein Augenmerk darauf, wie Alles von ihm lebt und zehrt. 7[l8]
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» J e d e T h ä t i g k e i t als solche macht Lust" — sagen die Physiologen. In wiefern? Weil die aufgestaute Kraft eine
Art von D r a n g und D r u c k mit sich gebracht hat, einen Zustand, dem gegenüber das Thun als B e f r e i u n g gefühlt wird? Oder insofern jede Thätigkeit ein Ü b e r w i n d e n 3° von Schwierigkeiten und Widerständen ist? Und viele kleine
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Nachgelassene Fragmente
Widerstände, immer wieder überwunden, leicht und wie in einem rhythmischen Tanze eine Art K i t z e l d e s M a c h t g e f ü h l s mit sich bringen? Lust als K i t z e l des M a c h t g e f ü h l s : immer etwas 5 voraussetzend, was widersteht und überwunden wird. Alle Lust- und Unlusterscheinungen sind intellektuell, Gesammtbeurtheilungen von irgend welchen Hemmungserscheinungen, Auslegungen derselben 7 [19] In willensschwächeren und vielfacheren Zeitaltern ist ein 10 hoher Grad von Entartung und Absonderlichkeit nicht sofort gefährlich und bedingt keine Ausmerzung aus dem gesellschaftlichen Körper; andrerseits geht man nicht gleich zu Grunde, weil die m i t t l e r e Quantität aller Kräfte selbst in sehr willkürlichen und e i g e n s ü c h t i g e n Wesen nach außen zu die 15 aggressive und herrschsüchtige Tendenz verhindert. Die Gefahren solcher Zeitalter sind die concentrirten W i l l e n s m ä c h t i g e n ; während in starken Zeitaltern die Gefahr in den U n s i c h e r e n liegt. 7 [20]
Die Philosophen-Moral von Sokrates ab eine Don-Quixo20 terie
ein gutes Stück Schauspielerei ein Selbst-Mißdeuten was sie eigentlich ist? idiosynkratisch: die Begeisterung für Dialektik, opti*S mistisch — die überreizbare Sinnlichkeit und folglich Furcht die größte aller Schwindeleien und Selbstverlogenheiten, zwischen gut, wahr und schön eine Identität zu setzen und diese Einheit d a r z u s t e l l e n der Kampf gegen die Sophisten ist psychologisch schwer zu 3° fassen: es ist eine A b t r e n n u n g nöthig, um nicht mit ihnen
Ende 1836—Frühjahr 1887 7[18—24]
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verwechselt zu werden (wozu Alles einlud, weil sie nämlich sich verwandt fühlten). W e t t b e w e r b um die J ü n g l i n g e — Tugend und Ironie und Scharfsinn bei Socrates — bei Plato der Verliebte (Päderast), der Künstler (?), der Oligarch — 5 Unabhängigkeits-Erklärung, Auswanderung aus der Polis, Ablösung von der Herkunft — Kritik der Cultur vom Standpunkt der „Moral" und der Dialektik!!! — absoluter Mangel an „historischem Sinn" — io Symptom der decadence — — ob nicht a l l e spezifisch m o r a l i s c h e n Bewegungen bisher Symptome der decadence waren?
7[«1 P e r s p e k t i v i s m u s der Wünschbarkeit (des I d e a l s ) 7 ["] Einer kritisirt: sein Temperament sagt dazu Ja 15 oft thut uns die Abwesenheit von Geist wohl 7 [23] NB. In psychologischer Hinsicht habe ich z w e i S i n n e : einmal: d e n S i n n f ü r d a s Nackte sodann: d e n W i l l e n z u m großen Stil (wenige Hauptsätze, diese im strengsten Zusammenhang; *o kein esprit, keine Rhetorik). 7 [24] Alle die Triebe und Mächte, welche von der Moral g e l o b t werden, ergeben sich mir als essentiell g l e i c h mit den von ihr verleumdeten und abgelehnten z. B. Gerechtigkeit als Wille zur Macht, Wille zur Wahrheit als Mittel des Willens zur Macht
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Nachgelassene Fragmente
Gegen den D a r w i n i s m u s . — der Nutzen eines Organs erklärt n i c h t seine Entstehung, im Gegentheil! — die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich 5 bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampfe mit äußeren Umständen und Feinden — was ist zuletzt „nützlich"? Man muß fragen „in Bezug w o r a u f nützlich?" Z. B. was der D a u e r des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht ungünstig sein; was das io Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stille stellen in der Entwicklung. Andrerseits kann ein M a n g e l , eine E n t a r t u n g vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt. Ebenso kann eine N o t h 1 a g e Existenzbedingung sein, insofern sie ein Individuum auf 15 das Maaß herunterschraubt, bei dem es z u s a m m e n h ä l t und sich nicht vergeudet. — Das Individuum selbst als Kampf der Theile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein S i e g e n , V o r h e r r s c h e n einzelner Theile, an ein V e r 20 k ü m m e r n , „Organwerden" änderet Theile — der Einfluß der „äußeren Umstände" ist bei D(arwin) ins Unsinnige ü b e r s c h ä t z t ; das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die „äußeren Umstände" a u s 25 n ü t z t, a u s b e u t e t . . . — daß die von Innen her gebildeten n e u e n Formen n i c h t auf einen Zweck hin geformt sind, aber daß im Kampf der Theile eine neue Form nicht lange ohne eine Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen wird, und dann dem G e 30 b r a u c h e nach sich immer vollkommener ausgestaltet — wenn sich nur das erhalten hat, was sich d a u e r n d als nützlich bewies, so in erster Reihe die schädigenden zer-
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[25—29]
störenden lige,
auflösenden
Fähigkeiten,
das Sinnlose,
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Zufäl-
7 [*6] Was b e d e u t e t das, daß wir die campagna Romana nachfühlen? Und das Hochgebirge? Was b e d e u t e t unser 5 Nationalismus? Idealismus oder Selbstverlogenheit. Kritik der (Zivilisation. Die Metamorphosen des Kreuzes. Die Verfeinerungen der Furcht io der Wollüstigkeit. der Verachtung 7 [27] Vollerer Begriff des Lebens Die Arten des Rausches Die moderne Schauspielerei (z. B. „V a t e r 1 a n d" : in 15 wiefern es uns wider das Gewissen geht, Patrioten zu sein) Die ganze Europäische Falschheit. Die Kluft —
10
7 [28] Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit verdaut seine Thaten ganz eben so, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts thut, was ihm widersteht, so wenig als er etwas ißt, das ihm nicht schmeckt. 7 [29]
*s
Zur Geschichte des modernen Lasters. Der Anarchismus.
306
Nachgelassene Fragmente
7 [30] — Naivetät des philosophischen Alterthums, psychologische Unschuld; ihre „Weisen" waren langweilig. Gegen das Alterthum gehalten, das an die Vernunft (die g ö t t l i c h e Herkunft der Vernunft), an die Tugend (als 5 höchste Vernünftigkeit und Unabhängigkeit des Geistes) glaubte, lehrt das Christenthum den V e r d a c h t , daß Alles im Grunde böse und unverbesserlich sei, daß der Stolz des Geistes seine größte Gefahr sei usw. 7 [31] D a s t r a g i s c h e Z e i t a l t e r für 10 dingt durch den Kampf mit dem Nihilismus.
Europa:
be-
7 [3a] Der absolute Mangel an V o r b e r e i t u n g für das Aufnehmen von Wahrheiten; keine Gradation der Erziehung; blindes Zutrauen in den Geist; die moderne „Gutmüthigkeit". 7 [33] Gegen die Theorie vom „milieu". Die Rasse unsäglich 15 wichtiger. Das milieu ergiebt nur „Anpassung"; innerhalb derselben spielt die ganze aufgespeicherte Kraft. 7 [34] Der Causalismus. Dieses „Aufeinander" bedarf immer noch der A u s l e g u n g : „Naturgesetz" ist eine Auslegung usw. „Ursache und Wirkung" geht zurück auf den Begriff „Thun 20 und T h ä t e r " . D i e s e Scheidung woher? Bewegung als Symptom eines nicht-mechanischen Geschehens. Bei der mechanistischen Weltauffassung s t e h e n b l e i ben — das ist, wie als ob ein Tauber die Partitur eines Werks als Ziel nimmt.
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Logik — ihr Wesen nicht entdeckt. Kunst der e i n d e u tigen Bezeichnung? 7 t35] Kritik der menschlichen Ziele. Was wollte die antike Philosophie? Was das Christenthum? Was die Vedanta-Philosophie? 5 Was Buddha? — Und h i n t e r diesem Willen w a s s t e c k t da? Psychologische Genesis der bisherigen Ideale: was sie eigentlich bedeuten? 7 [36] Gesetzt, unsere übliche Auf fassung der Welt wäre ein M i ß 10 v e r s t ä n d n i ß : könnte eine V o l l k o m m e n h e i t concipirt werden, innerhalb deren selbst solche M i ß v e r s t ä n d n i s s e s a n k t i o n i r t wären? Conception einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem „Schönen", unserem „Guten", unserem „Wallis ren" n i c h t entspricht, könnte in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst ist. 7 [37] vis est v i t a , v i d e s , q u a e nos f a c e r e cogit
omnia Lucilius
2
°
BiosttaXeiTaiö'oc; ßiq. jioQi£eTai.
7 [38] Es ist ganz und gar nicht die erste Frage ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgend womit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu *5 allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst, noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal
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Nachgelassene Fragmente
unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies Eine Geschehen zu bedingen — und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und 5 bejaht. 7 [39] Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Veraditungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesent10 lichste zu sagen, mit einem neuen Wachs thum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der w(eich)er etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachsthums in der Liebe errathen hat, wird Dante, als er über die Pforte seines inferno schrieb: „auch mich schuf die ewige Liebe" (, verstehen.)
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7 [40] Die Welt ist ins Ungeheure gewachsen und wächst fortwährend: unsere Weisheit lernt endlich, von sich kleiner zu denken; wir Gelehrten sogar, wir fangen eben an, w e n i g zu wissen . . .
7 ui] Das Begierden-Erdreich, aus dem die L o g i k herausge*o wachsen ist: Heerden-Instinkt im Hintergrunde, die Annahme der gleichen Fälle setzt die „gleiche Seele" voraus. Zum Z w e c k der V e r s t ä n d i g u n g u n d H e r r s c h a f t . 7 [42] Der Antagonism zwischen der „wahren Welt", wie sie der Pessimismus aufdeckt, und einer lebensmöglichen Welt: — dazu *5 muß man die Rechte der W a h r h e i t prüfen, es ist nöthig, den Sinn aller dieser „idealen Triebe" am L e b e n zu messen,
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um zu begreifen, was eigentlich jener Antagonism ist: der Kampf des krankhaften verzweifelnden, sich an Jenseitiges klammernden L e b e n s mit dem gesünderen dümmeren verlogneren reicheren unzersetzteren Leben. Also nicht „Wahr5 heit" im Kampf mit Leben, sondern eine Art Leben mit einer anderen. — Aber es will die h ö h e r e A r t sein! — Hier muß die Beweisführung einsetzen, daß eine Rangordnung noth thut, — daß das erste Problem das der R a n g o r d n u n g d e r A r t e n L e b e n ist.
io
7 [43] Nihilismus als Folge der moralischen Welt-Auslegung. Rangordnung. Die ewige Wiederkunft.
7 [44] „Nützlich" im Sinne der darwinistischen Biologie, d. h. im Kampf mit Anderen sich als begünstigend erweisend. Aber mir 15 scheint schon das M e h r g e f ü h l , das Gefühl des S t a r k e r - W e r d e n s , ganz abgesehn vom Nutzen im Kampf, der eigentliche F o r t s c h r i t t : aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf, — 7 [45] 1.
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Kritik der Werthe, gemessen am Leben. 2.
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Die Herkunft der Werthe 3Das Leben als Wille zur Macht 4Die Umgekehrten ihr Hammer „die Lehre von der Wiederkunft".
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Nachgelassene Fragmente
7 [4<] Die Art Mensch, deren Mundstück ich bin: nicht an unerfüllten Idealen leidend, sondern an erfüllten! daran nämlich, daß das Ideal, w e l c h e s w i r d a r s t e l l e n und von dem so viel Wesens gemacht wird, von uns mit einer leichten Geringschätzung behandelt wird — ein gefährliches Heimweh nach der ehemaligen „Wildniß" der Seele, nach den Bedingungen der Größe, so gut als der Teufelei — wir genießen unsre unordentlicheren, wilderen, verrückteren Augenblicke, wir wären im Stande, ein Verbrechen zu begehen, nur um zu sehn, was es mit einem Gewissensbiß auf sich hat — wir sind blasirt gegen die alltäglichen Reize des „guten Menschen", der guten gesellschaftlichen) Ordnung, der braven Gelehrsamkeit — wir leiden nicht an der „Verderbniß", wir sind sehr verschieden von Rousseau und sehnen uns nicht nach dem „guten Naturmenschen" — wir sind d e s G u t e n m ü d e , n i c h t des Leidens: wir nehmen Krankheit, Unglück, Alter, Tod n i c h t mehr ernst genug, am wenigsten mit dem Ernste der Buddhisten, als ob die Einwände gegen das Leben gegeben seien.
7 [47] Kritik der V a t e r l ä n d e r e i : wer über sich Werthe fühlt, die er hundert Mal höher nimmt als das Wohl 25 des „Vaterlands", der Gesellschaft, der Bluts- und Rassenverwandtschaft, — Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe — der würde zum Heuchler, wenn er den „Patrioten" spielen wollte. Es ist eine N i e d e r u n g von Mensch und Seele, welche den nationalen Haß 30 bei sich aushält (oder gar bewundert und verherrlicht): die dynastischen Familien beuten diese Art Mensch aus, — und
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wiederum giebt es genug Handels- und Gesellschaftsklassen (auch natürlich die käuflichen Hanswürste, die Künstler), die ihre Förderung gewinnen, wenn diese nationalen Scheidewässer wieder die Macht haben. Thatsächlich ist eine n i e d r i g e r e 5 Species zum Übergewicht gelangt 7 U8] Intellektualität des S c h m e r z e s : er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen W e r t h die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum. ob es Schmerzen giebt, in denen „die Gattung" und n i c h t 10 das Individuum leidet — Was bedeutet a c t i v und p a s s i v ? ist es nicht h e r r werden und ü b e r w ä l t i g t werden und Subject und Object? 7 [493 Die Frage der Werthe ist f u n d a m e n t a l e r als die M Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Werthf rage beantwortet ist. Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergiebt kein „Sein an sich", keine Kriterien für „Realität", sondern nur für Grade der Scheinbarkeit gemessen an der Stärke des A n jo t h e i 1 s den wir einem Schein geben. 7 [jo] Das Problem der Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Gewißheit. Das Problem des Guten Das Problem der Gerechtigkeit. Das Problem des Maaßes. *5
Das Problem der Rangordnung.
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Nachgelassene Fragmente
7[ji] Die V e r l e t z u n g provocirt e n t w e d e r tion oder d i e U n t e r w e r f u n g
die Reak-
7[52]
. Die christlichen Interpreten, wie Carlyle, heute als Form der U n r e d l i c h k e i t : ebenso die Bewunderung der Zei5 tcn des G1 a u b e n s. 7[J3] Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft: — v e r n i c h t e t wird die überwundene V n i c h t , nur z u r ü c k g e d r ä n g t oder s u b o r d i n i r t . io Es g i e b t im G e i s t i g e n k e i n e V e r n i c h t u n g . . . 7[J4] Dem Werden den Charakter des Seins — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t .
aufzuprägen
Z w i e f a c h e F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des 15 Verharrenden, Gleichwertigen usw. Daß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t des W e r d e n s an d i e des S e i n s : G i p f e l der B e t r a c h t u n g . Von den Werthen aus, die dem Seienden beigelegt werden, 20 stammt die Verurtheilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war. Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.) „Das Seiende" als Schein; Umkehrung der Werthe: der *S Schein war das W e r t h v e r l e i h e n d e —
Ende 1886—Frühjahr 1887 7[51—55]
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3°
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Erkenntniß an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntniß möglich? Als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung. Werden als Erfinden Wollen Selbstverneinen, Sich-selbstÜberwinden: kein Subjekt, sondern ein Thun, Setzen, schöpferisch, keine „Ursachen und Wirkungen". Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als „Verewigen", aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im Kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend Was a l l e s L e b e n zeigt, als verkleinerte Formel für die gesammte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixirung des Begriffs „Leben", als Wille zur Macht Anstatt „Ursache und Wirkung" der Kampf der Werdenden mit einander, oft mit Einschlürfung des Gegners; keine constante Zahl der Werdenden. Unbrauchbarkeit der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren thierische Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend. Unbrauchbarkeit der mechanistischen Theorie — giebt den Eindruck der S i n n l o s i g k e i t . Der ganze I d e a l i s m u s der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in N i h i l i s m u s umzuschlagen — in den Glauben an die absolute W e r t h l o s i g k e i t das heißt S i n n l o s i g keit... Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde, die neuen Künste, um es auszuhalten, wir A m p h i b i e n . V o r a u s s e t z u n g : Tapferkeit, Geduld, keine „Rückkehr", keine Hitze nach vorwärts NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werthen verhaltend, aus der Fülle heraus. 7[55] Wenn es „nur Ein Sein giebt, das Ich" und nach seinem
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Nachgelassene Fragmente
Bilde alle anderen „Seienden" gemacht sind, — wenn schließlich der Glaube an das „Ich" mit dem Glauben an die Logik d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorie steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als etwas W e r d e n d e s 5 erweist: so 7[$6]
G e g e n das physikalische Atom. Um die Welt zu begreifen, müssen wir sie berechnen können; um sie berechnen zu können, müssen wir constante Ursachen haben; weil wir in der Wirklichkeit keine solchen constanten Ursachen finden, e r 10 d i c h t e n wir uns welche — die Atome. Dies ist die Herkunft der Atomistik. Die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln — ist das wirklich ein „Begreifen"? Was wäre wohl an einer Musik begriffen, wenn alles, was an 15 ihr berechenbar ist und in Formeln abgekürzt werden kann, berechnet wäre? — Sodann die „constanten Ursachen", Dinge, Substanzen, etwas „Unbedingtes" also; e r d i c h t e t — was hat man erreicht? 7 [57] Es gab einen melancholischen Nachmittag, an dem Spinoza 20 mit sich unzufrieden war: ein kleines Vorkommniß wollte ihm nicht aus dem Sinn — er tadelte sich in Hinsicht auf dieses Vorkommniß. Mit Einem Male sagte er sich: das ist der morsus conscientiae! Aber wie ist der morsus conscientiae bei mir noch möglich? 7 [58] 25
Kritik des christlichen Ideals: seine Voraussetzungen die Existenzbedingungen der Seele — es handelt sich ums e w i g e L e b e n , und um Verdammniß oder Seligkeit
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7 [59] Der Determinism ist nur jener Moral schädlich, welche an's liberum arbitrium als Voraussetzung der Moralität glaubt an die „Verantwortlichkeit" [60] Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen ste5 hen bleibt „es giebt nur Thatsachen", würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum „an sich" feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. „Es ist alles subjektiv" sagt ihr: aber schon das ist A u s l e g u n g , das „Subjekt" ist nichts 10 Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. — Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort „Erkenntniß" Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders d e u t b a r , sie hat keinen 15 Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne „Perspektivismus". Unsre Bedürfnisse sind es, d i e d i e W e l t a u s l e g e n : unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsudit, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte. 7
7 [61] 20
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Vorläufige Überschriften von Capiteln. Antagonismus von „Verbesserung" und „Vergrößerung" des Menschen (resp. Zähmung und Verstärkung) Kritik des christlichen Ideals (Demuth, Keuschheit, Armut, Einfalt) Kritik des stoischen Ideals (eingerechnet der „Fakir") Kritik des epikureischen Ideals (eingerechnet das „olympische** — auch die „Beschaulichen") Die Metamorphosen der Sklaverei. Künstler und Eroberer. Was will Schönheit?
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Nachgelassene Fragmente
Gerechtigkeit, Schuld, Strafe, Verantwortlichkeit — der Gesetzgeber. Kritik des romantischen Ideals, insgleichen jenes Ideals, das dem Pessimisten seine Kraft zu hassen und zu verachten giebt Der interpretative Charakter des Lebens (was bedeutet Nihilismus?) „Ziellosigkeit" Das nächste Jahrhundert und seine Vorgänger. Kritik der Handlung (Ursache und Wirkung, Thun, Zweck) Rangordnung 7 [«*] Die Wenigsten machen sich klar, was der Standpunkt der W ü n s c h b a r k e i t , jedes „so sollte es sein, aber es ist nicht" oder gar „so hätte es sollen gewesen sein" in sich schließt: eine Verurtheilung des gesammten Gangs der Dinge. Denn in ihm giebt es nichts Isolirtes: das Kleinste trägt das Ganze, auf deinem kleinen Unrechte steht der ganze Bau der Zukunft, das Ganze wird bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, mit verurtheilt. Gesetzt nun gar, daß die moralische Norm, wie es selbst Kant vermeinte, niemals vollkommen erfüllt worden ist und als eine Art Jenseits über der Wirklichkeit hängen bliebe, ohne jemals in sie hineinzufallen: so schlösse die Moral ein Urtheil über das Ganze in sich, welches aber doch erlaubte zu fragen: w o h e r n i m m t s i e d a s R e c h t d a z u ? Wie kommt der Theil dazu, dem Ganzen gegenüber hier den Richter zu machen? — Und wäre es in der That ein unausrottbarer Instinkt, dieses moralische) Urtheilen und Ungenügen am Wirklichen, wie man behauptet hat, gehörte dann dieser Instinkt nicht vielleicht mit zu den unausrottbaren Dummheiten, auch Unbescheidenheiten unserer species? — Aber, indem wir dies sagen, thun wir das, was wir tadeln; der Standpunkt der Wünschbarkeit, des unbefugten Richterspielens gehört mit in den Charakter des Gangs der Dinge, jede Ungerechtigkeit und Unvoll-
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kommenheit ebenso, — es ist eben unser Begriff von „Vollkommenheit**, welcher seine Rechnung nicht findet. Jeder Trieb, der befriedigt werden will, drückt seine Unzufriedenheit mit der jetzigen Lage der Dinge aus: wie? ist vielleicht das Ganze aus lauter unzufriedenen Theilen zusammengesetzt, die allesammt Wünschbarkeiten im Kopf haben? ist der „Gang der Dinge** vielleicht eben das „Weg von hier! Weg von der Wirklichkeit!**, die ewige Unbefriedigung selbst? ist die Wünschbarkeit vielleicht die treibende Kraft selbst? ist sie — deus? Es scheint mir wichtig, daß man d a s All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und Gott zu taufen. Man mu<ß) das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten (und) Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre. Was Kant z. B. sagt „Zwei Dinge bleiben ewig verehrenswerth** — heute würden wir eher sagen „die Verdauung ist ehrwürdiger**. Das All brächte immer die alten Probleme mit sich „wie Übel möglich sei?" usw. Also: es g i e < b t > k e i n A l l , es f e h l t das große Sensorium oder Inventarium oder Kraft-Magazin: d a r i n [+ + + ]
7 [«3] Muß nicht alle Philosophie endlich die Voraussetzungen, auf denen die Bewegung der V e r n u n f t ruht, ans Licht bringen? Unseren G l a u b e n an das I c h , als an eine Substanz, 2 5 als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen? Der älteste „Realismus" kommt zuletzt ans Licht: zu gleicher Zeit, wo die ganze religiöse Geschichte der Menschheit sich wiedererkennt als Geschichte vom Seelen-Aberglauben. H i e r i s t e i n e S c h r a n k e : unser 50 Denken selbst involvirt jenen Glauben (mit seiner Unterscheidung von Substanz-Accidens, Thun, Thäter usw.), ihn fahren lassen heißt nicht-mehr-denken-dürfen.
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Nachgelassene Fragmente
Daß aber ein Glaube, so nothwendig er ist, zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu thun hat, erkennt man z. B. selbst daran, daß wir an Zeit Raum und Bewegung glauben m ü s s e n , ohne uns gezwungen zu fühlen, hier abso5 lute[+ + + ] 7 [«4] [+ + + ] a l l e r W e r t h e Erstes Buch. Der europäische Nihilismus.
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Zweites Buch, Kritik der höchsten Werthe. Drittes Buch. Princip einer neuen Werthsetzung. Viertes Buch. Zucht und Züchtung.
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entworfen den 17. März 1887, Nizza.
I. Jede rein moralische Werthsetzung (wie z. B. die buddhistische) e n d e t m i t N i h i l i s m u s : dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralism ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihi20 lismus n o t h w e n d i g . In der Religion fehlt der Zwang, uns als werthsetzend zu betrachten. 7 [<j] Wie plump ist jedes Mal der Erfolg und sein erbärmlicher Ausgangspunkt in Eins gerechnet! Selbst bei Künstlern: wie kann man vom Werk auf den Künstler zurückschließen! H o -
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m e r — fühlt ihr nicht den Pessimisten und Überreizbaren, der um seiner Leiden willen jene Fülle von Vollendung der Olympier erdichtet! Die Theorien des Philosophen sind e n t w e d e r die brutale Verallgemeinerung seiner Sensibilitäts-Erfahrung, 5 o d e r das Mittel, wodurch er über diese Sensibilität Herr bleiben will, — Geistigkeit usw. — Flucht vor ihr ins Geistig-Kalte, Formelhaft-Starre. 4Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in io Larodiefoucauld. welcher ihn überall herauszog und damit den Werth der Dinge und Tugenden v e r m i n d e r t glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts Anderes geben k ö n n e als Egoismus, — daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der 15 großen Liebe schwach wird, — daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, — daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Werthschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse 1) derer, denen genützt, geholfen wird, der Heerde 2) enthält <sie) einen pessimistischen Argwohn gegen *o den Grund des Lebens 3) möchte (sie) die prachtvollsten und wohlgerathensten Menschen verneinen; Furcht 4) will <sie> den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger 5) bringt (sie) eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den werthvollsten Menschen.
Musik und ihre Gefährlichkeit, — ihre Schwelgerei, ihre Auferweckungskunst für christliche Zustände, vor allem für jene Mischung von versetzter Sinnlichkeit und Gebets-Brünstigkeit (Franc(iscus) von Assisi) — geht Hand in Hand mit der Un3° Sauberkeit des Kopfes, und der Schwärmerei des Herzens; zerbricht den W i l l e n , überreizt die Sensibilität, die Musiker sind geil.
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Nachgelassene Fragmente
NB. U r s a c h e n (innere Zustände) aus denen die Kunst wächst: und, s e h r v e r s c h i e d e n davon, die W i r kungen.) 7 [66]
Welche Art Menschen mag sich beim Lesen meiner Schriften 5 schlecht befinden? Von denen, wie billig, abgesehn, welche sie überhaupt „nicht verstehen" (wie die gebildeten Schweine und Großstadt-Gänse, oder die Pfarrer, oder die „deutschen Jünglinge", oder Alles, was Bier trinkt und nach Politik stinkt). Da sind zum Beispiel Litteraten, welche mit dem Geiste Schacher io treiben und von ihren Meinungen „leben" wollen — sie haben nämlich entdeckt, daß etwas an einer Meinung (wenigstens an gewissen Meinungen) ist, das Geldes Werth hat, — gegen sie bläst aus meinen Schriften ein beständiger Hauch eisiger Verachtung. Insgleichen beglücke ich schwerlich die Litteratur15 Weiberchen, wie sie zu sein pflegen, mit krankhaften GeschlechtsWerkzeugen und Tintenklexen an den Fingern; vielleicht weil ich zu hoch vom Weibe denke, als daß ich es zum Tintenfische herabbringen möchte? Insgleichen verstehe ich, warum alle geschwollenen Agitatoren mir gram sind: denn sie brauchen ge20 rade die großen Worte und den Lärm tugendhafter Principien, welche ich — — — und die, sobald sie einen Stich fühlen, in Gefahr sind zu platzen — — — An all dieser Gegnerschaft ist mir wenig gelegen: aber es giebt eine andre, deren Wehe mir selbst wehthut: — das sind 25 die aus dem Pöbel Sich-mühsam-Emporarbeitenden, die Menschen des sittlichen Durstes, der kämpfenden Spannung, die nach dem Vornehmen leidenschaftlich Verlangenden. Ihnen muß es scheinen, als ob aus meinen Schriften sie ein ironisches Auge anblicke, das sich nichts von ihrem kleinen Heldenthum ent3° gehen läßt — ein Auge, dem ihr ganzes kleines Elend, auch ihre Ermüdungen und was von Eitelkeit allen Müden Noth thut, ihr
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Ameisen-Klettern und -Herabpurzeln beständig gegenwärtig ist.
?m Neulich hat ein Herr Theodor Fritsch aus Leipzig an mich geschrieben. Es giebt gar keine unverschämtere und stupidere 5 Bande in Deutschland als diese Antisemiten. Ich habe ihm brieflich zum Danke einen ordentlichen Fußtritt versetzt. Dies Gesindel wagt es, den Namen Z(arathustra) in den Mund zu nehmen! Ekel! Ekel! Ekel! [68] NB!! io so daß man unter den Atheisten weniger F r e i s i n n i g k e i t in moralischen Dingen rindet als unter den Frommen und Gottgläubigen (z. B. Pascal ist in moralischen Fragen freier und freisinniger als Schopenhauer) 7
7 [69] Pascal sah in zwei Gestalten, in Epictet und Montaigne, 15 seine eigentlichen Versucher, gegen die er nöthig hatte sein Christenthum immer wieder zu vertheidigen und sicher zu stellen. 7 [70] Es giebt über dem Dampf und Schmutz der mensdilichen Niederungen eine h ö h e r e h e l l e r e M e n s c h h e i t , die *o der Zahl nach eine sehr kleine sein wird — denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach, selten —: man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre, als die Menschen da unten, sondern weil man k ä l t e r , h e l l e r , w e i t s i c h t i g e r , e i n s a m e r *5 ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja als Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken
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Nachgelassene Fragmente
und Blitzen wie unter seines Gleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Thautropfen, Schneeflocken und allem, was nothwendig aus der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung v o n O b e n n a c h U n t e n bewegt. Die Aspirationen n a c h der Höhe sind nicht die unsrigen. — Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.
[8 = Mp XVII 3 c. Sommer 1887] (Erstes Buch: „was ist Wahrheit?") (Drittes Capitel. Der Wille zur Wahrheit.) 8[i] Das P r o b l e m der Wahrheit. Das Bedürfniß nach Glauben ist der g r ö ß t e Hemmschuh der W a h r h a f t i g k e i t . Der Wille zur W a h r h e i t 5 Die Falschheit. Die u n b e w u ß t e Falschheit. Jeder s o u v e r ä n e I n s t i n k t hat die anderen zu seinen Werkzeugen, Hofstaat, Schmeichlern: er läßt sich nie bei seinem h ä ß l i c h e n Namen nennen: und er duldet k e i n e a n d e r e n Lobsprüche, bei denen er nicht i n d i r e k t m i t J o gelobt wird. Um jeden souveränen Instinkt herum krystallisirt sich alles Loben und Tadeln überhaupt zu einer festen Ordnung und Etiquette. Dies die E i n e Ursache der Falschheit. M Jeder nach Herrschaft strebende, aber unter einem Joch befindliche Instinkt, braucht für sich, zur Unterstützung seines Selbstgefühls, zur Stärkung, alle schönen Namen und a n e r k a n n t e n Werthe: so daß er sich hervorwagt zumeist unter dem Namen des von ihm bekämpften *o „Herren", von dem er frei werden will. (Z. B. unter der Herrschaft christlicher Werthe die fleischliche Begierde oder die Machtbegierde) Dies die a n d e r e Ursache der Falschheit.
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In beiden Fällen herrscht v o l l k o m m e n e N a i v e t ä t : die Falschheit tritt n i c h t ins Bewußtsein. Es ist ein Zeichen von g e b r o c h e n e m Instinkt, wenn der Mensch das Treibende und dessen „Ausdruck" („die Maske") g e t r e n n t sieht — ein Zeichen von Selbstwiderspruch, und viel weniger siegreich. Die absolute U n s c h u l d in der Gebärde, im Wort, im Affekt, das „gute Gewissen" in der Falschheit, die Sicherheit, mit der man nach den größten und prachtvollsten Worten und Stellungen faßt — Alles nothwendig zum Siege. Im anderen Falle: bei e x t r e m e r H e l l s i c h t i g k e i t bedarf es G e n i e des Schauspielers und ungeheure Zucht in der Selbstbeherrschung, um zu siegen. Deshalb Priester die geschicktesten b e w u ß t e n Heuchler; sodann Fürsten, denen ihr Rang und ihre Abkunft eine Art von Schauspielerei großzüchtet. Drittens Gesellschafts-Menschen, Diplomaten. Viertens Frauen. G r u n d g e d a n k e : Die Falschheit erscheint so tief, so allseitig, der W i l l e ist dergestalt gegen das direkte Sichselbst-Erkennen und Bei-Namen-nennen gerichtet, daß die Vermuthung sehr große Wahrscheinlichk e i t hat: W a h r h e i t , W i l l e z u r W a h r h e i t sei eigentlich etwas ganz Andres und auch nur eine Verkleidung.
Die S i n n l i c h k e i t in ihren Verkleidungen als Idealismus („Plato"), der Jugend eigen, dieselbe Art von *J Hohlspiegel-Bild schaffend, wie die Geliebte im Speziellen erscheint, eine Inkrustation Vergrößerung Verklärung, Unendlichkeit um jedes Ding legend in der Religion der Liebe: „ein schöner junger Mann, ein schönes Weib", irgendwie göttlich, ein Bräutigam, eine 3° Braut der Seele in der K u n s t , als „schmückende" Gewalt: wie der Mann das Weib sieht, indem er ihr gleichsam alles zum Präsent macht, was es von Vorzügen giebt, so legt die
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Sinnlichkeit des Künstlers in Ein Objekt, was er sonst noch ehrt und hochhält — dergestalt v o l l e n d e t er ein Objekt („idealisirt" es) Das Weib, unter dem Bewußtsein, was der Mann in Bezug 5 auf das Weib empfindet, k o m m t d e s s e n B e m ü h e n nach Idealisirung entgegen, indem es sich schmückt, schön geht, tanzt, zarte Gedanken äußert: insgleichen ü b t s i e S c h a m , Zurückhaltung, Distanz — mit dem Instinkt dafür, daß damit das idealisirende Vermögen des Mannes "> w ä c h s t . (— Bei der ungeheuren Feinheit des weiblichen Instinkts bleibt die Scham keineswegs bewußte Heuchelei: sie erräth, daß gerade die n a i v e w i r k l i c h e S c h a m h a f t i g k e i t den Mann am meisten verführt und zur Überschätzung drängt. Darum ist das Weib naiv — aus Feinheit des *J Instinkts, welcher ihr die Nützlichkeit des Unschuldig-seins anräth. Ein willentliches Die-Augen-über-sich-geschlossenhalten . . . Überall, wo die Verstellung stärker wirkt, wenn sie unbewußt ist, w i r d sie unbewußt. -a
z u r G e n e s i s d e r K u n s t . Jenes V o l l k o m m e n m a c h e n , V o l l k o m m e n - s e h e n , welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen cerebralen System zu eigen ist (der Abend zusammen mit der Geliebten, die kleinsten Zufälligkeiten verklärt, das Leben eine Abfolge sublimer Dinge, 1 5 „das Unglück des Unglücklich-Liebenden mehr werth als irgend etwas"): andrerseits wirkt jedes V o l l k o m m e n e und S c h ö n e als unbewußte Erinnerung jenes verliebten Zustandes und seiner Art zu sehen — jede V o l l k o m m e n h e i t , die ganze S c h ö n h e i t der Dinge erweckt durch contiguity ¥> die aphrodisische Seligkeit wieder. P h y s i o l o g i s c h : der schaffende Instinkt des Künstlers und die Vertheilung des semen ins Blut . . . Das V e r l a n g e n n a c h K u n s t u n d S c h ö n h e i t ist ein indirektes Verlangen nach den Entzük-
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Nachgelassene Fragmente
kungen des Geschlechtstriebes, welche er dem Cerebrum mit« theilt. Die v o l l k o m m e n g e w o r d e n e W e l t , durch „Liebe" . . . Der „H e e r d e n t r i e b" in seiner Verkleidung 5
Der L ü g e n - und V e r s t e l l u n g s trieb am Künstler hervorbrechend Der c o n t e m p l a t i v e Trieb in seiner Verkleidung. Die G r a u s a m k e i t in ihrer Verkleidung
Krankheit i° düngen.
15
und
Entartung
in ihren Verklei-
Das A l t e r in seiner Verkleidung (als Nihilism (als Wiederkehr jugendlicher und v e r e r b t e r Werthe — die Spannkraft des Intellekts und Charakters ist gebrochen z. B. R W(agner> Die Verkleidung der v i s i n e r t i a e
(Zweites B u c h : H e r k u n f t d e r W e r t h e . ) ( E r s t e s C a p i t e l . Die Metaphysiker.)
8 [2]
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M
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Zur P s y c h o l o g i e der M e t a p h y s i k Diese Welt ist scheinbar — f o l g l i c h giebt es eine wahre Welt. Diese Welt ist bedingt — f o l g l i c h giebt es eine unbedingte Welt. Diese Welt ist widerspruchsvoll — f o l g l i c h giebt es eine widerspruchslose Welt. Diese Welt ist werdend — f o l g l i c h giebt es eine seiende Welt. Lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A i s t , so muß auch sein Gegensatz-Begriff B s e i n ) Zu diesen Schlüssen i n s p i r i r t d a s L e i d e n : im Grunde sind es W ü n s c h e , es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginirt wird, eine w e r t h v o l l e : das R e s s e n t i m e n t der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch. Z w e i t e Reihe von Fragen: w o z u Leiden? . . . und hier ergiebt sich ein Schluß auf das Verhältniß der wahren Welt z u unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden und widerspruchsvollen. i) Leiden als Folge des Irrthums: wie ist Irrthum möglich? 2) Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich? (— lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der GeSeilschaft universalisirt und ins „An-sich" projicirt)
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Nachgelassene Fragmente
Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die F r e i h e i t z u m I r r t h u m u n d z u r S c h u l d mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man w o z u ? . . . Die Welt des Sdieins, des Werdens, des 5 Widerspruchs, des Leidens ist also g e w o l l t : w o z u ? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet, — w e i l dem einen von ihnen eine Realität entspricht, „muß a auch dem anderen eine Realität entsprechen. „W o h e r sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?" — io V e r n u n f t somit als eine Offenbarungs-Quelle über Ansich-Seiendes. Aber die H e r k u n f t jener Gegensätze b r a u c h t n i c h t n o t h w e n d i g auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehen: es genügt die w a h r e G e n e s i s 15 d e r B e g r i f f e dagegen zu stellen: — diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre und hat eben daher ihren s t a r k e n G l a u b e n (man geht d a r a n zu G r u n d e , wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht „bewiesen", was sie behauptet) *o Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. „Ewige Seligkeit": psychologischer Unsinn. Tapfere und sdiöpferisdie Menschen fassen Lust und Leid n i e als letzte Werthfragen, — es sind Begleit-Zustände, man muß Beides w o l l e n , wenn man etwas e r r e i c h e n * 5 will. — Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehen. Auch die M o r a l hat n u r deshalb für sie solche W i c h t i g k e i t , weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. 3° Insgleichen die Präokkupation durch S c h e i n u n d I r r t h u m : Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der „Gewißheit", im „Glauben")
( Z w e i t e s Capitel. Die homines religiosi.)
8 [}]
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zu „homines religiosi" Was b e d e u t e n a s k e t i s c h e I d e a l e ? Vorform der noch neuen c o n t e m p l a t i v e n Lebensweise, extrem, um Respekt zu finden und s i c h s e l b s t Respekt zu m a c h e n ( g e g e n das „schlechte Gewissen" der Inaktivität) deren Bedingungen werden gesucht ein Sinn für R e i n l i c h k e i t der Seele, barock ausgedrückt ein Z u c h t h ä u s l e r - Z u s t a n d (eine Menge Delikatessen sich vorbereitend), als Remedur für eine überwilde Begehrlichkeit (welche den „Verleitungen" aus dem Wege geht) — als H a ß gegen Sinne, Leben sich äußernd. eine V e r a r m u n g d e s L e b e n s , ein Bedürfniß nach Indolenz, Ruhe. Kunstgriff des Fakirs. „Alter" eine k r a n k h a f t e V e r l e t z l i c h k e i t , Empfindsamkeit, etwas Alt-Jüngferliches, das dem Leben aus dem Wege geht: mitunter eine falsch geleitete Erotik und Hysterie der „Liebe" Kritik der D e m u t h („der absolute Gehorsam") mitunter der Instinkt der Macht, nach absoluten „Werkzeugen" zu suchen oder als Werkzeug am meisten zu erreichen. Die Klugheit daran, die Faulheit (ebenso wie in Armut und Keuschheit)
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Nachgelassene Fragmente
Kritik der A r m u t h (die scheinbare Verzichtleistung und die Concurrenz, als Klugheitsmittel auf dem Wege zur Herrschaft. Kritik der K e u s c h h e i t . Nützlichkeit: sie 5 giebt Zeit, Unabhängigkeit — intellektuelle) Verwöhnung, die es unter Weibchen nicht aushält — Familien sind große Schwatznester. <Sie> erhält Kraft, hält manche Krankheit fern. Freiheit von Weib und Kind hält eine Menge Versuchungen fern (Luxus, Servilität gegen Macht, Einordnung io
Ein Mensch in dem sich die geheimnißreiche Vielheit und Fülle der Natur auswirkt, eine Synthesis des Furchtbaren und des Entzückenden, etwas Versprechendes, etwas Mehr-Wissendes, etwas Mehr-könnendes. Das asketische Ideal drückt immer ein Mißrathcn aus, eine Entbehrung, einen physiologischen 15 Widerspruch. Es macht nachdenklich, daß eigentlich nur diese Asketen-Species Priester den gegenwärtigen Menschen noch bekannt ist: es ist ein Ausdruck von Entartung und Mißrathensein des Menschen überhaupt. — Und wie wir von romantischen Künstlern reden, so dürfte man sagen, daß uns eigentlich 20 nur der r o m a n t i s c h e P r i e s t e r bekannt ist — daß an sich der k l a s s i s c h e Priester möglich ist, daß er wahrscheinlich auch dagewesen ist. Stelle man sich mit dieser Möglichkeit eines kl (assischen) Pr(iesters) vor Plato im museo Borbonico Neapels: die Archäologen sind ungewiß, ob es nicht ein bärtiger *S Dionysos sei. Das soll uns gleichgültig sein: gewiß ist, daß man hier einen priesterlichen Typus voraussetzt, — k e i n e n asketischen Typus... Der Priester des Christenthums repräsentirt die Widernatur, die Macht der Weisheit und der Güte, aber die widernatürliche 30 Macht und die widernatürliche Weisheit, die widernatürliche Güte: die Feindschaft gegen die Macht, die Erkenntniß und die
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die Macht als Wunder-Macht die Weisheit als Wider-Vernunft die Liebe als Wider-Geschlechtlichkeit der Haß gegen die Mächtigen der Erde und ein versteckter 5 grundsätzlicher Wettkampf und Wettstreit — man will die Seele, man läßt ihnen den Leib — der Haß gegen den Geist, den Stolz, den Muth, die Freiheit, Ausgelassenheit des Geistes der Haß gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen io die Freude überhaupt und eine Todfeindschaft gegen die Sinnlichkeit und Geschlechtlichkeit das christliche Priesterthum hat es auf dem Gewissen — der verleumderische und schnöde Wille zum Mißverständniß mit dem der Geschlechtlichkeit in den Culten und Mysterien von i $ den Anfängen . . . der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind der Sinnlichkeit: man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als die unschuldig ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z. B. in den ehrwürdigsten Frauenkulten Athens die Gegenwart io der geschlechtlichen Symbole {empfunden wurde). Der Akt der Zeugung ist das Geheimniß an sich in allen nicht-asketischen Religionen: eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnißvollen Absicht, der Zukunft (Wiedergeburt, Unsterblichkeit
( D r i t t e s Capitel. Die Guten und die Verbesserer.> 8 [4] D i e G u t e n und die Verbesserer. D e r H a ß g e g e n d i e Leiblich- und Seelisch-Privi1 e g i r t e n : Aufstand der häßlichen mißrathenen Seelen gegen die schönen stolzen wohlgemuthen ihr Mittel: Verdächtigung der Schönheit, des Stolzes, der Freude „es giebt kein Verdienst" „die Gefahr ist ungeheuer: man s o l l zittern und sich schlecht das Widernatürliche befinden" als das Höhere „die Natürlichkeit ist böse; der Natur widerstreben ist das Rechte. A u c h der „Vernunft", wieder sind es die P r i e s t e r , die diesen Zustand aus15 beuten und das „Volk" für sich gewinnen. „Der Sünder", an dem Gott mehr Freude hat als am „Gerechten" d i e s ist der Kampf gegen das „Heidenthum" (der Gewissensbiß als Mittel, die seelische Harmonie zu zerstören) D e r H a ß der D u r c h s c h n i t t l i c h e n gegen die 20 A u s n a h m e n , der Heerde gegen die Unabhängigen Wendung g e g e n den „Egoismus": Werth hat allein das die Sitte als „dem Anderen" eigentliche „wir sind alle gleich" *5 „Sittlichkeit" gegen die Herrschsucht, gegen „Herrschen" überhaupt
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gegen das Vorrecht gegen Sektirer, Freigeister, Skeptiker gegen die Philosophie (als dem Werkzeug- und Ecken-Instinkt entgegen) bei Philosophen selbst „der kategorische Imperativ", das Wesen des Moralischen „allgemein und überall"
Die drei B e h a u p t u n g e n : das Unvornehme ist das Höhere (Protest des „gemeinen Mannes") das Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlecht1 5 weggekommenen) das Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Heerde, der „Mittleren") In der G e s c h i c h t e d e r M o r a l W i l l e z u r M a c h t aus, durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißrathenen und An-sich-Leidenden bald die Mittelmäßigen
drückt sich also ein den Versuch madien, die ihnen günstigsten Werthurtheile durchzusetzen.
Insofern ist das Phänomen der Moral vom Standpunkt der 5 Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich bisher entwickelt auf U n k o s t e n : der Herrschenden und ihrer spezifischen Instinkte der Wohlgerathenen und s c h ö n e n Naturen der Unabhängigen und Privilegirten in irgend einem Sinne
2
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Nachgelassene Fragmente
Die Moral ist also eine G e g e n b e w e g u n g gegen d i e B e m ü h u n g e n d e r N a t u r , es zu einem h ö h e r e n T y p u s zu bringen. Ihre Wirkung ist: Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern dessen 5 Tendenzen als „unmoralisch" empfunden werden Sinnlosigkeit, insofern die obersten Werthe als im Gegensatz zu den obersten Instinkten empfunden werden — Widersinn. Entartung und Selbstzerstörung der „höheren Naturen", io weil gerade in ihnen der Conflikt b e w u ß t wird.
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Sklavenaufstand i n d e r M o r a l : das R e s sentiment schöpferisch. Die Zerdrückten, Niedergetretenen, denen die eigentliche R e a k t i o n versagt ist. Folglich: ein n e g a t i v e r Werth zuerst (umgekehrt als bei der vornehmen Moral, die aus dem Gefühl eines t r i u m p h i r e n d e n J a - s a g e n s zu sich selbst entspringt), „der Böse" (eigentlich der Starke) Methode der V e r l e u m d u n g der aristokratischen Werthe: (Stolz, Schönheit, Glück, Heiterkeit, Sinnlichkeit, Reichthum mit Hülfe des i ) N i c h t -sehen-wollens 2) des F a l s c h sehen-wollens 3) des H i n e i n-sehen-wollens. Umkehrung: Versuch, das r e s s e n t i m e n t selbst als Tugend auszulegen (Gerechtigkeits-Sinn) die thatsächliche ängstliche Niedrigkeit als „Demuth" das InofTensive, die „Feigheit", das Warten als „Geduld" als „Güte", als „Liebe der Feinde", als „Menschenliebe" auch als „Gehorsam gegen Gott", der der „Obrigkeit" zu gehorchen befiehlt den Wunsch nach Rache als „Siege Gottes über seine Feinde" insgleichen die Grausamkeit beim Anblick einer Niederlage als „Triumph über Gottes Gerechtigkeit" ihr Elend als Prüfung, Vorbereitung der „Auserwählten",
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Auszeichnung, selbst als Klugheit („damit reichlicher einst vergolten wird") das Leben in der „Hoffnung", in der „Liebe", im „Glauben" (an einen Gott der Armen und Gedrückten) die Ehre der Armut als „Gottesdienst" Versuch, in s u m m a , mit sich zufrieden zu sein und sich zu überreden, daß „man nicht nur besser sei", sondern auch „es besser habe". Die „Guten", eigentlich die Schwachen. — Tiefste Unehrlichkeit und Verlogenheit dabei. —
Die V e r i n n e r l i c h u n g des Menschen (als Krankheit) Die V(erinnerlichung> entsteht (dadurch), daß mächtige Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach außen versagt wird, sich nach innen zu *5 schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination. Das Bedürfniß nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet sich zurück, „tritt zurück"; im Erkennen-wollen ist Habsucht und Erobern; im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dä-0 monen umgeschaffen, mit denen es Kampf giebt usw. Die B e w u ß t h e i t als Krankheit Der Mensch sich immer wieder in Lagen versetzend, für die er noch keinen Instinkt hat: also zeitweilig experimentirend und auf Grund von „Schlüssen" handelnd, nicht von Instinkts ten. „Rationalistische" Ereignisse z.B. die französische Revolution. Das s c h l e c h t e G e w i s s e n dem Neuen anhaftend z. B. der Ehe den milden mitleidigen vergeberischen Gefühlen (lange mit r> Selbstvernichtung verknüpft) dem Willen zur Forschung (als wider die Autorität gerichtet)
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den großen Natur-Überwältigungen (als Gottlosigkeiten) dem Frieden dem Handelsmann, dem Zöllner bei den vornehmen Geschlechtern, die auf Rache verzichten, 5 der obersten Gewalt gegenüber. also das „Rechtsbewußtsein" mit dem schlechten Gewissen verschwistert
8[J] jede Ungerechtigkeit etwas unfreiwilliges: folglich eine avuipoQa: so Plato in 9. und 11 B der Gesetze in Hinsicht auf Tempelraub und Elternmord. 8 [6] Die Entwicklung der persönlichen Verantwortlichkeit z u 5 r ü c k g e h a l t e n : durch die straff gespannte Geschlechts-Organisation (die Folge traf nicht den Thäter, und jeder trug die Folgen Aller — am wunderlichsten war es wohl mit dem „ Gewissen " des Oberhaupts bestellt, der relativ Alles büßen mußte) !
° Die g r o ß e n E r e i g n i s s e : Sieg des Mannes über das Weib (kriegerisch, Herrenrecht Sieg des Friedens über den Krieg
8 [7] Die Lust an der Lüge als die Mutter der Kunst, Furcht und Sinnlichkeit als Mutter der Religion, das Nitimur in vetitum 15 und die Neugierde als Mutter der Wissenschaft, die Grausamkeit als Mutter der unegoistischen Moral, die Reue als Ursprung der socialen Gleichheits-Bewegung, der Wille zur Macht als Ursprung der Gerechtigkeit, der Krieg als der Vater (des guten
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Nachgelassene Fragmente
Gewissens und der Heiterkeit) der Ehrlichkeit, das Herrenrecht als der Ursprung der Familie; das Mißtrauen als die Wurzel der Gerechtigkeit und Contemplation 8 [8] Zarathustra An diesem Werk muß Einem jedes Wort einmal wehgethan und verwundet, und wieder einmal tief entzückt haben: — was man nicht s o verstanden hat, hat man gar nicht verstanden.
[9=WII1. Herbst 1887]
Erstes Buch 9[i] Prinzipien
i. S 2. (i) 3. *°
(2)4. *S
io
und v o r a u s g e s c h i c k t e Erwägungen, Zur Geschichte des europäischen N i h i l i s m u s . Als nothwendige Consequenz der bisherigen Ideale: absolute Werthlosigkeit. Die Lehre von der e w i g e n W i e d e r k u n f t : als seine Vollendung, als K r i s i s. Diese ganze Entwicklung der Philosophie als Entwicklungsgeschichte des W i l l e n s z u r W a h r h e i t . Dessen Selbst-In-Fragestellung. Die s o c i a l e n Werthgefühle zu absoluten Werthprincipien aufgebauscht. Das Problem des Lebens: als W i l l e z u r M a c h t . (Zeitweiliges Überwiegen der socialen Werthgefühle begreiflieh und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines U n t e r b a u s , auf dem endlich eine s t ä r k e r e Gattung möglich wird.) Maaßstab der Stärke: unter den u m g e k e h r t e n Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.
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Nachgelassene Fragmente
9[2]
(3)
Kritik des g u t e n Menschen. (Nicht der Hypokrisie: — das diente mir höchstens zur Erheiterung und Erholung) Der bisherige Kampf mit den furchtbaren Affekten, deren Schwächung, Niederhaltung — : Moral als Verkleinerung.
(4)
Kant: macht den erkenn tniß theoretischen Scepticismus der Engländer m ö g l i c h für Deutsche 1) indem er die moralischen und religiösen Bedürfnisse der Deutschen für denselben interessirt (: so wie aus gleichen Gründen die neueren Akademiker die Scepsis benutzten als Vorbereitung für den Platonismus v. Augustin; so wie Pascal sogar die m o r a u s t i s c h e Scepsis benutzte, um das Bedürfniß nach Glauben zu excitiren („zu rechtfertigen") 2) indem er ihn scholastisch verschnörkelte und verkräuselte und dadurch dem wissenschaftlichen FormGeschmack der Deutschen annehmbar machte (denn Locke und Hume an sich waren zu hell, zu klar d. h. nach deutschen Werthinstinkten geurtheilt „zu oberflächlich" — ) Kant: ein geringer Psycholog und Menschenkenner; grob fehlgreifend in Hinsicht auf große historische Werthe (franz. Revolut.); Moral-Fanatiker a la Rousseau mit unterirdischer Christlichkeit der Werthe; Dogmatiker durch und durch, aber mit einem schwerfälligen Überdruß an diesem Hang, bis zum Wunsche, ( i h n ) zu tyrannisiren aber auch in der Scepsis sofort müde; noch von keinem Hauche kosmopolitischen Geschmacks und antiker Schönheit angeweht . . . ein V e r z ö g e r e r und V e r m i t t l e r , nichts Originelles (— so wie L e i b n i z zwischen Mechanik und Spiritualism
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3°
Herbst 1887 9[2—6]
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wie G o e t h e zwischen dem Geschmack des 18. Jahrhunderts und dem des „historischen Sinns" (— der wesentlich ein Sinn des Exotism ist) wie die d e u t s c h e M u s i k zwischen französischer und italienischer) Musik wie K a r l der Große zwischen imperium Romanum und Nationalism. vermittelte, überbrückte, — V e r z ö g e r e r par excellence.
5
9lA\ Zum Schluß: „ein Lehrer dessen gewesen zu sein" 'o
come l'uom s'eterna... (Inf. XV, 85) (5)
15
*o
Zur Charakteristik des n a t i o n a l e n Genius, in Hinsicht auf Fremdes und Entlehntes. der e n g l i s c h e Genius vergröbert und vernatürlicht Alles, was er empfängt der f r a n z ö s i s c h e verdünnt, vereinfacht, logisirt, putzt auf. der d e u t s c h e verwischt, vermittelt, verwickelt, vermoralisirt. der i t a l i ä n i s c h e hat bei weitem den freiesten und feinsten Gebrauch vom Entlehnten gemacht und hundert Mal mehr hinein gesteckt als herausgezogen: als der r e i c h s t e Genius, der am meisten zu verschenken hatte.
(6) 25
ZurAesthetik Die Sinnlichkeit
der Rausch
Bilder des e r h ö h t e n s i e g r e i c h e n Lebens und ihre verklärende Kraft: so daß eine gewisse V o l l k o m m e n h e i t in die Dinge gelegt wird
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Nachgelassene Fragmente
Umgekehrt: wo die S c h ö n h e i t der V o l l k o m m e n h e i t sich zeigt, wird die Welt der Sinnlichkeit und des Rausches mit erregt, aus a l t e r V e r w a c h s e n h e i t . Deshalb gehört zum r e l i g i ö s e n G l ü c k die Sinnlichkeit und der Rausch. Und wesentlich insgleichen die sensualistische Erregbarkeit der Künstler. „schön" wirkt entzündend auf das Lustgefühl; man denke an die verklärende Kraft der „Liebe". Sollte nicht umgekehrt wiederum das Verklärte und Vollkommene die Sinnlichkeit sanft erregen, so daß das Leben als Wohlgefühl wirkt? —
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(7) 15
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Die ü b e r s c h ü s s i g e Kraft in der G e i s t i g k e i t , sich selbst neue Ziele stellend; d u r c h a u s n i c h t b l o ß als b e f e h l e n d u n d f ü h r e n d f ü r d i e n i e d e r e W e l t o d e r f ü r die E r h a l t u n g des O r g a n i s m u s , des „Individuums". Wir sind mehr als das Individuum, wir sind die ganze Kette noch mit den Aufgaben aller Zukünfte der K e t t e
9[«]
Zum P l a n e . An Stelle der m o r a l i s c h e n W e r t h e lauter n a t u r a l i s t i s c h e Werthe. Vernatürlichung der Moral. An Stelle der „Sociologie" eine L e h r e v o n den Herrschaftsgebilden *5 An Stelle der „Erkenntnißtheorie" eine P e r s p e k t i v e n L e h r e d e r A f f e k t e (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört). die t r a n s f i g u r i r t e n Affekte: deren h ö h e r e O r d n u n g , deren „ G e i s t i g k e i t " . 3° An Stelle von Metaphysik und Religion d i e e w i g e
Herbst 1887 9[6—9]
5
:
°
15
•3
->
W i e d e r k u n f t s l e h r e (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl) (8) „Gott" als Culminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. A b e r darin k e i n W e r t h H ö h e p u n k t sondern nur Macht-Höhepunkte Absoluter A u s s c h l u ß des M e c h a n i s m u s und des S t o f f s : beides nur Ausdrucksform niedriger Stufen, die entgeistigste Form des Affektes („des Willens zur Macht") die V e r d u m m u n g der Welt als Ziel, in Consequenz des Willens zur Macht, der die Elemente so unabhängig von einander als möglich macht: S c h ö n h e i t als A n z e i c h e n der G e w ö h n u n g und V e r w ö h n u n g des S i e g r e i c h e n : das Häßliche der Ausdruck vieler Niederlagen (im Organismus selbst) Keine Vererbung! Die Kette als G a n z e s w a c h s e n d — Der Rückgang vom Höhepunkt im Werden (der höchsten Vergeistigung der Macht auf dem sklavenhaf testen Grunde) als F o l g e dieser höchsten Kraft darzustellen, welche, g e g e n s i c h sich wendend, nachdem sie nichts mehr zu organisiren hat, ihre Kraft verwendet, zu d e o r g a n i s i r e n . . . a) Die immer größere B e s i e g u n g der Societäten und Unterjochung derselben unter eine kleinere, aber stärkere Zahl. b) die immer größere Besiegung der Bevorrechteten und Stärkeren und folglich Heraufkunft der Demokratie, endlich A n a r c h i e der Elemente. 9[9]
30
343
Die Musik der Gegenwart. Eine Streitschrift von F.N.
344
Nachgelassene Fragmente
?[lo]
5
i°
Zweite Streitschrift D i e H e e r d e n - O p t i k als Moral. U n t e r M o r a l i s t e n und M o r a l p h i l o s o p h e n . E i n e A b r e c h n u n g m i t der M o r a l . was hat die Stände-Differenz beigetragen zur Moral? was das asketische Ideal? was die Heerde? was die Philosophen? was die Raubthier-Affekte?
U n t e r M o r a l i s t e n . — Die großen Moral-Philosophen. Moral als Verhängniß der Philosophen bisher Rousseau. Kant. Hegel. Schopenhauer. Lichtenberg. Goethe. B. Grazian. Macchiavell. Galiani. Montaigne. Pascal. 15 Carlyle. G. Eliot. H. Spencer. S. Beuve. Renan. Goncourts. Stendhal. Napoleon. Plato. Epictet. Epicur. Seneca. Marc-Aurel.
(9) 20
O f f e n b a c h : französische Musik, mit einem Voltaireschen Geist, frei, übermüthig, mit einem kleinen sardonischen Grinsen, aber hell, geistreich bis zur Banalität ( — er s c h m i n k t nicht —) und ohne die mignardise krankhafter oder blond-wienerischer Sinnlichkeit
J[i3] Werthe. „Der Werth des Lebens" : aber Leben ist ein Einzelfall, man 25 muß alles Dasein rechtfertigen und n i c h t nur das Leben, — das rechtfertigende Princip ist ein solches, aus dem sich das Leben e r k l ä r t . . .
Herbst 1887 9[10—16]
345
das Leben selbst ist kein Mittel zu etwas; es ist der A u s d r u c k von Wachsthumsformen der Macht. — Daß wir nicht mehr „Wünschbarkeiten" zu Richtern über das S e i n machen! 5 — daß wir nicht unsere Endformen der Entwicklung (z. B. Geist) wieder als ein „An sich" h i n t e r die Entwicklung placiren 9[i4] S c h l u s s c a p i t e l : die letzte Wünsdibarkeit. S c h l u ß d e s B u c h s (wie das Leben, so die Weisheit io selber:) tief und verführerisch. (io)
15
Was Tertullian von den bösen Engeln sagt, das könnte man von den a s k e t i s c h e n P r i e s t e r n sagen. Tertullian (Apologet, nr. 22) von den bösen Engeln: „in Heilung der Krankheiten sind sie wahre Zauberer. Zunächst nämlich plagen sie; dann aber schreiben sie Mittel vor, die, bis zum Wunder, neu und nachtheilig sind: — dennoch aber glaubt man, sie hätten geholfen, w e i l s i e a u f g e h ö r t h a b e n zu p l a g e n . "
9[i6]
*o ( u )
„Richtet nicht, a u f d a ß ihr nicht gerichtet werdet" Das „auf daß" ist verächtlich. U n v o r n e h m . . . 1) man giebt, wenn man die Befugniß zu richten hat, damit schlechterdings nicht zu, daß Andere die Befugniß haben, u n s zu richten . . .
2
2) die unangenehmen Folgen kommen für einen, der zu irgend einer Aufgabe geschaffen ist, n i c h t als Gegengründe gegen diese Aufgabe in Betracht: unter Umständen können es Reizmittel sein.
S
346
Nachgelassene Fragmente
Nichts ist unverständiger als eine Übertreibung an Moral hinzustellen (z.B. liebet eure Feinde): damit hat man die V e r n u n f t aus der Moral herausgetrieben . . . die Natur aus der Moral 5
Absolute Überzeugung: daß die Werthgefühle oben und unten v e r s c h i e d e n sind; daß zahllose E r f a h r u n g e n den Unteren f e h l e n , daß von Unten nach Oben das Mißverständniß n o t h w e n d i g ist. J>[i7] (12)
*o
9[i8] 15 (13)
20
25
Die V e r k l e i n e r u n g des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine s t ä r k e r e Art Mensch darauf stehen kann: inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch a u f e i n e m N i v e a u d e r n i e d r i g e ren stand
Krieg gegen das c h r i s t l i c h e I d e a l , gegen die Lehre von der „Seligkeit" und dem Heil als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten usw. (— was geht uns Gott, der Glaube an Gott noch an! „Gott" heute bloß ein verblichenes Wort, nicht einmal mehr ein Begriff!) Aber, wie Voltaire auf dem Sterbebette sagen: „reden Sie mir nicht von d e m Menschen da!" Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ä h n l i c h gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer haben muß! — man blättere alle Helden eines Plutarch durch.
Herbst 1887 9[16—22] 9[>9] (14)
9[20] (15) 5
10
Franz von Assisi: verliebt, populär, Poet, kämpft gegen die A r i s t o k r a t i e und Rangordnung der Seelen zu Gunsten der Niedersten.
S o k r a t e s : kämpft gegen die vornehmen Instinkte, sehr plebejisch ( g e g e n die Kunst, aber vorbildlich wissenschaftlich. Spott über Renans fehlgreifenden Instinkt, der noblesse und Wissenschaft z u s a m m e n mengt.) Die W i s s e n s c h a f t u n d d i e D e m o k r a t i e gehören zusammen (was auch Ms Renan sagen mag) so gew i ß als die Kunst und die „gute Gesellschaft".
(16) die die die die
15
(17)
*o
25
347
Z u Ehren der L a s t e r : griechische Cultur und die Päderastie deutsche Musik und die Trunksucht Wissenschaft und Rachsucht
D i e großen Lügen in der Historie: als o b es die V e r d e r b n i ß des Heidenthums gewesen wäre, die d e m Christenthum die Bahn gemacht habe! Aber es w a r die Schwächung u n d V e r m o r a l i s i r u n g des antiken Menschen! D i e U m d e u t u n g der Naturtriebe in L a s t e r w a r schon vorhergegangen! — als o b die V e r d e r b n i ß d e r K i r c h e die U r s a c h e der Reformation gewesen sei; nur der V o r w a n d , die Selbstvorlügnerei seitens ihrer Agitatoren — es waren starke Bedürfnisse da, deren Brutalität eine geistliche Bemäntelung sehr nöthig hatte
348
Nachgelassene Fragmente
9i>3] (18)
5
die lügnerische Auslegung der Worte, Gebärden und Zustände S t e r b e n d e r : da wird z. B. die Furcht vor dem Tode mit der Furcht vor dem „Nach-dem-Tode" grundsätzlich verwechselt...
5>[M] die imitatio als Buch der V e r f ü h r u n g (bei Comte)
die vier großen Demokraten Sokrates Christus Luther Rousseau 9{z6] 1
( 9)
gegen den W e r t h des Ewig-Gleichbleibenden (v. S p i n o z a s Naivetät, D e s c a r t e s ebenfalls) der Werth des Kürzesten und Vergänglichsten, das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita —
10
9i*7] (20) 15
Ersatz der Moral durch den W i l l e n zu unserem Ziele, und f o l g l i c h zu dessen M i t t e l n . des kategorischen Imperativs durch den N a t u r - I m perativ
Kein L o b haben wollen: man thut, was Einem nützlich ist oder was Einem Vergnügen macht oder was man thun muß. 9[i8] 20 (21) Die g r o ß e n F ä l s c h u n g e n der P s y c h o l o g e n : 1) der Mensch strebt nach G l ü c k 2) die M o r a l ist der einzige Weg zum G l ü c k lich werden
Herbst 1887 9[23-32]
fader und leerer Begriff der c h r i s t l i c h e n ligkeit"
349
„Se-
9l>9] ((22)) Absoluter Instinkt-Mangel des Ms. Renan, der die Wissenschaft und die noblesse zusammen in Eins rechnet. 5 Die Wissenschaft ist grund-demokratisch und a n t i oligarchisch. 9l>] (23)
10
15
*o
Berichtigung des B e g r i f f s Der E g o i s m u s . Hat man begriffen, inwiefern „individuum" ein Irrthum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der g a n z e P r o z e ß in gerader Linie ist (nicht bloß „vererbt", sondern er selbst...), so hat dies Einzelwesen eine u n g e h e u e r g r o ß e Bedeutung. Der I n s t i n k t redet darin ganz richtig; wo dieser Instinkt n a c h l ä ß t (— wo das Individuum sich einen Werth erst im Dienst für Andre s u c h t ) kann man sicher auf Ermüdung und E n t a r t u n g schließen. Der Altruismus der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür, sich wenigstens einen z w e i t e n W e r t h zu schaffen, im Dienste a n d r e r Egoismen. Meistens aber ist er nur s c h e i n b a r : ein U m w e g zur Erhaltung des e i g n e n L e b e n s g e f ü h l s , Werthgefühls —
9[30 (24) 25
In der Philosophie handelt es sich wie auf dem S c h l a c h t f e l d e darum — innere Linien —
9[3*] wer nicht an dem scheußlichen O b s k u r a n t i s m der Bayreuther Antheil genommen hat
350
9t33l (25)
Nachgelassene Fragmente
d e r M a n g e l a n Z u c h t : in der Zukunft braucht es viel Askese für die Stärkung des Willens, das freiwillige Sich-Versagen
9Ü34]
(26) 5
9[35l 10 (27)
Arbeiter sollten wie S o l d a t e n empfinden lernen. Ein Honorar, ein Gehalt, aber keine Bezahlung! Kein Verhältniß zwischen Abzahlung und L e i s t u n g ! Sondern das Individuum, je n a c h s e i n e r Art, so stellen, daß es d a s H ö c h s t e l e i s t e n kann, was in seinem Bereiche liegt.
i. D e r N i h i l i s m e i n normaler Z u s t a n d . N i h i l i s m : es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das „Warum?" was bedeutet Nihilism? — daß die o b e r s t e n W e r t h e sich entwerthen. Er ist zweideutig:
15
20
2-5
A)) Nihilism als Zeichen der g e s t e i g e r t e n M a c h t d e s G e i s t e s : als activer Nihilism. Er kann ein Zeichen von S t ä r k e sein: die Kraft des Geistes kann so angewachsen sein, d a ß ihr die b i s h e r i g e n Ziele („Überzeugungen", Glaubensartikel) unangemessen sind — ein Glaube nämlich drückt im Allgemeinen den Zwang von E x i s t e n z b e d i n g u n g e n aus, eine Unterwerfung unter die Autorität von Verhältnissen, unter denen ein Wesen g e d e i h t , w ä c h s t , M a c h t
gewinnt... Andrerseits ein Zeichen von n i c h t g e n ü g e n d e r Stärke, um produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum? einen Glauben zu s e t z e n .
Herbst 1887 9[33—35]
5
10
15
20
25
351
Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gew a l t t ä t i g e Kraft der Zerstörung: a l s a k t i v e r N i h i l i s m . Sein Gegensatz wäre der müde N i h i lism, der nicht mehr a n g r e i f t : seine berühmteste Form der Buddhismus: als p a s s i v i s c h e r Nihilism Der Nihilism stellt einen pathologischen Z w i s c h e n z u s t a n d d a r (pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß a u f g a r k e i n e n S i n n ) : sei es, d a ß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind: sei es, d a ß die decadence noch zögert und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden h a t . B)) Nihilism als N i e d e r g a n g u n d R ü c k g a n g der Macht d e s G e i s t e s : d e r passive Nihilism: als ein Zeichen von Schwäche: die Kraft des Geistes kann ermüdet, e r s c h ö p f t sein, so d a ß die b i s h e r i g e n Ziele u n d Werthe unangemessen sind u n d keinen Glauben mehr finden — daß die Synthesis der W e r t h e u n d Ziele (auf der jede starke Cultur beruht) sich löst, so d a ß die einzelnen W e r t h e sich Krieg machen: Zersetzung daß Alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in den V o r d e r g r u n d tritt, u n t e r verschiedenen V e r k l e i d u n g e n , religiös, oder moralisch oder politisch oder ästhetisch u s w .
2. Voraussetzung dieser Hypothese
30
D a ß es keine Wahrheit giebt; d a ß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein „Ding an sich" giebt — d i e s i s t s e l b s t e i n N i h i l i s m , und z w a r d e r e x t r e m s t e . Er legt den W e r t h der Dinge gerade dahinein, daß diesem Werthe k e i n e Reali-
352
Nachgelassene Fragmente
tat entspricht und entsprach, sondern nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der W e r t h - A n s e t z e r , eine Simplification zum Z w e c k des L e b e n s
der Wille zur Wahrheit als Wille zur Macht
5
9[37] Wesen des Urtheils (J a -setzend), 9f3»] (28)
10
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die W e r t h s c h ä t z u n g „ich glaube, daß das und das so ist" als Wesen der „W a h r h e i t a in den W e r t h s c h ä t z u n g e n drücken sich E r h a l t u n g s - und W a c h s t h u m s - B e d i n g u n g e n aus alle unsere E r k e n n t n i ß o r g a n e u n d - S i n n e sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen das V e r t r a u e n zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die W e r t h s c h ä t z u n g der Logik beweist nur die durch Erfahrung bewiesene N ü t z l i c h k e i t derselben für das Leben: n i c h t deren „Wahrheit".
Daß eine Menge G l a u b e n da sein muß, daß g e u r t h e i l t werden darf, daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werthe f e h l t : — das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden m u ß , ist nothwendig; n i c h t , daß etwas w a h r i s t . »die w a h r e und die s c h e i n b a r e Welt" — dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Werthverhältnisse
Herbst 1887 9[35—40]
wir haben u n s e r e Erhaltungs-Bedingungen projicirt als P r ä d i k a t e des S e i n s überhaupt daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die „wahre" Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine s e i e n d e ist.
5
9t39] (29)
10
15
(30)
^0
*S
353
die W e r t h e u n d d e r e n Veränderung steht im Verhältniß zu dem M a c h t - W a c h s t h u m des W e r t h s e t z e n d e n das Maaß von U n g l a u b e n von zugelassener „Freiheit des Geistes" als A u s d r u c k des M a c h t wachsthums „Nihilism" als Ideal der h ö c h s t e n M ä c h t i g k e i t des Geistes, des überreichsten Lebens: theils zerstörerisch theils ironisch
Daß die Dinge eine B e s c h a f f e n h e i t an s i c h haben, ganz abgesehen von der Interpretation und Subjektivität, ist e i n e g a n z m ü s s i g e H y p o t h e s e : es würde voraussetzen, daß das I n t e r p r e t i r e n u n d S u b j e k t i v - s e i n n i c h t wesentlich sei, daß ein Ding aus allen Relationen gelöst noch Ding sei. Umgekehrt: der anscheinende o b j e k t i v e Charakter der Dinge: könnte er nicht bloß auf eine G r a d d i f f e r e n z innerhalb des Subjektiven hinauslaufen? — daß etwa das Langsam-Wechselnde uns als „objektiv" dauernd, seiend, „an sich" sich herausstellte — daß das Objektive nur ein falscher Artbegriff und Gegensatz wäre i n n e r h a l b des Subjektiven?
354
Nachgelassene Fragmente
*[4I] (31)
Was ist ein G l a u b e ? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein F ü r - w a h r - h a 11 e n. Die extremste Form des Nihilism wäre: daß j e d e r Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch ist: w e i l es e i n e wahre Welt g a r n i c h t g i e b t . Also: ein p e r s p e k t i v i s c h e r S c h e i n , dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend n ö t h i g haben) — daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die S c h e i n b a r k e i t , die Nothwendigkeit der Lüge eingestehn können, ohne zu Grunde zu gehn. Insofern k ö n n t e N i h i l i s m , a l s Leugnung e i n e r w a h r h a f t e n Welt, eines S e i n s , e i n e g ö t t l i c h e Denkweise sein :
(32)
G e g e n 1 8 7 6 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen c o m p r o m i t t i r t zu sehn, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswolle: und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar e i n g e k e r k e r t in meine Philologie und Lehrthätigkeit — in einen Zufall und Nothbehelf meines Lebens —: ich wußte nicht mehr, wie herauskommen und war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegentheil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furcht-
5
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2$
3°
Herbst 1887 9 [41—43]
barsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten: — dafür hatte ich die Formel „dionysisch" in den Händen. (— daß ein „An-sich-der-Dinge" nothwendig gut, selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des An-sich's als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht diesen Willen zu v e r g ö t t l i c h e n : er blieb im moralisch christlichen Ideal hängen Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft der christlichen Werthe, daß nun, nachdem ihm das Ding an sich nicht mehr „Gott" war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sein mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des Gott-seinkönnens geben kann. Fluch jener bornirten Zweiheit: Gut und Böse.
5
io
is J>[43] (33)
*o
-5
3°
355
Die Frage des Nihilism „ w o z u ? " geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben, gefordert schien — nämlich durch irgend eine ü b e r m e n s c h l i c h e Autorit a t . Nachdem man verlernt hat an diese zu glauben, sucht man doch noch nach alter Gewöhnung eine andere Autorität, welche unbedingt zu reden w ü ß t e , Ziele und Aufgaben b e f e h l e n k ö n n t e . Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emancipirt von der Theologie, u m so imperativischer wird die M o r a l ) ; als Schadenersatz für eine p e r s ö n l i c h e Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der s o c i a l e I n s t i n k t (die Heerde) Oder die Historie mit einem immanenten Geiste, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich ü b e r l a s s e n
k a n n . Man möchte h e r u m k o m m e n um den Willen, um das W o l l e n eines Zieles, um das Risico,
356
5
io
15
20
25
3°
Nachgelassene Fragmente
sich selbst ein Ziel zu geben; man möchte die Verantwortung abwälzen (— man würde den F a t a l i s m acceptiren) Endlich: G l ü c k , und, mit einiger Tartüfferie, das G l ü c k d e r M e i s t e n individuelle Ziele und deren Widerstreit collektive Ziele im Kampf mit individuellen J e d e r m a n n wird P a r t e i dabei, auch die Philosophen. Man sagt sich i) ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nöthig 2) ist gar nicht möglich vorherzusehen Gerade jetzt, wo der W i l l e in der h ö c h s t e n K r a f t n ö t h i g wäre, ist er am s c h w ä c h s t e n und k l e i n m ü t h i g s t e n . A b s o l u t e s M i ß t r a u e n gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze. Zeit, wo alle „intuitiven Wertschätzungen" der Reihe nach in den Vordergrund treten, als ob man von ihnen die D i r e k t i v e n b e k o m m e n könne, die man sonst nicht mehr hat. — „wozu?" die Antwort wird verlangt vom 1) Gewissen 2) Trieb zum Glück 3) „socialen Instinkt" (Heerde) 4) Vernunft („Geist") — nur um nicht w o l l e n zu müssen, sich selbst das „Wozu" setzen zu müssen. 5) endlich: F a t a l i s m u s , „es g i e b t k e i n e A n t w o r t " aber „es geht irgend wohin", „es ist unmöglich ein wozu? zu wollen", mit E r g e b u n g . . . oder R e v o l t e . . . Agnosticismus in Hinsicht auf das Ziel 6) endlich V e r n e i n u n g als W o z u des Lebens;
Herbst 1887 9 [43—44]
357
Leben als etwas, das sich als unwerth b e g r e i f t und endlich a u f h e b t . 9 [44]
5
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15
te
M
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(Zur d r i t t e n Abhandlung) (34) H a u p t g e s i c h t s p u n k t : daß man nicht die A u f g a b e der höheren species in der L e i t u n g der niederen sieht (wie es z. B. Comte macht — ) sondern die niedere als B a s i s , auf der eine höhere species ihrer e i g e n e n Aufgabe lebt, — auf der sie erst s t e h e n kann. die Bedingungen, unter denen die s t a r k e und v o r n e h m e species sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind umgekehrt als die unter denen die „industriellen Massen" der Krämer a la Spencer stehn. Das, was nur den s t ä r k s t e n und f r u c h t b a r s t e n Naturen freisteht, zur Ermöglichung i h r e r Existenz, — Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung selbst — das würde, wenn es den mittleren Naturen freistünde, diese nothwendig zu Grunde richten — und thut es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste „Überzeugung" am Platz, — kurz die Heerdentugenden: unter ihnen wird diese mittlere Art Mensch vollkommen. U r s a c h e n des Nihilism: i ) e s f e h l t d i e h ö h e r e S p e c i e s d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrecht erhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts) 2) d i e n i e d e r e s p e c i e s „Heerde" „Masse" „Gesellschaft" verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu k o s m i s c h e n und m e t a p h y s i s c h e n Werthen auf. Dadurch wird das ganze Dasein
358
v u l g a r i s i r t : insofern nämlich die M a s s e herrscht, tyrannisirt sie die A u s n a h m e n , so daß diese den Glauben an sich verlieren und N i h i l i s t e n werden Alle Versuche, h ö h e r e T y p e n auszudenk e n , manquirt („Romantik", der Künstler, der Philosoph, gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten Moralwerthe zuzulegen). W i d e r s t a n d gegen höheren Typus als Resultat. Niedergang und U n s i c h e r h e i t aller h ö h e r e n T y p e n ; der Kampf gegen das Genie („Volkspoesie" usw.) Mitleiden mit den Niederen und Leidenden als M a a ß s t a b für die H ö h e der S e e l e es f e h l t der P h i l o s o p h , der Ausdeuter der That, n i c h t nur der Umdichter
5
*o
9t4S] 15(35)
20
25
I m Allgemeinen ist j e d e s D i n g so v i e l w e r t h , als m a n d a f ü r b e z a h l t hat. Dies gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isolirt nimmt; die großen Fähigkeiten des Einzelnen stehn außer allem Verhältniß zu dem, was er selbst dafür gethan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine GeschlechtsVorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer ungeheuren Aufsparung und Capital-Sammlung von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel g e k o s t e t hat und n i c h t , weil Gabe des Himmels und „Zufalls" „Vererbung" ein falscher Begriff. haben seine Vorfahren die Kosten
(36) 30
Nachgelassene Fragmente
er wie ein Wunder als dasteht, wurde er groß. Für das, was Einer ist, bezahlt.
Der Wille zur Wahrheit 1) als Eroberung und Kampf mit der Natur Descartes' Urtheil der Gelehrten
Herbst 1887 9 [44—49]
2) als Widerstand gegen r e g i e r e n d e ritäten 3) als Kritik des u n s Schädlichen
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Auto-
9[47] Geschichte der wissenschaftlichen Me5 t h o d e, von A. Comte beinahe als Philosophie selber verstanden 9U8] (37)
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& 9[49] (38)
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das F e s t s t e l l e n z w i s c h e n „ w a h r " und „unwahr0, das F e s t s t e l l e n überhaupt von Thatbeständen ist grundverschieden von dem schöpferischen S e t z e n , vom Bilden, Gestalten, Überwältigen, W o l l e n , wie es im Wesen der P h i l o s o p h i e liegt. Einen Sinn hineinlegen — diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch ü b r i g , gesetzt daß k e i n S i n n d a r i n l i e g t . So steht es mit Tönen, aber auch mit Volks-Schicksalen: sie sind der verschiedensten Ausdeutung und Richtung zu verschiedenen Z i e l e n f ä h i g . Die noch höhere Stufe ist ein Z i e l s e t z e n und darauf hin das Thatsächliche einformen, also die A u s d e u t u n g d e r T h a t und nicht bloß die begriff liehe U m d i c h t u n g .
Man ist vielmehr das Kind seiner vier Grosseltern als seiner zwei Eltern: das liegt daran, daß in der Zeit, wo wir gezeugt wurden, die Eltern meistens sich selbst noch nicht festgestellt hatten; die Keime des großväterlichen Typus werden in uns reif; in unsren Kindern die Keime unsrer Eltern.
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Nichts ist weniger unschuldig als das neue Testament. Man weiß, auf welchem Boden es gewachsen ist. Dies Volk, mit einem unerbittlichen Willen zu sich selbst, das sich, nachdem es jeden natürlichen Halt verloren und sein Recht auf Dasein längst eingebüßt hatte, dennoch durchzusetzen wußte und dazu nöthig hatte, sich ganz und gar auf unnatürliche, rein imaginäre Voraussetzungen (als auserwähltes Volk, als Gemeinde der Heiligen, als Volk der Verheißung, als „Kirche") aufzubauen: dies Volk handhabt die pia fraus mit einer Vollendung, mit einem Grad »guten Gewissens" man nicht vorsichtig genug sein kann, wenn es Moral predigt. Wenn Juden als die Unschuld selber auftreten, da ist die Gefahr groß geworden: man soll seinen kleinen fond Verstand, von Mißtrauen, von Bosheit immer in der Hand haben, wenn man das neue Testament liest. Leute niedrigster Herkunft, zum Theil Gesindel, die Ausgestoßenen nicht nur der guten, sondern auch der achtbaren Gesellschaft, abseits selbst vom G e r ü c h e der Cultur aufgewachsen, ohne Zucht, ohne Wissen, ohne jede Ahnung davon, daß (es) in geistigen Dingen Gewissen geben könnte (das Wort „Geist" immer nur als Mißverständniß da: was alle Welt „Geist" nennt ist diesem Volke immer noch „Fleisch") aber — Juden: instinktiv klug, aus allen abergläubischen Voraussetzungen, mit der Unwissenheit selbst einen Vorzug, eine V e r f ü h r u n g zu schaffen
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In wie fern der W i l l e zur M a c h t als das Allein- und A b s o l u t - U n m o r a l i s c h e übrig bleibt:
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s. St Mill (über Comte) „wir halten das Leben für nicht so reich an Genüssen,
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als daß es der Pflege aller derer sollte entbehren können, die sich auf die egoistischen Neigungen beziehn. Im Gegentheil, wir glauben, daß eine genügende Befriedigung dieser letzteren, nicht im Ubermaaß, wohl aber bis zu jenem Maaße, d a s d e n G e n u ß a m v o l l s t e n g e w ä h r t , fast immer auf die wohlwollenden Triebe günstig einwirkt. Die Versittlichung der persönlichen Genüsse besteht für uns nicht darin, daß man sie auf das möglichst kleine Maaß beschränkt, sondern in der Ausbildung des Wunsches, sie mit Anderen und mit a l l e n A n d e r e n zu theilen und darin, daß man jeden Genuß verschmäht, der sich nicht in dieser Weise theilen läßt. E s g i e b t n u r e i n e N e i g u n g , oder L e i d e n schaft, die mit dieser Bedingung daue r n d u n v e r t r ä g l i c h ist, n ä m l i c h d i e S u c h t z u h e r r s c h e n — ein Streben, das die entsprechende Erniedrigung Anderer in sich schließt und zur Voraussetzung hat."
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Der Muthigste unter uns hat nicht Muth genug zu dem, was er eigentlich w e i ß . . . Darüber, wo Einer stehen bleibt oder n o c h nicht, wo Einer urtheilt „hier ist die Wahrheit", entscheidet Grad und Stärke seiner Tapferkeit; mehr jedenfalls als irgend welche Feinheit oder Stumpfheit von Auge und Geist.
die Juden haben in der Sphäre der Kunst das Genie gestreift, mit H. Heine und Offenbach, diesem geistreichsten und übermüthigsten Satyr, der als Musiker zur großen Tradition hält und für den, der nicht bloß Ohren hat, eine rechte Erlösung von den gefühlsamen und im Grunde e n t a r t e t e n Musikern der deutschen Romantik ist
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9Ü54] — ein Weib, das an dem, was es liebt, leiden w i l l . . .
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Den W e r t h eines Menschen darnach a b s c h ä t z e n , w a s e r d e n M e n s c h e n n ü t z t oder k o s t e t oder s c h a d e t : das bedeutet ebensoviel und ebensowenig als ein Kunstwerk abschätzen je nach den W i r k u n g e n , die es thut. Aber ein Kunstwerk will mit Kunstwerken verglichen sein; und d a m i t i s t d e r W e r t h des Menschen i m V e r g l e i c h m i t a n d e r e n M e n s c h e n gar nicht berührt. Die „moralische Werthschätzung", so weit sie eine s o c i a l e ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eignen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit, unmittheilbar, unmittheilsam — ein u n a u s g e r e c h n e t e r Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls a n d e r e n Species: wie wollt ihr den abwerthen können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt? Ich finde den typischen Stumpfsinn in Hinsicht auf d i e s e n Werth bei jenem t y p i s c h e n F l a c h k o p f , dem Engländer J. St. Mill: er sagt z. B. von A. Comte „er betrachtete in seinen früheren Tagen Napoleons Namen und Andenken mit einem Ingrimm, d e r i h m d i e h ö c h s t e E h r e m a c h t ; später freilich erklärte er Napoleon für einen schätzenswertheren Diktator als Louis Philipp; — etwas, das die Tiefe ermessen läßt, zu der sein s i t t l i c h e r M a a ß s t a b heruntergesunken war". Die m o r a l < i s c h e > A b w e r t h u n g hat die größte Urtheils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Werth
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eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast ü b e r s e h n , fast g e l e u g n e t . Rest der naiven T e l e o l o g i e : der W e r t h des Menschen n u r in H i n s i c h t auf die M e n s c h e n
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Philosophie als die Kunst, die Wahrheit zu entdecken: so nach Aristoteles. D a g e g e n die Epicureer, die sich die sensualistische Theorie der Erkenntniß des Aristoteles zu Nutze machten: gegen das Suchen der Wahrheit ganz ironisch und ablehnend; „Philosophie als eine Kunst des Lebens".
9[$8] die drei großen N a i v e t ä t e n : Erkenntniß als Mittel zum Glück (als ob... 15 als Mittel zur Tugend (als ob... als Mittel zur „Verneinung des Lebens", — insofern sie ein Mittel zur Enttäuschung ist — (als ob...) 9[S5>] (45) — so stehen sie da, die Werthe aus Urzeiten: wer könnte *o sie umwerfen, diese schweren granitenen Katzen? — deren Sinn ein Widersinn, deren Witz ein Doch- und Aber-Witz ist — ungeduldige und feurige Geister, die wir nur an Wahrheiten glauben, die man erräth: alles Beweisen-wol-5 len macht uns widerspänstig, — wir flüchten beim Anblick des Gelehrten und seines Schleichens von Schluß zu Schluß.
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Nachgelassene Fragmente
— Hartnäckige Geister, fein und kleinlich — was um euch wohnt, das wohnt sich bald auch ein. — ausgedorrte sandige Seelen, trockne Flußbetten — langen Willens, tief in seinem Mißtrauen und vom Moor der Einsamkeit überwachsen — Heimlich verbrannt, nicht für seinen Glauben, sondern dafür, daß er zu keinem Glauben mehr den Muth hat — vor kleinen runden Thatsachen auf dem Bauche liegen — was man nicht machen wollte als es Zeit dazu war, muß man schon nachher wollen; man hat „gut zu machen", was man nicht gut gethan hat.
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Ungeheure Selbstbesinnung: nicht als Individuum, sondern als Menschheit sich bewußt werden. B e s i n n e n wir uns, denken wir zurück: gehen wir die kleinen und großen Wege A. Der Mensch sucht „die Wahrheit": eine Welt, die nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine w a h r e Welt — eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel — Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß (es) eine Welt, wie sie sein soll, giebt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das „Ich" als scheinbar, als n i c h t - r e a l ) Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Realität? — Warum leitet er gerade das L e i d e n von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück?... — Die Verachtung, der Haß gegen Alles, was vergeht, wechselt, wandelt: — woher diese Werthung des Bleibenden?
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Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine W e l t des B l e i b e n d e n . Die Sinne täuschen, die Vernunft corrigirt die Irrthümer: f o l g l i c h , schloß man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die u n s i n n l i c h s t e n Ideen müssen der „wahren Welt" am nächsten sein. — Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge — sie sind Betrüger, Bethörer, Vernichter: Das G l ü c k kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist der s o n d e r b a r e W e g zum höchsten Glück. In summa: die Welt, wie sie sein s o l l t e , existirt; diese Welt, in der wir leben, ist nur Irrthum, — diese unsere Welt sollte n i c h t existiren. D e r G l a u b e an das S e i e n d e erweist sich nur (als) eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens... Was für eine Art Menschen reflektirt so? Eine unproduktive l e i d e n d e A r t ; eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nöthig: mehr noch, sie würde es verachten, als todt, langweilig, indifferent... Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, i s t , wirklich existirt, ist ein Glaube der Unproduktiven, d i e n i c h t e i n e W e l t s c h a f f e n w o l l e n , wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. — „Wille zur W a h r h e i t " — a l s O h n m a c h t d e s W i l lens zum Schaffen
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Nachgelassene Fragmente
erkennen, daß etwas so und Antagonism in den so i s t Kraft-Graden der thun, daß etwas so und so Naturen. wird. F i k t i o n e i n e r W e l t , welche unseren Wünschen entspricht, psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser w a h r e n W e l t zu verknüpfen. „Wille zur Wahrheit" auf dieser Stufe ist wesentlich K u n s t d e r I n t e r p r e t a t i o n ; wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört. Dieselbe Species Mensch, noch eine Stufe ä r m e r geworden, n i c h t m e h r i m B e s i t z d e r K r a f t zu interpretiren, des Schaffens von Fiktionen, macht den N i h i l i s t e n . Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte n i c h t sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des „Umsonst" ist das NihilistenPathos — zugleich noch als Pathos eine I n c o n s e q u e n z des Nihilisten Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen S i n n hinein: d. h. den Glauben, daß schon ein Wille da sei, der in den Dingen will oder wollen soll. Es ist ein Gradmesser von W i l l e n s k r a f t , wie weit man des S i n n e s in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein k l e i n e s Stück von ihr selbst organisirt. Das p h i l o s o p h i s c h e Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armuth sein. Denn die Kraft organisirt das Nähere und Nächste; die „Erkennenden", welche nur f e s t - s t e i l e n wollen,
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was ist, sind solche, die nichts festsetzen können, w i e es s e i n s o l l . Die K ü n s t l e r eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichniß von dem fest, was sein soll — sie sind produktiv, insofern sie wirklich v e r ä n d e r n und umformen; nicht, wie die Erkennenden, welche Alles lassen, wie es ist. Z u s a m m e n h a n g der P h i l o s o p h e n mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Species Mensch (— sie legen den h ö c h s t e n G r a d v o n R e a l i t ä t den h ö c h s t g e w e r t h e t e n D i n g e n bei. Z u s a m m e n h a n g der P h i l o s o p h e n mit den moralischen Menschen und deren Werthmaaßen. (Die m o r a l i s c h e Weltauslegung als Sinn: nach Niedergang des religiösen Sinnes — Ü b e r w i n d u n g d e r P h i l o s o p h e n , durch V e r n i c h t u n g der Welt des Seienden: Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werthe umzuwenden und das Werdende die scheinbare Welt als die E i n z i g e zu vergöttlichen, gutzuheißen. B. Der Nihilism als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender S t ä r k e sein oder wachsender Schwäche
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theils daß die Kraft zu s c h a f f e n , zu w o l l e n so gewachsen ist, daß sie diese Gesamt-Ausdeutungen und S i n n -Einlegungen nicht mehr braucht
(„nähere Aufgaben", Staat usw.) theils, daß selbst die schöpferische Kraft, S i n n zu schaffen, nachläßt, und die Enttäuschung der herrschende Zustand <wird>. Die Unfähigkeit zum G l a u b e n an einen „Sinn", der „Unglaube"
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Nachgelassene Fragmente
Was die W i s s e n s c h a f t in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet? i ) Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehren k ö n n e n von heilenden tröstlichen Illusions-Welten 2) als untergrabend, secirend, enttäuschend, schwächend
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C. d e r G l a u b e a n d i e W a h r h e i t , das Bedürfniß, einen Halt zu haben an etwas Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Werthgefühlen. Die Furcht, die Faulheit — insgleichen der U n g l a u b e : Reduktion. In wiefern er einen n e u e r e n W e r t h bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht giebt (dadurch werden die Werthgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt v e r s c h w e n d e t worden sind)
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die großen M e t h o d o l o g e n : Aristoteles, Bacon, Descartes, A. Comte 9[6i]
((47)) 20
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In wiefern die einzelnen e r k e n n t n i ß t h e o r e t i s c h e n G r u n d s t e l l u n g e n (Materialismus, Sensualismus, Idealismus) Consequenzen der Werthschätzungen sind: die Quelle der obersten Lustgefühle („Werthgefühle") auch als entscheidend über das Problem der Realität. — das Maaß p o s i t i v e n W i s s e n s ist ganz gleichgültig, oder nebensächlich: man sehe doch die indische Entwicklung. Die buddhistische N e g a t i o n der Realität überhaupt (Scheinbarkeit = Leiden) ist eine vollkommene
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Consequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit, Mangel an Kategorien nicht nur für eine „Welt an sich", sondern Einsicht in die f e h l e r h a f t e n Prozedur e n , vermöge deren dieser ganze Begriff gewonnen ist. „Absolute Realität", „Sein an sich" ein Widerspruch. In einer w e r d e n d e n Welt ist „Realität" immer nur eine S i m p l i f i k a t i o n zu praktischen Zwecken oder eine T ä u s c h u n g auf Grund grober Organe, oder eine Verschiedenheit im t e m p o des Werdens. Die logische Weltverneinung und Nihilisirung folgt daraus, daß wir Sein dem Nichtsein entgegensetzen müssen, und daß der Begriff „Werden" geleugnet wird („etw a s wird") wenn das Sein
Sein und Werden „ V e r n u n f t " entwickelt auf sensualistischer Grundlage, auf den V o r u r t h e i l e n d e r S i n n e , d. h. im Glauben an die Wahrheit der Sinnes-Urtheile. „Sein" als Verallgemeinerung des Begriffs „Leben" (athmen) „beseelt sein" „wollen, wirken" „werden" * Gegensatz ist: „unbeseelt sein", „nicht-werdend"; .nicht-wollend". Also: es wird dem „Seienden" n i c h t das Nicht-seiende, n i c h t das Scheinbare, auch nicht das Todte entgegengesetzt (denn todtsein kann nur etwas, das auch leben kann) af Die „Seele", das „Ich" als U r t h a t s a c h e gesetzt; und überall hineingelegt, wo es ein W e r d e n giebt.
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die C o l p o r t a g e - P h i l o s o p h e n , welche nicht aus ihrem Leben, sondern aus Sammlungen von Beweisstücken für gewisse Thesen eine Philosophie aufbauen Nie sehen wollen, um zu sehen! Als Psychologe muß man leben und warten — bis von selber das d u r c h -
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Nachgelassene Fragmente
g e s i e b t e Ergebniß vieler Erlebnisse seinen Schluß gemacht hat. Man darf niemals wissen, w o h e r man etwas weiß Sonst giebt es eine schlechte Optik und Künstlichkeit. — Das unfreiwillige V e r g e s s e n des EinzelFalls ist philosophisch, n i c h t das Vergessenwo 11 e n , das absichtliche Abstrahiren: letzteres kennzeichnet vielmehr die n i c h t -philosophische Natur.
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9[6 5 ] das was ich an W war es auch. 9[66]
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Werthe umwerthen — was wäre das? Es müssen die s p o n t a n e n Bewegungen alle da sein, die neuen zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt geworden ein muthiges Bewußtwerden und J a - s a g e n zu dem, was e r r e i c h t ist ein Losmachen von dem Schlendrian alter Werthschätzungen, die uns entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.
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Die unfreiwillige Naivetät des Larochefoucauld, welcher glaubt, etwas Böses, Feines und Paradoxes zu sagen — damals war die „Wahrheit" in psychologischen Dingen
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etwas, das erstaunen machte — Beispiel: „les grandes ämes ne sont pas Celles, qui ont moins de passions et plus de vertus que les ames communes, mais seulement Celles, qui ont de plus grands desseins." Freilich: J. Stuart Mill (der Chamfort den e d l e r e n und philosophischeren Larochefoucauld des 18. Jahrhunderts nennt —) sieht in ihm nur den scharfsinnigsten Beobachter alles dessen in der menschlichen Brust, was auf „gewohnheitsmäßige Selbstsucht* zurückgeht und fügt hinzu: „ein e d l e r Geist wird es nicht über sich gewinnen, sich die Notwendigkeit einer dauernden Betrachtung von G e m e i n h e i t und N i e d r i g k e i t aufzulegen, es wäre denn um zu zeigen, gegen welche verderblichen Einflüsse sich hoher Sinn und Adel des Charakters siegreich zu behaupten vermag."
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Der complicirte Charakter Henri IV: königlich und ernst und wieder mit der Laune eines Buffo, undankbar und treu, großherzig und listig, voll von Geist, Heroism und Absurdität. „bei den Schriften Friedrich des Grossen findet man Flecken von Bier und Tabak auf Seiten eines Mark-Aurel" io Der Admiral de Coligny und der grosse Conde sind Montmorency durch ihre Mütter. Die männlichen Montmorency sind tüchtige und energische Soldaten, aber keine G e n i e s . Ebenso leben die grossen Feldherrn Moritz und Heinrich von Nassau wieder in Turenne auf, ihrem Neffen, dem Sohn -5 ihrer Schwester Elisabeth Die Mutter des grossen Conde, Charlotte de Montmorencyy in die Henri IV so gründlich verliebt war: er sagte von ihr, sie (sei) einzig, nicht nur in ihrer Schönheit, sondern auch in ihrem M u t h e. P Der alte Marquis de Mirabeau sich beklagend, als er sah, wie sein Sohn sich „vers la canaille p l u m i e r e , e c r i v a s s i e r e " neigte
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Nachgelassene Fragmente
„un certain g£nie fier, exuberant" — Mirabeau von seiner Familie. Napoleon: „j'ai des nerfs fort intraitables; si mon coeur ne battait avec une continuelle lenteur, je courrais risque de 5 devenir fou." Descartes hat die Entdeckungen eines Gelehrten mit einer Folge von Schlachten verglichen, die man gegen die Natur liefert. Voltaire erzählt, daß er den Catilina vollständig in 8 io Tagen gemacht habe „Ce tour de force me surprend et m'epouvante encore."
„Le genie n'est qu'une longue patience." Buffon. Das gilt am Meisten, wenn man an die Vorgeschichte des Genies denkt, an die Familien-Geduld, mit der ein Capital von Kraft gehäuft 15 und zusammengehalten wurde — 9bo] Beethoven componirte g e h e n d . Alle genialen Augenblicke sind von einem Überschuß an Muskelkraft begleitet Das heißt in jedem Sinne der Vernunft folgen. Ford(ert) erst jede geniale Erregung eine Menge Muskel-Energie, — sie e r 20 h ö h t das Kraft-Gefühl überall. Umgekehrt steigert ein starker Marsch die geistige Energie, bis zum Rausch 5>[7i] (51)
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NB. Was nützlich heißt ist ganz und gar abhängig von der A b s i c h t , dem Wozu?; die Absicht wieder ist ganz und gar abhängig vom Grade der M a c h t : deshalb kann Utilitarism keine Grundlage sondern nur eine F o l gen-Lehre (sein) und (ist) absolut zu k e i n e r V e r b i n d l i c h k e i t für A l l e zu bringen.
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Erkenntniß als M i t t e l z u r M a c h t , zur „Gottgleichheit" Die altbiblische Legende glaubt daran, d a ß d e r M e n s c h im B e s i t z d e r E r k e n n t n i ß i s t ; daß die Vertreibung aus dem Paradies nur insofern die Folge davon ist, daß Gott nunmehr Furcht vor dem Menschen hat und ihn jetzt von der Stelle forttreibt, wo der Baum des Lebens, der Unsterblichkeit steht; wenn er jetzt auch vom Baum des Lebens äße, so wäre es um seine Macht gethan: abgesehen davon, ist die ganze Cultur eine wachsende Furchtbarkeit des Menschen, im Thurm von Babel, mit seinem „himmelstürmenden" Zweck, symbolisirt. Gott trennt die Menschen: er zersplittert sie; die Sprachvielheit ist eine Nothmaßregel Gottes, er wird mit den einzelnen Völkern besser fertig, insofern sie jetzt unter einander selber sich Krieg machen und zerstören. Im Anfange des Alten Testaments steht die berühmte Geschichte von der A n g s t G o t t e s . Der Mensch ist dargestellt als Fehlgriff Gottes, das Thier ebenso; der Mensch, der erkennt als Rivale Gottes, als die höchste G e fahr Gottes; Arbeit, N o t h , T o d als N o t h w e h r Gottes, um seinen Rivalen niederzuhalten: Die Angst Gottes: der Mensch als ein Fehlgriff Gottes; das Thier ebenso Moral: G o t t verbietet die Erkenntniß, w e i 1 sie zur M a c h t , zur Gottgleichheit führt. E r w ü r d e an sich dem Menschen die Unsterblichkeit gönnen, vorausgesetzt, d a ß derselbe immer unsterblich d u m m bleibt E r schafft ihm Thiere, dann das Weib, damit er Gesellschaft h a t , — damit er Unterhaltung h a t (damit er nicht auf schlechte Gedanken kommt, auf's Denken auf's Erkennen
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Nachgelassene Fragmente
Aber der Dämon (Schlange) verräth dem Menschen, was es mit der Erkenntniß auf sich hat. Die Gefahr Gottes ist ungeheuer: jetzt muß er die Menschen f o r t t r e i b e n vom Baum des Lebens und sie durch Noth, Tod und Arbeit n i e d e r h a l t e n . Das wirkliche Leben ist dargestellt als eine N o t h w e h r G o t t e s , als ein u n n a t ü r l i c h e r Zustand . . . Die Cultur d.h. das Werk der Erkenntniß strebt t r o t z d e m nach Gottgleichheit: sie thürmt sich himmelstürmend auf. Jetzt wird der Krieg für nöthig befunden (Sprache als Ursache des „Volks") die Menschen sollen sich selber zerstören. Endlich wird der Untergang beschlossen. —
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An einen solchen Gott hat man geglaubt!.. 9t73] (53) 15
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Das Bedürfniß nach e i n e r m e t a p h y s i s c h e n W e 11 ist die Folge davon, daß man keinen S i n n , kein W o z u ? aus der vorhandenen Welt zu entnehmen wußte. „Folglich, schloß man, kann diese Welt nur s c h e i n b a r sein." Verhältniß der „Scheinbarkeit" zur »Sinnlosigkeit", „Zwecklosigkeit": psychologisch auszulegen: was bedeutet das? UnWirklichkeit, T r a u m usw. (wodurch unterscheidet sich das Wirkliche vom Traum? durch den S i n n Zusammenhang, durch das NichtZufällige -Beliebige, Causale. A b e r bei jedem Blick im Großen aufs Ganze des Daseins schien es sinnlos, beliebig, zwecklos, die vorhandenen Zwecke nur tromperies usw.) die mechanistische Causalität als solche wäre noch einer vollkommenen Ausdeutung auf Scheinbark e i t fähig: ja sie f o r d e r t d i e s e l b e h e r a u s .
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5>[74J
Periode der A u f k l ä r u n g darauf Periode der E m p f i n d s a m k e i t in wiefern Schopenhauer zur „Empfindsamkeit" gehört (Hegel zur Geistigkeit) 9[75J 5 (54)
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Eine Periode, wo die alte Maskerade und MoralAufputzung der Affekte Widerwillen macht: d i e n a c k t e N a t u r , wo die M a c h t - Q u a n t i t ä t e n als e n t s c h e i d e n d einfach zugestanden werden (als r a n g b e s t i m m e n d ) , wo der g r o ß e S t i l wieder auftritt, als Folge der g r o ß e n L e i d e n s c h a f t .
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Die P o s t h u m e n (— Schwierigkeit ihres Verständnisses; in einem gewissen Sinn n i e v e r s t a n d e n ) Epikur? Schopenhauer Stendhal Napoleon Goethe? Shakespeare? Beethoven? Macchiavell: Die posthumen Menschen werden schlechter verstanden, aber besser gehört als die zeitgemäßen. Oder, strenger: sie werden niemals verstanden: und (daher) ihre Autorität, (comprendre c'est Egaler)
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Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht Alles schon bereit liegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwerthung von Werthen wird nur erreicht, wenn
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Nachgelassene Fragmente
eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen da ist, welche an der alten Werthung leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen,
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Wer weiß, wie aller R u h m entsteht, wird einen Argwohn auch gegen den Ruhm haben, den die Tugend genießt.
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9[79] (58)
Was ist das Loben? — L o b und D a n k b a r k e i t bei Ernte, gutem Wetter, Sieg, Hochzeit, Frieden — die Feste brauchen alle ein S u b j e k t , gegen welches hin sich das Gefühl entladet. Man will, daß Alles, was einem Gutes geschieht, einem a n g e t h a n ist, man will den Thäter. Ebenso vor einem Kunstwerk: man begnügt sich nicht an ihm; man lobt den Thäter. — Was ist also l o b e n ? Eine Art A u s g l e i c h u n g in Bezug auf empfangene Wohlthaten, ein Z u r ü c k g e b e n , ein Bezeugen u n s e r e r Macht — denn der Lobende bejaht, urtheilt, schätzt ab, r i c h t e t : er gesteht sich das Recht zu, bejahen zu k ö n n e n , Ehre austheilen zu k ö n n e n . . . Das erhöhte Glück(s)- und Lebensgefühl ist auch ein erhöhtes M a c h t g e f ü h l : aus dem heraus l o b t der Mensch ( — aus dem heraus erfindet und sucht er einen T h ä t e r , ein „ S u b j e k t " — ) Die D a n k b a r k e i t als die g u t e R a c h e : am strengsten gefordert und geübt, wo Gleichheit und Stolz zugleich aufrecht erhalten werden soll, wo am besten Rache geübt wird.
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„Winter meines Mißvergnügens."
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„das ist so Einer von den Neusten er wird sich grenzenlos erdreusten" „Dreckgeburt von Spott und Feuer" 9[8i]
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B e r 1 i o z Ouvertüre „römischer Carnaval" ist von 1844 (Offenbach) 9 [82]
D e r zweite Buddhismus. Die n i h i l i s t i s c h e K a t a s t r o p h e , die mit der irdischen Cultur ein Ende macht. Vorzeichen dafür: 10 die Überhandnähme des Mitleids die geistige Übermüdung die Reduktion der Probleme auf Lust- und UnlustFragen die Kriegs-Glorie, welche einen Gegenschlag hervorruft 15 ebensowie die nationale Abgrenzung eine Gegenbewegung, die herzlichste „Fraternität" hervorruft, die Unmöglichkeit der Religion, mit Dogmen und Fabeln fortarbeiten zu können 9[«3] Zur G e n e a l o g i e der Moral. Zweite Streitschrift von Friedrich Nietzsche. V i e r t e Abhandlung: der Heerdeninstinct in der Moral. F ü n f t e Abhandlung: zur Geschichte der Moral-Entnatür-5 lichung. S e c h s t e Abhandlung: unter Moralisten und Moralphilosophen. N a c h w o r t . Eine Abrechnung mit der Moral (als Circe der Philosophen). Die Moral — ich habe es schon einmal ge10
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Nachgelassene Fragmente
sagt — war bisher die Circe der Philosophen. Sie ist die U r s a c h e des P e s s i m i s m u s und N i h i l i s m u s . . . Dessen h ö c h s t e F o r m e l formulirt. Die A u f g a b e . 5
Eintritt in das tragische Zeitalter von Europa
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Die große nihilistische Falschmünzerei unter klugem Mißbrauch moralischer Werthe a) Liebe als Entpersönlichung; insgleichen Mitleid. b) N u r der entpersönlichte Intellekt („der Philosoph") erkennt die Wahrheit, „das wahre Sein und Wesen der Dinge" c) das Genie, die g r o ß e n Menschen sind g r o ß , weil sie nicht sich selbst und ihre Sache suchen: der W e r t h des Menschen w ä c h s t im Verhältniß dazu, als er sich selbst verleugnet. Schopenhauer II 440 ss. d) die Kunst als Werk des „ r e i n e n w i l l e n s freien Subjektes" Mißverständniß der „Objektivität". e) G l ü c k als Zweck des Lebens; T u g e n d als Mittel zum Zweck die pessimistische Verurtheilung des Lebens bei Schopenhauer ist eine m o r a l i s c h e Übertragung der Heerden-Maaßstäbe ins Metaphysische. Das „Individuum" sinnlos; folglich ihm einen Ursprung im „An-sich" gebend (und eine Bedeutung seines Daseins als Verirrung); Eltern nur als „Gelegenheitsursache". Es rächt sich, daß von der Wissenschaft das Individuum nicht begriffen w a r : es ist d a s g a n z e b i s h e r i g e L e b e n i n E i n e r L i n i e und nicht dessen Resultat.
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(6o) Die g e l o b t e n Zustände und Begierden: friedlich, billig, mäßig, bescheiden, ehrfürchtig, rücksichtsvoll, tapfer, keusch, redlich, treu, gläubig, gerade, vertrauensvoll, hingebend, mitleidig, hülfreich, gewissen5 haft, einfach, mild, gerecht, freigebig, nachsichtig, gehorsam, uneigennützig, neidlos, gütig, arbeitsam
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NB zu unterscheiden: in wiefern s o l c h e E i g e n s c h a f t e n bedingt sind als M i t t e l zu einem bestimmten Willen und Z w e c k e (oft einem „ b ö s e n " Zwecke) — oder als natürliche F o l g e n eines dominirenden Affekts (z. B. G e i s t i g k e i t ) — oder Ausdruck einer Nothlage, will sagen: als E x i s t e n z b e d i n g u n g (z. B. Bürger, Sklave, Weib usw.) S u m m a : sie sind allesamt nicht u m ihrer selber willen als gut empfunden, alle nicht an und für sich „gut", sondern bereits unter dem Maaßstab der „Gesellschaft", „Heerde" als Mittel zu deren Zwecken, als nothwendig für die Aufrechterhaltung und Förderung, als Folge zugleich eines eigentlichen Heerdeninstinktes im Einzelnen, somit im Dienste eines Instinktes, der g r u n d v e r s c h i e d e n von diesen T u g e n d z u s t ä n d e n ist: denn die Heerde ist nach außen hin f e i n d s e l i g , selbsts ü c h t i g , u n b a r m h e r z i g , voller Herrschsucht, Mißtrauen usw. Im »Hirten" kommt der A n t a g o n i s m u s h e r a u s : er m u ß die e n t g e g e n g e s e t z t e n EigenSchäften der Heerde haben Todfeindschaft der Heerde gegen die R a n g o r d -
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Nachgelassene Fragmente
n u n g : ihr Instinkt zu Gunsten der G l e i c h m a c h e r (Christus); gegen die s t a r k e n E i n z e l n e n (les souverains) ist sie feindselig, unbillig, maßlos, unbescheiden, frech, rücksichtslos, feig, verlogen, falsch, unbarmherzig, versteckt, neidisch, rachsüchtig.
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m o r a l i s t i s c h e r N a t u r a l i s m u s : Rückführung des scheinbar emancipirten, übernatürlichen Moralwerthes auf seine „Natur": d. h. auf die n a t ü r l i c h e I m m o r a l i t ä t , auf die natürliche „Nützlichkeit" usw. Ich darf die Tendenz dieser Betrachtungen als m o r a l ( i s t i s c h e n ) N a t < u r a l i s m u s > bezeichnen: meine Aufgabe ist, die scheinbar emancipirten und n a t u r 1 o s gewordenen Moralwerthe in ihre Natur zurückzuübersetzen — d. h. in ihre natürliche „Immoralität" NB. Vergleich mit der jüdischen „ H e i l i g k e i t " und ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem s o u v e r a i n g e m a c h t e n S i t t e n g e s e t z , losgelöst von seiner N a t u r ( — bis zum G e g e n s a t z zur Natur — ) Schritte der „Entnatürlichung der Moral" (sog. „Idealisirung") als Weg zum Individual-Glück als Folge der Erkenntniß als kategorischer) Imperativ, losgelöst von als Weg zur Heiligung als Verneinung des Willens zum Leben die schrittweise L e b e n s f e i n d l i c h k e i t
der
Moral.
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Die u n t e r d r ü c k t e und a u s g e w i s c h t e Häresie in der Moral
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Begriffe: heidnisch : Herren-Moral : virtü 9[88] (63) 5
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Im neuen Testament, speziell aus den Evangelien höre ich durchaus nichts „ G ö t t l i c h e s " reden: vielmehr eine i n d i r e k t e F o r m der abgründlichsten Verleumdungs- und Vernichtungswuth — eine der unehrlichsten Formen des Hasses: — es fehlt a l l e Kenntniß der Eigenschaften einer h ö h e r e n Natur — ungescheuter Mißbrauch aller Art Biedermännerei; der ganze Schatz von Sprüchwörtern ist ausgenützt und angemaßt; war es nöthig, daß ein Gott kommt, um jenen Zöllnern zu sagen usw. nichts ist gewöhnlicher als dieser Kampf gegen die P h a r i s ä e r mit Hülfe einer absurden und unpraktischen Moral-Scheinbarkeit — an solchem tour de force hat das Volk immer sein Vergnügen gehabt Vorwurf der „Heuchelei"! aus diesem Munde! nichts ist gewöhnlicher als die Behandlung der Gegner — ein indicium verfänglichster Art für Vornehmheit oder n i c h t . . . Hätte einer nur den 100. Theil gesagt, so verdiente (er), als Anarchist, den Untergang. P i l a t u s die einzige honnete Person, sein d£dain vor diesem Juden-Geschwätz von „Wahrheit", als ob solch Volk mitreden dürfte, wenn es sich um Wahrheit handelt, sein a y^vpacpa, sein wohlwollender Versuch, diesen absurden Attentäter los zu geben, in dem er schwerlich etwas anderes sehen konnte als einen Narren . . . sein Ekel in Hinsicht auf jenes nie genug zu verurteilende Wort „ich bin die Wahrheit"
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Nachgelassene Fragmente
die A n n a h m e des S e i e n d e n ist nöthig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: „das Seiende" gehört zu unserer Optik. das „Ich" als seiend (— durch Werden und Entwicklung nicht berührt) die f i n g i r t e W e l t von Subjekt, Substanz, „Vernunft" usw. ist n ö t h i g — : eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. „Wahrheit" — Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen. — die Phänomene a u f r e i h e n auf bestimmte Kategorien — hierbei gehen wir vom Glauben an das „An sich" der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als wirklich) Der Charakter der werdenden Welt als u n f o r m u l i r b a r , als „falsch", als „sich-widersprechend" E r k e n n t n i ß und W e r d e n schließt sich aus. F o l g l i c h muß „Erkenntniß" etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehn, eine Art Werden selbst muß die T ä u s c h u n g d e s S e i e n d e n schaffen.
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In diesen streitbaren Abhandlungen, mit denen idi meinen Feldzug gegen die eben so unphilosophische als verhängnißvolle G e s a m t - Ü b e r s c h ä t z u n g der Moral fortsetze
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Zur Bekämpfung des D e t e r m i n i s m u s . Daraus, daß Etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergiebt sich nicht, daß es n o t h w e n d i g erfolgt. D a ß ein Quantum Kraft sich in jedem bestimmten Falle auf eine einzige Art und Weise bestimmt und benimmt, macht ihn nicht zum „unfreien Willen". Die „mechanische N o t w e n d i g k e i t " ist kein Thatbestand: w i r erst haben sie in das Geschehn hinein interpretirt. Wir haben die F o r m u 1 i r b a r k e i t des Geschehens ausgedeutet als Folge einer über dem Geschehen waltenden Necessität. Aber daraus, daß ich etwas Bestimmtes thue, folgt keineswegs, daß ich es gezwungen thue. Der Z w a n g ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß ein und dasselbe Geschehn nicht auch ein anderes Geschehn ist. Erst dadurch, daß wir Subjekte „T h ä t e r" in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehn die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Z w a n g ist — ausgeübt von wem? wiederum von einem „Thäter". Ursache und Wirkung — ein gefährlicher Begriff, solange man ein E t w a s denkt, das v e r u r s a c h t und ein Etwas, auf das g e w i r k t wird.' A) die Nothwendigkeit ist kein Thatbestand, sondern eine Interpretation. B) H a t man begrifFen, daß das „Subjekt" nichts ist, was w i r k t , sondern nur eine Fiktion, so folgt Vielerlei. Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjektes die D i n g l i c h k e i t erfunden und in den SensationenWirrwarr hineininterpretirt. Glauben wir nicht mehr an das w i r k e n d e Subjekt, so fällt auch der Glaube an w i r k e n d e Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen. Es fällt damit natürlich auch die Welt der wirkenden
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Nachgelassene Fragmente
Atome: deren Annahme immer unter der Voraussetzung gemacht ist, daß man Subjekte braucht. Es fällt endlich auch das „Ding an sich": weil dies im Grunde die Conception eines „Subjekts an sich" ist. Aber wir begriffen, daß das Subjekt fingirt ist. Der Gegensatz „Ding an sich" und „Erscheinung" ist unhaltbar; damit aber fällt auch der Begriff „ E r s c h e i n u n g " dahin. C) Geben wir das wirkende S u b j e k t auf, so auch das O b j e k t , auf das gewirkt wird. Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhärirt weder dem, was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Complexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Complexe scheinbar dauerhaft — also z. B. durch eine Verschiedenheit im tempo des Geschehens, (Ruhe-Bewegung, fest-locker: alles Gegensätze, die nicht an sich existiren und mit denen thatsächlich nur G r a d v e r s c h i e d e n h e i t e n ausgedrückt werden, die für ein gewisses Maaß von Optik sich als Gegensätze ausnehmen. Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes — und von denen aus fälschlich in die Dinge übertragen.
D) Geben wir den Begriff „Subjekt" und „Objekt" auf, dann auch den Begriff „ S u b s t a n z " — und folglich auch dessen verschiedene Modificationen z. B. „Materie" „Geist" und andere hypothetische Wesen „Ewigkeit und Un Veränderlichkeit des Stoffes" usw. Wir sind die S t o f f l i c h k e i t los. Moralisch ausgedrückt: i s t d i e W e l t f a l s c h . Aber, insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch Der Wille zur Wahrheit ist ein F e s t - m a c h e n , ein Wahr-Dauerhaft- M a c h e n , ein Aus-dem-Auge-sch äffen jenes f a l s c h e n Charakters, eine Umdeutung desselben ins S e i e n d e .
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Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t und das den Namen für einen P r o z e ß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein a k t i v e s B e s t i m m e n , n i c h t ein Bewußtwerden von etwas, (das) „an sich" fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den „Willen zur Macht" Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die errathbare, gleichsam s e i e n d g e m a c h t e Welt sein. Logisirung, Rationalisirung, Systematisirung als Hülfsmittel des Lebens. Der Mensch projicirt seinen Trieb zur Wahrheit, sein „Ziel" in einem gewissen Sinn außer sich als s e i e n d e Welt, als metaphysische Welt, als „Ding an sich", als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfniß als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg: diese Vorwegnahme („dieser Glaube" an die Wahrheit) ist seine Stütze. Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf... Das „Wohl des Individuums" ist eben so imaginär als das „Wohl der Gattung": das erstere wird n i c h t dem letzteren geopfert, Gattung ist, aus der Ferne betrachtet, etwas eben so Flüssiges wie Individuum. „ E r h a l t u n g der Gattung" ist nur eine Folge des W a c h s t h u m s der Gattung, d. h. der Ü b e r w i n d u n g d e r G a t t u n g auf dem Wege zu einer stärkeren Art Sobald wir uns Jemanden i m a g i n i r e n , der
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verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und Elend als A b s i c h t zulegen, verderben wir uns die U n s c h u l d d e s W e r d e n s . Wir haben dann Jemanden, der durch uns und mit uns etwas erreichen will. Daß die anscheinende „ Z w e c k m ä ß i g k e i t " („die aller menschlichen Kunst une n d l i c h ü b e r l e g e n e Zweckmäßigkeit") bloß die Folge jenes in allem Geschehen (sich) abspielenden WillenszurMachtist
daß das S t ä r k e r w e r d e n Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurfe ähnlich sehen daß die anscheinenden Z w e c k e nicht beabsichtigt sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringere Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des R a n g s , der Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken m u ß . Gegen die anscheinende „ N o t w e n d i g k e i t " — diese nur ein A u s d r u c k dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas Anderes ist. Gegen die anscheinende „ Z w e c k m ä ß i g k e i t " — letztere n u r ein A u s d r u c k für eine O r d n u n g v o n Machtsphären u n d deren Zusammenspiel. Die logische Bestimmtheit Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit („omne illud verum est, q u o d c l a r e e t d i s t i n c t e p e r c i p i t u r " Descartes): damit ist die mechanische Welthypothese erwünscht und glaublich. Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, d a ß die wahre Beschaffenheit der Dinge in d i e s e m Verhältniß zu unserem Intellekt steht? — Wäre es nicht anders? d a ß die ihm
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am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm b e v o r z u g t , g e schätzt, und folglich als wahr bezeichnet wird? — Der Intellekt setzt sein freiestes und s t ä r k s t e s V e r m ö g e n u n d K ö n n e n als Kriterium des Werthvollsten, folglich W a h r e n . . . „wahr": von Seiten des Gefühls aus — : was das Gefühl am Stärksten erregt („Ich") von Seiten des Denkens aus — : was dem Denken das größte Gefühl von Kraft giebt von Seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus : wobei am Stärksten Widerstand zu leisten ist Also die h ö c h s t e n G r a d e in d e r L e i s t u n g erwecken für das O b j e k t den Glauben an dessen „Wahrheit" d. h. W i r k l i c h k e i t . Das Gefühl der Kraft, des Kampfes, des Widerstand(es) überredet dazu, daß es etwas g i e b t , dem hier widerstanden wird.
» Lieb<mann> p. 11 Dynamis „reale Tendenz zur Aktion", noch gehemmt, die sich zu aktualisiren versucht — „Wille zur Macht" „Spannkraft" „aufgesammelte und aufgespeicherte Bewegungstendenz" 5>[93] -5 (66)
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Ich will auch die A s k e t i k wieder v e r n a t ü r l i c h e n ; an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf V e r s t ä r k u n g ; eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeiten jeder Art, auch im Geistigsten (Diners chez Magny: lauter geistige Schlekker mit verdorbenem Magen); eine Casuistik der That in
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Nachgelassene Fragmente
Bezug auf unsere Meinung die wir von unseren Kräften haben: ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen Gefahren. — Man sollte P r ü f u n g e n erfinden auch für die Stärke im Worthalten-können.
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9t94] Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts vormachen. 9t95] Abhandlungen.
Woraus man bisher die „ w a h r e W e l t " gezimmert hat. Die Entnatürlichung der Moral auch des Gewissens (auch der io Asketik) (auch der Vernunft, Scholastik, Staat Die Zweckmäßigkeit. Die Notwendigkeit. Der Heerdeninstinkt in der Moral. Die Circe der Philosophen, i 5 Die Starken der Zukunft. Das tragische Zeitalter: Lehre von der ewigen Wiederkunft. Die psychologische Falschmünzerei. Logik unter der Herrschaft von Werthurtheilen. Die Schönheit. Der Nihilism als K u n s t . 20 Giebt es eine M e t a p h y s i k ? . . .
Die drei S c h e i n b a r k e i t e n : die Ursächlichkeit die Zweckmäßigkeit die Notwendigkeit *5 E n t n a t ü r l i c h u n g d e r W e r t h e Gegensätze an S t e l l e d e r Rangordnung Die v e r w o r f e n e Welt
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Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine „Notwendigkeit" aus, s o n d e r n n u r ein N i c h t - v e r m ö g e n . Wenn, nach Aristoteles der S a t z v o m W i d e r s p r u c h der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführung(en) zurückgehn, wenn in ihm das Princip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen v o r a u s s e t z t . Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob er dasselbe anderswoher bereits kennte: nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden k ö n n e n . Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden s o l l e n ? Dann wäre Logik ein Imperativ, n i c h t zur Erkenntniß des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr h e i ß e n soll. Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maaßstäbe und Mittel, um Wirkliches den Begriff „Wirklichkeit" für uns erst zu s c h a f f e n ? . . . Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; w a s schlechterdings nicht der Fall ist. D e r Satz enthält also kein K r i t e r i u m d e r W a h r h e i t , sondern einen I m p e r a t i v über das, w a s a l s w a h r g e l t e n soll. Gesetzt, es gäbe ein solches Sich-selbst-identisches A gar nicht, w i e es jeder Satz der Logik (auch der M a t h e m a t i k » voraussetzt, das A wäre bereits eine S c h e i n b a r k e i t , so hätte die Logik eine bloß s c h e i n b a r e Welt zur Voraussetzung. In der That glauben wir an jenen
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Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu b e s t ä t i g e n scheint. Das „Ding" — das ist das eigentliche Substrat zu A : u n s e r G l a u b e a n D i n g e ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachconstruktion des „Dings" . . . Indem wir das nicht begreifen, und aus der Logik ein Kriterium des w a h r e n S e i n s machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen, Substanz Prädicat Object Subject Action usw., als Realitäten zu setzen: d. h. eine metaphysische Welt zu concipiren, d. h. „wahre Welt" ( — d i e s e i s t a b e r d i e s c h e i n b a r e Welt noch einmal ...) Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahrhalten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit sondern ein R e c h t voraussetzen, überhaupt Für-wahrzu halten oder für-unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht, d a ß e s f ü r u n s E r k e n n t n i ß g i e b t , daß U r t h e i l e n w i r k l i c h d i e W a h r h e i t t r e f f e n könne: — kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen k ö n n e n ) Hier r e g i e r t das sensualistische grobe Vorurthcil, daß die Empfindungen uns W a h r h e i t e n über die Dinge lehren, — d a ß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Ding sagen kann, es ist h a r t und es ist w e i c h (der instinktive Beweis „ich kann nicht 2 entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben" — g a n z g r o b u n d f a l s c h ) . Das begriffliche WiderspruchsVerbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden k ö n n e n , daß ein Begriff das Wahre eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern f a ß t . . . Thatsächlich gilt die
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L o g i k (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von fingirten Wahrheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, n a c h e i n e m v o n uns g e s e t z t e n S e i n s - S c h e m a die w i r k l i c h e W e l t zu b e g r e i f e n , r i c h t i g e r , u n s f o r m u l i r b a r , b e r e c h e n b a r zu m a c h e n . . . 9[?8] (68)
Psychologische Ableitung unseres G l a u b e n s an die V e r n u n f t . Der Begriff „Realität" „Sein" ist von unserem „ S u b j e k t " -Gefühle entnommen. „Subjekt": von uns aus interpretirt, so daß das Ich als Subjekt gilt, als Ursache alles Thuns, als T h ä t e r. Die logisch-metaphysischen Postulate, der Glaube an Substanz, Accidens, Attribut usw. hat seine Überzeugungskraft in der Gewohnheit, all unser Thun als Folge unseres Willens zu betrachten: — so daß das Ich, als Substanz, nicht eingeht in die Vielheit der Veränderung. — A b e r es g i e b t k e i n e n W i l l e n . — Wir haben gar keine Kategorien, um eine „Welt an sich" von einer Welt als Erscheinung scheiden zu dürfen. Alle unsere V e r n u n f t - K a t e g o r i e n sind sensualistischer Herkunft: abgelesen von der empirischen Welt. „Die Seele", „das Ich" — Geschichte dieses Begriffes zeigt, daß auch hier die älteste Scheidung („Athem", „Leben") Wenn es nichts Materielles giebt, giebt es auch nichts Immaterielles. Der Begriff e n t h ä l t nichts mehr . . . K e i n e Subjekt-«Atome". Die Sphäre eines Subjektes beständig w a c h s e n d oder sich v e r m i n d e r n d — der Mittelpunkt des Systems sich beständig v e r s c h i e b e n d — ; im Falle es die angeeignete
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Nachgelassene Fragmente Masse nicht organisiren kann, zerfällt es in 2. Andererseits kann es sidi ein schwächeres Subjekt, ohne es zu vernichten, zu seinem Funktionär umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen eine neue Einheit bilden. Keine „Substanz", vielmehr Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt „erhalten" will (es will sich ü b e r b i e t e n — )
9i99] NB. Nidit klug sein wollen, als Psycholog; wir d ü r f e n nicht einmal klug sein . . Wer aus seinem Wissen, aus seiner Menschenkenntniß kleine Vortheile erschnappen will (— oder große, gleidi dem Politiker —) geht vom Allgemeinen zum einzelnsten Fall zurück; aber diese Art Optik ist jener anderen entgegengesetzt, die wir allein brauchen können: wir sehen vom Einzelnsten h i n a u s —
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„Gattung" Der Fortgang zu höherer Macht: die Gattungen sind nur r e l a t i v e V e r l a n g s a m u n g e n d e s t e m p o s, Anzeichen, daß die Möglichkeiten Vorbedingungen zu schneller Verstärkung zu mangeln anfangen (Gattungen sind n i c h t Ziele: das letzte, was „der Natur" am Herzen liegt, wäre die Erhaltung der Gattungen!!)
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NB. Dieser lernte die Menschen kennen, — er will dergestalt kleine Vortheile über sie erschnappen (oder große wie der Politiker). Jener lernte die Menschen kennen, — er will einen n o c h *S g r ö ß e r e n V o r t h e i l , sich ihnen überlegen zu fühlen, er wünsdit zu verachten.
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Aesthetica. Die Zustände, in denen wir eine V e r k l ä r u n g u n d F ü l l e in die Dinge legen und an ihnen dichten, bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln: der Geschlechtstrieb der Rausch die Mahlzeit der Frühling der Sieg über den Feind, der Hohn das Bravourstück; die Grausamkeit; die Ekstase des religiösen Gefühls. Drei Elemente vornehmlich: der Geschlechtstrieb, der Rausch, die Grausamkeit: alle zur ältesten F e s t f r e u d e des Menschen gehörend: alle insgleichen im anfänglichen „Künstler" überwiegend. Umgekehrt: treten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das animalische Dasein mit einer E r r e g u n g j e n e r S p h ä r e n , wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben: — und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der a e s t h e t i s c h e Z u s t a n d . Letzterer tritt nur bei solchen Naturen ein, welche jener abge
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Werthvollere überhaupt anerkennt, die Aufwärtsbewegung seines Typus; insgleichen n a c h w e l c h e m Status er eigentlich s t r e b t . Die Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der Reichthum, das nothwendige Überschäumen über alle Ränder... Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andererseits eine Anregung der animalischen Funktion durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; — eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben. In wiefern kann auch das Häßliche noch diese Gewalt haben? Insofern es noch von der siegreichen Energie des Künstlers etwas mittheilt, der über dies Häßliche und Furchtbare Herr geworden ist; oder insofern es die Lust der Grausamkeit in uns leise anregt (unter Umständen selbst die Lust, u n s wehe zu thun, die Selbstvergewaltigung: und damit das Gefühl der Macht über uns.)
9O3] 20 NB. Wenn man krank ist, so soll man sich verkriechen, in irgend eine „Höhle" : so hat es die Vernunft für sich, so allein ist es thierisch. J[i04] „ich will das und das"; „ich möchte, daß das und das so wäre"; „ich weiß, daß das und das so ist". — die Kraftgrade : 25 der Mensch des W i l l e n s , der Mensch des V e r l a n g e n s , der Mensch des G l a u b e n s
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9[*0S] (71) Zum Plan. NB. 1) über alle w e s e n t l i c h e n Zeiten, Völker, Menschen und Probleme ein Wort. 2) hundert gute A n e k d o t e n , womöglich histo5 risch. 3) kriegerisch, lich—
abenteuerlich,
verfäng-
4) einige Stellen von s c h w e r m ü t h i g e r H e i terkeit — 5) des Verkannten und Verleumdeten Fürsprecher (— des V e r r u f e n e n . . . ) 6) langsam, irreführend, Labyrinth 7) Minotauros, K a t a s t r o p h e (der Gedanke, dem man M e n s c h e n o p f e r bringen müsse — je mehr, desto besser!)
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Unsre psychologische Optik ist daduroh bestimmt 1) daß M i t t h e i l u n g nöthig ist, und daß zur Mittheilung etwas fest, vereinfacht, präcisirbar sein muß (vor allem im i d e n t i s c h e n Fall ...) Damit es aber mittheilbar sein kann, muß es z u r e c h t g e m a c h t empfunden werden, als „ w i e d e r erkennbar". Das Material der Sinne vom Verstände zurechtgemacht, reduzirt auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumirt unter Verwandtes. Also: die Undeutlidikeit und das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam l o gisirt. 2) die Welt der „Phänomene" ist die zurechtgemachte Welt, die wir a l s r e a l e m p f i n d e n . Die „Realität* liegt in dem beständigen Wiederkommen gleieher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem 1 o g i s i r -
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t e n C h a r a k t e r , im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können. 3) der Gegensatz dieser Phänomenal-Weit ist n i c h t „die wahre Welt", sondern die formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos, — also e i n e a n d e r e A r t Phänomenal-Weit, eine für uns „unerkennbare". 4) Fragen, wie die „Dinge an sich" sein mögen, ganz abgesehn von unserer Sinnen-Receptivität und Verstandes-Aktivität, m u ß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, d a ß e s D i n g e g i e b t ? Die „Dingheit" ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele A r t ( e n ) geben könnte, eine solche s c h e i n b a r e Welt zu schaffen — und ob nicht dieses Schaffen, Logisiren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantirte R e a l i t ä t selbst ist: kurz, ob nicht das, was „Dinge setzt", allein real ist; und ob nicht die „Wirkung der äußeren Welt auf uns" auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte i s t . . , „Ursache und Wirkung" falsche Auslegung eines K r i e g s und eines relativen S i e g s die anderen „Wesen" agiren auf uns; unsere z u r e c h t g e m a c h t e Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Ü b e r w ä l t i g u n g v o n deren Aktionen; eine Art D e f e n s i v -Maaßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, d a ß es n u r S u b j e k t e g i e b t — daß „Objekt" nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist. ..ein m o d u s d e s S u b j e k t s 9[i°7] (72)
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Entwicklung des P e s s i m i s m u s zum Nihilism. Entnatürlichung der W e r t he. Scholastik der Werthe. Die Werthe, lösgelöst, idealistisch, statt das Thun
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zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend g e g e n das Thun. Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich Die v e r w o r f e n e Welt, Angesichts einer künstlich erbauten, „wahren, werthvollen" Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die „wahre Welt" gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und r e c h n e t j e n e h ö c h s t e E n t t ä u s c h u n g m i t e i n auf das Conto ihrer Verwerflichkeit Damit ist der N i h i l i s m da: man hat die r i c h t e n d e n W e r t h e übrig behalten — und nichts weiter! Hier entsteht das P r o b l e m der S t ä r k e u n d der S c h w ä c h e : i) die Schwachen zerbrechen daran 2) die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht 3) die Stärksten überwinden die richtenden Werthe. — d a s z u s a m m e n m a c h t d a s tragische Zeitalter aus Zur K r i t i k des P e s s i m i s m . Das „Übergewicht von L e i d ü b e r Lust" oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zu (3), n i h i l i s t i s c h . . . denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter S i n n gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung. Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen S i n n zu setzen: — für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebensachen. Und ein Ü b e r g e w i c h t von Leid wäre möglich und t r o t z -
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Nachgelassene Fragmente
d e m ein mächtiger Wille, ein J a - s a g e n zum Leben; ein Nöthig-haben dieses Übergewichts „Das Leben lohnt sich nicht"; „Resignation" „warum sind die Thränen?.." — eine schwächliche und sentimentale Denkweise, „un monstre gai vaut mieux qu'un sentimental ennuyeux." Der Pessimismus der T h a t k r ä f tigen : das „wozu?" nach einem furchtbaren Ringen, selbst Siegen. Daß irgend Etwas hundert Mal w i c h t i g e r ist, als die Frage, ob w i r uns wohl oder schlecht befinden: Grundinstinkt aller starken Naturen — und folglich auch, ob sich die A n d e r e n gut oder schlecht befinden. Kurz, daß wir ein Z i e l haben, um dessentwillen man nicht zögert, M e n s c h e n o p f e r zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die g r o ß e L e i d e n s c h a f t .
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Das „Subjekt" ist ja nur eine Fiktion; es giebt das Ego gar nicht, von dem geredet wird, wenn man den Egoism tadelt. 5>[io9] (73) NB. den J u d e n Muth zu machen zu n e u e n Ei g e n 20
s c h a f t e n , nachdem sie in neue Daseinsbedingungen übergetreten sind: so wie es meinem Instinkt allein gemäß, und auf diesem Wege habe ich mich auch durch eine giftträgerische Gegenbewegung, die jetzt gerade obenauf ist, nicht irre machen lassen. J[IIO]
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Das Beschreibende, das Pittoreske als S y m p t o m e des N i h i 1 i s m (in Künsten und in der Psychologie) Keine C o l p o r t a g e - P s y c h o l o g i e treiben! Nie beobachten, um zu beobachten! Das giett eine falsche
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Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertriebenes. E r l e b e n als Erleben wollen; es geräth nicht, w e n n m a n nach sich selbst dabei hinblickt; der geborene Psycholog hütet sich, w i e der geborene Maler, zu sehn, um z u sehn; er arbeitet nie „nach der N a t u r " — er überläßt das Durchsieben und Ausdrücken des Erlebten, des „Falls", der „Natur" seinem Instinkt, — das A l l g e m e i n e k o m m t ihm als solches z u m Bewußtsein, n i c h t das willkürliche Abstrahiren v o n bestimmten Fällen. Wer es anders macht, w i e die beutegierigen romanciers in Paris, welche gleichsam der Wirklichkeit auflauern und jeden Tag eine H a n d v o l l Kuriositäten nach Hause bringen; w a s wird schließlich daraus? Ein Mosaik besten Falls, etwas Zusammenaddirtes, Farbenschreiendes, Unruhiges (wie bei den Freres de Goncourt). — D i e „ N a t u r", im künstlerischen Sinne gesprochen, ist niemals „wahr"; sie übertreibt, sie verzerrt, sie läßt Lücken. D a s „Studium nach der N a t u r " ist ein Zeichen v o n Unterwerfung, v o n Schwäche, eine Art Fatalism, die eines Künstlers unwürdig ist. S e h e n , w a s ist — das gehört einer spezifisch anderen A r t v o n Geistern zu, den Thatsächlichen, den Feststellern: hat m a n diesen Sinn in aller Stärke entwickelt, so ist er a n t i - k ü n s t l e r i s c h a n s i c h . D i e d e s c r i p t i v e M u s i k ; der Wirklichkeit es überlassen, zu w i r k e n . . . Alle diese Art<en> Kunst sind l e i c h t e r , nachm a c h b a r e r ; nach ihnen greifen die Gering-Begabten. Appell an die Instinkte; s u g g e s t i v e Kunst. 9[III]
Wagner, ein Stück Aberglaube schon bei Lebzeiten, hat 3° sich inzwischen so in die Wolk(en) des Unwahrscheinlichen eingewickelt, daß in Bezug auf ihn nur das Paradoxe noch Glaube findet
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Nachgelassene Fragmente
9[lI2] (75) Ob nicht der Gegensatz der A k t i v e n und R e a k t i v e n hinter jenem Gegensatz von C l a s s i s c h und R o m a n t i s c h verborgen l i e g t ? . . .
9t"3l NB manche Schicksale muß man hinuntertrinken, ohne sie 5 anzusehn: das v e r b e s s e r t , wie beim Mate-Trinken, ihren Geschmack. 9[n4] NB jene A r t d e s E g o i s m u s , welche uns treibt, etwas um des Nächsten willen zu thun und zu lassen 9[ns] (j6) Zu e r w ä g e n : 10
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D a s v o l l k o m m e n e Buch. — 1) die Form, der Stil Ein i d e a l e r M o n o l o g . Alles Gelehrtenhafte aufgesaugt in die Tiefe alle Accente der tiefen Leidenschaft, Sorge, auch der Schwächen, Milderungen, S o n n e n stellen, — das kurze Glück, die sublime Heiterkeit — Überwindung der Demonstration; absolut p e r s ö n l i c h . Kein „ich" . . . eine Art memoires; die abstraktesten Dinge am leibhaftesten und blutigsten die ganze Geschichte wie p e r s ö n l i c h erlebt u n d e r l i t t e n (— so allein wird's w a h r ) gleichsam ein Geistergespräch; eine Vorforderung, Herausforderung, Todtenbeschwörung möglichst viel Sichtbares, Bestimmtes, Beispielswcises, Vorsicht vor Gegenwärtigem, alles Zeitgemäße
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Vermeiden der Worte „vornehm" und überhaupt aller Worte, worin eine Selbst-In-Scenesetzung liegen könnte. Nicht „Beschreibung"; alle Probleme ins G e f ü h l , übersetzt, bis zur Passion — 2) Sammlung a u s d r ü c k l i c h e r Worte. Vorzug für militärische W(orte>. E r s a t z w o r t e für die philosophischen Termini: womöglich deutsch und zur Formel ausgeprägt, sämmtliche Zustände der geistigsten M e n s c h e n darstellen; so daß ihre Reihe im ganzen Werke umfaßt ist. (— Zustände des Legislator(s) des Versuchers des zur Opferung Gezwungenen, Zögernden — der großen Verantwortlichkeit des Leidens an der Unerkennbarkeit des Leidens am S c h e i n en-Müssen des Leidens am Wehthun-Müssen, der Wollust am Zerstören 3) Das Werk auf eine K a t a s t r o p h e
hin bauen
Einleitung herzunehmen von dem W i l l e n zum Pessimismus. N i c h t als Leidender, Enttäuschter reden. „Wir, die wir nicht an die Tugend und die schönen Schwellungen glauben." Satyrspiel am Schluß E i n m i s c h e n : kurze Gespräche zwischen Theseus Dionysos und Ariadne.
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Nachgelassene Fragmente
— Theseus wird absurd, sagte Ariadne, Theseus wird tugendhaft — Eifersucht des Theseus auf Ariadne's Traum. Der Held sich selbst bewundernd, absurd werdend. Klage der Ariadne Dionysos ohne Eifersucht: „Was ich an Dir liebe, wie könnte das ein Theseus lieben?"... Letzter Akt. Hochzeit des Dionysos und der Ariadne „man ist nicht eifersüchtig, wenn man Gott ist, sagte Dionysos: es sei denn auf Götter/*
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„Ariadne, sagte Dionysos, du bist ein Labyrinth: Theseus hat sich in dich verirrt, er hat keinen Faden mehr; was nützt es ihm nun, daß er nicht vom Minotauros gefressen wurde? Was ihn frißt, ist schlimmer als ein Minotauros." Du schmeichelst mir, antwortete Ariadne, aber ich bin meines Mitleidens müde, an mir sollen alle Helden zu Grunde gehen: das ist meine letzte Liebe zu Theseus: „ich richte ihn zu Grunde"
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Rousseau, dieser typische „moderne Mensch", Idealist und Canaille in Einer Person, und das Erste um des Zweiten willen, ein Wesen, das die „moralische Würde" und deren Attitüde n ö t h i g h a t t e , um sich selber auszuhalten, krank zugleich vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung: diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle unserer neuen Zeit gelagert hat, hat die „Rückkehr zur Natur" gepredigt — wohin wollte er eigentlich z u r ü c k ? Auch ich rede von „Rückkehr zur Natur": obwohl es eigentlich nicht ein „Zurückkehren" ist, sondern ein „Hinaufkommen" — in die starke sonnenreine furchtbare Natur und Natürlichkeit des Menschen, welche mit großen
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Aufgaben spielen darf, weil sie an Kleinem müde würde und Ekel empfände. — Napoleon war „Rückkehr zur Natur" in rebus tacticis und vor allem im Strategischen. Das 18. Jahrhundert, dem man Alles verdankt, worin unser 19. Jahrhundert gearbeitet und gelitten hat: den Moral-Fanatism, die Verweichlichung des Gefühls zu Gunsten des Schwachen, Unterdrückten, Leidenden, die Rancüne gegen alle Art Privilegirte, den Glauben an den „Fortschritt", den Glauben an den Fetisch „Menschheit", den unsinnigen Plebejer-Stolz und die Begierde nach voller Leidenschaft — beides romantisch — Unsere Feindschaft gegen die revolution bezieht sich nicht auf die blutige farce, ihre „Immoralität", mit der sie sich abspielte; vielmehr auf ihre H e e r d e n - M o r a l i t ä t , auf ihre „Wahrheiten", mit denen sie immer noch wirkt und wirkt, auf ihre contagiöse Vorstellung von „Gerechtigkeit, Freiheit", mit der sie alle mittelmäßigen Seelen bestrickt, auf ihre Niederwerfung der Autoritäten h ö h e rer S t ä n d e . Daß es um sie herum so schrecklich und blutig zugieng, hat dieser Orgie der M i t t e l m ä ß i g k e i t einen A n s c h e i n v o n G r ö ß e gegeben, so daß sie als Schauspiel auch die stolzesten Geister verführt hat.
man giebt nach, w o das Nachgeben ein Vergeben ist: also wenn man reich genug ist um nicht nehmen zu müssen.
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9[n8] er liebte es, so lange Recht zu behalten bis ein Zufall ihm zu Hülfe kam, — und bis er Recht h a t t e 9["9] (78) Die „ R e i n i g u n g d e s G e s c h m a c k s " kann nur die Folge einer V e r s t ä r k u n g des Typus sein. Unsere
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Nachgelassene Fragmente
Gesellschaft von heute r e p r ä s e n t i r t nur die Bildung; der Gebildete f e h l t . Der große s y n t h e t i s c h e M e n s c h fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklidi in's Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der v i e l f a c h e Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber n i c h t das Chaos v o r der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr, der vielfache Mensch — G o e t h e als schönster Ausdruck des Typus (— g a n z u n d gar k e i n O l y m p i e r !) Das Recht auf den großen A f f e k t — für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die Entselbstung und der Cultus des „Objektiven" eine falsche Rangordnung auch in dieser Sphäre geschaffen haben. Der Irrthum kam auf die Spitze, als Schopenhauer lehrte: e b e n i m L o s k o m m e n v o m A f f e k t , vom Willen liege der einzige Zugang zum „Wahren", zur Erkenntniß; der willensfreie Intellekt k ö n n e gar n i c h t a n d e r s , als das wahre eigentliche Wesen der Dinge sehn. Derselbe Irrthum in arte: als ob Alles s c h ö n wäre, sobald es ohne Willen angeschaut wird. Der Kampf gegen den „Zweck" in der K u n s t ist immer der Kampf gegen die m o r a l i s i r e n d e Tendenz der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die M o r a l : Part pour Part heißt: „der Teufel hole die Moral!" — Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die Übergewalt des Vorurtheils; wenn man den A f f e k t d e s M o r a l p r e d i g e n s und „Menschenverbesserns" von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, daß die Kunst überhaupt ohne „Affekt", ohne „Zweck", ohne ein außeraesthetisches Bedürfniß möglich
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ist. „Wiederspiegeln*, „nachahmen": gut, aber wie? alle Kunst lobt, verherrlicht, zieht heraus, verklärt — sie s t ä r k t irgend welche Werthschätzungen: sollte man das nur als ein Nebenbei, als einen Zufall der Wirkung nehmen dürfen? O d e r l i e g t es dem „ K ö n n e n " des K ü n s t l e r s s c h o n z u G r u n d e ? Bezieht sich der Affekt des Künstlers auf die Kunst selbst? Oder nicht vielmehr auf das Leben? auf eine W ü n s c h b a r k e i t des L e b e n s ? Und das viele Häßliche, Harte, Schreckliche, das die Kunst darstellt? Will sie damit vom Leben e n t l e i d e n ? zur Resignation stimmen, wie Schopenhauer meint? — Aber der Künstler theilt vor allem seinen Z u s t a n d in Hinsicht auf dieses Furchtbare des Lebens mit: dieser Zustand selbst ist eine W ü n s c h b a r k e i t , wer ihn erlebt hat, hält ihn in höchsten Ehren und theilt ihn mit, gesetzt daß er ein mittheilsames Wesen d. h. ein Künstler ist. Die T a p f e r k e i t vor einem mächtigen Feinde, einem erhabenen Ungemach, einem grauenhaften Problem — sie selbst ist der h ö h e r e Z u s t a n d des Lebens, den alle Kunst der Erhabenheit verherrlicht. Die kriegerische Seele feiert ihre Saturnalien in der Tragödie; das Glück des Krieges und Sieges, der herben Grausamkeit angesichts leidender und kämpfender Menschen, wie alles das dem leidgewohnten, und leid a u f s u c h e n d e n Menschen zu eigen ist.
9[l20] (79) Wir lernen in unserer civilisirten Welt fast nur den verkümmerten Verbrecher kennen, erdrückt unter dem Fluch und der Verachtung der Gesellschaft, sich selbst 3° mißtrauend, oftmals seine That verkleinernd und verleumdend, einen m i ß g l ü c k t e n T y p u s v o n V e r b r e c h e r ; und wir widerstreben der Vorstellung,
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Nachgelassene Fragmente
daß a l l e g r o ß e n M e n s c h e n Verbrecher w a r e n , nur im großen Stile, und nicht im erbärmlichen, daß das Verbrechen zur Größe gehört ( — so nämlich geredet aus dem Bewußtsein der Nierenprüfer und aller derer, die am tiefsten in große Seelen h i n u n t e r g e s t i e g e n sind) Die „Vogelfreiheit" von dem Herkommen, dem Gewissen, der Pflicht — jeder große Mensch kennt diese seine Gefahr. Aber er w i l l sie auch: er w i l l das große Ziel und darum auch dessen Mittel.
9[l2l] ° (80) Daß man den Menschen den M u t h zu ihren Naturtrieben wiedergiebt Daß man ihrer Selbstunterschätzung steuert ( n i c h t der des Menschen als Individuums, sondern der des Menschen a l s N a t u r . . ) 15 Daß man die G e g e n s ä t z e herausnimmt aus den Dingen, nachdem man begreift, daß wir sie hineingelegt haben. Daß man die G e s e l l s c h a f t s - I d i o s y n k r a s i e aus dem Dasein überhaupt herausnimmt (Schuld, Strafe, 20 Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit, Liebe usw.) l
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Das Problem der C i v i l i s a t i o n hinstellen. Fortschritt zur „ N a t ü r l i c h k e i t " : in allen politischen Fragen, auch im Verhältniß von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder UnternehmerParteien handelt es sich um M a c h t fragen — „was man k a n n ? " und erst daraufhin, „was man s o l l ? " Daß dabei, mitten unter der Mechanik der großen Politik, noch die christliche Fanfare geblasen (z. B. in Siegesbulletins oder in kaiserlichen Anreden an das Volk) gehört immer mehr zu dem, was unmöglich wird: weil es wider den Geschmack geht. „Die Gurgel des Kronprinzen" ist keine Angelegenheit Gottes.
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Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das 18. — im G r u n d e f ü h r e n w i r g u t e n E u r o p ä e r e i n e n K r i e g g e g e n d a s i 8. J a h r hundert. — i. „Rückkehr zur Natur" immer entschiedener im umgekehrten Sinne verstanden als es Rousseau verstand. Weg v o m I d y l l u n d der O p e r ! 2. immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maaßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, a n t i r e v o lutionär 3. immer entschiedener die Frage der G e s u n d h e i t d e s L e i b e s der „der Seele" voranstellend: letzteres als einen Zustand in Folge der ersteren begreifend, mindestens als die Vorbedingung
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Zur G e n e a l o g i e
des
Christenthums
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— der Fanatism der Schüchternen, welche nicht wieder zurückzukehren wagen, nachdem sie einmal ihr Land verlassen haben: bis sie, aus Furcht und Marter der Furcht, dazu kommen, es zu v e r n i c h t e n .
es
— es gehört mehr Muth und S t ä r k e des Charakters dazu, halt zu madien oder gar umzukehren als weiterzugehn. U m z u k e h r e n o h n e F e i g h e i t i s t s c h w e r e r als w e i t e r z u g e h e n o h n e Feigheit. 9l>3] (81)
Z u r G e n e s i s des N i h i l i s t e n . Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich w e i ß . Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden:
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die Energie, die Nonchalance, mit der ich als Nihilist vor-
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Nachgelassene Fragmente
wärts gieng, tauschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß „die Ziellosigkeit an sich" unser Glaubensgrundsatz ist.
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Moral als V e r f ü h r u n g s - m i t t e l . „Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die „Verderbniß des Menschen" zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen — man muß sie vernichten." : die Logik R o u s s e a u s (vgl. die Logik P as ca 1 s, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht) Man vergleiche die verwandte Logik L u t h e r s : in beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Radiebedürfniß als m o r a l i s c h - r e l i g i ö s e P f l i c h t einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu h e i l i g e n . . . (die „Sündhaftigkeit Israels": Grundlage für die Machtstellung der Priester) Man vergleiche die verwandte Logik des P a u l u s : immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit usw. (bei C h r i s t u s scheint der Jubel des Volkes als Ursache seiner Hinrichtung; eine antipriesterliche Bewegung von vornherein) (— selbst bei den A n t i s e m i t e n ist es immer das gleiche Kunststück: den Gegner mit moralischen Verwerfungsurtheilen heimzusuchen und sich die Rolle der s t r a f e n d e n G e r e c h t i g k e i t vorzubehalten.) NB Die moralische Verurtheilung als M i t t e l z u r Macht.
Herbst 1887 9[123—126]
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A. „die Erregung des s c h l e c h t e n Gewissens", um Heilande, Priester und dergleichen nöthig zu machen oder: B. die Erregung des g u t e n Gewissens: um seine Gegner als die Schlechten behandeln und niederwerfen zu können
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gegen Rousseau: der Zustand der Natur ist furchtbar, der Mensch ist Raubthier, unsre Civilisation ist ein unerhörter T r i u m p h über diese Raubthier-Natur: — s o s c h l o ß V o l t a i r e . Er empfand die Milderung, die Raffinements, die geistigen Freuden des civilisirten Zustandes; er verachtete die Bornirtheit, auch in der Form der Tugend; den Mangel an Delikatesse auch bei den Asketen und Mönchen. Die m o r a l i s c h e Verwerflichkeit des Menschen schien Rousseau zu präoccupiren; man kann mit den Worten „ungerecht" „grausam" am meisten die Instinkte der Unterdrückten aufreizen, die sich sonst unter dem Bann des vetitum und der Ungnade befinden: so d a ß ihr G e w i s s e n i h n e n die a u f r ü h r e r i s c h e n B e g i e r d e n w i d e r r ä t h . Diese Emancipatoren suchen vor allem E i n s : ihrer Partei die großen Accente und Attitüden der h ö h e r e n N a t u r zu geben.
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H a u p t s y m p t o m e des P e s s i m i s m . die diners chez Magny. der russische Pessimism. Tolstoi Dostoiewsky der aesthetische Pessimismus l'art pour Part „Description* der romantische und der antiromantische Pessimism
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Nachgelassene Fragmente
der erkenntnißtheoretische Pessimismus. Schopenhauer. Der „Phänomenalismus", der anarchistische Pessimismus. die „Religion des Mitleids", buddhistische Vorbewegung. der Cultur-Pessimismus (Exotism. Kosmopolitismus) der moralistische Pessimismus: ich selber Die D i s t r a k t i o n e n , die zeitweiligen E r l ö s u n g e n vom Pessimismus, die großen Kriege, die starken Militär-Organisationen, der Nationalismus die Industrie-Concurrenz die Wissenschaft das Vergnügen Scheiden wir hier aus: der P e s s i m i s m u s als Stärke — w o r i n ? in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilism, als Analytik. P e s s i m i s m u s a l s N i e d e r g a n g — worin? als Verzärtlidiung, als kosmopolitische Anfühlerei, als „tout comprendre" und Historismus.
Die Heraufkunft des Nihilismus. Die Logik des Nihilismus Die Selbstüberwindung des N i h i l i s m u s . Ü b e r w i n d e r und Überwundene. 9[«8] (85) die k r i t i s c h e S p a n n u n g : die Extreme kommen zum Vorschein und Übergewicht.
Herbst 1887 9[126—130]
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Niedergang des P r ö t e s t a n t i s m : theoretisch und historisch als Halbheit begriffen. Thatsächliches Übergewicht des Katholicism; das Gefühl des Protestentismus) so erloschen, daß die stärksten a n t i p r o t e s t a n t i s c h e n Bewegungen 5 nicht mehr als solche empfunden werden (z.B. Wagners Parsifal) Die ganze höhere Geistigkeit in Frankreich ist k a t h o l i s c h im Instinkt; Bismarck hat begriffen, daß es einen Protestantismus gar nicht mehr giebt. 9l>30] ((86> 10
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Kritik des m o d e r n e n M e n s c h e n (seine moralistische Verlogenheit) „der gute Mensch", nur verdorben und verführt durch schlechte Institutionen (Tyrannen und Priester) die Vernunft als Autorität; die Geschichte als Überwindung von Irrthümern; die Zukunft als Fortschritt. der christliche Staat „der Gott der Heerscharen" der christliche Geschlechtsbetrieb oder die Ehe das Reich der „Gerechtigkeit" der Cultus der „Menschheit" die „Freiheit" die r o m a n t i s c h e Attitüde des modernen Menschen: der edle Mensch (Byron, V. Hugo, G. Sand die edle Entrüstung die Heiligung durch die Leidenschaft (als wahre „Natur" die Parteinahme für die Unterdrückten und Schlechtweggekommenen: Motto der Historiker und romanciers. die Stoiker der Pflicht die „Selbstlosigkeit" als Kunst und Erkenntniß der Altruism (als verlogenste Form des Egoism (Utilitarism) gefühlsamster Egoism.
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Nachgelassene Fragmente
9[i3i] (87) dies Alles ist 18. Jahrhundert. Was dagegen n i c h t sich aus ihm vererbt hat: die insouciance, die Heiterkeit, die Eleganz, die geistige Helligkeit; das tempo des Geistes hat sich verändert; der Genuß an der geistigen Feinheit 5 und Klarheit ist dem Genuß an den Farben, Harmonie, Masse, Realität, usw. gewichen. Sensualism im Geistigen. Kurz, es ist das 18. Jahrhundert R o u s s e a u s . 903*] die V i r t u o s i und die T u g e n d h a f t e n 9[i33] Science sans conscience n'est que ruine de Tarne. Rabelais. 10 conscience sans science c'est le salut — 9[i34] (88) Augustin Thierry las 1814 das, was de Montlosier in seinem Werke De la monarchie francaise gesagt hatte: er antwortete mit einem Schrei der Entrüstung und machte sich an sein Werk. Jener Emigrant hatte gesagt: Race d'af15 franchis, race d'esclaves arraches de nos mains, peuple tributaire, peuple nouveau, licence vous fut octroy^e d'etre libres, et non pas a nous d'etre nobles; pour nous tout est de droit, pour vous tout est de gräce, nous ne sommes point de votre communaute; nous sommes un 20 tout par nous-memes. 9l>35] (90) die „evangelische Freiheit", „Verantwortlichkeit vor dem eignen Gewissen", diese schöne Tartüfferie L u t h e r s : im Grunde der „Wille zur Macht" in seiner schüchternsten Form. Denn dies sind seine drei Grade: a) 25 Freiheit, b) Gerechtigkeit, c) Liebe
Herbst 1887 9[131—138]
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der Glaube ist eine „heilige Krankheit", isgä voaog: das hat schon Heraklit gewußt: der Glaube, eine blödsinnig machende innere Nöthigung, d a ß e t w a s w a h r s e i n soll... 9l>37] 5 (91) Der Kampf gegen die g r o ß e n Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich zu entladen, 10 sondern womöglich seiner Entstehung v o r b e u g e n . . . Grundinstinkt der civilisirten Gesellschaft. 9[i38] (92) NB alles Furchtbare in D i e n s t n e h m e n , einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Cultur; aber bis sie s t a r k g e n u g dazu ist, muß M sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen. .. — überall, wo eine Cultur d a s B ö s e a n s e t z t , bringt sie damit ein F u r c h t verhältniß zum Ausdruck, also eine S c h w ä c h e . . . *o T h e s e : alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von Ehedem. M a a ß s t a b : je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein Volk, ein Einzelner sich gestatten kann, weil er sie a l s M i t t e l zu brauchen 15 vermag, um so h ö h e r s t e h t s e i n e C u l t u r . (— das Reich des Bösen wird immer k l e i n e r . . . ) — je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird er als b ö s e ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfang-
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Nachgelassene Fragmente
liebsten, der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d. h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen. 9[i39] (89) S u m m a : die Herrschaft über die Leidenschaften, n i c h t deren Schwächung oder Ausrottung! 5 je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. der „große Mensch" ist groß durch den FreiheitsSpielraum seiner Begierden und durch die noch größere 10 Macht, welche diese prachtvollen Unthiere in Dienst zu nehmen weiß. — der „gute Mensch" ist auf jeder Stufe der Civilisation der U n g e f ä h r l i c h e u n d N ü t z l i c h e z u g l e i c h : eine Art M i t t e ; der Ausdruck im ge15 meinen Bewußtsein davon, v o r w e m m a n s i c h n i c h t z u f ü r c h t e n h a t u n d w e n man trotzdem nicht verachten darf... Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme eine Ablenkung, Verführung, Ankränkelung zu r u i n i r e n 20
zu Gunsten der Regel. Das ist hart: aber ökonomisch betrachtet, vollkommen vernünftig. Mindestens für jene lange Zeit, Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zu Gunsten des Mittleren.
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Eine Cultur der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance als Folge eines großen K r ä f t e - R e i c h t h u m s : j e d e aristokratische Cultur tendirt d a h i n . Erst wenn eine Cultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann auf ihrem Boden auch ein Treibhaus der Luxus-Cultur
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Herbst 1887 9[138—140]
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9[i4<>] (93) Versuch meinerseits, die a b s o l u t e Vernünft i g k e i t des gesellschaftlichen Urtheilens und Werthschätzens zu begreifen: natürlich frei von dem Willen, dabei moralische Resultate herauszurechnen. 5 : der Grad von p s y c h o l o g i s c h e r F a l s c h h e i t und Undurchsichtigkeit, um die zur Erhaltung und Machtsteigerung wesentlichen Affekte zu heiligen (um sich für sie das g u t e G e w i s s e n zu schaffen) : der Grad von D u m m h e i t , damit eine gemein10 same Regulirung und Werthung möglich bleibt (dazu Erziehung, Überwachung der Bildungselemente, Dressur) : der Grad von I n q u i s i t i o n , Mißtrauen u n d U n d u l d s a m k e i t , um die Ausnahmen als Verbrecher zu behandeln und zu unterdrücken, — um 15 ihnen selbst das schlechte Gewissen zu geben, so daß diese innerlich an ihrer Ausnahmhaftigkeit krank sind.
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Moral wesentlich als W e h r , als Vertheidigungsmittel: insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen p. 123 (verpanzert; stoisch; der ausgewachsene Mensch hat vor allem W a f f e n , er ist a n g r e i f e n d Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten, Federn und Haare) Summa: die Moral ist gerade so „unmoralisch", wie jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität. Große B e f r e i u n g , welche diese Einsicht bringt, der Gegensatz ist aus den Dingen entfernt, die Einartigkeit in allem Geschehen ist g e r e t t e t
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Nachgelassene Fragmente
9[i4i] (94) Überarbeitung, Neugierde und Mitgefühl — unsre modernen Laster 9l>4*] (95) Die Höhepunkte der Cultur und der Civilisation liegen auseinander, man soll sich über den Antagonis5 mus dieser beiden Begriffe nicht irreführen lassen. Die großen Momente der C u l t u r sind die Zeiten der Corruption, moralisch ausgedrückt; die Epochen der gewollten und erzwungenen Z ä h m u n g („Civilisation**) des Menschen sind Zeiten der Unduld*° samkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen und deren tiefste Widersacher. 9b43] (96) Wie wenig liegt am Gegenstand! Der Geist ist es, der lebendig macht! Welche kranke und verstockte Luft mitten aus all dem aufgeregten Gerede von „Erlösung", Liebe, 15 „Seligkeit", Glaube, Wahrheit, „ewigem Leben**! Man nehme einmal ein eigentlich h e i d n i s c h e s Buch dagegen, z. B. Petronius, w o im Grunde Nichts gethan, gesagt, gewollt und geschätzt wird, was nicht, nach einem christlich-muckerischen Werthmaaß, Sünde, selbst Tod20 sünde ist. Und trotzdem: welches Wohlgefühl der reineren Luft, der überlegenen Geistigkeit des schnelleren Schrittes, der freigewordenen und überschüssigen zukunftsgewissen Kraft! Im ganzen neuen Testament kommt keine einzige Bouffonnerie vor: aber damit ist ein Buch 25 w i d e r l e g t . . . Mit ihm verglichen bleibt das neue Testament ein Symptom der Niedergangs-Cultur und der C o r r u p t i o n — und als solches hat es gewirkt, als Ferment der Verwesung
Herbst 1887 9[141—144]
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Zur „ l o g i s c h e n S c h e i n b a r k e i t " . Der Begriff „Individuum" und „Gattung" gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. „ G a t t u n g " drückt nur die Thatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das tempo im Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die thatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (— eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-Entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht s c h e i n t , und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, h i e r s e i e i n Z i e l e r r e i c h t — und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben...) Die F o r m gilt als etwas Dauerndes und deshalb Werthvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft „dieselbe Form erreicht wird", so bedeutet das nicht, daß es d i e s e l b e Form i s t , s o n d e r n es e r s c h e i n t i m m e r etwas N e u e s — und nur wir, die wir vergleichen, rechnen
dies Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der „Form". Als ob ein T y p u s erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne. Die F o r m , die G a t t u n g , das G e s e t z , die I d e e , der Z w e c k — hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage, — eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, w a s thut und dem, w o n a c h dies Thun sich richtet (aber das w a s und das w o n a c h sind nur angesetzt von uns aus Gehorsam gegen unsere metaphysisch-logische Dogmatik: kein „Thatbestand")
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Nachgelassene Fragmente
Man soll diese N ö t h i g u n g , Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze — „ e i n e W e l t d e r i d e n t i s c h e n F ä l l e " — zu bilden, nicht so verstehn, als ob wir damit die w a h r e W e l t zu fixiren im Stande wären; sondern als Nöthigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der u n s r e E x i s t e n z ermöglicht wird — wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist. Diese selbe Nöthigung besteht in der S i n n e n A k t i v i t ä t , welche der Verstand unterstützt, — dieses Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles „Wiedererkennen", alles Sichverständlich-machen-können beruht. Unsre B e d ü r f n i s s e haben unsre Sinne so präcisirt, daß die „gleiche Erscheinungswelt" immer wieder kehrt und dadurch den Anschein der W i r k l i c h k e i t bekommen hat. Unsre subjektive Nöthigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts gethan haben a l s i h r e Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor — wir können nicht mehr anders — und vermeinen nun, diese Nöthigung verbürge etwas über die „Wahrheit". Wir sind es, die „das Ding", das „gleiche Ding", das Subjekt, das Prädikat, das Thun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das G l e i c h m a c h e n , das Grob- und Einfach m a c h e n am längsten getrieben haben. Die Welt e r s c h e i n t uns logisch, weil w i r sie erst logisirt h a b e n
Herbst 1887 9[144—145]
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Zum „Macchiavellismus" der Macht. (unbewußter M a c c h i a v e l l i s m u s ) Der W i l l e z u r M a c h t erscheint a) bei den Unterdrückten, bei Sklaven jeder Art als Wille zur „ F r e i h e i t " : bloß das L o s k o m m e n scheint das Ziel (moralisch-religiös: „vor seinem eignen Gewissen verantwortlich" „evangelische Freiheit" usw.) b) bei einer stärkeren und zur Macht heranwachsenden Art als Wille zur Übermacht; wenn zunächst erfolglos, dann sich einschränkend auf den Willen zur „ G e r e c h t i g k e i t " d. h. zu dem g l e i c h e n M a ß v o n R e c h t e n , wie die andere herrschende Art sie hat (Kampf um Rechte...) c) bei den Stärksten, Reichsten, Unabhängigsten, Muthigsten als „ L i e b e zur Menschheit", zum „Volke", zum Evangelium, zur Wahrheit, Gott; als Mitleid; „Selbstopferung" usw. als Überwältigen, Mit-sich-fortreißen, in-seinen-Dienst-nehmen; als instinktives Sich-in-Eins-rechnen mit einem großen Quantum Macht, dem man R i c h t u n g z u g e b e n v e r m a g : der Held, der Prophet, der Cäsar, der Heiland, der Hirt (— auch die Geschlechtsliebe gehört hierher: sie w i l l die Überwältigung, das inBesitz-nehmen und sie e r s c h e i n t als Sich-hingeben...) im Grunde nur die Liebe zu seinem „Werkzeug", zu seinem „Pferd..., seine Überzeugung davon, daß ihm das und das z u g e h ö r t , als Einem, der im Stande ist, es z u b e n u t z e n . „Freiheit", „Gerechtigkeit" und „Liebe" ! ! ! Das Unvermögen zur Macht: seine H y p o k r i s i e und K l u g h e i t : als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit...)
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Nachgelassene Fragmente
als Ergebung, Hingebung, Liebe (Idealisirung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und indirekte Selbstverklärung) als Fatalism, Resignation als „Objektivität" als Selbsttyrannisirung (Stoicism, Askese, „Entselbstung", „Heiligung") (— überall drückt sich das Bedürfniß aus, irgend eine Macht doch noch auszuüben oder sich selbst den A n s c h e i n einer Macht zeitweilig zu schaffen (als Rausch) als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei als „schöne Seele", „Tugend", „SelbstVergötterung", „Abseits", „Reinheit von der Welt" usw. ( — die Einsicht in das Unvermögen zur M als dedain verkleidend) Die Menschen, welche die Macht wollen um der GlücksV o r t h e i l e willen, die die Macht gewährt (politische Parteien) andere Menschen, welche die Macht wollen, selbst mit sichtbaren N a c h t h e i l e n und O p f e r n an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiosi andere Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andere Hände fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen Zum Problem: ob die Macht im „Willen zur Macht" bloss M i t t e l ist: Das Protoplasma sich etwas aneignend und a n o r g a n i s i r e n d , also sich verstärkend und Macht ausübend, um sich zu verstärken. In wiefern das Verhalten des Protoplasma beim Aneignen und Anorganisiren den Schlüssel giebt zum chemischen Verhalten jener Stoffe zu einander (Kampf und Machtfeststellung)
Herbst 1887 9[145—147]
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9[i46] (99) G e g e n R o u s s e a u : der Mensch ist l e i d e r nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche sagen: „der Mensch ist ein Raubthier" haben leider nicht Recht: nicht die Verderbniß des Menschen, sondern seine 5 Verzärtlichung und Vermoralisirung ist der Fluch; in der Sphäre, welche von Rousseau am heftigsten bekämpft wurde, war gerade die r e l a t i v noch starke und wohlgerathene Art Mensch (— die welche noch die großen Affekte ungebrochen hatte, Wille zur Macht, Wille zum ™ Genuß, Willen und Vermögen zu commandiren) Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren, worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung 15 und der erhitzten Eitelkeit — beides Anzeichen, daß es am dominirenden Willen fehlt: er moralisirt und sucht die U r s a c h e seiner Miserabilität als Rancüne-Mensch in den h e r r s c h e n d e n Ständen. 9[M7] (100) 20
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Mit
welchen Mitteln eine Tugend zur Macht kommt? Genau mit den Mitteln einer politischen Partei: Verleumdung, Verdächtigung, Unterminirung der entgegenstrebenden Tugenden, die schon in der Macht sind, Umtaufung ihres Namens, systematische Verfolgung und Verhöhnung: Also d u r c h l a u t e r „Immoralitäten". Was eine B e g i e r d e mit sich selber macht, um zur T u g e n d zu werden? die Umtaufung; die principielle Verleugnung ihrer Absichten; die Übung in Sich-Mißverstehn; die Alliance mit bestehenden und anerkannten Tugenden; die affichirte Feindschaft gegen deren Gegner.
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Nachgelassene Fragmente
Womöglich den Schutz heiligender Mächte erkaufen; berauschen, begeistern, die Tartüfferie des Idealismus; eine Partei gewinnen, die e n t w e d e r mit ihr obenauf kommt o d e r zu Grunde geht..., u n b e w u ß t , n a i v werden..
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Metamorphosen-Lehre: M e t a m o r p h o s e n der Geschlechtlichkeit „ der Grausamkeit „ der Feigheit „ der Rachsucht, Zorn „ der Faulheit „ der Herrschsucht „ der Tollkühnheit „ der Lüge, des Neid(s> » der Verleumdung „ der Habsucht „ des Haß<es> Das, was eine Zeit verachtet oder haßt als die r u d i m e n t ä r e n Tugenden, als Überbleibsel vom Ideal
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einer früheren Zeit, aber in der Form der Verkümmerung („der Verbrecher"...)
9lH9] (102)
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Wie man es macht, um l e b e n s f e i n d l i c h e denzen zu Ehren zu bringen? z. B. die Keuschheit die Armut und Bettelei die Dummheit und Unkultur die Selbstverachtung die Daseins-Verachtung
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9[i5°] (103)
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Zur Optik der Werthsdiätzung: Einfluß der Q u a n t i t ä t (groß, klein) des Z w e k kes. Einfluß der G e i s t i g k e i t in den Mitteln. Einfluß der M a n i e r e n in der A k t i o n . Einfluß des G e l i n g e n s oder Mißlingens Einfluß der g e g n e r i s c h e n Kräfte und deren Werth Einfluß des E r l a u b t e n und V e r b o t e n e n Die Q u a n t i t ä t im Z i e l e in ihrer Wirkung auf die Optik der Werthsdiätzung: der g r o ß e Verbrecher und der k l e i n e . Die Quantität im Z i e l e des Gewollten entscheidet auch bei dem Wollenden selbst, ob er vor sich dabei Achtung h a t oder kleinmüthig und miserabel empfindet. — Sodann der Grad der G e i s t i g k e i t in den Mitteln in ihrer Wirkung auf die Optik der Werthsdiätzung. Wie anders nimmt sich der philosophische Neuerer Versucher und Gewaltmensch aus gegen den Räuber, Barbaren und Abenteurer! — Anschein des „Uneigennützigen". Endlich vornehme Manieren, Haltung, Tapferkeit, Selbstvertrauen — wie verändern sie die Werthung dessen, was auf diese A r t erreicht wird! Wirkung des V e r b o t s : jede Macht, die verbietet, die Furcht zu erregen weiß bei dem, dem etwas verboten wird, erzeugt das „schlechte Gewissen" (d. h. die Begierde nach etwas mit dem Bewußtsein der G e f ä h r l i c h k e i t ihrer Befriedigung, mit der Nöthigung zur Heimlichkeit, zum Schleichweg, zur Vorsicht; jedes Verbot verschlechtert den Charakter bei denen, die sich ihm nicht willentlich unterwerfen, sondern nur gezwungen)
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Nachgelassene Fragmente
9[i5i] (104)
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Der Wille zur Macht kann sich nur a n W i d e r s t ä n d e n äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, — dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma, wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Uberwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. — Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Z w e i h e i t erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung unter einander völlig aufzugeben) „Hunger" ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.
Die m o r a l i s c h e P r ä o c c u p a t i o n stellt einen Geist tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, des a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen Naturen, der „Kinder Gottes" (oder des Teufels —) Und 20 gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal zur K r i t i k der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Heerde — und sei es auch als deren oberster Nothbedarf, als „Hirt" . . . 9[i53]
(105) 25
Die
Starken
der
Zukunft.
Was theils die Noth, theils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer s t ä r k e r e n A r t : das können wir jetzt begreifen und wissentlich w o l l e n : wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.
Herbst 1887 9[151—153]
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^5
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Bis jetzt hatte die „Erziehung" den Nutzen der Gesellschaft im Auge: n i c h t den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. „Werkzeuge" für sie wollte man. Gesetzt, d e r R e i c h t h u m an K r a f t w ä r e g r ö ß e r , so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel n i c h t dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen, — Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, in wiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal n i c h t m e h r um i h r e r s e l b e r w i l l e n e x i s t i r e n z u k ö n n e n : sondern nur noch als M i t t e l in den Händen einer stärkeren Rasse. Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer s t ä r k e r e n R a s s e zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können) Die M i t t e l wären die, welche die Geschichte lehrt: die I s o l a t i o n durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Werthschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten. Die A u s g l e i c h u n g des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die N o t w e n d i g k e i t für eine K l u f t a u f r e i ß u n g , Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: n i c h t , die Nothwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen Diese ausgeglichene Species bedarf einer
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Nachgelassene Fragmente
R e c h t f e r t i g u n g , sobald sie erreicht ist: sie liegt im Dienste einer höheren, souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren; sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur, Manier bis ins Geistigste; eine b e j a h e n d e Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf..., stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben, jenseits von gut und böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.
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9[i54] (106) Der Mensch ist das U n t h i e r und Ü b e r t h i e r ; M der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das Eine nicht wollen, ohne das andere — oder vielmehr: je gründlicher man das Eine 20 will, um so gründlicher erreicht man gerade das Andere. 9[*55] (107)
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Die T u g e n d findet jetzt keinen Glauben mehr, ihre Anziehungskraft ist dahin; es müßte sie denn Einer etwa als eine ungewöhnliche Form des Abenteuers und der Ausschweifung von Neuem auf den Markt zu bringen verstehn. Sie verlangt zu viel Extravaganz und Bornirtheit von ihren Gläubigen, als daß sie heute nicht das Gewissen gegen sich hätte. Freilich, für Gewissenlose und gänzlich Unbedenkliche mag eben das ihr neuer Zauber sein — sie ist nunmehr, was sie bisher noch niemals gewesen ist, ein L a s t e r .
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F ä l s c h u n g in der P s y c h o l o g i e Die großen V e r b r e c h e n in der P s y c h o logie: i ) d a ß alle U n l u s t , a l l e s U n g l ü c k , mit dem Unrecht (der Schuld) gefälscht worden ist (man hat dem Schmerz die Unschuld genommen) z) daß alle s t a r k e n L u s t g e f ü h l e (Ubermuth, Wollust, Triumph, Stolz, Verwegenheit, Erkenntniß, Selbstgewißheit und Glück an sich) als sündlich, als Verführung, als verdächtig gebrandmarkt worden sind. 3) daß die S c h w ä c h e g e f ü h l e , die innerlichsten Feigheiten, der Mangel an Muth zu sich selbst mit heiligenden N a m e n belegt und als wünschenswerth im höchsten Sinn gelehrt worden sind. 4) d a ß alles G r o ß e am Menschen umgedeutet worden ist als Entselbstung, als Sich-opfern für etwas Anderes, für Andere; daß selbst am Erkennenden, selbst am Künstler die E n t p e r s ö n l i c h u n g als die U r sache seines höchsten Erkennens und Könnens vorgespiegelt worden ist. 5) d a ß die L i e b e gefälscht worden ist als Hingebung (und Altruism), während sie ein Hinzu-Nehmen ist oder ein Abgeben in Folge eines Überreichthums v o n Persönlichkeit. N u r die g a n z e s t e n Personen können lieben; die Entpersönlichten, die „Objektiven" sind die schlechtesten Liebhaber (— m a n frage die Weibchen!). Das gilt auch v o n der Liebe z u Gott, oder zum „Vaterland" : man muß fest auf sich selber sitzen, Der Egoismus als die Ver-1 c h lichung, der Altruismus als die Ver- A n d e r ung 6) das Leben als Strafe, das Glück als Versuchung; die Leidenschaften als teuflisch, das Vertrauen zu sich als gottlos
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Nachgelassene Fragmente
NB D i e s e g a n z e P s y c h o l o g i e ist eine P s y c h o l o g i e der Verhinderung, eine Art V e r m a u e r u n g aus Furcht; einmal will sich die große Menge (die Schlechtweggekommenen und Mittelmäßigen) damit wehren gegen die Stärkeren (— und sie in der Entwicklung z e r s t ö r e n ), andererseits alle die Triebe, mit denen sie selbst am besten gedeiht, heiligen und allein in Ehren gehalten wissen. Vergl. die jüdische Priesterschaft.
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I. Die principielle Fälschung der Ges c h i c h t e , damit sie den B e w e i s für die moralische Werthung abgiebt. a) Niedergang eines Volkes und die Corruption b) Aufschwung eines Volkes und die Tugend c) Höhepunkt eines Volkes („seine Cultur") Folge der moralischen Höhe
als
IL Die principielle Fälschung der g r o ß e n M e n s c h e n , der g r o ß e n S c h a f f e n d e n , der g r o ß e n Zeiten a) man will, daß der G l a u b e das Auszeichnende der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die Erlaubniß sich eines Glaubens entschlagen zu können, die „Unmoralität" gehört zur Größe (Caesar, Friedrich der Große, Napoleon, aber auch Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe — man unterschlägt immer die H a u p t sache, ihre „Freiheit des Willens" —)
J[ij8] Wogegen i c h kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht, statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Werth der Ausnahme ist. Z. B.
Herbst 1887 9[156—159]
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die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten
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Wessen W i l l e z u r M a c h t i s t d i e M o r a l ? Das G e m e i n s a m e in der Geschichte Europas seit Sokrates ist der Versuch, die m o r a l i s c h e n W e r t h e zur Herrschaft über alle anderen Werthe zu bringen: so daß sie nicht nur Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch i. der Erkenntniß 2. der Künste 3. der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen „besser-wer den" als einzige Aufgabe, alles Übrige dazu M i t t e l (oder Störung, Hemmung, Gefahr: folglieh bis zur Vernichtung zu bekämpfen...) Eine ähnliche Bewegung in C h i n a Eine ähnliche Bewegung in I n d i e n . W a s bedeutet dieser W i l l e z u r M a c h t s e i t e n s d e r m o r a l i s c h e n M ä c h t e , der in den ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat? A n t w o r t : — drei Mächte sind hinter ihm ver-
steckt: 1) der Instinkt der H e e r d e gegen die Starken Unabhängigen 2) der Instinkt der L e i d e n d e n u n d Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen 3) der Instinkt der M i t t e l m ä ß i g e n gegen die Ausnahmen. — U n g e h e u r e r V o r t h e i l d i e s e r B e w e g u n g , wie viel Grausamkeit, Falschheit und Bornirtheit auch in ihr mitgeholfen h a t : (denn die G e schichte vom K a m p f d e r M o r a l m i t den G r u n d i n s t i n k t e n d e s L e b e n s ist selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist...)
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Nachgelassene Fragmente
9[i6o] (in)Die
m o r a l i s c h e n W e r t h e in d e r T h e o r i e der E r k e n n t n i ß selbst das Vertrauen zur Vernunft — warum nicht Mißtrauen? die „wahre Welt" soll die gute sein — warum? die Scheinbarkeit, der Wechsel, der Widerspruch, der Kampf als unmoralisch abgeschätzt: Verlangen in eine Welt, wo dies Alles f e h l t , die transcendente Welt erfunden, d a m i t ein Platz bleibt für „moralische Freiheit" (bei Kant) die Dialektik als der W e g z u r Tugend (bei P l a t o u n d Sokrates: augenscheinlich, weil die Sophistik als W e g
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zur Unmoraliiäi galt Zeit und Raum ideal: folglich „Einheit" im Wesen der Dinge, folglich keine „Sünde", kein Übel, keine UnVollkommenheit, — eine R e c h t f e r t i g u n g Gottes. Epikur l e u g n e t die Möglichkeit der Erkenntniß: um die moralischen (resp. hedonistischen) Werthe als die obersten zu behalten. Dasselbe thut Augustin; später Pascal („die verdorbene Vernunft") zu Gunsten der christlichen Werthe. die Verachtung des Descartes gegen alles Wechselnde; insgleichen die des Spinoza.
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die m o r a l i s c h e n ) W e r t h e in i h r e r H e r r s c h a f t ü b e r d i e ä s t h e t i s c h e n (oder V o r r a n g oder Gegensatz und T o d f e i n d s c h a f t gegen sie)
9[i6i]
(113) Ursachen für die Heraufkunft des Pessimismus 1) d a ß die mächtigsten u n d zukunftsvollsten Triebe des Lebens bisher v e r l e u m d e t sind, so d a ß das 3° Leben einen Fluch über sich h a t
Herbst 1887 9[160—163]
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2) daß die wachsende Tapferkeit und Redlichkeit und das kühnere Mißtrauen des Menschen die U n a b l ö s b a r k e i t d i e s e r I n s t i n k t e vom Leben begreift und dem Leben sich entgegenwendet 3) daß nur d i e M i t t e l m ä ß i g s t e n , die jenen Conflikt gar nicht f ü h l e n , gedeihen, die höhere Art mißräth und als Gebilde der Entartung gegen sich einnimmt, — daß, andererseits, das Mittelmäßige, sich als Ziel und Sinn gebend, i n d i g n i r t (— daß Niemand e i n W o z u ? mehr beantworten kann: — ) 4) daß die Verkleinerung, die Schmerzhaftigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt, — daß die V e r g e g e n w ä r t i g u n g dieses ganzen Treibens und der sogenannten „Civilisation" immer leichter wird, daß der Einzelne Angesichts dieser ungeheuren Maschinerie v e r z a g t und sich u n terwirft.
9[i«3l (114) Die großen F ä l s c h u n g e n unter der Herrschaft der 20 moralischen Werthe. 1) in der Geschichte (Politik eingerechnet) 2) in der Erkenntnißtheorie 3) in der Beurtheilung von Kunst und Künstlern 4) in der Werthabschätzung von Mensch und Handys lung (von V o l k und R a s s e ) 5) in der Psychologie 6) im Bau der Philosophien („sittliche Weltordnung" und dergleichen) 7) in der Physiologie, Entwicklungslehre („Vervoll3° kommnung* „Socialisirung" „Selektion")
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Nachgelassene Fragmente
9 [164] Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. Erstes Buch: der N i h i l i s m u s 5 als Schlußfolgerung der höchsten bisherigen Werthe. Zweites Buch: K r i t i k der höchsten b i s h e r i g e n W e r t h e , Einsicht in das, was durch sie Ja und Nein sagte. Drittes Buch: 10 Die S e l b s t ü b e r w i n d u n g des N i h i l i s m u s , Versuch, Ja zu sagen zu Allem, was bisher verneint wurde. Viertes Buch: Die U b e r w i n d e r und die Ü b e r w u n d e n e n . Eine Wahrsagung. 9[I«J]
15 (115) Die Z u c h t l o s i g k e i t d e s m o d e r n e n G e i s t e s unter allerhand moralischem) Aufputz: Die Prunkworte sind: die Toleranz (für „Unfähigkeit zu Ja und Nein") la largeur de Sympathie = ein Drittel Indifferenz, ein Drit20
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tel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit die Objektivität = Mangel an Person, Mangel an Willen, Unfähigkeit zur Liebe die „Freiheit" gegen die Regel (Romantik) die „Wahrheit" gegen die Fälscherei und Lügnerci (naturalisme) die „Wissenschaftlichkeit" (das „document humain"), auf deutsch der Colportage-Roman und die Addition statt der Composition die „Leidenschaft" an Stelle der Unordnung und der Unmäßigkeit die „Tiefe" an Stelle der Verworrenheit, des SymbolenWirrwarrs
Herbst 1887 9[164—166]
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Zur „ M o d e r n i t ä t " die Zuchtlosigkeit des Geistes die Schauspielerei die krankhafte Irritabilität (das milieu als „Fatum") die Buntheit die Überarbeitung Die g ü n s t i g s t e n H e m m u n g e n und R e m e d u r e n der „ M o d e r n i t ä t " i. die allgemeine W e h r p f l i c h t mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaaß aufhört 2. die n a t i o n a 1 e Bornirtheit (vereinfachend, concentrirend, allerdings einstweilen auch durch Überarbeitung ausdrückend und erschöpfend) 3. die verbesserte E r n ä h r u n g (Fleisch) 4. die zunehmende R e i n l i c h k e i t und Gesundheit der Wohnstätten 5. die Vorherrschaft der P h y s i o l o g i e über Theologie, Moralistik, Ökonomie und Politik 6. die militärische Strenge in der Forderung und Händhabung seiner „Schuldigkeit" (man l o b t nicht mehr...) a) b) c) d) e)
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Aesthetica. Um Classiker zu sein, muß man a l l e starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn zur r e c h t e n Zeit kommen, um ein G e n u s von Litteratur oder Kunst oder Politik auf seine Höhe und Spitze zu bringen (: nicht n a c h d e m dies schon geschehn ist...) einen G e s a m t z u s t a n d (sei es Volk, sei es eine Cultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspie-
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geln, zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig i s t . . . ) kein reaktiver, sondern ein ( S c h l i e ß e n d e r und vorwärts führender Geist, J a tagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß ( „Es gehört dazu n i c h t der höchste persönliche Werth?" . . . Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen) Vorurtheile hier nicht ihr Spiel spielen, und ob große m o r a l i s c h e Höhe nicht vielleicht an sich ein W i d e r s p r u c h gegen das Classische ist? . . . die Musik „ m e d i t e r r a n i s i r e n " : das ist m e i n e Losung... Ob nicht die moralischen Monstra nothwendig R o m a n t i k e r sein müssen, in Wort und That? • . . Ein solches Übergewicht Eines Zuges über die anderen (wie beim moral(ischen) Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe, und wäre trotzdem Classiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: dies vielleicht der Fall Shakespeare (gesetzt, daß er wirklich Lord Bacon ist:
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Nachgelassene Fragmente
Das Übergewicht der H ä n d l e r und Z w i s c h e n p e r s o n e n , auch im Geistigsten der Litterat der „Vertreter" der Historiker (als Verquicker des Vergangenen und des Gegenwärtigen) die Exoteriker und Kosmopoliten die Zwischenpersonen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie die Semi-Theologen.
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Zur Charakteristik der „ M o d e r n i t ä t " . überreichliche Entwicklung der Zwischengebilde V e r k ü m m e r u n g der T y p e n A b b r u c h der T r a d i t i o n e n , S c h u l e n , d i e Ü b e r h e r r s c h a f t d e r l n s t i n k t e (nach eingetretener S c h w ä c h u n g der W i l l e n s k r a f t , des Wollens von Zweck u n d Mittel...) (philosophisch vorbereitet: das Unbewußte m e h r w e r t h )
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S c h o p e n h a u e r a l s Nadisdilag: Z u s t a n d v o r der R e v o l u t i o n . .. Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens, Katholicismus der geistigsten Begierden — das ist gutes 18. Jahrhundert au fond. Schopenhauers Grundmißverständniß des W i l l e n s (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das W e s e n t l i c h e am Willen sei) ist typisch: Wertherniedrigung des Willens bis zur Verkümmerung. Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem Nichtmehr-wollen, im „Subjekt sein o h n e Ziel und Absicht" („im reinen willensfreien Subjekt") etwas Höheres, ja d a s Höhere, das Werthvolle zu sehen. Großes Symptom der E r m ü d u n g , oder der S c h w ä c h e des W i l l e n s : denn dieser ist ganz eigentlich das, was die Begierde als Herr behandelt, ihr Weg und Maaß weist...
Aesthetica. die moderne F a l s c h m ü n z e r e i in den Künsten: begriffen als nothwendig, nämlich dem e i g e n t l i c h s t e n B e d ü r f n i ß der m o d e r n e n S e e l e gemäß man stopft die Lücken der B e g a b u n g , noch mehr
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Nachgelassene Fragmente
die Lücken der E r z i e h u n g , der Tradition, der S c h u l u n g aus erstens: man sucht sich ein w e n i g e r a r t i s t i s c h e s Publikum, welches unbedingt ist in seiner Liebe (— und alsbald vor der P e r s o n niederkniet...) Dazu dient die Superstition unseres Jahrhunderts, der Aberglaube vom G e n i e . . . zweitens: man haranguirt die dunklen Instinkte der Unbefriedigten, Ehrgeizigen, Sich-selbst-Verhüllten eines demokratischen Zeitalters: Wichtigkeit der A t t i t ü d e drittens: man nimmt die Prozeduren der einen Kunst in die andere, vermischt die Absichten der Kunst mit denen der Erkenntniß oder der Kirche oder des Rassen-Interesses (Nationalismus) oder der Philosophie — man schlägt an alle Glocken auf einmal und erregt den dunklen Verdacht, daß man ein „Gott** sei viertens: man schmeichelt dem Weibe, den Leidenden, den Empörten; man bringt auch in der Kunst narcotica und opiatica zum Übergewicht. Man kitzelt die „Gebildeten**, die Leser von Dichtern und alten Geschichten 9[i7i] (121) NB. Die Scheidung in „Publikum** und „Coenakel**: im ersten m u ß man heute Charlatan sein, im zweiten w i l l man Virtuose sein und nichts weiter! Übergreifend über diese Scheidung unsere spezifischen „Genies** des Jahr-
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hunderts, groß für Beides; große Charlatanerie Victor Hugo's und R. Wagners, aber gepaart mit so viel achtem V i r t u o s e n t h u m , daß sie auch den Raffinirtesten im Sinne der Kunst selbst genug thäten Daher der M a n g e l a n G r ö ß e i ) s i e haben eine wechselnde Optik, bald in Hinsicht auf die gröbsten Bedürfnisse, bald in Hinsicht auf die raffinirtesten
Herbst 1887 9[170—173]
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A u f F o r t G o n z a g a , außerhalb von Messina. Z u r V o r r e d e . Zustand tiefster Besinnung. Alles gethan, um mich fern zu stellen; weder durch Liebe, noch durch Haß mehr gebunden. Wie an einer alten Festung. Spuren von Kriegen: auch von Erdbeben. Vergessen
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D i e Moral in der Werthung von Rassen und Ständen. In Anbetracht, d a ß A f f e k t e u n d G r u n d t r i e b e bei jeder Rasse u n d bei jedem Stande etwas v o n ihren Existenzbedingungen ausdrücken (— z u m Mindesten v o n den Bedingungen, unter denen sie d i e längste Zeit sich durchgesetzt haben:) : heißt verlangen, d a ß sie „tugendhaft" sind: d a ß sie ihren Charakter wechseln, aus der H a u t fahren u n d ihre Vergangenheit auswischen : heißt, d a ß sie aufhören sollen, sich z u unterscheiden : heißt, d a ß sie in Bedürfnissen u n d Ansprüchen sich anähnlichen sollen — deutlicher: d a ß s i e z u G r u n d e gehen... D e r Wille z u E i n e r Moral erweist sich somit als die T y r a n n e i jener Art, der diese Eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere A r t ( e n ) : es ist die Vernichtung oder die Uniformirung z u Gunsten der herrschenden (sei es, u m ihr nicht mehr furchtbar z u sein, sei es, u m v o n ihr ausgenutzt z u werden) „Aufhebung der Sklaverei" — angeblich ein Tribut an die „Menschenwürde", in Wahrheit eine V e r n i c h t u n g einer grundverschiedenen species (— Untergrabung ihrer Werthe u n d ihres Glücks — ) Worin eine g e g n e r i s c h e Rasse oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein B ö s e -
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Nachgelassene Fragmente
s t e s , Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns (— seine „Tugenden" werden verleumdet und umgetauft) Es gilt als E i n w a n d gegen Mensch und Volk, wenn er u n s s c h a d e t : aber von seinem Gesichtspunkt aus sind w i r ihm erwünscht, weil wir solche sind, an denen man sich nützen kann. Die Forderung der „Vermenschlichung" (welche ganz naiv sich im Besitz der Formel „was ist menschlich?" glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der H e e r d e n i n s t i n k t. „Gleichheit der Menschen": was sich v e r b i r g t unter der Tendenz, immer mehr Menschen als Menschen g l e i c h zu setzen. D i e „ I n t e r e s s i r t h e i t " in H i n s i c h t a u f d i e g e m e i n e M o r a l ( K u n s t g r i f f : die großen Begierden Herrschsucht und Habsucht zu Protectoren der Tugend zu machen) In wiefern alle Art G e s c h ä f t s m ä n n e r und Habsüchtige, alles, was Credit geben und in Anspruch nehmen muß, es n ö t h i g hat, auf gleichen Charakter und gleichen Werthbegriff zu dringen: der W e l t h a n d e l und - A u s t a u s c h jeder Art erzwingt und k a u f t sich gleichsam die Tugend. Insgleichen der S t a a t und jede Art Herrschsucht in Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kräfte zu arbeiten Insgleichen die P r i e s t e r s c h a f t . — Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vortheil errungen wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die Unmoralität — nach welchem „Rechte"? Nach gar keinem
Herbst 1887 9[173—176]
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Rechte: sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Classen bedienen sich der I m m o r a l i t ä t , wo sie ihnen nützt. 9[i74] (124) die V e r m e h r u n g der K r a f t trotz des zeitS weiligen Niedergehens des Individuums — ein n e u e s N i v e a u zu begründen — eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung 10 — die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum W e r k z e u g dieserZukunfts-Oekonomik — die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse k l e i n e r Arbeit gethan werden muß — die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und 15 Leidenden die Existenz noch m ö g l i c h ist — die S o l i d a r i t ä t als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität — der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des „großen Menschen" 9[*75]
20 (125)
Das P a t r o n a t der Tugend. Habsucht Herrschsucht Faulheit Einfalt
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alle haben ein Interesse an der Sache der Tugend: darum steht sie so fest.
Furcht
9[i7<] ((126)) Spinoza, von dem Goethe sagte „ich fühle mich ihm sehr nahe, obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige", — den er gelegentlich seinen Heiligen nennt.
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Nachgelassene Fragmente
9[i77] (127)
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Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben — mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück Wirklich den Pessimismus ü b e r w i n d e n — ; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat. NB. Mein Werk soll enthalten einen G e s a m t ü b e r blick über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die e r r e i c h t e „Civilisation"
9[i7«] 10 (128) D i e drei Jahrhunderte. Ihre verschiedene Sensibilität drückt sich am besten so aus: Aristokratism
15 F e m i n ism
Descartes, Herrschaft der V e r n u n f t , Zeugniß von der Souverainetät des Willens Rousseau, Herrschaft des G e f ü h l s , Zeugniß von der Souverainetät der S i n n e (verlogen)
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A n i m a l i s m Schopenhauer, Herrschaft der B e g i e r d e , Zeugniß von der Souverainetät der Animalität (redlicher, aber düster)
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Das 17. Jahrhundert ist a r i s t o k r a t i s c h , ordnend, hochmüthig gegen das Animalische, streng gegen das Herz, „ungemüthlich", sogar ohne Gemüth, „undeutsch", dem Burlesken und dem Natürlichen abhold, generalisirend und souverain gegen Vergangenheit: denn es glaubt an sich. Viel Raubthier au fond, viel asketische
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Gewöhnung, um Herr zu bleiben. Das willens s t a r k e Jahrhundert; auch das der starken Leidenschaft.
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Das 18. Jahrhundert ist vom W e i b e beherrscht, schwärmerisch, geistreich, flach, aber mit einem Geiste im Dienste der Wünschbarkeit, des Herzens, libertin im Genüsse des Geistigsten, alle Autoritäten unterminirend; berauscht, heiter, klar, human, falsch vor sich, viel Canaille au fond, gesellschaftlich . . . Das 19. Jahrhundert ist a n i m a l i s c h e r , unterirdischer, h ä ß l i c h e r , realistischer, pöbelhafter, und ebendeshalb „besser" „ehrlicher**, vor der „Wirklichkeit" jeder Art unterwürfiger, w a h r e r , es ist kein Zweifel: n a t ü r l i c h e r ; aber willensschwach, aber traurig und dunkel-begehrlich, aber fatalistisch. Weder vor der „Vernunft", noch vor dem „Herzen" in Scheu und Hochachtung; tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde (Schopenhauer sagte „Wille"; aber nichts ist charakteristischer für seine Philosophie, als daß der Wille in ihr fehlt, die absolute Verleugnung des eigentlichen W o l l e n s ) Selbst die Moral auf einen Instinkt reduzirt („Mitleid") A. Comte ist F o r t s e t z u n g d e s 18. J a h r h u n d e r t s (Herrschaft von coeur über la tete, Sensualism in der Erkenntnißtheorie, altruistische Schwärmerei)
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Daß die W i s s e n s c h a f t in dem Grade souverain geworden ist, das beweist, wie das 19. Jahrhundert sich von der Domination der I d e a l e l o s g e m a c h t hat. Eine gewisse „Bedürfnißlosigkeit" im Wünschen ermöglicht uns erst unsere wissenschaftliche Neugierde und Strenge — diese unsre Art Tugend . . . Die Romantik ist N a c h s c h l a g des 18. Jahrhunderts; eine Art aufgethürmtes Verlangen nach dessen Schwärmerei großen Stils (— thatsädilich ein gut Stück Schauspielerei und Selbstbetrügerei: man wollte die
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Nachgelassene Fragmente
s t a r k e N a t u r , die g r o ß e L e i d e n s c h a f t darstellen) Das neunzehnte Jahrhundert sucht instinktiv nach T h e o r i e n , mit denen es seine fatalistische Unterwerfung unter das Thatsächliche gerechtfertigt fühlt. Schon H e g e l s Erfolg gegen die „Empfindsamkeit" und den romantischen Idealismus lag im Fatalistischen seiner Denkweise, in seinem Glauben an die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen, in seiner Rechtfertigung des wirklichen „Staates" (an Stelle von „Menschheit" usw.) Schopenhauer: wir sind etwas Dummes und, besten Falls, sogar etwas Sich-selbst-aufhebendes. Erfolg des Determinismus, der genealogischen Ableitung der früher als absolut geltenden V e r b i n d l i c h k e i t e n , die Lehre vom milieu und der Anpassung, die Reduktion des Willens auf Reflexbewegungen, die Leugnung des Willens als „wirkende Ursache"; endlich — eine wirkliche Umtaufung: man sieht so wenig Wille, daß das Wort f r e i wird, um etwas Anderes zu bezeichnen. Weitere Theorien: die Lehre von der o b j e k t i v e n , „willenslosen" Betrachtung, als einzigem Wege zur Wahrheit; a u c h z u r S c h ö n h e i t ; der Mechanismus, die ausrechenbare Starrheit des mechanischen Prozesses; der angebliche „naturalisme". Elimination des wählenden richtenden, interpretirenden Subjekts als Princip — Auch der Glaube an das „ G e n i e " , um ein Recht auf U n t e r w e r f u n g zu haben Kant, mit seiner „praktischen Vernunft", mit seinem M o r a l - F a n a t i s m ist ganz 18.Jahrhundert; noch völlig außerhalb der historischen Bewegung; ohne jeden Blick für die Wirklichkeit seiner Zeit z. B. Revolution; unberührt von der griechischen Philosophie; Phantast des Pflichtbegriffs; Sensualist, mit dem Hinterhang der dogmatischen Verwöhnung — die R ü c k b e w e g u n g a u f
Herbst 1887 9[178—179]
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K a n t in unserem Jahrhundert ist eine R ü c k b e w e g u n g z u m 18. J a h r h u n d e r t : man will sich ein Recht wieder auf die a l t e n I d e a l e und die alte Schwärmerei verschaffen, — darum eine Erkenntnißtheorie, welche „Grenzen setzt", d. h. erlaubt, ein J e n s e i t s der V e r n u n f t nach B e l i e b e n a n z u s e t z e n . . . Die Denkweise H e g e l s ist von der G o e t h e s e h e n nicht sehr entfernt: man höre Goethe über S p i n o z a . Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen R u h e und G l ü c k zu finden; Hegel sieht Vernunft überall, — vor der Vernunft darf man sich e r g e b e n und b e s c h e i d e n . Bei Goethe eine Art von fast f r e u d i g e m und v e r t r a u e n d e m F a t a l i s m u s , der nicht revoltirt, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, ein Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint. Goethe sein 18. Jahrhundert in sich fördernd und b e k ä m p f e n d : die Gefühlsamkeit, die Naturschwärmerei, das Unhistorische, das Idealistische, das Unpraktische und Unreale des Revolutionären; er nimmt die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike zu Hülfe, insgleichen Spinoza (als höchsten Realisten); vor allem die praktische Thätigkeit mit lauter ganz festen Horizonten; er separirt sich nicht vom Leben; er ist nicht zaghaft und nimmt soviel als möglich auf sich, über sich, in sich, — er will T o t a l i t ä t , er bekämpft das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille, er diseiplinirt sich, er b i l d e t sich . . . er sagt Ja zu allen großen Realisten (Napoleon — Goethes höchstes Erlebniß)
9l*79] (129) Goethe: ein großartiger Versuch, das 18. J a h r h u n dert zu ü b e r w i n d e n ( R ü c k k e h r zu e i n e r
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Nachgelassene Fragmente
A r t R e n a i s s a n c e - M e n s c h ) , eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts: er hat dessen stärkste Triebe in sich entfesselt und zur Consequenz getrieben. Aber was er für seine Person erreichte, war n i c h t unser 19. Jahrhundert... — er concipirt einen hoch gebildeten, sich selbst im Zaum haltenden, vor sich selbst ehrfürchtigen Menschen, der sich den g a n z e n R e i c h t h u m d e r S e e l e u n d d e r N a t ü r l i c h k e i t (bis zum Burlesken und Buffonesken) zu gönnen wagen darf, weil er stark genug dazu ist; den Menschen der Toleranz nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde geht, zu seiner Förderung zu gebrauchen weiß, d e n u m f ä n g l i c h s t e n , a b e r darum n i c h t c h a o t i s c h e n M e n s c h e n . Sein Complement ist Napoleon (in kleinerem Maaß Friedrich der Grosse), der ebenfalls den K a m p f g e g e n d a s 18. J a h r h u n d e r t übernimmt. NB In einem gewissen Sinn hat das 19. Jahrhundert alles das auch erstrebt, w a s G o e t h e für s i c h g e t h a n h a t : eine Universalität des Verstehens, Gutheißens, Ansich-herankommen-lassens ist ihm zu eigen; ein verwegener Realismus, eine Ehrfurcht vor den Thatsachen — wie kommt es, daß das Gesamtresultat kein Goethe sondern
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ein C h a o s ist, ein N i h i l i s m u s , eine E r f o l g losigkeit, welche fortwährend wieder z u m 18. J a h r h u n d e r t zurückgreifen läßt (z.B. als Romantik, als Altruismus, als Femininismus, als Naturalismus) J[I8O]
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Händel, Leibnitz, Goethe, Bismarck — für die d e u t s c h e s t a r k e A r t charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke,
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welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält. 5>[i8i] (131) ein S y s t e m a t i k e r , ein Philosoph, der seinem 5 Geiste nicht länger mehr zugestehen will, daß er l e b t , daß er wie ein Baum mächtig in Breite und unersättlich um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige Dürrheit, ein „System" herausgeschnitzt hat. — 9[i82] ° (132) „ohne d e n c h r i s t l i c h e n G l a u b e n , meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, un monstre et un chaos". Diese Prophezeiung haben wir e r f ü l l t : nachdem das schwächlichoptimistische 18. Jahrhundert den Menschen v e r 15 h ü b s c h t und v e r r a t i o n a l i s i r t hatte x
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S c h o p e n h a u e r und P a s c a l : in einem wesentlichen Sinn ist S c h o p e n h a u e r der Erste, der die Bewegung P a s c a 1 s wieder a u f n i m m t : un monstre et un chaos, folglich etwas, das zu v e r n e i n e n ist... Geschichte, Natur, der Mensch selbst! unsre U n f ä h i g k e i t , die W a h r h e i t zu e r k e n n e n , ist die Folge unsrer V e r d e r b n i ß , unsres moralischen V e r f a l l s : so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer. „Um so tiefer die Verderbniß der Vernunft, um so nothwendiger die Heilslehre" — oder, schopenhauerisch gesprochen, die Verneinung
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Nachgelassene Fragmente
9[i83] (133) das 17. Jahrhundert leidet a m M e n s c h e n wie an einer S u m m e v o n W i d e r s p r ü c h e n , „l'amas de contradictions", der wir sind, sucht den Menschen zu entdecken, zu o r d n e n , auszugraben: während das 5 18. Jahrhundert zu vergessen sucht, was man von der Natur des Menschen weiß, um ihn an seine Utopie anzupassen, „oberflächlich, weich, human" — schwärmt für „den Menschen" — Das 17. Jahrhundert sucht die Spuren des Individuums 10 auszuwischen, damit das Werk dem Leben so ähnlich als möglich sehe. Das 18. sucht durch das Werk f ü r d e n A u t o r zu i n t e r e s s i r e n . Das 17. Jahrhundert sucht in der Kunst Kunst, ein Stück Cultur; das 18. treibt mit der Kunst Propaganda 15 für Reformen socialer und politischer Natur. Die „Utopie", der „ideale Mensch", die Natur-Angöttlichung, die Eitelkeit des Sich-in-Scene-setzens, die Unterordnung unter die Propaganda s o c i a l e r Ziele, die Charlatanerie — das haben wir vom 18. Jahrhundert. 20
Der Stil des 17. Jahrhunderts: propre, exact et libre
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das starke Individuum, sich selbst genügend oder vor Gott in eifriger Bemühung — und jene moderne AutorenZudringlichkeit und Zuspringlichkeit, — das sind G e g e n s ä t z e . „Sich-produziren" — damit vergleiche man die Gelehrten von Port-Royal. Alfieri hatte einen Sinn für g r o ß e n
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der Haß gegen das B u r l e s k e (Würdelose), der M a n g e l a n N a t u r s i n n gehört zum 17. Jahrhundert,
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9[l«4] (134) Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl die Natur als Quelle der Gerechtigkeit der Mensch vervollkommnet sich in dem Maaße, in dem er sich der N a t u r nähert (nach Voltaire, in dem Maaße, in dem er sich von d e r Natur entfernt dieselben Epochen für den Einen die des Fortschritts, der H u m a n i t ä t , für den Anderen Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit Voltaire noch die h u m a n i t a im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtü (als „hohe Cultur"), er kämpft für die Sache der honnetes gens und de la bonne compagnie, die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft, der Künste, die Sache des Fortschritts selbst und der Civilisation. D e r K a m p f g e g e n 1760 e n t b r a n n t : der Genfer Bürger und le seigneur de Tourney. Erst von da an wird Voltaire der Mann seines Jahrhunderts, der Philosoph, der Vertreter der Toleranz und der Pfeifer des Unglaubens (bis dahin nur u n b e i e s p r i t ) Der Neid und der Haß auf Rousseaus Erfolg trieb ihn vorwärts, „in die Höhe" — — Pour „la canaille", un dieu r£munerateur et vengeur — Voltaire. Kritik beider Standpunkte in Hinsicht auf den Werth der Civilisation. die s o c i a 1 < e > E r f i n d u n g die schönste, die es giebt für Voltaire, es giebt kein höheres Ziel als sie zu unterhalten und zu vervollkommnen; eben das ist die honnetete, die socialen Gebräuche zu achten; Tugend ein Gehorsam gegen gewisse nothwendige „Vorurtheile" zu Gunsten der Erhaltung der „Gesellschaft".
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Nachgelassene Fragmente
C u l t u r - M i s s i o n ä r , Aristokrat, Vertreter der siegreichen herrschenden Stände und ihrer Werthungen. Aber Rousseau blieb P l e b e j e r , auch als homme de lettres, das war u n e r h ö r t ; seine unverschämte Verachtung alles dessen, was nicht er selbst war. Das K r a n k h a f t e an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt. (Lord Byron verwandt: auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen Groll; Zeichen der „Gemeinheit"; später, durch V e n e d i g ins Gleichgewicht gebracht, begriff er, was m e h r e r l e i c h t e r t und w o h l t h u t , . . . l'insouciance) er ist stolz in Hinsicht auf das, was er ist, trotz seiner Herkunft; aber er geräth außer sich, wenn man ihn daran erinnert... Bei Rousseau unzweifelhaft die G e i s t e s s t ö r u n g , bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. Die R a n c u n e d e s K r a n k e n ; die Zeiten seines Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung, und seines Mißtrauens. Die Vertheidigung der P r o v i d e n z durch Rousseau (gegen den Pessismismus Voltaires): er b r a u c h t e Gott, um den Fluch auf die Gesellschaft und die Civilisation werfen zu können; alles mußte an sich gut sein, da Gott es geschaffen; n u r d e r M e n s c h h a t d e n M e n s e h e n v e r d o r b e n . Der »gute Mensch* als Naturmensch war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und Begründetes. Wirkung Rousseaus: die Narrheit zur Größe gerechnet, Romantik (erstes Beispiel n i c h t s t ä r k s t e s ) „das souveräne Recht der Passion" „die monstruose Erweiterung des „ich"
Herbst 1887 9[184—186]
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„das Naturgefühl'* „in der Politik hat man seit ioo Jahren einen Kranken als Führer genommen**
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die die die die die
R o m a n t i k a la R o u s s e a u Leidenschaft, „Natürlichkeit** Fascination der Verrücktheit Pöbel-Rancune als R i c h t e r in unsinnige Eitelkeit des Schwachen
io (135) Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das P r o b l e m der C i v i l i s a t i o n , der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760 der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, „unmoralischer**, stärker, sich-selbst-vertrauender — und insofern «5 „natürlicher** — das ist „Fortschritt** (dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitstheilung, die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten aus einander: so daß die G e s a m t t h a t s a c h e nicht ohne Weiteres in die Augen springt.)... Es gehört zur 20 S t ä r k e , zur Selbstbeherrschung und Fascination der Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas H ö h e r e s empfinden zu machen. Zu jedem „Fortschritt" gehört eine Umdeutung der verstärkten Elemente ins „Gute** (d. h. 9[i86]
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Das P r o b l e m d e s 19. J a h r h u n d e r t s . Ob seine starke und schwache Seite zu einander gehören? Ob es aus Einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner Ideale, deren Widerspruch in einem höheren Zwecke
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Nachgelassene Fragmente
bedingt sind, a l s etwas Höheres? — Denn es könnte die V o r b e s t i m m u n g z u r G r ö ß e sein, in diesem Maaße, in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit, der Nihilism k ö n n t e ein g u t e s Z e i c h e n sein. 9[i«7l B e y 1 e geboren 23 Januar 1783 9[i88]
Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört Denen, welchen Denken V e r g n ü g e n macht, nichts weiter... Daß es deutsch geschrieben ist, ist zum Mindesten unzeit10 gemäß: ich wünschte es französisch geschrieben zu haben, damit es nicht als Befürwortung irgend welcher reichsdeutschen Aspirationen erscheint. Bücher zum Denken, — sie gehören denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter... Die Deutschen von Heute 15 sind keine Denker mehr: ihnen macht etwas Anderes Vergnügen und Bedenk(en). Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen sch<we>r verständlich... Ebendarum wünschte ich meinen Z(arathustra) nicht deutsch geschrieben zu haben Ich mißtraue allen Systemen und Systematikern und gehe *o ihnen aus dem Weg: vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buche das System, dem ich a u s g e w i c h e n bin... Der Wille zum System: bei einem Philosophen moralisch ausgedrückt eine feinere Verdorbenheit, eine Charakter-Krankheit, unmoralisch ausgedrückt, sein Wille, sich dümmer zu stel15 len als man ist — Dümmer, das heißt: stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, commandirender, tyrannischer... Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? . . . Aber ich notire mich, für mich.
Herbst 1887 9[186—190]
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gerade unter Deutschen wird heute am wenigsten gedadhtt. Aber wer weiß! schon in zwei Geschlechtern wird man das Opfer der nationalen Macht-Vergeudung, die Verdummung nicht mehr nöthig haben.
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Ich lese Zarathustra: aber wie konnte ich dergestalt meine Perlen vor die Deutschen werfen!
[10-WII2. Herbst 1887] I0[I] H a 1 k y o n i a. Nachmittage eines Glücklichen. Von Friedrich Nietzsche. io[a] 5 (137)
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M e i n e f ü n f „Neins". 1. Mein Kampf gegen das S c h u l d g e f ü h l und die Einmischung des S t r a f begriffs in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die V e r m o r a 1 i s i r u n g aller bisherigen Philosophie und Werthschätzung. 2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des ü b e r l i e f e r t e n Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen Form des Christenthums abgewirtschaftet hat. Die G e f ä h r l i c h k e i t d e s C h r i s t l i c h e n l d e a l s steckt in seinen Werthgefühlen, in dem, was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das l a t e n t e C h r i s t e n t h u m (z.B. in der Musik, im Socialismus) 3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert R o u s s e a u s , gegen seine „Natur", seinen „guten Menschen", seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls — gegen die
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Nachgelassene Fragmente
Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisirung des Menschen: ein Ideal, das aus dem H a ß g e g e n d i e a r i s t o k r a t i s c h e C u l t u r geboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für den Kampf. — die Schuldgefühls-Moralität des Christen die Ressentiments-Moralität (eine Attitüde des Pöbels) 4. Mein Kampf gegen die R o m a n t i k , in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den a l t e n Z e i t e n der priesterlich-aristokratischen Cultur, (nach) virtii, nach dem „starken Menschen" — etwas äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art s t ä r k e r e n Menschenthums, welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das Symptom der Stärke sieht („Cultus der Leidenschaft") — das Verlangen nach stärkeren Menschen, extremen Zuständen ein Nachmachen der expressivsten Formen, f u r o r e e s p r e s s i v o n i c h t aus der Fülle, sondern dem M a n gel (unter Dichtern ist z. B. Stifter und G. Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein, als ) 5. Mein Kampf gegen die Ü b e r h e r r s c h a f t d e r H e e r d e n - I n s t i n k t e , nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den innerlichen Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt wird. — was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert, mit B e h a g e n . . . Technik heitere Musik usw. die große Technik und Erfindsamkeit die Naturwissenschaften die Historie (?)
relative Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19. Jhs.
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M e i n n e u e r W e g z u m „Ja". Meine neue Fassung des P e s s i m i s m u s als ein freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergangenheit deutlich wurden. „Wie viel , Wahrheit' erträgt und wagt ein Geist?" Frage seiner Stärke. Ein solcher Pessimism k ö n n t e m ü n d e n in jene Form eines dionysischen J a s a g e n s zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre. Die bisher v e r n e i n t e n Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth; und nicht nur wünschenswerth in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren C o m p l e m e n t u n d Vorbedingungen), sondern u m ihrer selber willen, als die mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht D i e bisher allein b e j a h t e n Seiten des Daseins abzuschätzen; das, w a s hier eingentlich Ja sagt, herauszuziehn (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der H e e r d e andrerseits u n d jener dritte Instinkt: der Instinkt der Meisten gegen die Ausnahme) Conception einer h ö h e r e n A r t Wesen als eine „unmoralische" nach den bisherigen Begriffen: die Ansätze dazu in der Geschichte (die heidnischen Götter, die Ideale der Renaissance)
io[ 4 ] (139) 30
Wie man Herr geworden ist über das I d e a l d e r R e n a i s s a n c e ? Der Mensch des 17. Jahrhunderts, der Mensch des 18. Jahrhunderts, der Mensch des 19. Jahrhunderts. R e c r u d e s c e n z des Christenthums ( = Re-
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Nachgelassene Fragmente
formation) der J e s u i t i s m u s und die M o n a r c h i e im Bunde io[j] (140) 5
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Statt des „Naturmenschen" Rousseau's hat das 19. Jahrhundert e i n w a h r e r e s B i l d vom „Menschen" entdeckt, — es hat dazu den M u t h gehabt... Im Ganzen ist damit dem christlichen Begriff „Mensch" eine Wiederherstellung zu Theil geworden. Wozu man n i c h t den Muth gehabt hat, das ist, gerade d i e s e n „Mensch an sich" gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantirt zu sehn. Insgleichen hat man n i c h t gewagt, das W a c h s t h u m d e r F u r c h t b a r k e i t des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachsthums der Cultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt d e s s e n Partei gegen das Heidenthum, insgleichen gegen den Renaissance-Begriff der virtu. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Cultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zu Gunsten des »guten Menschen" (wie als ob er allein der F o r t s c h r i t t des Menschen sei) und beim s o c i a l i s t i s c h e n I d e a l (d. h. dem R e s i d u u m des Christenthums und Rousseaus in der entchristlichten Welt) D e r K a m p f g e g e n d a s 18. J a h r h u n d e r t : dessen h ö c h s t e Ü b e r w i n d u n g durch G o e t h e und N a p o l e o n . Auch S c h o p e n h a u e r kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert, — er ist ein moderner Pascal, mit Pascalischen Werthurtheilen o h n e Christenthum... Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen J a. N a p o l e o n : die nothwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der „Mann" wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige
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Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die „Totalität" als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.
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io[7l 10 (142)
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NB Man gehört nicht zu uns, so lange man sich nicht schämt, bei sich irgend eine übr(ige) Christlichkeit des Gefühls zu ertappen: b e i uns h a t das a l t e I d e a l das G e w i s s e n g e g e n s i c h . . .
N a c h z u d e n k e n : In wiefern immer noch der verhängnißvolle Glaube an die g ö t t l i c h e P r o v i d e n z — dieser für Hand und Vernunft l ä h m e n d s t e Glaube, den es gegeben hat — fortbesteht; in wiefern unter den Formeln „Natur", „Fortschritt", „Vervollkommnung", „Darwinismus", unter dem Aberglauben einer gewissen Zusammengehörigkeit von Glück und Tugend, von Unglück und Schuld immer noch die christliche Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat. Jenes absurde V e r t r a u e n zum Gang der Dinge, zum „Leben", zum „Instinkt des Lebens", jene biedermännische R e s i g n a t i o n , die des Glaubens ist, Jedermann habe nur seine Pflicht zu thun, damit A l l e s gut gehe — dergleichen hat nur Sinn unter der Annahme einer Leitung der Dinge sub specie boni. Selbst noch der F a t a 1 i s m, unsere jetzige Form der philosophischen Sensibilität, ist eine Folge jenes l ä n g s t e n Glaubens an göttliche Fügung, eine unbewußte Folge: nämlich als ob es eben nicht auf uns ankomme, wie Alles geht (— als ob wir es laufen lassen d ü r f t e n , wie es läuft: jeder E i n z e l n e selbst nur ein modus der absoluten Realität — )
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Nachgelassene Fragmente
Man v e r d a n k t dem C h r i s t e n t h u m : die Einmischung des Schuld- und Strafbegriffs in alle Begriffe die Feigheit vor der Moral das d u m m e Vertrauen in den Gang der Dinge (zum „Besseren") die psychologische Falschheit gegen sich.
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Eine Arbeitsteilung der A f f e k t e innerhalb der Gesellschaft: so d a ß die Einzelnen und die Stände die u n v o l l s t ä n d i g e , aber eben damit n ü t z l i c h e r e A r t von Seele heranzüchten. In wiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast r u d i m e n t ä r geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern Affekts hin) Zur Rechtfertigung der Moral: die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen) die aesthetische (die Ausgestaltung fester Typen samt der Lust am eignen Typus) die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten — die physiologische (als imaginäres Übergewicht der Schätzung zu Gunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind — zur Erhaltung der Schwachen
J e d e s Ideal setzt Liebe und Haß, Verehrung und Verachtung voraus. Entweder ist das positive Gefühl das primum mobile oder das negative Gefühl. H a ß und
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V e r a c h t u n g sind z. B. bei allen Ressentiments-Idealen das primum mobile. IO[IO]
(145) Die ö k o n o m i s c h e Abschätzung der bisherigen Ideale Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) 5 wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Thätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus, als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände) Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzien 10 des Peinlichen anschlagen, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Werthvorstellung zu überwinden, die Unlust als werthvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt: „wie w i r d e t w a s U n a n g e n e h m e s angeM n e h m ? " Zum Beispiel, wenn es als Beweis für Kraft, Macht, Selbstüberwindung dienen kann. Oder wenn in ihm unser Gehorsam, unsere Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen als Beweis für Gemeinsinn, Nächstensinn, Vaterlandssinn, für unsere „Vermerisch20
Hebung", „Altruismus", „Heroismus" Daß man die unangenehmen Dinge gern thut — A b sicht der Ideale.
IO[II]
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Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. — Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar
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Nachgelassene Fragmente
thut noth, daß ihm die a n d e r e n möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden..) Hier ist der erste Stein des Anstoßes die L a n g e w e i l e , die E i n f ö r m i g k e i t , welche alle machinale Thätigkeit mit sich bringt. D i e s e ertragen zu lernen und nicht nur ertragen, die Langeweile von einem höheren Reize umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, was uns nichts angeht; und eben darin, in diesem „objektiven" Thätigsein seine „Pflicht" empfinden; die Lust und die Pflicht von einander getrennt abschätzen lernen — das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher a n s i c h : weil seine Thätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Thätigkeit abgiebt: unter seiner Fahne lernt der Jüngling „ochsen": erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Bureauschreiberling, Zeitungsleser und Soldat) Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die a n g e n e h m e n Gefühle müssen von irgend einer unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewerthet werden; die „Pflicht an sich", vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist — und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch . . . Die machinale Existenzform als höchste ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend. (— Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs „du sollst") I0[l2] die Philosophen und andere höhere Ammen, an deren Busen die Jugend die Milch der Weisheit trinkt
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I0[l3]
(147)
Spott über den falschen „A11 r u i s m* bei den Biologen: die Fortpflanzung bei den Amöben erscheint als Abwerfen des Ballastes, als purer Vortheil. Die Ausstoßung der unbrauchbaren Stoffe
io[i4] 5 W i e m a n der T u g e n d z u r H e r r s c h a f t Ein tractatus politicus. Von Friedrich Nietzsche.
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es
verhilft.
io[i5] (148) Das c o n t i n u u m : „Ehe, Eigenthum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat" sind Continuen niederer und höherer Ordnung. Die Oekonomik derselben besteht in dem Ü b e r s c h u s s e der Vortheile der ununterbrochenen Arbeit sowie der Vervielfachung über die N a c h t h e i l e : die größeren Kosten der Auswechslung der Theile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Theile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung) Der Vortheil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden. N i c h t s ist k o s t s p i e l i g e r als neue Anfänge. „Je größer die Daseinsvortheile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe des Lebens zu Grunde zu gehn." IO[I6]
(149)
„Die Unterscheidung zwischen niederer und höherer Existenz ist t e c h n i s c h unhaltbar, denn jedes Thier,
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5
Nachgelassene Fragmente
jede Pflanze entspricht seiner Aufgabe in möglichst vollkommener Weise; der Flug des schwerfälligen Käfers ist kein weniger vollkommener als das Schweben des Schmetterlings für Schmetterlingsaufgaben. Die Unterscheidung ist eine ökonomische; denn die complicirten Organismen vermögen mehr und vollkommenere Arbeit zu leisten, und die V o r t h e i l e aus diesen Leistungen sind so groß, daß damit die wesentlich erhöhten Erhaltungs- und Schaffungskosten übertroffen werden."
io[i7] io (150) Die N o t h w e n d i g k e i t zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen „Maschinerie" der Interessen und Leistungen e i n e G e g e n b e w e g u n g g e h ö r t . Ich bezeichne dieselbe 15 als A u s s c h e i d u n g e i n e s L u x u s - Ü b e r s c h u s ses der M e n s c h h e i t : in ihr soll eine s t ä r k e r e Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein G l e i c h n i ß 20
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für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort „Übermensch". Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen — eine Art S t i l l s t a n d im N i v e a u d e s M e n s c h e n . Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende WirthschaftsGesammtverwaltung der Erde, dann k a n n die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner „angepaßten" Rädern; als ein immer wachsendes Uberflüssig-werden aller dominirenden und
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commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren M i n i m a l - K r ä f t e , M i n i m a l - W e r t h e darstellen. Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung — der Erzeugung des s y n t h e t i s c h e n , des s u m m i r e n d e n , des r e c h t f e r t i g e n d e n Menschen, für den jene Madiinalisirung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine h ö h e r e F o r m zu s e i n sich erfinden kann . . . Er braucht ebensosehr die G e g n e r s c h a f t der Menge, der „Nivellirten", das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des A r i s t o k r a t i s m ist die der Zukunft. — Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der A u s b e u t u n g des M e n s c h e n dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung S i n n hat. Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die GesammtVerringerung, W e r t h - Verringerung d e s T y p u s Mensch, — ein R ü c k g a n g s - P h ä n o m e n im größten Stile. — Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ö k o n o m i s c h e Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten A l l e r auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: d i e U n k o s t e n A l l e r s u m m i r e n s i c h zu e i n e m G e s a m m t - V e r l u s t : der Mensch wird g e r i n g e r : — so daß man nicht mehr weiß, w o z u überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu? ein n e u e s „Wozu?" — das ist es, was die Menschheit nöthig hat...
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Nachgelassene Fragmente
IO[I8]
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Die „ M o d e r n i t ä t " unter dem Gleidiniß von Ernährung und Verdauung. Die Sensibilität unsäglich reizbarer (— unter moralistischem Aufputz als die Vermehrung des M i t l e i d s —) die Fülle disparater Eindrücke größer als je: — der K o s m o p o 1 i t i s m der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften usw. das t e m p o dieser Einströmung ein p r e s t i s s i m o ; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, t i e f zu nehmen, etwas zu „verdauen" — S c h w ä c h u n g der Verdauungs-Kraft resultirt daraus. Eine Art A n p a s s u n g an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu a g i r e n ; er reagirt nur noch auf Erregungen von außen her. Er g i e b t s e i n e K r a f t aus theils in der A n e i g n u n g , theils in der V e r t h e i d i g u n g , theils in der Entgegnung. T i e f e S c h w ä c h u n g der S p o n t a n e i t ä t : — der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser — alles r e a k t i v e Talente: a l l e Wissenschaft! Künstliche Z u r e c h t m a c h u n g seiner Natur zum „Spiegel"; interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene n i e d e r e Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, „Sturm", Wellenspiel giebt Gegensatz der ä u ß e r e n Beweglichkeit zu einer gewissen t i e f e n S c h w e r e u n d M ü d i g k e i t .
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Der S u b s t a n z begriff eine Folge des S u b j e k t s begriffs: n i c h t umgekehrt! Geben wir die Seele, „das Subjekt" preis, so fehlt die Voraussetzung für eine „Substanz" überhaupt. Man bekommt G r a d e d e s S e i e n d e n , man verliert d a s Seiende. Kritik der „ W i r k l i c h k e i t " : worauf führt das „ M e h r o d e r W e n i g e r W i r k l i c h k e i t " , die Gradation des Seins, an die wir glauben? Unser Grad v o n L e b e n s - und M a c h t g e f ü h l (Logik und Zusammenhang des Erlebten) giebt uns das Maaß v o n „Sein", „Realität", Nicht-Schein. S u b j e k t : das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine E i n h e i t unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehn diesen Glauben als W i r k u n g Einer Ursache, — wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die „Wahrheit", „Wirklichkeit", „Substanzialität" überhaupt imaginiren. „Subjekt" ist die Fiktion, als ob viele g l e i c h e Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber w i r haben erst die „Gleichheit" dieser Zustände geschaffen; das Gleichsetzen und Zurecht m a c h e n derselben ist der T h a t b e s t a n d , n i c h t die Gleichheit (— diese ist vielmehr zu l e u g n e n —)
io[2o] (153) Es giebt Fälle, w o eine uns bezeugte Sympathie i n 2 5 d i g n i r t : z. B. unmittelbar nach einer außerordentlichen Handlung, die ihren Werth an sich hat. Aber man gratulirt uns, „daß wir mit ihr fertig sind" usw. Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von Canaille gehabt: Nicht, w a s man sagt, sondern d a ß 3° i c h e s s a g e und inwiefern gerade i c h dazu gekommen sein mag, dies zu sagen — das scheint ihr einziges In-
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Nadigehssetie Fragmente teresse, eine Juden-Zudringlichkeit, gegen die man in praxi den Fußtritt als Antwort hat. Man beurtheilt mich, um nichts mit meinem Werke zu thun haben: man erklärt dessen Genesis — damit gilt es hinreichend für — abgethan.
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Religion In dem inneren Seelen-Haushalt des p r i m i t i v e n Menschen überwiegt die F u r c h t vor dem B ö s e n . W a s ist das B ö s e ? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse? — Er coneipirt es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken, — zu präveniren. — Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als w o h l g e m e i n t , als sinnvoll a u s . . . — man interpretirt vor allem das Schlimme als „verdient": man rechtfertigt das Böse als S t r a f e . . . — In summa: m a n u n t e r w i r f t s i c h i h m : die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. — der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt verzichtleisten, es zu bekämpfen. Nun stellt die ganze Geschichte der Cultur eine Abnahme jener F u r c h t v o r d e m Z u f a l l , vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Cultur, das heißt eben b e r e c h n e n lernen* causal denken lernen, präveniren lernen, an N o t w e n d i g k e i t glauben lernen. Mit dem Wachsthum der Cultur wird dem Menschen jene p r i m i t i v e Unterwerfungsform unter das Übel (Reli-
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gion oder Moral genannt), jene „Rechtfertigung des Übels" entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das „Übel" — er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglieh, wo er als Ü b e r d r u ß ins Bewußtsein tritt, — wo L u s t a m Z u f a l l , a m U n g e w i s s e n und a m P l ö t z l i c h e n als Kitzel hervorspringt... Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom h ö c h s t e r Cultur — ich nenne ihn den P e s s i m i s m u s der Stärke. Der Mensch braucht jetzt n i c h t m e h r eine „Rechtfertigung des Übels", er perhorreszirt gerade das „Rechtfertigen": er genießt das Übel pur, cru, er findet das s i n n l o s e Ü b e l als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nöthig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine WeltUnordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört. . . In einem solchen Zustande bedarf gerade d a s G u t e einer „Rechtfertigung" d. h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: d a n n g e f ä l l t es n o c h . Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermuth zu Gunsten des Thiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphirendste Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines G l a u b e n s a n G o t t schämen zu dürfen: — er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so thut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchstform erkennen lassen. Auch dieser P e s s i m i s m u s d e r S t ä r k e endet mit
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Nachgelassene Fragmente
einer T h e o d i c e e d. h. mit einem absoluten Jasagen zu der Welt, aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat: und dergestalt zur Conception dieser Welt als des thatsächlich e r r e i c h t e n höchstmöglichen Ideals... I0[22] (155)
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Gesammt-Einsicht. Thatsächlich bringt jedes große Wachsthum auch ein ungeheures A b b r ö c k e l n und V e r g e h e n mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs g e h ö r e n in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens. jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung m i t g e schaffen. es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes Wachsthum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die e x t r e m s t e Form des Pessimismus, der eigentliche N i h i 1 i s m, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.
i°l>3] 20 (156) G e s a m m t - E i n s i c h t : der z w e i d e u t i g e Charakter unserer m o d e r n e n W e l t , — eben dieselben Symptome könnten auf N i e d e r g a n g und auf S t ä r k e deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter ^5 (zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als S c h w ä c h e mißverstanden werden. Kurz, das G e f ü h l , als W e r t h g e f ü h l i s t n i c h t a u f d e r Höhe der Zeit V e r a l l g e m e i n e r t : das W e r t h g e f ü h l i s t 3° i m m e r rückständig, es drückt Erhaltungs- Wachsthums-
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Bedingungen einer viel früheren Zeit aus: es kämpft gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue . . Beispiele: —
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I0[24] (157) D i e V e r m o r a l i s i r u n g d e r K ü n s t e . Kunst als Freiheit von der moralischen) Verengung und WinkelOptik; oder als Spott über sie. Die Flucht in die Natur, 10 wo ihre S c h ö n h e i t mit der F u r c h t b a r k e i t sich paart. Conception des g r o ß e n Menschen. — zerbrechliche, unnütze Luxus-Seelen, welche ein Hauch schon trübe macht „die s c h ö n e n S e e l e n " — die v e r b l i c h e n e n I d e a l e aufwecken in M ihrer schonungslosen Härte und Brutalität, als die prachtvollsten Ungeheuer, die sie sind — ein frohlockender Genuß an der psychologischen Einsicht in die Sinuosität und Schauspielerei wider Wissen bei allen vermoralisirten Künstlern. 20 — die F a 1 s c h h e i t der Kunst, — ihre Immoralität ans Licht ziehn — die „idealisirenden Grundmächte a (Sinnlichkeit, Rausch, überreiche Animalität) ans Licht ziehn I0[25] (158) *5
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D i e falsche „ V e r s t ä r k u n g " im r o m a n t i s m e : dies beständige espressivo ist kein Zeichen v o n Stärke, sondern v o n einem Mangelgefühl die p i t t o r e s k e Musik, die sogenannte dramatische, ist v o r allem l e i c h t e r (ebenso w i e die brutale Colportage u n d Nebeneinanderstellung v o n faits und traits i m R o m a n des naturalisme)
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Nachgelassene Fragmente
die „ L e i d e n s c h a f t " eine Sache der Nerven und der ermüdeten Seelen; so wie der Genuß an Hochgebirgen, Wüsten, Unwettern, Orgien und Scheußlichkeiten, — am Massenhaften und Massiven (bei Historikern z. B. T h a t s ä c h l i c h g i e b t es e i n e n C u l t u s der A u s s c h w e i f u n g des G e f ü h l s . Wie kommt es, daß die starken Zeiten ein umgekehrtes Bedürfniß in der Kunst haben — nach einem Jenseits der Leidenschaft?) die Farben, die Harmonie, die nervöse Brutalität des Orchester-Klangs; die schreienden Farben im Roman die Bevorzugung der a u f r e g e n d e n Stoffe (Erotica oder Socialistica oder Pathologica: alles Zeichen, für wen heute gearbeitet wird, für Ü b e r a r b e i t e t e und Z e r s t r e u t e oder Geschwächte. — man m u ß t y r an n i s i r e n , um ü b e r h a u p t zu w i r k e n .
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XO[26] (159) Schluß. — Endlich wagen wir es, die R e g e l zu rechtfertigen!
I0[27] (160) 20
Die W i s s e n s c h a f t , ihre zwei Seiten: hinsichtlich des Individuums hinsichtlich des Cultur-Complexes („Niveaus") — entgegengesetzte Werthung nach dieser und nach jener Seite.
io|>8] (161) *5
an Stelle der „Gesellschaft" der C u l t u r - C o m p l e x als m e i n Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Theilen)
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10[29] (162) Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat, und daß die „Barbarei" der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Ver5 zärtelung einmal in die Nothwendigkeit versetzt wird, am Congo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen. io[3o] (163) Einsicht in die Z u n a h m e d e r G e s a m t - M a c h t : ausrechnen, inwiefern auch die Würdigung von Einzelnen, 10 von Ständen, von Zeiten, Völkern, e i n b e g r i f f e n ist in diesem Wachsthum. Verschiebung des S c h w e r g e w i c h t s einer Cultur. Die Unkosten jedes großen Wachsthums: wer sie trägt! I n w i e f e r n sie j e t z t u n g e h e u e r sein müssen. IO[3I]
15
Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unserer ganzen Civilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Einschränkung. 20 Abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der W e r t h eines Menschen noch nicht einmal berührt. Man fängt an Der Werth eines Menschen liegt nicht in seiner Nützlichkeit: 2 5 denn er bestünde fort, selbst wenn es Niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgiengen, die Spitze der ganzen Species Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm Alles vor Neid zu Grunde gienge
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Nachgelassene Fragmente
I0[32] (164) A. D i e W e g e z u r M a c h t : die neue Tugend unter dem Namen einer al t e n einführen : für sie das „Interesse" aufregen („Glück" als ihre Folge und umgekehrt) 5 : die Kunst der Verleumdung gegen ihre Widerstände : die Vortheile und Zufälle ausnützen zu ihrer Verherrlichung : ihre Anhänger durch Opfer, Separation zu ihren Fanatikern machen 10 :diegrosseSymbolik B. Die e r r e i c h t e Macht 1) Zwangsmittel der Tugend 2) Verführungsmittel der Tugend 3) die Etiquette (der Hofstaat) der Tugend io[33] 15 (165) — Künstler sind n i c h t die Menschen der g r o ß e n Leidenschaft, was sie uns und sich auch vorreden mögen. Und das aus zwei Gründen: es fehlt ihnen die Scham vor sich selber (sie sehen sich zu, i n d e m s i e l e b e n ; sie lauern sich auf, sie sind zu neugierig...) und es fehlt ihnen 20 auch die Scham vor der großen Leidenschaft (sie beuten sie als Artisten aus, Habsucht ihres Talents . . . ) Zweitens aber: 1) ihr Vampyr, ihr Talent mißgönnt ihnen meist solche Verschwendung von Kraft, welche Leidenschaft heißt 2) ihr Künstler- G e i z behütet sie vor der 25 Leidenschaft. Mit einem Talent ist man auch das Opfer eines Talents: man lebt unter dem Vampyrism seines Talents, — man lebt Man wird nicht dadurch mit seinen Leidenschaften fer3° tig, daß man sie darstellt: vielmehr, man ist mit ihnen fertig, w e n n man sie darstellt. (Goethe lehrt es anders:
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er w o l l t e sich hier mißverstehn: ein G(oethe> empfand die Undelikatesse io[34] — ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen — !o[35] (166) — das Laster mit etwas entschieden Peinlichem so ver5 knüpfen, daß zuletzt man vor dem Laster flieht, um von dem loszukommen, was mit ihm verknüpft ist. Das ist der berühmte Fall Tannhäusers. Tannhäuser, durch Wagnersche Musik um seine Geduld gebracht, hält es selbst bei Frau Venus nicht mehr aus: mit Einem Male gewinnt die io Tugend Reiz; eine thüringische Jungfrau steigt im Preise; und um das Stärkste zu sagen, er goutirt sogar die Weise Wolfram von Eschenbachs .. io[ 3 6] (167) — uns Fatalisten von Heute möchte zuletzt die lascive Schwermuth eines maurischen Tanzes eher noch zu Herzen x
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gehn, als die Wienerische Sinnlichkeit des deutschen W a l zers, — eine z u blonde, z u stupide Sinnlichkeit.
!o[37] (168) Die moderne Kunst als eine Kunst zu t y r a n n i s i r e n. — Eine grobe und stark herausgetriebene L o g i k des L i n e a m e n t s ; das Motiv vereinfacht bis zur 20 Formel, — die Formel tyrannisirt. Innerhalb der Linien eine wilde Vielheit, eine überwältigende Masse, vor der die Sinne sich verwirren; die Brutalität der Farben, des Stoffes, der Begierden. Beispiel: Zola, Wagner; in geistigerer Ordnung Taine. Also L o g i k , M a s s e und B r u *5 talität.. .
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Nachgelassene Fragmente
io[ 3 8] (169)
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Wie verleidet man den Menschen ein angenehmes Laster? Nicht anders als indem man es ihnen unangenehm macht. Wie überredet man den Trunkenbold, daß der Alkohol widerlich ist? Man m a c h t ihn widerlich, man mischt Enzian. Man muß das Laster mit — mischen: erster Kunstgriff des Moralisten.
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Die Menschen schätzen ein Ding nach dem Aufwand, den sie um seinetwillen gemacht haben. Um eine Tugend ihnen schätzenswerth zu machen, muß man sie nöthigen — oder verführen — viel für sie aufzuwenden
Der Instinkt der Heerde schätzt die M i t t e und das M i t t l e r e als das Höchste und Werthvollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und Weise, in der sie sich daselbst befindet; damit ist er Gegner aller Rangordnung, der ein Aufsteigen von Unten nach Oben zugleich als ein Hinabsteigen von der Überzahl zur kleinsten Zahl ansieht. Die Heerde empfindet die A u s n a h m e , sowohl das Unter-ihr als das Über-ihr als etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben, die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden — zu ihren e r s t e n D i e n e r n : damit hat sie eine Gefahr in einen Nutzen umgewandelt. In der Mitte hört die Furcht auf; hier ist man mit nichts allein; hier ist wenig Raum für das Mißverständniß; hier giebt es Gleichheit; hier wird das eigne Sein nicht als Vorwurf empfunden, sondern als das r e c h t e Sein; hier herrscht die Zufriedenheit. Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme sein gilt als Schuld.
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io[4o] (171) Würde irgend ein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das W e r k des W e i b e s darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu — sie beweist die Regel — das Weib bringt es in Allem zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief, in M(emoiren) selbst in der delikatesten Handarbeit, die es giebt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit jenem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den es besitzt, — es will g e f a l l e n . . . Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des ächten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsasa mehr Wichtigkeit zugesteht als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Werth zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (— daß es sich preisgiebt, daß es sich öffentlich macht —) Die Kunst, so wie der Künstler sie übt — begreift i h r' s denn nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs? . . . Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung zur Litteratur gewagt (— vers la Canaille plumiere ecrivassiere, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. W o z u doch? wenn man fragen darf.
i°[4i] der Gipfel der modernen Lyrik, von zwei Bruder-Genies *s erstiegen, von Heinrich Heine und Alfred de Musset Unsre Unsterblichen — wir haben nicht zuviel: Alfred de Musset, Heinrich Heine, p. 267. Schiller war ein Theater-Maestro: aber was geht uns das Theater an!
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Nachgelassene Fragmente
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H a u p t s a t z . In wiefern der v o l l k o m m e n e N i h i 1 i s m die nothwendige Folge der bisherigen Ideale ist. — der u n v o l l s t ä n d i g e Nihilism, seine Formen: wir leben mitten drin
— die V e r s u c h e , dem N < i h i l i s m u s > zu e n t g e h n , ohne jene Werthe umzuwerthen: bringen das Gegentheil hervor, verschärfen das Problem. io[43] (173) Der v o l l k o m m e n e N i h i l i s t — das Auge des 10 Nihilisten), das i n s H ä ß l i c h e i d e a l i s i r t , das Untreue übt gegen seine Erinnerungen (— es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt; und was er gegen sich nicht übt, das übt 15 er auch gegen die ganze Vergangenheit des M<enschen> nicht, — er läßt sie fallen 10U4] (174)
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Was wird aus dem Menschen, der keine Gründe mehr hat, sich zu wehren und anzugreifen? Was bleibt von seinen Affekten übrig, wenn die ihm abhanden kommen, in denen er seine Wehr und seine Waffe hat?
io[45] (175) Man soll das Reich der Moralität Schritt für Schritt verkleinern und eingrenzen; man soll die Namen für die eigentlichen hier arbeitenden Instinkte an's Licht ziehen und zu Ehren bringen, nachdem sie die längste Zeit unter 25 heuchlerischen Tugendnamen versteckt wurden; man soll aus Scham vor seiner immer gebieterischer redenden „Redlichkeit" die Scham verlernen, welche die natürlichen In-
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stinkte verleugnen und weglügen möchte. Es ist ein Maaß der Kraft, wie weit man sich der Tugend entschlagen kann; und es wäre eine Höhe zu denken, wo der Begriff „Tugend" so umempfunden wäre, daß er wie virtü klänge, Renaissance-Tugend, moralinfreie Tugend. Aber einstweilen — wie fern sind wir noch von diesem Ideale! Die G e b i e t s - V e r k l e i n e r u n g der Moral: ein Zeichen ihres Fortschritts. Überall, w o man noch nicht c a u s a l zu denken vermocht hat, dachte man m o r a lisch.
10U6] (176) Z u r E n t n a t ü r l i c h u n g d e r M o r a l . Daß man die Handlung a b t r e n n t vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die „Sünde" wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder 15 schlecht sind. io[47] (177) Wiederherstellung der „Natur": eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Werth: es kommt Alles darauf an, wer sie thut. Ein und dasselbe „Verbrechen" kann im einen Fall das höchste Vorrecht, im andern 20 das Brandmal sein. Thatsächlich ist es die Selbstsucht der Urtheilenden, welche eine Handlung r e s p. ihren Thäter auslegt im Verhältniß zum eigenen Nutzen oder Schaden (— oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.)
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io[48] Welche Zeit, wo man den Regen von der Gottheit verlangt, wo man mit dem Gebet auf sie nach Art eines d i u r e t i s c h e n Mittels zu wirken glaubt!
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I0[49] (178)
Zum I d e a l i s m der S e l b s t Verächter. „ G l a u b e " oder „ W e r k e " ? — Aber daß zum „Werke", zur Gewohnheit bestimmter Werke sich eine bestimmte Werthschätzung und endlich G e s i n n u n g hinzuerzeugt, ist ebenso natürlich, als es unnatürlich ist, daß aus einer bloßen Werthschätzung „Werke" hervorgehn. Man muß sich üben, n i c h t in der Verstärkung von Werthgefühlen, sondern im Thun; man muß erst etwas k ö n n e n . . . Der christliche D i l e t t a n t i s m u s Luthers. Der Glaube ist eine Eselsbrücke. Der Hintergrund ist eine tiefe Überzeugung, das instinktive Bewußtsein ebenso, Luthers und seines Gleichen von ihrer Unfähigkeit zu christlichen Werken, eine persönliche Thatsache, verhüllt unter einem extremen Mißtrauen darüber, ob nicht überhaupt j e d w e d e s Thun Sünde und vom Teufel ist: so daß der Werth der Existenz auf einzelne hochgespannte Zustände der U n t h ä t i g k e i t fällt (Gebet, Effusion usw.) — Zuletzt hätte er Recht: die Instinkte, welche sich im ganzen Thun der Reformatoren ausdrücken, sind die brutalsten, die es giebt. Nur in der absoluten W e g w e n d ü n g von sich, in der Versenkung in den G e g e n s a t z , nur als I l l u s i o n („Glaube") war ihnen das Dasein auszuhalten.
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Das V e r b r e c h e n gehört unter den Begriff: „Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung". Man „bestraft" einen Aufständischen nicht: man u n t e r d r ü c k t ihn. Ein Aufständischer kann ein erbärmlicher und verächtlicher Mensch sein: an sich ist an einem Aufstande nichts zu verachten — und in Hinsicht auf unsere Art Gesellschaft aufständisch zu sein, erniedrigt an sich noch nicht den Werth eines Menschen. Es giebt Fälle, wo man einen
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solchen Aufständischen darum selbst zu ehren hätte, weil er an unsrer Gesellschaft Etwas empfindet, gegen das der Krieg noth thut: wo er uns aus dem Schlummer weckt. Damit, daß der Verbrecher etwas Einzelnes thut an einem Einzelnen, ist nicht widerlegt, daß sein ganzer Instinkt gegen die ganze Ordnung im Kriegszustande ist: die That als bloßes Symptom Man soll den Begriff der Strafe reduziren auf den Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaaßregeln gegen den Niedergeworfenen (ganze oder halbe Gefangenschaft) Aber man soll nicht V e r a c h t u n g durch die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein Mensch, der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit risquirt — ein Mann des Muths. Man soll insgleichen nicht die Strafe als Buße nehmen; oder als eine Abzahlung, wie als ob es ein Tauschverhältniß gäbe zwischen Schuld und Strafe, — die Strafe reinigt nicht, d e n n das Verbrechen beschmutzt nicht. Man soll dem Verbrecher die Möglichkeit nicht abschließen, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen: gesetzt, daß er nicht zur R a s s e d e s V e r b r e c h e r t h u m s gehört. In letzterem Falle soll man ihm den Krieg machen, noch bevor er etwas Feindseliges gethan hat (erste Operation, sobald man ihn in der Gewalt hat: ihn kastriren). Man soll dem Verbrecher nicht seine schlechten Manieren, noch den niedrigen Stand seiner Intelligenz zum Nachtheil anrechnen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß er sich selbst mißversteht: namentlich ist sein revoltirter Instinkt, die rancune des d^classe oft nicht sich zum Bewußtsein gelangt, faute de lecture; daß er unter dem Eindruck der Furcht, des Mißerfolgs seine That verleumdet und verunehrt: von jenen Fällen noch ganz abgesehn, wo, psychologisch nachgerechnet, der Verbrecher einem unverstandnen
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Triebe nachgiebt und seiner That durch eine Nebenhandlung ein falsches Motiv unterschiebt (etwa durch eine Beraubung, während es ihm am Blute lag..) Man soll sich hüten, den Werth eines Menschen nach einer einzelnen That zu behandeln« Davor hat Napoleon gewarnt. Namentlich sind die Hautrelief-Thaten ganz besonders insignificant. Wenn unser Einer kein Verbrechen z. B. keinen Mord auf dem Gewissen hat — woran liegt es? Daß uns ein Paar begünstigende Umstände dafür gefehlt haben. Und thäten wir es, was wäre damit an unserm Werthe bezeichnet? Wäre unser Werth verringert, wenn wir ein paar Verbrechen begiengen? Im Gegentheil: es ist nicht Jeder im Stande, ein paar Verbrechen zu begehen. An sich würde man uns verachten, wenn man uns nicht die Kraft zutraute, unter Umständen einen Menschen zu tödten. Fast in allen Verbrechen drücken sich zugleich Eigenschaften aus, welche an einem Manne nicht fehlen sollen. Nicht mit Unrecht hat Dostoiewsky von den Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten den stärksten und werthvollsten Bestandtheil des russischen Volkes. Wenn bei uns der Verbrecher eine schlecht ernährte und verkümmerte Pflanze ist, so gereicht dies unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Unehre; in der Zeit der Renaissance gedieh der Verbrecher und erwarb sich seine eigne Art von Tugend, — Tugend im Renaissancestile freilich, virtü, moralinfreie Tugend. Man vermag nur solche Menschen in die Höhe (zu) bringen, die man nicht mit Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgend ein Verbrechen.
io[5i] (180) die großen Erotiker des Ideals, die Heiligen der transfigurirten und unverstandenen Sinnlichkeit, jene typischen
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Apostel der „Liebe" (wie Jesus von Nazareth, der heilige Franz von Assisi, der heilige Francois de Paule): bei ihnen geht der fehlgreifende Geschlechtstrieb aus Unwissenheit gleichsam in die Irre, bis er sich endlich noch an Phantomen befriedigen muß: an „Gott", am „Menschen", an der „Natur". (Diese Befriedigung selbst ist nicht bloß eine scheinbare: sie vollzieht sich bei den Ekstatikern der „unio mystica", wie sehr auch immer außerhalb ihres Wollens und „Verstehens", nicht ohne die physiologischen BegleitSymptome der sinnlichsten und naturgemäßesten Geschlechtsbefriedigung.) io[5z] (181)
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Der N i h i l i s m der A r t i s t e n
Die Natur grausam durch ihre Heiterkeit; cynisch mit ihren Sonnenaufgängen wir sind feindselig gegen R ü h r u n g e n man flüchtet dorthin, wo die Natur unsere Sinne und unsere Einbildungskraft bewegt; wo wir nichts zu lieben haben, wo wir nicht an die moralischen Scheinbarkeiten und Delikatessen dieser nordischen Natur erinnert werden; — und so auch in den Künsten. Wir ziehen vor, was nicht mehr uns an „gut und böse" erinnert. Unsere moralistische Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalism der Sinne und der Kräfte. Das Leben ohne Güte die Wohlthat besteht im Anblick der großartigen I n d i f f e r e n z der Natur gegen Gut und Böse Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivetät sich zeigt, wo gerade die V o l l k o m m e n h e i t zum Ausdruck k o m m t . . . und insgleichen in der N a t u r dorthin, wo der böse
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und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den Charakter der V o l l k o m m e n h e i t darstellt... Der n i h i l i s t i s c h e Künstler verräth sich im W i l l e n u n d V o r z u g e der c y n i s c h e n G e s c h i c h t e , der c y n i s c h e n N a t u r . ">[53] (182)
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D i e V e r n a t ü r l i c h u n g des M e n s c h e n i m 19. J a h r h u n d e r t (das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der g£n£reux sentiments) N i c h t „Rückkehr zur Natur": denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und w i d e r-natürlicher Werthe ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe — er kehrt nie „zurück**... Die Natur: d. h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur. Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen. Natürlicher ist unsere erste G e s e l l s c h a f t , die der Reichen, der Müssigen: man macht Jagd auf einander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hinderniß und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt Natürlicher ist unsere Stellung zur E r k e n n t n i ß : wir haben den libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntniß, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten. Natürlicher ist unsere Stellung zur M o r a l . Principien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne
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Ironie mehr von seiner „Pflicht" zu reden. Aber man schätzt eine hülfreiche wohlwollende Gesinnung (— man sieht im I n s t i n k t die Moral und dedaignirt den Rest — ) Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe. Natürlicher ist unsere Stellung in p o 1 i t i c i s : wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen. Natürlicher ist unsere Schätzung g r o ß e r M e n s c h e n u n d D i n g e : wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, w o nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir concipiren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral. Natürlicher ist unsere Stellung zur N a t u r : wir lieben sie nicht mehr um ihrer „Unschuld" „Vernunft" „Schönheit" willen, wir haben sie hübsch „verteufelt" und „verdummt". Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt n i c h t zur Tugend: wir achten sie deshalb. Natürlicher ist unsere Stellung zur K u n s t : wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne sich zu erregen. I n s u m m a : es giebt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn, o h n e E r b i t t e r u n g : im Gegentheil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten. Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die C o r r u p t i o n fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der „ N a t u r" angenähert hat, von der
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Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Civilisation (gemacht hat), welche er p e r h o r r e s z i r t e . Wir haben uns v e r s t ä r k t : wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich (Dancourt Le Sage Regnard).
io[54] (183) Der Protestantism, jene geistig unreinliche und langweilige Form der decadence, in der das Christenthum sich bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat: als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die Er10 kenntniß, insofern es Erfahrungen versdiiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbradite Werth der c o m p l e x e n G e b i l d e , des seelischen Mosaiks, selbst des ungeordneten und vernachlässigten Haushalts der Intelligenz 15 das h o m ö o p a t h i s c h e C h r i s t e n t h u m , das der protestantischen Landpfarrer der u n b e s c h e i d e n e P r o t e s t a n t i s m u s , der der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten. i°[S5l (184) — Es kann H ö h e der Seele sein, wenn ein Philosoph 20 schweigt; es kann L i e b e sein, wenn er sich selbst widerspricht; es ist eine G ö t t l i c h k e i t des Erkennenden möglich, welche l ü g t . . . Man hat einmal nicht ohne Feinheit gesagt: „il est indigne de grands cceurs de r^pandre le trouble, qu'ils ressen2$ tent": nur muß man hinzufügen, daß v o r d e m U n w ü r d i g s t e n s i c h n i c h t z u f ü r c h t e n ebenfalls Größe des Herzens sein k a n n . . . Ein Weib, das liebt, opfert seine E h r e . . . ; ein Erkennender, welcher „liebt", opfert seine Rechtschaffenheit; ein Gott welcher liebt, 30 wird Jude . . .
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I0[J<] Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel „Bier" in der deutschen Intelligenz! Der Alkoholism der deutschen gelehrten Jugend ist beinahe eine Schändung und jedenfalls ein gründliches Fragezeichen in Hins sieht der Geistigkeit; die sanfte Entartung, welche das Bier hervorbringt: ich habe einmal in einem berühmt berüchtigt gewordenen Falle den Finger darauf geführt (die Entartung Straußens zum Verfasser des „alten und neuen Glaubens") Man hat jederzeit die deutschen Gelehrten, die »Geist" haben, an den Fingern 10
abzählen können (— und es genügt nicht, ihn zu haben, man muß ihn erst noch sich nehmen, von sich Geist h e r a u s n e h me n . . . ) : die übrigen Gelehrten haben Verstand und Einige von ihnen, glücklicher Weise, jenes berühmte „kindliche Gemüth", welches a h n t . . . Es ist unser Vorrecht: mit der „Ahnung" hat 15 die deutsche Wissenschaft Dinge entdeckt, welche man schwer greifen kann und die überhaupt vielleicht nicht existiren. Man muß beinahe Jude sein, um als Deutscher nicht zu a h n e n . *o[57] (185) *°
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G e s c h i c h t e der V e r m o r a l i s i r u n g und E n t m o r a l i s i r u n g . Erster Satz: es g i e b t gar k e i n e m o r a l i s c h e n H a n d l u n g e n : sie sind vollkommen eingebildet. Nicht nur, daß sie n i c h t n a c h w e i s b a r sind (was z. B. Kant zugab und das Christenthum insgleichen)
— sondern sie sind g a r n i c h t m ö g l i c h . Man hat einen G e g e n s a t z zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständniß, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingirt, das gar nicht existirt. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz „moralisch" und „unmoralisch" aufgebracht hat, muß man sagen:
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es g i e b t n u r u n m o r a l i s c h e Absichten und Handlungen. Zweiter Satz. Diese ganze Unterscheidung „moralisch" und „unmoralisch" geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität sind, — kurz daß es eine solche giebt, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurtheilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen bezieht, d i e f r e i e n . Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär; die Welt, auf welche der moralische Maaßstab allein anlegbar ist, existirt gar nicht es g i e b t w e d e r m o r a l i s c h e , n o c h u n moralische Handlungen. D e r p s y c h o l o g i s c h e I r r t h u m , aus dem der Gegensatz-Begriff „moralisch" und „unmoralisch" entstanden ist. „selbstlos", „unegoistisch", „selbstverleugnend" — alles u n r e a l , fingirt. Fehlerhafter Dogmatism in Betreff des „ego": dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum „Nicht-ich"; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die f a l s c h e V e r s u b s t a n z i a l i s i r u n g d e s I c h : diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck r e l i g i ö s - m o r a l i s c h e r Z u c h t zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und Anund-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen WerthGegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das E i n z e l - e g o und das ungeheure N i c h t - i c h . Es schien handgreiflich, daß der Werth des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure „Nicht-ich" zu beziehn resp. sich ihm unterzuordnen und um s e i n e t -
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willen zu existiren. — Hier waren die H e e r d e n I n s t i n k t e bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Werth in der S e l b s t - V e r n e i n u n g liegen. Also: i) die falsche Verselbständigung des „Individuums" als A t o m 2) die Heerden-Würdigung, welche das Atom-bleibenwollen perhorrescirt und als feindlich empfindet 3) als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels 4) Nun schien es Handlungen zu geben, welche s e l b s t v e r n e i n e n d waren: man phantasirte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum. 5) man fragte: in welchen Handlungen b e j a h t s i c h der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man g l a u b t e , daß es unselbstische Triebe giebt, man v e r w a r f alle selbstischen man v e r l a n g t e die unselbstischen 6) Folge davon: was hatte man gethan? Man hatte die stärksten natürlichsten, mehr noch die e i n z i g r e a l e n Triebe in Bann gethan — man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswerth zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe l e u g n e n u n g e h e u r e F ä l s c h e r e i in p s y c h o l o g i c i s . Selbst jede Art „Selbstzufriedenheit" hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sie sub specie boni mißverstand und zurecht legte. Umgekehrt: jene species, welche ihren Vortheil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu n e h m e n (die Repräsentanten des Heerden-Instinkts z. B. die Priester und Philosophen) wurde fein und psychologisch-
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scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: „ A l l e s ist Sünde; auch unsere Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist n i c h t m ö g l i c h " . Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als u n f ä h i g , Handlungen zu thun, welche „gut" sind. NB. Das Christenthum bezeichnet damit einen F o r t s c h r i 11 in der psychologischen Verschärfung des Blicks: La Rochefoucauld und Pascal. Es begriff die W e s e n s g l e i c h h e i t der m e n s c h l i c h e n Handlungen und ihre Werth-Gleichheit in der Hauptsache (— alle unmoralisch) Nun machte man E r n s t , Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getödtet ist — die P r i e s t e r , die H e i l i g e n . Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, „vollkommen" zu werden, man zweifelte n i c h t , zu wissen, was vollkommen ist. Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des „guten Menschen" mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die w i r k l i c h e n Motive des Handelns für s c h l e c h t erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam h e i l i g e n . Mit derselben F a l s c h h e i t , mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisirt. Das Wü t h e n gegen die Instinkte des Lebens als „heiHg", verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden; Aufopferung, Ritterthum; Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit; mo-
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roser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: LaienIdeal. Man kommt vorwärts: die v e r l e u m d e t e n I n s t i n k t e suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste Form der m o r a l i s c h e n ) Verlogenheit unter der „Freiheit des Evangeliums") — man tauft sie um auf heilige N a m e n . : die v e r l e u m d e t e n I n s t i n k t e suchen sich als n o t h w e n d i g zu beweisen, damit die T u g e n d h a f t e n überhaupt möglich sind: man muß vivre, pour vivre pour autrui. Egoismus als M i t t e l zum Zweck . . . : man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: G l e i c h h e i t der Rechte für die einen, wie für die anderen (vom Gesichtspunkt des Nutzens) : m a n geht weiter, man sucht die h ö h e r e N ü t z l i c h k e i t in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes (gegen)über dem altruistischen, nutzlosen in H i n sicht auf das Glück der Meisten, oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Ego, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive („Gesammt-Nutzen der Menschheit") : m a n sucht die a l t r u i s t i s c h e Handlungsweise mit der N a t ü r l i c h k e i t zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das Egoistische w i e das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur. : m a n träumt v o n einem Verschwinden des Gegensatzes in irgend einer Zukunft, w o , durch fortgesetzte A n passung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist . . . : endlich, m a n begreift, daß die altruistischen H a n d lungen nur eine s p e c i e s der egoistischen sind, — und daß der Grad, in dem m a n liebt, sich verschwendet, ein
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Beweis ist für den Grad einer individuellen M a c h t und P e r s o n a l i t ä t . Kurz, d a ß m a n , i n d e m m a n den Menschen böser m a c h t , ihn besser m a c h t , — und daß man das Eine, nicht ohne das Andere i s t . . . Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der P s y c h o l o g i e der b i s h e r i gen M ( o r a l e n ) . Folgerungen: es giebt n u r unmoralische Absichten und Handlungen die sogenannten moralischen sind also als U n m o r a 1 i t ä t e n nachzuweisen. (— dies die Aufgabe vom Tractatus politicus) (— die Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen zur Macht: wesensgleich (— der Begriff des Lebens — es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatz (von „gut und böse") M a c h t g r a d e v o n I n s t i n k t e n aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden (— R e c h t f e r t i g u n g der Moral: ökonomisch usw. G e g e n d e n z w e i t e n S a t z . Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu r e t t e n , dadurch, daß man sie t r a n s l o c i r t — ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsere Wertschätzungen eskamotiren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistischgedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus a n g r e i f e n und unterminiren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung einer An-sichund Phänomenal-Weit b e s t r e i t e n . IO[J8]
3° (186) I m e r s t e n B u c h :
der N i h i l i s m als Consequenz der idealen Werthe Problem der C i v i l i s a t i o n
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das 19. Jahrhundert, seine Zweideutigkeit: Es fehlt bisher die F r e i h e i t von der Moral. Pessimisten sind R e v o l t e r d e s moralischen Pathos Die Moral als Ursache des Pessimismus der Pessimismus als Vorform des Nihilism I m z w e i t e n B u c h : Geschichte der Vermorahsirung
wie man die Tugend zur Herrschaft bringt Moral als Circe der Philosophen Im d r i t t e n B u c h : D a s P r o b l e m d e r W a h r heit Im v i e r t e n B u c h : Geschichte der h ö h e r e n T y p e n , nachdem wir die Welt entgottet haben die M i t t e l , um eine Kluft auf zu reißen: R a n g o r d n u n g Ideal der weltbejahendsten Lehre das tragische Zeitalter, die psychologische Naivität in dem Ideale G o t t
io[59] ( i 8 7 ) D i e R a n g o r d n u n g der M e n s c h e n - W e r t h e . a) man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Wer*5 ken abschätzen. E p i d e r m a l - H a n d l u n g e n . Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall — Alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Thun aus, als eine „Person". 30
b) man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen „Personen" sind. Und dann sind Manche auch
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m e h r e r e Personen, die Meisten sind k e i n e . Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre PersonSein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer „Person" zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge. c) die „Person" ein relativ i s o l i r t e s Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas W i d e r n a t ü r l i c h e s . Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolirung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor Allem, eine viel g e r i n g e r e I m p r e s s i o n a b i l i t ä t , als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit c o n t a g i ö s ist, hat E r s t e F r a g e in Betreff der R a n g o r d n u n g : wie s o 1 i t ä r oder wie h e e r d e n h a f t Jemand ist (im letzteren Falle liegt sein Werth in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Heerde, seines Typus sichern, im anderen Falle in dem, was ihn abhebt, isolirt, vertheidigt und s o l i t ä r e r m ö g l i c h t . Folgerung: man soll den solitären Typus n i c h t abschätzen nach dem heerdenhaften, und den heerdenhaften n i c h t nach dem solitären Aus der Höhe betrachtet: sind beide nothwendig; insgleichen ist ihr Antagonism nothwendig, — und nichts ist mehr zu verbannen als jene „Wünschbarkeit",es möchte sich etwas D r i t t e s aus Beiden entwickeln („Tugend" als Hermaphroditismus). Das ist so wenig „wünschbar", als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das T y p i s c h e f o r t e n t w i c k e l n die K l u f t immer tiefer aufreißen ... Begriff der E n t a r t u n g in beiden Fällen: wenn die Heerde den Eigenschaften der solitären Wesen sich
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nähert, und diese den Eigenschaften der Heerde, — kurz, wenn sie sich a n n ä h e r n . Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen) Beurtheilung. io[6o] (188) Im V e r h ä l t n i ß z u r M u s i k ist alle Mittheilung 5 durch W o r t e von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht: das Wort macht das Ungemeine gemein. IO[6I]
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(189) W o m a n d i e stärkeren Naturen z u s u c h e n h a t . Das Zugrundegehen und Entarten der s o l i t ä r e n Species ist viel g r ö ß e r und furchtbarer: sie haben den Instinkt der Heerde, die Tradition der Werthe gegen sich; ihre Werkzeuge zur Vertheidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug, — es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, d a ß sie g e d e i h e n . (— sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten: wenn man nach P e r s o n sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Classen!) der Stände- und Classenkampf, der auf „Gleichheit der Rechte" abzielt. Ist er ungefähr erledigt, so geht der K a m p f los gegen die S o l i t ä r - P e r s o n . In einem gewissen Sinne k a n n d i e s e l b e s i c h a m l e i c h t e s t e n in e i n e r d e m o k r a t i s c h e n Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Vertheidigungs-Mittel nicht mehr nöthig sind, und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört. Die S t ä r k s t e n müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so
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Nachgelassene Fragmente
will es der Instinkt der Heerde. Für sie ein Regime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits, oder der „Pflicht" in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.
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io[6i] seinen Neid gegen die Geschäfts-Klugheit der Juden unter Moralitäts-Formeln zu verstecken ist antisemitisch, ist gemein, ist plump canaille
io[6 3 ] Hauptgesichtspunkt: D i s t a n z e n aufreißen, aber k e i n e Gegensätze schaffen. i° die M i t t e l g e b i l d e ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten. io[64] (190) Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität n i c h t m e d i o k e r haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Trumpf zu fühlen, 15 e n t r ü s t e t ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. M a n s o l l das n i c h t a n d e r s w o l l e n ! Und die Kluft g r ö ß e r aufreißen! — M a n s o l l d i e h ö h e r e A r t z w i n g e n , sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat I0[65]
20 (191) NB. In wiefern die c h r i s t l i c h e n Jahrhunderte mit ihrem Pessimismus stärkere Jahrhunderte waren als das 18. Jahrhundert — entsprechend das t r a g i s c h e Zeitalter der Griechen — schwächer, wissenschaftlicher und 25
— das 19. Jahrhundert gegen das 18. Jahrhundert — worin Erbe
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worin Rückgang gegen dasselbe „geist"loser geschmackloser worin Fortschritt über dasselbe (düsterer, realistischer, s t ä r k e r —)
io[66] 5 (192) Ihr Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem „Willen zur Wahrheit" hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher „Freiheit" sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des „Willens zur 10 Macht" seitens derer, denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit von Seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man „Freiheit" d. h. man will l o s k o m m e n von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man „g 1 e i c h e R e c h t e" d. h. man will, 15 so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen. io[6 7 ] ich habe nie einen Augenblick die compromittirende Mittelmäßigkeit des P r o t e s t a n t i s m u s , seiner Theologen und Prediger verkannt. io[68] io (193) N i c h t die Menschen „besser" machen, n i c h t zu ihnen auf irgend eine Art Moral reden, als ob „Moralität an sich", oder eine ideale Art Mensch überhaupt gegeben sei: sondern Z u s t ä n d e s c h a f f e n , unter denen stärkere M e n s c h e n n ö t h i g s i n d , welche ihrerseits eine 25
M o r a l (deutlicher: eine l e i b l i c h - g e i s t i g e D i so i p 1 i n ) , w e l c h e s t a r k m a c h t , brauchen und folglich h a b e n werden! Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: d i e G r ö ß e d e r S e e l e hat
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Nachgelassene Fragmente
n i c h t s R o m a n t i s c h e s a n s i c h . Und leider g a r nichts Liebenswürdiges! io[69] (194) 5
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Sehen wir, was „der echte Christ" mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerräth: die B e s c h m u t z u n g und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen — in summa der g a n z e n C u 1 t u r : seine Absicht geht dahin, ihr d a s g u t e G e w i s s e n zu nehmen . . . Man lese doch einmal Petronius unmittelbar nach dem neuen Testament: wie man aufathmet, wie man die verfluchte Muckerluft von sich bläst!
M70] (195) 15
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eine Gesinnung, die sich „Idealismus" nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein und dem Weibe nicht, Weib zu sein. Nicht uniformiren! Uns klar machen, wie t h e u e r e i n e T u g e n d z u s t e h e n k o m m t : und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswerthes, sondern eine n o b l e T o l l h e i t , eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, s t a r k gestimmt zu werden . . .
i°[7i] (196)
25
die Weiblein, die darauf warten, bis der Priester oder der Bürgermeister ihnen die Erlaubniß giebt, ihren Geschlechtstrieb zu befriedigen und dabei das Versprechen abgeben, ihn immer nur an Einem Manne zu befriedigen daß die Befriedigung des G e s c h l e c h t s t r i e b s und die Frage der N a c h k o m m e n s c h a f t grundverschiedene Dinge und Interesse sind und „die Ehe" wie alle Institutionen etwas G r u n d v e r l o g e n e s . . .
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(197) D i e r a f f i n i r t e J u d e n - K l u g h e i t d e r e r s t e n Christen Man muß sich nicht irreführen lassen: „richtet nicht", sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was nicht 5 ihres Glaubens ist. Indem sie Gott richten lassen, richten
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sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selbst: indem sie die Tugenden f o r d e r n , deren sie fähig sind, — mehr noch, die sie nöthig haben, um es auszuhalten — geben sie sich den großen Schein des K r i e g e s und K a m p f e s f ü r d a s G u t e : während sie nur für ihre Art-Erhaltung kämpfen. Indem sie friedfertig, sanftmüthig, milde, freundlich, fröhlich mit einander sind, so gehorchen sie ihren innersten Heerdenthier-Bedürfnissen: aber die Klugheit will, daß sie das auch noch von sich f o r d e r n. So erscheint selbst das Unvermeidlichste noch als Gehorsam, Verdienst, — es mehrt das S e l b s t g e fühl... — sich beständig v e r h e r r l i c h e n , aber e s n i e s i c h e i n g e s t e h e n . Die absolute P a r t e i T a r t ü f f e r i e , welche sich die Tugend und den Wettbewerb um die Tugend vorbehält: a u c h die Erkenntniß, die „Wahrheit": a u c h die einstmalige Herrschaft und die Rache an allen Feinden — ach diese demüthige, keusche, milde Verlogenheit! Wer hält sie a u s ! . . . „ F ü r uns s o l l u n s e r e T u gend, unser Glück, unsere Anspruchslosigkeit zeugen!" — sich innerhalb der Welt m ö g l i c h machen, sich d u r c h s e t z e n : man merkt, daß sie das jüdische Blut und die Klugheit in sich haben. 1) man muß sich abscheiden, sichtbarlich 2) man muß sich als das „auserwählte Volk" behandeln, heimlich 3) man muß nicht eine Rang-
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Nachgelassene Fragmente
Ordnung der Werthe ansetzen, sondern G e g e n s ä t z e : „wir" und „die Welt"
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i°[73] (198) Man lese einmal das neue Testament als V e r f ü h rungs-Buch : die T u g e n d wird in Beschlag genommen, im Instinkt, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich einnimmt und zwar die allerbescheidenste T u g e n d , welche das ideale Heerdenschaf anerkennt und nichts weiter (den Schafhirten eingerechnet —): eine kleine zärtliche wohlwollende hülfreiche und schwärmerisch-vergnügte Art Tugend, welche nach außen hin absolut anspruchslos ist, — welche „die Welt" gegen sich abgrenzt d e r u n s i n n i g s t e D ü n k e l , a l s o b sich das Schicksal der Menschheit dergestalt um sie drehe, daß die Gemeinde auf der einen Seite das Rechte und die Welt auf der anderen das Falsche, das ewig-Verwerfliche und Verworfene sei. der u n s i n n i g s t e H a ß gegen Alles, was in der Macht ist: aber ohne daran zu rühren! Eine Art von i n n e r l i c h e r L o s l ö s u n g , welche äußerlich Alles beim Alten läßt (Dienstbarkeit und Sklaverei; aus A l l e m sich ein Mittel zum Dienste Gottes und der Tugend zu machen wissen) io[74] das Weib: ein kleiner Feuer-Herd zwischen viel Rauch und Lüge. io[75] Das Christenthum als H e e r d e n t h i e r - Z ü c h t u n g ; die kleinen Heerdenthier-Tugenden als d i e Tugend (— Zustände und Mittel der Selbsterhaltung der kleinsten Art Mensch
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zu Tugenden umgestempelt; das neue Testament das b e s t e Verführungsbuch) io[76] Die Ehe ist genau so viel werth, als die, welche sie schließen: also ist sie, durchschnittlich, wenig werth —; die „Ehe an sich" 5 hat noch gar keinen Werth, — wie übrigens jede Institution.
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*°[77] (199) das Christenthum als eine E n t n a t ü r l i c h u n g der Heerden-Thier-Moral: unter absolutem Mißverständniß und Selbstverblendung die Demokratisirung ist eine n a t ü r l i c h e r e Gestalt derselben, eine weniger verlogene Thatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganz große Menge von Sklaven und Halbsklaven w o l l e n zur Macht Erste Stufe: sie machen sich frei, — sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich unter einander an, sie setzen sich durch Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, „Gerechtigkeit" Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (— sie ziehen die Vertreter der Macht auf sich hinüber) Vierte Stufe: sie wollen die Macht a l l e i n , und sie h a b e n sie . . . Im Christenthum sind d r e i E l e m e n t e zu unterscheiden: a) die Unterdrückten aller Art b) die Mittelmäßigen aller Art c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art mit dem e r s t e n Element kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal mit dem z w e i t e n Element gegen die Ausnahmen und Privilegirten (geistig, sinnlich —) jeder Art
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Nachgelassene Fragmente
mit dem d r i t t e n Element gegen den N a t u r I n s t i n k t der Gesunden und Glücklichen. wenn es zum Siege kommt, so tritt das z w e i t e Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christenthum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessirt wegen der Überwältigung der Menge), — und jetzt ist es der H e e r d e n - I n s t i n k t , die in jedem Betracht werthvolle M i t t e l m a ß - N a t u r , die ihre höchste Sanktion durch das Christenthum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum Bewußtsein (— gewinnt den Muth zu sich —), daß sie auch p o l i t i s c h sich die M a c h t zugesteht... — die Demokratie ist das v e r n a t ü r l i c h t e Christenthum: eine Art „Rückkehr zur Natur", nachdem nur durch eine extreme Antinatürlichkeit die entgegengesetzte Werthung überwunden werden konnte. — Folge: d a s a r i s t o k r a t i s c h e I d e a l entnatürlichte s i c h n u n m e h r („der höhere Mensch" „vornehm" „Künst1er" „Leidenschaft" „Erkenntniß" usw.) Romantik als Cultus der Ausnahme, Genie usw.
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, „mefiez-vous du premier mouvement; il est toujours genereux." Talleyrand zu den jungen Gesandtschafts-Sekretären. (200) 25
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Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, alles, was s i e beanspruchte, als eine g ö t t l i c h e S a t z u n g , als Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentiren . . . insgleichen, was dazu diente, I s r a e l z u e r h a l t e n , seine E x i s t e n z - E r m ö g l i c h u n g (z. B. eine Summe von W e r k e n : Beschneidung, Opferkult als Centrum des nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als „Gott" einzuführen. — D i e s e r P r o z e ß s e t z t s i c h f o r t ;
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i n n e r h a l b des Judenthums, wo die Nothwendigkeit der „Werke" nicht empfunden wurde (nämlich als Abscheidung gegen Außen) konnte eine priesterliche Art Mensch concipirt werden, die sich verhält wie die „vornehme Natur" zum Aristokraten; eine kastenlose und gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht auf die „Werke", sondern die „Gesinnung" den Werth legte. . . Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine b e s t i m m t e A r t v o n S e e l e durchzusetzen, gleichsam ein V o l k s - A u f s t a n d i n n e r h a l b eines priesterlichen Volkes, — eine pietistische Bewegung von Unten (Sünder Zöllner Weiber Kranke). Jesus von Nazareth war das Zeichen, an dem sie sich e r k a n n t e n . Und wieder, um an sich glauben zu können, brauchen sie eine t h e o l o g i s c h e T r a n s f i g u r a t i o n : nichts Geringeres als „der Sohn Gottes" thut ihnen Noth, um sich Glauben zu schaffen . . . Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze
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Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier u m z u f ä l s c h e n , damit das Christenthum als sein cardinalstes Ereigniß erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judenthums entstehn:
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dessen Hauptthat war, S c h u l d u n d U n g l ü c k zu verflechten und alle Schuld auf S c h u l d an G o t t zu reduziren: d a v o n i s t d a s C h r i s t e n t h u m d i e zweite Potenz.
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io[8o] (201) diese kleinen Heerdenthier-Tugenden führen ganz und 3° gar nicht zum „ewigen Leben": sie dergestalt in Scene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotzalledem
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das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigen Falls, immer bloß ein kleines liebes absurdes Schaf mit Hörnern — vorausgesetzt daß man nicht vor Eitelkeit platzt nach Art der Hofprediger und durch richterliche Attitüden skandalisirt. die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminirt werden — wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten die n a t ü r l i c h e Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich v e r s c h w i e g e n ; sie ist nur in Hinsicht auf ein g ö t t l i c h e s Gebot, ein göttliches Vorbild werthvoll, nur in Hinsidit auf jenseitige und geistliche Güter (Prachtvoll: als ob sich's um's „ H e i l der S e e l e " handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen „auszuhaken**.) Zur E n t n a t ü r l i c h u n g der M o r a l . IO[8I]
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Ersichtlich fehlt es im neuen Deutschland an Scham; selbst der kaiserliche Hof hat bis jetzt einen schlechten Willen gezeigt, sich von der Befleckung mit der verächtlichsten und compromittirendsten Ausgeburt des christlichen Muckerthums freizuhalten: wozu doch Alles auffordern dürfte — der Anstand, der gute 25 Geschmack, die Klugheit. (Was hat mehr dem Hofe geschadet, als die Hofprediger?) Iö[82] (202) Der I n d i v i d u a 1 i s m ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des „Willens zur Macht**; hier scheint es dem Einzelnen schon genug, f r e i z u k o m m e n von 3° einer Übermacht der Gesellschaft (sei diese die des Staates oder der Kirche..) Er setzt sich n i c h t a l s P e r s o n
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in Gegensatz, sondern bloß als Einzelner; er vertritt alle Einzelnen gegen die Gesammtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv g l e i c h a n m i t j e d e m E i n z e l n e n ; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als E i n z e l n e r gegen die Gesammtheit. Der S o c i a l i s m ist bloß ein A g i t a t i o n s m i t t e l d e s I n d i v i d u a l i s t e n : er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesammtaktion organisiren muß, zu einer „Macht**. Aber was er will, ist nicht die Societät als Zweck des Einzelnen, sondern die • Societät als M i t t e l z u r E r m ö g l i c h u n g v i e l e r E i n z e l n e n : — Das ist der Instinkt der Socialisten, über den sie sich häufig betrügen (— abgesehn, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen) Die altruistische Moral-predigt im Dienste des IndividualEgoism: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des n e u n z e h n t e n Jahrhunderts. Der A n a r c h i s m ist wiederum bloß ein A g i t a t i o n s m i t t e l d e s S o c i a l i s m ; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu fasciniren und zu terrorisiren: vor allem — er zieht die Muthigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geiste. Trotzalledem: Der I n d i v i d u a l i s m u s ) ist die bescheidenste Stufe des W z(ur) M. Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die S o n d e r u n g heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne Weiteres mehr gleich, sondern er s u c h t n a c h s e i n e s G l e i c h e n , — er hebt Andere von sich ab. Auf den Individualism folgt die G l i e d e r - O r g a n b i l d u n g : die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht bethätigend, zwischen diesen Machtcentren Reibung, Krieg, Erkenntniß beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Aus-
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Nachgelassene Fragmente
t a u s c h d e r L e i s t u n g e n . Am Schluß: eine R a n g ordnung. NB. i. die Individuen machen sich frei 2. sie treten in Kampf, sie kommen über „Gleichheit der Rechte" überein (— Gerechtigkeit —) als Ziel 3. ist das erreicht, so treten die tatsächlichen U n g l e i c h h e i t e n d e r K r a f t in eine v e r g r ö ß e r t e W i r k u n g (weil im Großen Ganzen der Friede herrscht und viel kleine Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast gleich null waren). Jetzt organisiren sich die Einzelnen zu G r u p p e n ; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von Neuem. NB. man will F r e i h e i t , so lange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man „G e r e c h t i g k e i t " d. h. g l e i c h e M a c h t
io[8 3 ] 20 (203) Vor allem, meine Herren Tugendhaften, habt ihr keinen Vorrang vor uns: wir wollen euch die B e s c h e i d e n h e i t hübsch zu Gemüthe führen: es ist ein erbärmlicher Eigennutz und Klugheit, welche euch eure Tugend anräth. Und hättet ihr mehr Kraft und Muth im Leibe, 25
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würdet ihr euch nicht dergestalt zu tugendhafter Nullität herabdrücken. Ihr macht aus euch, was ihr könnt: theils was ihr müßt — wozu euch eure Umstände zwingen —, theils was euch Vergnügen macht, theils was euch nützlich scheint. Aber, wenn ihr thut, was nur euren Neigungen gemäß ist oder was eure N o t w e n d i g k e i t von euch will oder was euch nützt, so sollt ihr euch darin w e d e r l o b e n d ü r f e n , n o c h l o b e n l a s s e n ! . . . Man
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ist eine g r ü n d l i c h k l e i n e A r t Mensch, wenn man nur t u g e n d h a f t ist: darüber soll nichts in die Irre führen! Menschen, die irgendworin in Betracht kommen, waren noch niemals solche Tugend-esel: ihr innerster Instinkt, der ihres Quantums Macht, fand dabei nicht seine Rechnung: während eure Minimalität an Macht nichts weiser erscheinen läßt als Tugend. Aber ihr habt die Z a h l für euch: und insofern ihr t y r a n n i s i r t , wollen wir e u c h den Krieg machen . . .
io[8 4 ] io (204) Der heuchlerische Anschein, mit dem alle b ü r g e r l i c h e n O r d n u n g e n übertüncht sind, wie als ob sie A u s g e b u r t e n der M o r a l i t ä t wären . . . z. B. die Ehe; die Arbeit; der Beruf; das Vaterland; die Familie; die Ordnung; das Recht. Aber da sie insgesammt auf die 15 m i t t e l m ä ß i g s t e Art Mensch hin begründet sind, zum Schutz gegen Ausnahmen und Ausnahme-Bedürfnisse, so muß man es billig finden, wenn hier viel gelogen wird. io[8 5 ] (205) Ein t u g e n d h a f t e r M e n s c h ist schon deshalb eine n i e d r i g e r e species, weil er keine „Person" ist, 20
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sondern seinen Werth dadurch erhält, einem Schema Mensch gemäß zu sein, das ein-für-alle Mal aufgestellt ist. Er hat nicht seinen Werth a parte: er kann verglichen werden, er hat seines Gleichen, er s o l l nicht einzeln sein . . . Rechnet die Eigenschaften des g u t e n Menschen nach, weshalb thun sie uns wohl? Weil wir keinen Krieg nöthig haben, weil er kein Mißtrauen, keine Vorsicht, keine Sammlung und Strenge uns auferlegt: unsere Faulheit, Gutmüthigkeit, Leichtsinnigkeit macht sich einen g u t e n T a g . Dieses unser W o h 1 g e f ü h 1 ist es, das w i r a u s u n s h e r a u s p r o j i z i r e n und dem guten Menschen als E i g e n s c h a f t , als W e r t h zurechnen.
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Nachgelassene Fragmente
ior86] (206) Ich liebe es durchaus nicht an jenem Jesus von Nazareth oder an seinem Apostel Paulus, daß sie den k l e i n e n L e u t e n so v i e l in d e n K o p f g e s e t z t haben, als ob es etwas auf sich habe mit ihren bescheidenen Tu5 genden. Man hat es zu theuer bezahlen müssen: denn sie haben die werthvolleren Qualitäten von Tugend und Mensch in Verruf gebracht, sie haben das schlechte Gewissen und das Selbstgefühl der vornehmen Seele gegen einander gesetzt, sie haben die t a p f e r n , g r o ß m ü t h i 1° g e n , v e r w e g e n e n , e x c e s s i v e n Neigungen der starken Seele irregeleitet, bis zur Selbstzerstörung... rührend, kindlich, hingebend, weiblich-verliebt und schüchtern; der Reiz der jungfraulich-schwärmerischen Vorsinnlichkeit — denn Keuschheit ist nur (eine) Form 15 der Sinnlichkeit (— ihre Präexistenzform)
io[8 7 ] (207) Lauter Fragen der K r a f t : wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der G e s e l l s c h a f t und deren Vorurtheile? — wie weit s e i n e f u r c h t b a r e n E i g e n s c h a f t e n entfesseln, an denen die ^0 Meisten zu Grunde gehn? — wie weit der W a h r h e i t entgegengehn und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüthe führen? — wie weit dem L e i d e n , der Selbst Verachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehn, mit dem Fragezeichen, ob man darüber ^5 Herr werden wird? . . . (was uns nicht umbringt, macht uns s t ä r k e r . . . ) — endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen der Durchschnitts-Natur Recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisiren zu lassen? .. stärkste Probe des Charakters: 30
sich nicht durch die Verführung des Guten ruiniren zu
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lassen. Das G u t e als Luxus, als Raffinement, als L a ster... io[88] (208) Die Ehe ist eine Form des Concubinats, zu der die bürgerliche Gesellschaft ihre Erlaubniß giebt, aus Eigens nutz, wie sich von selbst versteht, n i c h t aus Moralität . . . Die Ehe ist die von ihr v o r g e z o g e n e Art des Concubinats, weil hier der Instinkt nicht ohne Rücksicht und Vorsicht handelt, sondern erst um einen Erlaubnißschein einkommt . . . Für diesen Mangel an Muth und 10 Selbstvertrauen ist die Gesellschaft erkenntlich, sie e h r t die Ehe, weil sie eine Form der U n t e r w e r f u n g vor der Gesellschaft darstellt . . . Die Ehe ist eine Form des Concubinats, bei der grundsätzlich sehr Viel versprochen wird: hier wird etwas versprochen, was man nicht ver15 sprechen kann, nämlich „Liebe immerdar", — hier wird die geschlechtliche Funktion als „Pflicht" angesetzt, die man fordern kann . . . Aber das ist die „moderne Ehe"
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io[8 9 ] (209) Die moralischen Werthe waren bis jetzt die obersten Werthe: will das Jemand in Zweifel ziehen?... Entfernen wir diese Werthe von jener Stelle, so verändern wir alle Werthe: das Princip ihrer bisherigen R a n g o r d n u n g ist damit umgeworfen . . .
io[9o] (210) Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes: sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir ins*S gleichen die höchste Weisheit: — es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleich sehen. Nein! Gott d i e h ö c h s t e M a c h t — das
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Nachgelassene Fragmente
genügt! Aus ihr folgt Alles, aus ihr folgt — „die Welt"! Symbolice, um ein Erkennungszeichen zu haben D.O. omnipotens io[9i] (211) 5
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Das Christenthum als e m a n c i p i r t e s J u d e n t h u m (in gleicher Weise wie eine lokal und rassenmäßig bedingte Vornehmheit endlich sich von diesen Bedingungen emancipirt und nach verwandten Elementen s u c h e n geht...) 1) als Kirche (Gemeinde) auf dem Boden des Staates, als unpolitisches Gebilde 2) als Leben, Zucht, Praxis, Lebenskunst 3) als R e l i g i o n d e r S ü n d e (des Vergehens an G o t t als e i n z i g e r Art der Vergehung, als einziger Ursache alles Leidens überhaupt), mit einem Universalmittel gegen sie. Es giebt nur an Gott Sünde; was gegen die Menschen gefehlt ist, darüber soll der Mensch nicht richten, noch Rechenschaft fordern, es sei denn im Namen Gottes. Insgleichen alle Gebote (Liebe) alles ist angeknüpft an Gott, und um Gottes willen wird es am Menschen gethan. Darin steckt eine hohe Klugheit (—das Leben in großer Enge, wie bei den Eskimos, ist nur erträglich bei der friedfertigsten und nachsichtigsten Gesinnung: das jüdisch-christliche Dogma wendete sich gegen die Sünde, zum Besten des „Sünders" —)
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Das c h r i s t l i c h e Leben, wie es als Ideal dem Paulus vorschwebt und von ihm gepredigt wird, ist das j ü d i s c h e Leben, nicht vielleicht das der herrschenden Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in der Diaspora lebenden Juden. Es ist erlebt, gesehn, aus
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dem Verehrtesten und Geliebtesten heraus — dieses Ideal: es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse, vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben. Dies ist die That des Paulus: er erkannte die A n w e n d b a r k e i t d e s j ü d i s c h e n P r i v a t l e b e n s auf das Privatleben der kleinen Leute von Überall. Vom Judenthum her wußte er, wie eine Art Mensch sich durchsetzt, ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht auf Macht haben zu dürfen. Ein Glaube an ein absolutes Vorrecht, das Glück der Auserwählten, welches jede Erbärmlichkeit und Entbehrung adelt — nämlich als Gegenzahlung und Sporn, die Tugenden der Familie, der kleinen Congregation, der unbedingte Ernst in Einem, in der Unantastbarkeit ihres Lebens durch die Gegner, zwischen denen sie leben — und alles Besänftigende, Mildernde, Erquickende, Gebet, Musik, gemeinsame Mahlzeiten und Herzensergießungen, Geduld, Nachsicht, Hülfe und Dienstbarkeit gegen einander, vor Allem jenes S t i l l e h a l t e n der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht, Haß, Neid, Rache nicht obenauf kommen . . . Der Asketism ist n i c h t das Wesen dieses Lebens; die Sünde ist nur in dem Sinn im Vordergrund des Bewußtseins, als sie die beständige Nähe ihrer Erlöstheit und Zurückgekauftheit bedeutet (— so ist sie schon jüdisch: mit der Sünde aber wird ein Jude völlig fertig, dazu eben hatte er seinen Glauben; es ist das, womit man allein ganz fertig wird; und gesetzt, daß alles Unglück im Verhältniß zur Sünde steht (oder zur Sündhaftigkeit), so giebt es ein remedium gegen alles Unglück selbst — und das Unglück ist außerdem g e r e c h t f e r t i g t , nicht s i n n l o s . . .
io[93] (213) Welch Erquicken, nach dem neuen Testament etwa den Petronius in die Hand zu nehmen! Wie ist man sofort
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Nachgelassene Fragmente
wieder hergestellt! wie fühlt man die Nähe der gesunden, übermüthigen, selbstgewissen und boshaften Geistigkeit! — und schließlich bleibt man vor der Frage stehn: „ist nicht der antike Schmutz noch mehr werth als diese ganze kleine anmaaßliche Christen-Weisheit und -Muckerei?"
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io[9 4 ] (214) die europäischen Fürsten sollten sich in der That besinnen, ob sie unserer Unterstützung entbehren können. Wir Immoralisten — wir sind heute die einzige Macht, die keine Bundesgenossen braucht, um zum Siege zu kommen: 10 damit sind wir bei weitem die Stärksten unter den Starken. Wir bedürfen nicht einmal der Lüge: welche Macht könnte sonst ihrer entrathen? Eine starke Verführung kämpft für uns, die stärkste vielleicht, die es giebt — die Verführung der Wahrheit... Der Wahrheit? Wer legte das 15 Wort mir in den Mund? Aber ich nehme es wieder heraus; aber ich verschmähe das stolze Wort: nein, wir haben auch sie nicht nöthig, wir würden auch noch ohne die Wahrheit zur Macht und zum Siege kommen. Der Zauber, der für uns kämpft, das Auge der Venus, das unsere Gegner selbst 20 bestrickt und blind macht, das ist die M a g i e d e s E x t r e m s , die Verführung, die alles Äußerste übt: wir Immoralisten — wir sind d i e Ä u ß e r s t e n . . . io[95] „Oh Ariadne, du selbst bist das Labyrinth: man kommt nicht aus dir wieder heraus" . . . 25 „Dionysos, du schmeichelst mir, du bist göttlich" . . . io[96] (215)
Das c h r i s t l i c h - j ü d i s c h e Leben: hier überwog n i c h t das ressentiment. Erst die großen Verfolgungen mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben
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— sowohl die G1 u t h der L i e b e als die des H a s s e s . Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert sieht, dann wird man a g g r e s s i v ; man verdankt den Sieg des Christenthums seinen Verfolgern. N B Die A s k e t i k im Christenthum ist nicht spezifisch: das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das Christenthum hinein: überall dort, wo es auch ohne Christenthum Asketik gab. N B Das h y p o c h o n d r i s c h e Christenthum, die Gewissens-Thierquälerei und -Folterung ist insgleichen nur einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche Werthe Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christenthum selbst. Das Christenthum hat alle Art Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben d a s ist sein Wesen: Christenthum ist ein Typus der decadence. Die t i e f e V e r a c h t u n g , mit der der Christ in der vornehm-gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört eben dahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, w e l c h e s i c h d u r c h d r ü c k e n und schüchterne linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden. Das neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich u n v o r n e h m e n Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Werth zu haben, ja allen Werth zu haben, hat in der That etwas Empörendes, — auch heute noch.
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Wenn man, bei vollkommener Einordnung in die
bürgerliche Rechtschaffenheit, doch wieder den Bedürfnissen seiner U n m o r a l i t ä t Luft macht: in wiefern wir heute als Erkennende alle unsere b ö -
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Nachgelassene Fragmente
s e n T r i e b e in Dienst genommen haben und fern davon sind, zwischen Tugend und Erkenntniß eine Wünschbarkeit von Bund zu schließen a l l e b ö s e n T r i e b e sind intelligent und neugierig, wissenschaftlich geworden Wem die Tugend leicht fällt, der macht sich audi noch über sie lustig. Der Ernst in der Tugend ist nicht aufrecht zu erhalten: er erreicht sie und hüpft über sie hinaus — wohin? in die Teufelei. — indem er sie erreicht, überspringt er sie, — und macht sich aus ihr eine kleine Teufelei zurecht dabei und ehrt seinen Gott nicht anders als der Hanswurst Gottes Wie intelligent sind inzwischen alle unsere schlimmen Hänge und Dränge geworden! wie viel wissenschaftliche Neugierde plagt sie! Lauter Angelhaken der Erkenntniß!
io[?8] (217) Wogegen ich protestire? Daß man nicht diese kleine friedliche Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar 10 als M a a ß d e s M e n s c h e n . NB. B a k o v o n V e r u l a m : „infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus." Das Christenthum aber gehört, als Religion, zum vulgus; es hat für die höchste Gattung virtus keinen 25
Sinn.
10^9] <(2i8)> Die Schopenhauersche E n t n a t ü r l i c h u n g des G e n i e s : „ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt" IO[IOO]
man könnte die Castration einführen im Kampf mit dem
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Verbrecher- und Krankenthum (so in Hinsicht auf alle Syphilitiker) : aber wozu! man soll ö k o n o m i s c h e r denken! IO[IOI]
(219) 5
das Dasein als Strafe und Buße: „der Mythus vom S ü n d e n f a l l ist es allein, was mich mit dem alten Testament aussöhnt" Schopenhauer
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(220) NB. meine positiven H a u p t s a c h e n — welche sind sie? — und meine hauptsächlichsten n e g a t i v a — welche sind sie? 10 — und das Reich meiner n e u e n Fragen und F r a g e z e i c h e n — welche sind sie? io[i03] (221) Solchen Menschen, w e l c h e m i c h e t w a s a n g e h n , wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, — ich wünsche daß ihnen die 15 tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob Einer W e r t h hat oder nicht, — d a ß e r S t a n d h ä l t . . . 20 Ich habe noch keinen Idealisten, aber viele Lügner kennengelernt IO[IO4]
(222)
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Schopenhauer wünscht, daß man die S c h u r k e n castrirt und die G ä n s e ins Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar sein? Der Schurke hat das vor den Mittelmäßigen voraus, daß er nicht mittelmäßig ist; und der Dumme das vor u n s , daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit leidet... Wünsch-
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Nachgelassen Fragmente
barer wäre es, daß die Kluft größer würde, — also die Schurkerei und die Dummheit wüchse . . . Dergestalt e r w e i t e r t e sich die menschliche Natur . . . Aber zuletzt ist eben das auch das Nothwendige; es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die Dummheit, die Schurkerei wachsen: das g e h ö r t zum „Fortschritt". io[ioy] (223)
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Z u r S t ä r k e d e s 19. J a h r h u n d e r t s . Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltenes. Wir haben gegen die R e v o 1 u t i on revoltirt... Wir haben uns von der F u r c h t v o r d e r r a i s o n , dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emancipirt: wir wagen wieder lyrisch, absurd und kindisch zu sein . . . mir einem Wort: „wir sind Musiker"
— ebensowenig f ü r c h t e n wir uns vor dem L ä c h e r l i c h e n wie vor dem A b s u r d e n — der T e u f e l findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse, als der Verkannte, Verleumdete von Alters her, — wir sind die Ehrenretter des Teufels — wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren — wir rechnen die g u t e n Dinge zusammen in ihrer Complexität mit den s c h l i m m s t e n : wir haben die absurde „Wünschbarkeit" von Ehedem ü b e r w u n d e n (das das Wachsthum des Guten wollte ohne das W(achsthum> des Bösen —) — die F e i g h e i t vor dem Ideal der Renaissance hat nachgelassen — wir wagen es, z u i h r e n S i t t e n selbst zu aspiriren — — die I n t o l e r a n z gegen die Priester und die
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Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen: „es ist unmoralisch, an Gott zu glauben", aber gerade das gilt uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens. Wir haben alledem ein R e c h t bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der K e h r s e i t e der „guten Dinge" (— wir suchen sie ... wir sind tapfer und neugierig genug dazu) z. B. am Griechenthum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack (— wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht: m a n m a c h t s i c h b e i n a h e a n - mit einer solchen Kostbarkeit —) Ebenso wenig verhehlen wir uns die Kehrseite der s c h l i m m e n Dinge... IO[IO6]
„die Meinung ist die Hälfte der Menschlichkeit" hat Napoleon gesagt io[i07] is (224) Ob ich damit der Tugend geschadet habe? . . . Eben so wenig, als die Anarchisten den Fürsten: erst seitdem sie angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron... Denn so stand es immer und wird es stehen: man kann einer Sache nicht besser nützen als indem man sie 20 verfolgt und mit allen Hunden hetzt... Dies — habe ich gethan. IO[IO8]
((225)) Gegen die R e u e . Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene That nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen, unter dem Ansturz unerwarteter Schande und Be25
drängniß. Ein extremer Stolz ist da eher am Platz. Zuletzt was hilft es! Keine That wird dadurch, daß sie bereut wird, ungethan; ebensowenig dadurch, daß sie „vergeben" oder daß sie „gesühnt" wird. Man müßte Theologe sein, um an eine schuldentilgende Macht zu glauben: wir Immoralisten
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Nachgelassene Fragmente
ziehen es vor, nicht an „Schuld" zu glauben. Wir halten dafür, daß jedwederlei Handlung in der Wurzel werthidentisch ist, — insgleichen, daß Handlungen, welche sich g e g e n uns wenden, ebendarum immer noch, ökonomisch gerechnet, nützliche, allgemein-wünschbare Handlungen sein können. — Im einzelnen Fall werden wir zugestehen, daß eine That uns leicht hätte e r s p a r t bleiben können, — nur die Umstände haben uns zu ihr begünstigt. — Wer von uns hätte nicht, von den Umständen b e g ü n s t i g t , schon die ganze Skala der Verbrechen durchgemacht?... Man soll deshalb nie sagen: „das und das hättest du nicht thun sollen", sondern immer nur: „wie seltsam, daß ich das nicht schon hundert Mal gethan habe." — Zuletzt sind die wenigsten Handlungen t y p i s e h e Handlungen, und wirklich Abbreviaturen einer Person; und in Anbetracht, wie wenig Person die meisten sind, wird selten ein Mensch durch eine einzelne That c h a r a k t e r i s i r t. That der Umstände, bloß epidermal, bloß reflexmäßig als Auslösung auf einen Reiz erfolgend: bevor die Tiefe unseres Seins davon berührt, darüber befragt worden ist. Ein Zorn, ein Griff, ein Messerstich: was ist daran von Person! — Die That bringt häufig eine Art Starrblick und Unfreiheit mit sich: so daß der Thäter durch ihre Erinnerung wie gebannt ist und sich selbst bloß als Z u b e h ö r zu ihr noch fühlt. Diese geistige Störung, eine Form von Hypnotisirung, hat man vor allem zu bekämpfen: eine einzelne That, sie sei welche sie sei, ist doch im Vergleich mit allem, was man that, gleich N u l l und darf weggerechnet werden, ohne daß die Rechnung falsch würde. Das billige Interesse, welches die Gesellschaft haben kann, unsere ganze Existenz nur in Einer Richtung hin nachzurechnen, wie als ob ihr Sinn sei, eine einzelne That herauszutreiben, sollte den Thäter selbst nicht anstecken: leider geschieht es fast beständig. Das hängt daran, daß
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jeder That mit ungewöhnlichen Folgen eine geistige Störung folgt: gleichgültig selbst, ob diese Folgen gut oder schlimm sind. Man sehe einen Verliebten an, dem ein Versprechen zu Theil geworden; einen Dichter, dem ein Theater Beifall klatscht: sie unterscheiden sich, was den torpor intellectualis betrifft, in nichts von dem Anarchisten, den man mit einer Haussuchung überfällt. — Es giebt Handlungen die unser u n w ü r d i g sind: Handlungen die, als typisch genommen, uns in eine niedrigere Gattung herabdrücken würden. Hier hat man allein diesen Fehler zu vermeiden, d a ß man sie typisdi nimmt. Es giebt die umgekehrte Art Handlungen, deren w i r nicht würdig sind: Ausnahmen, aus einer besonderen Fülle von Glück und Gesundheit geboren, unsere höchsten Fluthwellen, die ein Sturm, ein Zufall einmal so hoch trieb: solche Handlungen und „Werke" (—) sind nicht typisch. Man soll einen Künstler nie nach dem Maaße seiner Werke messen.
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Man soll die Tugend gegen die Tugendprediger vertheidigen: das sind ihre schlimmsten Feinde. Denn sie lehren die Tugend als ein Ideal f ü r A l l e ; sie nehmen der Tugend ihren Reiz des Seltenen, des Unnachahmlichen, des Ausnahmsweisen und Undurchschnittlichen, — ihren a r i s t o k r a t i s c h e n Z a u b e r . Man soll insgleichen Front madien gegen die verstockten Idealisten, welche eifrig an alle Töpfe klopfen und ihre Genugthuung haben, wenn es hohl klingt: welche Naivetät, Großes und Seltenes zu f o r d e r n und seine Abwesenheit mit Ingrimm und Menschen Verachtung feststellen! — Es liegt z.B. auf der Hand, daß eine E h e so viel werth ist als die, welche sie schließen, d. h. daß sie im Großen Ganzen etwas Erbärmliches und Unschickliches sein wird: kein Pfarrer, kein Bürgermeister kann etwas Anderes draus machen.
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Nachgelassene Fragmente
Die T u g e n d hat alle Instinkte des Durchschnittsmenschen gegen sich: sie ist unvorteilhaft, unklug, sie isolirt, sie ist der Leidenschaft verwandt und der Vernunft schlecht zugänglich; sie verdirbt den Charakter, den Kopf, den Sinn — immer gemessen mit dem Maaß des Mittelguts von Mensch; sie setzt in Feindschaft gegen die Ordnung, gegen die L ü g e , welche in jeder Ordnung, Institution, Wirklichkeit versteckt liegt, — sie ist das s c h l i m m s t e L a s t e r , gesetzt daß man sie nach der Schädlichkeit ihrer Wirkung auf die A n d e r e n beurtheilt. — Ich erkenne die Tugend daran, daß sie i) nicht verlangt, erkannt zu werden i) daß sie nicht Tugend überall voraussetzt, sondern gerade etwas Anderes 3) daß sie an der Abwesenheit der Tugend n i c h t l e i d e t , sondern umgekehrt dies als das Distanzverhältniß betrachtet, auf Grund dessen etwas an der Tugend zu ehren ist: sie theilt sich nicht mit 4) daß sie nicht Propaganda m a c h t . . . 5) daß sie Niemandem erlaubt, den Richter zu machen, weil sie immer eine Tugend f ü r s i c h ist 6) daß sie gerade alles das thut, was sonst v e r b o t e n ist: Tugend, wie ich sie verstehe, ist das eigentliche vetitum innerhalb aller Heerden-Legislatur 7) kurz, daß sie Tugend im Renaissancestil ist, virtü, moralinfreie Tugend . . .
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Zuletzt, was habe ich erreicht? Verbergen wir uns dies wunderlichste Resultat nicht: ich habe der Tugend einen neuen R e i z ertheilt, — sie wirkt als etwas V e r b o t e n e s . Sie hat unsere feinste Redlichkeit gegen sich, sie ist eingesalzen in das „cum grano salis" des wissenschaftlichen Gewissensbisses; sie ist altmodisch im Geruch und antikisirend, so daß sie nunmehr endlich die Raffinirten anlockt und neugierig macht; — kurz, sie wirkt als Laster. Erst nachdem wir Alles als Lüge, Schein erkannt haben, haben
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wir auch die Erlaubniß wieder zu dieser schönsten Falschheit, der der Tugend, erhalten. Es giebt keine Instanz mehr, die uns dieselbe verbieten dürfte: erst indem wir die Tugend als eine F o r m d e r I m m o r a l i t ä t aufgezeigt haben, ist sie wieder g e r e c h t f e r t i g t , — sie ist eingeordnet und gleichgeordnet in Hinsicht auf ihre Grundbedeutung, sie nimmt Theil an der Grund-Immoralität alles Daseins, — als eine Luxus-form ersten Ranges, die hochnäsigste, theuerste und seltenste Form des Lasters. Wir haben sie entrunzelt und entkuttet, wir haben sie von der Zudringlichkeit der Vielen erlöst, wir haben ihr die blödsinnige Starrheit, das leere Auge, die steife Haartour, die hieratische Muskulatur genommen.
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Zur R a n g o r d n u n g Was ist am typischen Menschen m i t t e l m ä ß i g ? Daß er nicht die K e h r s e i t e d e r D i n g e als nothwendig versteht: daß er die Ubelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entrathen könnte; daß er das Eine nicht mit dem Anderen hinnehmen will, — daß er den t y p i s c h e n C h a r a k t e r e i n e s D i n g e s , eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Theil ihrer Eigenschaften gutheißt und die anderen a b s c h a f f e n möchte. Die „ Wünschbarkeit" der Mittelmäßigen ist das, was von uns Anderen bekämpft wird: das I d e a l gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährlidies, Fragwürdiges, Vernichtendes übrig bleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der h ö c h s t e Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher d e n G e g e n s a t z - C h a r a k t e r d e s D a s e i n s am stärksten darstellte, als dessen Glorie und ein-
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Nachgelassene Fragmente
zige Rechtfertigung... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zu Grunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst d. h. die Vorbedingung für die G r ö ß e des M e n s c h e n . Daß der Mensch besser u n d böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit... Die Meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustandekommen des synthetischen Menschen handelt, daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hier und da der g a n z e M e n s c h entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht n i c h t in Einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren... wir haben z.B. mit aller Anspannung von 3 Jahrhunderten noch nicht den M e n s c h e n d e r R e n a i s s a n c e wieder erreicht; und hinwiederum blieb der M(ensch> der R<enaissance> hinter dem a n t i k e n M e n s c h e n zurück . . . man muß einen Maaßstab haben: ich unterscheide den g r o ß e n S t i l ; ich unterscheide A k t i v i t ä t und Reaktivität; ich unterscheide die Ü b e r s c h ü s s i g e n V e r s c h w e n d e r i s c h e n und die Leidend-Leidenschaftlichen (— die „Idealisten")
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Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre Gegner bis zur C a r i k a t u r herunterzubringen und gleichsam auszuhungern, — zum Mindesten in ihrer V o r s t e l l u n g . Eine solche Carikatur ist z. B. unser „ V e r b r e c h e r " . In Mitten der römisch-aristokratischen Ordnung der Werthe war der J u d e zur Carikatur reduzirt. Unter Künstlern wird der „Biedermann und bourgeois" zur Carikatur; unter Frommen der Gottlose; unter Aristokraten der Volksmann. Unter Immoralisten wird es der Moralist: Plato zum Beispiel wird bei mir zur Carikatur.
io[ii3] (230) Propaganda machen ist unanständig: aber klug! aber klug! Welcher Art von bizarrem Ideal man auch folgt (z. B. als „Christ" oder als „freier Geist" oder als „Immoralist" 15 oder als Reichsdeutscher — ) , man soll nicht fordern, daß es d a s I d e a l sei: denn damit nähme man ihm den Charakter des Privilegiums, des Vorrechts. Man soll es haben, um sich auszuzeichnen, n i c h t um sich gleichzusetzen 20 Wie kommt es trotzdem, daß die meisten Idealisten sofort für ihr Ideal Propaganda machen, wie als ob sie kein Recht haben könnten auf das Ideal, falls nicht A l l e es anerkennten? . . . Das thun z. B. alle jene muthigen Weiblein, die sich die Erlaubniß nehmen, Latein und Mathe25 matik zu lernen. Was zwingt sie dazu? Ich fürchte, der Instinkt der Heerde, die Furchtsamkeit vor der Heerde: sie kämpfen für die „Emancipation des Weibes", weil sie unter der Form einer g e n e r e u s e n T h ä t i g k e i t , unter der Flagge des „ F ü r Andere" ihren kleinen Privat3° Separatismus am klügsten durchsetzen . . . K l u g h e i t der Idealisten, nur Missionäre und Ver-
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Nachgelassene Fragmente
treter eines Ideals zu sein: sie „verklären" sich damit in den Augen derer, welche an Uneigennützigkeit und Heroism glauben. Indeß: der wirkliche Heroism besteht darin, daß man n i c h t unter der Fahne der Aufopferung, Hingebung, Uneigennützigkeit kämpft, sondern gar n i c h t k ä m p f t . . . „So bin i c h ; so will i c h' s : — hol* e u c h der Teufel!"
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io[ii4] (231) Krieg gegen die weichliche Auffassung der „Vornehmheit" — ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlas10 sen; so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die „Selbstzufriedenheit" ist n i c h t darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch — nichts von „schöner Seel"-Salbaderei — Ich will einem r o b u s t e r e n I d e a l e Luft machen.
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io[ii5] Gelegentliches über die G r i e c h e n über das H e i d n i s c h e IO[II6]
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Aesthetica. über unsere m o d e r n e M u s i k : die Verkümmerung der Melodie ist das Gleiche, wie die Verkümmerung der „Idee", der Dialektik, der Freiheit geistigster Bewegung, — eine Plumpheit und Gestopftheit, welche sich zu neuen Wagnissen und selbst zu Principien entwickelt — man hat schließlich nur die Principien seiner Begabung, seiner B o r n i r t h e i t v o n B e g a b u n g was die elementaren Bedingungen zu einem Genie betrifft, so war O(ffenbach) genialer als Wagner . . . „dramatische Musik" Unsinn! Das ist einfach schlechte Musik, so gewiß als
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die Ersatzmittel der Hohn tanzenden und spöttischen Geistigkeit das „Gefühl", die „Leidenschaft" als Surrogate, wenn man die hohe Geistigkeit und das G l ü c k derselben (z. B. Voltaire's) nicht mehr zu erreichen weiß. Technisch ausgedrückt, ist das „Gefühl", die „Leidenschaft" l e i c h t e r — es setzt viel ärmere Künstler voraus. Die Wendung zum Drama verräth, daß ein Künstler über die S c h e i n mittel noch mehr sich Herr weiß als über die ächten Mittel. Wir haben d r a m a t i s c h e M a l e r e i , d r a m a t i s c h e L y r i k usw.
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io[n7] (233) Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (sammt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner T y *5 r a n n e i ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für r o b u s t e r e Ideale... Die F o r t d a u e r des diristlichen Ideals gehört zu den wünschenswerthesten Dingen, die es giebt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend 20 machen wollen — sie müssen Gegner s t a r k e Gegner haben, um s t a r k zu werden. — So brauchen wir Immoralisten die M a c h t der M o r a l : unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsere G e g n e r bei Kräften bleiben, — will nur H e r r ü b e r s i e werden. — IO[II8]
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Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als L o s l ö s u n g vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurtheilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische U n m o r a l i t ä t des Genies, nicht sehen w o l l e n ; er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Werth der „Entselbstung", auch als B e d i n g u n g der geistigsten Thätigkeit,
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des „ Objektiv "-Blickens, angesetzt. „Wahrheit", auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des W i l l e n s . . . Quer durch alle moralische) Idiosynkrasie hindurch sehe i c h eine g r u n d v e r s c h i e d e n e W e r t h u n g : solche absurde Auseinandertrennung von „Genie" und Willens-Welt der Moral und Immoral k e n n e i c h n i c h t . Der moralische Mensch ist eine niedrigere species als der unmoralische, eine schwächere; ja — er ist der M(oral) nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Copie, eine gute Copie jedenfalls, — das Maaß seines Werthes liegt a u ß e r ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Q u a n tumMacht undFülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens l e h r t , als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung... — ich schätze die M a c h t eines W i l l e n s darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß; nach diesem Maaße muß es mir fern liegen, dem Dasein seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf anzurechnen, sondern (ich) ergreife die Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher... Die S p i t z e des Geistes, die Schopenhauer imaginirte, war, zur Erkenntniß zu kommen, daß Alles keinen Sinn hat, kurz, zu e r k e n n e n , was instinktiv der gute Mensch schon t h u t . . . er leugnet, daß es h ö h e r e Arten Intellekt geben könne — er nahm seine Einsicht als ein non plus u l t r a . . . Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Werth (als K u n s t 2. B.) wäre es, die moralische Umkehr anzurathen, vorzubereiten: absolute Herrschaft der M o r a l w e r t h e . — neben Schopenhauer will ich K a n t charakterisiren ( G o e t h e s Stelle über das Radikal-Böse): nichts Gricchi-
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sches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker. Auch bei ihm im Hintergrund die H e i l i g k e i t . . . ich brauche eine Kritik des H e i l i g e n . . . Hegels Werth „Leidenschaft" Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen. Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß alles, was w e r t h v o l l ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik bewiesen werden als m o r a l i s c h - w e r t h v o l l , m o r a l i s c h - b e d i n g t , in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Werth: z. B. Rousseaus Frage in Betreff der Civilisation „wird durch sie der Mensch besser?" — eine komische Frage, da das Gegentheil auf der H a n d liegt und eben das ist was zu G u n s t e n der Civilisation redet io[ii9] (235)
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Wir „Objektiven".— Das ist nicht das „Mitleid", was u n s die Thore zu den fernsten und fremdesten Arten Sein und Cultur aufmacht; sondern unsere Zugänglichkeit und Unbefangenheit, welche gerade n i c h t „mit leidet", sondern im Gegentheil sich bei hundert Dingen ergötzt, wo man ehedem litt (empört oder ergriffen war, oder feindselig und kalt blickte —) Das Leiden in allen Nuancen ist uns jetzt interessant: damit sind wir gewiß n i c h t die Mitleidigeren, selbst wenn der Anblick des Leidens uns durch und durch erschüttert und die Thräne fließt: — wir sind schlechterdings deshalb nicht hülfreicher gestimmt. In diesem f r e i w i l l i g e n Anschauen-wollen von aller Art Noth und Vergehen sind wir stärker und kräfti-
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ger geworden, als es das 18. Jahrhundert war; es ist ein Beweis unseres Wachsthums an Kraft (— wir haben uns dem 17. und 16. Jahrhundert g e n ä h e r t ...) Aber es ist ein tiefes Mißverständniß, unsere „Romantik" als Beweis unserer „verschönerten Seele" aufzufassen . . . Wir wollen s t a r k e sensations, wie alle g r ö b e r e n Zeiten und Volksschichten sie wollen... Dies hat man wohl auseinander zu halten vom Bedürfniß der Nervenschwachen und decadents: bei denen ist das Bedürfniß nach Pfeffer da, selbst nach Grausamkeit... Wir A l l e suchen Zustände, in denen die bürgerliche Moral n i c h t m e h r m i t r e d e t , noch weniger die priesterliche (— wir haben bei jedem Buche, an dem etwas Pfarrer- und Theologenluft hängen geblieben ist, den Eindruck einer bemitleidenswerthen niaiserie und Armut...) Die „gute Gesellsdiafl" ist die, wo im Grunde nichts interessirt, als was bei der bürgerlichen Gesellschaft v e r b o t e n ist und üblen Ruf macht: ebenso steht es mit Büchern, mit Musik, mit Politik, mit der Schätzung des Weibes io[i2o] Zu befragen auf ihre W e r t h e hin: Plato. Epictet. Marc Aurel. Epicur. Augustin. Pascal. Bentham Comte. Hegel.
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Bücher: R e u t e r s Augustin und religiöse Aufklärung des Mittelalters S a i n t e - B e u v e Port-Royal T e i c h m ü l l e r , Griechische Philosophie.
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Wie ist es möglich, daß Jemand vor sich gerade in Hinsicht auf die moralischen Werthe a l l e i n Respekt hat, daß er alles Andere u n t e r o r d n e t und gering nimmt im Vergleich mit Gut, Böse, Besserung, Heil der Seele usw.? z. B. Amiel. Was bedeutet die M o r a l - I d i o s y n k r a s i e ? — ich frage psychologisch, auch physiologisch, z. B. Pascal. Also in Fällen, wo große a n d e r e Qualitäten nicht fehlen; auch im Falle Schopenhauers, der ersichtlich das schätzte, was er nicht hatte und haben k o n n t e . . . — ist es nicht die Folge einer bloß gewohnheitsmäßigen M o r a l - I n t e r p r e t a t i o n von tatsächlichen Schmerzund Unlust-Zuständen? ist es nicht eine bestimmte Art von S e n s i b i l i t ä t , welche die Ursache ihrer vielen Unlustgefühle n i c h t v e r s t e h t , aber mit m o r a l i s c h e n ) H y p o t h e s e n s i c h z u e r k l ä r e n g l a u b t ? So daß auch ein gelegentliches Wohlbefinden und K r a f t g e f ü h 1 immer sofort gleich wieder unter der Optik vom „guten Gewissen", von der Nähe Gottes, vom Bewußtsein der E r l ö s u n g überleuchtet erscheint? . . . Also der M o r a l - I d i o s y n k r a t i k e r hat 1) e n t w e d e r wirklich in der Annäherung an den Tugend-Typus der Gesellschaft seinen eigenen Werth: „der Brave", „ R e c h t s c h a f f e n e " , — ein mittlerer Zustand hoher Achtbarkeit: in allem Können m i t t e l m ä ß i g , aber in allem Wollen honnett, gewissenhaft, fest, geachtet, bewährt 2) o d e r er glaubt ihn zu haben, weil er alle seine Zustände überhaupt nicht anders zu verstehen glaubt..., er ist sich unbekannt, er legt sich dergestalt aus. Moral als das einzige I n t e r p r e t a t i o n s s c h e m a , bei dem der Mensch sich aushält... eine Art Stolz? . . .
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Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich thue, wie man sieht, das Gegentheil: denn jeder Schritt weg von ihr — so lehre ich — führt ins U n m o r a l i s c h e . . .
io[i23] 5 (238) Die längste Dauer der Scholastik — das Gute, das Böse, das Gewissen, die Tugend lauter Entitäten imaginärer Herkunft io[i24] (239) das Nachdenken über das Allgemeinste ist immer rückständig: die letzten „Wünschbarkeiten" über den 10 Menschen z. B. sind von den Philosophen eigentlich niemals als Problem genommen worden. Die „Verbesserung" des Menschen wird von ihnen allen naiv angesetzt, wie als ob wir durch irgend eine Intuition über das Fragezeichen hinausgehoben wären, w a r u m gerade „verbessern"? In 15 wiefern ist es w ü n s c h b a r , daß der Mensch t u g e n d h a f t e r wird? oder k l ü g e r ? oder g l ü c k l i c h e r ? Gesetzt, daß man nicht schon das „Warum?" des Menschen überhaupt k e n n t , so hat jede solche Absicht keinen Sinn; und wenn man das Eine will, wer weiß? vielleicht *o darf man dann das Andere nicht wollen? . . . Ist die Vermehrung der Tugendhaftigkeit zugleich verträglich mit einer Vermehrung der Klugheit und Einsicht? Dubito: ich werde nur zu viel Gelegenheit haben, das Gegentheil zu beweisen. Ist die Tugendhaftigkeit als Ziel im rigorosen 25
Sinne nicht thatsächlich bisher im Widerspruch mit dem Glücklichwerden gewesen? braucht sie andererseits nicht das Unglück, die Entbehrung und Selbstmißhandlung als nothwendiges Mittel? Und wenn die h ö c h s t e E i n s i c h t das Ziel wäre, müßte man nicht eben damit die
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Steigerung des Glücks ablehnen? und die Gefahr, das Abenteuer, das Mißtrauen, die Verführung als Weg zur Einsicht wählen? . . . Und will man G l ü c k , nun, so muß man vielleicht zu den „Armen des Geistes" sich gesellen.
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Die wohlwollenden hülfreichen gütigen Gesinnungen sind schlechterdings n i c h t um des Nutzens willen, der von ihnen ausgeht, zu Ehren gekommen: sondern weil sie Zustände r e i c h e r S e e l e n sind, welche abgeben können und ihren Werth als Füllegefühl des Lebens tragen. Man sehe die Augen des Wohlthäters an! Das ist das Gegenstück der Selbstverneinung, des Hasses auf das moi, des „Pascalisme". —
io[i26] (241) Alles, was aus der Schwäche kommt, aus der SelbstM anzweiflung und Kränkelei der Seele, taugt nichts: und wenn es in der größten Wegwerfung von Hab und Gut sich äußerte. Denn es vergiftet als B e i s p i e l das Leben . . . Der Blick eines Priesters, sein bleiches Abseits hat dem Leben mehr Schaden gestiftet als alle seine Hingebung 20 Nutzen stiftet: solch Abseits v e r l e u m d e t das Leben . . . I0[l27] (242) Die Präoccupation mit sich und seinem „ewigen Heile" ist n i c h t der Ausdruck einer reichen und selbstgewissen Natur: denn diese fragt den Teufel danach, ob sie selig wird, — sie hat kein solches Interesse am Glück irgend 25 welcher Gestalt, sie ist Kraft, That, Begierde, — sie drückt sich den Dingen auf, sie v e r g r e i f t sich an den Dingen . . . Christenthum ist eine romantische Hypochondrie solcher, die nicht auf festen Beinen stehn. — Überall, wo
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die h e d o n i s t i s c h e Perspektive in den Vordergrund tritt, darf man auf Leiden und eine gewisse M i ß r a t h e n h e i t schließen.
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I0[l28] (243) Wie unter dem Druck der asketischen E n t s e l b s t u n g s - M o r a l gerade die Affekte der Liebe, der Güte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, der Großmuth, des Heroism m i ß v e r s t a n d e n werden mußten: Hauptcapitel. Es ist der R e i c h t h u m a n P e r s o n , die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und göttliche Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie auch das Herr-werden-wollen, Übergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf Alles zu haben. Die nach gemeiner Auffassung e n t g e g e n g e s e t z t e n Gesinnungen sind vielmehr E i n e Gesinnung; und wenn man nicht fest und wacker in seiner H a u t sitzt, so hat man nichts abzugeben, und H a n d aus(zu)strecken, und Schutz und Stab ( z u ) sein... Wie hat man diese Instinkte so u m d e u t e n können, daß der Mensch als werthvoll empfindet, was seinem Selbst entgegengeht? wenn er sein Selbst einem andern Selbst preisgiebt! O h über die psychologische Erbärmlichkeit und Lügnerei, welche bisher in Kirche und kirchlich angekränkelter Philosophie das große Wort geführt hat! Wenn der Mensch sündhaft ist, durch und durch, so darf er sich nur hassen. Im Grunde dürfte er auch seine Mitmenschen mit keiner anderen Empfindung behandeln wie sich selbst; Menschenliebe bedarf einer Rechtfertigung,
— sie liegt darin, daß G o t t s i e b e f o h l e n h a t . —
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Hieraus folgt, daß alle die natürlichen Instinkte des Menschen (zur Liebe usw.) ihm an sich unerlaubt scheinen und erst, nach ihrer V e r l e u g n u n g , auf Grund eines Gehorsams gegen Gott wieder zu Recht kommen... Pascal, der bewunderungswürdige L o g i k e r des Christenthums, gieng so weit! man erwäge sein Verhältniß zu seiner Schwester, p. 162: „sich n i c h t lieben machen" schien ihm christlich.
io[i29] NB. Beweis der Hypothese und Erklärung auf Grund der Hy10 pothese — nicht zu verwechseln! io[i3o] „Schlachtgemeinschaft ist noch im Islam Sakralgemeinschaft: wer an unserem Gottesdienst theilnimmt und unser Schlachtfleisch ißt, der ist ein Muslim." io[i3i] (244) „Ein Gebot des Cultus verwandelt sich in ein Gebot 15 der C u l t u r . " Muhammed verbot das Blutessen (die Heiden ließen Thiere zur Ader, um in Hungersnöthen eine Art Blutwurst zu machen) Hauptritus: das Blut ungenützt fließen lassen Wein und Oel unarabisch (beim Opfer) I0[l32] 20
denn unsere bisherigen Werthe sind es, aus denen der Nih(ilismu>s die Schlußfolgerung ist io[i33] (245) N ü t z l i c h sind die Affekte aliesammt, die einen direkt, die anderen indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgend eine Werthabfolge
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festzusetzen, — so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesammt gut d.h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängniß auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die werthvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen giebt
io[i34] (246) Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwerthung und ihres „nützlich" und „schädlich" hat ihren guten Sinn; es ist die nothwendige Perspektive der 10 Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in H i n s i c h t d e r F o l g e n zu übersehen vermag. — Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr ü b e r m o r a l i s c h e Denkweise nöthig: weil er viel größere Complexe von Wirkungen zu berechnen hat. Insgleichen wäre eine 15 Weltwirtschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.
io[i353 (247) Das Christenthum ist möglich als p r i v a t e s t e Daseinsform; es setzt eine enge, abgezogene, vollkommen un20 politische Gesellschaft voraus, — es gehört ins Conventikel. Ein „christlicher Staat* dagegen, eine „christliche Politik", — das sind bloß Dank-Gebets-Worte im Munde solcher, welche G r ü n d e haben, Dank-Gebets-Worte zu machen. Daß diese auch von einem „Gott der Heerscharen" 25 als Generalstabschef reden: sie täuschen Niemanden damit. In praxi treibt auch der christliche Fürst die Politik Macchiavells: vorausgesetzt nämlich daß er nicht schlechte Politik treibt.
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Mit der moral Herabwürdigung des e g o geht auch noch in der Naturwissenschaft eine Überschätzung der G a t t u n g Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundert Mal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die K e t t e selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung g e o p f e r t wird, ist durchaus kein Thatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation.
io[i37] (249) Nothwendigkeit einer objektiven W e r t h s e t z u n g . In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für15 und Gegeneinander-arbeitens, wie es das Gesammtleben jedes Organism darstellt, ist dessen b e w u ß t e Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesammt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt 20
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uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivetät, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgend eine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Werth anzusetzen: und vielleicht gar „die Welt" aus ihnen zu rechtfertigen. — Das ist mein G r u n d e i n w a n d gegen alle philosophisch-moraKischen) Kosmo- und Theodiceen, gegen alle W a r u m ' s und h ö c h s t e n W e r t h e in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. E i n e A r t d e r M i t t e l i s t als Z w e c k m i ß v e r s t a n d e n w o r d e n : das Le-
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ben und seine M a c h t s t e i g e r u n g w u r d e umg e k e h r t zum M i t t e l erniedrigt. Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er müßte vielmehr jede noch e r k l ä r e n als Mittel zu sich . . . die „Verneinung des Lebens" als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung, das Dasein als große Dummheit: eine solche W a h n w i t z - I n t e r p r e t a t i o n ist nur die Ausgeburt einer M e s s u n g des Lebens mit Faktoren des B e w u ß t s e i n s (Lust und Unlust, Gut und Böse) Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck; die „unheiligen", absurden, vor allem u n a n g e n e h m e n Mittel — wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß wir, statt nach dem Zweck zu s u c h e n , der die N o t h w e n d i g k e i t solcher Mittel erklärt, von vornherein einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade a u s s c h l i e ß t : d. h. daß wir eine Wünschbarkeit in Bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle, tugendhafte) zur N o r m nehmen, nach der wir erst ansetzen, welcher G e s a m m t z w e c k w ü n s c h b a r i s t . . . Der G r u n d f e h l e r steckt immer darin, daß wir die Bewußtheit, statt sie als Werkzeug und Einzelheit im Gesammt-Leben, als Maaßstab, als höchsten Werthzustand des Lebens ansetzen: kurz, die fehlerhafte Perspektive des a parte ad totum. Weshalb instinktiv alle Philos(ophen) darauf aus sind, ein Gesammtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschient, einen „Geist" „Gott" zu imaginiren. Man muß ihnen aber sagen, daß e b e n d a m i t das D a s e i n zum M o n s t r u m wird; daß ein „Gott" und Gesammtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein v e r u r t h e i l t werden m ü ß t e . . . Gerade daß wir das
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zweck- und mittelsetzende Gesammt-Bewußtsein e 1 i m i n i r t haben: das ist unsere g r o ß e E r l e i c h t e r u n g , — damit hören wir auf, Pessimisten sein zu m ü s s e n . . . U n s e r größter V o r w u r f gegen das Dasein war die Existenz Gottes... io[i3«] (250) Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff „Gott" aufrecht zu erhalten, wäre: Gott, n i c h t als treibende Kraft, sondern Gott als M a x i m a l - z u s t a n d , als eine E p o c h e . . . Ein Punkt in der Entwicklung des W i l l e n s z u r M a c h t , aus dem sich ebenso sehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte . . . — mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesammt-werdens constant; ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf; dieser „Wille zur Macht" drückt sich in der A u s d e u t u n g , in der A r t des K r a f t v e r b r a u c h s aus — Verwandlung der Energie in Leben und Leben in höchster Potenz erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung Verschiedenes: — das, was das Wachsthum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht... Als Ideal das Princip des kleinsten Aufwandes . . . — daß die Welt n i c h t auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das Einzige, w a s b e w i e s e n i s t . Folglich m u ß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand i s t . . . — die absolute Necessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf wie in allen übrigen in Ewigkeit, n i c h t ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der
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Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich i s t . . . daß eine bestimmte Kraft eben nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft-Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist — Geschehen und Nothwendig-Geschehen ist eine T a u t o l o g i e . io[i39] Lieber der letzte in Rom als der erste in der Provinz: auch so ist es noch c ä s a r i s c h .
io[i4o] Das Leben in seiner k l e i n s t e n F o r m kann am ersten io zur Vollkommenheit gebracht werden: Goethe sagt z.B. . . . Aber im Kleinsten die Ersten sein io[i4i] (251) Ich liebe die Unglücklichen, welche s i c h s c h ä m e n ; die nicht ihre Nachttöpfe voll Elend auf die Gasse schütten; denen so viel guter Geschmack auf Herz und Zunge 15 zurück blieb, sich zu sagen „man muß sein Unglück in Ehren halten, man muß es verbergen" . . . I0[l42]
— man muß Schlimmeres, Tieferes erlebt haben als die Herren Pessimisten von Heute, diese mageren Affen, denen nicht Schlimmes und Tiefes zustoßen wird, um vor deren Pessimism 20 Achtung haben zu dürfen. io[i43] (252) Nichts fällt uns leichter als weise, geduldig, überlegen, voll Nachsicht, Geduld und Mitgefühl zu sein; wir sind auf eine absurde Weise in Allem und Jedem unmenschlichgerecht, wir verzeihen Alles. Verzeihen, das gerade ist
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u n s e r Element. Ebendarum sollten wir uns etwas strenger halten und an uns wenigstens von Zeit zu Zeit einen kleinen Affekt, ein kleines Laster von Affekt, heraufzüchten. Es mag uns sauer angehn — und, unter uns, wir lachen über den Aspekt, den wir dabei geben —: aber was hilft es! wir haben keine andere Art mehr von Selbstüberwindung . . .
io[i44] (253) (Man) hat die Grausamkeit zum tragischen Mitleiden verfeinert, sodaß sie als solche g e l e u g n e t wird. Des10 gleichen die Geschlechtsliebe in der Form amour-passion; die Sklavengesinnung als christlicher Gehorsam; die Erbärmlichkeit als Demuth; die Erkrankung des nervus sympathicus z.B.als Pessimismus,Pascalismus oder Carlylismus usw. io[i4S] 15 (254) Gesichtspunkte für m e i n e Werthe: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen . . . ob man zusieht oder Hand anlegt . . . oder wegsieht, bei Seite geht... ob aus der aufgestauten Kraft „spontan" oder bloß r e a k t i v angeregt, angereizt . . . ob e i n f a c h aus Wenigkeit der Elemente 20 o d e r aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht . . . ob man P r o b l e m oder L ö s u n g i s t . . . o b v o l l k o m men bei der Kleinheit der Aufgabe oder u n v o l l k o m men bei dem Außerordentlichen eines Ziels . . . ob man *$ a c h t oder nur S c h a u s p i e l e r , ob man als Schauspieler acht oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man „Vertreter" oder das Vertretene selbst ist — ob „Person" oder bloß ein Rendez-vous von Personen... ob k r a n k aus Krankheit oder aus ü b e r s c h ü s s i g e r 3° Gesundheit . . . ob man vorangeht als Hirt oder als „Aus-
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nähme" (dritte Species: als Entlaufener) . . . ob man W ü r d e nöthig hat — oder den „Hanswurst"? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist als „zu früh" oder als „zu spät" . . . ob man von Natur Ja sagt oder Nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (die species wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer „Pflicht" noch fähig ist? (— es giebt solche, die sich den Rest Lebenslust rauben würden, wenn sie sich „die Pflicht" r a u b e n ließen . . . sonderlich die Weiblichen, die Unterthänig-Geborenen ...)
io[i4*>] 15 (255) NB. An dieser Stelle weiterzugehn überlasse ich einer andern Art von Geistern als die meine ist. Ich bin nicht bornirt genug zu einem System — und nicht einmal zu m e i n e m System . . . io[i47] „Denknothwendigkeiten s e i e n Moralnothwendigkeiten." 20 „Der letzte Prüfstein für die Wahrheit eines Satzes ist die Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung" (Herbert Spencer) ist Unsinn. „ein g e i s t i g e s Produkt zum P r ü f s t e i n der o b j e k t i v e n Wahrheit machen; der abstrakte Ausdruck eines Glaubenssatzes zum Beweis seiner Wahrheit, zur Rechtfertigung"
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io[i48] Es giebt zart und kränklich angelegte Naturen, sogenannte Idealisten, die es nicht höher treiben können als bis zu einem Verbrechen, cru, vert: es ist die große Rechtfertigung ihres kleinen und blassen Daseins, eine Abzahlung für eine lange Feigheit
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und Verlogenheit, ein A u g e n b l i c k wenigstens von Stärke: hinterdrein gehen sie daran zu Grunde. io[i49] (früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu) io[i5o] 5
Moral als h ö c h s t e A b w e r t h u n g E n t w e d e r ist unsere Welt das Werk und der Ausdruck (der modus) Gottes: dann muß sie h ö c h s t v o l l k o m m e n sein (Schluß Leibnitzens...) — und man zweifelte nicht, was zur Vollkommenheit gehöre, zu wissen — dann kann das Böse, das Übel nur s c h e i n b a r sein ( r a d i k a l e r bei Spinoza die Begriffe Gut und Böse) o d e r muß aus dem höchsten Zweck Gottes abgeleitet sein (— etwa als Folge einer besonderen Gunsterweisung Gottes, der zwischen Gut und Böse zu wählen erlaubt: das Privilegium, kein Automat zu sein; „Freiheit" auf die Gefahr hin, sich zu vergreifen, falsch zu wählen... z. B. bei Simplicius im Commentar zu Epictet) O d e r unsere Welt ist unvollkommen, das Übel und die Schuld sind real, sind determinirt, sind absolut ihrem Wesen inhärent; dann kann sie nicht die w a h r e Welt sein: dann ist Erkenntniß eben nur der Weg, sie zu verneinen, dann ist sie eine Verirrung, welche als Verirrung erkannt werden kann. Dies die Meinung Schopenhauers auf Kantischen Voraussetzungen. Naiv! Das wäre ja eben nur ein anderes miraculum! Noch desperater Pascal: er begriff daß dann auch die Erkenntniß corrupt, gefälscht sein müsse — daß O f f e n b a r u n g noth thut, um die Welt auch nur als verneinenswerth zu begreifen . . .
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I n w i e f e r n der S c h o p e n h a u e r < s e h e ) N i h i l i s m immer noch die F o l g e des g l e i c h e n
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Ideals i s t , w e l c h e s d e n christlichen Theismus g e schaffen hat Der Grad von Sicherheit in Betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werthe, der höchsten Vollkommenheit war so groß, d a ß die Philosophen davon wie von einer a b s o l u t e n G e w i ß h e i t a priori a u s g i e n g e n : „Gott** an der Spitze als g e g e b e n e Wahrheit. „Gott gleich zu werden", „in Gott aufzugehn" — dies waren Jahrtausende lang die naivsten und überzeugendsten Wünsdibarkeiten (— aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß ü b e r z e u g e n d . Anmerkung für Esel) Man hat verlernt, jener Ansetzung von Ideal auch die P e r s o n e n - R e a l i t ä t zuzugestehn: man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? — Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche „Realität", das „Ding an sich**, im Verhältniß zu dem Alles Andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist daß, weil unsere Erscheinungswelt so ersichtlich n i c h t der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht „wahr" ist, — und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als „bösen blinden Willen": dergestalt konnte er dann „das Erscheinende" sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf — er schlich sich durch . . . (Kant schien die Hypothese der „intelligiblen Freiheit" nöthig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein d i e s e r Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen...)
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Die M o r a l - H y p o t h e s e zum Zweck der R e c h t f e r t i g u n g G o t t e s , sehr gut dargestellt im Commentar des Simplicius zu Epictet, hieß: Das Böse muß freiwillig sein (bloß damit an die F r e i w i l l i g k e i t d e s G u t e n geglaubt werden kann) und, andrerseits: in allem Übel und Leiden liegt ein Heilszweck Der Begriff Schuld als n i c h t bis auf die letzten Gründe des Daseins zurückreichend, und der Begriff Strafe als eine erzieherische Wohlthat, folglich als Akt eines g u t e n Gottes. Absolute Herrschaft der Moral-Werthung ü b e r alle andern: man zweifelte nicht daran, daß Gott nicht böse sein könne und nichts Schädliches thun könne, d. h. man dachte sich bei Vollkommenheit bloß eine moralische Vollkommenheit
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Man überlege sich die E i n b u ß e , welche alle menschlichen Institutionen machen, falls überhaupt eine göttliche und jenseitige h ö h e r e S p h ä r e angesetzt wird, welche diese Institutionen erst s a n k t i o n i r t . Indem man sich gewöhnt, den Werth dann in dieser Sanktion zu sehn (z. B. in der Ehe), hat man ihre n a t ü r l i c h e W ü r d i g k e i t z u r ü c k g e s e t z t , unter Umständen g e l e u g n e t . . . Die Natur ist in dem Maaße mißgünstig beurtheilt als man die Widernatur eines Gottes zu Ehren gebracht hat. „Na-
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tur" wurde so viel wie „verächtlich" „schlecht" . . . Das Verhängniß eines Glaubens an die R e a l i t ä t der h ö c h s t e n m o r a l i s c h e n Q u a l i t ä t e n als Gott: damit waren alle wirklichen Werthe geleugnet
3°
und grundsätzlich als U n w e r t h e gefaßt. So stieg das W i d e r n a t ü r l i c h e auf den Thron. Mit einer uner-
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Nachgelassene Fragmente
bittlichen Logik langte man bei der absoluten Forderung der V e r n e i n u n g d e r N a t u r an. (259) 5
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Die Überreste der N a t u r - E n t w e r t h u n g durch Moral-Transscendenz: Werth der E n t s e l b s t u n g , Cultus des Altruismus Glaube an eine V e r g e l t u n g innerhalb des Spiels der Folgen Glaube an die „Güte", an das „Genie" selbst, wie als ob das Eine wie das Andere F o l g e n d e r E n t s e l b s t u n g wären die Fortdauer der kirchlichen Sanktion des bürgerlichen Lebens absolutes Mißverstehen-Wollen der Historie (als Erzichungswerk zur Moralisirung) oder Pessimism im Anblick der Historie (— letzterer so gut eine Folge der Naturentwerthung wie jene P s e u d o - R e c h t f e r t i g u n g , jenes N i c h t-Sehen-Wollen dessen, was der Pessimist s i e h t . . .
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Meine Absidit, die absolute Homogeneität in allem Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen) Unterscheidung nur als p e r s p e k t i v i s c h b e d i n g t ; zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist . . . ; wie umgekehrt alles was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere und Principiellere ist und wie eine Entwicklung nach größerer Fülle des Lebens nothwendig auch den F o r t s c h r i t t d e r U n m o r a l i t ä t b e d i n g t . . . „Wahrheit" der Grad, in dem wir uns die Einsicht in d i e s e Thatsache g e s t a t t e n . . .
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Es giebt heute auch einen Musiker-Pessimismus selbst noch unter Nicht-Musikern. Wer hat ihn nicht erlebt, wer hat ihm nicht geflucht — dem unseligen Jüngling, der sein Ciavier bis zum Verzweiflungsschrei martert, der eigenhändig den Schlamm der düstersten graubraunsten Harmonien vor sich herwälzt? Damit ist man e r k a n n t , als Pessimist. — Ob man aber damit auch als musikalisch erkannt ist? Ich würde es nicht zu glauben wissen. Der Wagnerianer pur sang ist unmusikalisch; er unterliegt den Elementarkräften der Musik ungefähr wie das Weib dem Willen seines Hypnotiseurs unterliegt — und um dies zu k ö n n e n , darf er durch kein strenges und feines Gewissen in rebus musicis et musicantibus mißtrauisch gemacht sein. Ich sagte „ungefähr wie" —: aber vielleicht handelt es sich hier um mehr als ein Gleichniß. Man erwäge die Mittel zur Wirkung, deren sich Wagner mit Vorliebe bedient (— die er zu einem guten Theile sich erst hat erfinden müssen): — Wahl der Bewegungen, der Klangfarben seines Orchesters, das abscheuliche Ausweichen von der Logik und Quadratur des Rhythmus, das Schleichende, Streichende, Geheimnißvolle, der Hysterismus seiner „unendlichen Melodie" : — sie ähneln in einer befremdlichen Weise den Mitteln, mit denen der Hypnotiseur es zur Wirkung bringt. Und ist der Zustand, in welchen zum Beispiel das Lohengrin-Vorspiel den Zuhörer und noch mehr die Zuhörerin versetzt, wesentlich verschieden von der somnambulischen Ekstase? — Ich hörte eine Italiänerin nach dem Anhören des genannten Vorspiels sagen, mit jenen hübsch verzückten Augen, auf welche sich die Wagnerianerin versteht: „come si d o r m e con questa musica!" —
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Nachgelassene Fragmente
io[i56] ((26z)) Die „freie Ehe" ist ein Widersinn; die Erleichterung in der Ehescheidung ist (ein) Stück Wegs dahin: im Grunde nur als die gefährliche Folge davon, daß man beim Einrichten der Ehe den Individuen zu viel eingeräumt 5 hat (und) die Gesellschaft nunmehr ihre Verantwortlichkeit für das Zustandekommen der Ehe hat fahren lassen.
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Die Ehe: eine tüchtige, vorurtheilsfreie Zwangs-Einrichtung mit viel bon sens und ohne Sentimentalität ausgedacht, grob, viereckig, auf jene Durchschnitts-Natur(en) und natürlichen Bedürfnisse angelegt, auf welche alle Haupt-Institutionen berechnet sein sollen. Aber ich denke, es giebt keinen Grund, ihretwegen den Ehebruch mit einem abergläubischen Entsetzen zu betrachten. Im Gegentheil: man sollte dafür dankbar sein, daß es in Hinsicht auf die möglichste Dauer jener Institution ein natürliches Ventil giebt: damit sie nicht zum Platzen bringt. Eine gute Ehe verträgt überdieß eine kleine Ausnahme; es kann selbst die P r o b e für ihre Güte sein. Principiell geredet: so ist zwischen Ehebruch und Ehescheidung der Erstere Die Ehe ist das S t ü c k N a t u r , welches von der Gesellschaft mit dem höchsten Werthe ausgezeichnet wird: denn sie selbst wächst aus der von ihr gepflegten und sicher gestellten Institution. Nichts ist bei (ihr) wenig(er) am Platz, als ein absurder Idealism: schon die zum Princip gemachte „Liebesheirath" ist ein solcher Idealism. Die Verwandten s o l l e n bei ihr mehr zu sagen haben als die berühmten „zwei Herzen". Aus der Liebe macht man keine Institution: man macht sie aus dem Geschlechtstrieb und anderen Natur-Trieben, welche durch die Ehe befriedigt werden. Man sollte eben deshalb auch den Priester da vonlassen: man e n t w ü r d i g t die Natur in der Ehe, wenn man den
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geschworenen Antinaturalisten ermächtigt, etwas zum Segen der Ehe beitragen zu können — oder gar überhaupt ihn erst h i n e i n l e g e n zu können. io[i57] (263) M o r a l - C a s t r a t i s m u s . — Das C a s t r a t e n - I d e a l . 5
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1.
Das G e s e t z , die gründlich realistische Formulirung gewisser Erhaltungsbedingungen einer Gemeinde, verbietet gewisse Handlungen in einer bestimmten Richtung, namentlich insofern sie gegen die Gemeinde sich wenden: sie verbietet n i c h t die Gesinnung, aus der diese Handlungen fließen, — denn sie hat dieselben Handlungen in einer anderen Richtung nöthig — nämlich gegen die F e i n d e der Gemeinschaft. Nun tritt der Moral-Idealist auf und sagt „Gott siehet das Herz an: die Handlung selbst ist noch nichts; man muß die feindliche Gesinnung ausrotten, aus der sie fließt..." Darüber lacht man in normalen Verhältnissen; nur in jenen Ausnahmefällen, wo eine Gemeinschaft a b s o l u t außerhalb der Nöthigung lebt, Krieg für ihre Existenz zu führen, hat man überhaupt das Ohr für solche Dinge. Man läßt eine Gesinnung fahren, deren N ü t z l i c h k e i t nicht mehr abzusehn ist. Dies war z. B. beim Auftreten Buddhas der Fall, innerhalb einer sehr friedlichen und selbst geistig übermüdeten Gesellschaft. Dies war insgleichen bei der ersten Christengemeinde (auch Judengemeinde) der Fall, deren Voraussetzung die absolut u n p o l i t i s c h e jüdische Gesellschaft ist. Das Christenthum konnte nur auf dem Boden des Judenthums wachsen, d. h. innerhalb eines Volkes, das politisch schon Verzicht geleistet hatte und eine Art Parasiten-Dasein innerhalb der römischen Ordnung der Dinge lebte. Das
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Nachgelassene Fragmente
Christenthum ist um einen Schritt w e i t e r : man darf sich noch viel mehr „entmannen", — die Umstände erlauben es. NB. man treibt die N a t u r aus der Moral h e r a u s , wenn man sagt „liebet eure Feinde": denn nun ist die N a t u r „du sollst deinen Nächsten l i e b e n , deinen Feind h a s s e n " in dem Gesetz (im Instinkt) sinnlos geworden; nun muß auch die L i e b e zu dem N ä c h s t e n sich erst neu begründen (als eine Art L i e b e zu G o t t ) . Überall G o t t hinein gesteckt und die „ N ü t z l i c h k e i t " herausgezogen: überall geleugnet, w o h e r eigentlich alle Moral stammt: die N a t u r w ü r d i g u n g , welche eben in der A n e r k e n n u n g e i n e r N a t u r M o r a l liegt, in Grund und Boden v e r n i c h t e t . . . Woher kommt der V e r f ü h r u n g s r e i z eines solchen entmannten Menschheits-Ideals? Warum degoutirt es nicht, wie uns etwa die Vorstellung des Castraten degoutirt? . . . Eben hier liegt die Antwort: die Stimme des Castraten degoutirt uns auch n i c h t , trotz der grausamen Verstümmelung, welche die Bedingung ist: sie ist süßer geworden . . . Eben damit, daß der Tugend die „männlichen Glieder" ausgeschnitten sind, ist ein femininischer Stimmklang in die Tugend gebracht, den sie vorher nicht hatte. Denken wir anderseits an die furchtbare Härte, Gefahr und Unberechenbarkeit, die ein Leben der männlichen Tugenden mit sich bringt — das Leben eines Corsen heute noch oder das der heidnischen Araber (welches bis auf die Einzelheiten dem Leben der Corsen gleich ist: die Lieder könnten von Corsen gedichtet sein) — so begreift man, wie gerade die robusteste Art Mensch von diesem wollüstigen Klang der „Güte", der „Reinheit" fascinirt und erschüttert wird . . . Eine Hirten weise . . . ein Idyll . . . der „gute Mensch"; dergleichen wirkt am stärksten in Zeiten, wo der
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Gegensatz schauerlich
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Hiermit haben wir aber auch erkannt, in wiefern der „Idealist" (— Ideal-Castrat) auch aus einer ganz b e s t i m m t e n Wirklichkeit heraus geht und nicht bloß ein Phantast ist... Er ist gerade zur Erkenntniß gekommen, daß für seine Art Realität eine solche grobe Vorschrift des V e r b o t e s bestimmter Handlungen, in der groben Populär-Manier des Gesetzes, keinen Sinn hat (weil der Instinkt gerade zu diesen Handlungen g e s c h w ä c h t ist, durch langen Mangel an Übung, an Nöthigung zur Übung) Der Castratist formulirt eine Summe von neuen Erhaltungsbedingungen für Menschen einer ganz bestimmten species: darin ist er Realist. Die M i t t e l zu seiner Legislatur sind die gleichen, wie für die älteren Legislatoren: der Appell an alle Art Autorität, an „Gott", die Benutzung des Begriffs „Schuld und Strafe", d. h. er macht sich den ganzen Zubehör des älteren Ideals zu nutz: nur in einer neuen Ausdeutung, die Strafe z. B. innerlicher gemacht (etwa als Gewissensbiß) In praxi geht diese Species Mensch zu G r u n d e , sobald die Ausnahmebedingungen ihrer Existenz aufhören — eine Art Tahiti und Inselglück, wie es das Leben der kleinen Juden in der Provinz war. Ihre einzige n a t ü r l i c h e Gegnerschaft ist der Boden, aus dem sie wuchsen: gegen ihn haben sie nöthig zu kämpfen, gegen ihn müssen sie die Offensiv- und D e f e n s i v - A f f e k t e wieder wachsen lassen: ihre Gegner sind die Anhänger des alten Ideals (— diese Species Feindschaft ist großartig durch Paulus im Verhältniß zum Jüdischen vertreten, durch Luther im Verhältniß zum priesterlich-asketischen Ideal)
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Nachgelassene Fragmente
Der Buddhismus ist darum die mildmöglichste Form des Moral-Castratismus, weil er keine Gegnerschaft hat und er insofern seine ganze Kraft (auf die) Ausrottung der feindseligen Gefühle richten darf. Der Kampf gegen das ressentiment erscheint fast als erste Aufgabe des Buddhisten: erst damit ist der F r i e d e n der Seele verbürgt. Sich loslösen, aber ohne Rancune: das setzt allerdings eine erstaunlich gemilderte und süß gewordene Menschlichkeit voraus — Heilige . . .
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3°
3. Die K l u g h e i t des M o r a l - C a s t r a t i s m u s . Wie führt man Krieg gegen die männlichen Affekte und Werthungen? Man hat keine physischen Gewaltmittel, man kann nur einen Krieg der List, der Verzauberung, der Lüge, kurz „des Geistes" führen. Erstes Recept: man nimmt die Tugend überhaupt für sein Ideal in Anspruch, man n e g i r t das ältere Ideal bis zum G e g e n s a t z z u a l l e m I d e a l . Dazu gehört eine Kunst der Verleumdung. Zweites Recept: man setzt seinen Typus als W e r t h m a ß überhaupt an; man projicirt ihn in die Dinge, hinter die Dinge, hinter das Geschick der Dinge — als Gott Drittes Recept: man setzt die Gegner seines Ideals als Gegner Gottes an, man erfindet sich das R e c h t zum großen Pathos, zur Macht, zu fluchen und zu segnen, — Viertes Recept: man leitet alles Leiden, alles Unheimliche, Furchtbare und VerhängnißvoUe des Daseins aus der Gegnerschaft gegen s e i n Ideal ab: — alles Leiden folgt als S t r a f e : und selbst bei den Anhängern (— es sei denn, daß es eine P r ü f u n g ist usw.) Fünftes Recept: man geht so weit, die Natur als Gegensatz zum eignen Ideal zu entgöttern: man betrachtet
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es als eine große Geduldsprobe, als eine Art Martyrium, so lange im Natürlichen auszuhalten, man übt sich auf den dedain der Mienen und Manieren in Hinsicht auf alle „natürlichen Dinge" ein Sechstes Recept: der Sieg der Widernatur, des idealen Castratismus, der Sieg der Welt des Reinen, Guten, Sündlosen, Seligen wird projicirt in die Zukunft, als Ende, Finale, große Hoffnung, als „Kommen des Reichs Gottes"
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— Ich hoffe, man kann über diese Emporschraubung einer kleinen Species zum absoluten Werthmaß der Dinge noch l a c h e n ? . . .
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„Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes": darauf läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als „wahr a priori" ansetzen: — daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, „das denkt", ist aber einfach eine Formulirung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht — und n i c h t nur c o n s t a t i r t . . . Auf dem Wege des Cartesius kommt man n i c h t zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens Reduzirt man den Satz auf „es wird gedacht, folglich giebt es Gedanken" so hat man eine bloße Tautologie: und gerade das, was in Frage steht die „ R e a l i t ä t des Gedankens" ist nicht berührt, — nämlich in dieser Form ist die „Scheinbarkeit" des Gedankens nicht abzuweisen. Was aber Cartesius w o l l t e , ist, daß der Gedanke nicht nur eine s c h e i n b a r e R e a l i t ä t hat, sondern an s i c h .
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Nachgelassene Fragmente
iofijj] (265) Die Zunahme der „Verstellung" gemäß der aufwärtssteigenden R a n g o r d n u n g der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen, in der organischen beginnt die List: die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die 5 höchsten Menschen wie Caesar, Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiäner), die Griechen (Odysseus); die Verschlagenheit gehört ins W e sen der Erhöhung des Menschen... Problem des Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal . . . Die Optik aller orga10 nischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die irrthum w o l l e n d e Kraft in allem Leben; der Irrthum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor „gedacht" wird, muß schon „gedichtet" worden sein; das Z u r e c h t b i l d e n zu identischen Fällen, zur S c h e i n b a r k e i t 15 des Gleichen ist ursprünglicher als das E r k e n n e n des Gleichen. IO[I6O]
Schreckgespenster, moralische Gurgeltöne, tragische Farce IO[I6I]
Wahrheiten, n a c h d e n e n s i c h t a n z e n Wahrheiten für u n s e re Füße...
läßt, —
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Hier sind Wetterwolken: aber ist das ein Grund, daß wir freien luftigen lustigen Geister nicht uns einen guten Tag machen sollten? IO[I63]
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NB. — sie sind den christlichen Gott los — und glauben nun um so mehr das christliche Moral-Ideal festhalten
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zu müssen? Das ist eine englische Folgerichtigkeit; das wollen wir den Moralweiblein a la Eliot überlassen (— in England muß man sich für jede kleine Emancipation von der Theologie auf eine furchtbare Weise als M o r a l - F a n a t i k e r wieder zu Ehren bringen...) Das ist dort die Buße, die man z a h l t . . . Wenn man den christlichen Glauben aufgiebt, zieht man sich das Recht zu den moralischen Werthurtheilen des Christenthums unter den Füßen weg. Diese verstehen sich schlechterdings nicht von selbst: das muß man heute der abgeschmackten Flachheit der englischen Freigeister zum Trotz ans Licht stellen. Das Christenthum ist eine wohl zusammengedachte und g a n z e Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm den Glauben an den christlichen Gott heraus, so bricht man das ganze System seiner Werthungen zusammen: man hat nichts Festes mehr zwischen den Fingern! Das Christenthum setzt voraus, daß der Mensch n i c h t wisse, nicht wissen k ö n n e , was gut und böse für ihn ist: er glaubt an Gott, der allein es weiß; die christliehe Moral ist ein Befehl aus dem Jenseits, und als solche j e n s e i t s der menschlichen Beurtheilung. — Daß die Engländer jetzt glauben, von sich aus zu wissen, was gut und böse ist und folglich das Christenthum nicht mehr nöthig zu haben, das ist selbst die F o l g e der Herrschaft der christlichen Werthurtheile — bis zum Vergessen ihres Ursprungs, ihres höchst b e d i n g t e n Rechts auf Dasein.
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NB. Es giebt ganz naive Völker und Menschen, weldie glauben, ein beständig g u t e s W e t t e r sei etwas Wünschbares: sie glauben noch heute in rebus moralibus, der „gute Mensch" allein und nichts als der „gute Mensch" sei etwas Wünschbares — und eben dahin gehe der Gang der menschlichen Entwicklung, daß nur er übrig bleibe
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Nachgelassene Fragmente
(und allein dahin m ü s s e man alle Absicht richten —) Das ist im höchsten Grade u n ö k o n o m i s c h gedacht und, wie gesagt, der Gipfel des Naiven. Man ist an die A n n e h m l i c h k e i t , die der „gute Mensch" macht (— er erweckt keine Furcht, er erlaubt die Ausspannung, er giebt, was man nehmen kann; IO[I65]
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{(268)) Was v e r d o r b e n ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat: i)die A s k e s e : man hat kaum noch den Muth dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste der W i l l e n s - E r z i e h u n g ans Licht zu ziehen. Unsre absurde Erzieher-Welt (der der „brauchbare Staatsdiener" als regulirendes Schema vorschwebt) glaubt mit „Unterricht", mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas Anderes z u e r s t noth thut — Erziehung der W i l l e n s k r a f t ; man legt Prüfungen für Alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob man w o l l e n kann, ob man v e r s p r e c h e n darf: der junge Mann wird f e r t i g , ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für dieses oberste Werthproblem seiner Natur zu haben 2) das F a s t e n : in jedem Sinne, auch als Mittel, die feine Genußfähigkeit aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z. B. zeitweilig) nicht lesen; keine Musik mehr hören; nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage für seine Tugend haben) 3) das „Kloster", die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z. B. der Briefe; eine Art tiefster Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den „Versuchungen" aus dem Wege gehen will, sondern den „Pflichten": ein Heraustreten aus dem Cirkeltanz des milieu, ein Heraustreten aus der Tyrannei verderblicher
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kleiner Gewohnheiten und Regeln; ein Kampf gegen die Vergeudung unserer Kräfte in bloßen Reaktionen; ein Versuch, unserer Kraft Zeit zu geben, sich zu häufen, wieder s p o n t a n zu werden. Man sehe sich unsere Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch r e a k t i v d. h. sie müssen erst lesen, um zu denken 4) die F e s t e. Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen und christlichen Werthen als einen D r u c k zu empfinden unter dem jede eigentliche Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Ubermuth, Ausgelassenheit; die Narrheit; der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit — lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich Ja sagen darf. D a s F e s t i s t H e i d e n t h u m par excellence.
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5) die M u t h l o s i g k e i t v o r d e r e i g n e n Natur: d i e K o s t ü m i r u n g ins „Moralische" — daß man keine M o r a l - F o r m e l nöthig hat, um einen Affekt bei sich g u t z u h e i ß e n Maßstab, wie weit Einer zur N a t u r bei sich Jasagen kann, — wie viel oder wie wenig er zur Moral rekurriren muß...
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6) der T o d IO[I66]
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P r o b e n m o r a l i s t i s c h e r Verleumdungs-Kunst. Die Moral war bisher die größte Verleumderin und Giftmischerin des Lebens Man überlege, bis zu welchem Grade man durch sie verdorben sein muß, um folgenden Satz zu schreiben:
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»Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was wir verdienen; denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten." Schopenhauer 11,666
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Nachgelassene Fragmente
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Aesthetica. Zur Entstehung des S c h ö n e n und des H ä ß l i c h e n . Was uns instinktiv w i d e r s t e h t , aesthetisch, ist aus aller/längster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende aesthetische Instinkt (im Ekel z.B.) enthält ein U r t h e i l . Insofern steht das S c h ö n e innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werthe des Nützlichen, Wohlthätigen, Lebensteigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von Ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (— nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindung<en) solcher Dinge oder ihre Symbole) Hiermit ist das Schöne und Häßliche als b e d i n g t erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsere untersten E r h a l t u n g s w e r t h e . Davon abgesehn ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen ist sinnlos. D a s Schöne existirt so wenig als d a s Gute, d a s Wahre. Im Einzelnen handelt es sich wieder um die E r h a l t u n g s b e d i n g u n g ( e n ) einer bestimmten A r t von Mensch: so wird der H e e r d e n m e n s c h bei anderen Dingen das W e r t h g e f ü h l d e s S c h ö n e n haben als der A u s n a h m e - und Über-mensch. Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die n ä c h s t e n F o l g e n in Betracht zieht, aus der der Werth des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt Alle Instinkt-Urtheile sind k u r z s i c h t i g in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie rathen an, was z u n ä c h s t zu thun ist. Der Verstand ist wesentlich ein H e m m u n g s a p p a r a t gegen das Sofort-Reagiren auf das Instinkt-Urtheil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger.
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Die S c h ö n h e i t s - und H ä s s l i c h k e i t s - U r t h e i l e sind k u r z s i c h t i g — sie haben immer den Verstand g e g e n sich —: aber im h ö c h s t e n G r a d e ü b e r r e d e n d ; sie appelliren an unsere Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, b e v o r noch der Verstand zu Worte k o m m t . . . Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen s i c h g e g e n s e i t i g a u f u n d a n ; wenn der aesthetische Trieb einmal in Arbeit ist, krystallisirt sich um „das einzelne Schöne" noch eine ganze Fülle anderer und anderswoher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, o b j e k t i v zu bleiben resp. die interpretirende, hinzugebende, ausfüllende dichtende Kraft auszuhängen (— letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber) Der Anblick eines „schönen Weibes" . . . Also: 1) das Schönheits-Urtheil ist k u r z s i c h t i g, es sieht nur die nächsten Folgen 2) es ü b e r h ä u f t den Gegenstand, der es erregt, mit einem Z a u b e r , der durch die Association verschiedener Schönheits-Urtheile bedingt ist, — der aber dem W e s e n j e n e s G e g e n s t a n d e s g a n z f r e m d ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es nothwendig falsch empfinden . . . (— weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirath die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirathist—)
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Aesthetica. Es ist die Frage der K r a f t (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo Urtheil „schön" angesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der a u f g e s t a u t e n K r a f t (aus dem es erlaubt ist Vieles muthig und wohlgemuth entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling s c h a u d e r t ) — das M a c h t g e f ü h l spricht das Urtheil „schön" noch
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über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als h a s s e n s w e r t h als „häßlich" abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung, — diese Witterung bestimmt auch noch unser aesthetisches J a : („das ist schön" ist eine B e j a h u n g ) Daraus ergiebt sich, in's Große gerechnet, daß die Vorliebe für f r a g w ü r d i g e und f u r c h t b a r e D i n g e ein Symptom für S t ä r k e ist: während der Geschmack am H ü b s c h e n u n d Z i e r l i c h e n den Schwachen, den Delikaten zugehört. Die L u s t an der Tragödie kennzeichnet s t a r k e Zeitalter und Charaktere: ihr non plus ultra ist vielleicht die div com(media). Es sind die heroischen Geister, welche zu sich selbst in der tragischen Grausamkeit Ja sagen: sie sind hart genug, um das Leiden als L u s t zu empfinden . . . Gesetzt dagegen, daß die S c h w a c h e n von einer Kunst Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was werden sie thun, um die Tragödie sich schmackhaft zu machen? Sie werden i h r e e i g e n e n W e r t h g e f ü h l e in sie hinein interpretiren: z. B. den „Triumph der sittlichen Weltordnung" oder die Lehre vom „Unwerth des Daseins" oder die Aufforderung zur Resignation (— oder auch halb medizinische, halb moralische AffektAusladungen a la Aristoteles) Endlich: die K u n s t d e s F u r c h t b a r e n , insofern sie die Nerven aufregt, kann als Stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in Schätzung kommen: das ist heute z. B. der Grund für die S c h ä t z u n g der W(agnerschen) Kunst. Es ist ein Zeichen von W o h l - und M a c h t g e f ü h l , wie viel Einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und o b er überhaupt „Lösungen" am Schluß braucht, —
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— diese Art K ü n s t l e r - P e s s i m i s m u s ist genau das G e g e n s t ü c k z u m m o r a l i s c h - r e l i g i ö s e n P e s s i m i s m u s , welcher an der „Verderbniß" des Menschen, am Räthsel des Daseins leidet. Dies will durchaus eine Lösung, wenigstens eine Hoffnung auf Lösung... Die Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen, die Kranken mit Einem Wort, haben zu allen Zeiten die entzückenden V i s i o n e n nöthig gehabt, um es auszuhalten (der Begriff „Seligkeit" ist dieses Ursprungs) — Ein verwandter Fall: die Künstler der decadence, welche im Grunde n i h i l i s t i s c h zum Leben stehn, f l ü c h t e n in die S c h ö n h e i t d e r F o r m . . . in die a u s g e w ä h l t e n Dinge wo die Natur vollkommen ward, wo sie indifferent g r o ß und s c h ö n i s t . . . — die „Liebe zum Schönen" kann somit etwas Anderes als das V e r m ö g e n sein, ein Schönes zu s e h n , d a s Schöne zu s c h a f f e n : sie kann gerade der Ausdruck von U n v e r m ö g e n dazu sein. — die überwältigenden Künstler, welche einen C o n s o n a n z - T o n aus jedem Conflikte erklingen lassen, sind die, welche ihre eigene Mächtigkeit und Selbsterlösung noch den Dingen zu Gute kommen lassen: sie sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes aus, — ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr Sein. Die T i e f e d e s t r a g i s c h e n K ü n s t l e r s liegt darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ö k o n o m i e i m G r o ß e n bejaht, welche das F u r c h t b a r e , B ö s e , F r a g w ü r d i g e rechtfertigt und nicht nur . . . rechtfertigt.
iofiö^] Es giebt eine g r o ß e L i t t e r a t u r der V e r l e u m d u n g (zu der das neue Testament gehört; die Kirchenväter;
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Nachgelassene Fragmente
die imitatio; Pascal; Schopenhauer), der auch eine Kunst der Verleumdung sekundirt (zu letzterer gehört z. B. Wagners Parsif al) io[i7o] (272) NB V e r s t e c k t e r e 5
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Formen
des
Cultus
des
christlichen Moral-Ideals. — Der w e i c h l i c h e und f e i g e B e g r i f f „Natur", der von den Naturschwärmern aufgebracht ist (— abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Cynische auch der „schönsten" Aspekte) eine Art Versuch, jene moralischchristliche „Menschlichkeit" aus der N a t u r h e r a u s z u l e s e n , — der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob „ N a t u r " Freiheit, Güte Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit I d y l l s e i . . . immer C u l t u s d e r c h r i s t l i c h e n M o r a l im Grunde . . . — Stellen zu sammeln, w a s eigentlich die Dichter verehrt haben z. B. am Hochgebirge usw. — Was Goethe an ihr haben wollte, — warum er Spinoza verehrte — Vollkommene U n w i s s e n h e i t der Voraussetzung dieses Cultus... — der w e i c h l i c h e und f e i g e B e g r i f f „Mensch" a la Comte und nach Stuart Mill womöglich gar CultusG e g e n s t a n d . . . Es ist immer wieder der Cultus der christlichen Moral unter einem neuen N a m e n . . . die Freidenker z. B. Guyau — der w e i c h l i c h e und f e i g e B e g r i f f „Kunst" als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechtweggekommene (selbst die H i s t o r i e z . B . Thierry's): es ist immer wieder der Cultus des christlichen Moral-Ideals — und nun gar das ganze socialistische I d e a l : nichts als ein tölpelhaftes Mißverständniß jenes christlichen Moral-Ideals
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iofi/i] Daß die Zahl der I r r t h ü m e r abgenommen hat: Naivetät des Glaubens bei den Freigeistern der Fortschritt als f ü h l b a r e Verbesserung des Lebens als T r i u m p h d e r L o g i k 5 als Triumph der L i e b e (Guyau) Fouiltee zur vollkommenen Kenntniß von sich und den Dingen, und von da zu einer größeren C o n s e q u e n z des Gedankens m i t s i c h ich finde absol Monarchie, göttliches) Recht, Kaste, io Sklaverei als d i c k e I r r t h ü m e r behandelt I0[l72] B ü c h e r : imitatio, christliche Moral I
o[i73] Schopenhauer sagt von den Verfassern der Upanischad „kaum als Menschen denkbar" IO[I74]
Die Begierde v e r g r ö ß e r t das, was man haben will; sie 15 wächst selbst durch Nichterfüllung, — die g r ö ß t e n I d e e n sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen i m m e r m e h r W e r t h b e i , je mehr unsere Begierde nach ihnen wächst: wenn die „moralischen Werthe* die höchsten Werthe geworden sind, so verräth dies, 20 daß das m o r a l i s c h e Ideal das unerfüllteste gewesen ist. Insofern es g a l t als J e n s e i t s a l l e s L e i d s , als Mittel der Seligkeit. Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst eine W o l k e umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen „Gott" genannt... 1
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io[i75l Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem R e c h t auf
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Nachgelassene Fragmente
„Philosophie". Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selber zu erhalten. IO[I/6]
(273) $
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Es ist heute in der Gesellschaft eine große Menge von Rücksicht, von Takt und Schonung, von gutwilligem Stehenbleiben vor fremden Rechten, selbst vor fremden Ansprüchen verbreitet; mehr noch gilt ein gewisser wohlwollender Instinkt des menschlichen Werthes überhaupt, welcher sich im Vertrauen und Credit jeder Art zu erkennen giebt; die A c h t u n g vor den Menschen und zwar ganz und gar nicht bloß vor den tugendhaften Menschen — ist vielleicht das Element, welches uns am stärksten von einer christlichen Werthung abtrennt. Wir haben ein gut Theil Ironie, wenn wir überhaupt noch Moral predigen hören; man erniedrigt sich in unsern Augen und wird scherzhaft, falls man Moral predigt. Diese m o r a l i s t i s c h e L i b e r a l i t ä t gehört zu den besten Zeichen unserer Zeit. Finden wir Fälle, wo sie entschieden fehlt, so muthet uns das wie Krankheit an (der Fall Carlyle in England, der Fall Ibsen in Norwegen, der Fall des Seh (openhauer) sehen Pessimismus in ganz Europa) Wenn irgend etwas mit unserer Zeit versöhnt, so ist es das große Quantum I m m o r a l i t ä t welches sie sich gestattet, ohne darum von sich geringer zu denken. Im Gegentheil! — Was macht denn die Überlegenheit der Cultur gegen die Unkultur aus? Der Renaissance z. B. gegen das Mittelalter? — Immer nur Eins: das große Quantum z u g e s t a n d e n e r Immoralität. Daraus folgt, mit N o t wendigkeit, als was alle H ö h e n der menschlichen Entwicklung sich dem Auge der Moral-Fanatiker darstellen müssen: als non plus ultra der Corruption (— man denke an Piatos Urtheil über das Perikleische Athen, an Savo-
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narolas Urtheil über Florenz, an Luthers Urtheil über Rom, an Rousseaus Urtheil über die Gesellschaft Voltaires, an das deutsche Urtheil c o n t r a Goethe.) ^[177] (274) 5
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Man muß zusammenrechnen, w a s Alles sich gehäuft hatte, als Folge der h ö c h s t e n m o r a l i s c h e n I d e a l i t ä t : wie sich fast alle s o n s t i g e n W e r t h e um das Ideal krystallisirt hatten das beweist, daß es am l ä n g s t e n , am s t ä r k s t e n b e g e h r t worden ist, — daß es nicht erreicht worden ist: sonst würde es e n t t ä u s c h t haben (resp. eine mäßigere Werthung nach sich gezogen haben) die höchste Ehre und Macht bei Menschen: selbst von Seiten der Mächtigsten. die einzige ächte Art des Glücks ein Vorrecht zu Gott, zur Unsterblichkeit, unter Umständen zur unio die Macht über die Natur — der „Wunderthäter" (Parsifal) Macht über Gott, über Seligkeit und Verdammniß der Seele usw. der H e i l i g e als die mächtigste Species Mensch —: d i e s e Idee hat den Werth der moralischen Vollkommenheit so hoch gehoben. Man muß die gesammte Erkenntniß sich bemüht denken, zu beweisen, daß der m o r a l i s c h s t e Mensch der m ä c h t i g s t e , g ö t t l i c h s t e ist — die Überwältigung der Sinne, der Begierden — alles erregte F u r c h t . . . das Widernatürliche erschien als das Ü b e r n a t ü r l i c h e , J e n s e i t i g e . . .
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Nachgelassene Fragmente
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(275) „ d a s c h r i s t l i c h e l d e a I": jüdisch klug in Scene gesetzt. die p s y c h o l o g i s c h e n G r u n d t r i e b e , seine „Natur": : der Aufstand gegen die herrschende geistliche Macht 5 : Versuch,die Tugenden,unter denen das G l ü c k der N i e d r i g s t e n möglich ist, zum richterlichen Ideal aller Werthe zu machen, — es G o t t zu heißen: der Erhaltungs-Instinkt der lebensärmsten Schichten : die absolute E n t h a l t u n g von Krieg und Wider10 stand aus dem Ideal zu rechtfertigen, — insgleichen den Gehorsam : die Liebe unter einander, als Folge der Liebe zu Gott K u n s t g r i f f : alle natürlichen m o b i l i a a b l e u g n e n und umkehren ins Geistlich-Jenseitige die 15 T u g e n d und deren V e r e h r u n g ganz und gar für sich ausnützen, schrittweise sie allem Nicht-Christlichen absprechen. io[i79] (276) T y p u s der P r e d i g t des r e s s e n t i m e n t P r o b e n der h e i l i g e n U n v e r s c h ä m t h e i t . io P a u l u s 1 Cor. 1,20 Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Thorheit gemacht? 21 Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch 25 thörichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben. 26 Nicht viel Weise nach dem Fleische, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. 27 Sondern was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die Weisen zu Schanden mache; und was 3° schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er zu Schanden mache, was stark ist;
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28 Und das Unedle vor der Welt, und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da Nichts ist, daß er zu Nichte mache, was Etwas ist; 29 Auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme. Paulus 1 Cor. 3,16 Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? 17 So Jemand den Tempel Gottes verderbet, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr. 1 Cor. 6,2 Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? So denn nun die Welt soll von euch gerichtet werden: seid ihr denn nicht gut genug, geringere Sachen zu richten? Wisset ihr nicht, daß wir über die Engel richten werden? Wie viel mehr über die zeitlichen Güter! * # *
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Die Menschheit hat die S e l b s t v e r g ö t t e r u n g d i e s e r k l e i n e n L e u t e theuer bezahlen müssen: es ist das Judenthum n o c h e i n m a l „das auserwählte Volk"; die Welt, die Sünde g e g e n sich; der heilige Gott als „fixe Idee"; die Sünde als einzige Causalität des Leidens; alles N i c h t - S ü n d i g e nur Schein-Leiden. Gegen die Sünde ein allzeit bereites und leichtes Mittel...
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3°
Ob nicht ganz dieselbe frech-fromme InterpretationsManier der G e s c h i c h t e (d. h. absolute Fälschung, um die Gültigkeit des Priester-codex zu beweisen) auch für die jüdisch-christlichen Interpreten und Erzähler der G e s c h i c h t e J e s u gilt? — von Paulus z u r e c h t g e m a c h t a) Tod für unsere Sünden b) Sinn der Auferstehung
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Nachgelassene Fragmente
I0[l8l] (278) Die Realität, auf der das Christen thum sich aufbauen konnte, war die kleine j ü d i s c h e F a m i l i e der Diaspora, mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römischen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen für einander, mit ihrem verborgenen und in Demuth verkleideten Stolz der „Auserwählten", mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid, zu allem, was obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. D a s a l s M a c h t e r k a n n t z u h a b e n , diesen s e e i n s e h e n ) Zustand als mittheilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben — ist das G e n i e des Paulus: den Schatz von latenter Energie, von klugem Glück auszunützen zu einer „jüdischen Kirche freieren Bekenntnisses", die ganze jüdische Erfahrung und Meisterschaft der G e m e i n d e S e l b s t e r h a l t u n g unter der Fremdherrschaft, auch die jüdische Propaganda — das errieth er als seine Aufgabe. Was er vorfand, das war eben jene absolut unpolitische und abseits gestellte Art k l e i n e r L e u t e : ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von Tugend ausdrückten („Mittel der Erhaltung und Steigerung einer bestimmten Art Mensch") Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Princip der L i e b e her: es ist eine l e i d e n s c h a f t l i c h e r e Seele, die hier unter der Asche von Demuth und Armseligkeit glüht: so war es weder griechisch noch indisch noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe, welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches, sondem ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist. Wenn das Christenthum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht gethan hat, so ist es eine E r h ö h u n g d e r T e m p e r a t u r d e r S e e l e bei jenen
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kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine Temperatur-Erhöhung . . . Es versteht sich, daß eine solche Übertragung n i c h t stattfinden konnte in Hinsicht auf die herrschenden Stände: die Juden und Christen hatten die schlechten Manieren gegen sich, — und was Stärke und Leidenschaft der Seele bei schlechten Manieren ist, das wirkt abstoßend und beinahe Ekel erregend. (— Ich s e h e diese schlechten Manieren, wenn ich das neue Testament lese) Man mußte durch Niedrigkeit und Noth mit dem hier redenden Typus des niederen Volks verwandt sein, um das Anziehende zu empfinden... Es ist eine Probe davon, ob man etwas k l a s s i s c h e n G e s c h m a c k im Leibe hat, wie man zum neuen Testament steht (vergl. Tacitus): wer davon nicht revoltirt ist, wer dabei nicht ehrlich und gründlidi etwas von f o e d a superstitio empfindet, etwas, wovon man die Hand zurückzieht, wie um nicht sich zu beschmutzen: der weiß nicht, was klassisch ist. Man muß das „Kreuz" empfinden wie Goethe —
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„Das H e i l k o m m t v o n d e n J u d e n " — hat der Stifter des Christenthums gesagt (Ev. Joh. 4,22) Und man hat es ihm g e g l a u b t ! ! ! IO[I83] 2
* ( 2 79)
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Wenn man sich den ersten Eindruck des neuen Testaments eingesteht: etwas Ekelhaftes und Widriges vom schlechten Geschmack, eine Mucker-Sentimentalität, lauter widrige Symbole im Vordergrunde; und die verdorbene Luft des Winkels und des Conventikels: — man sympathisirt n i c h t . Pilatus, Pharisäer —
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I0[l84] (280) Daß es nicht darauf ankommt, o b e t w a s w a h r i s t , sondern wie es w i r k t — absoluter M a n g e l a n i n t e 11 ekt R e c h t s c h a f f e n h e i t . Alles ist gut, die Lüge, die Verleumdung, die unverschämteste Zurechtmachung, wenn es dient, jenen Wärmegrad zu erhöhen, — bis man „glaubt" — Eine förmliche Schule der M i t t e l d e r V e r f ü h r u n g zu einem Glauben: principielle V e r a c h t u n g der Sphären, woher der Widerspruch kommen könnte (— der Vernunft, der Philosophie und Weisheit, des Mißtrauens, der Vorsicht); ein unverschämtes Loben und Verherrlichen der Lehre unter beständiger Berufung (darauf), daß Gott es sei, der sie gebe — daß der Apostel nichts bedeute, — daß hier nichts zu kritisiren sei, sondern nur zu glauben, anzunehmen; daß es die außerordentlichste Gnade und Gunst sei, eine solche Erlösungslehre zu empfangen; daß die tiefste Dankbarkeit und Demuth der Zustand sei, in dem man sie zu empfangen h a b e . . . Es wird beständig spekulirt auf die ressentiments, welche diese Niedrig-Gestellten gegen Alles, was in Ehren ist, empfinden: daß man ihnen diese Lehre als GegensatzLehre gegen die Weisheit der Welt, gegen die Macht der Welt darstellt, das verführt zu ihr. Sie überredet die Ausgestoßenen und Schlechtweggekommenen aller Art, sie verspricht die Seligkeit, den Vorzug, das Privilegium den Unscheinbarsten und Demüthigsten; sie fanatisirt die armen kleinen thörichten Köpfe zu einem unsinnigen Dünkel, wie als ob sie der Sinn und das Salz der Erde wären — Das Alles, nochmals gesagt, kann man nicht tief genug verachten: wir ersparen uns die K r i t i k d e r L e h r e ; es genügt die Mittel anzusehn, deren sie sich bedient, um zu wissen, womit man es zu thun hat. In der ganzen Geschichte des Geistes giebt es keine frechere und barere
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Lüge, keine durchdachtere Nichtswürdigkeit als das Christen thum — Aber — sie akkordirte mit der T u g e n d , sie nahm die ganze F a s c i n a t i o n s - K r a f t d e r T u g e n d schamlos für sich allein in Anspruch . . . sie akkordirte mit der Macht des Paradoxen, mit dem Bedürfniß alter Civilisationen nach Pfeffer und Widersinn; sie verblüffte, sie empörte, sie reizte auf zu Verfolgung und zu Mißhandlung, — Es ist genau dieselbe Art durchdachter N i c h t s w ü r d i g k e i t , mit der die jüdische Priesterschaft ihre Macht festgestellt (hat) und die jüdische Kirche geschaffen worden i s t . . . Man soll unterscheiden: i ) jene Wärme der Leidenschaft „Liebe" (auf dem Untergrund einer hitzigen Sinnlichkeit ruhend) 2) das absolut U n v o r n e h m e des Christenthums — die beständige Übertreibung, die Geschwätzigkeit — den Mangel an kühler Geistigkeit und Ironie (— es kommt kein schlechter Witz vor und damit nicht einmal ein guter) — das Unmilitärische in allen Instinkten — das priesterliche Vorurtheil gegen den männlichen Stolz, die Sinnlichkeit, die Wissenschaften und die Künste.
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Es fehlt absolut alles Geistige in diesem Buch: „Geist" selbst kommt nur als Mißverständniß (vor). Sehr wesentlich dieser Gegensatz: „Geist und Fleisch". Hier ist „Geist" in einem priesterlichen Sinn ausgedeutet der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch ist kein nütze — Ev. Joh. 6,63
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Auch die C h r i s t e n haben es gemacht, wie die Juden und das, was sie als Existenzbedingung und Neuerung empfanden,
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Nachgelassene Fragmente
ihrem Meister in den Mund gelegt und sein Leben darum inkrustirt. Insgleichen haben sie die ganze Spruchweisheit ihm zurückgegeben —: kurz, ihr tatsächliches Leben und Treiben als einen G e h o r s a m dargestellt und dadurch für ihre Propa5 ganda geheiligt. Woran Alles hängt, das ergiebt sich bei Paulus: es ist w e il i g. Das Andere ist die Ausgestaltung eines Typus von Heiligem, aus dem was ihnen als heilig galt. Die ganze „Wunderlehre", eingerechnet die Auferstehung, ist io eine Consequenz der Selbst Verherrlichung der Gemeinde, weldie das, was sie sich selber zutraute, in höherem Grade ihrem Meister zutraute (resp. a u s ihm ihre Kraft ableitete . . . ) Io[l8 ]
7 .
Die tiefe Gemeinheit solcher Worte: „um der Hurerei willen habe ein Jeglicher sein eigenes Weib und eine Jegliche habe ihren iS eigenen Mann: es ist besser freien, denn Brunst leiden." i Cor. 7,2 IO[I88]
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Wie auch die „Herren" Christen werden können.— Es liegt in dem Instinkt einer G e m e i n s c h a f t (Stamm, Geschlecht, Heerde, Gemeinde), die Zustände und Begehrungen, denen sie ihre Erhaltung verdankt, als a n s i c h w e r t h v o l l zu empfinden, z . B . Gehorsam, Gegenseitigkeit, Rücksicht, Mäßigkeit, Mitleid, — somit Alles, was denselben im Wege steht oder widerspricht, herabzudrücken. Es liegt insgleichen in dem Instinkt der H e r r s c h e n d e n (seien es Einzelne, seien es Stände), die Tugenden, auf welche hin die Unterworfenen h a n d l i c h und e r g e b e n sind, zu patronisiren und auszuzeichnen (— Zustände und Affekte, die den eigenen so fremd wie möglich sein können)
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Der H e e r d e n i n s t i n k t und der I n s t i n k t der H e r r s c h e n d e n kommen im Loben einer gewissen Anzahl von Eigenschaften und Zuständen ü b e r e i n : aber aus verschiedenen Gründen, der erstere aus unmittelbarem Egoism, der zweite aus mittelbarem E. D i e U n t e r w e r f u n g der H e r r e n - R a s s e n unter das Christenthum ist wesentlich die Folge der Einsicht, daß das Christenthum eine H e e r d e n r e l i g i o n ist, daß es G e h o r s a m lehrt: kurz daß man Christen leichter beherrscht als Nichtchristen. Mit diesem Wink empfiehlt noch heute der Papst dem Kaiser von China die christliche Propaganda Es kommt hinzu, daß die Verführungskraft des christ* liehen Ideals am stärksten vielleicht auf solche Naturen wirkt, welche die Gefahr, das Abenteuer und das Gegensätzliche lieben, welche alles lieben, w o b e i s i e s i c h r i s k i r e n, wobei aber ein non plus ultra von M a c h t gefühl erreicht werden kann. Man denke sich die heilige Theresa, inmitten der heroischen Instinkte ihrer Brüder: — das Christenthum erscheint da als eine Form der Willens-Ausschweifung, der Willensstärke, als eine Don Quixoterie des Heroismus...
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P a u l u s : ein zügelloser und selbst wahnsinniger Ehrgeiz eines Agitators; mit einer raffinirten Klugheit, welche sich nie eingesteht, was er eigentlich will und die Selbstverlogenheit mit Instinkt handhabt, als Mittel der Fascination. Sich demüthigend und unter der Hand das verführerische Gift des Auserwähltseins eingebend...
io[i9o] (284) Im Buddhism überwiegt dieser Gedanke: „Alle Be3° gierden, alles, was Affekt, was Blut macht, zieht zu Hand-
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Nachgelassene Fragmente
lungen fort", — nur in sofern wird g e w a r n t vor dem Bösen. Denn Handeln — das hat keinen Sinn, Handeln hält im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint. Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein und d e s h a l b perhorresciren sie a l l e Antriebe seitens der Affekte. Z. B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind sein ! — der Hedonism der Müden giebt hier die höchsten Werthmaaße ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatism eines Paulus: nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme, Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche das Christenthum unter dem Namen der „Liebe" geheiligt hat. Zu alledem sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im B(uddhismus) ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen Jahrhunderte langen Philosophen-Kampf abgesotten und müde gemacht, nicht aber u n t e r h a l b a l l e r C u l t u r , wie die Schichten, aus denen das Christenthum entsteht... Im Ideal des Buddhismus) erscheint das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinirte Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt (unter) der Voraussetzung, daß man
auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nöthig hat, bloß als Mittel, — nämlich um von allem Handeln loszukommen. io[i9i] (285) Ich betrachte das Christenthum als die verhängnißvollste Lüge der Verführung, die es bisher gegeben hat, als
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die große u t i h e i l i g e L ü g e : ich ziehe seinen Nachwuchs und Ausschlag von Ideal noch unter allen sonstigen Verkleidungen heraus, ich wehre alle Halb- und Drei-
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viertel-Stellungen zu ihm ab, — ich zwinge zum Krieg mit ihm. die K l e i n e - L e u t e - M o r a l i t ä t als Maß der Dinge: das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Cultur bisher aufzuweisen hat. Und d i e s e A r t I d e a l als „Gott" hängen bleibend über der Menschheit!! I0[l92] (286)
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Zum Plane. Der r a d i k a l e N i h i l i s m u s ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, (handelt), hinzugerechnet die E i n s i c h t , daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das „göttlich", das leibhafte Moral sei. Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen „ Wahrhaftigkeit": somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral. D i e s i s t d i e A n t i n o m i e : so fern wir an die Moral glauben, v e r u r t h e i l e n wir das Dasein. D i e L o g i k des P e s s i m i s m u s bis zum l e t z t e n Nihilimus: w a s t r e i b t d a ? — Begriff der W e r t l o s i g k e i t , S i n n l o s i g k e i t : in wiefern moralische Werthungen hinter allen sonstigen hohen Werthen stecken. — Resultat: d i e m o r a l i s c h e n Werthurtheile
sind Verurtheilungen,
Verneinun-
gen, M o r a l ist die A b k e h r vom zum D a s e i n . . . Problem: w a s i s t a b e r d i e Moral? io[i93] (287) 3°
Willen
Heidnisch-christlich H e i d n i s c h ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, „die Natürlichkeit"
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C h r i s t l i c h ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit „Unschuldig" ist z.B. Petronius; ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein für alle Mal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der c h r i s t l i c h e S t a t u s bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen begreifen darf, so bedeutet „ c h r i s t l i c h " eine zum Princip erhobene F a l s c h m ü n z e r e i d e r p s y c h o logischen) I n t e r p r e t a t i o n . . . io[i94] (288) »Die M o r a l um d e r M o r a l w i l l e n " — eine wichtige Stufe in ihrer Entnaturalisirung: sie erscheint selbst als letzter Werth. In dieser Phase hat sie die Religion mit sich durchdrungen: im Judenthum z. B. Und ebenso giebt es eine Phase, wo sie die Religion wieder v o n s i c h a b t r e n n t , und wo ihr kein Gott „moralisch" genug ist: dann zieht sie das unpersönliche Ideal v o r . . . Das ist jetzt der Fall. „ D i e K u n s t u m d e r K u n s t w i l l e n " — das ist ein gleichgefährliches Princip: damit bringt man einen falschen Gegensatz in die Dinge, — es läuft auf eine Realitäts-Verleumdung („Idealisirung" i n s Häßliche) hinaus. Wenn man ein Ideal ablöst vom Wirklichen, so stoßt m a n d a s Wirkliche hinab, m a n v e r a r m t es, m a n verleumdet es. „Das S c h ö n e u m d e s S c h ö n e n w i l l e n " , „das W a h r e um des W a h r e n w i l l e n " , „ d a s G u t e um d e s G u t e n w i l l e n " — das sind drei Formen des b ö s e n B l i c k s für das Wirkliehe. — K u n s t , E r k e n n t n i ß , M o r a l sind Mittel: statt die Absicht auf Steigerung des Lebens in ihnen zu
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erkennen, hat man sie zu einem G e g e n s a t z des L e b e n s in Bezug gebracht, zu „Gott", — gleichsam als Offenbarungen einer höheren Welt, die durch diese hie und da hindurchblickt... — „ s c h ö n und h ä ß 1 i c h", „w a h r und f a l s c h " , „gut und böse" — diese S c h e i d u n g e n und A n t a g o n i s m e n verrathen Daseins- und Steigerungs-Bedingungen, nicht vom Menschen überhaupt, sondern von irgendwelchen festen und dauerhaften Complexen, welche ihre Widersacher von sich abtrennen. Der K r i e g , der damit geschaffen wird, ist das Wesentliche daran: als Mittel der A b s o n d e r u n g , die die Isolation v e r s t ä r k t . ..
io[i95] (289) Consequenz des Kampfes: der Kämpfende sucht seinen *J Gegner zu seinem G e g e n s a t z umzubilden, — in der Vorstellung natürlich — er sucht an sich bis zu dem Grade zu glauben, daß er den Muth der „guten Sache" haben kann (als ob er die g u t e S a c h e sei): wie als ob die Vernunft, der Ge20 schmack, die Tugend von seinem Gegner bekämpft werde... — der Glaube, den er nöthig hat, als stärkstes Defensiv- und Aggressiv-Mittel ist ein G l a u b e an s i c h , der sich aber als Glaube an Gott zu mißverstehen weiß *S — sich nie die Vortheile und Nützlichkeiten des Siegs vorstellen, sondern immer nur den Sieg um des Siegs willen, als „Sieg Gottes" — — Jede kleine im Kampf befindliche Gemeinschaft (selbst Einzelne) sucht sich zu überreden: „wir h a b e n den 3° guten G e s c h m a c k , das gute U r t h e i l und d i e T u g e n d für u n s " . . . Der Kampf zwingt zu einer solchen Ü b e r t r e i b u n g der S e l b s t s c h ä t z u n g . . .
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Die E i n l e i t u n g f ü r P e s s i m i s t e n , — und zugleich g e g e n die Pessimisten . . . Denen, die heute n i c h t an dem Fragwürdigen unseres Daseins leiden, habe ich nichts zu sagen: sie mögen Zeitungen lesen und über die Schlecht-Juden sich Gedanken machen. — Ein Wort über die absolute Vereinsamung: wer mir nicht mit einem Hundertstel von Leidenschaft und von Liebe entgegenkommt, hat keine Ohren für mich . . . Ich habe mich bisher durchgeschlagen...
io[i97] 10 (291) „Seid einfach" — eine Aufforderung an uns verwickelte und unfassbare Nierenprüfer, welche eine einfache Dummheit ist . . . Seid natürlich! aber wie, wenn man eben „unnatürlich" i s t . . . io[i98] (292) „So ihr nicht werdet wie die Kinder": oh wie fern wir 15 von dieser psychologischen Naivetät sind! io[i99] (293)
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Die psychologische Voraussetzung: die U n w i s s e n h e i t und U n c u l t u r , die Ignoranz, die jede Scham verlernt hat: man denke sich diese unverschämten Heiligen mitten in Athen „Auserwählten-Instinkt": : der j ü d i s c h e sie nehmen a l l e T u g e n d e n ohne Weiteres für sich in Anspruch und rechnen den Rest der Welt als ihren Gegensatz: tiefes Zeichen der G e m e i n h e i t d e r Seele : der v o l l k o m m n e Mangel an wirkl i c h e n Z i e l e n , an wirklichen A u f g a b e n , zu denen man andere Tugenden als die des Muckers braucht,
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— der S t a a t nahm ihnen diese Arbeit a b : das unverschämte Volk that trotzdem, als ob sie ihn nicht nöthig hätten.
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Die l ü g n e r i s c h e n Gegensätze „was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist** Ev. Joh. 3,6 „irdisch" — „himmlisch" W a h r h e i t , Licht, Finsterniß, Gericht: wer Arges thut, der hasset das Licht und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht bestraft werden. Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden . . . Das aber ist das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist; und die Menschen liebten die Finsterniß mehr als das Licht.
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Die s c h a u d e r h a f t e n M i ß b r ä u c h e mit der Zukunft: das G e r i c h t ist ein christlicher Gedanke, n i c h t ein jüdischer: es ist der Ressentiments-Grundgedanke aller Aufständischen.
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die t i e f e U n w ü r d i g k e i t , mit der alles Leben außerhalb des christlichen beurtheilt wird: es genügt ihnen nicht, ihre eigentlichen Gegner sich gemein zu denken, sie brauchen nichts weniger als eine Gesammtverleumdung von allem, was nicht s i e sind . . • Mit der Arroganz der Heiligkeit verträgt sich aufs Beste eine niederträchtige und verschmitzte Seele: Zeugniß die ersten Christen. Die Z u k u n f t : sie lassen es sich t ü c h t i g b e z a h l e n . . . Es ist die u n s a u b e r s t e A r t G e i s t , die es giebt: Das ganze Leben Christi wird so dargestellt, daß er den W e i s s a g u n g e n zum Recht verhilft: er handelt so, d a m i t sie Recht b e k o m m e n . . .
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Io[20o] (294) Matth. 5,46 Denn so ihr liebet, die euch lieben, w a s w e r d e t i h r f ü r L o h n h a b e n ? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr (euch) nur zu euren Brüdern freundlich thut, w a s t h u t i h r S o n d e r l i c h e s ? Thun nicht die Zöllner auch also? Zwei M o t i v e : Lohn und Absonderung Das ganze 6te Cap. des Matthäus handhabt diese schöne Moral: hütet euch, wenn ihr klug seid, vor allem öffentlichwerden eurer tugendhaften Handlungen. Denn anders habt ihr keinen Lohn bei meinem Vater im Himmel. „— dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird's dir vergelten, öffentlich" 6,14 Denn so ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben. H i e r s p r i c h t aus jedem Wort die t i e f e Feindseligkeit gegen die religiöse Praxis der h e r r s c h e n d e n S t ä n d e Diese ganze Reduktion auf Heuchelei, auf Geiz (6,19 „ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden usw. ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon" 6,24) „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit: so wird euch solches Alles zufallen" (nämlich Nahrung, Kleider, die ganze Nothdurft des Lebens, die ganze Fürsorge): ist einfach U n s i n n . „Das Leben in den Tag hinein" — gerade zu als Prüfung Gottes gefördert, als Prüfung des Glaubens (30 „so Gott das Gras auf dem Felde kleidet, sollte er das nicht viel mehr euch thun? Oh ihr Kleingläubigen!") Matth. 7,1 „Richtet nicht, a u f d a ß ihr nicht gerichtet werdet . . . mit welcherlei Maaß ihr messet, wird euch gemessen werden"
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Luc. 6,35 Doch aber liebet eure Feinde; thut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet: s o w i r d e u e r L o h n g r o ß s e i n und werdet Kinder des Allerhöchsten sein. Diese ganze U n e i g e n n ü t z i g k e i t - M o r a l ist eine Rancune gegen die Pharisäer. Aber der Jude verräth sich darin, daß sie zuletzt auch noch als p r o f i t a b l e dargestellt w i r d . . . Das Evangelium an d i e A r m e n , die Hungernden, die Weinenden, die Gehaßten, Ausgestoßenen, Schlimm-Beleumdeten — zur Ermuthigung an die Jünger: Freuet euch alsdann und hüpfet: denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. D e s g l e i c h e n t h a t e n i h r e V ä t e r den P r o p h e t e n a u c h , (welche zügellose Frechheit, diesem armen Jünger-Gesindel anzudeuten, sich gleichen Rangs mit den Propheten fühlen zu dürfen, weil sie gleiches Schicksal haben! —) Und nun der Fluch auf die Reichen, die Satten, die Heitern, die Gelehrten, die Geehrten! (Immer sind es die Pharisäer: „desgleichen thaten ihre Väter den falschen Propheten auch") Es ist eine vollkommene Biedermännerei, deretwegen Niemand vom Himmel zu kommen braucht, Moral predigen z. B. zu den Zöllnern zu sagen „fordert nicht mehr, denn gesetzt ist!" oder den Kriegsleuten „thut Niemandem Gewalt, noch Unrecht" Diese pfäffische Unduldsamkeit Marc. 6,11 „und welche euch nicht aufnehmen, noch hören, da gehet von dannen heraus und schüttelt den Staub ab von euren Füßen, zu einem Zeugniß über sie. Ich sage euch: Wahrlich, es wird Sodom und Gomorra am jüngsten Gerichte erträglicher ergehen, denn solcher Stadt."
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Und nun denke man sich dieses arme M u c k e r - G e s i n d e l s i c h d u r c h s L a n d s c h l e i c h e n d , mit solchen J ü n g s t e n - G e r i c h t s - F l ü c h e n in der Tasche Man kann dies Buch (nicht) lesen, ohne die Partei alles dessen zu nehmen, was darin angegriffen wird: z.B. der Pharisäer und Schriftgelehrten Und diese frechen Versprechungen z.B. Marc. 9,1 „Wahrlich, ich sage euch, es stehen Etliche hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen." Das neue Testament wird durch seine „Denns" compromittirt... Immer die heilige Juden-Selbstsucht im Hintergrund der Aufopferung und Selbstverleugnung: z. B. Marc. 8,34: „Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. D e n n (— man beachte die „Denns" im neuen Testament — sie enthalten seine Widerlegung —) wer sein Leben will erhalten, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinet und des Evangeliums willen, der wird es behalten.« Alles ist gefälscht und verdorben: der Tod als Strafe; das Fleisch; das Irdische; die Erkenntniß; das ewige Leben als Lohn die sämmtlichen Handlungen der Liebe, Mildthätigkeit und seel(ischer> Delikatesse als Schlauheiten der Auserwählten in Hinsicht auf die überreichlichste Belohnung die ganze Tugend ist um ihre „Unschuld" gebracht... — D i e W i d e r l e g u n g der e v a n g e l i s c h e n R e d e n l i e g t in d e r e n „Denn" „Und wer der Kleinen einen ärgert, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt würde und er in das Meer geworfen würde." — sagt Jesus Marc. 9,42.
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Ärgert dich dein Auge, so wirf es von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen; da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht. Marc. 9,47 — eine Aufforderung zur C a s t r a t i o n ; wie sich aus der entsprechenden Stelle ergiebt Matt. 5,28 „ w e r ein Weib a n s i e h e t , ihrer zu b e g e h r e n , der hat schon mit ihr die Ehe g e b r o c h e n in s e i n e m H e r z e n . Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf von dir. Es ist dir besser, daß e i n e s d e i n e r G l i e d e r verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde." (V. 31 ist er immer noch bei dem Geschlechts-Capitel und der raffinirten Auffassung des Ehebruchs: nämlich die Ehescheidung bereits als Ehebruch..)
Wenn das Christenthum nur ein kluger Eigennutz ist, so ist es ein noch klügerer Eigennutz, es aus dem Wege zu schaffen —
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Dies war die verhängniß vollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte „Gott" „jüngstes Gericht" „Wahrheit" „Liebe" „Weisheit" „heiliger Geist" für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen „die Welt" abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die W e r t h e n a c h s i c h u m z u d r e h e n , wie als ob sie d e r Sinn, das Salz, das Maaß und G e w i c h t vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter thun. Daß man sie v e r f o 1 g t e , das war eine antike Dummheit großen
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Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst. Das ganze Verhängniß war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Grössenwahn i n d e r W e 11 w a r , der j ü d i s c h e : nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden aufgerissen und letztere nur durch die Ersteren zum R e c h t a u f D a s e i n kommen konnten, m u ß t e n die ChristenJuden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdisehe Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden —; daß andererseits die griechische Philosophie der Moral Alles gethan hatte, um einen M o r a l - F a n a t i s m selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen . . . Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbniß, der zuerst die Natur in der Moral mißverstehen wollte, der die Moral als Sinn, Zweck , der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff G u t entwerthet hatte, der bereits j ü d i s c h - a n g e m u c k e r t war (— in Ägypten?)
io[202] (296) Das »Ding an sich" widersinnig. Wenn ich alle Relationen, alle „Eigenschaften" alle „Thätigkeiten" eines Dinges wegdenke, so bleibt n i c h t das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns h i n z u f i n g i r t ist, aus logischen 25 Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, n i c h t (zur Bindung jener Vielheit von Relat(ionen) Eigenschaften Thätigkeiten) io[203] (297) Der neuere Mensch hat seine idealisirende Kraft in Hinsicht auf einen G o t t zumeist in einer wachsenden 30 V e r m o r a l i s i r u n g d e s s e l b e n ausgeübt — was
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bedeutet das? Nichts Gutes, ein Abnehmen an Kraft des M<enschen> — An sich wäre nämlich das Gegentheil möglich: und es giebt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual e r l ö s e n d , r e c h t f e r t i g e n d : — Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von „Gut und Bösea. Dieselbe Art Mensch, welche nur „gutes Wetter" wünscht, wünscht auch nur „gute Menschen" und überhaupt gute Eigenschaften, — mindestens die immer wachsende Herrschaft des Guten. Mit einem überlegenen Auge wünscht man gerade umgekehrt die immer größere H e r r s c h a f t des B ö s e n , die wachsende Freiwerdung des Menschen von der engen und ängstlichen MoralEinschnürung, das Wachsthum der Kraft, um (die) größten Naturgewalten, die Affekte in Dienst nehmen zu können ...
io[204] 20 (298) Wenn man auch noch so bescheiden in seinem Anspruch auf intell(ektuelle) Sauberkeit ist, man kann nicht verhindern, bei der Berührung mit dem neuen Testament etwas wie einen unaussprechlichen Ekel zu empfinden: denn die schmutzige und zügellose Frechheit des Mitredenwollens *5 Unberufenster über die großen Probleme, ja ihr Anspruch auf Richterthum in solchen Dingen übersteigt jedes Maaß. Die unverschämte Leichtfertigkeit, mit der hier von den unzugänglichsten Problemen geredet wird, wie als ob sie keine Probleme wären: Leben, Welt, Gott, Zweck des 30
Lebens, sondern einfach Sachen, die diese kleinen Mucker wissen
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Das D a s e i n im Ganzen von Dingen behaupten, von denen wir gar nichts wissen, exakt weil ein Vortheil darin liegt, nichts von ihnen wissen zu können, war eine Naivetät Kants, Folge eines Nachschlags von Bedürfnissen, namentlich moralisch-metaphysischen...
io[2o6] (300) D i e I n t o l e r a n z der M o r a l ist ein Ausdruck von der S c h w ä c h e des Menschen: er fürchtet sich vor seiner „Unmoralität", er muß seine stärksten Triebe v e r n e i n e n , weil er sie noch nicht zu benutzen weiß... So 10 liegen die fruchtbarsten Striche der Erde am längsten unbebaut: — die Kraft fehlt, die hier Herr werden könnte...
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
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1 = N VII 2b. Herbst 1885 - Frühjahr 1886 9 2 = W 1 8. Herbst 1885 - Herbst 1886 67 3 = W 1 7b. W I 3 b. Mp XVI 2b. Mp XVI ib. Anfang 1886-Frühjahr 1886 171 4 = D 18. Mp XV 2c. Mp XVII 3 a. Mp XVI ib. Anfang 1886-Frühjahr 1886 177 5 = N VII 3. Sommer 1886 - Herbst 1887 185 6 = Mp XIV 1, S. 416-420. Mp XVII 3 a. Mp XV 2d. P II 12b, S. 37. Sommer 1886 - Frühjahr 1887 . . 231 7 = Mp XVII 3b. Ende 1886 -Frühjahr 1887 . . . . 247 8 = Mp XVII 3c. Sommer 1887 323 9 = WII 1. Herbst 1887 339 10 = W II 2. Herbst 1887 453