Norbert Schmitz
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Norbert Schmitz
Mord im Rathaus
Bergischer Krimi
EB - 10
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Freitagnacht, 0.00 Uhr, Theodor-He...
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Norbert Schmitz
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Norbert Schmitz
Mord im Rathaus
Bergischer Krimi
EB - 10
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Freitagnacht, 0.00 Uhr, Theodor-Heuss-PIatz, Remscheid, Bergisches Land Gespenstige Stille herrschte in dieser nebeligen Novembernacht um das Rathaus von Remscheid. Um die Turmspitze tanzten Nebelschwaden und die elektrische Beleuchtung war nur schemenhaft erkennbar. Die Turmuhren, die an allen vier Seiten montiert waren, konnte man nicht sehen. So dicht umhüllt wirkte das ehrwürdige Gebäude, das im Jahre 1906 auf dem Holscheidsberg erbaut wurde, wie ein Geisterschloss. Ich ging in dieser ungemütlichen Nacht über den dunklen Theodor-Heuss-Platz, der zwischen dem Allee-Center, so heißt die überdachte Shoppingmeile auf dem Stadtkegel, und dem Rathaus liegt. Von einer anderen Seite schließt das große Gebäude der Stadtsparkasse den Platz ein, so dass man den Eindruck gewinnen kann, es handele sich um einen weiten Innenhof, auf dem der mächtige Bergische Löwe auf einem Denkmal thront. Kalt wehte der Wind, ich fror und zog mir meinen Jackenkragen hoch. In der Stadt, in der ich lebe, ist das Klima rau. Schließlich liegt Remscheid auf einem Berg und am Rathauseingang weist ein Schild auf eine Seehöhe von 366 m über dem Meeresspiegel hin. Bei klarem Wetter kann man vom Rathausturm weit über das Land schauen. Mich schauderte, als ich plötzlich aus dem Nebel eine Gestalt auf mich zu laufen sah. Die kleine, untersetzte Person mit den tiefen Augenrändern und dem Spitzbart rannte mich fast um, und in dem Moment, als ich sein Gesicht sehen konnte, sah ich diese unglaubliche Angst in seinen Augen. Als mich der Mann, ich schätzte ihn auf Anfang vierzig, er3
blickte, schrie er mir zu: „Renn um dein Leben, renn. Er ist hier." Von weitem hörte ich noch die Wortfetzen: „ ....hier auf dem Platz, der Rathausmörder." Dann kehrte die unheimliche Stille auf den Platz zurück und ich hatte ein ungutes Gefühl. Meine Schritte wurden immer schneller und endlich erreichte ich den Eingang zur Tiefgarage. Die Stadtwerke betreiben ein Parkhaus unter dem Platz. Abends, wenn die Innenstadtläden geschlossen haben und auch in Sparkasse und Rathaus die letzten Lichter ausgehen, ist es hier menschenleer. Auch das Parkhaus ist dann zu, und man kann nur über eine Treppe zu einem der Aufgänge gehen, um mit dem Code auf seinem Parkschein ein mächtiges Rolltor zu öffnen. Ich steckte also meinen Parkschein in den kleinen Schlitz, und das Tor setzte sich laut quietschend in Bewegung. Die Sensoren der Glastüren registrierten mich, und auch diese sprangen auf. Ich wollte gerade den Eingang passieren, als hinter mir jemand rief: „Entschuldigen Sie, ich möchte auch ins Parkhaus, bitte halten Sie die Türe auf." Die Stimme gehörte einer alten Frau, ca. 80 Jahre, und ihrer Kleidung nach musste sie im nahe gelegenen Stadttheater gewesen sein. Sie trug einen feinen schwarzen Rock, eine dunkelblaue Bluse und einen schicken Nerzmantel. „Ach, ich war noch nach der Operette im Ratskeller eine Kleinigkeit essen, und dann war das Parkhaus zu. Gut dass ich Sie sehe, Herr Kronenberg. Dann komme ich noch an meinen Wagen." Ja, ich kannte die nette alte Dame, sie war eine sachkundige Bürgerin in dem Ratsausschuss, den ich als Vorsitzender leitete. Schon über fünf Jahre hatte ich einen guten Draht zur ihr, da sie trotz ihres Alters noch sehr jugendlich wirkte und blitzgescheit war. Ihre Wortbeiträge hatten immer Hand und Fuß und ich mochte die hagere Dame, die vor kurzer Zeit ihren Mann verloren hatte. Ursula Bernack, 4
so war ihr Name, kam mir gerade recht. So war ich gottlob nicht alleine an diesem, an jenem Abend mir so unheimlichen Ort. Ich setzte mich schnell in mein Fahrzeug, einen metallicblauen SLK neuen Modells, den ich mir vor vier Jahren bei einem Düsseldorfer Händler gekauft hatte, und drehte den Schlüssel um. Das warme Motorengeräusch des kleinen Sportwagens beruhigte mich etwas und gab mir das Gefühl von Sicherheit. Ich trat auf das Gaspedal und sauste in Richtung der Parkhausschranke. Als ich anhalten musste und meine Parkkarte in den Spalt schob, blendete mich einen Augenblick lang im Rückspiegel das Fernlicht von Frau Bernack, die mit ihrem roten Corsa hinter mir erschien und sich mit der Lichthupe von mir verabschieden wollte. Ich fuhr los und ärgerte mich darüber, zu so später Stunde, es war schließlich schon nach Mitternacht, noch nicht in meinem Bett zu sein. Das Treffen mit meinen beiden Brüdern im nahen Bistro hatte länger gedauert als geplant. Schließlich war ich hundemüde und mir war eisig kalt. Außerdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Was meinte dieser Mann eben? War er vielleicht verwirrt? Rathausmörder! Schließlich ist diese Stadt laut Statistik eine der sichersten Großstädte im gesamten Bundesgebiet. Ich fuhr schnell nach Hause. Ein älteres Haus konnte ich mein Eigen nennen, im innenstadtnahen Wohnquartier Kremenholl. Ich hatte es vor sechzehn Jahren gekauft, und die für die Gegend typische Schieferbauweise gefiel mir. Den Wagen setzte ich noch kurz in die Garage und schloss dann die Haustüre auf. Innerhalb von fünf Minuten war ich ausgezogen und eingeschlafen.
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Freitagnacht, 23.50 Uhr, Rathaus Remscheid Moritz Schaller war nervös und schwitzte. Der städtische Mitarbeiter saß in dem ihm fremden, muffigen Büro und durchsuchte einen alten braunen Rollschrank. Es war schon fast Mitternacht, als er den letzten Ordner aufschlug, den er noch nicht durchwühlt hatte. Hier, im zweiten Stock des Remscheider Rathauses, suchte er nach Beweisen. Nach Beweisen für ein schlimmes Vergehen. Und er, so dachte er sich, musste diese Tat aufdecken. Koste es, was es wolle. Ein leises „Ja" kam über seine Lippen, als er im hinteren Teil der Akte das fand, wonach er den ganzen Abend gesucht hatte. Schließlich hatte er sich ja heimlich und noch nach Dienstschluss in dem großen Gebäude aufgehalten. Unbemerkt vom schnauzbärtigen Hausmeister Hans Kolonko sowie dem schlaksigen Rathauspförtner Thomas Weger. Letzterer genoss wahrscheinlich schon seinen wohlverdienten Feierabend. Um diese Zeit war das Rathaus menschenleer, und es war still in dem Gebäude, in dem bei Tage rege Betriebsamkeit herrschte. Er war stolz auf sich. Ja, er, der kleine Sachbearbeiter Moritz Schaller, einundvierzig Jahre, Junggeselle, vor acht Jahren aus dem thüringischen Weimar ins Bergische Land gezogen, hatte einen Beweis gefunden. Einen Beweis für Machenschaften im Remscheider Rathaus, die, sollten sie an die Öffentlichkeit gelangen, die ganze Stadt in Aufruhr bringen würden. Vielleicht sogar das ganze Land. Plötzlich hörte er Schritte auf dem großen langen Gang nicht weit von dem Büro, in dem er jetzt saß, dem Büro eines führenden Mitarbeiters der Stadt. Er, Moritz Schaller, untersetzt und spitzbärtig, 6
besaß die Frechheit, hier einzudringen und einen Skandal aufdecken zu wollen. Er löschte schnell den schwachen Schein der alten Schreibtischlampe, die ihm etwas Licht in dieser Dunkelheit gab. Vorsichtig horchte er an der Tür, die ihn von dem lang gestreckten Flur trennte, von dem er die Geräusche vernommen hatte. Allerdings war es jetzt still geworden. Fast zu still. Moritz Schaller atmete tief ein. Er nahm mit einem kurzen Handgriff die gefundenen Unterlagen aus dem Ordner und steckte sie in seine Jacke. Dann horchte er erneut an der Tür. Er hatte Angst. Schließlich war vor vierzehn Tagen hier im Rathaus sein Kollege und Freund Rüdiger Fritsche ermordet worden. Erstochen mit einem langen Messer einer Solinger Qualitätsmarke hatte ihn am Nachmittag eine Frau des städtischen Reinigungsdienstes gefunden, die nur kurz durch sein Büro wischen wollte. Zusammengekrümmt hatte er vor seinem Schreibtisch gelegen. Die Klinge hatte tief in seinem Rücken gesteckt. Rüdiger und er hatten alles aufdecken wollen um dem Spuk im Rathaus ein Ende zu bereiten. Nun musste er das alleine erledigen. Seinen Kumpel hatte man aus dem Weg geräumt. Da er nichts weiter vernahm, öffnete Moritz Schaller die Bürotüre und trat auf leisen Sohlen in den Rathausflur. Als Schaller um eine Ecke gebogen war, bemerkte er schemenhaft einen Schatten. Jawohl, dass wusste er jetzt ganz genau, er war nicht allein im Gebäude, und die Gestalt, die er erahnte, war mit Sicherheit der „Rathausmörder". Die Person, die seinen Kollegen und Freund auf dem Gewissen hatte, und nach dem Hauptkommissar Neudorf von der Wuppertaler Mordkommission fahndete. Leider bisher 7
ohne Erfolg und ohne entscheidende Hinweise. Schaller drehte sich um. Auf dem Absatz seiner Turnschuhe machte er kehrt und lief in die andere Richtung. Den Fahrstühlen entgegen, mit denen man in den Hinterhof des Rathauses gelangen konnte. Dort, wo heute Mitarbeiterparkplätze vermietet wurden, war einst die Remscheider Berufsfeuerwehr zuhause, bis sie in einem Industriegebiet nahe der Autobahnabfahrt Remscheid an der A1 ihr neues modernes Domizil bezog. Als sich hinter ihm auch der Schatten mit lauten Schritten in Bewegung setzte, lief Moritz Schaller um sein Leben. Er musste jetzt schnell sein. Er musste im Dunkel der Nacht den Weg benutzen, den er bei Tage so oft ging und den er eigentlich im Schlaf kennen musste. Diese zweite Etage im Rathaus kannte er wie seine Westentasche. Er musste nur schneller als sein Verfolger sein, schneller den Fahrstuhl erreichen und den roten Knopf drücken. Wenn der Fahrstuhl auf dieser Etage stehen würde, gingen die Türen schnell auf, und er könnte hineinspringen, die Taste betätigen, auf der in Druckbuchstaben „Hof stand und abwärts davon rauschen. Schließlich war er als Kind ein schneller Läufer gewesen und hatte von seinem Sportlehrer deshalb immer viel Lob bekommen. Er rannte und erreichte den Fahrstuhl. Als er den roten Knopf drückte, hörte er, wie sich der Fahrstuhl schwerfällig in Bewegung setzte. Auf dieser zweiten Etage war er also nicht. Der Fahrstuhl kam von unten. Wahrscheinlich aus dem Keller. Als das Gefährt auf der Etage angekommen war, auf dem sich auch der ehrwürdige Ratssaal der kleinsten Großstadt von Nordrhein Westfalen befand, konnte er den Atem der Gestalt spüren, die ihn verfolgte.
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Als sich die schweren Fahrstuhltüren öffneten, benutzte Moritz Schaller, der Mann mit den tiefen Augenrändern, geschickt sein rechtes Bein. Wie ein Rindvieh schlug er nach hinten aus, ohne sich dabei umzudrehen. Sein Kontrahent fluchte laut auf, als Schaller ihn genau zwischen die Beine traf. Schallers Gegner wurde es schwarz vor Augen und er taumelte einen Augenblick. Diese kurze Zeit nutzte der Thüringer, um in den Fahrstuhl zu springen und die Taste zu drücken, die rettende Taste. Der Fahrstuhl fuhr los und Moritz Schaller war in Sicherheit, zumindest für diesen Augenblick. Im Hinterhof angekommen, rannte er sofort los, nicht abwartend, bis sich die Türen des Eisengefährtes ganz öffneten. Dass er dabei mit seiner Schulter gegen eine Eisentüre stieß, bemerkte er in seiner Panik nicht. Er rannte, so schnell er konnte, um das Rathauseck, um über den Theodor-Heuss-Platz durch den Allee-Center-Durchgang zu gelangen, der zum Stadttheater führte. Dabei hätte er fast einen Mann umgelaufen, der ihm bekannt vorkam. Genau, das war doch der Stadtrat Günter Kronenberg, der ihm da durch den Nebel entgegen kam. Im Laufen schrie er Kronenberg zu: „Renn um dein Leben, renn! Er ist hier, hier auf dem Platz, der Rathausmörder!"
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Samstagmorgen, 10.05 Uhr Remscheid-Kremenholl An die unheimliche Begegnung dachte ich am nächsten Morgen, einem Samstag, fast nicht mehr. Ich frühstückte in der Küche. Frische Brötchen, die ich beim Bäcker geholt hatte, und der Duft von Kaffee belebten meine Geister. Kaffee mit Milch, aber kein Stück Zucker. Schließlich muss man als Mittvierziger etwas auf seine Figur achten. Ich wollte gerade in mein Leberwurst-Brötchen beißen, als mich eine Nachricht im Radio aufhorchen ließ. Im Lokalsender verlas eine mir vertraute Stimme die Nachrichten aus der Region. „Am frühen Morgen wurde ein Mann vor dem Remscheider Rathaus tot aufgefunden. Die Polizei geht von einem Mord aus. Nähere Informationen erhalten Sie in Kürze auf diesem Sender." Ich war baff und mit einem Male musste ich wieder an die untersetzte Person denken, die in der letzten Nacht aus dem Nebel am Rathausplatz auf mich zu gerannt gekommen war und mich fast umgelaufen hätte. Was hatte er gesagt? Mir wurde heiß und auf meiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Irgendwie hatte er mich vor etwas warnen wollen. War er vor einem Verbrecher davongelaufen und am Ende vielleicht sogar noch der Ermordete, von dem der Radiosprecher sprach? Die Geschichte interessierte mich und meine Neugier erwachte. Schließlich war ich früher Polizist gewesen, bevor ich mich mit einem Sicherheitsdienst vor elf Jahren selbstständig gemacht hatte.
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Samstagmorgen, 5.45 Uhr Solingen Das Telefon in der Solinger Beckmannstraße klingelte ohne Unterbrechung. Hauptkommissar Alexander Neudorf, vor 46 Jahren in Leverkusen-Schlebusch geboren, hatte nach einem langen Arbeitstag ein paar Gläser Whiskey getrunken. Nun schlummerte er tief und fest. Das Telefon hörte er lange nicht. Als Neudorf aufwachte, brummte sein Schädel und seine Zunge lechzte nach Wasser. Um eins war er erst ins Bett gegangen. Nicht ausgeschlafen und mit zuviel Alkohol im Blut wurde er, der schlanke athletische Beamte, auf gemeinste Weise am frühen Morgen aus dem Schlaf gerissen. Dabei wollte er ein ruhiges Wochenende mit Karolina, dem blonden hübschen Mädel von nur neunundzwanzig Lenzen, verbringen. Nachdem er ausgeschlafen hatte, wollten sie zusammen nach Köln fahren, auf der Hohe Straße bummeln gehen, anschließend irgendwo lecker essen und ein Bierchen trinken. So ein Mist. Die Nummer kannte er genau. Es war die Telefonnummer seiner Dienststelle im Wuppertaler Polizeipräsidium, dem alten Präsidium in Barmen, mit viel Geld vor kurzer Zeit renoviert und der Zeit entsprechend modernisiert. „Neudorf", brummte er störrisch in den Hörer. „Hier ist Klaus Ritzer. Die Kollegen aus Remscheid haben angerufen. Ein weiterer Mord ist passiert. Vor dem Remscheider Rathaus liegt ein Mann, erstochen. Die Kollegen haben schon vor dreißig Minuten versucht, Sie zu erreichen. Sie haben den Hörer nicht abgenommen, da haben die mich auf dem Handy angerufen. Ich war nicht weit von unserer Dienststelle unterwegs mit dem Auto und deshalb
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bin ich schnell ins Büro gefahren. Was sollen wir tun, Chef?" „So ein Mist!", entfuhr es dem Kriminalisten. „Ich bin müde und habe Alkohol im Blut. Holen Sie mich bitte mit dem Dienstwagen ab, Ritzer. Wenn es geht sofort. Ich ziehe mich schnell an." Samstagmorgen, 6.45 Uhr Remscheid, Rathaus Er mischte sich unter das heftige Treiben der Marktbeschicker auf dem Theodor-Heuss-Platz, zwischen dem mächtigen Rathaus und dem Allee-Center gelegen. Er, der innerhalb von wenigen Wochen gleich zwei Menschen ermordet hatte, getötet mit Messerstichen. Erst hatte Rüdiger Fritsche dran glauben müssen. Hinterrücks hatte er den Rathausmitarbeiter in seinem Büro erstochen. Fritsche war ein Mitarbeiter des Bauamtes und ein äußerst gesetzestreuer Angestellter der Stadt Remscheid. Und Fritsche hatte reden wollen. „Entsorgen Sie diesen verdammten Fritsche!", hatte in der sms, die der Boss gesendet hatte, gestanden. Und was der Boss verlangte, war Gesetz. Also musste Fritsche entsorgt werden. Er war mit entschlossenem Blick ins Rathaus gegangen und hatte Fritsche hinterrücks erstochen. Vor wenigen Stunden hatte er ein zweites Mal gemordet. Kurz vor Mitternacht hatte er, der große starke Mann, einen weiteren in Ungnade gefallenen städtischen Mitarbeiter des Bauamtes erstochen.
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Freitagnacht, 23.50 Uhr Theodor-Heuss-Platz, Remscheid Heinz Bohl, kurz vor der Pension stehend, saß noch gemütlich an der schweren Holztheke im Ratskeller, einem guten Speiserestaurant im Keller des Rathausgebäudes, als sein Handy klingelte. Seine Frau war es, die ihn daran erinnerte, dass er eine Familie hätte und er sich doch auch gefälligst zu ihr begeben sollte. Heinz Bohl zahlte seine Zeche und verließ den Ratskeller. Als er, der rundlich wirkende Mann mit hohem Haaransatz, das Restaurant mit ordentlich Bier im Bauch kurz vor Mitternacht verließ, um zu seiner Wohnung in der Baustraße zu gelangen, nahm er den Weg über den Theodor-Heuss-Platz. Direkt am Rathaus, seinem Arbeitsplatz, vorbei. „Scheiß Wetter", dachte er und ging durch die dichte Nebelwand in Richtung seiner Wohnung. Weit kam er nicht mehr. Als er an der großen schwarzen Steintreppe, die zum Haupteingang des Remscheider Rathauses führte, vorbei torkelte, kam dieser große unheimliche Mensch auf ihn zu. Dieser unheimliche Mensch mit den kalten Augen, der im Schutze des dunklen Eingangsbereiches auf ihn gewartet hatte. Wie der leibhaftige Teufel sah er aus. Gekommen, um ihn mitzunehmen. Dann ging alles ganz schnell. Heinz Bohl sah eine große Messerklinge aufblitzen und Sekunden später spürte er einen starken Schmerz. Mitten ins Herz traf ihn das Metall. Heinz Bohl sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, stark blutend und tödlich getroffen. Er würde nie mehr zu seiner Familie zurückkehren.
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Freitagnacht, 23.50 Uhr Theodor-Heuss-Platz, Remscheid Er musste warten. Sein Boss hatte ihm den Auftrag erteilt, diesen Heinz Bohl zu entsorgen. In seinem dunklen Versteck, dem Eingangsbereich des Remscheider Rathauses, wartete er geduldig auf sein Opfer. Drei Zigaretten hatte er schon geraucht und er verfluchte seinen Chef. Hatte der Boss ihn doch hinaus in die Kälte geschickt. Und er hasste Kälte. Dass er einen weiteren Menschen umbringen sollte, war ihm völlig egal. Für Gefühle gab es seit seiner Jugend keinen Platz in seinem Leben. Zu sehr hatte er unter seinem brutalen Vater gelitten. Aufgewachsen war er in der kleinen Mietwohnung in der Honsberger Straße, in einem Arbeiterviertel von Remscheid. Die Mutter war immer betrunken und gesundheitlich in einem bedauernswerten Zustand gewesen. Um ihr das Geld für den „Bergischen Korn" zu beschaffen, der nicht weit von der Wohnung hergestellt wurde, und den seine Mutter trank wie andere Wasser, fing er schon als zehnjähriger Junge an zu stehlen. Wenn er erwischt wurde und er von seinem Vater in der Remscheider Polizeiwache am Quimperplatz abgeholt werden musste, hatte er eine riesige Angst. Zuhause erwartete ihn ein wahres Martyrium. Der Vater schlug ihn mit seinem Hosengürtel. Er schlug solange auf seinen nackten Körper ein, bis seine Haut auf dem Rücken aufplatzte. Die großen Wunden verursachten so starke Schmerzen, dass er oft nach solch einem brutalen Übergriff seines Vaters bewusstlos zusammenbrach. Schmerzen lernte er zu ertragen und Schmerzen konnte er anderen zufügen. Sollten die anderen doch dafür büßen, dass er in seiner Jugend soviel lei14
den musste. Jetzt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Da kam Heinz Bohl, sein Opfer. Und er war betrunken. Diesen torkelnden Mann musste er also erledigen. Er würde seinen Auftrag jetzt ausführen. Schnell und gewissenhaft. Genau wie beim letzten Mal. Um diesen Moritz Schaller kümmerte sich zeitgleich sein Kumpan Benno Mahler. Der lauerte Schaller im Rathaus auf, um ihn ebenfalls ins Jenseits zu befördern. Und morgen konnte sich jeder der beiden fünftausend Euro vom Boss abholen. Damit ließ sich eine zeitlang ganz gut leben. Gesehen hatte er seinen Gönner noch nie. Der Boss kommunizierte nur per sms mit Mahler und mit ihm. Geld für erledigte Aufträge lag nach getaner Arbeit immer in einer kleinen ehemaligen Säbelschmiede im Morsbachtal. Ein kleines, verlassenes Backsteingebäude am Engelskotten. In einem Wald gelegen, war das kleine Gebäude nach einem Brand geräumt worden und wurde nicht mehr genutzt. Dort, in dem einsamen, dicht bewaldeten Bergtal, verlief die Stadtgrenze zwischen Wuppertal und Remscheid. Für geheime Geldprämienübergaben ideal. Dort blieben alle Beteiligten unerkannt. Benno, sein Kumpan, war in dem Remscheider Vorort Morsbach groß geworden. Dort kannte er jeden Stein. Da hatte er als Kind im Wald gespielt und kannte selbstverständlich auch die alte verlassene Schmiede, nicht weit vom Bach und der ehemaligen Gaststätte Bärenkuhle gelegen. In dieses Gebäude gingen Benno und er öfters. Wenn sie kein Geld hatten, schliefen sie auch schon mal dort, um wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. Da, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
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Samstagmorgen, 6.50 Uhr Rathaus Remscheid Klaus Ritzer und sein Chef, Hauptkommissar Alexander Neudorf, rasten mit ihrem zivilen Dienstwagen auf den Theodor-Heuss-Platz. Ritzer parkte den neuen Opel Vectra direkt vor dem Remscheider Rathaus, im absoluten Halteverbot. Neudorf stieg aus dem Fahrzeug und hustete. Der Chef der Mordkommission war müde und hasste es, bei diesem ekligen Wetter unterwegs zu sein. Der Nebel war dicht und feiner Schneegriesel fiel jetzt aus dem düstereren Himmel. Der Tatort war abgesperrt und die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen. Ein kurzer Blick auf den getöteten Heinz Bohl reichte dem Polizeibeamten. „Kommen Sie, Herr Ritzer. Wir gehen eben an die Kaffeebude auf dem Wochenmarkt und reden", bestimmte der Hauptkommissar, der die Ermittlungen im Fall „Rathausmörder" leitete. „Zwei Kaffee mit Milch bitte", bestellte Alexander Neudorf bei der freundlichen Dame im Verkaufswagen. „Es ist zum Kotzen, Ritzer. Gleich taucht hier bestimmt die Presse auf und macht sich ihr eigenes Bild von dem Fall. Und ich könnte wetten, dass die Oberbürgermeisterin auch gleich hier auftaucht. Schließlich ist das der zweite Mord innerhalb von kurzer Zeit hier auf dem Berg. Und im Rathaus wird man natürlich langsam nervös. Ein Toter im Rathaus, einer davor. Was soll das bedeuten, Ritzer?" „Keine Ahnung, Chef. Beim ersten Mord tappen wir ja immer noch im Dunkeln und über den Ermordeten, der vor 16
der Rathaustreppe liegt, müssen wir uns gleich bei den Kollegen erkundigen", antwortete der ratlose Kommissar. Alexander Neudorf sah für seine sechsundvierzig Jahre richtig gut aus. Von athletischer Statur, schlank, 1,81 m groß und mit einer guten Portion Charme bewaffnet, war er der Vorzeigepolizist im Bereich Remscheid, Solingen, Wuppertal, dem Arbeitsgebiet des Polizeipräsidiums Wuppertal. Und nicht wenige Polizistinnen himmelten ihn an, den erfolgreichen Hauptkommissar mit der größten Aufklärungsquote in ganz Nordrhein Westfalen. Seinen Assistenten Klaus Ritzer dagegen, neununddreißig Jahre, Dreitagebart, vernarbtes Gesicht und Hakennase, von seinem Gemüt her immer um Ernsthaftigkeit bemüht und ein Bergischer Sturkopf, in Wuppertal-Ronsdorf geboren, ärgerte die Beliebtheit seines Chefs. Warum war er nicht der erfolgreiche Polizeibeamte? Schließlich löste Neudorf die Fälle nicht alleine. Er hatte oft entscheidenden Anteil an der Aufklärung. „Kommen Sie, Ritzer. Wir müssen wieder zurück zum Tatort. Klären sie ab, wer der Tote ist. Ich werde mit Franz Eschenbach von der Spurensicherung sprechen. Wir müssen diesen verflixten Fall lösen. Vielleicht steckt ja der Rathausmörder dahinter." Neudorf holte Ritzer aus seinen Gedanken. Die Arbeit vor Ort hatte begonnen. Warum musste auch immer etwas am Wochenende passieren? Sollen die sich doch in der Woche abmurksen, dachte er und folgte seinem Chef auf dem kurzen Weg zur Rathaustreppe.
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Samstagmorgen, 10.35 Uhr Remscheid-Kremenholl Das Telefon schrillte und ich nahm ab. Ich las den Remscheider Generalanzeiger und war in Gedanken bei dem Mordfall. Ich dachte an meine nächtliche Überquerung des Theodor-Heuss-Platzes vor dem Rathaus. „Kronenberg", meldete ich mich. „Guten Morgen, du alter Wichser", begrüßte mich die fröhliche Stimme meines besten Freundes Paul-Uwe. Ihn hatte ich vor vielen Jahren durch die Partei kennen gelernt, in der ich aktiv war. Paul-Uwe, ein Mann Anfang Sechzig, war früher Handelsvertreter für Holzprodukte gewesen und hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Mit seinem dauergewellten Haar und seinem Vollbart sah er spitzbübisch aus, und von ihm stammte der Ausspruch: „Holz ist modern, man trägt wieder Latte!", der mir stets in freudiger Erinnerung geblieben ist. Paul-Uwe wurde ernst. „Hast du auch die Nachricht im Radio von dem Toten auf dem Rathaus-Platz gehört?", fragte er mit sorgenvollem Unterton. Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis der letzten Nacht auf dem Theodor-Heuss-Platz und wies daraufhin, dass es ja schließlich schon der zweite Mord innerhalb von vierzehn Tagen in der Innenstadt von Remscheid gewesen sei. „Jetzt fang bloß nicht an selber zu ermitteln. Ich kenne dich. Das ist doch wieder ein Fall für dich. Aber lass um Gotteswillen die Finger davon. Da scheinen eiskalte Mörder im Spiel zu sein. Und die verstehen ihr Handwerk. Die Polizei tappt doch sicherlich im Dunkeln. Wer weiß, ob da nicht eine ganze Bande ihre schmutzigen Finger im Spiel hat. Günter, lass die Finger von dem Fall und fange bitte nicht 18
an zu ermitteln!", redete Paul-Uwe Schaber besorgt auf mich ein. Aber desto mehr er mir einreden wollte, ich sollte nicht tätig werden, desto mehr interessierte mich der Fall. „Paule!", drängte ich. „Wir treffen uns heute Abend auf ein Glas Bier im Ratskeller, ja? Ich schlage vor, um 20.00 Uhr. Okay?" „Jawohl, ich bin gegen 20.00 Uhr da. Aber noch mal: Lass die Finger von dem Fall! Ärger haben wir in der Politik schon genug. Das reicht für zwei Leben!" „Wo du schon von Ärger sprechen musst, was machen die Frauen?" „Im Moment habe ich keine Frau!", antwortete PaulUwe kurz und wollte gerade zu einem Witz ansetzen, als es bei mir klingelte. „Ich muss auflegen, Paule. Ich glaube, der Briefträger hat geklingelt." „Dann bis heute Abend um acht. Und sei pünktlich. Ich mag es nicht, wenn ich in Kneipen auf dich warten muss.", sagte er, und ich wurde an meinem Samstagmorgen daran erinnert, dass ich die unangenehme, aber nicht abstellbare Eigenschaft besaß, schon mal fünfzehn Minuten zu spät zu kommen. Und bei Paul-Uwe konnten fünfzehn Minuten schon mal gefühlte fünfundvierzig Minuten sein. Ich flitzte zur Haustür, und vor mir stand Erika Zacker, meine Hausnachbarin, knapp über siebzig Jahre alt. Früher war sie unsere Parteivorsitzende im Stadtbezirk gewesen. Mir war diese blitzgescheite Dame schon lange bekannt. Über fast dreißig Jahre hatte sie sich kaum verändert. Erika hatte einige Jahre im Stadtrat gesessen und kannte sich gut im Rathaus aus. Nicht nur das Gebäude kannte sie inund auswendig, nein, auch das Rathauspersonal. Von den
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eintausendachthundert städtischen Mitarbeitern wusste sie über viele Bescheid. Erika wusste fast alles. „Komm herein", sagte ich zu ihr. „Draußen ist es kalt und ich habe frischen Kaffee fertig. Du kannst auch einen Tee haben. Was verschafft mir die Ehre deines morgendlichen Besuches? Du bist doch sonst um diese Zeit auf dem Wochenmarkt am Rathaus oder im Allee-Center?" „Das ist es ja!", antwortete sie aufgeregt. „Ich war schon mit Eugen auf dem Wochenmarkt, aber da wimmelt es nur so von Polizei. Ich glaube, da muss was passiert sein. Ob die im Rathaus wieder einen abgemurkst haben? Unser Remscheid ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Nicht nur, dass die Stadt pleite ist, man muss ja auch um Leib und Leben furchten. Mein Mann hatte jedenfalls keine Lust mehr in der Stadt zu bleiben. Die am Obststand auf dem Wochenmarkt jedenfalls erzählten, ein Mann wäre umgebracht worden. Da sind wir mit dem Auto zurück zum Kremenholl gefahren." „Setz dich erst einmal.", sagte ich und holte einen Kaffeebecher aus dem Küchenschrank. Wir ließen uns auf der abgenutzten Eckbank in der Küche nieder und tranken Kaffee. Ich erzählte ihr genau, was ich gestern erlebt hatte und beschrieb auch den Mann, der mich fast in Todesangst umgelaufen hätte. „Das könnte Moritz Schaller vom Bauamt sein. Der hat so tiefe Augenränder und auch einen Spitzbart. Der kommt aus Weimar, wie mein Eugen. Weißt du was, den Moritz Schaller schnapp ich mir am Montag im Rathaus. Ich bin ja im Ruhestand und habe Zeit. Ich gehe ins Bauamt und ver-
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suche was aus dem heraus zu bekommen. Eigentlich ist der ganz nett. Ist eine ehrliche Haut. Wenn der das war, wird er mir auch erzählen, was er gesehen hat." „Wenn er noch lebt, Erika! Wer sagt dir denn, dass dieser Schaller, wenn er es überhaupt war, nicht der Ermordete ist. Im Radio haben die doch eben eine Meldung gemacht. Wer es war, haben die natürlich noch nicht gesagt. Die Presse muss ja auch erst einmal die ersten polizeilichen Ermittlungen abwarten. Du weißt doch, mit dem Polizeidienst kenne ich mich aus. Ich war schließlich lange genug bei dem Haufen. Nach der Ausbildung war ich verdeckter Ermittler und später im Sondereinsatzkommando des SEKDüsseldorf. Im Einsatz musste ich sogar drei Menschen töten. Es waren zwar Schwerverbrecher, aber es waren Menschen. Manchmal träume ich davon und wenn ich dann schweißgebadet wach werde, bin ich trotzdem froh, dass ich so ein schneller Schütze bin. Diese Gauner hätten mich glatt abgeballert. In diesem Moment darfst du über dein Gegenüber nicht nachdenken. Du musst wie eine Maschine handeln, ohne jedes Gefühl. Ohne jedes Mitleid. Sonst bist du es, der auf dem Düsseldorfer Südfriedhof begraben wird." Erika wurde leise. „Ich weiß das, Günter. Du warst ein guter Polizist. Kannst du nicht in die Ermittlungen um den Rathausmörder eingreifen? Ich bekomme Angst. Da läuft jemand frei herum und ersticht kaltblütig vor vierzehn Tagen einen Mitarbeiter aus dem Bauamt. Heute ist wieder ein Mord am Rathaus passiert. Du machst mit deiner Firma in Düsseldorf nicht nur Personenschutz, sondern du ermittelst doch auch. Du hast mir doch erzählt, ihr hättet vor kurzem erst diesen Gefängnisskandal aufgedeckt. Übernimm
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den Fall. Ich helfe dir bei den Ermittlungen. Schon Montag früh gehe ich ins Rathaus, ja?" Natürlich willigte ich ein. Mich interessierte ja der Fall auch brennend. Erstens war ich Bürger von Remscheid, zweitens Mitglied im Stadtrat, drittens fand ich, dass die Polizei Unterstützung von außen brauchte, viertens war mir langweilig. Meine Frau und mein kleiner Sohn machten vierzehn Tage Urlaub bei Tante Hannelore in Bad Oeynhausen. Fünftens hatte ich mit Erika eine „Bergische Miss Marple" und Erika könnte ein Garant für erfolgreiche Ermittlungen sein. Sechstens kümmerte sich mein Geschäftsführer Detlef Seemann um meine Firma. Die einhundertachtzig Leute, die in Düsseldorf für mich arbeiteten, konnten auch einmal ein paar Tage ohne mich auskommen. Ich konnte schließlich zwischendurch einmal nach dem Rechten in meiner Firma schauen. Die Polizisten haben einen harten Job und können Hilfe von Außen immer gebrauchen, dachte ich. Obwohl ich genau wusste, dass es die Polizeibehörde nicht gerne sah, wenn sich private Ermittler in ihren Job einmischten. Da ich über mein politisches Amt Mitglied im Polizeibeirat war, würde ich sicherlich schnell heraus bekommen, wer die Ermittlungen leiten würde. Vielleicht kannte ich ja sogar die ermittelnden Beamten der Mordkommission. Schließlich waren Ermittler von Rang nicht die ganz jungen Polizisten. Als ich vor elf Jahren meinen Dienst vorzeitig aus gesundheitlichen Gründen beendet hatte, kannte ich viele Polizeibeamte. Erika trank noch einen großen Schluck aus dem Kaffeebecher und verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern.
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„Wir sehen uns!", rief ich ihr hinterher, als sie mein Haus wortlos verließ, in der Gewissheit, mir ihren Willen aufdiktiert zu haben. Samstagmittag, 12.10 Uhr Remscheid-Morsbach Die schöne helle, dreiundsiebzig Quadratmeter große Dachgeschosswohnung in der Ackerstraße hatte zwar keinen Balkon, dafür aber konnte man durch die großen rechteckigen Fenster einen herrlichen Ausblick auf die bewaldeten Hügel des Morsbachtales genießen. Hier, unweit der Müngstener Brücke, jener 107 Meter über dem Wupperspiegel hohen Eisenbahnbrücke, die die Städte Solingen und Remscheid auf dem Schienenwege miteinander verbindet, ist die Landschaft besonders schön. An jenem Samstagmittag genossen die beiden Männer, die sich in der weiß gestrichenen Wohnung aufhielten, nicht die schöne Aussicht. Nein, es war in der letzten Nacht etwas schief gelaufen. Einer von Beiden hatte versagt. Kläglich versagt. Der Boss würde toben und einer der Beiden würde seine Prämie sicherlich nicht bekommen. Da saßen sie nun in der kleinen Küche, jeder auf einem Stuhl. Übernächtigt und unrasiert. Jeder hatte eine Flasche Bier vor sich. Bitburger natürlich. Die Meisten hier im Tal tranken Bitburger. Laut rülpste der Eine und fluchte vor sich hin. „Verdammte Scheiße! Hätte ich meine 9-Millimeter dabei gehabt, ich hätte den Kerl im Rathaus abgeknallt. Aber nein, der Auftrag lautete ja: „Erstechen." Wir müssen dem Boss klar machen, dass wir unsere Pistolen gebrauchen 23
müssen. Wir haben doch sogar Schalldämpfer. Keine Sau hätte das gehört. Stattdessen läuft mir dieser Moritz Schaller einfach weg. Erst tritt er mir in die Eier und dann fährt dieser blöde Hund mit dem Fahrstuhl davon. Und draußen im Nebel verliere ich ihn. Ich konnte kaum was sehen. Gehört habe ich diesen Hund. Aber gesehen habe ich nur einen Mann in Mantel und Krawatte. Sicher einer dieser feinen Pinkel, die Kohle ohne Ende haben." Der andere Gauner meldete sich jetzt zu Wort: „Jammer jetzt bloß nicht rum. Du hast einen absoluten Scheißjob gemacht. Während du im warmen Rathaus deine Arbeit nicht erledigt hast, war ich draußen vor dem Haupteingang, hab mir den verdammten Arsch abgefroren und im dichten Nebel meinen Job gemacht. Dem alten Bohl habe ich es gegeben. Ein Stich ins Herz und schon war er bei den Engeln. Der wird dem Boss ganz bestimmt keinen Ärger mehr machen. Da kannste einen drauf lassen." „Hol den Weinbrand aus dem Schrank und trink einen mit mir", antwortete sein Gegenüber. „Ich werde diesen Moritz Schaller noch erwischen. Das verspreche ich dir. Der entkommt mir nicht noch ein zweites Mal. Der Boss soll uns mitteilen, was wir machen sollen und dann geht es Schaller an den Kragen. Der hat mich nicht umsonst getreten. Das ist alles feuerrot und schmerzt. Selbst das Pinkeln tut mir weh. Wenn ich den erwische." „Lass gut sein, Benno!" erwiderte sein Gesprächspartner. „Nicht alles im Leben klappt sofort. Der Boss wird sicherlich sauer auf uns sein. Andererseits haben wir fünfzig Prozent unseres gestrigen Jobs erledigt. Der Boss braucht uns. Professionelle Killer sind garantiert viel teurer als wir. Die nehmen doch mindestens zehntausend Euro pro Auftrag. Du weißt, wie geizig der Boss ist." 24
Benno antwortete mit einem lauten Rülpser, dann sagte er: „Ich wüsste gerne, wer unser Boss ist. Ob wir ihn einmal sehen werden? Vielleicht ist er ja einer ganz netter Kerl, und wir können mit ihm einmal einen Zug durch die Gemeinde machen." „Wovon träumst du eigentlich nachts, Benno? Den sehen wir niemals, und wenn, sind wir schneller tot als uns lieb ist. Sei froh, wenn du ihn nie kennen lernst. Der beseitigt doch alle Zeugen oder Leute, die ihm in irgendeiner Weise gefährlich werden könnten. Dasselbe würde der auch mit uns machen. Also schlag dir bloß solche Gedanken aus dem Kopf." Benno wurde stumm und nickte, trank einen großen Schluck Bier aus seiner Bitburger Flasche und starrte vor sich hin.
Samstagmittag, 12.25 Uhr Remscheid-Innenstadt Zwei völlig übernächtigte Kriminalbeamte suchten die Wohnung des vor der Rathaustreppe erstochenen Heinz Bohl auf. Das Mietshaus in der Baustraße, wahrscheinlich kurz nach dem 2. Weltkrieg in den fünfziger Jahren erbaut, würde sicherlich einen Anstrich brauchen. Die Fassadenfarbe war komplett verwittert und das graue Gebäude lud wahrlich nicht zum Verbleiben ein. Zweimal drückte Hauptkommissar Alexander Neudorf kurz auf die unterste Klingel. Nach ein paar Sekunden ertönte der Summer. Neudorf drückte die Haustüre auf. Die Parter25
rewohnung wurde geöffnet, und eine verstörte Frau mit grauer Dauerwellenfrisur und verweinten Augen öffnete die braun gestrichene Wohnungstür. „Alexander Neudorf, Kriminalpolizei", stellte sich der Chef-Ermittler der Wuppertaler Mordkommission kurz vor. „Das ist mein Kollege Klaus Ritzer." „Ich weiß es schon", schluchzte Gisela Bohl, die Frau des ermordeten Bauamtsmitarbeiters Heinz Bohl. „Mein Schwager hat eben angerufen. Ich habe meinen Mann heute Morgen bei der Polizei in Remscheid als vermisst gemeldet. Mein Schwager hörte im Radio von einem Mord vor dem Rathaus und ist dahin gefahren, nachdem ich ihn angerufen und ihm gesagt hatte, dass Heinz gestern nicht nach Hause gekommen sei. Er hat an dem Mantel gesehen, dass es Heinz war, der da lag." Jetzt konnte Gisela Bohl nichts mehr sagen. Sie heulte und Tränen liefen ihr über ihre knochigen Wangen. Die Kriminalbeamten sprachen der Witwe ihr Mitgefühl aus. Diesen Moment hassten die beiden Polizisten. Das war immer ein äußerst unangenehmer Besuch, und sie hätten sich gerne vor dieser Pflicht gedrückt. Aber auch das gehörte zu ihrem Beruf. Zuckerschlecken war ihr Job bei der Wuppertaler Mordkommission nicht. Wie oft hatten sie schon solche schlechten Nachrichten überbringen müssen. Wie oft standen sie traurigen, weinenden Menschen gegenüber. Neudorf gab Frau Bohl seine Visitenkarte und verabschiedete sich von ihr. Schnell gingen die Ermittler aus dem Haus und stiegen in ihren Opel Vectra. Klaus Ritzer, der sich auf den Fahrersitz setzte, fuhr stumm Richtung Solingen, um seinen Chef zurück in die Beckmannstraße zu bringen, wo er zu Hause war. Hauptkommissar Alexander Neudorf schlief auf dem Beifahrersitz ein, als sie am Rem26
scheider Amtsgericht die Bundesstraße 229 erreichten, die Richtung Solingen führte. Auch Klaus Ritzer wollte nur noch schlafen. Und schlafen würde er auch gleich. Sobald er seinen Chef nach Hause gebracht hätte, würde er nach Wuppertal fahren. In seine kuschelige Wohnung. Ritzer wusste genau, dass es an diesem Wochenende keinen freien Sonntag geben würde. Die Mordkommission müsste morgen arbeiten. Die Öffentlichkeit, der ermittelnde Staatsanwalt und die Polizeibehördenleiter erwarteten Ergebnisse. Sie mussten die Mordfälle von Remscheid aufklären, und Neudorf würde nicht ruhen, bis sie dieses schwierige Unterfangen erfolgreich erledigt hätten. Samstagnachmittag, 15.00 Uhr Remscheid-Morsbach Die beiden Kumpel waren eingeschlafen. Der arbeitslose Benno Mahler lag auf der beigefarbenen DreisitzerWohnzimmercouch und schnarchte vor sich hin. Bennos Freund schlief in seinem Schlafzimmer. In einem massiven Doppelbett aus Eiche. Sein Vermieter hatte ihm die Wohnung vor drei Wochen möbliert vermietet. Hier ließ es sich leben. Fernab vom Großstadtlärm und trotzdem so nah an den Großstädten. Das Morsbachtal liegt genau zwischen den bergischen Metropolen Solingen, Remscheid und Wuppertal. Hier konnte man ruhig vor sich hin leben. Ohne Stress und so nah an der Natur. Hier gab es nur ein Problem. Schon vor langer Zeit hatte das letzte Lebensmittelgeschäft in der Hofschaft Morsbach für alle Zeiten geschlossen und den Getränke-Shop Töbelmann gab es auch nicht mehr. Mit der Bärenkuhle schloss vor kurzer Zeit auch noch das einzige verbliebene Bierlokal. Also mussten sie mit dem alten gelben VW-Golf, den Benno vor sechs Wochen 27
für fünfhundert Euro gekauft hatte, zu dem neuen Getränke-Shop am Ende der Remscheider Königstraße fahren. Sechs Kästen Bitburger und einen Kasten Wasser, das war die wöchentliche Ration der beiden, seitdem sie sich die schöne Wohnung gegönnt hatten. Schließlich hatte ihnen ihr Boss vor vierzehn Tagen ganze fünftausend Euro in die alte Säbelschmiede am Gockelshammer gebracht. In einem Kuvert ohne Absender, das in einer Nische zwischen den alten Ziegelsteinen lag, waren hundert Fünfzig-Euro Scheine. Der Lohn für den feigen Mord an dem Bauamtsmitarbeiter Rüdiger Fritsche, der im Remscheider Rathaus sterben musste, weil er mit seinem Kollegen Moritz Schaller etwas Unglaubliches aufdecken wollte. Etwas, das die Region erschüttern würde, wenn die Öffentlichkeit davon erführe. Jetzt bekam Benno Mahler die sms auf sein Handy, von der Person, die sie nie gesehen hatten. Von der Person, die sie Boss nannten. Gelesen hatten die beiden Verbrecher die Nachricht erst am Samstagabend, als sie aufgewacht waren. In der sms stand, sie sollten sich weitere dreitausend Euro Lohn abholen. In der alten Säbelschmiede. Außerdem regte sich der Boss über den fehlgeschlagenen Auftrag auf, diesen Moritz Schaller zu entsorgen. Die Nachricht schloss mit einem neuen Auftrag, der selbst den beiden skrupellosen Gangstern das Blut in den Adern gefrieren lassen sollte.
Samstag, 17.00 Uhr 28
Remscheid-Kremenholl Ich saß im geräumigen Wohnzimmer im Erdgeschoss meines bergischen Schieferhauses. Ich hatte es mir auf meinem grau gepolsterten Federkernecksofa gemütlich gemacht und tippte eine Bochumer Festnetznummer ins Telefon. „Dieter Kaisers", meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Hallo Dieter, ich muss unbedingt mit dir reden. Ich brauche deinen Rat. Kannst du heute Abend um acht im Ratskeller in Remscheid sein?" Dieter Kaisers, Professor für Sozialpädagogik, war an der Fachhochschule in Bochum tätig gewesen und seit kurzem im Ruhestand. Er antwortete: „Äußerst ungern. Ich habe heute keinen Menschen, der auf meine zwei Dackel aufpassen kann. Was ist denn los, dass du mich so eilig sprechen willst?" „Es geht um die Rathausmorde hier in unserer Stadt. Du hast doch bestimmt schon davon gehört, oder?" „Wieso Morde? Im Fernsehen habe ich vor vierzehn Tagen nur von einem Mord gehört." „Dieter, in der letzten Nacht ist ein zweiter Mord passiert. Genau vor der Rathaustreppe. Ich treffe mich heute Abend mit Paule im Ratskeller. Und du sollst Paule einerseits davon überzeugen, dass ich mich des Falles annehmen muss und mir andererseits bitte auch ein paar Tipps geben. Ich muss den Rathausmörder finden, bevor er noch mehr Schaden anrichten wird. Du hast doch vor elf Jahren auch geholfen, meinen letzten Fall bei der Polizei zu lösen. Du wirst hier wirklich gebraucht. Also hilf mir bitte. Deine Theorien können Leben retten. Ich glaube, es könnte noch mehr Opfer geben. Ich muss herausfinden, was dahinter steckt. Ist da ein Verrückter am Werk oder
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steckt irgendwas dahinter, was noch keiner weiß? Vielleicht bergen die Rathausmorde ein Geheimnis." „Gut, ich komme, um acht bin ich da!", sagte die väterliche Stimme am anderen Ende des Telefons. Der Professor mit dem Aussehen des Fernsehstars Gunther Emmerlich und einer großen Portion Weisheit im Blut, legte auf und ich, Günter Kronenberg, lächelte genüsslich. Jetzt konnte die Jagd nach dem Rathausmörder beginnen. Mit meiner Nachbarin Erika hatte ich Remscheids unerschrockene Miss Marple im Boot und mit Dieter Kaisers, dem Professor mit dem weißen Vollbart, einen erfahrenen Mann, der einzigartig kombinieren konnte. Das hatte er früher, als er sich als Psychologe bei der Polizei in Düsseldorf ein Zubrot verdiente, des Öfteren unter Beweis gestellt. Und auch ich habe ja die Gabe des Kombinierens. Vor elf Jahren habe ich außerdem bei einem Schiesswettbewerb der „brigada criminal" den ersten Preis gemacht und vom spanischen Polizei-Chef persönlich die Siegernadel angesteckt bekommen. Mein Ehrgeiz und mein Wille, den Fall vor der ermittelnden Mordkommission zu klären, wurde immer größer. Das war eine Aufgabe ganz nach meinem Geschmack!
Samstagnachmittag, 17.30 Uhr Islandstraße, Hückeswagen Moritz Schaller saß in seiner kleinen Altstadtwohnung in der Islandstraße in Hückeswagen. Die Islandstraße war die Einkaufsmeile in der Schlossstadt. Alte geschieferte Fach-
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werkhäuser verliehen der Straße mit ihren vielen kleinen Geschäften ein mittelalterliches Aussehen. Der kleine Sachbearbeiter des Remscheider Bauamtes war aufgrund seines tollen Fundes im Oberhaus der Remscheider erleichtert. In der letzten Nacht hatte er endlich das gefunden, wonach sein ermordeter Kollege Rüdiger Fritsche und er schon lange gesucht hatten. Endlich hatte er Beweise in seinen Händen, die ihm sicherlich noch sehr nützlich sein konnten. Wenn er nächste Woche Montag mit den Unterlagen in sein Büro gehen würde und die Unterlagen der Oberbürgermeisterin übergeben könnte, würde einer Beförderung sicherlich nichts im Wege stehen. Schließlich war er, Moritz Schaller, der große Held von Remscheid. Er, der kleine Sachbearbeiter aus Thüringen, hatte die Beweise für eine ganz große Sache gefunden. Das war doch das Größte. Oder sollte er die Unterlagen einer Boulevard-Zeitung gegen eine satte Provision anbieten? Dann würde dem Gesetz auch genüge getan und er könnte sich von dem Geld der Zeitung einen Gebrauchtwagen kaufen. Den schwarzen Renault, den er bei dem Autohändler in Wermelskirchen gesehen hatte und der ihm so gut gefiel. Ja, das war die richtige Idee. Er würde am Montag bei der Zeitung anrufen, und dann würden die schon etwas Geld locker machen. Dann dachte Moritz Schaller daran, dass er fast letzte Nacht im Remscheider Rathaus umgebracht worden wäre. Er erhob sich schnell aus seinem braunen Fernsehsessel und begab sich zu seiner Wohnungstür. Der Mann mit den tiefen Augenrändern drehte den Wohnungsschlüssel zweimal rum. Das gab ihm ein wenig Sicherheit. Und jetzt noch den Küchentisch vor die Tür. Sicher ist sicher. Jetzt schaltete er den Fernseher an. Den neuen James Bond wollte er 31
sich heute auf DVD anschauen. Aus dem Haus ging er besser nicht mehr. In Gefahr wollte er sich nicht mehr begeben. Ein normales Leben gab es seiner Meinung nach erst dann, wenn die Verbrecher hinter Schloss und Riegel waren. Und das war frühestens nächste Woche.
Samstagnacht, 1.00 Uhr Islandstraße, Hückeswagen In der Wohnung von Moritz Schaller wurde das Licht gelöscht. Ein langer Fernsehabend war vorbei und der Mann mit den tiefen Augenrändern war müde geworden. Nur noch schlafen und gemütlich dabei einkuscheln. Mehr wollte er, der aus der Stadt kam, in der Goethe und Schiller gewirkt hatten, dem thüringischen Weimar, gar nicht. Nur schlafen und die Hetzjagd der letzten Nacht vergessen. Allerdings hatte Moritz Schaller nicht die beiden Typen auf der Rechnung, die sich nach ein Uhr in einen gelben Golf älteren Modells setzten und sich auf den Weg von dem beschaulichen Remscheider Morsbachtal nach Hückeswagen im Oberbergischen machten. Sie nahmen den Weg über die Bundesstraße 229 quer durch die Remscheider Stadt. An der Neuenkamper Straße hielten sie an einer der vielen Tankstellen, um einem plötzlichen Hungergefühl genüge zu tun. Nach einem leckeren Baguette konnte man schließlich besser arbeiten. Und sie fuhren ja zur Arbeit. Benno hatte, nachdem sie aufgewacht waren, die Nachricht vom Boss auf seinem Handy gehabt. 32
Erst holten sie sich die dreitausend Euro Erfolgsprovision aus der einsamen ehemaligen Säbelschmiede im Wald, dann schauten sie in aller Ruhe im Zweiten Programm das Sportstudio an. Es war noch Zeit. Den Auftrag konnten sie erst unbemerkt ausführen, wenn in Hückeswagen die Bürgersteige hochgeklappt waren und die braven Bürger schliefen. Die Ganoven setzten ihre Fahrt fort. Sie überquerten auf der Lenneper Straße die Autobahn 1 und fuhren an der Trecknase in Richtung Bergisch Born, dem Dorf, das erst seit der letzten Gebietsreform 1975 zu Remscheid gehörte. In Bergisch Born nahmen die beiden Spitzbuben den Abzweig nach Hückeswagen. Benno gab jetzt ordentlich Gas, als plötzlich eine Wildschweinrotte aus dem Wald über die Landstraße gerannt kam. Benno bremste scharf ab, und der gelbe Golf geriet ins Schleudern. Ein starker Aufprall verriet den nächtlichen Herumtreibern, dass sie eines der Wildschweine gerammt haben mussten. Der Wagen brach jetzt aus, und ein lauter Knall beendete die nächtliche Fahrt. Die zu dieser Jahreszeit blätterlose große Rotbuche, die dem gelben Golf im Wege stand, wurde von dem Auto regelrecht mit der Vorderfront umwickelt. Benno schrie auf. Sein Kumpel lag ohnmächtig und blutverschmiert auf dem Beifahrersitz. Sein Freund hatte sich nicht angeschnallt. Warum auch. Der schnallte sich ja nie an. Bei dem harten Aufprall war sein Kopf gegen die Windschutzscheibe geschlagen, die bei dem Beifahrer eine Ohnmacht und eine Platzwunde verursacht hatte. Was für ein Mist! Was für ein Schock! Außerdem, der schöne Golf, der war jetzt sicherlich Schrott. Was sollte Benno Mahler jetzt machen?
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Zuerst stieg er aus. Er zitterte vor Aufregung und ging um das zerknautschte Auto herum. Seinen Kumpel zog er vorsichtig aus dem Golf und legte ihn auf den Waldboden. Dann zog er schnell sein Handy aus der Tasche. Er wollte seine Schwester Angie anrufen. Die blonde Krankenschwester könnte sie bestimmt abholen und gleich seinen Freund verarzten. Und er hatte tatsächlich Glück. Angie, Mitte zwanzig und im Gegensatz zu Bruder Benno sehr bürgerlich und anständig, ging ans Telefon. „Hallo, liebes Schwesterchen, entschuldige die späte Störung. Aber du kommst jetzt sofort zu mir und hilfst mir. Hast du verstanden?" „Wie redest du mit mir? Soll ich auflegen? Benimm dich gefälligst, Benno, wenn du mich schon mitten in der Nacht störst. Was ist passiert und wo bist du jetzt? Hast du wieder was ausgefressen?" „Ach nein, Schwesterchen, aber mein Freund und ich hatten einen Unfall. Wir haben uns auf der Straße nach Hückeswagen um einen Baum gewickelt und mein Kumpel ist ein wenig verletzt. Diese verdammten Wildschweine. Ich knall die alle ab. Mein schöner neuer Golf. Diese Dreckschweine. Wenn ich die erwische!" „Gib das Schreien dran, sonst lege ich sofort auf, Benno! Was hat dein Freund denn?" „Oh, liebes Schwesterchen, er hat eine Platzwunde auf der Stirn und ist ein wenig ohnmächtig. Und wenn ich eine der Wildsäue erwische, dann zerreiße ich sie in Stücke. Diese verdammten Säue! Ich bin auf dem Weg zur Arbeit und dann so was." „Du auf dem Weg zur Arbeit? Und dann um diese Zeit? Du bist doch schon seit zehn Monaten arbeitslos. Du willst mich wohl veräppeln, oder?" „Nein Schwesterchen. Ich muss zur Nachtschicht. Weißt du was, setz dich bitte in deinen Panda und komm hier hin. Dann 34
kannst du meinen Kollegen verarzten und mich zur Arbeit bringen, ja? Um meinen Wagen können wir uns ja dann morgen kümmern." „Morgen muss ich zum Dienst. Das Sana-Klinikum erwartet mich ab Sonntagnachmittag. Und wenn ich dir schon jetzt helfe, werde ich morgen früh garantiert schlafen." Angie Mahler setzte sich in ihren kleinen roten Fiat-Panda und fuhr von ihrer Wohnung in Wermelskirchen-Tente, unweit des dortigen Edeka-Marktes, zum Unfallort, den ihr Benno, so gut es ging, beschrieben hatte. Erst kümmerte sie sich rührend um Bennos Kollegen, der inzwischen aus seiner Ohnmacht erwacht war und über wahnsinnige Kopfschmerzen klagte. Etwas Jod auf die Platzwunde und einen ordentlichen Verband angelegt. Das war alles, was Angie tun konnte. Die Gehirnerschütterung konnte das sympathische Mädchen nicht behandeln. Benno nahm einen Kanister aus seinem demolierten gelben Golf und überredete seine Schwester, ihn doch bitte nach Hückeswagen zu seiner Nachtschicht zu bringen. Als sie nach nur fünfzehn Fahrminuten die Schlossstadt erreicht hatten, stieg Benno aus dem Panda aus, und Angie fuhr mit Bennos Komplizen die Straße zurück Richtung Remscheid. Schließlich musste der Freund ihres Bruders schnellstens in sein Bett. Und das war ja in der Wohnung in der Ackerstraße in Remscheid-Morsbach. Am anderen Ende der Stadt gelegen. Eine weite Fahrt für die Krankenschwester. Aber was tat man nicht alles für einen Bruder. Mochte er auch noch so ein kleiner Ganove sein. Benno war in der Nähe der Islandstraße aus dem Auto seiner Schwester gestiegen und hatte den Kanister mit dem Brennstoff, den er ja aus seinem Golf mitgenommen hatte, 35
in der Hand. „Fünf Liter müssten wohl reichen", dachte er, „um den Auftrag zu erledigen." Als Benno Mahler vor dem Haus stand, in dem Moritz Schaller seelenruhig schlief und in tiefen Träumen angekommen war, grinste der skrupellose Verbrecher mit breitem Gesicht. Er hatte sein Ziel zwar spät und nur unter Schwierigkeiten erreicht, aber jetzt war er da und konnte wieder dreitausend Euro verdienen. Und das Geld brauchte er dringend. Sein Wagen war nur noch Schrott und mit dem Bus fahren war nicht Bennos Ding. Er schüttete hastig die Flüssigkeit aus dem Kanister und verteilte sie an dem alten Schieferhaus. Auch den alten Fenstersims, vor dem er stand, vergaß er nicht. Nun steckte er mit langen Streichhölzern, die er bei sich trug, das Benzin in Brand. Benno lief schnell die Islandstraße herunter und blickte sich erst wieder um, als er die Durchgangsstraße, die nach Wipperfürth führte, erreicht hatte. Das alte Schieferhaus brannte bereits lichterloh, als sich Benno vom Etapler Platz aus das Schauspiel ansah. „Wie schön ein Feuerschein bei Nacht doch aussieht", dachte er und freute sich schon auf seine Gage, die er für dieses Schauspiel bekommen würde. Der Boss würde bei erfolgreicher Arbeit auch schnell zahlen. Das wusste er ganz genau. Dann würde er sofort ein neues Auto kaufen. Am besten mit hochglanzpolierten Alufelgen. Dann könnte er bei den Morsbachern ein wenig angeben. Benno Mahlers Geldsorgen sollten endlich vorbei sein. Nie wieder wollte er in der alten feuchten Bruchbude schlafen, die früher einmal eine Säbelschmiede gewesen war. Nein, er wollte in Wohngemeinschaft mit seinem Kumpel in 36
der hellen warmen dreiundsiebzig Quadratmeter großen Wohnung wohnen. Die schöne Wohnung in der Ackerstraße, die er und sein Freund von irgendeinem Remscheider Stadtrat vor kurzer Zeit angemietet hatten. Da ließ es sich gut leben. Da wollte er jetzt, wo das Haus in der Islandstraße lichterloh brannte, auch wieder hin. Ein Taxi würde ihn schon ins Morsbachtal bringen. Dann ins warme Bett und ausschlafen und spätestens Montag die dreitausend Euro abholen. Während die Feuerwehr versuchte, den Brand unter Kontrolle zu bringen, fuhr Benno Mahler in guter Stimmung mit dem Taxi nach Remscheid. Er hatte das Gefühl, seine Arbeit gut und zur Zufriedenheit seines Bosses erledigt zu haben. Hückeswagen, Islandstraße, gegen 3.00 in der Frühe Beißender Geruch stieg Moritz Schaller in die Nase. Er erwachte aus seinen Träumen und sah die Feuersbrunst, die sich mächtig auf seine Wohnräume zu arbeitete. In Sekunden war er hellwach und hatte seine Jeans über seine Schlafanzughose gezogen. Moritz Schaller lief zur anderen Wohnungsseite und versuchte eines seiner alten Holzfenster zu öffnen. Er war nervös, und es gelang ihm nicht. Die Hitze in den Räumen wurde unerträglich. Die Wohnungstüre brannte, und es würde nicht mehr lange dauern, dann hätte es ihn auch erwischt. Da auch der Qualm dichter wurde, würde er, wenn er nicht verbrennen würde, an Rauchvergiftung sterben. Er stand plötzlich unter Schock und konnte sich kaum noch bewegen. Starr sah er das Feuer auf sich zukommen. Ihm wurde schwarz vor Augen.
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Draußen kämpfte die Hückeswagener Feuerwehr gegen die Flammen. Auch die Wehrmänner aus dem benachbarten Wipperfürth waren mit ihren Löschfahrzeugen auf der Islandstraße angekommen und begannen ihre Löschschläuche auszurollen. Der Kampf, den Brand zumindest unter Kontrolle zu bekommen, hatte begonnen. Für Moritz Schaller wohl zu spät. Sonntagmorgen, 10.00 Uhr Remscheid-Kremenholl Paul-Uwe war als erster wach und kochte Kaffee. Dieter und ich müssen wohl zeitgleich aufgewacht sein. Jedenfalls stritten wir um die Vormacht in meinem Badezimmer in der 1. Etage. Ich hatte noch Streuselstuten, den ich in der Bäckerei in Solingen auf der Schützenstraße gekauft hatte und der in Solingen Semmel genannt wird, und machte dazu Spiegeleier. Hört sich zwar pervers an, schmeckt aber richtig lecker. Auch meinen Gästen mundete es. Ich machte das Radio an und wir hörten im WDR 2, dass in der Nacht in Hückeswagen ein altes Schieferhaus abgebrannt war und dass es einen Schwerverletzten gegeben hat. Wir dachten uns zu diesem Zeitpunkt allerdings nichts dabei und plauderten bei leckerem Kaffee in den Morgen hinein. Wir sprachen über Frauen, den Papst, unsere leidige Partei, in der Dieter nicht einmal Mitglied war. Er war als junger Student ein Achtundsechziger und war wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten. Wir redeten wie eine ganze Bastion von Waschweibern. Männer können das auch. Natürlich kamen wir auch wieder auf die Rathausmorde zu sprechen. Gleich morgen früh wollte ich im Wuppertaler Polizeipräsidium anrufen, um in meiner Eigenschaft als Polizeibeirat herauszubekommen, wer die Ermittlungen leitete. Ein Ge38
spräch mit dem Leiter der Mordkommission konnte schließlich meinen Ermittlungen nicht schaden. Erika würde morgen ins Rathaus gehen und mit Moritz Schaller Kontakt aufnehmen. Vielleicht hätten wir mit Schaller direkt den Richtigen, der uns wichtige Auskünfte geben würde. PaulUwe wollte morgen zum Rathaus-Pförtner und dem einfach ein paar Fragen stellen. Auch da könnte ja was für uns an Informationen rausspringen. Aber da heute Sonntag war, wollten wir drei einen Ausflug machen. Wir einigten uns auf Köln. Da war es mindestens drei Grad wärmer als in Remscheid und die Regenwahrscheinlichkeit war wesentlich geringer in den Niederungen des Rheintales. Köln, der Dom, die verträumten Altstadtgässchen, die Hohe Straße und die gemütlichen Brauhäuser: Das würde ein schöner Nachmittag werden.
Sonntagmorgen, 11.00 Uhr Wuppertal-Barmen Hauptkommissar Alexander Neudorf war der Leiter der Mordkommission, die direkt nach dem ersten Rathausmord von Remscheid gebildet worden war und aufgrund des aktuellen zweiten Mordfalles an diesem feuchtkalten Novembersonntag im Polizeipräsidium an der Friedrich-EngelsAllee in Barmen zusammentrat. In dem neuen abhörsicheren Besprechungsraum saßen an diesem Morgen außerdem noch die jungen Ermittler Nikolai Schmitz und Mona Röser. Alle warteten auf den vierten im Bunde, den Kommissar Klaus Ritzer. Der war erst um viertel vor elf aus seinem Tiefschlaf erwacht und hatte eigentlich überhaupt kei-
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ne Lust gehabt, aufzustehen. Schon wieder arbeiten, schon wieder Neudorf sehen. „Verdammt", es war schon spät und er hatte weder geduscht noch war er angezogen. Außer einer schnellen Katzenwäsche blieb keine Zeit mehr. „Schnell in die Klamotten von gestern springen", dachte er, während er den Schlüssel seines Dienstwagens suchte, der vor seiner Wohnung in der Nussbaumstrasse stand. Seine neue blitzsaubere schwarze Winterjacke lag noch auf dem grünen Lederecksofa. Am Vortag wurde nicht mehr aufgeräumt, sondern alle Kleidungsstücke waren wild durch die Wohnung geschmissen worden. Seine vierzigjährige Freundin Marion Jasmin, eine smarte Friseurin, war gestern mit ihrer Freundin im Kino gewesen. Also brauchte er ja nicht mehr aufräumen und konnte direkt schlafen gehen. Schnell sprang er die Treppe hinunter und schon bald saß er in seinem Dienstwagen. Nach einem blitzschnellen Start fuhr der Polizeibeamte in hohem Tempo die Straßen talwärts. Als er endlich auf die Friedrich-Engels-Allee abgebogen war, drückte Ritzer nochmals auf das Gaspedal. Kurz nach elf erreichte er das Präsidium und ließ sich die rotweiße Schranke öffnen, um auf den Parkplatz hinter dem Dienstgebäude zu gelangen. Schnell parkte Ritzer auf der Fläche neben der Hauswand, an der ein Schild mit dem Namen „Kronenberg" angebracht war. Er stieg aus dem Opel Vectra und passierte die schwere graue Stahltüre, durch die man von hinten in das Gebäude gelangen konn40
te. Im Dauerlauf musste er die Treppen hinauf und stürzte durch die neuen gläsernen Brandschutztüren. Acht nach elf. Klaus Ritzer trat durch die Türe in den Besprechungsraum und grüßte kurz. Hauptkommissar Alexander Neudorf ignorierte ihn und fuhr in seinen Ausführungen fort. Auf dem großen modernen Holztisch stand eine Kanne Kaffee. Ritzer nahm sich eine Tasse und goss sich von der wohl riechenden dunklen Brühe ein. Ein angenehmer Duft verbreitete sich in dem Raum. Der Chef redete über Fakten und darüber, dass sie langsam aber sicher Erfolge vorweisen müssten. Kollege Schmitz gähnte und die hübsche Mona Röser, die junge Polizistin mit den langen blonden Haaren, hörte aufmerksam ihrem Chef zu. Neudorf war nicht nur ein verdammt guter Ermittler. Er war auch ein toller Rhetoriker. Seine tiefe Stimme schien zudem die blonde Neue im Team zu faszinieren. „Für heute soll es gut sein", sagte der Hauptkommissar. „Morgen früh wird jeder von Ihnen seinen Job machen müssen. Ich verlange viel von Ihnen. Sehr viel. Erholen Sie sich deshalb noch ein wenig." Die sonntägliche Besprechung, kurzfristig anberaumt und von enormer Wichtigkeit, war vorbei. Die Polizisten hatten also noch etwas Freizeit und verließen ihre Dienststelle. Auf dem Parkplatz fragte Alexander Neudorf seinen Assistenten: „Ritzer, was machen Sie heute noch? Ruhen Sie sich aus und gehen Sie früh schlafen. Ich glaube, morgen wird ein langer Tag. Wir sollen morgen auch zur Remscheider Oberbürgermeisterin kommen. Morgen wird ein anstrengender Tag."
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„Ich werde heute nur noch schlafen", antwortete Klaus Ritzer. Dann fragte er seinen Chef: „Meinen Sie, der Mörder wird weiter machen? Ich mache mir große Sorgen. Vielleicht ist es ja ein Kranker, der da ohne Hemmungen auf die Opfer eingestochen hat." „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht", sagte der erfahrene Kriminalist und ergänzte noch: „Ich glaube, die Morde haben System. Es könnten Auftragsmorde sein. Irgendwas stimmt da nicht im Rathaus von Remscheid. Vielleicht arbeitet der Mörder ja bei der Stadt. Ein Steuersünder wird wohl nicht so verrückt sein, deshalb Rathausmitarbeiter umzubringen. Wir werden morgen einige Personen vernehmen müssen. Machen Sie es heute gut, Ritzer. Ruhen Sie sich aus. Morgen früh werden wir hart arbeiten müssen. Staatsanwalt Altenhofen hat mich schon heute morgen um acht angerufen. Der erwartet Ergebnisse von uns."
Sonntagmittag, 12.00 Uhr Remscheid-Mörsbach Hallo Benno. Steh auf. Meine Birne schmerzt und ich brauche Tabletten. Hast du was im Haus? Es hämmert in meinem Kopf und ich brauche was zu schlucken." „Ich habe in meinem Rucksack welche, in der Küche", flüsterte ein total müder Benno Mahler und bat den durch den Unfall verletzten Freund um etwas Ruhe. Schließlich hatte er hart gearbeitet gestern Abend. Er hatte den wichtigen Auftrag erledigt, den die beiden Gauner von ihrem Boss so kurzfristig bekommen hatten. Aber es war spät geworden in 42
der letzten Nacht. Das Taxi hatte ihn zwar sicher von Hückeswagen ins Morsbachtal gebracht, aber als er seine Wohnungstür in dem weißen Mehrfamilienhaus in der Ackerstraße aufschloss, war es schon fast vier Uhr morgens. Zwei Flaschen Bier und zwei Zigaretten hatte er sich noch auf dem gepolsterten Holzstuhl in der kleinen Küche gegönnt. Dann war er endlich schlafen gegangen. Glücklich und zufrieden. Seinen Freund hatte der dumme Unfall mit dem Wildschwein nicht umgebracht und diesen Moritz Schaller hatte er bestimmt gegrillt. Seine Schwester Angie hatte den beiden Verbrechern toll geholfen in der Nacht. Sie war zum Unfallort gekommen und hatte seinen Kumpel verarztet. Sie hatte ihn nach Hückeswagen zur Arbeit gebracht und seinen verletzten Kumpan auch noch zurück in ihre Morsbacher Wohnung gefahren. Es war doch gut, eine kleine Schwester zu haben. Benno Mahler schlief ein. Sonntagmittag, 13.00 Uhr Köln-Rodenkirchen Dieter, Paul-Uwe und ich hatten uns kurzfristig überlegt, nach Köln-Rodenkirchen zu fahren. Wir besuchten in dem Ausflugsort im Süden von Köln die „Alte Liebe". Die „Alte Liebe" war ein Ausflugslokal auf dem Rhein. Auf dem alten gemütlichen Hausboot wollten wir Mittagessen. Wiener Schnitzel, Pommes und Salat, dazu ein leckeres Kölsch trinken. Das war ein feines Mittagessen. Die dunkelhaarige Kellnerin wurde gleich von uns belustigt. Wir aßen gut, wobei Paule natürlich seinen Salat stehen ließ. Er hasste ja gesundes Essen. Wir wischten uns den Bierschaum von den Lippen und redeten wieder über Gott 43
und die Welt. Natürlich überlegten wir auch, wer wohl der Rathausmörder sein könnte. Wer konnte ein Interesse daran haben, gleich zwei Menschen durch Messerstiche umzubringen und damit einfach zwei Leben auszulöschen? Was ging wohl in diesem Mörder vor, der so kaltblütig in der bergischen Großstadt wütete? War der Mörder allein oder gab es Mittäter? War es ein Mann oder vielleicht eine Frau? Wir wussten noch viel zu wenig über den Fall. An diesem Sonntag hatte die Sonne gegen die dichten grauen Wolken keine Chance. Auch in Köln war alles grau in grau. Allerdings war es trocken. Einsam schipperten ein paar Frachtschiffe über den Strom. Rodenkirchen war immer eine Reise wert. Die schöne Rheinpromenade und die vielen Villen machten diesen Kölner Stadtteil zum Wohnort von vielen reichen Kölner Bürgern. Wir richteten unsere Augen nordwärts über den lang gezogenen Rhein und konnten in der Ferne den Kölner Dom sehen. Der thronte seit vielen hundert Jahren über dieser alten Stadt, in die ich so gerne fuhr. Diese Leidenschaft teilte ich mit vielen Bewohnern aus dem bergischen Städtedreieck. Köln war schließlich schnell zu erreichen und in dieser Rheinmetropole pochte das Leben. Meine Schwager Oliver und Dominik hatte es sogar ganz in diese Stadt verschlagen. Hier arbeiteten sie und genossen das wahre Großstadtleben. In dieser Medienstadt war immer was los. Am Nachmittag wollten wir in den Dom gehen und anschließend irgendwo schön Kaffeetrinken. Dieter hatte auch viel Zeit mitgebracht. Auf seine beiden Dackel passte schließlich sein fast blinder Kumpel Karl-Heinz auf. KarlHeinz war ein ehemaliger Profifußballer aus der Bundesliga. Er spielte früher als Abwehrspieler bei Arminia Bielefeld und verteidigte gegen Starkicker wie Gerd Müller und Jür44
gen Grabowski. Wir fuhren am frühen Nachmittag Richtung Innenstadt. Dieter lenkte seinen schwarzen KIA die Rheinuferstraße entlang. Vorbei an den alten Speicherhäusern, die neben den Neubauten standen, die offenbar einem Schiff ähneln sollten. Vorbei am Schokoladen-Museum fuhren wir durch eine Unterführung und kamen schließlich zur Bastei. Direkt über dem Rhein liegend, war dieses interessante Haus früher ein bis weit über die Grenzen von Köln bekanntes Tanzlokal, in dem man auch gut Kaffeetrinken konnte. Jetzt stand es wohl leer. Dieter bog an der Bastei rechts ab und steuerte einen Parkplatz an, der direkt am Rheinufer lag, vor der Schiffspromenade. Wir stiegen gutgelaunt aus und gingen über das schwarze Kopfsteinpflaster des Fahrweges, parallel zur Rheinpromenade. Dann gingen wir zu den Anlegestellen. Einige große Schiffe lagen dort vor Anker. Sie kamen alle aus Holland und sie waren voll mit Rentnern, die sich in Köln einen schönen Tag machen konnten. Wir gingen weiter, unter der Eisenbrücke her, dem grün gestrichenen Stahlkoloss mit dem Namen Hohenzollernbrücke, auf dem die Bahnzüge unterwegs waren, die vom oder zum Kölner Hauptbahnhof fuhren. Wir spazierten weiter, die riesige Treppe hinauf, die auf den Platz führte, unter dem die Kölner Philharmoniker ihre Konzerte spielten. Um deren musikalischem Treiben keine Störungen zuzuführen, waren Wachen abgestellt, die darauf achteten, dass niemand während dieser Zeiten quer über den Platz ging. Also gingen wir außen herum. Paule allerdings hätte den Musikern einmal gerne auf dem Kopf getrampelt. Dieter und ich konnten ihn aber erfolgreich daran hindern. Als wir vor dem „Museum König" standen und ein paar interessante Bilder durch die großen Glasscheiben sichtbar wurden, erkannte ich neben einer hübschen jungen Frau einen ehemaligen 45
Kollegen. Es war......ja genau, es war Alexander Neudorf. Der war doch damals in Leverkusen-Schlebusch zuhause und versah auch mit mir seinen Polizeidienst in Düsseldorf. Wir kannten uns schon ziemlich lange. Schon auf der Polizeischule in Stukenbrock waren wir Zimmernachbarn gewesen, und Neudorf war ein guter Schütze. Er war mein ärgster Konkurrent, wenn es um präzise Schüsse ging. Manches Mal hatte er mich sogar im Schusstraining geschlagen. Und das war nicht einfach, denn ich war schon auf der Polizeischule als Meisterschütze bekannt. Unser Ausbilder wollte damals, dass ich später zu den Scharfschützen gehen sollte, was ich aber dankend ablehnte. „Mensch Neudorf, wie geht es dir?", fragte ich, ohne auf das junge Ding zu achten, was er da an seiner Hand hielt. „Günter Kronenberg!", rief er laut und grinste mich dabei strahlend an. „Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Wir müssen unbedingt noch mal in den Schießstand und unsere Kräfte messen. Schießt du noch so gut wie damals? Man, was haben wir schon alles erlebt. Weißt du noch, wie wir die Terroristeneinsätze hatten? Was war das immer aufregend." Jetzt stellte mich mein ehemaliger Kollege Alexander Neudorf seiner Freundin vor. „Das ist Karolina", sagte er stolz und zeigte dabei auf die junge blonde Schönheit neben sich. „Angenehm, Günter Kronenberg aus Remscheid", sagte ich. „Und das sind Dieter und Paul-Uwe, zwei Freunde von mir".
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Alexander Neudorf und die hübsche Karolina begrüßten nun auch Dieter und Paule, letzterer schaute der jungen Frau schelmisch in die Augen. Neudorf wurde plötzlich ernst. „Remscheid, diese Stadt wollte ich eigentlich hier in Köln für ein paar Stunden vergessen. Diese Rathausmorde, ihr habt ja bestimmt schon davon gehört, machen mir große Sorgen und bereiten mir Bauchschmerzen. Günter, ich bin jetzt bei der Kriminalpolizei in Wuppertal." „Das habe ich gar nicht mitbekommen. Ich habe so viel mit meiner Security-Firma in Düsseldorf zu tun", versuchte ich mich zu entschuldigen, dass ich den alten Kollegen ganz aus den Augen verloren hatte. Plötzlich kam mir der Gedanke, der den Nagel auf den Kopf traf, wie ich später merkte. Mein alter Kollege Alexander Neudorf war sicherlich der leitende Ermittler im Fall „Rathausmörder". Ich überlegte mir eine List.
„Mein lieber Freund", sagte ich überschwänglich, „lass uns doch zusammen Kaffeetrinken gehen. Du kannst dann abschalten und wir können ein wenig über unsere alten Zeiten reden. Weißt du noch, als ich diese Rauschgiftbande hochgehen ließ? Wenn du nicht bei mir gewesen wärst, würde ich schon zwölf Jahre die Radieschen von unten sehen. Du hast mich damals gerettet. Dein gezielter Schuss war wirklich grandios." Als ich diese Worte sprach, glänzten die blauen Augen des Hauptkommissars und er willigte spontan ein. Allerdings mit der Einschränkung, vorher in den Dom zu gehen. Das hatte er Karolina versprochen. Wir freuten uns über diese Ein47
schränkung. Paule, Dieter und ich wollten schließlich auch noch in das wunderschöne Kölner Gotteshaus, dass man vom Remscheider Stadtkegel bei guter Sicht so toll sehen konnte. Wie oft schon hatte ich den beschwerlichen Aufgang zum Remscheider Rathausturm auf mich genommen, nur um von oben den Kölner Dom und das Siebengebirge sehen zu können. Im Dom waren wir still und vor dem Marienschrein zündete ich für meine verstorbene Mutter eine Kerze an. Wir schauten uns die wunderbar verzierten Fenster an und bewunderten die vielen kostbaren Sehenswürdigkeiten. Der Kölner Dom ist mit Recht ein Weltkulturerbe. So ein Bauwerk würde so schnell nicht mehr auf dieser Welt entstehen. Hoffentlich waren die verantwortlichen Kölner Ratsherren klug genug, dieses Kulturerbe nicht zu gefährden, las man doch immer von geplanten Hochhäusern auf der anderen Rheinseite. Der Mühlheimer Seite, die von den Kölnern abfällig „Schäl Sick" genannt wird. Wir verließen den mächtigen Dom und suchten uns ein schönes Café.
Sonntagnachmittag, 15.00 Uhr Bergisch Gladbach-Bensberg Hoch auf einem Berg thronte das imposante Schloss Bensberg über dem Land. Das Schloss war 1703 vom Düsseldorfer Kurfürsten Johann Wilhelm dem Zweiten in Auftrag gegeben worden, der im rheinischen Volksmund kurz Jan Weilern genannt wurde. Die architektonischen Vorbilder waren Versailles und Winchester Castle. Von dem schönen Gebäude hatte man in dieser exponierten Lage auf der Bensberger Bergterrasse einen atemberaubenden Blick auf die Domstadt Köln. Zuerst hatte Johann 48
Wilhelm ein Jagdschlösschen für seine zweite Frau MariaLuisa aus dem Geschlecht der Medici bauen wollen. Nach einem Besuch im französischen Versailles änderte er aber seine Pläne und ließ von den Architekten ein Schloss errichten, dessen Ausmaße seine Besucher beeindrucken sollten. Unter ihnen war auch der berühmte Johann Wolfgang von Goethe. 1997 kaufte eine große Lebensversicherungsaktiengesellschaft das im Laufe der Jahrhunderte heruntergekommene Gebäude und investierte fünfundsiebzig Millionen Euro, um das Schloss zu einem Grandhotel der internationalen Luxusklasse umzubauen. Im August 2000 eröffnete die Kölner Althoff-Hotelgruppe das Grandhotel Schloss Bensberg, das weltweit in seiner Pracht seiner barocken Anlage Seinesgleichen sucht. Vierundachtzig Zimmer und sechsunddreißig Suiten wurden in unterschiedlichen innenarchitektonischen Prägungen eingerichtet. An diesem Sonntagnachmittag hatte eine große schwarze Limousine mit abgedunkelten Scheiben dieses Ziel. Der große Luxuswagen fuhr in zügigem Tempo die steilen Straßen empor, um schließlich auf den hinteren Parkplatz der Schlossanlage zu gelangen. Vorbei an dem Schlossparkhaus und den Häusern, die von dem großen Versicherungskonzern genutzt wurden. Auf dem Berg war Nebel aufgezogen, als der 500er Mercedes Benz mit seinen schusssicheren Scheiben auf den Parkplatz einbog, der direkt hinter dem Schloss lag. Ein Fahrer in dunklem Anzug und Mütze stieg aus, schaute nach dem Rechten und öffnete vorsichtig die rechte Hintertür. Ein vornehmer schlanker Herr um die fünfzig mit kurzen grauen Haaren, gekleidet im schwarzen DesignerNadelstreifenanzug und grauem Kaschmirmantel schaute
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aus dem Wagen und ärgerte sich über den dichten feuchten Nebel, der hier oben aufgezogen war. Er sprang jetzt förmlich aus dem Wagen, was auf eine enorme Sportlichkeit schließen ließ. Mit schnellen Schritten erreichte er den Hintereingang des Schlosshotels, in dem schon Promis wie der britische Musiker und Entertainer Robbie Williams und unser ehemaliger Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher übernachtet hatten und sich sicherlich königlich im Gourmetrestaurant vom Sternekoch mit den Interpretationen aus der französischen Küche bewirten ließen. Schließlich hatte das Gourmetrestaurant drei Michelin Sterne und 19,5 Gault Millau Punkte. An der Rezeption im Fünf-Sterne-Hotel angekommen, erkundigte sich der Mann höflich nach einer Person, mit der er hier zu einer Besprechnung verabredet war. Die Ereignisse der letzen vierzehn Tage und nicht zuletzt der vorausgegangenen achtundvierzig Stunden machten diesen Termin dringend notwendig. Hatten doch diese dummen Kerle, die er beauftragt hatte, die neugierigen und für sie damit gefährlichen Mitarbeiter des Remscheider Bauamtes zu exekutieren, gleich zweimal gepatzt. Das war nicht im Sinne der Sache und sein Gesprächspartner würde gleich sicherlich toben und ihn beschimpfen, so wie es immer gewesen war, wenn etwas nicht geklappt hatte im System. Die freundliche Hotelmitarbeiterin an der Rezeption verwies ihn in die vornehm ausgestattete Hotelbar, in dem im Moment fast niemand anwesend war. Am ersten Tisch saßen zwei ältere Herren; hinter der großen schwarzen Theke war ein Hotelmitarbeiter mit dem Polieren von Sektgläsern beschäftigt. In einer Ecke, auf einem Sitzmöbel, das mehr einem Thron als einem Stuhl ähnelte, saß die Person, mit der er die vielen unangenehmen Dinge zu besprechen hatte. Mit kaltem
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Blick starrte sie ihn an und forderte ihn auf, sich mit an den runden kleinen Marmortisch zu setzen. „Wie geht es dir?", fragte die Stimme ihn und er antwortete hastig: „Es könnte alles besser sein, aber einen Teilerfolg haben wir erreichen können. Diesen Erpresser und Einzelkämpfer Heinz Bohl haben wir erledigt. Direkt vor der Remscheider Rathaustreppe. Genau wie du es angeordnet hast." Jetzt schaute ihn die Person etwas versöhnlicher an. Ein leichtes Grinsen wurde auf ihren sonst so eiskalten Gesichtszügen sichtbar. „Gut, dass dieser unverschämte Kerl seine Strafe bekommen hat. Mich erpresst kein Mensch dieser Welt ungestraft und erst recht nicht so ein kleiner ungehobelter Beamter aus dem Remscheider Bauamt." „Ja, du hast absolut Recht. Unsere Sache ist viel zu wichtig für diese Welt, um von solchen Sesselpupsern zunichte gemacht zu werden. Wenn unsere Sache klappt, sieht die Ordnung in unserem Land anders aus und wir haben die Fäden in der Hand. Du wirst dein Ziel erreichen. Davon bin ich überzeugt. Ich werde alles dafür tun. Das habe ich dir bei meinem Leben geschworen", sagte der sportliche Mann im Nadelstreifenanzug. Die vertrauensvolle Unterredung der beiden Personen wurde kurz unterbrochen. Ein junger Hotel-Bediensteter mit österreichischem Akzent kam an ihren Tisch und fragte freundlich nach den Wünschen der Herrschaften. Der Grauhaarige bestellte einen Cappuccino und ein Stück Käsesahne. Sein Gegenüber schloss sich der Bestellung an und wartete, bis der gut gekleidete Kellner außer Hörweite war. Dann kam die Frage, die er schon lange erwartet hatte. „Wie haben deine beiden Mitarbeiter aus Remscheid bis jetzt gearbeitet, die uns der Professor empfohlen hat? Wenn ich dich eben richtig verstanden habe, haben sie nur Fritzsche und Bohl erledigt. Aber was ist 51
mit Moritz Schaller? Halte nicht hinterm Berg. Ich will alles wissen, hörst du! Alles!", sprach die Person in einem sehr bestimmenden Ton. „Schaller ist denen Freitagnacht im Rathaus entwischt. Daraufhin habe ich Plan B befohlen " „Was ist Plan B? Drücke dich bitte deutlich aus!" „Der Schnüffler sollte in seiner Wohnung in der Altstadt von Hückeswagen verbrennen. Ich hatte deshalb in der letzten Nacht zwei Mitarbeiter zu ihm geschickt. Ich habe eine sms auf dem Handy. Da steht drin, dass der Auftrag erledigt ist. Moritz Schaller müsste also sein Krematorium hinter sich haben." „Friede seiner Asche", frotzelte die Person und fing an zu lachen. Der Mann in Nadelstreifen nickte zustimmend. Dann fragte er: „Was soll ich mit diesen Mitarbeitern machen, wenn wir sie nicht mehr brauchen? Die Zwei sind nicht die hellsten Köpfe und könnten irgendwo reden". „Was sollen die schon sagen? Sie kennen doch noch nicht einmal dich. Wie sollen sie dann unserer Organisation gefährlich werden?" „Das kann ich dir sagen", entgegnete der Grauhaarige. „Die sind sehr neugierig. Vergiss nicht, was der Professor gesagt hat. Wenn er was zu melden hätte, wären die Jungs schon raus aus dem Spiel." „Sag bitte nicht Spiel zu unserem Tun. Wir müssen hart arbeiten, damit wir erfolgreich sind. Jeder, der die Früchte unserer Arbeit sehen will, muss einhundert Prozent geben. Wer sich uns in den Weg stellt, wird keine Gnade bekom-
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men. Wir sind die Zukunft und wir werden unsere Interessen gnadenlos durchsetzen. So, jetzt lass mich allein. Ich möchte mich etwas hinlegen. Ich werde am Abend abgeholt". Die geheimnisvolle Person drückte einen Knopf an ihrem Handy, und Sekunden später erschien ein breitschultriger Bodyguard in der Hotelbar des Schlosshotels Bensberg. Der sportliche Nadelstreifenanzugträger stand auf und drückte seinem Gesprächspartner die Hand. Er ging eiligen Schrittes über den schweren feinen Teppichboden zurück zum Hinterausgang. Es war inzwischen dunkel geworden. Sein Chauffeur wartete schon auf ihn und stand rauchend neben der großen Limousine. Eine kurze Handbewegung reichte, damit der Fahrer seine Kippe entsorgte und die Hintertüre öffnete. Schweigend setzte sich sein Chef in das Fahrzeug. Der Chauffeur ließ den Motor aufheulen und drückte auf das Gaspedal. Die roten Rückleuchten des Wagens verschwanden schnell im stärker werdenden Nebel auf der Bensberger Bergterrasse.
Sonntagnachmittag, 15.30 Uhr Köln
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Paule machte den Vorschlag, unsere kleine Gruppe solle doch in dem Café gegenüber des Kölner Domes einkehren. Alle waren einverstanden. Wir schoben uns also durch den vollen Caféhauseingang und fanden nach einiger Zeit endlich einen freien Tisch, an dem wir Platz nahmen. Wir tranken unseren lang ersehnten Kaffee und schoben ein paar Kalorienbomben in uns hinein. Meine List ging auf. ExKollege Neudorf erzählte interessante Details aus dem Fall des Rathausmörders. Dafür plauderte ich von meinem unheimlichen Erlebnis in der Freitagnacht. Wir erfuhren, dass die Spurensicherung keine Fingerabdrücke gefunden hatte. Es würde also sehr schwer werden, einen Täter ausfindig zu machen. Es gab keine Zeugen und bis jetzt auch kein Motiv für die Morde. Neudorfs Handy klingelte. „Es gibt Neuigkeiten, Chef! Am anderen Ende der Leitung war Klaus Ritzer. Neudorfs Assistent klang aufgeregt. Im Präsidium hat einer angerufen, der angeblich nur knapp einem Mordanschlag entkommen sein soll. Es muss eine Verbindung mit dem Rathausmörder geben". Der Hauptkommissar schlürfte seinen Kaffee und man konnte ihm ansehen, wie sein Gehirn anfing zu arbeiten. Neudorfs Stirn kräuselte sich. „Wer um Himmelswillen hat denn angerufen, Ritzer"? „Wir wissen es nicht. Der Anrufer benutzte ein Kartentelefon. Er sprach davon, in der nächsten Woche würde alles öffentlich werden und das gäbe einen Skandal. Ich habe noch keine Erklärung, was da läuft, aber vielleicht ist der Anrufer der Schlüssel zu unserem Fall". „Gut, Herr Ritzer, ich danke Ihnen für diese Information. Jetzt spannen Sie aber aus, ja? Wir werden morgen einen teuflisch langen Tag haben, dass verspreche ich Ihnen." 54
Wir alle, die wir an dem feinen weißen Holztisch im Café saßen, hörten angestrengt zu, verstanden aber nur, was Neudorf in seinen Hörer redete. Der Hauptkommissar drückte die rote Handytaste. Wir saßen still da und machten uns unsere Gedanken.
Sonntagnachmittag Remscheid-Morsbach Ein grünsilberner Streifenwagen jagte durch die steilen Straßen talwärts. Vom Remscheider Polizeirevier in der Nähe des Stadtparks ging es über die Parkstraße, Stockder Straße und dann über die enge Fürberger Straße. Als die Polizisten durch ein kleines Wäldchen fuhren, mussten sie ihr Tempo drosseln. Eine schwarze Katze überquerte die Fahrspur. Fast wäre sie unter die Räder des Dienstwagens gekommen. Das Fahrzeug bog in die Ackerstraße. Die etwa fünfminütige Fahrt fand ihr Ziel fast im Morsbachtal. Unterhalb der ehemaligen Mülldeponie endete die Ackerstraße in einer Sackgasse. Vor einem großen hellen Haus hielten die Beamten. Zwei männliche Polizisten in Uniform stiegen aus und benutzten den Weg, der um das Haus zu den beiden einzelnen Eingangstüren führte. Als sie die hintere Türe erreicht hatten, drückte einer die oberste Klingel. Nach einer Weile hörten sie den Summer und sie passierten die Glaseingangstüre. Zwei hohe Treppen mussten sie empor, als sie vor einer verschlossenen gräulichweißen Wohnungstür standen. „Benno Mahler" stand auf dem Klingelknopf. In der Wohnung hörten sie Stimmen. 55
„Die Bullen stehen vor der Tür. Los, schnapp dir deine Knarre. Uns bekommen die nie", schnaubte Benno zu seinem Gegenüber. „Lass gut sein Benno. Bleib ruhig. Du machst jetzt die Tür auf und ich gehe ins Schlafzimmer und halte für alle Fälle unsere Kanonen bereit. Hör erstmal, was die überhaupt wollen". Benno öffnete widerwillig die Wohnungstür. Einer der Polizisten stellte sich vor. „Guten Tag Herr Mahler. Mein Name ist Lars Klein und das ist mein Kollege Luca Moor. Dürfen wir einen Moment hereinkommen? Sie sind doch der Besitzer eines gelben VW Golf mit dem amtlichen Kennzeichen RS-BM 333, oder"? „Ja, der bibibin iich," stotterte jetzt der Ganove und bat die Polizeibeamten etwas nervös herein. Wegen der Mordfälle waren die Bullen wohl nicht da, dachte er erleichtert. „Was wollen Sie denn?", fragte er demonstrativ. Mein Auto steht doch unten im Hof, oder?" „Nein, nein," antwortete jetzt der Beamte Klein. „Ihr Wagen hat sich gestern Nacht in der Nähe von Bergisch Born um einen Baum gewickelt. Sind Sie gefahren und haben den Unfallort verlassen?" „Unsinn!", verteidigte sich Mahler. „Ich war den ganzen Abend zuhause. Da können Sie meinen Freund fragen. Der ist Zeuge. Wir haben Mensch ärgere dich nicht gespielt. Den ganzen Abend. Der Wagen muss mir gestohlen worden sein. Warten Sie, ich hole eben meinen Freund." Benno Mahler ging aus dem lang gestreckten Flur in das 56
Schlafzimmer und flüsterte seinem Freund etwas ins Ohr. Der kam dann mit ihm heraus und bestätigte die Angaben mit ehrlicher Miene. Er stellte sich vor mit dem Namen: „Robert Ritzer". Die Polizisten waren etwas verwundert und beließen es an diesem Tage damit, die beiden Freunde für Montag ins Präsidium vorzuladen. Schließlich wolle man ja bestimmt eine Anzeige gegen Unbekannt stellen. Erleichtert sahen die beiden Verbrecher den Beamten hinterher, als diese die Treppen herunter gingen. Auch ans Fenster stellten sie sich, bis der Streifenwagen davon fuhr und außer Sichtweite war. „Wenn die Bullen gewusst hätten, wie nah die an einer Schiesserei mit uns waren", grinste Robert Ritzer. „Ja ja, was wohl dein Vetter dazu gesagt hätte? Das ist doch auch so ein Scheißbulle", äußerte Benno Mahler. „Keine Ahnung, hab den Klaus schon Jahre nicht mehr gesehen. Als kleiner Junge habe ich dem immer die Matchbox-Autos geklaut. Der mag mich nicht besonders". Die Familie meines Onkels ist sowieso was Besseres. Die haben alle einen festen Job und leben konservativ. Für Familienmitglieder wie mich ist da kein Platz". „So ein Mist! Wir hätten heute Morgen das Auto holen sollen. So haben die in aller Seelenruhe die Karre vor dem Baum gefunden. Wie kommen wir aus dieser Sache wieder raus? Da müssen wir uns wirklich was einfallen lassen". „Wenn wir eine Geldstrafe wegen des Autos bezahlen müssen, brauchen wir wieder einen Auftrag vom Boss. Bin mal gespannt, was wir als nächstes für ihn machen müssen". 57
Sonntagabend Bergisch Gladbach-Bensberg Im Schlossrestaurant herrschte reges Treiben. Gestresst huschten die freundlichen Hotelmitarbeiter durch die Räume, um die Wünsche der vielen Gäste zu erfüllen. In der berühmten Sterneküche eilten emsige Helfer umher, um aus endlosen Zutaten die köstlichsten Dinner zuzubereiten. Fleißige Hände filetierten, brieten, dünsteten und garnierten. An einem prachtvoll gedeckten langen Tisch, etwas abseits, saß eine illustre Gesellschaft im GourmetRestaurant. Bei Champagner und Campari ließen es sich die vornehmen Damen und Herren gut gehen. Sie unterhielten sich angeregt und schienen viel Spaß zu haben. Auf ein Zeichen hin verstummten die insgesamt zwölf Gäste, die an der fürstlich gedeckten Tafel saßen. Eine Frau erhob sich und ließ eine kleine Glocke erklingen um dann mit ihrer Tischrede zu beginnen. „Meine lieben Freunde! Ich freue mich sehr, dass Sie alle die Zeit gefunden haben, mich zu besuchen. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise. Wie ich sehe, haben Sie alle den Weg zu diesem schönen Ort gefunden und niemand ist im Nebel stecken geblieben. Heute möchten wir erst einmal gut zu Abend speisen und uns dann auf unser gemeinsames Ziel vorbereiten. Wir werden nach dem Dinner in einen kleinen Saal wechseln, und dort erfahren sie alle Neuigkeiten. Ich wünsche ihnen guten Appetit und einen angenehmen Aufenthalt hier im Schlosshotel. Lassen Sie sich verwöhnen und genießen sie das hervorragende Abendessen. Anschließend werde ich Ihnen in einer Powerpointpräsentation zeigen, wie wir un-
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seren Reichtum und unsere Macht vergrößern und zusätzlich unserem Land einen großen Dienst erweisen können." Sie erhob ihr Champagnerglas und schloss mit einem Trinkspruch. Ihre vornehmen Gäste prosteten sich zu und applaudierten.
Sonntagabend Remscheid-Kremenholl Ich saß in meinem Wohnzimmer und schaute in meinem neuen Flachbildfernseher den neuen Tatort in der ARD. Der Tag war schnell vorbeigegangen und ich war froh daheim zu sein. Der Ausflug nach Köln hatte Dieter, Paule und mir wichtige Neuigkeiten gebracht. Das ausgerechnet mein ehemaliger Kollege Neudorf der ermittelnde Hauptkommissar war, der auf den Rathausmörder angesetzt war, ließ mich schmunzeln. Ich beschloss, eine Flasche Britzinger Rosenberg aufzumachen. Eine Flasche des bekömmlichen mildtrockenen badischen Rotweins würde mir nach den Ereignissen der letzen Tage sicherlich nicht schaden. Ich öffnete die Flasche und nahm ein großes Weinglas aus der Wohnzimmervitrine. Als ich mir eingegossen hatte und das tiefe Rot des vorzüglichen Spätburgunders sah, dachte ich an das Blut, das in meiner Heimatstadt auf so grässliche Weise in den letzten Tagen vergossen wurde. Ich schnappte mir das Telefon und rief Erika an. Sie hörte mir angeregt zu, als ich sie über meine Neuigkeiten informierte. Auch sie hatte etwas Neues herausgefunden. Die Ober-
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bürgermeisterin hatte mit ihr telefoniert und sich besorgt zu den Vorgängen im Rathaus geäußert. „Morgen wird unsere Oberbürgermeisterin Hauptkommissar Neudorf von der Kripo Wuppertal treffen. Sie ist sehr besorgt und hat mir anvertraut, dass sie im Rathaus ein ungutes Gefühl hat. Sie zuckt wohl bei jedem Geräusch zusammen. Was für ein Drama. Als wenn die bei der Stadt nicht schon genug Probleme hätten. Günter, morgen werde ich ins Rathaus gehen. Ich bin sehr gespannt, ob ich was erfahren kann. Moritz Schaller werde ich mir jedenfalls als erstes vorknöpfen", erläuterte sie mir ihre Planung für den nächsten Tag. „Gut Erika, ich werde dich morgen kontaktieren. Aber erst muss ich am Morgen nach Düsseldorf in mein Büro und dort nach dem Rechten schauen. Danach werde ich ermitteln. Paul-Uwe wird dem Rathauspförtner auf den Zahn fühlen und Dieter wird ein wenig von Bochum aus telefonieren. Sei vorsichtig. Du weißt nicht, mit wem du morgen in den Amtsstuben redest. Es könnte auch der Rathausmörder sein. Gute Nacht, Erika". Ich legte den Hörer in die Station und nahm einen großen Schluck aus meinem Weinglas. Der Spätburgunder war eine Wohltat. Ich schaute den Fernsehkrimi und anschließend die Nachrichten. Die Müdigkeit übermannte mich und ich schlief auf dem Sofa ein.
Sonntagabend Bergisch Gladbach- Bensberg
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In einem abgedunkelten Tagungsraum des Schlosshotels saßen zwölf Personen und lauschten interessiert dem angekündigten Powerpointvortrag. Vor der Tür standen zwei dunkelhaarige Männer, die unter ihren schwarzen Anzügen Pistolen trugen, nicht zu sehen, aber jederzeit einsetzbar. Bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Wenn es die Gegebenheiten erforderlich machen sollten, würden sie ihre Waffen bedingungslos einsetzen. Das Hotelpersonal und die übrigen Gäste waren natürlich ahnungslos. Dass diese private Gesellschaft so abgesichert tagte, merkte niemand. Nur die Personen in dem Tagungsraum wussten Bescheid. Auch Teilnehmer der Zwölferrunde waren bewaffnet. Konnte man seinem Tischnachbarn wirklich trauen? Schließlich hatten alle Anwesenden auch ihre eigenen Geschäfte im Kopf. Am Ende des Vortrages ergriff die Frau wieder das Wort und alle Teilnehmer wurden auf die Sache eingeschworen. Eine abschließende Abstimmung verlief fast einstimmig. Nur ein einziger Teilnehmer stimmte dagegen. Gegen Mitternacht löste sich die Versammlung auf. Ein paar große Karossen fuhren vom Hotelparkplatz. Etwa die Hälfte der Personen, die an dem mysteriösen Treffen teilnahmen, begab sich in ihre Hotelsuiten. Der Tag war lang und die meisten Teilnehmer waren müde. Einer der Teilnehmer brauste mit seinem grünen Jaguar den steilen Schlossberg herunter und benutzte die Straße Richtung Bergisch Gladbach. Es regnete jetzt und die Sicht war schlecht. Dass er von einem dunklen Mercedes verfolgt wurde, merkte er erst, als er auf der Landstraße den Kreisverkehr von Odenthal passierte. Als er den kleinen bergischen Ort verließ und die dunkle regennasse Straße Richtung Altenberg befuhr, gab er Gas, und sein Tachome61
ter zeigte 120 km/h an. Auch seine Verfolger beschleunigten ihr Tempo. Ein wildes Rennen entbrannte auf der sonst so romantischen Straße, die durch das Tal der Dhünn führte, diesem kleinen bergischen Fluss. Als der Jaguarfahrer Mündungsfeuer aufblitzen sah, wusste er, dass er eben auf der Tagung einen Fehler gemacht hatte. Er hatte gegen den Beschluss der Anderen gestimmt. Jetzt hatten diese Teufel ihm, auf den sie sich immer alle verlassen konnten, ihre Garde hinterher geschickt. Trotz der schlechten Sicht sah er genau, dass aus dem Beifahrerfenster seiner Verfolger Schüsse abgegeben wurden. Tatsächlich saßen in dem dunklen Mercedes der S-Klasse die zwei dunkelhaarigen Männer, die noch eben die Tür zum Tagungsraum bewacht hatten. Natürlich konnte der Jaguarfahrer seine Verfolger nicht erkennen. Trotzdem erkannte dieser die tödliche Bedrohung sofort. Der Mann auf dem Fahrersitz jagte wie der Blitz hinter dem grünen Nobelwagen her. Sein Beifahrer hatte die elektrische Scheibe des Mercedes heruntergefahren und hielt in seiner Hand eine Maschinenpistole. Wenn er es für gerade günstig erachtete, schoss er und nur dem glücklichen Umstand des schlechten Wetters war es zu verdanken, dass der Jaguarfahrer noch nicht getroffen wurde. Noch ehe er den Altenberger Dom erreichte, bog er links ab und fuhr in halsbrecherischem Tempo die Serpentinen hinauf, über die man die Autobahn Al bei Burscheid erreichen konnte. Dicht hinter ihm seine schwer bewaffneten Verfolger im Schlepptau. Der Mercedes kam in einer Rechtskurve dem Verfolgten ziemlich nahe und setzte zum Überholvorgang an. Mit einem geschickten Manöver auf die Gegenfahrbahn konnte der Jaguarfahrer den Überholvorgang abwenden und behielt die Führung. Im Eiltempo jagten die Fahrzeuge durch den nun folgenden kleinen Ort. Auf der Bundesstraße an62
gekommen, rasten die nächtlichen Jäger und der Gejagte entlang von Obstplantagen und Häusern, bis sie die Autobahn in Burscheid erreichten und der Jaguar die Auffahrt Richtung Remscheid/Dortmund nahm. Mit quietschenden Reifen ging es auf die dreispurige Bahn und der Jaguarfahrer hatte schnell zweihundertzwanzig km/h auf seinem Tachometer. Immer noch gefolgt von den Killern im Mercedes, die ihm nach dem Leben trachteten. In vollem Tempo rasten die Autos über die Autobahn. Der Regen war auf der Höhe mittlerweile in Schnee übergegangen und die Raserei war eben so lebensbedrohlich wie die gefährlichen schießwütigen Mercedesfahrer. In der Nähe der Autobahnabfahrt Schloss Burg/Wermelskirchen fasste der Jaguarfahrer in seine Mittelkonsole. Eine kleine handliche Waffe kam zum Vorschein. Er passte ein paar Sekunden nicht auf und schaute in den Rückspiegel. Mit einem Satz knallte der Wagen gegen die Mittelleitplanke, scherte von der linken Fahrspur ganz nach rechts in Höhe der Standspur, schleuderte wieder nach links und überschlug sich mehrmals. Dann ging der große britische Wagen in Flammen auf. Die Mercedesfahrer beäugten die Situation wohlwollend und fuhren nun, deutlich langsamer als zuvor, die Autobahn weiter entlang. Mitten in der Nacht sperrten Polizei und Feuerwehr die Autobahn. Für den Fahrer des Jaguars aber kam jede Hilfe zu spät. Er hatte seine Gegenstimme teuer bezahlen müssen. Seine Gegenstimme hatte er mit dem Leben bezahlt. So freundlich und nett man in dem Gremium noch vor wenigen Stunden geplaudert hatte, so unerbittlich und brutal gingen die gleichen Personen vor, wenn jemand vom Kurs abweichen wollte, weil man mit irgendetwas nicht einverstanden war. Neinsager wurden nicht geduldet. Die konnten das ganze Projekt gefährden. Dann musste kurzer Prozess gemacht werden. Solche 63
Kleinigkeiten wurden sofort erledigt. Dafür hatte die Organisation ja schließlich bezahlte Mitarbeiter. Und die verstanden ihr Handwerk. Das waren nicht solche Stümper wie die beiden ungebildeten Typen aus Remscheid, die ihre Aufträge nicht so erledigten wie die anderen fest angestellten Mitarbeiter. Montagmorgen, 7.30 Uhr Solingen In der Beckmannstraße in Solingen saß ein unruhiger Hauptkommissar Alexander Neudorf an seinem Kaffeetisch. Er hatte schlecht geschlafen und der gestrige Ausflug mit Karolina nach Köln brachte auch nicht den nötigen Abstand und die Erholung, die er bitter nötig hatte. Warum musste er auch unbedingt seinem alten Kollegen Günter Kronenberg vor die Füße laufen. Sicherlich, der Kaffeehausbesuch mit den drei Herren brachte ein paar neue Erkenntnisse, aber Neudorf hätte vor diesem anstrengenden Tag heute ein bisschen Erholung dringend nötig gehabt. Im Radio hörte man auch nur schlechte Nachrichten. Die Wetterfrösche sagten Neuschnee voraus und die Lokalnachrichten berichteten von einem schweren Unfall auf der A1, bei dem der Fahrer zu Tode gekommen war. Unfallursache war wohl zu schnelles Fahren auf nasser Fahrbahn bei schlechten Sichtverhältnissen. Der Radioreporter berichtete, der Wagen hätte sich mehrmals auf der Autobahn überschlagen und sei dann in Flammen aufgegangen. Ein guter Schluck Kaffee, der erweckt die Lebensgeister, dachte Neudorf. Schnell noch eine Scheibe Toast in den Toaster und.... schon klingelte das Telefon.
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„Neudorf am Apparat", säuselte der Polizeibeamte in den Telefonhörer. „Bender-Schallenberg", meldete sich die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Frau Polizeipräsidentin! Was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes?" „Lieber Herr Neudorf, dass können Sie sich ja wohl denken. Der zweite Mord an einem Mitarbeiter der Remscheider Stadtverwaltung innerhalb kurzer Zeit geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Ich erwarte endlich brauchbare Ergebnisse von Ihnen. Außerdem erwarte ich heute, dass Sie das Gespräch mit der Oberbürgermeisterin Anna Lena von Berg einfühlsam und ruhig führen. Die gute Frau ist unglaublich nervös und den anderen Mitarbeitern im Remscheider Rathaus wird es nicht anders ergehen. Und die schlimmen Sachen hören ja nicht auf. Nicht nur, dass dieser Bauamtsmitarbeiter in der Nacht von Freitag auf Samstag vor der Rathaustreppe erstochen wurde, nein, auch der Baudezernent, Herr Christian Schulze-Neumann, ist zu Tode gekommen. Er ist in der vergangenen Nacht auf der Autobahn bei Wermelskirchen tödlich verunglückt. Ist mit seinem Jaguar wahrscheinlich viel zu schnell gefahren". „Jetzt bin ich baff, erwiderte der Hauptkommissar. Da hört er im Radio von einem Unfall, und wer ist es, eine Person aus der Stadtspitze von Remscheid. Einen Augenblick überlegte Alexander Neudorf, ob der Unfall mit den Mordfällen zu tun haben könnte. Vielleicht war ja der Baudezernent der Mörder und konnte mit seiner Schuld nicht leben. Vielleicht hatte er keinen anderen Ausweg mehr gesehen und sich dann zu Tode gefahren. Neudorf behielt seine Gedanken für sich und versprach seiner obersten Chefin, alles Erdenkliche zur Aufklärung 65
der beiden Mordfälle zu tun. „Ich habe mit Ritzer einen guten Ermittler zur Seite. Ich möchte den Fall schnell aufklären, Frau Bender-Schallenberg", fügte er hinzu. „Ich setze auf Sie, Herr Neudorf. Sie sind der Ermittler mit der größten Aufklärungsquote in Nordrhein Westfalen. Sie können sich sicherlich denken, dass auch ich enorm unter Druck stehe. Die Medien laufen uns die Bude ein. Die Politik fordert eine schnelle Aufklärung des Falles und der Staatsanwalt steht auch gehörig unter Druck. Zwei Morde sind schon mindestens zwei zuviel. Brauchen Sie noch mehr Leute für ihre Mordkommission? Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte die Polizeipräsidentin, die für den Bezirk Wuppertal, Solingen und Remscheid zuständig war. „Halten Sie mir noch ein wenig die Presse vom Leib. Unsere Ermittlungen sind sehr zeitaufreibend und Diskretion von unserer Seite wäre angebracht. Wir müssen unsere Ermittlungen so betreiben, dass wir den oder die Mörder nicht zu schlau machen. Bitte sprechen Sie mit dem Staatsanwalt. Der geht immer gerne an die Presse und erzählt Details unserer Arbeit, bevor sie meiner Meinung nach an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Wir machen unseren Job. Ich hoffe, so schnell wie möglich diesen Fall zu lösen. Einen Rathausmörder hat man schließlich nicht alle Tage", antwortete Neudorf und nahm einen so mächtigen Schluck aus seinem Kaffeebecher, dass er sein frisches blaues Hemd besudelte und sich darüber ärgerte. „Viel Erfolg und halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Dieser Fall hat eine enorme Brisanz. Das Landeskriminalamt will auch tätig werden. Finden Sie den Mörder, Neudorf'. Mit diesen Worten endete das morgendliche Telefongespräch und der Polizeibeamte ärgerte sich schwarz. So ein Mist. Das Toastbrot war kalt, das Hemd musste gewechselt werden. Es war kein gebügeltes Hemd mehr im Schrank. Gleich 66
hatte er Termine ohne Ende. Ein Gespräch mit der Remscheider Oberbürgermeisterin, mit anderen Personen im Rathaus. Diesen Tag, ja wahrscheinlich die ganze Woche würde er im Dauerstress leben müssen.
Montagmorgen Remscheid-Kremenholl Das Telefon klingelte gegen acht Uhr und ich stand gerade unter der Dusche. Ich fluchte laut vor mich hin. War das nicht immer so? Saß ich auf dem Klo oder stand ich unter der Dusche, wusch ich meine Haare oder lief gerade nackt im Hause herum! Eines passierte bestimmt. Entweder klingelte das Telefon oder vor der Tür stand der Briefträger, ein Paketdienstfahrer, die Bofrostfahrerin, mein Fraktionsvorsitzender oder noch schlimmer: Meine Schwiegermutter. Diese Situationen hasste ich. Ich sprang jedenfalls aus der Dusche heraus und stürzte zum Telefon. Als ich den Hörer abnahm hatte der Störenfried, egal wer es nun auch war, selbstverständlich aufgelegt. Ich versuchte es noch einmal. Ab in die Dusche und entspannen. Ich seifte mich richtig gut ein und verteilte reichlich Shampoo auf meinem Kopf. Und wieder klingelte das Telefon. „Verdammte Hacke", rief ich nun laut und griff mein Badetuch von der Stange an der Wand. Es könnte ja was wichtiges sein. Also ran an den Hörer. „Günter Kronenberg", rief ich in die Muschel des Telefons und eine mir bekannte Stimme ermahnte mich, direkt loszu67
fahren. Ich bejahte kurz und legte auf. Schnell wieder unter den Wasserstrahl. Jetzt war für Kaffee und Brötchen keine Zeit mehr. Die Seife musste ruckzuck vom Körper. Ich trocknete mich ab und band mir ein Handtuch um die nassen Haare, sah dabei kurzfristig aus wie ein arabischer Scheich. Meine schwarze Jeans lag schon bereit. Schwarze Unterhose, schwarze Strümpfe, schwarzes T-Shirt und schwarzes Sweatshirt mit Reißverschluss lagen im Kleiderschrank und warteten auf mich. Irgendwie sah ich für heute schwarz. Also rein in die Klamotten und in die, natürlich schwarzen, Markenschuhe schlüpfen. Ich trank noch im Eiltempo ein halbes Glas Mineralwasser in der Küche, rannte mit nassen Haaren zum Ausgang und schnappte meine schwarze Winterjacke vom Haken. Ich schlug die Haustüre fest hinter mir zu, lief zur Garage, startete meinen SLK und fuhr aus der Garage. Ich wollte nicht zu spät kommen. Nicht, dass es zu spät war. Schließlich wurde ich extra angerufen. In der Zone Dreißig fuhr ich fünfzig. Auf der Freiheitstrasse zeigte meine elektronische Anzeige schon achtzig Kilometer an. Ich wurde nervös. Ich durfte nicht zu spät kommen. Die Kopfheizung in meinem kleinen Sportwagen lief volle Pulle. An solchen kalten Tagen brauchten meine Haare schließlich einen Fönersatz. Ich raste über mehrere Ampeln und sah das Lichtzeichen auf spät gelb, redete mir allerdings ein, es hätte ja auch grün sein können. Und bei dem nassen Wetter scharf abbremsen und anhalten ging ja auch nicht. Die Zeit lief mir schließlich davon. Ich bog ab und erreichte den Remscheider Stadtteil Hasten, bretterte auf den Parkplatz in der kleinen Seitenstraße und rannte so schnell ich konnte zur Haustüre gegenüber. Hastig drückte ich zweimal auf die Klingel. Die Tür sprang auf, und ich ging schnellen Schrittes durch das Treppenhaus. Die braune Innentür stand halb offen. Ich schaute auf die große Uhr an der Wand. Es war neun Uhr. 68
Ich hatte es geschafft. Vor mir stand Ann-Kathrin mit ihrer frechen Kurzhaarfrisur. Sie hatte mich eben angerufen, um mich an meinen wöchentlichen Termin zu erinnern. AnnKathrin war ausgebildete Physiotherapeutin und Masseurin und arbeitete hier in der Praxis in Hasten. Ich war pünktlich. Gott sei Dank. Ich zog mir Jacke, Sweatshirt, T-Shirt und Schuhe aus und legte mich auf die Massagebank. Jetzt konnte die wöchentliche Wohltat für meinen geschundenen Körper beginnen. Ich spürte, wie Öltropfen auf meinen Rücken liefen und Ann-Kathrins kalte Hände gleichmäßig und fachgerecht ihre Arbeit verrichteten. Den vorherigen Stress vergaß ich und ergab mich ganz meiner Gesundheitspflege und genoss die knappe halbe Stunde. Nach einigen Minuten unterhielten wir uns. Unser Thema war natürlich der Bericht in den Zeitungen über den erneuten Mord in der letzten Freitagnacht vor dem Remscheider Rathaus. Montagmorgen Rathaus Remscheid Hauptkommissar Alexander Neudorf ging über den Theodor-Heuss-Platz zum Haupteingang des Remscheider Rathauses. Um das ehrwürdige alte Gebäude, mit bergischer Grauwacke vor über einhundert Jahren erbaut, stürmte es. Schneeflocken tanzten über den Platz, und Neudorf zog seinen Mantelkragen hoch. Gedankenvoll hielt er kurz inne, bevor er die Treppe bis zum Pförtner hochstieg. Hier muss in der letzten Freitagnacht der Mörder auf Heinz Bohl gewartet haben. Genau hier stach der Unhold mit nur einem gezielten Stich auf den Bauamtsmitarbeiter ein. Direkt ins Herz hatte der Mörder getroffen und Bohl musste sofort tot gewesen sein. Der hatte keine Chance und sein Leben 69
wurde direkt vor dem Portal beendet. Da, wo er Jahrzehnte seinen Dienst versehen hatte. Weit war die Mordkommission mit ihren Ermittlungen noch nicht gekommen. Weder bei dem Mord im Rathaus an Rüdiger Fritsche noch bei Heinz Bohl gab es eine heiße Spur. Die Spurensicherung hatte keine Fingerabdrücke feststellen können. Wahrscheinlich trug der Täter Handschuhe. Fußspuren, mit denen etwas anzufangen war, wurden nicht gefunden. Im Büro von Rüdiger Fritsche konnten zwar Abdrücke von Schuhen gefunden werden und man wusste inzwischen auch, dass es sich um die Turnschuhmarke mit drei Streifen der Größe vierundvierzig handelte, aber was war das schon. Sicher, das Solinger Qualitätsmesser, das in dem Rücken von Fritsche steckte, könnte noch von entscheidender Beweiskraft sein. Im Moment jedenfalls war Neudorf noch am Anfang seiner Ermittlungen, und heute mussten die Ermittler ein gutes Stück weiter kommen. Ein freundlicher Rathauspförtner stand im Eingangsportal und begrüßte den Ankömmling, der in seinem langen grauen Lodenmantel direkt als polizeilicher Ermittler erkannt wurde. „Neudorf, Kriminalpolizei!", meldete sich der Chef der Mordkommission Rathausmörder. „Ich habe einen Termin bei der Oberbürgermeisterin". „Das habe ich mir schon gedacht", antwortete der Pförtner. „Sie müssen in den zweiten Stock und dann rechts. Dann laufen Sie direkt auf ihr Büro zu. Sie können hier den Fahrstuhl nehmen. Sie werden schon erwartet." „Vielen Dank, aber ich werde lieber die Treppe nehmen. Ich muss eh etwas für meine Fitness tun", entgegnete Neudorf und fügte noch eine Frage an: „Ist Ihnen in den letzten Ta-
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gen und Wochen irgendetwas aufgefallen? Sie sehen und hören doch viel hier!" Der Pfortner zuckte und wurde leise. „Ich habe Ihren Kollegen schon alles erzählt. Aber geben Sie mir bitte ihre Telefonnummer, dann rufe ich Sie an, wenn ich etwas in Erfahrung bringe. Merkwürdig ist das schon, dass schon drei Mitarbeiter des Bauamtes tot sind, oder? Das mit dem Unfall auf der Autobahn mit unserem Baudezernenten ist schon ein Hammer. Die Morde haben hier für viel Unruhe gesorgt und auch für eine verdammte Angst. Wenn es dunkel wird und ich hier unten alleine bin, habe ich auch ein komisches Gefühl. Meine armen Kollegen". Schweigend gab der Hauptkommissar seine Visitenkarte ab und setzte seinen Weg durch das Rathaus fort. Mit wachsamen Augen setze er seine Füße auf die breite Treppe, um seinem Ziel entgegen zu gehen. Im zweiten Stock, vorbei am großen Ratsaal zum Büro des Remscheider Stadtoberhauptes. Neudorf gefiel es hier. Die wunderschöne Bauweise hatte Charme. Wie trist war doch das Rathaus in der Stadt, in der er wohnte. In Solingen sah das Verwaltungsgebäude mit seinem öden roten Backstein aus wie eine alte Fabrik, und hier in der Nachbarstadt konnte man glatt denken, man wäre in einem Schloss. Und er war auf dem direkten Wege zur Schlossherrin. Mit einem lauten Klingeln wurde der Ermittler aus seinen Gedanken gerissen. Am Telefon war Karolina. „Hallo, Alexandermaus", rief sie fröhlich ins Telefon. „Ich habe Sehnsucht nach dir. Wann können wir uns treffen? Ich möchte heute noch Schuhe kaufen. Kannst du mit71
kommen?" Natürlich war Neudorf genervt und ärgerte sich über den plötzlichen Handyüberfall seiner blonden Schönheit. Er hatte wahrlich andere Sorgen, als mit Karolina in die Schuhmodegeschäfte der Region zu wandern, um anschließend festzustellen, dass Karos neue Treter nicht in den dafür vorgesehenen Schrank passten. Eigentlich müsste seine Freundin ein großes Schild an ihren Schuhschrank hängen. „Wegen Überfüllung geschlossen!", müsste da stehen. Am liebsten wäre er ausgerastet. Dann dachte er einen kurzen Moment an Karolinas pralle Oberweite und hauchte nur deshalb ins Telefon: „Hallo, meine Schöne! Wie gerne würde ich mit dir bummeln gehen. Aber du weißt ja, ich muss leider ermitteln und versuchen, den Rathausmörder zu finden. Gehe bitte alleine in die Stadt. Ach, ist das schade. Ich bin mal gespannt, was du Schönes kaufst. Bis später, ja?" „Schade! Dann gehe ich mit Silvia. Ich wünsche dir viel Erfolg. Bis später mein Mausebär. Vielleicht bis heute Abend." Das Gespräch war beendet. „Nervensäge", dachte der Hauptkommissar. Nach getaner Arbeit würde er die gute Flasche Weinbrand von Onkel Willi aufmachen und leeren oder Ann-Kathrin anrufen. Die würde ihm wenigstens nicht mit den neuesten Trends der Schuhmode auf den Geist gehen. Die könnte ihn massieren. Neudorf bereitete sich mental auf das Gespräch mit der Oberbürgermeisterin vor und schaute sich dabei die prachtvollen Gewölbedecken in dieser zweiten Etage an. Wie das Leben hier wohl vor einhundert Jahren gewesen ist, überlegte er und stellte sich ein paar tolle Bienen aus
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der Kaiserzeit vor. Was die wohl angehabt und welche Unterwäsche die getragen haben?
Montagmorgen Remscheid-Hasten Ich lag auf der Massagebank und ließ mich durchkneten. Ann-Kathrin erzählte mir von dem stressigen Job ihres Freundes. „Mein Schatz ermittelt in dem Rathausmord. Was ein Stress. Den sehe ich kaum noch. Der ist immer unterwegs". „Wie heißt denn dein Schatz?", entfuhr es mir voller Neugier. „Alexander Neudorf. Alexander ist Hauptkommissar und arbeitet bei der Kripo in Wuppertal. Das ganze Wochenende habe ich ihn nicht gesehen. Der ist immer unterwegs wegen der Rathausmorde. Warum fragst du?" Ich dachte kurz nach, bevor ich meinen Mund aufmachte. Neudorf hatte ich doch noch gestern in Köln getroffen, mit einer blonden Schönheit, die er als Karolina vorstellte. Dieser Schmecklecker. Das ist doch der Wahnsinn. Die Welt ist halt klein. „Nur so", sagte ich kleinlaut und schwieg den Rest der Massagebehandlung. Ich zog mich an und setzte mich in meinen winterbereiften SLK. Es fing an zu schneien, als ich den Motor startete. Auf dem Weg in mein Düsseldorfer Büro nahm ich den Weg über WuppertalCronenberg. Im Tal der Wupper bei dem Ort Kohlfurth 73
nahm ich die zweispurige Landstraße, um in WuppertalVohwinkel auf die Autobahn A 46 zu wechseln. Im Radio hörte ich die Verkehrsnachrichten. „Drei Kilometer Stau zwischen Hochdahl und Düsseldorf, sprach die Reporterin und ich ärgerte mich. Gleich war es vorbei mit einhundertzwanzig km/h und vorbei mit meiner Tagesplanung. Immer diese Staus. Es war wirklich zum Mäuse melken. Es war Zeit, Paule anzurufen.
Montagmorgen Sana-Klinikum Remscheid In dem modernen hellen Krankenzimmer lag er mit schmerzverzerrten Gesicht und seine Augenränder waren noch tiefer als sonst. Moritz Schaller war vor dem Brand aus seiner Wohnung in der Hückeswagener Islandstraße durch ein Fenster geflüchtet. In Panik sprang er einfach raus. Er wollte weder verbrennen noch ersticken. An den schmiedeeisernen Gartenzaun dachte er bei dem Sprung nicht. Eine der Eisenspitzen streifte seinen linken Oberschenkel, und Blut spritze aus seiner Wunde. Immer noch besser als verbrennen, dachte Schaller und ließ sich von einem Krankenwagen ins Sana-Klinikum Remscheid bringen. Dort wurde er notversorgt, und da er auch unter Schock stand, wurde er sofort stationär aufgenommen. Hier war er schließlich sicher, bekam Essen und Trinken, hatte es warm und wurde ärztlich versorgt. In seine Wohnung konnte und wollte er nicht zurück. Er ahnte, dass er einem weiteren Mordversuch nur knapp entronnen war. Warum sonst sollte ausgerechnet an diesem Wochenende das Haus brennen. Es war ja noch nie etwas derartiges pas74
siert. Man trachtete ihm nach dem Leben. Zwei seiner Kollegen waren schon Opfer geworden. Er, Moritz Schaller, hatte zwei Mordversuche überlebt. Dem teuflischen Werk entkam er zwar nur knapp, aber er hatte es schließlich geschafft. So einfach würde er es dieser Macht des Bösen nicht machen. Er wollte leben, gut leben. Wenn er die Sache aufgedeckt hätte, wäre er bestimmt ein gut angesehener städtischer Mitarbeiter. Er wollte befördert werden und sich einen neuen Gebrauchtwagen kaufen. Aber diese verdammte Angst sollte aufhören. Die Schuldigen, denen er auf den Fersen war und die ihn aus dem Weg räumen wollen, mussten ihr blutiges Handwerk gelegt bekommen. Schade nur, dass er die Beweisakte in seiner brennenden Wohnung zurücklassen musste. Die Aktennotizen des Remscheider Baudezernenten, die er in der Freitagnacht in dessen Rathausbüro gefunden hatte.
Montagmorgen Rathaus Remscheid „Guten Morgen. Mein Name ist Hauptkommissar Alexander Neudorf von der Kriminalpolizei. Ich leite die Ermittlungen der eingesetzten Mordkommission „Rathausmörder". Ich habe einen Termin bei Frau Oberbürgermeisterin.", stellte sich der Polizeibeamte bei der Vorzimmerdame vor.
Durch die offene Tür des Büros der Oberbürgermeisterin hörte er eine freundliche Stimme. „Kommen Sie herein, Herr Neudorf. Ich habe Sie schon erwartet. Warten Sie, ich 75
hole uns eben einen Kaffee, den können wir gut gebrauchen. Soviel Zeit muss sein. Setzen Sie sich bitte", ergänzte die Verwaltungschefin. Neudorf war angenehm überrascht über die Freundlichkeit, die ihm die Oberbürgermeisterin entgegen brachte und ließ sich in einen der gemütlichen Sessel fallen. Eigentlich hatte er von hohen Politikern und Top-Verwaltungsleuten eine schlechte Meinung. Die Arroganz und Besserwisserei solcher Möchtegerndirigenten stank ihm zum Himmel. Den Bezug zur Basis, den Bürgern einer Stadt, hatten doch die meisten Kommunalpolitiker verloren. Jetzt allerdings wurde er eines Besseren belehrt. Die oberste Chefin von Remscheid holte ihm persönlich einen Kaffee. Sollte er seine schlechte Meinung über die Rathausoberen wirklich ändern müssen? Ein aromatischer Duft umgarnte den Hauptkommissar. Eine Mischung aus köstlichem Kaffeearoma und feinem Parfüm, welches Anna Lena von Berg durch ihr Büro im zweiten Stock des denkmalgeschützten Gebäudes verströmen ließ, brachte den Ermittler kurzzeitig auf andere Gedanken, die allerdings abrupt in die Wirklichkeit zurück fanden. „Milch und Zucker, Herr Hauptkommissar?", hauchte die rothaarige Rathauschefin. „Danke, nur .......Milch bitte!", brachte er mit kleiner Pause heraus, weil er überlegte, wie alt diese Frau wohl sein würde. Während er noch in seinen Gedanken schweifte, kam die Oberbürgermeisterin zu ihrer Kernfrage: „Herr Neudorf, wer steckt hinter den Rathausmorden?", sie ergänzte direkt ohne Pause: „Wer bringt es fertig, unsere ganze Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen? Wer bringt hier in unserer schönen Stadt meine guten Mitarbeiter um? Ich erwarte von Ihnen eine kurzfristige Aufklärung des Falles. Wir haben in unserem Remscheid eine schwere Finanzkrise. 76
Sie können sich sicherlich vorstellen, was das für mich heißt. Ich muss meine ganze Kraft dafür einsetzen, diese liebenswürdige Stadt aus dieser Krise zu führen. Dass hier skrupellose Verbrecher ihr Unwesen treiben, ist doch wirklich schrecklich. Und mein Baudezernent stirbt bei einem Unfall auf der Autobahn". Der Hauptkommissar fiel ihr jetzt ins Wort. „Wenn es ein Unfall war! Die Kollegen untersuchen ja noch den Leichnam und das Fahrzeug. Ich möchte mich nicht zu dem Unglück äußern, bevor die Ergebnisse der Spurensicherung nicht abgeschlossen sind. Allerdings möchte ich aufgrund der hier stattgefunden Verbrechen nichts, aber auch gar nichts, ausschließen. Wir ermitteln in viele Richtungen. Leider bisher ohne eine heiße Spur. Sagen Sie, sagt Ihnen der Name Günter Kronenberg etwas?" „Selbstverständlich", antwortete die Dame. „Den Günter kenne ich gut. Der ist leider in der falschen Partei. Ich mag ihn. Aber warum fragen Sie?" „Ich habe ihn zufällig privat getroffen und er schien sich sehr für den Fall zu interessieren. Ist aber nicht so wichtig. Bei meinem Kollegen Ritzer hat übrigens jemand angerufen, der angeblich die ganze Sache aufklären könnte. Wir haben den Anrufer aber nicht ermitteln können. Frau Oberbürgermeisterin, gibt es hier im Rathaus etwas, was ich wissen sollte? Ist in Ihrem Bauamt alles in Ordnung? Haben Sie in letzter Zeit etwas Verdächtiges bemerkt? An welchen Projekten haben die im Bauamt in letzter Zeit gearbeitet?", sprudelte es aus Alexander Neudorf heraus. Die Verwaltungschefin dachte angestrengt nach und ließ sich mit ihrer Antwort etwas Zeit. „Im Moment fällt mir nichts ein. Aber .........warten Sie, mein armer Baudezernent Schulze-Neumann war letzte Woche 77
Montag im Verwaltungsvorstand sehr nervös und zuckte immer mit den Augen. Als wir ihn darauf angesprochen haben, wich er uns aus", erinnerte sie sich. „Wen meinen Sie mit uns? Wer ist denn alles im Verwaltungsvorstand?", erkundigte sich der Polizist. „Nur unser Stadtdirektor, die Kämmerin, der Baudezernent und meine Wenigkeit.", klärte sie bereitwillig auf. „Sonst war keiner bei Ihrer Unterredung?", kam prompt die Nachfrage des Ermittlers. „Mein persönlicher Referent war auch dabei.", ergänzte die Oberbürgermeisterin und schaute Neudorf tief in die strahlenden Augen. Der adrette Kriminalist gefiel ihr. „Meine Kollegen werden heute verschiedene Personen befragen. Wer leitet eigentlich Ihr Bauamt? Sie haben doch sicher einen Bauamtsleiter, oder?", mutmaßte der Hauptkommissar. „Ja, natürlich. Wenn Sie möchten, lasse ich ihn sofort herholen. Sie können sofort mit ihm sprechen. Sie werden meine ganze Unterstützung bekommen. Brauchen Sie einen Vernehmungsraum für ihre Arbeit? Ich kann Ihnen ein Büro zur Verfügung stellen, wenn Sie möchten". „Danke für Ihr Angebot. Ich werde darauf zurückkommen". In diesem Augenblick summte das Mobiltelefon von Hauptkommissar Alexander Neudorf, der mit schnellem Griff sein Handy aus seiner Gesäßtasche nestelte. „Hallo Chef! Ich war ja eben nochmals bei der Witwe des Ermordeten Heinz Bohl. Was meinen Sie, was ich heraus78
gefunden habe?", versuchte Kommissar Ritzer eine Hochspannung aufzubauen. „Jetzt machen Sie es nicht so aufregend, Ritzer. Sie wissen doch, dass ich bei der Oberbürgermeisterin bin. Fassen Sie sich kurz!" ärgerte sich der Chefermittler über die plötzliche Störung seines Mitarbeiters. „Chef, die Frau Bohl hat bitterlich geweint, und dann schilderte sie, dass ihr Mann wohl einen Erpressungsversuch gestartet hat. Der muss da an Informationen über ein ganz großes Ding gekommen sein und hat versucht, damit Geld zu verdienen. Leider wusste Frau Bohl nicht mehr. Es soll aber was aus dem Remscheider Rathaus sein. Gisela Bohl ist überzeugt, dass die Leute, die ihr Verblichener erpresst hat, ihren Mann auf dem Gewissen haben.", verkündete Klaus Ritzer voller Stolz, er hatte ein Puzzelsteinchen im Fall „Rathausmörder" recherchiert. „Gut Ritzer. Kommen Sie jetzt ins Rathaus. Wir müssen mit dem Bauamtsleiter reden." Neudorf beendete sein Telefonat und entschuldigte sich bei der Verwaltungschefin. „Kein Problem! Halten Sie mich auf dem Laufenden. Herr Neudorf, finden Sie den Mörder." Mit diesen Worten verabschiedete die Oberbürgermeisterin den Hauptkommissar, der schon aufgestanden war, um den Raum zu verlassen. Die Nachforschungen mussten weiter gehen.
Montagmorgen Autobahn A46
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Wie im Radio angekündigt stand ich im Stau. Kurz vor der Abfahrt Hochdahl ging nichts mehr. Ich rief Paule an. Der ging allerdings nicht ans Telefon. Paul-Uwe ist sicherlich im Remscheider Rathaus, dachte ich. Hoffentlich findet er was heraus. Bei Erika brauchte ich es auch nicht zu versuchen. Die wollte ja auch ins Rathaus und mit diesem Herrn Schaller vom Bauamt reden. Ich rief Dieter an. Der Professor hatte die besten Ideen an seinem Schreibtisch in Bochum, am Grünen Weg. „Dieter Kaisers, einen Moment bitte!", hörte ich es aus den Boxen meiner Freisprecheinrichtung in meinem kleinen Mercedes. „Hallo Dieter, ich bin auf dem Weg nach Düsseldorf. Ich muss in meinem Büro nach dem Rechten schauen.", sprach ich, während ich wegen des hier einsetzenden Nieselregens den Scheibenwischer einschaltete. „Guten Morgen, Günter! Ich musste kurz die Hunde rauslassen. Habt ihr schon Neuigkeiten?", versuchte Dieter etwas aus mir heraus zu bekommen. „Leider nichts Brauchbares bis jetzt. Heute morgen war ich bei meiner Masseurin. Du, die hat mir doch tatsächlich erzählt, sie wäre mit Hauptkommissar Neudorf zusammen. Und der hätte jetzt viel zu tun wegen des Rathausmörders. Wenn die wüsste, wen wir gestern in Köln mit dieser Karolina getroffen haben. Aber ich habe natürlich nichts gesagt. Ich stehe in einem blöden Stau und wollte bloß mal hören. Sobald ich etwas erfahre, werde ich dich anrufen. Ach Dieter, der Baudezernent von Remscheid ist tot. Angeblich bei einem Autounfall auf der Al ums Leben gekommen", konnte ich berichten. „Hmm..., klingt mehr nach Mord. Solche Zufälle kann es doch nicht geben. Überlege mal. Zwei Mitar80
beiter des Bauamtes sterben in kurzer Zeit, und dann verunglückt auch noch der Dezernent. Da steckt System hinter. Günter, diesen Baudezernenten hat man mundtot gemacht. Der tote Dezernent könnte ein wichtiger Schlüssel zur Lösung des Falles sein. Versuche herauszubekommen, wo der vorher war. Wenn du das weißt, könntest du vor der Lösung stehen", überlegte der Professor laut. „Danke Dieter, du bist ein Guter. Bis später in alter Frische". Wir legten auf. Doch schon nach wenigen Minuten drückte ich eine andere Nummer ins Handy. Mia Schiengei, eine meiner vier jungen Büromitarbeiterinnen, ging ans Telefon. „Schlengel", raunte sie in den Hörer und wollte gerade ordnungsgemäß den Namen meiner Firma aufsagen. Ich unterbrach sie aber. „Hallo Mia! Ich stecke im Stau. Besorge mir gleich einen Kaffee und komm dann direkt in mein Büro. Ich habe einige Aufgaben für dich. Sind alle Mitarbeiter an Bord?", wollte ich wissen. „Ja Chef. Anastasia ist auch wieder da. Allerdings streut die noch ganz schön Bazillen durch die Gegend". „Die wird sich mal wieder nackt gestrampelt haben. Sag ihr, sie soll sich warm anziehen. Ich kann im Moment keine kranken Mitarbeiter gebrauchen". Ich legte auf. Irgendwie war ich gereizt. Die ganze Angelegenheit mit ihren schrecklichen Verbrechen im Rathaus ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Jetzt ließ ich meine 81
schlechte Laune schon an meinen guten Mitarbeitern aus. Ich ärgerte mich über mich selbst.
Montag 11.30 Uhr Rathaus Remscheid Moritz Schaller hatte nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nur ein Ziel. Er musste noch einmal ins Remscheider Rathaus, um stichhaltige Beweise zu finden. Er beschloss den Linienbus zu nehmen, der direkt vom Klinikum in Richtung Innenstadt fuhr. Dass Benno Mahler ebenfalls in dem Bus war, bemerkte er nicht. Er hatte den Mann, der den Auftrag hatte, ihn zu töten, nie persönlich kennen gelernt bzw. bei Licht gesehen. Zweimal schon hatte Benno Mahler gepatzt. Beim ersten Mal hatte er dem Bauamtsmitarbeiter im Rathaus aufgelauert, und Schaller war ihm entkommen. Dann hatte der Gangster das Haus in Hückeswagen in Brand gesteckt, in dem Schaller schlief Auch dieser Versuch war fehlgeschlagen. „Aller guten Dinge sind drei!", dachte sich Benno Mahler. Und jetzt hatte er seine Kanone dabei. Endlich hatte der Boss in seiner sms zugestimmt, Schusswaffen einzusetzen. Jawohl, er würde Moritz Schaller noch heute abknallen. Da war er sich ganz sicher. Nach fünfzehn Minuten erreichte Schaller das historische Gebäude. Es war Morgen, und er benutzte den Nebeneingang, der nur bis Mittags geöffnet wurde, um möglichst unerkannt in sein Büro zu gelangen. Dicht hinter ihm der 82
Auftragsmörder in seiner pechschwarzen Kluft. Auf der Nebentreppe begegnete Moritz Schaller dem Rathauspförtner Thomas Weger. „Hallo, Herr Schaller! Waren Sie krank? Ich habe Sie ein paar Tage nicht gesehen. Was war los?", fragte der freundliche Mann. „Ach, Herr Weger. Ich bin dumm im Schnee ausgerutscht und war im Krankenhaus", log Schaller über den wahren Grund seines Aufenthaltes im Klinikum. „Und ich dachte schon, es wäre was Ernstes!", grinste der Mitarbeiter vom Rathausempfang und entfernte sich. Auf der untersten Stufe der Nebentreppe wurde Thomas Weger von jemandem, der es sehr eilig hatte, angerempelt. Das Wort „Entschuldigung" kannte der unheimlich wirkende Mann nicht. In seinen tiefschwarzen Klamotten sah er aus wie der leibhaftige Teufel. Einen Moment schauderte es Thomas Weger. Obwohl der Heilungsprozess von Schallers Wunde so gute Fortschritte machte, dass er aus dem Klinikum entlassen wurde, spürte er einen leichten Schmerz als er vor seinem Büro im zweiten Stockwerk angekommen war. „Jetzt schnell rein und auf die Dunkelheit warten", überlegte er. Um in den fremden Büros zu stöbern, war es nötig, dass seine Kollegen Feierabend hatten. Schaller setzte sich in seinen Bürostuhl und legte seine Füße auf den braunen Holzschreibtisch. So, wie er es in seinen Pausen immer machte. Jetzt war er ja krankgeschrieben und auch nur zu Besuch in seinem Büro, rechtfertigte er sich. Er schloss die Augen und nickte ein. Es wurde dunkel. Ein lautes Niesen schreckte Schaller auf. Die Uhr zeigte 18.00 Uhr, und eigentlich sollte sich niemand mehr außer ihm in der zweiten Etage des Gebäudes aufhalten. Er schlich zur Bürotüre und lugte vorsichtig hinaus. „Niemand da", dachte er und schritt 83
leise über den grauen Teppich, der auf der Gangmitte über den weißblauen Fliesen verlegt war. Er nahm die dunkle Nebentreppe, um schließlich in der ersten Etage die Arbeitsräume des Stadtdirektors zu passieren. An einem schönen Stützpfeiler hielt Moritz Schaller inne und las im faden Lichtschein einen in Stein gehauenen Spruch. In Großbuchstaben stand dort: „SAG WAS DU WILLST KURZ UND BESTIMMT LAß ALLE PHRASEN FEHLEN" Moritz Schaller blieb jetzt stehen. Ein weiterer Spruch erhaschte seine Aufmerksamkeit: „WER NUTZLOS UNSERE ZEIT UNS NIMMT BESTIEHLT UNS UND DU SOLLST NICHT STEHLEN" Er schritt jetzt über den langen Gang, dem Büro des vor kurzer Zeit auf der Autobahn gestorbenen Baudezernenten entgegen. Auf leisen Sohlen verfolgt von Benno Mahler, der seine Waffe aus der Jackentasche nestelte. In dem Moment, als der Auftragsmörder seine Pistole entsicherte, erschrak Schaller und drehte sich um. Das leise Klicken hatte er gehört, und alle Alarmglocken in seinem Kopf hämmerten ihm nur eines ein. Er musste sein Leben retten. Das konnte nur der Rathausmörder sein. Warum war dieser Killer hier? Woher wusste er, dass er noch lebte und dass er den feigen Brandanschlag überlebt 84
hatte? Woher wusste der Rathausmörder, dass er nochmals ins Remscheider Rathaus musste? Trotz seiner Verletzung musste er jetzt stark sein. Sehr stark. Benno Mahler zielte nun auf sein Opfer. Jetzt muss ich treffen, dachte er und spürte die Anspannung in seinem Körper. Er hatte plötzlich Angst zu versagen. Seine Hände zitterten und ihm wurde schlecht. Dann drückte der skrupellose Killer einfach ab. Mit einem lauten Pfeifen jagte das Metall Schaller entgegen. Der duckte sich geistesgegenwärtig und die Kugel blieb im Türrahmen des Baudezernentenbüros stecken. Bevor der Jäger ein zweites Mal auf sein Opfer zielen konnte, ergriff der Rathausmitarbeiter die Initiative. Er lief in Richtung des Schützen und warf ihn mit einem Bodycheck zur Seite. Dann hechelte er die Haupttreppe hinauf, zurück in den zweiten Stock. Er bog direkt scharf nach links ab und erreichte den Fahrstuhl. Und wie schon einmal, vor nicht allzu langer Zeit, wurde er verfolgt. Verfolgt vom „Rathausmörder". Schnell drückte Schaller im Fahrstuhl auf den Knopf, auf dem groß „D" stand. Das enge Gefährt setzte sich in Bewegung, und die Fahrt endete im Dachgeschoss. Hier waren unter anderem Büros der Kämmerei und der Verwaltungssteuerung untergebracht. Natürlich war es hier jetzt menschenleer. Alle Mitarbeiter auf dieser Etage hatten Dienstschluss.
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Direkt neben dem Fahrstuhl war eine lange Fensterfront, von der aus man auf ein Flachdach steigen konnte, das einen Blick zum Innenhof des Rathauses frei gab. Er öffnete eines der alten Fenster und der Wind blies ihm schneidend ins Gesicht. Er lupfte hinaus und stand nun auf der Dachpappe. Ein Blick nach oben zum zweiundsechzig Meter hohen Rathausturm verriet auf der beleuchteten Turmuhr die Zeit. Es war 18.25 Uhr. Ein Blick nach unten verriet ihm, dass er viel zu hoch auf diesem Dach war, um herunter klettern zu können. Er sprang also wieder durch das geöffnete Fenster hinein, blieb in dem schmalen Fenstergang stehen und überlegte kurz. Als Schaller hinter sich den Fahrstuhl kommen hörte, nahm er seine Beine in die Hand und lief los. Seine Wunde schmerzte jetzt wieder. In diesem Moment sprang ein wütender Benno Mahler aus dem eisernen Beförderungsmittel und ballerte, ohne zu zielen, in Richtung des Flüchtenden, der just um die Ecke bog. Beide Kugeln blieben in einer Wand stecken. Schaller lief jetzt in Todesangst geradeaus auf eine Tür zu, schmiss diese hinter sich zu und klickte wie im Reflex den Lichtschalter an. Er lief über eine Gittertreppe und erklomm die darauf folgende steile Metallleiter. Er war jetzt auf dem Dachgiebel des alten denkmalgeschützten Gemäuers angekommen. Hier war er noch nie. Es war richtig unheimlich. Er drückte auf den Lichtschalter, und schwache Neonleuchten gaben ein gedämpftes Licht ab. Hier oben lagen die großen Heizungsrohre, die das schöne, altehrwürdige Remscheider Rathaus mit Wärme versorgten.
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Er sprang über den alten, unebenen Holzboden und gefährdete mit halsbrecherischen Sprüngen Leib und Leben. Schaller lief eine Gittertreppe hoch über einen Gittergang und wieder runter, an der Steuerung der Heizungsanlage vorbei, vor dem ein einsamer alter Stuhl stand. Hinter ihm war er, der Rathausmörder. In hastigen Schritten kam er näher. Zum ersten Mal konnte er ihn richtig sehen. Was war das doch fiir eine ekelige skrupellose Gestalt. Das war der Teufel, der da vor ihm stand und ihn ins Jenseits befördern wollte. Diese Satansbrut schoss einfach und unüberlegt drauflos. Mehrere Schüsse peitschten durch die großen Giebelräume, Kugeln blieben im braunen Holzgebälk stecken oder durchschlugen das Spitzdach. Die Eisen knallten gegen die Schieferplatten, die von außen das riesige Dach verschönerten. Dann stand der Rathausmörder vor Moritz Schaller. Der Teufel griente und mit den Augen fixierte er sein Opfer wie ein Löwe seine Beute. Schaller schnappte sich den Stuhl vor ihm und versuchte ihn als Schutzschild zu benutzen. Benno Mahler drückte aus nur drei Metern Entfernung ab.
Montagabend Düsseldorf-Seestern 87
Reges treiben herrschte an diesem Tag in meinem Büro. Die Sicherheitskameras wurden ausgetauscht und Ruhe zum Nachdenken hatte ich deshalb nicht. Meine Azubine brachte mir einen Kaffee. Mein libanesischer Einsatzleiter hatte hier trotz Urlaub einiges zu tun und debattierte mit meinem Geschäftsführer. Anastasia trank ihren schwarzen Kaffee aus ihrer Schweinstasse, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, rauchte eine Zigarette und tippte in schnellem Tempo Daten in ihren PC. Warum nur eine Schweinstasse für ein so hübsches Mädchen, dachte ich und musste grinsen. Das Telefon brachte mich mit seinem üblen Geräusch aus meinen Träumen. Ich nahm ab, und Erika war am anderen Ende der Leitung. „Ich habe etwas herausgefunden". In diesem Moment wurde ich von Mia Schiengel, meiner Sekretärin unterbrochen: „Chef, der Generalkonsul ist am Telefon und will Sie sofort sprechen!" „Erika, ich rufe dich sofort zurück. Ich muss ein wichtiges Telefonat fuhren." Ich telefonierte also mit dem Generalkonsul. Unser Gespräch dauerte ungefähr eine Stunde. Als ich es dann bei Erika versuchte, ging sie nicht dran. Ich ärgerte mich. Ich hatte sie eben unsanft abwürgen müssen. Sie hatte etwas herausgefunden. Wenn sie im Rathaus gewesen war, konnten ihre Kontakte sicherlich nützlich sein. Wenn auch vieles im Rathaus von Remscheid nicht reibungslos funktionierte: Der „Flurfunk" klappte perfekt.
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Doch so oft ich auch bei Erika anrief, ich bekam sie nicht an die Strippe. Ich hatte das Gefühl, dass sie zu Paul-Uwe gefahren war und rief dort an. „Schaber!", brüllte mich eine mir vertraute Stimme an. „Ich habe jetzt keine Zeit!" Aufgelegt. Na so was. Ich drückte die Wiederholungstaste. „Schaber!", brüllte die Stimme erneut. Bevor er auflegen konnte gab ich mich zu erkennen. Meine Telefonnummer war schließlich auf seinem Display nicht zu lesen. „Paule, bleib dran. Es ist wichtig." „Ach du bist es Günter. Erika ist hier, und sie hat wichtige Neuigkeiten. Deshalb wollte ich nicht gestört werden. Ich dachte, meine Schwester wäre da am Apparat um mich mit Familiengeschichten zu belästigen." „Was habt ihr denn für Neuigkeiten?" „Ich habe nichts Neues für dich. Erika hat zwar diesen Moritz Schaller nicht erreicht, sie hat aber die Frau des Baudezernenten angerufen. Herr Schulze-Neumann war bei einem Treffen auf Schloss Bensberg, bevor er auf der Autobahn zu Tode kam. Wir haben eben mit der Rezeption des Hotels telefoniert. Eine Auskunft haben wir da allerdings nicht bekommen. Ich glaube, du musst da mal hinfahren und ermitteln. Vielleicht finden wir in dem Schloss einen entscheidenden Hinweis." „Wusste Frau Schulze-Neumann nicht, was ihr Mann am Abend in Bensberg gewollt hat?" „Nein, Günter! Sie meinte 89
nur, es hätte öfters Treffen mit angeblichen Geschäftsleuten gegeben. Ihr Mann wäre dann immer sehr nervös gewesen. Sie hatte ihn schon in Verdacht eine Freundin zu haben." „Mensch Paule! Sag Erika einen schönen Gruß von mir. Ihr müsst vorsichtig sein. Wenn hinter den Rathausmorden eine Gruppe steckt, werden alle, die zu viel wissen wollen, möglicherweise beseitigt. Wer weiß, warum dieser Baudezernent sterben musste? Das bringt uns jedenfalls ein dickes Stück weiter. Ich werde unseren Professor anrufen. Der kann morgen nach Bensberg fahren. Vielleicht kann er etwas erfahren. Er hat ja das Talent, Menschen auszufragen." „Okay, Günter! Wir hören von uns." „Alles klar Paule. Grüß Erika von mir. Ich rufe jetzt Dieter an. Unser Professor hat morgen eine wichtige Aufgabe zu verrichten. Irgendwo liegt der Schlüssel für unseren Fall. Vielleicht sind wir schon näher dran, als wir ahnen." „Mia, bitte komm in mein Büro", rief ich in die Freisprechanlage meines Telefons. Sekunden später stand die siebenundzwanzigjährige schmale sonnenstudiogebräunte Sekretärin vor mir. In meinem orientalisch eingerichteten Büro hatte dieses „Düsseldorfer Mädchen" einen eigenen kleinen Schreibtisch, an dem sie spezielle Aufgaben für mich erledigen musste. Wegen meiner ausländischen Gäste hatte ich mir die grünen Sitzmöbel im orientalischen Stil extra in Belgien anfertigen lassen. Ich erzählte Mia von den Vorkommnissen in Remscheid und sagte ihr, ich würde in den nächsten Tagen wohl wenig im Büro sein. „Wenn mich jemand Wichtiges sprechen möchte, leite bitte alles auf meine Handynummer", kam es im Befehlston aus mir heraus. Ich erhob mich aus meinem schwarzen Bürosessel und nahm die schusssichere beige Weste mit, die ich immer auf dem Bü90
romöbel hängen hatte. Vielleicht konnte sie mir schon bald bei einem Einsatz nützlich sein. Hans-Gerd, Gastronom aus Remscheid und ein alter Kumpel, rief mich an. Er lud mich auf einen Kaffee in seiner Gaststätte ein. Ich sagte zu.
Montagabend Remscheid-Rathaus Moritz Schaller glaubte einen Schmerz zu spüren und seine linke Hand suchte einen winzigen Augenblick nach Blut auf seiner Brust. Würde er nun elendig sterben? Getroffen von einer Kugel des Rathausmörders? Nein, er lebte noch! Erst jetzt war ihm bewusst, dass er gar keinen Knall gehört hatte. Nur ein Klicken. Benno Mahler hatte sein Magazin in blinder Wut leer geschossen und warf nun seine Waffe auf Moritz Schaller. Der wehrte das Eisen geschickt mit dem Holzstuhl ab. Nun sprang der Verbrecher auf sein Opfer und beide fielen zu Boden. Es kam zu einem wilden Gerangel und Faustschläge wirbelten durch die Luft. In dem Kampf schnappte der Killer nach Schallers Hals. Die starken Mörderhände drückten seinem Opfer die Kehle zu. Im letzten Augenblick konnte der Bauamtsmitarbeiter seine ganze Kraft einsetzen und sich aus der Umklammerung befreien. Dabei knallte Mahler mit seinem Schädel gegen die Gittertreppe und blieb einen Moment benommen liegen. Sein Kontrahent nutzte die Gelegenheit, stand auf und lief den Weg zurück. Wieder über die Gitter und Holzdielen, an der Metallleiter vorbei. Diesmal in die andere Richtung. Wie vom Teufel besessen rannte Moritz Schaller durch den ganzen Giebel. Durch die Räume, vorbei an den vielen 91
Heizungsrohren. Vorbei an dem großen Kamin mit den drei Klappen. Vorbei an einigen Dachluken und alten zugigen Dachfenstern, die teilweise undicht waren. Dabei stürzte er mehrmals, aber er spürte in seiner Todesangst keinen Schmerz. Er musste dem Grauen entfliehen. Sonst war alles aus. In großer Panik kletterte der Verfolgte durch die Giebelbalken und riss weitere Türen in dem riesigen Dachspeicher-Labyrinth auf. Dann stand er plötzlich in einer Sackgasse. Er blickte auf eine alte Backsteinmauer und lief zurück. Als er wieder den Kamin erreicht hatte, fasste er den Entschluss, sich hinter den mächtigen Heizungsrohren zu verstecken. Zwei große und sechs kleinere graue Rohre führten erhöht durch die unheimlichen Räume. Moritz Schaller rollte sich geschickt unter den Rohren hindurch und lag jetzt neben der dunklen Giebelwand auf dem verstaubten alten Dachboden. Er versuchte ruhig zu bleiben, was ihm aber nur bedingt gelang. Er war abgehetzt und atmete deshalb schwer. Nun hörte er seinen Verfolger kommen. Der Rathausmörder suchte den Dachboden nach ihm ab. In der Absicht, den Auftrag seines Bosses fachgerecht auszuführen, durchstöberte Benno Mahler jeden Winkel des verfluchten Dachbodens. Moritz Schaller sollte entsorgt werden. So lautete sein Auftrag. Würde er nun trotz der erlaubten Schusswaffenbenutzung patzen, war das wohl der letzte Auftrag, den er von seinem Boss bekommen würde. Schluss mit der schmucken Wohnung. Schluss mit dem Fahren im eigenen Auto. Am Ende würde er wegen Unfähigkeit vielleicht vom Boss noch selbst entsorgt. Akribisch suchte der Verbrecher nach seinem Opfer. Allerdings war das hier oben gar nicht so einfach. Das Licht war 92
nur schwach und hier gab es einige Verstecke. Aber er würde seinen Auftrag schon ausfuhren. Benno Mahler strauchelte und stolperte über eine alte Holzdiele. Er blutete. Nachdem er im Kampf auf Leben und Tod mit dem Kopf auf eine Gittertreppe aufgeschlagen war, ratschte er sich jetzt auch noch die Hand auf. Er musste diesen Bauamtsmitarbeiter finden. Er würde ihn dann mit seinen starken Händen entsorgen. Er würde solange den Hals seines Gegners drücken, bis der keinen Mucks mehr von sich gab. Warum auch nicht? Er brauchte schließlich das Geld. Andere würden auch einer Arbeit nachgehen. Warum sollte er also nicht seinen Job machen? Auch Benno Mahler erreichte die Sackgasse mit der Backsteinwand und durchsuchte dort jeden Zentimeter. Moritz Schaller überlegte, was er machen sollte. Es wäre nur eine Frage der Zeit, wann ihn sein Verfolger finden würde. Und ewig hier oben liegen bleiben konnte er sowieso nicht. Er entschloss sich, zu einer der Dachluken zu rennen. So schnell er konnte, kroch er aus seinem Versteck und rollte sich unter den Heizungsleitungen entlang. Dann sprang er auf und lief davon. Als er eine Tür erreicht hatte, drückte er geistesgegenwärtig den Lichtschalter des Raumes aus, den er gerade verlassen hatte und in dem ihn der Rathausmörder suchte. Dann schlug er die Tür zu. An einer Dachluke angekommen öffnete er vorsichtig von oben den Hebel, und der Mechanismus bewegte sich runter in Richtung Dachgeschoss. Schaller fasste sich ein Herz und kletterte die so halb geöffnete Treppe herunter. Dann sprang er ab und fand sich im Flur des Dachgeschosses wieder. Den Speicher hatte er hinter sich. Voller Angst hüpfte er jetzt eiligst in den Fahrstuhl und drückte den untersten Knopf. Die Türen schlossen sich und in Minuten93
schnelle war er im Erdgeschoss. Er atmete jetzt schwer und nutzte die Erholungspause. Völlig fertig schleppte er sich mit Mühe zum Rathausempfang am Haupteingang und rief um Hilfe. Thomas Weger, der Rathauspförtner und gute Geist des Gebäudes, erkannte die Situation sofort und öffnete die Tür zu seiner Dienststelle. Mit knappen Worten und nach Luft ringend schilderte der Geschundene voller Panik seine Situation. „Herr Weger! Der Mörder ist hier im Haus. Er will mich umbringen. Helfen Sie mir bitte!", flehte er mit aufgerissenen Augen. Weger verschloss seine Tür sofort und rief per Telefon die Polizei. Zuerst erreichte er über die 110 die Polizeiwache. „Hallo Polizei. Kommen Sie sofort zum Remscheider Rathaus. Sonst geschieht hier noch ein weiterer Mord. Der Übeltäter läuft hier durch das Haus und will einen Kollegen töten", berichtete der Mann vom Empfang durch den Hörer. Dann kramte er die Visitenkarte von Hauptkommissar Alexander Neudorf aus seiner blauen Dienstjacke. Er wählte die Mobilnummer des Chefermittlers, und der bedankte sich am anderen Ende der Leitung und fuhr so schnell er konnte gen Remscheid. Benno Mahler fluchte derweil laut auf dem Speicher. Ohne das Licht der Neonlampen war er fast blind. Nur durch die kleinen Dachlukenfenster kam ein wenig Helligkeit herein. Es war draußen ja dunkel.
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Verdammt, da knallte er ja schon wieder vor etwas. Seine Stirn hatte einen Holzbalken getroffen. Wieder fluchte Mahler. Endlich sah er Licht. Er äugte durch die geöffnete Dachluke ins Dachgeschoss und ärgerte sich schrecklich, denn er hatte Schallers Fluchtweg entdeckt. Mit einem Klimmzug hangelte er sich herab und fand einen Weg über ein Treppe. Genau zwischen dem kleinen und dem großen Sitzungssaal kam er in der zweiten Etage an. Er lief durch den ganzen Flur, bog um die Ecke und rannte wie fixiert auf sein Ziel zu. Dann hatte er den Fahrstuhl erreicht, der direkt in den Hof führte. Er war an der Stelle, an der ihm diese Ratte Moritz Schaller vor wenigen Tagen in den Unterleib getreten hatte und anschließend mit dem Fahrstuhl in den Innenhof des Rathauses geflüchtet war. Jetzt musste Mahler flüchten. Er befürchtete, dass in wenigen Minuten ein Steifenwagen der Polizei eintreffen würde. Schaller war ihm entwischt und der würde sicherlich die Bullen verständigen. Das war ihm klar. Sonnenklar. Mit Martinshorn und Blaulicht näherte sich ein Streifenwagen dem Remscheider Rathaus. Zwei Polizisten stiegen aus dem Fahrzeug, das am Theodor-Heuss-Platz vor dem Haupteingang anhielt. Mit gezogenen Waffen durchsuchten sie das Gebäude. Kurz nacheinander trafen weitere Polizeiwagen ein. Im Obergeschoss hörten die Ordnungshüter ein Poltern. Eine Person lief wie verwirrt durch die Flure, öffnete eine nicht verschlossene Zimmertüre und versteckte sich unter einem Schreibtisch. Die Polizeibeamten entsicherten ihre Dienstwaffen. Sie glaubten, den Rathausmörder gefunden zu haben. Sie stürmten in das Zimmer ohne auf Verstärkung ge95
wartet zu haben. Was sie jedoch vorfanden, war nur ein alter verwahrloster Obdachloser, der sich verbotener Weise in dem Gebäude aufhielt, um sich vor der eisigen Kälte zu schützen. Als Hauptkommissar Neudorf den Tatort erreichte, hatte Benno Mahler schon längst die untere Alleestraße erreicht. Er war schon mindestens einen halben Kilometer vom Tatort entfernt. Ihn würden die Bullen nicht bekommen. Er hatte zwar seinen Auftrag nicht erfüllen können, dafür konnte er wenigstens erfolgreich fliehen und damit rechtzeitig seine eigene Haut retten. Er hatte Durst und ging in eine Gaststätte. Jetzt brauchte er ein paar Gläser Bier. „Ich packe jetzt aus, Herr Hauptkommissar!", wimmerte ein ziemlich fertiger Moritz Schaller. Er war so durcheinander, dass er sogar in seinen Thüringer Dialekt verfiel. Dann klappte er wie ein Strich zusammen. Die inzwischen anwesenden Sanitäter legten ihn auf eine Trage und trugen ihn in den Krankenwagen der Berufsfeuerwehr, der vor dem Gebäudeportal stand. Notarzt Dagobert Kotthaus stellte im Wagen keine gute Diagnose: „Der Patient ist völlig erschöpft. Er hat eine ganze Reihe von Hämatomen. An seinem Hals sind deutliche Spuren sichtbar. Der Mann ist gewürgt worden. Dass der das überlebt hat, ist ein Wunder. Zudem hat der Patient eine schwere Wunde am linken Oberschenkel. Sie scheint schon einige Tage alt zu sein, aber sie blutet wieder. Der muss sofort ins Krankenhaus. Ich werde ihm jetzt eine Beruhigungsspritze geben, damit er die ganze Nacht ruhig schlafen kann".
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„Aber ich will den Herrn direkt vernehmen. Der kann mir vielleicht eine Beschreibung des Verbrechers geben. Wenn der Mörder weiter frei herum läuft, kann der weiter morden. Wann kann ich mit dem Mann sprechen?", fragte der sichtlich nervöse Chefermittler. „Geben Sie bitte dem Patienten bis morgen Mittag Zeit. Der braucht die Ruhe jetzt dringend. Hören Sie auf einen Arzt, okay?", entgegnete der Notarzt. „Gut, okay. Ich knöpfe mir den Mann morgen vor. Wo bringen Sie Herrn Schaller denn hin?", beruhigte sich Hauptkommissar Alexander Neudorf von der Wuppertaler Kriminalpolizei. „Er kommt ins SanaKlinikum. Da ist er gut aufgehoben. Wenn Sie mich fragen, würde ich den Mann unter Polizeischutz stellen. Der ist bestimmt extrem gefährdet", mutmaßte der Arzt. „Also Dilettanten sind wir bei der Kripo nun auch nicht, Herr Doktor. Keine Sorge. Die Person wird nicht mehr aus den Augen gelassen, und morgen Mittag werde ich dann ins Krankenhaus kommen und mit meinem Interview beginnen. Jetzt werde ich mir einmal den Empfangschef vorknöpfen. Vielleicht hat der auch etwas gesehen, was mir weiter hilft." Nach diesen Worten ging der Kriminalist ins Rathaus zurück, um Thomas Weger zu befragen. Er hoffte, der Aufklärung des Falles ein gutes Stück näher zu kommen. Vielleicht hatte der aufmerksame Pförtner ja etwas Brauchbares gesehen.
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Montagabend Remscheid-Blumenstraße Mein Kumpel Hans-Gerd hatte mich in meinem Büro in Düsseldorf angerufen und gefragt ob ich noch auf einen Kaffee vorbeikommen würde. Er würde in der Gaststätte Marktplatz, die seine Frau Suse mit ihm betrieb, auf mich warten. Ich war also am späten Abend in der Remscheider Blumenstraße angekommen und bog in den dunklen Hinterhof ein, in dem Hans-Gerd, der vor Jahren ein sehr guter Fußballspieler war, eine Garage hatte. Ich parkte vor seinem Garagentor und sprang aus dem Wagen, als ich plötzlich zu Tode erschrak. Auf dem stockfinsteren Hinterhof lief etwas in eiligem Tempo herum. Instinktiv fuhr meine rechte Hand an meinen Pistolengurt, den ich mir in meiner Firma aus dem Tresor geholt hatte. Meine Waffe war mit Munition aufgefüllt und meine Finger nestelten nach ihr. Meine Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt und ich sah die Bescherung: Ratten! Gleich drei Genossen dieser Ekelsbrut liefen dort umher und ließen sich in keiner Weise von mir stören. Hans-Gerd hatte sich schon des Öfteren über die großen Nager bei mir beschwert und machte den Müll im Hinterhof für die Plage verantwortlich. Die umliegenden Fressbuden lagerten angeblich hier ihre Abfälle. Ich musste unweigerlich an diesen Sonntagmorgen vor 10 Jahren denken. Ich war gerade aufgewacht, als meine Frau mir sagte, sie wolle in der Küche Milch für unseren kleinen Sohn warm machen, um ihm sein Fläschchen zu geben. Im Halbschlaf hörte ich, wie sie die Treppe herunter ging, um im Erdgeschoss unseres Hauses in der Küche zu Werke zu gehen. Ein lauter Schrei ließ mich wie eine Rakete aus dem Bett schnellen. Mein erster Gedanke war, dass Ein98
brecher im Haus sein müssten. Ich rannte also im Eiltempo die Treppe hinunter, um die vermeintlichen Gangster in die Flucht zu schlagen. Unten angekommen stand meine Frau im Hausflur und schrie: „Eine Ratte! Mir ist in der Küche eine Ratte auf die Hand gesprungen!" Nie im Leben werde ich diese Situation vergessen. Ich schloss alle Türen und rief einen Kammerjäger an. Eine Woche hörten wir es immer irgendwo in der Küche rappeln. In den Kochtöpfen, im Besteckkasten, überall in den Küchenschränken. Nur gesehen haben wir sie nicht mehr. Nach einer Woche hatte das Rattengift gewirkt und das Vieh lag leblos unter dem Kühlschrank. Bis heute weiß ich nicht, wie die Ratte ins Haus gekommen ist. Ich rief damals die Entsorgungsbetriebe an, die mir auf Anfrage mitteilten, im Remscheider Kanalnetz würden, wie in allen anderen Großstädten auch, genauso viele Ratten leben wie menschliche Bewohner in den Häusern. Aufgrund meines Anrufes wollten sie wohl Rattengift im Kanalnetz verteilen. Meine Nachbarn meinten damals, so etwas könne ihnen nicht passieren. Allerdings meldete sich schon eine paar Tage später mein Nachbar von Gegenüber. Der Handwerksmeister erzählte mir kleinlaut, er hätte mir Unrecht getan, und in seiner Garage würde eine Ratte umherlaufen. Ich ging schnellen Schrittes auf die beleuchtete Blumenstraße zu und ärgerte mich, dass ich aus lauter Faulheit in den Hinterhof gefahren war, nur um nicht ein paar Schritte mehr als nötig laufen zu müssen. Ich bog zweimal links ab und kam auf dem Marktplatz an. Zwischen Pommes- und Dönerbuden lag die Gaststätte, und ich war froh, als die schwere Holztür hinter mir ins Schloss fiel und „Hannemann", so nannte alle Welt Hans-Gerd, sofort mit einer duftenden Tasse Kaffee auf mich zu kam. Seine mittlerweile 99
grauen Haare waren wohl unters Messer geraten. Jedenfalls setzte sich Hannemann zu mir und erzählte mir etwas von den viel zu hohen Steuern, die Remscheid von den Gewerbetreibenden nehmen würde. Ein Gast an der Theke fiel mir auf. Er sah verschwitzt und zerzaust aus. So, als hätte er gerade einen Ringkampf absolviert und dabei einige Schäden davon getragen. Er atmete schwer und trank heftig von seinem Bier. Als sich der Mann zur Seite drehte, erkannte ich ihn. Es war mein Mieter, dem ich im Morsbachtal noch vor kurzer Zeit eine Wohnung vermietet hatte. „Merkwürdig", dachte ich. Der Kerl war mir von Anfang an nicht ganz geheuer. Ich überlegte, während Hannemann weiter auf mich einredete. Ja, so wie meinen Mieter stellte ich mir den Rathausmörder vor. Hat er vielleicht die Taten begangen und war er es, der die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzte? Der Zustand, in dem er sich befand, sowie meine Theorie vermischten sich in meinem Kopf, und ich stellte mir richtig vor, wie dieser Typ da an der Theke seine Straftaten verrichtet hatte. Dann überlegte ich nüchtern. Nein, das kann nicht sein. Wie kann ich nur so einen Blödsinn denken. Mein Mieter ein Verbrecher? Total unsinnig. Ich verabschiedete mich von Hannemann und ging gedankenverloren aus der verrauchten Gaststätte zu meinem Auto. In dem Hinterhof war es jetzt totenstill. Die Ratten waren wohl schlafen gegangen, dachte ich. Ich stieg in meinen SLK und brauste auf direktem Wege zu meinem Wohnquartier. Als ich auf der Freiheitstrasse vor der roten Ampel warten musste, zogen diverse Gummiartikel im Schaufenster eines dort ansässigen Sexdiscounters meine Aufmerksamkeit auf 100
sich. Schon interessant, was es in der Großstadt Remscheid alles zu kaufen gab. Wer wohl solche bunten Teile benutzte? Einsame Hausfrauen oder Bankdirektoren? Ob auch Omis Gummi gaben? Ich riss mich schnell aus solchen Gedanken. Ich mochte es mir nicht vorstellen. Die Ampel sprang auf Grün und ich bog mit heulendem Motor ab und fuhr über die steile Straße Richtung Kremenholl. Dienstagmorgen Bochum, Grüner Weg Dieter Kaisers hatte am Montagabend noch spät einen Anruf bekommen. Auf die Frage, ob er im Schlosshotel von Bensberg etwas ermitteln könne, brauchte er erst gar nicht zu antworten. Das war selbstverständlich für ihn und auch selbstverständlich für seinen Anrufer. Am Dienstagmorgen wurden schnell die beiden Dackel ins Auto gepackt, und dann ging es in hohem Tempo über die Autobahn nach Bergisch Gladbach-Bensberg. Nach längerer Fahrt parkte der Professor seinen schwarzen KIA in dem Parkhaus unter dem Schlosshotel. Unter lautem Gebell der beiden kleinen Rauhaardackel ging der große Mann durch den Parkhausgang zum Fahrstuhl. Im Erdgeschoss angekommen setzte er sich auf eine bequeme Couch des Hotelbistros und bestellte bei der freundlichen Bedienung ein Kännchen Kaffee. Am Nebentisch hörte er, wie sich zwei junge Frauen über die neueste Mode unterhielten und sich heimlich über seine Hosenträger lustig machten.
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In einer Ecke saß eine feine alte Dame in einem weißen Hosenanzug. Sie hatte es sich auf einem thronartigen Stuhl gemütlich gemacht und wirkte stark und erhaben. Sie blickte ernst und hatte etwas Unheimliches an sich. Als sie die beiden Dackel erblickte, stand sie auf und ging geradewegs auf den Professor zu. „Sie haben aber süße Hunde. Ich habe auch einen Rauhaardackel. Er heißt Adolf." „Meine Dackel heißen Lina und Odin. Wo haben sie denn Ihren Hund?" „Ach wissen Sie Herr........." „Gestatten Kaisers, Dieter Kaisers." „Wissen Sie, Herr Kaisers, ich habe wichtige Aufgaben zu erledigen, und mein Adolf ist deshalb bei meiner Tochter in Remscheid." „Ach, Sie kommen aus Remscheid?" „Ja, da wohne ich. Aber im Moment habe ich hier an diesem schönen Ort einen Hotelaufenthalt." „Sagen Sie, haben Sie den Baudezernenten Christian Schulze-Neumann gekannt? Der muss wohl vor kurzem hier im Hotel auf einer Veranstaltung gewesen sein und ist anschließend auf der Autobahn tödlich verunglückt." „Ja, natürlich habe ich diesen Schulze-Neumann gekannt. Der war wahrscheinlich nicht der beste Autofahrer. Der arme Herr Baudezernent."
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„Darf ich fragen, woher Sie Herrn Schulze-Neumann gekannt haben? „Ach, wer hat den nicht gekannt. Der ist doch dauernd in der Zeitung gewesen." Dieter wurde nun mutiger. „Was macht eine attraktive Dame wie Sie eigentlich hier alleine in diesem wunderbaren Hotel?" „Ich habe wichtige Aufgaben zu erledigen. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt." „Ist das Geheim oder können Sie darüber sprechen?" „Aber Herr Kaisers, ich kenne Sie doch überhaupt nicht, und was geht Sie mein Leben an? Erzählen Sie auch jedem fremden Menschen, was Sie so treiben?" „Natürlich nicht, aber Ihnen würde ich so manches erzählen wollen." „Sie sind ein Charmeur, Herr Kaisers. Ein richtiger deutscher Mann mit guten Tugenden. Das gefällt mir. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich werde mich auf mein Zimmer zurückziehen. Ich habe zu tun." Die alte Frau verließ das Bistro ohne sich nochmals umzuschauen. Dieter bezahlte seinen Kaffee und wunderte sich. Sogar den Namen der Frau hatte er nicht herausbekommen. An der Rezeption versuchte er, ihren Namen festzustellen. Das gelang ihm aber nicht. Den verstorbenen Baudezernenten Schulze-Neumann kannte die freundliche Hotelmitarbeiterin auch nicht. Dieter beschloss also, seine Hunde ins Auto zu packen und zu seiner Wohnung in Bo103
chum zurückzufahren. Als er den Bensberger Berg herunter fuhr, kam ihm etwas merkwürdig vor. Dicht hinter ihm fuhr ein dunkler Mercedes der S-Klasse und zwei Typen saßen darin. Dieter fuhr durch Bergisch Gladbach über Odenthal und Altenberg. Der schwarze Mercedes Benz war weiter dicht hinter ihm. Dieter bekam Angst. Wurde er vielleicht verfolgt? Hatte es etwas mit der alten Dame im Schlosshotel zu tun? Er nahm sein Handy ans Ohr und tippte hastig eine Nummer.
Dienstagnachmittag Wuppertal Ich war gerade auf dem Weg ins Polizeipräsidium Wuppertal. Ich hatte mich in dem alten Gebäude in Barmen mit Hauptkommissar Alexander Neudorf verabredet. Wir wollten über den Fall sprechen, der eine ganze Region in Atem hielt. Als ich über Remscheid-Hasten die steile Straße Richtung Wuppertal entlang fuhr, klingelte mein Handy. Ich nahm ab. „Kronenberg." „Günter, ich bin es, Dieter am Apparat. Stell dir vor, ich war in Bensberg und habe dort mit einer alten Dame geplauscht und jetzt glaube ich, dass ich verfolgt werde. Du, ich habe Angst. War es bei dem Baudezernenten vielleicht auch so? Vielleicht ist der auch verfolgt worden und dann.... Ich wage es mir gar nicht vorzustellen. Was soll ich jetzt machen, Günter?" „Bitte erstmal Ruhe bewahren, Dieter, pass auf: Fahr nicht schneller als einhundert Stundenkilometer und fahr über 104
die Autobahn. Die ist jetzt garantiert ziemlich voll. Setz dich am Besten direkt vor andere Autos. Lass deine Verfolger nicht dazwischen. Gib bloß kein Vollgas. Das ist viel zu gefährlich. Fahre bis zur Abfahrt Remscheid und fahr da ab. Ich bin jetzt in Wuppertal. Wir treffen uns dann bei dem Schnellrestaurant auf der Lenneper Straße in Remscheid." „Ist okay, Günter. Ich kenne die Ecke. Mensch, mir ist richtig heiß. Die sind mit ihrem Daimler so dicht hinter mir. Was haben die wohl vor?" „Bleib ruhig, Dieter. So schnell passiert dir schon nichts. Das gibt es nur im Krimi. Wir sehen uns gleich." „Ja, ich habe nicht mehr soviel Saft auf dem Handy. Ich rufe dich gleich wieder an." Dieter hatte die Leitung gekappt. Ich raste über die Straßen wie ein Rennfahrer auf dem Nürburgring. Ich nahm die Strecke über WuppertalRonsdorf, an der ehemaligen Bundeswehrkaserne vorbei und erreichte schließlich die Autobahn 1 an der Anschlussstelle Wuppertal-Süd. Mit über zweihundert km/h jagte ich über die Autobahn. Vorbei an einem großen Lüttringhauser Stahlwerk und der neuen Autobahnabfahrt RemscheidLennep. Ich erreichte die Abfahrt Remscheid und nahm die Ausfahrt mit quietschenden Reifen. An der Kreuzung bog ich links ab Richtung Lennep, um dann sofort links in das Industriegebiet Jägerwald abzubiegen. Doch vor dem vereinbarten Schnellrestaurant konnte ich Dieters Auto nicht sehen. Ich tippte seine Nummer ins Handy. Doch so oft ich auch klingeln ließ, er ging nicht dran. Jetzt wurde ich nervös und 105
raste durch die Straßen des Industriegebietes. Vor dem Hotel an einem Wendehammer sah ich dann Dieters schwarzen KIA. Zuerst war ich erleichtert. Dieter saß in seinem Wagen. Ich sprang aus meinem SLK und lief zu ihm. Seine beiden Dackel bellten laut. Aber Dieter hing auf dem Fahrersitz. Er blutete aus einer Wunde heraus. Ich sah es sofort, es war eine Schusswunde an der hinteren rechten Brustseite. Er war blass und hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er atmete noch. Er lebte also. Ich rief sofort die 112 an, und kurze Zeit später kamen der Notarzt sowie der Rettungswagen von der nahe gelegenen Feuerwache angebraust. Auch die 110 tippte ich rasch ins Handy. Der freundliche Polizist am Telefon benachrichtigte unverzüglich eine Streifenwagenbesatzung. Ich fühlte mich schuldig. Ich hatte Dieter dazu verleitet Nachforschungen anzustellen. Verdammt gefährlich Nachforschungen, wie ich jetzt kleinlaut feststellen musste. Ich hatte einen Freund in Todesgefahr gebracht. Dieter wurde sofort vor Ort notversorgt. Im Rettungswagen bekam er vom Notarzt Schmerzmittel und Sauerstoffgabe. Mit Blaulicht und Martinshorn raste der Rettungswagen über die Lenneper Straße, Zentralpunkt und Burgerstraße ins Klinikum. Während ich hinter dem Rettungswagen her jagte, fiel mir ein, dass ich in der Aufregung Dieters offenes Auto inklusive seiner Hunde am Wendehammer hatte stehen lassen. Und die Besatzung des Streifenwagens hatte ich auch einfach stehen lassen. Ich rief Paul-Uwe an. Paule wohnte nicht weit vom Tatort entfernt. Ich informierte ihn im Schnellverfahren über die Vorkommisse an diesem Tag. Er versprach, sich sofort um die beiden Rauhaardackel zu 106
kümmern und Erika anzurufen. Dann wählte ich die Mobilnummer von Alexander Neudorf. Der Hauptkommissar schrie mich zuerst an, wurde dann aber ruhiger und versprach, sich kurzfristig mit mir zu treffen.
Dienstagnachmittag Sana-Klinikum Remscheid Über die Notfallambulanz wurde Dieter Kaisers vom Notarzt eingeliefert. Diagnose: Thorakale Schussverletzung, nach Erstversorgung stabile Herzkreislauf- und Lungenfunktion. Bei der Aufnahme war der Professor weiterhin blass im Gesicht. Auch die Schweißperlen auf seiner Stirn waren nicht weniger geworden. Trotz der im Rettungswagen verabreichten Schmerzmittel und der Gabe von Sauerstoff hatte Dieter zunehmende Schmerzen in der rechten Brustseite. Er klagte über eine beginnende Luftnot. Die orientierende körperliche Untersuchung zeigte eine frische Schussverletzung der hinteren Brustseite mit druckschmerzhafter Crepitation über der sechsten Rippe. Dieter wurde umgehend zur Notfallcomputertomographie in die Röntgenabteilung verbracht. Parallel wurde das bereits vom Notarzt entnommene Blut im Labor untersucht. Blutkonserven wurden bereitgestellt. Noch während Dieter im Spiral-CT lag, erkannte man auf dem Monitoren einen Lungenkollaps rechts, verursacht durch ein Projektil, das den Lungenunterlappen von hinten 107
durchschlagen hatte und in der vorderen Brustwand stecken geblieben war. Dr. Rapp sprach zu Assistenzarzt Dr. Trust: „Es findet sich reichlich frisches Blut in der Brusthöhle sowie ein Rippenbruch an der Eintrittsstelle des Projektils. Weitere Organe, insbesondere die großen Blutgefäße und die Speiseröhre erscheinen nicht verletzt. Um seine Lunge wieder zur Entfaltung zu bringen und das Blut aus der Brusthöhle zu entfernen, muss eine Thoraxdrainage eingelegt werden." (Diese war ein ca. daumendickes flexibles Kunststoffrohr, das Luft und Flüssigkeiten aus der Brusthöhle ableitete und mit einem so genannten Wasserschloss das Eindringen von Luft von außen nach innen verhinderte.) Hierzu folgte nach örtlicher Betäubung der Haut am unteren Brustkorb eine kleine Hautinzision, über die die Drainage mit einem spitzen Metallspieß zwischen den Rippen bis in die Brusthöhle vorgeschoben wurde. Anschließend wurde der Metallspieß zurückgezogen und die Drainage festgenäht. „Über die Drainage entleert sich kontinuierlich viel frisches Blut und mit jedem Atemzug sehr viel Luft. Das ist ein Zeichen, dass die Lunge selbst schwerwiegend verletzt ist", sagte Dr. Trust. „ Der Patient muss sofort notfallmäßig in den Operationssaal gebracht werden." Nach Vorbereitung durch die Anästhesie erfolgte die Operation in Linksseitenlage des Patienten. Dieters Haut wurde dreimal mit einer alkoholischen Lösung desinfiziert und das Operationsfeld mit Tüchern steril abgedeckt. Der Zugang zur Brusthöhle erfolgte über einen Hautschnitt zwischen der fünften und sechsten Rippe. Der Hautschnitt erfolgte 108
mit dem Skalpell unter Ausschneidung der Eintrittsöffnung des Projektils. Die Muskulatur wurde mit dem elektrischen Messer durchtrennt, bei Eingehen zwischen den Rippen. Dieters fünfte Rippe war im Bereich des Schusskanals gebrochen. Sein Rippenfell wurde eröffnet und seine Rippen gespreizt, so dass ein breiter Zugang zur Thoraxhöhle bestand. Der Narkosearzt beatmete anschließend nur die linke Lunge, die rechte Lunge wurde vom Beatmungssystem abgenommen, so dass sie komplett kollabierte. Viel frisches Blut wurde aus Dieters Brusthöhle ausgespült und es folgte eine Inspektion seiner Brustorgane. „Der rechte Unterlappen ist von dem Projektil durchschlagen worden, das anschließend zwischen den Rippen an der vorderen Brustwand stecken geblieben ist. Hier ist die Rippenarterie verletzt worden, was zu der starken Blutung gefuhrt hat. Sein Lungengewebe ist im Schussbereich zerfetzt und massiv eingeblutet", diagnostizierte Dr. Rapp. Zunächst erreichten die Ärzte eine Blutstillung mittels Durchstichligatur der verletzten Rippenarterie (das ist ein Abbinden mittels Naht) sowie Entfernung und Asservierung des Projektils aus der Zwischenrippenmuskulatur. Weitere Traumafolgen fanden sich bei Dieter nicht, aufgrund des Verletzungsmusters konnte sein Lungenunterlappen nicht erhalten werden und wurde daher komplett entfernt. Hierzu wurden zunächst die Lungenarterienäste der Unterlappensegmente und anschließend auch die Lungenuntervene durchtrennt. Dann durchtrennten die Ärzte auch das Lungengewebe und den Unterlappenbronchus.
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Bei einsetzender Bluttrockenheit wurde Dieters rechte Lunge durch den Narkosearzt wiederbelüftet. „Es zeigen sich in der Wasserprobe dichte Nahtverhältnisse an den Luftwegen und keine weiteren Verletzungen des verbliebenen Lungenober- und Lungenmittlappens", sagte dieser. (Das Prinzip kann man sich wie beim Prüfen des Fahrradschlauches vorstellen). Es wurden 2 neue Thoraxdrainagen eingelegt, die Luft und Flüssigkeit aus der Thoraxhöhle ableiteten. Der Rippenspreizer wurde entfernt und Dieters Brustwand wurde mit mehreren Schichten und Nähten verschlossen. Den Hautverschluss erreichten die Ärzte mit Metallklammern und Aufbringen eines Verbandes. Anschließend erfolgte durch den Operateur noch eine flexible Lungenspiegelung über den Beatmungsschlauch (Bronchoskopie). Hierzu führte Dr. Rapp das Videoendoskop über den Tubus in die Luftröhre ein und spiegelte nacheinander alle Bronchien. „Es zeigen sich saubere Nahtverhältnisse am Unterlappenbronchus. Blutreste in den Luftwegen sind ausgespült worden. Es sind keine weiteren Verletzungen feststellbar", stellte der operierende Arzt fest. Die Narkose wurde von den Anästhesisten ausgeleitet und der Patient auf die operative Intensivstation gebracht. „Jetzt würde ich gerne ein gutes Schnitzel essen", dachte Dr. Rapp laut und ging mit fröhlichem Gesicht in die Krankenhauskantine. Die Operation war gelungen und sein Magen hatte sich gemeldet. 110
Dienstagabend Sana-Klinikum Remscheid Hauptkommissar Alexander Neudorf war inzwischen vor dem Sana-Klinikum angekommen. Mit schnellen Schritten ging er vom Parkplatz Richtung Haupteingang. Als er durch die Drehtüre kam, fragte er eine Mitarbeiterin der Krankenhausinformation nach Dieter Kaisers. Er wartete einen Augenblick. In diesem Moment kam auch sein Assistent Kommissar Klaus Ritzer. Gedankenverloren starrte ich zur Decke im Klinikum. Hoffentlich würde Dieter schnell gesund werden, dachte ich, als mein Handy summte. „Kronenberg", flüsterte ich, um niemanden zu stören. „Neudorf ist hier. Pass auf Günter: Ritzer und ich stehen hier unten im Eingangsbereich des Krankenhauses. Komme bitte hierhin. Wir müssen reden." Ich folgte den Anweisungen meines ehemaligen Kollegen und war nach nur zwei Minuten dort. „Wie geht es Herrn Kaisers? Hat er die Schussverletzung und die Operation gut überstanden?" „Ich hoffe es sehr, Alexander. Ich konnte Dieter ja noch nicht sprechen. Der Arzt meinte jedenfalls, der Eingriff wäre gut verlaufen und der Patient könne nach einer Woche entlassen werden. Jetzt liegt er auf der Intensivstation." „Gut, das wird schon werden. Wer sich in Gefahr begibt und die Arbeit der Polizei machen will, muss auch mit den Folgen leben. Das war sehr leichtsinnig heute. Das Landeskrimi111
nalamt hat die Ermittlungen bereits aufgenommen. Wir haben also den Fall nicht mehr offiziell in der Hand." „Bist du aus dem Fall jetzt raus, Alexander?" „Quatsch mit Soße. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mir diesen Fall komplett von Düsseldorf abnehmen lasse, oder? Günter, du weißt doch, dass dieser Rathausmitarbeiter, Moritz Schaller heißt er, auch hier im Krankenhaus liegt. Der ist doch gestern im Remscheider Rathaus fast zu Tode gekommen. Ritzer war heute bei ihm mit unserem Polizeizeichner. Der Schaller konnte seinen Kontrahenten gut beschreiben. Wir haben jetzt ein Phantombild von dem Rathausmörder. Ritzer, zeigen Sie Herrn Kronenberg doch mal die Zeichnung." Hätte ich ein Brötchen im Mund gehabt, mir wäre es, gelinde gesagt, sofort heraus gefallen. Die Person, die ich da auf einer Zeichnung sah, war kein anderer als mein Mieter. Das war eindeutig Benno Mahler. Den hatte ich doch gestern Abend noch in der Gaststätte am Markt gesehen. Und er sah aus, als wäre er in eine Prügelei verwickelt gewesen. Ich beschloss, nichts zu sagen. Den Kerl wollte ich mir alleine vorknöpfen. Schließlich hatte ich spätestens nach dem heutigen Tage ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. „Hat Herr Schaller sonst nichts Brauchbares gesagt?" „Nein, Günter. Bis jetzt nichts. Aber der weiß mehr. Der hat etwas zu verbergen. Wir brauchen noch etwas Zeit, dann wird der singen wie ein Vögelchen im Frühling." Erst jetzt machte auch der Assistent von Alexander Neudorf einmal den Mund auf: „Herr Kronenberg, morgen früh müssen Sie zu unseren Kollegen in Remscheid. Ich habe schon um 10.00 Uhr einen Termin für Sie im Polizeipräsidium am Quimperplatz gemacht. Seien Sie nicht sauer. 112
Ohne uns hätten Sie heute richtig Ärger bekommen. Sie haben schließlich Herrn Kaisers in seinem Auto am Jägerwald gefunden. Woher wussten sie eigentlich....." „Professor Dieter Kaisers hatte mich angerufen", unterbrach ich Klaus Ritzer. „Ich wollte ihm helfen. Er hatte gesagt, mich wieder anrufen zu wollen. Der Anruf kam aber nicht. Wir hatten uns vor dem Schnellrestaurant verabredet. Dann fand ich ihn angeschossen. Ist wirklich eine blöde Geschichte." Ich verschwieg mein Wissen über Dieters Begegnung mit dieser alten Frau im Schlosshotel von Bensberg. Ich wollte am nächsten Tag selbst meine Ermittlungen aufnehmen. Mir fehlte noch so einiges. Ich wusste jetzt zwar, dass mein Mieter den Rathausmitarbeiter Moritz Schaller ermorden wollte, was aber hatte die alte Frau, die wohl ein Zimmer im Bensberger Schlosshotel gemietet hatte, mit der ganzen Sache zu tun?
Dienstagabend Marienhafe, Ostfriesland „Was ist das gut, so weit weg von zuhause zu sein. Die Bullen suchen mich bestimmt überall. Schön, dass uns meine liebe Schwester ihr Auto geliehen hat", freute sich ein erleichtert dreinblickender Benno Mahler.
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„Ja, lass uns hier irgendwo ein Zimmer suchen. Hier gibt es Kneipen genug. Ich will mich heute Abend richtig besaufen. Die Polizei wird uns hier nicht vermuten", erwiderte Bennos Kumpan Robert Ritzer. „Bleib ruhig, mein Freund. Da ist ein Kaufladen. Hier holen wir uns erstmal zwei Kästen Bier und ein paar Brötchen." Als Benno Mahler mit dem roten Fiat Panda auf den Parkplatz des Edeka-Marktes von Marienhafe einbog, hätte er fast einen der zahlreichen Fahrradfahrer auf der Motorhaube liegen gehabt. Benno führte sich in dem beschaulichen Ort gleich richtig ein, indem er der Frau an der Kasse gleich in den Ausschnitt glotzte und ihr sagte, sie habe aber dicke Rollmöpse und sie sei sicherlich die Frau eines Seemannes. Die Kassiererin lief direkt rot an und antwortete nicht auf diese Provokation. Nach dem Einkauf fuhren sie an einer alten Windmühle vorbei. Bevor sie den Bahnübergang, der vor ihnen lag, passieren konnten, bogen sie links ab in die Lilienstraße. Beide Männer fluchten, als sie über die Erhöhung in der verkehrsberuhigten Straße hopsten und sogar krachend aufsetzten. Sie rasten ja, wie immer, viel zu schnell. „Sieh mal Benno: ,Haus Karla', meine Oma heißt auch Karla. Fragen wir mal, ob es hier ein Zimmer für uns gibt!" „Von mir aus. Die haben ja Parkplätze vor dem Haus." Benno Mahler parkte das Auto vor einer Hecke, links vor dem schmucken Backsteinhaus. Robert Ritzer sprang aus dem Panda und schnellte zur weißen Eingangstür. Es regnete im Störtebekerland und die Luft war kalt. Eine freundliche Frau machte die Türe auf. „Guten Abend, was wün114
schen Sie?" „Haben Sie noch ein Zimmer frei?" „Wir vermieten Ferienwohnungen. Nummer drei wäre noch frei. Wie viele Personen sind sie denn?" „Wir sind zwei Personen. Ich bin mit meinem asthmakranken Kumpel hier. Der bekommt schwer Luft und da dachten wir kurzerhand, wir fahren einmal nach Ostfriesland " „Ja, da sind Sie hier richtig. Dann kommen Sie mal rein. Ich zeige Ihnen die Wohnung und erkläre Ihnen alles, was Sie wissen müssen." „Gut, ich hole eben meinen Kumpel und die Reisetaschen." „Wo kommen Sie denn her?", fragte die etwa fünfzigjährige Frau. „Wir kommen aus dem Bergischen Land. Aus der Morsbach." „Wie bitte?" „Aus Remscheid!", verbesserte sich Robert Ritzer. Wer sollte in Ostfriesland auch schon das kleine „gallische" Remscheider Dorf kennen? Dass es auch eine Stadt im Bergischen Land gab, die Morsbach hieß, war diesem Dummkopf Ritzer nicht bekannt. Die beiden Ganoven wurden die helle Marmortreppe hoch geführt. Schnell war alles erklärt und die Vermieterin verließ die Ferienwohnung. Nummer 3 war direkt vor Kopf. Die Wohnung bestand aus einer Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem Badezimmer mit Dusche. Die Wohnkü115
che hatte hellbraune Fliesen und weiße Raufasertapeten. Die Küchenzeile war aus hellem Buchenholz mit einer gemusterten Arbeitsplatte. Die Ausstattung ließ es an nichts fehlen. Neben dem grün gemusterten Zweier-Sofa war eine Balkontüre. Von dem überdachten Balkon hatte man eine schöne Aussicht auf einen großen gepflegten Garten. Benno Mahler und Robert Ritzer gingen sofort auf den Balkon und setzten sich um einen kleinen Tisch auf die Kunststoffsessel. Sie öffneten mit ihren Feuerzeugen ihre Bierflaschen, tranken hastig daraus und rauchten gleich mehrere Zigaretten. Sie entspannten erst langsam. Zu sehr waren ihre Gedanken bei ihren Taten, die sie in ihrer Heimatstadt begangen hatten. Sie unterhielten sich über ihren Boss. Der hatte sich nicht mehr gemeldet, seit die Sache gestern im Rathaus von Remscheid schief gegangen war. Moritz Schaller war lebend entkommen. Dieser Typ musste gleich mehrere Leben haben. Schaller hatte ihn, Benno Mahler, erkennen können. Sicherlich gab es schon ein Phantombild von ihm. Seine markanten Gesichtszüge würden bestimmt erkannt werden. Er musste also verschwinden und mit ihm auch sein Kumpel Ritzer. Denn nur gemeinsam fühlten sie sich stark. „Robert, wir können nicht zurück nach Remscheid. Da werde ich sofort verhaftet. Wir müssen woanders unser Glück versuchen. Schau mal in den Prospekt hier von Marienhafe. Der berühmte Seeräuber Klaus Störtebeker hat hier mit seinen Piraten im Jahre 1396 Zuflucht gesucht. Seinen Wohnsitz nahm er sich in einem 40 Meter hohen Turm, der heute Störtebeker-Turm heißt. Wir können doch hier bleiben in Marienhafe. Vielleicht können wir oben am Meer auf einem Fischkutter anheuern und genießen die gute Seeluft. 116
Wir können schließlich unseren alten Job nicht mehr fortführen. In Remscheid findet uns entweder die Polizei oder unser Boss. Ich glaube die Polizei ist dann schon das kleinere Übel." „Und was wird aus unserer schönen Wohnung in der Morsbach?" „Da müssen wir sowieso raus. Oder willst du vielleicht unserem Vermieter seine Miete zahlen? Der bekommt nichts von uns. Wir bleiben hier. Wie viel Geld haben wir noch?" „Zusammen ungefähr 2.800,-- €. Damit kommen wir eine Weile aus." „Ich habe dir noch gar nicht gesagt dass ich mir von meiner Schwester Angie 500,-- € geliehen habe. Das heißt also wir haben sogar 3.200,-- €". „Falsch, du Dummkopf. Es sind 3.300,-- €. Kannst du nicht mehr rechnen?" Laut rülpsend verließen sie den Balkon und schalteten den Fernseher an. Der Tag war anstrengend gewesen und Erholung fanden sie nur vor dem Fernseher. Die Handys waren ausgeschaltet. Nur keine Nachrichten vom Boss empfangen. Sollte er sich doch selbst Nachrichten schicken.
Mittwochmorgen Rathaus Remscheid Es war gegen 2.20 Uhr in der Frühe, als eine männliche Person durch die langen Flure des Dachgeschosses des Rathauses schlich. Büro für Büro durchstöberte der Eindringling. Vorsichtig war der nächtliche Störenfried nicht. Er 117
brauchte Licht, um fündig zu werden, und so schaltete er auch alle Lichter ein. Ordner für Ordner wurde aus den Aktenschränken geholt und nach brauchbaren Schriftstücken abgesucht. Irgendwo mussten die Unterlagen ja stecken. „Das ist ja wie eine Nadel im Heuhaufen suchen", redete er vor sich hin. „Wo können die Pläne nur sein?" Der Mann überlegte eine ganze Weile. So würde er bestimmt nichts finden. Er brauchte konkrete Hinweise. Er musste wissen, wo er genau suchen sollte. Bei dieser Vielzahl von Akten war das ein schwieriges Unterfangen. Der Eindringling entschloss sich, seine nächtliche Suche abzubrechen. Er war schon über drei Stunden auf der Suche nach den Unterlagen. Wo mochten sie sein? War vielleicht vor ihm einer auf die Idee gekommen?
Mittwochmorgen Remscheid-Morsbach Nachdem ich um 10.00 Uhr meine Aussage bei der Remscheider Polizei gemacht hatte, lenkte ich mein Auto in die Ackerstraße zu meiner vermieteten Wohnung. Vor-
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sichtshalber hatte ich meine Waffe geladen und meine kugelsichere Weste angezogen. Ich parkte den SLK vor meiner Garage, die die Hausgemeinschaft vor Jahren einmal feuerrot anstreichen ließ. Ich ging um das Haus und öffnete die Türe mit meinem Ersatzschlüssel, den ich immer bei mir trug. Zwei Treppen passierte ich, dann klingelte ich an der Wohnungstüre, an der der Name Benno Mahler stand. Ich hörte nichts. Wieder betätigte ich den Klingelknopf. Nichts. Kein Lebenszeichen von meinem Mieter. Ich nahm meinen Schlüssel und schloss einfach auf. Ich sicherte meine Schusswaffe und erwartete fast, dass er hinter einer der Türen stand und auf mich schießen würde. Fehlanzeige. Der Rathausmörder hat sein Nest verlassen. Bei dem Gedanken musste ich schlucken. Ausgerechnet in meiner Wohnung im beschaulichen Morsbachtal musste dieser Gangster wohnen. Ich schaute in die Schränke. Die Wohnung schien verlassen. Die Kleidung war nicht da. Eigentlich standen nur die nackten Möbel und leere Bitburgerkästen in den Räumen. Lange konnte der nicht weg sein. Hier hatte jedenfalls noch jemand außer Benno Mahler gewohnt. Auch das Sofa war mit Bettzeug versehen. Eine richtige Räuberhöhle war das wohl hier gewesen. Benno schien auf der Flucht zu sein. Sicher war ihm der Boden hier zu heiß geworden. Nachdem er den Bauamtsmitarbeiter Moritz Schaller umbringen wollte und das am Montag im Rathaus von Remscheid nicht geschafft hatte, musste er damit rechnen, zur Fahndung ausgeschrieben zu sein. Ich beschloss, in der Nachbarschaft nachzufragen. Vielleicht bekam ich von meinen Bekannten in der Morsbach Informationen. Als erstes traf ich Harald, der mir den Namen des Mitbewohners von Benno Mahler sagen konnte: „Robert Ritzer! Mit dem hat doch der Benno immer viel zusammen gemacht. Die müs119
sen dicke Freunde sein. Dem Robert sein Vetter ist, glaube ich, sogar Kommissar bei der Kriminalpolizei. Aber sonst kann ich dir über die beiden nichts sagen. Frag doch mal den Willi. Vielleicht weiß der mehr." Gesagt getan. Ich schellte bei Willi, der früher der beste Freund meines Bruders gewesen war. Fehlanzeige. Willi war arbeiten. Mir fiel Silvia ein. Vielleicht konnte sie mir Auskunft geben. Eine Katze schnurrte mich vor ihrem Schieferhaus an. Ich drückte die Schelle und Silvia öffnete die Tür. Sie bat mich in die Küche und wir setzten uns. „Silvia, kennst du zufällig Benno Mahler oder Robert Ritzer? Mahler wohnt in der Ackerstraße in meiner Wohnung zur Miete." „Ja, Günter! Die beiden Vögel kenne ich. Der Mahler rast immer wie ein Verrückter mit seinem gelben Golf durch den Ort. Die beiden sind oft in dem Wald an der Gockelshütte. Da wo die alte Säbelschmiede steht. Was ist mit diesen Angebern? Haben sie was ausgefressen? „Es könnte sein. Ich habe da so einen Verdacht, Silvia." "Wo du gerade hier bist. Was gedenkst du eigentlich gegen die Pläne der Stadt zu tun bezüglich des geplanten Freizeitparks auf dem Gelände der ehemaligen Deponie?" Da war sie wieder, die „schöne" Politik. Als Kommunalpolitiker war man zwangsweise immer im Einsatz. „Natürlich werde ich gegen jegliche Art von Lärmbelästigung im Rat stimmen. Die Morsbacher Bürger haben schließlich lange genug unter der Deponie gelitten", versprach ich. „Sorge dafür, dass die hier keine Sandpiste bauen. Ich habe keine Lust, im Staub zu ersticken oder von einem Erdrutsch verschüttet zu werden. 120
Ach ja, bald ist hier Glühweinfest. Vergiss das Kommen nicht." Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg zur alten Säbelschmiede in der Nähe des Baches. Mein Weg führte an einem alten historischen Wohngebäude, dem Pulverturm, vorbei. Auf der Morsbachtalstraße bog ich links ab Richtung Gockelshütte. Vorbei an der im 19. Jahrhundert gegründeten Werkzeugfabrik, hinter der ein alter Freund von mir wohnte. Vorbei an einem Hundeplatz, Wiesen, Wald und Felsen. An einer steilen Felswand, auf der ich als Kind oft verbotener Weise gespielt hatte, bog ich links ab, kam über eine kleine Brücke über den Morsbach und bog dann in den Wald ab. Ich hielt meinen Wagen vor der alten, verlassenen Säbelschmiede und stieg vorsichtig aus. Als ich kurz vor dem Gebäude stand, hatte ich plötzlich eine Eingebung. Ich stellte mir vor, das Gebäude wäre vielleicht gesichert. Vorsichtig öffnete ich mit einem langen Ast, der hier im Wald lag, die angelehnte Eingangstür. Ich hörte einen lauten Knall und mir wurde schwarz vor Augen. Eine Bombe war detoniert. Entweder eine Begrüßung für ungebetene Gäste oder....?
Mittwochmorgen Bensberg, Schlosshotel Im feinen Salon von Schloss Bensberg saß die alte Dame und telefonierte. „Guten Morgen, mein Junge. Was gibt es Neues?" „Benno Mahler hat seine letzte Chance verpasst. Er hat seinen Auf121
trag nicht ausgeführt. Ich hatte ihm sogar erlaubt, seine Pistole zu benutzen." „Soll dass heißen, Moritz Schaller lebt?" „Ja! Und es ist damit zu rechnen, dass er Benno erkannt hat. Ich habe aber schon gehandelt. Ich habe an der alten Säbelschmiede, dort, wo ich den beiden Typen immer ihr Honorar deponiere, etwas Sprengstoff installiert." „Ob das so klug ist. Schließlich könnten auch andere Leute in die Fabrik gehen." „Mach dir keine Sorgen. Da geht schon keiner rein. Übrigens Tantchen, du hast deine Leute auch nicht richtig im Griff. Sie haben diesen Dieter Kaisers nicht exekutiert. Der ist nur verletzt. Du solltest deinen Jungs mehr Schusstraining gönnen. Aus so kurzer Entfernung hätte ich dreimal getroffen." „Sag das nicht so laut, mein Junge. Sonst musst du dir demnächst selbst die Finger schmutzig machen. Wenn du dazu bereit bist, kannst du die Aufträge gerne alleine ausfuhren. Aber dann darfst auch du keine Fehler machen. Ich dulde weder Fehler noch Ungehorsam." „Übrigens, Freunde aus dem Ministerium haben mir gestern gesteckt, dass unser Geheimbund vom Verfassungsschutz kontrolliert wird. Was meinst du denn, wer für sie als Spitzel angeworben werden sollte? Unser lieber verstorbener Freund, Baudezernent Schulze-Neumann." „Das hätte ich mir denken können. Der Torfkopf stand nie richtig hinter unserer Sache. Gut, dass wir ihn entsorgt haben. Unser Führer hat damals auch kurzen Prozess mit Verrätern und Neinsagern gemacht."
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„Was hast du jetzt mit diesem Herrn Kaisers vor? Er ist Professor und wohnt in Bochum. Sonst weiß ich nichts über den Mann." „Er kennt mein Gesicht, mehr aber auch nicht. Den hat bestimmt auch der Verfassungsschutz geschickt. Mich fragt keiner ungestraft aus." „Es wird schwer sein, ihn zu erwischen. Mein Freund bei der Wuppertaler Polizei hat mir gesteckt, dass Dieter Kaisers und Moritz Schaller pausenlos von der Polizei bewacht werden im Krankenhaus. Außerdem hat sich wohl das SEK in den Fall eingeschaltet." „Verdammt! Wie lange können wir wohl noch die Sache geheim halten? Wenn die unsere verlorenen Thesen finden, ist alles aus." „Wovor hast du Angst? Den Geheimgang wird keiner finden. Nur ich, denn ich bin die Auserwählte. Allerdings, ich würde gerne einmal die Augen der armen Oberbürgermeisterin sehen, wenn sie wüsste, dass der große Judenschatz tief unter ihrem Arbeitszimmer liegt. Der würde ihre Stadt auf einen Schlag sanieren können." „Meinst du, wir können das Gold abtransportieren lassen?" „Auf keinen Fall. Das wäre viel zu gefährlich. Außerdem müssen wir erst einmal den Schlüssel finden." „Ja, du hast wohl Recht. Dieser dumme Rüdiger Fritsche. Wollte mich erpressen. Genau wie Heinz Bohl. Die haben wir ja schnell entsorgt. Nur dieser Thüringer Dickschädel Moritz Schaller lebt noch."
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„Ja, aber Schuld hatte an allem nur Baudezernent SchulzeNeumann. Da hatte der doch tatsächlich Bauunterlagen von dem Geheimgang in seinen Akten. So ein absoluter Schwachsinn. Aber so sind die Bürokraten aus dem Rathaus. Alles auf Papier bringen und nichts im Kopf behalten. Aber wo ist der Schlüssel?" „Mein Junge: Sei nicht so streng mit unseren Toten. Sie können sich nicht mehr verteidigen. Schließlich hat Schulze-Neumann die alten Baupläne gefunden und überarbeitet. Ohne ihn hätten wir keine neuen Informationen über den Keller des Rathauses erhalten, und auch die Schatzkammer hätten wir nicht lokalisiert. Dieser Goldschatz ist wirklich etwas Unglaubliches. Na ja, die jüdischen Geschäftsleute von Remscheid, Solingen und Wuppertal müssen früher ja auch steinreich gewesen sein." „Ich habe gleich einen Termin beim Regierungspräsidenten. Ich will nicht zu spät kommen. Bis später." „Viel Erfolg! Ich begebe mich jetzt zur Maniküre. Es lebe der Führer und das Gold der Deutschjuden." Das Telefongespräch war beendet.
Mittwochmorgen Sana-Klinikum Remscheid Dieter wurde wach. Die freundliche Schwester auf der Intensivstation lächelte ihm zu. Dieter war schwach, und er
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versuchte den gestrigen Tag nachzuvollziehen. Es gelang ihm nicht. Seine Augen fielen zu, und er schlief ein. In einem anderen Krankenzimmer frühstückte Moritz Schaller. Hier fühlte er sich sicher. Vor dem Krankenzimmer war ein Polizist postiert. Sollte er Hauptkommissar Alexander Neudorf und dessen Kollegen von der Wuppertaler Mordkommission „Rathausmörder" endlich die nötigen Informationen geben? Würden die ihm überhaupt glauben? Goldschatz! Geheimgang im Remscheider Rathaus! Geheimbund! Die würden ihn in eine Zwangsjacke stecken und für verrückt erklären lassen. Schließlich waren seine Beweise, die Unterlagen aus dem Büro des Baudezernenten, bei dem Feuer in seiner Wohnung in Hückeswagen vernichtet worden. Außerdem wollte er ja noch Geld mit der Geschichte verdienen. Eine Boulevard-Zeitung würde ihm bestimmt ein paar Euro für diese Geschichte zahlen. Er war sich nicht sicher. Was sollte er tun? Wie sollte er sein Leben weiter leben? Mittwochmittag Remscheid-Morsbachtal „Bekommen wir dich denn gar nicht mehr wach? Günter, wach endlich auf! Mann, los aufwachen bitte. Jetzt bin ich es leid. Geli, bring mir mal schnell einen Eimer mit Wasser." „Wo soll ich hier einen Eimer Wasser herbekommen?" „Geli, ein Eimer steht bei uns im Kofferraum und das Wasser holst du natürlich aus dem Bach!" Im Unterbewusstsein hörte ich mir vertraute Stimmen. Wo war ich? Ich wollte aufwachen. In diesem Moment hörte ich ein lautes Platschen. Ich glaubte zu ertrinken. War ich im Wasser? Ich 125
rang nach Luft. Hatte mein letztes Stündlein geschlagen und drohte ich in den Morsbachfluten zu ertrinken? „Geli, ich brauche noch einen Eimer. Aber schnell bitte!" „Augenblick, ich bin Friseurin und keine Rennläuferin!" Platsch! Wieder bekam ich eine volle Breitseite ab. War ich schon in der Wupper und sollte von bergischen Krokodilen verspeist werden?" „Günter, werd endlich wach. So geht das nicht. Geli, hol noch einen Eimer Wasser." In diesem Moment wachte ich auf aus meiner Ohnmacht und.....platsch... Ich bekam eine komplette Ladung Wasser in mein Gesicht. Ich schüttelte mich heftig und richtete meinen Oberkörper auf. Ich sah, zuerst etwas verschwommen, einen Kerl von einem Baum vor mir. Ich stotterte: „Uuwwe, Uwe und Angelika. Was macht ihr denn hier und wo sind wir?" „Meine Fresse, dich hat es aber voll erwischt, was? Wir sind an der Gockelshütte vorbeigefahren und haben deinen SLK gesehen, und da sind wir kurz ausgestiegen, um dich zu suchen, und dann liegst du Hornochse hier vor der alten Schmiede. Was ist denn passiert? Hat dich ein Eichhörnchen gestochen?" „Nein, nein, ich suchte was und dabei ist etwas Sprengstoff hochgegangen. Aua, mein Kopf brummt wie verrückt." „Ich gehe mal in die Fabrik und schaue, ob ich was finde" „Lass dass bitte sein! Bleib hier! Wer weiß, was da noch drin ist. Nimm mein Handy und wähle in meinem Adressbuch , Alexander Neudorf. Schnell, ruf ihn an und gib ihn mir dann." „Hauptkommissar Neudorf!" „Uwe Freund hier, einen Moment bitte, ich gebe Ihnen den Günter Kronenberg." „Hallo Alexander. Ich bin in einem Wald bei der Go126
ckelshütte, und mir brummt wahnsinnig der Schädel. Ich habe vorsichtig die Türe einer alten Säbelschmiede geöffnet und dann ging eine Bombe hoch. Ich hatte verdammtes Glück. Es ist noch alles dran an mir. Schick bitte die Spurensicherung hier runter." „Was ist das denn für eine alte Schmiede? Hast du wieder auf eigene Faust ermittelt? Ich komme gleich vorbei. Nicht als Ärger hat man mit dir. Mensch Günter, wir sind einer ganz gefährlichen Bande auf der Spur. Ich habe eben ein Gespräch mit einem Herrn vom Staatsschutz gehabt. Ich bin aus allen Wolken gefallen." „Ja, ja bis gleich, Alexander. Ich muss mich etwas ausruhen." Ich drückte die Handytaste und legte meinen Kopf auf den Waldboden. Geli legte mir ein Kissen unter meinen Kopf, das sie aus ihrem Auto holte. Nach kurzer Zeit war die erste Polizeistreife vor Ort. Neudorf hatte sie alarmiert. Wenig später kamen ein Krankenwagen und ein Notarztwagen. Obwohl ich ablehnte, untersucht zu werden, halfen mir meine Einwände nicht. Ich musste die Untersuchungen ertragen. Gefunden hatte der Notarzt nichts. Meine übergroße Vorsicht beim Aufmachen der Eingangstür der Schmiede hatte mir das Leben gerettet. Vielleicht hatte auch das Tragen der kugelsicheren Weste umher fliegende Splitter davon abgehalten, in meinen Körper einzudringen. Der Hauptkommissar kam mit seinem Adjudanten. Alexander Neudorf und Klaus Ritzer betraten den Tatort. Ich erzählte ihnen von Benno Mahler und Robert Ritzer. Als 127
Kommissar Klaus Ritzer den Namen seines Vetters hörte, lief er rot an. „Chef, Robert Ritzer ist mein Vetter. Dieser dumme Nichtsnutz kommt dauernd mit dem Gesetz in Konflikt. Das darf doch nicht wahr sein. Der Fall wird immer merkwürdiger. Robert ist ein Dummkopf. Der könnte niemals einem Syndikat oder einem Geheimbund angehören. Alleine dazu ist der Kerl zu dumm und zu primitiv. Der ist bestimmt für die Drecksarbeiten von irgend einem der Hintermänner zuständig gewesen." „Ritzer. Lassen Sie Benno Mahler und ihren Vetter Robert Ritzer sofort zur Fahndung ausschreiben. Günter, hast du zufällig die Wohnungsschlüssel von Benno Mahlers Wohnung dabei?" „Ja, ich habe sie im Auto in der Mittelkonsole." „Gut, wir stellen die Bude jetzt auf den Kopf. Einen Durchsuchungsbefehl sparen wir uns. Der Staatsanwalt würde uns nur unnötige Zeit kosten." „Nimm mich mit in die Ackerstraße, Alexander. Mein Kopf schmerzt noch etwas. Du kannst mich ja gleich wieder hier absetzen." „Kann ich machen. Schau, da kommen ja schon die Herrschaften von der Spurensicherung. Vielleicht können die uns gleich etwas sagen, wenn wir aus der Wohnung zurück sind." „Alexander, was ich dir noch sagen wollte: Ich gehe fast wöchentlich zur Massage." „Schön für dich, Günter. Warum erzählst du mir das?" „Ich gehe immer zu Ann-Kathrin. Ich dachte, du kennst sie vielleicht." „Oh Mann, gibt es eigentlich in diesem Land irgendetwas was du nicht weißt? Ja, Ann-Kathrin ist meine Freundin!"
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„Aha, ich kann schweigen wie ein Grab. Sie weiß nicht, dass wir uns kennen, und von deiner blonden Eroberung weiß sie auch nichts." „Halt endlich deinen Mund. Oder willst du noch meinen Mitarbeiter Klaus Ritzer hellhörig machen. Der hat eh Ohren wie ein Luchs und würde mir gerne mal eins auswischen." „Ist ja schon gut, Alexander. Jetzt versuchen wir erst einmal diesen verdammten Fall zu lösen. Ist schon ein Ding, dass dein Kommissar Ritzer mit einem der Gangster verwandt ist." „Das, mein lieber Günter bleibt unter uns. Wir werden Benno Mahler und Robert Ritzer schon finden und dann nehme ich die zwei Vögel in die Mangel. Denen wird kein Hut mehr passen, und dann packen die aus." „Dann lass uns mal in die Wohnung von Mahler fahren. Wenn wir da einen Hinweis finden, gebe ich einen aus."
Mittwochmittag Marienhafe, Ostfriesland Benno Mahler und Robert Ritzer erkundeten nach langem Schlaf und selbst gemachten Frühstück den Ort. Vorbei an vielen kleinen Geschäften und schmucken Backsteinhäusern gingen sie zum Marktplatz. Eine Bronzestatue des Seeräubers Klaus Störtebeker, die dort aufgestellt war, bewunderten die beiden Schurken. „Komm Benno, wir gehen jetzt auf den Störtebeker-Turm. Das wäre doch noch ein 129
Job für uns, wir werden Seeräuber und vielleicht bekommen wir später auch so ein Denkmal." „Lass mal, Robert. Da hinten ist ein Computer-Geschäft. Wir gehen da rein." Mahler und Ritzer waren für ihre Verhältnisse gut gekleidet und versuchten seriös zu wirken. Mit Bluejeans und schwarzem Sweatshirt gekleidet sahen die Männer unauffällig aus. In dem kleinen Computerladen war sonst niemand außer dem etwa 40jährigen Geschäftsinhaber, der seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Sein Name war Andreas Nolde. Mahler fragte nach einem Laptop und schaute sich Zubehör in den Regalen an. Robert Ritzer spähte aufmerksam auf die Kasse, die links neben der Eingangstür stand. Fast hätte er in die Ladenkasse gegriffen, um anschließend mit seinem Kumpan das Weite zu suchen. Benno Mahler bemerkte es früh genug und stieß seinen Kumpel wirsch zur Seite. „Lass dass, Robert. Wir müssen hier ruhig bleiben", flüsterte Benno Mahler. „Es fällt mir sehr schwer, Benno! Versteh das doch." Dem Ladeninhaber waren die beiden Männer suspekt. Er hatte ein mulmiges Gefühl und war froh, als die Ladenglocke erklang. Herein kam ein wohlbeleibter hellhaariger Mann. „Hallo Herr Schneider! Ihr Computer ist fertig. Sie können ihn sofort mitnehmen", meldete sich der Mann hinter der Theke.
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„Endlich! Meine Schwiegermutter ist zu Besuch hier und will ins Netz. Meine Frau war schon sauer und wollte........." Schneider unterbrach sich selbst, als er die Situation erkannte. Der Ladeninhaber zitterte und schien Angst zu haben. Angst vor den beiden anderen Kunden im Laden. Blitzgescheit nahm er den Faden wieder auf. „Meine Frau war schon sauer und wollte sich schon bei Ihnen beschweren. Aber ich habe sie beruhigt. Wenn Sie die beiden Herren bedient haben, tragen Sie bitte den Computer in meinen VW." „Selbstverständlich!" erwiderte sein Gegenüber. Die kurzfristig geplante Hilfsaktion des Herrn Schneider ging auf. Die beiden Ganoven verließen ohne Worte das Computergeschäft. Der Verkäufer verschloss die Ladentüre sofort hinter ihnen und bedankte sich bei Herrn Schneider. „Ich glaube, die wollten mich ausrauben. Sie sind genau im richtigen Moment gekommen. Wären Sie fünf Minuten später hier aufgetaucht, die hätten mir bestimmt den ganzen Landen ausgeräumt." „Ja, dass glaube ich auch. Rufen Sie vorsichtshalber die Polizei an. Vielleicht ist es besser, dass in Marienhafe alle Personen aufmerksam sind. Ich habe den Eindruck, die Beiden wollen hier was ausfressen." „Ich rufe gleich bei der Polizei Station an und werde einen Termin vereinbaren." „Machen Sie das. So, jetzt möchte ich aber meine Rechnung zahlen und den PC mitnehmen." Der Ladenbesitzer schloss die Türe auf und der Kunde verließ gedankenverloren den Laden. Was für eine komische Situation. Diese beiden Typen hatten etwas Bedrohliches an sich. Oder hatte er sich nur alles eingebildet? Nein, diese Menschen waren gefährlich. Menschenkenntnis hatte der 131
Mittfünfziger. Darauf konnte er sich Zeit seines Lebens verlassen. Mittwochnachmittag Hotel Breidenbacher Hof, Düsseldorf Der feine Herr saß vor einem runden Holztisch in einem schicken grünen Sessel der weiträumigen Lobby Lounge. Bei einer jungen hübschen Bedienung in grauem Rock und beiger Bluse bestellte er gerade einen traditionellen Afternoon Tea und ein Stück hausgemachte Marzipantorte, als der Mann im blauen Anzug die große Treppe hinaufschritt. In dem großen offenen Raum in der ersten Etage des Düsseldorfer Nobelhotels „Breidenbacher Hof, zwischen Königsallee und Altstadt gelegen, trafen sie sich, wie verabredet. Der Pianist spielte, wie jeden Nachmittag ab 15.00 Uhr, an einem schwarzen Bechstein Flügel, der speziell für den Breidenbacher Hof gefertigt wurde. Die Geschichte des Hotels hat ihren Ursprung im Jahre 1806. Im Jahre 1812 wurde das prächtige Hotel feierlich eröffnet. Zu den berühmten Gästen zählten im Laufe der Jahrhunderte Clara und Robert Schumann, Zar Alexander II., die Prinzen Adalbert, August und Friedrich von Preußen, Herzog Maximilian von Bayern sowie die Filmstars Peter Ustinov, Curd Jürgens und Hans Albers. Am Pfingstsamstag 1943 wurde der Breidenbacher Hof bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Im August 1950 wurde das Prachthotel wiedereröffnet.
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Wegen umfangreicher Sanierungsarbeiten wurde das Nobelhotel 1999 geschlossen. 2004 folgte der Abriss und danach der Wiederaufbau. Im Mai 2008 erleuchtete das Nobelhotel nach 3 Jahren Bauzeit in neuem Glanz. Tradition und Moderne wurden vereint und ließen neun wunderschöne Stockwerke entstehen. Der feine Herr hatte bei der Bedienung, die ihr hübsches helles Haar zu einem Zopf zusammengebunden hatte, eine Zigarre bestellt. Die Cigar Lounge, hinter der herrlichen Capeila Bar gelegen, war schließlich berühmt für ihre große Auswahl. Die Cigar Lounge des Nobelhotels verfügte über 125 Zigarrensorten und über den größten begehbaren Humidor in einem Hotel in Europa. Während das Hotelpersonal über den üppigen Teppich schwebte, um die Gäste fürstlich zu bewirten, lauschte der Anzugträger dem Flügel. Der Pianist war in seinem Element und Caféhausmusik erklang. Der andere Herr setzte sich an den runden Tisch. „Guten Tag, Herr Regierungspräsident!" „Halt die Schnauze, Siegfried! Für dich bin ich immer noch Sebastian. Wir kennen uns fast unser ganzes Leben." „Stimmt, lieber Sebastian. Jetzt bestell erst einmal deinen Tee und ein Stück leckeren Kuchen. Ein voller Magen hebt die Stimmung." „Die Kleine da im grauen Rock reicht mir schon, um meine Stimmung zu heben." „Herrschen hier in Düsseldorf Sitten wie bei dem Regierungschef Italiens? Das Mädchen ist noch in der Lehre und bestimmt noch nicht volljährig." „Halt die Schnauze, Siegfried! Davon hast du eh keine Ahnung. Erst kürzlich habe ich in der Zeitung gelesen, dass Italiens Regierungschef einen Siebzehn133
stundentag hat und sich deshalb mit jungen Mädchen vergnügen muss, um Kraft zu tanken." „Lass uns zum Geschäft kommen. Unser Geheimbund ist in Gefahr. Es ist in letzter Zeit einiges schief gegangen. Ich meine, wir sollten Benno Mahler und Robert Ritzer entsorgen. Sie schaden der Sache und werden lästig. Sie haben ihre Aufträge nicht zu unserer Zufriedenheit erfüllt." „Einverstanden! Nachdem wir in Bensberg so schön getagt haben, ist einiges passiert. Entsorge sie beide und vergiss nicht Moritz Schaller. Der ist dringlicher. Der Schaller weiß möglicherweise zu viel." Die Gesprächspartner wurden unterbrochen. Die blonde Bedienung brachte dem Einen Tee, Torte und Zigarre. Dann fragte sie höflich, ob sie dem anderen Herrn etwas Gutes tun könne. Der etwa fünfzigjährige Mann im blauen Anzug grinste und hätte am liebsten einen lockeren Spruch gemacht, besann sich dann aber. Sein hohes Amt verbot ihm solche Ausrutscher und er bestellte brav Tee und Käsekuchen. Schon nach kurzer Zeit wurde es ihm serviert. „Du stellst dir das so einfach vor. Schaller wird im Remscheider Klinikum von der Polizei bewacht und Benno Mahler und Robert Ritzer sind spurlos verschwunden. Unser Geheimbundmitglied von der Wuppertaler Polizei hat mir außerdem in einer e-mail geschrieben, dass ein gewisser Stadtrat Günter Kronenberg an der alten Säbelschmiede im Morsbachtal war und heute in meine Sprengstofffalle, die ich für Benno Mahler und Robert Ritzer gelegt hatte, getappt ist." „Und, ist er zerfetzt worden?" „Nein, es ist mir zwar unerklärlich, aber er hat es überlebt und ist sogar unverletzt. Ich frage mich, was der wohl in der Schmiede wollte." „Vielleicht wollte der dort nur eine Freundin treffen." 134
„Lass deine dummen blöden Witze, Sebastian. Man ist uns auf den Fersen. Unsere große Vorsitzende hatte Besuch von einem Professor aus Bochum. Der war doch tatsächlich auf Schloss Bensberg und wollte meine Tante ausfragen. Du kennst sie ja. Sie hat ihm direkt ihre Söldner hinterher geschickt. Diese haben ihn aber nicht richtig erwischt. Aus kürzester Entfernung war der Schuss nicht tödlich. Der liegt auch im Krankenhaus und wird von der Polizei bewacht." „Mach dir nicht ins Hemd, Siegfried. Auf uns ehrbare Bürger wird schon keiner kommen. Und sollte uns einer an die Karre pissen wollen, unsere Beziehungen sind doch wohl gut genug. Denk doch nur mal an unsere Freunde vom BND und vom Verfassungsschutz." „Ja, aber als Mitglied der Landesregierung kann ich keine Affäre gebrauchen, Sebastian." „Sei doch vernünftig, Siegfried. Wer sollte schon den guten und ehrgeizigen Landesminister Siegfried von Stronitz und den Regierungspräsidenten Sebastian Rot beschuldigen. Unser Bundmitglied Kohlmeier vom BND würde solche Personen direkt.......na du weißt schon." „Trotzdem, Sebastian. Wir sollten uns nicht ganz in Sicherheit wiegen. Es geht schließlich um einen Goldschatz in unglaublicher Höhe. Das sind mindestens zweihundert Millionen Euro, die da unter dem alten Remscheider Rathaus liegen sollen." „Jawohl, Gold von guten und fleißigen Deutschjuden, die alle nicht mehr leben. Ein Vermögen, das diese vor dem 2. Weltkrieg gerafft haben. Dass die so einen Schatz überhaupt verstecken konnten, ist mir ein Rätsel."
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„Das kannst du sehen, wie du willst. Mein Großvater hat in seinem schönen Haus in der Brüderstraße in Remscheid einige jüdische Geschäftsleute versteckt und draußen lief sein Vetter Julius als Tambomajor der SA-Kapelle vorbei und spielte das Horst-Wessel-Lied. Der Weg in die verborgenen Gänge des Rathauses war ja nicht weit und mein Großvater besaß das Vertrauen der braunen Machthaber." „Ich weiß es doch, Siegfried. Deine Großtante Anna hat in der Nazizeit immer gesagt: „Ich sterbe für Adolf Hitler." „Ja, und mein Opa hat seinem Nazi-Vetter sogar gesagt, wenn er noch einmal mit seiner Nazikapelle das „HorstWessel-Lied" vor seinem Haus spielen würde, würde er ihm seinen blecken Arsch aus dem Fenster halten. Das hat meine Mutter immer erzählt." „Dein Großvater war Remscheider Unternehmer und Kommunist, Siegfried. Das weiß ich von meiner Oma." „Sebastian, wenn unsere große alte Vorsitzende wüsste, dass uns dieser ganze Deutschtumscheiß am Arsch vorbei geht und wir uns nur für das viele Gold interessieren, die würde uns glatt auch umbringen lassen." „Das wird sie nie erfahren. So fanatisch wie die ist, wäre ein falsches Wort sicherlich wirklich töricht." „Was willst du denn jetzt machen? Meinst du nicht, wir sollten den Schatz suchen und schon mal etwas davon holen?" „Nein, Sebastian. Ganz Remscheid ist im Moment in Aufruhr. Im Rathaus geht die Angst um. Diese Rathausmitarbeiter, die meine Tante erpressen wollten, haben, obwohl sie nur Kleinigkeiten über unsere Sache wussten, viel Staub aufgewirbelt. Wir müssen erst Ruhe in die Stadt be136
kommen. Wir müssen außerdem erst das Rätsel lösen, damit wir den Schlüssel zum Geheimgang finden." „Da hast du Recht. Deine Tante würde uns eh nicht erlauben, einfach von dem Gold zu nehmen, und nur wenn Ruhe ist, können wir den Schatz ungestört bergen." „Aber Ruhe bekommen wir nur, wenn wir diesen Moritz Schaller entsorgen." „Siegfried, das ist deine Aufgabe. Du bist der Fachmann für Entsorgungsfragen. Du sitzt doch hoffentlich nicht umsonst im Aufsichtsrat der städtischen Entsorgungsbetriebe. Versuche, dem Schaller eine Nachricht ins Krankenhaus zu übermitteln. Biete ihm einen Teil des Schatzes an. Der wird schon anbeißen, und dann entsorgst du ihn." „Ich werde es versuchen. Das ist eine schwierige Aufgabe." „Okay, mein Freund! Ich muss zurück an meinen Dienstort. Der Stadt-Kämmerer von Solingen will mich sprechen. Grüße mir unsere Vorsitzende." Der Mann im blauen Anzug schlürfte noch einen Schluck Tee, stand auf und ging die Treppe hinunter. Er blickte einen Moment vorbei an der Rezeption auf den mächtigen flackernden Kamin am Ende der Empfangshalle, passierte die große Drehtüre des Hotels Breidenbacher Hof, stieg in seinen dunklen Dienstwagen, der direkt vor dem Hoteleingang auf ihn wartete, und brauste davon. Den Hoteldiener sowie den Security-Mann, die vor dem Eingang standen, beachtete er nicht. Er war schon mit seinen Gedanken in seinen Job vertieft. Er war sehr beschäftigt.
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Mittwochnachmittag Remscheid-Morsbachtal Die Durchsuchung der Wohnung von Benno Mahler brachte den Ermittlern keine neuen Hinweise. Auch in der alten Säbelschmiede wurden keine erhellenden Hinweise gefunden. „Wo sind Benno Mahler und Robert Ritzer wohl abgeblieben?", fragte der nervöse Hauptkommissar Alexander Neudorf und ergänzte: „Wir fahren ins Sana-Klinikum und knöpfen uns diesen Moritz Schaller vor. Der soll uns sagen, was er weiß." Kommissar Klaus Ritzer war so freundlich und fuhr meinen SLK zurück zu meinem Wohnquartier in RemscheidKremenholl. Dort angekommen ließ er sich vom hinterher fahrenden Hauptkommissar Neudorf abholen, um weiter ins Klinikum zu fahren. Das Verhör von Moritz Schaller stand schließlich an. Ich hatte rasende Kopfschmerzen und legte mich auf mein graues Wohnzimmersofa. Nach einer kurzen Zeit schlief ich ein. Wach wurde ich erst mitten in der Nacht. Der Klingelton meines Fax weckte mich. Sicher wieder eines dieser blöden nächtlichen Werbefaxe. Was war es diesmal? Günstige Gummibäume? Dubiose Finanzanlagen? Angebliche Glücksspielgewinne? Ich hasste diese Faxe. Ich war wach und merkte, dass ich noch komplett angezogen war. Im Halbschlaf ging ich durch das Esszimmer und erreichte den Hausflur. Ich schwankte die steile Holztreppe hoch in den ersten Stock, ging noch kurz auf die Toilette, putzte schnell meine Zähne und zog mich aus. Ich stolperte in mein Bett 138
und knipste noch den Lichtschalter aus, bevor ich in meinen Träumen lag und tief und fest einschlief.
Mittwochnachmittag Sana-Klinikum Die Chefermittler der Sonderkommission „Rathausmörder" fuhren am neu gestalteten Remscheider Hauptbahnhof vorbei durch die Unterführung zur Bismarckstraße, vorbei am Vaillant-Platz am Zentralpunkt über die Burger Straße. Hinter dem modernen Parkhaus des Krankenhauses bogen sie links ab. Die Notfallambulanz ließen sie rechts liegen und erreichten schließlich den Haupteingang, vor dem Patienten standen, die ihre Lungen mit Zigarettenqualm fütterten. Hauptkommissar Alexander Neudorf, der am Steuer des Dienstwagens saß, scherte sich wie immer einen Dreck um das Parkverbotsschild, das auf dem kleinen Vorplatz vor dem Haupteingang des Klinikums stand. Die beiden Herren stiegen aus, und mit lautem Knallen warfen sie die Autotüren zu. Sie waren gereizt. Erst die freundliche Stimme der Dame an der Information brachte sie etwas runter. Zielstrebig gingen Alexander Neudorf und Klaus Ritzer dem Krankenzimmer entgegen, in dem der Rathausmitarbeiter Moritz Schaller lag. Vor dem Zimmer saß ein Polizist in Uniform. Er stand auf, als er die Kriminalbeamten kommen sah. Ein kurzer Blick reichte. Ohne anzuklopfen öffneten sie die Türe. Schaller lag im Bett und hatte eine Ausgabe des Magazins Focus vor seiner Nase. Als er die Ermittler erhaschte, legte er seine Lektüre zur Seite. 139
„Guten Tag, Herr Schaller! Wie geht es Ihnen?" „Es geht so, Herr Hauptkommissar." „Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Sind Sie in der Lage dazu, sie zu beantworten?" „Das kommt auf die Fragen an, Herr Hauptkommissar." „Gut, dann wollen wir mal loslegen. Ich schalte jetzt ein Aufnahmegerät ein, okay?" „Von mir aus. Aber ins Radio möchte ich damit nicht." „Ist schon gut, Herr Schaller. Sagen Sie mir Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum." „Ich heiße Moritz Amadeus Schaller, geboren am 24.06.1970 in Weimar, Thüringen." Warum waren Sie am vergangenen Montag im Remscheider Rathaus?" „Ich wollte etwas aus meinem Büro holen." „Was wollten Sie dort holen?" „Mein Adressbuch, ich habe mein Adressbuch gesucht. Es lag in meinem Büro auf meinem Schreibtisch." „Warum haben Sie ihr Adressbuch im Büro gelassen?" „Das hatte ich schlichtweg aus meinem Büro vergessen mitzunehmen. Die Adresse meines Großonkels in Bielefeld 140
habe ich gesucht. Der hat doch heute Geburtstag, und ich wollte ihm schreiben." „Sie haben am Montagabend gesagt, Sie würden auspacken. Was wissen Sie über den Fall, Schaller? Reden Sie endlich. Wegen Ihrer Täterbeschreibung läuft eine bundesweite Fahndung. Aufgrund der Zeichnung hat ein Mann den Täter erkannt. Er heißt Benno Mahler. Mahler ist wahrscheinlich mit seinem Freund Robert Ritzer flüchtig. Was wissen Sie über diese Beiden? Reden Sie endlich, Schaller. Sie wären fast zu Tode gekommen am Montag." „Ich bin dem Teufel von der Schippe gesprungen, Herr Hauptkommissar. Erst kürzlich wäre ich beinahe bei einem Brand meiner Wohnung in Hückeswagen verbrannt. Ich konnte mich in letzter Sekunde retten, lag jedoch bis Montagmorgen im Krankenhaus." „Ach, dann waren Sie das? Ich habe den Bericht über die Brandstiftung in Hückeswagen gelesen. Mensch Schaller! Wissen Sie eigentlich, in welcher Gefahr Sie schweben? Der Brandanschlag in Hückeswagen hängt sicherlich mit diesem Fall zusammen." „Das kann sein, muss aber nicht sein. Oder haben Sie Beweise dafür?" „Nein, aber ich mache dieses Geschäft nicht erst seit gestern. Da will Sie jemand aus dem Weg räumen. Genau wie Ihre Kollegen. Mausetot will man Sie machen. Reden Sie Schaller. Packen Sie doch endlich aus!" „Ich weiß aber nichts, Herr Hauptkommissar. Ich finde es ja auch merkwürdig. Meine Kollegen waren einer großen Sache auf der Spur, aber ich weiß von nichts." 141
„Dann ist Ihr Name wohl Hase, wie?" Alexander Neudorf lief jetzt rot an und war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Klaus Ritzer übernahm in diesem Moment geschickt das Verhör. „Herr Schaller! Hat Ihnen einer Ihrer Kollegen einmal etwas angedeutet? Wir brauchen Hinweise darauf, warum im Rathaus diese abscheulichen Taten begangen worden sind." „Nein, ich weiß nichts. Mein verstorbener Kollege Rüdiger Fritsche....." „Ihr ermordeter Kollege Rüdiger Fritsche, Herr Schaller!" Hauptkommissar Alexander Neudorf übernahm wieder. „Mensch, Schaller! Machen Sie doch endlich den Mund auf. Sie wissen doch mehr als Sie sagen. Haben Sie noch nicht gemerkt, dass das hier kein Spiel ist? Hier sind eiskalte Mörder am Werk. Benno Mahler und Robert Ritzer sind sicher nicht alleine ans Werk gegangen. Das sieht mir hier alles nach System aus. Hier hat jemand Interesse, Leute, die zuviel wissen, eiskalt und ohne Skrupel aus dem Weg zu räumen. Hängen Sie nicht an Ihrem Leben, Schaller?" „Doch, doch! Natürlich hänge ich an meinem Leben. Ich habe noch viel vor." „Bitte erzählen Sie uns genau, was Sie wissen. Jeder kleinste Hinweis kann Licht in dieses Puzzle bringen."
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„Gut, Herr Hauptkommissar. Mein Freund Rüdiger Fritsche und ich haben nach Bauplänen gesucht. Baupläne, die das Remscheider Rathaus betreffen. Allerdings haben wir sie nicht gefunden." „Nicht gefunden, sagen Sie? Und trotzdem mussten Rüdiger Fritsche und Heinz Bohl sterben? Sie, Herr Schaller, sind nur mit Glück dem Rathausmörder entkommen. Sie sind extrem gefährdet. Meinen Sie, der Beamte vor der Tür sitzt da nur so zum Spaß?" „Verzeihen Sie, Herr Hauptkommissar. Ich bin sehr müde und muss jetzt schlafen. Das ist alles etwas zu viel für mich." „Wie Sie meinen, Schaller. Wir kommen wieder." Das Verhör war beendet. Moritz Schaller hatte es verstanden, die Ermittler an der Nase herum zu führen. Er gab sein Wissen nicht preis, er wollte schließlich etwas verdienen an der Sache. Mittwochnachmittag Rathaus Remscheid Erika Zacker war in vielen Büros gewesen und hatte Informationen gesammelt. Der Flurfunk im Rathaus enthielt eine Vielzahl von Gerüchten. Rathausmitarbeiter mutmaßten sogar, Baudezernent Schulze-Neumann wäre auf der Autobahn nicht verunglückt, sondern er wäre umgebracht worden. Alle waren nervös. Ja, viele hatten sogar Angst. Die Beamten und Angestellten, ja auch die Politiker hatten ein mulmiges Gefühl, wenn sie das Rathaus betraten. Ganz schlimm wurde es, wenn die Dunkelheit herein brach. Beim 143
kleinsten Geräusch erschrak man. Solange der Fall nicht aufgeklärt werden würde, fände man keine Ruhe. Was war doch in so kurzer Zeit aus dieser ansonsten so sicheren Großstadt geworden. Ein Ort des Schreckens, an dem Mörder ungehindert ihre schmutzige Arbeit verrichten konnten. Die Polizei bemühte sich zwar, aber noch kein Verbrecher war hinter Schloss und Riegel gekommen. Wie unheimlich wirkten doch diese ansonsten so wunderschönen Rathausgänge. Die Angst ging um. Ja, die Angst ging um. Keiner traute dem Anderen. Wer war gut und wer war böse? Es wurde Zeit. Das Rätsel musste gelöst werden. Erika beschloss, Moritz Schaller im Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Donnerstagmorgen Schloss Bensberg Die ehrwürdige alte Dame griff in ihrem luxuriösen Hotelzimmer zum Telefonhörer. „Siegfried, bist du am Telefon?" „Ja, Tante! Was gibt es denn? Ich muss gleich im Ministerium sein. Ich habe ein Meeting mit der Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes." „SAG WAS DU WILLST KURZ UND BESTIMMT LAß ALLE PHRASEN FEHLEN." „Liebe Tante! Was willst Du mir heute Morgen auf den Weg geben?" 144
„WER NUTZLOS UNSERE ZEIT UNS NIMMT BESTIEHLT UNS UND DU SOLLST NICHT STEHLEN. SAG WAS DU WILLST KURZ UND BESTIMMT LAß ALLE PHRASEN FEHLEN." „Was ist los, Vorsitzende des geheimen Bundes?" „WER NUTZLOS UNSERE ZEIT UNS NIMMT BESTIEHLT UNS UND DU SOLLST NICHT STEHLEN." „Entweder bin ich heute Morgen begriffsstutzig oder du hast eine verschlüsselte Botschaft für mich." „Denke an die Inschriften an dem großen Rathauspfeiler. Sie sind der „Schlüssel" zu unserem Geheimgang. In der letzten Nacht ist es mir eingefallen. Wo wird am meisten dummes Zeug geredet? Im Ratssaal natürlich. Der Hinweis zum Geheimgang ist im Großen Sitzungssaal versteckt. Dort müssen wir ihn suchen. Baudezernent Schulze-Neumann hatte immer diese dummen verdammten Rathausinschriften auf den Lippen. Wir müssen ins Remscheider Rathaus fahren und dort im Ratssaal nach dem Schlüssel zu unserem Gold suchen." „Wie stellst du dir das vor? Im Moment kann doch wirklich keiner von uns ins Rathaus gehen. Das ist viel zu gefährlich. Außerdem ist doch der Ratssaal im 2. Weltkrieg durch die Bombennacht zerstört worden" 145
„Man kann, mein Junge. Man kann. Wir müssen altes Bildmaterial ausfindig machen. Vielleicht finden wir im Stadtarchiv alte Bilder vom Ratssaal."
Wer soll denn deiner Meinung nach den Schlüssel im Rathaus suchen und wer soll ins Stadtarchiv fahren? Ich vielleicht?" „Nein, mein Junge. Ich werde höchstpersönlich danach suchen. Meine Zeit ist gekommen." „Bitte warte damit, bis sich die Lage beruhigt hat. Wir könnten alle auffliegen." „Pah, du hast wohl Angst was? Nimm dir ein Beispiel an mir. Ich werde an den Ort unserer Verheißung gehen und den Schlüssel finden. Ich werde die Tür zum Geheimgang öffnen, so wie es in der Prophezeiung steht. Du hast doch das Orakel mit den zehn Sprüchen gelesen, oder? Ich berge den Goldschatz unter dem Rathaus und..." „Ja, Tante! Ich kenne den Inhalt: 1. Die Kaiserköpfe bewachen den Goldschatz der Deutschjuden. 2. Da, wo Eidechsen den Eingang bewachen, liegt der Schatz tief in der Erden. 3. Dort, wo der hohe Rat tagt, findest Du die Lösung und das Licht. 4. An der höchsten Stelle des Stadtkegels wirst du das Gold ernten.
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5. Eine Herrin wird den Schlüssel im neuen Jahrtausend finden, die früher an diesem Orte hat gespielt. 6. Gründet einen Bund und haltet ihn geheim. 7. Wer sich in euren Weg stellt, den sollet ihr vernichten. 8. Sag, was du willst, kurz und bestimmt, lass alle Phrasen fehlen. 9. Wer nutzlos unsere Zeit uns nimmt, bestiehlt uns, und du sollst nicht stehlen. 10. Findest du den Schatz, hüte dich vor dem Gift der Echsen. Du siehst, ich habe gut aufgepasst. Ich kenne die Prophezeiung auswendig und ich habe wie du die Köpfe der Kaiser unter meinem rechten Arm eintätowiert. Du kannst dich also auf mich verlassen." „Das will ich hoffen, Junge. Wer zu mir hält, wird Gold ernten. Wer mich verrät, wird des Todes sein". „Ich muss jetzt zu meinem Termin, Tante." „Ja, mein Junge. Vergiss nicht, dass du nur durch mich Minister geworden bist. Ohne unseren Bund würdest du immer noch im Düsseldorfer Verwaltungsgericht deinen Richterdienst tun." „Wie könnte ich das vergessen. Du sagst es mir doch fast jeden Tag aufs Neue. Bis später. Ich hab dich lieb." „Bis später, mein Junge."
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Donnerstagnachmittag Sana-Klinikum Paul-Uwe und Erika hatten sich telefonisch abgesprochen und trafen sich auf dem offenen Parkdeck des Klinikums an der Burger Straße in Remscheid. An der Information erkundigten sie sich nach Dieter Kaisers und Moritz Schaller. Auch nach wiederholter Nachfrage bekamen sie keine Antwort. In diesem Moment betrat ich den Eingangsbereich des Krankenhauses. „Gebt euch keine Mühe. Zu Moritz Schaller kommt ihr nicht. Neudorf lässt keine Fremden zu ihm." „Guten Tag, Günter. Dann lass uns zu Dieter gehen. Der Arme ist bestimmt sehr alleine ohne seine Dackel", antwortete Erika. „Ja, die Dackel. Wie geht es den zwei Vierbeinern überhaupt?" „Die toben sich in meinem Haus aus", erwiderte Paul-Uwe und grinste dabei. „Dann gehen wir mal zu Dieter und muntern ihn ein wenig auf. Der hat bestimmt höllische Schmerzen nach seiner Operation." Wir nahmen den Fahrstuhl und waren so schnell vor Dieters Zimmer. Der Polizist, der auf dem Gang saß, kannte mich und ließ uns passieren. Dieter freute sich über unseren Besuch und erzählte, noch etwas geschwächt, von der guten Pflege und Fürsorge im 148
Klinikum, die ihm bisher widerfahren war. Wir freuten uns über seinen Zustand. Er konnte zwar nur liegen, es machte aber alles den Anschein, als wäre er auf dem Weg der Besserung. „Hier gibt es wirklich hübsche Krankenschwestern und süß sind die auch", schwärmte der kranke Patient. Wir erzählten viel. Wir sprachen über Politik, Fernsehen, Dackel und gutes Essen. Natürlich sprachen wir auch über den noch zu lösenden Fall. Dieter blieb meist stumm. Das Reden war noch zu anstrengend für ihn. Als eine Krankenschwester das Abendessen brachte, machten wir uns auf die Socken. Auf Drängen von Paule rief ich noch Hauptkommissar Alexander Neudorf an. Auf meine Frage, ob es neue Spuren im Fall „Rathausmörder" gäbe, reagierte Neudorf mit einem unterkühlten „Nein". Dann legte er einfach den Hörer auf. Erika, Paule und ich kamen und ziemlich behämmert vor. Wir schworen uns, sollten wir schneller als die Polizei die Gangster dingfest machen, würden wir Neudorf an der Nase herum führen und uns für sein Verhalten rächen.
Freitagmorgen Düsseldorf-Seestern
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Als ich gegen 11.00 Uhr in mein Büro gekommen war, überfielen mich meine Mitarbeiter mit Arbeit. Anastasia tippte hektisch auf ihrer Computertastatur herum, trank wieder ihren Kaffee aus ihrer Schweinstasse und aß Süßigkeiten. Mia saß in meinem Büro vor ihrem kleinen Schreibtisch und telefonierte mit einem unserer Mitarbeiter in Berlin. Mein Geschäftsführer unterhielt sich mit meinem Einsatzleiter über die nächsten Einsätze. Auf den Besuchersesseln vorne saßen zwei meiner Personenschützer, die mit den Büromitarbeitern etwas abzuklären hatten. Die Unterschriftenmappe war richtig überfüllt mit Schriftstücken, die ich noch unterschreiben sollte. Für die folgende Woche hatten sich zudem Staatsgäste aus Afrika angesagt, für die ich noch einiges erledigen musste. Ununterbrochen klingelte das Telefon, und mein jüngerer Bruder kam zur Tür herein und hatte Gesprächsbedarf. Ich beschloss kurzerhand, mit ihm ins NIKKO-Hotel zu fahren. Ich hatte noch ein wichtiges Gespräch mit dem Hotelmanager zu führen und konnte so die Zeit im Auto dazu nutzen, mit meinem Bruder Oliver zu reden. Wir unterhielten uns über die Familie und das Geschäft. Wir fuhren über die Rheinbrücke und erreichten die Immermannstraße. Ich fuhr eine kurze Zeit geradeaus und bog rechts ab auf den kleinen Parkplatz neben dem Hotel. Wir gingen durch die geöffneten Glastüren zur Hotellounge und trafen schon auf den Direktor. Mein Bruder bestellte bei der dunkelhaarigen Bedienung Kaffee, Apfelkuchen und Sahne. Ich bestellte eine Weißweinschorle. Der Hotel-Direktor trank Cappuccino. Gerade als ich mein Glas erheben wollte, klingelte mein Handy. „Hallo Günter! Paule am Telefon. Willst du morgen mit ins Theater? Die Bergischen Symphoniker spielen morgen Abend im Stadttheater und ich habe noch eine Karte über." „Von mir aus. Aber ich möchte dann an150
schließend noch irgendwo ein Bier trinken gehen." „Warum nicht. Sollen wir in den Ratskeller gehen?" „Ja, warum eigentlich nicht. Lass uns am Samstagnachmittag Dieter im Krankenhaus besuchen. Der ist bestimmt froh, wenn er etwas Aufmunterung erfährt." „Okay, dann bis morgen." Das Wochenende verbrachte ich ohne erwähnenswerte Vorkommnisse. Dieter war richtig froh, von Paule und mir etwas bespaßt zu werden. Im Remscheider Teo Otto Theater konnte ich wunderbar entspannen und traf auch viele Bekannte. Kunden, Stadträte, die liebenswerte Frau Bernack, meinen Zahnarzt Dr. Briller und viele andere. Die Musik war Spitzenklasse und die Symphoniker bekamen donnernden Applaus. Anschließend im Ratskeller tranken Paule und ich einige Biere und mussten danach per Taxi zu unseren jeweiligen Heimstätten gebracht werden. Auch der Sonntag brachte keine Neuigkeiten. Ich arbeitete an meinem Computer und fuhr am Nachmittag in mein Düsseldorfer Büro. Langweilig wurde es mir eigentlich nie. Am Abend saß ich wieder alleine in meinem Haus und arbeitete etwas. Meine Gedanken waren mit dem Fall des Rathausmörders beschäftigt. Die letzte Woche hatte mich ziemlich geschlaucht. Was wäre wohl gewesen, wenn ich nicht diese Eingangstüre zur Säbelschmiede so vorsichtig aufgemacht hätte? Der Sprengstoff hätte mich möglicherweise zerfetzt oder zumindest entstellt. Die Verbrecher waren zu allem bereit, und ich hatte richtig Glück gehabt. Ich musste sie schnell fassen. Diesen skrupellosen Typen musste das Handwerk gelegt werden.
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Montagmorgen Sana-Klinikum Moritz Schaller ging unter Aufsicht des Polizeibeamten, der zu seiner Sicherheit abgestellt wurde, zum Ultraschall. Dort angekommen musste er warten. Schaller dachte über seine Situation nach. Wie sollte er weiter leben? Was sollte er den Ermittlern der Mordkommission sagen und was nicht? Auch wenn die Beweisunterlagen in seiner Wohnung verbrannt waren, er hatte sich doch einiges in seinem Kopf eingeprägt. Er wusste von der Theorie eines Goldschatzes tief unter dem Remscheider Rathaus. Was hatten die komischen Schriften zu bedeuten, die er aus dem Rathaus mitgehen ließ? Warum mussten wegen dieser Schriften zwei Menschen sterben? Eine Herrin wird den Schlüssel im neuen Jahrtausend finden, die früher an diesem Orte hat gespielt. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer steckte hinter all den mysteriösen Vorkommnissen? Welche Macht hatte hier ihre Finger mit im Spiel? Eine Herrin wird den Schlüssel im neuen Jahrtausend finden, die früher an diesem Orte hat gespielt.
Schaller war so tief mit der Sache beschäftigt, dass er weder merkte, dass er leise vor sich hin murmelte noch dass die Krankenschwester ihn aufrief.
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Montagmorgen Sana-Klinikum Dieter machte Fortschritte. Die Operation war in der letzten Woche gut verlaufen und langsam bekam er neuen Lebensmut. Besonders die junge Schwester Angie, die sich rührend um ihn kümmerte, trug maßgeblich dazu bei. Die vielen Aufmunterungen des blonden Mädchens bauten ihn auf, und er hatte sogar einen regen Appetit. Als er an diesem Sonnentage beim Ultraschall war, bemerkte er einen Mann mit auffallend tiefen Augenrändern. Der Mann hatte einen Polizisten im Schlepptau und redete leise vor sich hin. „Eine Herrin wird den Schlüssel im neuen Jahrtausend finden, die früher an diesem Orte hat gespielt", murmelte der Mann. Dieter überlegte und kam zu der Feststellung, dass der Mann nur Moritz Schaller sein könne. Wer sollte auch sonst zufällig mit Polizeibegleitung im Sana-Klinikum sein? Schaller, der Rathausmitarbeiter, der eine Verfolgungsjagd quer durch das Remscheider Rathaus mit Glück überlebt hatte. Von dem Erika und Paule immer erzählten, wenn sie Dieter besuchten, ihn eigentlich nicht aufregen wollten, aber immer wieder von neuem auf das Thema „Rathausmörder" kamen. Dieter war das ja auch ganz angenehm. So konnte er sich ablenken, und es wurde nicht so viel über seine Schussverletzung geredet. Was sagte der Schaller da immer? „Eine Herrin wird den Schlüssel im neuen Jahrtausend finden, die früher an diesem Orte hat gespielt." War dieser Schaller verrückt geworden oder hatte er von diesem Rathausmitarbeiter vielleicht unbewusst einen 153
wichtigen Hinweis erhalten? Dieter beschloss, seinen Freunden davon zu erzählen. Montagmittag Sana-Klinikum Als ich an diesem Morgen beschloss, Dieter im Krankenhaus zu besuchen, wusste ich nicht, dass wir an diesem Tage einen wichtigen Schritt im Fall „Rathausmörder" machen sollten. Ich hatte ein neues Fahndungsfoto dabei, auf dem Benno Mahler und Robert Ritzer abgebildet waren. Dieter war gar nicht mehr blass und schwärmte von einem Schatz von Krankenschwester. Ich sollte sie unbedingt kennen lernen und musste fast eine Stunde warten, bis ich sie zu Gesicht bekam. „Das ist Schwester Angie, sozusagen der gute Geist des Klinikums", schwärmte Dieter und die großen Augen der Krankenhausbediensteten leuchteten. „Ja, ja. Der Herr Professor Kaisers. Sie sind ja ein Charmeur. So einen Mann wie Sie wünsche ich mir", trällerte die langhaarige Schönheit in den Raum. „Aber dreißig Jahre jünger, oder?", frotzelte Dieter zurück. Als Schwester Angies Blick auf die Fahndungstotos fiel, die auf dem Krankenbett lagen, erschrak sie und wurde leichenblass. Dicke Tränen liefen ihr auf einmal über ihre roten Wangen und sie schluchzte laut. Ich erwachte nach einem kurzen Moment der Erstarrung und ging zu ihr. 154
„Was ist mit Ihnen? Hat einer der Kerle Ihnen einmal was angetan?" „Nein, der Benno ist doch mein Bruder!" Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, fing sie bitterlich an zu weinen. Dieter redete tröstend auf das Mädchen ein, und nach einer Weile fing sie sich. Mit verweinten Augen saß da doch tatsächlich die süße Schwester des Rathausmörders Benno Mahler auf Dieters Krankenbett. „Wann haben Sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen?", fragte ich bestimmend, aber in ruhigem Tonfall. „Am vorletzten Wochenende, glaube ich. Mein Bruder hatte einen Unfall mit einem Wildschwein, und da hat er mich mitten in der Nacht angerufen. Ich bin dann sofort zum Unfallort gefahren." „Wo war das denn? Wo sind sie hingefahren?" „Bennos Wagen hatte sich um einen Baum gedreht. Das war auf der Landstraße zwischen Bergisch Born und Hückeswagen passiert. Der Robert Ritzer war verletzt. Den habe ich noch verarztet." „Und dann? Haben Sie ihren Bruder und Robert Ritzer zum Arzt gefahren?" „Nein, wo denken Sie hin. Mein Bruder musste zur Arbeit. Ich habe ihn in Hückeswagen abgesetzt und seinen verletzten Kumpel habe ich in Bennos Wohnung in Remscheid-Morsbach gebracht. Das war eine lange Nacht für mich." „Aha. Wo hat Ihr Bruder denn in Hückeswagen gearbeitet? Sie sagten eben, mitten in der Nacht, oder?" „Das weiß ich leider nicht. Benno erzählt eh wenig, und da ist man schon froh, wenn man hört, dass der überhaupt arbeitet."
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„Wissen Sie, dass in der Nacht, die Sie beschreiben, in Hückeswagen ein Haus gebrannt hat?" „Nein, weiß ich nicht. Hat Benno etwa damit was zu tun?" „Keine Ahnung. Vielleicht." „Sind Sie von der Polizei? Warum fragen Sie soviel?" „Von der Polizei bin ich nicht, aber ich ermittle in dem Fall trotzdem. Wissen Sie, wo sich Ihr Bruder im Moment aufhält?" „Nein, aber er hat sich von mir 500 Euro geliehen, weil er in Urlaub fahren wollte." „Ich gebe Ihnen jetzt meine Visitenkarte. Wenn Ihnen etwas einfällt oder wenn sich Ihr Bruder bei Ihnen meldet, rufen Sie mich bitte sofort an. Wir müssen die beiden Männer schnell finden, bevor sie noch mehr Unheil anrichten." Die Krankenschwester richtete sich an Dieter: „Herr Professor, hat mein Bruder versucht, Sie zu erschießen?" „Das weiß ich nicht. Aber das glaube ich nicht." Dieter nahm die Hände von Angie Mahler und drückte sie zärtlich. Er hatte viel Verständnis für das Mädchen und tröstete sie. Ich ging gedankenverloren aus dem Krankenzimmer. Als ich das Parkhaus vor dem Klinikum erreichte, war es dunkel geworden. Schneeregen flog gegen meine Fensterscheibe, und der Sensor setzte meinen Scheibenwischer in Gang.
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Ich fuhr meinen SLK in Richtung Innenstadt, als mein Geschäftsfreund Thorsten Schneider anrief und mir vom Rollhockeyspiel des Vereins I.S.O. Remscheid erzählte, das am Vortag stattgefunden hatte. „Das war ein tolles Spiel. Da hast du aber was verpasst. Warum warst du nicht in der Sporthalle?" „Ich beschäftige mich gerade mit den Rathausmorden. Da habe ich keine Zeit für Sport." „Ja, das ist eine schlimme Geschichte. Gut, dass ich in dieser Stadt nur noch arbeite und am Wochenende in meinem Haus an der See bin." „Da ist es bestimmt ruhiger, Thorsten!" „Eigentlich schon, aber letzten Mittwoch bin ich im beschaulichen Marienhafe in eine komische Situation geraten. Ich war in einem Computerladen in der Nähe des Störtebeker-Turms und da hatte der Ladenbesitzer richtige Angst vor so zwei Typen. Ich glaube, die wollten den ausrauben. Die sind aber abgezogen, weil ich da war und sie so gestört habe. Aber Einheimische waren das nicht." „Schlimm, schlimm. So was in Marienhafe." „Ja, du kannst mir glauben was du willst, von ihrer Aussprache hörten die sich so an wie Leute aus unserem bergischen Remscheid. Das war wirklich komisch. Vielleicht habe ich mir das aber auch nur einfach eingebildet....." Ich bekam ein komisches Gefühl. „Thorsten, es klingt vielleicht verrückt, aber sieh dir bitte einmal im Internet Bilder an. Auf der Seite der Polizei Wuppertal findest du 2 Gangster, die im Zusammenhang mit den Rathausmorden gesucht werden. Vielleicht ist das Spinnerei, aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Es könnte doch sein dass..." „Wenn es dich beruhigt bleib dran, ich schaue direkt nach."
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„Das wäre schon ein großer Zufall, aber ich habe herausgefunden, dass dieser Robert Ritzer und Benno Mahler angeblich in Urlaub gefahren sind. Warum nicht ins schöne Ostfriesland?" „Warte noch etwas. Ich habe die Seite noch nicht offen. So, jetzt geht's los. Das gibt es doch nicht! Das sind die Kerle. So ein Wahnsinn. Da laufen mir in meinem geliebten Marienhafe ausgerechnet Gangster aus meiner Heimatstadt in die Arme." „Bist du dir da auch ganz sicher? Schau dir die Bilder ganz genau an." „Also blind bin ich noch nicht. Wenn ich dir sage, ich habe die Männer in Marienhafe gesehen, dann ist das auch so." „Ist ja schon gut. Ich glaube dir ja. Das ist aber echt Zufall." „Was willst du jetzt machen, Günter?" „Das will ich dir sagen. Mach dich fertig. Wir fahren nach Ostfriesland. Noch heute. Ich hole dich direkt in deiner Firma ab." „Moment, Moment! So einfach geht das nicht. Ich bin heute Morgen erst aus Marienhafe angereist und muss bis Freitagmittag hier in Remscheid arbeiten. Warum hast du es denn so eilig?" „Das kann ich dir sagen. Wegen den Typen wäre ich fast an der Gockelshütte in die Luft geflogen." „Nein, du machst schlechte Witze, Günter." „Leider nicht, Thorsten. Mit diesen Kerlen ist nicht zu spaßen. Die schrecken vor nichts zurück. Das sind eiskalte Verbrecher. Die haben so einige Taten auf dem Kerbholz." „Ich kann jedenfalls nicht mit. Ich muss hier arbeiten." „Gut, dann nehme ich meinen alten Kumpel Werner mit. Der ist schon in Rente und hat bestimmt Zeit."
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„Kennst Du ein Hotel in Marienhafe?" „Nein, aber ich werde dich bei Freunden anmelden. Die haben im Ort ein schönes Haus mit tollen Ferienwohnungen. Wie lange willst du denn da bleiben?" „Das kann ich dir sagen. Ich bleibe solange in Marienhafe, bis ich die Kerle erwischt habe. Aber halt, Kommando zurück. Morgen ist Dienstag. Ich muss erst meinen Sozialausschuss leiten. Der tagt morgen, und da muss ich hin. Der wird gegen 19.00 Uhr aus sein. Danach fahre ich sofort los. Vorher geht es nicht." „Du und Deine Politik. Da hast du dir auch was mit angetan. Anstatt mit meinen Freunden und mir einmal einen Bootsausflug in Holland zu machen, hängst du immer im Rathaus rum. Hast du nichts Besseres zu tun?" „Du weißt doch wie das ist. So einfach aufhören ist gar nicht so einfach. Obwohl ich schon öfters darüber nachgedacht habe. Man hat doch immer viel Ärger." „Okay, Günter. Es ist wie es ist. Ich bestelle die Ferienwohnung in Marienhafe für morgen Abend. Soviel ich weiß, ist noch was frei." „Danke Thorsten. Rede bitte mit keiner Person darüber. Nicht, dass die Gangster vorgewarnt sind." „Geht in Ordnung. Viel Glück Günter." Ich fuhr nach Hause, stellte den Wagen in die Garage, kochte mir einen Pfefferminztee und schaute mir meine Sitzungsunterlagen an. Dienstag war schließlich Ausschuss 159
und da musste ich die Tagesordnung, die ich selbst mit Mitarbeitern der Stadtverwaltung aufgestellt hatte, noch einmal durchschauen. Ich war müde. Der nächste Tag würde anstrengend werden. Nach einem langen Arbeitstag, Ausschusssitzung und Ermittlungen im Fall Rathausmörder musste ich noch die lange Strecke nach Ostfriesland fahren. Ich rief Werner an. „Hallo Werner, Günter am Apparat! Hast du morgen schon was vor?" „Günter Kronenberg! Lange nichts mehr von dir gehört. Was hast du auf dem Herzen?" „Ich möchte morgen Abend nach Marienhafe fahren. Du bist doch jetzt in Rente. Hast du Lust mitzufahren?" „Wo liegt denn Marienhafe und was willst du da?" „Die Stadt liegt in Ostfriesland und was ich da will, erzähle ich dir alles noch morgen im Auto." „Wie lange willst du denn da bleiben? Ich muss noch in den Schützenverein." „Ich möchte nicht lange bleiben. Vielleicht ein oder zwei Nächte. Du mit deinem Schützenverein. Wenn du mit mir fahrst, wird es richtig spannend. Also, fährst du mit?" „Wenn es so spannend wird wie bei diesem komischen Sportverein in der Nähe von Hannover, wo wir mitten in der Nacht erst zu unserem Tagesordnungspunkt gehört wurden und uns beschimpfen lassen mussten, dann gute Nacht." „Ach Werner, fährst du nun mit oder nicht? Du hast doch eh Zeit ohne Ende." „Na gut, wann holst du mich ab? Ich habe ja kein Auto."
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„Ich muss morgen den städtischen Sozial- und Gesundheitsausschuss leiten. Ich schätze, ich bin gegen 19.00 Uhr fertig. Gegen 20.00 Uhr bin ich bei dir. Okay?" „Du willst so spät nach Ostfriesland fahren. Wir fahren doch bestimmt drei bis vier Stunden." „Ja! Ich kann leider nicht früher losfahren. Aber ein Kumpel von mir hat eine Ferienwohnung für mich reserviert. Da brauchen wir nicht pünktlich zu sein." „Gut, wenn die Vermieterin noch nett aussieht, bin ich zufrieden." Werner hatte aufgelegt. Auf ihn konnte ich mich verlassen und ich brauchte nicht alleine die Fahrt anzutreten. Ich ging früh ins Bett und schlief mit einem Krimi in der Hand als Bettlektüre ein. Ich war allein im Haus und die Gewissheit, dass ich niemanden mit meinem Schnarchen stören würde, ließ mich tief und fest den „Remscheider Wald" absägen.
Dienstagnachmittag Rathaus Remscheid Es war kurz vor 16.00 Uhr, als ich das Rathausportal betrat und von dem freundlichen Pförtner Thomas Weger begrüßt 161
wurde. „Guten Tag, Herr Kronenberg. Aufregende Zeiten im Rathaus. Die Polizei geht hier ein und aus und es geht die Angst um." „Das glaube ich Ihnen. Gibt es denn was Neues?" „Nein! Die haben noch keinen Verbrecher gefasst." Ich ging die Treppe hoch und fand mich zum einstündigen Vorgespräch mit den Kollegen meiner Fraktion in Raum 121 wieder. Wie immer unterhielten wir uns angeregt und wie immer wurden auch kritische Themen angesprochen. So monierten meine Kollegen z.B. das Verhalten der Ratsmehrheit. „Der Sozialausschuss sei nicht so wichtig", hatte ausgerechnet deren großer Sprecher zu mir im Hauptausschuss gesagt. Natürlich fand ich so ein Verhalten schwach. Ausgerechnet in der einzigen noch verbliebenen Industriestadt Nordrhein-Westfalens musste ich mir so etwas anhören. Aber so war das in der Politik. Nette und nicht ganz so nette Leute gab es schließlich in allen Parteien. Ohne jede Ausnahme. Mit politischen Freunden wie Feinden hatte ich im Laufe der Jahre meine Erfahrungen gemacht. Die bekannte Steigerung von Feind: Feind, Todfeind, Parteifreund, hatte schon ihren Sinn, und nicht nur ehemalige Vorsitzende der Fraktion, der ich angehörte, hatten dass am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Kurz vor 17.00 Uhr gingen wir schließlich mit einer Meinung in den großen Sitzungssaal, in dem ca. vierzig Personen anwesend waren. Ich saß vorne, auf dem Platz, der während der Ratssitzungen unserer Oberbürgermeisterin vorbehalten blieb. Neben mir zur Linken saß Stadtdirektor Burkhard Luther, der heute völlig überarbeitet schien und 162
zu meiner Rechten der Protokollführer, Bernd Meierling. Auch die Amtsleiter, wie Dr. Frank-Walter Nebelung vom Gesundheitsamt und Armin Stern vom Sozialamt waren in meiner Nähe. Auf den Ratsstühlen waren die Vertreter der verschiedenen Parteien, siebzehn an der Zahl, anwesend: Mitglieder des Rates und Sachkundige Bürger. Der Jüngste war Markus Hoffmann, ein groß gewachsener Student, die Älteste im Saal war Ursula Bernack, die sympathische blitzgescheite alte Dame, von deren Auftreten sich noch so mancher Politiker eine Scheibe abschneiden konnte. Frau Bernack hatte ich ja noch vor kurzer Zeit im Parkhaus unter dem Rathausplatz getroffen. Sachkundige Einwohner, die ohne Stimmrecht waren, sowie die Vertreter von Behinderten- und Seniorenbeirat komplettierten die Runde. Ich begrüßte alle Anwesenden, besonders die Vertreter der lokalen Presse. Ich eröffnete die Sitzung. Als ich dann die ersten fünf Tagesordnungspunkte hinter mich gebracht hatte, passierte es. Ruhig sollte die Sitzung verlaufen, aber die Sprecher der Parteien lieferten sich heftige Wortgefechte, und es war schwer, die Meute ruhig zu halten. Warum saß ich eigentlich nicht jetzt in meinem schönen Wintergarten oder in einem Café bei Cappuccino und Kuchen? Ausgerechnet Politik musste ich mir als Hobby aussuchen. Meine Negativgedanken wurden schnell verdrängt, als sich Frau Bernack zu Wort meldete. Sofort nahm ich sie dran, und sie erfüllte meine Erwartungen. Ihr ruhiges und sachliches Verhalten, verbunden mit einem fundierten Wortbeitrag, beruhigte die Werwölfe wieder, und alles war friedlich. Pünktlich um 19.00 Uhr zwinkerte mir Protokollführer Meierling zu. Wir hatten unser selbst gestecktes Ziel erreicht, gegen 19.00 Uhr die Sitzung beenden zu wollen. Ich schloss also die Sitzung und wünschte allen einen guten Nachhauseweg. 163
Als letzte Personen vor mir verließen der Stadtdirektor und Herr Meierling den großen Sitzungssaal. Ich packte meinen Arbeitskoffer ein. Als ich mit meinen Gedanken noch einmal die Sitzung Revue passieren ließ und meinen Koffer vom Boden in meine Hand nehmen wollte, traf mich ein dumpfer Schlag. Ich fiel auf den Holzparkettboden und blieb benommen liegen. Als ich aufwachte, saß ich im hohen Turmzimmer des Rathauses hoch über Stadt und Land. Allerdings konnte ich die ansonsten so schöne Aussicht nicht genießen. Ich war an einen Stuhl gefesselt, und mein Kopf brummte. Im Zimmer waren außer mir zwei dunkelhaarige Männer. Dem Aussehen nach ähnelten sie den Kerlen, die Dieter beschrieben hatte, als er von Schloss Bensberg nach Remscheid gefahren war und schließlich in Remscheid angeschossen wurde. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass das die Burschen waren, die meinen alten Freund fast umgebracht hätten. Die würden auch bestimmt nicht davor zurückschrecken, mich auf diese Art und Weise zu entsorgen. Sie beachteten mich nicht und redeten kein Wort. Viele Stunden musste ich so aushalten. Ich wurde ohnmächtig. Als bei einem der Kerle das Mobiltelefon summte, erwachte ich, stellte mich aber weiterhin ohnmächtig.
Der eine dunkelhaarige Mann gab dem anderen Mann ein Zeichen, und schnell verließen sie den Raum. Mit leisen Schritten gingen die Ganoven die Treppe herunter. Als es ruhig wurde, versuchte ich das dünne Seil, mit dem man mich festgebunden hatte, durch Reibung an einer Stuhlkante zu durchtrennen. Nach längerer Anstrengung 164
gelang mir das auch. Ich stand auf und äugte vorsichtig nach unten, schlich die Treppe runter und horchte an der Tür. Da ich keinen Laut vernahm, drückte ich die Klinke leise auf. Auf dem Gang war kein Licht an. Nachdem ich mit Mühe die Treppenstufen bis zum Fahrstuhlschacht geschafft hatte, hörte ich, wie sich das Eisengefährt plötzlich in Bewegung setzte. Die Gangster waren wohl unterwegs zu mir. Hätte ich doch bloß meine Schusswaffe dabei gehabt. Ich nutzte das fahle Mondlicht, das durch die Fenster schien. Unheimlich war es hier hoch oben über den Dächern von Remscheid. Ich öffnete eines der Fenster und schaute, ob ich mich draußen auf dem Dach verstecken konnte. Fehlanzeige. Ich war noch viel zu hoch, und das Dach war weit unten. Ich war sozusagen im Turm gefangen. Ich erreichte die Stelle, an der die Erkerbalkone waren. Ich könnte mich dort draußen verstecken, dachte ich. Der gewissenhafte Rathauspförtner aber hatte die Glastüren zu den Baikonen abgeschlossen. Die Leuchten, die die Panorama-Ausstiege schon von vielen Kilometern Entfernung sichtbar machten, hätten mich möglicherweise auch verraten können. Hätten die Lumpen mich gesehen, die hätten mich glatt abgeknallt. Ich beschleunigte mein Tempo und fiel über eine Stufe. Bei dem Sturz verletzte ich mich an meinem linken Arm, spürte aber in meiner Aufregung den Schmerz nicht. Oben vom Turmzimmer hörte ich Lärm. Die Gangster hatten meine Flucht entdeckt. Das Licht im Treppenhaus ging an. Die Verbrecher waren mir auf den Fersen. Ich erreichte den steilen Aufgang, der fensterlos zur zweiten Etage des Rathauses führte, riss die Tür auf und stand auf dem großen, schwach beleuchteten Flur zwischen Großem und Kleinem Sitzungssaal. Ich lief an der ersten Tür zum Großen Sitzungssaal vorbei und öffnete die zweite Tür, die in den Ratssaal führte. Ich hechelte die wenigen Stufen hinunter zu den Sitzplätzen der Ratsmitglie165
der. Die Kronleuchter unter der Decke des Ratssaales leuchteten plötzlich hell auf. Jemand hatte das Licht angemacht. Als ich mich umdrehte, war meine Anspannung plötzlich weg. Neben dem Fahnenständer stand Ursula Bernack. Die alte, gescheite Frau, die ich so sehr mochte, war da. Meine Retterin war in den Ratssaal gekommen. Als ich jedoch in Ursula Bernacks kalte Augen schaute, wurde ich eines Besseren belehrt. In ihrer rechten Hand hielt sie eine kleine Waffe. „Guten Abend, Herr Kronenberg! Es schmerzt mich sehr, dass ich Ihnen wehtun muss. Ich hatte wirklich gehofft, Sie würden sich aus dieser Sache heraushalten. Warum nur um alles in der Welt mischen Sie sich in Sachen, die Sie nichts angehen? Sie gefährden mein Ziel, und deshalb muss ich heute handeln " „Frau Bernack, es hat doch keinen Sinn. Nehmen Sie die Waffe runter und seien Sie vernünftig. Warum nur machen Sie so etwas?" „Herr Kronenberg, ich bin bestimmt worden, das Rätsel zu lösen. Im fünften Punkt steht: Eine Herrin wird den Schlüssel im neuen Jahrtausend finden, die früher an diesem Orte hat gespielt. Ich bin die Herrin. Hier habe ich mein Spiel gespielt und ich werde den Schatz finden." „Welchen Schatz, Frau Bernack?" In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und zwei dunkelhaarige Männer stolperten herein. Es waren die Kerle, die mich oben im Turmzimmer gefesselt hatten. Ich nutzte Frau Bernacks Überraschung. Als die Männer näher kamen, lief ich los. Ich sprang durch die Sitzreihen wie ein Karnickel. Ich hörte Schüsse knallen. Frau Bernacks Hand-
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langer wollten mich erschießen. „Ich will ihn lebend. Holt ihn mir und bringt ihn in den Keller." Der Befehl der alten Dame sorgte dafür, dass ich noch lebte. Ich nahm die andere Tür, um zurück auf den Rathausflur im zweiten Stock zu gelangen. Die Gangster waren mir dicht auf den Fersen. Wie unheimlich so ein dunkles Rathaus doch sein konnte. Ich erreichte keuchend den Aufgang zum Rathausturm und sprang wie ein Eichhörnchen die steile Treppe hoch, auf der ich eben erst auf der Flucht vor meinen Verfolgern gestürzt war. Als ich die Erkerbalkone erreicht hatte, kam mir eine Idee. Ich trat mit voller Wucht vor eine der Glastüren, und die Splitter klirrten laut auf den Boden. Ich konnte durch das so entstandene Loch schlüpfen und befand mich auf dem Balkon. Schon hatte auch einer der Verfolger die Stelle erreicht und kam auf mich zu. Es kam zum offenen Kampf, und ich hatte Dank meiner früheren Ausbildung genug Selbstvertrauen, die Herausforderung anzunehmen. Meine Faust schlug hart in den Solarplexus des Angreifers. Der fiel direkt zu Boden und blieb regungslos liegen. Der andere Kerl kam auf den Balkon gestürzt und nahm Anlauf. Den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich und sprang in der letzten Sekunde zur Seite. Mit voller Wucht flog der Schwarzhaarige vor die Brüstung und lag vor mir. Er sprang blitzartig wieder auf und griff mich erneut an. Wir schlugen uns und nach einem Treffer seiner Rechten lief mir das Blut aus der Nase. Erneut kam der Angreifer auf mich zu. Mit einem geschickten Griff wirbelte ich den Mann durch die Luft. Der Verbrecher flog über die Brüstung und war im freien Fall. Einem schrillen Schrei folgte ein dumpfer 167
Aufprall. Mein Angreifer lag zerschmettert und mausetot fast sechzig Meter unter mir auf dem Rathausplatz. Eine kurze Zeit schaute ich hinunter in die schwarze Nacht. Der andere Angreifer lag ohnmächtig vor mir. Ich nahm ihm seine Waffe ab und ging zurück über die steile Treppe zum Ratssaal. „Sie zerstören meinen Traum, Herr Kronenberg! Wissen Sie, was Sie da tun?" Frau Bernack stand hinter mir. Ich hatte die Energie der alten Dame unterschätzt. „Geben Sie auf, Frau Bernack. Das hat doch keinen Zweck. Sie können in wenigen Minuten damit rechnen, dass die Polizei hier auftaucht. Einer Ihrer Häscher liegt unten auf dem Rathausplatz. Der ist mausetot und wird Ihnen nicht mehr helfen können." „Ich kann mir selbst helfen. Meine Pistole ist geladen, Herr Kronenberg." „Seien Sie doch endlich vernünftig! Es ist vorbei. Machen Sie die Sache nicht noch schlimmer." Ich drehte mich blitzschnell um und schlug Ursula Bernack die Waffe aus der Hand. Sie schrie laut auf und hatte wohl Schmerzen. Sie sackte zu Boden. Ich wollte sie auffangen, als sich das Biest plötzlich in meinem Oberschenkel festbiss. Unter starken Schmerzen sank ich auf den Teppich, der vor dem Ratssaal lag. Frau Bernack hüpfte hoch, schnappte ihre Waffe und sprang in den Aufzug. Als ich hinter ihr her humpelte, erreichte ich nur noch die geschlossene Fahrstuhltür. Sie hatte mich ausgetrickst. Als ich über das geräumige Treppenhaus die 1. Etage und dann das Erdgeschoss erreichte, war Ursula Bernack spurlos verschwunden. Wo war sie? Es war schon zwei Uhr in der Nacht.
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Die schwere Haupteingangstür des Rathauses war abgeschlossen, und ich kam auf diesem Wege nicht mehr hinaus. Draußen sah ich Blaulicht aufblinken. Der Gangster, der vom Rathausturm auf den Theodor-Heuss-Platz gestürzt war, war wohl schon gefunden worden. Die Polizei ging bestimmt schon ihrer Arbeit nach. Ich versuchte eine offene Tür zu finden, um mich durch ein Fenster bemerkbar zu machen. Fehlanzeige! Ich musste meinen Koffer suchen, in dem mein Handy lag. Ich ging leise die Treppe hoch und kam über den 1. Stock zum Ratssaal im 2. Stock. Tatsächlich lag mein Koffer auf dem Boden des Saales und ich öffnete ihn. Mein Handy lag noch darin, und ich schaltete es an, gab die PIN ein und wartete einen Augenblick. Mehrere Anrufer hatten versucht, mich zu erreichen. Sicherlich war Werner dabei, der bestimmt schon sauer auf mich gewartet hatte. Um diese Zeit konnte ich ihn nicht mehr anrufen. Es war ja schon 2.15 Uhr, wie mir die Uhr im Sitzungssaal verriet. Ich riss ein Fenster auf und schaute hinab. Ich sah von oben den Dienstwagen von Hauptkommissar Alexander Neudorf. Sein Vectra stand direkt vor dem Haupteingang. Da er mich wahrscheinlich hier oben nicht wahrnehmen würde, drückte ich seine Nummer. „Neudorf" „Hallo Alexander, ich. „Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Was willst du um diese Uhrzeit von mir? Ich bin gerade in einem Einsatz." „Ja, weiß ich. Deshalb rufe ich ja an. Was ist denn von dem Kerl übrig geblieben?"
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Der Chef der Mordkommission „Rathausmörder" war einen kurzen Moment sprachlos. „Günter Kronenberg, woher weißt du?" „Schau mal hoch zum Großen Sitzungssaal. Ich winke dir dann zu." „Was machst du um alles in der Welt mitten in der Nacht im Rathaus? Bist du jetzt als Nachtwächter aktiv?" „Wenn du mich aus diesem Gemäuer befreist, werde ich dir alles erzählen. Ach übrigens: Oben auf dem Turm liegt noch einer, wenn er nicht schon aufgewacht ist. Du solltest dich also beeilen." „Ich werde noch verrückt. Mein Job artet wirklich langsam in Stress aus. Da liegt mitten in der Nacht ein Toter vor dem Rathaus und du schaust oben aus dem Rathausfenster." „Ja, so ist es. Jetzt hole mich bitte schnell hier heraus, Alexander." „Ist schon in Ordnung, Günter. Ich versuche es, obwohl ich dich gerne einmal einsperren würde. Geh schon mal runter an die Türe zum Haupteingang, okay?" Ich konnte nicht mehr antworten. Auf dem Flur vor dem Saal hörte ich Geräusche. Ich entsicherte die Pistole, die ich dem einen Gangster oben auf dem Erkerbalkon abgenommen hatte, nachdem ich ihn außer Gefecht gesetzt hatte. Schnell warf ich mich auf den Parkettboden des Ratssaales. Die schwere Holztüre wurde geöffnet, und ich sah 170
den Kerl wieder. Er schaute grimmig wie ein Raubtier durch den Raum. Er sah mich nicht, da ich unter einem Pulttisch der hintersten Reihe des Ratssaales lag und die vorderen Sitzreihen meinen flach auf dem Boden liegenden Körper verdeckten. Mein Atem stockte, als dieses Monstergesicht Schritte in meine Richtung machte. Mit der festen Absicht, die Waffe gleich gegen meinen Verfolger einzusetzen, lag ich nun da. Der Gangster suchte nach mir. Eine Sitzreihe vor mir blieb er stehen. Ob er mich bemerkt hatte? Wahrscheinlich nicht. Er drehte ab und verließ den Raum. Die Schritte auf dem Flur entfernten sich. Sofort rief ich Hauptkommissar Neudorf an und informierte ihn im Flüsterton über meine Situation. Auf die Frage von Neudorf, ob der Verbrecher eine Schusswaffe bei sich tragen würde, fand ich keine Antwort. Obwohl ich diesem Teufel die Waffe entwendet hatte, traute ich den Häschern von Frau Bernack alles zu. Schließlich hatte die Alte ja auch noch ihre Waffe. Wo war diese Frau eigentlich abgeblieben? Hatte sie vielleicht ihre Knarre dem Kerl gegeben, um mich abzuknallen? Ich schlich leise, ohne jegliches Geräusch, durch den Saal, horchte eine Weile an der Tür und löschte das Licht. Während ich die geladene Schusswaffe in der rechten Hand hielt, drückte ich vorsichtig die Türklinke nach unten. Die schwere Holztüre öffnete sich mit einem nicht zu vermeidenden Geräusch. Wären die Scharniere geölt gewesen, wäre ich leise heraus gekommen, dachte ich. Ich steckte meinen Kopf heraus auf den fast dunklen Flur. Nur schemenhaft konnte ich etwas sehen. Ich überlegte kurz. Wenn ich auf dem Gang war, hatte ich keine Möglichkeit mich zu verstecken. Sollte jemand irgendwo da draußen auf mich warten und vielleicht noch das Licht einschalten, ich würde 171
ein hervorragendes Ziel abgeben. Trotzdem, ich musste es versuchen. Leise bewegte ich mich Schritt für Schritt vorwärts, dem großen Haupttreppenhaus entgegen. Ich atmete tief durch, als ich den Rathausflur der zweiten Etage passiert und das Treppengeländer erreicht hatte. Mein linker Arm schmerzte. Der Treppensturz sowie mein Kampf auf dem Turm eben waren nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Stufe um Stufe ging ich die Treppe abwärts und erreichte die erste Etage des Baus. Ich schlich weiter durch das Treppenhaus. Als ich um eine Ecke bog, sah ich durch die Glastüren des Haupteingangs das Blaulicht der Einsatzwagen leuchten. Da ich noch niemanden der Polizisten am Haupteingang sah, ging ich davon aus, dass der Weg nach draußen noch abgeschlossen war. Sicherlich wurde ein Hausmeister oder ein Pförtner gesucht, der die Schlüsselgewalt hatte und die großen Türen aufschließen konnte. Ich probierte es trotzdem. Als ich vor der ersten Türe stand und sie aufdrücken wollte, ging es nicht. Sie war noch verschlossen. Wo war eigentlich Neudorf? Dieser Vorzeigebulle der Wuppertaler Kriminalpolizei war doch bestimmt nicht untätig geblieben. Schließlich hatte ich ihn doch eben noch über meine Lage informiert. Da, plötzlich sah ich am Ende des langen Ganges Richtung Westflügel einen kurzen Feuerschein aufblitzen. Fast zeitgleich hörte ich einen lauten Knall. Eine Kugel pfiff ganz knapp an meiner Schläfe vorbei, um dann das weiße Innenmauerwerk zu treffen. Wieder blitzte das Feuer aus der Ferne auf und es knallte zweimal laut. Instinktiv sprang ich mit einem Hechtsprung hinter die Mauer zum Treppenhaus. Der Schütze hatte sich nun in Bewegung gesetzt und schritt eilig den Gang entlang in meine Richtung. Als die Schritte näher kamen, erstarrte ich. Vor mir stand im Halbdunkel kein anderer als Alexander Neudorfs Mitarbeiter Klaus Ritzer. Der Kommissar und stellvertretende Leiter der Mordkommission „Rathausmör172
der". War auch er ein Verbrecher? Waren deshalb die Ermittlungen so schleppend angelaufen? Hätte ich etwas Zeit gehabt, wäre ich wahrscheinlich verzweifelt. Aber Zeit hatte ich nicht. Ich zielte mit meiner Schusswaffe blitzschnell auf den Kommissar und wollte gerade abdrücken, als ein Schuss durch den Raum knallte. Kommissar Klaus Ritzer sackte zusammen und blieb vor mir auf dem Boden liegen. Es wurde blitzartig hell um mich herum. Scharfschützen der Polizei in Kapuzen kamen mir entgegen. Ich ließ die Waffe fallen. Einsatzkräfte in Kampfanzügen rannten schwer bewaffnet an mir vorbei, durchsuchten jedes Fleckchen um mich herum und schwärmten aus, um die vielen Räume des Rathauses abzusuchen. Was für eine schlimme Geschichte. Klaus Ritzer lag da vor mir und würde wohl nie mehr etwas sagen können. Er war nicht mehr unter den Lebenden. Ich setzte mich auf die dunkle Steintreppe und musste schlucken. Ich wollte nicht glauben, was ich da sah. Ich machte die Augen zu und wieder auf. Nein, es war kein Traum. Der mir bekannte Ermittler lag da auf dem kalten Steinboden im Erdgeschoss. Hauptkommissar Alexander Neudorf stand vor mir. Er war nicht mit den Sondereinsatzkräften durch den Eingang des Westflügels gekommen. Neudorf kam seinem Rang entsprechend durch den Haupteingang. Zwei Personen in Zivil sowie Polizisten in Uniform begleiteten ihn. Die Schlüssel zu den Rathaustüren hatte ihnen die Remscheider Oberbürgermeisterin gegeben, die jetzt auch, draußen im Schutz eines Mannschaftswagens auf ein Zeichen von Neudorf wartete, um ihren Amtssitz betreten zu dürfen. Auch der Referent der Oberbürgermeisterin sowie einer der Hausmeister waren von der Polizei um ihren Schlaf gebracht worden. Die Ermittler hatten ganze Arbeit geleistet. 173
„Mensch Günter, ich habe wirklich Angst um dich gehabt. Dass du das alles überlebt hast, grenzt an ein Wunder. Heute ist auch für mich kein schöner Tag." „Ich dachte schon du würdest mich hier in dem alten Gemäuer sterben lassen." „Nein, nein. Aber heute ist auch bei mir viel passiert. Moritz Schaller hat mich heute Nachmittag angerufen um mir zu erzählen, dass unser Kommissar Klaus Ritzer ihn im Krankenhaus besucht hat. Ritzer hat ihm einen Teil eines angeblichen Goldschatzes angeboten, wenn er still hält." „Ich glaube es nicht." „Doch, Günter! Es ist so. Moritz Schaller hatte soviel Angst bekommen, weil die Nachricht von einem Polizeibeamten gekommen ist, dass er sich sofort nach dem Gespräch mit Klaus Ritzer dem Krankenhausseelsorger anvertraut hat. Der Seelsorger hat dann Schaller dazu ermutigt, mich anzurufen. Dass seine Aussage stimmte, weiß ich allerdings erst kurze Zeit. Ich habe Ritzers Handy überwachen lassen. Er hat heute Abend eine sms von einer Frau Bernack bekommen, in der drin stand, dass jemand hier im Rathaus wäre und der soviel wissen würde, dass er noch heute Abend durch seine Kugeln sterben solle. Du warst damit gemeint." „Was für eine Geschichte. Nicht zu glauben." „Ja. Als ich hier angekommen bin, war Klaus Ritzer noch mit in meinem Dienstwagen. Wir haben zusammen die Leiche draußen begutachtet. Allerdings hatte ich schon unsere Kollegen informiert und das SEK angefordert." „Was hat 174
Ritzer dann gemacht?" „Er war eben auf einmal fort. Irgendjemand muss ihm die Türe zum Seiteneingang geöffnet haben. Scharfschützen, die sich draußen postiert hatten, haben ihn dabei beobachtet und mich über Funk informiert." „Dann wäre ich vielleicht dem Ritzer freudestrahlend in die Arme gelaufen und der hätte mich erschossen. Da kann ich ja froh sein, dass der so verrückt war und direkt aus der Ferne auf mich geschossen hat." „So ist es, Günter. Du hast Glück gehabt." „Wo sind eigentlich Frau Bernack und der eine dunkelhaarige Gangster?" „Das werden wir gleich sehen. Das ganze Gebäude wird jetzt auf den Kopf gestellt. Die durchsuchen jeden Winkel." „Alexander, mir fällt gerade etwas ein. Die Bernack sagte eben zu einem ihrer Söldner, sie sollten mich lebend in den Keller bringen. Ob die Alte hier im Rathauskeller ist?" „Du, das könnte sein. Lass uns sofort nachschauen. Wie kommt man denn in den Keller?" „Hinten durch den Westflügel. Die Tür ist immer abgeschlossen. Der Fahrstuhl müsste es aber tun. Los lass uns nachsehen!" Während die Spezialeinheit der Polizei das riesige Gebäude nach den Verbrechern absuchte, machte ich mich mit Hauptkommissar Alexander Neudorf auf den Weg zum Fahrstuhl, der in den Keller führte. Es war der Fahrstuhl, der auch zum Hof führte. Nach wenigen Minuten standen wir vor dem Eisengefahrt und drückten den Knopf. Wir fuhren runter in den Keller. Als wir ausstiegen, bemerkten wir direkt, dass alles hell erleuchtet war. Es waren also Personen hier im Gemäuer. Ob Frau Bernack, die mich so un175
glaublich getäuscht hatte, hier unten war? Ich hatte sie immer für eine nette alte Dame gehalten. Wir gingen vorsichtig durch das Gewölbe und inspizierten Raum für Raum. Diese kalten Gänge hier unten. Als ich einmal vor wenigen Jahren diese Räume für die Vorbereitung einer Ausstellung nutzte, kamen mir diese Katakomben gar nicht unheimlich vor. Ich war noch voll in meinen Gedanken, als wir vor einer Tür standen, hinter der wir Stimmen hörten. Ich erkannte schnell die Stimme von Frau Bernack. Aufgeregt stammelte und schimpfte sie durch den Raum. Hauptkommissar Alexander Neudorf entsicherte seine Dienstwaffe und trat mit einem Ruck vor die Türe. Wir standen vor Ursula Bernack und ihrem Söldner. Das Sondereinsatzkommando würde in dem Gemäuer niemanden mehr finden. Wir standen jetzt vor den Gesuchten. Frau Bernack hielt ein Manuskript in ihren Händen. Ihr Mitarbeiter nestelte mit einer Schusswaffe herum. Meine Vermutung, der Typ wäre nicht unbewaffnet nach dem Kampf auf dem Rathausturm, hatte sich bewahrheitet. „Lassen Sie die Waffe fallen und nehmen Sie die Hände hoch!" Der Hauptkommissar schrie bestimmend durch den Raum. Der Verbrecher tat, wie ihm befohlen. Ohne Umschweife ließ er sein Schießgerät auf den Boden fallen.
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Ursula Bernack verfolgte das Geschehen wortlos. „Los, an die Wand und keine Mätzchen. Günter, durchsuche ihn!" Ich tastete den Kerl ab, wobei ich ihm, ehrlich gesagt, noch am liebsten eine verpasst hätte. „Der ist sauber", sagte ich. „Frau Bernack, nehmen Sie die Hände hoch! Sofort!" Die alte Dame aber nahm ihre Papiere und hielt sie in das Feuer der dicken Kerze, die vor ihr auf dem Tisch stand. Neudorfs Versuch, ihr die brennenden Papiere aus der Hand zu schlagen, misslang kläglich. Das Manuskript verbrannte und es roch auf einmal auch etwas nach verbranntem Fleisch. Ursula Bernack hatte nicht nur ihre Unterlagen sondern auch ihre Finger verbrannt. Nun folgte auch sie den Anweisungen des Hauptkommissars. Ich tastete sie ab und fand in ihrer Jacke ihre kleine Waffe. Alexander Neudorf erkläre die beiden Personen für verhaftet und klärte sie über ihre Rechte auf. Wir gingen wortlos durch die Räume zurück zum Aufzug und fuhren ins Erdgeschoss. Oben angekommen gab Neudorf den Uniformierten den Befehl, den Gefangenen Handschellen anzulegen. Die Verhafteten wurden in Polizeiwagen gebracht, die vor dem Rathausplatz standen. Ich schüttelte draußen noch kurz der Oberbürgermeisterin die Hand und ließ mich von einem Dienstwagen der Polizei nach Hause bringen. Inzwischen war es 5.00 Uhr morgens und ich schmiss mich schnell aus meinem von den Erlebnissen der letzten Stunden zerrissenen schwarzen Anzug. Ohne in der Lage zu sein, noch duschen zu können, fiel ich kopfüber auf mein Bett und schlief sofort ein. Hotel Breidenbacher Hof 177
Düsseldorf Zwei Anzugträger trafen sich im fürstlichen Heinrich Heine Salon, der direkt neben der Lobby Lounge in der ersten Etage des feinen Hotels „Breidenbacher Hof lag, bei Tee und Torte. Der Heinrich Heine Salon war einer von drei Veranstaltungsräumen und eignete sich hervorragend für kleine Familienfeiern. In der Theaterbestuhlung fanden über sechzig Personen Platz. An diesem Tage aber waren sie allein. „Was sagst du jetzt? Unser Freund Klaus Ritzer ist tot. Damit ist unsere Infoquelle bei der Wuppertaler Polizei versiegt. Die Dumpfbacken Benno Mahler und Robert Ritzer hat man in Ostfriesland verhaftet." „Und deine Tante?" „Meine liebe Tante Ursula konnte nicht abwarten und ist in ihr Verderben gelaufen. Aber keine Angst, die wird uns schon nicht verraten. Einer ihrer Bodyguards ist ja vom Remscheider Rathausturm gefallen, wie du weißt." „Was ist mit dem Anderen?" „Der andere Torfkopf ist auch verhaftet worden. Aber der wird auch nichts sagen. Ich habe dem schon eine Nachricht ins Gefängnis zukommen lassen. Der sagt keinen Ton. Wir müssen jetzt Gras über die Sache wachsen lassen, dann holen wir uns doch noch den Schatz." „Komm, lass uns ein Glas Champagner trinken!" „Ja, darauf, wie gut es uns geht und uns kein Mensch so einfach auf die Schliche kommt. Prost." „Prost. Eigentlich bin ich 178
froh. Alles hätte schlimmer kommen können" „Ich bin auch froh. Meine Tante ist in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden. Die denken alle, die Alte sei verrückt. Dabei hat sie nur über den Schatz geredet". Die Männer mussten herzhaft lachen. Aus dem Raum drang schallendes Gelächter. Die Ermittler hatten der alten Dame nicht geglaubt. Der ermittelnde Staatsanwalt meinte sogar, Frau Bernack wäre übergeschnappt. Als die schlaue Dame ihre Chance erkannte, spielte sie munter mit und ließ sich einweisen. Besser als Gefängnis, dachte sie wohl und schmiedete schon in der Nacht ihrer Verhaftung neue Pläne für die Zukunft. Ihre einflussreichen Freunde würden sie sicherlich bald wieder freibekommen. Dann würde sie erst einmal in die Türkei fliegen, sich von dem Erlebten erholen und dann nochmals versuchen, an den Schatz im Rathauskeller heran zu kommen. Schließlich war sie ja die Auserwählte, und nur sie war in der Lage, den Schatz zu finden.
Mittwochmittag Remscheid-Kremenholl Als ich gegen Mittag mit brummendem Schädel aufwachte, schaute mein kleiner Sohn mich mit großen Augen an. Gestern waren Frau und Kind wohl aus dem Urlaub gekommen und hatten von alledem nichts mitbekommen, was in ihrer Abwesenheit passiert war. „Papa! Hast du zuviel getrunken gestern? Die Mama ist schon wieder sauer. Steh endlich auf. Es gibt Mittagessen!"
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Nachdem ich ein paar Stunden mit meiner Familie verbrachte, meine Schwiegermutter war inzwischen auch anwesend, ging das Telefon. „Dieter hier. Du, Günter, du kannst mich morgen aus dem Krankenhaus abholen. Die Narbe ist schön verheilt." „Das ist super. Morgen wird ein schöner Tag, Dieter." „Kannst du mich auch nach Bochum bringen?" „Natürlich Dieter." Ich dachte direkt, ich könnte ja über Bochum nach Marienhafe fahren. „Ach Günter, weißt du schon? Die Rathausmörder sind gefasst. War heute Morgen im Radio." „Ja, Dieter. Ich habe auch davon gehört." „Ach Günter, die beiden Jungs haben sie auch." „Welche beiden Jungs?" „Krankenschwester Angie hat es mir gesagt. Ihr Bruder und sein Kumpan sind gestern Abend in Marienhafe, einer Stadt in Ostfriesland, von der Polizei geschnappt worden. Die saßen wohl... ach, wie sagte sie noch? Ach ja.... die saßen in „Störtebekers Teestube" und haben dort randaliert. Die Ortspolizei hat sie verhaftet, und dann haben die Kollegen auf der Wache gesehen, dass nach den beiden Kumpanen gefahndet wurde. Hättest du das gedacht?" „Nein, Dieter. Bis morgen früh." Ich legte auf. Ich hatte keine Lust, heute über den Fall zu reden. Wir hatten zuviel erlebt in den letzten Tagen, und mich packte wegen Dieters
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Schussverletzung wieder das schlechte Gewissen. Hätte ich ihn aus dem Fall gehalten, wäre das alles nicht passiert. Ich musste an Werner denken, der mit mir nach Marienhafe fahren wollte. Der war bestimmt stinksauer auf mich. Ich müsste ihn anrufen, dachte ich. Hatte nicht Thorsten Schneider eine Ferienwohnung für meinen Aufenthalt in Marienhafe bestellt? Thorsten war bestimmt von der Vermieterin informiert worden und war auch sauer, dass ich nicht aufgekreuzt war. Thorsten musste ich ebenfalls anrufen. Was würde wohl Frau Bernack bei der Polizei aussagen? Wahrscheinlich nichts, dachte ich. „Ich bin die Herrin. Hier habe ich mein Spiel gespielt und ich werde den Schatz finden.", hatte sie zu mir gesagt. Ob es diesen Schatz wirklich gab? Sollte ich nach ihm suchen? Ich nahm mir vor, mich in den nächsten Tagen mit Erika, Paule und Dieter zum Kaffee zu verabreden. Ich rief Erika an, um sie von meiner Idee, Kaffeetrinken zu gehen, zu unterrichten und stieß auf offene Ohren. „Das ist schön, Günter. Ja, lass uns schön Kaffeetrinken fahren. Endlich ist wieder Ruhe in der Stadt." „Da sagst du was, Erika. Das war ein schlimmes Abenteuer." „Dass da übrigens einer vom Remscheider Rathausturm gefallen ist, ist nicht das erste Mal passiert. Am Dienstag, den 29. Juni 1948 war gegen 11.30 Uhr Dr. August Scholz, unser damaliger Oberbürgermeister, vom Dach des Rathauses in den Innenhof gestürzt. Der war auch sofort tot. Dr. Scholz, so sagte meine Mutter immer, war ein guter
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Oberbürgermeister. Er war Zahnarzt und übrigens von der CDU." „Oh, wie alt war er denn?" „Ich glaube vierundsechzig Jahre. Ja genau. Meine Mutter hatte den Zeitungsausschnitt extra ausgeschnitten, und ich habe ihn noch in einer Kiste." „Aha. Deshalb kennst du Datum und Uhrzeit so genau. Dann schneide dir auch die Zeitungsberichte von heute und morgen aus. Vielleicht lesen unsere Nachfahren ja mal von den Geschehnissen im Rathaus, die im Jahre 2010 passiert sind." Etwas bedrückt legten wir die Hörer auf. Auch mit Hauptkommissar Alexander Neudorf wollte ich telefonieren oder am Besten im Präsidium vorbeifahren. Vielleicht war er zu einem Vergleich auf dem Schießstand bereit? Ich musste sowieso meine schöne neue Großkaliberpistole ausprobieren. Als ich bei Ann-Kathrin ein paar Tage später eine Massage bekam, erzählte sie mir, sie hätte sich von Alexander Neudorf getrennt. „Der hat mir doch tatsächlich in seinem Stress eine eindeutige sms geschickt und meinte nicht mich. Der meinte eine andere", ärgerte sich Ann-Kathrin über den Vorzeigebullen. Ich musste unweigerlich grinsen. Die kommen eh nicht voneinander los, dachte ich. Mein Büro rief an. „Der Staatsbesuch aus Afrika ist da, Chef. Der Herr möchte Sie heute noch treffen." „Geht in Ordnung, Anastasia. Allerdings kann ich frühestens heute Abend." 182
„Ich habe es schon im Radio gehört, Chef. Der Fall von Remscheid ist aufgeklärt worden. Prima." „Ja und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen." „Dann legen Sie sich doch jetzt schlafen, Chef." „Das ist eine gute Idee. Ich gehe gleich noch mal in mein Bett." „Schlafen Sie gut, Chef. Bis später". Ich musste grinsen. Ich stellte mir Anastasia in meiner Firma vor, wie sie vor ihrem Computer saß und Kaffee aus ihrer Schweinstasse trinken würde. Wenn ich sie darauf anspräche, würde sie bestimmt rot werden. Ich beschloss also, mich schlafen zu legen. Aber alles kommt anders im Leben: „Kaffeetrinken! Komm endlich zum Kaffee. Alle warten auf dich." Eine mir wohl bekannte Stimme rief mich zum Rapport. Es war die Stimme meiner Schwiegermutter.
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