Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 04
Murloths Berg von Bernhard Kempen
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 04
Murloths Berg von Bernhard Kempen
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidischen Imperiums geboren und seines Throns beraubt, strandete nach vielen Jahren auf Terra. Dort wurde er dank eines Zellaktivators zu einem relativ Unsterblichen. Als Freund und Verbündeter Perry Rhodans erlebte er den Aufstieg der Menschheit, als Widerstandskämpfer trat er gegen Usurpatoren und Invasoren an, als Beauftragter der Kosmokraten sah er die Wunder des Kosmos, als Ritter der Tiefe wurde er zum Träger einer entsprechenden Aura. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) macht sich der Unsterbliche zusammen mit der geheimnisvolen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen. Dabei verschlägt es die beiden zuerst auf einen fremden, fernen Planeten: Narukku. Dort treffen sie auf Androiden, die wie Varganen aussehen, auf ein geheimnisvoles Insektoidenvolk – und auf MURLOTHS BERG …
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide verliert jedes Zeitgefühl. Kythara - Die Varganin begegnet Murloth. Vernon - Ein Toter erwacht. Ur'ogh-49 - Ein Torghan-Wächter wächst über sich selbst hinaus.
1. Ein brutaler Entzerrungsschmerz jagte durch sämtliche Fasern meines Körpers. Hitze brannte auf der Haut, mein Gleichgewichtssinn spielte verrückt. Nur mit halbem Bewusstsein bekam ich mit, dass ich stürzte. Als der Aufprall kam, rollte ich mich instinktiv zusammen. Meine trainierten Reflexe verhinderten, dass ich mir ernsthafte Verletzungen zuzog. Unmittelbar neben mir hörte ich ein ersticktes Ächzen. Ich wartete noch ein paar Sekunden ab, bis der Schmerz und das Brennen nachließen und sich meine räumliche Wahrnehmung normalisiert hatte. Erst als sich mein Gefühl für unten und die Empfindung eines kühlen, nicht allzu harten Bodens deckten, wagte ich es, die Augen zu öffnen. »Was … war das?«, stieß Kythara keuchend hervor. Sie sah mich blinzelnd durch einen Vorhang aus wirren, goldblonden Locken an. Es erstaunte mich, dass sie diesen Schock nicht besser weggesteckt hatte. Immerhin verfügten Varganen über eine recht robuste Konstitution. »Die Symptome erinnern mich an die guten alten Zeiten, als unsere Raumschiffe noch per Transition durch das RaumZeit-Gefüge brachen.« »Nur dass wir gar nicht mit einem Raumschiff unterwegs sind«, gab Kythara zu bedenken. Sie stemmte sich mit den Armen hoch und blickte sich um. »Aber es sieht ganz danach aus, dass wir durch einen transmitterähnlichen Effekt an einen anderen Ort versetzt wurden.« »Stimmt«, sagte ich, als mir allmählich klar wurde, dass der diffuse weiße Hintergrund, den ich die ganze Zeit vor Augen hat-
te, nichts mit einer Störung meines Sehvermögens zu tun hatte. »Von den Insektoiden ist jedenfalls gar nichts mehr zu sehen.« Nachdem wir auf dem Planeten Narukku in die irrwitzige Schlacht zwischen den Androidenarmeen verwickelt worden waren, hatten uns die Insektenwesen – die offenbar die heimlichen Drahtzieher der Kämpfe waren – entdeckt und waren gegen uns vorgerückt. Im letzten Moment hatte die unerwartete Entmaterialisierung uns aus der Gefahrenzone gebracht. Das sah verdächtig nach einer gezielten Rettungsaktion aus. Wer hatte sie veranlasst? Und wohin hatte man uns gebracht? Ich beschloss, die Beantwortung dieser und tausend weiterer Fragen Schritt für Schritt anzugehen. »Möchtest du erst einmal ein Nickerchen einlegen, Arkonide, oder mich bei der Erkundung unserer neuen Umgebung begleiten?« Kythara hatte sich inzwischen erhoben und sah mit einem spöttischen Glitzern in den Augen auf mich herab. Ich blickte an ihren schwarzen Stiefeln und ihrem metallisch blauen Anzug, der sich eng um den schlanken Körper schmiegte, bis zum bronzehäutigen Gesicht empor. Auch wenn die Begleiterscheinungen eines solchen brachialen Transports durch ein höherdimensionales Kontinuum sie genauso mitgenommen hatten wie mich, schien sie sich zumindest schneller als ich vom Schock erholt zu haben. Mit einem Grunzen unterdrückte ich den schmerzhaften Protest meiner Muskeln und schaffte es endlich, mich aufzurappeln. Erneut wurde mir leicht schwindlig. Litt ich immer noch unter dem Entzerrungsschock, oder lag es an der Undefinierbarkeit der Umgebung? Vermutlich an beidem. Ich vergewisserte mich, dass sich das
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Weiß wirklich in alle Richtungen erstreckte. Es war, als würden wir uns in einem dichten Nebel befinden, nur dass ich Kythara und jedes einzelne Haar ihrer goldlockigen Mähne mit aller Deutlichkeit erkennen konnte. Auch noch, als sie sich mit vorsichtigen Schritten von mir entfernte. Während sie sich der Erforschung der seitlichen Ausdehnung unserer Umgebung widmete, ging ich noch einmal in die Hocke. Nicht etwa, weil ich wieder Gleichgewichtsstörungen hatte, sondern weil ich mich für die Beschaffenheit des Bodens interessierte. Auch er bestand aus einer strukturlosen weißen Masse. Sie gab unter dem Druck meiner Hand leicht nach und schien in unbestimmbarer Entfernung nahtlos in Wände und Decke dieses merkwürdigen Raumes überzugehen. Ich fuhr herum, als ich einen leisen Warnschrei von Kythara hörte. In ihrer Nähe war es zu einer Eintrübung des Nebels gekommen. Die Stelle war etwas dunkler als das übrige Weiß und waberte, als bewegte sich eine Gestalt hinter einer Milchglasscheibe. Sofort sprang ich auf und lief zu der Varganin, doch auch aus der Nähe war das Phänomen nicht deutlicher zu erkennen. Langsam wichen wir zurück, ohne es aus den Augen zu lassen. Schließlich konnten wir nicht wissen, ob sich etwas Unangenehmes dahinter verbarg. Lag es daran, dass wir uns entfernten, oder löste sich die Eintrübung von selbst auf? Ich konnte es nicht sagen. Und im nächsten Moment interessierte mich die Frage gar nicht mehr, weil mich ein eiskalter Schreck durchfuhr. Während wir gebannt auf das verblassende graue Wabern starrten, musste etwas hinter unserem Rücken aufgetaucht sein. Ohne Vorwarnung stieß ich mit den Schulterblättern gegen ein Hindernis. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst und fuhr herum.
*
Im ersten Moment zweifelte ich an meinem Verstand, weil ich auch hinter mir nur einen eintönigen weißen Hintergrund ausmachen konnte. Doch dann sah ich, wie Kythara neben mir eine Hand ausstreckte. In einer Entfernung von etwa einem halben Meter schien sie auf etwas Festes zu stoßen. »Jetzt wird mir einiges klar«, flüsterte Kythara. Zögernd ahmte ich ihre Bewegung nach und bemerkte, dass wir tatsächlich vor einem Hindernis standen. Es fühlte sich an wie eine senkrechte Wand, die von der gleichen Beschaffenheit wie der Boden war. Das Ungewöhnliche war nur, dass sie sich optisch überhaupt nicht vom übrigen Hintergrund unterschied. Die neblige Konsistenz bewirkte, dass meine Augen keinen Anhaltspunkt fanden, um die räumliche Lage dieses Objekts einschätzen zu können. Ich räusperte mich und drehte mich zu Kythara um. »Hättest du die Güte, mir den Sinn deiner kryptischen Bemerkung zu erklären?« »Das ist Psi-Materie in einem diffusen Aggregatzustand«, sagte sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Offensichtlich wurden wir ins Innere des Berges Murloth versetzt.« »Natürlich!«, brummte ich und schlug mir vor die Stirn. »Darauf hätte ich auch von selbst kommen können!« Kythara warf mir einen spöttischen Seitenblick zu und wurde sofort wieder sachlich. »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber das hier hat dieselbe Ausstrahlung, die ich über der ›Ebene ohne Schatten‹ wahrgenommen habe.« Obwohl ich keine Möglichkeit hatte, ihre Empfindungen zu überprüfen, war ich bereit, mich auf ihr Gespür zu verlassen. Außerdem klang es durchaus sinnvoll, wie ich zugeben musste. Der markante Berg auf Narukku war uns bereits beim ersten Anflug mit der AMENSOON aufgefallen. Er erhob sich inmitten einer kreisrunden Ebene und bestand aus einem Material, das auf den ersten Blick an Eis erinnerte. Eine der vielen
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Ungewöhnlichkeiten im Zusammenhang mit diesem Berg war die Tatsache, dass er ein paar Meter über dem Boden schwebte! Für uns bestand kein Zweifel mehr, dass der Berg eine Psi-Quelle varganischen Ursprungs war. Ich hatte im Jahr 2843 alter terranischer Zeitrechnung mit dem Berg Skanmanyon zu tun gehabt, und Kythara wusste, dass ihr Volk rund um die Milchstraße insgesamt fünf solcher Stationen installiert hatte, mit denen kosmische Psi-Energie gesammelt wurde. Im Laufe der Jahrtausende hatten sie sich schließlich so stark aufgeladen, dass drei der Stationen ein eigenes Bewusstsein entwickelt hatten und zu psionischen UHF-Strahlern geworden waren. Was mit dieser Psi-Quelle geschehen war, blieb vorläufig ein Rätsel. Da der MurlothEmissionsnebel, in den die Vergessene Positronik Kythara und mich entführt hatte, nicht zu den bekannten Standorten der varganischen Stationen gehörte, lag der Verdacht nahe, dass sie von Unbekannten hierher versetzt worden war. Denn dass im näheren Umfeld der Milchstraße noch ein weiteres Volk Psi-Akkumulatoren geschaffen hatte, hielten sowohl mein Extrasinn als auch ich selbst für extrem unwahrscheinlich. Nicht, dass das irgendetwas bedeuten würde, meldete sich der Logiksektor prompt. Wir haben schon Unwahrscheinlicheres erleben und akzeptieren müssen. Auf jeden Fall passte die Beschaffenheit unserer Umgebung zur Unbeständigkeit und Wandlungsfähigkeit der Psi-Materie, die das »Eis« des Berges Murloth bildete. Außerdem wurde ich nachhaltig von diesen ungewöhnlichen Eigenschaften überzeugt, als ich erneut nach der Wand tasten wollte und meine Hand plötzlich ins Leere griff. »Pass auf, Atlan!«, rief Kythara. Aber ich hatte es ebenfalls gesehen und wich vor dem grauen Schatten zurück, der direkt auf mich zukam.
* Ur'ogh-49 war geboren worden, um Be-
fehle entgegenzunehmen und weiterzuleiten. Schon sein Name wies ihm einen eindeutigen Platz in der Hierarchie der Torghan zu. Als Siebenter einer siebenten Klonreihe gehörte er den mittleren Rängen an und nahm die Verantwortung sehr ernst, die er gegenüber früher geborenen Vorgesetzten und später geborenen Untergebenen trug. Deshalb machte er sich keine weiteren Gedanken, als er von Ur'ogh-7 den Befehl erhielt, ein empfindliches Messgerät in die Gänge des Berges schaffen zu lassen. Es interessierte ihn nicht, welche Art von Messungen angestellt werden sollten, weil das die Aufgabe der Ingenieure und der Strategen war. Andererseits wäre er nie auf die Idee gekommen, das Messgerät persönlich an seinen Bestimmungsort zu bringen. Das war wiederum die Aufgabe der Arbeiter, und Ur'ogh-49 gehörte der Kaste der Wächter an. Im Lager erteilte er einer Gruppe von Transportarbeitern die Anweisung, das Gerät vorsichtig auf eine Antigravplattform zu verladen. Normalerweise konnten diese spezialisierten Torghan eine solche Aufgabe selbsttätig erledigen, aber in diesem Fall musste ein Wächter dafür sorgen, dass die Arbeiter besonders behutsam zu Werke gingen. Als Ur'ogh-49 mit der Umsetzung zufrieden war, setzte er sich neben den Transportarbeiter, der als Ranghöchster der siebenköpfigen Gruppe die Antigravplattform bediente, und befahl ihm, sie zum Berg zu steuern. Ur'ogh-49 konnte den größten Teil des Auftrags ohne Zwischenfälle abschließen. Als die Arbeiter das Gerät von der Plattform gehoben und in einem Seitengang des Tunnellabyrinths aufgestellt hatten, schickte er sie fort und machte sich auf den Weg, um den letzten Teil des Auftrags zu erfüllen. Er musste einem Techniker mitteilen, dass das Messgerät bereit war und in Betrieb genommen konnte. Da sich die Aktivitäten im Innern des Berges immer wieder an anderen Orten konzentrierten, irrte Ur'ogh-49 einige Zeit durch
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die Gänge, ohne jemanden zu sehen. Als er aus einem Tunnel zurückkehrte, der sich überraschend als Sackgasse erwiesen hatte, stutzte er plötzlich. Eigentlich hätte er sich ganz auf die Ausführung seines Befehls konzentrieren müssen, aber als Wächter trug er die zusätzliche Verantwortung, auf ungewöhnliche Vorkommnisse zu achten, die sich möglicherweise als Sicherheitsrisiko erwiesen. Deshalb blieb Ur'ogh-49 unvermittelt stehen. Obwohl er mit seinen vier Augen einen vollständigen Rundumblick hatte, drehte er sich um, damit er nötigenfalls auf eine drohende Gefahr reagieren konnte.
* Es ging rasend schnell. Schlagartig tauchte der Umriss vor mir auf, wo ich kurz zuvor noch ein festes Hindernis gespürt hatte. Ich konnte keine Details ausmachen, nur eine dunklere Trübung im weißen Nebel, die sich genau auf mich zubewegte. Und ich hatte das vage Gefühl, dass es lebte – es bewegte sich wie der Schatten eines aufrecht gehenden Wesens, das mich einen guten Kopf überragte. Ich spürte, wie Kythara meinen rechten Arm packte und versuchte, meinen Sprung zur Seite zu unterstützen. Doch ich hatte mich längst auf Schwierigkeiten gefasst gemacht. Ich wusste, dass ich es nicht mehr schaffen würde, einem Zusammenstoß aus dem Weg zu gehen. Aber die Konfrontation oder der Angriff – oder was immer ich erwartet hatte – blieb aus. Der Schatten bewegte sich weiter und streifte meine linke Körperhälfte. Aber es war anders als ein körperlicher Kontakt. Instinktiv nahm ich Abwehrhaltung ein, doch alles, was ich spürte, war das Gefühl, als hätte mich ein eisiger Lufthauch berührt. »Alles in Ordnung?«, fragte Kythara besorgt. »Warum fragst du?«, entgegnete ich. »Hast du nicht gespürt, dass es nur eine psionische Illusion war?«
»Tut mir Leid«, antwortete sie mit ernsthaftem Bedauern. »Es fühlte sich … so real an.« »Warte …«, flüsterte ich. Plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, dass alles nur ein harmloses Trugbild gewesen war. Denn nun schien der Schatten in vielleicht zwei Metern Entfernung zu verharren. Und ich hatte den unheimlichen Eindruck, als würde er mich beobachten – oder mich belauern. Wollte er zurückkehren und den gescheiterten Angriff wiederholen? Doch bevor es dazu kommen konnte, hatte sich das graue Gebilde wie verwehender Rauch verflüchtigt. »Was hatte das zu bedeuten?«, fragte ich, als der Spuk vorbei war. »Schwer zu sagen«, antwortete Kythara mit konzentriert gerunzelter Stirn. »Mit meinen Sinnen spüre ich nur, dass hier irgendetwas ist. Meine Empfindungen sind genauso undeutlich wie der Schatten, den wir gerade optisch wahrgenommen haben. Wie es scheint, befindet sich die Psi-Materie in einem instabilen Zustand. Das heißt, es könnte alles Mögliche damit passieren.« Ich blickte mich skeptisch im weißen Nebel um. »Ich kann nicht behaupten, dass mich diese Erklärung beruhigt.« »Eine bessere kann ich dir leider nicht …« Plötzlich hielt Kythara inne. »Vorsicht, ich spüre wieder etwas!« Ich bemerkte es ebenfalls, obwohl mir keine parapsychischen Sinne zur Verfügung standen. Es wurde kälter, und der Nebelhintergrund geriet in Bewegung. Hellgraue Schlieren wallten durch die weiße Masse. Sie bildeten undefinierbare Muster und zerflossen wieder. Doch allmählich kondensierte so etwas wie ein undeutliches Hintergrundbild. Es war wie bei einer chemischen Fotografie, die im Entwicklungsbad ganz langsam Konturen gewann. Die Umgebung wurde weiterhin von einem schimmernden Weiß dominiert, aber jetzt gab es Abstufungen und Schattierungen. Und ich erhielt wieder einen räumlichen Eindruck vom Ganzen, als meine Au-
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gen immer schärfer ausgeprägte Anhaltspunkte fanden. Aus den Linien am Boden und den unterschiedlich hellen Flächen wurden Wände, Nischen und Gänge. Ich hatte mich so sehr auf den Materialisationsprozess konzentriert, dass ich erst jetzt einen Blick zur Seite warf. Als ich sah, was sich dort tat, packte ich Kythara ohne ein Wort am Arm und suchte hastig nach einer Deckung.
* Ur'ogh-49 hätte es beinahe übersehen, weil es so unverhofft aufgetaucht war. Aber er hatte deutlich die Berührung gespürt. Sein linker Arm, der die Erscheinung gestreift hatte, fühlte sich taub an. Er blickte durch den Tunnel zurück und sah, dass immer noch etwas da war. Er hatte mehrfach beobachtet, wie sich die Substanz des Berges auflöste, wenn die Maschinen eingesetzt wurden, aber ein solches Phänomen hatte er bislang noch nicht erlebt. Er hatte das deutliche Gefühl, dass sich etwas anderes hinter dieser Erscheinung verbarg. Es war ein bläulich schimmernder Nebel, der zitternd in der Luft hing, wie ein undeutliches Bild, als würde man einen Torghan in der Verpuppungsphase durch die Wände einer Klonwabe betrachten. Der Nebel bewegte sich leicht und schien sich zu teilen. Nun waren es zwei schmale, säulenförmige Umrisse, die vom Boden bis zu einer Höhe reichten, die dem oberen Ende des Thorax eines Torghan entsprach. Ur'ogh-49 zog seine Waffe, obwohl er wusste, dass sie wirkungslos war, wenn der Berg seine gespeicherte Energie freisetzte. Aber er glaubte nicht daran, dass es hier, weit von der nächsten Maschine entfernt, zu einem spontanen Auflösungsprozess gekommen war. Dazu verhielt sich die Erscheinung zu ungewöhnlich – wie die verschwommenen Umrisse zweier Lebewesen, die ihn misstrauisch beobachteten. Was sollte er tun? Er besaß keine Instruktionen, die ihn auf einen solchen Fall vorbe-
reitet hätten. Also musste er selbst zu einer Entscheidung gelangen. Sollte er Hilfe holen? Vielleicht einen Techniker, der besser mit den außergewöhnlichen Verhältnissen innerhalb des Berges vertraut war? Sollte er …? Bevor Ur'ogh-49 zu einer Lösung des Problems gelangen konnte, löste es sich buchstäblich von selbst auf. Wie ein verdunstender Atemhauch im Lager auf der winterlichen Ebene von Narukku waren die bläulichen Nebelschwaden vom einen auf den anderen Augenblick verschwunden. Ur'ogh-49 starrte noch eine ganze Weile auf die Stelle, an der sie sich befunden hatten. Als er davon überzeugt war, dass sich das Phänomen nicht wiederholen würde, machte er sich auf den Weg, um seinen ursprünglichen Auftrag zu erledigen.
2. »Was ist …?«, stieß Kythara überrascht hervor. Doch schon im nächsten Moment sah sie ebenfalls, was mich zu dieser Vorsichtsmaßnahme veranlasst hatte. Wir waren genau in der Einmündung eines Tunnels in eine größere Höhle materialisiert. Kythara hatte ebenso gebannt wie ich das Schauspiel verfolgt, wie der weiße Nebel zu festem Eis kristallisiert war, und nicht darauf geachtet, was hinter uns vor sich ging. Ich konnte immer noch nicht mit Bestimmtheit sagen, was passierte, aber wenigstens schien Kythara mit ihrer Vermutung Recht behalten zu haben. Wir befanden uns tatsächlich innerhalb eines Gebildes aus glasigweißer Psi-Materie, die in verhältnismäßig fester Form auftrat. Sofern der Transmittereffekt uns nicht auf einen anderen Planeten befördert hatte, konnte es sich nur um den Berg Murloth auf Narukku handeln. »Orghs …«, flüsterte Kythara. Ich nickte. »Aber was tun sie hier?« Vorsichtshalber zog ich meinen Energiestrahler, musste aber feststellen, dass wieder ein störender Einfluss die Technik lahm gelegt hatte.
8 In der großen Kaverne tummelten sich recht unterschiedliche Wesen, die allesamt Insektenabkömmlinge zu sein schienen. Was natürlich nicht bedeuten musste, dass sie tatsächlich miteinander verwandt waren. Ich erkannte Formen, die an Ameisen, Stabheuschrecken, Wespen oder Motten erinnerten. Aber es waren in erster Linie die Wespen, denen meine Aufmerksamkeit galt, da sie mit jenen Geschöpfen identisch waren, die uns in die Zange genommen hatten, bevor wir in die Nebelkammer versetzt worden waren: Orghs. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Kythara sog scharf den Atem ein, als hätte sie sich an etwas Heißem verbrannt, und in der Kaverne breitete sich helles Licht aus. Die Insektoiden hatten sich um ein kompliziert aufgebautes Objekt geschart, das unverkennbar eine Maschine war. Welchem Zweck sie dienen mochte, war mir bislang unverständlich geblieben. Doch nun hatte eine der Wespen sie offenbar aktiviert, und aus dem Aufsatz, der wie ein altertümliches Kanonenrohr aussah, drang plötzlich ein gleißender Lichtschein, der eine größere Fläche der Eiswand erstrahlen ließ. »Dieses … Ding«, raunte Kythara. »Es verbreitet eine ziemlich unangenehme Strahlung. So etwas wie ein schrilles psionisches Kreischen.« »Dann dürfte es wohl nichts nützen, wenn du dir die Ohren zuhältst, was?« Kythara warf mir nur einen gequälten Seitenblick zu. Ich beschloss, ihr nicht weiter auf die Nerven zu gehen, und widmete mich wieder dem Geschehen in der Kaverne. Nun erkannte ich, dass die Lichtkanone allmählich Wirkung zeigte – auch wenn ich nicht beurteilen konnte, ob sie in dieser Form beabsichtigt war. Zuerst hielt ich es für eine weitere optische Täuschung, doch dann erkannte ich immer deutlicher, dass sich die Höhlenwand aufzulösen schien. Das Eis verwandelte sich in eine Wolke aus schillerndem Konfetti, das jedoch nicht zu Boden sank, sondern offenbar von der Kanone angezogen
Bernhard Kempen wurde. Die silbrigen Flitterteilchen schwirrten zunächst wild durcheinander und konzentrierten sich dann zu einer funkelnden Sphäre rund um die Maschine. Im gleichen Maße, wie sich die Sphäre verdichtete, breitete sich Unruhe unter den Insektoiden aus. Sie wichen zögernd vor der Maschine zurück und liefen immer hektischer durcheinander, ähnlich wie die irisierenden Eisfunken. Gleichzeitig geschah etwas mit dem Lichtkegel, den die Kanone aussandte. Das weiße Leuchten verschob sich ins bläuliche Spektrum, während die Bewegung der Funken schneller wurde. Die Wolke wanderte zwischen Maschine und Wand hin und her und schien sich nicht entscheiden zu können, wo sie sich sammeln sollte. Die Teilchen oszillierten immer wilder, der Lichtkegel hatte eine tiefe Blautönung angenommen, und die Insektoiden reagierten mit großer Aufregung auf diesen Vorgang. Plötzlich zuckte ein greller blauer Blitz durch die Höhle, als die Maschine den Geist aufgab. Die schillernde Funkenwolke breitete sich wie eine Feuerwerksblume aus. Nun ergriffen sämtliche Insektenwesen die Flucht vor dem strahlenden Regen. Ihre Reaktion konnte ich durchaus nachvollziehen. Das Problem war nur, dass die meisten durch den Tunnel flüchten wollten, in dessen Eingangsbereich Kythara und ich uns versteckt hatten.
* »Nichts wie weg!«, zischte ich der Varganin zu. Geduckt zogen wir uns zurück, dicht an der Wand entlang, die sich zum Glück nach links krümmte, sodass die Insektoiden uns in wenigen Augenblicken von der Höhle aus nicht mehr sehen konnten. Noch hatten sie andere Sorgen und waren weit genug von uns entfernt. Aber das würde sich bald ändern, wenn sie den Tunnel erreicht hatten. Die Gänge, die den »Eisberg« durchzogen, wanden sich ohne erkennbaren Grund,
Murloths Berg führten nach schräg oben oder unten, verzweigten sich, verliefen im Kreis oder endeten in Sackgassen. Sie bildeten einen regelrechten Irrgarten, als hätten sich Borkenkäfer durch das morsche Holz eines alten Baums gegraben. Unwillkürlich drängte sich mir der Eindruck auf, dass nur die Insektoiden sie geschaffen haben konnten. Doch das war möglicherweise ein Trugschluss. Intelligenzwesen neigten dazu, ihr Ziel auf direktem Wege anzusteuern und keine sinnlosen Schlenker und Sackgassen anzulegen. Es war genauso denkbar, dass das Höhlensystem auf natürliche Weise oder durch einen ganz anderen Effekt innerhalb der PsiMaterie entstanden war. Auf jeden Fall kam uns die chaotische Anordnung der Gänge zugute, weil wir schon nach wenigen Metern auf einen Seitengang stießen. Kythara und ich überlegten nicht lange und hasteten hinein – in der Hoffnung, dass die Insektenarmee weiter dem Haupttunnel folgte. Der Gang erwies sich als Sackgasse. Kurz vor dem Ende drückten wir uns in eine Art Wurmfortsatz und hielten still. Unser Plan schien aufgegangen zu sein. Wir hörten gedämpfte Geräusche aus gleich bleibender Entfernung. Anscheinend sammelten sich die Orghs im Tunnel und beratschlagten das weitere Vorgehen. Wir hatten uns zwar vorläufig in Sicherheit gebracht, aber nun stellte sich die Frage, ob wir jemals die Gelegenheit erhielten, unser Versteck wieder zu verlassen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen mit den »Mordwespen« war ich nicht gewillt, einfach nach draußen zu spazieren und dem nächsten Vertreter dieser Spezies die Klaue zu schütteln. Schließlich stand uns nicht einmal die Möglichkeit zur Verfügung, uns mit Waffengewalt aus einer Notlage zu befreien. Ich hatte unsere Ausrüstung in unregelmäßigen Abständen überprüft, aber die stabförmigen Energiestrahler waren genauso tot wie alle anderen Systeme der varganischen Schutzanzüge.
9 »Eins verstehe ich noch nicht ganz«, sagte ich leise, als sich die Insektoiden anscheinend verzogen hatten. »Als ich damals auf dem Planeten Schneeball in die Psi-Quelle Skanmanyon eingedrungen war, sah es dort ganz anders aus. Der schwebende Eisberg war von künstlich geschaffenen Gängen und technischen Anlagen durchzogen. Die einzigen Maschinen, die ich hier sehe, scheinen von den Orghs in den Berg gebracht worden zu sein.« »Diese Quelle ist schon stark transformiert«, sagte Kythara. »Psi-Energie interagiert auf höchst unterschiedliche Weise mit normaler Materie. Unter bestimmten Bedingungen kann sie direkt zu Psi-Materie kondensieren, und in hoher Konzentration kann sie die Materie des Speichermediums in PsiMaterie verwandeln.« »Das heißt, der Eisberg ist mitsamt den technischen Systemen in eine neue Zustandsform übergegangen«, versuchte ich die für meinen Verstand recht esoterischen Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen. »Bedeutet das auch, dass diese Quelle ein Eigenbewusstsein erlangt hat?« »Nicht zwangsläufig«, antwortete die Varganin. »Was sich auf einem so hohen Psi-Energieniveau abspielt, lässt sich nur schwer vorhersagen. Die evolutionären Möglichkeiten nehmen im proportionalen Ausmaß zu.« »Grundsätzlich wäre also alles möglich.« »So könnte man es leicht übertrieben ausdrücken«, sagte Kythara. »Ich glaube, jetzt ist die Luft rein.« Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Nische. »Warte!«, rief ich ihr nach, aber sie steuerte bereits zielstrebig dem Ausgang des Seitentunnels zu. In der Hoffnung, dass auf die Instinkte der Varganin Verlass war und sie nicht aus Leichtsinn handelte, folgte ich ihr mit einem ergebenen Achselzucken. Im Haupttunnel hielten sich tatsächlich keine Insektoiden mehr auf. Die einzigen Geräusche kamen von rechts, wo die Kaverne mit der Lichtkanone lag. Offenbar hatte sich das Psi-Gewitter beruhigt, sodass sich
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die Orghs wieder um die Maschine kümmern konnten. Wir gingen nach links. Eine Zeit lang irrten wir durch die Gänge, wobei ich mich darauf verließ, dass sich der Lageplan meinem fotografischen Gedächtnis einprägte. Zweimal mussten wir in Seitengänge flüchten, um nicht von Insektoiden entdeckt zu werden. Zum Glück kündigten sie ihre Annäherung rechtzeitig durch das rhythmische Scharren ihrer ungewöhnlichen Fortbewegung auf den drei Teleskopbeinen an. Schließlich bewegten wir uns durch einen breiteren Tunnel und tasteten uns an der Wand entlang zur nächsten Biegung. Als wir vorsichtig einen Blick um die Ecke warfen, gingen wir schnell wieder in Deckung.
* Ur'ogh-49 war erleichtert, als er endlich einen Shiruh fand. Der Techniker trippelte mit schnellen Schritten durch den Tunnel, und der Wächter hob die Arme, um dem Ranghöheren anzuzeigen, dass er ihn dringend sprechen musste. »Jetzt nicht!«, zischte der Shiruh ihm zu. »Ich habe Wichtigeres zu tun!« Verdutzt blieb Ur'ogh-49 stehen und blickte dem Techniker nach. Von einer Arbeitergruppe, die kurz darauf aus der entgegengesetzten Richtung durch den Tunnel hüpfte, erfuhr er, dass sie den Auftrag erhalten hatten, die Trümmer eines weiteren fehlgeschlagenen Experiments zu beseitigen. Der Zwischenfall hatte so große Aufregung verursacht, dass Ur'ogh-49 entschied, die Erledigung seines Auftrags vorläufig zurückzustellen. Die Techniker schienen zurzeit andere Sorgen zu haben, als sich um die Inbetriebnahme eines Messgeräts zu kümmern. Also entschied Ur'ogh-49, ins Lager zurückzukehren. Dort würde er Ur'ogh-7 Bericht erstatten und neue Anweisungen entgegennehmen. Ihm kam der Gedanke, dass sein Vorgesetzter ihn wahrscheinlich wieder
in den Berg schicken würde, um die Aufräumarbeiten zu überwachen und sich für die Lösung spezieller Probleme zur Verfügung zu halten. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er sich den Umweg sparen und sofort die Kaverne aufsuchen sollte, wo er sich zweifellos auf irgendeine Weise nützlich machen konnte. Eine durchaus sinnvolle Idee. Aber sie war natürlich praktisch nicht durchführbar. Eine solche Entscheidung konnte Ur'ogh-49 nicht eigenmächtig treffen; sie musste ihm von einem Ranghöheren befohlen werden. Trotzdem wollte ihm dieser Gedanke nicht aus dem Kopf gehen. Er dachte immer noch darüber nach, als er in einen größeren Tunnel einbog, von dem er wusste, dass er nach der nächsten Biegung ins Freie führte. Deshalb achtete er kaum darauf, dass sich vor ihm etwas bewegte. Bis ihm bewusst wurde, dass sich dort etwas Ungewöhnliches tat. Wir hatten einen Ausgang gefunden. Doch wir wagten nicht, den Berg Murloth zu verlassen, weil sich unmittelbar davor auf der vereisten Ebene eine größere Menge Orghs und anderer Insektenvölker versammelt hatte, die mit Maschinen hantierten und anderen – unverständlichen – Tätigkeiten nachgingen. Die Szene war trotz der nächtlichen Dunkelheit recht deutlich zu erkennen, da der psionische Eisberg genügend Licht verbreitete. »Glaubst du mir jetzt?«, wandte sich Kythara an mich. »Das ist eindeutig die ›Ebene ohne Schatten‹.« »Ich würde es niemals wagen, an deiner unendlichen varganischen Weisheit zu zweifeln, Maghalata.« »Andererseits …«, sagte sie nachdenklich, während sie sich wieder ein Stück aus der Deckung schob. »Zumindest ein leiser Zweifel wäre angebracht. Schau dir die Umgebung mal ganz genau an.« »Worauf willst du hinaus?« Ich hatte wirklich keine Ahnung, was sie meinte, aber ich tat ihr den Gefallen und streckte den Kopf so weit um die Gangbiegung, dass ich
Murloths Berg einen guten Überblick hatte. Wieder sah ich die Insektoiden, die gerade eine Maschine auf eine Antigravplattform verluden. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Lichtkanone, die wir in der Kaverne in Aktion gesehen hatten. Anscheinend wurde mit verschiedenen Modellen experimentiert – was auch immer der Zweck dieser Apparaturen sein mochte. Nachdem die eine Kanone versagt hatte, kam der nächste Prototyp zum Einsatz. Mein Blick wanderte weiter über die Ebene, auf der sich das Leuchten des Eisberges allmählich verlor. Dort war es zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Worauf wollte Kythara mich hinweisen? Ich verkniff mir eine weitere Nachfrage, da ich ihre Bemerkung so verstanden hatte, dass ich von selbst darauf kommen musste. Ein Narr, wer das Wesen der Dunkelheit mit hellem Licht zu ergründen versucht, meldete sich unverhofft mein Extrasinn mit einer alten arkonidischen Spruchweisheit zu Wort. Schlagartig wurde mir klar, was ich übersehen hatte. Eigentlich durfte es da draußen gar nicht stockfinster sein! Die gelbe Sonne mit dem Planeten Narukku stand am Rand des Murloth-Emissionsnebels, der den nächtlichen Himmel mit farbenfrohen Wolkenschleiern in Blau, Rot und Gelb überzog. Natürlich nur während einer Hälfte des knapp vierhundert Terra-Tage dauernden Narukku-Jahres, immer dann, wenn der Planet von der Sonne aus gesehen in Richtung des Nebels stand. Während der anderen Jahreshälfte zeigte der Nachthimmel das übliche Schwarz mit vereinzelten Sternen. Die Sache war nur die, dass Kythara und ich den Planeten zu einem Zeitpunkt erreicht hatten, an dem das nächtliche Schauspiel gerade seinen jährlichen Höhepunkt erreicht hatte. »Sind wir bei der Ortsversetzung in eine zeitliche Stasis geraten?«, fragte ich. »Ist ein halbes Narukku-Jahr vergangen, ohne dass wir es bemerkt haben?« »Das glaube ich nicht«, sagte die Varga-
11 nin zögernd. »Die Eisfläche rund um den Berg ist völlig glatt und unversehrt. Erinnerst du dich, wie es da draußen aussah, als sich die Kristallsplitter von der Vergessenen Positronik hier konzentrierten? Mein Gefühl sagt mir, dass wir in die Vergangenheit versetzt wurden.« Sie hatte Recht. Die Kristallmaterie hatte sich von der Plattform gelöst und war in einem Psi-Strudel zum Planeten hinuntergerast, wo sie unter psionischen Energieentladungen mit dem Berg Murloth reagiert hatte. Was wir jetzt sahen, war entweder lange vor dem Psi-Sturm geschehen, oder diese Szene lag in ferner Zukunft, nachdem sich alles wieder beruhigt hatte. Doch irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass die turbulenten Ereignisse, die wir miterlebt hatten, ohne nachhaltige Folgen für den Planeten und vor allem für den Berg aus Psi-Materie bleiben würden. »Gut, ich bin bereit, mich auf dein Gefühl zu verlassen«, sagte ich zu Kythara. »Aber damit stellt sich die Frage, warum uns der Berg – oder wer immer dafür verantwortlich sein mag – an diesen Ort und in diese Zeit versetzt hat. Steckt ein Sinn dahinter, oder war alles nur die zufällige Folge chaotischer Psi-Effekte?« »Mit meinen Fähigkeiten kann ich zwar so einiges erahnen, aber du solltest nicht zu viel …« Sie verstummte, als sich scharrende Geräusche durch den Tunnel näherten.
3. Wir saßen in der Falle. Von hinten näherten sich Orghs, die sich uns gegenüber bislang nicht sehr friedfertig verhalten hatten, und vor uns, hinter der Biegung des Tunnels, würden wir der Insektenarmee auf der »Ebene ohne Schatten« in die Arme laufen. Hektisch sah ich mich nach einer Versteckmöglichkeit um. Auf der anderen Seite der unregelmäßig geformten Tunnelwand schien sich ein Seitengang oder zumindest eine Nische zu befinden, die uns vielleicht
12 ausreichend Schutz bot. Ich gab Kythara ein Zeichen, und gleichzeitig sprinteten wir los. Ich ließ der Varganin den Vortritt und wartete, dass sie weiter in den Gang eindrang, damit ich ihr folgen konnte. Sie stieß eine knappe Lautfolge aus, deren Sinn mir unbekannt war, aber der Betonung entnahm ich, dass es sich um einen Fluch handelte. Es war kein Gang, sondern nur eine flache Einbuchtung, viel zu klein, um zwei Personen Schutz zu bieten. Ich fuhr herum, als das Scharren lauter wurde. Dann sah ich, dass sich durch den Tunnel ein Insektoide mit tropfenförmigem Kopf und sieben Gliedmaßen näherte. Drei davon setzte er ein, um sich mit federnden Sprüngen fortzubewegen. Doch nun blieb er abrupt stehen, als ich in sein Blickfeld geriet, und schien zu überlegen, wie er auf diese unverhoffte Begegnung reagieren sollte. Schon im nächsten Augenblick war er zu einer Entscheidung gelangt. Er setzte sich wieder in Bewegung und zog ein Gerät vom Gürtel, der den wespenartigen Rumpf umschloss. Ich wollte mich nicht auf die Hoffnung verlassen, dass es keine Waffe, sondern vielleicht nur ein harmloses Messinstrument war. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, mich zu vergewissern, ob unsere Energiestrahler wieder funktionierten, sondern trat sofort in Aktion. Ich stürmte los, genau auf den Insektoiden zu, duckte mich und schlug ihm das Ding aus der Greifklaue. Mein Misstrauen erwies sich als gerechtfertigt, als für einen Sekundenbruchteil ein Energiestrahl durch den Tunnel zuckte und in die Wand einschlug – jedoch ohne Kythara oder mir Schaden zuzufügen. Ich wirbelte herum und versetzte dem Orgh, der offenbar nicht auf diese Art von handfester Gegenwehr gefasst war, einen Fußtritt in Höhe des Gürtels. Er bemühte sich, den Schlag mit den drei Beinen auszugleichen, die wie Stoßdämpfer arbeiteten, doch er konnte nicht verhindern, dass er der
Bernhard Kempen Länge nach auf dem Tunnelboden landete. Ich sah mich nach Kythara um, die die Nische verlassen hatte und sich vorsichtig näherte, um notfalls in den Kampf eingreifen zu können. Ich ergriff ihre Hand und zerrte sie mit, zurück ins Innere des Eisberges und vom Ausgang weg. Wie es schien, war der Insektoide allein unterwegs gewesen, sodass wir uns in Sicherheit bringen konnten, wenn wir uns beeilten. Dann hörte ich einen unterdrückten Schrei und spürte, wie mir Kytharas Hand entglitt. Ich fuhr herum und sah, dass der Insektoide überraschend schnell wieder auf die Beine gekommen war. Mit einem Satz hatte er uns erreicht und die Varganin zu Fall gebracht. Er umklammerte sie mit allen vier Handlungsarmen und schob sich mit kurzen Beinstößen durch den Tunnel – dorthin, wo ein paar Meter weiter die Energiewaffe lag. Ich überlegte nicht lange und hetzte zurück. Mit geballter Faust versetzte ich dem Orgh, der mich gar nicht mehr zu beachten schien, einen kräftigen Schlag gegen den Kopf. Ich stöhnte leise, als meine Hand den äußerst stabilen Chitinpanzer traf. Doch ich unterdrückte den Schmerzimpuls und brachte den Insektoiden mit einem Fußtritt gegen eins der Teleskopbeine aus dem Gleichgewicht. Seine Arme erschlafften, und er sackte in sich zusammen. Mit einem leisen Krachen brach sein vielgliedriger Chitinkörper auf dem Tunnelboden zusammen. Ich überzeugte mich davon, dass er sich nicht mehr rührte, und hoffte, dass ich ihn nur bewusstlos geschlagen und nicht getötet hatte. Dann nahm ich seine Energiewaffe an mich. »Danke«, sagte Kythara, die sich aufgerappelt und den Angriff offenbar unbeschadet überstanden hatte. »Stets zu Euren Diensten, Maghalata«, erwiderte ich.
* Es dauerte eine Weile, bis Ur'ogh-49 regi-
Murloths Berg strierte, wo er sich befand. Als er vollständig aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, fragte er einen Krankenarbeiter, was geschehen war. Der Torghan wusste nur, dass man ihn im Berg gefunden und in die Gesundheitsbaracke gebracht hatte. Er versicherte Ur'ogh-49, dass er sich lediglich ein paar Prellungen am Chitinpanzer zugezogen hatte, die schnell verheilen würden. Schon bald konnte er aus der Krankenwabe steigen und wieder seinen Pflichten nachgehen. Wenig später suchte Ur'ogh-7 ihn auf und ließ sich von seinem Untergebenen einen Bericht des Vorfalls geben. Ur'ogh-49 schilderte die Ereignisse so sachlich wie möglich. Er erwähnte auch die Begegnung mit den bläulichen Nebelschwaden – und dass das Messgerät, das er zuvor in den Berg geschafft hatte, immer noch nicht aktiviert worden war. Sein Vorgesetzter teilte ihm mit, dass er sich in dieser Angelegenheit persönlich mit einem Techniker in Verbindung setzen werde. Damit war Ur'ogh-49 von dieser unerfüllten Aufgabe entbunden. Nachdem sein Vorgesetzter gegangen war, nutzte er die verordnete Erholungszeit dazu, gründlich über den Vorfall nachzudenken. Eigentlich stand es nur Ur'ogh-7 zu, weitergehende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, aber es gab ein paar Punkte, die Ur'ogh-49 ihm gegenüber nicht erwähnt hatte. Er hatte es nicht aus Ungehorsam oder Nachlässigkeit getan, sondern weil es sich um subjektive Beobachtungen handelte, die im Bericht eines Untergebenen nichts zu suchen hatten. Der erste Punkt war der, dass Ur'ogh-49 sofort davon überzeugt gewesen war, dass es eine Verbindung zwischen den zwei Fremden, die unvermittelt im Ausgangstunnel vor ihm aufgetaucht waren, und dem bläulichen Nebel gab. Selbstverständlich hatte er in seiner Schilderung nicht auf die Möglichkeit eines Zusammenhangs hingewiesen, aber Ur'ogh-7 hatte von selbst erkannt, dass eine Verbindung denkbar war.
13 Die zwei Fremden waren Humanoide, die sich optisch vor allem in der Struktur der Behaarung unterschieden, die die hintere Hälfte des Kopfes bedeckte. Beide hatten bläuliche Anzüge getragen, die ihre Körper fast vollständig umschlossen. Ur'ogh-49 wusste, dass die meisten Humanoiden solche künstlichen Körperhüllen trugen, weil sie keine feste Chitinhaut besaßen. Jedenfalls passte die Größe und Form der bläulichen Schemen zu den Gestalten der Humanoiden. Natürlich war es möglich, dass Ur'ogh-49 zuvor zwei anderen Individuen in halb stofflicher oder unvollständig materialisierter Form begegnet war, aber er hatte den intensiven, wenn auch subjektiven Eindruck, dass sie in der Tat identisch waren. Da es sich unzweifelhaft um Eindringlinge handelte, hatte Ur'ogh-49 sofort erkannt, dass es seine Aufgabe als Wächter war, etwas zu unternehmen. Da sich nicht einschätzen ließ, ob sie ein Sicherheitsrisiko darstellten, musste er sie zunächst in Gewahrsam nehmen, bis seine Vorgesetzten entschieden, wie mit ihnen zu verfahren war. Ur'ogh-49 hatte gewusst, dass seine Erfolgsaussichten gegenüber den beiden Humanoiden nicht besonders gut waren, aber da schnelles Handeln angebracht war, hatte es keine Alternative gegeben. Es hatte ihn erstaunt, mit welcher Schnelligkeit und welchem Geschick sich der erste Fremde gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte, obwohl er zu seiner Überraschung keine Energiewaffe eingesetzt hatte. Er konnte nur ein ausgebildeter Soldat sein. Als Ur'ogh-49 betäubt am Boden gelegen hatte, musste er seine Einstufung der Fremden revidieren. Sie waren keine einfachen Eindringlinge, denen mit Vorsicht zu begegnen war, sondern Feinde, die mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden mussten. Die nächste Überraschung war, dass der Fremde – den er vorläufig als Hum-1 bezeichnen würde – seinen Vorteil im Kampf nicht ausgenutzt, sondern es versäumt hatte, Ur'ogh-49 zu töten. Für den Wächter war es
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ein unlogisches Verhalten, aber er war nicht bereit, sich dadurch irritieren zu lassen. Deshalb hatte er, als er sich kurz darauf vom Sturz erholt hatte, die Chance genutzt, erneut anzugreifen. Dass er sich dazu Hum-2 ausgesucht hatte, war eine völlig logische Entscheidung gewesen. Es gab sogar zwei Gründe, die dafür sprachen: Dieses Individuum war Ur'ogh-49 näher gewesen, und aufgrund seiner untergeordneten Stellung musste es über weniger Kampfgeschick verfügen. Wie gut es sich tatsächlich wehren konnte, ließ sich nur schwer einschätzen, da Hum-2 durch den Angriff des Wächters völlig überrumpelt worden war. Mit nur zwei Armen und der empfindlich weichen Haut konnte ein Humanoide kaum etwas gegen einen Torghan ausrichten, der ihn mit allen vier Armen fest umklammerte. Ur'ogh-49 wollte wenigstens einen der Eindringlinge in Gewahrsam nehmen. Der andere konnte später mit einem größeren Wächtertrupp eingefangen werden. Dann war eine weitere Wendung eingetreten, mit der Ur'ogh-49 nicht gerechnet hatte. Hum-1 hatte die Gelegenheit nicht genutzt, sich in Sicherheit zu bringen, sondern ein zweites Mal angegriffen, um seinen Artgenossen zu befreien. Wenn dieses Verhalten für den Wächter vorhersehbar gewesen wäre, hätte er eine andere Taktik gewählt und beim Angriff auf Hum-2 seine Außendeckung nicht vernachlässigt. Dadurch war es Hum-1 gelungen, nunmehr Ur'ogh-49 zu überrumpeln. Der Wächter bemühte sich, die Gründe für das unorthodoxe Verhalten der Humanoiden zu verstehen, aber das alles ergab für ihn nur wenig Sinn. Er beschloss, seine Erfahrungen zu berücksichtigen, falls er ihnen erneut begegnen sollte, und versetzte sich in den Ruhezustand, um den Rest seiner Genesungsphase zu überbrücken.
* Wir zogen uns durch den Tunnel zurück
und verschwanden kurz darauf in einem schmalen Seitengang. Glücklicherweise begegneten wir keinem weiteren Insektenwesen. Nachdem wir ein wenig zu Atem gekommen waren, drangen wir weiter in den Berg vor. Schon bald entdeckten wir eine Höhle, in der die Insektoiden mit den Vorbereitungen eines Experiments beschäftigt waren. Die aufgebaute Apparatur glich jener, die wir draußen auf der Ebene gesehen hatten, war nur deutlich größer. Ein Wesen, das wie eine aufrecht gehende Motte mit golden schimmernden Flügeln aussah, schien so etwas wie der Chefingenieur zu sein. Der »Tineoide« griff immer wieder in die Arbeiten ein und erklärte den Orghs mit Hilfe eines Translators, wie die Maschine justiert werden musste. Die Mordwespen, die unter den Insektenwesen am häufigsten vertreten waren, schienen ausschließlich mit praktischen Aufgaben betreut zu werden und keine Befehlsgewalt auszuüben. Erneut wurde der Lauf der Kanone – diesmal kam ein fast doppelt so großes Kaliber zum Einsatz – auf die nächste Wand gerichtet, und das Spektakel wiederholte sich. Ein grellweißer Lichtkegel traf auf die PsiMaterie des Berges Murloth und löste die Wand in eine funkelnde Wolke auf, die wie beim letzten Mal zur Lichtkanone trieb. Doch diesmal blieb die sich aufschaukelnde Oszillation aus. Die schillernden Funken wurden von der Maschine angezogen und sammelten sich in ihrer unmittelbaren Umgebung. Die Wolke wurde immer heller und dehnte sich immer weiter aus. Doch auch diese Entwicklung schien nicht die gewünschte zu sein, da die Insektoiden nun langsam zurückwichen. Ihren Reaktionen war unschwer zu entnehmen, dass sie die Lichtwolke als Bedrohung betrachteten. Ich wollte Kythara bereits vorschlagen, dass auch wir uns durch den schmalen Gang zurückziehen sollten, der etwa drei Meter über dem Boden in die Kaverne mündete und uns eine relativ sichere Beobachtungs-
Murloths Berg
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position bot. Doch im gleichen Augenblick legte sie mir eine Hand auf die Schulter und deutete mit einem Blick in die Höhle an, dass sie offenbar etwas Interessantes bemerkt hatte. Die goldene Motte diskutierte aufgeregt mit einem Orgh, dem keine Regung anzumerken war. Mehrmals vollführte sie mit zwei Armen eine bestimmte Bewegungsabfolge, bis der Orgh die Sequenz fehlerfrei wiederholte. Dann marschierte das Wespenwesen auf die Maschine zu. Seine Artgenossen verfolgten ungerührt, wie ihr Kollege in die Funkenwolke eindrang und dort mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ein paarmal schien es, als würde der Orgh straucheln, doch er konnte sich immer wieder fassen und kämpfte sich tapfer zum Zentrum des schillernden Lichts vor. Endlich hatte er die Maschine erreicht, die im psionischen Schneegestöber nur noch undeutlich zu erkennen war. Mit letzter Kraft tasteten seine Arme nach den Kontrollen und führten exakt die Bewegungen aus, die das Mottenwesen ihm vorgemacht hatte. Schlagartig erlosch der Lichtkegel der Kanone. Aber damit war das Spektakel noch nicht vorbei. Die wirbelnden Funken wurden langsamer, als hätten sie mit einem Mal die Orientierung verloren. Ihr Leuchten wurde schwächer, dann schien die aufgelöste PsiMaterie wie in einer Regenwolke zu kondensieren. Die erloschenen Funken rieselten zu Boden. Die Folgen dieses Vorgangs waren wesentlich dramatischer, als der reine Augenschein vermuten ließ. Der psionische Niederschlag legte sich wie Zuckerguss über alles, was sich darunter befand. Über den Boden, der bereits aus der gleichen Psi-Materie bestand, aber auch über die Maschine und das Insektenwesen. Der Orgh rührte sich nicht mehr. Er schien die heldenhafte Rettungsaktion nicht überlebt zu haben.
*
Wir beobachteten noch die Szenerie, als uns beide gleichzeitig ein mulmiges Gefühl überkam. Uns blieben nicht einmal zehn Herzschläge, dann erwies sich, wie begründet dieses Gefühl war, ähnlich wie Tiere es vor einem Erdbeben durchleiden: Der gesamte Eisberg schien zu erzittern. Aus dem leisen Vibrieren, kaum fühlbar noch, wurde ein Beben und schließlich ein Rütteln, das uns beinahe von den Beinen riss. Ich prallte gegen die Seitenwand des Ganges, versuchte mich abzustützen, um Schürfwunden zu vermeiden … und federte ab! Die psimaterielle Struktur des Berges veränderte sich! Mir blieb kaum Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, denn schon folgte die nächste: Meine Füße sanken ein Stück weit in den Boden ein, auch er wurde von kaltem, rauem Stein zu einer weichen, glatten Masse. »Wir müssen hier raus!«, sagte ich und versuchte einen Schritt fort von der Halle zu gehen, auf Kythara zu. Doch der Boden war so weich und glatt, dass ich einsackte, strauchelte und vornüberkippte – genau auf Kythara zu. Die Varganin versuchte mich aufzufangen, geriet dabei aber selbst aus dem Gleichgewicht … doch ihr Bewegungsimpuls reichte, um mich mitzureißen – als Menschenknäuel stürzten wir rückwärts aus der Öffnung und drei Meter tief in die Höhle, mitten zwischen die verdutzten Insektoiden. Es war, als würde eine Verdauungsöffnung einen unerwünschten Brocken ausspucken. »Verflucht!«, schrie ich, mehr vor Überraschung als vor Schmerz oder Angst, und rappelte mich, so schnell es ging, hoch. Kythara tat es mir gleich, hatte sich aber besser im Griff. »Wohin jetzt?«, flüsterte sie. »Schnell, noch haben wir eine Chance.« Tatsächlich: Die Insektoiden reagierten überhaupt nicht auf unser plötzliches Erscheinen. Sie standen wie erstarrt da und schienen sich nicht zu einer Entscheidung durchringen zu können. Standen sie unter
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Schock? Egal. Ich hatte keine Zeit für eine Analyse der Mordwespenpsyche, sondern nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Instinktiv wies ich auf einen Tunneleingang, der von der Maschine und den Insektoiden möglichst weit entfernt war. »Hier entlang!« Kaum waren wir losgelaufen, weg von den vielbeinigen Geschöpfen, ertönte in unserem Rücken ein knarrender Ruf. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah, dass das Mottenwesen auf uns zeigte und sich eine Gruppe von sieben Insektoiden in Bewegung setzte. »Schneller!«, keuchte ich und musste mit einem Anflug von Neid feststellen, dass Kythara damit weniger Probleme hatte als ich selbst. Varganen-Konstitution!, dachte ich und beschleunigte ebenfalls stärker, um zumindest aufzuholen. Noch hatten wir Vorsprung vor den Mordwespen – und den galt es auszunutzen. Kythara erreichte den Tunnel als Erste, den wir uns als Fluchtweg auserkoren hatten. Wir mussten uns beeilen, wenn wir dem Wachtrupp entkommen wollten. Ich schnellte mich hinterher. In Sicherheit. Und dann bremste ich ab, weil Kythara stehen geblieben war. Ich bemerkte nun das Gleiche, was auch sie schon wahrgenommen haben musste: Der Tunnel führte nur dreißig Schritte weit und endete dann in nacktem Fels. Wir waren in eine Sackgasse gelaufen. »Toller Fluchtweg«, meinte die Varganin.
* Die ersten Insektoiden betraten den Tunnel. Sie kamen nacheinander, in gerader Linie auf uns zu. Ich drückte mich so flach wie möglich gegen die Wand und zog den Energiestrahler, den ich einem der Insektenwesen bei unserer ersten Konfrontation abgenommen hatte. »Warte …«, sagte Kythara, die hinter mir Stellung bezogen hatte. »Worauf soll ich warten?«, fragte ich ge-
reizt. »Dass sie uns über den Haufen rennen?« »Ich glaube, wir …« Doch bevor sie mir erklären konnte, was sie ahnte oder zu spüren glaubte, sah ich mit eigenen Augen, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Die Wände schienen zurückzuweichen und zu einem einheitlichen weißen Hintergrund zu verschmelzen. Es war wieder genauso wie in der halb stofflichen Nebelkammer, in die wir durch den abrupten Transportvorgang versetzt worden waren. Gleichzeitig verloren die Insektoiden ihre Konsistenz und verwehten zu grauen Schatten. Ich ahnte, was geschehen würde, trotzdem verfolgte ich mit angehaltenem Atem und schussbereiter Waffe, wie die hellgrauen Nebelfetzen an uns vorbeitrieben, ohne uns körperlich zu berühren. Das Einzige, was ich spürte, war ein eiskalter Hauch. »Ist der Spuk vorbei?«, fragte ich, als wir uns wieder im Zustand der einförmig weißen Immaterialität befanden. »Kehren wir jetzt in unsere gewohnte Zeitebene zurück?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Kythara. »Ich spüre nur, dass sich wieder etwas … verschiebt.« Auch ich hatte den Eindruck, dass der neblige Hintergrund diesmal unruhiger war. Die Psi-Materie war ständig in Bewegung, als wäre sie unschlüssig, welche Zustandsform sie annehmen sollte. Und immer wieder waren graue Schatten zu erkennen, die den Nebel eintrübten und wieder verschwanden. »Wer bist du?«, fragte Kythara unvermittelt. Ich fuhr zu ihr herum. Hatte meine Begleiterin plötzlich jegliche Orientierung und die Erinnerung verloren, wer ich war? Doch dann sah ich, dass ihr Blick in eine ganz andere Richtung ging, in der sich ein neues Phänomen bemerkbar machte. Es war kein huschender Schatten, sondern eine Lichtquelle, die sich nur langsam bewegte, aber stetig näher zu kommen schien. Aus dem weißen Hintergrund schälte sich eine
Murloths Berg ungefähr dreieckige Form heraus, die heller als die Umgebung strahlte. Ich wusste nicht, woher das Gefühl kam, aber die Erscheinung wirkte merkwürdig … friedfertig, wohlwollend gar. Trotzdem überlegte ich, ob ich sie lieber als Gefahr einstufen sollte. Schließlich konnte man nie vorsichtig genug sein. Fragte sich nur, was ich gegen diese Leuchterscheinung unternehmen wollte, falls sie feindselige Aktivitäten entwickelte. Kythara schien dem Wesen nicht das geringste Misstrauen entgegenzubringen. Sie beobachtete in gelassener Haltung und mit leicht verklärtem Blick, wie es sich näherte und in einem Abstand von vielleicht einem Meter vor ihr verharrte. Wobei ich mir letztlich nicht sicher war, ob Entfernungsangaben auf dieser halb materiellen Existenzebene überhaupt einen Sinn ergaben. »Was willst du?«, fragte Kythara. Stand sie in telepathischem Kontakt mit diesem Phänomen? Empfing ihr parapsychisch sensibler Geist Antworten auf ihre Fragen, oder stand sie genauso ratlos davor wie ich? Ich zügelte meine Neugier und beschloss, die Varganin nicht in ihrer Konzentration zu stören. Wieder musste ich mich zusammenreißen, als das in halber Körperhöhe schwebende Dreieck Lichtfinger aussandte, die sich wie vorsichtig tastende Tentakel auf Kythara zubewegten. Da sie keine Anstalten machte, den Kontaktversuch abzuwehren, hielt ich mich ebenfalls zurück. »Murloth?«, fragte sie. Die leuchtenden Tentakel strichen über Kythara hinweg, als würde das Wesen sie zärtlich streicheln. Ob es tatsächlich zu einer Berührung kam, konnte ich nicht einschätzen. Vermutlich war das, was ich sah, ohnehin nur der flüchtige optische Eindruck eines Geschehens, das sich auf einer ganz anderen Ebene abspielte. »Was sollen wir tun?«, fragte Kythara. Ich wusste immer noch nicht, ob wirklich eine Kommunikation zwischen der Varganin und dem Lichtphänomen stattfand. Ich sah
17 nur, dass es nun langsam, fast bedächtig die Tentakel zurückzog, als wäre es mit dem Ergebnis der Untersuchung zufrieden. Gleichzeitig schrumpfte das Dreieck und wich immer tiefer in den weißen Hintergrund zurück. In dem Augenblick, als das letzte Licht vom Nebel verschluckt wurde, brach der Sturm los.
* Es begann damit, dass ich einen kleinen Schwarm schwarzer Punkte sah, die genau auf mich zurasten. Es wurden immer mehr, die wie ein Schrothagel an mir vorbeiflitzten. Es sah aus wie die Negativaufnahme eines Zeitrafferfluges durch eine sternenreiche Galaxis. Gleichzeitig verlor ich den Boden unter den Füßen. Ich hatte das Gefühl, unkontrolliert herumgewirbelt zu werden, doch die Quelle, aus der die rasenden Punkte kamen, lag stets genau in meiner Blickrichtung. Einige der schwarzen Punkte nahmen eine bläuliche Färbung an. Dann mischten sich grüne Punkte darunter, und schließlich ergänzte sich das Spektrum um Gelb- und Rottöne. Ich taumelte haltlos durch einen schillernden Regen bunter Sternenpunkte, der jedoch keine weiteren Auswirkungen auf mein Wohlbefinden hatte. Die Lichteffekte wurden von einem dumpfen Rauschen begleitet, dessen Tonhöhe und Lautstärke allmählich zunahmen. Ich spürte, wie sich mein Sturz in den impressionistischen Abgrund verlangsamte, bis ich in einer Wolke aus flimmernden Farbpunkten schwebte. Stellenweise schienen sie sich zu Mustern zusammenzufinden, und ich glaubte, Formen und Figuren zu erkennen, aber es war durchaus möglich, dass es nur mein überfordertes Gehirn war, das Ordnung ins Chaos zu bringen versuchte. Von Kythara war nichts zu sehen. Ich rief ihren Namen, aber falls meine Stimmbänder überhaupt noch Schallwellen produzieren konnten, wurden sie vom allgegenwärtigen
18 Rauschen verschluckt. Wieder änderte sich das Bild. Das Gros der Punkte schimmerte bläulich, die übrigen ballten sich zusammen und wurden zu Wirbeln, die zusehends schneller und heller wurden, bis sie mit dem Weiß des Hintergrunds verschmolzen. Die Welt flimmerte, und aus diesem Flimmern gerannen Strukturen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, woran mich die neuen Muster erinnerten. Schlagartig verstummte das Rauschen, mein Sichtfeld erweiterte sich, und mit einem Mal wusste ich, wo ich mich befand: Unter mir breitete sich die »Ebene ohne Schatten« aus. Ich schwebte genau über dem Berg Murloth und sah die Kristallsplitter, die von der Vergessenen Positronik auf den Planeten gestürzt waren und sich dort in gasförmige Wirbel aus Psi-Energie verwandelt hatten. Es schien, als wäre ich in die Gegenwart zurückgekehrt. Doch diese Hoffnung erwies sich als Trugschluss, denn nun erkannte ich, dass die Wirbel nicht von den Kristallen ausgingen, sondern scheinbar von ihnen aufgesogen wurden. Die Psi-Tornados rissen mich hin und her, und ich kam den Kristallen immer näher, die zunehmend an Substanz gewannen. Während ich in einer weiten Spirale um den Berg kreiste, erhoben sich die Kristallsplitter und rasten in den Himmel. Eine ganze Weile schwebte ich als körperloses Etwas über der eintönigen weißen, schattenlosen Ebene. Hoch oben trieben Wolken und die bunten Schleier des Emissionsnebels über den Himmel in einer stroboskopartig stakkatohaften Abfolge von Tag und Nacht. Endlich verlangsamte sich der Zeitablauf, und ich sank dabei tiefer. Als ich wieder einzelne Tage unterscheiden konnte, sah ich im Zeitraffer, wie sich kleine Fluggefährte näherten, die neben dem Berg landeten und winzige insektoide Gestalten ausspuckten. Hektisch bauten die Gestalten Maschinen und behelfsmäßige Unterkünfte auf. Erst als ich mich weiter dem Boden näherte,
Bernhard Kempen erkannte ich, dass es sich um Insektoiden handelte. Die Bewegung wurde immer weiter abgebremst, bis ich die Insektoiden nur noch in Zeitlupe sah und sie schließlich ganz erstarrten. Im gleichen Moment hatte ich den Boden erreicht. Mein Sichtfeld zog sich zusammen, und ich bemerkte, dass ich wieder über meinen gewohnten Körper verfügte. Genauso wie Kythara, die wenige Meter von mir entfernt materialisiert war. Falls dieses Geschehen tatsächlich von einer bewussten Wesenheit gesteuert wurde, die uns vor unseren Verfolgern im Tunnel in Sicherheit bringen wollte, schien sie nicht bedacht zu haben, dass es auch draußen auf der Ebene von Insektoiden wimmelte. Die zahlreichen Facettenaugen, Fühler und Mandibeln, die in unsere Richtung gedreht wurden, ließen keinen Zweifel daran, dass man unser unverhofftes Erscheinen im gleichen Augenblick bemerkt hatte.
* Bereits zwei Narukku-Tage nach dem Zwischenfall hatte Ur'ogh-49 sich zum Dienst zurückgemeldet. Seine Prellungen schmerzten noch ein wenig, doch das war kein Grund, seine Pflichten weiter zu vernachlässigen. Ur'ogh-7 verpflichtete ihn zur Teilnahme an einer Einsatzbesprechung, an der neben Ur'ogh-2 und Ur'ogh-3 auch ein Wissenschaftler aus dem Volk der Daorghor zugegen war. Er erfuhr, dass es inzwischen zu einer weiteren Begegnung mit den Eindringlingen gekommen war, doch der Wächtertrupp hatte die Humanoiden kurz darauf aus den Augen verloren. Der Bericht von Ur'ogh-21, der den Trupp angeführt hatte, war recht widersprüchlich, doch Ur'ogh-49 vermutete, dass die Fremden entmaterialisiert waren, um sich dem Zugriff der Wächter zu entziehen. Damit stellte sich jedoch die Frage, warum sie nicht die gleiche Taktik eingesetzt hatten, als Ur'ogh-49 ihnen im Tunnel be-
Murloths Berg gegnet war. Vielleicht stand ihnen diese Fluchtmöglichkeit nur unter bestimmten Voraussetzungen zur Verfügung? Oder sie hatten gar keinen Einfluss darauf, wann und wo sie entund rematerialisierten? Da sich diese Überlegungen nicht durch Beweise stützen ließen, verzichtete der Wächter darauf, sie während der Einsatzbesprechung zu erwähnen. Drei siebenköpfige Trupps wurden abkommandiert, den Berg systematisch nach den Eindringlingen abzusuchen. Die Anführer der Gruppen waren Ur'ogh-35, -42 und 49. Es erwies sich als schwierig, die Suche so zu koordinieren, dass keine Nische des Labyrinths ausgelassen wurde und die Humanoiden nicht durch Lücken im Netz schlüpfen konnten. Ur'ogh-49 erachtete die Suchtaktik ohnehin als sinnlos, da die Fremden jederzeit einen unvorhersehbaren Ortswechsel vornehmen konnten. Aber in seiner Position stand es ihm nicht zu, auf Fehler in der Organisation hinzuweisen. Als die Suche auch nach drei Narukku-Tagen ergebnislos geblieben war, wurden die Wächter von diesem Auftrag entbunden. Ur'ogh-7 war nach Auswertung der Berichte zur Schlussfolgerung gelangt, dass die Humanoiden den Berg auf unbekannte Weise betreten und kurz darauf wieder verlassen hatten. Entweder war ihr Erscheinen ein Zufall gewesen, oder es waren unbekannte Beobachter, die sich lediglich einen Überblick über den Stand der Aufbauarbeiten verschafft hatten. Eigentlich hätte Ur'ogh-49 den Zwischenfall nun vergessen können, da die Angelegenheit nicht mehr in seine Zuständigkeit fiel. Trotzdem musste er immer wieder an die zwei Humanoiden und ihr außergewöhnliches Verhalten denken. Er versuchte seine ungewöhnlich emotionale Reaktion auf die Begegnung zu analysieren, was ihm nicht leicht fiel. Eine mögliche Erklärung war, dass sie die Bedeutung des Vorfalls nicht hatten klären können. Der Wächter verspürte das Bedürfnis, mehr über die Fremden zu er-
19 fahren. Das Rätsel beschäftigte ihn weiter wie ein unerledigter Auftrag, obwohl er nicht mehr dafür verantwortlich war und in der Sache kein akuter Handlungsbedarf bestand. Ur'ogh-49 ließ eine ganze Ruhestarre ausfallen, um ungestört über den Widerspruch nachdenken zu können, warum Hum-1 ihn nicht getötet, aber sein Leben riskiert hatte, um Hum-2 zu retten. Ein Torghan hätte in einer vergleichbaren Situation bedenkenlos sein Leben geopfert, wenn er damit der Gesamtheit einen Vorteil verschafft hätte. Doch genauso bedenkenlos hätte er den Tod eines Artgenossen in Kauf genommen, wenn er dadurch die Möglichkeit erhalten hätte, die Erfüllung des Auftrags zu gewährleisten. Das Verhalten von Hum-1 schien darauf hinzudeuten, dass für die Fremden eine ganz andere Wertung einer individuellen Existenz galt, auch wenn Ur'ogh-49 sich nicht vorstellen konnte, wie eine solche Spezies auf Dauer überleben konnte. Am Ende der Ruhepause nahm er sich vor, seine Zeit nicht mehr mit Fragen zu vergeuden, die er ohnehin nie beantworten konnte. Er musste sich wieder auf die Aufgaben besinnen, die seinem Status als Siebenter einer siebenten Wächter-Klonreihe entsprachen. Viele Tage vergingen, die Aufbauarbeiten gingen zügig weiter, und der Wächter dachte tatsächlich kaum noch an die Fremden, als sie unverhofft ein weiteres Mal auftauchten.
4. Facettenaugen glotzten uns an. Hornbewehrte Köpfe waren uns zugewandt. Mandibeln klapperten. Fühler zuckten. »Hast du schon eine neue Sackgasse ausgemacht?«, erkundigte sich Kythara leise. »Diesmal brauchen wir keine zu suchen, sie wird gerade für uns gebaut«, flüsterte ich zurück und deutete auf zwei Gruppen Orghs, die sich uns aus unterschiedlichen Richtungen näherten: Sie machten einen entschlossenen, zielgerichteten Eindruck und hatten
20 uns in der Zange. Ein Fluchtversuch wäre nur ein völlig sinnloses Unterfangen gewesen. Ich versuchte, nach einer Waffe zu greifen, ein gleißender Strahl, der knapp über unsere Köpfe hinwegflammte, belehrte mich eines Besseren. Ein Warnschuss. Man wollte uns nicht töten, aber wenn ich mich der Gefangennahme zu widersetzen versuchte, würde man genauer zielen. Falls man davon ausgehen konnte, dass die Insektoiden in dieser Hinsicht in ähnlichen Bahnen dachten wie Humanoide. Jedenfalls schien es mir angesichts der Situation klug, langsam und deutlich sichtbar beide Waffen fallen zu lassen – meinen stabförmigen Kombistrahler und das erheblich schwerere Orgh-Modell. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der varganische Strahler volle Einsatzbereitschaft anzeigte. Ausgerechnet jetzt, da ich nichts damit anfangen konnte, funktionierte das blöde Ding wieder! Wahrscheinlich lag es daran, dass wir uns außerhalb des Berges Murloth befanden. Kythara machte es mir nach und hob genauso wie ich die Hände, um anzuzeigen, dass wir keinen Widerstand leisten würden. Die zwei Wachtrupps der Orghs bauten sich rund um uns auf, sodass uns nun jeder Fluchtweg abgeschnitten war. Sie richteten zwar ihre Waffen auf uns, machten aber keine Anstalten, sie tatsächlich einzusetzen. Einer der Insektoiden trat in den Kreis und sammelte unsere Strahler auf. Dann sah er mich an und stieß eine Folge von knarrenden Lauten aus. »Falls du mir etwas mitteilen möchtest, mein Freund«, antwortete ich auf Interkosmo, »müssten wir uns zunächst auf eine gemeinsame Verständigungsbasis einigen.« Zumindest schien er zu verstehen, wo das Problem lag. Nach kurzer Überlegung hob er den Energiestrahler, den ich im Kampf erbeutet hatte, und schlug mit der anderen Greifklaue dagegen, sodass er rückwärts davonsegelte. Er drehte sich um, machte drei Hüpfer, hob den Strahler auf und kehrte zu mir zurück.
Bernhard Kempen Ich sog unwillkürlich den Atem ein, als ich verstand, was er mir damit sagen wollte. Er war derselbe Insektoide, den Kythara und ich in den Tunneln des Berges Murloth ausgeschaltet hatten. Ich konnte nur hoffen, dass er sich nicht auf möglichst perfide Art für diesen Angriff rächen wollte. Wieder machte er kehrt, hüpfte drei OrghSchritte weit und drehte sich dann abwartend zu uns um. Auch diese Botschaft war unmissverständlich. Ich blickte in die Richtung, die der Insektoide angedeutet hatte. Dort befand sich in etwas mehr als hundert Metern Entfernung das Zentrum des weitläufigen Lagers. Drei kleine Raumschiffe gruppierten sich um provisorische Bauten und eine besonders dichte Konzentration geschäftiger Insektenwesen. Ich warf Kythara einen kurzen Blick zu, die mir mit einem Nicken antwortete. Wir marschierten los, hinter unserem alten Bekannten her, von einem Kreis aus dreizehn weiteren Orghs umzingelt.
* Als Ur'ogh-49 den weißen Wirbel über der Ebene gesehen hatte, war er davon ausgegangen, dass es sich um eine jener Erscheinungen handelte, die immer wieder in der Nähe des Berges auftraten. Die Wissenschaftler und Ingenieure setzten ständig neue Maschinen ein, mit denen sie versuchten, die Materie des Berges aufzulösen. Ur'ogh-49 hatte nie darüber nachgedacht, welche Absicht sie damit verfolgten. Er war Wächter und hatte sich ausschließlich um Sicherheitsprobleme zu kümmern. Dann war der Wirbel mitten im Lager niedergegangen und hatte die beiden Humanoiden freigegeben. Obwohl Ur'ogh-49 ein gutes Stück vom Geschehen entfernt gewesen war, hatte er keinen Moment daran gezweifelt, dass es sich um dieselben Fremden handelte, denen er bereits zweimal begegnet war. Sofort hatte er die Priorität seines aktu-
Murloths Berg
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ellen Auftrags zurückgestuft und seinen Wächtertrupp in Marsch gesetzt, um an Ort und Stelle zu sein, falls sich Handlungsbedarf ergab. Er traf fast gleichzeitig mit einem zweiten Trupp ein, der von Ur'ogh-35 angeführt wurde. Dann tat Ur'ogh-49 etwas, das ihn selbst mindestens genauso verblüffte wie seinen höher gestellten Kollegen. Er teilte ihm mit, dass er bereits über einige Erfahrung im Umgang mit den Fremden verfügte und die Kontaktaufnahme übernehmen würde. Ur'ogh-35 zögerte kurz und schien zu überlegen, ob er dieser Verletzung der Hierarchie zustimmen durfte, doch dann willigte er ein. Es hatte sich herumgesprochen, dass Ur'ogh-49 tatsächlich eine gewisse Kompetenz in dieser Angelegenheit besaß. Außerdem war der Torghan sosehr auf die Ausführung klarer Anweisungen programmiert, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam, seinem Kollegen zu widersprechen, als dieser völlig selbstverständlich die Führung übernahm. Ur'ogh-49 war erstaunt, wie reibungslos der Umgang mit den Fremden funktionierte. Angesichts der Übermacht der Wächter waren sie bedingungslos zur Kooperation bereit. Sie ließen sich weder zu einer verzweifelten Gegenwehr hinreißen, noch gaben sie sich wirklich geschlagen. Sie machten vielmehr den Eindruck, als würden sie auf Zeit spielen, als wären sie fest davon überzeugt, sich schließlich aus der Notlage befreien zu können. Dieses Verhalten flößte dem Wächter Respekt ein. Er spürte, dass er es mit hochrangigen Soldaten zu tun hatte, und das Erstaunliche daran war, dass sie ihm als Gegner den gleichen Respekt entgegenzubringen schienen. Gerade deswegen entschied Ur'ogh-49, sie besonders gut bewachen zu lassen.
* Ich gewann den Eindruck, dass die Insektoiden gar nicht darauf eingerichtet waren,
Gefangene unterzubringen. Der Wachtrupp führte uns durch das Lager zu einem etwa zwanzig Meter hohen eiförmigen Schiff, das auf drei Landebeinen ruhte. Unser Bekannter machte uns vor, dass wir uns vom Antigravfeld zur unteren Polschleuse hinauftragen lassen sollten. Wir folgten seinen Anweisungen, da es uns vermutlich nur Ärger einbringen würde, wenn wir uns verweigerten. Wir befanden uns noch im unteren Bereich des kleinen Schiffs – ein Beiboot, wie ich vermutete –, als ein paar der Wächter, die uns vorausgeschwebt waren, Kythara und mich aus dem Antigravschacht zogen und seitlich durch ein sechseckiges Tor dirigierten. Es wurde verschlossen, aber sicherheitshalber bezogen drei bewaffnete Soldaten davor Stellung. Man schien sich nicht darauf verlassen zu wollen, dass wir keinen Ausbruchsversuch unternehmen würden. Man hatte uns offensichtlich in einen Frachtraum gebracht, der ungefähr die untere Hälfte des Schiffs beanspruchte. Er hatte einen kreisförmigen Querschnitt, einen Durchmesser von vielleicht fünfzehn Metern, und bis zur Decke waren es mindestens sechs Meter. Überall standen offene Frachtcontainer in verschiedenen Größen, und auf dem Boden lagen Technikbauteile herum. Es sah ganz danach aus, dass die Insektoiden dieses Schiff zum Transport der Lichtkanonen und aller anderen Dinge, die sie darüber hinaus für ihr Tun benötigten, benutzt hatten. »Was glaubst du, was sie mit uns vorhaben?«, fragte ich und setzte mich neben Kythara, die auf einer niedrigen Frachtkiste Platz genommen hatte. Sie hob die Schultern. »Jedenfalls scheinen sie uns nicht sofort töten zu wollen.« »Das verschafft uns immerhin einen gewissen Spielraum, den wir vielleicht nutzen können«, sagte ich. »Gut, dass sie mir die Bombe nicht abgenommen haben.« Kythara sah mich verblüfft an. »Welche Bombe?« Ich beobachtete eine Weile die Insektoi-
22 den, die völlig regungslos dastanden, bevor ich antwortete. »Die Bombe, die ich gerade erfunden habe, um mich zu vergewissern, dass unsere Freunde wirklich nichts von unserem Gespräch verstehen.« Kythara lachte leise. »Entschuldige meine … wie sagt man auf Interkosmo? … lange Leitung. Wie es scheint, hat mich dieser neue Zeitsprung etwas mehr mitgenommen als der erste.« »Wenn ich das nächste Mal eine ironische oder gar scherzhafte Bemerkung mache, werde ich mit den Augen zwinkern, wie es bei den Terranern üblich ist.« »Wir sollten die Augen lieber offen halten, um herauszufinden, was man mit uns vorhat, und gegebenenfalls eine Fluchtmöglichkeit zu nutzen – falls uns die Psi-Quelle nicht ein weiteres Mal aus der Patsche hilft.« »Meinst du, der Berg hat all das gezielt bewirkt?« »Zumindest hatte ich bei meinem Kontakt diesen Eindruck. Er will uns helfen, vermute ich. Ich weiß selbst nicht genau, was eigentlich geschehen ist. Ich habe das Wesen als etwas sehr Vertrautes empfunden, wie einen alten Bekannten. Aber die Kommunikation bestand nur aus flüchtigen Empfindungen. Es gab keine klaren Botschaften, keine richtige Verständigung.« »Und was hast du empfunden?« »So etwas wie ein vorsichtiges Tasten, als würde sich das Wesen davon überzeugen wollen, dass ich wirklich die bin, die ich zu sein scheine.« »Meinst du, es hat dich als Mitglied des Volkes erkannt, das die Psi-Quelle erbaut hat?« »Schon möglich.« »Noch unbestimmter kannst du dich nicht ausdrücken, wie?« »Tut mir Leid, Atlan«, sagte Kythara mit einem bedauernden Lächeln. »Der Kontakt war wirklich nur sehr flüchtig.« »Auch, als du nach Murloth gefragt hast?«
Bernhard Kempen »Das war auch nur so ein Gefühl. Mir war plötzlich, als könnte das der Name dieses Wesens sein. Als wäre es mit der Psi-Quelle identisch.« »Immerhin hatte die dreieckige Lichterscheinung ungefähr die Form des Berges Murloth.« »Du hast es als Dreieck gesehen?«, fragte Kythara verwundert. »Du nicht?« »Ich habe gar nichts gesehen«, sagte sie. »Ich habe nur gespürt, dass sich aus dem Nebel eine Wärmequelle näherte, deren Strahlung mich berührt hat.« Ich schwieg und versuchte, einen Sinn in den Geschehnissen zu erkennen. Aber ich wartete immer noch auf die große Erleuchtung, als sich wenig später die Schleuse öffnete, vor der die Orgh-Soldaten beharrlich Wache gehalten hatten. Es tat sich wieder etwas.
* Es war unser »Freund«, der zusammen mit ein paar Artgenossen den Frachtraum betrat. Ich hatte ihn für mich »Oger« getauft, als Anspielung auf die »Mordwespen«, mit denen Gucky im Jahr 2350 alter Zeitrechnung Kontakt aufgenommen hatte und die er alle »O-ger« genannt und durchnummeriert hatte. »Unsere« Insektoiden ähnelten diesen »ersten Mordwespen«, obwohl wir daraus natürlich keine Verwandtschaft ableiten konnten, so wenig wie zwischen Cappins und Arkoniden. Wir folgten Ogers Anweisungen und verließen den Raum. Durch den Antigravschacht ging es wieder nach draußen, dann führte uns die siebenköpfige Eskorte quer durch das Lager zu einem kleinen Gebäude aus Fertigbauteilen, an dem unterschiedlichste technische Gerätschaften befestigt waren. Es hatte die Form eines nach einer Seite offenen Sechskantprismas. Oger führte uns in einen Raum, in dem mehrere der uns bekannten Insektenwesen an Instrumentenkonsolen arbeiteten.
Murloths Berg Dominiert wurde das Geschehen von einem Wesen, wie wir es zum ersten Mal sahen: Es erinnerte mich an eine aufrecht gehende Riesenameise. Als es sich langsam auf den vier langen Beinen zu uns umdrehte, sah ich, dass der dunkelbraune Chitinpanzer fast vollständig von einem graumetallischen Schutzanzug umschlossen wurde. Ich blickte in die bläulich schimmernden Facettenaugen, die mich aus einer Höhe von etwa drei Metern musterten. Es war nicht die alles überragende Größe dieses Wesens, sondern das beinahe körperlich spürbare Charisma, das mich überzeugte, es mit einem hochrangigen Befehlshaber der Insektoidenarmee zu tun zu haben. Die Mundwerkzeuge klickten und erzeugten knarrende Laute, die eine hellere Tonlage hatten, als ich es von den Orghs kannte. Aber ich konnte nicht sagen, ob es sich um einen durch den Bau der Sprechwerkzeuge bedingten Akzent oder eine völlig andere Sprache handelte. Ein Tineoide trat neben die Ameise, die ihn um einen guten Meter überragte, und hantierte mit einem kleinen Gerät. Während die Motte daran herumschaltete, drangen krächzende Geräusche aus einem Lautsprecher, bis plötzlich fehlerfreie Worte in Interkosmo zu verstehen waren. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr?« Kythara und ich sahen einander an. Konnten wir in Schwierigkeiten geraten, wenn wir diese Fragen ehrlich beantworteten? Ich beschloss, möglichst wenig konkrete Informationen preiszugeben. »Wir sind zufällig auf diesem Planeten gelandet«, sagte ich. Wieder knarrende Laute, die vom Translator verarbeitet wurden. »Du lügst. Oder wo ist das Raumschiff, mit dem ihr gekommen seid?« Narr, kam es von meinem Extrasinn. Wenn wir uns tatsächlich in der Vergangenheit befinden, kann die AMENSOON noch gar nicht auf Narukku eingetrofen sein! Danke für die rechtzeitige Warnung, gab ich zurück. Laut fuhr ich fort: »Es ist weiter-
23 geflogen. Wir sind in unerklärliche Energiewirbel geraten, und nach der Notlandung scheint die Besatzung uns aus den Augen verloren zu haben. Wie es aussieht, sind sie ohne uns gestartet.« Die Motte drehte sich zur Riesenameise um und artikulierte eine Reihe von schnurrenden Lauten. »Wenn Ihr mir eine Bemerkung gestattet, Erzherzog Garbhunar«, übersetzte der Translator, »die Lordrichter von Garb haben uns …« Unvermittelt schlug die Riesenameise dem Mottenwesen das Gerät aus der Greifklaue und stieß es mit einem Hieb der zwei Handlungsarme zur Seite. Der Translator verstummte, fiel zu Boden und zersprang in seine Einzelteile. Die Motte krachte gegen eine Konsole. Ich zuckte zusammen. Offenbar hatte sich der Ingenieur verplappert und nicht bedacht, dass auch seine Worte übersetzt wurden. Ich hoffte inständig, dass uns dieser Fehler nicht das Leben kostete – und genau das schien zu geschehen: Die Riesenameise hielt plötzlich einen Energiestrahler in der Klaue, dessen Mündung genau auf mich zielte …
* Nachdem Ur'ogh-49 die Humanoiden sicher im Frachtraum eines Beiboots verwahrt hatte, erstattete er seinem Vorgesetzten Bericht und wartete ab, bis der Vorfall durch die Befehlshierarchie weitergeleitet und an irgendeiner Stelle eine Entscheidung getroffen worden war. Es erstaunte ihn nicht besonders, als nach kurzer Zeit die Anweisung kam, die Gefangenen zu Garbhunar-1 höchstpersönlich bringen zu lassen. Der Wächter hatte nicht daran gezweifelt, dass ein derartiger Vorfall die Aufmerksamkeit der höchsten Ränge erregen würde, aber es stand ihm nicht zu, die Befehlskette zu ignorieren und ohne ausdrückliche Anweisung seine unmittelbaren Vorgesetzten zu übergehen. Gespannt verfolgte Ur'ogh-49 das Ge-
24 spräch zwischen Garbhunar-1 und den Humanoiden. Er hatte schon viel vom Oberbefehlshaber der Armee gehört, aber er war ihm noch nie zuvor persönlich begegnet. Als es schließlich zum Zwischenfall mit dem Translator kam, stellte der Wächter zu seiner Verwunderung fest, dass er das Bedürfnis verspürte, Hum-1 vor dem Zorn von Garbhunar-1 zu schützen. Was war mit ihm geschehen, dass er auf solche Ideen kam? Natürlich würde er weiterhin seinen Befehlen gehorchen, aber er wollte sich Gewissheit darüber verschaffen, was ihn zu dieser ungewöhnlichen Reaktion veranlasst hatte. Lag es daran, dass Garbhunar-1 kein Torghan war? Es war sogar so, dass er in Wirklichkeit gar keinen Einserrang innehatte, sondern den Titel »Erzherzog« trug. Ur'ogh-49 war sich nicht einmal sicher, ob »Garbhunar« tatsächlich eine Klonreihe bezeichnete. Möglicherweise war es nur ein willkürlich gewählter Name. In letzter Konsequenz würde das bedeuten, dass der angebliche Oberbefehlshaber außerhalb der Befehlshierarchie stand und gar keine vorgegebene Autorität über die Torghan hatte. Was gab ihm das Recht, den Torghan Anweisungen zu erteilen? Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, hatte Ur'ogh-49 plötzlich das Gefühl, als würde er trotz seiner drei sicheren Standbeine den Halt verlieren. Diese einfache Frage löste eine überwältigende Lawine weiterer Fragen aus. War es gerecht, dass Garbhunar den Shiruh brutal zusammenschlug und nun die Humanoiden für den Fehler büßen sollten? Ur'ogh-49 konnte nicht beurteilen, ob der Einwand des Ingenieurs berechtigt war, da er kaum etwas über die Lordrichter von Garb wusste – außer dass sie einen sehr hohen Rang innerhalb der Hierarchie einnahmen. Da er ihnen niemals begegnet war, war ihm nicht einmal klar, welchem Volk sie angehörten. Zu welchem Zweck wurde die Armee überhaupt eingesetzt? War es richtig, das ir-
Bernhard Kempen gendjemand – ganz gleich, wer die letzte Entscheidungsgewalt besaß – darüber bestimmte, was andere tun und lassen sollten? Die Arbeiten auf Narukku mochten durchaus einem sinnvollen Ziel dienen, aber warum wurden die Untergebenen nicht darüber informiert? Und was war, wenn das Geschehen den Interessen der Torghan – oder denen von Ur'ogh-49 – zuwiderlief? Als es zu einer überraschenden Wendung in den folgenden Ereignissen kam, gelang es dem Wächter zunächst, diese beunruhigenden Gedanken in den Hintergrund zu drängen und sich auf seine Pflichten zu konzentrieren. Doch schon wenig später kehrten seine Zweifel zurück …
* Meine Gedanken rasten. Sollte ich versuchen, uns in Sicherheit zu bringen? Eine gute Idee, nur dass sie praktisch nicht durchführbar war. Weder Kythara noch ich hätten es geschafft, unbeschadet den Ring der Orgh-Soldaten zu durchbrechen und uns nach draußen durch das Lager durchzuschlagen. Also setzte ich auf Deeskalation und hob langsam die Hände, um meine Wehrlosigkeit zu demonstrieren. Der Befehlshaber der Insektoidenarmee starrte mich eine Weile aus bläulich schimmernden Facettenaugen an. Es war unser Glück, dass er sich nicht dazu hatte hinreißen lassen, in der Wut über den Lapsus die Waffe abzufeuern. Und wenn ich die Situation richtig einschätzte, stiegen unsere Überlebenschancen mit jeder verstreichenden Sekunde. Dann sprach die Riesenameise zu verschiedenen Insektenwesen, und es entfaltete sich hektische Aktivität. Zwei Wächter trugen die schwer verletzte Motte hinaus, und eine weitere Motte hielt dem Befehlshaber einen längeren Vortrag, worauf dieser sie hinausschickte. Ich konnte dieses Gespräch nur so interpretieren, dass ein untergeordneter Ingenieur einen Ersatz für den total zerstörten Transla-
Murloths Berg tor besorgen sollte. Während wir uns gegenseitig belauerten, rekapitulierte ich, dass Garbhunar offenkundig der Name des Befehlshabers der Insektoidenarmee war. Dieser Begriff war mir neu. Aber von den »Lordrichtern von Garb« hatte ich schon einmal gehört … Ich erinnerte mich an den Cappin, der aus der Bewusstseinstransferanlage in der Stahlwelt getaumelt war. Bevor er tot zusammengebrochen war, hatte er verschiedene Satzfetzen gestammelt. Unter anderem hatte er vor den Lordrichtern von Garb gewarnt. Wenn sie erschienen, wären alle Cappins verloren … In welcher Verbindung stand Garbhunar zu diesen ominösen Lordrichtern? Braute sich hier eine Gefahr zusammen, die möglicherweise auch die Milchstraße bedrohte? Oder war schon alles zu spät, weil Garbhunar längst tätig geworden war? Immerhin befand ich mich in der Vergangenheit. Nur – wie weit zurück von der Gegenwart? Tage, Monate, Jahre? »Schau mal unauffällig zu den Bildschirmen rüber«, sagte Kythara leise. Im nächsten Moment richtete Garbhunar den Energiestrahler auf die Varganin und knarrte sie wütend an. Kythara zuckte zusammen und schien die recht eindeutige Botschaft verstanden zu haben. Um ihn nicht weiter zu provozieren, verzichtete ich auf jede Erwiderung. Als unser Schweigen ihn davon überzeugt hatte, dass wir seinem Wunsch gehorchen würden, nahm die Riesenameise wieder ihre ursprüngliche Haltung ein. Ohne den Kopf zu drehen, schwenkte ich den Blick vom Erzherzog zu den Konsolen, an denen mehrere Insektenwesen arbeiteten. Ich erkannte sofort, worauf die Varganin mich hinweisen wollte. Auf einem der Bildschirm war der Murloth-Emissionsnebel zu sehen, vor dem eine Flotte von Raumschiffen schwebte. Es handelte sich um tropfenförmige Einheiten, die durch den Weltraum trieben. Ihre Zahl war schwer abzuschätzen; es mussten mindestens hundert sein.
25 Der Blickwinkel schwenkte langsam nach rechts, bis die Lufthülle eines Planeten sichtbar wurde. Die Raumschiffe gliederten sich in die Phalanx gleichartiger Einheiten ein, die sich bereits im Orbit befanden. Aus der Entfernung war es nicht leicht zu beurteilen, aber die blassen Farben und die zahlreichen Binnenmeere auf der Oberfläche ließen eigentlich nur den Schluss zu, dass sich diese Flotte über Narukku sammelte. Diese Vermutung wurde bestätigt, als im nächsten Moment die Ansicht wechselte. Nun war die Steilwand eines Berges zu erkennen, in dem sich eine schätzungsweise hundert Meter hohe bogenförmige Öffnung befand, deren regelmäßige Form nur künstlich geschaffen worden sein konnte. Die Größenverhältnisse konnte ich deshalb so gut einschätzen, weil mitten im Höhleneingang ein typisches Zwanzigmeterbeiboot der Insektoiden stand. Außerdem war zu erkennen, wie die Besatzung Container und Gerätschaften auslud und in die Höhle schaffte. Ich wusste, dass sich kurz hinter dem Eingang eine riesige Kaverne mit hoch technisierten Anlagen zur Fertigung von Androiden befand, weil wir uns dort erst vor wenigen Tagen umgesehen hatten. Zumindest waren für mein subjektives Zeitempfinden erst wenige Tage vergangen. In Wirklichkeit trugen sich die Szenen, die ich jetzt sah, eine unbestimmte Anzahl von Jahren vor meinem Besuch in der Androidenfabrik zu. Schlagartig wurden mir einige Zusammenhänge klar. Doch bevor ich sie richtig verarbeiten konnte, brach draußen im Lager die Hölle los.
5. Alles stürmte aus der Baracke, die dem Erzherzog als Leitzentrale diente. Auch die Wächter, die ihre Schützlinge jedoch keinen Moment aus den Augen ließen. Oger drängte uns auf die »Ebene ohne Schatten«, auf der sich ein unheimliches Geschehen abspielte. In etwa fünfzig Metern Entfernung vom
26 Berg Murloth, der genau vor uns aufragte, hatten die Insektoiden ein neues und besonders großes Modell einer Lichtkanone aufgebaut. Sie schien bereits eine Weile in Betrieb zu sein, und wieder hatte sich unter dem Lichtkegel eine größere Fläche des Eisberges in eine flirrende Wolke verwandelt. Doch diesmal fiel die Bewegung der glitzernden Teilchen wesentlich heftiger aus. Sie wirbelten ziellos durcheinander, wie eine kochende Dampfwolke, die sich langsam ausdehnte. Dann zuckte ein greller Blitz steil in den Himmel, und im nächsten Moment schob sich ein rotierender Schlauch aus der brodelnden Masse nach oben. Das Spektakel erinnerte mich an den PsiTornado, den die Kristalle der Vergessenen Positronik rund um den Berg entfacht hatten. Nur dass dieses Ereignis einige Jahre in der Zukunft lag und der Strudel aus PsiEnergie, den ich in diesem Moment beobachtete, unvermittelt abbrach und im Nichts zu zerfließen schien, als würde der Dampf in ungefähr hundert Metern Höhe über dem Boden verdunsten. Kurz schoss mir durch den Kopf, dass beides möglicherweise miteinander zusammenhing. Angesichts der merkwürdigen temporalen Phänomene war es durchaus denkbar, dass sich der Psi-Tornado bis in diese Zeitebene auswirkte. Hatte der Überschlagblitz zwischen den Zeiten eine Überbrückung geschaffen, durch die Psi-Energie abfließen konnte? Unter den Insektoiden machte sich allmählich Unruhe bemerkbar. Anscheinend verlief das Experiment nicht wie erwartet. Ich hörte, wie Garbhunar mit ein paar Mottenwesen sprach, die sich jedoch nicht von der Stelle rührten. Das änderte sich schlagartig, als die PsiWolke ohne Vorankündigung den Schlauch einzog und rot aufleuchte, als wäre im Innern eine kleine Sonne entflammt. Der Boden unter meinen Füßen vibrierte, als sie sich daraufhin immer schneller ausdehnte und durch das Lager wälzte. Die Insektoiden ergriffen die Flucht, aber die rötlichen
Bernhard Kempen Schwaden holten sie mühelos ein. Ich sah, wie sich die Wolke unaufhaltsam näherte, und blickte mich zu Kythara und unseren Orgh-Wächtern um, die ihre Pflichten keine Sekunde lang vernachlässigt hatten. »Vergiss es, Atlan«, sagte Kythara. »Wir könnten ohnehin nicht entkommen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die PsiEnergie uns keinen Schaden zufügen wird.« »Wenn ich mich immer auf mein Gefühl verlassen hätte, wäre ich schon längst …« Ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu vervollständigen, weil ich in diesem Moment von einer rötlich schimmernden Dampfwalze überrollt wurde, die mich sofort von den Beinen riss.
* Als Alarm im Lager gegeben wurde, ließ sich Ur'ogh-49 nichts vom Chaos anmerken, das in seinem Kopf herrschte. Trotz der Unruhe hielt er seinen Wächtertrupp zusammen und sorgte dafür, dass die Humanoiden keine Gelegenheit erhielten, die Verwirrung zur Flucht zu nutzen. Doch als er sah, wie sich die rötliche Wolke immer näher heranschob, hatte er das Gefühl, in seinen Zweifeln bestätigt zu werden. Er hatte keine Ahnung, was mit der Auflösung der Materie des Berges bezweckt werden sollte, aber er wusste, dass die Experimente gefährlich waren und bereits mehrere Torghan das Leben gekostet hatten. Hatte Garbhunar das Recht, zur Erreichung seiner unbekannten Ziele den Tod einzelner Lebewesen in Kauf zu nehmen? Unwillkürlich warf Ur'ogh-49 einen Blick zu den zwei Humanoiden, die im Kreis der Wächter standen und genauso über die neueste Entwicklung beunruhigt zu sein schienen. Hum-1 hatte sogar darauf verzichtet, einen Gegner zu töten, obwohl er sich dadurch einen entscheidenden taktischen Vorteil hätte verschaffen können. Die außer Kontrolle geratene Materiewolke kam immer näher, und der Wächter beob-
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achtete, wie viele seiner Artgenossen von den Beinen gerissen und gegen Baracken und Beiboote geschleudert wurden. Wieder bezahlten zahlreiche Torghan einen fehlgeschlagenen Versuch mit dem Leben. Warum wurden die Experimente nicht sorgfältiger geplant, um die Auswirkungen besser einschätzen zu können? Warum hatte Ur'ogh-49 plötzlich den Eindruck, dass den Verantwortlichen das Leben eines Torghan gleichgültig war, weil sich jederzeit neue Individuen klonen ließen? Erneut blickte sich der Wächter zu den Humanoiden um und überlegte, ob er durch entsprechende Vorkehrungen verhindern sollte, dass sie das zu erwartende Chaos für einen Fluchtversuch nutzten. Doch er entschied, nichts zu unternehmen. Er war sich bewusst, dass er eine unerhörte Eigenmächtigkeit beging, auch wenn in Anbetracht der Situation kein Vorgesetzter auf die Idee kommen würde, ihm die Vernachlässigung seiner Pflichten vorzuwerfen. Ur'ogh-49 verbannte die müßigen Gedanken und wandte sich den akuten Problemen zu: Als die Wolke ihn erreichte, rollte er sich zu einer Kugel zusammen und hoffte, dass er den Sturm überlebte.
* Ich spürte einen harten Aufprall und wurde einige Meter weit über den Boden gerollt. Es war wie in einem Sandsturm auf dem Mars oder einem anderen Wüstenplaneten. Ich sah nur noch ein trübes rötliches Dämmerlicht, während die entfesselten Gewalten mich herumwirbelten. Als ich wieder auf den Bauch gedreht wurde, presste ich mich so flach wie möglich an den Boden und kam endlich zur Ruhe. Doch der Psi-Sturm gab nicht auf und zerrte wütend an meiner Kleidung und meinen langen Haaren. Ich versuchte gar nicht erst, nach Kythara zu rufen, weil sie mich im tosenden Lärm ohnehin nicht gehört hätte. Dann spürte ich, wie der Sturm allmählich nachließ. Ich wagte es, wieder die Augen zu
öffnen. Es schien bereits etwas heller geworden zu sein, auch wenn ich immer noch nichts erkennen konnte. Erst nach einer ganzen Weile schälten sich vage Umrisse aus dem Dunst, der inzwischen einen gelblichen Schimmer angenommen hatte. Als sich der Sturm genügend beruhigt hatte, stand ich auf und sah mich um. Nicht weit von mir entfernt ragte eins der Beiboote der Insektoiden auf. Am Rumpf war eine andere Markierung angebracht, aber ansonsten schien es baugleich mit dem Schiff zu sein, in dem man uns vorübergehend festgehalten hatte. Ich lief hinüber und trat unter die Schleuse. Nichts rührte sich. Wahrscheinlich hatte der Psi-Sturm die Technik lahm gelegt. Ich sprintete zu einem der drei Landebeine, die mit kleinen gebogenen Zacken ausgestattet waren. Offenbar war man auf solche Notfälle vorbereitet. Ich benutzte die Zacken als Leiter, auch wenn ich einige Schwierigkeiten hatte, mit meinen zu großen Füßen daran Halt zu finden. Als ich mich auf die schräg zur Polschleuse verlaufende Stützstrebe gehangelt hatte, hörte ich einen leisen Ruf. »Atlan!« Es war Kythara. »Komm schnell rauf!«, rief ich ihr zu. »Bevor man uns entdeckt.« »Was willst du in diesem funktionsunfähigen Schiff? Lass uns lieber verschwinden!« »Ich will mich nicht noch einmal von den Orghs einfangen lassen«, gab ich zurück. »Das Beiboot dürfte nur so lange außer Betrieb sein, bis sich der Psi-Sturm gelegt hat.« Kythara sagte nichts, aber sie stieg ebenfalls über das Landebein zur Schleuse herauf. Ich zog sie durch die Schleusenöffnung auf den ringförmigen Steg, obwohl ich wusste, dass sie körperlich so gut in Form war, dass sie eigentlich gar keine Hilfe benötigte. Die Insektoiden hatten an alles gedacht. An den Wänden des Antigravschachts führten Leitern nach oben, über die wir zur Steuerzentrale gelangten. Wir bewegten uns so
28 leise wie möglich, doch als ich den Kopf durch die runde Öffnung im Boden der Zentrale schob, stellte sich heraus, dass meine Vorsicht unbegründet war. Niemand hielt sich in diesem Schiff auf. Ich ließ mich einfach auf den Boden fallen und zog einen Konzentratriegel und den Wasserbehälter aus einer Tasche des Schutzanzugs. Die kleine Erholungspause tat mir gut, und Kythara schloss sich bereitwillig an. Solange der Psi-Sturm tobte, konnten wir ohnehin nichts ausrichten, und wie es schien, waren wir an Bord des Beiboots vorläufig in Sicherheit. Nachdem wir uns schweigend gestärkt hatten, stand ich auf und ging zu den Konsolen hinüber. Ich warf einen flüchtigen Blick durch die Panoramafenster, hinter denen immer noch gelbliches Dämmerlicht herrschte, und musterte die Anordnung der Schaltelemente. Ich probierte ein paar Instrumente aus und stellte fest, dass ein paar der einfacheren Systeme wieder arbeiteten. Wenig später trat Kythara hinter mich. Sie reichte mir einen von zwei Energiestrahlern, die sie in einem kleinen Ausrüstungslager auf der anderen Seite der Zentrale gefunden hatte. »Was hast du vor?«, fragte sie, als sie mir über die Schulter sah. »Willst du ein Schiff, dessen Technik dir völlig unbekannt ist, per Handsteuerung fliegen?« »Ich dachte eher daran, unseren Auftrag zu erfüllen«, sagte ich. »Welchen Auftrag?« Ich drehte mich zu ihr um. »Wir wurden in den Berg Murloth versetzt, ein paar Jahre in die Vergangenheit, in eine Zeit, als die Insektoiden gerade dabei waren, sich auf Narukku breit zu machen. Sie haben bereits begonnen, die Androidenfabrik für ihre Zwecke umzufunktionieren. Wir haben beobachtet, dass sie versuchen, die Psi-Energie des Eisberges anzuzapfen. Ich denke, dass all das in Zusammenhang mit der Erschaffung der Androidenarmee steht. Und wir haben Garbhunar kennen gelernt, der eine wichtige Rolle bei der Umsetzung dieser Machenschaften spielt. Daraus ergibt sich
Bernhard Kempen für mich eine ganz klare Schlussfolgerung.« »Und welche?« »Der Berg Murloth will, dass wir den Lauf der Geschichte korrigieren«, gab ich ungeduldig zurück. Ich wandte mich wieder den Konsolen zu und bemühte mich weiter, ihre Funktionsweise zu verstehen. »Du willst die Waffen dieses Schiffes benutzen, um das Lager der Insektoiden zu zerstören?«, rief Kythara keuchend. »Das darfst du nicht tun!« Ich fuhr zu ihr herum und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als ich etwas hörte und innehielt. »Was war das für ein Geräusch?«, fragte ich leise. Kythara drehte den Kopf. »Es kam aus dem Antigravschacht.« Ich legte den Finger an die Lippen und gab ihr ein Zeichen, dass wir uns von entgegengesetzten Seiten der Öffnung im Boden der Steuerzentrale nähern sollten. Vorsichtig setzte ich mich in Bewegung.
* Bevor ich den Antigravschacht erreicht hatte, setzte im gesamten Beiboot ein Knistern, Knacken und Summen ein, und überall in der Zentrale flammten Kontrollleuchten auf. Offenbar hatte sich der Psi-Sturm ausgetobt, sodass die empfindliche Technik des kleinen Schiffs wieder den Betrieb aufnahm. Sicherheitshalber warf ich einen Blick in den Schacht, aber außer der Tatsache, dass das Antigravsystem wieder funktionierte, war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Ich kehrte zu den Kontrollen zurück und probierte ein paar Schaltungen aus. Das System war recht übersichtlich angelegt, und als ich über die Bildschirme ein Feedback erhielt, war ich davon überzeugt, das Wesentliche verstanden zu haben. »Atlan, ich bitte dich, damit aufzuhören!«, sagte Kythara, die mir gefolgt war und mich mit besorgter Miene ansah. »Du
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kannst die Folgen eines Eingriffs in die Vergangenheit nicht einschätzen. Wir müssen uns zurückhalten, um die Gefahr eines Zeitparadoxons zu vermeiden.« »Ich habe es allmählich satt, immer nur den passiven Beobachter zu spielen!« »Das ist kein Grund, leichtsinnig ein großes Risiko einzugehen. Es tut mir Leid, wenn ich keine besseren Argumente als meine Gefühle habe, aber beim Kontakt mit dem Wesen habe ich gespürt, dass es uns beschützen und kennen lernen will. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es uns zu etwas drängen möchte. Es will uns verstehen und uns zeigen, was hier vor sich geht.« Ich war so sehr von meinen Schlussfolgerungen und meinem Plan überzeugt, dass es mir schwer fiel, Kytharas Einwände gelten zu lassen. Ich versuchte mich zu beruhigen und mich nicht von meinem Zorn beherrschen zu lassen. »Und vergiss nicht«, fuhr die Varganin fort, »es hat uns immer dann aus der Patsche geholfen, wenn die Wahrscheinlichkeit zu groß wurde, dass wir einen nachhaltigen Einfluss auf diese Zeitebene nehmen.« Auf diese Weise hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Ich musste mir eingestehen, dass ich die Ereignisse sehr einseitig interpretiert hatte. Schließlich war es nicht einfach, einen Sinn in die verwirrenden Sprünge durch Zeit und Raum zu bringen. »Gut«, sagte ich. »Aber dann brauchen wir …« Ich wollte sagen, dass wir in diesem Fall einen anderen Plan brauchten, aber ich kam nicht dazu, weil in diesem Moment ein scharrendes Geräusch von der Öffnung des Antigravschachts zu hören war. Kythara und ich fuhren gleichzeitig herum und richteten unsere hoffentlich wieder funktionierenden Waffen in die Mitte der Steuerzentrale.
* Ur'ogh-49 hatte jede Orientierung verloren. Nachdem die Welt in seinem Kopf
gründlich durcheinander gebracht worden war, schien die gleiche Aufhebung der Ordnung nun auch außerhalb seines Kopfes stattzufinden. Die rötlichen Schwaden wirbelten ihn scheinbar ziellos umher, bis er gegen einen harten Widerstand stieß. Zuerst dachte er, dass jetzt sein Ende, die Strafe für seine verräterischen Gedanken gekommen war. Doch zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass er nur oberflächliche Verletzungen davongetragen hatte. Als er erkannte, wo er sich befand, nutzte er die Gelegenheit, sich in Sicherheit zu bringen. Und als er bemerkte, was sich in seiner unmittelbaren Nähe tat, wusste er plötzlich, was er zu tun hatte. Es war nicht einfach für ihn, seine Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Aber er hatte gelernt, dass ein Individuum für sich das Recht beanspruchen durfte, eigene Entscheidungen zu treffen. Es gab keine natürliche Rangfolge, in der unverrückbar feststand, wer über das Schicksal anderer Lebewesen bestimmen durfte. Denn es gab Lebewesen, die außerhalb der Hierarchie standen. Wenn sich jemand wie Garbhunar ungefragt an die Spitze der Torghan stellen und ihren Gehorsam für seine Zwecke ausnutzen konnte, war die Regel außer Kraft gesetzt, nach der die Reihenfolge der Geburt den Status bestimmte. Wenn es letztlich nur darum ging, wer sich entweder mit Gewalt oder den besseren Argumenten durchsetzte, ergab auch das widersprüchliche Verhalten von Hum-1 und Hum-2 mit einem Mal Sinn. Bei ihnen war nicht einmal genau geklärt, wer von den beiden den Einser- und wer den Zweierstatus innehatte. Wenn sie sich gegenseitig als gleichwertige Individuen respektierten, brauchten sie gar keine Rangfolge, um effektiv agieren zu können. Ur'ogh-49 wusste nicht, wohin seine Entscheidung ihn führen würde, aber er wusste, dass sie richtig war, weil es seine Entscheidung war. Für das Gefühl, das er empfand, gab es keinen Begriff in seinem Wortschatz. Es war vergleichbar mit einer Situation, in der es keine Rolle spielte, ob man auf dem
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einen oder dem anderen Weg sein Ziel erreichte. Aber mit diesem Gefühl war wesentlich mehr als nur Unbestimmtheit verbunden. Was Ur'ogh-49 empfand, war Freiheit.
6. Alle meine Sinne waren in höchste Alarmbereitschaft versetzt, als sich der tropfenförmige Kopf eines Orghs durch die Öffnung schob. Er musterte uns mit ausdruckslosen Facettenaugen, während sich die Fühler leicht bewegten. Es war für mich immer noch schwierig, Individuen dieser Spezies zu unterscheiden, aber mein Gefühl sagte mir, dass es sich um unseren Freund Oger handelte. Das und sein ruhiges Verhalten hielten mich davon ab, den Auslöser des Energiestrahlers zu betätigen. Angespannt beobachtete ich, wie er einen ausgestreckten Arm hob. In der Greifklaue hielt er eine Waffe, aber die Mündung zeigte von uns weg. Dann warf er sie auf den Boden der Steuerzentrale. War es wirklich eine Demonstration seiner friedlichen Absichten, oder verfolgte er eine besonders heimtückische List? Ich warf Kythara einen kurzen Blick zu und erkannte Zustimmung in ihrer Miene. Also forderte ich den Insektoiden mit einer Geste auf, die Steuerzentrale zu betreten. Er stieß sich vom Rand des Antigravschachts ab und ließ sich nach oben treiben. Mit einem geschickten Satz beförderte er sich aus dem Schwerelosigkeitsfeld und landete sicher auf den drei Teleskopbeinen. Sofort machte er ein paar weitere Hüpfer, dann hielt einen Moment inne und zeigte mit den Armen auf eine Konsole. »Hast du eine Ahnung, was er vorhaben könnte?«, fragte ich Kythara. »Nein«, antwortete sie. »Aber solange er unbewaffnet ist, kann er eigentlich keinen Schaden anrichten.« »Gut.« Ich zeigte ebenfalls auf die Kontrollen und folgte dem Orgh.
Er blieb vor der Konsole stehen, die ich als Waffenleitstand identifiziert hatte, und tippte mit einer Greifklaue auf einen Bildschirm. Ich beugte mich vor und erkannte eine Grafik, in der ein dreieckiges Symbol langsam nach oben wanderte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es die letzte der daneben eingeblendeten Markierungen erreicht hatte – kleine Strichsymbole, die vermutlich Zahlen darstellten. Ohne auf mein Einverständnis zu warten, drückte Oger auf eine Schaltfläche und gab schnell etwas ein, was verdächtig nach einem Kode aussah. Meine Hand mit dem Energiestrahler ruckte hoch, aber der Orgh blieb völlig ruhig. Dann sah ich, dass das Dreieck kurz auf der Stelle verharrte und anschließend wieder nach unten wanderte. Oger hob alle vier Arme und erzeugte einen abgehackten knarrenden Laut, der an ein Explosionsgeräusch erinnerte. Offenbar hatte ich eine Schaltung betätigt, die nach Ablauf einer bestimmten Zeit dramatische Folgen gehabt hätte. Ich studierte noch einmal die Kontrollen, konnte aber nicht erkennen, was ich möglicherweise falsch gemacht hatte. Oger fragte mich mit weiteren Gesten um Erlaubnis, eine andere Konsole benutzen zu dürfen, und ich gab vorsichtig mein Einverständnis. Als ich sah, dass er die Funkkonsole aktivieren wollte, drückte ich ihm den Energiestrahler an den Wespenrumpf und schüttelte den Kopf. Falls er seine Artgenossen zu Hilfe rufen wollte, würde ich ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Der Insektoide erstarrte, dann richtete er ganz langsam eine Greifklaue auf die Konsole. Ich erkannte, dass er einen ganz bestimmten Schalter meinte. Er hob die Klaue ein wenig und stieß eine knarrende Lautfolge aus, dann senkte er sie wieder und verstummte gleichzeitig. Gut, damit wurde also die Funkanlage ein- und ausgeschaltet. Falls er mir damit sagen wollte, dass er sie nicht einschalten wollte, fragte ich mich, was er stattdessen vorhatte.
Murloths Berg Ich beschloss, mich auf die Tragfähigkeit der dünnen Eisdecke unseres gegenseitigen Vertrauens zu verlassen, und bedeutete ihm, dass er weitermachen durfte. Oger betätigte ein paar Schaltungen, und ich sah, dass er ein kleines Computersystem aktivierte und eine bestimmte Funktion auswählte. Dann stieß er wieder ein paar Lautfolgen aus, und kurz darauf drangen verständliche Worte aus den Lautsprechern in der Konsole. »Verstehst du diese Sprache?« Es war ein Satz in sauberem Interkosmo. Das Funksystem verfügte über einen integrierten Translator, den Oger an die Sprechanlage gekoppelt hatte. »Ja, sicher«, antwortete ich, und im nächsten Moment knarrte die Übersetzung aus dem Lautsprecher. »Wenn du die Waffensysteme hochfährst und es versäumst, den Bestätigungskode einzugeben, wird nach Ablauf von vier Minuten und 26 Sekunden die Selbstvernichtung des Schiffes ausgelöst. Eine Sicherheitsmaßnahme gegen unerwünschte Eindringlinge.« Jetzt verstand ich. Diese Schaltung hätte ich frühestens nach intensiver Untersuchung der Systeme entdeckt. Trotzdem machte ich mir Vorwürfe, weil ich Kythara und mich durch mein Ungestüm in Gefahr gebracht hatte. »Woher wusstest du, dass Atlan die Bewaffnung des Schiffes aktiviert hat?«, fragte Kythara, die zu uns getreten war. »Ich bin euch gefolgt«, antwortete Oger, »und habe mich in der Maschinensektion unmittelbar unter der Steuerzentrale versteckt. Als die Schiffssysteme wieder ihre Funktion aufnahmen, konnte ich über ein Terminal verfolgen, was ihr getan habt. Als Offizier der Wächterkaste besitze ich den mittleren Zugangskode. Nur jemand mit dem höchsten Zugangskode hätte eure Schaltungen von dort aus rückgängig machen können. Deshalb bin ich in die Zentrale gekommen.« Oger hatte sich also freiwillig in die Hände seiner Feinde begeben, um eine Katastro-
31 phe zu verhindern. Doch es gab einen weiteren Punkt, den ich noch nicht verstanden hatte. »Warum bist du nicht geflohen?«, wollte ich von ihm wissen. »Du hättest genügend Zeit gehabt, dich in Sicherheit zu bringen, bevor das Schiff in die Luft fliegt.« Oger zögerte eine Weile mit der Antwort. »Ihr habt mich im Tunnel nicht getötet, also wollte ich nicht, dass ihr in diesem Schiff sterbt.« Ich stutzte. »Heißt das, du stehst auf unserer Seite?« Wieder dauerte es einen Moment, bis Oger sprach, auch wenn es keine Antwort war, wie sie sie erwartet hatten. »Ich habe etwas Wichtiges von euch gelernt.«
* Seit unserer ersten Materialisation im Berg Murloth war Oger alias Ur'ogh-49, wie sein wahrer Name lautete, uns immer wieder über den Weg gelaufen. Er versuchte zu erklären, wie sehr unser Verhalten ihn irritiert hatte. Dass ich ihn beim Kampf im Tunnel nicht einfach getötet hatte. Dass ich Kythara nicht einfach in seinen Klauen zurückgelassen hatte, um wenigstens mich selbst in Sicherheit zu bringen. Schließlich unser Streitgespräch in der Leitzentrale, als wir über die weitere Vorgehensweise uneins waren, bis Kythara mich überzeugt hatte, doch nichts zu unternehmen. Ur'ogh-49 lebte unter den Torghan, wie er sein Volk bezeichnete, in einer klaren Befehlshierarchie. Er war davon ausgegangen, dass ich einen höheren Rang als Kythara bekleidete. Für ihn war es nur schwer zu begreifen, dass ich auf die Einwände einer Untergebenen gehört und meine Meinung geändert hatte. »Wir sollten diesen zweifellos interessanten Gedankenaustausch auf später verschieben und uns überlegen, was wir jetzt machen«, warf Kythara nach einer Weile an. Sie hatte natürlich Recht. Ich warf einen Blick durch die Sichtfenster der Steuerzentrale und sah, dass sich die gelbliche Staub-
32 wolke fast verflüchtigt hatte. Nur noch ein paar Schlieren trieben durch die Luft, und die Insektoiden rappelten sich auf und begannen damit, ihr Lager wieder in einen ordentlichen Zustand zu versetzen. »Können wir mit diesem Beiboot verschwinden?«, fragte ich Ur'ogh-49. »Atlan, denk daran, dass unser Raumschiff nicht hier ist!«, warf Kythara ein und sah mich eindringlich an. Sie wollte mich dezent darauf hinweisen, dass wir uns in der Vergangenheit befanden. Wenn sich unsere Odyssee fortsetzte und wir den Absprung in unsere angestammte Zeitebene verpassten, wuchs das Risiko eines Paradoxons. Was würde geschehen, wenn in ein paar Jahren unsere Doppelgänger mit der AMENSOON auf diesem Planeten eintrafen? »Ihr kommt aus der Zukunft?«, erkundigte sich Ur'ogh-49. »Oh«, sagte ich nur. Damit wurde die Angelegenheit möglicherweise noch komplizierter, als ich dachte. »Ein Grund mehr«, fuhr der Insektoide fort, »euch zu helfen. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, die Energie des Berges Murloth anzuzapfen. Er wehrt sich gegen die Manipulation und schickt sogar Boten aus einer anderen Zeit, um uns zu warnen.« »Wie du ebenfalls mitgehört hast, habe ich mich inzwischen Kytharas Ansicht angeschlossen«, entgegnete ich. »Wir sollten uns lieber darauf beschränken, in unserer eigenen Zeit tätig zu werden.« »Und das bedeutet«, sagte Kythara, »dass wir uns darauf konzentrieren sollten, in unsere Zeit zurückzukehren.« Dummerweise saß jemand anderer an den Hebeln der Zeitmaschine. Und wenn dieser Jemand beschloss, alles so zu belassen, wie es war, konnten wir nichts dagegen machen. »Und wie wollen wir das anstellen?«, fragte ich. Die Varganin wandte sich an den Torghan. »Fällt dir eine Möglichkeit ein, uns unbemerkt in den Berg Murloth zu schaffen?«
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* Ur'ogh-49 dachte lange nach. Ein Plan nahm Gestalt in seinem Kopf an, aber es fiel ihm schwer, alle Einzelheiten zu berücksichtigen und die Konsequenzen einzuschätzen. Wächter setzten Pläne in die Tat um, für die Ausarbeitung waren Strategen zuständig. Er musste sich bemühen, außerhalb gewohnter Bahnen zu denken, was nicht einfach war. Für die Ausführung des Plans war ein Transport nötig. Mit einer solchen Aufgabe wurden normalerweise Transportarbeiter betreut. Aber Ur'ogh-49 durfte keine anderen Torghan in den Plan einweihen, weil das die Gefahr für die beiden Humanoiden und ihn selbst vergrößert hätte. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto besser konnte er sich vorstellen, all diese Aufgaben selber zu übernehmen. Dann erkannte er, dass sich daraus ein viel größeres Problem ergab. Ur'ogh-49 war kein Transportarbeiter. Wenn er die Kontrollen einer Antigravplattform bediente, wozu er zweifellos imstande wäre, würde sofort auffallen, dass etwas nicht in Ordnung war. Weil jeder wusste, dass er kein Transportarbeiter, sondern ein Wächter war. Wieder klickte etwas in seinem Kopf. Das Einzige, was ihn äußerlich als Mitglied einer bestimmten Kaste markierte, war sein Allzweckgürtel. Und im Frachtraum dieses Beiboots gab es einen Vorrat verschiedener Ukh-Tr'oghs. Wer aus irgendwelchen Gründen einen neuen Ukh-Tr'ogh brauchte, holte sich dort einen. Aber kein Torghan wäre auf die Idee gekommen, einen Gürtel anzulegen, der nicht seiner Stellung entsprach. Wenn Ur'ogh-49 den Ukh-Tr'ogh eines Transportarbeiters anlegte, würde niemand mehr erkennen, dass er in Wirklichkeit ein Wächter war. Ur'ogh-49 spürte ein seltsames, erregendes Kribbeln, als er sich vorstellte, in eine fremde Rolle zu schlüpfen. Gleichzeitig erkannte er, dass sich die Erfolgsaussichten seines Plans erheblich verbesserten, je mehr
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er bereit war, Regeln zu brechen, was ihn erneut darin bestätigte, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. »Ich werde euch erklären, wie wir es schaffen könnten«, sagte er zu den beiden Humanoiden.
7. »Was meinst du? Können wir ihm wirklich vertrauen?«, fragte ich, nachdem wir Ur'ogh-49 durch den Antigravschacht in den Frachtraum des Beibootes gefolgt waren. Hier konnten wir uns ungezwungen unterhalten, weil wir weit genug vom Translator in der Steuerzentrale entfernt waren. Die Insektoiden besaßen zwar jede Menge tragbarer und fest installierter Translatoren für die Verständi-gung der einzelnen Völker untereinander, aber diese Sprachen waren fest programmiert. Translatoren mit zusätzlichen »Freiplätzen« für neue Sprachen waren selten, da man im Grunde nicht davon ausging, mit anderen Sprachen konfrontiert zu werden. Deshalb hatten wir den Plan gründlich in der Zentrale durchgesprochen, weil wir nun wieder auf Zeichensprache angewiesen waren. »Ich habe ein gutes Gefühl«, sagte Kythara und warf mir einen spöttischen Seitenblick zu. »Schließlich hat er uns sogar unsere Energiestrahler zurückgegeben, auch wenn wir im Moment nicht allzu viel damit anfangen können. Ich glaube, dass er uns gegenüber ehrlich ist, und ich hoffe, dass er nicht in Schwierigkeiten gerät, falls sein verräterisches Tun entdeckt wird.« »Ich habe den Eindruck, dass er sich die Sache sehr genau überlegt hat«, sagte ich. »Er ist ein intelligenter Bursche. Ich traue ihm zu, sich geschickt aus der Affäre zu ziehen. Schade, dass wir ihn nicht mitnehmen können.« Ich beobachtete, wie unser Freund eine Art Wandschrank mit zahlreichen Fächern öffnete. Er suchte nach etwas, dann zog er einen Gürtel heraus und tauschte ihn gegen seinen eigenen aus. Ich zügelte meine Unge-
duld, als er ganz besonderen Wert auf die richtige Auswahl der zweiteiligen Gürtelschnalle legte, die alle mit unterschiedlichen Schriftzeichen versehen waren. Allmählich wurde mir klar, was er damit gemeint hatte, dass er sich für diesen Job als Transportarbeiter »verkleiden« musste, um kein Aufsehen zu erregen. Offenbar bildeten die Zeichen auf der Schnalle den Namen eines Torghan, der mit seiner Berufs- und Rangbezeichnung identisch war. Er nahm ein paar Geräte und Werkzeuge aus seinem Allzweckgürtel und verstaute sie in den vielen Taschen des neuen Exemplars. Dann hüpfte er zu einem kleinen Frachtcontainer hinüber. »Ich glaube, es geht los«, sagte ich zu Kythara und setzte mich in Bewegung. Auf halbem Wege hielt Ur'ogh-49 inne, als wäre ihm plötzlich eine Idee gekommen. Er dachte kurz nach, dann kehrte er zum Schrank zurück und holte seinen alten Gürtel heraus, den er dort in einem Fach deponiert hatte. Erst danach legte er den gesamten Weg zum Frachtcontainer zurück und warf den Gürtel hinein. Ich konnte es mir nur so erklären, dass ihm erst jetzt eingefallen war, anschließend den Wächtergürtel wieder anzulegen und zurück in seine gewohnte Rolle zu schlüpfen. Mir kamen leise Zweifel, ob es eine gute Entscheidung von uns gewesen war, unser Schicksal in seine Greifklauen zu legen. Ur'ogh-49 sah uns an und deutete mit zwei Armen auf den offenen Container. Jetzt ging es wirklich los.
* Wenn unsere Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich durchaus Gefallen daran gefunden – mit einer hübschen, schlanken Varganin in einen engen Container gesperrt, sodass sich ein intensiver Körperkontakt gar nicht vermeiden ließ. Kythara hatte völlig entspannt reagiert, als ich mich mit dem Gesicht voran an ihren Rücken gekuschelt und die Arme um ihre zusammengekauerte Ge-
34 stalt gelegt hatte. Dann war es stockfinster geworden, als Ur'ogh-49 den Deckel verschlossen hatte. Ich versuchte mich auf die logischen Konsequenzen einer Zeitversetzung zu konzentrieren, um nicht zu offensichtlich werden zu lassen, wie angenehm ich Kytharas Gegenwart empfand. Mein Gleichgewichtssinn sagte mir, dass der Container bewegt wurde. Wenn sich unser Freund an die Abmachungen hielt, bugsierte er uns gerade mit einer Antigravplattform aus dem Frachtraum des Beiboots. Da nur sehr gedämpfte Geräusche von außen an meine Ohren drangen, wagte ich es, mich leise mit Kythara zu unterhalten. »Hast du eine Ahnung, was geschieht, wenn wir in den Eisberg zurückkehren und nichts passiert?«, fragte ich. »Wenn es keinen Rücksprung gibt, weil sich das Zeitfenster nicht mehr öffnet?« Kythara zuckte zusammen, atmete tief durch und antwortete erst nach einer kleinen Pause. »Wir können nur darauf hoffen, dass die temporale Anomalie die immanente Tendenz aufweist, wieder in den Originalstatus zurückzukehren.« »Klingt gut.« »Ich weiß. Aber lass uns erst einmal abwarten, ob wir uns auf Ur'ogh verlassen können«, schlug die Varganin vor. »Ich weiß nicht, ob er es gut finden würde, wenn du respektlos die 49 unterschlägst. Auf diese Zahl scheint er besonders stolz zu sein.« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte Kythara. »Insektenwesen mit sieben Gliedern … Glaubst du, es hat eine besondere Bewandtnis mit der zweiten Siebenerpotenz in seinem Namen?« Ich spürte, dass die Plattform anhielt. Hatten wir unser Ziel erreicht? Ich wartete ab, ob sich etwas tat, aber kurz darauf setzte sich das Gefährt wieder in Bewegung. Nun flog unser Freund immer wieder enge Kurven, wodurch abwechselnd mein Körper gegen Kytharas und ihrer gegen meinen gedrückt wurde. Es gab definitiv unangenehmere Arten zu reisen.
Bernhard Kempen »Ich glaube, wir sollten lieber das Thema wechseln«, sagte ich gepresst. »Was ist? Wird es dir hier zu eng?« »Nein … es geht schon wieder.« Ich spürte sehr deutlich, wie sich Kythara leicht schüttelte, als sie sich stumm über mich amüsierte. »Es tut mir aufrichtig Leid«, sagte sie mit hörbarem Spott, »dass ich dir im Moment nicht weiter behilflich sein kann.« »Ich glaube«, erwiderte ich, »dass sich das Problem in wenigen Augenblicken lösen wird.« Der Container war zur Ruhe gekommen, und das leichte Vibrieren der Antigravplattform hatte aufgehört. Im nächsten Moment hörte ich, wie sich jemand am Deckel zu schaffen machte. Ein Spalt aus grellem Licht zerriss die Dunkelheit. Ich blinzelte und wartete ab, bis sich meine Augen an die neue Situation gewöhnt hatten. Dann richtete ich mich aus der Seitenlage auf und sah mich um. Entwarnung. Das Licht war gar nicht so hell, wie es mir im ersten Moment vorgekommen war. Ich blickte auf die schimmernden Wände aus erstarrter Psi-Energie und ins Gesicht eines Insektoiden: Ur'ogh-49. Er hatte Wort gehalten und uns nicht einer Armee bewaffneter Torghan ausgeliefert. Ich zwängte mich aus dem Container und sprang auf den Boden des Tunnels, in den unser Freund uns gebracht hatte. Kythara stieg ebenfalls aus und zupfte mit einem anzüglichen Seitenblick auf mich ihren varganischen Schutzanzug zurecht. Ich wandte mich Ur'ogh-49 zu und streckte ihm eine Hand hin. »Ich weiß nicht, ob du diese Geste verstehst, aber ich möchte mich bei dir für deine Hilfe bedanken.« Er zögerte kurz, dann gab er knarrend eine Antwort. Da wir keinen Translator zur Verfügung hatten, verstand ich seine Worte genauso wenig wie er meine. Doch ich wusste, dass wir uns auf einer anderen Ebene verstanden hatten, als er mit einer Greifklaue meine Hand ergriff.
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Im gleichen Moment ging es los.
* Der Wächter, der sich als Transportarbeiter ausgab, war selbst erstaunt, wie reibungslos sich sein Plan in die Tat umsetzen ließ. Allerdings herrschte so große Unordnung im Lager, dass kaum jemand auf einen einzelnen Torghan achtete, der mit einer Antigravplattform unterwegs war. Ur'ogh-49 war entsetzt über die Verwüstungen, die der Sturm angerichtet hatte, und schon nach kurzer Zeit gab er es auf, die Toten zu zählen. Seine Artgenossen machten sich mit stoischem Gehorsam daran, die Schäden zu reparieren. Niemand schien darüber nachzudenken, wer für diese Katastrophe verantwortlich war. Als er die anderen Torghan beobachtete, kam Ur'ogh-49 ein völlig neuer Gedanke. Trug er nicht eine besondere Verantwortung für sein Volk, nachdem er zu Erkenntnissen gelangt war, die für alle Torghan von großer Bedeutung waren? Wäre die gegenwärtige Verwirrung nicht der günstigste Zeitpunkt, um mit ihnen zu reden und ihnen mitzuteilen, welche Überlegungen ihn bewegten? Er musste ihnen klar machen, dass sie frei entscheiden konnten, ob sie weiter Befehlsempfänger sein wollten oder nicht. Doch dann musste er sich eingestehen, dass er die Konsequenzen eines solchen Vorhabens nicht einmal ansatzweise abschätzen konnte. Wie würden die höheren Ränge reagieren, wenn ein einzelner Torghan versuchte, ihnen die Machtgrundlage zu entziehen? Konnte er sich allein mit gutem Willen gegen eine tief verwurzelte Ordnung durchsetzen? Ur'ogh-49 beschloss, zunächst seinen aktuellen Auftrag zu Ende zu führen. Immerhin war es der erste Auftrag, zu dem er sich aus eigener Entscheidung verpflichtet hatte. Anschließend würde er sich überlegen, wie er seine Erkenntnisse in die Praxis umsetzen konnte. Vielleicht erhielt er die Gelegenheit, die Humanoiden zu fragen, wie sich eine Gesellschaft gleichwertiger Individuen orga-
nisieren ließ. Er ahnte, dass es ein weiter Weg bis zu diesem Ziel war und dass er vorläufig auf Handlungen verzichten sollte, deren Folgen er mangels Erfahrung nicht genau einschätzen konnte. Wie klug diese Entscheidung war, wurde ihm nachhaltig bewusst, als er unmittelbar vor dem Berg von einem ranghohen Wächter aufgehalten wurde. »Kehr sofort ins Lager zurück! Alle Arbeiter sollen den Berg verlassen und bei den Aufräumarbeiten helfen.« Als Ur'ogh-49 den eindeutigen Befehl hörte, war sein erster Gedanke, dass sein Plan gescheitert war. Wenn er die Antigravplattform zurücksteuerte, konnte er nur darauf hoffen, dass niemand den Container öffnete, in dem sich die zwei Humanoiden versteckt hatten. Mit etwas Glück erhielt er später eine Gelegenheit, sie in den Berg zu bringen. Doch dann kam ihm eine ganz andere Idee. Sie war jedoch so ungewohnt, dass er sich kaum vorstellen konnte, dass sie funktionieren würde. Was wäre, wenn er dem Befehl des Wächters durch eine nicht zutreffende Behauptung widersprach? »Was ist los?«, fragte der Wächter ungeduldig. »Warum tust du nicht, was ich sage?« »Ein Daorghor-Wissenschaftler hat mich beauftragt, diese Instrumente in den Berg zu bringen«, antwortete Ur'ogh-49. »Die Messungen sind sehr wichtig für die Auswertung des letzten Experiments.« »Dann tu deine Pflicht«, sagte der Wächter und hüpfte zur Seite, um für die Antigravplattform Platz zu machen. Ur'ogh-49 konnte es gar nicht fassen, wie leicht sich dieses Problem aus der Welt schaffen ließ. Der Befehl eines Wissenschaftlers hatte selbstverständlich Vorrang – sogar, wenn dieser Befehl in Wirklichkeit nie gegeben worden war. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie schwer es den Torghan fallen würde, ihren tief sitzenden Gehorsam zu überwinden.
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Als die Fremden in einem Seitengang aus dem Container stiegen und Hum-1 – Ur'ogh-49 blieb bei dieser Bezeichnung, weil der richtige Name unaussprechlich war – ihm sein weiches Greiforgan reichte, verstand er, dass nun der Augenblick des Abschieds gekommen war. Er sprach ihm seinen Dank aus und bedauerte, dass er nun keine Gelegenheit mehr hatte, mehr von ihnen zu lernen. Ur'ogh-49 hätte gerne noch etwas gesagt, doch dann sah er, wie das Gesicht von Hum1 immer undeutlicher wurde, bis es vollends verschwunden war.
8. Mir wurde weiß vor Augen, aber inzwischen wusste ich, was die Schwindel erregende Änderung meiner Wahrnehmung zu bedeuten hatte. Die Umgebung löste sich in einen undurchdringlichen Nebel auf, und ich spürte, wie meine Hand den Kontakt zu Ur'oghs zartgliedrigen Chitinfingern verlor. Mir wurde heiß, ich verlor den Boden unter den Füßen und wurde herumgewirbelt. Es war, als wäre ich in einen brodelnden Dampfkessel gefallen. Dann jagte ein brennender Schmerz durch sämtliche Nerven meines Körpers. Obwohl ich überzeugt war, dass ich die Augen fest geschlossen hatte, sah ich überall weißes Licht. Es war eine gleichförmige Helligkeit, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass sie in chaotischer Bewegung war. Kurz hatte ich den Eindruck, einen noch helleren dreieckigen Umriss zu erkennen, der sich langsam aus dem Nebel näherte und wieder zurückzog. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich etwas gesehen hatte. Schlagartig änderte sich das Bild. Ich hatte das Gefühl, über einer großen blauen Fläche zu schweben, auf die ich langsam niedersank. Mein Flug ging in eine spiralförmige Bewegung über, die mich dem unregelmäßigen Rand der Fläche immer näher brachte. Als etwas an mir vorbeiraste, erkannte ich endlich, wo ich war.
Es war das Targan-Binnenmeer, an dessen Ufer die Städte der Androiden von Narukku lagen. Die Architektur aus kompakten weißen Steinhäusern war unverkennbar. Wieder nahm ich alles im Stroboskopeffekt des schnellen Wechsels zwischen Tag und Nacht wahr, sodass ich nichts von den flüchtigen Bewohnern der Städte erkennen konnte. Nur hier und dort verschwand ein Gebäude oder tauchte ein neues auf. Und allmählich färbten sich die Häuserwände rötlich ein. Mein Flug wurde abgebremst, und auch der rasende Zeitablauf verlangsamte sich. Als die nächste Stadt in Sicht kam, wurde das rötlich weiße Muster schlagartig schwarz. Gleichzeitig bemerkte ich, wie ich aus der Bahn gerissen wurde. Ich sah nur noch eine verwischte Abfolge von Farben, als ich in einen tiefen Schlund zu stürzen schien. Dann spürte ich einen heftigen Schlag gegen den Rücken und presste die Augenlider zusammen. Der Sturz war zu Ende, ich war zur Ruhe gekommen, und der Entzerrungsschmerz tobte sich in sämtlichen Fasern meines Körpers aus. Doch ich wusste, dass ich mir keine Ruhe gönnen durfte. Ich musste möglichst schnell in Erfahrung bringen, wohin mich der erneute Transitionsvorgang versetzt hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich vom Regen in die Traufe befördert wurde. Ich öffnete die Augen und sah einen türkisblauen Himmel, in dem ein paar hohe Wolken hingen. Als ich den Kopf drehte, blickte ich auf die Sohlen von Kytharas schwarzen Stiefeln. Blinzelnd schaute ich daran empor, meine Blicke glitten die Hüfte und die Brüste empor, bis sie sich am Gesicht der Varganin festsaugten. »Alles in Ordnung, Arkonide?«, fragte sie. »Keine Sorge, ich bin gleich wieder auf den Beinen.« Dann bemerkte ich, wie sie die Augen aufriss, als ihr Blick über mich hinwegging. »Wenn du dich gesammelt hast, solltest du dir das unbedingt ansehen«, sagte sie.
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* Wenn eine unmittelbare Gefahr gedroht hätte, wäre Kytharas Reaktion sicherlich anders ausgefallen. Also atmete ich noch einmal tief durch, bevor ich mich herumwälzte und mich auf das gefasst machte, was sie so sehr erstaunt hatte. Ich erkannte sofort, dass es zwei Überraschungen waren, und konnte mich zunächst nicht entscheiden, welcher ich die größere Aufmerksamkeit widmen sollte. Bis ich mich entschloss, mich zunächst mit dem buchstäblich Nächstliegenden zu beschäftigen. Die erste Überraschung bestand darin, dass Kythara und ich nicht allein waren. Unmittelbar hinter mir lag der reglos ausgestreckte Körper eines Torghan auf dem mit spärlicher Vegetation bewachsenen Boden. Ich konnte die Signatur des Gürtels nicht entziffern, aber mein fotografisches Gedächtnis hatte sich die Form der Zeichen eingeprägt. Es war der Gürtel, den Ur'ogh-49 im Frachtraum des Beibootes angelegt hatte. Unser Freund hatte den Sprung in unsere Gegenwart mitgemacht. War es ein Versehen, oder stand eine Absicht dahinter? Hatte ich ihn ungewollt mitgerissen, weil wir uns im Augenblick der Zeitversetzung die Hände geschüttelt hatten? Oder hing es damit zusammen, dass die temporalen Ebenen wieder ins Lot gebracht werden mussten? Schließlich hatte er mitbekommen, dass wir aus der Zukunft stammten. Wenn er mit diesem Wissen in seiner Zeit zurückgeblieben wäre, hätte er den Ablauf der Ereignisse verändern und ein Paradoxon heraufbeschwören können. Da niemand zugegen war, der mir diese Fragen beantworten konnte, konzentrierte ich mich nun auf die zweite Überraschung. Zunächst einmal war das, was ich sah, eine Bestätigung, dass wir tatsächlich in unsere Zeitebene zurückgekehrt waren. Hinter Ur'ogh-49 fiel der mit grasartigen Gewäch-
sen bedeckte Boden leicht ab, bis zum Ufer eines Sees. Und es sprach einiges dafür, dass es das Targan-Binnenmeer war, in dessen Nähe unsere Odyssee durch die Zeit begonnen hatte. Was mich davon überzeugte, waren die unübersehbaren Anzeichen, dass am Ufer dieses großen Sees die fünf herrlichen Städte von Narukku lagen. Dort hatten die in der Fabrik produzierten Androiden gelebt und brutale Kriege gegeneinander geführt. Doch inzwischen war es äußerst fraglich, ob dort wirklich noch jemand am Leben war – sofern man im Fall der Androiden von »Leben« sprechen konnte. Was ich als Erstes sah, waren nicht die Städte selbst, sondern fünf schwarze Rauchsäulen, die rund um das Targan-Binnenmeer in den Himmel aufstiegen. Es bestand kein Zweifel, dass alle fünf Städte gleichermaßen zu glühenden Schlackehaufen reduziert worden waren. Die uns am nächsten liegende Ansiedlung bot nicht mehr den beinahe idyllischen Anblick weiß-rot gescheckter Steinhäuser, sondern war nur noch eine brennende Ansammlung zerschmolzener Trümmer. Der Krieg zwischen den Androidenstädten war offensichtlich in ein neues Stadium getreten. Bislang waren die Auseinandersetzungen so etwas wie ein »natürlicher« Wettstreit zwischen benachbarten Gemeinschaften gewesen. Die Initiatoren der Kämpfe schienen das Ziel zu verfolgen, eine Auslese unter den Kriegern zu betreiben und die Schlagkraft aller Armeen zu stärken. Doch nun hatte ein gnadenloser Vernichtungsfeldzug begonnen. Und wir waren mitten zwischen die Fronten geraten.
* Für Ur'ogh-49 gab es keinen Zweifel, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Nicht nur das Gesicht des Fremden löste sich auf, sondern die gesamte Umgebung. Die Konturen zerflossen zu einem warmen goldenen Schein, als wäre er in Un'ng getaucht, die Nährflüssigkeit, die den Torghan alles gab,
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was sie zum Leben brauchten. Das Licht bündelte sich, und sein Gesichtsfeld zog sich zusammen, als würde er die Welt nur noch durch eine einzige Facette seiner Augen wahrnehmen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, zu einem winzigen Punkt zusammenzuschrumpfen, bis sein Körper nur noch aus einer einzigen Zelle zu bestehen schien. Dann kehrte sich die Bewegung um, und er spürte, wie er sich wieder ausdehnte. Seine Zellen umgaben sich mit einer festen Hülle, in der er gut behütet heranwuchs. Plötzlich brach die Kapsel auf, aber er fühlte sich immer noch nicht befreit. Er konnte sich nur eingeschränkt bewegen, als wäre er gefesselt. Erstaunt wurde ihm klar, dass dieser Zustand gleichzeitig erschreckend und vertraut war. Er durchlebte noch einmal das Larvenstadium, an das die erwachsenen Torghan nur eine diffuse Erinnerung behielten. Erneut verkapselte er sich und musste in der Reglosigkeit verharren. Trotzdem spürte er, wie sich sein Körper veränderte. Er wurde gequetscht, gezerrt, verbogen und verrenkt. Die Enge wurde immer unerträglicher. Und dann – endlich! – die letzte Geburt! Die Puppenhülle fiel von ihm ab, und nun fühlte er sich wirklich frei. Er reckte die Glieder und genoss die Schwerelosigkeit des Seins. Doch im letzten Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht in eine höhere Sphäre entrückt worden war, sondern sich buchstäblich im freien Fall befand. Er konnte die Umgebung nur undeutlich erkennen, aber für ihn gab es keinen Zweifel, dass er stürzte. Dann erfolgte der Aufprall, der heiße Schmerzwellen durch seinen Körper jagte. Bevor sich Ur'ogh-49 über sein wiedergewonnenes Leben freuen konnte, stürzte sein Geist tief in den Abgrund des Vergessens.
* Obwohl die Städte der Androiden brannten, waren die Kämpfe immer noch in vollem Gange. Am Seeufer neben den schwar-
zen Ruinen hatte sich eine größere Gruppe »Überlebender« gesammelt und in Marsch gesetzt. Trotz der verheerenden Niederlage, durch die ihre Reihen bereits erheblich dezimiert worden waren, dachten sie nicht daran, sich in Sicherheit zu bringen. Stattdessen marschierten sie genau auf uns zu – beziehungsweise auf eine weitere Androidenarmee, die in unserem Rücken aufgetaucht war. Falls ein wie auch immer geartetes Bewusstsein für die zeitlichen und räumlichen Versetzungen verantwortlich war und falls es sich tatsächlich darum bemühte, uns aus schwierigen Situationen zu retten, hätte es den Zielpunkt dieser letzten Pseudotransition ger-ne ein paar Kilometer nach Osten oder Westen verschieben können. Damit wären uns einige Probleme erspart geblieben. Was hatte es mit uns vor? »Wir sollten uns lieber aus der Gefahrenzone bewegen, bevor es zu spät ist«, sagte Kythara. »Welche Richtung schlägst du vor?«, fragte ich. »Diese natürlich«, antwortete sie und zeigte nach Osten. »Wenn wir es bis zu unserem nächsten Beiboot schaffen, sind wir wieder etwas beweglicher – sofern wieder auf die Technik Verlass ist.« Erst als ich mich erneut umblickte, konnte ich die geografischen Verhältnisse einordnen und erkannte, auf welcher Seite des Targan-Binnenmeers wir uns befanden. Kythara hatte natürlich Recht. Das Tropfenbeiboot der AMENSOON war in der Tat gar nicht so weit entfernt. Vielleicht meinte die geheimnisvolle Entität es am Ende doch gut mit uns. Dann checkte ich schnell die Systeme meines Anzugs und stellte fest, dass sämtliche Funktionen verfügbar waren. Das bedeutete, dass wir sogar den gravomechanischen Feldantrieb einsetzen konnten und nicht zu Fuß gehen mussten. »Dann lass uns keine Zeit mehr verlieren«, sagte ich und drehte mich zu Ur'ogh-49 um. »Und was machen wir mit
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ihm?« »Es steht schlimm um ihn, aber ich spüre genau, dass er noch lebt«, sagte die Varganin. »Vielleicht können wir ihm an Bord des Beiboots helfen.« »Gut«, sagte ich. »Dann sollten wir ihn …« Doch ich kam nicht mehr dazu, ihr zu sagen, was wir tun sollten. Denn im gleichen Augenblick flimmerte die Luft.
9. Mein erster Gedanke war, dass ein weiterer Orts- oder Zeitwechsel eingeleitet wurde, doch dann erkannte ich meinen Irrtum. Das Flimmern beschränkte sich auf ein halbes Dutzend klar umrissener Stellen, die allmählich deutlichere Formen annahmen. Schließlich sah ich, dass es Insektoide waren, die sich offenbar im Schutz von Deflektorfeldern genähert hatten und nun sichtbar wurden. Sie bildeten einen lockeren Kreis rund um Kythara, mich und Ur'ogh-49, der immer noch bewusstlos am Boden lag. Was hatten sie vor? Fragten sie sich, woher dieser Artgenosse aufgetaucht war, der gar nicht zu ihrer Gruppe gehörte? »Schnell!«, rief ich Kythara zu und lief zu unserem Freund. »Wir nehmen ihn in die Mitte!« Nach allem, was er für uns getan hatte, wollte ich zumindest versuchen, ihm zu helfen. Ich konnte nicht einschätzen, ob ihm wirklich eine Gefahr von den anderen Torghan drohte, aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Bevor die Insektoiden etwas unternehmen konnten, hatte ich den linken Arm um das Brustsegment gelegt, während Kythara die Teleskopbeine übernahm. Wir synchronisierten die Steuerung der Anzüge, dann hoben wir ab. Die Torghan schlossen den Kreis und versuchten uns aufzuhalten, aber wir waren schneller. Ich sah, wie der Erste einen Energiestrahler zog, und änderte abrupt den
Kurs, um ihm das Zielen zu erschweren. Doch dann erkannte ich, dass Kythara bereits reagiert und einen Schutzschirm aufgebaut hatte, der unser Trio als kombinierte Sphäre umgab. Der Schirm flammte auf, als er von einem verirrten Strahlschuss getroffen wurde, dann sah ich, wie unter uns die beiden Androidenarmeen zusammenstießen und die Insektoiden verschluckten. Besaßen sie keine Flugaggregate, oder hatten sie nun das Interesse an uns verloren? Ich wusste es nicht. Ich drehte nach Osten ab und beschleunigte. Ich hatte genug von den sinnlosen Kämpfen gesehen und wollte das grausame Gemetzel nicht ein weiteres Mal beobachten.
* Wir hatten ungefähr drei Viertel der Strecke zurückgelegt, als mein Anzug ein Warnsignal gab. Die Ortung hatte eine Zunahme des psionischen Potenzials angemessen, und es bestand die Gefahr, dass ein neuer Psi-Sturm aufzog. Ich gab Kythara ein Zeichen, dann ließ ich uns behutsam zu Boden gleiten. Wir landeten am Rand einer langen Schlucht, die sich weit in das Gebirge hineinzog, bis hin zur Stelle, wo wir das Beiboot der AMENSOON abgestellt hatten. Während ich die Umgebung sicherte, kümmerte sich Kythara um Ur'ogh-49 und versuchte, mit Hilfe der Medoeinheit ihres Anzugs etwas für den Torghan zu tun. Als ich zurückkehrte, stellte ich erstaunt fest, dass sich unser Freund tatsächlich rührte. Es dauerte noch mehrere Minuten, bis er vollständig aus der Bewusstlosigkeit erwacht war und uns den tropfenförmigen Kopf zuwandte. Er sagte etwas in seiner knarrenden Sprache. Kythara gab ihm zu verstehen, dass er weiterreden sollte, um den Translator ihres varganischen Schutzanzugs zu trainieren. Während wir uns im Berg aufgehalten hatten, waren die Systeme die meiste Zeit inak-
40 tiv gewesen, sodass sie bislang nur fragmentarische Daten über die Sprache der Insektoiden sammeln konnten. »Wo sind wir?«, lauteten die ersten Worte, die der Translator einwandfrei übersetzen konnte. Kythara erklärte dem Torghan, was geschehen war. Er hörte schweigend zu und dachte anschließend eine ganze Weile stumm nach. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Zuerst hatten wir sein Weltbild durcheinander gebracht, und nun musste er damit zurechtkommen, sich plötzlich in einer ganz anderen Zeit zu befinden. »Was geschieht auf diesem Planeten?«, fragte er schließlich. »Ich hatte gehofft, du könntest uns diese Frage beantworten«, sagte Kythara. »Ich bin mit einem Raumschiff nach Narukku gebracht worden und habe Befehle erhalten«, sagte Ur'ogh-49. »Ich habe nie darüber nachgedacht, welchem Zweck die Arbeiten dienen, mit deren Ausführung die Torghan beauftragt werden.« »Was weißt du über diesen Garbhunar?« »Er ist der oberste Befehlshaber. Niemand würde auf die Idee kommen, ihm zu widersprechen. Ich scheine der einzige Torghan zu sein, der sich Sorgen macht, dass er vielleicht nicht das Wohl unseres Volkes im Sinn hat.« »Unser Freund scheint sich allmählich zum Freiheitskämpfer zu mausern«, sagte ich. »Alle Achtung!« »Ist es falsch, für die Freiheit seines Volkes zu kämpfen?«, fragte Ur'ogh-49. »Grundsätzlich ist das immer eine gute Sache«, erklärte ich. »Aber glaubst du wirklich, dass du genügend Mitstreiter finden könntest?« »Ich fürchte, meine Artgenossen würden mich gar nicht verstehen, wenn ich zu erklären versuche, was eine freie Entscheidung ist.« Mir wurde klar, dass ich nicht in seiner Haut – beziehungsweise seiner Chitinhülle – stecken mochte.
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* Während sich Kythara um den Torghan kümmerte, war ich auf einen Felsgrat geklettert, von dem ich auf den See zurückblicken konnte. Wir waren etwa zwanzig Kilometer vom nächsten Ufer entfernt, aber ich konnte die fünf Rauchsäulen, die die Standorte der Androidenstädte markierten, deutlich erkennen. In einer gewissen Höhe vermischten sie sich zu einer grauen Pilzwolke, die langsam Richtung Westen davontrieb. Die Systeme unserer Anzüge funktionierten zwar noch, aber die Umgebung war so stark mit Psi-Energie aufgeladen, dass sie jeden Moment ausfallen konnten. Also hatten wir entschieden, noch eine Weile abzuwarten und unserem Freund die Gelegenheit zu geben, sich ein wenig zu erholen. Kythara war sich nicht völlig sicher, da sie nicht mehr als Vermutungen über den Metabolismus der Torghan anstellen konnte, aber nach ihren Untersuchungsergebnissen hatte er nur leichte Verletzungen davongetragen. Trotzdem ging es ihm nicht besonders gut. Vielleicht hatte der Entzerrungsschock der Zeittransition ihm ungewöhnlich stark zugesetzt. Dass er unter dem psionischen Potenzial litt, das wie die Elektrizität kurz vor einem Gewitter in der Luft hing, konnte ich mir nicht vorstellen, da er im Berg Murloth viel heftigeren Energieausbrüchen ausgesetzt gewesen war. Dann sah ich, wie sich etwas von Westen näherte – offenbar gegen die vorherrschende Windrichtung und von ungefähr dort, wo sich die Psi-Quelle auf der »Ebene ohne Schatten« befinden musste. Es war ein weißlicher Nebelschwaden, der sich fast wie ein suchendes Greiforgan voranschob. Kurz darauf erreichte er die Rauchwolke und wirbelte sie durcheinander. Nebel und Rauch vermischten sich zu einem lang gezogenen Strudel, der sich wie der Rüssel eines unheimlichen Tornados über den See senkte. Im gleichen Moment fielen die Systeme meines Anzugs aus. Ich überlegte, ob ich in
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Deckung gehen sollte, aber noch war das Spektakel so weit entfernt, dass ich mich einigermaßen sicher fühlte. Und wenn der Sturm bis zu uns weiterziehen sollte, konnten wir ohnehin nichts gegen die PsiGewalten ausrichten. Das Gewitter tobte sich über dem TarganBinnenmeer aus. Ein dicker grauer Schlauch wanderte langsam um das Ufer herum, wie ein entfesselter altterranischer Staubsauger. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was jene, die sich im Zentrum der Gewalten aufhielten – ganz gleich, ob es sich um Androiden oder Insektenwesen handelte –, in diesen Augenblicken erlebten. Ich entschied, dass ich genug gesehen hatte, kletterte vom Felsen hinunter und kehrte zu Kythara und Ur'ogh-49 zurück.
* Der Torghan empfand eine Leere, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich allein. Die zwei Humanoiden waren zwar bei ihm und versuchten ihm sogar zu helfen, aber selbst die hoch entwickelte Medotechnik ihrer Schutzanzüge konnte nichts an seiner Einsamkeit ändern. Ur'ogh-49 versuchte, Bilanz zu ziehen. Die Humanoiden hatten ihm in mehr als nur einer Hinsicht einen Weg in die Zukunft eröffnet. Sie hatten ihm eine Vision gegeben, von der er nicht wusste, ob und wie sie sich in die Tat umsetzen ließ. Und nun war er mit ihnen in eine Zeit versetzt worden, die mehrere Jahre oder Jahrsiebte in der Zukunft lag. Alles hing mit den beiden Humanoiden zusammen. Sie hatten ihn aus seinen gewohnten Verhältnissen gerissen, aber er konnte ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Sie hatten ihm versichert, dass sie keinen Einfluss auf die Zeitversetzung hatten, dass sie genauso wie er zum Spielball unerklärlicher Gewalten geworden waren. Die wichtigste Frage war, was die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, für sein weiteres Leben bedeuteten. Bedeutete die
Freiheit von hierarchischen Zwängen, dass er von nun an ganz auf sich allein gestellt war? Oder gab es eine Möglichkeit, andere aus seinem Volk – vielleicht sogar sein ganzes Volk – an der Freiheit teilhaben zu lassen? Dem Torghan fiel es schwer, sich vorzustellen, dass er sich möglicherweise völlig von seinen Artgenossen entfremdete, wenn er sich als Individuum verwirklichte. Ein Leben als Einzelgänger erschien ihm sinnlos und leer. Aber hatte er die Kraft, andere auf seinem Weg mitzunehmen und die große Vision einer Gesellschaft freier Individuen zu verwirklichen? Auch wenn diese Idee wie ein Widerspruch in sich klang? Er versuchte zu erkennen, in welche Richtung sein Weg führte. Er suchte nach Zeichen oder Hinweisen, die ihm halfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er einen Denkfehler beging. Ur'ogh-49 erkannte, dass er selbst die Zukunft bestimmen konnte. Es gab keinen vorgezeichneten Weg. Er konnte sich frei entscheiden, welcher Vision er folgen wollte. Aber diese Freiheit bedeutete auch, dass er sich entscheiden musste.
* »Es deutet nichts darauf hin, dass der PsiSturm in absehbarer Zeit nachlässt«, sagte ich zu Kythara. »Deshalb schlage ich vor, dass wir zu Fuß weitergehen, sobald unser Freund wieder auf den Beinen ist. Bis zum Beiboot sind es noch etwa zwanzig Kilometer. Das wäre unter normalen Umständen kein Gewaltmarsch, aber wenn wir den Burschen tragen müssten …« »Ich glaube, darüber müssen wir uns keine Sorgen mehr machen«, sagte die Varganin. Ich drehte mich um und sah nun ebenfalls, dass Ur'ogh-49 mit federnden Sprüngen zu uns kam. »Ich habe einen Entschluss gefasst«, übersetzte der Translator die Worte des Insekten-
42 wesens. »Ich bin euch zutiefst dankbar für alles, was ihr für mich getan habt. Aber ich kann euch nicht länger begleiten. Mein Platz ist bei meinem Volk.« »Was willst du damit sagen?«, fragte ich. Der Torghan blickte auf den See, über dem immer noch der graue Schlauch wirbelte. »Ich werde zu meinen Artgenossen zurückkehren und versuchen, ihnen zu helfen – genauso, wie ihr mir geholfen habt.« »Da unten herrscht das totale Chaos«, warf ich besorgt ein. »Du weißt nicht, was dich dort erwartet.« »Ich sehe die Gefahr, aber ich sehe auch eine Chance«, erwiderte Ur'ogh-49. »Ich hoffe, dass ich die Verwirrung nutzen kann, um mit anderen Torghan zu reden. Sie müssen erkennen, dass es nicht gut ist, was mit unserem Volk geschieht. Vielleicht kann ich sie überzeugen, meinem Weg zu folgen.« »Ich würde dir raten, nicht überstürzt zu handeln, sondern einen günstigeren Zeitpunkt zu wählen«, sagte ich. »Aber es ist natürlich deine Entscheidung.« »Noch einmal vielen Dank«, sagte er und streckte uns zwei Arme entgegen. Ich ergriff eine Klaue. »Ich bedaure sehr, dass wir uns nicht besser kennen gelernt haben. Mach's gut.« »Sei vorsichtig«, sagte Kythara, die seine zweite Klaue schüttelte. »Du hast dich für einen langen, schwierigen und steinigen Weg entschieden.« »Ich weiß.« Ohne ein weiteres Wort kehrte Ur'ogh-49 um und hüpfte durch das lang gezogene Tal davon. Ich hätte wirklich gerne mehr Zeit mit dem Burschen verbracht. Aber wahrscheinlich hatte er Recht. Er konnte nicht ohne die Gemeinschaft der Torghan leben, auch wenn er offenbar längst kein typischer Torghan mehr war. War dies der Augenblick, in dem die größte Umwälzung begann, die dieses Insektoidenvolk jemals erlebt hatte? Kythara und ich blickten ihm noch eine Weile nach, dann verständigten wir uns mit einem stummen Blick und machten uns in
Bernhard Kempen die entgegengesetzte Richtung auf den Weg.
10. Nach einer guten Stunde hatten wir die HEGELUNT-5 erreicht, das tropfenförmige Beiboot der AMENSOON, das immer noch unbehelligt in der kleinen Nebenschlucht stand. Zu diesem Zeitpunkt funktionierten unsere varganischen Anzüge wieder; noch nicht in vollem Umfang, aber wir konnten immerhin den Öffnungskode senden und das nur zwölf Meter lange Gefährt aus formstabilisierter Energie besteigen. Für das kleine Schiff galt leider dasselbe wie für unsere Schutzanzüge. Sämtliche Prozesse, die auf höherdimensionalen Prinzipien basierten, waren ausgefallen. Das Triebwerk war zwar nur auf Unterlichtgeschwindigkeit ausgelegt, aber da es mit gravomechanischen Systemen arbeitete, konnten wir uns vorläufig nicht von der Stelle bewegen. Immerhin waren wir in der Lage, eine kleine, einfach konstruierte Ortungssonde auszuschleusen, um uns ein genaueres Bild von der Umgebung zu machen. Kythara steuerte das Gerät auf einer Kurzwellenfrequenz, die von den Effekten des Psi-Sturms am wenigsten beeinträchtigt wurde, während ich gebannt die Aufnahmen beobachtete, die auf einen Bildschirm des Beiboots überspielt wurden. Der psionische Tornado wütete noch immer rund um das Targan-Binnenmeer. Er schien sich sogar verstärkt zu haben. Doch nun war wenigstens die Sicht besser geworden. Wie es schien, war dem Feuer in den Androidenstädten die Nahrung ausgegangen, sodass nun kein dunkler Rauch mehr die Sicht trübte. Jetzt erinnerte der Psi-Sturm eher an einen Blizzard, nur dass sich das Schneetreiben auf schmale Schläuche beschränkte, die sich wie Windhosen über die Landschaft bewegten. Die Szenen, die uns die Sonde übermittelte, hatten nichts von ihrem Schrecken eingebüßt. Teile der Androidenarmeen kämpften noch immer gegeneinander. Doch an den
Murloths Berg Stellen, wo die wirbelnden Flocken aus PsiEnergie durch die Heere rasten, breitete sich Chaos aus. Die Naruk-Androiden ergriffen die Flucht vor den unheimlichen Phänomenen. Gleichzeitig wurden überall Insektoide sichtbar, die sich unerkannt in der Nähe des Schlachtgetümmels aufgehalten hatten, bis ihre Deflektorschirme versagten. Auch vor ihnen flüchteten die Androiden in panischer Angst. An verschiedenen Stellen sammelten sich kleine Gruppen, die aufgeregt zu diskutieren schienen. Es machte den Eindruck, als wäre für sie plötzlich eine Welt zusammengebrochen. Hatten sie erkannt, dass sie von den Helfern des Erzherzogs Garbhunar benutzt worden waren? Dann kam es zu einem neuen Phänomen. Die Schläuche der Psi-Tornados drehten sich immer schneller und nahmen eine bläuliche Färbung an. Es wurden immer mehr, die sich wie die Fangarme einer Qualle aus dem großen Strudel bildeten. Die Androiden versuchten weiter, sich aus der Gefahrenzone zu bringen, doch die Insektoiden – neben Torghan erkannte ich auch ein paar andere Spezies – schienen davon geradezu magisch angezogen zu werden. Dann sah ich, wie die Ersten von den Schläuchen verschluckt wurden. Die rotierenden Trichter aus Psi-Energie saugten immer mehr der Insektoiden auf, als wollten sie sämtliche Hinweise auf ihre Aktivitäten beseitigen. Nach einer Weile ebbte der der Sturm ab und zog die Tentakel ein. Das Schneetreiben konzentrierte sich zu einem immer dünner werdenden Strom, der tatsächlich genau auf den Berg Murloth gerichtet war, wie wir durch die Auswertung der Daten ermitteln konnten, die uns die Sonde lieferte. Die Androiden hatten sich in immer größeren Gruppen vom Schauplatz zurückgezogen, während jetzt nur noch wenige Insektenwesen auf dem Schlachtfeld rund um das Targan-Binnenmeer umherirrten. Sie wirkten beinahe verstört, als hätten sie den Anschluss verpasst.
43 Natürlich musste ich die ganze Zeit daran denken, was aus unserem Freund Ur'ogh-49 geworden war. Wenn er sich im üblichen Tempo fortbewegt hatte, musste er längst in der Nähe des Geschehens eingetroffen sein. Doch es war natürlich unmöglich, mit der Ortungssonde einen ganz bestimmten Torghan im Getümmel ausfindig zu machen. Ich hoffte, dass ihm das Schicksal der meisten seiner Artgenossen erspart geblieben war und er zur kleinen Schar der Überlebenden gehörte. Vielleicht konnte er nun tatsächlich ihre Verwirrung nutzen und sie für seine revolutionären Ideen gewinnen. Möglicherweise entstand hier auf Narukku die Keimzelle einer freien Torghan-Gesellschaft.
* Eben noch irrten die überlebenden Torghan kopflos umher, und im nächsten Moment fielen alle gleichzeitig um. Kythara und ich sahen uns gegenseitig an, dann steuerte sie die Ortungssonde ganz nah an einen Insektoiden heran. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf seine Gürtelschnalle, aber die Kennung war mir unbekannt. Es war nicht unser Freund. Trotzdem wurde meine Sorge um ihn nicht kleiner. Denn nachdem sich dieser Torghan mehrere Minuten lang nicht gerührt hatte, konnte es nur bedeuten, dass er tot war. Aber warum waren alle im selben Augenblick zu Boden gegangen? Hatten sie einen Todesimpuls empfangen? Einen Befehl zum kollektiven Selbstmord? Mit unseren beschränkten Mitteln war es uns nicht möglich, diese Frage zu beantworten. Plötzlich wünschte ich mir, dass Ur'ogh-49 wie die meisten anderen Torghan vom Psi-Strudel mitgerissen worden war. Immerhin blieb es ungewiss, was aus ihnen geworden war. Meine Vernunft wollte zwar nicht an eine solche Möglichkeit glauben, aber meine Hoffnung setzte darauf, dass die verschwundenen Insektenwesen vielleicht
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irgendwo rematerialisiert waren. Dass man sie nicht einfach beseitigt hatte, als sie nicht mehr gebraucht wurden. Ich starrte durch die Sichtscheibe, ohne wirklich die Sonne Narukkus zu sehen, die soeben hinter den Bergen rund um das Targan-Binnenmeer unterging. Dann schreckte ich aus meinen Gedanken hoch, als ich plötzlich das Gefühl hatte, dass eine entscheidende Veränderung eingetreten war. Kythara beschäftigte sich konzentriert mit den Kontrollen des Beiboots, während mir bewusst wurde, dass sich die Formenergiewände der HEGELUNT-5 mit einem leichten Flackern stabilisierten. Meine Vermutung bestätigte sich, als Kythara sich zu mir umdrehte und verkündete: »Wir können starten. Die Systeme werden nicht mehr durch die Effekte des Psi-Sturms beeinträchtigt.« Ich nickte nur stumm.
* Endlich tauchte die AMENSOON am Horizont auf. Das Raumschiff aus goldenem Varganstahl in der typisch varganischen Oktaeder-Bauweise kam mir wie ein lange vermisstes Zuhause vor. Zwar herrschte hier, fünftausend Kilometer östlich vom TarganBinnenmeer, bereits tiefste Nacht, aber im Schein des strahlenden Murloth-Nebels war es deutlich zu erkennen. Das Schiff reagierte sofort auf unser Kodesignal, und kurz darauf flog das schlanke Beiboot in eine Hangarschleuse knapp oberhalb des Äquators – dort, wo die zwei Pyramiden sozusagen an der Unterseite zusammengeklebt waren. Als Erstes verschwanden Kythara und ich in je einer Sanitärzelle, um uns nach dem Trubel der letzten Tage etwas frisch zu machen. Als ich fünfzehn Minuten später die Zentrale der AMENSOON betrat, hatte Kythara längst die Kontrollen aktiviert, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. »Wie sieht es aus?«, erkundigte ich mich. »Willst du zuerst die gute oder die schlechte
Nachricht hören?«, fragte sie. »Die Reihenfolge überlasse ich dir.« »Dann fange ich mit der guten an«, sagte Kythara, während sie weitere Schaltungen vornahm. »Theoretisch funktionieren sämtliche Systeme wieder einwandfrei. Der Einfluss, der die Technik lahm gelegt hat, ist verschwunden. Jetzt die schlechte Nachricht. Ein Ausläufer des Psi-Sturms hat das Schiff getroffen. Im Kyri-Überlichttriebwerk ist es zu hyperenergetischen Überschlägen gekommen. Vorläufig sitzen wir also auf Narukku fest.« »Lässt sich der Schaden reparieren?« »Die Selbstreparaturroutine arbeitet daran. Aber ob sie das Problem aus eigener Kraft in den Griff bekommt, kann ich noch nicht sagen. Es wird bestimmt noch mehrere Tage dauern.« »Was machen wir so lange?«, fragte ich. »Fliegen wir noch einmal mit einem Beiboot los, um nachzusehen, was aus den Androiden, der Psi-Quelle und den Insektoiden geworden ist?« »Ich schlage vor, dass wir zunächst die umfangreichen Messdaten auswerten, die die AMENSOON in der Zwischenzeit gesammelt hat. Dann sehen wir weiter.« »Kann ich dir irgendwie dabei helfen?« »Im Moment nicht. Die Hauptarbeit macht ohnehin der Computer.« »Wann rechnest du mit ersten Ergebnissen?« Kythara atmete einmal tief durch und sah mich tadelnd an. »Leg dich eine Stunde aufs Ohr oder lies eins der lehrreichen Traktate des varganischen Philosophen Raikast. Ich würde dir seine Abhandlung über die Geduld empfehlen.« »Ich bin überzeugt, dass ein Volk mit einer Vergangenheit von mindestens 800.000 Jahren einiges zu diesem Thema sagen kann. Wann lebte dieser Raikast?« »Atlan!«, sagte Kythara in strengem Tonfall. Ich sah ein, dass es vermutlich das Beste wäre, sie eine Weile in Ruhe zu lassen und mich in Geduld zu üben.
Murloths Berg
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* Ich hatte mich tatsächlich in eine der Kabinen in der Nähe der Zentrale zurückgezogen, um eine Weile zu schlafen. Obwohl meine Reserven dank des Leben erhaltenden Zellaktivatorchips noch lange nicht aufgebraucht waren, tat mir die Ruhe gut. Knapp zwei Stunden später weckte mich Kythara mit einem Anruf. »Das Warten hat sich gelohnt«, sagte sie. »Komm rüber, dann zeige ich dir, was wir alles verpasst haben.« Eigentlich hatte ich das Gefühl, in den letzten Tagen genug erlebt zu haben, aber ich konnte nicht behaupten, dass ich viel von den Ereignissen verstanden hatte. Vielleicht hatte die Varganin einen entscheidenden Hinweis gefunden. In der Zentrale führte Kythara mir ein Holo vor, das sie aus den Daten verschiedener Ortungssonden zusammengestellt hatte. »Was du hier siehst«, erklärte sie dazu, »sind Aufnahmen vom Berg Murloth, die während der letzten zwanzig Stunden entstanden sind, seit wir vom Schlachtfeld in die Vergangenheit versetzt wurden. Bis zu unserer Rückkehr können übrigens nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein, obwohl während dieses Ausfluges für uns subjektiv ein viel längerer Zeitraum vergangen ist. Genauer kann ich es nicht bestimmen, weil die Systeme und damit auch die Chronometer unserer Anzüge immer wieder ausgefallen sind.« »Das heißt, wir schreiben immer noch den 10. Mai 1225 NGZ?« Nach meinem Empfinden waren mindestens zwei Tage mehr vergangen. Kythara beugte sich über die Konsole und rief eine Anzeige auf. »Nicht ganz, vor einer halben Stunde ist bereits der 11. Mai angebrochen.« Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, dass ich mein biologisches Lebensalter nicht mehr durch einfache Subtraktion meines Geburtsdatums vom aktuellen Zeitpunkt ermit-
teln konnte. Dazu hatte ich in den zwölftausend Jahren, die seit meinem Eintritt in diese Welt verstrichen waren, zu viel Zeit im Tiefschlaf, in der Stasis oder auf Reisen entlang des Zeitstroms verbracht. Ich konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart, bevor mich mein fotografisches Gedächtnis in eine Epoche entführte, die jetzt nichts zur Sache getan hätte. »Gut«, sagte ich. »Was ist seitdem passiert?« »Hier siehst du die Splitter der PsiKristalle, die Überreste des Kristallmonds der Obsidian-Kluft, die sich vor ziemlich genau fünf Tagen von der Vergessenen Positronik gelöst haben und seitdem den Berg Murloth umschwirren. Die Messwerte deuten darauf hin, dass der Kristallschwarm dem Berg Psi-Energie entzieht. Er frisst die Quelle regelrecht auf.« In der zusammengeschnittenen Abfolge war deutlich zu erkennen, das der Eisberg auf der »Ebene ohne Schatten« langsam schrumpfte. Es schien einen kontinuierlichen Energiefluss zu geben, aber es kam auch immer wieder zu Überschlagblitzen, die von der erstarrten Psi-Materie zum schnell rotierenden Mahlstrom sprangen und größere Brocken verdampfen ließen. Unwillkürlich musste ich wieder an Skanmanyon denken. Damals hatte ich die Gefahr bannen können, die von der Psi-Quelle ausgegangen war, ohne zu wissen, ob sie eines Tages vielleicht erneut aktiv würde. »Das sind Bilder aus den letzten paar Stunden, ungefähr ab dem Zeitpunkt, als wir aus der Vergangenheit zurückkehrten«, erklärte Kythara weiter. »Der Strudel rund um den Berg Murloth bildet einen Ausläufer, der bis zum Targan-Binnenmeer reicht und sich dort auffächert. Wir haben mit eigenen Augen beobachtet, wie die Psi-Tornados rund um die fünf Städte wüteten. Auch die Androidenfabrik war betroffen, was wir von unserem Standpunkt aus nicht sehen konnten. Dann verändert sich plötzlich etwas im Psi-Strom, der nun die typischen ÜBSEFSignaturen intelligenter Lebewesen auf-
46 weist.« »Die Insektoiden, die vom Strudel mitgerissen wurden?«, spekulierte ich. »Heißt das, sie oder zumindest ihre Bewusstseine haben in irgendeiner Form überlebt?« »Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da ich hier nur ein paar Messdaten habe, die zum Teil schwer zu interpretieren sind.« »Was sagt dein Gefühl dazu? Oder ist es dir irgendwo auf unseren Reisen durch die Zeit abhanden gekommen?« Kythara warf mir einen kühlen Seitenblick zu. »Was soll ich fühlen, wenn ich nur Computerdaten und sterile Bilder zur Verfügung habe?«, fragte sie. »Abgesehen von meiner persönlichen Hoffnung, dass Ur'ogh-49 überlebt hat?« »'tschuldigung«, sagte ich. »War nicht so gemeint.« Die Varganin ging nicht weiter darauf ein. »Als sich der Psi-Sturm vom TarganBinnenmeer zurückzog und wir mit dem Beiboot starten konnten, hatte der Kristallschwarm dem Berg Murloth fast sämtliche Energie entzogen. Und während sich der Mahlstrom etwas beruhigte, bildete sich immer deutlicher ein weiterer Energiestrom heraus, der von der Planetenoberfläche wegführt.« »Was schließt du daraus?« »Daraus schließe ich, dass die Kristalle die gesammelte Energie zu einer anderen Psi-Quelle schicken. Zufällig zielt dieser Energiestrahl genau ins Zentrum des Murloth-Nebels.« Das nur schwer begreifbare Geschehen beschränkte sich also nicht allein auf den Planeten Narukku, sondern zog größere Kreise in der kosmischen Nachbarschaft. »Ich habe ein paar genauere Messungen vorgenommen«, fuhr Kythara fort. »Innerhalb des Emissionsnebels gibt es insgesamt fünf Psi-Konzentrationen, wie sie für varganische Psi-Quellen typisch sind. Narukku, drei weitere im Umkreis von 15 Lichtjahren und die Zentrumsquelle, die die stärkste von allen ist. Das muss die eigentliche Psi-Quelle sein. Die anderen sind gewis-
Bernhard Kempen sermaßen nur ihre Ableger.« Die Varganin ließ die Holo-Sternkarte des Murloth-Nebels verschwinden und zeigte mir wieder den kärglichen Rest des ehemals fast 600 Meter hohen Eisbergs. »Seitdem ist diese Nabelschnur allmählich stärker geworden«, sagte sie, »und gleichzeitig löst sich die Kristallmasse auf. Die Psi-Energie wird kontinuierlich zur Hauptquelle im Zentrum des Nebels abgestrahlt.« »Mein Gefühl sagt mir, dass das nichts Gutes bedeuten kann«, bemerkte ich. »Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte Kythara. »Auch wenn ich immer noch nicht verstehe, was genau das alles zu bedeuten hat. Fest steht nur, dass jemand diese Psi-Quellen manipuliert. Die unbekannte Macht scheint die Energie für einen ganz bestimmten Zweck einsetzen zu wollen.« »Die ominösen Lordrichter von Garb?«, überlegte ich. »Es würde zu dem passen, was der Cappin auf der Stahlwelt sagte, ehe er starb. Er hat sogar vor der Gefahr gewarnt, dass eine Quelle pervertiert werden solle. Fragt sich nur, was diese Lordrichter oder wer auch immer mit der gesammelten Psi-Energie anstellen wollen.« »Um das herauszufinden, müssen wir uns etwas genauer auf Narukku und vielleicht sogar in der Nähe der Zentrumsquelle umsehen.« »Damit stellt sich das Problem, wie wir die Zeit totschlagen, bis die AMENSOON wieder einsatzfähig ist.« Kythara verzog spöttisch das Gesicht. »Wenn du glaubst …« Doch im nächsten Moment fuhr ihr Kopf herum, als sich die Ortungssysteme mit einem akustischen Signal meldeten. Die Varganin vergaß, was sie sagen wollte, und beugte sich über die Konsole. »Die Orter haben einen Strukturschock angemessen«, erklärte sie. »Ein größeres Objekt hat in unmittelbarer Nähe des Planeten eine Transition durchgeführt. Das Muster der Strukturerschütterung des RaumZeit-Gefüges haben wir schon ein paarmal
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beobachtet.« »Lass mich raten«, sagte ich. »Die Vergessene Positronik!« »Exakt«, bestätigte Kythara. »Und jetzt darfst noch einmal raten, in welche Richtung der Kursvektor zielt.« »Grundsätzlich traue ich dem Ding alles Mögliche zu. Aber irgendein Gefühl sagt mir … dass es zum Zentrum des Murloth-Nebels unterwegs ist.« »Wieder ein Volltreffer«, sagte Kythara. »Du solltest dich viel öfter auf dein Gefühl verlassen, Arkonide.« »Das werde ich tun«, sagte ich. »Offenbar ist die Positronik zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt wie wir. Was machen wir jetzt?« »Ich weiß nicht, was du vorhast«, sagte Kythara, »aber ich brauche dringend etwas Ruhe. Ich gehe schlafen.«
11. Vernon erwachte. Doch es war kein angenehmes Erwachen. Was er verspürte, waren Schmerz und Hilflosigkeit. Und ein überwältigendes Gefühl des Grauens. Was ihm ein solches Entsetzen bereitete, war die bloße Tatsache seiner Existenz. Die Überraschung angesichts der Erkenntnis, dass er lebte. Denn Vernon war tot. Er wusste genau, dass er gestorben war. Er konnte sich an alle Einzelheiten seines Todes erinnern. Trotzdem lebte er weiter – wenn auch nicht ganz auf dieselbe Weise wie vor seinem Tod. Eigentlich lebte nur noch Vernons Körper. Der Vargane war vor langer Zeit – wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht sagen – der Unsterblichkeit überdrüssig geworden. Er hatte die unablässige Fortdauer seiner Existenz nicht mehr verkraftet und hatte sich zum letzten Schritt entschlossen, wie es bereits viele seiner Artgenossen vor ihm getan hatten. Er hatte die Droge eingenommen und sich dem sanften Tod hingegeben. Das Ziel dieser Prozedur waren die be-
hutsame Lösung des Bewusstseins von der körperlichen Hülle und die Erlösung vom materiellen Dasein, die Freisetzung ins Kyriliane. Vernon war gestorben, doch dann schien es zu einer unvorhergesehenen, schrecklichen Entwicklung gekommen zu sein. Sein Körper war konserviert worden, um die Zeiten zu überdauern. Vielleicht war das der Grund, warum Vernon auf eine schwer zu definierende Art weiterlebte. Hatten seine Körperzellen nicht nur die materielle Struktur, sondern auch das Wissen über seine Existenz bewahrt? War das, was Vernon als sein individuelles Bewusstsein empfand, der Rest einer flüchtigen Erinnerung an sein früheres Leben? Oder hatte sich auf irgendeine andere Weise ein Teil seiner geistigen Aura geweigert, den toten Körper zu verlassen und ins Kyriliane zu entweichen? Vernon wusste nicht, was geschehen war, warum es ihm nicht vergönnt war, im Ganzen Frieden zu finden. Er wusste nur, dass er dieses Nachleben hasste. Dann mischte sich eine andere Empfindung in das Grauen. Vernon spürte, dass er nicht allein war. Er nahm eine fremde Existenz wahr, die sich seines Körpers bemächtigte. Von Zeit zu Zeit – wieder war es ihm nicht möglich, die Dauer dieser Phasen einzuschätzen – wurde der Tote von einem anderen Bewusstsein beseelt. Immer wenn der Fremde zurückkehrte, erwachte Vernon. Der Körper des Varganen erhob sich aus dem Konservierungsbehälter. Vernon glaubte, den letzten Rest seines Verstandes zu verlieren, als ihm klar wurde, dass er keinen Einfluss auf seine tote Hülle nehmen konnte. Der Fremde steuerte seine Bewegungen. Nur der Andere besaß die vollständige Gewalt über das Gehirn, die Nerven und Muskeln und war in der Lage, den Körper zu benutzen. Doch er schien nichts davon zu bemerken, dass ein winziges Restbewusstsein des ursprünglichen Besitzers in diesem Körper zurückgeblieben war.
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Der Fremde verließ den Raum mit den Konservierungsbehältern. Er agierte mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre diese Art des parasitären Daseins für ihn nichts Ungewöhnliches. Vernon nahm alles wahr, was mit seinem Körper geschah. Doch er sah die Umgebung zunächst nur verschwommen. Es fiel ihm schwer, sich an diese Form des passiven Mitlebens zu gewöhnen. Dann erkannte er Einzelheiten – Leuchtkörper, Türen und schließlich einen großen Raum. Die vielfarbigen Lichter, die Bedienungselemente und anderen technischen Gerätschaften setzten sich zu einem Gesamtbild zusammen, das einen Widerhall im Gedächtnis des Toten fand. Der Fremde hatte die Zentrale eines positronischen Hauptrechners betreten. Auch hier schien er genau zu wissen, was zu tun war.
Zielstrebig näherte er sich einer Konsole und nahm verschiedene Schaltungen vor. Vernon schrie. Seine Qual wurde unerträglich, doch sein Entsetzen verhallte ungehört. Er wollte sterben und musste leben. Fast genauso grausam wie seine Zwangsexistenz war seine Hilflosigkeit. Wenn er schon leben musste, hätte er sich gewünscht, wenigstens etwas tun zu können. Vernon verzweifelte. Der Fremde im konservierten Varganenkörper setzte sein verhängnisvolles Tun unbeirrt fort. ENDE
ENDE
Aufruhr auf Narukku von Horst Hoffmann Die Zeitreise Atlans und Kytharas eröffnete viele Einblicke. Noch begreifen weder der Arkonide noch die Varganin, wie die eigentlichen Zusammenhänge sind. Zumindest können sie erahnen, dass alles mit den varganischen Psi-Quellen und den Lordrichtern zusammenhängt – ihre »Zwischenlandung« auf Narukku ist also letztlich doch sinnvoll.