Präludium
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Präludium
In diesem Buch geschehen folgende Verbrechen: zwei Morde, zwei Mordversuche, zwei Einbruch diebstähle (begangen von Polizeibeamten Ihrer Britischen Majestät), Schmuggel, Hausfriedens bruch, aktive und passive Bestechung, Irrefüh rung der Behörden in Tateinheit mit grobem Un fug. Selbst ein milde gestimmtes Gericht käme zu einer Gesamtstrafe von dreimal lebenslänglich, dreizehn Jahren, sechs Monaten und achtzehn Ta gen Zuchthaus. Nachdem durch diese statisti schen Angaben die inhaltliche und literarische Be deutung des Werkes hinlänglich begründet wurde, sei nur noch soviel verraten, daß ein verrottetes englisches Schloß, auf dem sich die trauernden Erben des sehr ehrenwerten Sir Robert Thorp ein Stelldichein geben, Schauplatz der verwickeltsten und grausigsten Vorfälle ist, denen der ebenso beleibte wie stets durstige Kriminalkommissar Bailey zunächst etwas ratlos gegenübersteht. Be sonders empfohlen sei das Buch als Lektüre im Wartezimmer des Zahnarztes, wo der geneigte Leser, obwohl durch unzählige lebensechte Krimi nalfilme der Winterfernsehsaison bestens ge schult, seine Schmerzen mit Sicherheit vergißt. Für den Wert des Buches spricht vielleicht auch die Tatsache, daß der Verlag zwei verdiente Lek toren verloren hat, von denen der eine einem Herzschlag erlag, der andere sich zu Tode lachte. Dafür sind 5,80 Mark wohl nicht zuviel verlangt. (Und auch die spart man beim eBook.[P.37])
Einband und Vignetten von Ruth Knorr
Scanned and corrected by Pegasus37
Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Peter Addams
Mord im Schloß
Kriminalgroteske
Verlag der Nation Berlin
Erstes Kapitel
Hier lernt das geneigte Publikum das unheimliche Wirtshaus «Zur blutigen Schmiede» kennen, gelegen in einer kleinen Hafenstadt Englands, welches bekanntlich in der Zahl der Verbrechen und der Fähigkeit seiner Kriminalisten das Welt niveau bestimmt.
Die Gaststätte «Zur blutigen Schmiede» lag am Ende der Hauptstraße, die durch das Städtchen Walsh zum Hafen führte. Sie verdankte ihren Na men der Legende, daß hier einmal schauerliche Mordtaten stattgefunden hätten. Vor etwa drei hundert Jahren sollte ein gewisser Richard Shan non die Schmiede zu einem Gasthaus umgebaut und sich berufsmäßig auf das Rauben verlegt ha ben. Mancher Reisende, der dort übernachtet hät te, wäre später zwischen den Uferfelsen, aufge dunsen und ohne Kopf, angetrieben worden. Es wurden sogar etliche Bücher, darunter ein großes Poem, über diesen sagenhaften Räuber veröffent licht. Seine Taten begründeten den Ruf des abge legenen Gasthauses bis zum heutigen Tag und gaben ihm den Reiz einer touristischen Attraktion. Bill Shannon, der letzte Nachfahr dieses Schmiedes, war ein sanfter, gutmütiger, ein wenig schwatzhafter Mann, doch durchaus mit gesun dem Geschäftssinn begabt. Er hatte dafür ge sorgt, daß der Schankraum entsprechend der Fa milientradition eingerichtet worden war. Ruß bedeckte die Wände und die Decke. Ketten, Rä der, Zangen waren künstlerisch arrangiert und mit brauner Farbe bestrichen, bei der man sowohl an Rost als an unschuldig vergossenes Blut denken konnte. Wenn ein Fremder wissen wollte, ob das Gast haus und sein Schankraum wirklich vor dreihun dert Jahren so ausgesehen hätten wie heute, ver zog Shannon sein Gesicht in nachdenkliche Falten 6
und meinte mit tief aufrichtigem Ton: «Nein, Sir, ganze dreihundert Jahre sind es nicht, aber zwei hundertfünfundsiebzig wenigstens, dafür könnte ich meine Hand ins Feuer legen.» Er streckte sei ne nudelfingrige Hand in Richtung des Kamins aus, der kein echter Kamin war, sondern eine Es se mit Windfang, wie sie in alten Schmieden zu finden ist. Bei Dorothy Thorp wäre Shannon nie auf den Gedanken gekommen, das Renommee seiner Gaststätte mit den sonst üblichen Geschichten aufzuputzen. Sie war von Kopf bis Fuß englische Nüchternheit, kritischer Verstand und nicht selten bissiger Humor. Wenn Shannon gerade mitten im schönsten Erzählen war, wie die Kinderchen sei ner Vorfahren mit den abgeschnittenen Köpfen «Ich verkaufe Rüben, was zahlst du dafür» ge spielt hatten, dann verschluckte er sich fast mit ten im Satz, sobald die hagere Gestalt der Lady Dorothy Thorp in der Tür auftauchte. «Du schwindelst nicht schlecht, Bill, aber dir fehlen die geschichtlichen Kenntnisse, um glaub würdig zu erscheinen», fuhr sie dem Gastwirt über den Mund. Sie war nicht umsonst vor ihrer Heirat Lehrerin in Walsh gewesen. «Das Spiel ‹Ich verkaufe Rüben, was zahlst du dafür› haben wir doch beide erst erfunden, als wir noch die Bank der Sonntagsschule drückten.» In solchen Fällen verzichtete der biedere Gast wirt auf jede weitere Auseinandersetzung. Er brachte Dorothy Thorp das Getränk, das sie be reits seit zwanzig Jahren als Medizin für ihren Ma 7
gen einzunehmen pflegte. Die Mischung hatte es in sich. Selbst ein alter Seebär, der das Glas auf einmal geleert hätte, wäre rot angelaufen. Es be stand aus einem Bierglas reinem Whisky, dem ein halber Teelöffel schwarzer Pfeffer, Ei, Muskat und eine Prise Salz zugegeben waren. An dem Nachmittag, da unsere Geschichte be ginnt, kippte Dorothy Thorp sogar zwei Glas von diesem Absud der Hölle, wie Shannon ihn nannte, in sich hinein. Vor wenigen Stunden hatte sie ih ren Gatten in die steinige Erde des alten Walsher Friedhofes sinken sehen. Shannon, immer noch schwarz gekleidet, war einer der Trauergäste ge wesen. Aber erst jetzt kam er dazu, seinen Gefüh len Ausdruck zu verleihen. «Obwohl ich Sir Robert kaum kannte, fühle ich eine tiefe Traurigkeit in mir aufsteigen…» «Laß deine Traurigkeit schnell wieder herunter steigen», fauchte ihn Dorothy an. «Du weißt ebensogut wie ich, daß dieser Tod kein schmerzli cher Verlust für mich ist, sondern ein freudiges Ereignis. Dieser Mann, der mich vor dreißig Jahren mit seinen Offiziersmanieren und seinem Schnurrbart vergessen ließ, daß ich einen sehr gesunden und schon damals sehr kritischen Verstand besaß, hat dreißig Jahre zu lange gelebt. Wäre er doch schon nach unserer Hochzeitsnacht von seinem Reitpferd gestürzt oder beim Schwimmen ertrunken! Auch jede andere Art na türlichen oder unnatürlichen Todes wäre mir recht gewesen.»
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Die Witwe war Mitte Fünfzig, hager, aber nicht ohne einen eigenwilligen Charme. Ihre gesunden weißen Zähne standen ein wenig vor, und wenn sie lachte, fuhr Shannon immer leicht zurück, weil er das Gefühl hatte, sie könnte ihm in den Finger beißen. «Wenn du das ernst meinst, dann verstehe ich nicht, warum du so lange gewartet hast», meinte der sanfte Nachkomme blutrünstiger Halsab schneider. «Und ob ich’s ernst meine, du Vollmond auf zwei Beinen», versetzte Dorothy. «Und weil wir uns beide schon als Kinder verbrecherisch betätig ten, indem wir den Obstgarten des Herrn Pfarrer geplündert haben, will ich dir ein Geständnis ma chen.» «Bitte, kein Geständnis!» Shannon hob die Hände, als wollte er sich die Ohren zuhalten. Er wußte im voraus, wenn Dorothy Thorp Geständ nisse machte, geriet er in eine mißliche Lage. «Doch, doch, dir vertraue ich es an.» Sie ließ ihre Zähne sehen. «Mein Gatte ist gar nicht an einer Lungenembolie gestorben, ich war die Vor sehung, die ihm half, das irdische Jammertal zu verlassen. Und ich werde dir auch verraten, war um ich ihn umgebracht habe.» Sie lächelte Shan non freundlich an, so daß es ihm kalt über den Rücken lief. «Kennst du das Insektenvertilgungs mittel ‹Schneller Tod›? Ein Päckchen genügt, um einen Morgen Land von allen Insekten zu befrei en, ein gehäufter Eßlöffel, um ein Dutzend Men schen unter die Erde zu bringen. Und wie du mich 9
jetzt anglotzt, sehe ich, daß du nun doch neugie rig bist, zu erfahren, warum ich es getan habe.» «Da bin ich wirklich neugierig.» «Dieser Saufbold, der sich Baronet Thorp nann te und der in seinem Leben nie einen Finger ge rührt hat, um etwas Anständiges zu tun, außer sich die Nase zu putzen, hatte das sprichwörtliche Glück des Dummkopfes. Man drehte ihm vor zwei Jahren ein Bündel afrikanische Aktien an, die un gefähr soviel wert waren wie ein Bündel alter Zei tungen. Und was stellte sich eines Tages heraus.? Der Wert dieser Aktien stieg in schwindelerregen de Höhe. In einem weltvergessenen Landstrich Afrikas, wo man sonst nur Steine findet, entdeck te man Diamanten, groß wie Walnüsse. Man konnte sie säckeweise einsammeln. Und somit bin ich seit heute eine Millionärin und gedenke das Leben zu genießen auf jede Weise, die sich mir bietet. Noch einen!» Ihr spitzer Finger zeigte auf das leere Glas. Obwohl Shannon seine Jugendfreundin und ihre Art, Späße zu machen, nur zu gut kannte, ver spürte er diesmal in seinem Schädel ein dumpfes Gefühl, daß dieses unglaubliche Geständnis gar nicht so unglaublich sein mußte, wie es sich an hörte. In die Schenke waren inzwischen einige Gäste eingekehrt, offenbar Touristen, die die gruslige Atmosphäre des Lokals genießen wollten, und Shannon mußte sie bedienen. Sie stellten wie die meisten recht alberne Fragen: «Wurden die Köpfe mit dieser Säge abgesägt?» Oder: «Auf der Esse 10
hat man sie geschmort?» Doch Shannons Antwor ten fielen heute recht dürftig aus. Immer wieder wanderte sein Blick zu der mörderischen Witwe, die es mit einem Eßlöffel Insektenpulver zu einer Millionärin gebracht hatte. Als er sich wieder zu ihr setzte, lächelte sie ihn sanftmütig an. «Und weißt du, was ich jetzt tun werde, Bill?» «Das Schloß renovieren und…» «In Kenia auf Safari gehen und Löwen jagen. Und dann werde ich mir ansehen, wie die russi schen Forscher auf dem Nordpol Tomaten züch ten, und dann fahre ich nach Florida und lerne Wasserski laufen. Und wenn ich den richtigen Mann finde, heirate ich vielleicht noch einmal, um mit ihm in Kanada Forellen zu fangen.» Sie macht sich lustig über mich, mutmaßte der Jugendfreund mit Recht. Er fragte: «Sind denn keine anderen Erben da?» «Keine. Gott sei Dank!» fügte sie tief befriedigt hinzu. In diesem Augenblick betrat ein würdig ausse hender älterer Mann den Schankraum. Er hatte eine schwarze Melone auf, trug einen schwarzen Anzug, schwarze auf Hochglanz polierte Schuhe und über dem Arm einen schwarzen Schirm. So gar sein Bart war schwarz. Mit würdigen Schritten ging er auf Dorothy Thorp zu, verbeugte sich nicht weniger würdig und stellte sich vor: «Harold Fisher.»
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Sie musterte ihn eine Weile, zwinkerte mit dem linken Auge, während sie die Braue des rechten in die Höhe zog. «Sie kommen mir irgendwie bekannt vor», sag te sie endlich, nicht sehr überzeugt. Der schwarze Mann namens Fisher nickte. «Ich hatte die Ehre, an der Bestattung Ihres Gatten Sir Robert teilzunehmen.» «Das sieht man Ihnen an. Haben Sie ein Bad in schwarzer Tinte genommen?» Fisher versuchte ein Lächeln und antwortete mit einer weiten Gedankenassoziation: «Es gibt Län der, wo man sich bei Begräbnissen weiß kleidet, sich mit Blumen schmückt und tanzend hinter dem Sarg herzieht. Zum Beispiel auf Java.» Und dann: «Wir sind leider nicht auf Java.» «Eben.» Dorothy Thorp nippte an ihrem Ge tränk; ein Gedanke, der ihr gekommen war, lag wie ein Stein auf ihrer Seele. Sie wälzte den Stein mit der Frage beiseite: «Sind Sie etwa ein Ver wandter meines Mannes?» «Nein, einer solchen Ehre dürfte ich mich nicht vermessen.» «Reden Sie wie ein Mensch und stehen Sie nicht da wie eine schwarze Krähe», herrschte die innerlich erleichterte Witwe den Schwarzgekleide ten freundlich an. «Wollen Sie was Besonderes von mir?» Und ehe der Trauergast antworten konnte: «Wenn Sie von einem Verein kommen, der für gestrandete Hunde und Katzen sorgt, oder von einer Sekte, die nachts in Schlafhemden mit einer Kerze in der Hand durch die Gegend wan 12
dert, so kehren Sie wieder heim und richten Sie Ihren Brüdern aus, bei mir sei nichts zu holen.» «Ich komme wegen Ihrer Rosen, Lady Thorp», sagte Fisher vollkommen unbeeindruckt. «Wenn Sie mir erlauben zu bemerken, die Rosen sollen bei Ihnen im Sommer immer in einem bejam mernswerten Zustand sein. Die Leute erzählen, sie hätten mehr Blattläuse als Blätter, auch die Nelkenbeete entsprechen offenbar nicht mehr dem gesellschaftlichen Stand von Schloß Curen tin.» «Kurzum, Sie sind ein Gärtner?» «Wenn Sie gestatten, so ist es. Ich habe Ihre Annonce gelesen und war vorige Woche schon einmal hier, am Todestag Sir Roberts. Jetzt, wenn Sie gestatten, komme ich auf diese Annonce zu rück.» «Zeigen Sie mir Ihre Empfehlungen.» Fisher zog umständlich seine Brieftasche hervor und legte ebenso umständlich einige Zeugnisse auf den Tisch. Dorothy Thorp streifte die Papiere nur mit ei nem Blick und schob sie uninteressiert zur Seite. «Was da drin steht, weiß ich ohnehin: Ehrbar, arbeitsam, zuverlässig, treu, pflichtbewußt, aufop ferungsvoll, ordentlich. Sonst würden Sie mir ja die Wische gar nicht vorlegen, oder?» Der Mann in Schwarz antwortete nicht. «Also gut, ich stelle Sie ein, weil es in meinem Garten wirklich in jedem Jahr von rosen- und kohlfressenden Insekten wimmelt», entschied sie.
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«Gegen diese Plage gibt es nur ein wirklich be währtes Mittel, das Insektenvertilgungsmittel ‹Schneller Tod›», sagte mit unbeweglichem Ge sicht der neuangestellte Gärtner und Trauergast. Shannon, der gerade an ihrem Tisch vorbeiging, zuckte bei der Erwähnung des Insektenvertil gungsmittels jäh zusammen. Es kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Plötzlich hatte er Angst um sein Leben. Eine Ahnung sagte ihm, daß Sir Robert nicht der einzige Tote bleiben würde, daß die Tradition der «Blutigen Schmiede» im Schloß der Lady Thorp ihre Auferstehung feiern würde.
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Zweites Kapitel
Der von Lady Dorothy, trauernder Witwe des sehr ehrenwerten Baronet Robert Thorp, engagierte Gärtner, der sich mit Pflanzengiften bestens auskennt, zeigt auch anderweitig absonderliche Fähigkeiten, was erneut die Erfahrung bestätigt, daß man bei der Einstellung von Hauspersonal heutzutage nicht vor Überraschungen geschützt ist.
Vorerst geschah nichts, was den Frieden auf Schloß Curentin stören konnte. Der Stammsitz der Thorps, ein Gemisch von wenigstens drei, vier Stilarten, war ein von der Zeit angenagtes, häßli ches Gebäude, dem man nur wünschen konnte, ein Erdbeben möge es verschlingen. Da Geister mit Geschmack sich seit je gesträubt hatten, in ihm ihren Pflichten als Schreckgespenster nachzu kommen, blieb auch in dieser Hinsicht alles ruhig. Ja, sogar das Wetter, bis dahin neblig-trüb, regnerisch und somit Anlaß klimatisch bedingter Verbrechen, besann sich auf sein besseres Ich. Der Himmel heiterte sich auf, die Frühlingssonne strahlte wie eine frisch geputzte Messinglampe, es wurde über Nacht warm, und an den Büschen und Bäumen sprangen die klebrigen Knospen auf, und ein gelbliches, fast durchsichtiges Grün kam an den Zweigen zum Vorschein. Fisher, in seinem Bestreben, den Park des Schlosses standesgemäß zu verschönern, hatte von früh bis abends zu tun. Er erfüllte seine Pflicht so gewissenhaft, daß selbst Patricia Highsmith, die Haushälterin, zugeben mußte, der neue Gärt ner lasse es an Fleiß und Hingabe nicht fehlen. «Das gebe ich zu», bekannte sie, «aber sonst ge be ich nichts zu.» Dorothy, die mit ihr an einem Kartentisch in der Halle saß, meinte zu dieser Einschätzung: «Dir mißfällt ja grundsätzlich alles, was ich mir an schaffe. Ob es der Dackel Apollo war oder das
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Fahrrad, das ich mir vorige Woche gekauft habe, oder jetzt der neue Gärtner.» «Sie machen sich wie immer über mich lustig, wenn ich schwarzsehe, aber habe ich nicht immer recht behalten?» parierte die korpulente Dame. «Das Fahrrad steht zerbeult im Schuppen. Und was war mit Apollo? Er biß alle Hühner der Umge bung tot, und Sie zogen sich in einem Monat mehr Feinde zu als in den letzten zehn Jahren. Und ich werde auch bei diesem Fisher recht behalten, die sem angeblichen Gärtner. Wenn ich, eine arme, vermögenslose Witwe, sage, er ist ein Räuber, ein Halsabschneider und Mordbrenner, spreche ich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.» Sie hob zum Zeichen ihrer tiefsten Überzeugung drei Finger in die Luft und fragte besorgt: «Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß keine anderen Erben vorhanden sind?» «Ich lebte schließlich neunundzwanzig Jahre, sieben Monate und zwölf Tage mit diesem Schwachkopf und Säufer zusammen, da werde ich wohl wissen, daß ich die einzige Erbin bin. Es könnte natürlich sein, ausgeschlossen ist es nicht, daß so ein Miststück von Erbschleicher hier auf kreuzt, um mir einen Teil meines sauer verdienten Vermögens abzuknöpfen. Aber du kennst mich, nicht einen Shilling kriegt er zu sehen.» «Wann wird das Testament geöffnet?» «Sobald dieser Lockridge, der ein Anwalt sein will und immerzu nach London fährt, um sich dort
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unzüchtig zu amüsieren, wieder in Walsh ist. Das wird schon morgen sein, hoffe ich.» Patricia, die sonst immer am Himmel die Wol ken statt der blauen Stellen sah, fühlte sich dies mal genötigt, den Anwalt zu verteidigen. «Wenn einer auf dem Operationstisch liegt und ihm der Bauch aufgeschnitten wird, dann nenne ich das nicht gerade ein Amüsement.» Und nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: «Auf jeden Fall werde ich Sie heute abend in mein Gebet ein schließen, auf daß Sie die einzige Erbin sind.» «In solchen Dingen hilft dem Menschen kein Gott, da muß er sich schon selbst zu helfen wis sen.» Dorothy zeigte auf ein Bücherregal. «Dort steht ein Buch, es ist von einem Professor Ste ward geschrieben und heißt ‹Die bekanntesten Giftmorde der Weltgeschichte, die nie bewiesen werden konnten›. Was denkst du, was man mit einigen Pilzen oder einer Büchse Insektenvertil gungsmittel alles anstellen kann.» Patricia hielt es für ihre Christenpflicht, sich zu bekreuzigen. «Nein, Mrs. Thorp, das ist nicht recht. So einem Mordbrenner wie dem Fisher ist alles erlaubt, bit te, weil er von Natur ein Verbrecher ist. Aber eine Dame Ihres Standes darf solche Gedanken nicht hegen.» «Wir müssen in den nächsten Tagen unbedingt den Kamin in meinem Zimmer in Ordnung bringen lassen», bemerkte Dorothy Thorp darauf. «Bei starkem Wind fallen aus der Esse Ziegel in das
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Feuer, und eines Nachts verbrenne ich noch bei lebendigem Leibe.» «Ich habe ihn Briefumschläge machen sehen.» Patricia ließ sich nicht ablenken. «Er tat es mit einer Fingerfertigkeit, die mich erschauern mach te.» «Was tat er?» fragte Dorothy erstaunt. «Er kam zu mir in die Küche und fragte mich, ob ich ein paar Briefumschläge hätte. Ich sagte ihm, ich hätte keine. Er grinste mich so heimtük kisch an, als ob er genau wüßte, daß ich einen ganzen Karton voll besitze. Dann kehrte er in sei ne Kammer zurück. Ich hinter ihm her. Und was sah ich durch das Schlüsselloch? Er nahm ein Blatt Papier und faltete es in einer Geschwindig keit, die mir den Atem nahm, zu einem Kuvert, das er ebenso geschickt verklebte. Da sagte ich mir, Patricia, wir haben einen Mörder im Haus!» «Weil er ein Kuvert geschickt anfertigte? Das scheint mir etwas weit hergeholt.» «Nicht, wenn Sie bedenken, daß man gewisse Fertigkeiten nur nach jahrzehntelanger Übung voll beherrschen kann.» «Du glaubst, er war im Zuchthaus?» «Der Blick kam hinzu, der Gesichtsausdruck! Er hatte plötzlich so eine Miene, verkniffen, finster, haßerfüllt, als möchte er jemand den Finger ab beißen, ich meine, dem Zuchthauswärter. Und dann seine Gesichtsfarbe. Eine geschälte Kartoffel hat mehr Blut in sich als er. Das kommt daher, weil er jahrelang keine Sonne und kein Licht ge sehen hat.» 19
«Vielleicht hast du recht.» Dorothy nickte. Und dann sprach sie einen Satz, der auch Patricias Ge sichtsfarbe einer geschälten Kartoffel gleichen ließ. «Geh, hol ihn, wir wollen ihn zur Rede stel len.» «Nein, das tue ich nicht!» verkündete Patricia kategorisch. «Wenn ich mit ihm allein im dunklen Zimmer oder Korridor bin, dann…» «Es scheint die Sonne, alles ist hell, wahr scheinlich sogar der Keller.» «Trotzdem…» «Patricia, du holst mir sofort den Gärtner!» Einen Seufzer ausstoßend, als würde sie zu ih rer eigenen Richtstätte schreiten, verließ Patricia den Raum, um nach einiger Zeit mit Fisher zu rückzukehren. Er trug eine graue Weste, graue Hose, hatte das schwarze, graumelierte Haar in der Mitte sorgfältig gescheitelt. Alles in allem sah er mehr wie ein würdiger Butler aus denn ein in Erde wüh lender und Blattläuse bekämpfender Gärtner. Dorothy zeigte auf ein Blatt Papier, das sie auf den Tisch gelegt hatte. «Falten Sie es zu einem Kuvert!» Fisher zog die schwarzen Augenbrauen in die Stirn, Patricia drückte ihre Rechte an ihr Herz, als er einen schnellen, wie sie glaubte, drohenden Seitenblick auf sie warf. Über seine farblosen Lip pen huschte ein hämisches Lächeln, und in der Tat, es dauerte keine drei Sekunden, da war das Blatt Papier zu einem Kuvert zusammengefaltet.
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«Wo haben Sie das gelernt?» Dorothy berührte den Briefumschlag mit einer Fingerspitze so be hutsam, als müßte sie den Zünder einer nicht ent schärften Bombe anfassen. «Mein verstorbener Vater hatte, wenn ich be merken darf, eine kleine Kartonagenwerkstatt. Ich könnte Ihnen, wenn Sie gütigst gestatten wollten, auch zeigen, wie man Tüten klebt und ähnliche Papiererzeugnisse in Sekundenschnelle verfer tigt.» «Sie waren also nie im Zuchthaus oder sonst in irgendeiner ähnlichen Anstalt?» fragte Dorothy nun direkt. Fisher drehte sich zu Patricia Highsmith um und fragte seinerseits: «Hat diese dumme Person das angenommen und schnauft deshalb immer an meinem Schlüs selloch?» «Ich bin keine dumme Person», stieß Patricia empört aus. Fisher beachtete sie gar nicht mehr. «Darf ich mich jetzt entfernen, Mylady? Ich pflege vor dem Abendessen immer einige Seiten in der Bibel zu lesen.» Damit verbeugte er sich und verließ mit dem ihm eigenen würdigen Schritt den Raum. Patricia sank in einen Stuhl, holte ein Taschen tuch hervor und schneuzte sich, was ein Zeichen dafür war, daß ihr die Tränen bis zur Nasenspitze standen und sie nur mit eiserner Beherrschung ein Schluchzen unterdrückte. «Ich könnte meine Hand ins Feuer legen, daß mein Verdacht begrün 21
det ist. Ich habe immer gesunde Ahnungen ge habt.» «Laß deine Hand, wo sie ist, sonst verbrennst du dir die Finger, das ist so eine gesunde Ahnung von mir», schloß Dorothy die Unterhaltung. Sie erhob sich, um noch einen kurzen Spaziergang im Park zu machen. Nach dem Sonnenuntergang wurde es wie am Morgen wieder recht kühl, und sie gab Patricia die Anweisung, das Mädchen solle in ihrem Schlaf zimmer den Kamin heizen. Am Abend verzichtete sie auf das übliche Kar tenspiel und zog sich gleich auf ihr Zimmer zu rück. Sie hatte in Walsh mehrere Bücher gekauft und wollte in Ruhe lesen. Es war noch nicht zehn Uhr, als sie den Roman «Die Spitzbuben» von Faulkner beiseite legte, sich vor den Toilettenspiegel setzte und ihr Gesicht mit Nachtcreme einschmierte. Sie war bester Laune, was sie auch anblickte, ihr Gesicht im Spiegel, die silberne Zigarettendose, das lodernde Feuer im Kamin oder das helle Viereck an der Wand, wo das Porträt ihres Verblichenen gehangen hatte, überall sah sie, wie von Geisterhand geschrieben: Zweihundertzehntausend Pfund Sterling, Alleiner bin Dorothy Thorp. Sie seufzte zufrieden. Es war ihr, sie brauchte nur tief Atem zu holen, und gleich würde sie schwerelos durch das Fenster in die Lüfte entschweben, so leicht war ihr zumute. Kurze Zeit später lag sie im Bett und versank in den tiefen, gesunden Schlaf eines Menschen, des sen Gewissen nicht von Vorwürfen belastet wird, 22
auch wenn er Taten begangen hat, die mit den Zehn Geboten und den dreizehntausendsieben hundertachtzehn Paragraphen des englischen Strafgesetzbuches nicht in Einklang zu bringen waren. Sie träumte, ihr verstorbener Gatte stochere mit einem Pfeifenreiniger in ihrer Nase herum. Ki chernd hielt er ihr vor, sein Tod würde sie teuer zu stehen kommen, worauf sie mehrmals niesen mußte, bis sie endlich wach wurde. Ätzender Rauch füllte den Raum, und ehe sie sich besinnen konnte, gab es ein schreckliches Gepolter in der Ecke, wo der Kamin stand. Er war eingestürzt. Glimmende Kohlen blickten wie böse Augen aus der dunklen Ecke, rote Flämmchen lo derten auf, vereinigten sich und krochen auf Do rothys Bett zu. Von allen Geistern verlassen, starrte sie das Feuer an. Schließlich gewann sie ihre Fassung wieder und sprang aus dem Bett. Sie lief zur Tür und griff nach Klinke und Schlüssel. Die Klinke war da, aber nicht der Schlüssel, und es half kein Zerren, die Tür ging nicht auf. Dorothy hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, schrie, was ihre Stimme hergab, doch nie mand kam ihr zu Hilfe. Inzwischen beleckten die Flammen bereits die Anrichte links vom Kamin, eine Portiere loderte auf. Ein schrecklicher Gedanke fuhr ihr durch den Kopf: Wenn sie mich in der Familiengruft neben ihm bestatten, wird man keinen Sarg brauchen,
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eine Einkaufstüte von Woolworth wird für meine sterblichen Überreste genügen. Sie rannte schon halb benommen zum Fenster und riß es auf. Die frische Luft ließ sie wieder zu sich kommen, diente aber den Flammen als Nah rung. Diese breiteten sich nun mit beängstigender Geschwindigkeit aus. Die Räume des alten Ge bäudes waren mit soviel Holz verkleidet, daß kei ne halbe Stunde vergehen würde, bis das ganze Haus wie Zunder brannte. Ohne Überlegung begann Dorothy erneut zu schreien, aber ohne jedes Ergebnis. Obwohl es bis zum Erdboden sechs, sieben Meter waren, kletter te sie auf das Fensterbrett und wollte hinunter springen. Sie blickte hinab zu der Stelle, wo sie aufprallen würde, und jetzt glaubte sie sich endgültig verlo ren. Unter dem Fenster war eine Egge abgestellt, deren Zinken wie die Zähne eines Haies nur dar auf zu warten schienen, sie in Empfang zu neh men. Die Egge steht doch sonst immer an der Brüstung neben dem Tor, ging es ihr durch den Kopf. Wieso steht sie jetzt unter meinem Fenster? «Hilfe!» schrie sie noch einmal in die Nacht. Es war ihr, als vernähme sie ein fernes Motorenge räusch, ein Krach, das Geräusch splitternden Hol zes ließ sie herumfahren, und in dem roten Schein des Feuers erblickte sie den Mann, der sich Fisher nannte und bei ihr als Gärtner angestellt war. Er trug nur ein langes Nachthemd, war aber wie im mer die Würde selbst. Sogar ein Brand konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. 24
Gemessen bemerkte er: «So ein Feuer ist etwas Unheimliches. Die Feuerwehr wird gleich dasein.» Mit diesen Worten drehte er Dorothy den Rük ken zu und verschwand wieder, sie am Fenster zurücklassend. Wie versteinert starrte sie ihn an, wollte hinter ihm herlaufen, als er wieder er schien, mit einem Mantel über dem Arm. Das hal be Zimmer stand bereits in Flammen, doch er schritt, ohne sich zu beeilen, auf seine Herrin zu und hielt ihr den Mantel hin. Nachdem sie ihn über ihr leichtes Nachthemd gezogen hatte, nahm er sie auf die Arme und trug sie hinaus, als wäre sie eine Standuhr oder sonst irgendein größerer Einrichtungsgegenstand. Als Dorothy, immer noch leicht benommen, aber schon auf eigenen Füßen, die Halle betrat, waren Feuerwehrleute bereits dabei, einen Schlauch zu entrollen, um dem Brandherd zu Lei be zu rücken. Patricia schlief in einem Zimmer unweit der Kü che. Sie pflegte sich abends Wachs in die Ohren zu stopfen, weil sie, wie sie behauptete, das Rau schen der Bäume nicht ertragen konnte. Daher hatte sie auch die Hilferufe ihrer Herrin nicht ge hört. Jetzt war sie endlich zur Stelle. Sie führte Dorothy in die Küche, brühte ihr heißen Pfeffer minztee auf und schob ihr eine Wärmflasche unter die Füße. «Die Nächte sind immer noch recht kalt», er klärte sie. «Sie könnten sich leicht eine Lungen entzündung holen.»
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Dorothy hörte kaum hin. Der Gedanke, was von ihr ohne Fishers Hilfe übriggeblieben wäre, ließ sie nicht los. Der Hauptmann der Feuerwehr holte sie in die Wirklichkeit zurück. Er teilte ihr mit, daß keine Gefahr mehr drohe. «Wir haben auch die Brand ursache festgestellt. Es wundert mich, daß der Kamin nicht schon lange in sich zusammengefal len ist.» Dorothy antwortete spitz, daß sie erst morgen das nötige Geld erben würde, um das Schloß von Grund auf zu erneuern, und sie würde ihn dann bestimmt einladen, alle Kamine und Schornsteine zu inspizieren. Dem Hauptmann fiel keine Erwiderung ein; er salutierte und verschwand. Gleich darauf hörte man die Motoren der Feuerwehrwagen ansprin gen, und fort waren sie. Dorothy und Patricia blieben in der Küche zu rück, während sich Fisher im ersten Stock zu schaffen machte. «Patricia, mich grault es», stellte Dorothy nüch tern fest. «Wenn nicht unser Fisher gewesen wä re…» «Unser Fisher! In diesem Mordbrenner wollen Sie Ihren rettenden Engel sehen!» Patricia senkte die Stimme. «Und wenn mir auf der Stelle alle Haare ausfallen und ich das Augenlicht verlieren sollte, schwöre ich, er und kein anderer war es, der diesen Brand gelegt hat.» «Was soll dieser Blödsinn!» versetzte Dorothy ungehalten. 26
«Gar kein Blödsinn», widersprach Patricia. «Er hat den Kamin einstürzen lassen, und nur, weil er die Feuerwehr hörte, hat er Sie gerettet. Und warum war die Feuerwehr so schnell hier? Ich bin zwar nur eine arme, vermögenslose Witwe, aber ich ahnte schon seit Tagen, daß dieser Unhold et was Böses im Schilde führt. Ich überlegte, was es sein könnte, und mir wurde klar, daß ein Mord brenner wie er sein Fachgebiet nicht verlassen wird. So rief ich meinen Neffen Patrick an und er zählte ihm, eine dunkle Gestalt schleiche seit Ta gen um das Schloß. Deshalb hat er die letzten Nächte das Schloß mit einem Fernrohr im Auge behalten und die Feuerwehr gleich alarmiert.» «Du bist eine verrückte Person, Patricia!» Doro thy lachte, doch plötzlich wurde sie ernst. Wie war das doch mit der Egge gewesen? Seit Jahren stand sie an der niedrigen Brüstung, und sie erinnerte sich auch, daß sie dort noch gestan den hatte, als sie gestern abend von ihrem Spa ziergang zurückgekehrt war. «Komm mit, ich will mich draußen etwas umse hen.» «Jetzt mitten in der Nacht? Sie sollten lieber ins Bett gehen.» Dorothy überhörte diesen Rat und ging, von Pa tricia gefolgt, durch die Hintertür der Küche auf den Hof. Sie traute ihren Augen nicht. Die Egge stand nicht unter dem Fenster, wie sie es hätte be schwören können, sondern an ihrem richtigen Platz! 27
Drittes Kapitel
Schloß Curentin wird Schauplatz einer Invasion höchst merkwürdiger Gestalten, die sich zum Ärger der Schloßherrin und ihrer Haushälterin Patricia Highsmith, einer vermögenlosen Witwe, als Dauergäste einmieten.
Am nächsten Tag strahlte wieder die Sonne, und Dorothy erschien die vorige Nacht wie ein böser Traum. Doch ein fader Rauchgestank überzeugte sie davon, daß die Ereignisse dieser Nacht Wirk lichkeit waren. Sorgfältig kleidete sie sich an und machte sich zurecht. Niemand sollte ihr anmerken, wie sehr die überstandene Gefahr sie mitgenommen hatte. «Ich bin heute ausgezeichneter Stimmung», verkündete sie, als Patricia ihr das Frühstück auf die Terrasse brachte. «Wenn Lockridge kommt, bringe ihn hierher.» Gerade als sie dem zweiten Ei den Kopf ab schlagen wollte, tauchte hinter einem Busch ein hochgewachsener Mann Anfang Sechzig auf. Do rothy glaubte, die Karikatur eines ehemaligen Ko lonialoffiziers vor sich zu haben. Alles an ihm war, wie es sein mußte: das graue auf Mittelscheitel gekämmte Haar, der blöd glotzende Blick, die Ha kennase, der von Nikotin gelb verfärbte Schnurr bart, das vorstehende Kinn, der sehnige Hals, die flache Brust, die langen staksigen Beine. Auf die Terrasse getreten, schniefte er ein paarmal be deutungsvoll, krächzte und verbeugte sich so höl zern, daß man geradezu das Knarren seiner Wir belsäule zu hören glaubte. «Colonel Harry Dexter», stellte er sich vor. Dorothy, die ihn stumm anblickte, fühlte, daß sich ihrer der siebente Sinn bemächtigte. Trotz des soeben getrunkenen heißen Kaffees verspürte sie im Bauch eine eigenartige Kälte. Ihre Lippen 29
preßten sich zu einem schmalen Strich zusam men. «Und was wünschen Sie?» fragte sie ungnädig. Der Colonel brach in Gelächter aus und gab den inhaltsschweren Satz von sich: «Ich komme direkt aus Aden. Per Flugzeug.» Dorothy sagte unumwunden, was sie dachte: «Dann machen Sie, daß Sie per Flugzeug wieder nach Aden zurückkommen. Ich kann solche Typen wie Sie nicht riechen.» Aus ihr sprach die künftige Millionärin, die es sich leisten konnte, ihre Gedan ken und Empfindungen ungehemmt zum Ausdruck zu bringen. «Ist das hier Schloß Curentin?» schnarrte der Colonel. «Was geht es Sie an?» Nun wurde Dorothy di rekt ausfällig. «Was das mich angeht?» Der Colonel blickte sie erstaunt an. «Ich bin der Erbe des verstorbenen Sir Robert Thorp, neunter Baronet zu Curentin. Und ich gedenke, mich hier niederzulassen. Um elf Uhr wird der Anwalt kommen und mir die Erb schaft übergeben.» Man konnte viel Schlechtes von Dorothy Thorp sagen, nur eines nicht, daß sie auf den Mund ge fallen war. Doch die Worte des Colonels verschlu gen ihr jetzt die Sprache. Als sie endlich ihre Fassung wiedergewonnen hatte, entluden sich die Donnerschläge ihrer Wor te um so verletzender über dem unschuldigen Haupte Dexters. «Wenn hier jemand meinen Mann beerbt, bin ich es allein, Sie alter Nußknak 30
ker. Und jetzt machen Sie, daß Sie wegkommen, sonst lasse ich die Hunde auf Sie los.» Sie steckte zwei Finger in den Mund, ließ durch einen schrillen Pfiff nicht nur die fröhlich zwit schernden Vögel ängstlich verstummen, sondern auch den Colonel zusammenfahren. Und damit nicht genug. Dem Pfiff folgte ein herrischer Be fehl: «Caro! Hasso! Loyd!» Mit freundlichem Lä cheln fügte sie hinzu: «Es sind Doggen, richtige Bluthunde. Sie haben wenigstens acht Menschen auf dem Gewissen, denen sie die Kehle durchge bissen haben. Das steht in ihrem Stammbaum.» Der Colonel, mochte er auch mehr als nur acht Menschenleben auf dem Gewissen haben, wartete das Eintreffen der drei Bestien auf dem Schau platz nicht ab. Er machte ein Dutzend Schritte rückwärts, drehte sich dann jäh um und rannte zum Tor, als ob die Hunde schon nach seinem mageren Gesäß schnappen würden. Patricia erschien auf der Terrasse und staunte. «Warum rennt er weg? Er machte einen so di stinguierten Eindruck, als er mich fragte, wo er Sie antreffen könnte. Ein echter Gentleman, wie es sie heutzutage kaum noch gibt.» «Der Teufel hole ihn, deinen netten Gentleman. Er will uns die Butter vom Brot stehlen. Wenn er recht behalten sollte, werde ich nie Wasserski in Miami laufen und keine Löwen in Kenia jagen, und du wirst immer eine arme, vermögenslose Witwe bleiben.» In Patricias Gesicht flackerte Angst auf.
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«Ich weiß da ein sehr gutes und bewährtes Mit tel gegen Kopfschmerzen», begann sie mit ein schmeichelnder Stimme. Doch sie kam nicht wei ter. Vor den Stufen, die zu der Terrasse führten, stand eine dürre, knochige Person weiblichen Ge schlechts. Sie trug ein graues, bis zum Hals ge schlossenes Kleid, einen schwarzen Strohhut in die Stirn gedrückt; beschuht war sie mit ein Paar Schnürstiefeln, als wäre sie gerade im Begriff, den Mount Everest zu besteigen. Ehe Dorothy fragen konnte, was denn dieses zweite Schreckgespenst in ihrem Garten suche, erklang die schrille Stimme der Besucherin. «Ist das hier Schloß Curentin? Ich bin Stella Grady, die Erbin Sir Robert Thorps.» Dorothy fixierte die Jungfer und schüttelte be dauernd den Kopf. «Nein, das hier ist kein Schloß, es ist die Irrenanstalt von Curentin. Eine private Klapsmühle für besonders schwere Fälle.» Und als sie sah, daß die Augen Stella Gradys sich vor Schreck weiteten, aber immer noch eine Art Un gläubigkeit in ihnen zum Ausdruck kam, bemerkte sie gelassen: «Unsere Patienten, alles vermögen de Menschen der besten Gesellschaftsschichten, sind besonders schwere Fälle. Siebzig Prozent Mörder, zwanzig Prozent Sittlichkeitsverbrecher, zehn Prozent Sadisten, ein Prozent Sodomiten. Wir müssen sie alle in Zwangsjacken stecken und knebeln, darum hört und sieht man nichts von ih nen. Aber ab und zu bricht jemand aus, und dann… Dort um die Ecke ist ein Friedhof, ein Drit 32
tel der frischen Gräber ist von unserem Personal belegt.» Und einmal in Fahrt, wandte sie sich Patricia zu. «Haben Sie schon geprüft, Schwester Patricia, ob Lord Caningham heute seine Morphiumspritze und den Champagner bekommen hat?» Und zu Stella Grady: «Er beißt seinen Freundinnen, wenn sie eingeschlafen sind, immer die Zehen ab.» Was sie noch sagte, hörte Jungfer Grady nicht mehr. Auch sie rannte davon, wie man nur um sein Leben rennt, und einen Augenblick später war sie verschwunden. Dorothy schaute auf die Uhr. «In einer Viertelstunde werde ich erfahren, wer nun eigentlich verrückt ist. Die beiden oder ich.» Patricia, die in einen Korbstuhl gesunken war, neigte mehr zu der letzteren Annahme. Das ist noch eine Folge der vergangenen Nacht, eine Art Schockwirkung, mutmaßte sie. Hoffentlich wird man sie heilen können. Die Sonne strahlte, die lieben Vögelchen zwit scherten, die Grashüpfer sprangen, die Knospen brachen auf, aber die finstere Macht der Erbschaft lockte ein weiteres Opfer heran. «Da, da kommt schon wieder einer», flüsterte Patricia. Der Neue war ein kleines Männchen mit einer hohen Stirn und einem riesigen Schopf rötlicher Haare. Er führte ein lautes Selbstgespräch, gesti kulierte wild, und als er an der Terrasse angelangt war, setzte er sich, die Beine gespreizt, auf die Brüstung. Er holte aus der Tasche ein Stück Krei 33
de und begann auf eine der großen Steinplatten Formeln und Zahlen zu schreiben. Dann schaute er plötzlich auf und bemerkte die beiden Frauen. «Wer seid ihr denn, meine Lieben? Wollt ihr et was von mir?» «Ich nehme an, Sie sind auch einer der Erben meines Mannes?» fragte Dorothy. «Wer ist denn Ihr Mann?» Der seltsame Besu cher starrte wieder seine Formeln an. «Er liegt seit einer Woche in einer teuren Kno chenkiste in der Familiengruft der Thorps.» Der kleine Mann mit der rötlichen Haarmähne überlegte angestrengt, dann meinte er: «Wenn ich den Zylinder mit einem Verschluß versehe, wäre es möglich, daß das Ticken der Uhr auf die Hühner eine elektromagnetische Wirkung ausübt und sie die Eier nach genauem Zeitplan legen. Das wäre ein enormer Vorzug für die englische Geflügelzucht, und wir könnten auf dem Welt markt, wenigstens auf diesem Gebiet, wieder eine führende Rolle spielen. Meinen Sie nicht?» Er stutzte. «Thorp sagten Sie? Kommt mir be kannt vor, liebe Frau, aber ich weiß im Moment nicht, mit wem ich ihn in Verbindung bringen soll. Ich bin übrigens Dr. Evans.» Er stand auf, wünschte mit einer leichten Ver beugung einen guten Morgen und entfernte sich. Er kam nicht weit. Ehe er das gußeiserne Tor erreicht hatte, stieß er auf eine Gruppe von drei Menschen, die auf das Schloß zugingen. An ihrer Spitze marschierte gravitätisch der Rechtsanwalt Lockridge, ein beinahe zwei Meter 34
großer Mann mit einer spiegelblanken Glatze. Rechts von ihm stakste Colonel Dexter, links die Jungfrau in den Bergsteigerstiefeln. Als der kleine Mann in Gedanken versunken dem Rechtsanwalt mit dem Kopf beinahe in den Bauch rannte, entstand ein Durcheinander. Der Rechtsanwalt stellte eine Frage, ergriff die Hand von Dr. Evans und zerrte ihn neben sich her. Noch ehe die Gruppe die Terrasse erreichte, hatte sich Dorothy Thorp erhoben, innerlich ge wappnet gegen alles, was auf sie zukommen mochte. Lockridge, den Zylinder in der Hand, die von der Sonne vergoldete Glatze geneigt, bekundete schnarrend, er wolle die Testamentseröffnung vornehmen und wäre Lady Thorp verpflichtet, wenn sie dafür einen entsprechenden Raum zur Verfügung stellen würde. Dorothy, vorerst vom Schicksal geschlagen, zeigte auf die Terrassentür, die in die Halle führte. Sie schritt voraus und bat die Anwesenden, Platz zu nehmen. Weder sie noch einer der anderen hatte be merkt, daß hinter der Hecke ein Mann mit ge spannter, ja lauernder Aufmerksamkeit alles beo bachtete, was am Morgen seit dem Eintreffen des Colonels geschehen war. Er trug in der Hand eine Gießkanne, in der anderen das Insektenvertil gungsmittel «Schneller Tod».
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Viertes Kapitel
Eine Testamentseröffnung macht den Plan von Lady Dorothy zunichte, in Miami Wasserski zu lau fen oder in Kenia Löwen zu jagen. Dennoch wird es äußerstes Mißfallen des Lesers erregen, wie sie nach ungesetzlichen Mitteln sucht, sich ihren Ver pflichtungen als Gastgeberin zu entziehen.
Lockridge hatte sich hinter den Kartentisch ge setzt, holte mit der Miene eines Lordkanzlers ein versiegeltes Kuvert hervor, brach das Siegel auf und blickte die Versammelten vielsagend an, ganz Herr über ihr weiteres Schicksal und Wohlerge hen. «Darf ich jetzt den Letzten Willen von Sir Ro bert Thorp verlesen?» wandte er sich feierlich an die Versammelten. «Das Problem ist im Grunde genommen ganz einfach», unterbrach ihn Dr. Evans, zu Dorothy gewandt. «Schon Pawlow hat in Rußland experi mentell dargelegt, wie die Tiere auf elektrische Schocks reagieren. Und darauf beruht das Prinzip meines elektrodynamischen Eierlegeapparates.» «Interessant», flüsterte Dorothy. «Aber finden Sie nicht, wir sollten uns erst anhören, was uns Lockridge zu sagen hat? Sehen Sie denn nicht, was er für ein Gesicht macht? Wie ein Huhn, das ein Ei legen möchte, aber damit nicht zurecht kommt, weil ihm ein elektrodynamischer Schock fehlt.» «Meinen Sie wirklich?» fragte Evans und blickte den Anwalt neugierig an. Der große Adamsapfel an Lockridges dürrem Hals bewegte sich auf und nieder, aber die gera dezu sprichwörtliche Beherrschung eines engli schen Rechtsanwaltes siegte über den Unmut in ihm. «Ich bitte die Herrschaften, mir ihre Aufmerk samkeit zu schenken.» Er hüstelte ein paarmal 37
mißbilligend und begann, das Testament vorzule sen. «Bevor ich meinen Letzten Willen kundtue, möchte ich einige Worte meiner lieben, treuen Gattin Dorothy widmen. Liebe Dorothy, du warst mir immer eine gute und um mich besorgte Frau. Du hast mir immer den Beistand geleistet, den ein Mann von einer Gattin erwarten darf, zumal wenn sie so hohe geistige und moralische Qualitäten wie du besitzt. Dreißig Jahre lebtest du hinge bungsvoll an meiner Seite, und wenn ich jetzt in meinen letzten Stunden an diese Zeit zurückden ke, kann ich nur eines sagen: Der Teufel möge dich holen samt all deinen Tugenden, deiner Überlegenheit und deiner ewigen Besserwisserei. Dreißig Jahre lang habe ich an deiner Seite – selbst damals, als du vier Monate in Norwegen weiltest – ein schlechtes Gewissen mit mir her umgeschleppt. Nie durfte ich einen Whisky zuviel trinken (ich tat es trotzdem!), nie mehr als zehn Pfund beim Hunderennen setzen (ich tat es trotz dem!), nie durfte ich im Picadilly mir für zehn Shillinge ein bißchen Vergnügen gönnen (ich tat es trotzdem!), nie durfte ich an der Börse speku lieren (ich tat es trotzdem!). Und jetzt, da ich dich bald für immer los sein werde, will ich dir nicht verhehlen, warum ich in den letzten Tagen mehr mals diesen glatzköpfigen, aufgeblasenen Laffen Lockridge zu mir rufen ließ. Ich überlegte nämlich die ganze Zeit über, wem ich die zweihundert zehntausend Pfund hinterlassen könnte, um dir, liebe Dorothy, eins auszuwischen. Ich dachte an 38
die Vereinigung alter Zirkusclowns oder die Repti lienabteilung des Bristoler Zoos. Die hätten sich dann in den nächsten fünfzig Jahren Krokodile, Alligatoren, Giftschlangen und ähnliches Getier in unbegrenzten Mengen anschaffen können. Durfte ich aber hoffen, daß eines dieser Kriechtiere dich, meine liebe, treue Gattin, zwischen die Zähne be kam? Nein. Deshalb befriedigte mich diese Lösung nicht. Da hat mir der Herrgott in seiner Weisheit eine Erleuchtung gesandt (neben dem Kauf der Diamantenaktien war es die größte Idee meines Lebens, das wage ich vorauszusagen). Ich über legte, welche unter all den Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, am vertrottelt sten, schofelsten, zänkischsten gewesen waren. Ich wählte drei aus: den Colonel Dexter, einen aufgeblasenen Hohlkopf, die alte, säuerliche Postvorsteherin Stella Grady und schließlich Dr. Evans, dessen Erfindergeist für jeden normalen Haushalt den Ruin bedeutet. Und nun, meine liebe und getreue Gattin, nach dieser ausführlichen Einleitung mein Letzter Wille: Du kriegst mein Geld, aber nur unter einer Bedin gung. Du mußt mit diesen drei obengenannten menschenähnlichen Kreaturen die nächsten zehn Jahre in enger und harmonischer Gemeinsamkeit auf Schloß Curentin zusammen leben. Du mußt nicht nur die Hauptmahlzeiten mit ihnen einneh men, sondern auch jeden Abend zwei volle Stun den in geselligem Beisammensein beim Bridge verbringen. Solltet ihr diese Zeit überstehen, ohne euch gegenseitig vergiftet, erdolcht, erschossen 39
zu haben, kannst du mit dem Vermögen machen, was du willst: in Miami Wasserski laufen, in Kenia Löwen jagen. Aber das dürfte kaum der Fall sein, weil du dann, wie ich hoffe, ein zitterndes, nerv lich ruiniertes Wrack sein wirst. Jedem der drei Subjekte zahlst du nach Ablauf der zehn Jahre zwanzigtausend Pfund aus, damit sie einen Anreiz haben, mit dir unter einem Dach zu leben. Sollte es dir gelingen, die drei Obengenannten zu über leben, indem du sie geschickt dorthin beförderst, wo ich möglicherweise bald weilen werde, kannst du sofort an die Verwirklichung deiner Träume gehen. Nur achte darauf, daß es nicht umgekehrt kommt und die drei nicht dich um die Ecke brin gen, um vorzeitig in den Genuß der zwanzigtau send Pfund zu kommen. So, und jetzt kann ich in Ruhe und eigentlich zufrieden die Augen schließen, um nie mehr dein ergeben liebevolles Gesicht zu erblicken. Dein dich ewig liebender Gatte Robert Thorp. Nachsatz: Sollte sich herausstellen, daß ich in irgendeinem Winkel der Erde erbberechtigte Fami lienmitglieder männlichen Geschlechts habe, fällt ihnen das Schloß zu und außerdem fünfzigtausend Pfund aus dem Gesamtvermögen. Sollte ein Erbe innerhalb der nächsten zehn Jahre das Zeitliche segnen, wird sein Anteil auf die anderen verteilt.» Der Lesung des Testaments folgte tiefe Stille. Man konnte hören, wie sich ein in der Luft schwe bendes Staubkörnchen beim Vorbeifliegen an ei nem anderen rieb. 40
«Ich rieche was», sagte Patricia in die Stille hinein und zeigte auf den Fußboden, «dort unten braten sie jetzt seine Seele.» «Wenn ich schon zehn Jahre hier bleiben soll, bestehe ich darauf, daß ich mir die Räumlichkei ten, in denen ich wohnen werde, selbst aussuchen kann.» Stella Grady klopfte mit der Spitze ihres Regenschirmes hart auf das Parkett. «Ah», war der einzige Laut, den Colonel Dexter von sich gab. «Ich ziehe in den Keller und richte dort ein La boratorium ein. So störe ich niemand, wenn es mal eine Explosion gibt», bemerkte Evans ver träumt und zugleich erfreut über die Möglichkeit, in Zukunft Explosionen verschiedenen Ausmaßes verursachen zu können. Dorothy Thorp schwieg. Abgründe hatten sich in ihr auf getan; sie fühl te, wie ihre ganze Persönlichkeit eine Verände rung erfuhr, und zwar nicht zum Guten. Das zeigte sich, als die Grady kundtat, ihre Räume müßten auf jeden Fall im ersten Stock lie gen. Dorothy stand langsam auf, ging langsam auf die ehemalige Postvorsteherin zu. Ohne ein Wort zu sagen, zog sie ihr den schwarzen Stroh hut über die Augen, versetzte ihr einen Klaps auf den Schädel, und um ihre Missetat zu vollenden, kniff sie ihr schmerzlich in die Nase. Die alte Jung fer gab einen Quieklaut von sich, und dann muck ste sie nicht mehr, so entgeistert war sie ob die ses unerwarteten Angriffs.
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Lockridge, wohl in der Befürchtung, Dorothy könnte auch auf seine Nase losgehen, stellte schnell die Frage, ob die Anwesenden die Bedin gungen des Testamentes annähmen. Als keiner widersprach, raffte er seine Papiere zusammen und verließ fluchtartig die Halle. Die Wochen, die der Testamentseröffnung folgten, blieben Dorothy Thorp unvergeßlich bis zu ihrem Lebensende. Schon am nächsten Morgen eröffnete sie einen Frontalangriff gegen die ungeladenen Gäste. Stel la Grady wies sie ein Zimmer im dritten Stock an, einen unfreundlichen dunklen Raum, der nach Norden ging. Den Colonel Dexter versuchte sie auf andere Art zur Strecke zu bringen. Sie fand heraus, daß er halbe Nächte theosophische Wäl zer über indische Yogis, herumwandernde Ge spenster, blutsaugende Vampire und auferstehen de Leichen las und erst gegen vier Uhr einzuschlafen pflegte. Daraufhin befahl sie Fisher, unten im Hof vor dem Fenster des Colonels eine Kreissäge aufzustellen und jeden Morgen Stubben zu zersägen. Dexter, vor Wut blau angelaufen, protestierte aus Leibeskräften, aber das nützte ihm gar nichts. Der einzige, mit dem Dorothy einigermaßen auskam, war Evans. Sie gestattete ihm, sich im Keller ein Laboratorium einzurichten. Ihr war klar, daß sie ihn nie loswerden würde, da er nur in der Welt seiner Erfindungen lebte und gegen jede Schikane unempfindlich war. 42
Das schlimmste waren die Bridgeabende. Doro thy spielte mit Evans zusammen, und sie verloren dauernd, da die Grady eine ausgezeichnete Spie lerin war. Mit spitzen Bemerkungen zahlte sie Do rothy heim, was sie am Tage erleiden mußte. Auch Dexter tat sein Bestes, um sich für die Kreissäge zu rächen. Er schaffte sich einen Plat tenspieler an und ließ jede Nacht in voller Laut stärke Militärmärsche erschallen, die er auf einer Trompete begleitete. Eines Spätnachmittags, als Dorothy sich vor Är ger einem Schlaganfall nahe glaubte, suchte sie wieder einmal ihren Jugendfreund Bill Shannon in der «Blutigen Schmiede» auf. «Du, Bill, ich habe Kummer», berichtete ihm Dorothy, nachdem sie das erste Glas ihrer be rühmten Spezialmischung geleert hatte. «Ja, das merkt man dir an. Am Tag der Beerdi gung sahst du viel besser aus, direkt blühend.» Er warf einen prüfenden Blick zu dem Tisch am anderen Ende des Raumes, an dem Fisher saß; er hatte Dorothy hergefahren. «Gefällt mir nicht, dieser Mann», bemerkte er kurz. «Er ist der einzige im Schloß, der sich normal benimmt. Er macht seine Arbeit, ist gewissenhaft und redet nicht zuviel.» «Sprich leiser. Ich könnte meine Seele verwet ten, dein gewissenhafter, pflichtbewußter Nor malmensch versucht, jedes Wort zu erlauschen, das wir sprechen.»
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«Du bist wie Patricia. Sie glaubt auch, er sei der Leibhaftige. Schon wenn sie an ihn denkt, klap pern ihr die Zähne vor Angst; bereits zwei Tassen meines besten Porzellans hat sie zerbissen.» Do rothy lachte. «Gibt es wirklich keinen Weg, die drei loszu werden?» erkundigte sich Shannon. «Doch. Ich müßte sie einfach umbringen. Aber so, daß selbst der liebe Gott nicht rausfindet, daß sie nicht eines natürlichen Todes gestorben sind.» «Auf den lieben Gott brauchst du keine Rück sicht zu nehmen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt.» Shannon war, wie er sich selbst heraus strich, ein Freigeist und der einzige in Walsh, der den Pfarrer, einen allseits beliebten Mann, nicht zu grüßen pflegte. «Das Blut meiner Vorfahren rebelliert in mir», erklärte er. «Von den letzten fünf Generationen meiner Vorfahren sind insge samt acht Shannons hingerichtet worden. Und immer war ein Pfaffe dabei, der ihnen das letzte Geleit gab.» «Ich kenne deine Einstellung in dieser Frage.» Dorothy winkte ab. «Was ich von dir brauche, sind nicht philosophische Betrachtungen, sondern ein kurzer, bündiger Rat. Wie schaffe ich mir die drei vom Hals? Wie stelle ich es an, daß sie sich in ge segnete Erde oder gesegnetes Wasser oder ge segnete Luft auflösen, ohne daß Sergeant Willi ams oder sonstwer Verdacht gegen mich schöpft?» «Hast du darüber nachgedacht, was der tiefste Sinn der Zivilisation ist?» Shannon hob den Finger 44
und betrachtete ihn zwinkernd, als strahle er eine Weisheit aus, die ihn selbst blendete. «Du, ich habe nicht viel Zeit. Über den Sinn der Zivilisation sprechen wir ein anderes Mal.» Doro thy runzelte unwillig die Stirn. «Wenn jemand bewerkstelligen will, daß sich drei seiner Mitmenschen in Luft oder Wasser auf lösen, ohne sozusagen auch nur den geringsten Geruch zu hinterlassen, muß er eines berücksich tigen: Die Zivilisation macht alles kompliziert», fuhr Shannon unbeirrt fort. «Der zivilisierte Mensch denkt zuviel, und das ist sein größter Feh ler, auch beim Existenzkampf. Das endet dann immer damit, daß er bei Morgendämmerung aus dem Bett muß, in das er nie zurückkehrt, weil man ihn gehängt hat. Ich will damit sagen, der Mensch muß zurück zur Natur. Auch die Frage, die dich beschäftigt, muß also natürlich gelöst wer den. Primitiv. Elementar. Zum Beispiel, das Schloß Curentin mit allem, was sich drin befindet, könnte abbrennen…» «Nein, das ist mir zu primitiv, zu elementar. Menschen verbrennen zu lassen, das brächte ich nie fertig», versetzte Dorothy und warf unwillkür lich einen Blick zu Fisher, der an seinem Krug mit Ale nippte. «Fisch- oder Fleischvergiftungen sind auch be währte Methoden», überlegte Shannon. «Nur mußt du vorher fünf, sechs Glas stark gesalzenes Wasser trinken, damit du dich rechtzeitig über gibst und nicht selbst draufgehst.»
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«Nicht schlecht», nickte Dorothy. «Aber wie soll ich Patricia, Fisher und Rose vorher sechs Glas stark gesalzenes Wasser eintrichtern, damit sie am Leben bleiben? Nein, das geht auch nicht.» «Da hast du recht. Ein anderer Gedanke!» Shannon tippte an seine Stirn, um die Stelle an zudeuten, wo die Gedanken in ihm entstanden. «Dieser Dr. Evans hat doch sein Laboratorium im Keller, direkt unter der Halle. Und dauernd macht er Explosionen, so daß oben das Geschirr klirrt. Wie wäre es, wenn es an einem Bridgeabend statt vieler kleiner Explosionen eine große gäbe und die Halle samt Insassen in die Luft flöge.» «Und ich mit, wie? Du vergißt, daß ich laut Te stament beim Bridge dabeisein muß. Nein. Mein eigenes Leben zu opfern, damit ich die drei los werde, das erscheint mir… zu unrentabel.» «Dann müssen wir uns eben eine Begründung einfallen lassen, warum du an dem Abend für ein paar Minuten nicht in der Halle bist; dafür könnte man ein Dutzend Gründe finden.» «Ja, das ließe sich machen», stimmte Dorothy ihm ernst zu. Meinte sie es aber wirklich ernst? Oder trieb sie mit ihm nur ihren Spaß? Das war ihr nicht vom Gesicht abzulesen. «Wir haben gemeinsam Äpfel geklaut, warum sollten wir nicht unsere verbrecherische Laufbahn gemeinsam fortsetzen?» Sie zeigte beim Lachen ihre schneeweißen, gesunden Zähne. Bill Shannon war nicht zum Lachen zumute. Er fragte sich plötzlich, ob er mit seinen Ratschlägen 46
nicht Geister ins Leben rief, die auch ihn in die Lage bringen könnten, daß er eines Tages bei Morgendämmerung aus dem Bett müßte, um im Namen der britischen Königin nie wieder dorthin zurückzukehren. Eine Vorstellung, die ihn er schauern ließ. «Du, Dorothy, ich glaube, wir gehen zu weit. Laß uns dieses Gespräch abbrechen», meinte er eindringlich. «Ich bin ein ehrlicher Mensch, zahle meine Steuern…» «Tu doch nicht so unschuldig», höhnte Dorothy. «Ich habe einmal überschlagen, wieviel Steuern du allein in den letzten zehn Jahren hinterzogen hast. Über den Daumen gepeilt an die achttau send Pfund.» «Du bist ja verrückt.» «Und du bist ein Gauner, Bill», quittierte sie freundlich. «Übrigens, was machst du mit dem Delphin, nachdem du ihn angezapft und den fran zösischen Kognak in Flaschen abgefüllt hast? Schickst du ihn per Post als Paket nach Frankreich zurück?» Shannon machte ein dummes Gesicht, er wußte nicht, was er antworten sollte. Schon seit Kriegs ende betrieb er einen schwunghaften Schmuggel mit französischem Markenkognak. Er hatte sich mit zwei Fischern, den Brüdern Woxley, zusam mengetan, die im Atlantischen Ozean mit ihrem Kutter auf Delphinjagd gingen. Einer der Delphine war vom französischen Partner entsprechend prä pariert worden, sein Inneres bestand aus einem Kunststoffbehälter, der an die dreihundert Liter 47
Flüssigkeit faßte. Kehrten die Brüder von der Del phinjagd nach Walsh zurück, hing der Delphin, schon von weitem sichtbar, an dem Hebegerät, und kein Zollbeamter kam auf den Gedanken, daß dieser Fisch mit zollpflichtigem Kognak gefüllt war. «Ich weiß nicht einmal, wie ein Delphin aus sieht», versuchte sich Shannon herauszureden. «Ist das eine Art Robbe?» Mit belehrender Miene schüttelte Dorothy den Kopf. «Nein, es ist eine Art Walfisch. Übrigens würde sich ein Pottwal, der gute zwanzig Meter lang ist, viel besser für deine Zwecke eignen. Da könntest du ganz England mit Kognak beliefern.» Nun konnte Shannon sich das Grinsen nicht verkneifen. «Für so einen Großhandel fehlt mir das nötige Kapital. Wie wäre es, wenn du mit einsteigen würdest?» «Ich werde es mir überlegen.» Dorothy stand auf. «Also wenn du hören solltest, daß alle meine lieben Gäste an Fischvergiftung gestorben sind oder von einer Bombe zerfetzt wurden, dann weißt du, was du vor dem Schwurgericht aussa gen mußt: Ich sei gewiß unschuldig, ich könne es nicht gewesen sein.» Als sie an ihren Wagen trat, war Fisher schon da, um ihr die Tür zu öffnen. Auf der Heimfahrt fragte sie ihn beiläufig: «Ein nettes Lokal, diese ‹Blutige Schmiede›, finden Sie nicht auch?» 48
«Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Mylady», stimmte Fisher ihr ehrfürchtig zu. «Trotzdem bin ich froh, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, daß es heutzutage Polizei gibt, die dafür sorgt, daß man che alten Traditionen keine Fortsetzung in der Gegenwart finden.» «Da können Sie beruhigt sein.» Dorothy schmunzelte. «Bill Shannon ist das weißeste Schaf seiner Sippe. Die Zivilisation hat ihn degeneriert, er würde nicht einmal auf den Gedanken kom men, daß jemand seinen Nächsten ans Leben will.» «Das beruhigt mich außerordentlich», äußerte sich Fisher respektvoll, ohne den Kopf zu wenden. Er war, wie Dorothy nicht das erstemal fest stellte, ein ungewöhnlich guter Fahrer, aber heute fiel ihr das besonders auf.
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Fünftes Kapitel
Um Haaresbreite entgeht die Erbengemeinschaft einem Mordanschlag. Colonel Dexter entwickelt eine Philosophie des Verbrechens, und ausgerech net der undurchsichtige Gärtner schlägt vor, die Polizei zu verständigen.
An dem Freitag, als Dorothy in den Keller hinab stieg, um mit Dr. Evans, wie sie es hin und wieder tat, ein Schwätzchen zu halten, war sie so guter Laune wie selten in den letzten Tagen. Sie hatte mit ihrem neuen Anwalt gesprochen, der ihr gera ten hatte, das Testament anzufechten. Er hielt einen Erfolg nicht für aussichtslos, wenn es gelän ge, dem Gericht klarzumachen, daß Robert Thorp als hoffnungsloser Säufer unzurechnungsfähig gewesen wäre. Der kleine Mann mit der fuchsroten Mähne empfing Dorothy wie immer freudestrahlend. Als sie wissen wollte, an welcher Erfindung er zur Zeit arbeite, erzählte er ihr übereifrig, er sei dabei, ei ne Kreissäge zu konstruieren, mit der man aus zehn Meter Entfernung nur durch den heulenden Laut Glas zersägen könne. Auch habe er einen Blitzableiter erfunden, der nicht nur Blitze anzie he, sondern sie in nutzbare elektrische Energie umwandle. Eine seiner kuriosen Erfindungen, die wie eine Nähmaschine mit zwei Propellern aussah und mit einem Paar Kufen versehen war, interessierte Do rothy besonders. Als sie fragte, wozu dieses merkwürdige Ungetüm gut sei, machte Evans den Mund auf, offenbar in der Absicht, ihr eine lange Erklärung zu geben. Doch eine halbe Minute ver ging, eine ganze Minute, ohne daß er ein Wort hervorbrachte. Schließlich gab er sich einen Klaps auf die Stirn und gestand, er habe den Sinn dieser Maschine vergessen, aber sie sei bestimmt eine
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seiner bedeutendsten Erfindungen. Er habe be reits mit einer italienischen Autofirma Verhand lungen aufgenommen, die ihm das Patent abkau fen wolle. Dorothy nickte. Sie dachte: Eigentlich dürfte man solche Kerle wie ihn nicht frei herumlaufen lassen, auch wenn sie einen so harmlosen Ein druck machen. Um so mehr staunte sie, als Dr. Evans ihr seine nächste Erfindung vorführte. Es war ein Wecker, der seine Tätigkeit mit dem Ab spielen einer leisen Melodie begann. Wurde er nicht abgestellt, tat er seinen Unwillen mit einem kurzen Klingeln kund, um schließlich ein Furioso der gräßlichsten Laute von sich zu geben, die selbst einen Toten aus dem Sarg geschreckt hät ten. «Ich habe diesen Nonstopwecker einer ameri kanischen Uhrenfirma verkauft. Er wird in Serie hergestellt und verkauft sich weit besser, als zu erwarten war.» «Und Sie haben auch Geld dafür bekommen?» fragte Dorothy ungläubig. «Ja, achtzigtausend Dollar.» Er wühlte in einer Mappe und holte einen Brief hervor, in dem tat sächlich zu lesen stand, daß auf sein Konto die genannte Summe überwiesen worden war. «Und was haben Sie mit dem vielen Geld ange fangen?» forschte Dorothy. Evans fuhr mit der Hand durch seine fuchsrote Mähne. «Ich habe das Geld in dem Ding da inve stiert.» Er zeigte auf die propellerbetriebene, mit Kufen versehene Nähmaschine und meinte zuver 52
sichtlich, früher oder später werde ihm schon ein fallen, zu welchem Zweck er sie konstruiert habe. Schließlich wollte Dorothy wissen, was denn die dauernden Explosionen bedeuteten, die die Halle erbeben ließen. «Ich experimentiere an einer neuartigen Bom be, die man zum Ausheben von Gräben benutzen könnte. Sie wird nach dem Prinzip eines Maulwur fes arbeiten und mit kleinen aufeinanderfolgenden Explosionen die Erde herausschleudern.» «Und wenn es nun nicht viele kleine Explosio nen gibt, sondern nur einen großen Knall?» «Das wäre für Ihr Schloß gewissermaßen eine Katastrophe.» Dr. Evans blickte sie verlegen und zugleich mitleidsvoll an. Und nachdem er eine Weile überlegt hatte, meinte er tröstend: «Für die Landschaft und die Bewohner des Dorfes wäre es freilich ein Vorteil. Sie könnten an der Stelle, wo dieses, verzeihen Sie meine Offenheit, wirklich häßliche Gebäude steht, eine Badeanstalt einrich ten.» «Badeanstalt?» «Aber ja», erläuterte Evans. «Wenn das Schloß in die Luft fliegt, wird ein ansehnlicher Krater ent stehen, und unser liebes Flüßchen wird im Früh jahr nicht mehr die ganze Gegend überschwem men, sondern die Grube füllen. Für die Kinder wird es eine Freude sein, weil sie im Sommer hier baden gehen können.» «Das ist allerdings eine Perspektive, die ich nicht bedacht habe», gestand Dorothy.
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Sie war vor der Erfindung stehengeblieben und betrachtete sie selbstvergessen. Von der Decke hing ein Drahtseil, an dem in Abständen von etwa zehn Zentimetern ein Dutzend Eisenkugeln aufge reiht war, deren Inhalt aus Sprengstoff bestand. Dr. Evans erklärte: «Sie müssen nur diese bei den Stöpsel an das elektrische Netz anschließen, dann explodieren die einzelnen Sprengkörper nach dem Zeitzünderprinzip, und im Nu ist der Graben ausgehoben.» «Es war wirklich eine nette, für mich lehrreiche Unterhaltung», sagte Dorothy. »Wenn ich wieder mal nach Walsh fahre, um einzukaufen, werde ich auch ein Dutzend Gummikrokodile, Badekappen, Schwimmflossen und Tauchgeräte besorgen.» «Verstehe, Sie wollen für den Fall gerüstet sein, daß meine Bomben mit einem Schlag explodie ren», meinte Dr. Evans ernst, aber man sah ihm an, daß er mit seinen Gedanken wieder mal weit weg war. Dorothy aber hatte eine Idee. Colonel Dexter sah Gespenster auch zu Zeiten und an Orten, wo sie nach englischer Tradition kaum anzutreffen waren. So in der Halle des Schlosses, wo sich zur gewohnten Teestunde alle Erben eingefunden hatten. «Ich habe so ein eigenartiges Gefühl, daß wir hier nicht allein sind.» Er schaute sich bedeu tungsvoll um und stellte fest, daß außer ihnen niemand da war. Das hinderte ihn jedoch nicht, seine Behauptung aufrechtzuerhalten. «Es gibt Erscheinungen der transzendentalen Welt, die
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man nicht wahrnehmen kann und die doch auf eine für uns unheimliche Art und Weise existieren. Als ich in Indien in Fort Nagpur Dienst tat, hatte ich einen Diener, einen großen Kerl aus dem Sikh stamm. Er hatte drei Punkte auf der Stirn und ge hörte der niederen Kaste der Lederarbeiter an. Er war ein vortrefflicher Diener, der mich betreute wie seinen Vater. Kochen konnte er, sage ich Ih nen! Auch wenn ich so satt war, daß ich schon beim Anblick eines Reiskornes aufstoßen mußte, konnte ich noch ein ganzes Huhn verspeisen, wenn er es zubereitet hatte.» «Das ist ja unglaublich», warf Stella Grady ein. «Und was stellte sich heraus?» fuhr der Colo nel, in Gedanken versunken, fort. «Mein Sikh, der mich fast ein Jahr umsorgte, existierte gar nicht. Er war, wie mir ein Yogi aus einem Bergdorf im Himalaja klarmachte, der Geist eines Verwunde ten, den ich auf meinem Rücken ins Fort ge schleppt hatte. Aus Dankbarkeit muß er den Ent schluß gefaßt haben, mir nach seinem Tod als Geist zu dienen. Solche Fälle kommen in Indien häufig vor. Das Land hatte zu meiner Zeit an die dreihundert Millionen Einwohner, aber wenigstens hundertmal soviel Geister. Die Luft wimmelte so zusagen von ihnen.» «Also wenn Sie tiefer Atem holten, hatten Sie schon einen durch die Nase gezogen. Furchtbar», meinte Dorothy. Dr. Evans hatte eine eigene Methode, dem auf geblasenen Krieger und Geisterseher den Mund zu stopfen. Er holte Notizblock und Bleistift hervor 55
und begann laut zu rechnen, wieviel Luft so ein Geist wie der treue nicht existierende Diener ver drängen müßte. Die Bewunderung der ehemaligen Postvorstehe rin für Dexter war dagegen echt und tief. «Sie sprechen aus, Colonel, was ich schon im mer gefühlt habe. Hinter der Welt, in der wir le ben müssen, gibt es eine andere, die uns ver schlossen bleibt. Unser englisches Klima ist für Erscheinungen dieser Art denkbar günstig.» Der Colonel nickte, er fand das englische Klima auch denkbar günstig und stieß mit seinem kno chigen Finger in die englische Luft. «Sie haben recht. Nehmen wir zum Beispiel die ‹Blutige Schmiede›. Ist es ein Wunder, daß es dort dauernd gespenstert und sogar die Ketten an den Wänden klirren? Die Erinnerungen an frühere Zeiten, wo sie als Folterwerkzeuge benutzt wur den, lassen ihnen keine Ruhe.» Dorothy nickte zustimmend. «Und vergessen Sie nicht unser Schloß. Geht man die Treppe zum ersten Stock hinauf, knarrt jede einzelne Stufe. Und wenn es draußen Unwetter gibt, herrscht ein Durchzug, der nicht nur vom Wind verursacht werden kann.» «Ja, ich fühle mich hier seit dem ersten Tag von unheimlichen Mächten der Finsternis umgeben. Ich werde das Gefühl nicht los, daß sich eines Ta ges ein Unheil über unseren Häuptern entladen wird.» Das geschah wenig später, als der inzwischen zum Butler beförderte Fisher mit einem zwei Me 56
ter langen Gummikrokodil in der Tür erschien. Re spektvoll fragte er, wo er die Ausrüstung für den Swimmingpool hinschaffen sollte. «Warum haben Sie denn das Tier aufgebla sen?» wollte Dorothy wissen. «Sie haben ja mit dem Reptil unsere lieben Gäste regelrecht er schreckt.» «In der Gebrauchsanweisung steht, man solle beim Kauf prüfen, ob sie auch luftdicht sind.» Er setzte das Krokodil auf den Fußboden. «Sie sind luftdicht. Alle zwanzig. Auch die Frösche.» «Ein schönes Tier, nicht wahr?» provozierte Do rothy ihre Gäste. Während Dexter und Grady nur blöd verdutzte Gesichter machten, reagierte Dr. Evans auf seine Art. Er legte das Krokodil auf den Bridgetisch, ging ein paarmal um ihn herum, drehte den Stöp sel der Öffnung, durch die die Luft in das Tier ge blasen werden mußte, und meinte: «Die ganze Welt ist von ungemachten Erfindun gen voll. Unsere Kriegsmarine hat Schlauchboote, die sich von selbst aufblasen, wenn sie ins Wasser fallen. Die armen Kleinen aber sollen sich die Lun gen aus der Brust pusten, bevor sie so ein Rie senvieh prall kriegen. Finde ich geradezu un menschlich.» Plötzlich runzelte er die Stirn und blickte sich suchend um. «Die Tiere sind ja wirk lich sehr hübsch, aber zwanzig davon? Ich wußte gar nicht, daß wir so viel Kinder haben.» «Kinder?» Die beiden Todfeinde Dorothys strafften ihr Rückgrat. «Was für Kinder?»
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Mrs. Thorp, plötzlich ganz Verkörperung einer gütigen, kinderliebenden Frau, erklärte sanft: «Sie werden bald hiersein. Ich habe bereits in Walsh mit dem Fürsorgeamt verhandelt, und wir kamen zu dem Ergebnis, daß man im Schloß Cu rentin wenigstens dreißig bis vierzig Kinder unter bringen könnte. Es war übrigens Dr. Evans, der mich auf diese wirklich hübsche Idee brachte. Was sagen Sie dazu?» Sie strahlte den Colonel und die Grady an. Als erster befreite sich der Colonel aus der Ver steinerung. «Das… das ist ja der reinste Kommu nismus! Sie können doch nicht einfach…» «Ich kann», strahlte Dorothy noch strahlender. Und an Stella Grady gewandt: «Sie werden sich in der Küche nützlich machen! Dreißig bis vierzig Kinder, die futtern etwas weg.» Die Postjungfer öffnete den Mund, um eine scharfzüngige Antwort zu erteilen, doch sie kam nicht dazu. Im Flur klingelte das Telefon, und gleich darauf erschien der gute Geist des Hauses, Patricia, die Dorothy mitteilte, Herr Shannon wün sche sie zu sprechen. Dorothy entschuldigte sich und verließ die Hal le. Da geschah es. Eine Reihe ohrenbetäubender Explosionen ließen den ganzen Raum erbeben. Die Wände wankten und bekamen Risse, im Fuß boden öffnete sich ein großes finsteres Loch, eine übelriechende Wolke zischte empor und vermisch te sich mit dem Mörtelstaub. Als er sich einigermaßen gelegt hatte, mußte Dorothy, die aus dem Flur herbeieilte, jedoch be 58
dauernd feststellen, daß die Explosion nur materi elle Werte zerstört hatte. Ihre beiden Erzfeinde hatten außer ein paar blauen Flecken und Quet schungen keinen Schaden davongetragen. Die Grady stöhnte zwar: «Hilfe, Hilfe, ich sterbe!» Aber leider war sie dem Sterben keinen Zoll näher als vor der Explosion. Dr. Evans hatte der Luftdruck nicht einmal die Zigarre aus dem Mund gerissen. Er war nur, vom Kalkstaub berieselt, weiß wie ein Schneemann, was ihn aber nicht hinderte, festzustellen: «Es war ein wissenschaftlicher Unfall, sicher meine Perlenkettenbombe.» Und nicht ohne gewisse Ent täuschung fügte er hinzu: «Ihre Wirkung war we sentlich geringer, als ich ausgerechnet habe. Und ich verstehe auch nicht, wie die Bombe von selbst zünden konnte. Eigentlich ist es ganz ausge schlossen.» «Von wegen ausgeschlossen, von wegen wis senschaftlicher Unfall!» bellte der Colonel, «das war ein Mordanschlag.» «Wer sollte denn gegen einen wie Sie mörderi sche Absichten haben?» schnaufte verächtlich Pa tricia. «Ich wüßte schon jemand, der uns aus der Welt schaffen möchte, um dann ein ausschweifendes Leben zu führen», fauchte die Grady mit einem giftigen Blick zu Dorothy. «Sie dumme Trine», versetzte Dorothy wegwer fend. «Wenn es nur um Sie ginge, würde ich schon ein gewisses Risiko auf mich nehmen. Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich versu 59
chen würde, einen so lieben Menschen wie Dr. Evans umzubringen? Schon der Gedanke käme mir wie ein Verbrechen vor.» «Eins steht fest: Die Polizei muß her», verkün dete der Colonel kategorisch. «Ich habe jedenfalls keine Lust, ein zweites Mal durch die Decke in das obere Stockwerk gesprengt zu werden.» «Ich auch nicht», zischte die Grady. «Und ich finde es äußerst merkwürdig, daß ausgerechnet eine Minute vor der Explosion eine gewisse Person ans Telefon gerufen wurde, während wir…» Sie schauderte zusammen, als sähe sie sich bereits in einem Sarg liegen. Fishers Erscheinen unterbrach die Auseinander setzung. Er war ein wenig außer Atem, aber sonst korrekt, würdevoll, wie ein herrschaftlicher Butler zu sein hat. Nachdem er sich im Raum umgeblickt hatte, wandte er sich an Dorothy. Er sei im Garten ge wesen, als er die Explosion gehört habe, hoffent lich sei niemandem etwas Ernstes zugestoßen. Er sei, wenn Mylady ihm die Bemerkung gestatte, immer dagegen gewesen, daß im Keller eines be wohnten Hauses so gefährliche Experimente vor genommen werden. Dr. Evans runzelte die Stirn. «Was heißt gefähr lich? Zieht man nicht höhere Mächte in Betracht, kann das Ding nur explodieren, wenn es vorher ans elektrische Netz angeschlossen wird. Und das kann jeder von uns getan haben. Zum Beispiel ich selbst.»
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«Wenn es so ist, Sir», sagte Fisher steif, «möchte ich einen Vorschlag machen, sofern My lady mir ihre Zustimmung erteilt. Es wäre ratsam, die Polizei zu verständigen, damit sie den Fall un tersucht.» Dorothy zögerte. Der Vorschlag gefiel ihr offen bar gar nicht. «Na, meinetwegen», entschied sie sich schließ lich. «Rufen Sie Sergeant Williams an, oder lieber gleich Scotland Yard. Aber das merkt euch, meine Lieben», sie blickte bedeutungsvoll alle Anwesen den an, «die Polizisten sind wie Wanzen. Hat man sie einmal im Haus, wird man sie nicht so leicht wieder los.» Wie recht sie hatte, ahnte sie selbst nicht.
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Sechstes Kapitel
In die immer verworrener werdende Handlung greift Inspektor Bailey ein, der Verbrecher und hochprozentiges Porter in gleicher Weise unerbitt lich ausrottet, seine Fähigkeiten aber hinter ei nem etwas vertrottelten Eindruck geschickt zu verbergen weiß.
Inspektor Bailey neigte schon seit vielen Jahren zum Schlaganfall. Er war kleinen Wuchses, wog aber über zwei Zentner, und das hauptsächlich, weil er täglich gute vier Liter Porter in seinen Kör per zu schütten pflegte. Sein Gesicht hatte eine rötlichblaue Färbung angenommen; ruhig atmen konnte er nur im Sitzen. Doch der seit Jahrzehn ten erwartete Schlaganfall blieb aus, und deswe gen galt er bei den Ärzten als ein medizinisches Phänomen. «Von Rechts wegen müßten Sie längst unter der Erde liegen und Ihr Fleisch sich in ande re Formen des Lebens verwandelt haben», philo sophierte Dr. med. Tudor, sein Hausarzt. Aber der Inspektor kümmerte sich sowenig um seinen Ge sundheitszustand wie der permanent drohende Schlagfluß um ihn. Das Leben machte ihm Spaß, er hatte ein menschenfreundliches, heiteres Ge müt, die irdischen Dornen kratzten seine Haut nicht so leicht. Im Polizeipräsidium von Liverpool war er allgemein als «die lachende Biertonne» be kannt, und er selbst lachte am meisten über die sen Spottnamen. Dabei war er ein kluger, erfahrener Kriminalist, dem man nichts vormachen konnte. Als er, von Sergeant Williams begleitet, in Curentin eintraf, hatte er bald erkannt, daß die Explosion im Keller schwerlich ein Zufall sein konnte, daß sie, wie er sich ausdrückte, nach einem Verbrechen stank. Aber das beeinträchtigte seine gute Laune nicht, zumal Dorothy einen Wink gegeben hatte, Porter
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zu bringen, und Patricia gleich mit einem ganzen Korb voller Flaschen aus dem Keller kam. Sonst war diese alles andere als freigebig mit Alkohol. Dafür hatte sie persönlich einen guten Grund. Ihr längst verstorbener Mann, ein Dockar beiter in Liverpool, war einmal im Hafen ins Was ser gefallen. Ihm war aber weiter nichts passiert; er hatte sich nur einen Schnupfen geholt. Um ihn auszukurieren, hatte er zu Hause eine Flasche Whisky geleert und darauf ein heißes Bad ge nommen. Und ausgerechnet in der Badewanne war er ertrunken. Vom Alkohol betäubt, war er eingeschlafen. «Es ist warm heute, und Sie werden Durst ha ben, Sir», meinte sie scheinheilig mit einem heim lichen Blick auf des Inspektors blaue Knollennase. Bailey hatte Durst. Er lächelte Patricia dankbar an und wußte es zu schätzen, daß sie ihn auf so menschliche Art durchschaut hatte. Dann kam er auf das Testament Robert Thorps zu sprechen. «Ein Mann, der so was verzapft, muß verrückt gewesen sein.» «Das war er nicht. Er war ein Alkoholiker», ent fuhr es Patricia. «Ja, schlimm, schlimm, diese Trunksucht.» Bai ley nickte verständnisinnig, wobei er ein halbes Glas Porter in einem Zug leerte. Und zu Dorothy gewandt: «Ich kann nur zu gut begreifen, wie un liebsam Ihnen der Besuch dieses Colonels und dieser Miß Grady sein muß, nur zu gut.» «Ich kann die beiden Typen nicht ausstehen», bekannte Dorothy freimütig. «Wenn der Letzte 64
Wille meines verstorbenen Gatten es zuließe, würde ich jedem von ihnen sofort zwanzigtausend Pfund in die Hand drücken, damit ich sie auf der Stelle loswerde.» Wieder nickte Bailey. «Ich begreife Sie nur zu gut. Nur zu gut. Trotzdem muß ich Sie mit einer ganzen Menge Fragen belästigen. Es ist leider nun einmal so, daß die Polizei von den Pennies der Steuerzahler bezahlt wird; sie muß deshalb allen Dingen auf den Grund gehen, die auf ein Verbre chen hindeuten, manchmal ganz gegen den eige nen Willen.» «Und Sie nehmen an, daß hier ein Ding gedreht worden ist?» Dorothy hatte den Ausdruck einem Kriminalroman entliehen, den sie kürzlich vor dem Einschlafen gelesen hatte. Gluck, gluck, gluck machte das hinunterfließen de Porter in der Kehle des Inspektors, er schloß genüßlich die Augen und schien ganz und gar die ser verbrecherischen Welt entrückt zu sein. Aber der Schein trog. «Ja. Wir müssen auch einen Mordanschlag in Betracht ziehen, leider, leider», seufzte er und stellte das Glas auf den Tisch. «Und mich halten Sie zweifellos für die Haupt verdächtige», forschte Dorothy aggressiv weiter. Bailey fuchtelte mit beiden Händen, als wollte er eine Stechfliege abwehren. Ohne daß das men schenfreundliche Lächeln um seine Knollennase verschwunden wäre, fragte er: «Warum nehmen Sie an, daß ich ausgerechnet Sie verdächtige?» 65
«Nun, der Grund liegt ja auf der Hand. Sie ha ben stundenlang verschiedene Leute verhört und schließlich auch das Testament gelesen.» «Die Idee mit dem Kindererholungsheim und dem Schwimmbad finde ich großartig», lobte ohne jeden Zusammenhang der Inspektor. «Ich kann mir richtig ausmalen, was für Mienen ihre beiden ungebetenen Gäste machten, als dieser Fisher mit dem Gummikrokodil in der Tür erschien und Sie erzählten, was Sie vorhaben.» Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: «Dr. Evans ist der einzige, den ich nett finde, wirklich sehr nett. Mit ihm haben Sie sich doch angefreun det?» «Ja, ich mag ihn, obwohl seine Teufelsbombe auch mich hätte ums Leben bringen können.» «Wirklich schade, wenn Ihnen was zugestoßen wäre», meinte Bailey mitfühlend. «Dann wäre Ihr Projekt mit dem Kindererholungsheim endgültig begraben worden, und wenn es um Kinder geht, ist mein Herz immer dabei. Übrigens – nehmen Sie’s mir nicht übel, ich habe das Fürsorgeamt angerufen, und dort weiß man nichts von Ihrem Besuch. Leider, leider.» «Wie sollte man auch. Ich war ja noch gar nicht da», gestand Dorothy. «Trotzdem ist es mir mit dem Kinderheim Ernst. Und jetzt hören Sie genau zu, Inspektor. Ich freue mich wirklich, daß ich mich bei einem Glas Porter so nett mit Ihnen un terhalten kann. Aber ich bin für Klarheit. Und Sie, mein Herr, reden nun schon seit mehr als einer
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Stunde um den Brei herum, statt mir direkte und klare Fragen zu stellen.» «So ist es», bestätigte der Inspektor. «Nur wi derstrebt es meiner innersten Natur, die Men schen mit Fragen zu erschrecken, ich bin mehr für eine gemütliche Unterhaltung.» «Und ich bin dafür, daß Sie jetzt endlich sagen, was Sie im Schilde führen. Sie halten mich doch für die Hauptverdächtige, oder nicht?» «Selbstverständlich», bejahte Bailey. «Wer sonst sollte denn einen Grund haben, diese wider lichen Menschen loszuwerden.» «Das stimmt», gab Dorothy zu. Und dann fügte sie gegen jede Logik hinzu: «Aber was dem ersten Anschein nach stimmt, braucht nicht wahr zu sein.» «So etwas kommt vor.» «Und was gedenken Sie jetzt zu unternehmen? Mich verhaften?» «Dazu reichen die Aussagen und das Material, das ich gesammelt habe, nicht aus.» Ungeniert füllte Bailey sein Glas, tat einen genüßlichen Zug und schloß dann die Augen. «Nein, wirklich, das Material reicht nicht.» «Und wenn es reichen würde?» «Nun ja, dann müßte wohl die Gerechtigkeit ih ren Lauf nehmen. Leider, leider.» «Warum leider? Das wäre doch ein Erfolg für Sie, wenn man mich hängen würde?» «Ach, wissen Sie, Mrs. Thorp, solche Erfolge habe ich schon ein paarmal auskosten müssen, weil ein Inspektor dem letzten Akt der Gerechtig 67
keit beiwohnen muß. Solche widerwärtigen Ein drücke schlagen mir immer auf den Magen. Schon eine Woche vorher, wenn ich den Duft meines Lieblingsgerichtes, eines saftigen Hammelbratens, rieche, muß ich mich beinahe übergeben, und hin terher kriege ich psychische Störungen. Sie wis sen wahrscheinlich, daß den Strangulierten die Zunge heraushängt. Und mir ging es nach dem letzten Mal ebenso. Als ich schlief, hing mir die Zunge bis zum Kinn heraus, ich mußte zum Psychiater, der mir eine Bescheinigung ausstellte, daß ich künftig keinen Hinrichtungen mehr bei wohnen dürfe.» Dorothy hatte das Gefühl, daß Inspektor Bailey gefährlicher war als ein Sack voller Klapper schlangen, gerade weil er so menschenfreundlich tat. Er hörte sich wirklich interessiert an, welche Mühe es sie gekostet hatte, die Steinnelkenbeete entlang dem Haus anzulegen, um dann unvermu tet auf den Brand zu kommen, dessen Opfer sie beinahe geworden wäre, und auf die Egge unter dem Fenster, die mitten in die frisch angelegten Beete geschoben worden war. «Mein Gott, mein Gott, das hätte ja schrecklich für Sie werden können! Brandwunden sind so ziemlich die schmerzhafteste Verletzung. Und wenn Sie aus dem Fenster gesprungen wären! Sich von Eggenzinken durchbohren zu lassen, stelle ich mir nicht weniger unangenehm vor. Aber dieser Fisher hat Sie ja nun Gott sei Dank vor die sen Torturen bewahrt. Ein wirklich vorbildlicher
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Diener. Und was halten Sie sonst von ihm?» be endete er seine teilnahmsvolle Rede. Dorothy, die endlich einmal zu Worte kam, wußte nicht recht, was sie über Fisher sagen soll te. «Er ist sehr zurückhaltend, verläßlich. Ich wüß te nichts Nachteiliges über ihn.» Auf einmal muß te sie lächeln. «Meine Haushälterin, aber das wer den Sie wohl schon längst erfahren haben, ist da anderer Meinung. Sie hält ihn für einen zwölffa chen Mörder und ist fest überzeugt, daß er die Halle in die Luft gesprengt hat.» «Eine erstaunlich naive Person, diese Patricia Highsmith, aber das schließt nicht aus, daß sie einmal recht haben könnte. Haben Sie sich mal gefragt, wie es kommt, daß Fisher ein so ausge zeichneter Autofahrer ist? Ich habe im Dorf Dinge über seine Fahrkunst vernommen, daß mir schon beim Zuhören die Gänsehaut kam. So kann nur ein Mann fahren, der sozusagen in einem Auto geboren worden ist, aber niemals ein Gärtner mit einwandfreien Fachzeugnissen.» «Das kann ich nicht beurteilen.» Dorothy merk te, daß sie immer nervöser wurde. Bailey blickte sie voll Anteilnahme an. «Nun gut, dann machen wir Schluß! Ich sehe schon, Sie werden so aufgeregt, daß Sie bald an den Fingernägeln zu knabbern anfangen. Nur noch eine letzte Frage. Stimmt es wirklich, daß Sie mit diesem Gastwirt Bill Shannon eng be freundet sind?»
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«Das stimmt. Aber den Plan, meine lieben Gä ste in die Luft zu sprengen, habe ich mir selbst ausgedacht. Er ist nicht in der ‹Blutigen Schmie de› ausgeklügelt worden. Bill Shannon ist un schuldig wie ein Lamm.» «Das freut mich, das freut mich sehr!» beende te der Inspektor das Gespräch mit einem Ge sichtsausdruck, als wollte er Dorothy behutsam über den Scheitel streichen. Am späten Abend reiste er ab. Die beiden Ex perten, die das Kellerlaboratorium gründlich un tersucht hatten, begleiteten ihn. Dorothy hatte das Gefühl, als ob ihr ein Stein vom Herzen falle. Erleichtert zog sie sich in ihr Zimmer zurück, sank auf die Couch und schloß die Augen. Die Couch war grellrot, der Teppich grün, die Vorhänge waren gelb. Dorothys Geschmack war, milde ausgedrückt, exotisch wie ein Tropenpapa gei. Auf einer Kommode stand eine surrealistische Skulptur. Sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Känguruh, nur daß sie von eigroßen Lö chern zerfressen war. Der Künstler hatte das Werk «Der alte Fischer und sein Netz» benannt; das war kühn. Vor Jahren hatte Dorothy Bücherregale gekauft, die in ihrer Art ebenfalls kühn waren. Mit Ketten an der Decke befestigt, konnten sie hinauf- und herabgezogen werden. Nur standen sie leer. Die Bücher türmten sich vor den Regalen auf dem Fußboden, in den Ecken, aber auch mitten auf dem Teppich, was Dorothy damit begründete, es 70
sei manchmal schöner, nach einem Buch zu su chen, als es nach dem Lesen enttäuscht aus der Hand zu legen. Als Dr. Evans, in Gedanken versunken und des halb ohne anzuklopfen, das Zimmer betrat, fielen ihm die ausgefallenen Eigenarten der Raumgestal tung gar nicht auf. Er hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn mitten auf dem grü nen Teppich ein Reh gegrast hätte. «Wissen Sie, zu welcher Erkenntnis ich nach den zwei Mordanschlägen gekommen bin?» fragte er die aufgeschreckte Dorothy ohne jede Einlei tung. Sie verneinte. «Keine Woche wird vergehen, und wir werden allesamt auf dem Friedhof von Curentin liegen. Auch diese an Gehirnschwund leidende Bohnen stange und der mottenzerfressene Colonel…» Vor der Plastik «Der alte Fischer und sein Netz» stehengeblieben, verstummte er. Versonnen steckte er den Finger in verschiedene Löcher der Statue und meinte dann: «Sie sollten dieses Kunstwerk im Garten an einem Baum aufhängen. Da könnten gleich ein Dutzend Stare ihre Nester bauen, und die Katzen, diese verfluchten Vogel mörder, kämen nicht an sie heran.» «Woher wollen Sie wissen», unterbrach Dorothy die nie erlahmenden Geistesflüge des Erfinders, «daß es Mordanschläge waren? Zum Beispiel der Kaminbrand?» «Ob es ein normaler Kaminbrand war oder eine, wie soll ich sagen, geplante Einäscherung, dar 71
über kann ich noch kein abschließendes Urteil fäl len. Aber ich kann Ihnen ganz genau erzählen, wer mein Laboratorium in die Luft fliegen ließ.» «Da bin ich aber neugierig.» Dorothy beugte sich vor. Dr. Evans holte tief Luft, um mit seiner Erklä rung zu beginnen, doch er kam nicht dazu. Die Tür ging auf, und auf der Schwelle stand Fisher. «Warum klopfen Sie nicht an, bevor Sie herein kommen?» herrschte ihn Dorothy an. «Verzeihen Sie, Mylady, ich habe angeklopft, aber wohl etwas zu leise.» «Und was wollen Sie?» «Ich möchte Ihnen eine wichtige Mitteilung ma chen, Mylady», verkündete Fisher mit der Würde eines herzoglichen Butlers. «Na, dann reden Sie und machen Sie nicht ein Gesicht, als wäre es Ihre eigene Totenmaske.» «Verzeihung, Mylady, aber diese Mitteilung ist höchst diskreter Natur, und es ist vielleicht bes ser, ich komme wieder, wenn Sie Ihre Konversati on mit Herrn Dr. Evans zu Ende geführt haben.» «Mann, sprechen Sie wie ein normaler Mensch! Konversation! Dr. Evans hört uns doch gar nicht zu.» In der Tat war wieder einmal der Erfindergeist mit ihrem Freund durchgegangen. Er stand, den Rücken ihr zugekehrt, vor einer kostbaren Chip pendaleanrichte und ritzte, was sie nicht sehen konnte, mit einem kleinen Schraubenzieher in das spiegelglatt polierte Furnier Striche und Linien, die nur für ihn einen Sinn hatten. Es war das Schema 72
eines Türschlosses, das niemand öffnen konnte, wenn er nicht gerade ein Genie war wie sein Er finder. «Also was ist?» Die steinerne Würde Fishers reizte Dorothy um so mehr, als ihre Nerven ohne hin arg mitgenommen waren. «Es handelt sich um Colonel Dexter.» Er senkte die Stimme. «Wenn es sich um den handelt, möchte ich nur eines hören: etwas Schlimmes, Böses, Nieder trächtiges, Infames! Sollten Sie was Gutes über ihn erzählen wollen, dann machen Sie erst gar nicht den Mund auf.» «Ich bin überzeugt, ich werde imstande sein, Myladys Wunsch voll zu erfüllen.» Fisher neigte ehrerbietig den Kopf. «Womit ich sagen will, Colo nel Dexter leidet unter übermäßiger Liebe zum Alkohol.» «Sie machen mich verrückt, Mann!» Nun platz te Dorothy doch die Geduld. «Der Kerl ist ein no torischer Säufer, und das ist kein Geheimnis, das sie mir im Flüsterton mitzuteilen brauchen.» «Ich wollte Ihnen ja nur einen Gefallen tun, My lady. Ferner muß ich Ihnen mitteilen, daß dieser Dexter nicht nur ein Trinker ist, sondern auch ein Dieb, der auf die schändlichste Art unseren Wein keller plündert. In den fünf Kisten mit dem alten schottischen Whisky, der je Flasche sechs Pfund kostet, ist kein schottischer Whisky mehr, sondern ein billiger Fusel, der keine sechs Shilling wert ist. Dexter hat nämlich die Etiketten auf den Flaschen
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vertauscht und das edle Getränk unter seinem Bett versteckt.» «Oh, das ist wirklich eine erfreuliche Mitteilung, Fisher.» Dorothys Augen leuchteten auf. «Das ist geradezu eine famose Gelegenheit, diesem gei stesgestörten Geisterseher eins auszuwischen! Und das besorge ich schon morgen früh!» «Sehr wohl, Mylady. Es war mir eine Ehre, daß meine Botschaft Sie derart erfreute.» Fisher verbeugte sich mit der entsprechenden Hölzernheit und entfernte sich wieder. «Evans!» Kaum hatte sich die Tür geschlossen, blickte sich Dorothy nach ihrem Freund um. Er war nicht mehr da. Sie ging durch das Schlafzimmer in das anlie gende Bad, das sie umbauen ließ. Dort lagen Hau fen von Kacheln herum, ein neuer Boiler stand in der Ecke, die Tür zum Korridor war samt Rahmen entfernt. Die Türöffnung sollte zugemauert und ebenfalls mit neuen Kacheln verkleidet werden. Auch hier kein Evans zu entdecken. War er, gedankenversunken, durch die Öffnung in der Wand in den Korridor hinausgegeistert und hatte vergessen, weshalb er gekommen war? Zu zutrauen war es ihm. Dorothy kehrte in ihr Wohnzimmer zurück und entdeckte die nicht zu übersehenden Kratzspuren auf ihrer Anrichte. Es war kennzeichnend für ihre großzügige Na tur, daß diese Beschädigung ihrer Prunkanrichte sie keineswegs zornig stimmte, sondern daß sie über soviel erfinderisches Genie nur den Kopf 74
schütteln konnte. Da es bereits zehn Uhr war und sie sehr starke Zweifel an Evans’ kriminalistischen Fähigkeiten hegte, beschloß sie, schlafen zu ge hen. Wenn auch er mich verdächtigt, überlegte sie, wird es mir guttun, wenigstens noch diese Nacht in Ruhe zu verbringen. Und morgen in aller Frühe nehme ich mir diesen Dexter vor; den Spaß laß ich mir nicht entgehen… Doch sie konnte nicht einschlafen. Nach einiger Zeit stand sie wieder auf, zog sich an und verließ das Zimmer.
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Siebentes Kapitel
Zwei weitere, nicht gerade vertrauenerweckende Gestalten betreten die Bühne des Geschehens und erheben ebenfalls Anspruch auf das Schloß Curen tin, einschließlich der Schloßgeister. Zugleich wird Großbritannien um einen genialen Erfinder ärmer und um eine Leiche reicher.
Als Arvin und Ann Conroy in ihrem Vehikel Anno 1924 die Auffahrt hinauf getuckert waren und alle drei vor dem herrschaftlichen Tor mit einem Stoß seufzer hielten, machte Arvin seine Frau auf die erste Eigentümlichkeit in der Umgebung des Schlosses Curentin aufmerksam. «Brennesseln! Sehen aber schön aus, nicht?» Die meterhohen Brennesseln rechts und links von der Freitreppe nahmen sich mit ihren großen silbergrauen, plüschigen Blättern in der Tat wie Zierpflanzen aus. Sie waren aber nicht als solche in die Erde gepflanzt, sondern verdankten ihre Entstehung der freien Natur. Die freie Natur, der wallende Morgennebel ver schönerten sogar das verbaute, häßliche Schloß. Es war nur undeutlich zu erkennen und wirkte da her fast romantisch. «Hier scheint aber alles noch zu schlafen», stellte Ann mit einem Blick auf ihre Uhr fest. «Kein Wunder, es ist noch nicht mal sieben. Du hättest mich ruhig ausschlafen lassen können.» «Der Stammsitz meiner Ahnen! In der Nacht beim Mondschein sieht er noch romantischer aus.» Arvin grinste. «Woher weißt du das?» «Vielleicht bin ich in der Nacht hier spazieren gegangen.» Er blickte sich um, und seine Augen streiften den Schloßteich, einen mit Entengrütze und Frö schen gefüllten Tümpel.
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Auf einem moosbewachsenen Steinsockel, der schief neben einer verfaulten Holzbank emporrag te, hatte wohl einst eine Statue gestanden. Bild haft konnte man sich das aber kaum noch vorstel len. Sowenig wie Schwäne in dem faulig riechenden Tümpel. Ann stellte fest: «Es sieht nicht so aus, als ob du auch nur tausend Pfund erben wirst.» «Fünfzigtausend hat der Anwalt versichert», konterte Arvin. Er war Anfang Dreißig, hatte gro ße abstehende Ohren, kurzgeschorenes Haar und ein grimmig-humorvolles Gemüt. Das brauchte er nicht nur, um die ewigen Pannen seines Urmodells von einem Ford mit Gelassenheit hinzunehmen. Auch sein Beruf forderte von ihm innere Ausgegli chenheit. Er war Archäologe und buddelte seit Jahren in irgendeiner Wüste in Mesopotamien nach alten Tonscherben. Ann, mit der er seit vier Jahren verheiratet war, nahm das Leben anders. Wenn besagtes Urmodell von einem Ford wieder einmal auf freier Strecke stehenblieb und sie, Wind und Regenschauern ausgesetzt, sich in ihr Schicksal fügen sollte, pflegte sie sich mit beiden Händen die Ohren zu zuhalten und gellend loszukreischen, weil sie meinte, sie müßte Kupferdraht statt Nerven ha ben, um diese Plage auf vier Rädern lächelnd zu ertragen. Sie war eben ein impulsives Geschöpf mit einem Make-up, in das falsche Wimpern und grüne Haare miteinbegriffen waren. Von Beruf war sie Schauspielerin. Eine schlechte Schauspielerin, wie Arvin ihr immer wieder versicherte, und des 78
halb auch ein überkandideltes Frauenzimmer. Das alles fiel aber von ihr schlagartig ab, und sie wur de ein ganz normales Frauenzimmer mit gesun dem Menschenverstand unter ihrem entfärbten Haarschopf, sobald sie nicht auf die Bühne mußte. Sie wußte selbst nur zu gut, daß die Kunst, in der die Bretter und Pappmache eine Welt bedeuten, für sie ein Verhängnis war. Denn außer einem hübschen Frätzchen, straffen Busen und schönen Beinen hatte sie weiter keine Eigenschaften oder gar Talente, die sie als Schauspielerin benötigt hätte. Aber was sollte sie machen, wenn ihr un möglich intelligenter Affe, wie sie ihren Gatten nannte, für Monate oder gar Jahre in irgendeine Wüste verschwand und ihr nur wenige Pfund zum Leben schicken konnte. Da mußte sie eben ihr Geld selbst verdienen. Und nun diese unerwartete Erbschaft! Sie konn te es nicht fassen, als Arvin sie aus der «Blutigen Schmiede» gestern abend in Surburry angerufen hatte; auch nicht, als sie gleich nach der Vorstel lung nach Walsh losgefahren war. Und am wenig sten jetzt, vor diesem alten scheußlichen Kasten, den ihr erlauchter Gatte als Stammsitz seiner Ah nen bezeichnete. Da niemand auf ihr Klingeln und Klopfen öffne te, meinte sie; «Entweder schlafen sie alle bis zum Mittag, oder das Schloßgespenst hat sie stranguliert, und sie liegen mit blauen Gesichtern in ihren Pfühlen. Tute mal.» Sie zeigte auf das Lenkrad.
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Arvin, sonst keinesfalls schüchtern, verspürte diesmal vor der morgendlichen Stille eine gewisse Scheu. «Es ist erst nach sieben. Ich glaube, es ist bes ser, wir gehen noch ein wenig spazieren. Es kann ja schließlich sein, daß meiner lieben Tante bei der Explosion gestern ein Stein auf den Schädel gefallen ist… Der Wirt dieser Henkerskneipe mein te jedenfalls, ausgeschlossen sei das nicht.» «Wer fünfzigtausend erbt, hat das Recht, sogar mitten in der Nacht zu tuten.» Ann war übermü det und daher aggressiv. Arvin, immer noch unschlüssig, war an den Tümpel getreten. Schon wollte er seine zürnende Gattin mit einer passenden Antwort zurechtwei sen, als er neben einem kurzen Steg einen schlammbeschmutzten ausgelatschten Lackschuh erblickte. Auch ein verrosteter Eimer lag in der Entengrütze und ein durchlöcherter Korb. Diese Dorothy Thorp, wer sie auch sein mochte, so dachte er, ist eine Schlampe. Sicher wusch sie sich nur einmal im Monat den Hals, sonst würde sie bei dem Geld, das sie geerbt hatte, ihre Um gebung nicht so verwahrlosen lassen. Er wollte schon umkehren, da entdeckte er ein merkwürdig geformtes Stück Eisen, das aus der morastigen Erde herausragte. Vorsichtig auf dem morschen Steg sich vortastend, beugte er sich nieder und zog einen Bund Dietriche heraus. Nachdem er die Erde abgespült hatte, stellte er fest, daß keiner der Dietriche verrostet war, diese also noch nicht lange hier liegen konnten. Ver 80
wundert überlegte er, wer wohl im Stammsitz sei ner Ahnen solches Einbrecherwerkzeug benutzen mochte, als die Morgenstille von einem gellenden Ton zerschnitten wurde. Ann, nachdem sie ihre Zigarette ausgeraucht, hatte ihrem Verdruß freien Lauf gelassen. Mit bö sem Gesicht war sie an den Wagen getreten und hatte mit wahrer Wollust auf die Hupe gedrückt. Diese funktionierte im Gegensatz zu vielen ande ren Teilen des Autos vorzüglich und gab einen so schrillen Ton von sich, daß Arvin vor Schreck bei nahe von dem Steg in die Entengrütze gefallen wäre. «Bist du verrückt», fauchte er. «Du weckst ja sogar die Toten, wenn es hier welche gibt.» «Ich bin nicht verrückt, ich will endlich einen Menschen aus dieser Bruchbude sehen und dann eine Tasse heißen Kaffee mit Toast und dann ein Bett, in dem ich wenigstens zwölf Stunden schla fen kann.» Die Alarmhupe verfehlte ihre Wirkung nicht. Es vergingen keine fünf Minuten, und quietschend öffnete sich das Eingangstor, in dem das würde voll empörte Gesicht Fishers erschien. «Ich möchte Lady Thorp sprechen», verkündete Ann resolut. «Zu dieser frühen Stunde, wenn ich mich so ausdrücken darf, geruht Mylady noch nicht zu empfangen», verkündete Fisher mit herablassen der Unnahbarkeit. In Ann kochte es.
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«Wenn Sie jetzt nicht sofort geruhen», äffte sie Fisher nach, «sich auf die Socken zu machen, und zwar im Eiltempo, um der Mylady auszurichten, daß der künftige Besitzer dieses Schlosses sie zu sprechen wünscht, dann geruhe ich zu bemerken, daß ich meine Beherrschung verlieren werde, und dann können Sie was erleben, Sie majestätischer Clown.» Ann konnte manchmal sehr ausfallend und so gar vulgär werden. Fisher starrte sie an, riß den Mund auf, dann verschwand er, ohne die Tür hinter sich zu schlie ßen. «Komm, wir sehen uns deinen Stammsitz von innen an.» Ann ergriff Arvins Arm und schleppte ihn hinter sich her. «Nun, was habe ich dir gesagt, eine Bruchbude! Die Decke fällt einem auf den Kopf.» Sie blickte sich befriedigt in der Halle um. Und da sie in der Stimmung war, alles und jeden herunterzuputzen, fiel sie auch über ihren Mann her. «Und so etwas nennst du Erbschaft? Selbst als alte räudige Katze, die kein anderes Plätzchen zum Schutz vor Nässe und Kälte findet, möchte ich nicht in diesem Gemäuer hausen. Also, Eure Lordschaft, erwarten Sie ja nicht von mir, daß ich mir hier in den nächsten Jahren den Kalkstaub von der Decke aufs Haupt rieseln lasse. Ich nicht.» Arvin, der die ganze Zeit an das mysteriöse Einbrecherhandwerkszeug und den Schuh im Modder denken mußte, auch daran, wie wohl er sich in der mesopotamischen Wüste zwischen den 82
viertausend Jahre alten Tonscherben und Men schenknochen gefühlt hatte, hörte erst jetzt, was Ann ihm vordeklamierte. Aber statt einer Antwort, die, wie er wußte, nur weitere Redeströme seiner Gattin auslösen würde, griff er zu einem altbe währten Mittel. Er trat liebevoll an sie heran und versetzte ihr eine so kräftige Kopfnuß, daß sie vor Schmerz auf jaulte. «Du… du…. wenn du dir das noch mal erlaubst, werde ich auf der Stelle…» «Du wirst auf der Stelle den Mund halten, und wenn nicht, höchstens unartikulierte Wimmertöne von dir geben. Ich muß überlegen.» Es war Patricia, die in die Überlegungen des jungen Archäologen hineinplatzte. «Sie wollen Lady Thorp…» Sie beendete den Satz nicht. Fassungslos starrte sie Anns grün schimmerndes Haar, die zentimeterlangen Wim pern und lilablaugefärbten Lippen an. So entging ihr, daß Ann obendrein einen Minirock trug, der kaum über ihren Bauchnabel hinwegreichte. Sie faßte sich an die Stirn und brachte ihr moralisches Entsetzen mit den Worten zum Ausdruck: «Mein Gott, ist denn so was überhaupt möglich?» Der Auftritt von Dorothy Thorp gab der Szene eine neue Wendung. «Der Butler sagte mir, Sie seien mit dem An spruch gekommen, als Haupterbe Schloß und Vermögen meines verstorbenen Mannes in Besitz zu nehmen? Darf ich fragen, wie Sie auf die Idee gekommen sind?» erkundigte sie sich mit schwa
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cher Stimme bei Arvin. Der Schock über die An kunft neuer Erben lähmte ihre Lebensgeister. «Ich wäre nie auf diese Idee gekommen», er klärte Arvin freimütig, «wenn nicht ein Rechtsan walt namens Lockridge mich ausfindig gemacht hätte. Ein schönes Gebäude, dieser Stammsitz von mir! Nur würde ich sagen, man müßte ihn ab reißen lassen und nie wieder aufbauen. Schwamm und Ratten gibt es in diesem Gemäuer gewiß auch?» «Hier gibt es weder Schwamm noch Ratten!» Dorothy konnte sich schon wieder empören. Arvin zog indessen seine Brieftasche hervor. «Hier sind die Urkunden. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Mich interessiert nur bares Geld. Auf die Bude habe ich schon beim ersten Hinblik ken verzichtet.» «Aber ich nicht. Ich will hier bis an mein Le bensende wohnen», verkündete Ann im schärf sten Gegensatz zu allem, was sie bisher gesagt hatte. «Kommen Sie, wir gehen in die Bibliothek und besprechen dort alles in Ruhe», forderte Dorothy Arvin auf. Und zu Patricia: «Sagen Sie Fisher, er soll uns Kaffee und etwas zu essen bringen. Die junge Dame schaffen Sie ins Bad, sie soll sich erst mal das Gesicht. waschen, damit ich erkennen kann, wie sie wirklich aussieht. Dann kriegt sie Kaffee, früher nicht.» Ann ließ sich sonst nichts gefallen, aber die Bemerkung Dorothys, so unverschämt sie war,
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traf ins Schwarze, das wußte sie selbst. Und plötz lich mußte sie grinsen. «Ich will Ihnen was sagen, Sie alte bösartige Hexe», meinte sie vergnügt. «Sie haben voll kommen recht; auf meiner Physiognomie ist wirk lich so viel Farbe drauf, daß man damit eine Zim merwand anstreichen könnte. Aber ich hatte gestern keine Zeit mehr, mich nach der Vorstel lung abzuschminken. Also kommen Sie, wir gehen uns schrubben.» Und damit verließ sie mit Patricia die Halle. Im Bad versetzte sie ihre Begleiterin wieder in tiefste Bestürzung. Erst einmal zog sie sich selbst, wie Patricia sich später ausdrückte, den Skalp ab, und so kam ihr dichtes kastanienbraunes Haar zum Vorschein. Dann entfernte sie die künstlichen Wimpern, wusch ihr Gesicht, und zum Vorschein kam eine junge Frau mit großen ausdrucksvollen Augen und schöngeschwungenen Lippen. Patricias Achtung vor der entfärbten Ann stieg noch beträchtlich, als sie beide in die Küche traten und Ann darauf beharrte, das Frühstück für sich und ihren Mann selbst zuzubereiten. Patricia kochte gern, aber sie war, wie sie sag te, nicht nur im Leben, sondern auch am Herd konservativ eingestellt, was sich darin ausdrückte, daß sie eine Vorliebe für alle Arten von Mehlspei sen hatte, für Mehlklöße, Nudeln, Puddings. Ann zauberte aus dem Nichts ein Frühstück, das ihre schlanke Figur erklärte und in der sehr vollschlanken Patricia den Wunsch erwachen ließ, zehn, wenn nicht zwanzig Pfund abzunehmen. 85
Die fachmännisch kulinarische Unterhaltung brachte die künftige Schloßherrin und die Haus hälterin einander näher, als wenn sie ein Jahr lang nebeneinander auf derselben Bank in der Kirche gesessen und gebetet hätten. «Es fängt wirklich an, mir hier zu gefallen», meinte Ann. «Nur eigene Hühner müßte man hal ten, damit man immer frische Eier hat. Und ein paar Gemüsebeete würde ich auch anlegen.» «Dann müßten Sie erst die anderen ungebete nen Gäste loswerden. Die würden Ihnen aus rei ner Bosheit die Erbsen und Bohnen wegfressen, noch ehe sie reif sind.» Ann zeigte ihre gesunden Zähne. «Die werde ich schon los. Sie werden so schnell abhauen, daß sie sogar ihre Koffer zu packen ver gessen.» Die Unterhaltung zwischen Dorothy Thorp und Ar vin Conroy verlief wider Erwarten ähnlich wie die menschliche Annäherung in der Küche. Nachdem Dorothy die vorgelegten Dokumente durchgesehen hatte, war kaum ein Zweifel mehr möglich, daß Arvin, ein Neffe zweiten Grades des Verstorbenen, der rechtmäßige Erbe des Schlos ses war und somit fünfzigtausend Pfund von dem Gesamtvermögen beanspruchen konnte. Das war für Dorothy nicht gerade eine freudige Überra schung. Doch daran war nichts zu ändern, und sie trug es mit Fassung. Das Entscheidende war aber, daß ihr der junge Archäologe gefiel, zumal er sich alles andere als besitzgierig erwies. 86
«Ich finde es großartig, daß Sie hier ein Kinder ferienheim einrichten wollen», sagte er. «Auch ich würde ein entsprechendes Sümmchen beisteuern. Gut fünfzig Kinder aus Liverpool könnten sich hier erholen, Kinder, die sonst Sommer wie Winter Ruß schlucken und von denen manche nicht wis sen, wie ein Schmetterling oder eine Kuh aus sieht.» Er kratzte sich die Nase, dann sagte er unvermittelt: «Ich fühle mich bei meinen Ausgra bungen nicht nur deshalb wohl, weil ich Archäolo ge bin, sondern auch deshalb, weil ich das Leben hierzulande zum Kotzen finde.» «Warten Sie nur, bis Sie Ihre Miterben kennen lernen», unterbrach ihn Dorothy, «dann werden Sie über diese nichtsnutzige, vor Vorurteilen, Ar roganz und Unwissen stinkende Gesellschaft noch ganz anders kotzen wollen.» Wie eine Gesellschaft vor Arroganz und Unwis senheit stinken konnte, überließ sie der Phantasie ihres Gastes. «Ich gebe zu, einer von ihnen», fuhr sie fort, «Dr. Evans, ist eine Ausnahme. Auch wenn er einen leichten Dachschaden hat. Dauernd erfindet er etwas. Sicherheitsnadeln, die man nur mit einem Codezeichen aufbekommen kann, Pa tentschlüssel, mit denen man Dutzende verschie dener Schlösser öffnen kann, Maschinen mit Pro pellern, von denen er nicht mal mehr weiß, wozu sie gut sind. Bomben, die von selbst losgehen, wie gestern, als eine davon beinahe die Halle in die Luft sprengte… Sogar die Polizei war hier.» «Und was ermittelte sie?»
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«Sie glaubt, mit dieser Höllenmaschine hätte ich meine Miterben pulverisieren und mit Kalkstaub vermischen wollen.» «Und wollten Sie das nicht?» «Und ob ich das wollte», gab Dorothy freimütig zu. «Wenn ich nur wüßte, wie man so was an stellt, ohne erwischt zu werden, gäbe es schon längst zwei frische Grabhügel mehr auf dem Friedhof, und ich würde sogar dafür sorgen, daß sie immer gepflegt werden, damit man an ihnen erkennen kann, daß ich eine gute Tat begangen habe.» «Sie sind recht blutrünstig.» Arvin nickte aner kennend. «Ich übrigens auch, wenn ich auf ein Unrecht stoße, das stillschweigend hingenommen wird.» Die weiteren philosophischen und moralischen Erörterungen der beiden wurden durch Patricias und Anns Eintritt unterbrochen. Die entfärbte Ann, die jetzt mit einmal sehr ruhig und ausgegli chen wirkte, balancierte ein großes Tablett mit dem Frühstück herein. Patricia brachte eine beunruhigende Nachricht. Dr. Evans sei spurlos verschwunden. Sein Bett sei unbenutzt, er habe – in Patricia war der Detektiv erwacht – weder die Zahnbürste benutzt noch den elektrischen Rasierapparat, den er selbst konstru iert hatte. «Wenn die dunkle Gestalt dieses Fisher noch lange im Haus herumgeistert, würde es mich nicht wundern, wenn wir alle eines Tages gehängt, ver giftet, erschossen, durchspießt oder als verkohlte 88
Leichen gefunden würden», schloß Patricia ihren Bericht, was sie aber nicht daran hinderte, mit Appetit einen Toast zu verzehren. Arvin runzelte die Stirn. «Da fällt mir etwas ein. Sie sagten, Dr. Evans habe ein Patentschloß er funden?» «Dutzende», übertrieb Dorothy. «In der Spei sekammer hat er eins eingebaut, das man nur öffnen kann, wenn man den Schlüssel beim Um drehen mal tiefer hineindrückt, mal herauszieht; kein Einbrecher käme darauf.» Als arme vermögenslose Witwe sah Patricia wieder mal schwarz. «Und wenn die Polizei unseren lieben, armen Dr. Evans heute nacht verhaftet hat und er des halb verschwunden ist? Oh, die Welt ist ja so bö se!» Arvin holte das Bund mit den Dietrichen aus der Tasche und warf es auf den Tisch. «Haben Sie diese Dietriche schon mal gese hen?» Patricia bekreuzigte sich. «Er trug sie immer bei sich und drang sogar einmal spätabends damit in mein Zimmer ein.» Sie errötete. «Er wollte näm lich wissen, ob wir Knoblauch im Hause hätten. Er braut sich, wenn er nachts arbeitet, immer so ein Wachhaltegetränk. Und jetzt ist er tot, oh, ich ahnte es schon die ganze Zeit. Das sagt mir mei ne innere Stimme so deutlich, daß jeder hier im Zimmer sie hören müßte.» Als Arvin in die Bibliothek getreten war, hatte er ein Paket neben sich auf den Fußboden gelegt. 89
Jetzt hob er es auf, entfernte das schmutzige Zei tungspapier und stellte den verschlammten Lack schuh, den er am Teich gefunden hatte, auf das schneeweiße Tischtuch. Dorothy berührte den Schuh mit dem Finger, als wollte sie sich vergewissern, ob dieses dreck verkrustete Stück Fußbekleidung nicht eine Hallu zination sei. Als Arvin erzählte, wo er ihn gefunden hatte, meinte sie entschlossen: «Wir holen sofort Stan gen und durchsuchen den Tümpel, bis wir ihn ge funden haben.» Sie stand auf, warf einen Blick auf Ann, die in ihrem Sessel fest eingeschlafen war, und bedeute te Arvin, er sollte ihr folgen. Es war ein scheußliches Unterfangen, in dem Modder herumzustaken, und es dauerte lange, bis Fisher endlich die Leiche Evans’ fand. «Wir müssen sofort Inspektor Bailey anrufen. Kein Zweifel, jemand hat ihn umgebracht», ent schied Dorothy, die als erste die Fassung wieder fand.
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Achtes Kapitel
Die Ereignisse überstürzen sich, und Lady Thorp gerät unter Mordverdacht, was nicht verwun dern darf, da sie gar keine echte englische Lady, sondern nur angeheiratet und von Hause aus Dorfschullehrerin ist.
Inspektor Bailey konnte trotz seiner Körperfülle äußerst behend sein. Gewöhnlich schnaufte er schon nach dem Erklimmen von vier oder fünf Treppenstufen, und am ersten Treppenabsatz an gelangt, sagte er sich, daß es höchste Zeit sei, die Lebensversicherung zu erhöhen. Wenn es aber darauf ankam, vergaß er sein verfettetes Herz so gut wie sein Gewicht und kletterte sogar über eine anderthalb Meter hohe Brüstung oder schlich laut los auf Zehenspitzen fünf Etagen eines Hauses empor. Seit seinem Besuch in Curentin hatte er die ganze Zeit über den Fall nachgedacht. Die Intuiti on hatte ihm zugeflüstert, daß die Tragikomödie um die Erbschaft sich noch im ersten Akt befand, und daher war es verständlich, daß er mit einem tiefen Grunzer die Mitteilung zur Kenntnis nahm, der Tod habe, wie sein Lieblingsautor Benjamin Bratt, einer der Begründer des englischen Antiro mans, zu sagen pflegte, nun seinen ersten Apfel gepflückt. Dorothy erwartete ihn an der Auffahrt und staunte nicht wenig, wie flink der Dicke diesmal aus seinem Wagen sprang, wie kurzangebunden er seine Fragen stellte und wie energisch er sei nen Leuten die nötigen Anweisungen gab. Nach dem er die Leiche und den Tatort besichtigt hatte, ordnete er an, Dorothy sollte dafür sorgen, daß alle Schloßbewohner bis auf weiteres in ihren Zimmern blieben, er wolle zuerst Arvin verhören.
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«Wo können wir ungestört reden?» erkundigte er sich. «Am besten in der Bibliothek», schlug Dorothy vor, die gar nicht mehr daran dachte, daß Ann dort in ihrem Sessel in tiefen Schlaf versunken war. Als der Inspektor und Arvin die Bibliothek betraten, deren Wände mit Büchern vollgestellt waren, die kein Mensch in den letzten fünfzig Jah ren gelesen hatte, empfing sie ein eigenartiges Pfeifen. «Das ist meine Frau», erklärte der junge Ar chäologe. «Soll ich sie wecken? Das wird aber recht schwierig sein, sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen.» Bailey beschaute sich Ann, erkundigte sich, warum sie in einem Sessel statt in einem Bett schlief, und als er alles über sie erfahren hatte, entschied er, sie solle weiterschlafen. Das pfeifen artige Schnarchen entlockte ihm zum ersten Mal im Verlauf des Morgens ein Schmunzeln. Und die sem Schmunzeln folgte ein zweites, als er ein lei ses schüchternes Klopfen an der Tür vernahm. Die Lippen beleckend, wandte er sich an Arvin: «Es werden wieder acht Flaschen sein. Die gute Seele des Hauses will mich in Porter ertränken.» Dann öffnete er die Tür. Die gute Seele, wie immer schwarz gekleidet, würdig und doch verlegen, hielt einen Korb in ih rem Arm und suchte nach Worten, mit denen sie ihre Gabe dem Inspektor offerieren konnte.
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Bailey setzte eine abweisende Miene auf und zeigte mit dem Daumen auf eine Ecke: «Dorthin, und nicht bevor die Verhöre abgeschlossen sind.» Kaum hatte Patricia die Tür hinter sich ge schlossen, forderte er Arvin auf: «Machen Sie uns eine Flasche auf; die Verhöre können bis zum späten Abend dauern, und ich habe keine Lust, als Märtyrer der Kriminalistik zu enden.» Nachdem er eine dreiviertel Flasche in einem Zuge geleert hatte, fragte er: «Warum haben Sie bei Shannon übernachtet und sind nicht schon ge stern hierhergekommen?» «Weil Lockridge mich erst um fünf Uhr zu sich bestellt hatte, um mich über die Einzelheiten die ser unerwarteten Erbschaft zu unterrichten.» «Einen Mann, der fünfzigtausend Pfund erbt, bestellt ein Anwalt nicht zu sich», bemerkte Bai ley. «Der kommt angetrippelt, wann und wo Sie ihn bestellen.» «Ich habe in dieser Hinsicht noch keine Erfah rung. Bisher habe ich nie mehr als hundert Pfund auf einem Haufen gesehen. Archäologe ist eine Tätigkeit, bei der man kein Geld scheffelt.» «Bis zur Ankunft Ihrer Frau haben Sie die Nacht friedlich in Ihrem Bett verbracht?» «Nein. Ich habe nicht einmal die Hälfte der Nacht in meinem Bett verbracht. Ich bin mehrere Stunden in der Gegend herumgelaufen. Ich hatte ein Problem zu lösen, und da kann ich nie schla fen.» «Welches Problem?»
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«Was ich mit dem Geld anfange. Ich konnte gar nicht fassen, daß ich so einen Haufen erben soll.» «Also Sie sind spazierengegangen, damit Sie besser überlegen können. Gut, so was gibt es. Auch wenn, mehrere Stunden eine reichlich be messene Zeit für ein nächtliches Nachdenken sind.» «Ich schaue nicht auf die Uhr, wenn ich etwas überlege, sowenig wie Sie die Porterflaschen zäh len, die Sie beim Nachdenken leerglucksen. Oder?» Bailey überhörte diese unverschämte Anspie lung und wollte gerade die nächste Frage stellen, als Sergeant Williams ihn für einen Augenblick hinausbat. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht nach denklich. «Wissen Sie noch, wo Sie in der Nacht spazie rengegangen sind?» fragte er. «Durch Walsh. Und als ich das Städtchen hinter mir hatte, lief ich weiter. Da waren Wiesen und ein kleiner Wald, genau weiß ich es nicht mehr, ich bin ja in der Gegend fremd.» «In die Nähe des Schlosses sind Sie zufällig nicht gekommen?» Arvin zögerte einen Augenblick. «Doch.» «Und was wollten Sie hier mitten in der Nacht?» «Ich wollte mir das Schloß ansehen. Der Mond schien hell…»
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«Es war so gut wie kein Mond, weil der Himmel bewölkt war. Ab und zu kann ich auch nicht schla fen», bemerkte Bailey. «Nun ja, deshalb bin ich ja auch umgekehrt. Ich gebe zu, es war eine Schnapsidee von mir, viel habe ich nicht zu sehen bekommen.» «Im Park waren Sie nicht?» «Wie sollte ich denn, das Tor war abgeschlos sen. Und ich bin kein Spezialist wie Evans, der mit einem Dietrich sogar einen Safe öffnen konnte.» «Könnten Sie diese Aussage unter Eid wieder holen?» «Worauf wollen Sie hinaus? Daß ich Sie belü ge?» «Genau das, mein Sohn. Und ob Sie mich belü gen.» Bailey fingerte in der Jackettasche herum und holte einen Kupferring hervor, den er auf die Handfläche legte und Arvin vor die Nase hielt. «Kennen Sie das?» «Selbstverständlich, das ist der Dichtungsring einer Autokerze.» «Nicht einer Autokerze, sondern Ihrer Autoker ze. Ford, Modell 1924. Und wo, meinen Sie wohl, hat Williams diesen Ring gefunden? Zehn Meter entfernt vom Haupteingang neben der Mauer. Auf der Parkseite. Beim Rüberklettern oder Runter springen ist er Ihnen aus der Tasche gefallen. Meine Leute haben auch entdeckt, daß Sie beim Sprung ausgerutscht und auf die Nase gefallen sind. Dann sind Sie, nehme ich an, bis zur Auf fahrt spaziert. Obwohl der Mond kaum schien, sind Sie dort stehengeblieben, um das Schloß zu 96
betrachten, bis ein zweiter Nachtwandler, nämlich Dr. Evans, aus dem Schloß kam, um ebenfalls ei nen Spaziergang zu machen. Daß er dies bald je de zweite Nacht tat, konnten Sie in Walsh von ei nem Dutzend Leuten erfahren haben, nicht zuletzt von Bill Shannon selbst. Und was sich daraus er gibt, kann man sich an fünf Fingern ausrechnen.» «Daraus ergibt sich gar nichts. Oder höchstens ein blödsinniger Verdacht, der keinen anderen Nährboden hat als das schlechte Funktionieren Ihrer grauen Gehirnganglien. Sie sind ein alter Esel.» Vor der Obrigkeit hatte Arvin wenig Re spekt. «Esel oder nicht», meinte Bailey, nicht im ge ringsten beleidigt, auf eine penetrant freundliche Art. «Eines steht für mich fest. Sie konnten alles über das Testament und die anderen Erben schon in London erfahren haben. Und nun nehmen wir einmal an, Sie setzen sich mit Evans in Verbin dung, bekommen heraus, was er da im Keller treibt, und beschließen, der Alleinerbe zu werden. Weiter: Der Sprenganschlag auf Ihre lieben Miter ben ging aus dem oder jenem Grund daneben, und Evans vermutete, daß nur Sie der Attentäter gewesen sein konnten. War es so, dann liegt auch auf der Hand, warum Sie nunmehr ihn, wenn nicht in die Luft, so ins Wasser befördern mußten. Nun, was sagen Sie dazu?» «Sag nichts, hau ihm eine runter, daß ihm das ganze Porter aus der Nase spritzt», kam es von dem Sessel, in dem Ann bis zum Ausspruch dieses
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aggressiven Satzes leise Pfeiftöne von sich gege ben hatte. «Seien Sie doch nicht so grob, Mrs. Conroy», grunzte Bailey wohlwollend, als tätschle er einem netten, aber ungezogenen Kind die Backe. «Übri gens sollten Sie Ihren Schauspielerberuf an den Nagel hängen. Sie werden es, da gibt es für mich keinen Zweifel, nicht weit bringen.» Daß sie keine große Begabung war, vielmehr eine kleine oder gar keine, wußte Ann nur zu gut. Aber diese Erkenntnis auszusprechen gestattete sie nur sich selbst und keinem anderen. «Sie dicker Biber», fauchte sie den Inspektor an. «Wann und wo haben Sie mich denn spielen sehen?» «Ich habe gehört, wie Sie wirklich im Schlaf pfeifen und dann die letzten fünf Minuten das Pfei fen spielten. Und das war eine miserable Lei stung.» Arvin stand auf. «Es war eine nette Unterhal tung mit Ihnen, Sie bezahlter Mörderjäger, aber alles Schöne hat sein Ende, und nun machen wir Schluß.» «Noch eine Frage.» «Keine.» Arvin ging zur Tür. «Dann eine kleine Ermahnung. Verlassen Sie Walsh nicht, bevor ich es Ihnen gestatte, sonst lasse ich Sie einbuchten, und dann werden Sie keine Spaziergänge mehr machen können. Weder tags noch nachts.» Dorothy wurde als nächste verhört. Bailey bat sie, ihm zu erzählen, wie der gestrige Tag nach 98
seinem Weggang verlaufen war, und hakte erst ein, als sie auf den späten Besuch von Dr. Evans zu sprechen kam. «Hatten Sie den Eindruck, daß er wirklich wuß te, wer die Halle in die Luft sprengen wollte?» «Bei Evans konnte man nie genau wissen, wor an man war.» «In dem Augenblick, als er es Ihnen sagen wollte, trat Ihr Butler ein und berichtete von dem gestohlenen Whisky? War das nur ein Zufall, oder hat er an der Tür gehorcht?» «Auch das kann ich nicht genau sagen.» «Dann die letzte Frage.» Bailey stellte die fünf te leere Flasche neben sich auf den Boden. «Kön nen Sie mir wenigstens sagen, ob Sie die letzte Nacht außerhalb Ihres Bettes verbracht haben? Sie verstehen, das ist eine reine Routinefrage, aber ich bin verpflichtet…» «Ich verstehe Sie nur zu gut, Inspektor. Sie sind es den Pennies der Steuerzahler schuldig, Ihrer Pflicht als Beamter gewissenhaft nachzuge hen. Ob ich die letzte Nacht außerhalb meines Bettes verbracht habe? Aber ja, selbstverständ lich! Doch leider kann ich Ihnen nicht verraten, wo ich sie verbracht habe. In meinen Jahren muß man Diskretion üben», sagte sie scheinheilig. «Al so verdächtigen Sie mich immer noch?» «Warum sollte ich nicht?» fragte Bailey lie benswürdig zurück. «Stimmt. Wenn Sie nur eine Woche lang mit diesen Ekeln zusammenleben, das heißt die Mahl zeiten einnehmen und jeden Abend Bridge spielen 99
müßten, wären auch Sie reif für ein Irrenhaus oder für ein Dutzend Mordversuche. Und auch Sie würden zu Gott beten, daß wenigstens einer von ihnen gelänge.» «Das könnte ich als ein Geständnis werten, aber ich nehme es nicht zur Kenntnis.» Der In spektor öffnete feierlich die sechste Flasche. «Nur eine Bitte noch. Wenn Ihr Butler versuchen sollte, Sie auszuhorchen, was Sie mir über ihn erzählt haben, sagen Sie ihm nichts davon.» «Verdächtigen Sie ihn?» «Wer ein richtiger Kriminalist ist, schließt bei der Untersuchung eines Falles sogar sich selbst nicht als Täter aus», witzelte Bailey. Dann bat er, den Butler in die Bibliothek zu schicken. Als Fisher eintrat, von Kopf bis Fuß Diskretion und Würde, tat Bailey, als würde er ihn gar nicht bemerken. Ohne sich im Sessel umzudrehen, fuhr er ihn plötzlich an: «Nun, Sie alter Lügner, Heuch ler und Erpresser, was können Sie als Beweis Ih rer Unschuld in diesem Falle vorbringen? Wo ha ben Sie sich die letzte Nacht herumgetrieben?» «Sir, ich möchte doch sehr bitten, daß Sie nicht einen solchen Ton anschlagen…» «Ich habe gesagt alter Lügner, Heuchler und Erpresser, und dabei bleibt’s. Oder soll ich Ihnen in Erinnerung rufen, warum Sie im Jahre 1953 zweieinhalb Jahre in Haytown absitzen mußten? War es etwa keine Erpressung, als Sie von dem Möbelfabrikanten Stephens fünfhundert Pfund verlangten, um nicht zu verraten, daß er ein Ver
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hältnis mit seiner Sekretärin hatte? Und was ha ben Sie danach getrieben?» «Ich war im Fernen Osten auf verschiedenen Handelsschiffen, die auch Passagiere mitzuneh men pflegen, Steward und habe mich einer so un tadeligen Führung befleißigt, wie es für einen reuigen und bekehrten…» «Mensch, halten Sie die Klappe, sonst kriege ich von Ihren hochgeschraubten Redewendungen den Schluckauf. Nennen Sie mir die Namen der Schiffe.» Fisher hatte keine Mühe, sich der Schiffe zu er innern, er wußte auch genau die Zeit, die er auf jedem von ihnen verbracht hatte. «Und warum sind Sie nach England zurückge kehrt, Sie Lügner, Heuchler und Erpresser?» In Fishers Augen flackerte Haß auf. «Bestimmt nicht, um solchen… Menschen wie Ihnen zu begegnen.» «Glaube ich Ihnen gern. Ich habe so ein Gefühl, daß ich Ihnen das Leben noch zur Hölle machen werde, und mein Gefühl täuscht mich selten. Ha ben Sie ein Alibi für gestern nacht?» «Selbstverständlich, Sir.» Fisher war wieder ganz der würdige, beherrschte Butler. «Ich ver brachte die Nacht in meinem Bett mit dem Kam mermädchen Rose. Das wird sie Ihnen bestätigen können, und wenn Sie ihr nicht glauben sollten, so gibt es noch einen Beweis dafür.» «Was für einen Beweis?» «Rose leidet unter Haarausfall, und wenn Sie das Kissen und das Bettzeug untersuchen, werden 101
Sie dort bestimmt, wie es mir schon öfters pas siert ist, ein paar Haare finden, die nicht auf mei nem Kopf gewachsen sind.» Die Antwort war ein glatter Hohn, doch statt Fi sher anzubrüllen, bemerkte der Inspektor schein bar friedfertig: «Das läßt sich hören. Und nun ste hen Sie nicht mehr länger herum, setzen Sie sich. Aber bitte natürlich und nicht so, daß ich Ihre Ge lenke knarren höre.» Fisher setzte sich auf den Stuhlrand. «Und jetzt erzählen Sie. Ist Ihnen in der letzten Nacht etwas aufgefallen?» «Sie werden sicher schon erfahren haben, daß Lady Thorp und Dr. Evans einander gut verstan den», begann Fisher. «Sie interessierte sich für seine Erfindungen, er plante, auch andere Räume des Schlosses als Laboratorien auszubauen.» «Wollen Sie andeuten, daß die beiden unter ei nem Hut steckten?» «Die Schlußfolgerung überlasse ich Ihnen.» «Warum haben Sie gestern abend hinter der Tür Lady Thorps gelauscht?» «Das habe ich gar nicht getan. Ich wollte ihr le diglich mitteilen, daß diese Museumsfigur von Co lonel heimlich ihren Whisky wegsäuft. Da hörte ich, daß Mylady und Dr. Evans ziemlich aufgeregt miteinander sprachen. Es fielen Worte wie: das hätte nicht passieren dürfen, Gehirnschwund, auf dem Friedhof nebeneinander liegen…» Bailey überlegte und entließ Fisher wider Erwar ten, ohne weitere Fragen zu stellen.
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Als er allein geblieben war, zeigte das Gesicht des Inspektors nichts mehr von der üblichen Jo vialität. Er sah müde und verknurrt aus. Er überlegte, ob er den Colonel und die ehema lige Postvorsteherin ebenfalls herunterzitieren sollte. Dann stand er schwerfällig auf, und mit ei nem bedauernden Blick verließ er die Bibliothek und stieg die Treppen hinauf zum ersten Stock. Dexter saß am Tisch, ihm gegenüber in einem Schaukelstuhl Stella Grady. Das Zimmer war vollgehängt und vollgestopft mit Bildern, Pokalen und eingerahmten Urkunden aus der ruhmvollen Vergangenheit des Colonels. Eine vergilbte Aufnahme zeigte ihn als Zögling der Harvard-Universität, eine andere als Sieger bei einem Golfturnier. Zwei silberne und ein Kristall pokal wiesen ihn als einen perfekten Springreiter aus. Am aufschlußreichsten waren aber die Foto grafien aus seiner zwanzigjährigen Dienstzeit. Ob es der Dschungel war, der den Hintergrund der Fotos bildete, oder die Wüste oder die Mauer ei nes Forts, immer stand oder saß Dexter inmitten einer Gruppe jüngerer Offiziere, und seine Hal tung ließ erkennen, daß er sich diesen Männern haushoch überlegen fühlte, daß er zu befehlen pflegte und die anderen gehorchen mußten. Was ihn aber auf allen Bildern auszeichnete, war die vollkommene Abwesenheit der geringsten Spur von Geist in seinem lächerlich wichtigtuerischen Gesicht. Nachdem Bailey einen Grunzer von sich gege ben hatte, den man ebensogut als einen Gruß wie 103
als Knurren einer beißwütigen Bulldogge deuten konnte, erlaubte er sich eine Geste, die dem Co lonel klarmachen sollte, wie er über ihn dachte. Ohne ein Wort zu sagen, langte er nach dem halbvollen Kognakschwenker auf dem Tisch und roch daran. «Ist das der Whisky, den Sie aus dem Weinkel ler geklaut haben?» Dexter fuhr hoch, als hätte ihn eine Vogelspinne ins Gesäß gebissen. «Was erlauben Sie sich, Sir! Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren, ich werde…» «Sie werden fünfhundert Pfund Strafe zahlen oder für sechs Monate Ihren Wohnsitz hier mit einer Drei-Mann-Zelle im Gefängnis von Liverpool vertauschen», bellte der Inspektor. Die Bulldogge in seinem Charakter gewann endgültig Oberhand. Harry Dexter hatte schon als Junge leicht ge schielt. Doch bis zum Eintritt Baileys war dieser Schönheitsfehler kaum bemerkt worden. Jetzt aber nahm das Schielen bedenkliche Formen an. Obwohl er den Inspektor, wie man so sagt, her ausfordernd fixieren wollte, hatte man den Ein druck, daß er, die Augen nach innen verdreht, nur seine eigene Nase fixierte und sein Gegenüber gar nicht sehen könnte. «Was wissen Sie über Dr. Evans? Wie waren seine Beziehungen zu Mrs. Thorp?» fragte Bailey die Postvorsteherin. Sie sollte erst ihr Herz er leichtern, ehe er zu einer konkreten Frage vor stieß.
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«Die beiden steckten immer zusammen.» Die Worte purzelten nur so aus ihrem Mund. «Der Evans war ja auch der einzige, der diese eingehei ratete Lady ausstehen konnte.» Dexter streckte die Hand nach dem Glas aus, doch Bailey griff schneller zu. Mit schöner Selbst verständlichkeit goß er den Inhalt des Glases in eine Vase mit Strohblumen. «Da ich Sie verhöre, möchte ich, daß Sie mög lichst genaue Angaben machen und nicht mit der Schnauze unter den Tisch fallen und den Teppich vollkotzen.» Harry Dexter schoß in die Höhe, doch ebenso schnell sackte er wieder auf seinen Stuhl zurück. Bailey war nicht nur ein wohlbeleibter, sondern auch ein kräftiger Mann. «Die beiden mochten einander?» forschte er weiter. «Es war Habgier und nichts als Habgier, daß sie zusammenhockten. Ich könnte beschwören, nie mand anders als diese eingeheiratete Dorfschul lehrerin hat den Evans dazu überredet, mit einer Bombe die Halle, in der wir saßen, in die Luft zu sprengen.» Auf den Wangen der Grady waren zwei rote Flecke erschienen. «Er wollte Sie beide in die Luft sprengen und saß mitten unter Ihnen?» «Das ist ja das Teuflische an dieser Person, die sich Mylady titulieren läßt, obwohl sie nur eine simple Dorfschullehrerin ist. Sie haßt jeden, dem sie nur zehn Pfund von dem Vermögen des armen Verstorbenen abgeben muß. Sie würde keinen 105
Augenblick zögern, tausend Menschen zu ermor den, wenn sie dadurch die Erbschaft allein an sich reißen könnte.» «Sie meinen also, sie wollte auch Evans um bringen?» «Selbstverständlich. Hätte sie sonst die Halle verlassen, ohne ihn mitzunehmen?» «Und weil der arme Mensch das erkannt hatte und nicht weiter ihr Komplize sein wollte, mußte er gestern nacht daran glauben», bemerkte der Colonel, der nach langem innerem Kampf seine Fassung wiedergefunden hatte. «Darüber gibt es keinen Zweifel. Sie hat ihn umgebracht und in den Teich geschleppt», er gänzte Stella Grady. «Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?» «Das nicht, aber ich habe einen Beweis dafür. Gestern nacht habe ich an der Tür dieser einge heirateten Dorfschullehrerin gestanden, weil ich… eine Schlaftablette von ihr wollte, und da hörte ich… nichts.» «Das ist wirklich ein erdrückender Beweis. Sie haben an Lady Thorps Schlafzimmertür herum spioniert und haben nichts gehört; deshalb folgern Sie, daß sie Dr. Evans auf dem Gewissen habe.» Stella Grady blickte ihn überheblich an. «Ich merke, Inspektor, Sie sind mit gewissen Charakterzügen der Thorp nicht vertraut. Sonst würden Sie wissen, worauf ich hinaus will.» »Worauf?» «Diese eingeheiratete Dorfschullehrerin ist, wie ich wiederholt bemerkt habe, im Grunde eine vul 106
gäre Person. Sie pflegt so laut zu schnarchen, daß man es selbst im Flur hört. Und weil es gestern nacht so still war, konnte ich nicht einschlafen und wollte nachsehen, was los ist. Sie war nicht in ih rem Zimmer. Das kann ich unter Eid beschwören. Ich bin wenigstens ein halbes dutzendmal aufge standen, um an ihrer Tür zu lauschen.» «An Evans’ Tür haben Sie zufälligerweise nicht gelauscht?» «Doch. Aber da war sie auch nicht.» «Und sonst haben Sie nichts im Hause gehört? Keine Schritte oder sonst irgendwelche Geräu sche?» «Nein. Es war alles ruhig, unheimlich ruhig.» «Und wann schliefen Sie endlich ein?» «So gegen vier Uhr.» Bailey erhob sich. «Das war alles, was ich wissen wollte.» Als er sich anschickte, das Zimmer zu verlas sen, wurde er von der Grady zurückgehalten. «Ich habe schreckliche Angst, Inspektor, daß noch etwas passiert… Könnten Sie nicht einen Kriminalbeamten zu unserem Schutz hierlassen?» «Warum packen Sie nicht Ihre Koffer, wenn Sie Angst haben, und verschwinden für einige Zeit?» brummte Bailey. «Aber das können wir doch nicht. Wir müssen zehn Jahre mit dieser Person zusammen leben, das ist eine Bedingung des armen verstorbenen Sir Robert.» «Wenn Ihnen das Geld mehr wert ist als Ihr Le ben, müssen Sie das Risiko eingehen, ebenfalls in 107
dem Froschtümpel zu landen. Das ist nun mal so.» Mit dieser boshaften Bemerkung verließ Bailey die beiden. Er verriet nicht, daß er noch heute ei nen Beamten aus Liverpool anfordern wollte, der das Schloß überwachen sollte. In der Halle, wo Handwerker dabei waren, die am Vortag entstandenen Schäden zu beheben, erwartete ihn Sergeant Williams. «Dr. Potter hat eben angerufen, Sir. Der Mann ist weder ertrunken noch ertränkt worden. Man hat ihn erwürgt. Wir haben in seinem Zimmer ei ne abgeschnittene Vorhangkordel gefunden, die höchstwahrscheinlich von dem Mörder benutzt wurde.» Als Bailey in seinem Dienstwagen Platz ge nommen hatte, zögerte er einen Augenblick, ob er den Fahrer anweisen sollte, ihn nach Hause zu bringen. Dann entschloß er sich trotz seiner Mü digkeit, noch Bill Shannon aufzusuchen. Kaum hatte sich der Wagen in Bewegung ge setzt, sank sein Doppelkinn auf die Brust, und trotz der holprigen Straße fiel er in tiefen Schlaf. Da auch er eine vulgäre Natur war, schnarchte er, daß man es durch das Dröhnen des Motors hörte.
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Neuntes Kapitel
Inspektor Bailey stattet der Gaststätte «Zur bluti gen Schmiede», wo es auch nicht mit rechten Dingen zugeht, einen überraschenden Besuch ab. Inzwischen ereignet sich ein zweiter Mord, bei dem leider die Leiche abhanden kommt.
Als der Wagen in die mit Katzenkopfsteinen ge pflasterte Hauptstraße von Walsh einbog, die zum Fischerhafen führte, dämmerte es schon. Ein fei ner Regen fiel, Nebel wallte vom Meer her über das alte Städtchen, durch seine schmalen Straßen und Höfe. Hier und da sah man in den Fenstern Licht aufblinken, aus der Ferne hörte man das Nebelhorn eines Schiffes. Vom Turm der Back steinkirche schlug die Uhr sechs. Der Fahrer drückte, nachdem er den Marktplatz passiert hatte, heftig auf die Hupe, um den In spektor zu wecken. In der «Blutigen Schmiede», die an diesem dämmrigen Spätnachmittag wirklich wie eine Räuberfalle für vorbeiziehende Kaufleute wirkte, war Bill Shannon nicht zu finden. Er sei mittags zum Fischen hinausgefahren und werde wahr scheinlich noch im Hafen sein, erklärte seine Haushälterin. Der kleine Schoner lag an dem Pier, aus dem in unregelmäßigen Abständen dicke Holzpfosten herausragten. Ein etwa drei Meter großer Delphin hing hochgehievt an der Mastwinde, und der Gastwirt in langen Fischerstiefeln und Südwester stand mit einem anderen Mann an Bord. Beide betrachteten fachmännisch die Beute. Der Fremde hatte eine Pfeife zwischen die Zäh ne geklemmt, die eher einem Feuerwerkskörper glich. Bei jedem Zug stoben knisternd Funkengar ben herum; der Tabak, den der Mann rauchte, schien mit Schießpulver gemischt zu sein. 110
«Kommen Sie, wir gehen zum Lokal und trinken einen. Der Regen wird immer stärker», forderte Shannon den Inspektor auf, noch ehe der einen Fuß auf das Schiff setzen konnte. Sie kannten einander, und der Gastwirt wußte bereits wie alle in Walsh, was im Schloß geschehen war. Doch Bailey hatte es nicht so eilig. Er kletterte auf das Deck des Schoners und beschaute sich den Kahn näher. «Ein Prachtexemplar, ich wußte gar nicht, daß es in unseren Gewässern so große Delphine gibt. Womit habt ihr denn das Biest ge fangen?» Er blickte sich nach dem anderen Mann um. Der war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. «Kommen Sie, kommen Sie, Inspektor, gleich wird es gießen», drängte der Gastwirt. «Ein Prachtexemplar, wirklich», wiederholte der Inspektor. «Lassen Sie doch einmal dieses Mee reswunder auf das Deck gleiten. Ich möchte es näher betrachten.» Shannon suchte nach einer Ausrede, doch der Inspektor gab nicht nach, und so blieb dem fi schenden Gastwirt nichts anderes übrig, als der Forderung nachzukommen. Er ließ den Delphin an der Winde herab und meinte dann mit einer Stimme, die gleichmütig klingen sollte: «Ich habe schon größere gefangen; an dem Tier ist nichts Besonderes dran.» «Geben Sie mir das Messer da. Ich möchte mal in so einem großen Fisch herumstochern.»
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«Wozu wollen Sie in ihm rumstochern, das ist doch… nein, ich gebe es Ihnen nicht.» Shannon versteckte das Messer hinter seinem Rücken. «Warum?» Bailey grinste. «Ich habe nämlich gehört, daß es eine Sorte Delphine gibt, die in ih ren Adern statt Blut echten Bourbon haben. Und es sieht mir ganz danach aus, als ob dieser Wun derdelphin einer von der Sorte wäre. Stellen Sie sich mal vor, ich steche in seinen Bauch ein Loch, und da sprudeln zwei Fässer echter französischer Kognak heraus! Das brächte mehr ein, als ich im ganzen Jahr verdiene, wenn ich die Pennies der Steuerzahler vergeude.» Shannon war, wie der Volksmund sagt, ge klatscht, doch zugleich war er ein vernünftiger Mensch, der die Schläge des Schicksals mit einem gewissen Humor hinzunehmen verstand. «Also gut, zapfen Sie meinen Delphin an. Aber das sage ich Ihnen, bevor Sie mich verhaften und abführen, saufe ich mir einen an, daß von Abfüh ren keine Rede mehr sein kann. Sie werden mich auf einer Bahre wegtragen müssen.» «Lassen Sie uns erst einen Tropfen von Ihrem Qualitätskognak kosten. Dann werden wir beide zusammen entscheiden, was geschehen soll.» Shannon, der sofort merkte, daß ein rettender Engel, aus welchen Gründen immer, sein sündiges Haupt umschwebte, war nur zu gerne bereit, den in diesem Fall korrupten Inspektor bis zum Hals mit Kognak zu füllen.
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Beide stiegen hinab in die Kajüte des Schoners. Dort war es gemütlich warm, eine blankgeputzte Petroleumlampe verbreitete behagliches Licht. Es war für den Inspektor ein angenehmer Abend. Ihm gegenüber saß ein Gesetzesübertre ter, der gutgelaunt und witzig zu einer Unterhal tung beisteuerte, die ihn vergessen ließ, daß ja Schmuggel eigentlich ein Verbrechen war. Shannon wies ihm nach, daß eher das Gegenteil der Fall sei. «Schmuggel ist immer ein Wagnis und eine Herausforderung der bestehenden Ge sellschaftsordnung», predigte der Inhaber der «Blutigen Schmiede». «Und ich als Vertreter der arbeitenden Menschen…» «Nun machen Sie mal halt, Sie arbeitender Mensch, und beantworten Sie mir eine Frage. Aber ehrlich, sonst lasse ich Sie einsperren, und Sie werden in den nächsten Jahren die Delphine und das Folterwerkzeug Ihrer Kneipe nur im Traum sehen.» «Ich kann gar nicht anders, als ehrlich und auf richtig zu sein. Zumindest Ihnen gegenüber», be teuerte Shannon. «Also was soll ich gestehen?» «War Mrs. Thorp gestern abend in Ihrer Folter spelunke?» Shannon nickte. «Aber das hat nichts zu bedeuten, ich meine im Zusammenhang mit dem Mord», fügte er schnell hinzu. «Es ist nicht das erstemal, daß sie bei mir übernachtet, wenn sie mehr als drei Gläser ihres Höllenabsuds getrunken hat.»
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«Wann ist sie denn gestern bei Ihnen aufge taucht?» «So gegen elf.» «Und wo haben Sie sie untergebracht?» «In dem Zimmer neben dem Bad. Das liegt sehr abgelegen, und niemand stört sie dort.» «Könnte sie die Gaststätte verlassen haben, ohne daß es jemand bemerkte?» «Nun ja, möglich wäre es.» «Zeichnen Sie mir den Grundriß des Hauses auf!» Bailey holte einen Bleistift hervor und riß ein Blatt aus dem Notizbuch. «Und dann zeigen Sie mir, wo dieser Conroy übernachtet hat.» «In diesem hier.» Shannon wies mit dem Blei stift auf ein Viereck, gerade gegenüber der Stelle, die das Zimmer darstellte, in dem Dorothy Thorp ihren Pfefferteufelstrunk innerlich verarbeitet hat te. «Also ist es durchaus möglich, daß die beiden so eine nette Unterhaltung geführt haben wie wir jetzt?» Auch das mußte Shannon zugeben. Draußen fauchte der Wind, platschten die Re genböen gegen das Deck des Schoners, zerschell ten die Wogen an der Hafenmole. Um so gemütli cher war die Geborgenheit in der Kajüte. Trotzdem wurde Shannon trübsinnig. «Ich weiß, worauf Sie hinauswollen», meinte er. «Überhaupt, Sie sind ein verdammt listiger und tückischer Kerl; ich bin noch keinem zweiten Ihrer 114
Sorte begegnet. Ein anderer Kriminaler würde mich einem scharfen Verhör unterziehen und rein gar nichts herausbekommen. Ich hätte ihn so an der Nase herumgeführt, daß er nicht mehr die Ausgangstür ohne meine Hilfe gefunden hätte. Sie dagegen watscheln hier kreuzfidel an, finden so nebenbei heraus, daß ich der Schmuggelleiden schaft verfallen bin, trinken meinen geschmuggel ten Kognak, und ohne daß ich es recht merke, habe ich Ihnen bereits alle meine Geheimnisse anvertraut. Sogar die Sache mit meiner Tante Co relia und dem Engel, den sie für dreitausend Pfund bei einem Bildhauer für ihr Grab bestellte, und warum? Weil sie ihren Verwandten keinen Shilling vererben wollte. Und jetzt verdächtigen Sie Dorothy und den jungen Conroy, und ich bin schuld daran.» «Vielleicht verdächtige ich sogar Sie. Es ist doch durchaus vorstellbar, daß Sie Ihrer Jugend freundin die Miterben aus dem Wege räumen wol len, um sie dann, in weißen Atlas gehüllt, als Braut zum Altar zu führen.» Als der Inspektor eine Stunde später die Kajüte verließ, hatte sich der Wind zu einem Sturm ge steigert, so daß man kaum das eigene Wort verstand. Er mußte aus Leibeskräften brüllen, als er Shannon diskret mitteilte, er werde den kognak gefüllten Delphin aus seinem Gedächtnis strei chen. Er werde aber seine Kollegen vom Zoll dar auf aufmerksam machen, daß es Delphine gebe, die in ihrem Eingeweide Meerwasser zu Kognak 115
veredeln, und deshalb empfehle er Shannon, sei ne Schmuggelleidenschaft künftig zu unterdrük ken. Zu Hause angelangt, mußte Bailey trotz aller Müdigkeit noch einen Bericht für das Präsidium schreiben. Aber auch in seinem Bett fand er keine Ruhe. Auf dem Nachttisch tickte laut der Wecker, ein billiges Ding, das er für fünf Shilling im Waren haus gekauft hatte. Ihm schien dieses Ticken von einer Höllenmaschine zu stammen, er mußte da bei immer an die Bombe in Curentin denken… Endlich schlief er doch ein. Ein schrilles Klingeln ließ ihn hochfahren. Es war aber nicht der Wecker, sondern das Telefon. Als er den Hörer fluchend abnahm, war Stella Grady am Apparat. Sie konnte vor Aufregung kaum sprechen. Während der Inspektor und Shannon in der Kajü te des Schoners das Leben in flüssiger Form ge nossen, brachte Arvin seine Frau nach Walsh in die «Blutige Schmiede» zurück, wo sie übernach ten sollte. «Dort bist du auf jeden Fall in Sicherheit.» «Und wenn ich morgen komme und man dich aus diesem moddrigen Ententeich rausfischt?» fragte Ann nicht besonders besorgt. Offenbar glaubte sie selbst nicht an eine solche Möglichkeit. Arvin lachte ein wenig zu laut. «Diesmal wird dem Mörder bestimmt was Neu es einfallen.» 116
Nach Curentin zurückgekehrt, suchte er Doro thy auf. Sie saß mit angezogenen Beinen auf der Couch und rauchte aus einer dreißig Zentimeter langen Spitze eine schwarze Gauloise. «Ich trau mich gar nicht mehr aus dem Zimmer heraus», klagte sie. «Und sogar hier zwischen meinen vier Wänden verspüre ich das Bedürfnis, in jeder Ecke und unter der Couch nach einem Mörder zu suchen. Und bestimmt steht jemand draußen, um zu lauschen.» Arvin riß die Tür auf. Im schwach beleuchteten Korridor war niemand. Aber am Ende des Ganges bewegte sich lautlos ein Schatten, der im näch sten Augenblick verschwand. Wer war es gewe sen? Die Grady, Fisher oder Dexter? Als er in das Zimmer zurückkehrte, drehte er den Schlüssel um, stellte Musik im Radio an, holte ein Schachspiel und setzte erst dann seine Unter haltung mit Dorothy fort… Die Figuren auf dem Schachbrett waren unbe rührt geblieben, als Arvin in Socken, die Schuhe mit den zusammengebundenen Schnürsenkeln um den Hals, Dorothy verließ. In der Hand hielt er eine Taschenlampe. Er schlich bis zum Ende des Korridors, öffnete die Tür zu der weitläufigen Galerie. Dabei stellte er fest, daß die Scharniere frisch geölt waren und nicht den geringsten Laut von sich gaben. Zu beiden Seiten führten Treppen von der Gale rie zur Halle hinab. Er trat an die Balustrade, schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete 117
damit die Halle ab. Überall sah man noch die Spu ren der Explosion, klaffende Risse in den Wänden, ein beinahe zwei Meter großes Loch im Fußbo den… Ein betäubender Schlag sauste auf seinen Hin terkopf nieder, das Splittern des hölzernen Gelän ders wurde von einem Schrei des Schmerzes übertönt, dann stürzte er nach einem heftigen Stoß in den Rücken kopfüber sechs Meter tief auf die steinernen Fliesen der Halle hinab. Dort blieb er, die Arme gespreizt, den Kopf un natürlich zur Seite gedreht, regungslos liegen. Neben seinem Kopf bildete sich schnell eine Blut lache. Stella Grady, die, anscheinend wieder einmal von Schlaflosigkeit geplagt, ihren Rundgang machte, hörte den Schrei und entdeckte, in die Halle stürzend, den auf dem Steinboden liegenden Conroy. So sagte sie jedenfalls später bei ihrer Vernehmung aus. Merkwürdigerweise weckte sie keinen der Hausbewohner, sondern rief nach kurzer Überle gung den Inspektor an. Bailey tunkte seine Leibesmasse in die Wanne mit heißem, um nicht zu sagen kochendem Was ser. Krebsrot und nach Luft japsend, duschte er sich anschließend kalt und fühlte sich danach wie der so frisch, daß er sich ans Steuer des Wagens setzen konnte. Zu seiner Verwunderung entdeckte er in keinem der Fenster des Schlosses einen Lichtschimmer. Alles schien in tiefen Schlaf versunken zu sein. Da 118
öffnete sich das Haupttor, vor dem er stand, und Stella Grady tauchte vor ihm auf. «Gott sei Dank, Inspektor, daß Sie endlich da sind», hauchte sie. «Nachdem ich den Toten un ten in der Halle entdeckt hatte, fühlte ich deutlich, daß mich jemand heimlich beobachtete. Da habe ich mich zwischen den beiden Schränken im Flur versteckt, um gleich an der Tür zu sein.» «Woher wissen Sie, daß Conroy tot ist?» «Ich war im Krieg Krankenschwester und werde wohl einen Verletzten von einem Toten unter scheiden können.» Gleich links am Eingang war der Lichtschalter. Bailey knipste ihn an. Das Licht leuchtete nicht nur in dem großen Kronleuchter, sondern auch in einer Stehlampe auf. «Dort… dort liegt er!» An der Stelle, auf die Stella Grady zeigte, lag aber niemand. «Das ist doch unmöglich», stieß sie aus. «Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen!» «Dann gibt es eben Tote, die nicht erst am Jüngsten Tag auferstehen.» Dieser zynische Scherz gab; aber keinesfalls des Inspektors wahre Stimmung wieder. Die Blut lache auf den Fliesen ließ keinen Zweifel daran, daß hier zumindest ein Schwerverletzter gelegen hatte. Und als er das zerbrochene Geländer der Balustrade untersuchte, fand er Spuren, die ein deutig auf eine Gewalttat hinwiesen. Das Gelän der war angesägt worden.
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Als die übrigen Bewohner des Schlosses sich in der Halle eingefunden hatten, teilte Bailey ihnen mit, was geschehen war. Dorothy hatte Lockenwickler in den Haaren, doch sie hatte sich einen seidenen Schal um den Kopf gewunden, um einigermaßen menschlich auszusehen. Fisher wirkte verstört und nicht re spektheischend wie sonst. Dexter, leicht wankend, brabbelte etwas, als verstünde er gar nicht, war um er mitten in der Nacht aus dem Bett geholt worden war. Patricia stand in einem langen violet ten Nachthemd da, das wie alles, was sie trug, ihre pessimistische Lebensanschauung durch schwarze Spitzen bekundete. Bailey überlegte kurz, dann rief er Williams und das Präsidium in Liverpool an. Das törichte Te stament des verstorbenen Thorp wurde zu einer tödlichen Gefahr für alle, die er als seine Erben benannt hatte. Die Durchsuchung des Gebäudes, die er zu sammen mit Williams vornahm, ergab nicht den geringsten Hinweis, wo Conroy geblieben sein konnte. Als Ann von dem Verschwinden ihres Mannes erfuhr, büßte sie ihre schnoddrige Art ein und brach in Tränen aus. «Glauben Sie wirklich, Inspektor, daß er umge bracht worden ist?» fragte sie schluchzend. Bailey entschloß sich, ihr die Wahrheit zu sa gen.
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«Ich weiß es nicht. Und um ganz ehrlich zu sein, ich begreife auch nicht, warum man ihn weggeschafft hat.» Es war Shannon, der Ann Trost und Mut zu sprach, und als sie sich endlich wieder zur Ruhe begab, hatte sie das Gefühl, daß die «Blutige Schmiede» mit ihren Folterwerkzeugen, vergli chen mit Curentin, ein geruhsamer Ort war.
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Zehntes Kapitel
Die Ereignisse überstürzen sich; die Konflikte fordern ein drittes Opfer, und Sergeant Williams wird böswillig in der Speisekammer eingeschlos sen. Den herzkranken Lesern wird empfohlen, das Buch an dieser Stelle beiseite zu legen, da für et waige Folgen nicht gehaftet wird.
Es verging fast eine Woche, ohne daß ein unge wöhnliches Ereignis die Bewohner Curentins beun ruhigte. Arvin blieb verschwunden, Evans wurde auf dem alten Friedhof in aller Stille beigesetzt. Der Anwalt Lockridge strich ihn aus der Liste der Erben, seinen Anteil teilte er unter die Überleben den auf. Inspektor Bailey mußte sich voll Unbehagen ge stehen, daß er immer noch im dunkeln tappte, obwohl der Kreis der Verdächtigen eng umgrenzt war. Alle waren verdächtig, aber keinem war et was nachzuweisen, es gab keine Indizien, die zu einer Verhaftung berechtigt hätten. Fast jeden Tag schnüffelte Bailey in Curentin herum, durch forschte jeden Winkel des verwilderten Parks, verhörte die Bewohner des Schlosses, studierte die Berichte über das Vorleben jedes Verdächti gen. Der Fall hatte ein nicht unbeträchtliches Aufse hen in der Presse erregt. Reporter belagerten das Büro des Inspektors, hockten in der «Blutigen Schmiede», schlichen um das Schloß. Einer, der besonders schlau sein wollte, verschaffte sich, als Schornsteinfeger verkleidet, Einlaß. Aber er stieß auf Patricia. Mit einer Kelle, mit der sie gerade in einem Topf Erbsenpüree rührte, ging sie auf den falschen Schornsteinfeger los, und er konnte sich glücklich schätzen, daß er ohne Beulen davon kam.
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Das nächste Opfer des von Robert Thorp so hin terhältig verfaßten Testamentes wurde Stella Grady. Nach dem Abendessen, das sie mit Dorothy und dem Colonel gemeinsam eingenommen hatte – Fisher servierte, und Patricia hantierte in der Kü che –, stand sie auf und trat auf die Terrasse. Sie hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust und wollte frische Luft schöpfen. Sie blickte zum Fenster ihres Zimmers hinauf. Es war erleuchtet. Und sie hätte schwören kön nen, daß sie das Licht ausgeschaltet hatte. Mochte sie so ziemlich alle Eigenschaften eines selbstsüchtigen Menschen in sich vereinen, furcht sam war sie nicht. Hinzu kam, daß sie sich einen Waffenschein besorgt hatte und eine Pistole, die sie immer in der Handtasche bei sich trug. Von der Terrasse bis zum hinteren Eingang wa ren es nur wenige Schritte. Sie stieg leise die Treppe hinauf. Vor ihrem Zimmer blieb sie stehen. Drinnen war kein Laut zu vernehmen. Sie riß die Tür auf und hätte fast einen Schrei ausgesto ßen. Der Raum war dunkel. Instinktiv wollte sie nach dem Schalter greifen, da fühlte sie, wie das Blut in ihren Adern gefror. Eine Hand legte sich auf ihren Mund, die andere entriß ihr die Pistole. Dann raunte ihr eine rauhe Stimme zu, wenn sie einen Ton von sich geben würde, wäre es um sie geschehen. Darauf zerrte der Einbrecher sie zu dem massiven Eichenschrank und sperrte sie dort ein.
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«Ich wäre beinahe erstickt, weil ich nicht ein mal zu atmen wagte», berichtete sie später dem Inspektor und allen anderen, die es hören wollten. So schlimm war es zwar nicht gewesen, aber Qualen hatte sie doch ausstehen müssen. Im Schrank hingen mehrere Mäntel und ein Pelz, die noch vom Winter her eingemottet waren. Als die Grady unsanft zwischen diese Kleidungsstücke gestoßen wurde, drang das Mottenpulver in ihre Nase, und sie konnte nur unter Aufbietung ihres ganzen Willens das Niesen unterdrücken. «Hätte ich nur einmal geniest, wäre ich jetzt sowenig am Leben wie der arme Evans oder Arvin Conroy», meinte sie, als Bailey mit ihr zusammen den Raum untersuchte. Nichts wies darauf hin, daß der geheimnisvolle Eindringling etwas gesucht hatte. Wäre nicht die Pistole entwendet worden, hätte der Inspektor ihr kaum Glauben geschenkt. Dorothy ging sogar so weit, daß sie die Arme bespöttelte und andeutete, sie hätte wohl den ganzen Überfall nur im Traum erlebt. Zuerst hatte sich Stella Grady beleidigt mit spitzen Antworten zur Wehr gesetzt, dann wurde sie nachdenklich und schweigsam. Und als Dexter mit einer überirdischen Theorie ihr Erlebnis deu ten wollte, fuhr sie ihn an: «Schluß jetzt mit dem Gefasel. Ich bin ja bereit, alles mitzumachen, meinetwegen auch das spiritistische Untertassen schieben, wenn es dir Spaß macht. Aber wenn es um mein Leben geht, dann hört der Spaß auf.»
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Sie saß wie üblich in Dexters Schaukelstuhl, wäh rend er im Zimmer auf und ab ging. «Aber meine Liebe, ich meinte es ja nicht böse, ich bin ja nur besorgt um dich.» Der Colonel machte eine ziemlich klägliche Figur. «Wenn du weiter nichts zu sagen hast, als daß irgendein Gespenst mich in den Schrank sperrte, kannst du deine Weisheiten für dich behalten. Nein, jetzt rede ich», raunzte sie ihn an, als er einen schwachen Versuch machte, ihr zu wider sprechen. «Hier», sie tippte mit ihrem sehnigen Zeigefinger an die Stirn. «Hast du denn immer noch nicht begriffen, worum es geht? Und daß wir die nächsten sind, wenn wir nichts unternehmen? Sie bringt uns mit demselben Gleichmut um wie neulich den Karpfen, den sie in der Küche schlachtete.» «Wer? Patricia?» Durch Stella Gradys Kopf gingen zwei Gedan ken. Der erste: Und wenn er der einzige Mann auf der Welt wäre und nur halb so alt, den heirate ich nie und nimmer. Das wäre ja schlimmer, als jeden tag Tinte statt Tee zu trinken. Und bei dem Begriff Tee kam ihr der zweite Gedanke: Ich müßte die sen Trottel dazu bringen, daß er sie aus der Welt schafft. Daß er ihr den Nachmittagstee mit seinem indischen Gift verzuckert. «Patricia? Sei nicht kindisch.» Sie nahm kein Blatt vor den Mund. «Diese harmlose fette Person könnte ja nicht einer Maus eine Falle stellen, ohne in Tränen auszubrechen. Nein, wer allein in Frage kommt, ist die Thorp. Und wenn ich diese ehema 126
lige Dorfschullehrerin sowenig mag wie ein Ger stenkorn in meinem Auge, muß ich anerkennen, daß sie energisch und zielstrebig ist. Denke ich daran, wie sie den Conroy verschwinden ließ, ob wohl ich keine zehn Schritte entfernt im Flur stand, das grenzt schon ans…» «Unheimliche! Es gibt eben Dinge zwischen Himmel und Erde…» Er beendete den Satz nicht, sondern stieß einen lauten Wehruf aus. Die Grady hatte ihm mit dem eisenbeschlage nen Absatz ihres Schuhs kräftig auf die Zehen ge treten und fuhr dann ruhig fort: «Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er verschwinden konnte. Bailey und seine Leute haben zwar das ganze Haus durchschnüffelt, aber wahrscheinlich ist der Inspektor dämlicher, als ich ursprünglich glaubte. Außerdem hat diese tückische Dorfschul lehrerin den Rest seines Verstandes in Porter er tränkt, und daher wird er sie nie überführen. Und das bedeutet, daß einer von uns oder wir beide gleichzeitig dran sind.» «Meinst du das wirklich?» Dexters Stimme – gewöhnlich pflegte er martialisch kurzangebunden die Worte durch die Nase zu schnarren – bebte vor Unsicherheit und schlecht verhohlener Angst. «Und ob ich es meine, Harry. Ich sehe mich schon den Kranz kaufen, den ich auf dein Grab lege.» «Hör doch auf mit dem Unsinn.» Der Colonel fuchtelte abwehrend mit den Händen. «Du weißt, ich habe viermal Malaria gehabt, und seitdem sind meine Nerven nicht mehr so, wie sie früher wa 127
ren, als wir die indischen Rebellen niedermach ten.» «Auf jeden Fall müssen wir etwas unterneh men, und dazu sind Nerven nötig, die nicht wie angeschmorte Kabel das Licht flackern lassen.» «Du meinst, wir sollen… wir müssen?» stotterte Dexter. «Was sonst?» Sie musterte ihn und merkte, daß er immer noch nicht entschlossen war; scheinbar gedankenverloren meinte sie: «Ich ha be Angst vor dem Tode. Wenn ich an die feuchte Erde des Friedhofs in Walsh denke, habe ich jetzt schon das Gefühl, als sei ich vermodert und ver fault.» Langsam nickte Dexter. «Und wie hast du dir das vorgestellt?» Die Grady rückte mit dem Stuhl an ihn heran, legte ihre sehnige Hand auf die seine und sagte mit einer Stimme, aus der alle Garstigkeit gewi chen war, sanft und liebevoll: «Du hast doch die kleine Ampulle, von der du mir erzählt hast, und du bist doch auch der Mann», sie wies mit dem Kinn auf ein Bild, das Dexter mit einem erlegten Königstiger zeigte, «dem es nie an Mut gefehlt hat.» Leiser fügte sie hinzu: «Und stell dir vor: Wir könnten dann sofort über das hinterlassene Geld verfügen, wo und wie es uns beliebt.» Dexter nickte zum zweiten Mal, er hatte die Lip pen zusammengekniffen, sie bildeten in seinem Gesicht einen geraden blauen Strich. «Es geht ja nicht nur darum, uns zur Wehr zu setzen», sagte er schließlich mit brüchiger Stim 128
me. «Wenn sie eine Mörderin ist – und das ist sie, wenn der Bailey auch ein Idiot ist, der sie nicht überführen kann, und das kann er nicht –, müs sen wir handeln. Dann ist es unsere Pflicht, dieser Person das Handwerk zu legen. Ja, unsere Pflicht!» Erleichtert atmete Stella Grady auf, und bald waren sie sich einig, wie sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen würden. Der Tee wurde wie immer von Patricia vorbereitet und von Fisher in silbernen Kännchen serviert. Auf einem von ihnen war das Wappen der Thorps ein graviert, und dieses Kännchen, darauf achtete Pa tricia sorgfältig, durfte nur ihre Herrin benutzen. Es war schon einige Male passiert, daß die Grady aus reiner Bosheit und nur um Patricia zu ärgern, das Wappenkännchen für sich beansprucht und mit ihrem vertauscht hatte. Doch gerade diese lächerliche Schikane rettete Dorothy das Leben. Nachdem Fisher den Tisch gedeckt und die Kännchen verteilt hatte – Dorothy und Stella Gra dy waren noch auf ihren Zimmern –, schüttete der Colonel den Inhalt seiner Ampulle in das Känn chen, das an Dorothys Platz stand. Dann ging er, bis der Butler die beiden Damen zum Tee bat, auf die Terrasse. Patricia, die sich wie immer vergewissern woll te, ob der Tisch ordentlich gedeckt sei, sah sofort, daß Fisher ein Versehen unterlaufen war oder er, wie sie eher annahm, mit Absicht seine Pflicht verletzt hatte. Das Kännchen mit dem Wappen 129
hatte er neben das Teegeschirr der Grady gestellt. Ein Kännchen ohne Wappen stand am Platz ihrer Herrin. Schnaufend vor Ärger vertauschte sie die beiden Kännchen. Der Nachmittagstee verlief wie immer, das heißt, die drei redeten kaum ein Wort miteinan der. Nur hätte jedem auffallen müssen, daß Dex ter und Grady spähende Blicke zu Lady Thorp hin über sandten, die in einer Zeitschrift blätterte. Es waren da einige herrliche Farbaufnahmen, die sonnengebräunte fröhliche Menschen auf Wasser skiern in einer Bucht an der Adria zeigten und wie sie abends unter einem tiefblauen bestirnten Himmel auf der Terrasse eines im maurischen Stil erbauten Hauses der Musik lauschten, gekühlte Getränke zu sich nahmen und sich unterhielten; alles Bilder, die Dorothy in ihre Wunschträume mit einschloß. Auch sie warf Blicke, die keinesfalls freundlich waren, zu ihren Tischnachbarn und dachte, wie schön es wäre, wenn sie die beiden loswürde. Das geschah schneller, als sie es zu hoffen wagte. Als erste verschwand die Grady, und zwar für immer. Sie raste mit dem Wagen des Colonels, einem alten Fiat, gegen eine fünfhundert Jahre alte Linde, die am Wegrand vor der Biegung nach Walsh wuchs. An ihrem Stamm war ein Schild be festigt, das darüber Auskunft gab, daß sie im Jah re 1484 von König Richard III. gepflanzt worden sei, weil er, an dieser Stelle von dem heiligen Pa trick gewarnt, nur mit Not den Tatzen eines Rie senbären lebend entkommen wäre. 130
Kein Patrick oder sonst ein anderer Heiliger warnte dagegen die Grady, als sie mit siebzig Ki lometer Geschwindigkeit in die Kurve ging, trotz der Benommenheit, die das langsam wirkende Gift verursachte. Wenige Meter vor der Linde senkte sich vor ihre Augen ein schwarzer Vorhang, sie fühlte ein schreckliches Dröhnen im Kopf und wollte mit voller Kraft auf die Bremse treten, doch es war schon zu spät. Die Flammen, die aus dem Motor schlugen, er faßten in Sekundenschnelle den ganzen Wagen, der Tank explodierte, und als eine Streife der Ver kehrspolizei mit heulender Sirene angerast kam, fand sie von dem Wagen und der Fahrerin nur noch verkohlte Reste. Als Bailey von dem Unfall telefonisch benach richtigt wurde – er hatte sein Quartier in der Poli zeistation von Walsh aufgeschlagen –, saß er eine ganze Weile stumm brütend da. Dann hieb er mit der Faust auf den Tisch, daß das Tintenfaß und der Federhalter einen Sprung machten. Vor Wut blau angelaufen, brüllte er nach Williams. Als der verstörte Sergeant in das Zimmer her einstürzte, musterte Bailey ihn wie ein wütender Stier einen unerfahrenen Torero, mit der unzwei deutigen Absicht, ihn aufzuspießen und durch die Gegend zu schleudern. «Was haben Sie sich gedacht, als Sie bei der Polizei Ihren Dienst begannen?» fragte er Williams mit leiser, schleichender Stimme. «Sie möchten eines Tages Inspektor oder Oberinspektor oder vielleicht sogar Superintendent werden, nicht? In 131
telligent sind Sie, an Gewissenhaftigkeit und Fleiß fehlt es Ihnen nicht, auch über die nötigen Bezie hungen verfügen Sie, Ihr Onkel ist doch der eh renwerte Sir Archibald.» Bailey machte eine Pau se, holte ein paarmal tief Luft, dann bemerkte er voll Hohn: «Und trotzdem werden Sie nie ein In spektor, nie ein Oberinspektor, nie ein Superin tendent werden! Aus Ihnen wird überhaupt nichts. Und warum? Weil man Sie im hohen Bogen aus dem Polizeidienst feuern wird. Und mich auch.» «Was ist denn geschehen, Sir?» wagte Williams endlich zu fragen. «Der dritte Tote im Fall Curentin.» «Mord?» «Angeblich ein Autounfall.» «Und wer ist es diesmal?» «Die Grady.» «Wenn es ein Autounfall war, Sir, dann…» «Seien Sie kein Idiot, Williams. Ich fresse nicht nur einen Besen, ich fresse mich selbst, wenn das ein zufälliger Autounfall war. Aber wieder einmal können wir nichts beweisen, wieder einmal ist die Leiche so gut wie verschwunden. Es waren vierzig Liter Benzin im Tank; an der Stelle, wo man sie fand, konnte man lediglich einen Haufen Kohle zusammenkratzen.» «Wenn Sie mir erlauben, möchte ich eine Frage stellen, Sir.» «Mensch, fangen Sie jetzt auch an so ver schroben zu quatschen wie dieser Fisher?» schnauzte der Inspektor ihn an. «Und stehen Sie nicht so stocksteif da, als wären die Wirbel Ihres 132
Rückgrats zusammengewachsen. Das fällt mir auf die Nerven! Also was wollen Sie fragen?» «Ich möchte wissen, woher Sie mit solcher Be stimmtheit behaupten können, daß der Unfall kein Unfall war?» «Keine Ahnung. Aber, Gott verdammt, ich weiß es. Genügt Ihnen das nicht?» «Nein.» «Hm», brummte Bailey wie die Baßsaite eines Cellos kurz vor dem Reißen. «Gut, dann wollen wir gemeinsam überlegen. Halten wir erst die Fakten fest, nur die Fakten und nichts als die Fak ten.» «Einverstanden, Sir, nur die Fakten», grinste Williams. «Sie, Williams, ich schmeiße Ihnen gleich dieses Tintenfaß an den Kopf. Da laufen Sie eine Woche wie ein Blauhäutiger herum.» «Es gibt keine blauhäutige Rasse auf dieser Er de, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir.» Statt diese zweifellos zutreffende Bemerkung anzuerkennen, tat Bailey etwas recht Ungewöhnli ches. Er griff nach dem Tintenfaß, stand auf, trat an Williams heran und goß langsam und genüßlich die blaue Flüssigkeit über dessen Kopf. Dann schmetterte er wie weiland Luther das Tintenfaß an die Wand, ohne daß ihm dort ein Teufel er schienen wäre. Er tat es vielmehr, weil ihm plötz lich eine Erleuchtung gekommen war, so absurd, meinte er später, wie nur die Wahrheit zuweilen sein kann. 133
«Sehen Sie, es gibt doch blauhäutige Men schen», wandte er sich indessen an Williams, der im wahrsten Sinne des Wortes wie ein begossener Pudel dastand. Bailey hatte bisher den Eindruck gehabt, Willi ams – Mitte Zwanzig, Nichtraucher, gesund, un verheiratet und somit aller Sorgen ledig – sei ein wenig zu ernst. Es zeigte sich, daß er sich geirrt hatte. «Sie haben mich überzeugt, Sir.» Der junge Sergeant beäugte sich in einem Wandspiegel, der über dem Waschbecken hing. «Aber der Spaß wird Sie zehn Pfund kosten. Diese Summe über weisen Sie dem Antialkoholikerverein in Walsh ‹Frohes Herz ohne Whisky›, oder ich setze mich sofort an den Tisch und schreibe mit dem Rest der Tinte eine gegen Sie gerichtete Beschwerde. Auch Sie haben Feinde, nicht nur im Präsidium, sondern auch unter den Zeitungsleuten.» Er hatte das ganz ernst gesagt, dann mußte er lachen. «Gibt das einen Spektakel, wenn ich in diesem Zustand auf der Titelseite einer Liverpooler Zeitung er scheine! Überschrift: Inspektor tauft seine Unter gebenen mit Tinte! Das Bild wird eine Sensation in ganz England.» Bailey schluckte. Er war ein Schotte und des halb, wenn man der Mär glauben darf, ein wenig geizig. Aber er hatte ebenfalls Sinn für Humor. Schweigend zog er zehn Pfund aus seiner Brief tasche, breitete sie auf dem Tisch aus. Aus sei nem Portemonnaie holte er einen Shilling und leg te ihn hinzu: «Das ist für das Reinigungsmittel. 134
Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen, und keh ren Sie erst zurück, wenn Sie wieder der weißen Rasse angehören.» Als Williams wiederkam, gehörte er einer Rasse an, deren Hautfarbe nicht genau zu bestimmen war. Auf der Stirn, am Haaransatz und an den Schläfen schimmerte seine Haut grünlich, die Wangen hatten eine gelbe Tönung, das Kinn schimmerte in leicht violettem Ton. Der Inspektor hatte seine Lesebrille aufgesetzt und schielte über deren Rand. «Wenn Sie ein paarmal gebadet haben, wird für Sie das Rassenproblem kein Problem mehr sein», bemerkte er. Dann platzte er heraus: «Der Fisher ist ein falscher Fuffziger, ob er nun mit den Mor den was zu tun hat oder nicht.» «Haben Sie dafür einen Beweis?» bohrte Willi ams, genau wie zu Beginn ihrer Unterhaltung, als Bailey behauptet hatte, die ehemalige Postvorste herin sei nicht zufällig verunglückt. «Beweis, Beweis!» äffte der Inspektor ihn nach. «Nein, einen Beweis habe ich nicht, aber dafür habe ich eine Intuition, Sie Blaubart.» «Intuitionen zählen bei Untersuchungsrichtern so gut wie gar nicht. Es sind nun mal stupide, das heißt logisch denkende Menschen.» Williams kratzte sich das Kinn. «Passen Sie auf!» Bailey hob den dicken Zeige finger. «Was würden Sie von mir halten, wenn ich zum Beispiel einen solchen Satz von mir geben würde: Sir, ich habe mich der Mühe unterzogen,
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den Kaffee in diesem Gefäß in einem von Ihnen bevorzugten Wärmezustand zu halten. – Nun?» «Ich würde Sie für einen Idioten halten. Oder…» Plötzlich blitzte die Erleuchtung auch in Williams’ Gehirn. «Sie meinen, diese verschrobe ne Butlersprache hat sich Fisher aus Büchern an geeignet? In Wirklichkeit ist er nie ein Butler oder Steward oder sonst jemand in dieser Berufsbran che gewesen?» «Genau das. Und daraus folgt, daß die Angaben über seinen Lebensverlauf zumindest in den letz ten zehn Jahren nicht stimmen. Vielleicht hat er sie in einem Zuchthaus, Irrenhaus oder sonst ir gendeiner geschlossenen Anstalt verbracht.» «Eins widerspricht dem. Beim Überprüfen sei ner Angaben erwies es sich, daß sie stimmten.» «Gar nichts erwies sich, oder lediglich eines: Ein Mann, der Fisher hieß, hat auf den angegebe nen Schiffen als Steward gearbeitet. Doch wer sagt Ihnen, daß unser Fisher wirklich jener Ste ward war?» «Sie haben recht. Wir müssen sofort ein Bild von Fisher an die Interpol schicken», ereiferte sich Williams. Dann setzte er sich selbst einen Dämp fer auf. «Aber sogar wenn sich herausstellen soll te, daß Fisher gar nicht Fisher ist, sondern irgend ein Gangster, haben wir ihn noch lange nicht überführt. Er hat ja nicht das geringste Motiv, die Erben dieses verrückten Robert Thorp aus der Welt zu schaffen. Viel wahrscheinlicher ist es, daß er die letzten Lebensjahre in einer ruhigen Stel
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lung verbringen wollte und sich deshalb als Gärt ner in Curentin beworben hat.» «Und wenn er mit der Thorp unter einem Hut steckt? Können Sie das Gegenteil beweisen? Nichts können wir beweisen, absolut nichts!» Der Inspektor steigerte sich in einen neuen Wutanfall hinein. «Nicht einmal, daß dieser Trottel, der eh renwerte Sir Robert, eines natürlichen Todes ge storben ist. Es ist durchaus möglich, daß die Mordserie bereits mit seiner Beseitigung begann.» «Sie meinen, wir sollten ihn exhumieren las sen?» «Es wird viel Staub aufwirbeln, gewiß. Aber es ist ja ohnehin so viel Staub aufgewirbelt worden, daß ich beim Gedanken an diesen Fall niesen muß. Also beantragen Sie die Exhumierung, bitten Sie nur vorher Lady Thorp um die Einwilligung. Und da wir gerade bei ihr sind: Was wissen wir über sie? Daß sie ein Motiv hat, ein wahres Muster von Motiv. Und an Gelegenheiten fehlte es ihr auch nicht. Dasselbe gilt für Dexter. Was Conroy betrifft, da weiß ich noch nicht, was ich denken soll.» «Conroy?» fragte Williams verwundert. «Sie meinen…» «Und ob ich’s meine. Warum nicht? Es ist sogar höchst wahrscheinlich, daß er nicht weniger le bendig als ich oder Sie auf der Erde herumspa ziert. Das Blut auf den Fliesen? Der Mensch hat an die sechs Liter von dem Zeug in sich, auf ein Li terchen mehr oder weniger kommt es nicht an. Ist er aber nicht umgebracht worden…» 137
«Dann müßte seine Frau davon wissen. Und sie machte nicht den Eindruck. Sie war wirklich er schüttert.» «Bäh!» Es fehlte nur noch, daß der Inspektor die Zunge rausstreckte. «Auch was! Sie ist zwar nur eine miserable Schauspielerin, doch um eine Verzweiflungsszene vorzumimen, dazu braucht man kaum Begabung. Sogar ich, der ich nie über die knarrenden Bretter, die die Welt bedeuten, gewatschelt bin, könnte Ihnen eine solche Szene vorspielen, auch wenn es mir an den Haaren fehlt, die man sich in solchen Fällen auszureißen hat.» «Also nehmen wir an, Conroy ist noch am Le ben. Dann taucht sofort die Frage auf, wo befindet er sich? Warum bleibt er oder warum wird er in einem Versteck festgehalten?» «Er ist natürlich im Schloß.» «Die Frage, ob Sie einen Beweis dafür haben, kann ich mir wohl ersparen?» «Das können Sie. Und Sie können noch mehr. Aus Liverpool kriege ich keinen Mann; dort haben sie jetzt jeden in dieser Kidnappergeschichte ein setzen müssen. Außerdem habe ich ja Sie. Also werden Sie ihr Domizil im Schloß aufschlagen und nachts dort die Augen offenhalten.» Williams gab einen Seufzer von sich. «Ich bin ein sehr schlafbedürftiger Mensch, Sir. Unter neun Stunden ist bei mir nichts zu machen. Das wird eine Tortur für mich werden.» «Tortur?» Bailey kullerte mit den Augen. «Und was glauben Sie, ist dieser ganze Mistfall für mich? Keine Tortur? Seit ich drinhänge, habe ich 138
sechs Pfund zugenommen, weil ich dauernd Porter trinken muß. Ich werde eine Abmagerungskur machen müssen und drei Wochen lang nur Hafer schleim und Karotten fressen dürfen.» «Bleibt noch die Haushälterin Patricia Highs mith», unterbrach Williams roh das Wehklagen Baileys. Der Inspektor winkte ab. «Die ist es bestimmt nicht.» «Die Frage, ob Sie einen Beweis dafür haben, kann ich mir wieder einmal ersparen?» «Ja, das können Sie», brüllte Bailey. «Eine Bemerkung möchte ich mir doch erlau ben, Sir. Wenn Sie schon alle und jeden verdäch tigen, die Highsmith aber ausklammern, liegt es nicht an dem Porter, mit dem diese Dame Sie so reichlich versorgt?» «Es ist auch ihre Kochkunst. Jedesmal, wenn ich in Curentin auftauche, liest sie mir von den Augen ab, wonach sich mein Magen sehnt.» Bai ley riß sich von seinen lukullischen Vorstellungen los und meinte: «Selbstverständlich dürfen wir sie nicht vergessen.» Nachdem er alles mit Williams besprochen hat te, gab er ihm einen letzten Rat. «Ich würde an Ihrer Stelle erst ein heißes Bad nehmen und mein Gesicht mit Scheuerpulver be arbeiten. Sonst halten die lieben Leute Sie für ei ne farbenfrohe Erscheinung aus dem Jenseits.» «Für zehn Pfund können Sie öfter das Vergnü gen haben, auf meinem Kopf ein Tintenfaß zu lee ren», versicherte Williams. 139
Der Mensch, da er zwei Drittel seines Lebens beim Tageslicht verbringt, hat vor der Finsternis ein angeborenes Unbehagen, das zuweilen komische Formen annehmen kann. So ging es Williams. Tagsüber betrachtete er die Dinge mit dem nüchternen Auge eines wach samen Polizeibeamten. Als er sich nach Einbruch der Dunkelheit in das Schloß stahl, verließ ihn et was seine Selbstsicherheit. Das Knarren eines vom Wind gerüttelten Fensterladens ließ ihn zu sammenfahren, und das Licht- und Schattenspiel, das der Mond und die an ihm vorbeijagenden Wolken auf den Fußboden zauberten, erschien ihm so unheimlich wie das Blinken eines Henker beiles. Immerhin hatten schon drei Menschen aus diesem Haus den Tod gefunden, und vielleicht er wartete ihn das gleiche Schicksal… Dexters Zimmer lag im ersten Stock am Ende eines Korridors. Williams stellte fest, daß es drin nen dunkel war. Schon wollte er nach der Klinke greifen, als er aus dem Raum ein Keuchen ver nahm, das gleich darauf wieder verstummte. Zu seiner Bestürzung öffnete sich plötzlich die Tür von selbst. Williams ließ seine Taschenlampe auf leuchten und den Lichtkegel durch den Raum wandern. Pläck! kam es aus dem Dunkel, und er glaubte, einen kalten Luftzug an seinem rechten Ohr gespürt zu haben, als die Kugel an ihm vor beisauste. Seine Reaktion war blitzschnell. Indem er sich auf den Fußboden warf, knipste er die Lampe aus und kroch, mit den Ellenbogen rob bend, in die Ecke, die der Schrank neben dem 140
Fenster mit der Wand bildete. Da er sich die Ein richtung des Zimmers genau eingeprägt hatte, wußte er, daß er hier geschützt war. «Ich weiß genau, wo Sie hingekrochen sind. Hinter den Schrank», ertönte die krächzende Stimme Dexters. Sie kam aus der Richtung des Bücherregals. «Hören Sie auf, wie ein Verrückter herumzu knallen. Ich bin zu Ihrem Schutz hier», zischte der Sergeant voll Wut. «Wer sind Sie?» «Williams. Erkennen Sie mich denn nicht an meiner Stimme?» Der Colonel schaltete die Leselampe auf dem Bücherregal ein und kam aus seinem Versteck hervor, immer noch die Pistole mit dem Schall dämpfer in der Hand. «Um ein Haar hätte ich Sie getroffen. Dann würden Sie jetzt bei den anderen weilen. Im Nichts.» Erschöpft ließ er sich in einen Sessel fallen. In seinen wäßrigen vorquellenden Augen standen Furcht und die verzweifelte Entschlossenheit, um jeden Preis sein Leben zu verteidigen. «Ich sehe auch in der Dunkelheit, wenn ich schieße», prahlte er. «Bei der Jagd im Dschungel lernt man das. Die Kugel muß keinen Zentimeter an Ihrer Schläfe vorbeigeflogen sein, und das nur, weil Sie mit einem instinktiven Ruck den Kopf bei seite gerissen haben. Sonst hätten Sie jetzt ein rundes Loch in der Stirn.»
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«Und Sie wären von Ihrem Los befreit, hier die nächsten zehn Jahre verbringen zu müssen. Die würden Sie anderswo absitzen.» «Wie sollte ich wissen, daß Sie es sind?» Der Atem des Colonels rasselte wie vorhin in der Stil le. Er zündete sich mit Mühe eine Zigarette an; seine Hand zitterte so, daß er sie kaum zum Mun de führen konnte. «Ich habe nicht auf Sie, ich ha be auf den Mörder gewartet.» «Und Sie haben die Schnur an die Klinke ge bunden, um die Tür aufzureißen, wenn jemand kommt?» «Warum denn sonst. Wer zuerst schießt, lebt länger.» Dexter kicherte. Er war seit dem Tod der Grady in eine geistige Verwirrung geraten, die seinen auch sonst nicht allzu regen Verstand bedenklich getrübt hatte. Das zeigte seine nächste Bemer kung. «Das schlimmste ist», flüsterte er vertraulich, «ich bin nicht einmal überzeugt, daß der Mörder ein materielles Wesen ist.» Williams, der ein sehr materielles Wesen war, nüchtern und logisch, vermutete zuerst, der Colo nel wollte ihn veralbern. Doch als er den merk würdigen Ausdruck in den Augen des ehemaligen Kolonialoffiziers sah, kam er zu der Überzeugung, daß er es mit einem Halbirren zu tun hatte. «Im Pandschab mußten wir in einem zerfalle nen Tempel des Gottes Schiwa übernachten», fuhr Dexter flüsternd fort, «und dort passierten auch die seltsamsten Dinge. Als meine Ordon 142
nanz, der gute Hopkins, den Saal des Tempels betrat, löste sich eine Steinplatte von der Decke und, Sie werden es nicht glauben, fiel dem Ar men, der zu Hause Frau und fünf Kinder hatte, direkt auf den Kopf.» «Warum soll ich Ihnen das nicht glauben», be eilte sich Williams zu versichern. «Aber jetzt halte ich es für das beste, Sie nehmen eine Beruhi gungstablette, geben mir Ihre Pistole, schließen sich ein und legen sich schlafen. Morgen unterhal ten wir uns ausführlicher.» «Das mit der Beruhigungstablette ist ein guter Gedanke», stimmte der Colonel zu. «Das mit der Pistole ein schlechter. Ohne sie unter dem Kissen könnte ich kein Auge zumachen.» Und dann wie der mit dem albernen Kichern: «Wenn Sie bei Ih rem Rundgang jemand begegnen sollten, warnen Sie ihn, ein zweites Mal werde ich mein Ziel nicht verfehlen.» «Das werde ich ausrichten, seien Sie unbe sorgt.» Mit diesen Worten machte sich Williams schleunigst davon. Er hörte, wie der Schlüssel umgedreht .wurde, und schritt dann leise die Treppe zum zweiten Stock empor. Vor dem Schlafzimmer Dorothy Thorps blieb er stehen. Alles war still. «Schachmatt», sagte plötzlich eine kaum ver nehmbare Stimme, und ein ebenso leiser Grunz erfolgte. Darauf wieder eine gedämpfte Stimme, die zweifelsohne der Thorp gehörte: «Man darf uns nichts beweisen können, das ist das wichtig ste.» 143
Resolut klopfte Williams an, und als Dorothy endlich öffnete, stürmte er an ihr vorbei in den Raum. Er war leer; auch im Wohnzimmer nebenan und im Bad war niemand. «Wo kommen Sie her?» fragte Dorothy wider Erwarten freundlich. «Ich bin zu Ihrem Schutz hier», erklärte der Sergeant verlegen. «Wer war soeben bei Ihnen?» «In meinem Alter sollten Sie mir solche Fragen nicht stellen, junger Mann», zog sie ihn gutmütig auf. «Außerdem täuschen Sie sich. Ich war die ganze Zeit allein.» «Meine Ohren täuschen mich nicht», brummte Williams. Er öffnete den Schrank, sah unter der Couch nach, warf einen Blick ins Bad. «Ich könnte Ihre Mutter sein, Williams, ja sogar Ihre Großmutter, wenn Sie fünf Jahre jünger wä ren und ich fünf Jahre älter.» Dorothy goß einen Likör ein und reichte ihm das Glas, wodurch sie ihn in neue Verlegenheit brach te. Er wußte nicht, ob er es ergreifen oder unbe achtet lassen sollte. «Außer der Fliege, die mich schon seit Tagen beim Schlafen stört – jetzt ist sie ebenfalls ver schwunden –, werden Sie hier niemand entdek ken.» Sie log, sie verhöhnte ihn, das stand für Willi ams absolut fest. Aber was sollte er tun? Ein gellender Schrei aus dem Erdgeschoß er sparte ihm einen schmählichen Rückzug.
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Ohne ein Wort zu verlieren, sauste er die Trep pe hinab. Ein zweiter Schrei, wenn auch nicht so laut wie der erste, lenkte seine Schritte zu dem Reich Patricias, zur Küche. Im Nachthemd – auch diesmal war es mit schwarzen Bändchen verziert – stand sie da. Als Williams vor ihr auftauchte, wollte sie gerade zum dritten Mal einen lufterschütternden Hilferuf aus stoßen. Das viele Herumschleichen, Herumhorchen und schließlich die soeben erlittene Niederlage bei La dy Thorp hatten Williams nervös gemacht, und so fuhr er Patricia barsch an, warum sie so kreische. «Ich, ich…», stammelte sie, «so wahr ich ge tauft bin, im Schloß geht ein Geist umher, ich kann es beschwören.» «Wo haben Sie ihn gesehen? Wie sah er aus?» Williams merkte, daß sein eigener Geist mit ihm durchging. «Sir, ich habe niemand gesehen, das ist ja das Gespenstische an der ganzen Sache», flüsterte Patricia, die sich verängstigt umblickte. «Jetzt hören Sie aber auf mit dem Blödsinn!» Williams’ Nerven versagten immer mehr ihren Dienst. Das hysterische Weib, wie er Patricia in Gedanken titulierte, hatte ihm gerade noch ge fehlt. «Gesehen haben Sie also nichts? Haben Sie wenigstens Schritte gehört?» Nein, Schritte hatte sie auch nicht gehört. Inzwischen waren Fisher, Rose und Dorothy Thorp dem Hilferuf gefolgt und hatten sich in der
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Küche eingefunden. Williams schickte sie ins Bett zurück. «Wissen Sie, was ich mit Ihnen mache?» fauch te er dann die schreckensblasse, kugeläugige Haushälterin an. «Ich lasse Sie einsperren wegen nächtlicher Ruhestörung und Irreführung der Poli zei.» Er meinte es selbstverständlich nicht so, er mußte sich nur abreagieren. Doch Patricia nahm seine Worte durchaus ernst und erwiderte empört: «Sie tun mir Unrecht, Mr. Williams. Ich bin zwar nur eine arme, vermögenslose Witwe, aber ich verlange von der Polizei, daß sie mich ebenso be schützt, als wenn ich eine Herzogin oder gar die Königin wäre», brachte sie mit Nachdruck hervor, nicht ohne innerliche Größe. Nun mußte Williams doch lachen. Wie sie in dem langen Nachthemd dastand, ein Tuch um den Kopf gewickelt, als wäre sie eine orientalische Prinzessin, die Füße in lila Plüschpantoffeln, auf die Maiglöckchen gestickt waren, und von einem Gespenst erzählte, das sie weder gesehen noch gehört hatte, wirkte sie auch zu komisch. «Also gut.» Er gab sich Mühe, ernst zu bleiben. «Wie haben Sie denn Ihren Schloßgeist wahrge nommen? Haben Sie ihn gerochen oder sind im Dunkeln mit dem Kopf gegen ihn gerannt?» «Herr Sergeant, ich bin eine arme, vermögens lose Witwe…» «Das weiß ich schon», schnitt ihr Williams das Wort ab. «Und nun beantworten Sie meine Fra ge.» 146
Patricia begab sich mit energischem Schritt zu der Speisekammer, öffnete sie und zeigte auf eine große Platte mit einem angeschnittenen Kalbsbra ten. Dann richtete sie ihren anklagenden Zeige finger auf eine .Schüssel mit Pudding, die halb leer war, und schließlich auf ein Glas mit marinier ten Heringen. «Da haben Sie die Antwort auf Ihre Frage. Zäh len Sie bitte die Heringe! Es waren heute abend elf Stück, jetzt sind es nur noch sieben. Und von dem Kalbsbraten ist eine dreifingerdicke Scheibe abgesäbelt worden. Jawohl, Sir, abgesäbelt, an ders kann ich diese herzlose Art, Fleisch zu be handeln, nicht nennen. Und in dem Pudding wur de, jawohl, Sir, wahrscheinlich mit den Händen herumgegrapscht! Keiner, der einen Löffel von einer Gabel zu unterscheiden versteht, würde auf diese Art einen Pudding malträtieren.» Nachdem sie so ausführlich die Untaten des Ge spenstes geschildert hatte, sank sie erschöpft, aber befriedigt auf einen Stuhl. «Sind Sie wirklich sicher, daß jemand in Ihrer Speisekammer gemardert hat?» wollte der Serge ant wissen. «Absolut sicher. Es ist schon das zweite Mal, daß ich auf frische Spuren stoße», erklärte Patri cia kategorisch. «Und Sie müssen nicht denken, daß ich verrückt bin, ich nicht. Dieses Schloß», sie zeigte auf die Speisekammer, «ist eine Erfindung des seligen Dr. Evans. Sehen Sie, der Schlüssel ist ganz einfach.» Sie hielt ihn dem Sergeant unter die Nase. «Und trotzdem kann ihn niemand be 147
nutzen, wenn er nicht sein tieferes Geheimnis kennt. Dr. Evans war ein Genie!» Williams beäugte den Schlüssel, dann steckte er ihn in das Schloß, doch als er die Kammertür zu schließen wollte, ließ sich der Schlüssel nicht um drehen. Er war nur zu benutzen, wenn er bei je der der vier Umdrehungen mal tiefer, mal weniger tief in das Schloß geschoben wurde. «Hol’s der Teufel, wozu brauchen Sie das für die Speisekammer? Sie heben doch da keine Schätze auf.» «Aber einen Tonkrug mit Birnenschnaps, den ich nach einem geheimen Rezept bereite und der sich auf mysteriöse Weise zu leeren begann.» Bei Patricia war alles geheim und mysteriös. «Ich ha be mir sogar ein Lineal besorgt, dort liegt es, und habe den Schwund genau nachgemessen. Einmal waren es acht Millimeter, ein anderes Mal ganze drei Zentimeter! Da dachte ich sofort, es ist ent weder Fisher, der ein verkappter Bankräuber ist, oder der Colonel, dieser verkappte Erbschleicher. Der selige Dr. Evans…» «Wieviel Schlüssel gibt es zu der Speisekam mer?» unterbrach Williams ihre Redeflut. «Nur diesen einen.» «Und wer weiß, wie er funktioniert?» «Lady Thorp und ich.» «Und haben Sie heute abend bestimmt mit die sem geheimen Schlüssel dieses geheime Schloß zugesperrt?»
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«Das kann ich beschwören.» Wie üblich, wenn sie einen Schwur leistete, schaute Patricia in Er mangelung des Himmels zur Decke hinauf. «Dieser Punkt wäre also geklärt», stellte Willi ams fest. «Sie sind hier her geschlichen, um Ihre Fleischtöpfe zu überwachen. Und warum kreisch ten Sie los?» «Es war mir so, als hörte ich ein Geräusch.» Pa tricia erschauerte noch jetzt bei dem Gedanken. «Es war ganz gruselig. So schurr, schurr, als ob eine giftige Schlange über die Fliesen gleitet. Und das ganz in meiner Nähe. Aber das Licht ging plötzlich aus, und da konnte ich arme, vermö genslose Witwe… Es war schrecklich.» «Ja, wissen Sie, Mrs. Highsmith, mir kommt da ein Verdacht, der genau so schrecklich ist wie Ihre Vermutung. Wenn ich nun, wie ich hier vor Ihnen stehe, die giftige Schlange gewesen bin? Ich schleiche schon seit dem Dunkelwerden im Haus herum.» «Es war jemand, der… der… es auf mein Leben abgesehen hat!» «Eher auf Ihren Kalbsbraten und Birnen schnaps», mutmaßte Williams herzlos. Gleichzei tig ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, den verschwieg er aber. «Und jetzt gehen Sie zu rück ins Bett, und ich passe an Ihrer Stelle auf Ihre Futterkammer auf.» Er griff nach einem kleinen Fleischbeil, das über dem Herd hing, und hob diese gefährliche Waffe als Warnung für alle sichtbaren und unsichtbaren Kalbsbratenräuber in die Luft. 149
Nachdem Patricia die Küche verlassen hatte, setzte er sich hin und erwog den Verdacht, der ihn nicht verlassen wollte. Wer auch vorhin bei Lady Thorp gewesen war, er mußte sich mit ihrem Wissen in Curentin versteckt halten, vielleicht so gar in ihren Räumlichkeiten. Schlich diese ge heimnisvolle Person durchs Haus, um sich eigen händig mit Lebensmitteln zu versorgen? Auf jeden Fall war es ein Komplice Lady Thorps. Von selbst konnte er kaum daraufgekommen sein, wie der vertrackte Schlüssel zu handhaben war. Williams stand auf und trat an die Speisekam mer. Wie mußte man doch den Schlüssel benut zen? Bei der ersten Umdrehung nur bis zur Hälfte ins Schloß schieben, bei der zweiten bis zum An schlag… Wie alle, die auf eine schräge Bahn geraten sind, rutschte auch Williams in sein Verderben: Als er nach mehreren vergeblichen Versuchen die Tür geöffnet hatte, fiel ihm ein, daß er seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. Der Kalbsbraten schien ihm zuzuwinken, er sei ja nur zu dem Zweck da, den Hunger eines Menschen zu stillen. Und so verhielten sich auch die eingelegten He ringe und die Schüssel mit dem Pudding… Leise Schritte, die aus der Küche kamen, ließen Williams herumfahren. Aber es war zu spät. Mit einem Knall fiel die Tür zu, und er, ein Opfer sei ner Freßgier, war nunmehr ein Gefangener. Die Vorstellung, wie er wohl dastehen würde, wenn Patricia ihn morgen früh in der Speisekam mer entdecken und was Bailey dazu sagen würde, 150
war geradezu unerträglich. So beschloß er, sich seiner seelischen Qual lieber sofort zu entledigen; da konnte er wenigstens noch irgendeine Ausrede vorbringen. Er klopfte. Erst recht zaghaft, dann, ungeduldig werdend, immer heftiger. Bums, bums, bums dröhnte es durch die Stille, Schweiß tropfen bildeten sich auf seiner Stirn, doch das war das einzige Resultat seines Klopfens. Nie mand hörte ihn oder wollte ihn hören. Zugegeben, die Wände des Schlosses waren meterdick, auch schlief niemand im Erdgeschoß, aber was halfen ihm alle diese Erwägungen! Mindestens sieben, acht Stunden würde er in dieser Marterkammer ausharren müssen. Schließlich schlummerte er, in einer Ecke kau ernd, ein, doch böse Träume verfolgten ihn auch im Schlaf. Er sah, wie der verstorbene Sir Robert, an einer Kalbskeule nagend, gegen seinen Sarg deckel bummerte und schrie, seine Frau wolle ihn umbringen, warum werde er nicht von der Polizei geschützt. Und dann sah er die Grady, ganz kohl schwarz im Gesicht, weil sie doch verbrannt war, ansonsten aber quietschlebendig im Auto sitzend. Sie flüsterte ihm zu, Patricia habe sie umgebracht und die beiden anderen auch. Der verschwundene Arvin Conroy erschien ihm in Gestalt eines men schengroßen Katers mit einem marinierten Hering im Maul, wobei er maunzte, er und nicht Williams habe den Pudding vergiftet, dem die Grady zum Opfer gefallen sei. Schließlich tauchte auf der Schwelle der Speisekammer Fisher auf. Er zog ei
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nen Blechzuber auf kleinen Rädern hinter sich, in dem ein Dampfer schwamm. Schon wollte Williams ihn fragen, ob dieser Blechzuber auf Räderchen eine Erfindung von Dr. Evans sei, da wachte er von einem knirschenden Laut auf. Durch das schmale Fenster der Speisekammer drang Morgenlicht herein, die Tür war geöffnet, und in ihr stand nicht mehr im Traum, sondern in Wirklichkeit die gravitätische Gestalt Fishers und Patricia, die Hände vor Schreck an den Mund ge preßt, einen Schritt hinter ihm. «Ich habe nachts einen Rundgang durch das Schloß gemacht, und jemand hat mich hier einge sperrt», erklärte Williams auf den fragenden Blick des Butlers, wobei er sich bemühte, seiner Stim me einen möglichst sachlichen Ton zu verleihen. Das gelang ihm aber nicht sehr überzeugend. Da Fisher das Muster eines Butlers war, glitt über sein respektvolles Gesicht nur ein kaum merkbares Lächeln; sonst hätte er gewiß hämisch gegrinst, und innerlich tat er es wohl auch. «Wenn Sie es mir gestatten, Sir, und meinen Vorschlag anzunehmen geruhen, werde ich Ihnen ein Frühstück zubereiten; Sie werden sicher sehr hungrig sein», meinte er mit einem Blick auf den Braten und schritt dann, weil ein vornehmer But ler niemals seiner Herrschaft oder einem Gast den Rücken zukehrt, rückwärts zum Herd. Patricia, da sie nur eine arme, vermögenslose Witwe war, setzte sich an den Küchentisch und wiegte wortlos den Kopf… 152
Auch Williams hüllte sich in Schweigen. Ihn ver folgte nur ein Gedanke: Was würde Bailey zu sei nem Reinfall sagen? Als Williams ihm die Zwangsübernachtung in der Speisekammer schilderte und die Wahrheit ein wenig verdrehte, durchschaute Bailey sofort, was wirklich passiert war. «Hat Ihnen der Braten und der Birnenschnaps wenigstens geschmeckt?» erkundigte er sich mit harmloser Miene. «Ich hatte an anderes zu denken als an Braten und Schnaps», log Williams. Doch dann schämte er sich selbst seiner moralischen Kleinmütigkeit und gab zu: «Es hat sogar sehr gut geschmeckt. Trotzdem. Ich glaube, wir können Dexter von der Liste der Verdächtigen streichen. Wenn jemand mit einer Pistole in der Hand in einem finstren Zimmer sitzt und auf einen Mörder wartet, ist er selbst kaum der Mörder.» «Das hat etwas für sich», nickte Bailey. «Wenn aber Dexter als Verdächtiger ausscheidet, bedeu tet es, daß die Thorp noch mehr belastet wird. Vor allem, weil sie Ihnen vormachen wollte, daß nie mand in ihrem Zimmer gewesen sei.» Er überleg te. «Haben Sie auch in den Kasten der Bettcouch reingeschaut, als Sie die Räume durchsuchten?» «In den Kasten?…» Williams machte ein dum mes Gesicht. Bailey sah ihn fast mitleidig an, dann schnaufte er: «So etwas merkt man sich schon beim ersten Besuch, wenn man ‹Guten Tag› sagt. Und jetzt 153
ziehen Sie was Schwarzes an. Wegen der Pietät. Die Exhumierung ist für fünf Uhr festgesetzt, mal sehen, was sie ergibt.»
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Elftes Kapitel
Hier nimmt der Leser an der Exhumierung des sehr ehrenwerten Leichnams von Sir Robert Thorp teil, da schlechterdings kein in England spielender Kriminalroman denkbar ist, in dem nicht ein dü steres Gespensterschloß und ein Friedhof vor kämen. Im übrigen werden die Nerven der bisher noch überlebenden Romanfiguren durch unvor hergesehene Ereignisse einem erneuten Härte test unterworfen.
Jeder Friedhof ist ein Streifen Erde, der selbst ein heiteres Gemüt traurig stimmt. Stellt man sich vor, wer alles in dieser Erde liegt und wie ver gänglich das menschliche Leben ist, kann man leicht melancholisch werden; das geht den mei sten so. Den meisten, aber nicht den Stadtvätern von Walsh, die gewohnt waren, kommerziell zu den ken. Die kleine Stadt, stolz auf ihren einstigen Ruhm, weil sie mehrmals belagert, geplündert und eingeäschert worden war, schlummerte bis vor wenigen Jahren friedlich dahin. Das trug sehr dazu bei, daß Kanalisation, Beleuchtung und Stra ßen in einen immer miserableren Zustand gerie ten. Auf Grund irgendeiner vergilbten Urkunde, de ren Echtheit niemand nachweisen konnte, hatten die Stadtväter endlich beschlossen, daß ihr Städt chen, vor allem für die Touristen, eine Perle der englischen Geschichte sei: Die Grundmauer der halbdutzendmal niedergebrannten und wiederauf gebauten Kirche stamme aus der Zeit von Richard Löwenherz, und wenn nicht die Grundmauer, dann der Prellstein vor der Kirche. Eine ähnliche Legende wurde über den Friedhof erfunden. Dort wären, so stand es im Fremdenführer, ganze sechs Bischöfe begraben worden, und obendrein noch der seinerzeit touristenschlachtende Besitzer der «Blutigen Schmiede». Die schauerlichste Poin te, was den Friedhof betraf, stand aber in unmit 156
telbarer Beziehung mit der Familiengruft der er lauchten Thorps. Ihr Eingang wurde von zwei steinernen Engeln bewacht, aber es waren, wieder laut Fremdenfüh rer, keine gewöhnlichen Engel. In der Nacht zum Karfreitag würden sie mit ihren Flügeln schlagen, um in den Himmel zu entschweben. Warum sie das wollten, dafür gab der Fremdenführer keine Erklärung. Doch allein die Vorstellung, daß die zehn Zentner schweren Steinfiguren wie Vögel durch die Lüfte segeln könnten, faszinierte die Touristen, genauso wie die Folterwerkzeuge in Bill Shannons Kneipe. Inspektor Bailey, der ein nüchterner, phantasie loser Mensch war, blickte aus einem sehr prosai schen Grund in den Himmel. «Ausgerechnet jetzt muß es wieder zu regnen beginnen», brummte er mit hochgeschlagenem Mantelkragen. «Hätte ich nur einen Schirm mitge nommen.» Williams, der sich von seiner Wirtin den schwarzen Mantel ihres verstorbenen und eben falls auf dem Friedhof begrabenen Mannes gelie hen hatte, nieste ein paarmal. «Komisch, aber es gibt Leute, die schwören, daß sie diese Steinengel wirklich fliegen gesehen haben», wandte er sich an den Inspektor. Bailey blickte ihn von der Seite an, als wären in ihm Zweifel aufgekommen, ob Williams ganz bei Trost sei. «Wenn Sie gottlose Spaße machen wollen, dann suchen Sie sich einen anderen Ort, eine andere 157
Zeit und vor allem eine andere Person. Beobach ten Sie lieber die trauernde und tieferschütterte Witwe.» Williams schaute zu der Gruppe hin, die sich beiderseits der Gruft versammelt hatte. Darunter war auch, begleitet von Patricia, Lady Thorp. Als wollte sie die ganze Welt herausfordern, trug die trauernde Witwe einen kecken lila Hut und ein hellgraues Kostüm. Das Unerhörteste war aber der Schirm, den sie aufgespannt hatte. Er mochte mit seinen bunten Farben in einem Strandbad das Auge erfreuen; auf einem tausend jährigen Friedhof, in dem sechs Bischöfe, ein massenmordender Gastwirt und ihr eigener Gatte die letzte Ruhe gefunden hatten, war es ein Af front. Als der Sarg schließlich zum Vorschein kam, ein sehr massives, sehr großes Prunkstück, und zwei Handwerker sich daran machten, ihn zu öffnen, äußerte der Inspektor eine Bemerkung, der wohl jeder der Anwesenden zugestimmt hätte: «Jetzt könnte ich was Stärkendes vertragen. Die Er kenntnis, daß wir alle in hundert Jahren zum Ver wechseln ähnlich aussehen werden, ohne jede persönliche Note, ist doch ein trübes Kapitel im Menschenleben. Oder?» «Kann man wohl sagen», gab ihm Williams recht. «Und da plagen wir uns noch ab, um zu ermitteln, auf welche Art ein Mensch aus dem Le ben geschieden ist. Auch wichtig!» «Reden Sie keinen Blödsinn. Mit solchen An sichten werden Sie niemals ein Superintendent, 158
nicht mal ein simpler Inspektor», warnte ihn Bai ley. «Will ein Mensch vorwärtskommen und Kar riere machen, muß er alles, was er tut, mit ge bührendem Ernst tun. Selbst wenn er einen Floh knackt.» Eigentlich hätten sie beide nun an den geöffne ten Sarg treten müssen, um ein Auge auf die Überreste von Sir Robert zu werfen. Statt dessen verzogen sie sich in tiefem Einvernehmen und oh ne ein Wort zu wechseln. Und nicht nur sie. Auch Dorothy Thorp, ihre Haushälterin und zwei Männer der Staatsanwaltschaft folgten ihnen, so daß am Sarg nur die beiden Friedhofsarbeiter, der Lei chenbeschauer und der Arzt blieben. Nach einer halben Stunde war die Prozedur zu Ende. Der schwarze Wagen mit der Leiche ver schwand in Richtung Liverpool, der Inspektor und Williams bestiegen den Polizeiwagen. Doch schon an der nächsten Ecke hielten sie. Sie brauchten ein Glas Stärkung. Gestern nachmittag hatte Williams’ Gesichts haut, nachdem er sie mit einem Reinigungsmittel und anschließend mit grobkörniger Seife gewa schen hatte, eine gelbgrünviolette Farbtönung ge habt. Die schlaflose Nacht in der Speisekammer, der Aufenthalt auf dem Friedhof und die Exhumie rung des gewesenen Sir Robert bewirkten, daß aus seinem Gesicht, wie sich Bailey über ihn lustig machte, alle Farbe gewichen war. «Lassen Sie nicht den Mut sinken», höhnte er, «denn das Schlimmste kommt noch. Und da müs sen Sie ganz auf dem Posten sein.» 159
«Sie meinen, es wird in Curentin noch jemand aus dem Leben verschwinden?» Der Inspektor wiegte bedächtig den Kopf. «Warum nicht, auf einen mehr oder weniger kommt es dem Mörder nicht mehr an. Auf jeden Fall pfeifen Sie auf all die dämlichen Vorschriften und stecken Sie einen Revolver ein. Das kann zwar Ihrer Laufbahn ein Ende bereiten, Ihnen aber das Leben retten. Und was nützt Ihnen selbst eine Beförderung, wenn Sie davon nichts mehr haben, außer daß vielleicht auch an Ihrer Grabstätte zwei Engel die Ehrenwache halten?» «Ich soll heute abend wieder nach Curentin?» fragte Williams mit schwacher Stimme. «Ja. Und passen Sie besonders auf Lady Thorp auf. Entweder ist sie die Täterin oder das nächste Opfer.» Das entsprach durchaus der Logik der bisheri gen Ereignisse, aber selbst ein so erfahrener Kri minalist wie Inspektor Bailey konnte nicht ahnen, daß sich noch an diesem Abend so absonderliche Dinge im Schloß abspielen würden, wie sie keine Logik, ja nicht mal der vielgepriesene gesunde Menschenverstand voraussehen konnte. Während des Abendessens in Curentin, an dem Williams als Gast teilnahm, wurde kaum ein Wort gewechselt. Und wenn jemand etwas mit gepreß ter Stimme sagte, fuhren die anderen zusammen, als wären sie mit einer Stecknadel gepiekt wor den. Die Schäden in der Halle waren zum größten Teil behoben, im Kamin brannten wuchtige Holz 160
scheite, der Feuerschein spiegelte sich wider in den Glastüren der Vitrinen, in denen alte Porzel lanfiguren, japanische Teetassen, silberne Wein pokale standen. Das Prunkstück war eine vergol dete Standuhr aus dem achtzehnten Jahrhundert. Jede volle Stunde gab sie eine fein klingende Me lodie von sich. Der Schäfer, der eine Herde hüte te, blies dazu auf seiner Flöte, die Schafe senkten ihre Köpfe, um zu weiden, die Dorfschöne mit der Wassertrage und den zwei Eimern drehte sich anmutig wie im Tanz, der Bursche, der ihr folgte, breitete die Arme aus, sie zu umfassen… Es regnete. Aus einer schadhaften Dachrinne plätscherte Wasser. Durch die Glastüren konnte man hinaus auf die Terrasse sehen, die von einer Brüstung umgeben war. Früher waren dort sicher an lauen Sommerabenden fröhliche Feste gefeiert worden; ein kleines Orchester hatte heitere Musik gespielt; Damen und Herren in bestickten Röcken und weißen Perücken hatten schweigend ge lauscht, an Jagd- und Liebesabenteuer denkend, oder galante Schmeicheleien ausgetauscht… Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Zwi schen den Fliesen wuchs Moos und Gras, die La terne draußen am Haus beleuchtete die nassen Steine. Alles war grau und öde, und Williams, der hinausblickte, mußte an den heutigen Nachmittag denken, an die steinernen Engel, an den Moderge ruch, als die Gruft geöffnet wurde… «Ein gemütlicher Abend. Wie wäre es, wenn wir zur allgemeinen Erheiterung ein wenig Tischchen rückten, was Okkultes heraufzubeschwören ver 161
suchten?» Mit diesem nicht allzu geistreichen Scherz versuchte Dorothy die Stimmung zu bele ben. «Ohne mich. Ich kann heute nichts Geheimnis volles mehr ertragen, ich werde ohnehin die gan ze Nacht kein Auge schließen», lehnte Patricia, die den spaßhaften Vorschlag ihrer Herrin ernst nahm, mit großer Empörung ab. «Es gibt Menschen, die erst klug werden, wenn es für sie zu spät ist», krächzte Dexter. «Meinen Sie mich damit?» fragte Dorothy spitz. «Ich habe von meinem Fenster aus beobachtet, wie Sie trotz Ihrer dreiundfünfzig Jahre ge schminkt wie ein Revuegirl zum Friedhof losgezo gen sind. Kein Wunder, daß Sie sich dort keine Gedanken darüber gemacht haben, wozu der Mensch lebt und daß er weiterlebt, wenn er ge storben ist.» «Schön wär es, wenn Sie bereits in einer Welt weiterlebten, wo ich Ihnen nicht begegnen muß.» Williams überlegte, was er zu dieser geistvollen Unterhaltung beitragen könnte, da schrillte das Telefon. Fisher erschien und richtete ihm aus, In spektor Bailey wünsche ihn zu sprechen. Als Williams in die Halle zurückkehrte, wußte er das Ergebnis der Obduktion: Robert Thorp war eines ganz natürlichen Todes gestorben. Schweigend setzte er sich wieder an den Tisch. «Es ist ja durchaus denkbar, daß Miß Grady wirklich einem Unfall zum Opfer gefallen ist», meinte der Colonel eben mit tonloser Stimme. «Sie kann beim Fahren einen Schwächeanfall er 162
litten haben, oder die Steuerung des Wagens hat versagt… Keinesfalls steht fest, daß ihr das glei che widerfahren ist wie zum Beispiel Dr. Evans oder Conroy, der jetzt bestimmt irgendwo ver scharrt unter der Erde liegt.» «Was Arvin Conroy betrifft», sagte Patricia, «weiß ich bestimmt, daß er noch lebt. Ich habe gestern nacht von ihm geträumt, und da ich im mer nur von lebenden Menschen träume…» «Hört endlich mit diesem Gewäsch auf!» Doro thy riß die Geduld. «Das kann einen normalen Menschen allmählich um den Verstand bri…» Das letzte Wort blieb ihr im Hals stecken. Willi ams, der ihrem Blick folgte, riß den Mund auf, oh ne einen Laut herauszubekommen. Fisher fiel das Besteck, das er gerade auf den Tisch legen wollte, aus der Hand. Patricia faßte sich ans Herz und war die einzige, die einen Ton zustande brachte. Nach ihrem aufgerissenen Mund zu urteilen, hätte es ein gellender Schrei sein müssen, doch es war nur ein klägliches Piepsen. Dexters Gesicht war fahl geworden, man hörte nur das Röcheln seines Atems. Alle stierten durch die Glastüren auf die Terras se. Von der Laterne beschienen, saßen dort um den weißen Gartentisch drei Gestalten: Dr. Evans, Stella Grady und Arvin Conroy. Sie bewegten sich, gestikulierten und sprachen miteinander, ganz so, als weilten sie noch unter den Lebenden. Es reg nete in Strömen, das schienen sie gar nicht zu bemerken. Auch befremdete keinen von ihnen das 163
Aussehen der anderen. Um Evans’ Haupt und Hals hingen Wasserpflanzen. Stella Gradys Gesicht und Hände waren kohlschwarz, ihre Kleidung bestand aus verbrannten Lumpen. Quer über Arvins Schä del klaffte eine breite blutende Wunde. Plötzlich erstarrten sie, als hätten die Blicke aus der Halle sie gelähmt. Dann standen sie langsam auf, traten an die Glastüren, schauten hinein, wo bei ihre Gesichter noch deutlicher zu erkennen waren, und verschwanden darauf in der Finsternis wie Herbstblätter, die ein Windzug davonweht. Williams war der erste, der sich faßte. Mit ei nem Satz war er an einer der Türen, riß sie auf und raste in die Richtung, in der die drei ver schwunden waren. Als er zurückkehrte, vom Regen durchnäßt, hatten seine Tischnachbarn immer noch nicht die Reaktionsfähigkeit völlig zurückgewonnen. «Jetzt werde ich wirklich wahnsinnig», brachte endlich Dorothy hervor. «Gott, der du allmächtig bist im Himmel wie auf Erden, steh mir bei und verzeihe mir alle meine Sünden!» hauchte Patricia. Dexters fahles Gesicht war lila-rot angelaufen, die Augen quollen ihm aus den Höhlen, er atmete wie jemand, der dem Ersticken nahe ist, seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. «Ich wollte sie nicht umbringen… ich schwöre… es war ein Versehen… ein Versehen…», röchelte er. «Wen wollten Sie nicht umbringen?» fuhr Willi ams ihn an. 164
«Stella. Ihr Tod war ein schrecklicher Irrtum, und ich weiß nicht einmal, wie es dazu kam.» Dexter zerzauste sein Haar. «Ich habe die Ampul le, wie sie es wollte, in das Teekännchen von…» Er verstummte in der Erkenntnis, daß er in seiner Bestürzung ein Geheimnis preisgegeben hatte, das für ihn übelste Folgen haben konnte. «Sie haben Gift in das Kännchen von Lady Thorp geschüttet? Das wollten Sie doch sagen, oder nicht?» Williams ließ ihm keine Zeit zum Überlegen. «Es war gar nicht Lady Thorps Kännchen. Es war das Kännchen ohne Wappen. Fisher hatte es fälschlicherweise auf Lady Thorps Platz gestellt, und ich habe es umgetauscht», schluchzte Patri cia. «Ich… ich bin eine Mörderin, ich habe Stella Grady auf dem Gewissen.» «Heul nicht, daß du sie umgebracht hast, danke lieber Gott, daß du mich gerettet hast.» Dorothy war zwar blaß geworden, doch gewann sie all mählich ihre Fassung wieder. Und zu Dexter ge wandt, fragte sie: «Darf ich vielleicht erfahren, warum Sie mich vergiften wollten?» «Weil ich… oder vielmehr Stella… überzeugt war, daß Sie nicht nur Dr. Evans, sondern auch… auch Conroy beseitigt haben und daß wir… wir die nächsten Opfer sein würden.» Der Colonel mußte sich jedes Wort abringen, aber er war offenbar erleichtert, als er seine Schuld gestanden hatte. Hartnäckig beharrte er jedoch darauf, daß er mit dem Tod der beiden an deren Erben nichts zu tun habe. 165
Als Williams ihn aufforderte, mit ihm nach Walsh zu fahren, erhob er nicht einmal Einspruch. Er packte die nötigsten Sachen, und als er, im Mantel und einen kleinen Koffer in der Hand, in die Halle zurückkehrte, hatte er nur noch eine Bit te, ausgerechnet an Dorothy. «Ihr Whisky, wissen Sie, ist wirklich ein einma liges Getränk, und da hätte ich eine Bitte ange sichts der bösen Zeit, die mir bevorsteht. Könnten Sie mir nicht eine Flasche auf den Weg mitge ben?» Diese Bitte war eigentlich eine Unverschämt heit, aber Dorothy, im Hochgefühl ihres Lebendig seins, erfüllte sie ihm. Zum zweiten Mal an diesem Tag erstattete Wil liams Inspektor Bailey Bericht. Danach wurde Dexter von diesem selbst verhört; das Protokoll wurde ausgefertigt und unterschrieben. Als alle Formalitäten erledigt waren, schickte Bailey seinen jungen Gehilfen nach Hause. Er soll te endlich, ohne herumzugeistern und in Speise kammern einzubrechen, die Nacht in seinem Bett verbringen und sich ausschlafen. Allein geblieben, machte sich Bailey auf den Weg zur «Blutigen Schmiede».
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Zwölftes Kapitel
Ein weiteres Mal läßt sich Inspektor Bailey zu ei ner Verletzung seiner Dienstvorschriften verlei ten (der Autor folgt hier der Empfehlung namhaf ter Literaturkritiker, sein Werk dadurch glaubwürdiger zu machen, indem er seine positi ven Helden mit einigen kleineren Fehlern aus stattet). Durch alte Familienpapiere kommt all mählich etwas Licht in die Affäre.
Wie er erwartet hatte, stieß er im Schankraum auf eine ausgelassene Runde, die aus zwei Frauen und drei Männern bestand. Eine der Frauen war Ann. Sie war die einzige, die wie ein normaler Mensch wirkte und sich ent sprechend benahm. Die anderen waren Künstler, das sah man an ihren reichlich bizarren Krawat ten, dem phantasievollen Schnitt ihrer Kleidung und ihren Frisuren. Anns Nachbarin trug auf dem hochtoupierten Haar einen ausgestopften Vogel balg, weil sie, wie sie bemerkte, die Hippies satt habe, die ihre Haare weit bis über die Schultern wachsen ließen und hinter die dreckigen Löffel Blumen steckten. Gegen solchen Modeunsinn wollte sie mit ihrem Vogel protestieren. Außer der sich lautstark unterhaltenden Gruppe war im Schankraum kein Gast mehr, die Polizei stunde war längst vorüber. Nur Bill Shannon lauschte interessiert und belustigt den Reden sei ner ungewohnten Gäste. Als der Inspektor von der Haushälterin des Gastwirtes hereingelassen wurde, trat kurzes Schweigen ein. Dann erhob sich einer der Männer, breitete pathetisch die Arme aus, und auf die Fol terwerkzeuge weisend, rief er mit dröhnender Stimme, einen Monolog improvisierend: «Jetzt weiß ich, Sir, wozu die Zangen, Sägen, Messer, seh’ ich den Herrn dort in der Türe stehen! Sein wohlig Fleisch bringt mich auf den Gedanken…» Bailey, der diese auf sein Fleisch gerichtete Spitze überhörte, wandte sich an Shannon und 168
verlangte einen schwarzen Kaffee. Dann forderte er Ann auf, sie solle ihm ihre Freunde vorstellen. Doch ehe sie einen Satz hervorbringen konnte, stellte sich einer nach dem anderen selbst vor. «Richard Picklick!» Der älteste der Männer sprang auf und verbeugte sich. Seine dichte weiße Mähne, die gefurchte Stirn und die massive breite Nase erinnerten an den Kopf eines Löwen. «König. Gelegentlich Fürst in Nebenrollen bei Shake speare», ließ er seinen Baß erdröhnen. Ein Mann mittlerer Jahre mit einer Glatze und einem knallig roten Rollkragenpullover stellte sich als nächster vor. «Dick Dickinson, Heldenvater. Gelegentlich betrogener Ehemann.» «Charles Mimicry, ränkeschmiedender Böse wicht, aushilfsweise jugendlicher Liebhaber.» Wie alt er war, konnte man kaum sagen, denn von seinem Gesicht sah man nicht mehr als ein Drit tel. Er trug eine Beatnikfrisur und einen Bart, der nur die Nase und die Augen in dem Haarwust deutlich erkennen ließ. «Ich heiße Mary Sandy und spiele alles, was Rock oder Hose trägt», sagte die Dame mit dem Vogel. Der Inspektor hatte den ganzen Tag in unleidli cher Stimmung verbracht. Der Untersuchungs richter hatte wieder einmal angefragt, wann denn endlich greifbare Resultate bei der Ermittlung zu erwarten wären; der Haftbefehl für Dorothy Thorp war bereits ausgestellt. Jetzt nach der Verhaftung Dexters hatte sich Baileys Laune wesentlich ge bessert. 169
Er forderte Shannon auf, den anwesenden Mi men auf seine Rechnung eine Runde einzuschen ken. Dann meinte er kunstverständig: «Die Vor stellung, die Sie heute auf der Schloßterrasse gegeben haben, muß außerordentlich eindrucks voll gewesen sein. Schade, daß ich daran nicht teilnehmen konnte.» Und zu Ann: «War es Ihr Einfall oder der Ihres Mannes?» «Da wir eine glückliche Ehe führen, besteht zwischen uns keine Gütertrennung, weder materi ell noch geistig», erklärte sie nicht ohne Stolz. «Also ist die räumliche Trennung zwischen euch», Bailey ging auf ihren Ton ein, «nur zeitwei liger Natur?» Ann seufzte tief und innig. «Daran bin ich gewöhnt. Ich bin ja froh, wenn ich einmal im Jahr eine Weihnachtskarte erhalte. Aus Mesopotamien, vom Nord- oder Südpol oder von sonst einem noch gar nicht entdeckten Erd teil. Dann sag ich mir, immerhin besitze ich die Heiratsurkunde.» «Besser als gar nichts, das ist wichtig», meinte Bailey. «Und zur Zeit treibt sich Ihr immer ent schwindender Gatte doch wohl nicht im Jenseits und auch nicht in Mesopotamien, sondern im Schloß Curentin herum? In welchem Verlies, Kel lerloch oder welcher Bodenkammer hat er dort sein Domizil aufgeschlagen?» «In Dorothy Thorps Zimmer, und um ganz ge nau zu sein, im Bettkasten unter ihrer surrealisti schen Couch.»
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«Also war auch sie in diese Gespenstervorstel lung eingeweiht?» «Nicht nur eingeweiht», rief Dick Dickinson, Heldenvater und gelegentlich betrogener Ehe mann. «Sie war gewissermaßen der Spiritus rect dieser Idee.» «Spiritus rector ist das einzige lateinische Wort, das er kennt, und auch das spricht er falsch aus», meinte Ann unverschämt. «Im übrigen spielte er auf die zwanzig Pfund an, die Dorothy jedem von ihnen für diese einmalige Leistung in die Hand drückte. Die Idee stammte selbstverständlich von mir.» «Du lügst, meine Teure», näselte Charles Mimi cry, der ränkeschmiedende Bösewicht und gele gentlich jugendliche Liebhaber. «Die Idee stamm te von Arvin. Du bist zwar ein guter Kamerad, das will ich nicht leugnen, aber was deinen Intelli genzgrad betrifft, so stehst du doch ein ganzes Stück hinter G. B. Shaw zurück.» Wie er in diesem Zusammenhang auf Shaw ge kommen war, erklärte er nicht näher. Schließlich ergriff Bailey das Wort. Er zeigte auf die hohe Stirnglatze Dick Dickinsons und meinte: «Ich nehme an, Sie waren der mit Schlingpflanzen gezierte Evans. Und Sie», er tippte mit seinem dicken Finger auf den Vogel, der Mary Sandys Haupt zierte, «die verkohlte Grady. Und wer spiel te Arvin Conroy mit dem gespaltenen Schädel?» «Er wollte sich durchaus selbst spielen», erklär te Ann. «Er glaubt nämlich, daß er mehr Talent hat als ich. Aber das ist ein großer Irrtum. Er muß 171
nur den Mund aufmachen, wenn er lügt, und schon weiß ich, wie die Wahrheit lautet, die er mir verschweigen will. Aber in seiner eigenen Rolle, das muß ich zugeben, war er nicht schlecht.» «Also dann wäre diese Geschichte geklärt», stellte der Inspektor fest. Ohne hinzusehen, streckte er sein Glas Bill Shannon entgegen. Ein Gluckern im Glas folgte dieser Bewegung, der ko gnakgefüllte Delphin hatte zwischen ihm und dem Gastwirt eine stille Übereinkunft geschaffen. «Meine Damen und Herren!» Bailey erhob sich. «Trinken wir auf den großartigen Erfolg Ihrer künstlerischen Darbietung! Nach dem Gesetz müßte ich euch alle hinter Schloß und Riegel brin gen wegen groben Unfugs. Aber, wie die alten Römer auf lateinisch sagten, eine Sprache, von der ich leider nicht mal ein Wort kenne, rechtfer tigt der Erfolg die Mittel. Auf jeden Fall verspreche ich euch eins. Wenn ihr in Liverpool eine Vorstel lung geben solltet, schickt mir zwei Dutzend Kar ten; die werde ich meinen Mitarbeitern im Polizei präsidium andrehen. Auf den ehrenwerten Herrn Thespis!» Damit leerte er das Glas und verschaffte sich einen glänzenden Abgang, indem er bewies, daß auch Verbrecherjäger kunstverständige Menschen sein können. Obwohl die Turmglocke der Kathedrale von Walsh schon längst die Mitternacht verkündet hat te, beschloß Bailey, Curentin noch einen Besuch abzustatten.
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Er parkte seinen Wagen in einiger Entfernung vor dem Tor. Nur im Zimmer von Lady Thorp war noch Licht. Als gewissenhafter Beamter hätte Bailey jetzt klingeln und abwarten müssen, bis er die Geneh migung erhielt, das Haus zu betreten. Aber auch Kriminalisten sehen sich ab und zu vor die Not wendigkeit gestellt, die Gesetze großzügig auszu legen, um üble Elemente zu überführen, die aus Gesetzesübertretung einen Beruf machen, der seinen Mann zuweilen gar nicht so schlecht er nährt. Der Inspektor klingelte weder, noch klopfte er. Er verschaffte sich vielmehr Einlaß mit einem Dietrich. Stets trug er ein halbes Dutzend dieser Handwerkszeuge der Einbrecher bei sich und verstand sie nicht schlechter zu benutzen als ein Meister dieser Berufssparte. Im Schloß war alles still. Bailey durchschritt trotz seiner Korpulenz lautlos die große Halle und trat in den hinteren Flur. Die Tür zur Küche war nur angelehnt, und Bai ley, dem Williams’ Abenteuer in der Speisekam mer wieder einfiel, verspürte plötzlich einen selt samen Wunsch. Ob Dr. Evans’ Wunderschloß auch mit einem Dietrich zu öffnen war? Probieren wir es aus, sagte er sich. Und ehe er sich versah, war er schon auf der bekannten schiefen Bahn. Das Schloß ließ sich in der Tat öffnen, und ein Blick auf Patricias Fleischtresor genügte, um seine
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rein geistige Versuchung zu einer fleischlichen he rabsinken zu lassen. Er bemühte sich erst gar nicht, ihr zu widerste hen. Als sein Blick auf eine Salami fiel, für ihn die Königin aller Würste, langte er nicht erst nach seinem Taschenmesser. Er sagte sich, wozu hat der Mensch Zähne, und handelte dieser Erkennt nis entsprechend. Ein langgedehnter Seufzer ließ ihn herumfah ren. Auf der Küchenschwelle stand Patricia. Wie sie immer zu betonen pflegte, war die Welt grausam, ungerecht und schlecht. Aber daß sie so schlecht war, wie sie in diesem Augenblick erfuhr, hätte sie sich nicht träumen lassen. Ein hoher Ge setzeshüter, der mit vollem Mund ihre selbstge machte Salami kaute, das war für sie beinahe Gotteslästerung! Ebensogut hätte er in der Kirche den Opferstock ausrauben können! Bailey versuchte den großen Bissen hinunterzu befördern und verschluckte sich dabei. «Herr Inspektor! Herr Inspektor!» Patricias Stimme zitterte mitfühlend und anklagend zu gleich. «Um Gottes willen, spucken Sie es aus! Sonst… werden Sie ersticken, und ich habe die zweite Leiche auf dem Gewissen.» Aber das Mit gefühl siegte: «Soll ich Ihnen eine Flasche Porter bringen?» «Zwei!» rief der Inspektor ihr nach, als er end lich wieder sprechen konnte. «Sie finden mich bei Lady Thorp.» Lady Thorp saß in einem japanischen Kimono auf ihrer surrealistischen Couch rauchte in ihrer 174
dekadenten Zigarettenspitze eine Gauloise und überlegte, welchen Zug sie mit ihrem Turm ma chen sollte. Sie spielte mit Arvin, dessen Kopf verbunden war, Schach. Es war die fünfte Partie, die sie in einer Rekordzeit verlor. Als der Inspektor eintrat, blickten die beiden zwar auf, doch sie waren so ins Spiel vertieft, daß sie, ohne eine Frage an ihn zu richten, nur seinen Gruß erwiderten. Er stellte sich neben den Tisch und meinte zu Dorothy: «Keine Chance für Sie, Sie komische Geisterbe schwörerin.» «Warum komische? Das klingt wie komische Al te», bemerkte sie indigniert. «Und bin ich etwa eine komische Alte, Arvin?» «So ziemlich», erwiderte ihr Partner, ohne eine Miene zu verziehen. Dann wandte er sich an Bai ley: «Hat Dexter alles gestanden?» Der Inspektor nickte. «Wie sind Sie daraufgekommen, daß er das Pülverchen in den Tee getan hat?» «Er ist von Geburt an ein Esel», stellte Arvin nüchtern fest. «Er warf das leere Glasröhrchen, in dem er das Gift aufbewahrt hatte, ins Gebüsch hinter der Terrasse. Und da ich überall herum schnüffelte, habe ich es dort gefunden. Außerdem war er nach dem Tode der Grady so niederge schlagen, daß er einem leid tun konnte. Das wäre er aber bestimmt nicht gewesen, wenn er Dorothy beiseite geräumt hätte.» «Danke. Du bist wirklich zu liebenswürdig.» 175
«Als Sie mit lädiertem Schädel in der Halle la gen, hat Lady Thorp Sie fortgeschafft?» «Ja. Leider», zahlte Dorothy nun ihrem jungen Freund mit gleicher Münze heim. «Ich wollte einen Arzt holen, aber er redete mir ein, niemand solle erfahren, wo er geblieben sei. Er wollte auf eigene Faust Detektiv spielen. Die arme Grady hätte da bei fast einen Herzschlag bekommen.» «Haben Sie einen Verdacht, wer Ihnen den Schlag auf den Kopf versetzte?» forschte der In spektor weiter. «Klar. Es kann nur Fisher gewesen sein. Oder sie», Arvin zeigte auf Dorothy. «Oder sie beide zusammen. Aber wer es auch war, er ahnte nicht, daß ich einen besonders harten Schädel habe. Ei nen Eisenschädel. Schon als Junge war ich der Schrecken aller, mit denen ich mich herumraufte. Ich benutzte dazu selten die Fäuste, sondern rannte wie ein Bock mit der Stirn gegen den Kopf meines Gegners, und dann krachte es, aber nicht bei mir», erzählte Arvin voll Stolz. «Immerhin mußte ich ihn stützen und ihm mei ne Strickjacke um den Kopf wickeln», fiel Dorothy ein. «Das Blut aus der Platzwunde lief ihm fast in die Schuhe.» «Dann wäre ja auch dieser dunkle Punkt ge klärt», bemerkte Bailey. «Und es bleibt nur noch eines übrig, den Täter zu überführen.» «Da gibt es nur einen Weg.» Arvin räumte die Schachfiguren zusammen und zeigte dann auf Do rothy: «Sie wird daran glauben müssen.» «Was werde ich müssen?» 176
«Dich von ihm umbringen lassen, was sonst?» «Nein, das geht zu weit, das kannst du von mir nicht verlangen!» protestierte Dorothy. Bailey blieb ernst. «Die Frage, die mich am meisten beschäftigt, lautet: Warum tut Fisher das alles? Welches Motiv hat er? Heute nachmittag habe ich erfahren, daß Fisher nicht der Mann ist, für den er sich ausgibt. Der Fisher, der als Steward elf Jahre die Meere befahren hat, ist in Melbourne gestorben. Das bringt ein neues Licht in die ganze Sache, und ge rade deshalb tappe ich wieder im dunkeln. Wer ist nun unser Fisher wirklich? Bei Interpol ist er nicht bekannt. Was kann er für Motive haben? Entwe der muß er zur Familie Thorp gehören oder…» «… er handelt im Auftrag meiner lieben Tante Dorothy, das ist doch klar», schloß Arvin so gleichgültig, als stelle er fest, seine liebe Tante werde allmählich rundlich und müsse deshalb we niger Fleisch und mehr Obst essen. «Außerdem gibt es noch zwei Kombinationen. Erstens: Fisher ist gar nicht der Täter, sondern ich. Allein oder wieder mit der lieben Tante zusammen. Zweitens: Fisher ist es doch, und seine Partnerin ist Patricia, diese arme, vermögenslose Witwe.» Bailey blieb ernst. Er wandte sich erneut an Dorothy: «Hat Ihr Mann nicht irgendwann bei irgendeiner Gelegen heit angedeutet, daß in der Familie Thorp ein schwarzes Schaf existiert, ich meine es im über tragenen Sinn», fügte er überflüssigerweise hinzu.
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«Das brauchte er gar nicht anzudeuten. Das schwärzeste Schaf aller Schafe war er selbst», versetzte Dorothy. Doch plötzlich schlug sie sich auf die Stirn. «Wie konnte mir das nur entfallen.» «Was entfallen?» Arvin musterte sie mit einem Mal voll Spannung. «Ich glaube, es war am Morgen nach unserer Hochzeitsnacht – das ist nun schon dreißig Jahre her! Da sprach er von einem Halbbruder, der ir gendwelche schrecklichen Dinge angestellt habe», erzählte sie, «aber er sei Gott sei Dank irgendwo in Afrika oder Australien tödlich verunglückt und ich würde daher die einzige Erbin sein. Damals hatten wir einander noch lieb», erklärte sie mit einem Seufzer. Arvins Miene verriet, daß er wieder einmal sei ne Tante mit einer schnoddrigen Bemerkung schockieren wollte, doch er kam nicht dazu. Plötz lich sprang er auf und rief aufgeregt: «Die Kom mode! Ich habe doch jeden Winkel in diesem Schwammcastle durchstöbert, da habe ich das alte Ding auf dem Boden entdeckt! Wenn irgend wo, dann finden wir in ihr des Rätsels Lösung!» Dorothy und der Inspektor blickten ihn so ver ständnislos an, als hätte er behauptet, die Erde habe nicht die Form einer Kugel, sondern sei ein großer Zuckerwürfel. «Was für eine Kommode?» wollte Bailey wissen. «Was enthält sie?» «Verstaubten Papierkram. Alte Akten, Rech nungen, verschnürte Briefbündel.» 178
«Und was hat das mit Fisher zu tun?» fragte Dorothy. «Vielleicht finden wir irgendeinen alten Wisch, in dem mehr drinsteht, als dein Verblichener dir erzählt hat. Oder etwas, was du vergessen hast. Schließlich hattest du gerade die Hochzeitsnacht hinter dir», fügte Arvin anzüglich hinzu. «Über diesen verunglückten Halbbruder Simon Chuck habe ich mich schon mit Lockridge unter halten», bemerkte Bailey. «Da werden wir kaum was Neues erfahren. Er ist wirklich bei einer Brük kenmontage ums Leben gekommen. Lockridge zeigte mir sogar die Abschrift der Sterbeurkunde. Aber meinetwegen, versuchen wir’s, vielleicht fin den wir einen anderen Hinweis», beschloß Bailey. Die alte wurmstichige Kommode stand unter al lerlei Gerümpel in einer der entlegensten Ecken des Bodens. Bailey öffnete eine der Schubladen und holte ein verschnürtes Bündel Briefe heraus. «Haben Sie die Papiere schon durchgesehen?» «Nein. Mir ist ja erst vorhin eingefallen, daß sie von Bedeutung sein könnten», sagte Arvin. «Also ist uns jemand zuvorgekommen.» Bailey warf ärgerlich die Briefe wieder zurück. Nicht der geringste Staub wirbelte auf. «Wie wollen Sie das wissen?» fragte Dorothy erstaunt. «Jemand hat Blatt für Blatt durchgesehen, sonst müßten jetzt wahre Staubwolken aufstei gen.» Der Inspektor war sichtlich enttäuscht. «Ich schicke morgen einen Beamten her. Er kann sich 179
dann die vergebliche Mühe machen, hier einen Hinweis auf Fishers Vergangenheit zu finden.» Als sie wieder in Dorothys Zimmer saßen, ließ Bailey sein Doppelkinn auf die Brust sinken, so daß es jetzt drei Falten bildete, und schloß welt entrückt die Augen – ein untrügliches Zeichen, daß er angestrengt überlegte. «Ich könnte Fisher wegen gefälschter Papiere natürlich sofort verhaften lassen, um ihn dann, wie man in Amerika sagt, in einem Verhör weich zumachen. Aber das kann ich mir als Beamter Ih rer Majestät der Königin, der von den Pennies der Steuerzahler lebt, nicht leisten. Außerdem ist Fi sher ein so schlauer Fuchs wie sechs ausgekochte Anwälte zusammen, und ich würde wahrscheinlich nichts aus ihm herausquetschen. Selbst wenn ich ihm was anhänge – da ließe sich gewiß manches finden –, würde er nach ein paar Monaten oder höchstens einem Jahr freigelassen. Und wir wären so klug wie zuvor.» «Bleibt nur meine geniale Idee. Du mußt dich, liebe Tante, von ihm umbringen lassen. Dann hät ten wir ihn endgültig überführt.» «Und du erbst alles, während ich, die ein frohes Witwendasein führen wollte, wieder mit diesem alten Ekel von Ehemann zusammengesperrt wäre, für alle Ewigkeit, Sarg neben Sarg in der Famili engruft. Nein, das kannst du mir nicht zumuten! Ich habe einen besseren Vorschlag.» «Da bin ich aber gespannt», meinte Arvin, wäh rend Bailey, erneut in Nachdenken versunken, aus seinen zwei Kinnwülsten wieder drei machte. 180
«Ich werde die Rolle der irdischen Gerechtigkeit übernehmen und mal abwechslungsweise mit dem Fisher das tun, was er mit mir vorhat. Ich bringe ihn ein wenig um, und dann fahre ich mit dir nach Mesopotamien Tonscherben sammeln. Ich habe immer schon für Tonscherben geschwärmt. Und Ann kann hierbleiben und das Kindererholungs heim einrichten. Was sagst du dazu?» «Hört zu, ich meine es ernst.» Arvin ging auf die Tonscherbensehnsucht Dorothys nicht ein. «Wenn wir Fisher wirklich überführen wollen, müssen wir ihm eine Falle stellen.» «Wie soll sie aussehen?» In Bailey erwachte ein gewisses berufliches Interesse. «Ich denke es mir so. Sie verhaften mich als den mutmaßlichen Täter. Du, liebe Tante, ver gehst vor Angst und kannst nachts kein Auge schließen, ich meine, keinen Schnarcher von dir geben. Schließlich vertraust du dich Patricia an. Du trichterst ihr ein, daß du fürchtest, dieser por tergefüllte Fettkloß», Arvin zeigte auf den Inspek tor, «könnte auch dich einbuchten. Warum? Weil er den festen und vielleicht nicht ganz unberech tigten Verdacht hegt, wir beide zusammen, du und ich, hätten den armen Evans den Fröschen im Teich als Futter vorgesetzt.» «Das klingt alles sehr schön», räusperte sich Bailey. «Aber ich als Beamter Ihrer Majestät und Gehaltsempfänger…» «Meine liebe Tante wird ihre letzten Pennies zu sammenraffen und Ihnen ein Jahresgehalt aus ih rer eigenen Tasche bezahlen. Vergessen Sie nicht, 181
die Zeitungen im ganzen Land beginnen allmäh lich an Ihrer Fähigkeit zu zweifeln, und Sie müs sen was unternehmen, wenn Sie als Kriminalist weiterhin unverzollten Kognak bei Bill Shannon süffeln wollen.» Bailey machte eine drohende Geste, doch das beeindruckte Arvin nicht im geringsten. «Also meine Tante erleichtert ihr Herz Patricia, dieser armen, vermögenslosen Klatschbase, und vertraut ihr an, daß sie alles Geld, was sie geerbt hat, von der Bank abheben wolle, um sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub zu machen, Rich tung Naher oder Ferner Osten, auf jeden Fall weit genug, daß der Arm des Gesetzes sie nicht errei chen kann. Patricia wird ein solches Geheimnis selbstverständlich nicht für sich behalten können. Sie wird es der Rose erzählen, und von der wird es Fisher erfahren…» Dorothy war blaß geworden. «…dann wird er mich zum zweiten Mal bei le bendigem Leibe wie eine grüne Kaffeebohne zu rösten versuchen. Und wenn ich trotzdem am Le ben bleiben sollte, eigenhändig aus dem Fenster schmeißen, unter dem eine Egge auf mich war tet.» «Das eben wird er nicht tun», meinte Bailey. «Fisher weiß genau, noch einen offenkundigen Mord darf es nicht geben. Also wird er Sie entwe der in aller Stille abmurksen und irgendwo ver scharren oder Ihren Tod als Selbstmord hinstellen und einen Brief fabrizieren, in dem Sie Ihre Schuld eingestehen. Gewissensbisse und so.» 182
«Das sind ja schöne Aussichten für mich», be merkte Dorothy mit einem erzwungenen Lachen. «Wir müssen nur rechtzeitig herausbekom men», meinte Arvin ungerührt, «auf welche Art er dich beseitigen könnte. Er kann dich erschießen, erschlagen, erhängen…» «…von der Balustrade hinabstürzen, erdolchen, in dem Durchbruch meines Badezimmers lebendig einmauern, in der Badewanne ertränken, mit Gas vergiften, mit Arsen, Strychnin, Insektenpulver», beendete Dorothy die Aufzählung aller in Frage kommenden Todesarten. Dann, wider Erwarten, erklärte sie: «Wirklich keine schlechte Idee. Ich würde sogar sagen, abgesehen von der Vorstel lung auf der Terrasse ist es die erste wirklich gute Idee, die du hast, seitdem ich das Joch auf mich genommen habe, dich in meinem Zimmer zu ver bergen.» «Ich wußte doch gleich, daß du eine einsichtige, opferbereite Frau bist», lobte Arvin sie. «Und wie ist es nun mit Ihnen, Inspektor? Bevor Sie ant worten, werfen Sie ein Auge auf meine liebe Tan te. Sie fiebert geradezu vor Abenteuerlust. Im Krieg war sie Leutnant in der Heimatarmee, und sollte es wirklich gefährlich werden, wird sie sich bestimmt ihrer Haut zu wehren wissen.» Bailey betrachtete Lady Thorps sehnige Arme, die aus dem Kimono hervorschauten. «Ich würde Sie selbstverständlich von meinen Beamten auf Schritt und Tritt bewachen lassen. Aber ein Risiko bleibt es trotzdem. Außerdem
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steht ja gar nicht fest, ob Fisher auf den Köder anbeißt.» Dabei hing er einem Gedanken nach, den er weder Arvin noch Dorothy verriet. Hätten sie ge ahnt, was er überlegte, wäre ihnen ganz flau zu mute geworden. Dorothy stand majestätisch auf. «Inspektor, ich nehme jedes Risiko auf mich; wollen Sie das schriftlich?» Bailey winkte ab. «Besprechen wir die Einzelheiten.» Er grapschte neben den Sessel und fand dort nichts. «Hm», grunzte er. «Wo bleibt nur die Patricia?»
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Dreizehntes Kapitel
Die verbrecherische Phantasie des Mörders bringt weitere Menschen in Lebensgefahr, doch am En de siegt die Tugend, und Inspektor Bailey geht als Leuchte in die große Geschichte der englischen Kriminalistik ein. Gleichzeitig erhält der Leser wertvolle Hinweise für die Hinterziehung von Erb schaftssteuergeldern.
Als der junge Archäologe Arvin Conroy unter Mordverdacht verhaftet wurde, brachten alle Zei tungen die Nachricht zusammen mit einem Foto des skrupellosen Erbschleichers auf der ersten Seite. Selbst wenn Arvin in Mesopotamien oder sonstwo eine ganze bis dahin unbekannte Stadt aus dem Wüstensand gegraben hätte, wäre er nicht zu solcher Berühmtheit gelangt wie durch die sensationelle Nachricht, die ihn zum Mörder stempelte. Selbst der Leiter der Expedition, an der er teilgenommen hatte, Sir Jonathan Bruce, mein te kopfschüttelnd, so was hätte er seinem jungen begabten Mitarbeiter nie zugetraut. Obwohl, das müsse er gestehen, er immer ein wenig gewalttä tig gewesen sei. «Der arme Bursche!» schloß er unpassenderweise seinen Gedankengang. In Walsh herrschte eine Aufregung, von der vor allem Bill Shannon profitierte. Das Städtchen wurde von Scharen von Journalisten, Fernsehre portern, Kameraleuten und sensationshungrigen Touristen überflutet. Sie alle hatten durstige Keh len und fragten nicht danach, woher der Gastwirt der «Blutigen Schmiede» seinen französischen Kognak, der wirklich vorzüglich schmeckte, bezog. In Schloß Curentin herrschte dagegen drücken de Stille. «Der arme Junge!» Ähnlich wie Sir Jonathan Bruce äußerte Patricia ihr Mitgefühl mit dem Ver hafteten. «Ich hätte nie geglaubt, daß dieser Mensch von Inspektor, der in fremde Speisekam mern einbricht und sich in Porter fast ertränkt, 186
obendrein so töricht sein kann. Für mich gab es im Haus von Anfang an, noch ehe etwas geschah, nur einen Mörder. Und der heißt Fisher!» «Ich glaube ja auch nicht, daß der arme Junge schuldig ist», seufzte Dorothy. «Aber ich habe Angst. Nachdem der Inspektor ihn festgenommen hat, werde ich bestimmt die nächste sein. Und das möchte ich nun wirklich nicht. Denn was nutzt mir das viele Geld, wenn ich die letzten Jahre meines Lebens im Frauengefängnis verbringen muß. Statt mich mit dir, du treue, verständnisvol le Seele, zu unterhalten, müßte ich dort meine Zunge zum Tütenkleben verwenden.» «Nein, das wäre zu schrecklich.» Patricia tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. «Mir bleibt nur eines übrig: zu verschwinden! So schwer es mir fällt, vor allem, weil ich dich zu rücklassen muß.» Nun schluchzte die treue Seele herzzerreißend. «Pack meine Sachen», bat Dorothy, «und beeile dich. Ich nehme heute abend den Zug nach Lon don, die Fahrkarte habe ich schon gekauft und alles Geld, was ich bekommen konnte, von der Bank abgehoben. Hier hast du hundert Pfund für die laufenden Ausgaben. Wenn ich in Sicherheit bin, schicke ich dir mehr.» Die Reaktion Patricias warf beinahe alle ihre Pläne über den Haufen. «Sie wollen ja gar nicht weg, weil Sie Angst ha ben, verhaftet zu werden. Sie haben Angst vor Fisher.» Und dann platzte die Bombe. «Wenn er der Mörder ist, und das ist er, so wahr Gott lebt, 187
wird er Sie überall finden und schließlich doch umbringen. Also müssen wir ihm eine Falle stel len. Sie müssen als nichtsahnendes Opfer abwar ten, bis er Ihnen ein Messer oder Beil in den Rük ken jagt. Das heißt, soweit soll es ja nicht kommen, weil ich dasein werde, um Sie im rech ten Augenblick zu beschützen. Ich bin zwar eine arme, vermögenslose Witwe, aber wenn es darauf ankommt, kann ich hart zuschlagen.» Sie schaute sich in der warmen, gemütlichen Küche um, in der die Unterhaltung stattfand. Ihr Auge fiel auf einen Schürhaken. «Damit! Damit ziehe ich ihm eins über den Schädel, daß er erst im Zuchthaus zu sich kommt.» «Patricia, das wirst du nicht tun. Du wirst jetzt meine Sachen packen, in dein Zimmer gehen und dich ausweinen. Dann kehrst du in die Küche zu rück, weinst weiter und machst diesem Unhold Fisher ein schmackhaftes Abendessen. Kohlroula den gefüllt mit Hackfleisch, das ißt er besonders gern. Und dann deutest du so nebenbei an, daß ich heute abend verschwinden will. Du weinst dich sozusagen an seiner Brust noch einmal aus.» «An der Brust dieses Unholdes? Das bringe ich nie über mich.» «Du mußt es. Meinetwegen. Denn für dein Ex periment bin ich zu alt, und du mit deinem mit fühlenden Herzen bist zu schwach. Stell dir das bildlich vor! Wenn du ihm mit diesem Schürhaken über den Kopf haust, wird es ein Knacken seiner Schädeldecke geben, das Blut wird bis zur Decke
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spritzen, das Gehirn über sein Gesicht hinabflie ßen! Könntest du das alles ertragen?» Patricia schauderte. «Nein, das könnte ich nicht. Aber wenn dieser Unhold von mir erfährt, daß Sie…?» «Die Sorge überlasse mir. Ich habe mir schon einen Plan zurechtgelegt; auf den fällt er be stimmt herein», beschwichtigte Dorothy ihre Haushälterin. Als sie in ihre Räume zurückkehrte, erwartete sie dort die junge Kriminalbeamtin Jane, die von jetzt ab ständig mit ihr zusammen sein sollte. Ja ne war ein hübsches intelligentes Mädchen, das die Polizeischule mit Auszeichnung absolviert hat te, Chaucer, Milton, Jonson, Shakespeare und an dere Klassiker verehrte, mit dem Schlag der fla chen Hand mühelos ein armdickes Holzscheit entzweibrechen und mit einem Judogriff einen zentnerschweren Müllkutscher mühelos durch die Luft wirbeln konnte. Zuerst spielten beide Schach. Dorothy gewann zu ihrem eigenen Erstaunen genausooft, wie sie sonst verlor. In ihr erwachte der leise Verdacht, daß Jane sie mit Absicht siegen ließ, um ihre inne re Sicherheit zu stärken. Dann spielten sie Schafskopf, und Dorothys Glückssträhne nahm kein Ende. Als sie ganze vier Shilling und elf Pen ce gewonnen hatte, wurde sie des Gewinnens überdrüssig. «Jane, lassen Sie das bitte! So schreckhaft bin ich nun wieder nicht, daß Sie mich dauernd in ei ne Euphorie der Zuversicht stupsen müssen. Au 189
ßerdem, nehme ich an, sind vier Shillinge für Sie doch kein Pappenstiel.» Jane lachte. «Die setze ich auf die Spesen.» Als es dunkel wurde und Fisher immer noch nicht in Aktion getreten war, griff Dorothy aus dem Regal einen Kriminalroman und erklärte, sie wolle jetzt baden gehen. Das Bad war noch nicht ganz instand gesetzt. Die Handwerker seien, wie Dorothy meinte, heut zutage so von der Habgier besessen, daß sie nicht einmal fürs Geld zu haben seien. Die Badewanne war zwar an den neuen Gasboiler angeschlossen, der Durchbruch zum Korridor war aber nur mit einer Schicht Ziegel zugemauert. Die restlichen Ziegel waren an der Wand aufgeschichtet, der Zement im Trog bereits halb eingetrocknet, ein Dutzend der schwarzen Kacheln von den Maurern zerschmissen. Das hinderte Dorothy nicht, in die dampfende Wanne zu steigen, ein Gummikissen unter den Nacken zu schieben und sich in ihren Krimi zu vertiefen. In dem kleinen Raum, der das Bad vom Schlaf zimmer trennte, saß Jane und las das «Verlorene Paradies» von Milton. Ab und zu blickte sie auf, als erwarte sie, eine unsichtbare Hand würde Do rothy unter die Wasserfläche drücken, doch nichts dergleichen geschah. Was Jane in ihrem «Verlorenen Paradies» so faszinierend fand, vermochte Dorothy nicht zu beurteilen. Sie war auf ein Kapitel in ihrem Buch gestoßen, das ihre ganze Aufmerksamkeit in An spruch nahm. Auf diesen Seiten wurde ein Mord 190
geschildert, und zwar auch in einem Badezimmer, dessen Warmwasserspeicher jedoch elektrisch er hitzt wurde. Der Täter, ein von Eifersucht geplag ter Gatte einer Filmdiva, schaffte sie aus der Welt, indem er den Abtreter vor der Wanne mit einem Draht an dem Starkstromanschluß des Boilers be festigt hatte. Als die nackte Schönheit aus der Wanne stieg, um ihr sündiges Leben mit ihren vier Liebhabern fortzusetzen, sank sie mit einem Ach tot zu Boden. Dorothy hatte das Kapitel noch nicht ganz zu Ende gelesen, als auch sie einen Schlag bekam, vorerst geistiger Natur. Der Gasboiler! Die zollangen blauen Flämmchen unter dem Wasserbehälter begannen vor ihren Augen zu sammenzuschrumpfen, bis sie erloschen. Gleich danach vernahm ihr Ohr das leise Zischen aus strömenden Gases; ihre empfindsame Nase be stätigte diese Tatsache. Sie war eine betagte Dame, doch der Sprung, mit dem sie aus der Wanne hüpfte, war eine sportliche Höchstleistung. «Jane», wollte sie aufschreien, aber das Vibrie ren ihrer Stimmbänder reichte nur zu einem Flü stern. «Er ist dabei, mich umzubringen!» «Pst», machte Jane. «Er darf uns nicht hören! Entweder wird er die Badezimmertür zuriegeln wollen, wenn Sie noch drin sein sollten, oder Sie niederschlagen und bewußtlos in die Wanne zu rückbefördern. Also schnell, ziehen Sie sich was über!» Sie öffnete das Fenster. «Und wenn er 191
kommt, werfen Sie sich auf den Fußboden. Er wird annehmen, Sie hätten es nicht mehr ge schafft, das Bad zu verlassen. Nur machen Sie vorher das Fenster wieder zu.» Eine halbe Stunde verging, und es geschah, was Jane vorausgesehen hatte. Fisher erschien, trat in das Bad, betrachtete die am Boden liegen de «Leiche», öffnete das Fenster und verließ das Bad. Nachdem Dorothy wieder frische Luft geschöpft hatte, lauschte sie gespannt, was nun passieren würde. Es passierte nichts. Kein Aufschrei des überführten Mörders, kein scharfer Befehl: Hände hoch! «Was ist denn los, Jane?» Sie tapste barfuß in ihr Schlafzimmer. Jane, die sich hinter dem Fenstervorhang ver steckt hatte, machte eine, wie es Dorothy schien, hirnverbrannte Bemerkung. «Er hat sich in Sie verwandelt und wird sicher an Ihrer Stelle zum Bahnhof fahren.» «In mich?» «Er hat Ihren Mantel angezogen, Ihren Hut auf gesetzt und Ihre Koffer mitgenommen. Kein schlechter Gedanke, denn soundso viel Leute würden nachher bezeugen, Sie seien abgereist.» «Und mein Geld?» «Keine Angst, wir lassen ihn nicht aus den Au gen. Es kommt jetzt darauf an, zu erfahren, ob er nicht mit jemandem gemeinsame Sache macht. Und das können wir nur, wenn wir ihm auf den Fersen bleiben.» 192
«Aber er wird doch, nachdem er die Koffer in der Gepäckaufbewahrung abgegeben hat, zurück kommen, um meine Leiche zu beseitigen? Sonst hat sein ganzer Plan keinen Sinn.» Die Lebensgei ster Dorothys erwachten wieder. Jane nickte. «Das wird wohl so sein. Und späte stens dann nehmen wir ihn fest.» «Das werden Sie nicht.» Die Aktivität Dorothys nahm dramatische Formen an. «Nachdem ich all die Ängste durchgestanden habe, will ich’s ihm heimzahlen. Ich habe schon jetzt so eine Ahnung, wo er mich für alle Ewigkeit verschwinden lassen will. Da werde ich ihm was blasen.» Wenn sie ihren Kopf durchzusetzen ent schlossen war, konnte niemand sie daran hindern. Auch nicht Williams, der draußen im Korridor, in einer Truhe hockend, Wache hielt. Die Zeit des Wartens auf Fishers Rückkehr, falls er überhaupt zurückkehren sollte, nahm kein En de. Der Uhrzeiger schien am Zifferblatt festzukle ben. Schlag Mitternacht, als hätte der Regisseur ei nes Gruselstückes die Szene arrangiert (in Wirk lichkeit ging die Uhr zwanzig Minuten nach), kehr te Fisher zurück. Als er in das Badezimmer trat, lag Dorothy auf dem Fußboden, wie er sie verlassen hatte. Zuerst wollte sie ihre Augen offenhalten, weit aufgeris sen, verglast, wie es sich für eine Leiche gehört, dann hatte sie sich durchgerungen, sie zu schlie ßen.
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Ihre Inspiration hatte sie nicht getäuscht. Fi sher hob sie auf, trug sie zu dem Mauerdurch bruch, setzte sie unsanft ab und griff nach einem Ziegel und der Kelle, um sein Werk zu vollenden. Es war Dorothy nicht vergönnt, ihren Triumph voll auszukosten, indem sie sich einmauern ließ, um dann durch ein Pochen den Bösewicht vor Entsetzen erstarren zu lassen. Schritte im Schlafzimmer und die dröhnende Stimme Baileys machten ihr Vorhaben zunichte. Fisher war auch ohne ihr Zutun erstarrt. Er blickte sich gehetzt um, doch zur Flucht war es zu spät. Da spielte Dorothy ihren letzten Trumpf aus. Langsam erhob sie sich in ihrer feuchten Gruft und erklärte: «Wenn Sie glauben, daß ich tot bin, so irren Sie sich gewaltig, Chuck. Eine Dorothy Thorp bringt niemand zum Schweigen.» Das wa ren ihre letzten Worte an Fisher, dann fiel sie in Ohnmacht. So konnte sie zu ihrem größten Bedauern nicht mehr erleben, wie Fisher verhaftet und abgeführt wurde und wie Bailey, nachdem er erfahren hatte, warum sie in dem Mauerdurchbruch bewußtlos dahockte, eine Reihe so saftiger Flüche ausstieß, daß Jane rot wurde. Und sie war manches ge wohnt. Ein herbeigerufener Arzt gab Dorothy eine Spritze, Jane brachte sie zu Bett, und sie schlief den Schlaf der Gerechten bis spät in den nächsten Morgen hinein.
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Als Patricia ihr das Frühstück ans Bett brachte, unter anderem mehrere große Scheiben gebrate nen Speck mit Spiegeleiern, war Dorothy schon wieder so weit erholt, daß sie sich auf ihre Schlankheitsdiät besinnen konnte. «Wieso hast du mir vier Scheiben Speck gebraten statt einer? Und wo sind meine Karotten?» «Ich dachte, Mylady…», schniefte Patricia. Schließlich verputzte Dorothy das Ganze aber doch mit größtem Appetit. «Den werden sie hän gen, aber wie! Trotzdem, es war schrecklich», bemerkte sie in offensichtlichem Verlangen, ihre eigenen Verdienste gebührend herauszustreichen. In Patricia fand sie eine teilnahmsvolle Zuhöre rin, das tat ihr gut. Nicht so Arvin. Dieser Frech dachs erschien bei ihr im schwarzen Anzug und mit Blumen. Doch nicht mit einem Blumenstrauß, sondern mit einem Kranz. «Den wollte ich dir eigentlich aufs Grab legen. Schade. Hätte er dich gekillt, wäre ich jetzt Allein erbe, und nun muß ich die Sore, ich meine den Zaster, mit dir teilen.» Die Stunden, die er im Untersuchungsgefängnis zusammen mit einem Taschendieb verbringen mußte, hatten seinen Sprachschatz nicht unwe sentlich erweitert. Was Sore und Zaster war, hat te er bis dahin nicht gewußt. Ann war nicht so gefühllos. «Es muß schrecklich gewesen sein, was du er lebt hast», meinte sie genußvoll und neidisch zu gleich. «Ich habe mich in den dunkelsten Bezirken Londons herumgetrieben, wo es von Gewaltver 195
brechern nur so wimmelt, aber mir ist leider nie was Erregendes zugestoßen. Wäre ich doch nur an deiner Stelle gewesen! Dann hätte ich endlich ei ne Rolle spielen können, die mir wie auf den Leib geschrieben ist. Ich hätte eine so schöne Leiche gegeben, daß alle Kritiker von ihr begeistert ge wesen wären.» Am Abend erschien Bailey. Bereits die Nachmittagsblätter feierten ihn als einen der bedeutendsten Kriminalisten der Ge genwart. Sein Chef hatte ihm die Hand gedrückt und beteuert, ohne ihn würden alle Verbrecher Englands noch frei herumlaufen, seine Beförde rung zum Oberinspektor dürfte beschlossene Sa che sein. «Nein, heute kein Porter», wehrte er ab, als Pa tricia mit ihrem Korb erschien. «Ich habe zur Feier des Tages eine Flasche französischen Kognak mit gebracht, von Bill Shannon.» Nachdem alle am Kognak genippt und ihn ge lobt hatten, berichtete er, daß Fisher gestanden habe. Wie vermutet war er der Halbbruder Sir Ro berts, Simon Chuck. Wegen Scheckfälschung, Erpressung und ver suchten Mordes verfolgt, hatte er vor mehr als dreißig Jahren England fluchtartig verlassen müs sen. Er hatte die einmal eingeschlagene Laufbahn in Australien fortgesetzt, sich aber mit einem «Be rufskollegen» überworfen, den er, wie man ver mutete, bei der Polizei denunzieren wollte. Der Sturz von einer im Bau befindlichen Brücke setzte 196
seinem irdischen Leben angeblich ein Ende. Der, der ihm zu diesem Sturz verhalf, hatte jedoch nicht die nötige Sorgfalt walten lassen, und Chuck, der ein guter Schwimmer war, hatte im Wasser das Weite gesucht… Als er von der schweren Krankheit seines Halb bruders erfuhr, besorgte er sich die Papiere eines vor kurzem verstorbenen Stewards namens Willi am Fisher und kehrte nach England zurück. Er ließ sich von Dorothy als Gärtner einstellen, um alles über die Erbschaft zu erfahren und sich zu verge wissern, ob sein Halbbruder irgendwelche ihn be lastende Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Er fand einige vergilbte Briefe in der alten Kommode, vernichtete sie und beschloß, erst einmal Lady Thorp zu beseitigen, um sich später als Alleinerbe des Vermögens zu melden. Dorothy unterbrach den Inspektor. «Aber er wäre doch erkannt und festgenommen worden.» «Nicht, wenn er England wieder verlassen hät te, nachdem er Sie losgeworden wäre», erklärte Bailey. «Er hätte nach zwei, drei Jahren seinen Rechtsanspruch auf die Erbschaft über ein ange sehenes Anwaltsbüro in Sydney oder Perth an melden können und sie sicher auch erhalten.» «Der Arme!» Arvin war und blieb unverbesser lich. «Ich kann mir vorstellen, wie ihm zumute war, als das Testament geöffnet wurde. Nun muß te er nicht nur dich, liebe Tante, sondern gleich fünf Menschen umbringen, mich inklusive.» «Ja, als er die Halle in die Luft sprengte – Sie waren ja leider zu der Zeit noch nicht in Erschei 197
nung getreten», in Baileys Stimme klang Bedau ern, «glaubte er vier Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er konnte damit rechnen, nie erwischt zu werden, weil Dr. Evans den Keller in eine wah re Pulverkammer verwandelt hatte. Doch es ging schief, und Evans, der ihm auf die Spur kam, mußte dafür mit seinem Leben bezahlen.» «Jetzt geht’s nur darum», sagte Arvin schein heilig, «wie wir die Steuerbehörde betrügen kön nen. Behalten wir das Schloß, schröpft uns der Staat dermaßen, daß wir das geerbte Geld gleich verbrennen können.» «Nicht, wenn wir es in ein Kinderferienheim verwandeln», triumphierte Dorothy. «Dann brau chen wir dem Staat keinen Penny zu zahlen, und ich habe die Gummikrokodile nicht umsonst ge kauft.»
Ein Jahr später war ihre Zukunftsvision Wirklich keit geworden. Sechsunddreißig Kinder aus Liver pool, darunter vier kaffeebohnenbraune Buben, tummelten sich im Schwimmbecken, das an der Stelle des ehemaligen Froschtümpels errichtet worden war.
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Patricia, als Hausverwalterin Tag und Nacht in Atem gehalten, hatte vollkommen vergessen, daß sie eine arme, vermögenslose Witwe war, und nur eines beunruhigte sie: daß sie so lange nichts mehr von Dorothy gehört hatte, die mit Arvin ir gendwo in Mesopotamien im Wüstenstaub herum buddelte und Tonscherben sammelte. An einem Julitag – traditionsgemäß regnete es wieder – besuchte Bailey sie. «Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht», erklärte der Oberinspektor, aber das war purer Schwindel. Ganz abgesehen von dem Porter war Patricia eine vorzügliche Köchin, und Bailey, ganz und gar Materialist, hatte nun mal eine Schwäche für das Fleischliche. Als er den Hammelbraten samt den grünen Bohnen vertilgt hatte, erzählte er von einem Fern sehstück. Ann habe einen durchschlagenden Er folg gehabt. «Sie haben doch behauptet, sie sei eine ganz schlechte Schauspielerin.» «Das schon. Aber eine ausgezeichnete Stücke schreiberin. Sie hat nämlich das Fernsehspiel ge schrieben. Eine verrückte Geschichte über unse ren Fall. Sie ist kriminalistisch gesehen ein Witz, aber die Leute lachen sich krumm.» «Auch über mich?» erkundigte sich Patricia be sorgt. «Über uns beide am meisten. Besonders über die Geschichte, wie Sie arme, vermögenslose Witwe mich, einen Polizeiinspektor, der von den
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Pennies der Steuerzahler lebt, in der Speisekam mer als Einbrecher erwischen…» «Aber das ist doch nie passiert!» «Doch. In Anns Phantasie. Von dem fliegenden Teppich verlangt ja auch keiner, daß er vorn und hinten mit einem Propeller versehen ist. Oder?»
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2. Auflage 1977 © 1974 by Verlag der Nation • Berlin Alle Rechte vorbehalten Lizenznummer: 400/65/77 LSV 7004 Typographie: Hans-Joachim Schauß, Gruppe 4 Fotosatz: Völkerfreundschaft, Grafischer Groß betrieb, Dresden Druck: (52) Nationales Druckhaus VOB Natio nal, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Interdruck IV, Leipzig Best.-Nr. 696.488 4 DDR 5,80 M