Agatha Christie
Mord im Orientexpreß
Scherz Bern – München – Wien
überarbeitete Fassung der einzig berechtigten Übe...
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Agatha Christie
Mord im Orientexpreß
Scherz Bern – München – Wien
überarbeitete Fassung der einzig berechtigten Übertragung aus dem Englischen von Elisabeth van Bebber Titel des Originals: »Murder on the Orient-Express« (Deutscher Titel der bisher nur in gekürzter Fassung erschienenen Ausgabe: »Der rote Kimono«) 1. Auflage 1993 Copyright © 1933 by Agatha Christie Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag Bern und München Gesamtherstellung: Ebner Ulm
1 Es war fünf Uhr morgens. Im Bahnhof von Aleppo stand ab fahrbereit der Zug, den die Kursbücher großspurig den TaurusExpress nennen und der sich aus einem Speisewagen, einem Schlafwagen und zwei einheimischen Waggons für den syri schen Lokalverkehr zusammensetzt. Neben den Stufen, die zum Schlafwagen hinaufführten, un terhielt sich ein junger französischer Leutnant in prächtiger Uniform mit einem vermummten kleinen Mann, von dem nichts zu sehen war als eine rotgefrorene Nase und die zwei Spitzen eines aufgezwirbelten Schnurrbarts. Die grimmige Kälte machte die Aufgabe, einem Fremden von Rang das Abschiedsgeleit zu geben, nicht beneidenswert, doch Leutnant Dubosc führte sie mannhaft aus. Seine Lippen drech selten elegante Sätze in wohlklingendem Französisch. Nicht, daß er genau wußte, um was es sich eigentlich handelte. Gewiß, es hatte Gerüchte gegeben, wie es in derartigen Fällen unaus bleiblich ist. Die Laune des Generals – seines Generals – hatte sich von Tag zu Tag verschlechtert. Und dann tauchte dieser Belgier auf, offenbar aus England kommend. Hierauf eine Wo che voll neugieriger Spannung. Und dann gerieten die Dinge in Bewegung. Ein sehr begabter Offizier beging Selbstmord, ein anderer nahm seinen Abschied, ängstliche Gesichter verloren den Ausdruck der Angst, gewisse militärische Vorsichtsmaßre geln wurden gelockert. Und der General – Leutnant Duboscs höchsteigener General – sah plötzlich zehn Jahre jünger aus. Zufällig hatte Dubosc eine Unterhaltung zwischen dem Gene ral und dem Fremden teilweise erlauscht. »Sie haben uns geret tet, mon cher«, beteuerte der General bewegt, wobei sein weißer
Schnurrbart zitterte. »Sie haben die Ehre der französischen Ar mee gerettet – haben viel Blutvergießen verhindert. Wie kann ich Ihnen danken, daß Sie unbekümmert um die Strapazen der weiten Reise meiner Bitte nachkamen?« Der Fremde – sein Name lautete Hercule Poirot – hatte etwas Passendes erwidert und hinzugefügt: »Meinen Sie, mon général, ich hätte vergessen, daß Sie mir einst das Leben retteten?« Höf lich leugnete der hohe Offizier jeden in der Vergangenheit er wiesenen Dienst ab. Es folgten noch ein paar gegenseitige Be merkungen über Frankreichs und Belgiens Ruhm, Ehre und andere Vorzüge, dann war das Gespräch beendet. Wie gesagt – um was es eigentlich ging, wußte Leutnant Du bosc nicht. Er bekam jedoch den Auftrag, M. Poirot um fünf Uhr früh zum Taurus-Express zu begleiten, und er führte die sen Auftrag mit dem Eifer aus, der sich für einen jungen, viel versprechenden Offizier schickt. »Heute ist Sonntag«, sagte Leutnant Dubosc. »Morgen abend sind Sie in Istanbul.« Nicht zum erstenmal ließ er diese Bemerkung fallen, Unter haltungen auf dem Bahnsteig, vor Abfahrt des Zuges, sind sel ten frei von Wiederholungen. »Ganz recht«, entgegnete Monsieur Poirot. »Und dort wollen Sie ein paar Tage bleiben?« »Mais oui, in Istanbul war ich noch nie. Es wäre doch ein Jammer, wenn ich nur durchfahren würde – so.« Bei diesem »So« schnippte er mit den Fingern. »Nichts drängt mich, und daher werde ich mich als schlichter Vergnügungsreisender ein paar Tage dort umschauen.« »Die Hagia Sophia ist sehr schön«, erklärte der junge Franzo se, obwohl er das Bauwerk nie gesehen hatte.
Ein eisiger Wind pfiff über den Bahnsteig. Die beiden Männer fröstelten. Dem Leutnant glückte es, einen verstohlenen Blick auf seine Uhr zu werfen. Fünf Minuten vor fünf – also nur noch fünf Minuten! Aber da er glaubte, daß der kleine Belgier den Blick bemerkt hatte, sprudelte er einen neuen Satz hervor. »Um diese Jahreszeit reisen nur wenige Menschen.«
Dabei betrachtete er die Fenster des Schlafwagens.
»So ist es.«
»Hoffen wir, daß Sie im Taurus nicht einschneien!«
»Kommt das vor?«
»Bisweilen. Dieses Jahr allerdings noch nicht.«
»Hoffen wir also das Beste.« Poirot lächelte. »Die Wetterbe
richte aus Europa sind freilich schlecht.« »Schlecht. Besonders vom Balkan wird Schneefall gemeldet.« »Aus Deutschland auch, habe ich gehört.« »Eh bien«, sagte Leutnant Dubosc hastig, als eine neue Pause zu drohen schien. »Morgen abend um sieben Uhr fünfzig sind Sie in Istanbul.« »Ja«, bestätigte Hercule Poirot und fuhr verzweifelt fort: »La Sainte Sophie – man schwärmt allgemein von ihr.« »Ja, sie ist prächtig!« Über ihren Köpfen wurde der Vorhang eines Schlafwagen fensters zur Seite gezogen, und eine junge Dame spähte heraus. Mary Debenham hatte seit ihrer am Donnerstag erfolgten Ab reise aus Bagdad wenig geschlafen. Weder im Zug nach Kirkuk noch während der Übernachtung in Mosul oder der letzten Nacht in der Eisenbahn. Da sie es satt hatte, in der heißen Schwüle ihres überhitzten Abteils wach an die Decke zu star ren, stand sie auf und schaute aus dem Fenster.
Das mußte Aleppo sein. Natürlich sah man nichts. Nur einen langen, kärglich beleuchteten Bahnsteig, auf dem irgendwo ein wütender, lauter arabischer Wortwechsel stattfand. Unter ih rem Fenster unterhielten sich zwei Herren auf französisch, ein französischer Offizier und ein kleiner Zivilist mit gewaltigem Schnurrbart. Mary lächelte malt. Noch nie hatte sie einen so festvermummten Menschen gesehen! Vermutlich war es schneidend kalt draußen, deshalb heizte man den Zug auch so übermäßig. Sie versuchte, das Fenster einen Spalt herunterzu lassen, aber es klemmte. Jetzt trat der Schlafwagenkondukteur zu den beiden Herren. Der Zug führe gleich ab, und Monsieur täte gut daran einzu steigen, mahnte er. Der Kleine lüftete den Hut. Was für einen drolligen, eiförmigen Kopf er hatte! Überhaupt ein komischer kleiner Mann, den sicher niemand ernst nahm. Mary Deben ham mußte unwillkürlich lächeln, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. Leutnant Dubosc schickte sich an, die Abschiedsworte vom Stapel zu lassen, die er sich lange vorher zurechtgelegt hatte. Eine sehr schöne, schwungvolle Rede. Um nicht zurückzustehen, erwiderte Monsieur Poirot in der gleichen Form. »En voiture, Monsieur!« drängte der Schlafwagenbeamte. Mit der Miene offensichtlichen Widerstrebens erkletterte der Belgier die Stufen. Der Schaffner folgte ihm. M. Poirot winkte mit der Hand, Leutnant Dubosc legte salutierend die Rechte an die Mütze. Mit einem schrecklichen Ruck setzte sich der Zug langsam in Bewegung. »Enfin!« murmelte Hercule Poirot. »Brrrrr«, stieß Leutnant Dubosc hervor, der plötzlich merkte, wie eisig kalt es war.
»Voilà, Monsieur.« Mit einer dramatischen Geste machte der Schaffner Poirot darauf aufmerksam, mit welchen Bequemlich keiten sein Schlafwagenabteil ausgestattet und wie ordentlich das Gepäck gestapelt war. »Die kleine Tasche von Monsieur habe ich dort untergebracht.« Seine ausgestreckte Hand war nicht mißzuverstehen, so daß der neue Reisende ihr auf jeden Fall eine gefaltete Banknote anvertraute. »Merci, Monsieur!« Jetzt wurde der Mann kurz und sachlich. »Die Fahrkarten habe ich bereits, wenn ich auch noch um den Paß bitten dürfte? Monsieur unterbricht, wie ich hörte, seine Reise in Istanbul?« Hercule Poirot bejahte und fügte hinzu: »Ziemlich leer der Zug, wie?« »Ja. Ich habe nur zwei Passagiere – beides Engländer. Ein O berst aus Indien und eine junge Dame aus Bagdad. Wünscht Monsieur irgend etwas?« Monsieur wünschte eine Flasche Perrier. Fünf Uhr morgens ist für den Antritt einer Reise eine sehr un angenehme Zeit. Zwei Stunden noch, ehe sich die erste Ahnung der Morgendämmerung bemerkbar machen würde. Und mit dem Gedanken an eine unzulängliche Nachtruhe und einen erfolgreich durchgeführten heiklen Auftrag lehnte sich Poirot in eine Ecke und schlief ein. Als er aufwachte, war es halb zehn, und er machte sich auf den Weg zum Speisewagen, um Kaffee zu trinken. Dort saß im Moment nur eine einzige Person, offenbar die junge Engländerin, die der Schaffner erwähnt hatte. Groß, schlank und dunkel war sie und etwa achtundzwanzig Jahre alt. Eine gewisse kühle Ungezwungenheit in ihrer ganzen Art –
zum Beispiel als sie den Kellner bat, ihr noch Kaffee zu bringen, verriet, daß sie weltgewandt und des Reisens nicht ungewohnt war. Sie trug ein dunkles Kleid aus einem dünnen Gewebe,, der heißen Temperatur des Zuges angemessen. Poirot, der nichts Besseres zu tun hatte, vergnügte sich damit, sie zu studieren, ohne daß es auffiel. Sie war, so urteilte er, eine junge Frau, die sich – wo immer sie auch sein mochte – mit großer Selbstsicherheit allein zurecht fand. Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit gehörten fraglos zu ihren Tugenden. Poirot gefiel die strenge Regelmäßigkeit ihrer Züge und das zarte Weiß ihres Teints; ihm gefielen auch das glän zende, leichtgewellte schwarze Haar und die Augen, kühl, un persönlich und grau. Aber für Poirots Geschmack wirkte sie ein wenig zu tüchtig, um eine jolie femme zu sein. Jetzt betrat ein anderer Reisender den Speisewagen. Ein gro ßer Mann zwischen vierzig und fünfzig, mit hagerem Gesicht, brauner Haut und dichtem Haar, das an den Schläfen zu er grauen begann. Der Oberst aus Indien, sagte Hercule Poirot zu sich selbst. »Guten Morgen, Miss Debenham«, grüßte der neue Gast und verbeugte sich leicht vor der jungen Dame. »Guten Morgen, Oberst Arbuthnot.« Er legte die Hand auf den Stuhl ihr gegenüber. »Sie gestatten?« »Bitte, nehmen Sie Platz.« »Nun ja, manche Leute frühstücken lieber allein, weil sie um diese Zeit noch nicht besonders gesprächig sind.« »Das bin ich auch nicht. Aber ich verspreche, nicht zu bei ßen.«
»Kellner!« rief der Oberst in befehlsgewohntem Ton, während er sich niederließ. Er bestellte Eier und Kaffee. Für eine Sekunde ruhte sein Blick auf Hercule Poirot und schweifte dann sofort gleichgültig weiter. Poirot, der in der englischen Seele zu lesen verstand, wußte, daß das Urteil hieß: »Nur irgendein verdammter Ausländer!« Ihrem Nationalcharakter getreu, waren die Briten nicht ge sprächig. Sie wechselten ein paar kurze Bemerkungen, aber bald erhob sich das junge Mädchen und ging zu seinem Abteil zurück. Zum Lunch saßen die beiden wieder am selben Tisch, und wieder schenkten sie dem dritten Reisenden keinerlei Be achtung. Sie unterhielten sich lebhafter als beim Frühstück. O berst Arbuthnot erzählte vom Pandschab und stellte Miss De benham hin und wieder eine Frage über Bagdad, wo sie Erzie herin gewesen war. Im Laufe des Gesprächs entdeckten sie ei nige gemeinsame Freunde, was sofort bewirkte, daß sie sich weniger steif und zurückhaltend gaben. Ziemlich ausführlich beschäftigten sie sich mit einem gewissen Tommy Smith und einem Jerry Miller. Hierauf erkundigte sich der Oberst, ob sie bis England durchfahre oder die Fahrt in Istanbul unterbreche. »Nein, ich fahre direkt.« »Ist das nicht schade?« »Ich habe vor zwei Jahren dieselbe Reise gemacht und Istan bul damals drei Tage gewidmet.« »Ah, das ist freilich etwas anderes. Im übrigen freut es mich, daß Sie ohne Unterbrechung Weiterreisen, weil ich es ebenfalls tue.« Er verbeugte sich ein wenig linkisch und wurde rot. Schau, schau! dachte Hercule Poirot vergnügt. Er ist für weib liche Reize empfänglich, unser Oberst. Eine Zugfahrt birgt die selben Gefahren wie eine Seereise.
Miss Debenham erwiderte, das sei sehr nett, doch es klang etwas bedrückt. Als sie mit dem Essen fertig waren, begleitete der Oberst sie zu ihrem Abteil zurück. Nicht viel später glitt vor den Fenstern die ungeheuer eindrucksvolle Szenerie des Taurus vorüber, und die beiden standen Seite an Seite im Gang. »Es ist so wunderschön!« hörte Poirot, der gleichfalls die Landschaft bewunderte, Mary Debenham leise sagen. »Ich wollte – ich wollte…« »Ja?« »Ich wollte, ich könnte es genießen!« Arbuthnot antwortete nicht sofort. Die viereckige Linie seines Kiefers schien noch ein wenig grimmiger und härter zu wer den. »Bei Gott, ich wünschte, Sie wären aus allem heraus!« »Pst! Pst!« »Oh, schon gut!« Er warf einen leicht verärgerten Blick in Poi rots Richtung. »Mich wurmt der Gedanke, daß Sie sich als Er zieherin plagen müssen und den Launen tyrannischer Mütter und ihrer unangenehmen Bälger ausgeliefert sind.« Sie lachte auf. Es klang eine Spur unbeherrscht. »Unsinn! Das Märchen von der mit Füßen getretenen Gou vernante hat sich längst überlebt. Ich kann Ihnen versichern, daß die Eltern meiner Zöglinge eher fürchten, von mir tyranni siert zu werden.« Sie schwiegen. Vielleicht schämte sich Arbuthnot seines Aus bruchs. Poirot, der unfreiwillige Lauscher, sagte nachdenklich zu sich: Das ist ja eine sonderbare kleine Komödie, die ich da beobachte. Später sollte er sich dieses Gedankens erinnern…
Gegen halb zwölf Uhr nachts kamen sie in Konya an. Die bei den Engländer spazierten, um sich ein wenig die Beine zu ver treten, auf dem verschneiten Bahnsteig auf und ab. Hercule Poirot begnügte sich zunächst damit, das Gewimmel auf der Station durch die Fensterscheibe zu beobachten. Nach zehn Minuten entschied er jedoch, daß ein Atemzug frischer Luft nichts schaden könne. Er traf hierzu sorgfältige Vorbereitun gen, hüllte sich in mehrere Mäntel und Wollschals, zwängte seine blitzblanken Schuhe in Galoschen und kletterte derart ausstaffiert bedächtig ins Freie. Langsam ging er den Bahnsteig entlang, noch über die Lokomotive hinaus. Es waren ihre Stimmen, die ihm sagten, wer die beiden un deutlichen Gestalten waren, die im Schatten eines Güterwagens standen. »Mary«, bat Oberst Arbuthnot. Aber das Mädchen unterbrach ihn. »Nein, nicht jetzt. Nicht jetzt. Wenn alles vorbei ist. Wenn es hinter uns liegt, dann…« Diskret machte Poirot kehrt, aufs höchste erstaunt. Er hatte Miss Debenhams kühle, beherrschte Stimme kaum wiederer kannt. »Seltsam«, murmelte er. Am nächsten Tag fragte er sich, ob sich die beiden vielleicht gestritten hatten. Sie sprachen wenig miteinander, und Mary hatte dunkle Ringe unter den Augen. Nachmittags um halb drei hielt der Zug plötzlich an. Aus al len Fenstern wurden Köpfe rausgestreckt. Neben dem Schie nenstrang sammelten sich ein paar Männer, die auf irgend et was unter dem Speisewagen wiesen. Poirot lehnte sich hinaus und wechselte ein paar Worte mit dem Schlafwagenschaffner, der gerade vorübereilte. Als Poirot den Kopf zurückzog und sich umwandte, prallte er beinahe gegen Miss Debenham.
»Was gibt’s?« fragte sie ziemlich atemlos auf französisch. »Nichts Gefährliches, Mademoiselle. Irgend etwas unter dem Speisewagen hat Feuer gefangen. Man hat es bereits gelöscht und repariert den Schaden. Es besteht keinerlei Gefahr mehr.« Sie fuhr ungeduldig mit der Hand durch die Luft, als schiebe sie den Gedanken an Gefahr als gänzlich nebensächlich beiseite. »Ja, ja, ich verstehe. Aber die Zeit!« »Die Zeit?« »Wir werden uns verspäten.« »Das ist allerdings möglich«, gab Poirot zu. »Aber wir können uns keine Verspätung erlauben. Dieser Zug trifft fahrplanmäßig abends um 6.55 Uhr ein, und man muß den Bosporus überqueren und um neun Uhr den Simplon-OrientExpreß nehmen. Wenn wir eine Stunde oder zwei hier vertrö deln, verpassen wir den Anschluß.« »Das ist möglich«, wiederholte er und musterte sie neugierig. Ihre Hand, die das Fensterkreuz umklammerte, bewegte sich unruhig, und ihre Lippen zitterten. »Ist es denn für Sie so wichtig, Mademoiselle?« fragte er. »Ja. Ungemein. Ich muß jenen Zug erreichen.« Sie ließ Poirot stehen und ging zu Oberst Arbuthnot. Ihre Angst war jedoch überflüssig. Zehn Minuten später ging die Fahrt weiter. Mit nur fünf Minuten Verspätung lief der Zug in Haydapassar ein, nachdem er die übrige Zeit im Laufe des Nachmittags wieder eingeholt hatte. Im Bosporus war rauhe See, so daß Monsieur Poirot sich wäh rend der Überfahrt höchst unbehaglich fühlte. Von seinen Rei segefährten wurde er auf dem Dampfer getrennt und bekam sie nicht wieder zu Gesicht. Und als die Fähre an der Galatabrücke
anlegte, fuhr der kleine Belgier schnurstracks zum »Tokatlian Hotel«.
2 Er verlangte ein Zimmer mit Bad und erkundigte sich, ob Post für ihn eingetroffen sei. »Ja, drei Briefe. Und außerdem ein Telegramm.« Poirots Augenbrauen zogen sich ein wenig in die Höhe – ein Telegramm hatte er nicht erwartet. Trotzdem öffnete er es in der ihm eigenen gemessenen Art. »Entwicklung, die Sie im Fall Kassner voraussagten, unerwar tet schnell eingetreten. Bitte sofort zurückkehren.« »Ah, c’est embêtant!« murmelte Hercule Poirot verdrießlich. Er blickte auf die Uhr und wandte sich an den Portier: »Ich muß noch heute Weiterreisen. Um wieviel Uhr fährt der Simplon ab?« »Um neun, Monsieur.« »Können Sie mir einen Schlafwagenplatz besorgen?« »Sicher, Monsieur. Um diese Jahreszeit ist das nicht schwer. Der Zug ist fast leer. Erste oder zweite Klasse?« »Erste.« » Très bien, Monsieur. Wie weit?« »Nach London.« »Dann werde ich Ihnen eine Fahrkarte bis London besorgen und ein Abteil in dem Istanbul-Calais-Waggon reservieren las sen.« Wieder befragte Poirot seine Uhr. Zehn Minuten vor acht. »Habe ich noch Zeit zu Abend zu essen?« »Aber gewiss, Monsieur.«
Der kleine Belgier nickte, widerrief seine Zimmerbestellung und ging in den Speisesaal. Während er mit dem Kellner sprach, legte sich eine Hand auf seine Schulter. »Ah, mon vieux, das nenne ich ein unerwartetes Vergnügen!« sagte eine Stimme hinter ihm. Der Sprecher war ein älterer, un tersetzter Herr, der das Haar bürstenartig geschnitten trug. Poi rot sprang auf. »Monsieur Bouc!« »Ja, ja, ich bin’s, Monsieur Poirot.« M. Bouc war Belgier und einer der Direktoren der Internatio nalen Schlafwagengesellschaft. Poirot, den ehemaligen Star der belgischen Kriminalpolizei, kannte er schon seit Jahren. »Sie sind ja ziemlich weit weg von daheim, mon cher.« M. Bouc lächelte seinen Landsmann an. »Eine kleine Angelegenheit in Syrien.« »Ah! Und jetzt sind Sie auf der Rückreise?« »Ja. Heute abend fahre ich.« »Famos! Ich ebenfalls. Das heißt, ich fahre bis Lausanne, wo ich zu tun habe. Vermutlich benutzen Sie den SimplonExpreß?« »Ja, ich habe den Portier eben gebeten, mir ein Schlafwagen abteil reservieren zu lassen. Eigentlich war es meine Absicht, hier ein paar Tage herumzubummeln, doch ich erhielt aus Eng land ein Telegramm, das meine sofortige Weiterreise erforder lich macht.« »Ah, les affaires – les affaires!« M. Bouc seufzte. »Aber Sie haben ja inzwischen den Gipfel der Berühmtheit erklommen, mon vieux.«
»Nun, ein paar kleine Erfolge hatte ich zu verzeichnen.« Her cule Poirot gab sich alle Mühe, bescheiden auszusehen, was ihm gründlich mißlang. Bouc lachte. »Wir sehen uns später wieder«, sagte er und ging. Der kleine Detektiv widmete sich nun der Aufgabe, seinen Schnurrbart nicht allzuoft im Suppenteller zu baden. Nachdem dieses schwierige Werk vollbracht war, hielt er, auf den nächsten Gang wartend, im Speisesaal Ausschau. Es saß nur etwa ein halbes Dutzend Gäste an den Tischen, und von diesem halben Dutzend interessierten Hercule lediglich zwei Herren. Sie saßen nicht weit von ihm entfernt. Doch nicht der jüngere, ein sympathischer Dreißigjähriger, offenbar ein Amerikaner, hatte Poirots Aufmerksamkeit erregt, sondern sein Gefährte, ein Mann zwischen sechzig und siebzig. Von weitem gesehen glich er einem abgeklärten Philanthropen. Der schon ein wenig kahle Kopf, die gewölbte Stirn, der Mund, der beim Lächeln ein sehr weißes falsches Gebiß entblößte, schienen auf eine liebenswür dige Persönlichkeit schließen zu lassen. Nur die Augen straften diesen Eindruck Lügen, kleine, tiefliegende, listige Augen. Und nicht nur das. Als sich der Fremde nach einer an seinen jungen Begleiter gerichteten Bemerkung im Speisesaal umsah, blieben seine Augen sekundenlang an Poirot haften, und während die ser einen Sekunde glitzerte eine sonderbare Bösartigkeit, eine unnatürliche Spannung in ihnen. Gleich darauf erhob er sich. »Begleichen Sie die Rechnung, Hector«, sagte er. Seine Stimme klang leicht heiser, war gleichzeitig jedoch von einer merkwürdigen, gefährlichen Sanftheit. Als Poirot mit seinem belgischen Freund in der Halle wieder zusammentraf, verließ das ungleiche Paar gerade das Hotel. Ihr
Gepäck wurde unter Aufsicht des Jüngeren nach draußen ge schafft. Kurz darauf öffnete er die Glastür und verkündete: »Alles fertig, Mr. Ratchett.« Der Ältere knurrte etwas und stelzte hinaus. »Eh bien«, meinte Poirot, »was halten Sie von den beiden?« »Es sind Amerikaner.« »Fraglos sind es Amerikaner. Ich wollte wissen, was Sie von ihnen als Menschen halten.« »Der junge Mann gefiel mir ganz gut.« »Und der andere?« »Offen gestanden – er war mir nicht besonders sympathisch. Geht es Ihnen ebenso?« Hercule Poirot zögerte mit der Antwort. »Als er im Restaurant an mir vorbeiging«, erwiderte er end lich, »hatte ich einen merkwürdigen Eindruck. Es war. als sei ein wildes Tier, ein wildes, grausames Tier, an mir vorüberge gangen.« »Und dennoch sieht er durchaus redlich und achtbar aus.« »Ganz gewiß! Der Körper, die Hülle – ich möchte sagen: der Käfig – wirkt absolut achtbar, aber durch die Stäbe sieht einen das wilde Tier an.« »Sie haben Phantasie, mon vieux«, sagte M. Bouc. »Vielleicht. Doch ich konnte mich des Eindrucks nicht erweh ren, daß das Böse dicht an mir vorbeistrich.« »In Gestalt dieses respektablen Amerikaners?« »In Gestalt dieses respektablen Amerikaners.« »Nun, mag schon sein, es gibt ja allerhand Böses in der Welt«, meinte M. Bouc fröhlich.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Portier kam auf die beiden Belgier zu – ziemlich verlegen und betreten. »Es ist kaum zu glauben, Monsieur«, wandte er sich an Poirot, »aber es sind sämtliche Schlafwagenabteile erster Klasse im Zug besetzt.« »Comment?« rief M. Bouc dazwischen. »Um diese Jahreszeit? Ah, da reist sicher eine Gruppe von Journalisten oder Politi kern…« »Keine Ahnung, Sir«, versicherte der Portier. »Ich kann Ihnen nur die bedauerliche Tatsache melden.« »Schon gut.« M. Bouc klopfte Poirot auf die Schulter. »Lassen Sie den Kopf nicht hängen, alter Freund. Ich weiß schon einen Ausweg. Es gibt immer ein Abteil – Nr. 10 –, das der Schaffner frei hält!« Er lächelte vielsagend und fuhr nach einem Blick auf die Uhr fort: »Kommen Sie, es ist Zeit, daß wir aufbrechen.« Auf dem Bahnhof wurde M. Bouc mit dienstwilligem Eifer von dem braununiformierten Schlafwagenschaffner begrüßt. »Sie haben Abteil Nr. 1, Monsieur.« Er winkte den Trägern, die das Gepäck auf zweirädrigen Karren zur Waggontür schoben. Eine Metalltafel an der Außenwand des Waggons nannte die drei wichtigsten Zielbahnhöfe des Zuges: ISTANBUL TRIEST CALAIS »Ich höre, Sie sind voll besetzt?« »Es ist unglaublich, Monsieur. Heute abend scheint die ganze Welt vom Reisefieber gepackt.« »Einerlei – Sie müssen für meinen Freund hier Platz schaffen. Geben Sie ihm Abteil Nr. 16.« »Es ist bereits belegt, Monsieur.«
»Was? Die Nr. 16?« Der Direktor und sein Untergebener tauschten einen ver ständnisvollen Blick, und der Schaffner, ein großer, blasser Mann mittleren Alters, lächelte. »Ja, auch die Nr. 16«, beteuerte er. »Wie gesagt, wir sind voll besetzt, bis in den letzten Winkel.« »Aber was ist denn los?« fragte Bouc verärgert. »Findet ir gendwo eine Konferenz statt? Oder handelt es sich um eine geschlossene Gesellschaft?« »Nein, Monsieur. Es ist reiner Zufall. Es hat sich einfach so ergeben, daß alle Leute ausgerechnet heute nacht reisen wol len.« M. Bouc ließ ein ärgerliches Schnalzen hören. »In Belgrad stößt ja der Schlafwagen von Athen zu uns und nachher auch der Wagen Bukarest-Paris, doch wir erreichen Belgrad erst morgen gegen Abend. Was machen wir also heute nacht? Haben Sie denn ein Abteil in der zweiten Klasse frei?« »Ja, Monsieur. Das heißt, kein ganzes Abteil, sondern nur noch ein Bett. Im anderen schläft eine Frau – die Zofe einer mit reisenden Dame.« »Verfluchtes Pech!« machte M. Bouc seinem Ärger Luft. Jetzt mischte Poirot sich beschwichtigend ein. »Regen Sie sich nicht auf, mon ami. Ich werde dann eben in ei nem gewöhnlichen Wagen die Nacht verbringen.« »Nein, nein, davon kann keine Rede sein.« Wiederum wandte er sich an den Kondukteur. »Haben sich schon alle Reisenden eingefunden?« »Einer fehlt noch, Bett Nr. 7 zweiter Klasse. Der Inhaber ist ein Engländer, Mr. Harris.«
»Bringen Sie Monsieur Poirots Gepäck in Nr. 7 unter«, ent schied M. Bouc. »Wenn dieser Mr. Harris erscheint, werden wir ihm sagen, daß er zu spät kommt, daß die Betten nicht bis zur allerletzten Minute reserviert werden können – oder irgend etwas Ähnliches. Was kümmert mich schließlich irgendein be liebiger Mr. Harris?« »Wie Monsieur wünscht«, erwiderte der Schaffner. Er drehte sich um und sagte Poirots Träger, wohin er das Gepäck bringen sollte. Dann trat er beiseite, damit der kleine Belgier einsteigen konnte. »Tout à fait, au bout, Monsieur«, rief er. »Es ist das vor letzte Abteil.« Hercule Poirot schob sich durch den schmalen Gang, was nicht einfach war, da die meisten Reisenden vor ihren Abteilen standen. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks murmelte er ein höfliches »Pardon« und gelangte endlich ans Ziel, wo er den großen jungen Amerikaner aus dem »Tokatlian Hotel« antraf. Der runzelte die Stirn, als Poirot eintrat. »Verzeihung«, meinte er. »Ich glaube, Sie irren sich.« Dann setzte er in unbeholfenem Französisch hinzu: »Je crois, que vous avez un erreur.« Der kleine Detektiv entgegnete auf englisch: »Sind Sie Mr. Harris?« »Nein. Mein Name ist MacQueen. Ich…« Doch da sagte der Schlafwagenkondukteur über Poirots Schulter hinweg mit um Entschuldigung bittender, ziemlich atemloser Stimme: »Es ist kein anderes Bett im Zug mehr frei, Monsieur. Der Herr muß hier untergebracht werden.« Er schloß das Gangfenster, während er sprach, und schleppte dann Poirots Gepäck herein.
Poirot hörte diese Entschuldigung mit stillem Vergnügen. Zweifellos war dem Mann ein gutes Trinkgeld versprochen worden, wenn er das Abteil ausschließlich dem anderen Rei senden zur Verfügung stellte. Doch selbst die freigebigsten Trinkgelder verlieren ihre Wirkung, wenn ein Direktor der Schlafwagengesellschaft im Zug mitreist und »Wünsche« äu ßert. »Voilà, Monsieur, jetzt ist alles untergebracht«, sagte der Schaffner, während er den letzten Handkoffer mit einem Schwung im Netz verstaute. »Ihnen gehört das obere Bett, Nr. 7. In einer Minute fahren wir ab.« Und schon war er auf und davon. »Ein Schlafwagenkondukteur, der sich herbeiläßt, eigenhän dig die Gepäckstücke an Ort und Stelle zu legen – bei Gott, das ist ein Phänomen!« sagte Hercule Poirot schmunzelnd. Sein Reisegefährte lächelte. Offenbar hatte er seinen Ärger überwunden und eingesehen, daß es das beste war, sich mit philosophischer Ruhe in das Unabwendbare zu schicken. »Der Zug ist ungewöhnlich voll«, fügte er hinzu. Ein Pfiff, dann ein langer, melancholischer Schrei der Loko motive. Beide Herren traten in den Gang hinaus. »En voiture!« rief draußen eine Stimme. »Wir fahren ab«, sagte MacQueen. Aber sie fuhren noch nicht ab. Zum zweitenmal schrillte die Pfeife. »Wenn Sie lieber das untere Bett haben wollen, Sir«, begann der junge Amerikaner plötzlich, »ich stelle es Ihnen gern zur Verfügung.« Poirot streifte den Sprecher mit einem wohlwollenden Blick. Ein sympathischer junger Mann.
»Nein, nein, ich möchte Sie keinesfalls berauben«, wehrte er ab. »Nicht der Rede wert…« »Sie sind zu liebenswürdig…« Weitere höfliche Proteste auf beiden Seiten. »Es handelt sich ja nur um eine Nacht«, erläuterte Hercule Poirot. »In Belgrad…« »Ah, ich verstehe! Sie steigen schon in Belgrad aus.« »Das freilich nicht. Indes…« Es gab einen heftigen Ruck. Beide, der hochgewachsene Ame rikaner und der kleine Belgier steckten den Kopf zum Fenster hinaus und sahen den langen, hellerleuchteten Bahnsteig an sich vorübergleiten. Der Orientexpreß hatte seine dreitägige Fahrt durch Europa begonnen.
3 Erst ziemlich spät fand sich Hercule Poirot am nächsten Tag zum Lunch im Speisewagen ein. Er war früh aufgestanden, hatte beinahe allein gefrühstückt und dann die Vormittags stunden damit zugebracht, die Notizen über den Fall durchzu gehen, der ihn nach London zurückrief. Seinen Reisegefährten hatte er kaum gesehen. M. Bouc begrüßte seinen Landsmann mit lebhaftem Winken und deutete auf den leeren Platz an seinem Tischchen, das, wie Poirot bald merkte, vom Kellner zuerst und mit besonderer Zuvorkommenheit versorgt wurde. Das Essen war erstaunlich gut. Erst als sie einen delikaten Sahnekäse aßen, schenkte M. Bouc seine Aufmerksamkeit etwas anderem als der Mahlzeit. Aber ein zufriedener Magen macht eben mitteilsam. »Ah, wenn ich doch die Feder eines Balzac hätte!« sagte er seufzend. »Wie sollte ich diese Szene beschreiben! Sehen Sie, mon ami, um uns herum sitzen Leute aller Klassen, aller Natio nen. Leute jeden Alters. Für drei Tage sind diese einander völ lig Fremden zusammengepfercht. Sie schlafen und essen unter demselben Dach, sie können einander nicht ausweichen. Nach Ablauf dieser drei Tage jedoch trennen sie sich, zerstreuen sich in alle Winde, gehen ihren verschiedenen Geschäften nach und sehen sich nie wieder.« »Und dennoch – nehmen wir an, es geschähe ein Unglück«, begann Poirot. »Gewiß, es wäre bedauerlich. Aber trotzdem wollen wir es einmal annehmen. Dann sind alle diese Menschen zusammen gekettet durch den Tod.«
»Noch etwas Wein«, lenkte M. Bouc ab. »Das sind ja krank hafte Einfälle, mein Lieber. Macht Ihnen vielleicht die Verdau ung zu schaffen?« »Kann sein, daß die Ernährung in Syrien meinem Magen nicht ganz behagte«, gab Poirot zu. Langsam nippte er an sei nem Glas, und seine klugen Augen betrachteten interessiert die übrigen Gäste des Speisewagens. Dreizehn Personen waren es, und, wie M. Bouc sehr richtig geäußert hatte, waren alle Klas sen und Nationen vertreten. Am Tisch gegenüber saßen drei Männer. Einzelreisende. Der Speisewagenkellner mochte sie mit sicherem und unfehlbarem Urteil abgeschätzt und dann zu dieser Runde vereinigt haben. Ein dicker dunkler Italiener stocherte mit wahrer Wollust in seinen Zähnen. Der magere, saubere Engländer, ihm gegen über, hatte das ausdruckslose Gesicht des wohlerzogenen Die ners, und neben ihm redete laut und ausdauernd ein stämmiger Amerikaner – möglicherweise ein Handelsreisender. »Man muß es nur gründlich besorgen«, trompetete er mit tie fer, nasaler Stimme. Der Italiener fuchtelte mit seinem Zahnstocher in der Luft herum. »Sicherlich«, stimmte er zu. »Das habe ich ja die ganze Zeit gesagt.« Der Engländer schaute zum Fenster hinaus und hüstelte. Poi rots Blicke wanderten weiter. Kerzengerade saß an einem kleinen Tisch eine der häßlichsten alten Damen, die er je gesehen hatte. Allerdings war es eine Häßlichkeit, die sich mit Vornehmheit paarte. Sie war nicht abstoßend, sondern eher faszinierend. Die Dame trug ein Kol lier aus unglaublich großen Perlen, die – was noch unglaubli cher schien – tatsächlich echt waren. Die Ringe an ihren Fingern
stellten ein Vermögen dar. Ein kostbarer Zobelmantel lag, mit dem Seidenfutter nach außen, ausgebreitet über der Stuhllehne hinter ihr, so daß sie ihn nur um die Schultern zu raffen brauch te, wenn sie aufstand. Der sehr kleine, kostspielige schwarze Hut, den sie trug, stand ihr überhaupt nicht, denn er milderte nicht die Häßlichkeit ihres gelben Froschgesichts, sondern be tonte sie noch. Jetzt gab sie in klarem, höflichem, doch durchaus autokrati schem Ton dem Kellner einige Anweisungen. »Sie werden bitte so freundlich sein, mir eine Flasche Mine ralwasser und ein großes Glas Orangensaft in mein Abteil zu stellen und ferner dafür zu sorgen, daß ich heute abend junges Hühnchen ohne Sauce bekomme, außerdem etwas gekochten Fisch.« Der Kellner versicherte ehrerbietig, daß er ihren Wünschen Rechnung tragen werde, woraufhin sie leicht nickte und sich erhob. Ihr Blick traf Hercule Poirot und glitt mit der Gleichgül tigkeit der uninteressierten Aristokratin über ihn hinweg. »Das ist Prinzessin Dragomiroff«, sagte M. Bouc gedämpft. »Eine Russin. Ihr Gatte verkaufte vor der Revolution seinen gesamten Besitz und investierte das Geld im Ausland. Madame ist häßlich wie die Sünde, aber ungeheuer reich. Eine Kosmopo litin.« Poirot nickte – er hörte von der Prinzessin nicht zum ersten mal. »Eine starke Persönlichkeit«, führte Bouc hinzu. »Hab ich nicht recht?« Poirot konnte ihm nur beipflichten. An einem anderen der großen Tische aß Mary Debenham mit zwei anderen Frauen. Eine von ihnen war ein ältliches Wesen in
karierter Bluse und Tweedrock. Sie trug das dichte, farblos blonde Haar straff zurückgekämmt und in einem großen Kno ten zusammengedreht und hatte ein langes, sanftes Gesicht, das an ein Schaf erinnerte. Geduldig hörte sie der dritten Frau zu, deren Redefluß ohne Atempause dahinplätscherte. »… und daher sagte meine Tochter: ›Mama, du kannst in die sem Land keine amerikanischen Methoden anwenden. Die Leu te sind von Natur aus träge. Sie haben keinen Schwung.‹ Ja. so sagte sie. Desungeachtet würden Sie staunen, was unsere Schu le dort vollbracht hat. Wirklich, sie verfügt über einen vortreff lichen Lehrerstab. Meiner Ansicht nach ist Bildung das Wich tigste im Leben. Wir müssen unseren westlichen Idealen treu bleiben und den Osten lehren, sie anzuerkennen. Meine Tochter sagt…« Der Zug tauchte in einen Tunnel ein, und die ruhige, mono tone Stimme ging im hallenden Dröhnen unter. Am wesentlich kleineren Nebentisch saß Oberst Arbuthnot – allein. Sein Blick ruhte auf Mary Debenhams Hinterkopf. Wa rum saßen die beiden nicht zusammen? Es hätte sich mit Leich tigkeit einrichten lassen. Warum also? Vielleicht, dachte Poirot, hatte Mary Einwendungen gemacht. Eine Erzieherin lernt es, auf der Hut zu sein, alles Verfängliche zu meiden. Auch Äußerlichkeiten sind für ein Mädchen, das sich sein Brot selbst verdienen muß, von Wichtigkeit. Hercules Blick wanderte zur anderen Seite des Wagens hin über. Dort saß ganz am äußeren Ende eine Frau mittleren Alters im schlichten schwarzen Kleid. Deutsche oder Skandinavierin, urteilte Poirot. Wahrscheinlich die Zofe der deutschen Dame.
Dann kam ein Paar, das sich angeregt unterhielt. Der Herr trug einen bequemen englischen Tweedanzug, doch Engländer war er nicht. Obwohl Poirot ihn nur von hinten sehen konnte, verrieten ihm das Kopfform und Schulterhaltung. Plötzlich drehte er den Kopf, so daß sein Profil sichtbar wurde. Ein sehr gut aussehender Mann von etwa dreißig Jahren, mit blondem Schnurrbart. Die Frau ihm gegenüber hätte auch ein Mädchen sein können – knapp zwanzig Jahre schätzungsweise. Der schwarze Mantel und Rock, die weiße Satinbluse, die kleine schwarze Kappe – alles verriet letzten Chic. Sie hatte ein schönes, fremdartiges Gesicht, eine schneeweiße Haut, große braune Augen und jett schwarzes Haar. Sie rauchte eine Zigarette, die in einer langen Spitze steckte. Tiefrot waren die Nägel ihrer manikürten Hände lackiert, und die Linke zierte ein großer, platingefaßter Sma ragd. Blick und Stimme waren ein wenig kokett. »Elle est jolie – et chic«, sagte Poirot. »Ein Ehepaar, eh?« M. Bouc nickte. »Ungarische Diplomaten, glaube ich«, erklärte er. »Ein hüb sches Paar.« Außerdem gab es noch zwei Gäste – Poirots Abteilgefährten MacQueen und dessen Arbeitgeber Mr. Ratchett, der das Ge sicht dem kleinen Belgier zuwandte. Wieder betrachtete Poirot forschend die wenig einnehmenden Züge und stutzte über die trügerische Güte der Stirn und die kleinen, grausamen Augen. Fraglos fiel M. Bouc der Wechsel im Ausdruck seines Freundes auf. »Sind Sie auf Ihr wildes Tier gestoßen?« erkundigte er sich. Hercule Poirot nickte. Nach dem letzten Schluck Kaffee erhob sich M. Bouc. Da er mit dem Essen früher begonnen hatte als Poirot, war er auch früher fertig.
»Ich gehe in mein Abteil zurück, mon ami. Kommen Sie mir nach, damit wir ein bißchen ungestört plaudern können.« »Mit Vergnügen.« Poirot trank langsam seinen Kaffee und bestellte noch einen Likör. Schon ging der Zahlkellner von Tisch zu Tisch, um zu kassieren. Schrill und jammernd erhob sich die Stimme der äl teren, redseligen Amerikanerin: »Meine Tochter hat gesagt: ›Nimm ein Heftchen mit Abon nementskarten für das Essen, dann hast du keine Schwierigkei ten‹ – überhaupt keine, und jetzt soll ich noch zehn Prozent Trinkgeld zahlen? Und dann diese Flasche Mineralwasser! Was für ein scheußliches Wasser überdies! Warum führen Sie kein Vichy?« »Weil sie einheimisches Wasser servieren müssen«, mischte sich die schafsgesichtige Dame ein. »So? Ich finde das sehr merkwürdig.« Verächtlich musterte die Empörte das Häufchen Wechselgeld auf dem Tischtuch. »Sehen Sie nur, was er mir da für Dinger gegeben hat. Dinare oder wie das Zeug heißt. Auf den Kehricht möchte man es wer fen! Meine Tochter sagte…« Mary Debenham stieß ihren Stuhl zurück und verließ die bei den mit einem flüchtigen Nicken. Oberst Arbuthnot erhob sich ebenfalls und folgte ihr. Das geschmähte Geld zusammenraf fend, brach auch die Amerikanerin auf, begleitet von der Schafsgesichtigen. Das ungarische Ehepaar hatte sich bereits entfernt, so daß nur noch Poirot, MacQueen und Ratchett im Speisewagen verblieben. Ratchett sagte etwas zu seinem jungen Begleiter, worauf die ser aufstand und ebenfalls hinausging. Dann stand auch er auf, aber anstatt MacQueen zu folgen, ließ er sich unerwartet auf dem leeren Stuhl an Poirots Tisch nieder. »Können Sie mir mit
einem Streichholz aushelfen?« fragte er. »Mein Name ist Rat chett.« Poirot begnügte sich mit der Andeutung einer Verbeugung. Er holte aus der Rocktasche eine Streichholzschachtel hervor und reichte sie dem Fremden, der sie nahm, aber keine Miene machte, ein Hölzchen zu benutzen. »Ich glaube, ich habe das Vergnügen, mit Monsieur Hercule Poirot zu sprechen«, sagte er. »Bin ich da richtig informiert?« Wieder eine kaum merkliche Verbeugung von Seiten Poirots. »Sie sind es, Monsieur.« Die merkwürdigen intelligenten Augen schätzten den Detek tiv sehr genau ab, und Ratchett sprach erst nach einer längeren Pause weiter. »In meinem Land pflegt man keine Umschweife zu machen, M. Poirot. Ich möchte, daß Sie einen Auftrag für mich über nehmen.« Hercule Poirots Augen zogen sich ein wenig in die Höhe. »Meine Klientel ist heutzutage beschränkt, Monsieur. Ich über nehme nur noch ganz wenige Fälle.« »Das verstehe ich sehr gut. Aber hier geht es um eine staatli che Summe, M. Poirot.« Und mit seiner weichen, eindringlichen Stimme wiederholte er: »Eine stattliche Summe.« Hercule Poi rot betrachtete ein paar Minuten lang das Muster des weißen Tischtuches. »Und was soll ich für Sie tun? M. – Ratchett?« »Ich bin ein reicher Mann, Monsieur Poirot, ein sehr reicher Mann. Und solche Menschen haben Feinde. Ich habe einen Feind.« »Nur einen?«
»Was meinen Sie mit dieser Frage?« kam es scharf zurück. »Monsieur, solche Menschen – um Ihre Worte zu gebrauchen – haben in der Regel nicht nur einen Feind, sondern mehrere.« Bei dieser Antwort schien Mr. Ratchett erleichtert aufzuatmen. Und schnell erwiderte er: »Nun, das mag stimmen. Aber ob einen Feind oder mehrere, darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist meine Si cherheit.« »Sicherheit?« »Mein Leben ist bedroht worden, Monsieur Poirot. Freilich« – er lachte grimmig auf – »verstehe ich mich auch ganz gut selbst zu schützen.« Er schob die Hand in die Tasche und ließ flüchtig einen kleinen Browning sehen. »Ich bin wahrlich nicht der Mann, den man im Schlaf überrumpelt. Doch ich denke, Sie kennen das Sprichwort: Doppelt genäht hält besser. Deshalb komme ich zu Ihnen, Monsieur Poirot. Und Sie können viel, viel Geld dabei verdienen.« Der kleine Belgier sah sein Gegenüber grübelnd an, doch was er dachte, verrieten seine Züge nicht, so sehr der andere es auch zu ergründen trachtete. »Ich bedaure, Monsieur«, sagte Poirot endlich. »Leider kann ich Ihnen nicht gefällig sein.« »Nennen Sie nur Ihre Forderungen«, drängte der Amerikaner. Poirot schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich falsch, Monsieur. Ich bin in meinem Be ruf ungemein vom Glück begünstigt gewesen und habe genug verdient, um meine Bedürfnisse und meine Launen zu befrie digen. Jetzt befasse ich mich nur noch mit Fällen, die mich inte ressieren.« »Reizen Sie auch zwanzigtausend Dollar nicht?«
»Nein.« »Wenn Sie etwa auf mehr spekulieren, so werden Sie eine Enttäuschung erleben, ich weiß den Wert einer Sache abzu schätzen.« »Ich ebenfalls – Mr. Ratchett.« »Was gefällt Ihnen denn nicht an meinem Vorschlag?« Hercule Poirot erhob sich. »Wenn Sie meinen Freimut entschuldigen, Mr. Ratchett – Ihr Gesicht gefällt mir nicht.« Und damit verließ Poirot den Speisewagen.
4 Der Simplon-Expreß lief abends um Viertel vor neun in Belgrad ein, und da er eine halbe Stunde Aufenthalt hatte, stieg Poirot aus. Er blieb jedoch nicht lange im Freien, denn es herrschte schneidende Kälte. Den Bahnsteig selbst schützte zwar ein Glasdach, doch draußen schneite es noch immer stark. Als der kleine Belgier sich anschickte, wieder in die Wärme des Wag gons zurückzuflüchten, wandte sich der Kondukteur an ihn, der auf dem Bahnsteig mit den Füßen stampfte und die Arme bewegte, um sich warm zu halten. »Ihre Koffer sind in das Abteil Nr. 1 hinübergeschafft worden, Monsieur«, sagte er höflich. »Das Abteil, das bislang M. Bouc innehatte.« »Aber wo ist denn M. Bouc geblieben?« »Er ist in den eben angehängten Wagen umgestiegen, Monsi eur.« Hercule machte sich auf die Suche nach seinem Freund, der aber nichts von Dank wissen wollte. »Mon ami, so ist das sehr zweckdienlich und bequem geregelt. Sie, der Sie nach England reisen, sind besser im durchgehenden Waggon nach Calais aufgehoben. Ich aber habe es herrlich hier. Also kein Wort des Dankes! Überzeugen Sie sich doch selbst, wie friedlich und still es hier ist. Der ganze Waggon ist leer; außer mir ist nur noch ein kleiner griechischer Arzt da. Ah, mon ami, was für eine Nacht. Man behauptet, es sei seit Jahrzehnten nicht mehr so viel Schnee gefallen wie in diesem Winter. Hoffen wir, daß wir nicht steckenbleiben. Das würde mir sehr wenig passen, kann ich Ihnen versichern!« Pünktlich um neun Uhr fünfzehn fauchte der Zug zum Bahn hof hinaus, und bald darauf wünschte Hercule Poirot seinem
Landsmann gute Nacht und wanderte in seinen eigenen Wag gon hinter dem Speisewagen zurück. Während des zweiten gemeinsamen Reisetages waren die Schranken zwischen den einzelnen Reisenden gefallen. Oberst Arbuthnot lehnte an der Tür seines Abteils und plauderte freundschaftlich mit MacQueen. Als der junge Amerikaner Poi rot gewahrte, brach er vor Staunen mitten im Satz ab. »Nanu?« rief er. »Ich dachte, Sie hätten uns verlassen? Sagten Sie das nicht bei der Abfahrt?« »Ah, richtig! Aber Sie haben mich mißverstanden. Wir spra chen gerade davon, als der Zug sich in Istanbul in Bewegung setzte.« Poirot lächelte. »Ich wurde dadurch abgelenkt, Ihnen meine Bemerkung, es sei nur für eine Nacht, genauer zu erklä ren.« »Aber Mann, Ihr ganzes Gepäck ist ja fort!« »Man hat es nur in ein anderes Abteil gebracht – das ist alles.« »Oh, ich verstehe.« Und MacQueen setzte seine Unterhaltung mit dem Offizier fort, während Poirot weiterging. Zwei Türen von seinem neuen Abteil entfernt stand die ältere Amerikanerin, Mrs. Hubbard, mit der schafsgesichtigen Dame, die Schwedin war. Mrs. Hubbard drängte der anderen gerade ein Magazin auf. »Nein, nehmen Sie es, meine Liebe. Ich habe genügend Lese stoff in meinem Gepäck… Huh, ist es nicht gräßlich kalt?« Sie nickte Hercule Poirot liebenswürdig zu. »Sie sind wirklich reizend«, sagte die Schwedin. »Durchaus nicht. Ich hoffe, Sie können diese Nacht gut schla fen und wachen morgen ohne Kopfschmerzen auf.« »Es ist vielleicht nur die Kälte. Eine Tasse heißer Tee wird schon helfen.«
»Haben Sie auch Aspirin? Bestimmt? Sonst kann ich Ihnen damit aushelfen. Ich habe mich reichlich mit den verschiedens ten Medikamenten versorgt. Also dann gute Nacht, meine Lie be.« Als die Schwedin verschwunden war, zog Mrs. Hubbard Poi rot ins Gespräch. »Ein bedauernswertes Wesen. Offensichtlich eine Art Missionarin, soweit ich ihrem schlechten Englisch ent nehmen konnte. Was ich ihr über meine Tochter erzählte, hat sie sehr interessiert.« Auch Poirot wußte über Mrs. Hubbards Tochter schon hin länglich Bescheid, und mit ihm jedermann im Zug, der eini germaßen der englischen Sprache mächtig war. Daß sie und ihr Gatte zum Lehrerkollegium einer großen amerikanischen Schu le in Smyrna gehörten, daß das Mrs. Hubbards erster Aufent halt im Orient gewesen war und was sie von den Türken in ihrer schlampigen Art hielt und von dem entsetzlichen Zustand ihrer Straßen. Nun öffnete sich die ihnen nächstgelegene Tür, und der hage re, blasse Diener kam heraus. Poirot erhaschte einen flüchtigen Blick auf Mr. Ratchett, der drinnen aufrecht im Bett saß. Auch er sah Poirot, und zornige Röte schoß ihm ins Gesicht. Mrs. Hubbard zog den kleinen Belgier etwas zur Seite. »Wissen Sie, mir graut vor diesem Mann. Oh, nicht den Kammerdiener meine ich – den anderen, seinen Herrn. Ein schöner Herr ist das! Irgend etwas stimmt nicht mit diesem Mann. Meine Tochter sagt immer, ich hätte ein unglaubliches Einfühlungsvermögen. ›Wenn Mami der Schreck in die Kno chen fährt‹, sagt sie, ›ist etwas nicht geheuer.‹ Und mir ist ein Schreck in die Knochen gefahren. Er schläft Tür an Tür mit mir, dieser unheimliche Geselle, und vergangene Nacht habe ich meine Tür mit meinem Gepäck verbarrikadiert, weil ich den
Eindruck hatte, daß er sich an der Klinke zu schaffen machte. Mich würde es überhaupt nicht wundern, wenn der Mann sich als Mörder entpuppt oder als einer jener Eisenbahnbanditen, über die man so viel liest. Lachen Sie mich nicht aus; mir läuft bei seinem Anblick eine Gänsehaut über den Rücken! Meine Tochter sagte, ich würde eine angenehme, bequeme Reise ha ben, aber ich habe das Gefühl, daß das nicht stimmt, daß sich im Gegenteil unterwegs irgendwas ereignen wird. Mein Gott, wie kann dieser nette, sympathische junge Mann sich dazu her geben, Sekretär bei ihm zu spielen…« Oberst Arbuthnot kam mit MacQueen den Korridor entlang geschlendert. »In meinem Abteil ist das Bett noch nicht gemacht«, sagte der junge Amerikaner. »Setzen wir uns dort hin. Was übrigens Ihre Politik in Indien betrifft…« Die beiden Männer gingen vorüber und verschwanden in Mac-Queens Abteil. Mrs. Hubbard unterdrückte ein leichtes Gähnen. »Ich werde mich jetzt hinlegen und ein bißchen lesen«, sagte sie. »Gute Nacht.« »Gute Nacht, Madame.« Auch Poirot suchte sein Abteil auf, das neben dem von Mr. Ratchett lag. Er zog sich aus, stieg ins Bett, las noch eine halbe Stunde und drehte dann das Licht aus. Ein paar Stunden später erwachte er oder fuhr vielmehr er schrocken in die Höhe. Er wußte, was ihn aus dem Schlaf geris sen hatte: ein lautes Ächzen, fast ein Schrei, irgendwo in nächs ter Nähe. Im selben Moment hörte er das schrille Klingeln einer Glocke.
Der Detektiv knipste das Licht an. Gleichzeitig merkte er, daß der Zug stillstand. Wahrscheinlich auf einer Station. Aber was bedeutete jener Schrei? Hercule Poirot erinnerte sich, daß es Ratchett war, der das benachbarte Abteil bewohnte. Er sprang aus dem Bett und öffnete die Tür, gerade als der Schaffner den Gang entlangeilte und bei Ratchett klopfte. Poirot ließ die Tür einen Spalt offen und spähte hinaus. Der Kondukteur klopfte ein zweites Mal. Wieder klingelte es, und über einer anderen Abteiltür leuchtete eine Lampe auf. Im selben Augenblick rief jemand in Ratchetts Abteil: »Ce n’est rien. Je me suis trompé.« »Bien, Monsieur.« Beruhigt machte der Schaffner kehrt und lief zu der Tür, über der die Lampe blinkte. Auch Poirot war erleichtert und ging wieder ins Bett. Er warf einen Blick auf seine Uhr: Ihre Zeiger wiesen auf dreiundzwanzig Minuten vor eins.
5 Doch der Schlaf wollte sich nicht wieder einstellen. Vor allem vermißte Poirot die Bewegung des Zuges. Wenn sie wirklich im Bahnhof hielten, war es merkwürdig still. Im Gegensatz dazu wirkten die Geräusche im Zug ungewöhnlich laut. Der kleine Belgier konnte Ratchett hören, der nebenan hantierte – ein Klick, als er den Waschtisch öffnete, das Plätschern des rinnen den Wassers, ein Planschen, dann ein neuerliches Klick, als das Becken wieder geschlossen wurde. Draußen im Gang tappten Schritte vorüber, schlurfende Schritte in Pantoffeln. Hercule Poirot lag wach und starrte zur Decke hinauf. Warum herrschte solche Stille auf der Station? Er räusperte sich, fühlte ein trockenes Kitzeln im Hals. Er hatte vergessen, seine ge wohnte Flasche Mineralwasser zu verlangen. Wieder sah er auf die Uhr. Viertel nach eins. Seine Finger tasteten nach der Klin gel, er wollte den Schaffner bitten, ihm Mineralwasser zu brin gen. Doch blieb es vorderhand bei der Absicht, da jetzt eine andere Klingel anschlug. Der Mann konnte schließlich nicht gleichzeitig auf mehrere Glockenzeichen reagieren. Ting… ting… ting… Wieder klingelte es. Jemand begann, ungeduldig zu werden. Wo war der Schaffner? Ting… Der Finger des ungeduldigen Reisenden blieb hartnäckig auf dem Klingelknopf liegen. Plötzlich kam der Kondukteur her beigestürzt, laut hallten seine Schritte durch den Gang. Er klopfte an eine Tür in der Nähe von Poirots Abteil.
Stimmen wurden laut – der Baß des Schlafwagenangestellten, ehrerbietig, entschuldigend, und ein helles Frauenorgan, wort reich und beharrlich. Mrs. Hubbard. Hercule schmunzelte. Der Wortwechsel – sofern man von gewechselten Worten sprechen konnte – dauerte ziemlich lange, im Verhältnis von neunzig zu zehn. Die neunzig Prozent kamen von Mrs. Hub bard, die zehn steuerte der Schaffner beschwichtigend bei. Endlich schien die Angelegenheit bereinigt zu sein, denn Poi rot hörte ein deutliches: »Bonne nuit, Madame«, und das Schlie ßen einer Tür. Nunmehr preßte er den Finger auf die eigene Klingel, und der Schaffner erschien prompt. Er sah erhitzt und bedrückt aus. »De l’eau minérale, s’il vous plaît.« »Bien, Monsieur.« Vielleicht verführte ihn ein vergnügtes Zwinkern in Poirots Augen dazu, sein Herz zu erleichtern. »La dame américaine…« »Ja?« Der Braununiformierte wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Malen Sie sich selbst aus, Monsieur, was ich mit ihr auszu stehen hatte! Sie behauptete steif und fest, in ihrem Abteil sei ein Mann. In einem Raum dieser Größe, Monsieur!« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »Wo sollte er sich verstecken? Ich habe auf Madame eingeredet, versucht, ihr klarzumachen, daß – daß sie das Opfer ihrer eigenen lebhaften Phantasie ist – ver geblich. Sie beharrt darauf: Sie sei aufgewacht und habe einen Mann gesehen. Und wie, frage ich, hat er das Abteil verlassen und von draußen den Innenriegel vorgeschoben? Doch Ver
nunftsgründen ist sie nicht zugänglich. Als ob wir nicht schon gerade genug Ärger hätten, Monsieur. Dieser Schnee…« »Schnee?« »Aber ja, Monsieur. Ist es Monsieur entgangen, daß der Zug hält? Wir stecken in einer Schneewehe fest – der Himmel weiß wie lange noch. Ich erinnere mich, daß wir einmal sieben Tage von den Schneemauern gefangengehalten wurden.« »Wo sind wir denn?« »Zwischen Vincovci und Brod.« »O la la«, sagte Hercule Poirot ärgerlich. Der Schaffner ging und erschien kurz darauf mit dem Wasser. »Bon soir, Monsieur.« Poirot trank ein ganzes Glas und streckte sich dann im Bett aus. Er war noch nicht völlig eingeschlafen, als er wieder un sanft gestört wurde. Diesmal war es, als sei etwas Schweres dumpf gegen seine Tür gepoltert. Mit einem Sprung war er aus dem Bett, riß die Tür auf und schaute hinaus. Nichts! Nur zur Rechten ging eine Frau in ei nem scharlachroten Kimono den Gang entlang. Am anderen Ende saß der Schaffner in seinem engen Winkel und trug Zah len in die Rubriken eines großen Bogens ein. Überall herrschte Totenstille. »Meine Nerven spielen wirklich verrückt«, sagte Poirot laut vor sich hin und stieg wieder ins Bett. Diesmal schlief er durch bis zum nächsten Morgen. Als er erwachte, stand der Zug noch immer. Poirot zog die Ja lousie hoch und sah hinaus. Der Zug war von hohen Schnee wällen eingeschlossen. Poirot blickte auf seine Uhr. Es war schon nach neun. Viertel vor zehn schlug Hercule Poirot, der kleine, weltberühmte De
tektiv, geschniegelt und adrett wie immer, den Weg zum Spei sewagen ein. Lebhaftes Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Wenn doch noch irgendwelche Schranken zwischen einzelnen Reisenden bestanden hatten, so waren sie jetzt endgültig gefal len. Alle fühlten sich geeint durch das gemeinsame Mißge schick. Gelegentlich drang Mrs. Hubbards Stimme siegreich aus dem Chor der anderen hervor: »Meine Tochter sagte, es sei die einfachste Sache von der Welt. Einfach im Zug sitzen bleiben bis Paris. Und jetzt? Tage und Tage können verstreichen, ehe der Schnee geräumt ist. Und übermorgen läuft mein Schiff aus. Wie soll ich es denn errei chen? Nicht einmal telegrafieren kann ich, um die Buchung rückgängig zu machen. Ich bin so wütend, daß es mir glatt die Sprache verschlägt.« Der Italiener erklärte, daß ihn dringende Geschäfte in Mai land erwarteten, und der große Amerikaner bedauerte »Ma’am« ausgiebig und drückte die Hoffnung aus, daß der Zug die Verspätung durch doppelte Geschwindigkeit wieder einho len könne. »Meine Schwester und ihre Kinder erwarten mich«, sagte die Schwedin weinend. »Und ich kann sie nicht verständigen. Was sollen die nur denken? Sie werden sich das Schlimmste ausma len.« »Wie lange müssen wir wohl hierbleiben?« fragte Mary De benham. »Weiß das jemand?« Ihre Stimme klang ungeduldig, doch Poirot vermißte in ihr die beinahe fiebrige Ängstlichkeit, die sie während des kurzen Aufenthalts des Taurus-Expresses an den Tag gelegt hatte. Wieder ließ sich Mrs. Hubbard vernehmen. »In diesem Zug weiß überhaupt niemand etwas. Und nie mand bemüht sich, irgend etwas zu tun. Das hat man von dem
faulen Ausländerpack! Ah, wenn diese Schneemassen drüben in Amerika einem Zug den Weg versperren, würde man we nigstens versuchen, etwas zu tun.« Arbuthnot wandte sich an Poirot und sagte in sorgfältig ge drechseltem Französisch: »Vous êtes un directeur de la ligne, je crois, Monsieur. Vous pouvez nous dire…« Lächelnd klärte Hercule Poirot diesen Irrtum auf. »Nein, nein«, erwiderte er auf englisch. »Sie verwechseln mich mit meinem Freund und Landsmann M. Bouc.« »O Pardon!« »Der Irrtum ist durchaus erklärlich«, meinte Poirot. »Man hat mich jetzt in dem Abteil untergebracht, das er früher innehat te.« M. Bouc war nicht anwesend, und Poirot ließ seinen Blick schweifen, um festzustellen, wer sonst noch fehlte. Nun, zum Beispiel Prinzessin Dragomiroff und das ungarische Ehepaar. Desgleichen Ratchett, sein Diener und die deutsche Zofe. Die Schwedin trocknete sich die verweinten Augen. »Ich bin töricht«, sagte sie reuevoll. »Es ist schlecht von mir zu klagen. Diese Verzögerung wird wohl ihr Gutes haben, wie ja meistens alles zum Guten ausschlägt.« Die anderen teilten diese christliche Denkart jedoch nicht. »Das klingt schön und gut«, sagte MacQueen unruhig. »Doch wie, wenn wir tagelang hier festsitzen?« »In welchem Land sind wir eigentlich?« erkundigte sich die verzweifelte Mrs. Hubbard. Und als man ihr Jugoslawien nann te, brach es erbittert von ihren Lippen: »Ah, einer von diesen Balkanstaaten! Was kann man da anderes erwarten?«
»Sie sind die einzige Geduldige, Mademoiselle«, wandte sich Hercule Poirot an Miss Debenham. Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Was hilft’s, sich aufzuregen?« »Sehr philosophisch gedacht, Mademoiselle.« »Es ist reine Selbstsucht, Monsieur, Selbsterhaltungstrieb. Ich habe gelernt, mich vor sinnlosen Gefühlsregungen zu hüten, die einen nur zermürben und aufreiben.« Sie sagte es mehr zu sich selbst als zu ihm. Ja, sie sah ihn nicht einmal an. Ihr Blick glitt über seine kleine Gestalt hinweg aus dem Fenster, wo der Schnee sich immer höher aufzutürmen schien. »Sie sind ein starker Charakter, Mademoiselle«, versicherte Poirot liebenswürdig. »Meines Erachtens sogar der stärkste von uns allen.« »O nein. Ich kenne einen, der viel stärker ist als ich.« »Und das wäre…« Plötzlich schien es ihr zum Bewußtsein zu kommen, daß sie mit einem Fremden, noch dazu einem Ausländer sprach, mit dem sie bis zum heutigen Morgen knapp ein halbes Dutzend Sätze gewechselt hatte. Sie lachte höflich, aber voller Abwehr. »Zum Beispiel die alte Dame«, lenkte sie ab. »Sie haben sie wahrscheinlich bemerkt, Monsieur. Eine sehr häßliche alte Da me. Und trotzdem braucht sie nur den kleinen Finger zu heben und etwas zu verlangen, und der ganze Zug läuft und rennt.« »Er läuft und rennt auch für meinen Freund M. Bouc«, ent gegnete Hercule Poirot. »Allerdings weil er Direktor der Inter nationalen Schlafwagengesellschaft ist, nicht etwa weil er einen herrischen, despotischen Charakter hat.« Mary Debenham lächelte abermals.
Der Morgen schlich dahin. Verschiedene Reisende, unter ih nen auch der kleine Detektiv, blieben im Speisewagen – das Gemeinschaftsleben schien sich für die lästige Wartezeit besser zu eignen. Poirot erfuhr noch eine Menge über Mrs. Hubbards Tochter und wurde überdies in die Gewohnheiten des verstor benen Mr. Hubbard eingeweiht – angefangen vom morgendli chen Imbiß, zu dem eine reichliche Portion Haferflocken gehört hatte, bis zur Nachtruhe, der er sich in wollenen Bettsocken, von Mrs. Hubbard gestrickt, hinzugeben pflegte. Als er später einem etwas konfusen Bericht über die Missi onsbestrebungen der schwedischen Dame lauschte, betrat einer der Schlafwagenkondukteure den Speisewagen und blieb vor Poirot stehen. »Pardon, Monsieur.« »Ja?« »Eine Empfehlung von M. Bouc. Er läßt fragen, ob Sie wohl die Güte hätten, umgehend für einige Minuten zu ihm zu kommen.« Poirot trennte sich mit einer Entschuldigung von der Schwe din und folgte dem Schaffner in den nächsten Wagen und noch den halben Gang des übernächsten entlang. Das Abteil, an das der Mann endlich klopfte, gehörte nicht M. Bouc. Es war ein Abteil zweiter Klasse, aber besonders geräumig; trotzdem machte es einen überfüllten Eindruck. M. Bouc selbst saß auf dem kleinen Sitz in der gegenüberlie genden Ecke. Ihm vis-à-vis blickte ein dunkelhäutiger Herr in den Schnee hinaus. Breitbeinig und Poirot den Weg versper rend stand ein vierschrötiger Mann in blauer Uniform – der Zugführer – vor dem Fenster, und neben ihm sah der kleine Belgier seinen eigenen Schlafwagenkondukteur.
»Ah, mein lieber Freund«, rief M. Bouc. »Schnell, treten Sie näher. Wir brauchen Sie.« Der Dunkelhäutige unweit des Fensters rückte zur Seite, und Poirot nahm neben ihm Platz. Was fehlte seinem Landsmann? Sein Gesichtsausdruck gab Poirot zu denken. Etwas Unge wöhnliches mußte sich ereignet haben. »Was ist geschehen?« fragte Poirot. »Oh, allerhand, mon cher. Erst dieser Schneesturm, dieser un freiwillige Aufenthalt. Und jetzt…« Er machte eine Pause, und aus dem Mund des Schlafwagen betreuers kam ein ersticktes Seufzen. »Und jetzt, was?« »Und jetzt liegt ein Passagier tot in seinem Bett – erstochen!« sagte M. Bouc mit der Ruhe der Verzweiflung. »Ein Passagier? Welcher?« »Dieser Amerikaner. Er heißt – er heißt…« Bouc zog einige vor ihm liegende Notizen zu Rate. »Ratchett. Nicht wahr, Rat chett?« »Ja, Monsieur«, würgte der Schlafwagenschaffner hervor. Und Poirot merkte erst jetzt, daß der Mann weiß war wie eine Wand. »Sagen Sie ihm, er soll sich setzen«, wandte sich der De tektiv mahnend an M. Bouc. »Er ist ja einer Ohnmacht nahe.« Der Zugführer trat ein wenig zurück. Der Schlafwagenkon dukteur sank erschöpft in die Ecke und vergrub das Gesicht in den Händen. »Brr!« meinte Poirot. »Das ist ernst.« »Gewiß ist es ernst, mon ami. Ein Mord an und für sich ist schon eine Kalamität erster Ordnung. Doch hier erschweren noch die Nebenumstände die Sache. Wir stecken fest. Vielleicht
für Stunden, vielleicht für Tage. Und ferner haben wir, da wir mehrere Länder passieren, meist einen Polizeibeamten des je weiligen Staates im Zug. In Jugoslawien jedoch nicht. Verstehen Sie?« »Das ist eine verworrene Geschichte«, gab Poirot zu. »Oh, es kommt noch schlimmer, mon cher. Dr. Constantine – Pardon, ich habe vergessen, Sie vorzustellen – Dr. Constantine, Monsieur Poirot.« Der dunkelhäutige Mann verbeugte sich, und Hercule Poirot tat das gleiche. »Dr. Constantine ist der Meinung, daß der Tod gegen ein Uhr nachts eintrat.« »Einen genauen Zeitpunkt festzulegen ist ungemein schwie rig«, ergriff der griechische Arzt das Wort. »Indes glaube ich, behaupten zu können, daß der Mann zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens starb.« »Wann wurde Mr. Ratchett zuletzt lebendig gesehen?« »Gesehen? Das weiß ich nicht«, erwiderte M. Bouc. »Aber un gefähr zwanzig Minuten vor eins hat er noch mit dem Schlaf wagenkondukteur gesprochen.« »Richtig«, stimmte Poirot zu. »Das habe ich selbst gehört. Das ist das letzte, was man von ihm weiß.« »Ja. Das Fenster von Mr. Ratchetts Abteil war weit geöffnet, so daß der Schluß nahelag, der Mörder sei auf diesem Weg ent kommen. Meiner Meinung nach ist das aber eine Finte. Wäre der Mörder durch das Fenster geflohen, hätte er Spuren im Schnee hinterlassen müssen. Es gibt aber keine.« »Wann wurde das Verbrechen entdeckt?« »Michel!« Der Schlafwagenschaffner fuhr in die Höhe, das Gesicht noch immer blaß und verstört.
»Berichten Sie dem Herrn ganz genau, was passiert ist«, be fahl M. Bouc. Michel berichtete unzusammenhängend und mit großen Pau sen dazwischen. »Der Kammerdiener dieses Mr. Ratchett – ja, er klopfte heute morgen an die Tür. Erhielt keine Antwort. Dann kam vor einer Stunde der Speisewagenkellner. Er wollte wissen, ob Monsieur zum Dejeuner erscheinen würde. Es war inzwischen elf Uhr geworden. Ich öffnete ihm schließlich die Tür mit meinem Schlüssel. Aber von innen war die Kette vorgelegt. Und kalt war es drinnen – eisig kalt! Der Schnee wehte durch das offene Fenster herein. Ich dachte, daß den Herrn vielleicht ein Un wohlsein befallen habe, und holte den Zugführer. Wir spreng ten die Kette und gingen hinein. Er lag dort… Ah! C’était ter rible!« Wieder barg er das Gesicht in den Händen. »Die Tür war verschlossen und von innen durch die Kette ge sichert?« wiederholte Poirot nachdenklich. »Selbstmord kann es nicht gewesen sein – eh?« Der kleine griechische Doktor lachte laut auf. »Tötet sich ein Selbstmörder mit zehn, zwölf, fünfzehn Mes serstichen?« fragte er schneidend. Hercule Poirot riß entsetzt die Augen auf. »Das ist ja barbarisch!« Jetzt meldete sich der Zugführer zum erstenmal. »Glauben Sie mir, das war eine Frau«, erklärte er. »Nur eine Frau kann derartig zustechen.« Dr. Constantine rieb sich das dunkle Kinn. »Dann müßte sie über beträchtliche Kraft verfügen. Nichts liegt mir ferner, als mich hier in ›technischen‹ Einzelheiten zu ergehen – das wäre
nur verwirrend. Aber ich versichere Ihnen, daß zwei oder drei Stiche mit einer solchen Wucht geführt wurden, als sollten sie durch einen harten Gürtel aus Knochen und Muskeln dringen.« »Ein spitzfindiges, wissenschaftliches Verbrechen war es also nicht«, urteilte Hercule Poirot. »Nein. Sogar ein sehr unwissenschaftliches. Die Stiche schei nen aufs Geratewohl geführt worden zu sein. Es schien dem Täter egal zu sein, wohin er traf. Ein paar Stiche sind auch ab geglitten, haben kaum Schaden angerichtet. Mir kommt es fast so vor, als habe jemand die Augen geschlossen und in wilder Raserei blindlings drauflosgewütet.« »C est une femme«, versicherte der Zugführer. »Wenn Frauen in Wut geraten, entwickeln sie erstaunliche Kräfte.« Er nickte dabei so weise, daß jedermann argwöhnte, sein Urteil beruhe auf persönlicher Erfahrung. »Ich kann vielleicht ein paar Lücken füllen«, sagte jetzt Poirot. »Mr. Ratchett hat gestern mit mir gesprochen. Wenn ich ihn recht verstanden habe, besagten seine Worte nichts anderes, als daß er sich in Lebensgefahr befand.« »Dann war es keine Frau!« rief M. Bouc. »Sondern ein Profes sional aus der Verbrecherwelt. Ein Gangster, sagen die Ameri kaner, nicht wahr?« Den Zugführer schien es zu schmerzen, daß seine Theorie in nichts zerrann. »Nun, dann war es aber ein recht stümperhafter Gangster.« In Poirots Ton lag fachmännischer Tadel. »Wir haben da einen Hünen von Amerikaner im Zug«, ent sann sich M. Bouc, seine Idee weiterverfolgend. »Ein höchst ordinär aussehender Mann mit gräßlicher Kleidung. Er kaut
Gummi, was doch wohl in besseren Kreisen nicht üblich ist. Sie wissen, wen ich meine?« Der Schlafwagenkondukteur, dem diese Frage galt, nickte. »Ja, Monsieur. Die Nr. 16. Doch er scheidet als Täter aus. Ich hätte es gesehen, wenn er das Abteil betreten und wieder ver lassen hätte.« »Vielleicht, Michel, vielleicht aber auch nicht. Doch lassen wir das einstweilen dahingestellt. Die Frage lautet: Was sollen wir tun?« Vielsagend blickte er Poirot an, und Poirot hielt dem Blick schweigend stand. »Mon cher, Sie verstehen mich sehr wohl. Warum also noch viele Worte verlieren? Nehmen Sie die Nachforschungen in die Hand. Nein, nein, keine Widerrede! Ich spreche jetzt für die Internationale Schlafwagengesellschaft. Wie einfach wäre alles, wenn wir der jugoslawischen Polizei bei ihrem Erscheinen die Lösung des Falles präsentieren könnten. Ansonsten Verzögerungen, Verdrießlichkeiten, eine Million Weiterungen. Vielleicht sogar – wer weiß – ernstliche Belästi gungen von gänzlich unschuldigen Personen. Statt dessen ent schleiern Sie das Mysterium. Wir sagen kurzweg: Es ist ein Mord geschehen, und hier ist der Täter.« »Und angenommen, ich entschleiere es nicht?« »Ah, mon cher!« M. Boucs Stimme wurde weich und schmei chelnd. »Ich kenne Ihren Ruf. Ich weiß ein wenig über Ihre Me thoden Bescheid. Hier wird Ihnen ein geradezu idealer Fall ge boten. Das Vorleben all dieser Reisenden zu durchleuchten, ihren Leumund zu prüfen – all das erfordert Zeit und bringt unzählige Unannehmlichkeiten mit sich. Haben Sie nicht oft genug gesagt, um einen Fall zu lösen, brauche ein Mann sich nur in seinen Sessel zu setzen und nachzudenken? Tun Sie das, mon ami. Sprechen Sie mit den Reisenden, sehen Sie sich die Leiche an, prüfen Sie die vorhandenen Hinweise, und dann –
nun, ich baue auf Sie. Ich bin überzeugt, daß es nicht leere Prah lerei von Ihnen ist: Lehnen Sie sich zurück, und denken Sie nach. Gebrauchen Sie – wie Sie immer sagen – die kleinen grau en Zellen Ihres Gehirns – und Sie werden klarsehen.« »Ihr Vertrauen rührt mich, mein Freund«, sagte Poirot be wegt. »Wie Sie sehr richtig bemerkten, kann das kein schwieri ger Fall sein. Ich selbst habe vergangene Nacht – doch das ge hört vorerst nicht hierher. Tatsächlich, die Sache reizt mich, mon vieux. Noch vor einer Stunde habe ich überlegt, wie ich mir ü ber die Langeweile unseres erzwungenen Aufenthalts hinweg helfen könnte, und schon wird mir ein interessantes Problem beschert.« »Sie nehmen also an?« fragte M. Bouc voll Eifer. »C’ est entendu. Legen Sie die Sache vertrauensvoll in meine Hände.« »Wunderbar! Und wir alle stehen Ihnen zur Verfügung.« »Für den Anfang brauche ich einen genauen Plan vom Schlafwagen Istanbul-Calais und genaue Angaben über die einzelnen Reisenden, und ferner würde ich gern ihre Pässe und ihre Fahrkarten sehen.« »Michel, die haben doch Sie in Verwahrung. Holen Sie sie.« Der Kondukteur verließ den kleinen Konferenzraum. »Was ist mit den anderen Passagieren?« setzte Poirot seine Ermittlungen fort. »In diesem Wagen sind Dr. Constantine und ich die einzigen. Im von Bukarest kommenden Wagen reist ein alter, dem Schlafwagenbediensteten wohlbekannter Herr mit einem lah men Bein. Die übrigen Waggons kommen für uns nicht in Be tracht, da nach dem Diner gestern abend die Verbindungstür zum Schlafwagen abgeschlossen wurde. Und vor dem nach
Calais bestimmten Wagen läuft lediglich noch der Speisewa gen.« »Dann müssen wir, wie mir scheint, unseren Mörder in dem Wagen Istanbul-Calais suchen«, sagte Hercule Poirot gedehnt. Und zu dem Arzt gewandt fügte er hinzu: »Das wollten doch auch Sie andeuten, nicht wahr?« Der Grieche nickte. »Eine halbe Stunde nach Mitternacht bohrte sich unsere Lo komotive in die Schneemauer, und seither sitzen wir rettungs los fest. Es kann also niemand den Zug verlassen haben.« »Der Mörder ist unter uns«, sagte M. Bouc sehr ernst. »Er be findet sich im Zug.«
6 »Vor allem scheint es mir ratsam, dem jungen MacQueen ein bißchen auf den Zahn zu fühlen«, meinte Hercule Poirot. »Es ist durchaus möglich, daß wir wertvolle Hinweise von ihm erhal ten.« »Gewiß«, pflichtete M. Bouc bei. »Bitte holen Sie Mr. MacQueen hierher«, befahl er dann dem Zugführer, der das Abteil sofort verließ. Der Schlafwagenkondukteur kehrte mit einem Stapel von Pässen und Fahrkarten zurück. »Danke, Michel. Jetzt halte ich es für das beste, wenn Sie auf Ihren Posten zurückge hen. Ihre offizielle Aussage werden wir später aufnehmen.« »Sehr wohl, Monsieur.« Und Michel ging wieder. »Nachdem wir den jungen MacQueen gehört haben, ist viel leicht Monsieur le docteur so liebenswürdig, mich zu dem Toten zu begleiten«, sagte Poirot. »Gewiß.« »Und wenn wir dort fertig sind…« Doch da traten schon der Zuführer und der junge Amerikaner über die Schwelle. M. Bouc erhob sich. »Wir sind ein bißchen arg beengt hier«, sagte er zuvorkom mend. »Nehmen Sie meinen Platz. Mr. MacQueen. Dann sitzen Sie M. Poirot gerade gegenüber. So – ausgezeichnet.« MacQueen ließ sich auf die Polster fallen, während M. Bouc dem Zuführer weitere Anweisungen erteilte: »Sorgen Sie dafür, daß der Speisewagen geräumt wird und M. Poirot zur Verfü gung steht. Sie können Ihre Vernehmungen dann dort durch führen. Ist Ihnen das recht, mon cher!«
»Das Zweckmäßigste wäre es freilich«, stimmte Poirot zu. MacQueens Augen wanderten unsicher zwischen den beiden Belgiern hin und her denn er konnte ihrem schnellen Franzö sisch nicht folgen. »Qu’est-ce qu’il y a?« begann er stockend. »Pourquoi…« Mit einer energischen Geste zeigte Poirot auf den Platz in der Fensterecke. MacQueen setzte sich. »Pourquoi – «, begann er noch einmal, fiel dann jedoch in seine Muttersprache und fragte auf englisch: »Was ist denn los im Zug? Ist was passiert?« »Ja, leider.« Poirot nickte. »Machen Sie sich auf einen gewalti gen Schreck gefaßt. Ihr Arbeitgeber, Mr. Ratchett, ist tot.« MacQueen spitzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus. In seinen Augen leuchtete es auf, aber Schreck oder Betroffen heit zeigte er nicht. »Also haben sie ihn doch erwischt!« »Was meinen Sie damit, Mr. MacQueen?« Als der Amerikaner zögerte, setzte Poirot hinzu: »Sie nehmen an, daß Mr. Ratchett ermordet wurde?« »Ist das nicht der Fall?« Diesmal schien MacQueen ehrlich überrascht. »Ich hatte allerdings an Mord gedacht. Ist er im Schlaf gestorben? Mein Gott, der alte Mann war doch so zäh so zäh wie…« Er brach ab, weil ihm kein passender Vergleich ein fiel. »Nein, nein«, korrigierte Poirot. »Sie haben richtig vermutet. Mr. Ratchett fiel einem Mord zum Opfer. Er wurde erstochen. Aber es interessiert mich sehr zu erfahren, wieso Sie sofort an ein gewaltsames Ende dachten und nicht an einen natürlichen Tod.« MacQueen sah Poirot grübelnd an.
»Ich muß klarsehen«, erklärte er dann. »Wer sind Sie eigent lich? Und was haben Sie mit der Sache zu tun?« »Ich handle im Auftrag der Internationalen Schlafwagenge sellschaft.« Nach einer kurzen Pause ergänzte Poirot: »Ich bin Detektiv. Mein Name ist Hercule Poirot.« Doch die Wirkung, die er erwartet hatte, blieb aus. MacQueen beschränkte sich auf ein gleichgültiges »Ach so!« und wartete darauf, daß er weitersprach. »Sie kennen den Namen vielleicht.« »Ja, irgendwie kommt er mir bekannt vor – allerdings hielt ich ihn für den Namen eines Pariser Modeschöpfers.« Der kleine Belgier warf MacQueen einen giftigen Blick zu. »Es ist unglaublich«, stieß er erbost hervor. »Was ist unglaublich?« »Nichts. Machen wir weiter. Ich möchte, daß Sie mir alles er zählen, was Sie über Mr. Ratchett wissen, Mr. MacQueen. Sind Sie mit ihm verwandt?« »Nein ich bin – war – sein Sekretär.« »Wie lange waren Sie bei Mr. Ratchett angestellt?« »Etwas über ein Jahr.« »Bitte geben Sie mir alle Informationen, über die Sie verfü gen.« »Ich habe Mr. Ratchett vor einem Jahr in Persien kennenge lernt.« »Was haben Sie dort gemacht?« unterbrach ihn Poirot. »Ich war wegen einer Erdölkonzession von New York herü bergekommen, glaube aber nicht, daß die Einzelheiten von In teresse für Sie sind. Jedenfalls gerieten meine Freunde und ich dann ziemlich in die Patsche. Mr. Ratchett war im selben Hotel
abgestiegen: da er sich mit seinem Sekretär überworfen hatte, bot er mir die Stellung an, und ich griff zu. Ich war ohne Arbeit, und die Sache kam mir wie gerufen.« »Und seither?« »Sind wir herumgereist. Mr. Ratchett wollte die Welt kennen lernen, doch haperte es bei ihm mit den Fremdsprachen. Ei gentlich war ich mehr Reisemarschall als Sekretär und führte ein ganz angenehmes Leben.« »Und jetzt erzählen Sie mir mal soviel wie möglich über die Person Ihres Arbeitgebers.« Der junge Mann zuckte mit den Schultern, auf seinem Gesicht spiegelte sich leichte Verwirrung. »Das ist leichter gesagt als getan«, meinte er. »Wie hieß er mit vollem Namen?« »Samuel Edward Ratchett.« »Amerikanischer Staatsbürger?« »Ja.« »Aus welchem Teil Amerikas gebürtig?« »Das weiß ich nicht.« »Schön, dann erzählen Sie mir, was Sie wissen.« »Kurz und bündig, Mr. Poirot: Ich weiß überhaupt nichts. Mr. Ratchett hat nie über sich selbst oder sein Leben in den Verei nigten Staaten gesprochen.« »Weshalb wohl nicht?« »Keine Ahnung. Möglicherweise schämte er sich für seine Herkunft, seine Anfänge. Manche Männer tun das.« »Halten Sie das für eine befriedigende Erklärung?« »Ehrlich gestanden, nein.« »Hatte er Verwandte?«
»Wenn ja, hat er sie nie erwähnt.« Aber Poirot ließ noch nicht locker. »Sie müssen sich doch eine Meinung gebildet haben, Mr. MacQueen«, drängte er. »Das freilich. Ich glaube, er hieß gar nicht Ratchett. Und fer ner glaube ich, daß er Amerika verließ, weil er vor irgend etwas oder irgendwem flüchtete. Diese Flucht scheint ihm bis vor we nigen Wochen geglückt zu sein.« »Und dann?« »Dann bekam er öfter Briefe – Drohbriefe.« »Haben Sie sie selbst gelesen?« »Ja. Es gehörte zu meinen Pflichten, seine Korrespondenz zu erledigen. Der erste Brief erreichte ihn vor vierzehn Tagen.« »Sind diese Briefe vernichtet worden?« »Nein. Einige müssen noch in meiner Aktentasche stecken. Einen hat Ratchett allerdings in einem Wutanfall zerrissen. Soll ich sie holen?« »Wenn ich bitten darf.« MacQueen verließ das Abteil und war bald mit zwei ziemlich schmutzigen Briefbogen wieder zurück. Der erste Brief lautete: »Sie dachten wohl, Sie könnten uns betrügen und kämen da mit davon? Vergebliches Bemühen! Wir sind Ihnen auf den Fersen, und wir werden Sie zur Strecke bringen, Ratchett.« Eine Unterschrift war nicht vorhanden. Mit einem kaum merklichen Emporziehen der Augenbrauen las Poirot den zweiten Brief: »Bald geht die Jagd auf Sie los, Ratchett. Wir werden Sie krie gen, das sehen Sie doch ein?« »Der Stil ist monoton«, sagte Poirot und legte den Brief aus der Hand. »Die Schrift weniger.«
MacQueen starrte ihn an. »Ihnen fällt das nicht auf«, meinte der kleine Belgier ver gnügt. »Aber ein geschultes Auge erkennt ohne weiteres, daß die Schrift nicht von einer einzigen Person stammt. Zwei oder auch mehrere sind daran beteiligt – jeder hat in jedem Wort abwechselnd je einen Buchstaben geschrieben. Außerdem sind die Buchstaben in Druckschrift zu Papier gebracht, was das Erkennen der Handschrift erschwert. Wissen Sie übrigens, daß Mr. Ratchett mich um Hilfe gebeten hat?« »Sie?« Das Staunen des jungen Mannes war echt, für Poirot ein Beweis, daß er nichts davon gewußt hatte. »Jawohl, mich. Er fürchtete für sein Leben. Schildern Sie mir bitte, wie er sich beim Empfang des ersten Schreibens verhielt.« MacQueen zögerte. »Er – er legte es mit dem ihm eigenen lautlosen Lachen beisei te. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, daß es ihn mächtig mitgenommen hat.« Poirot nickte und stellte dann eine völlig unerwartete Frage: »Mr. MacQueen, sagen Sie mir bitte ganz ehrlich, ob Ihnen Ihr Arbeitgeber sympathisch war.« Wieder antwortete MacQueen nicht sofort. Aber endlich ge stand er: »Nein, ich habe ihn nicht gemocht.« »Und warum nicht?« »Gründe anzuführen fiele mir schwer. Mr. Ratchett hat mich immer gut behandelt.« Ein abermaliges Zögern. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Mr. Poirot: Ich hegte einen Widerwillen gegen ihn, und ich mißtraute ihm. Er war – dessen bin ich si cher – ein grausamer und gefährlicher Mensch, muß jedoch zugeben, daß ich für meine Meinung keine stichhaltigen Grün de ins Treffen führen kann.«
»Danke, Mr. MacQueen. Nun noch eine weitere Frage – wann haben Sie Mr. Ratchett zuletzt lebend gesehen?« »Gestern abend gegen – nun, etwa gegen zehn Uhr. Ich ging in sein Abteil, weil er mir ein paar Briefe diktieren wollte.« »Um was ging es dabei?« »Um Fliesen und antike Töpferwaren, die er in Persien ge kauft hatte. Man hatte ihm nicht die von ihm ausgewählten Stücke geliefert. Und darüber führte er einen langen, zornigen Briefwechsel.« »Und da wurde Mr. Ratchett zum letzten Mal lebend gese hen?« »Das nehme ich an.« »Wissen Sie, wann Mr. Ratchett den letzten Drohbrief be kam?« »Am Morgen unserer Abreise aus Istanbul.« »Jetzt noch eine einzige Frage, Mr. MacQueen: Haben Sie sich mit Ihrem Arbeitgeber gut verstanden?« MacQueen blinzelte plötzlich vergnügt. »Das ist wohl der Augenblick, in dem ich Gänsehaut kriegen müßte, wie? Doch mit den Worten eines Bestsellers ausge drückt: ›Sie können mir nichts anhängen.‹ Ratchett und ich standen sehr gut miteinander.« »Nun möchte ich noch Ihren vollständigen Namen sowie Ihre Adresse in Amerika wissen.« »Hector Willard MacQueen«, gab der junge Mann bereitwillig Auskunft und nannte dann noch seine Adresse. »Das ist im Moment alles.« Hercule Poirot lehnte sich in die Samtpolsterung zurück. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn
Sie über Ratchetts Tod noch ein Weilchen Stillschweigen be wahren würden.« »Gewiß. Doch muß sein Kammerdiener, Masterman, bald da von erfahren.« »Er weiß wahrscheinlich schon jetzt Bescheid«, gab Poirot zu rück. »In diesem Fall versuchen Sie Ihr Bestes, damit er den Mund hält.« »Das dürfte nicht schwierig sein. Er ist Brite und ›hält sich für sich‹, wie er es nennt. Er hat eine geringe Meinung von den Amerikanern und eine noch geringere von allen anderen Nati onalitäten. Infolgedessen würdigt er kaum jemanden eines Wortes.« »Danke, Mr. MacQueen.« Der Amerikaner verbeugte sich und ging. »Nun?« forschte M. Bouc. »Glauben Sie ihm, mon ami?« »Er macht einen rechtschaffenen Eindruck. Wäre er in das Verbrechen verwickelt, hätte er sich nicht so offen zu seiner Abneigung gegen Ratchett bekannt. Gewiß, Mr. Ratchett hat ihm verschwiegen, daß er versuchte, mich mit seinem Schutz zu beauftragen, aber ich denke nicht, daß man dies als verdäch tigen Umstand deuten muß. Wenn meine Menschenkenntnis mich nicht täuscht, war Ratchett ein Mann, der seine Absichten für sich behielt, wenn es irgendwie möglich war.« »Ah, dann erklären Sie wenigstens eine Person schon jetzt für unschuldig!« M. Bouc seufzte erleichtert auf. »Ich?« Poirot warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Mon ami, ich mißtraue jedem bis zur letzten Minute. Dennoch muß ich gestehen, daß ich mir nicht vorzustellen vermag, wie dieser nüchterne Langschädel MacQueen die Fassung verliert und auf
sein Opfer zwölf- bis fünfzehnmal einsticht. Es paßt nicht zu seinem Charakter – nein, es paßt ganz und gar nicht.« »Richtig. Das ist die Tat eines Mannes, den sein brennender Haß fast um den Verstand bringt, und deutet mehr auf ein süd ländisches Temperament hin. Oder auch, wie unser Freund, der Zugführer, behauptet, auf eine Frau.«
7 Gefolgt von Dr. Constantine, begab sich Poirot in den anderen Wagen, wo ihnen der Kondukteur das Abteil des Ermordeten aufschloß. »Was ist hier drinnen verändert worden?« wandte sich Poirot fragend an seinen Begleiter, als sie den kleinen Raum betraten. »Nichts«, versicherte der Arzt. »Bei meiner Untersuchung ha be ich mich gehütet, den Toten zu bewegen.« Poirot sah sich um. Das erste, was ihm auffiel, war die schneidende Kälte. Das Fenster war so weit wie möglich geöff net und die Jalousie hochgezogen. »Brrr!« Poirot schüttelte sich vor Kälte. Dr. Constantine lächelte verständnisvoll. »Ich habe gedacht, es sei besser, es nicht zu schließen«, sagte er. »Völlig richtig, Doktor. Im übrigen stimme ich mit Ihnen auch darin überein, daß das Fenster nur zum Schein geöffnet wurde, um eine Flucht des Mörders vorzutäuschen. Doch der Schnee vereitelte diese Täuschung.« Poirot untersuchte sorgfältig den Fensterrahmen, nahm dann ein kleines Schächtelchen aus sei ner Tasche und bließ ein bißchen Pulver über das Holz. »Nicht ein einziger Fingerabdruck, das heißt also, man hat den Rahmen abgewischt. Doch auch etwaige Fingerabdrücke wären kaum aufschlußreich gewesen. Sie hätten doch nur Rat chett oder seinem Kammerdiener oder dem Schlafwagen schaffner gehört. Derartige Fehler unterlaufen Verbrechern heutzutage nicht mehr. Und in Anbetracht dieser Tatsache dür fen wir mit gutem Gewissen das Fenster nunmehr schließen«, fügte er fröhlich hinzu. »Bei Gott, in einem Eiskeller kann es nicht viel kälter sein als hier!«
Er ließ die Tat unverzüglich dem Wort folgen und richtete erst jetzt seine Aufmerksamkeit auf die regungslose Gestalt im Bett. Ratchett lag auf dem Rücken. Seine Pyjamajacke, mit rostfar benen Flecken übersät, war aufgeknöpft und zurückgeschlagen. »Ich mußte die einzelnen Stichwunden genau untersuchen«, erklärte der Arzt. »Selbstverständlich.« Poirot beugte sich über die Leiche. Als er sich wieder aufrichtete, schnitt er eine kleine Grimasse. »Puh, das ist alles andere als hübsch! Wie viele Wunden sind es ge nau?« »Zwölf habe ich einwandfrei festgestellt. Eine oder zwei sind allerdings so leicht, daß man sie höchstens als Kratzer bezeich nen kann. Andererseits sind mindestens drei so schwer, daß jede von ihnen schon genügt hätte, um den Tod herbeizufüh ren.« Irgend etwas in Dr. Constantines Ton machte Poirot stutzig, und er warf ihm einen scharfen Blick zu. Der Arzt musterte den Toten mit unverkennbarer Verblüffung. »Schenken Sie mir reinen Wein ein, mein Freund«, bat er freundlich. »Da ist doch etwas, das Sie merkwürdig berührt?« »Sie haben recht«, gab Dr. Constantine zu. »Und – was ist es?« »Ja. Sehen Sie diese beiden Stiche – hier und hier. Sie sind tief, jeder hat fraglos wichtige Blutgefäße verletzt, und dennoch klaffen die Ränder nicht auseinander. Die Wunden haben nicht so stark geblutet, wie man es erwartet hätte.« »Was bedeutet?« »Daß der Mann schon tot war – ganz kurze Zeit freilich –, als sie ihm beigebracht wurden. Und das ist doch wohl absurd.«
»Gewiß«, meinte Poirot grübelnd, »sofern sich der Mörder nicht selbst eingeredet hat, er habe nicht ganze Arbeit geleistet, und noch einmal zurückkam, um ganz sicherzugehen. Doch das widerspricht jeder Erfahrung. Sonst noch etwas?« »Ja. Bitte betrachten Sie sich diese Wunde unter dem rechten Arm, unweit der rechten Schulter. Und nun nehmen Sie mal meinen Bleistift, weil wir kein Messer zur Hand haben. Wären Sie imstande, einen solchen Stich anzubringen?« Poirot machte eine entsprechende Bewegung. »Ah, ich begreife, Doktor. Mit der rechten Hand ist es außer ordentlich schwer, um nicht zu sagen unmöglich. Man müßte dann – wie der Tennisspieler sagt – mit der Rückhand zuste chen. Wenn indes der Stich mit der Linken…« »Richtig, Monsieur Poirot«, fiel der Arzt ein. »Ich möchte wet ten, daß eine linke Hand das Messer führte.« »Mithin wäre unser Mörder ein Linkshänder? Nein, es ist wohl noch verzwickter, nicht wahr?« »Viel verzwickter. Denn, sehen Sie, ein paar dieser Wunden rühren unbedingt von einer rechten Hand her.« »Also zwei Personen«, sagte der Detektiv. »So weit waren wir schon einmal.« Und ganz unvermittelt fragte er: »Hat das elekt rische Licht gebrannt?« »Das weiß ich nicht, da es der Kondukteur morgens gegen zehn Uhr abschaltet.« »Die Schalter werden es uns verraten«, sagte Poirot. Die Untersuchung ergab, daß der Schalter der Deckenbe leuchtung abgedreht war und die Leselampe am Kopfende des Bettes auch nicht gebrannt haben konnte. »Eh bien, da haben wir die Hypothese des ersten und des zweiten Mörders, wie der große Shakespeare es ausdrücken
würde. Der erste Mörder erstach sein Opfer und verließ das Abteil, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte. Der zweite schlich sich im Dunkeln herein, ohne zu ahnen, daß ein anderer ihm zuvorgekommen war, und stach wenigstens zweimal auf eine Leiche ein. Que pensez-vous de ca?« »Wunderbar!« rief der kleine Arzt begeistert. »Ist das Ihre ehrliche Meinung?« Poirot zwinkerte mit den Augen. »Dann freut es mich. Mir selbst kam es ein bißchen un sinnig vor.« »Kann es denn eine andere Erklärung geben?« »Das frage ich mich auch. Haben wir es hier mit einem zufäl ligen Zusammentreffen zu tun? Stehen wir noch anderen Wi dersprüchen, anderen Ungereimtheiten gegenüber, die sich nur durch die Beteiligung zweier Personen erklären ließen…« »Letzteres möchte ich bejahen, Monsieur Poirot. Einige dieser Wunden deuten auf Schwäche – einen Mangel an Kraft oder einen Mangel an Entschlossenheit hin. Es sind kraftlose, ober flächliche Stiche. Wohingegen der hier – und dieser hier des gleichen – brutale Gewalt voraussetzen. Überzeugen Sie sich, daß sie die Muskeln glatt durchschnitten haben.« »Da hat also, Ihrer Meinung nach, ein Mann das Messer ge führt?« »Ganz bestimmt.« »Kann es nicht auch eine Frau gewesen sein?« »Eine junge, athletische Frau wäre dazu imstande, besonders wenn sie durch eine heftige Gemütsbewegung aufgepeitscht wird. Und dennoch erscheint es mir unwahrscheinlich.« Poirot blickte finster vor sich hin, und Constantine fragte be sorgt: »Verstehen Sie meinen Gesichtspunkt nicht?«
»Doch, doch, ganz und gar. Überhaupt beginnt sich das Dun kel erstaunlich zu lichten!« Sarkastisch lachte er auf. »Der Mör der war ein sehr kräftiger Mann – er war schwach, es war eine Frau, er war linkshändig, er war rechtshändig… Ah, c’ est ridicu le, tout ca! Und das Opfer? Wie benimmt es sich bei alledem? Schrie es? Kämpfte es? Verteidigte es sich?« Bei seiner letzten Frage schob er die Hand unter das Kissen und zog den Brow ning hervor, den Ratchett ihm tags zuvor gezeigt hatte. »Voll geladen – sehen Sie.« An den Messinghaken der Wand hing Ratchetts Tagesklei dung, und auf dem kleinen Tisch, den der Deckel des Waschbe ckens bildete, standen ein Glas mit Ratchetts falschen Zähnen, noch ein zweites, leeres Glas, eine Flasche Mineralwasser, eine große Phiole und ein Aschenbecher, der einen Zigarettenstum mel, ein verkohltes Stück Papier und ferner zwei angebrannte Streichhölzer enthielt. Der Doktor nahm das Glas und schnupperte daran. »Hier ha ben wir die Erklärung dafür, daß Ratchett sich nicht wehrte.« »Betäubungsmittel?« »Ja.« Poirot nickte. Er hob die beiden Streichhölzer auf und prüfte sie eingehend. »Die Streichhölzer sind nicht vom selben Fabrikat«, antworte te Poirot. »Eins ist flacher als das andere. Sehen Sie?« »Die flachen kann man im Zug kaufen«, sagte der Doktor. »In Streichholzheftchen.« »Ja? Das wußte ich nicht.« Schon durchstöberte Hercule Poi rot eifrig die Taschen von Ratchetts Anzug und förderte eine Streichholzschachtel zutage, deren Inhalt er sorgfältig mit den beiden Hölzchen im Aschenbecher verglich. »Das runde
Streichholz stammt aus Mr. Ratchetts Schachtel«, sagte er. »Mal sehen, ob er auch flache Streichhölzer besaß.« Doch so eifrig er auch suchte, es waren keine anderen vor handen. Poirots Blicke flogen im Abteil hin und her. Sie waren hell und scharf wie die eines Raubvogels, und man hatte das Ge fühl, daß ihnen nichts entgehen konnte. Plötzlich bückte er sich mit einem Ausruf und hob etwas vom Boden auf. Ein zierliches Quadrat aus Batist, das in der einen Ecke den gestickten Buchstaben H trug. »Ein Taschentuch«, sagte der Arzt. »Schau, schau, da hatte der Zugführer, der die Sache einer Frau in die Schuhe schieben wollte, also doch recht. Es ist eine Frau im Spiel.« »Die uns zur Freude am Tatort ihr Taschentuch verliert«, sag te Poirot. »Genau wie im Roman oder im Film. Und um uns die Dinge zu erleichtern, ist es mit einem Monogramm gekenn zeichnet.« »Wirklich ein unglaubliches Glück für uns, Mr. Poirot!« »Und ob!« sagte Poirot. Etwas in seinem Ton überraschte den Arzt, doch noch bevor er um eine Erklärung bitten konnte, hatte Poirot sich zum zwei tenmal gebückt. Diesmal lag. als er sich aufrichtete, auf seiner flachen Hand ein – Pfeifenreiniger. »Vielleicht gehört er dem Toten«, meinte der Arzt. »Obwohl in seinen Taschen weder eine Pfeife noch ein Ta baksbeutel stecken?« »Dann ist er ein unschätzbarer Hinweis.«
»Oh, unbedingt, und eigens zu unserer Unterstützung zu rückgelassen!« kam es spöttisch von Poirots Lippen. »Einer, der zur Abwechslung auf einen Mann schließen läßt. Wahrlich, über einen Mangel an Hinweisen kann man sich in diesem Fall nicht beklagen – es gibt sie in Hülle und Fülle. Wo haben Sie übrigens die Tatwaffe gelassen?« »Der Mörder muß sie mitgenommen haben. Ich habe keine Waffe gesehen.« »Ich frage mich, warum er sie mitgenommen hat«, sagte Poi rot nachdenklich. »Ah!« rief der Doktor plötzlich, der sich an der Schlafanzugja cke des Toten zu schaffen gemacht hatte und nun eine goldene Taschenuhr aus der Brusttasche zog. »Die ist mir vorhin ent gangen.« Die mörderische Klinge hatte das Uhrgehäuse stark ver schrammt und verbeult, und die Zeiger wiesen auf ein Viertel nach eins. »Nun wissen wir die genaue Tatzeit, die sich mit meinen Be rechnungen deckt. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr lautete mein Urteil. Eh bien, da haben wir die Bestätigung. Ein Viertel nach eins. Das ist die Stunde, in der das Verbrechen begangen wurde.« »Es ist möglich, ja. Es ist zweifellos möglich.« Der Arzt sah Poirot neugierig an. »Verzeihung, Monsieur Poi rot, ich verstehe Sie nicht ganz.« »Ich verstehe mich selbst nicht«, antwortete Hercule Poirot. »Ich verstehe überhaupt nichts, und wie Sie sehen, ärgert mich das.« Er seufzte und neigte sich über den kleinen Tisch, um das verkohlte Papier zu begutachten. »Eine altmodische Damen
hutschachtel – ja, das ist es, was ich in diesem Moment drin gend brauche«, sagte er vor sich hin. Dr. Constantine wußte sich diese sonderbare Bemerkung nicht zu deuten. Doch Poirot ließ ihm keine Zeit, eine entspre chende Frage zu stellen. Er öffnete die Tür zum Gang und rief den Kondukteur, der dienstwillig herbeigelaufen kam. »Wie viele Damen reisen in diesem Wagen?« Michel zählte an den Fingern ab. »Eins, zwei, drei – sechs, Monsieur. Die alte amerikanische Dame, eine Schwedin, die junge Engländerin, die Gräfin Andrenyi, Madame la Princesse Dragomiroff und ihre deutsche Zofe.« Poirot überlegte. »Haben sie alle Hutschachteln bei sich?« »Ja, Monsieur.« »Dann bringen Sie mir – halt, eine Sekunde! Ja, bringen Sie mir die Schachtel der Schwedin und der Zofe. Auf diesen bei den ruht meine ganze Hoffnung. Erfinden Sie irgendein Mär chen, weshalb Sie die Schachteln brauchen, schwindeln Sie das Blaue vom Himmel herunter.« »Das ist nicht nötig, Monsieur, da die beiden Damen sich im Moment nicht in ihren Abteilen aufhalten.« »Dann beeilen Sie sich.« Michel entfernte sich rasch und kam nach wenigen Minuten mit dem Verlangten zurück. Poirot riß zuerst die der Zofe ge hörende Schachtel auf und stieß sie als ungeeignet beiseite. Doch als er den Deckel der anderen aufklappte, frohlockte er: »Voilà! Vor fünfzehn Jahren haben alle Hutschachteln innen so ausgesehen wie diese. Kommen Sie, junger Freund, erwei tern Sie Ihre Kenntnisse.« Vorsichtig entfernte er die Hüte und legte runde Klumpen aus Drahtgeflecht frei. »Seinerzeit hat
man die Damenhüte mit einer langen Hutnadel an solchen Drahtgebilden festgespießt.« Während er sprach, löste er zwei dieser Drahtgebilde ge schickt aus der Schachtel, packte die Hüte wieder ein und be auftragte Michel, beide Schachteln zurückzutragen. »Sehen Sie, lieber Doktor, ich gebe im allgemeinen nicht viel auf kriminalistische Techniken wie Fingerabdrücke«, sagte Poi rot, als die Tür hinter Michel zuschnappte. »Ich werte die Psy chologie höher. In diesem Fall jedoch würde ich eine kleine wissenschaftliche Unterstützung willkommen heißen. Dies Ab teil hier strotzt förmlich von Hinweisen. Wer aber bürgt mir dafür, daß sie wirklich das sind, was sie zu sein scheinen?« »Pardon, Monsieur Poirot, ich sehe nicht ganz klar…« »Schön, dann werde ich mich durch ein Beispiel verständli cher machen. Wir finden ein Frauentaschentuch. Ließ es eine Frau fallen? Oder ein Mann, der sich bei Ausführung des Verbrechens sagte: ›Es soll so aussehen, als sei es die Tat einer Frau, und daher werde ich meinem Feind eine unnötige Anzahl von Stichen beibringen, darunter mehrere schwache und un wirksame, und hinterher ein Taschentuch an einer Stelle fallen lassen, wo niemand es übersehen kann.‹ Das ist eine Möglich keit. Und nun die andere. Beging eine Frau den Mord und ließ absichtlich einen Pfeifenreiniger zurück, um den Verdacht auf einen Mann zu lenken? Oder dürfen wir ernstlich annehmen, daß ein Mann und eine Frau unabhängig voneinander an der Tat beteiligt waren und beide so unachtsam waren, einen Hin weis auf ihre Identität zurückzulassen? Das scheint mir denn doch ein bißchen zuviel des Zufalls zu sein.« »Aber was hat die Hutschachtel damit zu tun?« fragte der Arzt verblüfft.
»Ah! Auch dazu komme ich noch. Wie ich schon sagte, diese Hinweise – wie die um ein Viertel nach eins stehengebliebene Uhr, das Taschentuch, der Pfeifenreiniger – können echt, aber ebensogut auch falsch sein. Doch auf die Echtheit eines Hinwei ses möchte ich schwören – ich meine das flache Zündholz, Monsieur le docteur. Glauben Sie mir, jenes Hölzchen wurde vom Mörder und nicht von Mr. Ratchett benützt. Und zwar benutzte er es, um irgendein belastendes Papier zu verbrennen. Möglicherweise einen kurzen Brief. Wenn das zutrifft, muß dieser Brief etwas enthalten haben, einen Fehler, einen Irrtum, der unmißverständlich auf unseren Mörder hinwies. Ich werde versuchen festzustellen, was dieses Etwas war.« Er ließ den Doktor eine Minute allein, und als er das Abteil wieder betrat, trug er einen kleinen Spiritusbrenner und eine Brennschere in der Hand. »Die brauche ich gewöhnlich für meinen Schnurrbart«, erklär te er, auf die Brennschere zeigend. Der Arzt beobachtete Poirot interessiert, sah, wie er die bei den Drahtklumpen flachdrückte, das verkohlte Papier mit un endlicher Vorsicht auf die eine Drahtfläche legte und mit der anderen zudeckte. Dann hielt er das sonderbare Gebilde mit der Brennschere, die er wie eine Reifenzange benutzte, über die Spiritusflamme. »Es ist ja nur ein Notbehelf«, sagte er über die Schulter hin weg. »Hoffen wir, Doktor, daß er zum Ziel führt.« Aufmerksam beobachtete der Arzt, was als nächstes passierte. Das Metall begann zu glühen, und plötzlich erschienen die schwachen Umrisse von Buchstaben. Langsam formten sich Worte – Worte in Feuerschrift. Doch der Papierfetzen war schmal, und es zeigten sich nur fünf ganze Worte und ein verstümmeltes:
»… innern an die kleine Daisy Armstrong…« »Ah!« stieß Hercule Poirot hervor. »Sagt es Ihnen etwas?« »Ja.« Poirots Augen funkelten, als er vorsichtig die Brennsche re niederlegte. »Jetzt weiß ich den richtigen Namen des Toten, und ich weiß auch, warum er Amerika verlassen mußte.« »Nennen Sie mir den Namen.« »Cassetti.« »Cassetti«, wiederholte Constantine mit nachdenklich gerun zelten Brauen. »Da meldet sich irgendeine dunkle Erinnerung. Gab es nicht vor etlichen Jahren einen Kriminalfall in Ameri ka…« »Jawohl, einen Kriminalfall in Amerika.« Doch zu einer nähe ren Erklärung war Poirot nicht geneigt. »Das werden Sie später noch alles genau erfahren. Lassen Sie uns vorerst einmal hier erledigen, was zu erledigen ist«, fügte er hinzu. Schnell und gründlich durchsuchte er noch einmal Ratchetts Taschen, fand jedoch nichts Interessantes. Dann versuchte er, die Verbindungstür zum Nebenabteil zu öffnen, aber sie war von drüben abgeriegelt. »Etwas verstehe ich wirklich nicht«, sagte Dr. Constantine. »Wenn der Mörder nicht durch das Fenster flüchten konnte, die Verbindungstür auf der anderen Seite verriegelt ist und die Tür zum Korridor von drinnen nicht nur abgeschlossen, sondern auch noch durch eine Kette gesichert war – wie hat der Mörder das Abteil verlassen?« »Genau dasselbe fragt sich bei einer Zaubervorstellung das Publikum, wenn eine an Händen und Füßen gefesselte Person in einen Schrank eingeschlossen wird – und verschwindet.« »Sie meinen…«
»Ich meine«, sagte Poirot lächelnd, »daß ein Mörder, der uns weismachen will, er sei durch das Fenster entflohen, selbstver ständlich den Anschein erweckt, als sei ein Entkommen durch die beiden anderen Ausgänge ganz unmöglich. Genau wie die Person im Zauberkabinett, die sich in Luft aufzulösen scheint. Es steckt ein Trick dahinter, mon cher docteur, und an uns liegt es herauszufinden, wie man den Trick ausführt.« Bei diesen Wor ten schloß er die Verbindungstür auch von dieser Seite ab und erklärte schmunzelnd: »Damit es sich die vortreffliche Mrs. Hubbard nicht einfallen lassen kann, für die Briefe an ihre noch vortrefflichere Tochter auf eigene Faust Einzelheiten über das Verbrechen zu sammeln. Und nun gibt es meines Erachtens für uns hier nichts mehr zu tun. Kehren wir zu M. Bouc zurück.«
8 M. Bouc aß gerade den letzten Bissen eines Omeletts. »Mir schien es am zweckmäßigsten, umgehend den Lunch für die anderen servieren zu lassen«, sagte er. »Hinterher soll der Spei sewagen geräumt werden. Inzwischen habe ich für uns drei einen Imbiß hierher in mein Abteil bestellt.« »Eine ausgezeichnete Idee«, lobte Poirot. Jedoch fehlte es allen dreien am rechten Appetit. Sie aßen schweigend und rasch, doch erst als sie beim Kaffee waren, kam M. Bouc auf das Thema zu sprechen, das sie alle beschäf tigte. »Eh bien?« »Eh bien«, gab Hercule Poirot zurück, »ich tappe hinsichtlich der Person des Ermordeten nicht mehr im dunkeln. Und ich weiß, warum er gezwungen war, Amerika zu verlassen.« »Wer war er?« »Entsinnen Sie sich der Zeitungsmeldungen über das Ver schwinden der kleinen Daisy Armstrong? Der Tote in unserem Zug ist der Mann, der das Kind ermordete – Cassetti.« »Natürlich erinnere ich mich. Eine schreckliche Sache. Die Einzelheiten sind mir allerdings entfallen.« »Oberst Armstrong war englischer Vizekonsul. Seine Mutter, eine Millionenerbin, stammte aus den Vereinigten Staaten, Armstrong selbst heiratete die Tochter von Linda Arden, der berühmten amerikanischen Tragödin, und lebte mit seiner Gat tin in Amerika. Der Ehe entsprang ein Kind – ein kleines Mäd chen, der Abgott seiner Eltern. Als die Kleine drei Jahre zählte, wurde sie entführt und eine phantastisch hohe Summe als Lö
segeld verlangt. Mit den Verwicklungen, die nun folgten, will ich Sie nicht ermüden. Es genügt, wenn ich Ihnen mitteile, daß die verzweifelten Eltern schließlich zweihunderttausend Dollar bezahlten und man kurz darauf die Leiche des Kindes entdeck te, in einem Zustand, der unzweideutig bewies, daß der Tod schon mindestens vor vierzehn Tagen eingetreten war. Doch noch weitere Schicksalsschläge trafen die Armstrongs. Mrs. Armstrong war in anderen Umständen und erlitt infolge der Aufregungen eine Fehlgeburt, an der sie starb, worauf sich der so schwer geprüfte Gatte aus Gram und Kummer erschoß.« »Mon dieu, was für eine Tragödie! Aber wenn ich mich recht erinnere, wurde noch ein Menschenleben vernichtet, nicht wahr?« »Ja – ein unglückliches französisches oder schweizerisches Kindermädchen. Die Polizei vertrat den Standpunkt, es habe von dem Verbrechen gewußt, und weigerte sich, dem hysteri schen Leugnen der jungen Frau Glauben zu schenken, bis sich die Ärmste in einem Anfall von Verzweiflung aus dem Fenster stürzte. Nach ihrem Tod stellte sich heraus, daß sie völlig un schuldig war.« »Es ist nicht sehr angenehm, daran zu denken«, sagte M. Bouc. »Ungefähr sechs Monate später verhaftete die Polizei Cassetti als Haupt jener Bande, die das Kind entführt und ähnliche Me thoden auch schon früher angewendet hatte. Sobald die Polizei ihnen auf die Spur kam, ermordeten die Gangster ihre jeweilige Geisel, erpreßten die Angehörigen aber so lange um horrende Summen, bis der Mord entdeckt wurde. Und jetzt hören Sie mir gut zu, mein Freund. Cassetti war der Mann. Aber mit Hilfe seines zusammengeraubten, enormen Reichtums und geheimer Druckmittel, die er gegen mehrere
Personen in der Hand hatte, gelang es ihm, aufgrund eines ge ringfügigen Verfahrensfehlers seine Freilassung zu erreichen. Dennoch hätte ihn die empörte Bevölkerung gelyncht, wenn sie seiner habhaft geworden wäre. Jetzt weiß ich auch, wie es mit ihm weiterging. Er legte sich einen anderen Namen zu, verließ Amerika, wo ihm der Boden zu heiß geworden war, und reiste beschaulich in der Welt umher – als ein begüterter Gentleman, der von den Zinsen seines Vermögens lebt.« »Ah, quel animal!« rief M. Bouc voll tiefstem Abscheu. »Ich vermag ihn wegen seines gewaltsamen Todes nicht zu bedau ern. Er hat ihn verdient.« »Da kann ich Ihnen nur zustimmen.« »Tout de même, es war nicht nötig, daß er im Orientexpreß ge tötet wurde. Es gibt genug andere Orte.« Poirot lächelte flüchtig, da er sich vergegenwärtigte, daß M. Bouc in dieser Hinsicht voreingenommen sein mußte. »Die Frage, die wir uns vorzulegen haben, lautet: Ist dieser Mord die Tat einer Verbrecherbande, die Cassetti vielleicht frü her mal übers Ohr gehauen hat? Oder ist er ein Akt privater Rache? Wenn mich meine Vermutung nicht trügt, verbrannte der Mörder den Brief, von dem ich die verkohlten Überbleibsel fand. Warum verbrannte er ihn? Weil das Wort Armstrong dar in vorkam, was ein wichtiger Fingerzeig war.« Auf einen fragenden Blick von M. Bouc, der ja nicht Bescheid wußte, erklärte ihm Poirot, was es mit dem Brief auf sich hatte. »Existieren noch lebende Mitglieder der Familie Armstrong?« fragte M. Bouc. »Darüber bin ich leider nicht unterrichtet, mon ami. Dunkel schwebt mir allerdings vor, als ob ich von einer jüngeren Schwester Mrs. Armstrongs gelesen hätte.« Und nach dieser
Auskunft begann Poirot, von den verschiedenen höchst verwir renden Hinweisen zu berichten, die Dr. Constantine und er entdeckt hatten. Als er die zerbrochene Uhr erwähnte, hellte sich M. Boucs Gesicht zusehends auf. »Prachtvoll! Damit wissen wir die genaue Zeit des Verbre chens«, sagte er triumphierend. »Viertel vor eins. Zwanzig Mi nuten vor eins haben Sie Ratchett ja mit dem Kondukteur spre chen hören – da lebte er also noch.« »Dreiundzwanzig Minuten vor eins«, verbesserte Poirot. »Meinetwegen auch das. Ah, da schält sich aus dem Dunkel bereits eine unumstößliche Gewißheit heraus.« Poirot erwiderte nichts. Er saß in die Polster zurückgelehnt und blickte gedankenvoll vor sich hin. »Der Speisewagen ist jetzt frei, Monsieur«, meldete Michel, worauf sich M. Bouc sofort erhob. »Dann wollen wir übersiedeln.« »Darf ich Sie begleiten?« fragte Dr. Constantine. »Gewiß, lieber Doktor. Sofern Monsieur Poirot nichts dagegen einzuwenden hat.« »Keineswegs«, beeilte sich Poirot zu versichern. »Keines wegs.« Nachdem sich die drei Herren an der Abteiltür noch gegen seitig an Höflichkeit überboten hatten: »Nach Ihnen« – »Aber durchaus nicht, nach Ihnen, Monsieur«, machten sie sich auf den Weg in den Speisewagen.
9 Im Speisewagen war alles vorbereitet. Poirot und M. Bouc nahmen nebeneinander an einem der großen Tische Platz, während der Arzt sich an der Schmalseite niederließ. Vor Poirot lag ein Plan des Schlafwagens Istanbul-Calais, auf dem in roter Tinte die Namen der Passagiere eingetragen wa ren, und daneben ein kleiner Stapel Pässe und Fahrkarten. Auch Schreibpapier, Tinte, Federhalter und Bleistifte fehlten nicht. »Bravo, mon cher«, sagte Poirot. »Wir können umgehend mit dem Verhör beginnen. Als ersten möchte ich den Schlafwagen schaffner vernehmen. Wahrscheinlich können Sie mir schon vorab etwas über ihn sagen. Was hat er für einen Charakter? Ist er ein Mann, dessen Worten man trauen darf?« »Nach meiner Meinung unbedingt. Pierre Michel, seit über fünfzehn Jahren bei unserer Gesellschaft beschäftigt, ist Franzo se und in der Nähe von Calais ansässig. Es mag intelligentere Leute geben als ihn, doch ehrlichere und anständigere schwer lich.« »Gut«, nickte Poirot. »Lassen Sie ihn also holen.« Michel, obwohl ein wenig gefaßter als am Vormittag, machte immer noch einen äußerst nervösen Eindruck. »Schrecklich, dieser Mord«, sagte er. »Ich hoffe nur. Monsieur ist nicht der Meinung, ich hätte mir eine Nachlässigkeit zu schulden kommen lassen«, meinte er besorgt, und sein ängstli cher Blick wandte sich von Poirot ab und seinem Vorgesetzten zu. M. Bouc beschwichtigte ihn, so gut er konnte.
Dann stellte Poirot die ersten Fragen: Namen, Adresse, die Zahl seiner Dienstjahre und die Zeit, die er auf der östlichen Route zugebracht hatte – alles Dinge, die Poirot bereits wußte. Aber diese schematische Fragestellung diente dazu, den aufge regten Mann zu beruhigen.
»Und nun wollen wir uns den Ereignissen der letzten Nacht zuwenden«, fuhr Poirot fort. »Um wieviel Uhr ist Mr. Ratchett zu Bett gegangen?«
»Fast unmittelbar nach dem Dinner, Monsieur. Noch bevor wir von Belgrad abfuhren. In der Nacht vorher ging er zur sel ben Zeit schlafen. Er hatte mich angewiesen, sein Bett zu rich ten, während er bei Tisch war. Und das habe ich getan.« »War nach Ihnen noch jemand in seinem Abteil?« »Sein Kammerdiener, Monsieur, und der junge Amerikaner, sein Sekretär.« »Sonst niemand?« »Nicht, daß ich wüßte, Monsieur.« »Schön. Und später haben Sie ihn nicht mehr gesehen? Nichts mehr von ihm gehört?« »Doch, Monsieur, Sie vergessen, daß er gegen zwanzig vor eins klingelte – kurz nachdem wir im Schnee steckengeblieben waren.« »Wie spielte sich das genau ab?« »Ich klopfte an seine Tür, aber er öffnete nicht und rief nur, er habe sich geirrt, er brauche mich nicht.« »Auf englisch oder französisch?« »Auf französisch!« »Wiederholen Sie mir bitte den genauen Wortlaut.« »Ce n’ est rien. Je me suis trompé.« »Das stimmt«, erklärte Hercule Poirot. »Das habe ich auch gehört. Und daraufhin haben Sie sich wieder entfernt?« »Ja, Monsieur.« »Gingen Sie zu Ihrem Platz zurück?« »Nein, Monsieur. Ich ging noch zu einem anderen Passagier, der eben geklingelt hatte.« »Michel, jetzt kommt eine sehr wichtige Frage: Wo waren Sie um ein Uhr fünfzehn?«
»Ich, Monsieur? Ich saß in meiner Ecke am Ende des Ganges.«
»Sind Sie sicher?«
»Mais oui – wenigstens…«
»Ja?«
»Ich war kurz im nächsten Wagen – dem Athener Wagen –,
um ein paar Worte mit meinem Kollegen zu wechseln. Wir sprachen über den Schnee. Das ist kurz nach eins gewesen. Auf die Minute genau vermag ich es nicht anzugeben.« »Und wann kehrten Sie in unseren Wagen zurück?« »Als es abermals klingelte – doch das habe ich Monsieur schon heute nacht erzählt. Es war die amerikanische Dame, und sie drückte ein paarmal schnell hintereinander auf die Klingel. Aufgeregt, Sie verstehen?« »Ich erinnere mich daran«, sagte Poirot. »Und weiter?« »Nachher, Monsieur? Nun, da haben Sie doch selbst geklin gelt und ich brachte Ihnen das Mineralwasser. Eine halbe Stun de später machte ich dann das Bett im Abteil von Mr. MacQueen zurecht.« »War Mr. MacQueen allein?« »Nein, der englische Oberst von Nr. 15 leistete ihm Gesell schaft.« »Und wohin ging der Oberst, nachdem er sich von Mr. MacQueen getrennt hatte?« »Zu seinem eigenen Abteil.« »Nr. 15 – sagten Sie? Ist das nicht nahe bei Ihrem Platz?« »Ja, Monsieur. Es ist das zweite Abteil vom Ende des Ganges aus gerechnet.« »Sein Bett war bereits für die Nacht vorbereitet?«
»Ja, Monsieur. Ich habe es auch gemacht, als er beim Essen war.« »Wissen Sie, um wieviel Uhr sich die beiden Herren trenn ten?« »Nicht genau, Monsieur. Doch möchte ich behaupten, daß es nicht später als zwei gewesen ist.« »Und danach?« »Danach saß ich bis zum Morgen auf meinem Platz.« »Ein zweites Mal gingen Sie nicht in den Athener Wagen hin über?« »Nein, Monsieur.« »Vielleicht haben Sie geschlafen?« »Das glaube ich nicht. Daß der Zug stand, war für mich so ungewohnt, daß ich nicht wie sonst einschlafen konnte.« »Haben Sie irgendeinen von den Reisenden den Korridor hin auf- oder hinuntergehen sehen?« Pierre Michel überlegte ein Weilchen. »Eine der Damen ging zu der am anderen Wagenende gele genen Toilette.« »Welche Dame?« »Das weiß ich nicht, Monsieur. Die Entfernung zwischen ihr und mir war ziemlich groß, und die Dame kehrte mir den Rü cken zu. Ich erinnere mich jedoch, daß sie einen scharlachroten, drachenbestickten Kimono trug.« Poirot nickte. »Und weiter?« »Nichts, Monsieur. Bis zum Morgen ereignete sich nichts.« »Irren Sie sich auch nicht, Michel?«
»Ah, Pardon – Sie selbst, Monsieur, öffnete Ihre Tür und schauten eine Sekunde heraus.« »Gut, mein Freund«, sagte Hercule Poirot. »Ich wollte nur wissen, ob Ihnen das aufgefallen war. Übrigens wurde ich durch ein Geräusch wach, das so klang, als sei etwas gegen meine Tür gepoltert. Haben Sie eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?« Der Mann starrte ihn an. »Ich bin sicher, Monsieur, daß nichts dergleichen passiert ist«, beteuerte er endlich. »Nein? Nun, dann hatte ich eben einen Alptraum«, erwiderte Poirot gleichmütig. »Sofern das Geräusch nicht aus dem Nebenabteil kam«, mischte sich M. Bouc ein. Doch Hercule Poirot beachtete diesen Einwurf nicht – viel leicht veranlaßte ihn die Anwesenheit des Kondukteurs dazu. »Dann möchte ich noch einen anderen Punkt mit Ihnen erör tern, Michel«, ergriff er von neuem das Wort. »Nehmen wir einmal an, der Mörder sei gestern abend erst zugestiegen. Ist es ganz sicher, daß er den Zug nicht wieder verlassen haben kann, nachdem er die Tat begangen hatte?« »Ganz sicher, Monsieur.« »Oder daß er sich irgendwo im Zug versteckt hält?« »Man hat alles gründlich abgesucht, mon ami«, sagte M. Bouc. »Diese Idee können Sie ruhig fallenlassen.« Und Michel ergänzte: »Außerdem hätte ich jeden gesehen, der den Schlafwagen betreten hätte.« »Wo hatten wir den letzten Aufenthalt?« »In Vincovci.« »Um wieviel Uhr?«
»Fahrplanmäßig sollten wir um 11.58 Uhr weiterfahren. Doch durch die Schneeverwehungen hatten wir zwanzig Minuten Verspätung.« »Vielleicht hat sich jemand aus dem anderen Teil des Zuges eingeschlichen?« »Nein, Monsieur. Nach Beendigung des Dinners wird die Verbindungstür zwischen den anderen Wagen und dem Schlafwagen abgesperrt.« »Sind Sie in Vincovci für kurze Zeit ausgestiegen?« »Ja, Monsieur. Ich blieb, wie gewöhnlich, auf dem Bahnsteig dicht bei den Stufen des Schlafwagens stehen. Die anderen Kondukteure taten dasselbe.« »Und die vordere Tür? Ich meine die beim Speisewagen.« »Die ist immer von innen abgeriegelt.« »Aber jetzt ist sie doch offen.« Michel stutzte, doch dann hellte sich sein verblüfftes Gesicht auf. »Bestimmt hat einer der Reisenden sie geöffnet, um einen Blick auf die Schneemauern zu werfen.« »Wahrscheinlich«, sagte Poirot. In Gedanken versunken klopfte er minutenlang mit dem Blei stift auf die Tischplatte. »Ah, da fällt mir noch etwas ein!« rief er, plötzlich aufbli ckend. »Sie erwähnten vorhin, daß noch ein Passagier geklin gelt hat, als Sie vor Mr. Ratchetts Tür standen. Tatsächlich habe auch ich es gehört. Wer war das?« »Madame la Princesse Dragomiroff. Sie hat mich gebeten, ihre Zofe zu ihr zu schicken.« »Und das haben Sie getan?« »Gewiß, Monsieur.«
Minutenlang widmete sich Hercule Poirot dem Studium des vor ihm liegenden Plans. Dann nickte er. »Das ist vorläufig al les, Michel. Ich brauche Sie nicht mehr.« »Sehr wohl, Monsieur.« An der Tür drehte er sich verlegen um, den Blick auf M. Bouc geheftet. »Nur keine Sorge, Michel«, tröstete ihn Bouc. »Pech, daß der Mord ausgerechnet in dem Ihrer Obhut anvertrauten Wagen geschah. Eine Pflichtverletzung haben Sie sich nicht zuschulden kommen lassen.« Zufrieden verließ Pierre Michel das Abteil.
10 Poirot saß ein paar Minuten gedankenverloren da. »Ich glaube«, sagte er endlich, »daß wir uns, nach allem, was wir inzwischen erfahren haben, noch einmal mit Mr. MacQueen unterhalten sollten.« Der junge Amerikaner erschien sofort. »Nun«, sagte er, »wie stehen die Dinge?« »Nicht übel. Ich konnte inzwischen in Erfahrung bringen, wer Mr. Ratchett wirklich war.« »Ja?« Interessiert beugte sich MacQueen vor. »Ratchett war, wie Sie vermuteten, ein falscher Name. Rat chett war Cassetti, der berüchtigte Kidnapper, der unter ande rem die kleine Daisy Armstrong geraubt und getötet hat.« Auf Hector MacQueens Gesicht erschien ein Ausdruck fas sungslosen Erstaunens. Dann wurde er feuerrot. »Dieses verdammte Stinktier!« fluchte er. »Sie hatten keine Ahnung?« »Nein, Sir«, antwortete der junge Amerikaner. »Hätte ich es geahnt, hätte ich mir eher die rechte Hand abgehackt, als für diesen Halunken zu arbeiten.« »Die Sache geht Ihnen anscheinend nahe, Mr. MacQueen.« »Nicht ohne Grund. Mein Vater, Monsieur Poirot, war der Bezirksstaatsanwalt, der den Fall bearbeitete. Ich habe Mrs. Armstrong mehr als einmal gesehen. Eine reizende Frau, aber völlig gebrochen. Wenn je ein Mensch sein Schicksal verdien te«, grollte er, »so ist es Ratchett oder Cassetti. Mich freut sein Ende. Eine solche Bestie verdient nicht zu leben!«
»Sie reden beinahe so, als wären Sie durchaus bereit gewesen, die gute Tat selbst zu vollbringen.« »Möglich. Ich…« Hector MacQueen unterbrach sich und fügte fast schuldbewußt hinzu: »Mir scheint, ich bin auf dem besten Weg, mich verdächtig zu machen.« »In meinen Augen würden Sie sich verdächtiger machen, wenn Sie unmäßigen Kummer wegen Mr. Ratchetts Tod heu chelten«, erwiderte Poirot. »Das würde ich nicht einmal tun, um mich vor dem elektri schen Stuhl zu retten«, stieß MacQueen grimmig hervor. Und nach einer Weile setzte er hinzu: »Legen Sie es bitte nicht als zudringliche Neugier aus, wenn ich Sie frage, wie Sie hinter Cassettis Identität gekommen sind?« »Durch das Bruchstück eines Briefes, das ich in seinem Abteil gefunden habe.« »Aber das war doch – war doch eine sträfliche Nachlässigkeit von dem Alten.« »Das«, sagte Poirot, »hängt wohl von dem jeweiligen Stand punkt ab.« Der junge Mann schien diese Bemerkung verwirrend zu fin den, denn er sah Poirot an, als erhoffe er von ihm einen Hin weis. »Meine Aufgabe besteht zunächst darin, mich über das Tun und Lassen der einzelnen Passagiere zu informieren. Damit will ich niemanden beleidigen, verstehen Sie? Ich handle nur ent sprechend der in unserem Beruf üblichen Routine.« »Nur zu, Monsieur Poirot, prüfen Sie mich auf Herz und Nie ren. Ich nehme es Ihnen gewiß nicht übel.« »Über die Nummer Ihres Abteils brauche ich Sie nicht zu be fragen«, sagte Poirot lächelnd, »weil ich es eine Nacht mit Ihnen
teilte. Es ist das Abteil zweiter Klasse Nr. 6 und 7, das Ihnen, nachdem ich ging, wieder allein gehörte.« »Ganz recht.« »Jetzt schildern Sie mir genau, was Sie gestern abend nach dem Essen getan haben.« »Nichts einfacher als das. Ich ging in mein Abteil zurück, las ein bißchen, stieg in Belgrad aus, ging ein paarmal auf dem Bahnsteig auf und ab, fand, daß es grausig kalt sei, und kletter te in die Wärme zurück. Eine Weile unterhielt ich mich mit der jungen Engländerin, meiner Nachbarin. Dann begann ich mit Oberst Arbuthnot ein interessantes Gespräch – ah, Sie sind ja an uns vorübergekommen, Monsieur Poirot, und haben uns zu sammen gesehen. Dann suchte ich Mr. Ratchett auf. Es handelte sich, wie gesagt, um die Korrespondenz wegen der Antiquitä ten. Nachdem ich ihm gute Nacht gewünscht hatte und wieder in den Gang hinaustrat, stieß ich dort abermals auf Oberst Ar buthnot. Sein Bett war schon für die Nacht gerichtet worden, so daß ich ihm vorschlug, mich in mein Abteil zu begleiten. Wir rauchten und tranken und erörterten dabei die Weltpolitik, die Maßnahmen der indischen Regierung, unsere eigene finanzielle Lage und die Krise in Wall Street. Im allgemeinen meide ich den Umgang mit Briten – sie sind eine halsstarrige Gesellschaft –, aber dieser Mann gefällt mir.« »Wissen Sie, um wieviel Uhr er Sie verließ?« »Reichlich spät. Zwei wird es wohl gewesen sein.« »Haben Sie bemerkt, daß der Zug hielt?« »Natürlich. Wir wunderten uns ein wenig. Schauten auch hinaus und sahen die weißen Schneewälle. Wir dachten aller dings nicht, daß die Lage so ernst sein könnte.«
»Was geschah, als Oberst Arbuthnot schließlich gute Nacht sagte?« »Er ging in sein Abteil, und ich rief den Kondukteur, damit er mein Bett machte.« »Wo hielten Sie sich auf, während er Ihr Bett machte?« »Ich stand rauchend im Gang, direkt vor meiner Tür.« »Und dann?« »Legte ich mich hin und schlief bis zum Morgen.« »Sind Sie, außer in Belgrad, noch einmal aus dem Zug gestie gen?« »Arbuthnot und ich dachten, es wäre gut, wenn wir uns in Vin… Wie heißt doch das Nest? Vin – Von – ah Vincovci – also wenn wir uns in Vincovci ein bißchen Bewegung machten. Doch der wütende Schneesturm trieb uns bald wieder hinein.« »Durch welche Tür sind Sie ausgestiegen?« »Durch die, die unserem Abteil am nächsten lag.« »Also die beim Speisewagen?« »Ja.« »Erinnern Sie sich, ob sie abgeriegelt war, Mr. MacQueen?« Der junge Amerikaner überlegte. »Ja, ja, jetzt fällt es mir ein«, sagte er endlich. »Es war eine Art Stange vorgelegt, die über die Klinke griff. Meinen Sie das?« »Ja. Legten Sie bei Ihrer Rückkehr die Stange wieder vor?« »N – nein, ich glaube nicht. Ich stieg zwar als letzter ein, doch ich kann mich nicht erinnern, daß ich die Tür wieder gesichert hätte.« Und plötzlich fügte er hinzu: »Ist das so wichtig?« »Vielleicht. Nun vermute ich, Monsieur, daß die Tür Ihres Ab teils offenstand, als Sie sich mit Oberst Arbuthnot unterhiel ten.«
Hector MacQueen nickte. »Sagen Sie mir bitte, ob nach der Abfahrt von Vincovci bis zu dem Augenblick, in dem Sie und Oberst Arbuthnot sich trenn ten, jemand durch den Gang kam.« »Mir scheint, der Kondukteur ging einmal vorüber, und zwar aus der Richtung des Speisewagens«, erwiderte MacQueen. »Und dann auch eine Frau, die jedoch ging in die entgegenge setzte Richtung.« »Wer war die Frau?« »Ich habe nicht aufgepaßt, nur irgend etwas Rotes, Seidiges vorübergleiten sehen. Auch wenn ich weniger eifrig mit Ar buthnot diskutiert hätte, hätte ich die Betreffende nicht erkannt, da mir eine in diese Richtung gehende Person sofort den Rü cken zukehrt, nachdem sie meine Tür passiert hat.« »Vermutlich ging sie auf die Toilette, wie?« meinte Hercule Poirot. »Vermutlich.« »Haben Sie sie zurückkommen sehen?« »Donnerwetter, jetzt, da Sie es erwähnen, fällt es mir ein – nein, ich habe sie nicht mehr gesehen. Doch zurückgekommen ist sie natürlich auf jeden Fall.« »Nun werde ich Sie nicht mehr lange belästigen, Mr. MacQueen. Nur eine Frage noch: Rauchen Sie Pfeife?« »Nein, Sir.« »Hm…« Poirot überlegte. »Ich denke, das war vorläufig alles. Schicken Sie mir jetzt bitte den Kammerdiener von Ratchett herein. Sind Sie beide eigentlich immer zweiter Klasse gereist?« »Er ja, ich nicht. Ich hatte meist das Abteil neben dem von Ratchett. Er pflegte dann den größten Teil seines Gepäcks bei mir unterzubringen. Aber bei dieser Reise waren mit Ausnah
me des einen Abteils, das er für sich belegte, alle Plätze erster Klasse schon vergeben.« »Ich verstehe. Besten Dank, Mr. MacQueen.«
11 Der Amerikaner wurde von dem blassen Engländer mit dem ausdruckslosen Gesicht abgelöst, den Poirot schon tags zuvor gesehen hatte. In korrekter Haltung stand er abwartend da, bis der Detektiv ihn durch eine Handbewegung zum Sitzen auf forderte. »Wenn man mich recht unterrichtet hat, sind Sie der Kammer diener von Mr. Ratchett?« »Ja, Sir.« »Wie heißen Sie?« »Edward Henry Masterman.« »Ihr Alter?« »Neununddreißig.« »Ihre ständige Adresse?« »21 Friar Street, Cherkenwell.« »Sie haben gehört, daß Ihr Herr ermordet wurde?« »Ja, Sir. Es ist furchtbar.« »Wollen Sie mir bitte sagen, um welche Zeit Sie Mr. Ratchett das letzte Mal gesehen haben?« »Das muß gestern abend gegen neun gewesen sein«, erwider te der Diener nach kurzem Überlegen. »Vielleicht auch etwas später. Ich ging wie üblich zu ihm hinein, um meinen Pflichten nachzukommen.« »Worin bestanden diese?« »Seine Kleidungsstücke zusammenzufalten oder aufzuhän gen, Sir. Das Gebiß in das Mundwasserglas zu legen und dar
auf zu achten, daß alles vorhanden war, was er für die Nacht benötigte.« »Ist Ihnen gestern etwas an ihm aufgefallen? War er wie sonst?« »Ich glaube, er war erregt.« »Woran haben Sie das gemerkt? Und warum war er erregt?« »Wegen eines Briefes, den er gelesen hatte. Er fragte mich, ob ich das Schreiben in sein Abteil gelegt hätte, was ich natürlich verneinte. Doch er beschimpfte mich und fand an allem, was ich tat, etwas auszusetzen.« »Nörgelte er sonst nie?« »Oh, häufig. Er geriet sehr leicht in Wut.« »Hat Mr. Ratchett ab und zu ein Schlafmittel genommen?« »Wenn wir nachts reisten. Er behauptete, er könne sonst bei dem Geräusch der Räder nicht schlafen.« »Wissen Sie, welches Mittel er für gewöhnlich nahm?« Jetzt beugte sich Dr. Constantine etwas vor, diese Antwort in teressierte ihn besonders. »Das weiß ich nicht, Sir. Der Name des Mittels steht nicht auf dem Flaschenetikett – nur: ›Vor dem Schlafengehen einzuneh men‹.« »Hat er das Mittel auch gestern abend genommen?« »Ja, Sir. Ich goß es in ein Glas, das ich ihm in Reichweite hin stellte.« »Aber Sie haben nicht mit eigenen Augen gesehen, wie er es trank?« »Nein, Sir. Ich fragte dann, ob er heute morgen geweckt zu werden wünsche, worauf er erwiderte, ich solle ihn nicht stö ren, er werde klingeln.«
»War das ungewöhnlich?«
»Durchaus nicht, Sir. Er pflegte dem Schaffner zu klingeln,
der mich dann holen mußte.« »War er ein Frühaufsteher?« »Das hing ganz von seiner Laune ab, manchmal stand er zum Frühstück auf, manchmal erst kurz vor dem Lunch.« »So daß Sie heute nicht beunruhigt waren, als es immer später wurde und er sich nicht meldete?« »Genau, Sir.« »Ist Ihnen bekannt, daß Ihr Herr Feinde hatte?« »Ja, Sir«, gab der Mann unumwunden zu. »Woher wissen Sie das?« »Ich hörte zufällig, wie er mit Mr. MacQueen über gewisse Briefe sprach.« »Haben Sie Ihren Arbeitgeber gemocht, Masterman?« Das Gesicht des Dieners wurde, wenn möglich, noch aus drucksloser als zuvor. »Die Frage ist mir peinlich, Sir. Denn Mr. Ratchett war ein großzügiger Chef.« »Aber Sie mochten ihn trotzdem nicht, wie?« »Ich hege für Amerikaner im allgemeinen keine großen Sym pathien.« »Sind Sie in Amerika gewesen?« »Nein, Sir.« »Wissen Sie noch, ob Sie vor Jahren Zeitungsberichte über die Entführung der kleinen Daisy Armstrong gelesen haben?«
»Ja, Sir.« Jetzt stieg ein wenig Farbe in die blassen Wangen. »Eine derart gräßliche Geschichte vergißt man nicht so leicht. Das Kind war noch sehr klein, nicht wahr?« »War Ihnen bekannt, daß Ihr Arbeitgeber, Mr. Ratchett, der Hauptschuldige an diesem Verbrechen war?« »Nein, wahrhaftig nicht, Sir«, versicherte der Mann, und zum erstenmal verriet seine Stimme ein wenig Wärme und Gefühl. »Das kann ich kaum glauben, Sir.« »Und dennoch war es so. Nun schildern Sie mir – der Ord nung halber – den weiteren Verlauf des Abends. Was taten Sie, nachdem Sie Mr. Ratchett allein ließen?« »Ich teilte Mr. MacQueen mit, daß Mr. Ratchett ihn sehen wolle, ging dann in mein eigenes Abteil und las.« »Ihr Abteil ist…« »Das letzte in der zweiten Klasse. Direkt neben dem Speise wagen.« Poirot verglich die Angabe mit seinem Plan. »Richtig. Und welches ist Ihr Bett?« »Das untere, Nr. 4.« »Und wer schläft in dem oberen?« »Ein dicker Italiener, Sir.« »Spricht er Englisch?« »Nun, so eine Art Englisch.« Das klang verächtlich. »Der Mann war in Amerika, in Chicago, soviel ich weiß.« »Unterhalten Sie sich viel mit ihm?« »Nein, Sir. Ich ziehe ein Buch der Unterhaltung vor.« Nur mit Mühe unterdrückte Poirot ein Lächeln. Er glaubte die Szene vor sich zu sehen: den großen, dicken, gesprächigen Ita
liener, und den Gentleman-Diener, der ihn von oben herab be handelte und praktisch schnitt. »Und was lesen Sie gerade, wenn ich fragen darf?« »Fesseln der Liebe von Arabelle Richardson.« »Ein schönes Buch?« »Ich finde es sehr spannend.« »Schön. Sie kehrten also in Ihr Abteil zurück und ließen sich von den Fesseln der Liebe fesseln. Bis wann?« »Gegen zehn Uhr dreißig wollte dieser Italiener schlafen ge hen, worauf der Schaffner erschien und die Betten zurecht machte.« »Und Sie gingen auch ins Bett und schliefen?«
»Ich legte mich hin – ja, Sir. Aber ich habe nicht geschlafen.«
»Warum nicht?«
»Ich bekam plötzlich Zahnschmerzen.«
»Oh – das tut mir leid.«
»Es waren sehr starke Schmerzen, Sir.«
»Haben Sie etwas dagegen eingenommen?«
»Ich rieb das Zahnfleisch mit Nelkenöl ein, was den Schmerz
zwar ein bißchen linderte, aber an Schlaf war trotzdem nicht zu denken. Ich knipste deshalb die Leselampe an und begann wie der zu lesen, um mich abzulenken.« »Stellte sich der Schlaf denn überhaupt nicht ein?«
»Doch, Sir. Gegen vier Uhr morgens.«
»Und Ihr Gefährte?«
»Dieser Italiener? Oh, der schnarchte nicht schlecht!«
»Er hat das Abteil nachts nicht verlassen?«
»Nein, Sir.«
»Und Sie?«
»Ich auch nicht.«
»Haben Sie im Laufe der Nacht irgend etwas gehört?«
»Nichts Ungewöhnliches, Sir. Ich meine, da der Zug stand,
war es sehr still.« Poirot überlegte einen Augenblick. »Tja, da gibt es wohl nicht mehr viel zu sagen. Zu der Tragödie können Sie keinerlei An gaben machen?« »Leider nein.« »Wissen Sie zufällig, ob Mr. Ratchett und Mr. MacQueen je mals Streit miteinander hatten?« »O nein, Sir. MacQueen ist ein sehr angenehmer Gentleman.« »Wo waren Sie in Stellung, bevor Mr. Ratchett Sie engagier te?« »Bei Sir Henry Tomlinson, Sir. Auf dem Grosvenor Square.« »Warum haben Sie die Stellung aufgegeben?« »Sir Henry ging nach Ostafrika und benötigte meine Dienste nicht mehr. Doch er würde bestimmt für mich bürgen. Ich war mehrere Jahre bei ihm.« »Und wie lange waren Sie bei Mr. Ratchett?« »Etwas mehr als neun Monate, Sir.« »Ich danke Ihnen, Masterman. Sind Sie übrigens Pfeifenrau cher?« »Nein, Sir. Ich rauche nur Zigaretten.« »Danke. Das genügt.« Der Kammerdiener zögerte. »Verzeihung, Sir – aber die ältere Amerikanerin ist schreck lich aufgeregt. Sie behauptet, den Mörder genau zu kennen.«
»So?« Hercule Poirot lächelte. »Dann wollen wir von ihrem Wissen profitieren.« »Soll ich sie herschicken, Sir? Sie verlangt unentwegt, mit je mandem von der Polizei zu sprechen. Der Schaffner bemüht sich vergeblich, sie zu beruhigen.« »Schicken Sie sie nur zu uns, mein Freund. Wir werden uns ihre Geschichte mit Vergnügen anhören.«
12 Vor Aufregung ganz außer Atem, fegte Mrs. Hubbard in den Speisewagen. Sie war kaum imstande, deutlich zu sprechen. »Schnell – schnell, sagen Sie mir… wer vertritt hier die Behör de? Ich verfüge über sehr, sehr wichtige Informationen und wünsche, sie dem behördlichen Vertreter so rasch wie möglich mitzuteilen. Wenn Sie, meine Herren…« Ihr flackernder Blick zuckte zwischen den drei Männern hin und her. Poirot beugte sich vor. »Berichten Sie mir, Madame«, sagte er. »Aber zuerst machen Sie es sich bitte hier bequem.« Mrs. Hubbard plumpste schwer auf den Stuhl, der Poirot ge genüberstand. »Was ich Ihnen zu sagen habe, ist folgendes: Heute nacht wurde im Zug ein Mord verübt, und der Mörder war in mei nem Abteil!« Sie legte eine Pause ein, damit ihre Worte auch wirkten. »Madame, vielleicht irren Sie sich.« »Irren? Pah! Ich weiß, was ich sage. Und ich will Ihnen auch die näheren Einzelheiten nicht verschweigen. Ich hatte bereits geschlafen und wachte plötzlich wieder auf. Im Abteil war es dunkel und trotzdem wußte ich, daß ein Mann da war. Ich war vor Schreck und Angst wie gelähmt und konnte weder rufen noch schreien. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Stock steif lag ich da und dachte: Gnade und Barmherzigkeit, man will mich ermorden. Ach, die Ängste, die ich ausstand, kann ich Ihnen gar nicht beschreiben! Und mir fielen alle Geschichten von Eisenbahnüberfällen wieder ein, die ich je gelesen hatte. Dann dachte ich wiederum: Nun, meinen Schmuck wird er je
denfalls nicht finden. Denn sehen Sie, meine Herren, den hatte ich in einen Strumpf gesteckt und unter mein Kopfkissen ge legt. Sehr bequem war das zwar nicht, der harte Höcker drückte ganz schön… Doch das gehört nicht zur Sache. Ja, wo war ich doch stehengeblieben?« »Ihnen war klargeworden, Madame, daß sich in Ihrem Abteil ein Mann befand.« »Ja, richtig. Mit geschlossenen Augen lag ich da und dachte: Dem Himmel sei Dank, daß meine Tochter nichts von der Ge fahr weiß, in der ich mich befinde! Und dann konnte ich plötz lich wieder klar denken. Vorsichtig tastete ich mit der Hand nach der Klingel und fand sie auch. Aber der Kondukteur kam nicht, so fest ich auch drückte und drückte. Ach, Monsieur, ich kann Ihnen versichern, ich dachte, mir bleibt das Herz stehen. Gnade und Barmherzigkeit, sagte ich mir, vielleicht sind die übrigen Insassen des Zuges schon allesamt ermordet worden. Er stand ohnehin, und es herrschte eine wahrhaft gräßliche Stil le. Aber ich klingelte weiter, immer weiter, und, o welche Er leichterung, als ich im Gang Schritte hörte und es gleich darauf bei mir klopfte. ›Kommen Sie herein!‹ schrie ich und knipste gleichzeitig das Licht an. Und ob Sie es glauben oder nicht, Monsieur – da war keine Menschenseele!« Das schien für Mrs. Hubbard keine Antiklimax, sondern der dramatische Höhepunkt ihrer Geschichte zu sein. »Und was passierte dann, Madame?« »Ich berichtete dem Kondukteur mein Erlebnis, doch er glaubte mir offensichtlich nicht. Er bildete sich wohl ein, ich hätte geträumt. Doch ich blieb hartnäckig. Ich zwang ihn, unter dem Bett nachzusehen, obwohl er mir versicherte, dort sei es so eng, daß sich höchstens ein Hund oder eine Katze verstecken könnten. Tatsächlich erwies sich, daß der Eindringling nicht
mehr da war. Aber daß er dagewesen war, steht für mich fest, und als der Schaffner versuchte, mir das Ganze auszureden und mich zu beschwichtigen, wurde ich so wütend wie noch nie. Was denkt sich dieser Einfaltspinsel eigentlich? Ich bin kein hysterisches Frauenzimmer, das Gespenster sieht, Mr. – Par don, wie lautet Ihr Name?« »Poirot, Madame. Und dies ist M. Bouc, ein Direktor der Schlafwagengesellschaft, und dies Dr. Constantine.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, murmelte Mrs. Hubbard ziemlich geistesabwesend und stürzte sich dann von neuem in ihren Bericht. »Und dann habe ich mich dummerweise ziemlich vergalop piert. Mir kam nämlich die Idee, es könne nur der Mann von nebenan gewesen sein – der arme Teufel, der ermordet worden ist. Daher befahl ich dem Kondukteur, nachzusehen, ob die Verbindungstür verriegelt war, und natürlich war sie offen. Auf mein Geheiß hin riegelte er sie dann ab, und nachdem er ge gangen war, verbarrikadierte ich sie noch mit einem Koffer.« »Um welche Zeit passierte das alles, Mrs. Hubbard?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Dazu war ich zu aufgeregt.« »Und was für eine Theorie haben Sie jetzt?« »Eine wirklich überflüssige Frage, Monsieur Poirot! Das liegt doch auf der Hand. Der Mann, der in mein Abteil eindrang, war der Mörder. Wer sonst?« »Und Sie glauben, er habe sich ins Nebenabteil zurückge schlichen?« »Weiß ich, was er tat? Ich hatte doch die Augen geschlossen.« »Er könnte auch durch Ihre Abteiltür auf den Gang geflüchtet sein.«
»Ich kann mich dazu nicht äußern. Wie gesagt, hatte ich die Augen fest geschlossen, Monsieur Poirot.« Mrs. Hubbard seufz te. »Herrgott, war ich erschrocken! Wenn meine Tochter…« »Und Sie sind nicht der Meinung, Madame, daß die Geräu sche, die Sie hörten, aus dem Abteil des Ermordeten kamen, daß sich dort jemand bewegte?« »Nein, nein, dieser Meinung bin ich nicht, Mr. – wie war doch gleich der Name? – Mr. Poirot. Der Mann war im selben Abteil wie ich, nicht nebenan. Ich habe ja einen Beweis dafür.« Triumphierend begann sie in ihrer riesigen Handtasche zu wühlen. Sie entnahm ihr zwei große, saubere Taschentücher, eine Hornbrille, ein Röhrchen Aspirin, ein Paket Glaubersalz, eine Zelluloidtube mit grasgrünen Pfefferminzplätzchen, einen Schlüsselbund, eine Schere, ein Heft mit American-ExpressSchecks, einen Schnappschuß von einem ungewöhnlich reizlo sen Kind, mehrere Briefe, eine fünfreihige Kette falscher Ori entperlen und einen kleinen metallenen Gegenstand – einen Knopf. »Sehen Sie diesen Knopf hier? Nun, mir gehört er nicht. Er ist von keinem meiner Kleider abgerissen, und dennoch fand ich ihn heute morgen in meinem Abteil.« Als sie ihren Fund auf den Tisch legte, beugte sich M. Bouc vor und stieß einen Ruf des Erstaunens aus. »Das ist ein Knopf von der Uniformjacke eines Schlafwagen schaffners.« »Dafür kann es eine ganz natürliche Erklärung geben«, sagte Poirot. Freundlich wandte er sich an die aufgeregte Dame: »Den Knopf kann sich der Kondukteur abgerissen haben, Ma dame, entweder als er in Ihrem Abteil den Eindringling suchte, oder als er abends Ihr Bett zurechtmachte.«
Seine Worte erregten heftigen Unwillen. »Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von Ihnen allen halten soll!« entrüstete sich Mrs. Hubbard. »Nichts als Einwände be komme ich zu hören. Aber passen Sie einmal auf! Vor dem Ein schlafen habe ich eine Zeitschrift gelesen, die ich, bevor ich das Licht ausdrehte, auf ein kleines Kästchen legte, das beim Fens ter auf dem Boden stand. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Einmütig versicherten die drei, daß sie verstanden hätten. »Gut, dann hören Sie weiter! Der Kondukteur schaute von der Tür aus unter das Bett und trat hierauf an die Verbindungstür, um abzuriegeln. Dem Fenster näherte er sich nicht. Trotzdem lag dieser Knopf heute früh genau auf meiner Zeitschrift. Jetzt möchte ich gern wissen, wie Sie das nennen?« »Das nenne ich einen Beweis«, erwiderte Poirot und besänf tigte damit die empörte Dame. »Ich werde wild wie eine Hornisse, wenn jemand mir nicht glaubt«, erklärte sie. »Madame, wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Was Sie uns mitgeteilt haben, ist ebenso interessant wie wertvoll«, sagte Poirot beschwichtigend. »Darf ich Ihnen jetzt noch ein paar Fragen stellen?« »Aber selbstverständlich.« »Wieso haben Sie eigentlich die Tür nicht schon früher abge riegelt; da Ihnen dieser Ratchett doch so mißfiel?« »Aber das hatte ich ja«, antwortete Mrs. Hubbard prompt. »Ach! Tatsächlich?« »Um ganz genau zu sein, muß ich allerdings gestehen, daß ich die sympathische Schwedin gebeten hatte nachzusehen, ob ab geriegelt sei, was sie bejahte.« »Warum haben Sie sich nicht selbst überzeugt, Madame?«
»Weil ich bereits im Bett lag und mein Schwammbeutel an der Türklinke hing, so daß ich nicht sehen konnte, ob der Riegel vorgeschoben war oder nicht.« »Wie spät war es, als Sie die schwedische Dame baten, nach zusehen?« »Warten Sie – lassen Sie mich überlegen. Gegen halb elf oder ein Viertel vor elf, denke ich. Sie kam wegen eines Aspirins, die Ärmste, und nachdem ich ihr gesagt hatte, wo ich es aufbewah re, holte sie es sich selbst aus meiner Tasche.« »Sie selbst blieben im Bett?« »Ja.« Plötzlich lachte Mrs. Hubbard. »Die gute Seele war ganz verdattert. Sie hatte zuerst versehentlich die Tür des Nebenab teils geöffnet.« »Mr. Ratchetts Abteil?« »Ja. Sie wissen ja wohl aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, sich zu orientieren, wenn man im Zug den Gang entlang geht und alle Türen geschlossen sind. Wie gesagt, öffnete sie irrtümlicherweise die von Ratchett. Sie war ganz außer sich, weil ihr das passiert war. Und er hat anscheinend gelacht und ihr eine sehr geschmacklose Bemerkung zugerufen. Gott, wie das arme Geschöpf aufgeregt war! ›Ich mache Irrtum und schäme mich schlimm über Irrtum‹, stieß sie in ihrem schlech ten Englisch hervor. ›Er ist kein netter Mann, sagt zu mir: Sie, Madame, zu alt!‹« Dr. Constantine kicherte, was Mrs. Hubbard unverzüglich rügte. »Über eine so freche Antwort lacht man nicht, mein Herr. So etwas sagt kein wohlerzogener Mann zu einer Dame.« Dr. Constantine entschuldigte sich hastig. »Haben Sie später – irgendwann – aus Mr. Ratchetts Abteil noch ein Geräusch gehört?« fragte Poirot.
»Eigentlich nicht.« »Eigentlich nicht? Was heißt das?« »Nun – er schnarchte. Sogar fürchterlich. In der Nacht vorher konnte ich deshalb kein Auge schließen.« »Aber nachdem Sie über den Eindringling erschrocken waren, hörten Sie ihn wohl nicht mehr schnarchen?« »Aber mein verehrter Monsieur Poirot! Wie konnte er schnar chen, wenn er bereits tot war?« »Ah, richtig«, sagte Poirot. Er schien verwirrt zu sein. »Erin nern Sie sich an die Entführung der kleinen Daisy Armstrong, die später ermordet aufgefunden wurde, Mrs. Hubbard?« »Ja, natürlich. Und auch, daß der Verbrecher ohne Strafe da vonkam. Na, wenn der mir in die Hände geraten wäre!« »Er ist der Vergeltung nicht entkommen, Mrs. Hubbard. Er ist tot – in der vergangenen Nacht gestorben.« »Was? Sie meinen doch nicht etwa…« Vor Erregung schoß Mrs. Hubbard halb von ihrem Sitz in die Höhe. »O doch, ich meine, Ratchett war der Mann.« »Also das muß ich sofort meiner Tochter schreiben! Habe ich Ihnen nicht schon gestern abend gesagt, daß der Mann ein bö ses Gesicht hat? Ich hatte recht, wie Sie sehen. Meine Tochter sagt immer wieder: ›Wenn Mama eine Vorahnung hat, dann kann man seinen letzten Dollar darauf setzen, daß sie stimmt.‹« Doch Poirot gestattete ihr kein Abschweifen. »Waren Sie mit irgendeinem Mitglied der Familie Armstrong bekannt, Mrs. Hubbard?« unterbrach er sie. »Nein. Die Armstrongs gehörten einem sehr exklusiven Kreis an. Doch ich habe immer gehört, Mrs. Armstrong sei eine rei zende Frau, und ihr Mann betete sie an.«
»Ich möchte Ihnen noch einmal versichern, daß wir Ihnen für Ihre Hilfe ungemein dankbar sind. Vielleicht haben Sie die Gü te, mir Ihren vollen Namen zu sagen?« »Warum nicht? Caroline Martha Hubbard.« »Und schreiben Sie mir bitte Ihre Adresse auf.« Mrs. Hubbard schrieb, redete dabei aber ununterbrochen wei ter. »Gott, o Gott – darüber komme ich noch nicht hinweg! Cas setti – in diesem Zug! Ich habe ihm von Anfang an mißtraut, wissen Sie noch, Monsieur Poirot?« »Wie sollte ich nicht, Madame? Besitzen Sie übrigens einen seidenen, scharlachroten Morgenmantel?« »Meine Güte, was für eine drollige Frage! Selbstverständlich nicht. Ich habe zwei Morgenröcke bei mir, einen aus schönem, warmem Flanell, für eine Schiffsreise so richtig gemütlich. Und dann noch einen türkischen, den mir meine Tochter geschenkt hat. Doch was in aller Welt kümmern Sie meine Morgenröcke?« »Irgend jemand in einem scharlachroten Kimono hat vergan gene Nacht entweder Ihr oder Mr. Ratchetts Abteil betreten. Wie Sie vorhin sehr richtig bemerkten, ist es bei durchweg ge schlossenen Türen nicht leicht, die Abteile genau auseinander zuhalten.« »Bei mir war niemand im scharlachroten Kimono.« »Dann muß die Betreffende zu Mr. Ratchett gegangen sein.« Mrs. Hubbard preßte die Lippen zusammen und sagte grim mig: »Das sollte mich wahrscheinlich nicht wundern!« »Dann haben Sie also eine Frauenstimme im Nebenabteil ge hört?« fragte Hercule Poirot lebhaft.
»Wie Sie das aus meinen Worten schließen konnten, verstehe ich nicht! Doch ich will es nicht leugnen – ja, ich habe sie ge hört.« »Aber Madame! Als ich Sie kurz zuvor nach etwaigen Geräu schen in Mr. Ratchetts Abteil gefragt habe, sagten Sie, er habe nur geschnarcht.« »Und ich habe nicht gelogen. Er hat auch eine Zeitlang ge schnarcht. Aber dann…« Mrs. Hubbard schoß das Blut in die Wangen. »Monsieur, es ist nicht sehr angenehm, darüber zu sprechen.« »Um wieviel Uhr haben Sie die Frauenstimme gehört?« »Das weiß ich nicht. Ich war nur ein paar Minuten wach, und da hörte ich sie sprechen. Das sieht dem unsympathischen Menschen ähnlich, dachte ich und drehte mich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Nie und nimmer hätte ich so etwas freiwillig vor drei fremden Gentlemen erwähnt, Monsieur Poi rot. Doch Sie haben es aus mir herausgequetscht.« »War das vor oder nach Ihrem Schreck über den Mann in Ih rem Abteil?« »Monsieur Poirot, schon wieder stellen Sie eine so unsinnige Frage! Kann ein Toter sich noch mit einer Frau unterhalten?« »Pardon. Sie müssen mich wirklich für sehr dumm halten, Madame.« »Ich denke, Sie sind nur manchmal etwas zerstreut. Doch daß dieses Ungeheuer Cassetti hier im Zug war! Da steht einem ja fast der Verstand still. Wenn ich das meiner Tochter schrei be…« Poirot brachte es mit seiner taschenspielerischen Geschick lichkeit fertig, Mrs. Hubbard zu helfen, ihren ganzen Krims
krams wieder in ihrer Handtasche zu verstauen, dann brachte er die Dame zur Tür. Im letzten Augenblick, bevor sie das Abteil verließ, sagte er: »Sie haben Ihr Taschentuch fallen lassen, Madame.« Mrs. Hubbard betrachtete das feine Leinentüchlein, das er ihr hinhielt. »Das gehört nicht mir, Monsieur Poirot.« »O Pardon. Der eingestickte Buchstabe H…« »Trotzdem gehört es mir nicht. Meine Wäsche ist mit C. M. H. gezeichnet. Außerdem habe ich vernünftige, haltbare Taschen tücher und nicht so teuren Pariser Flitterkram. Taugt ein sol ches Läppchen für einen richtigen Schnupfen?« Keiner der drei Männer wagte diese Frage zu bejahen, und so segelte Caroline Martha Hubbard als Siegerin davon.
13 Kopfschüttelnd drehte M. Bouc den von Mrs. Hubbard zurück gelassenen Knopf zwischen den Fingern. »Was bedeutet dieser Knopf?« fragte er. »Sollte Pierre Michel doch in das Verbrechen verwickelt sein?« Er blickte seinen Landsmann antwortheischend an, doch da Poirot dieser stum men Aufforderung nicht nachkam, drängte er: »Warum halten Sie mit Ihrer Meinung hinterm Berg?« »Weil der Knopf allzu viele Möglichkeiten zuläßt, mon ami. Ich meine, es wäre besser, erst die schwedische Dame zu ver nehmen, ehe wir irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen.« Aus dem Häuflein von Pässen suchte er den schwedischen heraus. »Da haben wir sie. Greta Ohlsson, Alter neunundvierzig.« M. Bouc gab dem Speisewagenkellner entsprechende Anwei sungen, und kurz darauf betrat die Dame mit dem gelblich grauen Haarknoten und dem langen, milden Schafsgesicht das Abteil. Ihre kurzsichtigen Augen musterten Poirot durch die Brillengläser, doch eine besondere Erregung war ihr nicht an zumerken. Es stellte sich heraus, daß sie Französisch verstand und sprach, so daß die Unterhaltung in dieser Sprache geführt werden konnte. Poirot begann mit den Fragen, auf die er bereits die Antwort kannte: Name, Alter und Adresse. Und anschlie ßend erkundigte er sich nach Greta Ohlssons Beruf. Sie sei Oberin einer Missionsschule in der Nähe von Istanbul, erwiderte sie, und gelernte Krankenpflegerin. »Es ist Ihnen natürlich zu Ohren gekommen, Mademoiselle, was letzte Nacht hier im Zug geschah?« »Ja. Es ist fürchterlich. Und die Amerikanerin erzählte mir, der Mörder habe sich in ihr Abteil eingeschlichen.«
»Man berichtete mir. Mademoiselle, daß Sie als letzte Mr. Rat chett lebend gesehen hätten.« »Das mag stimmen. Durch einen peinlichen Irrtum öffnete ich die Tür seines Abteils. Mr. Ratchett las ein Buch. Ich stammelte schnell eine Entschuldigung und zog mich zurück.« »Hat er etwas gesagt?« Eine schamhafte Röte färbte das Gesicht der ehrenwerten Dame. »Er lachte und sagte ein paar Worte, die – die ich nicht ganz verstand.« »Und was haben Sie dann getan, Mademoiselle?« forschte Poirot und ließ die heikle Angelegenheit taktvoll fallen. »Ich bat Mrs. Hubbard, die Amerikanerin, um ein paar Aspi rin, die sie mir bereitwillig gab.« »Fragte sie, ob die Verbindungstür zum Nebenabteil abgerie gelt sei?« »Ja.« »War sie abgeriegelt?« »Ja.« »Und später?« »Nahm ich in meinem Abteil das Aspirin und legte mich hin.« »Um wieviel Uhr war das?« »Als ich zu Bett ging, war es fünf Minuten vor elf, wie ich beim Aufziehen meiner Uhr bemerkte.« »Saß der Zug schon fest, ehe Sie einschliefen?« »Ich glaube nicht. Als ich anfing, schläfrig zu werden, hielten wir wohl auf einer Station.« »Das kann nur Vincovci gewesen sein. Ihr Abteil ist dieses hier, nicht wahr, Mademoiselle?« Poirot tippte auf eine Stelle seines Planes. »Schlafen Sie im unteren oder im oberen Bett?«
»Im unteren. Nr. 10.« »Und wer schläft in dem anderen?« »Eine junge Engländerin, sehr nett, sehr freundlich. Sie kommt aus Bagdad.« »Hat sie nach dem Aufenthalt in Vincovci das Abteil verlas sen?« »Sicherlich nicht.« »Wieso können Sie das mit solcher Bestimmtheit sagen?« »Weil ich einen sehr leichten Schlaf habe. Wenn sie von oben heruntergeturnt wäre, wäre ich bestimmt aufgewacht.« »Haben Sie selbst das Abteil verlassen?« »Nicht vor dem Morgen.« »Haben Sie einen scharlachroten Seidenkimono, Mademoisel le?« »Solch einen Luxusgegenstand besitze ich nicht. Ich habe ei nen bequemen, molligen Morgenrock aus Trikotstoff.« »Und die andere Dame? Miss Debenham?« »Ein malvenfarbenes orientalisches Gewand, wie man es im Osten überall kaufen kann.« Poirot nickte. Dann fragte er freundlich: »Was ist für Sie der Anlaß zu dieser Reise? Machen Sie Ur laub?« »Ja. Aber ehe ich nach Schweden fahre, will ich eine Woche bei meiner Schwester in Lausanne verbringen.« »Wären Sie wohl so liebenswürdig, mir Namen und Adresse Ihrer Schwester zu notieren, Mademoiselle.« »Gern.« Sie nahm den Bleistift aus seiner Hand entgegen und schrieb, ohne zu zaudern, das Gewünschte nieder.
»Sind Sie in Amerika gewesen?« »Nein. Beinahe wäre ich einmal hingekommen. Ich sollte eine kranke Dame begleiten, doch im letzten Augenblick zerschlug es sich – zu meinem großen Bedauern. Sie sind anständig und gut, die Amerikaner, und spenden viel Geld für Schulen und Krankenhäuser. Und sie sind sehr praktisch.« »Haben Sie je von einem Fall Armstrong gehört?« »Nein. Um was handelt es sich dabei?« Poirot gab die nötigen Erklärungen. Greta Ohlsson war so entrüstet, daß ihr gelber Haarknoten zu zittern begann. »Was gibt es doch für böse Menschen auf dieser Welt! Man könnte an der Menschheit fast verzweifeln. Die arme Mutter! Kein Wunder, daß ihr das Herz brach.« Die blonde Tochter Skandinaviens ging in ihr Abteil zurück, das sanfte Gesicht von zorniger Röte übergossen, die Augen von Tränen getrübt. »Was notieren Sie da, mon cher?« forschte M. Bouc, als Hercu le Poirot eifrig Zeile um Zeile auf ein Blatt Papier schrieb. »Es ist mir zur zweiten Natur geworden, stets systematisch und ordentlich vorzugehen. Ich notiere mir nur den chronolo gischen Ablauf der Ereignisse.« Nach dem letzten Federstrich reichte er M. Bouc das Papier. »9.15: Zug fährt von Belgrad ab. Gegen 9.40: Kammerdiener verläßt Ratchett und läßt Schlaf trunk bzw. Glas mit Schlafmittel in Reichweite stehen. Gegen 10: MacQueen verläßt Ratchett. Gegen 10.40: Greta Ohlsson sieht Ratchett (zum letzten Mal wird er lebend gesehen). Er liest ein Buch. 0.10: Der Zug fährt von Vincovci ab (verspätet).
0.30: Der Zug bleibt in der Schneewehe stecken. 0.37: Ratchetts Glocke läutet. Der Kondukteur folgt dem Klin gelzeichen. Ratchett ruft ihm durch die Tür zu: ›Ce n’est rien. Je me suis trompé.‹ Gegen 1.17: Mrs. Hubbard bildet sich ein, es sei ein Mann in ihrem Abteil. Klingelt nach dem Schaffner.« M. Bouc nickte beifällig.
»Das ist bewunderungswürdig klar.«
»Fällt Ihnen nichts Merkwürdiges daran auf?«
»Nein. Mir scheint alles sehr übersichtlich und klar. Und aus
allem scheint hervorzugehen, daß das Verbrechen um 1.15 Uhr verübt wurde. Die beschädigte Uhr zeigt es uns, und Mrs. Hubbards Geschichte paßt auch dazu. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen, mon ami, so sage ich Ihnen, der Mörder ist der dicke Italiener. Er kommt aus Amerika – aus Chicago. Bedenken Sie auch, daß die Lieblingswaffe der Italiener das Messer ist. Mit ihr sticht er nicht einmal, sondern mehrmals und sinnlos zu, weil sein südländisches Temperament nicht Maß noch Ziel kennt.« »Das klingt recht glaubhaft.« »Zweifellos ist das die Lösung des Rätsels«, versicherte M. Bouc. »Zweifellos steckten die beiden – Ratchett und er – bei der Entführungsaffäre unter einer Decke. Cassetti ist ein italie nischer Name. Und dann hat Ratchett seinen Komplizen ir gendwie betrogen. Der Italiener spürt ihn schließlich auf, schickt ihm die Drohbriefe und rächt sich am Ende auf brutale Weise. Es ist ganz einfach.« Poirot schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das ist es leider nicht, wie ich fürchte.«
»Pah, ich bin überzeugt, daß es den Nagel auf den Kopf trifft«, sagte M. Bouc, sich mehr und mehr für seine Theorie erwärmend. »Und der Kammerdiener mit den Zahnschmerzen, der hoch und heilig schwört, der dicke Italiener habe das Abteil keine Minute verlassen – wo bringen Sie ihn und seine Aussage unter?« »Er kompliziert die Sache natürlich.« Poirot zwinkerte amüsiert. »Nicht wahr, das ist Pech für Ihre Theorie, mein Bester, und ein unsagbares Glück für unseren Italiener, daß Ratchetts Kammerdiener von Zahnschmerzen geplagt wurde!« »Ach was – diese kleine Unstimmigkeit wird sich von selbst regeln«, meinte M. Bouc selbstsicher und geradezu herablas send überlegen. Aber Poirot schüttelte abermals den Kopf. »Nein, so einfach ist die Lösung kaum«, murmelte er vor sich hin.
14 »Hören wir uns einmal an, was Pierre Michel zu diesem Knopf zu sagen hat.« Und zum zweitenmal mußte der Schlafwagenschaffner vor dem »Tribunal« erscheinen. Er sah sie fragend an. M. Bouc räusperte sich. »Michel«, begann er dann, »hier haben wir einen Knopf von Ihrer Uniformjacke. Er wurde im Abteil von Mrs. Hubbard ge funden. Wie ist er Ihrer Meinung nach dorthin gekommen?« Automatisch tastete Michels Hand die Knopfreihe ab. »Ich habe keinen Knopf verloren, Monsieur. Das muß ein Irr tum sein.« »Merkwürdig!« »Ich kann es mir auch nicht erklären, Monsieur.« Der Mann machte einen erstaunten, aber durchaus keinen schuldbewußten oder bestürzten Eindruck. »Mit Rücksicht auf die Umstände, unter denen er gefunden wurde«, fuhr M. Bouc nachdrücklich fort, »ist es ziemlich si cher, daß der Mann, der sich nachts in Mrs. Hubbards Abteil eingeschlichen hatte, den Knopf verloren hat.« »Aber Monsieur, in Mrs. Hubbards Abteil war kein Mann. Das hat sie sich nur eingebildet.« »Sie hat es sich nicht eingebildet, Michel. Der Mörder von Mr. Ratchett wählte diesen Weg, um zu seinem Opfer zu gelangen – und der Mörder hat diesen Knopf verloren.« Als Michel den ganzen Umfang von M. Boucs Worten zu be greifen begann, geriet er in eine unbeschreibliche Erregung.
»Das ist nicht wahr, Monsieur! Das ist nicht wahr!« schrie er. »Mich beschuldigen Sie? Ausgerechnet mich? Ich bin unschul dig. Absolut unschuldig. Warum hätte ich einen Mann töten sollen, den ich nie zuvor gesehen hatte?« »Wo waren Sie, als Mrs. Hubbard klingelte?« »Ich sagte es bereits, Monsieur – ich unterhielt mich im ande ren Waggon mit meinem Kollegen.« »Wir werden ihn holen lassen.« »Tun Sie das, Monsieur. Ich bitte darum.« Der Kondukteur des Athener Wagens wurde geholt und bes tätigte Pierre Michels Behauptung. Auch der Kollege des Buka rester Wagens sei bei ihnen gewesen, und zu dritt hätten sie die durch den Schnee verursachte Lage erörtert. Vielleicht zehn Minuten später glaubte Michel eine Klingel aus seinem Wagen zu hören. Man habe daraufhin die Verbindungstür geöffnet, und da sei das Klingeln deutlich zu hören gewesen, so daß Mi chel Hals über Kopf davonstürzte. »Sehen Sie, Monsieur, ich bin unschuldig«, sagte Michel noch immer ängstlich. »Und wie erklären Sie diesen Knopf, der zweifellos von der Uniform eines Schlafwagenschaffners stammt?« »Er ist mir ein Rätsel, Monsieur. Meine Knöpfe sitzen tadellos fest.« Und auch die beiden anderen Schaffner beteuerten, keinen Knopf verloren zu haben. Außerdem hätten sie Mrs. Hubbards Abteil überhaupt nicht betreten. »Beruhigen Sie sich, Michel, und versuchen Sie sich zu erin nern, ob Ihnen etwas aufgefallen ist, als Sie zu Mrs. Hubbards Abteil liefen? Sind Sie im Gang jemandem begegnet?« »Nein, Monsieur.«
»Ging jemand in derselben Richtung wie Sie den Gang ent lang? Vor Ihnen oder hinter Ihnen?« »Niemand, Monsieur.« »Sonderbar!« »Nicht so sehr«, griff Hercule Poirot jetzt ein. »Es ist nur eine Zeitfrage. Mrs. Hubbard wacht auf und spürt die Anwesenheit eines Fremden in ihrem Abteil. Eine oder zwei Minuten lang liegt sie wie gelähmt, mit festgeschlossenen Augen. Und in die ser kurzen Zeitspanne schlüpft der Verbrecher in den Gang hinaus. Dann rafft sich die erschrockene Dame endlich auf zu klingeln. Aber der Schaffner kommt nicht sofort, hört erst das dritte oder vierte Klingeln. Meiner Meinung nach hatte der Mörder ausreichend Zeit…« »Wofür? Wofür, mon cher? Erinnern Sie sich, daß der Zug ein gekeilt zwischen hohen Schneewällen steckt.« »Zwei Schlupfwinkel stehen dem geheimnisvollen Mörder of fen«, erwiderte Poirot bedächtig. »Er kann in eine Toilette flüchten oder in einem Abteil verschwinden.« »Aber die waren alle belegt.« »Ja.« »Ah, Sie meinen, er sei einfach in sein eigenes Abteil gegan gen?« Poirot nickte stumm. »Das stimmt, das stimmt«, flüsterte M. Bouc, »in den zehn Minuten, die Michel mit seinen Kollegen im anderen Waggon verbringt, kommt der Mörder aus seinem Abteil, geht zu Mr. Ratchett, tötet ihn, sichert die Tür von innen durch Schloß und Kette, entfernt sich durch das Abteil von Mrs. Hubbard, und als der Kondukteur auf das Klingeln hin herbeiläuft, ist unser Mörder längst wieder in seinem eigenen Abteil.« Doch abermals erhob Hercule Poirot Einwände.
»Daß es nicht ganz so einfach ablief, wird Ihnen unser verehr ter Doktor auseinandersetzen, mon ami.« Mit einer leicht ungeduldigen Geste winkte M. Bouc die drei Schaffner hinaus, und Poirot fuhr fort: »Es fehlen noch die Aussagen von acht Reisenden. Fünf aus der ersten Klasse: Prinzessin Dragomiroff, Graf und Gräfin Andrenyi, Oberst Arbuthnot und Mr. Hardman. Drei aus der zweiten Klasse: Miss Debenham, Antonio Foscarelli und die Zofe Fräulein Schmidt.« »Wen wünschen Sie zuerst zu sehen? Den Italiener?« »Wie hartnäckig Sie auf Ihrem Italiener bestehen. Nein, wir werden mit der Spitze des Baumes beginnen. Vielleicht wird Madame la Princesse die Gewogenheit haben, uns ein paar Mi nuten ihrer Zeit zu schenken. Michel, bitten Sie die Dame hier her«, rief er dem Kondukteur nach, der gerade hinausging. »Oui, Monsieur.« »Sagen Sie ihr, daß wir sie auch in ihrem Abteil sprechen können, falls sie die Mühe scheut, hierherzukommen«, ergänzte M. Bouc. Doch Prinzessin Dragomiroff geruhte, sich dieser Mü he zu unterziehen. Sie erschien im Speisewagen, nickte he rablassend und nahm Poirot gegenüber Platz. Ihr kleines, froschähnliches Gesicht sah noch gelber aus als tags zuvor. Sie war wirklich häßlich, hatte aber, wie eine Kröte, Augen wie Edelsteine, dunkel, herrisch und eine geheime E nergie und eine Geistesstärke verratend, für die sie sofort einen Beweis erbrachte. Sie hatte eine tiefe, deutliche und ein wenig heiser klingende Stimme, mit der sie M. Bouc, der eine blumige Entschuldi gungsfloskel vorbrachte, sofort unterbrach.
»Das dürfen Sie sich ersparen, Messieurs. Ich begreife selbst verständlich, daß Sie alle Reisenden verhören müssen. Schließ lich ist ein Mord geschehen. Ich werde Sie unterstützen, so gut ich kann.« »Sie sind sehr liebenswürdig, Madame«, sagte Poirot. »Ich tue nur meine Pflicht – mehr nicht. Was wünschen Sie von mir zu erfahren?« »Ihren Vornamen und Ihre Adresse, Madame. Vielleicht zie hen Sie vor, sie eigenhändig niederzuschreiben?« Poirot bot ihr ein Blatt Papier und einen Bleistift, doch sie schob beides zur Seite. »Sie können es sich genausogut selbst notieren, Monsieur. Es bestehen keine orthographischen Schwierigkeiten irgendwel cher Art – Natalia Dragomiroff, 17 Avenue Kleber, Paris.« »Sie reisen von Istanbul heim, Madame?« »Ja. Ich war Gast der Österreichischen Botschaft. Mein Mäd chen begleitet mich.« »Würden Sie uns bitte schildern, was Sie gestern nach dem Dinner getan haben?« »Gern. Ich beauftragte den Schlafwagenkondukteur, während des Abendessens mein Bett für die Nacht vorzubereiten, und legte mich nach Tisch sofort hin. Bis gegen elf Uhr las ich und drehte dann das Licht aus. Ich konnte jedoch nicht einschlafen, weil mich mein altes Rheuma plagte. Gegen Viertel vor eins klingelte ich meiner Zofe, die mich massierte und mir vorlas, bis ich schläfrig wurde. Um wieviel Uhr sie mich verließ, ver mag ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Es kann eine halbe, aber auch eine ganze Stunde später gewesen sein.« »Hatte der Zug schon angehalten?« »Ja, er hielt bereits.«
»Und während der ganzen Zeit vernahmen Sie kein unge wöhnliches Geräusch, Madame?« »Nein.« »Wie heißt Ihre Zofe?« »Hildegarde Schmidt.« »Ist sie vertrauenswürdig?« »Durchaus. Sie steht seit fünfzehn Jahren in meinen Diensten und stammt aus einem in Deutschland gelegenen Gut meines verstorbenen Mannes.« »Ich vermute, Sie waren auch in Amerika, Madame?« Bei dem unvermittelten Themenwechsel hob die alte Dame die Brauen. »Sehr oft sogar.« »Waren Sie mit einer Familie namens Armstrong bekannt – einer Familie, die ein tragisches Geschick erlitt.« Mit bewegter Stimme entgegnete die alte Dame: »Sie sprechen von Freunden von mir, Monsieur.« »Ah, Sie kannten Oberst Armstrong also gut?« »Ihn kannte ich nur oberflächlich. Doch seine Frau, Sonja Armstrong, war mein Patenkind. Mit ihrer Mutter, der Schau spielerin Linda Arden, verband mich eine innige Freundschaft. Linda Arden war ein Genie, eine der größten Tragödinnen der Welt. Als Lady Macbeth, als Magda bleibt sie unerreichbar. Doch ich habe sie nicht nur wegen ihrer Kunst bewundert. Wir waren eng befreundet.« »Ist sie tot?« »Nein, nein, sie lebt. Jedoch in größter Zurückgezogenheit. Wegen ihrer angegriffenen Gesundheit muß sie fast immer lie gen.« »Hatte sie nicht noch eine Tochter?«
»Ja. Bedeutend jünger als Mrs. Armstrong.«
»Auch die lebt noch?«
»Gewiß.«
»Wo hält sie sich auf?«
Die alte Dame musterte Poirot mit stechendem Blick.
»Ich bitte, mir den Grund dieser Fragen zu nennen. Was ha
ben sie mit der vorliegenden Sache – dem Mord in diesem Zug – zu tun?« »Es besteht eine Verbindung, Madame. Der Ermordete war der Mann, der die kleine Daisy Armstrong entführte und später ermordete.« »Ah…« Prinzessin Dragomiroff richtete sich stocksteif auf, und ihre Augenbrauen wurden zu einem einzigen waagrechten Strich. »Dann ist dieser Mord eine gute Tat!« rief sie. »Ich hoffe, Sie werden meinen etwas subjektiven Standpunkt verzeihen.« »Madame, ich kann ihn durchaus verstehen«, versicherte Hercule Poirot. »Und jetzt muß ich auf die Frage zurückkom men, die Sie noch nicht beantwortet haben: Wo hält sich die jüngere Tochter von Linda Arden, die Schwester von Mrs. Armstrong, auf?« »Darüber kann ich Ihnen, offen gestanden, keine Auskunft geben, Monsieur. Mit der jüngeren Generation habe ich die Fühlung verloren. Ich glaube, sie heiratete vor einigen Jahren einen Engländer und ging nach England, aber an den Namen ihres Gatten kann ich mich nicht erinnern.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Haben Sie noch Fragen, Gentlemen?«
»Nur eine noch, Madame. Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt in einen sehr privaten Bereich eindringen muß. Welche Farbe hat Ihr Kimono?« »Wenn ich nicht voraussetzte, daß zwingende Gründe für diese Frage vorliegen, würde ich sie nicht beantworten, Monsi eur. Er ist aus schwarzem Crêpe Satin.« »Verbindlichsten Dank für Ihre Bereitwilligkeit, mir so aus führlich zu antworten, Madame. Ich habe keine weiteren Fra gen.« Sie machte eine abwehrende Geste mit ihrer schwerberingten Hand. Sie stand auf und die drei Herren mit ihr. Als sie sich zur Tür wenden wollte, hielt sie jedoch plötzlich inne und sah Poi rot an. »Pardon, Monsieur, darf ich mich nach Ihrem Namen erkun digen? Irgendwie kommt mir Ihr Gesicht bekannt vor.« »Poirot, Madame – Hercule Poirot.« Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Hercule Poi rot. Ja, jetzt erinnere ich mich. Das ist Schicksal.« Und dann ging sie, sehr aufrecht, ein wenig steif in ihren Bewegungen. »Voilà une grande dame«, sagte M. Bouc. »Was halten Sie von ihr, mon vieux?« Doch Hercule Poirot schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte wissen, was sie mit ›Schicksal‹ meinte…«
15 Als nächste wurden Graf und Gräfin Andrenyi gerufen. Doch der Graf betrat den Speisewagen allein. Kein Zweifel – er war eine bestechende Erscheinung. Mindestens eins achtzig groß, breit in den Schultern und schmal in den Hüften. Er trug einen hervorragend geschnittenen englischen Tweedanzug, und man hätte ihn für einen Engländer halten können, hätte er mit dem langen Schnurrbart und den hochangesetzten Wangenknochen nicht doch eher fremdländisch gewirkt. »Messieurs, womit kann ich Ihnen dienen?« »Sie werden es begreiflich finden, daß die Ereignisse der ver gangenen Nacht mich zwingen, allen Reisenden gewisse Fragen vorzulegen.« »Durchaus, durchaus. Ich verstehe Ihre Frage völlig und fürchte nur, daß weder meine Frau noch ich Ihnen irgendwie helfen können. Wir haben geschlafen und überhaupt nichts gehört.« »Sie wissen, Monsieur, wer der Getötete ist?« lautete Hercule Poirots nächste Frage. »Der ältere Amerikaner – ein Mann übrigens mit sehr absto ßendem Gesicht. Er hat seine Mahlzeiten an jenem Tisch dort eingenommen.« Graf Andrenyi deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Tisch, an dem Ratchett mit seinem Sekretär gesessen hatte. »Ja, ja, Monsieur. Das ist alles richtig. Ich meinte aber, ob Ih nen der Name des Mannes bekannt ist.«
»Nein.« Der Graf sah Poirot verwundert an. »Wenn Sie den Namen wissen wollen, brauchen Sie doch nur in seinem Paß nachzusehen«, sagte er. »Der Paß lautet auf den Namen Ratchett, doch das ist ein fal scher Name. In Wirklichkeit hieß der Mann Cassetti und war der Urheber einer spektakulären Kindesentführung in Ameri ka.« Poirot betrachtete den Grafen unter halb gesenkten Lidern hervor sehr genau, aber die Mitteilung schien ihn ziemlich gleichgültig zu lassen. Nur seine Augen weiteten sich ein we nig. »Ah, dieses Amerika ist doch ein unglaubliches Land!« sagte er. »Kennen Sie es aus eigener Anschauung, Monsieur le Com te?« »Ich war ein Jahr in Washington.« »Dann kennen Sie vielleicht auch die Armstrongs?« »Armstrong – Armstrong – es ist schwer, alle Namen zu be halten. Man lernt als Diplomat zu viele Menschen kennen.« Andrenyi lächelte entschuldigend. »Aber zur Sache, Gentle men. Womit kann ich Ihnen dienen?« »Wann haben Sie sich gestern abend zurückgezogen, Monsi eur le Comte?« Verstohlen betrachtete Poirot seinen Plan. Das ungarische Ehepaar hatte Abteil 12 und 13 belegt. »Während wir bei Tisch saßen, ließen wir das eine Abteil für die Nacht vorbereiten und setzten uns, als wir zurückkamen, noch ein Weilchen in das andere.« »In welches?« »In Nr. 13. Wir spielten eine Partie Piquet. Gegen elf Uhr be gab sich meine Frau zur Ruhe, und der Kondukteur machte
dann auch mein Bett. Ich schlief bis zum Morgen fest wie ein Murmeltier.« »Daß der Zug anhielt, ist Ihnen nicht aufgefallen?« »Nein. Von unserem unfreiwilligen Aufenthalt merkte ich erst heute morgen etwas.« »Und Ihre Gattin?« »Meine Frau nimmt in der Eisenbahn stets ein Schlafmittel. So auch gestern. Trional heißt es, glaube ich.« Und nach einer Pau se setzte der Graf bedauernd hinzu: »Tut mir leid, daß ich Ih nen nicht helfen kann.« Hercule Poirot schob ihm einen Bogen und einen Federhalter hin. »Eine Formsache, Monsieur le Comte – würden Sie bitte Na men und Adresse notieren?« Langsam und sorgfältig kam der Ungar dieser Bitte nach. »Ist es deutlich genug?« fragte er liebenswürdig. »Die Schreibweise meines Gutes bereitet in der Regel dem mit unse rer Sprache nicht Vertrauten ziemliche Schwierigkeiten… übri gens erübrigt es sich, meine Frau kommen zu lassen, sie kann Ihnen nicht mehr sagen als ich.« Ein kleiner Funke sprühte in Poirots Augen auf. »Zweifellos, zweifellos. Trotzdem wäre mir eine kurze Unter haltung mit Madame erwünscht.« »Ich versichere es Ihnen, es ist unnötig«, wiederholte Andre nyi schroff. Poirot blinzelte ihn freundlich an. »Es ist eine reine Formalität«, sagte er. »Doch leider unum gänglich, weil ich keinen unvollständigen Bericht abliefern kann. Das verstehen Sie doch, Graf?«
»Wie Sie wollen.« Grollend gab der Graf nach, machte eine kurze, kühle Verbeugung und ging hinaus. Der kleine Belgier griff nach Andrenyis Paß. Unter Namen und Titel des Grafen stand: begleitet von seiner Ehefrau; Tauf name: Elena Maria; Mädchenname: Goldenberg; Alter: zwan zig. Irgendwann hatte ein nachlässiger Beamter das Dokument mit einem Fettfleck beschmutzt. »Ein Diplomatenpaß«, mahnte M. Bouc. »Wir müssen vor sichtig sein und uns davor hüten, gegen irgendein Gesetz zu verstoßen. Diese Menschen können mit dem Mord nichts zu tun haben. Denken Sie an die diplomatische Immunität.« »Keine Sorge, mon ami, ich werde den nötigen Takt walten lassen. Eine reine Formsache…« Er unterbrach sich, als Gräfin Andrenyi den Speisewagen betrat – schüchtern und bezau bernd. »Sie wünschen mich zu sprechen, Messieurs?« »Eine reine Formsache, Madame la Comtesse«, wiederholte Hercule Poirot, indem er sich galant erhob. »Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie in der Nacht irgend etwas hörten oder beobach ten konnten, das geeignet wäre, Licht in diese mysteriöse Ange legenheit zu bringen?« »Ich habe nichts gehört, Monsieur, denn ich hatte ein Schlaf mittel genommen.« »Ah, ich verstehe. Dann ist Ihnen selbstverständlich auch das Hin und Her im Nebenabteil entgangen. Die amerikanische Dame, die darin reist, bekam einen hysterischen Anfall und klingelte wie wild nach dem Kondukteur. Nun, dann brauche ich Sie nicht länger zu bemühen, Madame.« Und als sie sich von ihrem Sitz erhob, fügte er schnell hinzu: »Ihre Personalien – Mädchenname, Alter und dergleichen – sind doch hier richtig eingetragen?«
»Absolut richtig, Monsieur.« »Vielleicht bestätigen Sie mir das durch Ihre Unterschrift.« Mit schnellen Zügen setzte sie schräg ihren Namenszug unter Poirots Notizen: Elena Andrenyi. »Haben Sie Ihren Gatten seinerzeit nach Amerika begleitet, Madame?« »Nein, Monsieur.« Sie lächelte, errötete ein wenig. »Damals waren wir noch nicht verheiratet; unsere Hochzeit fand erst vor einem Jahr statt.« »Ah, dann freilich… Raucht Ihr Gatte übrigens, Madame?« Schon im Gehen begriffen, sah sie Poirot erstaunt an. »Ja.« »Pfeife?« »Nein, Zigaretten und Zigarren.« »Danke, Madame.« Sie zögerte, musterte Poirot mit unverkennbarer Neugier. Ihre Augen waren sehr schön, dunkel, mandelförmig, mit langen schwarzen Wimpern, die die marmorblassen Wangen streiften. Ihre Lippen, leuchtend rot geschminkt, wie es gerade Mode war, waren leicht geöffnet. Die junge Frau sah exotisch aus und bildschön. »Warum fragen Sie danach, Monsieur?« »Madame« – Poirot schnippte leicht mit den Fingern –, »De tektive stellen oft die absonderlichsten Fragen. Zum Beispiel interessiert mich sogar die Farbe Ihres Morgengewandes.« »Es ist weizengelb«, gab sie lachend zurück. »Haben Sie denn nichts Wichtigeres zu fragen?« »Mir scheint es wichtig genug, Madame.« »Sind Sie wirklich Detektiv?« forschte sie plötzlich.
»Zu Befehl, Madame.« »Ich dachte, während der Durchfahrt durch Jugoslawien be fänden sich keine Polizeibeamten im Zug. Erst wieder in Ita lien.« »Ich bin kein jugoslawischer, sondern ein internationaler De tektiv.« »Gehören Sie der League of Nations an?« »Ich gehöre der Welt an, Madame«, versetzte Hercule Poirot mit Pathos. »In der Hauptsache arbeite ich in London. Sprechen Sie Englisch?« fügte er in dieser Sprache hinzu. »Ein bißchen spreche ich es.« Ihr Akzent war reizend. Poirot verneigte sich. »Wir wollen Sie nicht länger aufhalten, Madame.« Lächelnd wandte sie sich dem Ausgang zu. »Quelle femme!« begeisterte sich M. Bouc. »Ravissante! Aber geholfen hat sie uns nicht.« »Nein. Ein Ehepaar, das nichts sah und nichts hörte.« »Wollen wir uns jetzt den Italiener vornehmen?« Hercule Poirot ließ eine beträchtliche Weile verstreichen, ehe er antwortete. Er betrachtete interessiert den Fettfleck im unga rischen Diplomatenpaß.
16 Schließlich schien er sich fast gewaltsam davon losreißen zu müssen. Als er aufsah, begegnete er dem drängenden Blick von M. Bouc und zwinkerte vergnügt. »Ah, mein lieber, teurer Freund, ich bin auf meine alten Tage ein Snob geworden. Meiner Meinung nach sollte man die erste Klasse vor der zweiten erledigen. Nein, jetzt möchte ich mit dem schneidigen Oberst Arbuthnot sprechen.« Da er das Französisch des englischen Offiziers ziemlich kläg lich fand, führte Poirot das Verhör in englischer Sprache. Und nachdem Name, Alter, heimatliche Adresse und genauer mili tärischer Rang ermittelt worden waren, hieß die nächste Frage: »Sie kommen auf Urlaub von Indien – wie wir es nennen, en permission?« Oberst Arbuthnot, den es nicht im mindesten interessierte, wie ein hergelaufener Ausländer irgend etwas nannte, erwider te mit echt britischer Kürze: »Ja.« »Aber Sie reisen nicht wie die anderen Offiziere aus Indien mit einem Dampfer der ›Peninsular and Oriental Navigation Company‹ nach England?« »Nein.« »Warum nicht?« »Ich habe den Landweg aus Gründen gewählt, die nur mich etwas angehen.« Und das mag dir genügen, du unverschämter kleiner Naseweis, besagten Arbuthnots Haltung und Gebärde. Doch der Naseweis ließ nicht locker. »Sind Sie von Indien direkt durchgefahren?«
»Ich habe die Reise einen Tag unterbrochen, um Ur in Chal däa zu sehen, und gönnte mir einen dreitägigen Aufenthalt in Bagdad.« »Ach, in Bagdad. Soviel ich weiß, kommt auch die junge Miss Debenham aus Bagdad. Haben Sie sie vielleicht schon dort kennengelernt?« »Nein. Ich lernte Miss Debenham erst im Zug von Kirkuk nach Nissibin kennen. Wir saßen im selben Waggon.« Poirot beugte sich vor. Er versuchte es nun mit einschmei chelnder Überredungskunst und wurde mehr Ausländer als nötig. »Monsieur, ich flehe Sie an! Sie und Miss Debenham sind die beiden einzigen britischen Reisenden im Zug. Ich kann nicht umhin, ich muß jeden von Ihnen fragen, was für ein Urteil er sich über den anderen gebildet hat.« »Das ist höchst regelwidrig«, entgegnete Arbuthnot kalt. »Nein, nein. Sehen Sie, diesen Mord hat aller Wahrscheinlich keit nach eine Frau begangen. Der Tote weist zwölf Stichwun den auf. Sogar der Zugführer sagte sofort: ›Es ist eine Frau ge wesen.‹ Worin besteht also meine erste Aufgabe? Mir über sämtliche weiblichen Passagiere ein Bild zu machen. Doch nichts ist schwerer, als eine Engländerin zu beurteilen. Sie sind sehr reserviert, die englischen Damen. Und deshalb flehe ich Sie an, Monsieur – im Namen der Justiz. Was für ein Mensch ist diese Miss Debenham? Was wissen Sie von ihr?« »Miss Debenham ist eine Lady«, versicherte Oberst Ar buthnot warm. »Ah…!« seufzte Poirot mit allen Anzeichen tiefster Dankbar keit. »Sie meinen also, sie sei nicht in das Verbrechen verwi ckelt?«
»Unsinn! Der Mann war ihr völlig fremd – sie hatte ihn nie zuvor gesehen.« »Hat sie Ihnen das gesagt?« »Ja. Als sie eine Bemerkung über seine nicht sehr angenehme Erscheinung fallenließ. Wenn eine Frau ihre Hand im Spiel hat, wie Sie glauben, so kann ich Ihnen versichern, daß Miss De benham diese Frau nicht ist.« »Wie warm Sie sich für sie einsetzen«, meinte Poirot mit ei nem Lächeln. Oberst Arbuthnot maß ihn mit eisigen Blicken. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Poirot schien verlegen. Er senkte den Kopf und begann, die Papiere zu ordnen, die vor ihm lagen. »Das war nur eine beiläufige Bemerkung«, sagte er. »Spre chen wir lieber über Tatsachen. Wir dürfen mit Recht anneh men, daß das Verbrechen um ein Viertel nach eins verübt wur de, und die üblichen Untersuchungsmethoden erfordern, daß man jede Person fragt, was sie um diese Zeit getan hat.« »Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Meines Wissens un terhielt ich mich zur fraglichen Stunde mit dem jungen Ameri kaner, dem Sekretär des Toten.« »War er in Ihrem Abteil? Oder waren Sie in seinem?« »Ich war bei ihm.« »Ist er ein Freund oder alter Bekannter von Ihnen?« »Ganz und gar nicht. Rein zufällig entwickelte sich zwischen uns beiden eine Unterhaltung. Im allgemeinen mag ich die A merikaner nicht – weiß nichts mit ihnen anzufangen…« Mit geheimem Vergnügen erinnerte sich Poirot an MacQueens Urteil über die Briten. »Aber dieser junge Mann gefällt mir«, fuhr der Oberst fort. »Irgendwer hat ihm alberne, idioti
sche Ideen über die Lage in Indien in den Kopf gesetzt – das ist das Schlimmste bei den Amerikanern. Sie sind so sentimental und idealistisch. Nun, was ich ihm dank meiner beinahe drei ßigjährigen Kenntnis des Landes erzählte, fesselte ihn sehr. Als Gegenleistung berichtete er mir über die finanziellen Verhält nisse Amerikas. Dann berührten wir die Weltpolitik im allge meinen, so daß ich schließlich ganz überrascht war, als meine Uhr plötzlich Viertel vor zwei anzeigte.« »Um diese Zeit brachen Sie die Unterhaltung ab?« »Ja.« »Was haben Sie dann getan?« »Ich ging in mein Abteil.« »Ihr Bett war schon aufgeschlagen?« »Ja. der Schaffner war inzwischen dagewesen.« »Das ist nach meinem Plan Abteil Nr. 15, das vorletzte, vom Speisewagen aus gerechnet.« »Ja.« »Wo war der Kondukteur, als Sie durch den Korridor gin gen?« »Er saß ganz am Ende des. Ganges an seinem winzigen Tisch. Das heilst, MacQueen rief ihn dann, damit er ihm das Bett machte.« »Nun bitte ich Sie, genau zu überlegen, Oberst Arbuthnot: Ist, während Sie sich mit MacQueen unterhielten, jemand an sei nem Abteil vorübergegangen?« »Vermutlich eine ganze Menge Leute. Ich achtete nicht dar auf.« »Mir kommt es nur auf die letzten anderthalb Stunden Ihres Gesprächs an. Sie sind in Vincovci ausgestiegen, nicht wahr?«
»Ja. Doch nur ganz kurz. Sie haben keine Ahnung, wie der Schneesturm wütete. Die Kälte war unerträglich. Man war froh, wenn man wieder unter Dach und Fach war, obwohl ich es skandalös finde, wie überheizt diese Züge sind.« M. Bouc seufzte. »Es ist schwer, es aller Welt recht zu machen«, klagte er. »Da sind die Engländer, die alle Fenster aufreißen, und wiederum die anderen, die alles hermetisch verschlossen haben wollen.« Weder Poirot noch Oberst Arbuthnot achteten auf ihn. »Also, es war bitter kalt draußen«, sagte Poirot aufmunternd. »Und nun sind Sie wieder im Zug. Sie setzen sich gemütlich hin – rauchen – vielleicht eine Zigarette, vielleicht ein Pfeifchen…« Er unterbrach sich für den Bruchteil einer Sekunde, und schon fiel der andere ein: »Eine Pfeife für mich. MacQueen rauchte Zigaretten.« »Dann fährt der Zug weiter. Sie rauchen Ihre Pfeife, Sie erör tern dabei die klägliche Lage Europas, die Weltlage. Unterdes ist es spät geworden. Die anderen Reisenden liegen schon im Bett. Ging nun irgendwer an der Tür vorüber – denken Sie bitte nach!« Arbuthnot furchte grübelnd die Stirn. »Verdammt schwierig! Verstehen Sie doch, ich hab einfach nicht darauf geachtet.« »Aber Sie haben den geschulten Blick des Soldaten für Ein zelheiten. Sie beobachten sozusagen, ohne zu beobachten.« Wieder überlegte der Oberst angestrengt und schüttelte dann den Kopf. »Ich erinnere mich wirklich nicht, daß außer dem Kondukteur jemand vorüberging. Oder… Halt! War da nicht eine Frau?« »Haben Sie sie gesehen? Ja? War sie alt – jung?«
»Gesehen hab ich sie nicht. Ich muß gerade zum Fenster ge schaut haben. Aber da war ein Rascheln von Frauenkleidern und Parfümgeruch…« »Parfüm? Gutes Parfüm?« »Ein obstartiges, möchte ich sagen, obgleich ich nicht weiß, ob das Wort dem Begriff ganz gerecht wird. Ich meine, Sie hätten es schon auf hundert Meter Entfernung gerochen. Doch weiß der Kuckuck«, setzte der Oberst hastig hinzu, »möglicherweise ist das schon viel früher am Abend gewesen. Sehen Sie – da haben Sie Ihre Beobachtungen, ohne zu beobachten… Irgendwann im Laufe des Abends sagte ich zu mir: eine Frau… Par füm… Ziemlich aufdringlich. Aber wann? Wann? Doch es muß unbedingt noch Vincovci gewesen sein, fällt mir jetzt ein.« »Warum?« »Weil ich mich jetzt dunkel erinnere, daß wir über das Fiasko sprachen, zu dem sich der Stalinsche Fünfjahresplan entwickelt. Der Gedanke ›Frau‹ brachte mich auf das Thema ›Stellung der russischen Frau‹. Und ich weiß, daß wir bei Rußland erst so ziemlich am Ende unserer Unterhaltung anlangten.« »Eine genauere Zeitangabe können Sie nicht machen?« »N-nein. Es muß irgendwann in der letzten halben Stunde gewesen sein.« »Stand der Zug bereits?« »Ja. Das glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können.« »Das muß genügen. Waren Sie je in Amerika, Oberst Ar buthnot?« »Nie. Es lockt mich auch nicht.« »Haben Sie einen Oberst Armstrong gekannt?«
»Armstrong? Ich habe zwei oder drei Armstrongs gekannt. Tommy Armstrong vom 60. Regiment – meinen Sie den? Und Selby Armstrong – er ist an der Somme gefallen.« »Ich meine den Oberst Armstrong, der eine Amerikanerin heiratete und dessen Kind entführt und getötet wurde.« »Ach ja, ich erinnere mich. Eine schockierende Angelegenheit. Nein, dieser Armstrong ist mir nie über den Weg gelaufen, wenngleich ich ihn vom Hörensagen kannte. Toby Armstrong. Prächtiger Mensch, behauptete man allgemein. Sehr beliebt. Hatte eine glänzende Karriere gemacht. Hatte das VictoriaKreuz.« »Der Mann, der vergangene Nacht hier im Zug getötet wurde, hatte Oberst Armstrongs Kind auf dem Gewissen.« »Dann ist ihm heute nacht recht geschehen«, sagte Oberst Ar buthnot. »Obwohl ich vorgezogen hätte, ihn am Galgen oder – das ist in Amerika wohl gebräuchlicher – auf dem elektrischen Stuhl enden zu sehen.« »Demnach ziehen Sie Gesetz und Ordnung der privaten Ra che vor?« »Nun, man kann doch nicht Blutrache üben und sich gegen seitig erstechen wie die Korsen oder die Mafia. Sie mögen sa gen, was Sie wollen – die Verurteilung durch ein Gericht ist ein gesundes System.« Nachdenklich musterte Hercule Poirot das kantige, energi sche Gesicht des Briten. »Ja, Oberst Arbuthnot, einen anderen Standpunkt hätte ich von Ihnen auch nicht erwartet. Ich glaube, ich habe keine Fra gen mehr an Sie. Oder fällt Ihnen noch irgend etwas ein, das Ihnen vergangene Nacht verdächtig vorkam oder nachträglich verdächtig vorkommt?«
Arbuthnot dachte ein paar Minuten nach. »Nein. Das heißt, wenn nicht…« Er zögerte. »Bitte sprechen Sie weiter«, drängte Poirot. »Oh, ich denke, es hat keinerlei Bedeutung. Als ich in mein Abteil zurückkehrte, bemerkte ich, daß die Tür des allerletzten Abteils nicht ganz geschlossen war und der Insasse scheu und verstohlen heraussah. Und dann drückte er schleunigst die Tür wieder zu. Gewiß, es ist nichts dabei, wenn man den Kopf zur Tür hinausstreckt, doch diese verstohlene Art berührte mich sonderbar.« »Wenn Sie das ›allerletzte‹ Abteil sagen, meinen Sie wohl Nr. 16?« Oberst Arbuthnot nickte. »Ich hab Ihnen ja gesagt, es ist nichts Weltbewegendes«, meinte er, fast als wolle er sich entschuldi gen. »Aber Sie wissen ja, wie das ist – zwei Uhr morgens, alles totenstill. Irgendwie wirkte die Sache unheimlich. Wie in einem Kriminalroman. Aber das ist natürlich Unsinn.« Er stand auf. »Wenn Sie mich jetzt nicht mehr brauchen…« »Danke, Oberst Arbuthnot. Es ist alles erledigt.« Trotzdem zögerte der Offizier. Seine erste, natürliche Abnei gung, sich von »Ausländern« aushorchen zu lassen, hatte sich verflüchtigt. »Hinsichtlich Miss Debenham«, begann er linkisch und brach ab, um einen neuen Satz zu bilden. »Ich bürge für ihre Lauter keit. Sie ist eine pukka sahib.« Arbuthnot errötete leicht und wandte sich hastig zur Tür. »Was ist das – eine pukka sahib?« fragte Constantine. »Es bedeutet, daß Miss Debenhams Vater und Brüder ebenso vornehme Schulen besucht haben wie Arbuthnot.«
»Weiter nichts?« meinte der Arzt enttäuscht. »Mit dem Verbrechen hat es nichts zu tun?« »Nichts«, antwortete Poirot und versank in tiefe Nachdenk lichkeit. Ungeduldig trommelte er dazu mit den Fingern auf die Tischplatte. Plötzlich blickte er auf. »Oberst Arbuthnot raucht Pfeife, und Mr. Ratchett rauchte nur Zigarren. Dennoch wurde in seinem Abteil ein Pfeifenreiniger gefunden.« »Wie? Sie meinen…« »Daß Arbuthnot vorläufig der einzige Reisende ist, der sich dazu bekannt hat, Pfeife zu rauchen. Und er hatte von Oberst Armstrong gehört – vielleicht hat er ihn, obwohl er es abstreitet, sogar persönlich gekannt.« »Sie denken also, es sei möglich…« Heftig wehrte Hercule Poirot mit beiden Händen ab. »Nein, alles in mir sträubt sich dagegen – nein, es ist unmöglich, ganz unmöglich, daß ein ehrenhafter, leicht beschränkter, aufrechter Engländer auf einen Feind zwölfmal mit dem Messer einsticht. Spüren Sie nicht selbst, meine Freunde, wie unmöglich das ist?« »Jetzt reiten Sie wieder Ihr Steckenpferd – die Psychologie«, sagte M. Bouc lächelnd. »Die Psychologie, mon ami, muß man respektieren. Dieses Verbrechen trägt einen Stempel und ganz gewiß nicht den von Oberst Arbuthnot. Doch nun zum nächsten Verhör!« Diesmal schlug M. Bouc nicht den Italiener vor, obwohl sich seine Gedanken nach wie vor mit ihm beschäftigten.
17 Der einzige Reisende erster Klasse, der noch übrigblieb, war Mr. Hardman, der vierschrötige Amerikaner, der im Speisewa gen Tischgenosse des Italieners und des Kammerdieners gewe sen war. Er trug, als er sich Poirot selbstsicher präsentierte, ei nen etwas aufdringlich karierten Anzug, ein rotes Hemd, eine blitzende Krawattennadel und kaute ununterbrochen auf etwas herum. Er hatte ein großes, fleischiges Gesicht mit derben Zü gen, sah aber sehr gutmütig aus. »Morgen, Gentlemen«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?« »Sie haben von dem Mord gehört, Mr. Hardman?« »Versteht sich!« Rasch wanderte der Kaugummi von der lin ken in die rechte Wange. »Zu unserem Bedauern sehen wir uns genötigt, sämtliche Rei sende einem Verhör zu unterziehen.« »Das finde ich höchst vernünftig. Anders kann man eine Morduntersuchung wohl kaum durchführen. Vor allem dann nicht, wenn man Erfolg haben will.« Poirot zog den vor ihm liegenden Paß zu Rate. »Sie sind Cyrus Bethman Hardman, amerikanischer Staats bürger, einundvierzig Jahre alt und Vertreter für Schreibma schinen-Farbbänder.« »Stimmt.« »Sie reisen von Istanbul nach Paris.« »Ja.« »Zweck der Reise?« »Geschäfte.«
»Reisen Sie stets erster Klasse, Mr. Hardman?« »Ja, Sir. Die Firma trägt die Reisekosten.« Er zwinkerte Poirot zu. »Nun zu den Vorkommnissen der vergangenen Nacht. Können Sie uns etwas darüber sagen?« »Rein gar nichts.« »O wie schade. Vielleicht berichten Sie uns, Mr. Hardman, womit Sie sich nach dem Dinner beschäftigten?« Zum erstenmal schien der Amerikaner keine Antwort parat zu haben. Er stellte vielmehr eine Gegenfrage: »Verzeihung, Gentlemen, wer sind Sie eigentlich? Lassen Sie mich mal in Ihre Karten gucken.« »Das ist M. Bouc, ein Direktor der Schlafwagengesellschaft, und das der Arzt, der die Leiche untersucht hat.« »Und Sie selbst?« »Ich bin Hercule Poirot. Die Gesellschaft hat mich mit der Aufklärung des Falles beauftragt.« »Monsieur Hercule Poirot – soso. Ich habe schon von Ihnen gehört.« Hardman überlegte noch ein paar Sekunden. Dann sagte er: »Es ist wohl am besten, wenn ich auspacke.« »Dazu möchten wie Ihnen auch raten«, erwiderte Poirot tro cken. »Über das Verbrechen selbst weiß ich leider nichts. Rein gar nichts, wie ich vorhin schon bemerkte. Aber ich müßte etwas wissen, und das nagt an mir. Ich müßte etwas wissen!« »Wollen Sie sich nicht lieber etwas klarer ausdrücken, Mr. Hardman?« Der Amerikaner seufzte, wälzte seinen Kaugummi und wühl te in seiner Tasche. Gleichzeitig ging mit der ganzen Persön lichkeit eine Veränderung vor sich. Er legte das gekünstelte
Gehabe ab und gab sich natürlicher. Seine Stimme verlor den breiten Akzent des Mittelwestens. »Der Paß ist nicht ganz echt«, sagte er. »Hier, sehen Sie, wer ich wirklich bin.« Hercule Poirot nahm die weiße Visitenkarte auf, die auf die Tischplatte geflattert war, und M. Bouc sah ihm über die Schul ter. Mr. Cyrus B. Hardman,
McNeils Detektiv Agentur
New York
Es war die bekannteste Detektivagentur von New York, und sie hatte, das wußte Poirot, einen ausgezeichneten Ruf. »Nun, Mr. Hardman«, sagte Poirot, »lassen Sie hören, was die Maskerade zu bedeuten hat.« »Ich hatte ein paar Gauner, die nichts mit diesem Mord zu tun haben, über den Ozean verfolgt und schließlich in Istanbul zur Strecke gebracht. Nachdem ich dem Chef meinen Erfolg geka belt hatte, packte ich meine Koffer zur Heimreise nach New York, als ich das hier bekam.« Er schob einen Brief über den Tisch. Der Bogen trug den Kopf des »Tokatlian Hotels«. Geehrter Herr,
man hat mir gesagt, Sie seien ein Angestellter der McNeils De
tektiv Agentur. Bitte suchen Sie mich um vier Uhr heute nach
mittag in meiner Hotel-Suite auf.
Hochachtungsvoll S. E. Ratchett
»Eh bien?« »Ich ging natürlich hin, und Mr. Ratchett weihte mich unter Vorlage einiger Briefe in die Sache ein.« »War er sehr beunruhigt?« »Er spielte den Gleichmütigen, aber in Wirklichkeit nahm es ihn ziemlich mit. Und dann machte er mir einen Vorschlag. Ich sollte bis Paris denselben Zug benutzen wie er und ihn bewa chen. Nun, Gentlemen, ich benutze denselben Zug, aber meine Wachsamkeit nützte nichts: Sie haben ihn doch erwischt. Ich habe kläglich versagt.« »Hat er Ihre Aufgabe näher umrissen? Hatte er bestimmte Vorstellungen, wie Sie ihn schützen sollten?« »Gewiß. Ich sollte vor allem das Nebenabteil belegen. Doch schon hier wurde ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht. Mit Mühe und Not bekam ich überhaupt noch ein Bett. Nr. 16. Der Schaffner scheint es immer bis zur letzten Minute freizuhal ten – für unvorhergesehene Fälle. Es ist zwar von Mr. Ratchetts Abteil ziemlich weit entfernt, dennoch gefiel es mir vom strate gischen Gesichtspunkt aus nicht schlecht. Vor uns lief nur der Speisewagen, dessen Verbindungstür zu den anderen Wagen nachts abgesperrt wird. Mithin konnte Gefahr nur von hinten drohen, und jeder Eindringling mußte an mir vorüber.« »Vermutlich tappten Sie über die Persönlichkeit des mögli chen Angreifers im dunkeln, nicht?« »Nicht ganz. Mr. Ratchett beschrieb ihn mir.« »Was? Was? Was?« Die drei Männer waren wie elektrisiert. M. Bouc war sogar aufgesprungen. »Ein kleiner Mann, dunkel, mit einer femininen Stimme – so drückte sich der alte Herr aus. Außerdem fügte er hinzu, er
glaube nicht, daß man gleich in der ersten Nacht versuchen würde, ihn zu töten. Eher in der zweiten oder dritten.« »Aha, er wußte also Genaueres«, meinte M. Bouc. »Bestimmt wußte er mehr, als er seinem Sekretär verriet«, äu ßerte Poirot nachdenklich. »Hat er Ihnen auch anvertraut, wa rum man ihm nach dem Leben trachtete, Mr. Hardman?« »Nein. In dieser Hinsicht war er sehr zugeknöpft. Er sagte nur, der Kerl habe es auf ihn abgesehen und werde alles tun, um sein Ziel zu erreichen.« »Ein kleiner Mann, dunkel, mit femininer Stimme«, wieder holte Poirot nachdenklich. Dann warf er Hardman einen schar fen Blick zu. »Sie wußten natürlich, wer er wirklich war?« »Wer?« »Ratchett. Sie hatten ihn doch erkannt?« »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Poirot.« »Ratchett war Cassetti, der Mörder im Fall Armstrong.« Hardman stieß einen langen, gellenden Pfiff aus. »Hol mich der Teufel! Das nenne ich eine Überraschung! Nein, Sir, ich habe ihn nicht erkannt. Als der Fall verhandelt wurde, hatte ich gerade einen Auftrag im Westen der Staaten zu erledigen. Wahrscheinlich habe ich Bilder von ihm in den Zeitungen gesehen. Aber auf einem Bild, das so ein Pfuscher von Pressefotograf macht, erkennt man ja seine eigene Mutter nicht. Aber daß es ein paar Leute gibt, die es auf Cassetti abge sehen hatten, wundert mich nicht.« »Ist Ihnen irgend jemand aus dem Armstrong-Fall bekannt, auf den die Beschreibung klein, dunkel, mit femininer Stimme zutrifft?« Hardman überlegte.
»Eigentlich nein. Zudem sind ja beinahe alle Beteiligten tot.« »Erinnern Sie sich, daß sich ein junges, fälschlich als Kompli zin verdächtiges Kindermädchen aus dem Fenster stürzte?« »Richtig – jetzt fällt’s mir wieder ein. Eine Ausländerin. Viel leicht hatte sie italienische Verwandte, die auf Blutrache aus waren. Was weiß man schon? Andererseits dürfen wir nicht vergessen, daß es neben dem Armstrong-Fall noch andere Fälle gab. Cassetti hatte sein infames Entführungsgewerbe geraume Zeit betrieben, so daß sich der Kreis bedeutend erweitert.« »Zugegeben, Mr. Hardman. Jedoch haben wir triftige Gründe anzunehmen, daß Cassettis Ermordung mit dem Fall Arm strong zusammenhängt.« Der Amerikaner schielte, als wolle er um Aufklärung bitten, zu Poirot hinüber, der ihn aber nicht zu beachten schien. »Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern, daß im Fall Armstrong jemand eine Rolle spielte, der dieser Beschreibung entspricht«, versicherte er dann abermals. »Freilich, ich hatte ja auch nichts damit zu tun und weiß daher nicht viel mehr als die breite Öffentlichkeit.« »Gut. Fahren Sie mit Ihrem Bericht fort, Mr. Hardman.« »Es bleibt nicht mehr viel zu berichten. Ich verschaffte mir tagsüber die nötigen Stunden Schlaf und lag nachts brav auf der Lauer. In der ersten Nacht ereignete sich nichts Auffälliges. Und in der vergangenen Nacht ebenfalls nicht, soweit es mich betrifft. Ich hatte meine Tür nur angelehnt und beobachtete den Gang: Ein Fremder ist nicht vorbeigegangen.« »Können Sie dafür bürgen, Mr. Hardman?« »Ja. Niemand kam von draußen in den Wagen herein und niemand aus den rückwärtigen Wagen. Das kann ich beschwö ren.«
»Können Sie von Ihrem Beobachtungsposten aus den Schaff ner sehen?« »Natürlich. Er sitzt ja auf dem kleinen Notsitz fast vor meiner Tür.« »Hat er diesen Sitz nach Abfahrt von Vincovci verlassen?« »Vincovci? Hieß so die letzte Station? Ja, es wurde ein paar mal stürmisch nach ihm geklingelt, und zwar meiner Meinung nach kurz nachdem wir endgültig im Schnee steckengeblieben waren. Nachdem er alles erledigt hatte, ging er an mir vorbei in den Athener Wagen, wo er etwa eine Viertelstunde blieb. Was ihn zurückrief, war eine Klingel, die wie besessen spektakelte. Ein bißchen nervös – denn schließlich hatte ich die Verantwor tung für ein Menschenleben übernommen, ging ich auf den Gang hinaus, aber es war nicht Ratchett, der so verrückt klin gelte, sondern meine Landsmännin, Mrs. Hubbard. Sie war entsetzlich aufgeregt. Nachdem der Kondukteur sie beschwich tigt hatte, ging er in ein anderes Abteil, kam zurück und holte für den betreffenden Passagier eine Flasche Mineralwasser. Dann nahm er auf seinem Sitz Platz, bis er spät in der Nacht ganz am anderen Ende des Wagens für jemanden noch das Bett machen mußte. Danach hat er sich meines Erachtens bis fünf Uhr morgens nicht mehr von seinem Platz fortgerührt.« »Hat er geschlafen?« »Das kann ich weder mit Nein noch mit Ja beantworten.« Poirot strich mechanisch die Papiere auf dem Tisch glatt und nahm dann noch einmal Hardmans Visitenkarte in die Hand. »Bitte bestätigen Sie mir mit Ihrer Unterschrift, daß Ihre An gaben der Wahrheit entsprechen«, sagte er. Hardman unterschrieb rasch.
»Es gibt wohl niemanden hier, der sich für Ihre Identität ver bürgen könnte, Mr. Hardman?« »Hier im Zug? Nein, schwerlich. Es sei denn der junge MacQueen. Ich kenne ihn gut genug, habe ihn mehr als einmal im Büro seines Vaters in New York gesehen, aber daß er sich bei den vielen Angestellten, die dort ein und aus gingen, gerade mein Gesicht gemerkt haben sollte, scheint mir unwahrschein lich. Nein, Monsieur Poirot, Sie müssen sich schon gedulden und nach New York kabeln, wenn uns der Schnee je wieder freigibt. Aber ich schwindle Ihnen nichts vor – es stimmt alles, was ich sage, bis auf den I-Punkt. Also auf Wiedersehen, Gent lemen. Freut mich, Sie persönlich kennengelernt zu haben, Monsieur Poirot.« Hercule Poirot hielt ihm in kollegialer Liebenswürdigkeit sein Zigarettenetui hin. »Aber vielleicht rauchen Sie lieber Pfeife?« »Beileibe nicht!« wehrte Hardman ab, bediente sich und mar schierte davon. Als er gegangen war, sahen sich die drei Männer an. »Glauben Sie, daß er echt ist?« fragte Dr. Constantine. »O ja«, versicherte der Detektiv. »Ich kenne diesen Typ. Ü berdies ließe sich seine Geschichte sehr leicht nachprüfen – schon vom nächsten Bahnhof aus. Er kann ja nicht damit rech nen, daß wir ewig hier festsitzen.« »Jedenfalls war seine Aussage sehr aufschlußreich«, ließ sich M. Bouc vernehmen. »Ja.« »Ein kleiner Mann, dunkel, mit der hohen Stimme einer Frau…« »Eine Beschreibung, die auf keinen unserer Reisenden paßt«, sagte Hercule Poirot entschieden.
18 »Und nun«, fuhr er fort und blinzelte ein bißchen übermütig, »wollen wir das Herz von M. Bouc erfreuen und uns den Italie ner vornehmen.« Mit katzenhafter Geschmeidigkeit betrat Antonio Foscarelli den Speisewagen. Er hatte ein typisch südländisches Gesicht, war von der Sonne tief gebräunt und schien immer gut gelaunt zu sein. »Ihr Name ist Antonio Foscarelli?« »Oui, Monsieur.« »Aber Sie sind amerikanischer Staatsbürger?« »Oui, Monsieur.« Foscarelli lachte. »Es ist besser fürs Ge schäft.« »Sie sind Vertreter für Fordwagen?« »Ja, Sie sehen, Monsieur…« Es folgte ein langer Vortrag in fließendem Französisch. Als Foscarelli schloß, durften Poirot und die beiden anderen alles, was sie über seine geschäftlichen Gepflogenheiten, seine Rei sen, sein Einkommen, seine Ansichten über die Vereinigten Staaten und die meisten europäischen Länder noch nicht wuß ten, als absolut nebensächlich abtun. Antonio Foscarelli war nicht der Mann, der nur widerwillig Rede und Antwort stand. Er war mitteilsam wie kein zweiter. Und als er endlich mit einer beredten Geste innehielt und sich die Stirn mit dem Taschentuch abwischte, glänzte sein gutmü tiges Gesicht vor Befriedigung. Dann schöpfte er noch einmal Atem und setzte hinzu:
»Sehen Sie, Messieurs, ich mache große Abschlüsse, bin bis in die Fingerspitzen ein moderner Kaufmann und verstehe mein Geschäft.« »Sie haben sich also während der letzten zehn Jahre mit Un terbrechungen in den Vereinigten Staaten aufgehalten?« »Ja, Monsieur. Ah, wie gut entsinne ich mich noch des Tags, an dem mein Fuß das Deck des Dampfers betrat, der mich zum erstenmal hinüberbringen sollte. Amerika! Ein Land, so weit, weit fort. Meine Mutter, meine kleine Schwester…« Unerbittlich hemmte Hercule Poirot die Erinnerungsfluten. »Sind Sie Ratchett in den Vereinigten Staaten je begegnet?« »Nie, nie! Aber ich kenne die Sorte. O ja!« Ausdrucksvoll schnippte er mit den Fingern. »Unter dem ehrbaren Äußern, unter der makellosen Kleidung ist alles faul. Auf Grund meiner Erfahrungen möchte ich sagen, daß er ein Gangster war, der sich nur mit Kapitalverbrechen abgab. Und auf meine Erfah rung dürfen Sie bauen, Messieurs.« »Sie hat Sie nicht getrogen«, entgegnete Poirot. »Ratchett war Cassetti, der Entführer und Erpresser.« »Was habe ich gesagt? Ja, ja, ich habe gelernt, in Gesichtern zu lesen. Nur in Amerika lernt man diese Kunst und richtet sich dann bei seinen Geschäften danach.« »Erinnern Sie sich an den Fall Armstrong?« »Nur verschwommen. An den Namen – ja. War da nicht ein kleines Mädchen, ein Baby, im Spiel?« »Ja, eine sehr traurige Angelegenheit. Tragisch, sehr tragisch.« Der Italiener war der erste, der diese Ansicht nicht zu teilen schien. »Ah, derartige Dinge geschehen nun einmal«, meinte er wei se. »In einer großen Zivilisation wie Amerika…«
Abermals schnitt Poirot ihm das Wort ab. »Hat Ihr Weg Sie jemals mit irgendeinem Mitglied der Familie Armstrong zusammengeführt?« »Meines Wissens nicht. Aber – unter den vielen Hunderten, ja Tausenden… Damit Sie einen Begriff bekommen, will ich Ihnen ein paar Zahlen nennen. Allein im letzten Jahr hatte ich einen Umsatz…« »Monsieur, bitte bleiben Sie bei der Sache, und schweifen Sie nicht ständig ab.« Um Entschuldigung bittend, hob Foscarelli beide Hände. »Pardon! Tausendmal Pardon!« »Schildern Sie mir bitte genau und ausführlich, was Sie in der vergangenen Nacht nach dem Dinner getan haben.« »Mit Vergnügen. Ich blieb so lange wie möglich hier im Spei sewagen – es ist unterhaltsamer – und führte ein anregendes Gespräch mit dem Amerikaner, meinem Tischgenossen. Er ver kauft Farbbänder für Schreibmaschinen. Dann ging ich in mein Abteil zurück. Keine Menschenseele war da. Dieser langweili ge, steife Engländer, der es mit mir teilt, war bei seinem Herrn. Endlich kommt er zurück. Hochnäsig und unnahbar wie im mer. Außer ja und nein hat der Kerl noch keine Silbe gespro chen. Eine elende Rasse, diese Engländer, aufgeblasen, unsym pathisch. Stumm wie ein Fisch setzt er sich in seine Ecke und steckt die Nase in ein Buch. Dann erscheint der Schaffner und macht unsere Betten.« »Nr. 4 und 5«, warf Hercule Poirot ein. »Ganz recht. – Das am äußersten Ende des Wagens gelegene Abteil. Oder auch das erste – wie man es rechnet. Jedenfalls ist es dicht beim Speisewagen. Ich schlafe oben, klettere hinauf, rauche und lese. Den Engländer plagen, glaube ich, Zahn
schmerzen. Er kramt eine kleine Flasche mit irgendeinem stark riechenden Mittel heraus und liegt stöhnend und ächzend im unteren Bett. Schließlich schlafe ich ein, doch immer wenn ich aufwache, höre ich ihn stöhnen.« »Wissen Sie, ob er in der Nacht das Abteil verließ?« »Das glaube ich nicht. Da wäre ich sicher wach geworden. Unwillkürlich wacht man auf, sobald Licht vom Gang ins Ab teil fällt, weil man eine Zollrevision oder Paßkontrolle vermu tet.« »Hat er je über seinen Arbeitgeber gesprochen? Sich vielleicht anmerken lassen, daß er ihn nicht mochte?« »Monsieur, ich sage Ihnen doch, er ist stumm wie ein Fisch. Stumm und kalt wie ein Fisch. Ein unsympathischer Mensch.« »Rauchen Sie, Monsieur Foscarelli? Pfeife, Zigaretten oder Zi garren?« »Nur Zigaretten.« »Dann darf ich Ihnen wohl eine anbieten?« Und während Poi rot ihm das Etui hinhielt, fragte M. Bouc: »Sind Sie auch in Chi cago gewesen?« »O ja. Eine feine Stadt! Doch am besten kenne ich New York, Cleveland, Detroit. Waren Sie mal in den Staaten? Nein? Ver säumen Sie es nicht. Es lohnt sich, denn, sehen Sie…« Poirot, der Unbarmherzige, schob dem Redseligen ein Blatt Papier zu. »Notieren Sie mir bitte Ihre ständige Adresse, und dann kön nen Sie Ihre Aussage unterzeichnen«, sagte er. Der Italiener schrieb und malte zuletzt einen wilden Schnör kel. Dann erhob er sich – mit einem Lächeln, verbindlicher als je. »Das ist alles? Mehr wollen Sie nicht von mir? Auf Wieder sehen dann, Messieurs. Ich wünschte, wir wären erst mal aus
diesem verflixten Schnee heraus! Ein Termin, in Mailand…« Traurig schüttelte er den Kopf. »Das Geschäft wird mir durch die Lappen gehen.« Und er machte kehrt und verließ den Raum. Als die Tür hinter ihm zuschnappte, sah Poirot seinen Freund Bouc an. »Er lebt schon lange in Amerika, mon ami«, sagte Bouc. »Ü berdies ist er Italiener. Die Italiener greifen leicht zum Messer. Und große Lügner sind sie obendrein. Schon aus diesen Grün den mag ich sie nicht.« »Möglicherweise haben Sie recht«, erwiderte Poirot mit ver gnügtem Lächeln. »Darf ich Sie aber daran erinnern, mein Freund, daß nicht das geringste gegen den Mann spricht.« »So? Und wo bleibt die Psychologie? Sticht der Italiener nicht eins, zwei, drei zu?« »Sicherlich. Besonders in der Hitze eines Streits. Aber wir ste hen einem andersgearteten Verbrechen gegenüber. Ich glaube allmählich, es wurde sorgfältig geplant und in Szene gesetzt. Es ist ein Verbrechen, das jemand auf lange Sicht vorbereitet hat. Es ist kein – wie soll ich mich ausdrücken – romantisches Verbrechen, sondern eins, das von einem kühlen, findigen, be dächtigen Menschen ausgeklügelt wurde. Ich denke an einen angelsächsischen Menschen.« Er nahm die beiden letzten Pässe auf. »Hören wir uns nun an, was Miss Debenham zu sagen hat.«
19 Als Mary Debenham den Speisewagen betrat, erkannte Poirot,
daß er sie von Anfang an richtig eingeschätzt hatte. Sie trug ein
schwarzes Kostüm und eine graue Crêpe-de-Chine-Bluse, und
das dunkle Haar war hübsch frisiert.
Sie nahm Poirot und M. Bouc gegenüber Platz und sah sie fra
gend an. Sie war ganz ruhig und gelassen.
»Ihr Name ist Mary Hermione Debenham«, begann Hercule
Poirot, »und Sie sind sechsundzwanzig Jahre alt?«
»Ja.« »Engländerin?« »Ja.« »Ich bitte, Mademoiselle, mir hier Ihre ständige Adresse auf zuschreiben.« Sie tat es, mit klarer, leserlicher Schrift. »Und nun, Mademoiselle, was können Sie uns über die Ereig nisse der vergangenen Nacht berichten?« »Leider gar nichts. Ich bin ins Bett gegangen und sofort einge schlafen.« »Belastet es Sie sehr, Mademoiselle, daß in diesem Zug ein Verbrechen begangen wurde?« Offensichtlich hatte Mary Debenham eine derartige Frage nicht erwartet. Ihre grauen Augen weiteten sich ein wenig. »Ich – ich verstehe nicht ganz.« »Die Frage war doch ganz eindeutig, Mademoiselle. Ich wie derhole: Belastet es Sie sehr, daß in diesem Zug ein Verbrechen begangen wurde?«
»Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich darüber wirklich noch nicht nachgedacht. Aber nein, ich kann nicht sagen, daß es mich besonders belastet.« »Dann ist ein Verbrechen für Sie etwas Alltägliches, wie?« »Es ist natürlich eine höchst unerfreuliche Sache«, gab Mary Debenham ruhig zurück. »Sie sind eine echte Angelsächsin, Mademoiselle. Vous n’éprouvez pas d’ émotion.« Sie lächelte. »Ich kann leider keinen hysterischen Anfall bekommen, um Ihnen zu beweisen, daß, ich nicht kalt und gefühllos bin. Das liegt mir nicht. Schließlich sterben jeden Tag Menschen.« »Sie sterben, ja, doch Mord ist etwas seltener.« »Oh, sicherlich.« »Waren Sie mit dem Toten nicht bekannt?« »Ich habe ihn gestern beim Lunch zum erstenmal gesehen.« »Und was für einen Eindruck hatten Sie von ihm?« »Ich habe ihn kaum bemerkt.« »Sie fühlten sich von ihm also nicht abgestoßen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Wirklich, es wäre anmaßend, wenn ich ein Urteil abgeben wollte.« Poirot sah sie streng an. »Ich glaube, Mademoiselle, Sie betrachten die Art, wie ich meine Untersuchung führe, ziemlich geringschätzig, nicht wahr?« sagte er. »Eine englische Untersuchung würde anders geführt, denken Sie. Dabei ginge es nüchtern und sachlich zu, und niemand würde von Gefühlen und Eindrücken faseln. Man würde sich streng an die Tatsachen halten. Doch ich, Mademoi
selle, habe meine kleinen Eigenheiten. Ich sehe mir meine Zeu gen erst einmal an, erforsche ihren Charakter und gestalte mei ne Fragen dementsprechend. Vor ein paar Minuten saß mir ein Herr gegenüber, der mir über alles und jedes seine Ansichten nahebringen wollte. Ihm legte ich Zügel an, forderte ihn auf, bei der Sache zu bleiben, zwang ihn mehr oder weniger, mir dies und das nur mit Ja oder Nein zu beantworten. Und nun kom men Sie. Sofort fühle ich, daß Sie hübsch ordentlich und sach lich sein, sich auf die fragliche Angelegenheit beschränken wol len. Und da die menschliche Natur wider- und eigensinnig ist. stelle ich Ihnen ganz verschiedene Fragen. Ich frage, was Sie fühlen, was Sie dachten. Sie mißfällt Ihnen, diese Methode, n’est-ce pas?« »Verzeihen Sie, wenn ich sie für Zeitvergeudung halte, Mon sieur. Ob mir Mr. Ratchetts Gesicht zusagte oder nicht, hilft Ihnen meiner Meinung nach überhaupt nicht dabei, den Mör der zu finden.« »Wissen Sie, wer dieser sogenannte Ratchett wirklich war?« »Mrs. Hubbard hat es längst herausposaunt. Man konnte es nicht überhören.« »Und was halten Sie von dem Fall Armstrong?« »Das war die verabscheuungswürdigste Tat, die man sich denken kann«, antwortete sie heftig. Poirot betrachtete sie nachdenklich. »Sie kommen, wenn ich nicht irre, von Bagdad, Miss Debenham?« »Ja.« »Und reisen nach London?« »Ja.« »Was haben Sie in Bagdad gemacht?« »Ich war Erzieherin bei zwei Kindern.«
»Werden Sie nach dem Urlaub auf Ihren Posten zurückkeh ren?« »Das weiß ich nicht.« »Und wie kommt das?« »Bagdad liegt ein bißchen außerhalb der Welt. Einer gleich wertigen Stellung in London würde ich den Vorzug geben.« »Durchaus verständlich. Ich dachte schon, Sie wollten viel leicht heiraten.« Darauf erwiderte Miss Debenham nichts. Sie schlug jedoch die Augen auf und blickte Poirot voll ins Gesicht. Und ihr Blick sagte deutlich: »Sie sind impertinent.« »Wie lautet Ihr Urteil über die Dame, mit der Sie das Abteil teilen?« fragte Hercule Poirot, an dem diese wortlose Rüge ab prallte. »Miss Ohlsson? Sie scheint ein schlichter, netter Mensch zu sein.« »Welche Farbe hat ihr Morgenrock?« Mary Debenham sah ihn verblüfft an. »Er ist bräunlich. Na turfarbene Wolle.« »Ah! Ich darf wohl erwähnen – ohne Sie zu kränken, wie ich hoffe –, daß ich mich erinnere, Sie im Zug von Aleppo nach Istanbul zufällig im Morgenrock gesehen zu haben. Er ist zartli la, nicht wahr?« »Ja, das stimmt.« »Haben Sie noch einen anderen? Zum Beispiel einen schar lachroten Kimono?« »Nein, der gehört nicht mir.« Poirot schnellte nach vorn. Er glich einer über die Maus her fallenden Katze.
»Wem denn?« »Das weiß ich nicht.« Mary wich erschrocken zurück. »Was meinen Sie eigentlich?« »Mademoiselle, Sie sagten nicht: ›Ich habe keinen scharlachro ten Kimono‹, sondern ›der gehört nicht mir‹, was nichts ande res bedeutet, als daß er jemand anders gehört.« Sie nickte. »Jemandem im Zug?« »Ja.« »Wem?« »Ich erklärte bereits, daß ich es nicht weiß. Heute morgen ge gen fünf wachte ich mit dem Gefühl auf, daß der Zug unnatür lich lange stillstand. Daraufhin öffnete ich die Tür und schaute auf den Gang hinaus, weil ich dachte, wir hielten auf einem Bahnhof. Ich wollte wissen, wie die Station heißt und aus mei nem Fenster sah ich nur Schnee und Finsternis. Nun ja, und da ging jemand im scharlachroten Kimono den Gang entlang.« »Und Sie wissen nicht, wer es gewesen ist? War sie blond o der dunkel oder ergraut?« Mary Debenham zögerte ein wenig mit der Antwort. »Auch das kann ich nicht sagen. Sie trug eine Frisierhaube, und über dies sah ich ja nur den Hinterkopf.« »Und wie war die Gestalt?« »Groß und schlank, sollte ich meinen, obgleich ein Kimono die Figur verbirgt. Übrigens war er mit Drachen bestickt.« »Ja, ja. Das stimmt. Mit Drachen.« Eine Weile brütete Hercule Poirot vor sich hin, nagte an seiner Unterlippe und murmelte: »Ich kann es nicht verstehen… nein, ich kann es einfach nicht verstehen. Nichts davon ergibt einen
Sinn.« Und dann, zu Miss Debenham gewandt: »Mademoiselle, ich brauche Sie nicht länger aufzuhalten.« »Oh!« Ziemlich überrascht stand die junge Dame auf. Doch als sie an der Tür war, zögerte sie und kam noch einmal zurück. »Die schwedische Dame – Miss Ohlsson, nicht wahr? – scheint ziemlich besorgt zu sein. Sie hat erzählt, Sie hätten ihr gesagt, sie sei die letzte, die diesen Mann lebend gesehen habe, und daraus schließt sie, Sie verdächtigten sie, die Tat begangen zu haben. Darf ich ihr von Ihnen ausrichten, daß sie sich irrt? Glauben Sie mir, Miss Ohlsson ist ein so sanftes Geschöpf, das nicht einmal einer Fliege ein Leid zufügen würde«, setzte Mary Debenham mit Nachdruck hinzu. »Um wieviel Uhr hat sie sich das Aspirin von Mrs. Hubbard geholt?« »Kurz nach halb elf.« »Blieb sie lange fort?« »Etwa fünf Minuten.« »Ging sie nachts vielleicht noch einmal hinaus?« »Nein.« Poirot drehte sich zur Seite, wo der griechische Arzt saß. »Kann Ratchett schon so früh getötet worden sein?« »Unmöglich.« »Dann können Sie Ihre Freundin beruhigen, Mademoiselle.« »Danke.« Jetzt lächelte sie Poirot plötzlich an. »Sie gleicht ei nem verlorenen Schäfchen. Zittert vor Angst und blökt!« Und mit dem gewinnendsten Lächeln ging Mary Debenham hinaus.
20 M. Bouc sah seinen Landsmann neugierig an. »Ich begreife Sie nicht ganz, mon vieux. Was haben Sie eigentlich damit be zweckt?« »Ich habe nach einem Riß gesucht.« »Einem Riß?« »Ja – im Panzer der Selbstbeherrschung einer jungen Dame. Ich wollte ihre Kaltblütigkeit erschüttern. Ob mir das gelungen ist? Das weiß ich nicht. Hingegen weiß ich das eine: Sie hatte nicht erwartet, daß ich die Sache so anpacken würde, wie ich es dann tat.« »Haben Sie Mary Debenham im Verdacht… Warum, mon ami? Auf mich macht sie den Eindruck einer charmanten jun gen Dame – die allerletzte, die sich zu einem solchen Verbre chen hinreißen ließe.« »Ich muß Ihnen beipflichten«, warf Dr. Constantine ein. »Sie ist kalt, weiß ihre Gemütsbewegungen zu meistern. Sie würde einen Mann nicht erstechen, sondern ihn vor Gericht bringen.« »Meine lieben Freunde, Sie müssen sich beide von der Vor stellung freimachen, daß das ein spontaner Mord war, eine Tat im Affekt«, sagte Poirot. »Ich habe zwei sehr konkrete Gründe, Miss Debenham zu verdächtigen. Erstens habe ich zufällig Bruchteile eines Gesprächs belauscht, von dem Sie nichts wis sen…« Er wiederholte die wenigen Sätze, die er zufällig aufge schnappt hatte, als er im Zug von Aleppo nach Istanbul unweit von Mary Debenham und Oberst Arbuthnot am Fenster stand, um die großartige Szenerie des Taurus zu bewundern.
»Das ist freilich merkwürdig«, meinte M. Bouc, »und bedarf einer Erklärung. Wenn es das bedeutet, was Sie vermuten, mon ami, so haben die beiden – sie und der steife Engländer – ge meinsame Sache gemacht.« »Ja. und dem widersprechen die Tatsachen«, erklärte Poirot. »Überlegen Sie doch selbst: Wären Sie Komplizen, wäre es das Selbstverständlichste, sich gegenseitig ein Alibi zu geben. Stimmt’s? Eh bien? Das ist aber nicht der Fall. Miss Debenhams Alibi wird von Miss Ohlsson bestätigt, die sie nie zuvor gese hen hat. Und Oberst Arbuthnot bekommt sein Alibi von MacQueen, dem Sekretär des Toten. Nein, diese Lösung des Rätsels ist zu leicht.« »Und der zweite Grund für Ihren Verdacht?« erinnerte M. Bouc. »Oh, das hat schon wieder etwas mit Psychologie zu tun.« Hercule Poirot lächelte. »Ich frage mich, ob der ganze Plan nicht von Miss Debenham stammt. Sie hat nämlich den schar fen, kühlen Verstand, der dazu nötig ist.« M. Bouc schüttelte abwehrend den Kopf. »Mein Lieber, ich glaube, Sie sind auf dem Holzweg. Ich je denfalls halte die junge Engländerin nicht für eine Verbreche rin.« »Lassen wir es vorläufig dahingestellt«, erwiderte Poirot und griff nach dem letzten Paß. »Hier haben wir Hildegarde Schmidt, die Kammerzofe.« Durch den Kellner herbeigeholt, blieb Fräulein Schmidt re spektvoll stehen und setzte sich erst, als Poirot sie dazu auffor derte. Dann saß sie mit gefalteten Händen da und wartete ge lassen, was man sie fragen würde. Sie schien überhaupt ein ruhiger Mensch zu sein – unglaublich ehrbar, wenn auch viel leicht nicht allzu intelligent.
Bei ihr wandte Poirot eine völlig andere Methode an als bei Mary Debenham. Er gab sich freundlich und mild, so daß bei Hildegarde Schmidt Schüchternheit erst gar nicht aufkommen konnte. Nachdem er sie gebeten hatte, ihm Namen und Adresse aufzu schreiben, begann er sehr vorsichtig mit der Vernehmung, die auf deutsch geführt wurde. »Wir möchten gern soviel wie möglich über die Ereignisse der vergangenen Nacht erfahren«, sagte er. »Daß Sie uns kaum Auskünfte über das Verbrechen selbst geben können, wissen wir. Aber vielleicht haben Sie etwas gesehen oder gehört, das Ihnen unwesentlich erscheint, trotzdem jedoch wertvoll für uns sein könnte. Sie verstehen, was ich meine?« Es schien nicht der Fall zu sein. Ihr breites Gesicht behielt den Ausdruck gelassener Stupidität bei, als sie erwiderte: »Ich weiß nichts, Monsieur.« »Nichts? Das dürfte nicht stimmen. Zum Beispiel wissen Sie, daß Ihre Herrin Sie gestern nacht rufen ließ.« »Das ja.« »Erinnern Sie sich an die Zeit?« »Nein. Monsieur. Ich schlief, als der Kondukteur kam und mich benachrichtigte.« »Eh bien. Sie standen auf. Zogen Sie einen Morgenrock an?« »Nein, ich schlüpfte schnell in ein Kleid. Es wäre unpassend, in einem Schlafrock zu Ihrer Durchlaucht zu gehen.« »Und dennoch ist es ein so hübscher Morgenrock – scharlach rot, nicht wahr?« »Scharlachrot?« Sie blickte den Frager erstaunt an. »Nein. Es ist ein dunkelblauer Flanellmorgenrock.«
»Ah! Bitte, fahren Sie fort. Und verzeihen Sie mir den kleinen Scherz. Was taten Sie bei Madame la Princesse?« »Ich massierte sie und las ihr dann vor. Ich lese zwar nicht be sonders gut, aber Ihre Exzellenz sagt, das sei um so besser, weil es einschläfernd wirkt. Als sie schläfrig wurde, schickte sie mich in mein Abteil zurück.« »Wissen Sie. um wieviel Uhr das gewesen ist?«
»Nein, Monsieur.«
»Wie lange hielten Sie sich bei Madame la Princesse auf?«
»Gut eine halbe Stunde.«
»Bien. Weiter.«
»Zuerst holte ich für Ihre Durchlaucht noch eine Decke aus
meinem Abteil, weil sie trotz der Heizung fror, breitete sie über ihr Bett und wünschte gute Nacht. Dann drehte ich das Licht aus und verließ sie.« »Und dann?«
»Das ist alles, Monsieur. Ich legte mich wieder schlafen.«
»Ist Ihnen im Gang jemand begegnet?«
»Nein, Monsieur.«
»Eine Dame in einem scharlachroten Kimono haben Sie nicht
zufällig gesehen?« »Nein, Monsieur. Außer dem Kondukteur schliefen alle fest.« »Den Kondukteur haben Sie aber gesehen?« »Ja, Monsieur.« »Was machte er?« »Er kam aus einem Abteil heraus.« »Donnerwetter!« entfuhr es M. Bouc. »Aus welchem Abteil?«
Hildegarde Schmidt zuckte ängstlich zusammen, und Hercule Poirot maß seinen übereifrigen Freund mit einem vorwurfsvol len Blick. »Nichts natürlicher als das«, sagte er. »Wenn ein Passagier klingelt, muß der Schaffner laufen. Entsinnen Sie sich, aus wel chem Abteil er kam, Fräulein Schmidt?« »Es lag in der Mitte des Wagens. Zwei oder drei Türen von Ihrer Durchlaucht entfernt.« »Ah. Das ist ganz interessant. Schildern Sie uns bitte genau, was passierte.« »Er prallte beinahe mit mir zusammen, Monsieur, als ich mit der Decke von meinem Abteil zu der gnädigen Frau ging.« »Ah – er kam also aus einem Abteil und rannte fast in Sie hin ein. Und in welche Richtung entfernte er sich?« »In die, aus der ich kam – also nach dem Speisewagen zu. Er entschuldigte sich wegen des Zusammenpralls. Und dann klin gelte jemand, doch ich bin der Meinung, daß er das nicht beach tete. Aber, Monsieur, ich verstehe nicht, was sollen all diese Fragen?« »Es dreht sich um die Zeit, Fräulein Schmidt«, sagte Poirot beschwichtigend. »Fragen gehört zu unserem Handwerk. Und sehen Sie, der arme, geplagte Kondukteur wurde diese Nacht ein bißchen arg hin und her gehetzt. Zuerst mußte er Sie we cken, und dann klingelten alle möglichen Leute.« »Verzeihung, Monsieur – es war nicht derselbe Kondukteur, der mich geweckt hatte. Es war ein anderer.« »Ein anderer? Hatten Sie ihn vorher schon mal gesehen?« »Nein, Monsieur.« »Aber Sie würden ihn wiedererkennen, Mademoiselle?« »Ich glaube schon.«
Hercule flüsterte M. Bouc etwas ins Ohr. Bouc stand auf, ging zur Tür und gab dort einen Befehl. Inzwischen setzte Poirot das Verhör in leichtem Plauderton fort. »Waren Sie eigentlich mal in Amerika, Fräulein Schmidt?« »Nie, Monsieur. Es muß ein schönes Land sein.« »Vermutlich haben Sie inzwischen gehört, welche Verbrechen der Passagier, der hier ermordet wurde, dort begangen hat. Daß er schuld war am Tod eines kleinen Mädchens?« »Ja, ich habe es gehört. Einfach unmenschlich. Wie kann Gott nur so etwas zulassen? Bei uns in Deutschland sind die Men schen nicht so schlecht, Monsieur.« Tränen traten ihr in die Augen – ihre mütterlichen Gefühle waren aufs tiefste verletzt. »Ja, es war ein furchtbares Verbrechen«, sagte Poirot. Er zog ein kleines Tuch aus der Tasche und fragte: »Ist das Ihr Ta schentuch, Fräulein Schmidt?« Schweigen. Die Zofe betrachtete das feine Gewebe, und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. »Nein, Monsieur«, erklärte sie nach einer auffallend langen Pause. »Es ist mit einem H gezeichnet – daher dachte ich, es sei das Ihrige.« »Monsieur, das ist das Taschentuch einer wohlhabenden Da me. Pariser Arbeit. Mit der Hand gestickt.« »Wissen Sie auch nicht, wem es gehört?« »Ich? O nein, Monsieur.« Von den drei Zuhörern fiel lediglich Hercule Poirot das kaum merkliche Zögern auf.
Bouc beugte sich zu dem wesentlich kleineren Poirot hinunter und flüsterte ihm etwas zu. »Gleich kommen die drei Schlafwagenschaffner herein«, wandte sich Poirot wieder an die Frau, »und ich bitte Sie, mir den zu zeigen, mit dem Sie vergangene Nacht zusammenprall ten.« Die drei Männer traten ein. Zuerst Pierre Michel. Ihm folgten sein großer, blonder Kollege aus dem Athener Wagen und der stämmige, behäbige Betreuer des Bukarester Wagens. Hilde garde sah sie an und schüttelte den Kopf. »Keiner davon ist der Mann, der vergangene Nacht im Gang in mich hineingerannt ist.« »Aber Fräulein Schmidt, mehr Schaffner gibt es im Zug nicht. Sie müssen sich täuschen.« »Ich bin meiner Sache durchaus sicher, Monsieur. Der Mann, den ich sah, war klein und dunkel und hatte ein Bärtchen. Seine Stimme, als er Pardon sagte, klang hell wie die Stimme einer Frau.«
21 »Ein kleiner, dunkler Mann mit femininer Stimme«, sagte M. Bouc fassungslos. Die drei Kondukteure und Hildegarde Schmidt waren entlas sen worden. »Der Fall wird immer verworrener«, fuhr Bouc mit einer Ges te fort, die seine ganze Hoffnungslosigkeit verriet. »Ich verstehe nichts, nichts, nichts…! War der Feind, den Ratchett dem ame rikanischen Detektiv beschrieb, also doch im Zug? Wo ist er dann aber jetzt? Trägt er eine Tarnkappe, die ihn unseren Bli cken entzieht? Wie kann er sich in Luft aufgelöst haben? Mon vieux, in meinem Kopf dreht sich ein Mühlrad. Haben Sie Erbarmen, sagen Sie etwas! Ich flehe Sie an, Zeigen Sie mir, wie das Unmögliche möglich ist.« »Ah, das ist ein vortrefflicher Satz!« lobte Poirot. »Das Un mögliche kann sich nicht zugetragen haben, daher muß das Unmögliche möglich sein, obwohl der äußere Anschein uns etwas anderes sagt.« »Erklären Sie mir also bitte schnell, was vergangene Nacht im Zug tatsächlich passiert ist.« »Ich bin kein Zauberkünstler, mon cher, sondern genauso verwirrt wie Sie. Der Fall entwickelt sich wirklich höchst son derbar.« »Er entwickelt sich überhaupt nicht, er bleibt, was er am An fang war – ein unlösbares Rätsel.« »Pardon, das stimmt nicht«, widersprach Poirot mit Nach druck. »Wir haben Fortschritte zu verzeichnen. Wir haben be stimmte Fakten ermittelt und die Aussagen der Reisenden ge hört.«
»Und sind dadurch nicht klüger geworden.«
»Das möchte ich nicht behaupten.«
»Na ja, vielleicht übertreibe ich. Zugegeben, Mr. Hardman
und die Kammerzofe haben uns zu neuen Erkenntnissen ver holfen. Das heißt, eigentlich ist durch ihre Aussagen der Fall nur verworrener geworden.« »Nein, nein, nein!« erklärte Poirot sehr nachdrücklich. M. Bouc schlug mit der Hand auf den Tisch. »Dann sprechen Sie doch und lassen Sie uns an der Weisheit von Hercule Poirot teilhaben.« »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich genauso verwirrt bin wie Sie? Das hält mich jedoch nicht ab. mich dem Problem zu stellen und mit Methode und Bedacht die uns bekannten Tatsa chen zu ordnen.« »O bitte, fahren Sie fort, Monsieur«, sagte Dr. Constantine. Poirot räusperte sich und strich glättend über das Löschblatt. »Lassen Sie uns den Fall durchgehen, wie er sich jetzt unseren Augen darbietet. Erstens sind wir im Besitz mehrerer unbe streitbarer Tatsachen – das können Sie nicht leugnen, Sie trost loser Pessimist. Tatsache Nummer eins: Ratchett oder Cassetti wurde vergangene Nacht durch zwölf Messerstiche getötet.« »Das kann ich bestätigen«, sagte M. Bouc mit beißender Iro nie. Poirot ließ sich dadurch nicht beirren. Ruhig fuhr er fort: »Ich will die unbestreitbar ungewöhnlichen Begleiterscheinungen, die Dr. Constantine und ich bereits erörtert haben, vorläufig übergehen. Die nächste Tatsache von Wichtigkeit ist meines Erachtens die Stunde des Verbrechens.«
»Auch das gehört zu den wenigen Dingen, die uns bekannt sind, mon vieux. Der Mord geschah um Viertel nach eins. Alles weist darauf hin.« »Nicht alles. Sie übertreiben schon wieder. Freilich gibt es mehrere Indizien, die diese Theorie stützen.« »Freut mich, daß Sie wenigstens das zugeben!« »Wir haben es mit drei Möglichkeiten zu tun. Die erste: Das Verbrechen wurde, wie Sie sagen, um Viertel nach eins began gen. Diese Theorie stützt sich auf die Uhr, die um diese Zeit stehenblieb, auf die Aussage von Mrs. Hubbard und die der deutschen Kammerzofe. Ferner paßt sie zu Dr. Constantines Gutachten. Jetzt Möglichkeit Nummer zwei: Man verübte das Verbrechen zu einer späteren Stunde und fälschte das Beweismaterial, in dem man die Uhrzeiger verstellte. Möglichkeit Nummer drei: Man verübte das Verbrechen frü her und führte uns durch gefälschte Hinweise in die Irre. Wenn uns nun die Möglichkeit Nummer eins als die wahr scheinlichste und die durch die meisten Beweise untermauerte erscheint, müssen wir logischerweise auch gewisse Tatsachen mit in Kauf nehmen, die sich daraus ergeben. Um Ihnen nur eine zu nennen: Wenn das Verbrechen um Viertel nach eins begangen wurde, kann der Mörder den Zug nicht verlassen haben, und wir müssen uns fragen: Wo ist er? Und wer ist es? Fangen wir damit an, das Beweismaterial sehr sorgfältig zu prüfen. Zum erstenmal hören wir von dem Vorhandensein die ses Menschen – des kleinen, dunklen mit der hellen Frauen stimme – von Mr. Hardman. Er sagt, Ratchett habe ihm erklärt, dieser Mann wolle ihn töten, und Hardman solle ihn beschüt zen. Hardmans Darstellung wird durch kein Beweismaterial erhärtet – wir müssen wohl oder übel glauben, was er sagt.
Nun die nächste Frage: Ist Hardman der Mann, für den er sich ausgibt? Angestellter einer New Yorker Detektei? Was den Fall für mich so fesselnd macht, ist der Umstand, daß wir alle der Polizei zur Verfügung stehenden Hilfsmittel entbehren. Wir können die Glaubwürdigkeit der Reisenden nicht überprüfen, sondern sind ganz auf Schlußfolgerungen angewiesen. Darin, meine Freunde, liegt für mich der Reiz der Sache. Die übliche Routine nützt hier nichts. Nur der Intellekt, der Scharfsinn zählt. Ich lege mir die Frage vor: Können wir Hardmans Bericht über sich selbst gelten lassen? Dann treffe ich meine Entscheidung und sage: ›Ja.‹ Ja, ich bin der Meinung, daß wir Hardmans Selbstauskunft Glauben schenken dürfen.« »Sie bauen auf die Intuition – oder, wie der Volksmund sagt, auf den guten Riecher?« meinte Dr. Constantine. »Durchaus nicht. Ich erwäge die Möglichkeiten. Hardman reist mit einem falschen Paß, was ihn von vornherein verdäch tig macht. Wenn die Polizei den Fall übernimmt, wird sie Hardman sofort festhalten und nach drüben kabeln, um festzu stellen, ob seine Angaben stimmen. Bei einigen Reisenden dürf te es schwierig werden, Ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen, bei anderen wiederum wird man es gar nicht versuchen, da sie über jeden Verdacht erhaben sind. Bei Hardman ist es kinder leicht. Und deshalb sage ich, daß er kaum die ungeheure Dummheit begehen wird, uns falsche Angaben aufzutischen.« »Also sprechen Sie ihn von jedem Verdacht frei?« »Aber durchaus nicht. Sie mißverstehen mich. Wie die Dinge liegen, könnte jeder beliebige amerikanische Detektiv unzählige private Gründe gehabt haben. Ratchett zu töten. Nein, mon and, ich sage lediglich, daß wir meiner Meinung nach Hardmans Angaben zur Person glauben dürfen. Auch die Geschichte, daß Ratchett ihn zu seinem Schutz engagiert hatte, entspricht mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Wahrheit. Wenn wir sie akzeptieren, müssen wir uns jedoch umsehen, ob sie uns nicht jemand bestätigen kann. Und wir finden die Bestätigung an einer ganz unvermuteten Stelle – in der Aussage von Hilde garde Schmidt. Der Mann in der Uniform eines Schlafwagen schaffners, mit dem sie zusammenstieß, entspricht in allem je ner Beschreibung, die Hardman uns von Ratchetts Feind gege ben hat. Eine weitere Bestätigung liefert uns der in Mrs. Hub bards Abteil gefundene Knopf. Und dann gibt es noch eine drit te, die Ihnen vielleicht entgangen ist.« »Welche?« »Die Tatsache, daß beide, Oberst Arbuthnot und Hector MacQueen, erwähnten, der Kondukteur sei an ihrem Abteil vorü bergegangen. Sie legten dem keine Bedeutung bei, aber, Mes sieurs, Pierre Michel hat erklärt, daß er seinen Sitz nicht verlas sen hat, außer um bestimmte Aufträge zu erledigen. Am äu ßersten Ende des Wagens hatte er jedoch nichts zu tun, so daß sein Weg ihn auch nicht an Mr. MacQueens Abteil vorüberführ te. Deshalb stützt sich diese Geschichte von einem kleinen, dunk len, in Schlafwagenuniform gekleideten Mann – direkt oder indirekt – auf die Aussage von vier Personen.« »Gestatten Sie mir eine Zwischenbemerkung«, sagte der Arzt. »Wie kommt es, wenn Hildegarde Schmidts Aussage auf Wahrheit beruht, daß der echte Kondukteur sie nicht zu Gesicht bekam, als er zu Mrs. Hubbard ging?« »Mein lieber Doktor, als Pierre Michel angestürzt kam, um zu sehen, warum Mrs. Hubbard wie verrückt klingelte, war die Zofe bei der Prinzessin, und als Fräulein Schmidt in ihr eigenes Abteil zurückkehrte, war Pierre Michel bei Mrs. Hubbard.«
M. Bouc wartete ungeduldig darauf, auch etwas sagen zu können. »Alles vortrefflich!« rief er hitzig. »Doch während ich Ihre Vorsicht, Ihre Methode, nur schrittweise vorzugehen, auf richtig bewundere, mon cher, kann ich nicht umhin, bedauernd festzustellen, daß Sie den Kernpunkt nicht berühren. Wir alle stimmen mit Ihnen darin überein, daß dieser Mann existiert. Wohin aber ist er gegangen?« Hercule Poirot schüttelte mißbilligend den Kopf. »Sie irren sich, ich lasse keinen wichtigen Punkt außer acht. Doch Sie neigen dazu, den Wagen vor das Pferd zu spannen und nicht das Pferd vor den Wagen. Bevor ich mich frage: Wo hin ist dieser Mann verschwunden?‹, frage ich mich erst: ›Hat ein solcher Mann wirklich existiert?‹ Wenn der Mann nämlich eine Erfindung, eine Fiktion wäre – wie leicht wäre es dann, ihn verschwinden zu lassen! Daher versuche ich vor allem festzu stellen, daß er tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut ist.« »Und nachdem das feststeht, wo – bitte schön –, wo ist er jetzt?« »Darauf gibt es nur zwei Antworten. Entweder er ist noch im Zug versteckt, und zwar an einem mit solcher Findigkeit ausge suchten Platz, daß wir nicht darauf verfallen, oder aber es han delt sich – nicht um eine, sondern um zwei Personen. Das heißt: Er ist der Mann, den Ratchett fürchtete, und gleichzeitig ein so vorzüglich gekleideter Reisender, daß Ratchett ihn nicht er kannte.« »Das ist keine schlechte Idee«, sagte M. Bouc, und sein Ge sicht hellte sich auf. Doch gleich darauf umwölkte es sich wie der. »Ein Widerspruch freilich…« Hercule Poirot schnitt ihm das Wort ab. »Der Wuchs des Mannes – nicht wahr, das wollen Sie sagen? Mit Ausnahme von Mr. Ratchetts Kammerdiener sind alle
männlichen Reisenden hochgewachsen: der Italiener, Oberst Arbuthnot, Hector MacQueen, Graf Andrenyi. Bleibt demnach nur der Kammerdiener, was mir sehr unwahrscheinlich vor kommt. Doch denken Sie bitte an die feminine Stimme. Das läßt uns die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Der Mann kann sich als Frau verkleidet unter uns bewegen, es kann aber auch tatsächlich eine Frau sein. Eine große Frau wirkt in Männer kleidung klein.« »Das hätte Ratchett doch zweifellos gewußt!« »Möglicherweise wußte er es. Vielleicht hatte die Frau, als Mann verkleidet, schon einmal versucht, Ratchett zu töten, und er vermutete, daß sie beim zweitenmal dieselbe Verkleidung wählen würde. Er beauftragte Hardman daher, sein Augen merk auf einen Mann zu richten, erwähnte jedoch ausdrücklich die feminine Stimme.« »Ganz von der Hand zu weisen ist das natürlich nicht«, mein te M. Bouc. »Aber…« »Hören Sie mich an, mon ami. Es scheint mir an der Zeit, Sie über einige Absonderlichkeiten zu unterrichten, die Dr. Cons tantine aufgefallen sind.« Ausführlich legte er dann die Schlüsse dar, zu denen er ge meinsam mit dem Arzt gekommen war, nachdem Dr. Constan tine ihn über die Beschaffenheit der Verletzungen aufgeklärt hatte. M. Bouc stöhnte und hielt sich den Kopf.
»Ich weiß, Sie Ärmster, wie Ihnen zumute ist«, sagte Hercule
Poirot mitleidig. »Ihnen brummt der Kopf, nicht wahr?« »Das Ganze ist ja ein Alptraum!« rief M. Bouc.
»Wie recht Sie haben. Es ist absurd – unwahrscheinlich, es kann nicht sein. Das habe ich mir auch gesagt. Und dennoch, mein Freund, es ist so. Tatsachen kann man nicht entrinnen.« »Es ist Wahnsinn.« »Nicht wahr? Es ist so verrückt, daß ich bisweilen von der Vorstellung nicht loskomme, die Lösung müsse ganz einfach sein. Aber das ist nur eine meiner berühmten ›kleinen Ideen‹.« »Zwei Mörder!« stieß M. Bouc hervor. »Und das im Orien texpreß.« Bei dem Gedanken brach er fast in Tränen aus. Aber Poirots flüchtige Anwandlung von Mitleid schien ver flogen. Mit fröhlichem Behagen führte er aus: »Und nun wollen wir das Phantastische noch phantastischer machen. In der ver gangenen Nacht sind zwei geheimnisvolle Fremde im Zug. Ers tens der Schlafwagenkondukteur, der jener Beschreibung ent spricht, die uns Mr. Hardman von ihm gegeben hat, und den Hildegarde Schmidt, Oberst Arbuthnot und Hector MacQueen gesehen haben. Zweitens die Frau im roten Kimono – eine gro ße, schlanke Frau –, gesehen von Pierre Michel, Miss Deben ham, MacQueen und mir selbst… Und gerochen, möchte ich sagen, von Oberst Arbuthnot. Wer war sie? Keine von unseren Damen hat bisher zugegeben, einen scharlachroten Kimono zu besitzen. Auch diese Fremde ist spurlos verschwunden. War sie identisch mit dem falschen Kondukteur? Und wo befinden sich die Uniform und der scharlachrote Kimono jetzt?« »Ah, da haben wir endlich etwas Greifbares.« M. Bouc sprang so hastig auf, daß sein Stuhl beinahe umkippte. »Wir müssen sofort das gesamte Gepäck der Reisenden durchsuchen!« Auch Poirot erhob sich. »Ich will Ihnen etwas prophezeien«, sagte er.
»Wissen Sie etwa, wo die Sachen stecken?«
»Nun, ich habe eine kleine Idee.«
»Und – wo sind sie?«
»Den roten Kimono werden Sie im Gepäck eines Herrn und
die Uniform des falschen Schlafwagenkondukteurs im Gepäck von Hildegarde Schmidt finden.« »Hildegarde Schmidt? Sie denken…« »Nicht, was Sie denken. Ich will es folgendermaßen ausdrü cken: Wenn Fräulein Schmidt schuldig ist, finden wir die Uni form vielleicht bei ihr. Ist sie hingegen unschuldig, steckt die Uniform bestimmt in ihrem Koffer.« »Aber wie – «, begann M. Bouc und unterbrach sich sofort wieder. »Was ist das für ein Lärm? Es klingt ja wie eine fahren de Lokomotive.« Der Lärm kam näher, jetzt deutlich als das schrille Gezeter ei ner Frau zu unterscheiden, die, aufs äußerste erregt, ihre Empö rung hinausschrie. Dann wurde die Tür des Speisewagens auf gerissen. Mrs. Hubbard stürzte herein. »Oh, oh, das ist zu furchtbar!« kreischte sie. »Wirklich zu furchtbar! In meinem Schwammbeutel! Meinem eigenen Schwammbeutel – ein großes Messer, über und über mit Blut befleckt!« Und plötzlich taumelte sie vornüber und fiel ohnmächtig ge gen M. Boucs Schulter.
22 Mit mehr Kraft als Ritterlichkeit brachte der Direktor die ohn mächtige Dame auf einem Stuhl unter und bettete ihren Kopf auf den harten Tisch. Dr. Constantine rief nach einem Kellner, der erschrocken herbeigelaufen kam. »Halten Sie ihren Kopf so«, befahl der Arzt. »Und wenn sie wieder zu sich kommt, flößen Sie ihr ein bißchen Cognac ein. Haben Sie verstanden?« Dann lief er M. Bouc und Poirot hinterher, die inzwischen den Speisewagen verlassen hatten. Sein Interesse galt einzig und allein dem Verbrechen – ohnmächtige Frauen mittleren Alters interessierten ihn nicht im mindesten. Man sollte es dahingestellt sein lassen, ob diese Behandlung Mrs. Hubbard nicht schneller ins Leben zurückrief, als es zarte Fürsorge getan hätte. Ein paar Minuten später saß sie schon aufrecht da und trank mit Genuß den Cognac, den ihr der Kell ner gebracht hatte. Und auch ihr Mundwerk hatte keinen Scha den gelitten. »Ich kann gar nicht schildern, wie entsetzlich das war! Hier im Zug kann sich bestimmt keine Menschenseele vorstellen, was ich empfunden habe. Schon als Kind war ich sehr, sehr sensibel. Blut? Allein der Anblick von Blut – oh… Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke.« Der Kellner schenkte ihr noch einmal ein. »Encore un peu, Madame.« »Meinen Sie, es tut mir gut? Mein Gott, zeitlebens war ich Abstinenzlerin. Noch nie habe ich einen Schluck Wein oder Schnaps getrunken. Meine Verwandten sind strikte Alkohol
gegner. Jedoch vielleicht unter den gegebenen Umständen – die einzige Medizin…« Von neuem nippte sie. Inzwischen waren Poirot und M. Bouc mit Dr. Constantine im Schlepp zu Mrs. Hubbards Abteil geeilt. Die übrigen Reisenden hatten sich vollzählig vor der Tür ver sammelt, und der arme Pierre Michel versuchte sein möglichs tes, um sie zurückzuhalten, sonst hätten sie es in ihrer Aufre gung gestürmt. »Mais il n’y a rien à voir«, versicherte er und wiederholte den Satz immer wieder und in mehreren Sprachen. »Lassen Sie mich bitte durch«, sagte M. Bouc und zwängte sich durch die nur widerstrebend zurückweichenden Passagie re. Poirot war dicht hinter ihm. »Gut. daß Sie da sind, Monsieur«, sagte der Kondukteur er leichtert. »Allein wäre ich diesem Ansturm nicht mehr lange gewachsen gewesen. Mein Gott, mein Gott, wie diese amerika nische Dame geschrien hat! Ma foi, ich glaubte schon, auch sie werde ermordet. Als ich herbeistürzte, gebärdete sie sich wie eine Wahnsinnige, schluchzte, kreischte, raste durch den Gang und schrie in alle Abteile hinein, was ihr passiert war. Schließ lich verlangte sie nach Ihnen und rannte kurzerhand davon.« Mit einer Geste des Abscheus setzte er hinzu: »Es ist dort drin, Monsieur. Ich habe es nicht angefaßt.« An der Klinke der Verbindungstür zum Nebenabteil baumel te ein großgeblümter Schwammbeutel, und genau unter ihm lag wie er Mrs. Hubbards Hand entfallen war – ein Dolch mit gerader Klinge. Ein billiger Schund, pseudoorientalisch mit verziertem Griff und spitz zulaufender Klinge. Und die Klinge war mit Flecken bedeckt, die wie Rost aussahen.
Poirot hob den Dolch auf.
»Ja«, sagte er, »da ist kein Irrtum möglich. Wir haben die feh
lende Waffe gefunden – oder, Doktor?« Der Arzt untersuchte den Dolch. »Sie brauchen nicht so vorsichtig damit umzugehen«, sagte Hercule Poirot. »Die einzigen Fingerabdrücke, die wir darauf finden werden, sind die von Mrs. Hubbard.« Dr. Constantines Untersuchung dauerte nicht lange. »Ja, es ist die Waffe«, bestätigte er, »sie kommt für jede der zahlreichen Wunden in Betracht.« »Um Gottes willen, mon cher, sagen Sie das nicht! Ich flehe Sie an!« Der Arzt hob erstaunt den Blick. »Schon sind wir überlastet mit zufälligen Zusammentreffen«, führte Poirot aus. »Zwei verschiedene Personen entschließen sich, Mr. Ratchett in ein und derselben Nacht zu erstechen. Es wäre zuviel des Guten, wenn sie auch noch dieselbe Waffe verwendet hätten.« »Ah, was das anbetrifft, so wäre der Zufall gar nicht so groß, wie es scheint«, gab der Doktor zurück. »Zu Tausenden werden diese Imitationen orientalischer Dolche hergestellt und in den Bazaren Istanbuls feilgeboten.« »Sie trösten mich ein wenig, aber nur ein ganz klein wenig.« Nachdenklich betrachtete Poirot die Tür, nahm den Schwammbeutel ab und drückte auf die Klinke. Doch die Tür gab nicht nach. Etwa dreißig Zentimeter über der Klinke befand sich ein Riegel, den er nun zurückbog. Aber noch immer ließ sich die Tür nicht öffnen. »Wir haben sie von der anderen Seite abgeschlossen, erinnern Sie sich?« sagte Dr. Constantine.
»Stimmt«, erwiderte der kleine Belgier zerstreut. Er schien über etwas ganz anderes nachzudenken und runzelte verwirrt die Stirn. »Es paßt alles zusammen, nicht wahr?« sagte M Bouc. »Der Mann kommt durch dieses Abteil. Als er die Tür hinter sich zumacht, fühlt er den Schwammbeutel. Ein Gedanke durch zuckt ihn, und blitzschnell läßt er die blutbefleckte Waffe hin eingleiten. Dann schlüpft er, nicht ahnend, daß er Mrs. Hub bard geweckt hat, durch die andere Tür in den Gang hinaus.« »Ja, so muß es sich abgespielt haben«, sagte Poirot. Überzeugt klang es jedoch nicht. Und nach wie vor lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Verwirrung und Bestürzung. »Was ist denn?« fragte M. Bouc. »Sie sind nicht zufrieden, nicht wahr? Da ist irgend etwas, das Sie stört.« Poirot warf ihm einen raschen Blick zu. »Fällt Ihnen denn nichts auf? Nein? Nun, es ist ja auch nur ei ne Geringfügigkeit.« Der Kondukteur, der vor dem Abteil Wache hielt, schaute herein. »Die amerikanische Dame kommt zurück«, meldete er. Dr. Constantine blickte ziemlich schuldbewußt drein. Er hatte das Gefühl, Mrs. Hubbard nicht sehr fürsorglich behandelt zu haben. Doch sie hatte kein Wort des Vorwurfs für ihn. Ihre E nergie konzentrierte sich auf etwas anderes. »Eins will ich Ihnen sofort sagen«, begann sie atemlos, sobald sie auf der Schwelle stand. »Ich denke nicht daran, in diesem Abteil zu bleiben. Nein, und wenn man mir eine Million Dollar böte, würde ich nicht noch eine Nacht hier schlafen!« »Aber, Madame…« »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Doch sparen Sie sich die Mühe. Lieber sitze ich die ganze Nacht draußen auf dem
Gang.« Sie fing an, jämmerlich zu schluchzen. »Oh, wenn mei ne Tochter das nur ahnte – oder wenn sie mich jetzt sehen könnte…« »Madame«, unterbrach Poirot dieses Klagelied, »Ihr Wunsch ist durchaus gerechtfertigt. Ihr Gepäck soll unverzüglich in ein anderes Abteil gebracht werden.« Das Taschentuch sank von den geröteten Lidern herab. »Wirklich? Oh, gleich fühle ich mich viel besser. Doch wohin mit mir? Es ist ja alles besetzt, es sei denn, einer der Herren…« Jetzt übernahm M. Bouc die Initiative. »Sie werden nicht nur in ein anderes Abteil, sondern in einen anderen Wagen übersiedeln, Madame«, sagte er, »und zwar in den, der in Belgrad angehängt wurde und in dem ich selbst reise.« »Wahrhaftig? Oh, das ist großartig! Sehen Sie, Messieurs, ich bin durchaus nicht zimperlich und nervös, indes Wand an Wand mit einem Toten schlafen…« Sie schauderte. »Das würde mich um den Verstand bringen.« »Michel!« rief M. Bouc. »Schaffen Sie das Gepäck in ein leeres Abteil des Athener Wagens.« »Jawohl, Monsieur. In dasselbe Abteil wie hier? Auch in Nr. 3?« »Nein«, entschied Poirot, noch ehe sein Landsmann antwor ten konnte. »Ich halte es für besser, wenn Madame eine ganz andere Nummer bekommt. Nr. 12 zum Beispiel.« »Bien, Monsieur.« Während Pierre Michel sich des ersten Koffers bemächtigte, wandte sich Mrs. Hubbard dankbar an Hercule Poirot. »Wie nett, wie zartfühlend von Ihnen! Ich weiß das zu würdi gen – glauben Sie mir.«
»Nicht der Rede wert, Madame. Wir werden Sie begleiten und uns überzeugen, daß alles erdenklich mögliche für Ihre Bequemlichkeit getan wird.« Mit einer Eskorte von drei Männern begab sich Mrs. Hubbard in ihr neues Domizil, und glückstrahlend nahm sie es in Au genschein. »Sehr hübsch«, sagte sie. »Ja, gefällt es Ihnen, Madame? Es ist, wie Sie sehen, das glei che Abteil, das Sie bisher innehatten.« »Aber nicht dasselbe, und es geht auf die andere Seite hinaus. Aber das schadet nichts. Als ich abfuhr, sagte ich zu meiner Tochter: ›Kind, ich möchte unbedingt in Fahrtrichtung sitzen.‹ Doch meine Tochter meinte: ›Mami, damit ist dir nicht gehol fen. Wenn du einschläfst, fährst du vorwärts, und wenn du morgens aufwachst, fährst du vielleicht rückwärts.‹ Und sie hatte recht, das gute Kind. Gestern abend in Belgrad dampfte der Zug wieder in derselben Richtung, wie er gekommen war, zur Station hinaus, und ich fuhr dadurch verkehrt.« »Jedenfalls sind Sie jetzt ganz zufrieden und glücklich, ja, Madame?« »Ganz? Das wäre zuviel gesagt. Ganz zufrieden, wenn man im Schnee feststeckt und niemand sich darum kümmert, wie wir wieder loskommen? Bedenken Sie doch, daß mein Schiff übermorgen ausläuft.« »Madame, wir sind alle in der gleichen Lage«, entgegnete M. Bouc. »Das ist höhere Gewalt.« »Ja, das ist freilich wahr. Doch niemand von Ihnen wurde durch einen Mörder geweckt, der sich mitten in der Nacht durchs Abteil geschlichen hat.«
»Ich frage mich immer noch, Madame, wie der Mörder in Ihr Abteil gelangen konnte, wenn die Verbindungstür, wie Sie an geben, abgeriegelt war. Sind Sie auch sicher, daß der Riegel vorlag?« »Mein Gott, die schwedische Dame überzeugte sich doch vor meinen eigenen Augen davon!« »Wenn es Sie nicht langweilt, wollen wir die kleine Szene einmal rekonstruieren«, sagte Poirot. »Sie lagen schon im Bett, nicht wahr? Und deshalb konnten Sie selbst den Riegel nicht sehen?« »Nein, wegen des Schwammbeutels. Oh, ich werde mir einen neuen anschaffen müssen! Mir dreht sich der Magen um, so bald mein Blick auf diesen Beutel fällt.« Hercule Poirot nahm den armen, unschuldigen Gummibeutel und hängte ihn über die Klinke der Verbindungstür. »Sicherlich! Der Beutel verdeckte den Riegel, so daß Sie tat sächlich vom Bett aus nicht sehen konnten, ob abgeriegelt war oder nicht.« »Aber das habe ich Ihnen doch schon längst gesagt.« »Und die schwedische Dame, Miss Ohlsson, stand so, nicht wahr? Zwischen Ihnen und der Tür. Und sie behauptete, es sei abgeriegelt.« »Ja.« »Dennoch kann sie sich geirrt haben. Sehen Sie bitte selbst, was ich meine.« Es schien Poirot viel daran zu liegen, sich klar und verständlich auszudrücken. »Der Riegel ist ein bewegliches Metallstück, das, nach rechts gedreht, die Tür verschließt; steht es gerade, so ist sie offen. Vielleicht beachtete die schwedische Dame die Stellung des Riegels gar nicht, sondern bewegte die Klinke, und da die Tür auf der anderen Seite abgeschlossen war
und sich daher nicht öffnen ließ, hat Miss Ohlsson vielleicht angenommen, sie sei von Ihrer Seite abgesperrt.« »Nun, das wäre doch der Gipfel der Dummheit!« »Madame, die liebenswürdigsten und gutherzigsten Men schen sind nicht immer die gescheitesten.« »Da haben Sie allerdings recht.« »Benutzten Sie übrigens auf Ihrer ganzen Reiseroute die Ei senbahn, Madame?« »Nein. Ich fuhr mit dem Schiff nach Istanbul. Mr. Johnson, ein Freund meiner Tochter – ein reizender Mensch übrigens, ich wünschte, Sie hätten ihn kennengelernt –, holte mich ab und zeigte mir ganz Istanbul. Selten hat mich eine Stadt so ent täuscht. Altes bröckeliges Gemäuer, winkelige Straßen – puh! Und erst die Moscheen, von denen man so viel Aufhebens macht und die man erst betreten darf, wenn man monströse Filzungeheuer über die eigenen Schuhe gestreift hat… Doch ich schweife wohl ab? Wovon habe ich eben gesprochen?« »Sie erzählten, daß Mr. Johnson Sie vom Schiff abgeholt hat.« »Ja, richtig. Und er brachte mich auch an Bord des französi schen Dampfers, den ich bis Smyrna benutzte. Dort auf dem Kai erwartete mich mein Schwiegersohn. Mein Gott was wird er sagen, wenn er das alles erfährt! Und vor allem meine Toch ter! Immer wieder hat sie mir versichert, die Reise sei denkbar einfach. Du machst es dir in deinem Abteil schön bequem, Ma mi sagte sie, und fährst ohne Umsteigen durch bis Paris. Oh, wenn das gute Kind ahnte… Monsieur, wie soll ich nur meine Kabinenbestellung rückgängig machen? Helfen Sie mir doch! Oh, oh, es ist entsetzlich…«
Von neuem drohte Mrs. Hubbard in Tränen auszubrechen, und Poirot, der nervös zu werden begann, ergriff schnell die sich ihm bietende Gelegenheit. »Sie haben einen Schock erlitten, Madame. Der Kellner wird Ihnen zu Ihrer Stärkung etwas Tee servieren.« »Tee? Ich weiß nicht, ob ich Tee haben möchte«, erwiderte Mrs. Hubbard mit tränenerstickter Stimme. »Das Teetrinken ist mehr eine englische Gewohnheit.« »Dann Kaffee, Madame. Sie brauchen ein Anregungsmittel.« »Ja. Von dem Cognac vorhin wurde mir ein bißchen schwind lig. Kaffee – ja. ich glaube, der wird mir guttun.« »Fraglos, Madame. Sie müssen Ihre Kräfte wiederbeleben.« »Wie seltsam Sie sich ausdrücken, Monsieur Poirot!« »Ich habe noch eine kleine Bitte, Madame. Es handelt sich um eine reine Routineangelegenheit. Gestatten Sie, daß ich Ihr Ge päck durchsuche?« »Wozu?« »Wir sind im Begriff, mit der Durchsuchung des gesamten im Zug befindlichen Gepäcks zu beginnen. Ich möchte keine un liebsame Erinnerung wachrufen, Madame, jedoch Ihr Schwammbeutel – Vor ähnlichen Überraschungen bleiben Sie in Zukunft verschont, wenn wir uns das Gepäck jetzt genau ansehen.« »Gerechter Gott, schweigen Sie davon! Ja, ja, sehen Sie nur al les durch. Einen zweiten derartigen Schreck könnte ich nicht ertragen.« Die Durchsuchung war rasch erledigt. Mrs. Hubbard reiste mit einem Minimum von Gepäck – einer Hutschachtel, einem billigen Vulkanfiberkoffer und einer fast überquellenden Reise tasche. Der Inhalt sämtlicher drei Gepäckstücke war schlicht
und anständig, und man hätte an ihn nur wenige Minuten zu verschwenden brauchen, wenn Mrs. Hubbard nicht darauf be standen hätte, daß man den Fotografien von »meiner Tochter« und zwei ziemlich häßlichen Kindern gebührende Beachtung zollte. »Die Kinder meiner Tochter. Sind sie nicht goldig? Und so klug!«
23 Nachdem Poirot Mrs. Hubbards großmütterliches Herz mit ein paar ebenso höflichen wie unaufrichtigen Floskeln erfreut und ihr versprochen hatte, der Kellner werde sofort den Kaffee ser vieren, schaffte er es, mit seinen beiden Begleitern das Abteil zu verlassen. »Der Anfang war eine Niete«, sagt M. Bouc draußen. »Wessen Gepäck kommt jetzt an die Reihe?« »Am einfachsten wäre es, systematisch Abteil für Abteil vor zunehmen. Mit anderen Worten: Wir beginnen mit Nr. 16, dem zuvorkommenden Mr. Hardman.« Der Amerikaner, der eine Zigarre rauchte, begrüßte sie mit burschikoser Herzlichkeit. »Immer nur hereinspaziert, Gentlemen – das heißt, wenn es menschenmöglich ist. Mein Empfangssalon ist ein bißchen eng für so viele Gäste… Das Gepäck? Aber selbstverständlich. Im Vertrauen gesagt, habe ich mich schon gewundert, daß Sie so lange damit gezögert haben. Hier sind meine Schlüssel, Gent lemen, und wenn Sie auch meine Anzugtaschen durchsuchen wollen – ich habe nichts dagegen. Soll ich Ihnen die Koffer her unterholen?« »Das kann der Kondukteur besorgen… Michel!« Der Inhalt von Mr. Hardmans zwei soliden Lederkoffern war bald gesichtet und für unbedenklich befunden. Sie enthielten einen unziemlich reichen Vorrat an geistigen Getränken. »Wenn man mit dem Kondukteur ein vernünftiges Wort re det, filzen sie einem an den Grenzen die Koffer nicht.« Hardman lachte verschmitzt. »Ich habe gleich zu Beginn der Reise
großzügig türkische Banknoten verteilt, und bisher hatte ich auch keine Schwierigkeiten.« »Und in Paris?« »Pah, in Paris!« Hardman zwinkerte wieder. »Bis wir dort sind, ist der Vorrat so zusammengeschmolzen, daß er in eine einzige Flasche hineingeht, die ein Etikett mit der Aufschrift Haarwasser erhält.« »Ein Anhänger der Prohibition sind Sie also nicht, Mr. Hardman«, stellte M. Bouc lächelnd fest. »Die Prohibition war für mich noch nie ein Problem.« »Ja, ja, die Flüsterkneipen!« M. Bouc sprach das Wort förmlich mit genießerischem Behagen aus. »Ihr Amerikaner prägt Aus drücke, die wirklich den Nagel auf den Kopf treffen.« »Ich würde mich sehr gern einmal in Amerika umsehen«, sag te Hercule Poirot. »Sie würden drüben allerhand fortschrittliche Dinge kennen lernen, von denen Europa noch nichts weiß. Europa liebt den gemächlichen Trott, es mag nicht aufgerüttelt werden.« »Wer wagte wohl zu bestreiten, daß Amerika das Land des Fortschritts ist!« erwiderte Poirot. »Und es gibt mancherlei, was ich bei den Amerikanern bewundere. Jedoch – jetzt schelten Sie mich sicher altmodisch! – finde ich die amerikanischen Frauen weniger reizvoll als meine Landsmänninnen. Niemand kann den koketten, charmanten belgischen oder französischen Mäd chen das Wasser reichen.« Hardman wandte sich ab und betrachtete den Schnee vor dem Fenster. »Vielleicht haben Sie recht, Monsieur Poirot«, sagte er end lich. »Aber ich glaube, jede Nation stellt ihre eigenen Mädchen am höchsten.«
Er blinzelte, als blende ihn der Schnee. »Ziemlich grell, nicht wahr?« sagte er. »Die Sache hier geht mir allmählich auf die Nerven. Mord, Schneeverwehungen und das Nichtstun. Man trödelt herum und weiß nicht, wie man die Zeit totschlagen soll. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich hinter irgendwem oder irgendwas herjage.« »Im unverfälschten westlichen Hetztempo, wie?« sagte Poirot lachend. Pierre Michel verstaute die Koffer wieder an ihrem Platz, und das Kleeblatt ging zum nächsten Abteil weiter. Dort saß Oberst Arbuthnot in einer Ecke, rauchte Pfeife und blätterte in einer illustrierten Zeitschrift. Poirot erklärte den Grund ihres Kommens, und der Brite machte keinerlei Einwände. »Zwei Koffer habe ich bei mir, mein übriges Gepäck geht auf dem Seeweg nach England.« Wie die meisten Offiziere war Oberst Arbuthnot ein ord nungsliebender Mensch. Schuhe, Kragen, Wäsche, Krawatten – alles lag schön säuberlich in Reih und Glied, und die Anzüge waren sorgsam zusammengefaltet. Unter dem Kleinkram be merkte Poirot ein Päckchen Pfeifenreiniger. »Benutzen Sie immer dieselbe Sorte?« fragte er. »Meistens. Sofern ich sie bekomme.« Die Pfeifenreiniger glichen genau jenem, der auf dem Fußbo den von Ratchetts Abteil gelegen hatte. Als sie sich wieder draußen im Gang befanden, machte Dr. Constantine eine ent sprechende Bemerkung. »Tout de même«, brummte Poirot. »Ich kann es nicht glauben. Es liegt nicht in seinem Charakter. Und damit ist alles gesagt.«
Die Tür des nächsten Abteils war geschlossen. M. Bouc klopf te, worauf drinnen Prinzessin Dragomiroffs tiefe Stimme auf fordernd rief: »Entrez!« Hercule Poirot überließ es seinem Landsmann, den Wortfüh rer zu spielen, und der Direktor trug ehrerbietig und höflich ihr Anliegen vor. Die Prinzessin hörte ihn ruhig an und verzog dabei keine Miene. »Wenn es nötig ist, Messieurs – dann bitte«, erwiderte sie, als M. Bouc schwieg. »Die Schlüssel hat meine Kammerzofe, die Ihnen behilflich sein wird.« »Hat Fräulein Schmidt immer Ihre Schlüssel in Verwahrung, Madame?« erkundigte sich Poirot. »Allerdings, Monsieur.« »Und wenn nachts die Zollbeamten an irgendeiner Grenze verlangen sollten, daß Sie die Koffer öffnen?« Die alte Dame zuckte mit den Schultern. »Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber gesetzt den Fall, es wäre so, dann würde der Kondukteur eben Fräulein Schmidt herbeiholen.« »Trauen Sie ihr blindlings, Madame?« »Das habe ich Ihnen doch schon einmal gesagt. Ich pflege keine Leute einzustellen, denen ich nicht traue.« »Tja, Vertrauen ist in unserer Zeit sehr selten, wohl dem, der es noch kennt«, sagte Hercule Poirot nachdenklich. »Eine reiz lose, einfache Frau, der man trauen kann, wiegt sicher eine flot tere Zofe auf – zum Beispiel eine schicke Pariserin.« Die intelligenten Krötenaugen wandten sich ihm langsam zu. »Was wollen Sie damit eigentlich andeuten, Monsieur Poi rot?«
»Andeuten? Ich? Rien, Madame, rien!«
»Keine Ausflüchte! Sie denken, daß ich eigentlich eine ge
wandte Französin für meine Toilette haben müßte.« »Es wäre das Üblichere, Madame.« Sie schüttelte den häßlichen Kopf. »Hildegarde Schmidt ist treu und zuverlässig. Zwei Tugen den, die unbezahlbar sind.« Jetzt betrat die Kammerzofe mit den Schlüsseln das Abteil. Die Prinzessin befahl ihr, die Koffer zu öffnen und den Herren zu helfen. Sie selbst stellte sich im Korridor ans Fenster und blickte in die winterliche Weiße hinaus. »Nun, Monsieur, wünschen Sie nicht vom Inhalt meiner Kof fer Kenntnis zu nehmen?« fragte sie, als Poirot an ihre Seite trat und M. Bouc die Durchsicht überließ. Er schüttelte den Kopf. »Sind Sie so sicher, daß es sich erübrigt, Monsieur?« »Ja.« »Und dennoch kannte und liebte ich Sonja Armstrong. Was denken Sie denn? Daß ich meine Hände nicht mit dem Blut einer solchen Kanaille wie Cassetti besudeln würde? Nun, viel leicht haben Sie recht.« Sie schwieg ein paar Minuten und fuhr dann fort: »Wissen Sie, was ich mit diesem Menschen gern getan hätte? Am allerliebsten hätte ich meinen Dienern den Befehl gegeben: Geißelt diesen Mann zu Tode und werft ihn hinterher auf den Kehrichthaufen. So verfuhr man in meiner Jugend, Monsieur.« Noch immer gab er keine Antwort, sondern hörte nur auf merksam zu. Und mit jähem Unmut fragte sie schroff: »Warum
sagen Sie nichts, Monsieur Poirot? Ich möchte wissen, was Sie denken.« »Ich denke, Madame, daß Ihre Stärke in Ihrem Willen liegt, nicht in Ihrem Arm.« Prinzessin Dragomiroff betrachtete nachdenklich ihre dün nen, schwarzbekleideten Arme und die klauenartigen, bering ten Hände. »Es ist wahr«, gab sie zu, »es mangelt ihnen an Kraft. Aber ich weiß nicht, ob mich das betrübt oder freut.« Dann drehte sie sich plötzlich um und ging in ihr Abteil zu rück, wo die Kammerzofe emsig mit den Koffern, Taschen und Schachteln hantierte. M. Boucs Entschuldigungen schnitt die Prinzessin kurz und bündig ab. »Überflüssig, Monsieur!« sagte die tiefe Stimme. »Ein Mord ist geschehen und zwingt zu verschiedenen Maßnahmen. Voi là!« » Vous êtes bien aimable, Madame.« Die Türen der beiden nächsten Abteile waren geschlossen. M. Bouc blieb stehen und kratzte sich den Kopf. »Diable!« fluchte er leise. »Sie wissen, mon ami, Diplomaten gepäck darf nicht durchsucht werden.« »Nicht von Zollbeamten. Aber in einem Mordfall sind derar tige Regeln und Vorschriften automatisch außer Kraft gesetzt.« »Gewiß, gewiß. Trotzdem… Wir wollen doch keine Verwick lungen – « »Keine Bange, dazu kommt es nicht. Graf und Gräfin Andre nyi werden vernünftig sein. Sie haben doch eben erlebt, wie die Prinzessin Dragomiroff sich verhalten hat.« »Ah, sie ist die wahre grande dame. Und wenn dieses Ehepaar auch derselben Gesellschaftsschicht angehört, so scheint mit
dem Grafen doch nicht gut Kirschen essen zu sein. Ihm wider strebte es sichtlich, als Sie darauf drangen, auch die Gräfin zu vernehmen. Und die Durchsuchung seines Gepäcks wird ihn noch mehr erbosen. Wollen wir die beiden nicht übergehen, mon ami? Sie können doch gar nichts mit der Angelegenheit zu schaffen haben. Und warum soll ich mir selbst eine schlimme Suppe einbrocken?« »Ich bin überzeugt, daß Graf Andrenyi vernünftig sein wird«, beharrte der kleine Detektiv. »Auf jeden Fall wollen wir unser Heil versuchen.« Ehe M. Bouc antworten konnte, pochte er laut an die Tür des Abteils Nr. 13. »Entrez!« Der Graf las eine ungarische Zeitung, und die Gräfin lehnte zusammengekuschelt in der Fensterecke. Hinter ihrem Kopf steckte ein Kissen, und sie schien geschlafen zu haben. »Pardon, Monsieur le Comte«, begann Poirot. »Nehmen Sie uns bitte nicht übel, daß wir bei Ihnen eindringen. Wir untersu chen jedoch systematisch und der Reihe nach alle Koffer. In den meisten Fällen eine reine Formalität, die jedoch erledigt werden muß. M. Bouc deutete an, daß Sie als Inhaber eines Diploma tenpasses mit Fug und Recht auf Befreiung von der Durchsu chung dringen könnten.« Eine Minute überlegte der Graf. »Nein, mir liegt nichts daran, daß man eine Ausnahme mit mir macht«, entschied er dann. »Mir ist es im Gegenteil sogar lieber, wenn mein Gepäck genau wie das der übrigen Reisen den behandelt wird.« Er wandte sich an seine Frau. »Oder hast du etwas einzuwenden, Elena?« »Keineswegs.«
Es erfolgte eine rasche und etwas flüchtige Durchsuchung. Hercule bemühte sich offenbar, durch nichtige kleine Bemer kungen über das Peinliche hinwegzuhelfen. So sagte er gerade: »Auf Ihrem Koffer hier, Madame, ist ein Etikett ganz feucht«, und zeigte dabei auf einen blauen Saffiankoffer, der mit Mono gramm und einer Krone verziert war. Die Gräfin erwiderte nichts. Das Ganze langweilte sie an scheinend. Sie blieb in ihrer Ecke, starrte zum Fenster hinaus und rührte sich auch nicht, als die Herren in das zweite Abteil hinübergingen. Poirot beendete seine Untersuchung, indem er das Wand schränkchen über dem Waschbecken öffnete und einen raschen Blick hineinwarf – Schwamm, Gesichtscreme, Puder und ein kleines Fläschchen mit der Aufschrift »Trional«. Nach ein paar höflichen Bemerkungen von beiden Seiten zog sich Poirot mit seinem »Suchtrupp« zurück. Die nächsten Abteile – das von Mrs. Hubbard, Ratchett und Poirot – brauchten nicht durchsucht zu werden, und sie gingen in die zweite Klasse weiter. Das erste Abteil, Nr. 10 und 11, teilten Mary Debenham, die ein Buch las, und Greta Ohlsson. Die Schwedin schlief fest, fuhr jedoch erschrocken in die Höhe, als die drei eintraten. Poirot betete seine einleitenden Worte herunter. Mary Deben ham hörte gleichmütig zu, die Schwedin hingegen wurde ner vös. »Wenn Sie erlauben, Mademoiselle«, wandte Poirot sich an sie, »werden wir uns Ihr Gepäck zuerst vornehmen, und hin terher haben Sie vielleicht die Güte nachzusehen, wie es der amerikanischen Dame geht. Wir haben sie in einem Abteil des Nachbarwagens untergebracht, aber die schreckliche Entde ckung, die sie in ihrem Schwammbeutel gemacht hat, wirkt natürlich noch nach. Ich habe zwar Kaffee für sie bestellt, aber
meiner Meinung nach wird die Möglichkeit, sich auszuspre chen, viel heilsamer sein als alles andere. Vor allem für eine Frau wie Mrs. Hubbard.« Sofort gewann das Mitleid bei der Schwedin die Oberhand. Jaja, sie gehe natürlich sofort. Die Koffer seien ja unverschlos sen, man könne sie auch in ihrer Abwesenheit durchgehen. Die arme, arme Frau. Es müsse ein fürchterlicher Schock für sie gewesen sein, nach den Strapazen der Reise und dem Tren nungsschmerz von der geliebten Tochter nun auch noch das! Ah, vielleicht würde ihr das Riechfläschchen mit Ammoniak gute Dienste leisten… Und schon eilte die hilfsbereite Samariterin davon. Ihre Hab seligkeiten waren schnell durchgesehen. Auch die Hutschachtel kam an die Reihe – das Fehlen der beiden Drahthäufchen hatte die Eigentümerin wohl noch nicht bemerkt. Mary Debenham hatte ihr Buch sinken lassen und beobachte te Poirot bei seiner Beschäftigung. Als er sich ihrem Gepäck zuwenden wollte, reichte sie ihm lässig die Schlüssel. »Warum haben Sie sie fortgeschickt, Monsieur?« »Warum?« Er öffnete den Deckel des ersten Koffers. »Wieso warum? Damit sie der amerikanischen Dame beisteht natür lich.« »Ein vortrefflicher Vorwand – aber trotzdem ein Vorwand.« »Ich verstehe nicht, Mademoiselle.« Sie lächelte seltsam. »Nicht wahr, Monsieur Poirot, Sie wollten mich ohne Zeugen überführen.« »Mademoiselle, Sie legen mir Worte in den Mund, die…« »Und setze Ihnen Ideen in den Kopf? O nein, die Ideen haben Sie selbst. Hab ich etwa nicht recht?«
»Mademoiselle, wir haben ein Sprichwort…« »Qui s’excuse, s’accuse. Meinen Sie das? Ein bißchen Beobach tungsgabe und gesunden Menschenverstand dürfen Sie mir schon zutrauen, Monsieur Poirot. Aus dem einen oder anderen Grund haben Sie es sich in den Kopf gesetzt, daß ich über diese düstere Affäre Bescheid weiß – über den Mord an einem Mann, den ich nie zuvor gesehen habe.« »Das bilden Sie sich ein, Mademoiselle.« »Nichts bilde ich mir ein. Aber warum immer dieses Ver steckspiel? Warum immer dies Auf-den-Busch-Klopfen? Wa rum rücken Sie nicht ehrlich mit der Sprache heraus? Warum diese Umschweife und Zeitvergeudung?« »Zeitvergeudung schätzen Sie nicht – das weiß ich bereits. Eh bien, dann will ich die direkte Methode anwenden und Sie fra gen, was die Worte zu bedeuten hatten, die Sie auf dem Bahn hof von Konya zu Oberst Arbuthnot sagten, und die ich zufällig auffing, weil es so still war. Sie sagten zu ihm: ›Nicht jetzt. Nicht jetzt. Wenn alles vorbei ist. Wenn es hinter uns liegt…‹ Was haben Sie damit gemeint?« »Glauben Sie, ich meinte – Mord?« »Ich bin es, der hier fragt, Mademoiselle.« Sie seufzte, sah ein paar Sekunden gedankenverloren vor sich hin und erklärte dann: »Natürlich hatten jene Worte eine Bedeutung, aber eine, die ich Ihnen nicht erklären kann. Doch kann ich Ihnen mein hei ligstes Ehrenwort geben, daß ich diesen Ratchett zum erstenmal hier in unserem Zug sah.« »Und Sie weigern sich, mir zu erzählen, was Sie meinten?« »Ja. Ich weigere mich – wenn Sie es so auslegen. Die Sätze be zogen sich auf eine Aufgabe, die ich übernommen habe.«
»Die jetzt beendet ist?«
»Wieso?«
»Ist sie beendet oder nicht?«
»Interessiert Sie das so sehr?«
»Hören Sie, Mademoiselle. An dem Tag, an dem wir Istanbul
erreichten, hatte unser syrischer Zug einen nicht fahrplanmäßi gen Aufenthalt, worüber Sie sich ungeheuer aufregten. Sie, die Sie so ruhig, so beherrscht sind, verloren die Ruhe.« »Gewiß. Ich wollte meinen Anschluß nicht verpassen.« »So sagten Sie. Der Orientexpreß fährt aber an jedem Wochen tag von Istanbul ab. Selbst wenn Sie den Anschluß versäumten, hätte es sich nur um eine Verspätung von vierundzwanzig Stunden gehandelt.« Zum erstenmal verlor Mary Debenham die Ruhe. »Können Sie sich nicht vorstellen, daß man in London von Freunden erwartet wird? Daß eine eintägige Verspätung Verab redungen über den Haufen wirft und eine Menge Mißhelligkei ten nach sich zieht?« »Ah, das war es! Sie werden von Freunden erwartet? Sie woll ten ihnen keine Ungelegenheiten bereiten?« »Natürlich.« »Und trotzdem – es ist sonderbar…« »Was ist sonderbar?« »Mit diesem Zug haben wir wiederum Verspätung. Diesmal sogar eine sehr beträchtliche. Und obwohl keine Möglichkeit besteht, Ihre Londoner Freunde telegrafisch oder telefonisch zu benachrichtigen, verraten Sie nicht die mindeste Ungeduld. Nein, Sie sind gleichmütig und warten mit philosophischer Ruhe ab.«
Mary Debenham errötete und nagte an ihrer Unterlippe. »Sie antworten mir ja nicht, Mademoiselle.« »Verzeihung. Ich wußte nicht, daß Sie eine Antwort erwar ten.« »Ich erwarte die Erklärung für Ihre veränderte Haltung, Ma demoiselle.« »Meinen Sie nicht, Monsieur Poirot, daß Sie aus einer Mücke einen Elefanten machen? Was soll ich denn tun? Wie Sie schon selbst sagten, habe ich keine Möglichkeit, meine Freunde zu verständigen. Und das ist mehr als ärgerlich. Noch ärgerlicher aber sind die Dinge, die Sie mir unterstellen.« »Vielleicht ist das ein Fehler, in den wir Detektive leicht ver fallen«, gab Poirot zerknirscht und mit einer um Entschuldi gung bittenden Geste zu. »Wir erwarten, daß das Verhalten der Leute, mit denen wir es zu tun haben, immer gleichbleibt. Lau nen oder Stimmungen mögen wir nicht, sie sind uns von vorn herein verdächtig.« Die junge Engländerin erwiderte nichts. »Kennen Sie Oberst Arbuthnot gut, Mademoiselle?« Bildete er es sich ein, oder fühlte sie sich durch den Themen wechsel erleichtert? »Ich habe ihn erst auf dieser Reise kennengelernt.« »Vermuten Sie, daß er Ratchett schon früher gekannt hat?« Jetzt schüttelte Mary Debenham entschieden den Kopf. »Keinesfalls.« »Wieso sind Sie da so sicher?« »Ich schließe es einfach aus der Art, wie er über Ratchett sprach.«
»Trotzdem haben wir vor dem Bett des Toten einen Pfeifen reiniger gefunden. Und Oberst Arbuthnot ist der einzige Rei sende im Zug, der Pfeife raucht.« Poirot beobachtete sie genau, aber ihr Gesicht verriet weder Erstaunen noch Erregung. »Unsinn! Das ist lächerlich. Oberst Arbuthnot ist der letzte auf der Welt, der etwas mit einem Verbrechen zu tun haben könnte – besonders mit einem so theatralischen wie diesem.« Ihr Urteil stimmte so sehr mit Poirots eigenem überein, daß er ihr beinahe laut beigepflichtet hätte. Aber er beherrschte sich noch rechtzeitig und sagte statt dessen: »Ich muß Sie erinnern. Mademoiselle, daß Sie ihn doch nur flüchtig kennen.« »Aber ich kenne den Typ gut genug.« »Mademoiselle« – es klang väterlich gütig –, »weigern Sie sich noch immer, mir zu sagen, was die Worte ›Wenn es hinter uns liegt…‹ zu bedeuten hatten?« »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen«, fertigte sie den lästi gen Frager kalt ab. »Schön. Ich werde es auch ohne Ihre gütige Mithilfe erfah ren.« Hercule Poirot verbeugte sich und verließ das Abteil. »War das klug, mon vieux?« meinte M. Bouc besorgt. »Jetzt ist sie auf der Hut, und durch sie wird auch der Oberst auf der Hut sein.« »Wenn Sie ein Kaninchen fangen wollen, setzen Sie ein Frett chen in den Bau, und wenn das Kaninchen drin ist, schießt es heraus. Diese Regel habe ich befolgt – mehr nicht.« Hildegarde Schmidt stand in ihrem Abteil schon in Bereit schaft, respektvoll, aber gelassen. Poirot untersuchte rasch den Inhalt des kleinen Koffers auf dem Sitz. Hierauf ließ er vom Kondukteur den schweren Koffer herunterholen.
»Die Schlüssel?«
»Er ist nicht abgeschlossen, Monsieur.«
Poirot klappte die Schließen und sodann den Deckel auf.
»Aha, da haben wir sie ja«, sagte er leicht triumphierend. Und
über die Schulter rief er M. Bouc zu: »Erinnern Sie sich meiner Prophezeiung? Sehen Sie mal!« Ganz obenauf lag eine zusammengerollte Schlafwagenuni form. Nun geriet auch die schwerfällige Ruhe der Deutschen ins Wanken. »So wahr ein Gott im Himmel lebt – diese Uniform gehört nicht mir!« rief sie. »Und ich habe sie auch nicht hineingelegt. Seit wir Istanbul verließen, habe ich den Koffer nicht angefaßt. Wahrhaftig nicht! Wahrhaftig nicht!« Flehend und hilfesuchend sah sie die drei Männer der Reihe nach an. Poirot legte ihr die Hand auf den Arm und tröstete sie. »Nein, nein, es ist ja alles gut. Wir glauben Ihnen doch. Regen Sie sich bitte nicht auf. Ich bin sicher, daß Sie die Uniform nicht in Ihrem Koffer versteckt haben. Genauso sicher, wie ich glau be, daß Sie eine ganz vortreffliche Köchin sind. Oder sind Sie etwa keine vortreffliche Köchin?« Hildegarde Schmidt lächelte verwirrt und eigentlich gegen ih ren Willen. »Ich…« Sie hielt inne – erschrockener fast als vor hin. »Was gibt es denn, Sie Hasenfuß?« scherzte Poirot. »Es ist doch alles in Ordnung. Ich werde Ihnen erzählen, wie es sich zugetragen hat. Dieser Mann, den Sie in der braunen Uniform sahen, tritt aus dem Abteil des Toten und prallt mit Ihnen zu sammen. Das ist ein großes Pech für ihn. Er hat gehofft, es wer
de ihn niemand sehen. Was also tun? Er muß sich so schnell wie möglich der Uniform entledigen, die nicht mehr Tarnung, sondern zur Gefahr geworden ist.« Poirots Blick suchte M. Bouc und Dr. Constantine, die beide aufmerksam zuhörten. »Und draußen liegt der Schnee. Der Schnee, der seine Pläne völlig durcheinanderbringt. Wo kann er die gefährliche Klei dung verstecken? Sämtliche Abteile sind besetzt. Nein, da kommt er an einem vorüber, dessen Tür offensteht und das sich als leer erweist. Es muß der Frau gehören, mit der er soeben zusammenprallte. Rasch schlüpft er hinein, reißt sich die Uni form vom Leib und zwängt sie in den Koffer. Es wird bestimmt einige Zeit dauern, ehe sie dort entdeckt wird.« »Und dann?« fragte M. Bouc. »Darüber sprechen wir später«, entgegnete Poirot mit einem warnenden Blick. Er hob die braune Uniformjacke in die Höhe. Der dritte Knopf von unten fehlte. Und in der Tasche steckte ein Hauptschlüssel zum Öffnen der Coupetüren. »So, da haben wir die Erklärung dafür, wie unser Mann durch verschlossene Türen zu dringen vermochte«, sagte M. Bouc. »Ihre Fragen an Mrs. Hubbard waren völlig überflüssig, mon cher. Verschlossen oder nicht verschlossen – der Mann konnte mit Leichtigkeit durch die Verbindungstür gelangen. Wenn schon eine Schlafwagenuniform, warum dann nicht auch ein Hautpschlüssel?« »Tatsächlich, warum nicht?« wiederholte Poirot. »Wir hätten uns das wirklich selbst sagen können. Wissen Sie noch, daß Michel steif und fest behauptete, die Tür von Mrs.
Hubbards Abteil sei verschlossen gewesen, als er auf ihr Klin geln herbeistürzte?« »Genauso war’s«, mischte sich der Schaffner ein. »Deshalb dachte ich ja, die Dame müsse geträumt haben.« »Jetzt ist es freilich einfacher«, fuhr M. Bouc fort. »Zweifellos hatte er die Absicht, auch die Verbindungstür wieder abzu schließen, doch vielleicht hat Mrs. Hubbard sich bewegt, und das erschreckte ihn.« »Jetzt brauchen wir nur noch den scharlachroten Kimono auf zustöbern.« »Richtig. Aber in den beiden letzten Abteilen reisen Männer.« »Das schadet nichts. Wir werden sie trotzdem durchsuchen.« »Oh, sicherlich. Ich erinnere mich überdies an Ihre Weissa gung.« Hector MacQueen fügte sich bereitwillig. »Ich habe Sie längst erwartet«, sagte er mit kläglichem Lä cheln. »Meinen Sie, ich wüßte nicht, daß ich der Verdächtigste im Zug bin? Sollte sich jetzt noch ein Testament finden, in dem der Alte mir sein ganzes Hab und Gut vermacht hat, dann bin ich geliefert.« M. Bouc maß ihn mit einem argwöhnischen Blick, so daß der junge Amerikaner schleunigst hinzufügte: »Ich scherze natür lich. In Wahrheit hätte mir Ratchett nicht einen Cent vermacht. Nützlich war ich ihm – und damit basta. Sprachen und so wei ter. Es ist ganz einfach Pech, wenn Sie keine andere Sprache als gutes Amerikanisch sprechen. Ich bin bei Gott kein Sprachgelehrter, doch ich kann genug Französisch, Deutsch und Italienisch, um mich in Hotels und in Geschäften verständlich machen zu können.«
Seine Stimme klang ein wenig lauter als gewöhnlich, und auch Worte und Gebärden verrieten eine leichte Befangenheit. Hercule Poirot klappte den letzten Koffer zu. »Nichts«, sagte er, »nicht mal ein belastendes Legat.« »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen«, meinte MacQueen gutgelaunt. Die Suche im Nebenabteil, bei dem dicken Italiener und dem steifen Briten, verlief gleichfalls ergebnislos. Die drei standen am Ende des Wagens beieinander und sahen sich gegenseitig an. »Was nun?« fragte M. Bouc kleinlaut. »Wir gehen in den Speisewagen zurück«, entschied Poirot. »Mehr können wir nicht erfahren. Nachdem wir die Aussagen der Reisenden gehört, ihr Gepäck durchsucht und selbst alles in Augenschein genommen haben, können wir auf weitere Hilfe nicht hoffen. Jetzt heißt es, unser Hirn zu gebrauchen.« Er holte sein Zigarettenetui aus der Tasche und sah, daß es leer war. »Gehen Sie schon vor. Ich will mir aus meinem Koffer neuen Zigarettenvorrat holen. Eine Zigarette hier und da kann nichts schaden. Dieser Mord ist ein sehr schwieriger und sehr merk würdiger Fall. Wer trug den roten Kimono? Wo ist er jetzt? Ah, wenn ich das wüßte! Also entschuldigen Sie mich eine Sekun de!« Flink eilte er den Gang entlang zu seinem eigenen Abteil, nahm einen der Koffer aus dem Netz herunter, ließ das Schloß aufschnappen… Und dann starrte er und starrte… Denn ordentlich zusammengefaltet lag auf seinen Sachen ein scharlachroter Seidenkimono, mit Drachen bestickt.
»So, so«, murmelte er vor sich hin. »Darauf läuft es hinaus: Eine Herausforderung! Schön, schön, Hercule Poirot nimmt sie an…«
24 M. Bouc und Dr. Constantine unterhielten sich, als Poirot in den Speisewagen kam. Bouc schien ziemlich niedergeschlagen zu sein. »La voilà«, sagte er, sobald er Poirots ansichtig wurde, und fügte, als sein Freund sich setzte, hinzu: »Von dem Tag an, an dem Sie diesen Fall aufklären, will ich an Wunder glauben.« »Macht er Ihnen Sorgen, dieser Fall?« »Natürlich macht er mir Sorgen. Ich werde einfach nicht klug daraus.« »Da kann ich Ihnen nur beipflichten«, sagte der Doktor. Er sah Poirot neugierig an. »Um ganz offen zu sein«, sagte er, »ich kann mir nicht vorstellen, was Sie als nächstes tun werden.« »Wirklich nicht?« sagte Poirot nachdenklich. Er nahm sein Zi garettenetui aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Seine Augen hatten einen verträumten Ausdruck. »Für mich ist gerade das die interessante Besonderheit dieses Falles«, sagte er. »Wir können nicht nach dem üblichen Schema vorgehen. Haben die Leute, die wir vernommen haben, die Wahrheit gesagt oder gelogen? Wir haben keine Möglichkeit, das nachzuprüfen – nicht mit äußeren, technischen Mitteln, sind ganz auf uns selbst angewiesen. Das ist ein gutes Gehirn training.« »Gut und schön«, warf M. Bouc ein. »Aber worauf können wir uns stützen?« »Das habe ich Ihnen eben gesagt. Auf die Aussagen der Pas sagiere und auf das, was Sie mit eigenen Augen gesehen ha ben.«
»Die Aussagen der Passagiere! Was sollte man denn daraus schließen können? Die haben uns doch überhaupt nichts verra ten.« Poirot schüttelte den Kopf. »Dieser Meinung bin ich allerdings nicht, mein Freund. Die Aussagen der Passagiere waren zum Teil sehr interessant.« »Tatsächlich?« M. Bouc war skeptisch. »Das ist mir nicht auf gefallen.« »Weil Sie nicht richtig zuhören.« »Bitte, erleuchten Sie mich. Was habe ich überhört?« »Nehmen wir ein einziges Beispiel – die erste Aussage, die wir hörten, die des jungen MacQueen. Er hat meiner Meinung nach etwas sehr Wichtiges gesagt.« »Über die Briefe?« »Nein, nicht über die Briefe. Soweit ich mich erinnere, laute ten seine Worte: ›Wir sind viel gereist. Mr. Ratchett wollte die Welt sehen, doch es haperte bei ihm mit den Fremdsprachen. Eigentlich war ich mehr Reisemarschall als Sekretär…‹« Poirot sah zuerst den Doktor und dann seinen Freund Bouc an. »Wie? Stolpern Sie noch nicht darüber? Das ist unent schuldbar. Und Sie hatten eben jetzt eine zweite Chance, als er sagte: ›Es ist ganz einfach Pech, wenn Sie keine andere Sprache als gutes Amerikanisch sprechen.‹« »Das soll heißen?« M. Bouc machte noch immer ein verblüff tes Gesicht. »Will der Groschen nicht fallen? Muß ich’s Ihnen buchstabie ren? Na schön: Ratchett sprach kein Französisch. Aber als der Schaffner gestern nacht vor seinem Abteil stand, nachdem Rat chett ihn herbeigeklingelt hatte, wurde er von jemandem, der Französisch sprach, mit der Bemerkung weggeschickt, man
brauche ihn nicht und habe nur versehentlich auf den Knopf gedrückt. Und nicht etwa in einem stümperhaften Französisch, sondern in perfekter Umgangssprache: ›Ce n’est rien. Je me suis trompé‹.« »Wahrhaftig!« rief Dr. Constantine aufgeregt. »Wie dumm wir waren. Jetzt begreife ich auch, warum Sie der beschädigten Uhr nicht glaubten. Die Zeit war manipuliert, Monsieur Poirot. Dreiundzwanzig Minuten vor eins war Ratchett schon tot…« »Und es war sein Mörder, der dem Kondukteur die Worte zu rief«, schloß M. Bouc. »Halt, nicht zu voreilig!« wehrte Poirot ab. »Wir dürfen nicht mehr annehmen, als wir tatsächlich wissen. Daher lassen Sie uns sagen, daß sich um dreiundzwanzig Minuten vor eins ir gendeine andere Person in Ratchetts Abteil aufhielt und daß diese Person entweder Franzose ist oder die französische Spra che fließend und akzentfrei beherrscht.« »Sie sind vorsichtig, mon vieux.« »Man soll immer schön einen Schritt nach dem anderen tun. Und gegenwärtig fehlt uns noch der Beweis, daß Ratchett um diese Zeit schon tot war.« »Und der Schrei, von dem Sie aufwachten?« »Ja, das ist freilich wahr.« »Wenn man es genau überlegt, so ändern sich durch diese Entdeckung die Dinge nicht sehr. Sie, mon ami, hörten, daß sich im Nebenabteil jemand bewegte. Das war bestimmt nicht Rat chett, sondern der andere. Vermutlich wusch er sich das Blut von den Händen, machte Ordnung, verbrannte den belasten den Brief. Dann wartete er. bis alles ruhig war. und als er die Luft rein wähnte, schloß er Ratchetts Korridortür von innen ab, legte auch noch die Kette vor, öffnete die Verbindungstür zu
Mrs. Hubbard und schlüpfte auf diesem Weg hinaus. Es verhält sich also tatsächlich so, wie wir dachten – mit dem einzigen Unterschied, daß Ratchett ungefähr eine halbe Stunde früher getötet und die Uhr auf ein Viertel nach eins gestellt wurde. Auf diese Weise wollte sich der Mörder ein Alibi verschaffen.« »Nun ja, mit dem Alibi war es nicht weit her«, sagte Poirot. »Die Uhrzeiger zeigten auf Viertel nach eins, und das ist genau die Zeit, zu der unser Mörder Ratchetts Abteil verließ.« »Stimmt«, sagte M. Bouc leicht verwirrt. »Was verrät Ihnen die Uhr überhaupt?« »Falls die Zeiger verstellt wurden – wohlgemerkt, ich sage falls –, dann muß die Zeit, die sie anzeigen, irgendwie von Be deutung sein. Die natürliche Reaktion wäre es, jeden zu ver dächtigen, der für die betreffende Zeit – Viertel nach eins – kein hieb- und stichfestes Alibi hat.« »Ja, ja«, sagte der Doktor, »das ist logisch gedacht.« »Wir müssen unser Augenmerk also ein wenig auf die Zeit richten, zu der unser Mann das Abteil betrat. Wann hatte er Gelegenheit dazu? Da gab es nur eine einzige: den Aufenthalt in Vincovci. Nachdem der Zug aus Vincovci abfuhr, saß der Schaffner in seiner Ecke und konnte den ganzen Wagen über blicken. Und wenn die anderen Passagiere einem Schlafwagen schaffner auch kaum Aufmerksamkeit geschenkt hätten – der echte Schaffner hätte den Eindringling natürlich sofort erkannt. Doch als der Zug in Vincovci hält, steht der Schaffner auf dem Bahnsteig. Der Weg für den Mörder ist frei.« »Und nach allem, was wir bisher herausbekommen haben, kann es nur ein Passagier gewesen sein«, sagte M. Bouc. »Und wir stehen wieder dort, wo wir schon einmal waren. Wer war es?« Poirot lächelte.
»Ich habe eine Liste gemacht«, sagte er. »Wenn Sie sie sehen wollen – bitte. Vielleicht frischt sie Ihr Gedächtnis auf.« Kopf an Kopf beugten sich der Arzt und M. Bouc über das Papier, auf dem in deutlicher Schrift und streng methodisch die Passagiere in der Reihenfolge aufgeführt waren, in der Poirot sie verhört hatte. Hector MacQueen: Amerikanischer Staatsbürger. Bett Nr. 6. Zweite Klasse. Motiv: Rührt möglicherweise von der persönlichen Beziehung zu Ratchett her. Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Von Mitternacht bis 1.30 durch Oberst Arbuthnot verbürgt; von 1.15 bis 2 durch den Kondukteur.) Beweise gegen ihn: Keine. Verdächtige Umstände: Keine. Kondukteur Pierre Michel: Französischer Staatsbürger.
Motiv: Keins.
Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Wurde von H. Poirot zur sel
ben Zeit im Gang gesehen, als Stimme um 12.37 aus Rat chetts Abteil sprach. Von 1 Uhr bis 1.16 verbürgt durch die beiden anderen Kondukteure.) Beweise gegen ihn: Keine. Verdächtige Umstände: Die gefundene Schlafwagenuniform ist ein Punkt, der zu seinen Gunsten spricht, da man die Ab sicht gehabt zu haben scheint, Michel verdächtig erschei nen zu lassen.
Edward Masterman: Englischer Staatsbürger. Bett Nr. 4. Zweite Klasse. Motiv: Rührt möglicherweise von seiner Stellung bei Ratchett her, dessen Kammerdiener er war. Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Antonio Fos carelli.) Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Keine. Ausgenom men, daß er der einzige Mann ist, dem die Schlafwagenuni form gepaßt haben könnte. Andererseits ist es unwahr scheinlich, daß er gut Französisch spricht. Mrs. Hubbard: Amerikanische Staatsbürgerin. Bett Nr. 3. Erste Klasse. Motiv: Keins. Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr – keins. Beweise gegen sie oder verdächtige Umstände: Geschichte von ei nem Mann in ihrem Abteil wird bestätigt durch Aussage von Hardman und Hildegarde Schmidt. Greta Ohlsson: Schwedische Staatsbürgerin. Bett Nr. 7. Zweite Klasse. Motiv: Keins. Alibi: Von 24 bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Mary Debenham. ) An merkung: war die letzte, die Ratchett lebend sah. Prinzessin Dragomiroff: Naturalisierte französische Staatsbürge rin. Bett Nr. 14. Erste Klasse. Motiv: War gut bekannt mit der Familie Armstrong und Patin von Sonja Armstrong.
Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Kondukteur und Kammerzofe.) Beweise gegen sie oder verdächtige Umstände: Keine. Graf Andrenyi: Ungarischer Staatsbürger. Diplomatenpaß. Bett Nr. 13. Erste Klasse. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Kondukteur, dies. deckt nicht die Zeit von 1 bis 1.15.) Gräfin Andrenyi: Wie oben. Bett Nr. 12. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. Nahm Veronal und schlief. (Be zeugt durch den Gatten. Trional-Fläschchen in ihrem Wandschrank.) Oberst Arbuthnot: Englischer Staatsbürger. Bett Nr. 15. Erste Klasse. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. Unterhal tung mit MacQueen bis 1.30. Ging herauf in sein eigenes Abteil, das er nicht verließ. (Bestätigt durch MacQueen und Kondukteur.) Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Pfeifenreiniger. Cyrus Hardman: Amerikanischer Staatsbürger. Bett Nr. 16.
Motiv: Keins.
Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. Verließ sein Abteil nicht. (Bestätigt
durch MacQueen und Kondukteur.) Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Keine.
Antonio Foscarelli: Amerikanischer Staatsbürger (italienischer Abstammung). Bett Nr. 5. Zweite Klasse. Motiv: Nichts bekannt. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Edward Masterman.) Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Keine. Ausgenom men, daß die Tatwaffe seinem Temperament entsprechen würde. (Auffassung von M. Bouc.) Mary Debenham: Englische Staatsbürgerin. Bett Nr. 11. Zweite Klasse. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Greta Ohlsson.) Beweise gegen sie oder verdächtige Umstände: Unterhaltung, die H. Poirot zufällig hörte, und Weigerung zu erklären, wovon die Rede gewesen war. Hildegarde Schmidt: Deutsche Staatsbürgerin. Bett Nr. 8. Zweite Klasse. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Kondukteur und Prinzessin Dragomiroff. ) Ging zu Bett. Wurde von Kondukteur geweckt, ungefähr um 12.38, und ging zur Prinzessin. Anmerkung: Die Aussagen der Reisenden werden bestätigt durch Pierre Michels Erklärung, daß zwischen Mitternacht und 1 Uhr (als er zu seinem Kollegen in den nächsten Wa gen ging) und zwischen 1.15 und 2 Uhr niemand Ratchetts Abteil betrat oder verließ.
»Diese Liste«, sagte Hercule Poirot, »soll uns nur helfen, die Übersicht nicht zu verlieren. Sie hält sich genau an das, was wir von den Reisenden oder den Kondukteuren erfuhren.« M. Bouc reichte Poirot das Blatt zurück und schnitt eine klei ne Grimasse. »Nun, sehr aufschlußreich ist sie nicht…!« »Vielleicht entspricht das mehr Ihrem Geschmack«, entgegne te Poirot und gab ihm ein zweites Blatt.
25 Auf diesem Blatt stand: DINGE, DIE EINER ERKLÄRUNG BEDÜRFEN 1. Das mit dem Buchstaben H gekennzeichnete Taschentuch. Wem gehört es? 2. Der Pfeifenreiniger. Hat Oberst Arbuthnot ihn verloren? Oder jemand anders? 3. Wer trug den roten Kimono? 4. Wer war der Mann oder die Frau, der oder die sich mit ei ner Schlafwagenuniform verkleidete? 5. Warum weisen die Uhrzeiger auf 1.15 Uhr? 6. Wurde der Mord um diese Zeit begangen? 7. Früher? 8. Später? 9. Können wir sicher sein, daß Ratchett von mehr als einer Person erstochen wurde? 10. Wie lassen sich die Wunden sonst erklären? »Schön, mon ami, da wollen wir unseren Verstand mal ein biß chen anstrengen«, meinte M. Bouc. »Beginnen wir mit dem Ta schentuch. Aber ordentlich und methodisch – wie unser be rühmter Lehrmeister hier es liebt.« Poirot nickte befriedigt: »Richtig.«
»Der Buchstabe H paßt auf drei Personen: Mrs. Hubbard, Miss Debenham, deren zweiter Vorname Hermione lautet, und die Kammerfrau Hildegarde Schmidt.« »Ah! Und wen von diesen dreien wählen Sie aus?« »Schwierig zu sagen. Doch ich denke, Miss Debenham. Sie kann gut und gern mit ihrem zweiten Namen gerufen werden und hat sich ziemlich verdächtig gemacht. Die Unterhaltung, die Sie zufällig hörten, ist ja wirklich ein bißchen seltsam – e benso Miss Debenhams Weigerung, Ihnen zu erklären, was gemeint war.« »Ich tippe auf die Amerikanerin«, sagte Dr. Constantine. »Es ist ein sehr teures Taschentuch, und die Amerikanerinnen ha ben, wie alle Welt weiß, im Geldausgeben eine leichte Hand.« »Die Deutsche kommt für Sie also nicht in Frage?« »Nein. Sie hat doch selbst gesagt, das Taschentuch müsse ei ner vornehmen Dame gehören.« »Und die zweite Frage: der Pfeifenreiniger. Hat ihn Ar buthnot oder jemand anders fallen lassen?« »Das ist noch schwieriger. Die Waffe des Engländers ist nicht das Messer. Da haben Sie recht. Ich vermute, daß jemand an ders den Pfeifenreiniger fallen ließ, um den langbeinigen Briten zu belasten.« »Wie Sie früher einmal sehr richtig bemerkten, Monsieur Poi rot, wären zwei Hinweise eine zu große Nachlässigkeit«, misch te sich der Doktor ins Gespräch. »Ich stimme M. Bouc bei. Das Taschentuch wurde wirklich übersehen, da sich keine der Da men als Eigentümerin bekennen will. Der Pfeifenreiniger ist ein falsches Indiz. Dazu paßt auch, daß Oberst Arbuthnot nicht die geringste Befangenheit zeigt und freimütig zugibt, daß er Pfeife raucht und diese Art Reiniger benutzt.«
»Nicht übel durchdacht«, sagte Poirot anerkennend. »Frage Nummer 3: Wer trug den roten Kimono?« fuhr M. Bouc fort. »Ich muß gestehen, daß mir dazu überhaupt nichts einfällt. Wie steht es mit Ihnen, Doktor? Können Sie uns etwas dazu sagen?« »Nein. Kurz und bündig – nein.« »Also bekennen wir uns in diesem Punkt als geschlagen. Bei der nächsten Frage gibt es immerhin Möglichkeiten. Wer war der Mann oder die Frau, der oder die sich mit einer Schlafwa genuniform verkleidete? Nun, eine ganze Reihe von Personen kann man von vornherein ausschließen. Hardman, Arbuthnot, Foscarelli, Graf Andrenyi und Hector MacQueen sind alle zu groß. Mrs. Hubbard, Hildegarde Schmidt und Greta Ohlsson sind zu breit. Bleiben mithin der Kammerdiener, Miss Deben ham, Prinzessin Dragomiroff und Gräfin Andrenyi. Aber wenn ich mir vorstelle – nein, nein, es ist absolut unwahrscheinlich. Grete Ohlsson und Antonio Foscarelli schwören außerdem, daß Miss Debenham und der Kammerdiener ihr Abteil nicht verlie ßen. Hildegarde Schmidt beteuert, die Prinzessin habe in ihrem Bett gelegen, und der ungarische Diplomat hat uns gesagt, sei ne Frau habe ein Schlafmittel genommen. Infolgedessen scheint es unmöglich, daß es überhaupt jemand gewesen sein kann – was natürlich absurd ist!« »Wie unser alter Freund Euklid schon sagte«, warf Poirot ein. M. Bouc griff die nächste Frage der Liste heraus. »Es muß einer – beziehungsweise eine von diesen vieren ge wesen sein«, sagte Dr. Constantine. »Es sei denn, es war je mand, der nicht mit diesem Zug reist und sich jetzt versteckt hält. Aber das ist unmöglich, darüber waren wir uns einig.« »Nummer 5: Warum weisen die Uhrzeiger auf 1.15 Uhr? Hier bieten sich meiner Meinung nach zwei Erklärungen an. Entwe
der wollte sich der Mörder ein Alibi verschaffen und wurde durch das Hin und Her und durch Geräusche im Gang daran gehindert, Ratchetts Abteil zu verlassen, oder – warten Sie, ich hab eine Idee!« Die beiden anderen warteten rücksichtsvoll, während M. Bouc angestrengt nachdachte. »Ich habe es«, sagte er schließlich. »Nicht der Mörder in der Uniform eines Schlafwagenschaffners verstellte die Uhr. Nein, es war die Person, die wir den ›zweiten Mörder‹ genannt ha ben. Die Linkshändige. Mit anderen Worten: die Frau im roten Seidenkimono. Sie kommt später und dreht die Zeiger zurück, weil sie ein Alibi braucht.« »Bravo!« sagte Dr. Constantine. »Das ist wundervoll ausgetüf telt.« Doch Hercule Poirot lachte spöttisch auf. »Ach ja? Sie sticht im Dunkeln zu, ohne zu ahnen, daß er schon tot ist, weiß jedoch dank hellseherischer Fähigkeiten, daß in seiner Pyjamatasche eine Uhr steckt, die sie herausnimmt. Und in rabenschwarzer Finsternis stellt sie die Uhr zurück und macht sie kaputt, damit die Zeiger an der richtigen Stelle ste henbleiben.« »Spotten ist leicht«, knurrte M. Bouc. »Haben Sie vielleicht ei ne bessere Erklärung?« Er warf Poirot einen eisigen Blick zu. »Im Moment nicht«, gestand Poirot. »Trotzdem bin ich der Ansicht, daß keiner von Ihnen dahintergekommen ist, was die se Uhr so interessant macht.« »Beschäftigt sich Frage Nummer 6 damit?« mutmaßte der Arzt. »Auf die Frage – wurde der Mord um 1.15 Uhr begangen? – antworte ich mit einem klaren Nein.«
»Ich desgleichen«, sagte M. Bouc. »›War es früher?‹ lautet die nächste Frage. Meine Antwort: Ja. Sind Sie derselben Meinung, Doktor?« Dr. Constantine nickte, doch machte er gleich darauf eine Ein schränkung. »Jedoch kann die Frage ›War es später?‹ gleichfalls mit Ja be antwortet werden. Der erste Mörder kam früher als 1.15 Uhr, aber der zweite Mörder kam nach 1.15 Uhr. Und was die Linkshändigkeit des einen Mörders betrifft, so meine ich, daß wir versuchen müßten zu ermitteln, wer von den Reisenden Linkshänder ist.« »Ich dachte, ich hätte mir in dieser Hinsicht keine allzugroße Fahrlässigkeit zuschulden kommen lassen.« sagte Hercule Poi rot. »Warum hätte ich wohl sonst jeden eigenhändig seine Ad resse aufschreiben lassen? Gewiß, das Verfahren ist nicht unbe dingt hieb- und stichfest, da zum Beispiel manche Leute mit der rechten Hand schreiben und mit der linken Golf spielen. Im merhin ist es ein kleiner Anhaltspunkt. Nun, außer Madame Dragomiroff, die sich zu schreiben weigerte, hat jeder die Feder in die rechte Hand genommen.« »Prinzessin Dragomiroff – ausgeschlossen!« wehrte M. Bouc entrüstet ab. »Ich bezweifle, daß sie genug Kraft hat«, sagte Dr. Constanti ne. »Hinter diesem sonderbaren, mit der linken Hand geführten Stich steckt nämlich eine beträchtliche Wucht.« »So daß er nicht von einer Frau stammen kann?« »Nein, das wäre zuviel behauptet. Meiner Meinung nach je doch eine größere Wucht, als eine alte Frau aufbringen kann, und Prinzessin Dragomiroff ist besonders zart.«
»Oft aber siegt der Geist über den Körper«, gab Poirot zu be denken. »Um ihre Willenskraft könnte die Prinzessin mancher Mann beneiden. Aber lassen wir das für den Augenblick und machen wir weiter.« »Ja, mit Frage 9 und 10. ›Können wir sicher sein, daß Ratchett von mehr als einer Person erstochen wurde?‹ Und: ›Wie lassen sich die Wunden sonst erklären?‹ Wenn Sie meine medizinische Meinung wissen wollen, so lautet sie: Es gibt keine andere Er klärung für diese Wunden. Anzunehmen, daß ein Mensch zu erst schwach und dann mit Gewalt zustößt, erst mit der Linken und dann mit der Rechten, und daß er nach Ablauf einer halben Stunde einer Leiche neue Verletzungen zufügt – ah, das wäre unsinnig.« »Ja, das wäre es wohl. Aber glauben Sie wirklich, die ZweiMörder-Theorie sei sinnvoller?« »Wie Sie selbst schon sagten – was für eine andere Erklärung könnte es geben?« Poirot blickte starr vor sich hin. »Das frage ich mich ununter brochen«, erklärte er. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Mes amis, von nun an spielt sich alles nur noch hier ab.« Er tippte sich auf die Stirn. »Wir sind alles durchgegangen. Die Tatsachen haben wir, übersichtlich und methodisch geordnet, schwarz auf weiß vor uns liegen. Die Reisenden mußten schön der Reihe nach hier antreten, um ihre Aussagen zu machen. Wir wissen alles, was es an äußeren Dingen zu erfahren gab.« Er nickte M. Bouc freundschaftlich zu. »Wir beide haben oft darüber gescherzt, daß ich mich hinsetze und mir einfach Wahrheiten ausdenke, nicht wahr? Daß ich meine ›kleinen grauen Zellen‹ strapaziere. Nun, ich werde hier
vor Ihren Augen die Theorie in die Praxis umsetzen. Und Sie sollen dasselbe tun! Lassen Sie uns alle drei die Augen schlie ßen und denken… Einer oder mehrere Reisende töteten Rat chett. Wer von ihnen war es?«
26 Eine gute Viertelstunde verstrich, ehe jemand sprach. M. Bouc und Dr. Constantine hatten versucht, Poirots Auffor derung nachzukommen. Sie hatten sich bemüht, durch einen Nebel widerspruchsvoller Einzelheiten zu einer klaren, stich haltigen Lösung zu gelangen. Gradlinig muß ich denken, überlegte M. Bouc. Aber ich habe das bereits bisher reichlich getan… Poirot meint offenbar, die junge Engländerin sei in die Mordaffäre verwickelt. Ich kann mir nicht helfen – mir scheint es unwahrscheinlich. Die Englän der haben Fischblut in den Adern. Der Italiener, dem ich es oh ne weiteres zutrauen würde, kann es nicht getan haben. Schade eigentlich. Aber der englische Kammerdiener lügt bestimmt nicht, wenn er sagt, Foscarelli habe das Abteil nicht verlassen. Warum sollte er? Es ist nicht leicht, einen Engländer zu beste chen, sie sind so unzugänglich. Ach, das Ganze ist eine sehr unerquickliche Sache. Möchte wissen, was daraus noch wird. Möchte auch wissen, wann man uns endlich aus dieser Schneewehe herausholt. Irgend jemand muß es doch wenigs tens versuchen. Wie langsam doch in diesen Ländern alles läuft! Stunden vergehen, ehe sich jemand entschließt, einen Finger zu rühren. Und die Polizei wird nicht anders sein. Ge schwollen vor Wichtigkeit wird sie anrücken, sich aufblähen, überempfindlich reagieren, auf ihre Zuständigkeit pochen und viel Tamtam machen… Eine solche Chance bekommt sie schließlich nicht jeden Tag geboten… Und die Zeitungen! We he, wenn die Meute der Reporter erst über uns herfällt…! Und so gelangten M. Boucs Gedanken auf ein ausgefahrenes Gleis, dem sie schon hundertmal gefolgt waren.
Dr. Constantines Gedanken schlugen zunächst eine andere Richtung ein. Ein schnurriges kleines Kerlchen, dachte er. Ein Genie? Oder ein Narr? Wird er das Rätsel lösen? Unmöglich? Es ist ja alles so verworren. Vielleicht lügt überhaupt jeder. Doch selbst das hilft uns nicht weiter. Ob sie insgesamt Lügner sind oder die Wahrheit sagen – es kommt auf dasselbe heraus. Dun kel, Dunkel, rabenschwarzes Dunkel, so oder so. Merkwürdig auch diese Stichwunden. Ich verstehe nichts. Nichts. Es wäre leichter zu begreifen, wenn er erschossen worden wäre. In A merika hat doch jeder Schußwaffen. Und da glaubte sich dieser Cassetti in Europa sicherer als in Amerika. Eigentlich möchte ich Amerika mal kennenlernen. Es ist so unbekümmert, wird nicht gehemmt durch Tradition und dergleichen. Wenn ich heimkomme, will ich mal Verbindung mit Demetrius Zagone aufnehmen, er war ja drüben… Was Zia wohl in diesem Au genblick tut? Wenn meine Frau erfährt, daß ich… Seine Gedanken schwenkten zu gänzlich privaten Dingen ü ber. Hercule Poirot aber saß unbeweglich da wie eine Wachsfi gur. Man hätte meinen können, er schlafe. Und dann, nach einer Viertelstunde mumienhafter Starre zo gen sich seine Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen. Er seufzte leise auf und begann, kaum hörbar vor sich hin zu murmeln. »Aber schließlich, warum nicht? Und wenn – also wenn… ja, das würde alles erklären.« Er öffnete die Augen. Grün waren sie wie die Augen einer Katze. »Eh bien. Ich habe nachgedacht. Und Sie, mes amis?« Die beiden, deren Gedanken längst abgeschweift waren, zuckten heftig zusammen.
»Ich habe auch nachgedacht«, erklärte M. Bouc mit einem An flug von Schuldbewußtsein. »Aber zu einem Schluß bin ich nicht gekommen. Die Aufklärung von Verbrechen ist Ihr Me tier, mon vieux, nicht das meine!« »Auch ich habe mit großem Eifer überlegt«, schwindelte der Doktor schamlos, obwohl er seine Gedanken erst von einem heimlichen Liebesabenteuer losreißen mußte. »Ich habe mich sogar mit mehreren Theorien beschäftigt, doch keine befriedigt mich ganz.« Poirot nickte freundlich. Das Nicken schien zu besagen: ›Ganz recht, etwas anderes habe ich von euch auch nicht erwartet.‹ Er saß ungewöhnlich aufrecht da, warf sich in die Brust, strich sich über das Bärtchen und sprach in der Art eines geübten Redners, der ein großes Publikum vor sich hat. »Meine Freunde, ich habe im Geiste die Tatsachen und die Aussagen der Reisenden miteinander verglichen und habe eine – freilich noch nicht klar umrissene – Erklärung gefunden, die sich mit den Tatsachen, wie sie uns bekanntgeworden sind, decken könnte. Es ist eine höchst absonderliche Erklärung, und noch wage ich mich nicht für ihre Wahrheit zu verbürgen. Um etwas Endgültiges sagen zu können, muß ich noch ein paar Experimente durchführen. Ich möchte zuerst ein paar Punkte erwähnen, die mir bedeu tend erscheinen, und an eine Bemerkung von M. Bouc anknüp fen, die er während unseres ersten Lunchs im Zug machte. Er wies mich darauf hin, daß wir von Leuten aller Klassen, aller Nationen und jeden Alters umgeben seien. Um diese Jahreszeit ist das ein bißchen ungewöhnlich. Der Athener und Bukarester Wagen sind beispielsweise fast leer. Vielleicht erinnern Sie sich auch, daß ein Reisender, der fest gebucht hatte, nicht kam. Das ist wichtig. Ebenso wie ein paar andere Punkte, zum Beispiel
der Platz, an dem Mrs. Hubbards Schwammbeutel hing, der Name von Mrs. Armstrongs Mutter, Mr. Hardmans berufliche Methoden, Mac-Queens Hinweise, daß Ratchett das verkohlte Papier ja selbst vernichtet haben könnte, Prinzessin Dragomi roffs Taufname und ein großer Fettfleck auf einem ungarischen Paß.« Die beiden anderen sahen ihn verblüfft an. Machte er sich ü ber sie lustig? »Sagen Ihnen diese Punkte gar nichts?« fragte Hercule Poirot. »Nicht ein bißchen«, gestand M. Bouc mit rühmenswerter Of fenheit. »Und Ihnen, cher docteur?« »Für mich sprechen Sie in Rätseln!« M. Bouc hielt sich an das einzig Greifbare, das sein Freund erwähnt hatte, und sah die Pässe durch. Mit einem Grunzen nahm er den von Graf und Gräfin Andrenyi zur Hand und schlug ihn auf. »Meinen Sie das hier? Diesen Schmutzfleck?« »Ja. Es ist ein ziemlich frischer Fettfleck. Und wo befindet er sich?« »Da, wo die Personalien der Gräfin Andrenyi stehen um ge nau zu sein, bei ihrem Taufnamen. Aber worauf Sie hinauswol len, begreife ich immer noch nicht.« »Lassen Sie es mich Ihnen erklären, indem ich auf das am Tatort gefundene Taschentuch zurückkomme. Auf dieses sehr teure, luxuriöse, handgestickte Pariser Tuch. Wem von unseren Reisenden – mal abgesehen von dem Initial H – könnte ein sol ches Taschentuch wohl gehören? Nicht Mrs. Hubbard, einer biederen Frau, die keine Extravaganzen in Wäsche und Klei dung kennt.
Nicht Miss Debenham. Engländerinnen ihrer Gesellschafts schicht benutzen hübsche aber solide Leinentaschentücher, kei nen Hauch aus kostbaren Spitzen, der annähernd zweihundert Francs kostet. Und ganz bestimmt nicht der Kammerzofe. Doch zwei Frauen sind im Zug, die ein solches Tüchlein wohl besit zen könnten. Untersuchen wir einmal, ob wir zwischen ihnen und dem Initial H eine Verbindung herstellen können. Ich nen ne die Prinzessin Dragomiroff…« »Deren Taufname Natalie lautet«, warf M. Bouc ironisch ein. »… und die Gräfin Andrenyi«, knüpfte Poirot an seine letzten Worte an, ohne den Spötter zu beachten. »Und sofort fällt uns etwas auf…« »Ihnen – uns nicht.« »Also meinetwegen mir! Auf dem Taufnamen der Gräfin prangt im Paß ein großer Fettfleck. Ein Zufall, würde jeder sa gen. Aber betrachten Sie bitte diesen Taufnamen. Elena. Wenn es nun nicht Elena, sondern Helena hieße? Das große H kann leicht in ein großes E verwandelt werden, wobei man das kleine e mit verschwinden läßt. Und hinterher muß ein Fettfleck dazu herhalten, die Fälschung zu vertuschen.« »Helena… Mon ami, das ist wieder eine Ihrer überraschenden kleinen Ideen. Aber sie ist nicht schlecht.« »Und sie hat bereits eine Bestätigung erfahren. Als wir die Koffer durchsuchten, war auf Gräfin Andrenyis Saffiankoffer einer der bunten Hotelzettel etwas feucht. Mit ihm hatte man das Initial auf dem Kofferdeckel überklebt. Jener bunte Zettel hatte ursprünglich an einer anderen Stelle gesessen, war dort mit Hilfe von warmem Wasser entfernt und anderswo wieder aufgeklebt worden.« »Wahrhaftig. Sie beginnen, mich zu überzeugen«, sagte M. Bouc. »Aber die Gräfin Andrenyi – also wirklich…«
»Still jetzt, mon vieux, Sie müssen nunmehr eine Kehrtwen dung machen und sich dem Fall von einer ganz anderen Rich tung nähern. Welchen Anstrich wollte man diesem Mord ur sprünglich geben…? Vergessen Sie nicht, daß der Schnee den eigentlichen Mordplan über den Haufen geworfen hat. Malen Sie sich bitte ein paar Minuten lang aus, daß draußen kein Schnee liegt, daß der Zug ganz normal unterwegs ist. Was wäre dann wohl geschehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte man das Verbrechen heute früh an der italienischen Grenze entdeckt, und bei der Vernehmung der Reisenden hätte die italienische Polizei ungefähr das gleiche erfahren wie wir. Mr. MacQueen würde Drohbriefe vorgelegt, Mr. Hardman seine Geschichte erzählt und Mrs. Hubbard mit ungeheurer Weit schweifigkeit geschildert haben, daß ein Mann durch ihr Abteil geschlichen sei. Auch der abgerissene Knopf wäre erwähnt worden. Zweierlei wäre nach meiner Meinung dann allerdings anders verlaufen: Der Mann wäre schon kurz vor eins in Mrs. Hubbards Abteil eingedrungen, und die Schlafwagenuniform hätte in einer Toilette gelegen.« »Sie glauben…« »Ich glaube, daß der Mord ursprünglich wie ein außerhalb dieses Kreises geplantes Verbrechen aussehen sollte. Man woll te den Anschein erwecken, daß der Mörder den Zug in Brod verlassen habe, wo er fahrplanmäßig null Uhr achtundfünfzig eintrifft. Und die an einem auffälligen Ort zurückgelassene Schlafwagenuniform sollte ein Hinweis darauf sein, welcher Tricks sich der Verbrecher bedient hatte. Keinerlei Verdacht hätte sich dann gegen die Reisenden gerichtet. So, mes amis, sollte die Affäre einem unbeteiligten Auge erscheinen. Aber der Schnee macht unserem Mörder einen dicken Strich durch die Rechnung. Zweifellos ist er nur deshalb so lange im
Abteil seines Opfers geblieben. Er wartete, daß sich der Zug wieder in Bewegung setzte, doch er wartete vergeblich – es ging nicht weiter. Der Mörder mußte sich schnell einen neuen Plan einfallen lassen, denn man würde wissen, daß er noch im Zug sein mußte.« »Ja, ja«, sagte M. Bouc ungeduldig. »Das leuchtet mir alles ein. Doch wo bleibt das Taschentuch?« »Keine Angst – ich komme schon auf Umwegen darauf zu rück. Vorerst aber bitte ich Sie, sich zu vergegenwärtigen, daß die Drohbriefe sozusagen nur dazu dienen sollten, der Polizei Sand in die Augen zu streuen. Sie hätten jedem beliebigen ame rikanischen Kriminalroman entnommen sein können. Sie sind nicht ernst gemeint. Wir müssen uns jetzt folgendes fragen: Hat Ratchett sich von diesen Briefen täuschen lassen? Oberflächlich gesehen scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Die Anwei sungen, die er Hardman gab, lassen den Schluß zu, daß es sich um einen ganz persönlichen Feind handelte, den Ratchett nicht genau kannte. – Einen Brief jedoch erhielt Ratchett der sich von den anderen unterschied und nicht für die Öffentlichkeit be stimmt war – jenen, der sich auf die kleine Daisy Armstrong bezog und von dem wir ein Bruchstück im Abteil des Toten fanden. Wenn Ratchett-Cassetti es vorher noch nicht gewußt hatte, sagte ihm dieses Schreiben unzweideutig, warum man ihm nach dem Leben trachtete. Des Mörders erste Sorge galt der Vernichtung dieses Briefes. Und hier erlitten seine Pläne die zweite Schlappe. Die erste war der Schnee, die zweite daß wir die Schriftzeichen auf dem verkohlten Stück Papier entdeckten. Daß jener Brief so sorgfältig vernichtet wurde, kann nur eins bedeuten. Es muß jemand im Zug sein, dem die Familie Arm strong so nahesteht, daß er automatisch zum Hauptverdächti gen geworden wäre, wenn man den Brief gefunden hätte.
Und nun das Taschentuch! Das einfachste wäre ja anzuneh men, eine Person, auf die der Buchstabe H paßt hätte es unwis sentlich verloren.« »Genau«, sagte Dr. Constantine. »Sie entdeckt den Verlust und unternimmt sofort etwas, um ihren Taufnamen zu verber gen.« »Sie stürmen aber vorwärts«, sagte Hercule Poirot. »Eins, zwei, drei haben Sie eine Schlußfolgerung fertig, die ich mir so schnell nicht erlauben würde.« »Gibt’s denn überhaupt eine andere Lesart?« »Gewiß. Nehmen Sie einmal an. Sie hätten ein Verbrechen be gangen und wollten den Verdacht auf jemand anders lenken. Nun, und dann ist in diesem Zug ein Mensch, eng mit der Fa milie Armstrong verwandt oder befreundet. Eine Frau. Neh men Sie weiter an. Sie haben am Schauplatz des Verbrechens ein Taschentuch fallen lassen, das dieser Frau gehört. Sie wird vernommen werden, ihre Beziehungen zur Familie Armstrong kommen ans Tageslicht – et voilà! Motiv und ein Beweisstück, das sie schwer belastet.« »Aber in diesem Fall würde die unschuldig Verdächtigte doch nicht schon vorher alles tun, um ihre Identität zu verschleiern«, widersprach der Arzt. »Glauben Sie das wirklich? Dann sind Sie mit den Polizeige richten einer Meinung. Ich aber, der ich die menschliche Natur kenne, denke anders. Und ich sage Ihnen, junger Freund, daß der allerunschuldigste Mensch den Kopf verliert und die unge reimtesten Dinge tut, wenn er sich plötzlich der Gefahr gege nübersieht, des Mordes angeklagt zu werden. Nein, nein, der Fettfleck und der an eine andere Stelle geklebte Zettel sind kei ne Schuldbeweise, sie beweisen lediglich, daß die Gräfin
Andrenyi aus irgendeinem Grund ängstlich darauf bedacht ist, ihre Identität zu verbergen.« »Welche Beziehungen könnten denn zwischen ihr und den Armstrongs bestehen? Sie gibt doch an, sie sei nie in Amerika gewesen.« »Richtig, und sie spricht gebrochen Englisch. Und sie hat ein sehr fremdländisches Aussehen, das sie noch betont. Trotzdem ist es nicht schwer zu erraten, wer sie ist. Ich erwähnte vorhin den Namen von Mrs. Armstrongs Mutter. Sie hieß Linda Arden und war eine berühmte Darstellerin Shakespearescher Frauen rollen. Denken Sie an Was ihr wollt, an den Wald von Arden und Rosalind – dann wissen Sie, woher ihr die Eingebung für die Wahl ihres Bühnennamens kam. Im gewöhnlichen Leben hieß sie anders – möglicherweise Goldenberg. Vielleicht hatte sie mitteleuropäisches Blut in ihren Adern, vielleicht einen jüdi schen Vorfahren. In Amerika finden Sie Abkömmlinge aller Nationen, Messieurs, ich wage die Vermutung, daß die jüngere Schwester von Mrs. Armstrong – die zur Zeit der Tragödie fast noch ein Kind war – Helena Goldenberg war, die zweite Toch ter von Linda Arden, und daß sie den Grafen Andrenyi heirate te, als er Attache in Washington war.« »Haben Sie vergessen, Monsieur Poirot, daß Prinzessin Dra gomiroff sagte, sie habe einen Engländer geheiratet?« »Ja, einen Engländer, an dessen Namen sich die Prinzessin nicht erinnert! Ich frage Sie, meine Freunde – klingt das nicht sehr merkwürdig? Prinzessin Dragomiroff, eng mit Linda Arden befreundet, und Patin der ältesten Tochter, sollte so schnell den Namen des Mannes der zweiten verheirateten Tochter ver gessen haben? Unsinn! Die Prinzessin lügt. Sie wußte, daß He lena mit diesem Zug reist, und da sie eine sehr kluge Frau ist, war ihr sofort klar, daß man vor allem Helena der Tat verdäch
tigen würde. Um das abzuwenden, lügt sie kurzerhand, ant wortet ausweichend, kann sich nicht entsinnen, glaubt, Helena habe einen Engländer geheiratet – eine Feststellung, die der Wahrheit auch nicht im entferntesten entspricht.« Ein Kellner kam durch die Tür am Ende des Wagens und nä herte sich M. Bouc. »Darf ich das Essen servieren, Monsieur? Es ist bereits seit ei ner Weile fertig.« Bouc sah Poirot an, und der kleine Detektiv nickte. »Aber selbstverständlich müssen Sie servieren«, sagte er. Der Kellner verschwand durch die Tür am entgegengesetzten Ende des Wagens. Man hörte seine helle Klingel und dazwi schen immer wieder seine Stimme, die auffordernd rief: »Pre mier service. Le dîner est servi! Premier dîner…«
27 Poirot, M. Bouc und der Doktor aßen an dem für den Direktor der Gesellschaft reservierten Tisch. Die Reisenden, die sich im Speisewagen eingefunden hatten, wirkten niedergeschlagen. Selbst die redewütige Mrs. Hubbard war unnatürlich still. Als sie sich setzte, murmelte sie: »Ich glaube nicht, daß ich auch nur einen Bissen hinunterwürgen kann.« Und dann legte sie sich von jedem angebotenen Gericht reichlich auf, ermutigt von Gre ta Ohlsson, die sich noch immer als ihre Pflegerin fühlte. Vor dem Essen hatte Poirot den Oberkellner am Ärmel fest gehalten und ihm etwas zugeflüstert. Was das war, ahnte Dr. Constantine, sobald er bemerkte, daß Graf und Gräfin Andre nyi immer zuletzt bedient wurden und man gegen Ende der Mahlzeit zögerte, ihnen die Rechnung vorzulegen. Daher hatte sich der Wagen schon geleert, als das Ehepaar schließlich auf stand und zur Tür ging. Plötzlich sprang Hercule Poirot auf und lief den beiden nach. »Pardon, Madame, Sie haben Ihr Taschentuch fallen lassen«, sagte er. Er hielt ihr das winzige, mit H gekennzeichnete Viereck hin, das sie nahm, flüchtig ansah und ihm zurückreichte. »Sie irren sich, Monsieur, das ist nicht mein Taschentuch.« »Nein? Sind Sie sicher?« »Ganz sicher, Monsieur.« »Aber der Anfangsbuchstabe Ihres Vornamens ist doch einge stickt – ein H.«
Der Graf machte eine hastige Bewegung, die Poirot übersah. Seine Augen ruhten auf dem Gesicht der schönen jungen Frau. Sie hielt dem Blick stand und erwiderte: »Ich verstehe nicht, Monsieur. E. A. sind die Anfangsbuchsta ben meines Namens.« »Da bin ich anderer Meinung, Madame. Ihr Name lautet He lena, nicht Elena. Helena Goldenberg. Sie sind die jüngere Tochter von Linda Arden. Helena Goldenberg, die Schwester von Mrs. Armstrong.« Tödliches Schweigen. Der Graf und die Gräfin waren leichenblaß geworden. »Warum leugnen?« sagte Poirot, viel freundlicher. »Nicht wahr, so ist es doch?« »Monsieur, ich möchte jetzt wissen, mit welchem Recht – « rief der Graf aufbrausend. Seine Frau unterbrach ihn, indem sie ihm die Hand auf den Mund legte. »Nein, Rudolph. Laß mich sprechen. Es ist sinnlos zu leug nen. Wir wollen uns lieber setzen und die Sache in Ruhe erör tern.« Ihre Stimme klang verändert. Zwar hatte sie noch die südliche Tonfülle, aber sie war schärfer und schneidender geworden – zum erstenmal war es eine unverkennbar amerikanische Stim me. Schweigend fügte sich der Graf der Geste ihrer Hand, und beide nahmen Poirot gegenüber Platz. »Was Sie sagen, ist durchaus zutreffend«, begann die Gräfin. »Ich bin Helena Goldenberg, die jüngere Schwester von Mrs. Armstrong.« »Heute morgen haben Sie mich über Ihre Person im unklaren gelassen, Madame.« »Ja.«
»Und genaugenommen war alles, was Sie und Ihr Gatte mir erzählten, ein Lügengewebe.« »Monsieur!« rief der Graf ärgerlich. »Werde nicht zornig, Rudolph. Monsieur Poirot drückt es ziemlich brutal aus, aber recht hat er.« »Ich freue mich, daß Sie die Tatsache freimütig zugeben, Ma dame. Wollen Sie mir nun auch bitte sagen, was Sie dazu veran laßte und weshalb Sie Ihren Taufnamen im Paß änderten?« »Das war ich, nicht meine Frau«, fiel der Graf ein. Und Hele na setzte ruhig hinzu: »Sollten Sie meine Gründe – unsere Gründe – nicht schon erraten haben, Monsieur Poirot? Der Tote ist der Mensch, der meine kleine Nichte ermordete, den Tod meiner Schwester verschuldete und meinem Schwager das Herz brach. Drei Menschen, die ich unsagbar liebte, deren Heim mein Heim war – meine Welt!« Ihre Stimme bebte vor leidenschaftlicher Erregung. Helena Andrenyi war die echte Tochter einer Mutter, die mit ihrer Kunst unzählige Menschen zu Tränen gerührt hatte. »Von allen Reisenden hatte bestimmt keiner einen so schwerwiegenden Grund, diesen Mann zu tö ten, wie ich«, fuhr sie ruhiger fort. »Aber Sie haben ihn nicht getötet, Madame?« »Ich schwöre Ihnen, Monsieur Poirot, und mein Mann weiß es und wird es auch beschwören, daß ich nie die Hand gegen ihn erhoben habe.« »Ich, Gentlemen, gebe ebenfalls mein Ehrenwort, daß sich meine Frau vergangene Nacht nicht aus ihrem Abteil entfernt hat. Sie nahm ein Schlafmittel, bevor sie zu Bett ging – was Sie bereits von mir wissen –, und ist absolut unschuldig.« Poirot sah die beiden abwechselnd an. »Und trotzdem haben Sie es auf sich genommen, ihren Namen im Paß zu ändern?«
»Monsieur Poirot, bedenken Sie meine Lage. Sollte ich zulas sen, daß meine Frau in einen schmutzigen Kriminalfall hinein gezogen wurde? Sie war unschuldig. Ich wußte es. Aber gleich zeitig erkannte ich, was ihr wegen der Verwandtschaft mit den Armstrongs drohte. Verhöre, vielleicht gar eine Verhaftung. Da wir durch einen bösen Zufall mit demselben Zug reisten wie Ratchett-Cassetti, mußte ich der Gefahr vorbeugen. Ich gebe zu, Monsieur, daß ich Sie belog; doch in einem habe ich nicht gelo gen. Meine Frau hat vergangene Nacht ihr Abteil tatsächlich nicht verlassen.« Graf Andrenyi sprach mit einem Ernst, dem man sich nicht entziehen konnte. »Ich sage nicht, daß ich an Ihren Worten zweifle, Monsieur«, entgegnete Poirot bedächtig. »Sie gehören einer alten, stolzen Familie an. Es wäre in der Tat bitter für Sie, wenn Ihre Frau zum Mittelpunkt eines aufsehenerregenden Mordfalles würde. Wie aber wollen Sie erklären, daß wir ein Taschentuch von Ma dame im Abteil des Toten fanden?« »Das Taschentuch gehört mir nicht, Monsieur«, beteuerte die Gräfin. »Trotz des Buchstabens H?« »Trotz des Buchstabens H. Ich habe ähnliche Taschentücher, doch nicht dieselben. Ich kann nicht hoffen, daß Sie mir glau ben, Monsieur Poirot, aber es ist wirklich so: Das Taschentuch gehört mir nicht.« »Glauben Sie, es wurde in das Abteil gelegt, weil jemand Sie belasten wollte?« Sie lächelte leicht. »Sie versuchen, mich zu überrumpeln, da mit ich unbedacht zugebe, daß es doch mir gehört. Aber das ist wirklich nicht der Fall.«
»Warum haben Sie dann den Namen im Paß geändert?« Jetzt griff der Graf wieder ein. »Weil wir hörten, daß ein Taschentuch mit eingesticktem H gefunden wurde. Ehe wir zum Verhör in den Speisewagen ka men, berieten wir uns, und ich machte meine Frau darauf auf merksam, daß man sie viel schärfer ins Gebet nehmen würde, wenn ihr wahrer Name, Helena, bekannt wäre. Die Sache war ganz einfach – ganz leicht ließ sich Helena in Elena verwan deln.« »Sie gäben einen sehr geschickten Verbrecher ab, Monsieur le Comte«, stellte Hercule Poirot trocken fest. »Sie sind von Natur aus findig und gerissen und offenbar auch skrupellos genug, die Justiz irrezuführen.« »Oh, nein, nein, Monsieur Poirot.« Helena Andrenyi beugte sich weit vor. »Er erklärt Ihnen doch nur, wie alles kam. Sehen Sie, ich war so entsetzt, empfand es als qualvoll, daß die trostlo sen Ereignisse wieder aufgerührt wurden. Dazu kam, daß man mich vielleicht verdächtigen und ins Gefängnis stecken würde. Mir graute vor all dem, Monsieur. Können Sie das denn nicht begreifen?« »Madame« – Poirot sah sie ernst an –, »wenn ich Ihnen glau ben soll, müssen Sie mir helfen.« »Ihnen helfen?« »Ja. Die Beweggründe für den Mord liegen in der Vergangen heit – in jener Tragödie, die Ihnen Ihre Lieben entriß und Ihr Leben verdüsterte. Sprechen Sie mit mir über die Vergangen heit, damit ich dort das fehlende Glied finde, das alles erklärt.« »Was gibt es da noch zu reden? Sie sind ja alle tot«, flüsterte sie, mit den Tränen kämpfend. »Robert, Sonja, die süße, süße Daisy – alle tot, und Daisy war ein so bezauberndes Kind – so
fröhlich – so glücklich. Und bildhübsch mit ihren blonden Lo cken. Wir waren alle ganz verrückt nach ihr.« »Die drei waren nicht die einzigen Opfer, Madame. Es wurde noch ein Menschenleben vernichtet – indirekt, sozusagen.« »Die arme Suzanne? Ja, die hätte ich beinahe vergessen. Die Polizei nahm sie ins Kreuzverhör, wobei sich ergab daß sie mit einem Unbekannten geschwatzt und dabei viel über Daisy er zählt hatte, über ihren Tagesablauf, wenn sie mit ihr spazieren ging und dergleichen. Sie tat es ganz arglos, ohne sich etwas dabei zu denken, und geriet, als man sie der Beihilfe verdäch tigte, in eine solche Verzweiflung, daß sie sich aus dem Fenster stürzte. Oh, wie furchtbar war das alles!« »Und woher kam sie, Madame?« »Sie war Französin.« »Wie war ihr Nachname?« »Mein Gott, wie hieß sie doch… Der Name ist mir tatsächlich entfallen. Wir nannten sie alle Suzanne. Ein fröhliches, hüb sches Ding, immer guter Laune und ganz vernarrt in Daisy.« »Nicht wahr, sie war zur Unterstützung der Kinderschwester da?« »Ja.« »Und wer war die Kinderschwester?« »Stengelberg hieß sie. Eine ausgebildete Krankenpflegerin und Kindergärtnerin. Auch sie liebte Daisy und meine Schwes ter sehr.« »Nun, Madame, bitte ich Sie herzlich, sich Ihre nächste Ant wort sorgfältig zu überlegen. Haben Sie, seit Sie hier im Zug sind, irgendwen gesehen, den Sie wiedererkannten?« Sie sah ihn starr an. »Ich? Nein, nein.« »Und Prinzessin Dragomiroff?«
»Ja, die kenne ich natürlich. Ich dachte, Sie meinten irgend jemanden – irgendwen – aus jener traurigen Zeit.« »Das meinte ich auch, Madame. Überlegen Sie bitte. Es sind seither Jahre vergangen. Die Person mag ihr Äußeres verändert haben.« Helena Andrenyi grübelte lange.
»Nein, ich bin sicher – da ist niemand«, erklärte sie dann.
»Madame, Sie selbst waren damals ein ganz junges Mädchen.
Wer beaufsichtigte denn Ihre Hausaufgaben oder kümmerte sich überhaupt um Sie?« »Ein Drache.« Die junge Gräfin lächelte. »Eine Engländerin oder eigentlich Schottin, die gleichzeitig bei mir als Gouvernan te und bei Sonja als Sekretärin beschäftigt war. Rothaarig, groß und kräftig.« »Wie hieß sie?«
»Miss Freebody.«
»Jung oder alt?«
»Damals kam sie mir greisenhaft vor, obwohl sie in Wirklich
keit kaum älter als vierzig gewesen sein kann. Suzanne hatte natürlich meine Kleider und Wäsche in Ordnung zu halten.« »Und sonstige Hausbewohner gab es nicht?« »Nur Dienstboten.« »Und Sie sind sicher, ganz sicher, Madame, daß Sie nieman den im Zug wiedererkannt haben?« »Niemanden, Monsieur«, beteuerte sie, »wirklich nieman den.«
28 Als das ungarische Ehepaar gegangen war, sah Poirot seine beiden »Mitarbeiter« triumphierend an. »Sie sehen, wir machen Fortschritte!« »Mon ami, Sie sind unvergleichlich«, sagte M. Bouc aufrichtig. »Nie hätte ich mir einfallen lassen, Graf und Gräfin Andrenyi zu verdächtigen. Ich dachte, sie seien ganz hors de combat. Trau rig, traurig – aber es unterliegt doch wohl keinem Zweifel, daß sie das Verbrechen begangen hat. Aber man wird sie wohl nicht guillotinieren. Es sind mildernde Umstände vorhanden. Ein paar Jahre Gefängnis – mehr bekommt sie wohl nicht.« »Sie sind also von ihrer Schuld restlos überzeugt? Obwohl der Graf mit seinem Ehrenwort für die Schuldlosigkeit seiner Frau gebürgt hat.« »Was hätte er sonst tun sollen, mon cher? Er betet seine Frau an, er will sie um jeden Preis retten. Und seine Lüge bringt er mit der Selbstverständlichkeit des Grandseigneurs vor – aber eine Lüge bleibt es nichtsdestoweniger.« »Ja? Denken Sie, ich hatte die widersinnige Idee, daß er die Wahrheit sagte.« »Nein, nein. Denken Sie an das Taschentuch. Das Taschen tuch erledigt die Sache.« »Ja?« erwiderte Hercule Poirot von neuem, wie ein Schüler, der sich dem Urteil des Lehrers beugt. »Ich bin mir wegen des Taschentuchs gar nicht so sicher. Habe ich Ihnen nicht immer gesagt, es gebe zwei Möglichkeiten?« »Ganz gleichgültig…«
M. Bouc brach ab, weil sich die Tür öffnete und Prinzessin Dragomiroff den Speisewagen betrat. Sehr ruhig ging sie auf die drei Herren zu, die sich sofort erhoben, aber sie wandte sich ausschließlich an Poirot. »Ich glaube, Monsieur, Sie haben ein Taschentuch von mir.« Er warf den beiden anderen einen triumphierenden Blick zu. »Ist es das, Madame?« Langsam zog er das zarte Tüchlein aus der Tasche. »Ja, das ist es. In der Ecke ist das Monogramm meines Vor namens.« »Aber, Madame, wie kann es Ihnen gehören?« fragte M. Bouc. »Es ist mit H gezeichnet, und Ihr Vorname lautet Natalia.« Die funkelnden Krötenaugen maßen ihn mit einem kalten Blick. »Meine Taschentücher sind stets mit russischen Buchstaben gezeichnet, Monsieur, H ist im Russischen N.« M. Boucs Gesicht drückte grenzenlose Überraschung und gleichzeitig Unbehagen aus. Diese unzähmbare alte Dame schüchterte ihn irgendwie ein. Poirot freilich blieb völlig gelas sen. »Bei dem Verhör heute morgen haben Sie nichts davon ge sagt, daß dieses Taschentuch Ihnen gehört«, stellte er fest. »Haben Sie mich etwa gefragt?« erwiderte die Prinzessin tro cken. »Bitte, nehmen Sie Platz, Madame.« Sie folgte seiner Aufforderung – seufzend. »Nun ja, warum nicht?« sagte sie. »Sie brauchen keine große Sache daraus zu machen, Messieurs. Ich weiß, wie Ihre nächste Frage lauten wird, Monsieur, und will Sie Ihnen abnehmen: Wie kam mein
Taschentuch neben die Leiche des ermordeten Mannes? Und meine Antwort lautet: Ich habe keine Ahnung.« »So. Keine Ahnung.« »Nein, keine«, bekräftigte die Prinzessin. »Verzeihung, Madame – aber dürfen wir Ihren Antworten denn wirklich Glauben schenken?« fragte Poirot sehr leise. »Ah, Sie meinen, weil ich Ihnen nicht erzählte, daß Helena Andrenyi und Mrs. Armstrong Schwestern waren?« »In diesem Punkt haben Sie uns eine wohlbedachte Lüge auf getischt.« »Gewiß. Ich würde es auch wieder tun. Ihre Mutter war mei ne Freundin, und man soll seinen Freunden, seiner Familie und seiner gesellschaftlichen Klasse Treue beweisen.« »Sie sind also nicht der Meinung, daß man um jeden Preis der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen muß?« »In diesem Fall wurde, wie ich finde, eben das getan. Endlich hat die Gerechtigkeit gesiegt.« Poirot beugte sich vor. »Begreifen Sie mein Dilemma, Madame? Wie kann ich Ihnen im Hinblick auf das Taschentuch glauben? Vielleicht schützen Sie nur die Tochter Ihrer Freundin?« »Oh ich verstehe.« Sie verzog das Gesicht zu einem grimmi gen Lächeln. »Schön, Monsieur, Sie können sich meine Aussage von meinem Lieferanten in Paris bestätigen lassen. Ich gebe Ihnen die Adresse des Ladens, in dem ich meine Taschentücher kaufe. Dann brauchen Sie nur das fragliche Taschentuch vorzu legen, und man wird Ihnen erklären, daß ich es vor etwa einem Jahr anfertigen ließ. Das Taschentuch gehört mir, Monsieur«, wiederholte sie. Sie stand auf. »Wünschen Sie sonst noch eine Frage an mich zu richten?«
»Glauben Sie, Madame, daß Ihre Kammerzofe das Taschen tuch erkannt hat, als wir es ihr heute früh zeigten?« »Fraglos. Hat sie geschwiegen? Nun, das beweist, daß auch sie weiß, was Treue ist.« Nach dieser Feststellung nickte sie kaum merklich und ging. »So, also das war es!« sagte Hercule Poirot. »Ich habe das Zö gern bei Hildegarde Schmidt wohl bemerkt – sie war sich nicht schlüssig, ob sie leugnen oder zugeben sollte, daß das Taschen tuch der Prinzessin gehört. Doch wie fügt sich das in das Bild, das mir vorschwebt? Ah, doch, es geht.« »Puh!« entsetzte sich M. Bouc. »Die kann es ja mit zehn Män nern aufnehmen.« »Kann sie auch Ratchett ermordet haben?« wandte sich Poi rot, M. Boucs Worte aufgreifend, an den Arzt. Doch Dr. Cons tantine schüttelte den Kopf. »Ein paar von diesen Stichen haben die Muskeln glatt durch trennt, mit so großer Kraft wurde der Dolch geführt. Nie und nimmer kann eine zierliche alle Frau sie dem Opfer beigebracht haben. Mit den leichteren Stichen verhält es sich natürlich an ders.« »Wissen Sie. was für eine seltsame Bemerkung sie heute mor gen machte, als ich, um ihr eine Falle zu stellen, sagte, ihre Stärke liege mehr in ihrem Willen als in ihren Armen? Ich hoff te, sie werde dabei entweder auf ihren linken oder ihren rech ten Arm sehen, doch sie betrachtete leider beide. Und dann murmelte sie: ›Es ist wahr, es mangelt ihnen an Kraft. Aber ich weiß nicht, ob mich das betrübt oder freut.‹ Das ist doch eine sonderbare Bemerkung. Aber sie bestätigt die Auffassung, die ich von dem Verbrechen habe.«
»Sie beantwortet aber nicht die Frage nach unserem Links händer.« »Nein. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß Graf Andrenyi sein Taschentuch in der rechten Brusttasche trägt?« M. Bouc schüttelte den Kopf. Seine Gedanken drehten sich noch um die erstaunlichen Enthüllungen der letzten halben Stunde. »Lügen und wieder Lügen!« knurrte er erbittert. »Es ist unglaublich, was für einen Berg von Lügen man uns heute morgen aufgetischt hat.« »Oh, wir werden noch weitere entdecken!« sagte Hercule Poi rot vergnügt. »Meinen Sie das wirklich?« »Wenn nicht, wäre ich sehr enttäuscht.« »So? Nun, mir ist Doppelzüngigkeit zuwider, Ihnen aller dings, mon vieux, scheint sie zu behagen.« »Sie hat ihre Vorteile«, gab der kleine Detektiv zurück. »Wenn Sie jemanden, der gelogen hat, mit der Wahrheit konfrontieren, gibt er gewöhnlich die Lüge zu – oft aus reiner Überraschung. Um diese Wirkung zu erzielen, brauchen Sie nur richtig zu ra ten. Dieser Fall, mon cher, ist mit einer anderen Methode ja gar nicht zu lösen. Sehen Sie, ich nehme mir einen Passagier nach dem anderen vor, betrachte seine Aussage und frage mich: Wenn der und der lügt – in bezug auf welchen Punkt lügt er, und was ist der Grund für seine Lüge? Und ich antworte: Wenn er lügt – wohlgemerkt, wenn –, kann nur dieser oder jener Grund vorliegen und die Lüge diesen oder jenen Punkt betref fen. So bin ich, mit Erfolg, bei den Andrenyis vorgegangen, und jetzt werden wir das gleiche Verfahren bei verschiedenen ande ren Personen anwenden.«
»Und angenommen, mein Freund, Ihre Vermutung ist falsch?« »Dann wird zumindest eine Person von jedem Verdacht be freit.« »Ah, Sie eliminieren also?« »Genau.« »Und wen haben Sie sich als nächsten hierzu ausersehen?« »Unseren pukka sahib, Oberst Arbuthnot.«
29 Oberst Arbuthnot war sichtlich verstimmt, daß man ihn zu ei nem zweiten Verhör in den Speisewagen rufen ließ. Mit grim miger Miene setzte er sich Poirot gegenüber und sagte kurz angebunden: »Nun?« »Ich entschuldige mich tausendmal, daß ich Sie noch einmal behelligen muß«, begann Poirot mit dem ihm eigenen Über schwang. »Doch ich glaube, daß Sie mir noch ein paar wichtige Informationen geben können.« »Ich? Schwerlich.« »Fangen wir mal mit diesem Pfeifenreiniger an – ist es einer von den Ihren?« »Weiß ich nicht. Ich drücke Ihnen kein privates Erkennungs zeichen auf.« »Sind Sie sich bewußt, Oberst Arbuthnot, daß Sie im Schlaf wagen Istanbul-Calais der einzige Passagier sind, der Pfeife raucht?« »Dann dürfte der Reiniger wohl von mir stammen.« »Wissen Sie, wo ich ihn gefunden habe?« »Keine Ahnung.« »Er lag neben der Leiche des Ermordeten.« Oberst Arbuthnot zog die Brauen in die Höhe. »Können Sie uns erklären, wie er wohl dorthin gelangt sein mag?« »Wenn Sie meinen, ich hätte ihn dort selber fallen lassen – nein!« »Haben Sie irgendwann Mr. Ratchetts Abteil betreten?«
»Ich habe nie ein Wort mit dem Mann gewechselt.« »Und ihn auch nicht ermordet?« Wieder zog der Oberst die Brauen in die Höhe. »Wenn ich ihn ermordet hätte, würde ich es Ihnen wohl kaum auf die Nase binden. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Nein, ich habe diesen Menschen nicht ermordet.« »Nun, es ist auch nicht wichtig«, sagte Poirot kaum verständ lich vor sich hin. »Wie bitte?« »Ich sagte, es sei nicht wichtig.« »Wie bitte?« Arbuthnot schien bestürzt und sah Poirot voller Unbehagen an. »Denn, wissen Sie«, fuhr der kleine Detektiv fort, »der Pfei fenreiniger hat keine Bedeutung. Ich kann mir selbst ein Dut zend ausgezeichnete Erklärungen für sein Vorhandensein am Tatort ausdenken. Was ich von Ihnen hauptsächlich wissen wollte, war, ob Miss Debenham Ihnen erzählt hat, daß ich auf dem Bahnhof Konya zufällig Bruchteile einer Unterhaltung zwischen Ihnen beiden hörte.« Arbuthnot antwortete nicht. »Miss Debenham sagte: ›… nicht jetzt. Wenn alles vorüber ist. Wenn es hinter uns liegt.‹ Worauf bezogen sich diese Worte?« »Bedaure, Monsieur Poirot, aber die Antwort auf diese Frage muß ich Ihnen leider verweigern.« »Pourquoi?« »Ich schlage Ihnen vor, Miss Debenham selbst zu fragen«, er widerte der Oberst steif. »Ist bereits geschehen. Sie weigert sich ebenfalls, eine Erklä rung zu geben.«
»Dann müßten Sie doch eigentlich einsehen, daß meine Lip pen versiegelt sind.« »Ah, Sie möchten das Geheimnis einer Dame nicht preisge ben?« »Meinetwegen, nennen Sie es so.« »Mir gegenüber behauptete sie, es handle sich um eine ganz private Angelegenheit, die nur Sie betreffe.« »Und warum bezweifeln Sie das?« »Weil Miss Debenham mir im höchsten Grad verdächtig ist, Oberst.« »Unsinn!« rief Arbuthnot. »Es ist kein Unsinn.« »Sie haben nichts, was gegen sie spricht.« »Spricht auch die Tatsache nicht gegen sie, daß sie Gesell schafterin und Gouvernante im Armstrongschen Haushalt war, als die kleine Daisy entführt wurde?« Totenstille… Und dann nickte Poirot freundlich. »Sie sehen, wir wissen mehr, als Sie denken. Warum gibt Miss Debenham nicht zu, daß sie bei den Armstrongs angestellt war, wenn sie unschuldig ist? Warum sagt sie mir, sie sei niemals in Amerika gewesen?« Oberst Arbuthnot räusperte sich. »Vielleicht – vielleicht irren Sie sich.« »Ich irre mich nicht. Warum hat mich Miss Debenham belo gen?« Oberst Arbuthnot zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie sie selbst. Ich denke noch immer, daß ein Miß verständnis vorliegt.« Poirot rief einen Kellner herbei.
»Gehen Sie zu der englischen Dame in Nr. 11 und bitten Sie sie, zu mir zu kommen.« »Bien, Monsieur.« Der Mann verließ den Speisewagen. Poirot und die drei ande ren schwiegen. Oberst Arbuthnots Gesicht wirkte wie aus Holz geschnitzt, starr und gefühllos. Der Kellner meldete sich zurück.
»Die Dame kommt sofort.«
»Besten Dank.«
Nur ein paar Minuten später traf Mary Debenham ein.
30 Sie trug keinen Hut und hatte den Kopf herausfordernd zu rückgeworfen. Mit dem aus der Stirn zurückgekämmten Haar und der klaren Linie ihres Profils erinnerte sie an die Galionsfi gur eines Schiffes, das mutig der rauhen See trotzt. In diesem Augenblick war sie schön. Für den Bruchteil einer Sekunde – wirklich nicht länger – ruh te ihr Blick auf Arbuthnot. Dann fragte sie, sich an Poirot wen dend: »Sie wollen mich sprechen?« »Ich möchte Sie fragen, warum Sie mich heute vormittag be logen haben?« »Ich – Sie belogen? Ich verstehe Sie nicht.« »Sie verheimlichen, daß Sie zur Zeit der Tragödie bei den Armstrongs gearbeitet haben. Ja, Sie sagten ausdrücklich, Sie seien nie in Amerika gewesen.« Sie zuckte leicht zusammen, hatte sich aber gleich darauf wieder in der Gewalt. »Ja«, sagte sie. »Das ist wahr.« »Nein, Mademoiselle, es ist falsch.« »Sie haben mich mißverstanden, Monsieur Poirot. Ich meine, es ist wahr, daß ich Sie belogen habe.« »Ah, Sie geben es also zu?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Gewiß, nach dem Sie dahintergekommen sind.« »Also, offen sind Sie, das muß man Ihnen lassen. Darf ich Sie jetzt bitten, mir die Gründe für diese – Umgehung der Wahrheit zu nennen?«
»Liegen die Gründe nicht klar auf der Hand?« »Ich sehe sie nicht, Mademoiselle.« Sie sagte ruhig, aber mit einer Spur von Härte in der Stimme: »Monsieur, ich muß mir meinen Lebensunterhalt verdienen.« »Sie meinen…« »Was wissen Sie, Monsieur Poirot, von dem Kampf, eine gute Stellung zu bekommen und sie auch zu behalten? Glauben Sie wirklich, daß irgendeine nette, durchschnittliche Engländerin der Mittelklasse ihre Töchter einer Erzieherin anvertrauen würde, die unter Mordverdacht festgenommen und verhört wurde und deren Bild womöglich in der gesamten englischen Presse erschienen ist?« »Warum nicht – sofern sie keine Schuld trifft?« »Oh, Schuld! Nicht auf Schuld oder Nichtschuld kommt es an, sondern auf das Aufsehen, das man erregt hat. Ich habe mich im Leben erfolgreich durchgesetzt, Monsieur. Ich habe gutbe zahlte, angenehme Stellungen gehabt. Sollte ich das alles aufs Spiel setzen – sinnlos? Denn was hätte es Ihnen gebracht?« »Die Entscheidung, ob es sinnlos gewesen wäre, hätten Sie ruhig mir überlassen können, Mademoiselle.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie hätten mir zum Beispiel bei der Identifizierung behilflich sein können, Mademoiselle.« »Ich verstehe nicht…« »Ist es möglich, daß Sie in der Gräfin Andrenyi nicht Mrs. Armstrongs jüngere Schwester wiedererkannt haben?« »Gräfin Andrenyi? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kommt Ihnen vielleicht merkwürdig vor – aber ich habe sie nicht erkannt. Sie war damals ja noch nicht erwachsen. Es ist länger als drei Jahre her. Gewiß, die Gräfin erinnerte mich an
jemanden, aber ich bin nicht dahintergekommen, an wen. Sie sieht so fremdländisch aus. Nie hätte ich sie mit dem kleinen amerikanischen Schulmädel in Verbindung gebracht. Und au ßerdem habe ich nur einmal beim Betreten des Speisewagens flüchtig zu ihr hingeschaut, aber mehr auf ihre Kleidung als auf ihr Gesicht geachtet.« Mary Debenham lächelte schwach. »So sind Frauen nun einmal. Und dann – nun ja – ich hatte meine eigenen Probleme.« »Wollen Sie mir Ihr Geheimnis nicht verraten, Mademoisel le?« Poirots Stimme klang sehr sanft, fast beschwörend. »Ich kann nicht«, sagte sie leise. »Ich kann doch nicht…« Und plötzlich brach sie zusammen, ließ den Kopf auf die aus gestreckten Arme sinken und weinte herzzerreißend. Oberst Arbuthnot sprang auf und blieb verlegen neben ihr stehen. »Ich – hören Sie…« Er brach ab, drehte sich um und sah Poirot finster an. »Am liebsten würde ich Ihnen jeden Knochen einzeln brechen. Sie lächerlicher Zwerg, Sie unausstehlicher kleiner Schnüffler!« »Aber, Monsieur!« rief M. Bouc protestierend. Arbuthnot wandte sich wieder an die junge Frau. »Mary – um Himmels willen…« Sie stand hastig auf. »Es ist nichts – ich fühle mich schon wieder besser. Nicht wahr, Sie brauchen mich nicht mehr, Monsieur Poirot? Sonst muß ich Sie bitten, in mein Abteil zu kommen. Ich benehme mich wirklich wie eine komplette Idiotin!« Und sie lief hinaus, ehe Poirot etwas sagen konnte. Bevor Arbuthnot ihr folgte, maß er Poirot mit einem vernich tenden Blick.
»Miss Debenham hat nichts mit dem verdammten Mord zu schaffen – merken Sie sich das gefälligst! Und wenn Sie sie noch länger quälen und belästigen, dann – dann sollen Sie mich ein mal kennenlernen!« Nach dieser Drohung ging auch er mit langen Schritten da von. »Kann es etwas Köstlicheres geben als einen zornigen Eng länder?« meinte Poirot vergnügt. »Sie sind wirklich amüsant. Je zorniger sie werden, um so ungehobelter wird ihre Sprache.« M. Bouc interessierten die gefühlsmäßigen Reaktionen der Engländer nicht. »Mon cher, vous êtes épatant!« rief er. »Wie Sie das wieder erraten haben, grenzt an ein Wunder.« Und Dr. Constantine blies in dasselbe Horn.
»Es ist unglaublich, wie Sie auf dergleichen Dinge verfallen,
Monsieur.« Hercule Poirot rieb sich lachend die Hände. »Oh, diesmal kann ich wirklich keinen Anspruch auf Lob er heben, mes amis. Es war keine Vermutung von mir. Die Gräfin Andrenyi hat es mir ja praktisch gesagt.« »Comment? Comment? Aber wann denn?« »Erinnern Sie sich nicht, daß ich sie nach ihrer Erzieherin fragte? Eins war mir nämlich klar: Wenn Mary Debenham in die Angelegenheit verwickelt war, mußte sie damals im Haus der Armstrongs irgendeine Stellung bekleidet haben.« »Aber Gräfin Andrenyi hat doch eine völlig abweichende Per sonenbeschreibung gegeben.« »Sehr richtig. Eine rothaarige Frau in vorgerücktem Alter – tatsächlich in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Miss Mary Debenham. Aber als sie dann schnell einen Namen erfin
den mußte, da wurde ihr eine unbewußte Gedankenassoziation zum Verhängnis. Sie sagte Miss Freebody, entsinnen Sie sich?« »Ja.« »Eh bien. Vielleicht wissen Sie nicht, daß bis vor kurzem in London ein berühmter Modesalon Debenham and Freebody existierte. Natürlich begriff ich sofort.« »Das ist ja noch eine Lüge! Warum, warum?« »Vielleicht hat Helena Andrenyi aus Loyalität – aus Treue ge logen, wie Prinzessin Dragomiroff sagte.« »Ma foi«, brach M. Bouc ungestüm los. »Kann denn in diesem Zug kein Mensch die Wahrheit sagen?« »Das werden wir bald sehen, mon cher. Nur ein wenig Ge duld!«
31 »Jetzt würde mich nichts mehr überraschen«, erklärte M. Bouc erschüttert. »Nichts! Selbst wenn sich herausstellte, daß jeder unserer Passagiere irgendwie mit den Armstrongs zu tun hat te.« »Das ist eine ungemein tiefsinnige Bemerkung«, erwiderte Hercule Poirot. »Wie steht’s, mon cher! Haben Sie Lust zu hören, was Ihr ganz besonderer Freund, der Italiener, über seine Per son auszusagen hat?« »Wollen Sie uns abermals ein Beispiel Ihrer berühmten Ge dankenarbeit geben?« »Genau das!« »Das ist wirklich ein höchst ungewöhnlicher Fall«, sagte Constantine. »Aber durchaus nicht, er ist ganz durchschnittlich.« M. Bouc warf in komischer Verzweiflung die Arme in die Luft. »Wenn Sie das durchschnittlich nennen, mon ami!« Ihm fehlten die Worte. Poirot hatte den Speisewagenkellner inzwischen beauftragt, Antonio Foscarelli zu rufen. Der Blick des Italieners verriet höchste Wachsamkeit. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe Ihnen nichts zu sagen – nichts, verstanden? Per dio…« Schwer sauste seine Hand auf die Tischplatte. »Doch, die Wahrheit!« entgegnete Poirot. »Die Wahrheit?« Foscarelli warf ihm einen überlegenen Blick zu.
»Mais oui. Vielleicht ist sie mir bereits bekannt. Allerdings wä re es für Sie von Vorteil, wenn Sie aus eigenem Antrieb rede ten.« »Sie sprechen genauso wie die amerikanische Polizei.« Der Dicke lachte spöttisch auf. »›Heraus mit der Sprache‹, sagen die immer. ›Dann wirst du dich gleich viel besser fühlen.‹« »Ah, dann verfügen Sie also über Erfahrungen mit der New Yorker Polizei?« »Nein, nein, durchaus nicht. Sie konnten mir nichts beweisen, sosehr sie sich auch anstrengten.« »Das war damals im Fall Armstrong, nicht wahr?« sagte Poi rot ruhig. »Sie waren Fahrer, ist es so?« Er zwang den Italiener, seinem Blick standzuhalten, und Fos carelli schien plötzlich in sich zusammenzusinken. Ein Luftbal lon, aus dem die Luft raus war. »Warum fragen Sie mich, wenn Sie es schon wissen?« »Heute morgen haben Sie gelogen.« »Aus geschäftlichen Gründen. Überdies traue ich der jugos lawischen Polizei nicht. Die Jugoslawen hassen uns Italiener. Von ihnen hätte ich keine Gerechtigkeit zu erwarten.« »Im Gegenteil, vielleicht gerade die Gerechtigkeit, die Ihnen gebührt.« »Nein, nein. Mit dem Mord von gestern nacht habe ich nichts zu schaffen. Ich habe mein Abteil nicht verlassen. Fragen Sie doch den langweiligen Engländer. Ich habe das Schwein Rat chett nicht umgebracht. Sie können mir nichts beweisen.« Hercule Poirot schrieb langsam etwas auf ein Blatt Papier. Jetzt blickte er auf und sagte gelassen: »Sehr gut. Sie können gehen.«
Foscarelli zögerte. »Sie sind sich doch klar darüber, daß nicht ich es war? Daß ich nichts damit zu tun gehabt haben kann? Es ist eine Ver schwörung… Sie wollen mich reinlegen? Alles wegen eines Schweinehundes, der auf den elektrischen Stuhl gehört hätte? Wenn ich es gewesen wäre… Wenn man mich verhaftet hät te…« »Aber Sie waren es nicht. Sie hatten mit der Entführung des Kindes nichts zu tun.« »Was fällt Ihnen ein, so etwas auch nur zu denken! Mein Gott, der kleine Spatz! Sie war das Entzücken des ganzen Hauses! Tonio, rief sie mich. Und wenn sie im Wagen saß, tat sie so, als halte sie das Steuer. Wir haben sie alle geliebt.« Seine Stimme wurde weich, und Tränen glänzten in seinen Augen. Dann machte er brüst kehrt und lief hinaus. Hercule Poirot rief wieder den Kellner: »Die schwedische Dame – Nr. 10!« »Bien, Monsieur.« »Noch eine?« stieß M. Bouc hervor. »Ah, nein – das ist nicht möglich. Wirklich nicht möglich!« »Mon cher – wir müssen alles wissen, was mit dem Fall zu sammenhängt. Auch wenn es sich am Ende herausstellen sollte, daß jeder in diesem Zug ein Motiv gehabt hat, Catchest zu tö ten. Sobald wir alles wissen, können wir ein für allemal die Schuldfrage klären.« »Mir dreht sich der Kopf«, klagte M. Bouc. Greta Ohlsson kam, vom Kellner fürsorglich gestützt, herein. Sie weinte bitterlich. Sie ließ sich Poirot gegenüber auf einen Stuhl fallen und schluchzte in ein großes Taschentuch hinein.
»Keine Angst, Mademoiselle. Nur keine Angst.« Poirot klopf te ihr auf die Schulter. »Nur ein paar kleine Aussagen, die der Wahrheit entsprechen. Sie waren die Kinderschwester der klei nen Daisy, nicht wahr?« »Ja, ja, es ist wahr«, antwortete Greta Ohlsson, noch immer weinend. »Ah, sie war ein Engel, ein süßer, vertrauensvoller Engel! Nur Liebe und Güte hatte sie kennengelernt. Und dann wurde sie von diesem Verbrecher geraubt… grausam behan delt… Und die arme Mutter! Das Baby, das nie leben durfte! Sie können das nicht verstehen! Wären Sie dabeigewesen wie ich – hätten die entsetzliche Tragödie miterlebt… Ich hätte Ihnen schon heute morgen die Wahrheit über mich sagen sollen. Aber ich hatte Angst. Einfach Angst. Und ich war glücklich, daß der Verbrecher tot war, daß er kein Kind mehr quälen und töten konnte. Ich kann nichts mehr sagen – meine Stimme gehorcht mir nicht…« Sie schluchzte noch heftiger als vorher. Poirot klopfte ihr noch immer begütigend auf die Schulter. »Na, na, na, wer wird denn weinen. Ich verstehe ja, verstehe alles. Alles, sage ich Ihnen. Sehen Sie, ich will Sie auch nicht mit weiteren Fragen belästigen. Es genügt völlig, daß Sie einge standen haben, was ich schon vorher wußte.« Jetzt tatsächlich keines Wortes mehr fähig, stand Greta Ohls son auf und tastete sich, blind vor Tränen, bis zur Tür. Dort stieß sie mit einem Mann zusammen, dessen Ziel der Speise wagen war. Masterman – Ratchetts Kammerdiener. Er ging direkt auf Hercule Poirot zu und so ruhig und leiden schaftslos wie er immer sprach: »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, Sir, aber ich dachte, es sei das beste, mit nichts mehr hinter dem Berg zu halten. Während des Krieges war ich Oberst
Armstrongs Bursche und später in New York sein Kammerdie ner. Ich habe das heute vormittag leider verschwiegen. Es war unrecht, Sir. Jedenfalls hoffe ich, daß Sie Tonio nicht irgendwie verdächtigen. Der gute Dicke, Sir, könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich kann beschwören, daß er vergangene Nacht sein Abteil nicht verließ. Mithin kann er es gar nicht getan ha ben, Sir. Tonio ist zwar Ausländer, Sir, aber ein sehr gutmütiger Mensch. Anders als die widerlichen, mordgierigen Italiener, von denen man in Büchern liest.« Er hielt inne. »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« fragte Poirot und sah ihn forschend an. »Das ist alles, Sir.« Masterman schwieg, und als auch Poirot nichts sagte, ver beugte der Engländer sich leicht, als wolle er für etwas um Ent schuldigung bitten, und verließ nach kurzem Zögern den Wa gen. »Das ist ja unwahrscheinlicher als jeder Roman, den ich gele sen habe«, sagte der Doktor verblüfft. »Ganz meine Meinung«, ließ sich M. Bouc vernehmen. »Von den zwölf im Istanbuler Wagen reisenden Passagieren haben neun zugegeben, zu den Armstrongs in engerer Beziehung ge standen zu haben. Was jetzt? Oder besser, wer jetzt?« »Die Antwort erfolgt umgehend«, lächelte Poirot. »Da naht unser amerikanischer Spürhund, Mr. Hardman.« »Kommt er, um seine Beichte abzulegen?« Poirot hatte keine Zeit mehr zu antworten, der Amerikaner stand bereits an ihrem Tisch. Er ließ seine flinken Augen zwi schen den dreien hin und her wandern und sagte, während er es sich auf einem Stuhl bequem machte, gedehnt:
»In diesem Zug geht’s ja zu wie in einem Narrenhaus.« Poirot blinzelte ihm zu. »Sind Sie ganz sicher, Mr. Hardman, daß Sie nicht als Gärtner im Armstrongschen Haushalt beschäftigt waren?« »Armstrongs hatten keinen Garten«, belehrte ihn der Ameri kaner. »Dann als Butler?« »Liegt mir nicht, der Beruf. Nein, es haben nie die geringsten Beziehungen zwischen mir und den Armstrongs bestanden – aber beinahe fange ich an zu glauben, daß ich als einziger Rei sender im Zug das behaupten kann. Wollen Sie wetten, daß es stimmt?« »Wetten, nein. Immerhin ist es mal eine kleine, erfreuliche Abwechslung. Haben Sie sich inzwischen irgendeine Meinung über das Verbrechen gebildet?« »Nein, Sir. Ich gebe mich geschlagen. Unmöglich können alle darin verwickelt sein. Doch wer ist der Schuldige? Wie haben Sie es übrigens zuwege gebracht, einen so tiefen Einblick zu bekommen?« »Ich verlegte mich aufs Raten.« »Alle Achtung, dann sind Sie ein ganz verdammter Pfiffikus!« Hardman rekelte sich auf dem Stuhl und sah Poirot bewun dernd an. »Und wenn man Sie so sieht, sollte man das gar nicht glauben. Hut ab vor Ihnen, Verehrtester. Hut ab!« »Sehr liebenswürdig, Mr. Hardman. Vorläufig verdiene ich das Lob noch nicht. Noch ist die Sache nicht restlos geklärt. Oder können wir vielleicht mit Recht sagen, wir wüßten, wer Ratchett tötete?« »Also ich bestimmt nicht«, antwortete Hardman. »Ich sage überhaupt nichts dazu. Ich bin nur voller Bewunderung. Was
ist mit den beiden anderen, mit denen Sie sich noch nicht be schäftigt haben? Der älteren Amerikanerin und der Kammerzo fe? Ich vermute, wir können voraussetzen, daß sie im Zug die einzigen Unschuldigen sind.« »Es sei denn«, sagte Poirot lächelnd, »wir finden für sie noch ein Plätzchen in unserer Sammlung als – nun ja – als Haushälte rin und Köchin bei den Armstrongs.« »Also mich überrascht auf dieser Welt nichts mehr«, sagte Hardman resigniert. »Dieser Fall ist irre – einfach irre.« »Ah mon cher, das hieße den Zufall denn doch ein bißchen arg strapazieren«, warf Bouc ein. »Sie können nicht alle mit drinste cken.« Poirot sah ihn an. »Sie verstehen nicht«, sagte er. »Sagen Sie mir, wissen Sie, wer Ratchett getötet hat?« »Wissen Sie es denn?« konterte M. Bouc. »Oh, um ehrlich zu sein: Ich weiß es schon seit einiger Zeit. Es ist so klar, daß ich über Ihre Blindheit nur staunen kann.« Er drehte sich zu Hardman um. »Und Sie?« »Bin genauso blind. Wer von ihnen war der Täter?« Poirot betrachtete eine Minute seine blitzblanken Schuhe. Dann hob er den Blick. »Darf ich Sie bitten, alle Passagiere des Schlafwagens hierher zu holen. Es gibt zwei mögliche Lösungen, und beide möchte ich im Beisein aller darlegen.«
32 Langsam füllte sich der Wagen, und die Passagiere nahmen ihre Plätze ein wie bei den Mahlzeiten. Auf allen Gesichtern lag derselbe Ausdruck: Erwartung, mit Furcht gemischt. Greta Ohlsson weinte noch immer, und Mrs. Hubbard tröste te sie: »Na, na, meine Liebe, Sie müssen sich ein bißchen zu sammenreißen. Es wird schon alles gut werden. Wenn es unter uns einen Mörder gibt, wissen wir doch, daß Sie es nicht sind. Nehmen Sie schön hier Platz, dann setze ich mich zu Ihnen. Und machen Sie sich keine Sorgen.« Sie verstummte, als Poirot aufstand. »Erlauben Sie, daß ich dableibe, Monsieur?« fragte Pierre Mi chel. »Gewiß, Pierre.« Poirot räusperte sich. »Messieurs et Mesdames, ich werde englisch sprechen, weil ich annehme, daß Sie alle diese Sprache leidlich beherrschen. Wir sind hier zusammengekommen, um den Mord an Samuel Ed ward Ratchett – alias Cassetti – zu untersuchen. Es gibt in die sem Fall zwei mögliche Lösungen, und ich will Ihnen beide darlegen. Anschließend sollen M. Bouc und Dr. Constantine beurteilen, welche die richtige ist. Sie alle kennen die Tatsachen des Falles. Ratchett wurde heute morgen erstochen aufgefunden. Siebenunddreißig Minuten nach Mitternacht hatte er noch durch die Tür mit dem Konduk teur gesprochen. Eine stark beschädigte Taschenuhr, die in der Brusttasche seines Schlafanzuges gefunden wurde, war um Viertel nach eins stehengeblieben. Dr. Constantine, der die Lei che untersuchte, vertritt die Ansicht, der Tot sei zwischen Mit
ternacht und zwei Uhr morgens eingetreten. Eine halbe Stunde nach Mitternacht saß der Zug im Schnee fest und steckt, wie Sie wissen, noch immer drin. Mithin kann seither niemand ausge stiegen sein. Er wäre sofort im Schnee versunken. Die Aussage von Mr. Hardman – Detektiv einer bekannten New Yorker Agentur – erhellt eindeutig, daß niemand an sei nem Abteil (Nr. 16, am äußersten Ende des Wagens gelegen) vorüber konnte, ohne von ihm gesehen zu werden. Daher sind wir zu der Schlußfolgerung gelangt, daß wir den Mörder unter den Insassen eines besonderen Wagens zu suchen haben – des Schlafwagens Istanbul-Calais. Das, Messieurs et Mesdames, war unsere Theorie.« »Comment?« stieß M. Bouc verblüfft hervor. »Und nun die andere, die sehr einfach ist. Ratchett hatte einen Feind, den er fürchtete und von dem er Mr. Hardman eine sehr genaue Beschreibung gab. Er fügte hinzu, daß mit einem Mordversuch – wenn überhaupt – erst in der zweiten Nacht nach der Abreise von Istanbul zu rechnen sei. Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, Ladies and Gentlemen, daß Ratchett viel mehr wußte, als er Mr. Hardman anvertraute. Der Feind, den er erwartete, bestieg den Zug in Belgrad, mögli cherweise auch in Vincovci, durch die Tür, die Oberst Ar buthnot und Mr. MacQueen offengelassen hatten. Sie waren kurz ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Als Schlaf wagenschaffner verkleidet und mit einem Hauptschlüssel aus gerüstet, der es ihm ermöglichte, trotz der verschlossenen Tür in Ratchetts Abteil einzudringen, erstach der Unbekannte den Schlafenden, der sich nicht wehrte, weil er ein Schlafmittel ein genommen hatte. Der Mann erstach ihn und verließ das Abteil durch die Verbindungstür zu Mrs. Hubbards Abteil…« »Ganz recht«, bestätigte Mrs. Hubbard.
»Im Vorbeigehen steckte er die Mordwaffe in Mrs. Hubbards Schwammbeutel und verlor, ohne es zu merken, einen Knopf seiner Uniform. Dann schlüpfte er hinaus in den Korridor, stopfte die hastig abgestreifte Uniform in einem Abteil in einen Koffer, und ein paar Minuten später verließ er, kurz vor der Abfahrt den Zug – in Straßenkleidung, die er unter der Uni form getragen hatte.« »Aber die Uhr?« warf Hardman ein. »Auch dafür habe ich die Erklärung. Ratchett hatte versäumt, in Tzaribrod seine Uhr eine Stunde zurückzustellen, wie er hät te tun müssen. Seine Uhr zeigte noch die osteuropäische Zeit an, die von der mitteleuropäischen um eine Stunde abweicht. Es war ein Viertel nach zwölf, als Ratchett erstochen wurde – nicht ein Viertel nach eins.« »Mon cher, diese Erklärung ist absurd!« rief M. Bouc. »Denken Sie doch an die Stimme, die um dreiundzwanzig Minuten vor eins aus Ratchetts Abteil sprach. Entweder war es Ratchetts Stimme oder die seines Mörders.« »Nicht unbedingt. Es kann auch eine dritte Person gewesen sein. Jemand, der Ratchett besuchen wollte, ihn tot vorfand und deshalb nach dem Kondukteur läutete. Dann aber bekam er das Fracksausen – wie Sie es auszudrücken pflegen. Wie, wenn man ihn verdächtigte? Und so tat er, als spreche Ratchett, und schickte den Kondukteur wieder fort.« »C’est possible«, gab M. Bouc widerwillig zu. Hercule Poirot sah Mrs. Hubbard an. »Ja, Madame – bitte, was wollten Sie sagen?« »Ich – ich weiß nicht mehr. Aber glauben Sie, ich hätte eben falls vergessen, meine Uhr zurückzustellen?«
»Nein. Sie hörten den Mann durchgehen – aber unbewußt. Später quälte Sie dann ein Alpdruck, ein Traum von einem Mann, der sich in Ihr Abteil geschlichen hatte, so daß Sie mit einem Ruck aufwachten und dem Schaffner klingelten.« »Freilich, das könnte so sein.« Prinzessin Dragomiroff sah Poirot sehr direkt an. »Und wie erklären Sie die Aussage meiner Kammerzofe?« »Sehr einfach, Madame, Fräulein Schmidt erkannte das Ta schentuch, das ich ihr zeigte, als Ihr Eigentum und unternahm den etwas unbeholfenen Versuch, Sie zu schützen. Gewiß, sie begegnete dem Mann, aber früher, während der Zug im Bahn hof Vincovci hielt. Sie behauptete jedoch, sie habe ihn später gesehen, weil sie die verworrene Idee hatte, Ihnen ein wasser dichtes Alibi zu verschaffen.« Die Russin senkte den Kopf. »Sie haben an alles gedacht, Monsieur«, murmelte sie. »Ich… ich bewundere Sie.« Dann blieb es still. Plötzlich zuckten alle heftig zusammen, weil Dr. Constantine mit der Faust auf den Tisch schlug. »Nein, nein und noch einmal nein«, sagte er. »Das ist eine ganz windige, fadenscheinige Erklärung. Sie ist mangelhaft, hat ein Dutzend schwache Punkte. So wurde das Verbrechen nicht begangen, das weiß M. Poirot selbst am besten.« Der kleine Detektiv musterte ihn neugierig. »Sie wollen mich also zwingen, Ihnen auch noch meine zweite Lösung zu verraten, mon cher? Aber weisen Sie diese hier nicht allzuschnell von der Hand. Sie wird Ihnen später vielleicht doch als die passendere erscheinen. Zu der anderen Lösung gelangte ich auf folgende Weise: Nachdem ich sämtliche Aussagen gesammelt hatte, lehnte ich
mich mit geschlossenen Augen zurück und begann zu denken. Dabei geholfen hat mir eine Bemerkung von M. Bouc, die sich auf die bunt zusammengewürfelte, alle Klassen und Nationali täten umfassende Reisegesellschaft bezog. Und als ich mich dieser Bemerkung wieder entsann, versuchte ich, mir vorzustel len, ob sich ein derart buntes Gemisch wohl auch unter anderen Bedingungen zusammenfinden könnte. Und die Antwort, die ich mir gab, lautete: nur in Amerika. In Amerika konnte sich ein Haushalt aus so verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen – einem italienischen Chauffeur, einer englischen Gouvernante, einer schwedischen Kinderschwester, einer deutschen Zofe und so weiter. Das führte mich zu meiner Methode des ›Ratens‹ – das heißt, ich teilte jeder Person eine gewisse Rolle in dem Armstrong-Drama zu, und ich kam zu einem sehr interessanten und befriedigenden Ergebnis. Dann ging ich im Geiste die einzelnen Personen und ihr Ver halten beim Verhör durch. Mit Mr. MacQueen begann ich. Mein erstes Gespräch mit ihm stellte mich vollauf zufrieden. Wäh rend der zweiten Unterredung jedoch machte er eine Bemer kung, über die ich stutzte. Ich hatte ihm erzählt, daß ich ein Papier gefunden hatte, auf dem der Name Armstrong erwähnt wurde, und er sagte: ›Aber das war doch…‹ Dann machte er eine Pause und fuhr fort: ›… war doch eine sträfliche Nachläs sigkeit von dem Alten!‹ Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß er ur sprünglich etwas ganz anderes hatte sagen wollen. Angenommen, er wollte sagen: ›Aber der Brief wurde doch verbrannt.‹ Das hätte bedeutet, daß MacQueen von dem Brief wußte und auch wußte, daß er vernichtet worden war. Mit an deren Worten, er war entweder der Mörder oder ein Komplize des Mörders. Sehr gut.
Dann der Kammerdiener. Er sagte, sein Herr habe die Ge wohnheit gehabt, auf einer nächtlichen Eisenbahnfahrt stets ein Schlafmittel zu nehmen. Das mochte im allgemeinen stimmen. Aber hatte Ratchett in der vergangenen Nacht wirklich ein Schlafmittel genommen? Der Browning unter seinem Kopfkis sen strafte jene Aussage Lügen. Ratchett hatte im Gegenteil munter bleiben wollen. Was für ein Betäubungsmittel er auch geschluckt hatte – es war ihm ohne sein Wissen verabreicht worden. Von wem? Offenbar von MacQueen oder dem Diener. Nun kommen wir zu der Aussage von Mr. Hardman. Ich glaubte alles, was er mir über seine Person und seinen Beruf erzählte, doch als er mir erklärte, was er zu Ratchetts Schutz unternommen hatte, grenzte sein Bericht ans Lächerliche. Um Ratchett wirklich wirkungsvoll zu schützen, hätte er sich in dessen Abteil selbst an einem Platz aufhalten müssen, von dem aus er die Abteiltür beobachten konnte. Vermutlich wissen Sie schon alle, daß ich zufällig ein paar Sätze einer Unterhaltung zwischen Miss Debenham und Oberst Arbuthnot aufgefangen hatte. ›Mary‹ nannte der Oberst die junge Dame. Auf so vertrautem Fuß stand er mit ihr. Doch an geblich hatte er sie erst wenige Tage vorher kennengelernt. Ich kenne aber genug Engländer von Oberst Arbuthnots Schlag. Selbst wenn er sich auf den ersten Blick in Miss Debenham ver liebt hätte, wäre er langsam und zurückhaltend vorgegangen und hätte sich nicht unbekümmert über alle gesellschaftlichen Schranken hinweggesetzt. Eine zweite, sehr geringfügige Klei nigkeit bewies mir außerdem, daß Miss Debenham, obwohl sie es leugnete, in den Vereinigten Staaten gewesen sein mußte. Sie gebrauchte nämlich im Laufe unseres Gesprächs ein paar ty pisch amerikanische Redewendungen, die nur jemand in seinen Sprachschatz aufgenommen haben kann, der selbst in Amerika gelebt hat.
Nun zu einer anderen Zeugin. Mrs. Hubbard hatte uns er zählt daß sie vom Bett aus nicht sehen konnte, ob die Verbin dungstür abgeriegelt sei oder nicht. Deshalb habe sie Miss Ohlsson gebeten, nachzuschauen. Nun, diese Aussage hätte gestimmt, wenn Mrs. Hubbard Abteil 2, 4, 12 oder irgendeine andere gerade Zahl innegehabt hätte, wo sich der Riegel unter halb der Türklinke befindet; in den Abteilen mit ungeraden Zahlen – also auch in ihrem Abteil Nr. 3 – ist der Riegel aber ein gutes Stück oberhalb der Klinke angebracht, so daß der Schwammbeutel ihn gar nicht verdeckt haben kann. Ich war daher gezwungen anzunehmen, daß die Sache mit dem Riegel eine reine Erfindung von Mrs. Hubbard war. Und jetzt erlauben Sie mir, ein paar Worte über Zeit und Stunde zu sagen. Ich stolperte – wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf – sofort über den Umstand, daß die beschädig te Uhr im Schlafanzug steckte. Eine Schlafanzugtasche ist wirk lich ein sehr unbequemer und unwahrscheinlicher Aufbewah rungsort für eine Uhr, zumal sich am Kopfende des Bettes ein Uhrhaken befindet. Daher hab ich nie bezweifelt, daß die Uhr absichtlich zur Irreführung in die Tasche gesteckt worden war. Das Verbrechen wurde also keineswegs um Viertel nach eins verübt. Früher also? Oder, um genau zu sein, um dreiundzwanzig Minuten vor eins? Mein Freund Bouc führte zur Unterstützung dieser Theorie den lauten Schrei an, der mich aus dem Schlaf riß. Doch wenn Ratchett in schwerer Betäubung dalag, konnte er nicht aufgeschrien haben. War er fähig zu schreien, so war er auch fähig, sich irgendwie zur Wehr zu setzen. Ich erinnere mich, wie MacQueen nicht einmal, sondern zweimal (und das zweite Mal fast übereifrig) betont hatte, daß Ratchett nicht Französisch sprach, und gewann allmählich die
Überzeugung, daß der ganze Rummel um dreiundzwanzig Minuten vor eins eine eigens für mich inszenierte Komödie war. Der Trick mit der Uhr – nun, in jedem dritten oder vierten Detektivroman wird damit gearbeitet. Man vermutete nicht zu Unrecht, daß ich den Schwindel durchschauen und mich selbstgefällig in meiner Schlauheit sonnend, fernerhin vermu ten würde, die Stimme, die ich dreiundzwanzig Minuten vor eins gehört hatte, könne – da Ratchett nicht Französisch sprach – nicht die seine gewesen sein. Daraus sollte ich natürlich schließen, Ratchett sei um diese Zeit nicht mehr am Leben ge wesen. Ich bin aber überzeugt, daß er um diese Stunde noch in tiefer Betäubung schlief. Immerhin ist der Trick gelungen. Ich habe meine Tür geöffnet, hinausgeschaut und wirklich den französischen Satz vernom men. Wenn ich aber wider Erwarten so unglaublich dämlich sein sollte, daß ich die Bedeutung dieses Satzes nicht begriff – nun, dann mußte man mich eben mit der Nase darauf stoßen! Dann konnte immer noch MacQueen kommen und zu mir sa gen: ›Entschuldigen Sie, Monsieur Poirot, der Sprecher kann nicht Mr. Ratchett gewesen sein. Er konnte kein Französisch.‹ Und nun zur Tatzeit. Wann wurde das Verbrechen wirklich begangen. Und wer hat Ratchett getötet? Meiner Meinung nach wurde Ratchett kurz vor zwei Uhr ge tötet, knapp vor Ablauf der von Dr. Constantine als möglich angegebenen Zeitspanne. Was aber die Frage nach dem Täter selbst betrifft…« Hercule Poirot machte eine Pause und musterte sein Publikum. Über mangelnde Aufmerksamkeit konnte er nicht klagen. »Mir fiel«, fuhr er fort, »natürlich sofort auf, wie schwierig es war, auch nur gegen einen einzigen unserer Passagiere einen Beweis zu
finden, und daß jedes Alibi ausgerechnet von einer Person er härtet wurde, die ich die ›unwahrscheinlichste‹ nennen möchte. So versorgten sich MacQueen und Oberst Arbuthnot gegen seitig mit Alibis – zwei Männer, zwischen denen es gewiß keine großen Gemeinsamkeiten gab. Das gleiche traf auf den engli schen Kammerdiener und den Italiener zu, ebenso auf die schwedische Dame und die junge Engländerin. Und dann, Messieurs, sah ich Licht! Sie steckten alle unter ei ner Decke. Daß so viele Leute, die irgendwie mit dem Fall Arm strong zu tun gehabt hatten, zufällig denselben Zug benützen sollten, war nicht nur unwahrscheinlich, nein, es war unmög lich. Das konnte kein Zufall, das mußte Absicht sein. Ich ent sann mich einer Bemerkung, die Oberst Arbuthnot über die Aburteilung durch Geschworene gemacht hatte. Aus zwölf Ge schworenen setzt sich das Gericht zusammen – und zwölf Pas sagiere fuhren im Zug. Und zwölfmal war Ratchett erstochen worden. Nun hatte ich auch die Erklärung dafür, daß der Schlafwagen nach Calais voll besetzt war – was für diese Jah reszeit höchst ungewöhnlich ist. Ich hatte mir darüber schon Gedanken gemacht. In Amerika hatte Ratchett es verstanden, sich der Justiz zu entziehen, obwohl nicht der mindeste Zweifel an seiner Schuld bestand. Vor meinem inneren Auge aber erschien eine selbster nannte Geschworenenbank mit zwölf Personen, die ihn zum Tode verurteilten und durch die eigenartigen Umstände des Falles gezwungen wurden, auch die Vollstrecker zu sein. Ich sah ein vollendetes Mosaik vor mir, in dem jede Person die ihr zugeteilte Rolle spielte. Es war so verabredet, daß jeder Verdacht, der sich gegen eine bestimmte Person richtete, sofort durch die Aussage eines oder mehrerer anderer Mitwirkender zerstreut werden sollte. Hardmans Aussage war nötig, falls ein
Außenseiter in Verdacht geraten sollte, der kein Alibi hatte. Die Reisenden im Istanbuler Wagen liefen keine Gefahr. Die kleins te Einzelheit ihrer Aussage war vorher ausgearbeitet worden. Das Ganze war ein gut vorbereitetes Puzzle – so geplant, daß alles, was ans Licht kam. die Lösung nur noch schwieriger machte. Wie mein Freund M. Bouc einmal feststellte, war der Fall auf phantastische Weise unmöglich. Und genau diesen Eindruck sollte ich gewinnen. Deckte diese Erklärung den Fall in seiner ganzen Breite ab? Ja! Die Art der Wunden – jede durch eine andere Person dem Toten beigebracht. Die falschen Droh briefe – falsch deshalb, weil sie nur geschrieben wurden, um als Beweismaterial zu dienen. Zweifellos hat es auch echte Briefe gegeben, die Ratchett sagten, welches Schicksal ihm bevor stand. Sie wurden jedoch von MacQueen vernichtet und durch andere ersetzt. Denn Hardmans Aussage, daß Ratchett ihn be auftragt habe, ihn zu schützen – ein Lügengespinst natürlich, von Anfang bis zum Ende! Die Beschreibung des geheimnisvol len kleinen, dunklen Mannes mit der femininen Stimme – eine sehr zweckdienliche Beschreibung, da sie auf keinen der Schlafwagenschaffner zutraf und auf Mann und Frau paßte. Ein Einfall, das Urteil durch Erstechen zu vollstrecken, mag im ersten Augenblick sonderbar erscheinen, doch bei näherer Überlegung nicht. Ein Dolch ist eine Waffe, mit der jeder, der Starke wie der Schwache, umzugehen vermag, und er ist leise. Ich bin der Meinung, daß alle Verschwörer der Reihe nach durch Mrs. Hubbards Abteil in Ratchetts verdunkeltes Abteil eindrangen – und zustachen. Und keiner von ihnen würde wis sen, welcher Stich der eigentlich tödliche war. Der letzte Brief, den Ratchett wahrscheinlich auf seinem Kopfkissen gefunden hatte, wurde sorgfältig verbrannt, und ohne einen Hinweis auf den Fall Armstrong lag keinerlei Grund vor, irgendeinen von den Reisenden zu verdächtigen. Man würde die Tat einem Un
bekannten zuschreiben, der von ›draußen‹ gekommen war, denn eine oder mehrere Personen im Zug sollten aussagen, sie hätten gesehen, daß der ›kleine, dunkle Mann mit der femini nen Stimme‹ in Brod ausgestiegen sei. Ich weiß nicht genau, was passierte, als die Verschwörer merkten, daß dieser Teil ihres Plans wegen des Schnees nicht mehr durchführbar war. Vermutlich fand eine hastige Beratung statt, und man beschloß, ungeachtet dieser Komplikationen, das Begonnene zu Ende zu führen. Es war klar, daß jetzt alle Passa giere in Verdacht geraten mußten, doch für diese Möglichkeit hatte man vorgesorgt. Man brauchte den Fall nur noch mehr zu verwirren. Zwei sogenannte Indizien wurden mir untergescho ben – eins, das Oberst Arbuthnot belastete, der über das stärks te Alibi verfügte und dessen Verbindung zu den Armstrongs am schwersten zu beweisen war. Das zweite war das Taschen tuch, das Prinzessin Dragomiroff belastete, die sich aber dank ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer zarten Konstitution und des durch ihre Kammerzofe und den Kondukteur bestätigten Alibis in einer unangreifbaren Stellung befand. Um die Angelegenheit noch mehr zu verdunkeln, wurde die mysteriöse Frau im roten Kimono ins Spiel gebracht, und wie der sollte ich bezeugen, daß es sie tatsächlich gab. Ein dumpfes Poltern gegen meine Tür. Ich springe aus dem Bett, schaue in den Gang hinaus – und sehe den roten Kimono gerade noch verschwinden. Außer mir sehen ihn noch ein paar sorgfältig ausgewählte Leute: der Kondukteur, Miss Debenham und MacQueen. Die eigentliche Besitzerin des roten Seidengewan des dürfte wohl die Gräfin Andrenyi sein, da ihr Gepäck nur ein Chiffonneglige enthält, das seinem ganzen Charakter nach eher ein Kaminkleid als ein Morgenrock ist.
Als MacQueen von mir erfuhr, daß ein Teil des sorgsam ver brannten Briefes der Vernichtung entgangen war. wird er die übrigen davon in Kenntnis gesetzt haben. In dieser Sekunde wurde die Lage der Gräfin Andrenyi heikel, und unverzüglich änderte ihr Gatte im Paß ihren Vornamen. Das war die zweite Panne, die passierte. Sie hatten sich geeinigt, jede – aber auch jede Verbindung mit der Familie Armstrong abzustreiten. Sie wußten, ich hatte an Ort und Stelle keine Möglichkeit, die Wahrheit zu ermitteln, und sie glaubten nicht, daß ich mich näher mit der Sache befas sen würde, wenn ich keinen bestimmten Verdacht hatte. Jetzt gab es noch einen anderen Punkt, der mich nachdenklich machte. Wenn meine Theorie des Verbrechens richtig war – und ich glaube, daß sie richtig sein muß –, dann gehörte offen bar auch der Schlafwagenkondukteur zu den Verschwörern. Aber dann waren es dreizehn – nicht zwölf. Oh, wie habe ich gegrübelt, bis ich endlich zu dem Schluß kam, daß diejenige sich nicht an dem Verbrechen beteiligt hatte, von der man eher das Gegenteil annehmen sollte. Ich meine die Gräfin Andrenyi. In meinem Ohr klang noch der feierliche Ernst, mit dem der Graf beschwor, seine Gattin habe ihr Abteil nicht verlassen. Aber Pierre Michel? Wie ließ sich seine Mittäterschaft erklä ren? Er war ein rechtschaffener Mann, der jahrelang im Dienst der Schlafwagengesellschaft stand – kein fragwürdiger Charak ter, der sich durch Bestechung kaufen ließ. Mithin mußte auch Pierre Michel irgendeine Verbindung zum Fall Armstrong ha ben. Aber welche? Da erinnerte ich mich des toten Kindermäd chens. War sie nicht Französin gewesen? War sie vielleicht Pi erre Michels Tochter? Das konnte die Erklärung für alles sein – sogar für den ungewöhnlichen Schauplatz des Verbrechens.
Gab es noch jemanden, dessen Rolle in dem Drama noch nicht klar umrissen war? Oberst Arbuthnot war meiner Meinung nach mit den Armstrongs eng befreundet gewesen. Ein Kriegs kamerad von Oberst Armstrong vermutlich. Die Zofe Hilde garde Schmidt? Ihre Stellung im Haushalt der unglücklichen Familie war unschwer zu erraten. Ich bin möglicherweise allzu sehr auf erstklassiges Essen versessen, aber ich erkenne eine gute Köchin instinktiv. Ich stellte Fräulein Schmidt eine Falle – sie tappte hinein. Ich sagte, ich sei überzeugt, sie sei eine ausge zeichnete Köchin, und sie antwortete: ›Ja, das bin ich, das haben mir alle meine Damen gesagt.‹ Und Hardman? Er schien tatsächlich nicht zum Armstrong schen Haushalt gehört zu haben. Doch ich konnte mir gut vor stellen, daß er mit dem französischen Mädchen verlobt gewe sen war. Ich sprach mit ihm über den Charme der Auslände rinnen – und wieder erzielte ich die Wirkung, die ich wollte. Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen. Natürlich behauptete er, der Schnee blende ihn so stark. Bleibt noch Mrs. Hubbard. Sie spielte die wichtigste Rolle in dem Drama. Da sie das Abteil neben Ratchett belegt hatte, war sie verdächtiger als alle anderen. Wie die Dinge lagen, hatte sie auch kein Alibi, auf das sie sich stützen konnte. Um ihre Rolle zu spielen – die der ein wenig lächerlich wirkenden, zärtlichen amerikanischen Mutter –, dazu bedurfte es einer Künstlerin. Doch im Armstrong-Kreis war ja auch die vorhanden: Mrs. Armstrongs Mutter – Linda Arden, die Schauspielerin…« Er schwieg. Und mit einer weichen Stimme von seltenem Wohlklang, die in nichts mehr der Stimme glich, die man auf der ganzen Reise von ihr gehört hatte, sagte Mrs. Hubbard: »Ich habe schon immer gern komische Rollen übernommen.«
Leise fuhr sie fort: »Der Fehler mit dem Schwammbeutel war unverzeihlich. Er beweist, daß man immer alles aufs gründlichste bedenken muß. Wir hatten die Szene auf der Hinfahrt geprobt, und da war ich in einem Abteil mit gerader Zahl. Ich hätte nie gedacht, daß die Riegel verschieden angebracht sein könnten.« Dann wechselte sie ihre Stellung ein wenig und sah Poirot freimütig an. »Sie wissen alles, Monsieur Poirot, bis in die kleinsten Einzel heiten. Sie sind ein erstaunlicher Mann! Doch selbst Sie können sich diesen – diesen furchtbaren Tag in New York nicht vorstel len. Ich war dem Wahnsinn nahe vor Schmerz. Die Dienstboten ebenfalls, und Oberst Arbuthnot litt mit uns. Er war John Arm strongs bester Freund.« »John hat mir im Krieg das Leben gerettet«, warf der Oberst ein. »Damals schon haben wir beschlossen – vielleicht tatsächlich irre vor Herzeleid –, daß das Todesurteil, dem Cassetti entron nen war, vollstreckt werden sollte. Wir waren zwölf – nein, eigentlich elf, da Suzannes Vater natürlich in Frankreich war. Ursprünglich dachten wir daran, den Vollstrecker durch das Los zu bestimmen. Doch dann entschieden wir uns für diesen Plan, den sich Antonio, der Chauffeur, ausgedacht hat. Mary arbeitete später mit Hector MacQueen die Einzelheiten aus. Er hatte meine Tochter Sonja stets verehrt, und er war es, der uns genau erklärte, wie Cassetti es mit Hilfe seines Geldes geschafft hatte, seinen Kopf zu retten. Es dauerte lange, bis unser Plan ausgereift und perfekt war. Zuerst galt es, Ratchett aufzuspüren, was Hardman gelang. Dann mußten wir versuchen, Masterman und Hector eine Stel lung bei dem Verbrecher zu verschaffen – oder zumindest ei
nem von ihnen. Auch das klappte. Anschließend hielten wir Rücksprache mit Suzannes Vater. Oberst Arbuthnot bestand darauf, daß wir zwölf sein müßten – das schien ihm mehr nach Recht und Gesetz. Ihm war auch die Waffe nicht sympathisch, die wir gewählt hatten, doch er fügte sich, weil es sonst noch mehr Schwierigkeiten gegeben hätte. Nun, Suzannes Vater war bereit. Suzanne war sein einziges Kind gewesen. Von Hector erfuhren wir, daß Ratchett früher oder später mit dem Orien texpreß aus dem Osten heimkehren werde. Da Pierre Michel in diesem Zug arbeitete, war die Chance zu gut, als daß wir sie hätten versäumen dürfen. Außerdem würden auf diese Weise keine Außenstehenden in die Sache hineingezogen. Den Mann meiner zweiten Tochter mußte ich selbstverständ lich einweihen, und er beharrte darauf, mit Helena auch diesen Zug zu nehmen. Hector wiederum wußte es so einzufädeln, daß Ratchett die Reise an dem Tag antrat, an dem Pierre Michel Dienst hatte. Wir beabsichtigten, jedes Abteil des Schlafwagens Istanbul-Calais zu belegen, doch unglücklicherweise war ein Abteil schon lange vorher für einen Direktor der Gesellschaft reserviert worden. ›Mr. Harris‹, der Reisende, der nicht er schien, war selbstverständlich eine Fabelfigur. Doch es wäre störend gewesen, wenn ein Fremder in Hectors Abteil einquar tiert worden wäre. Und dann, in allerletzter Minute, kamen Sie…« Sie holte tief Atem. »Nun«, sagte sie, »jetzt wissen Sie alles, Monsieur Poirot. Was haben Sie mit uns vor? Können Sie – wenn das Ganze ans Licht der Öffentlichkeit kommen muß – die Schuld dann nicht we nigstens auf mich laden, auf mich allein? Ich hätte dem Verbre cher gern zwölfmal den Dolch in die Brust gestoßen. Es ging ja nicht nur darum, daß er den Tod meiner Tochter, ihres Kindes
und des noch ungeborenen Kindes verschuldet hatte, das jetzt munter und glücklich sein könnte ~ nein, es ging uns um mehr als das. Vor Daisy hatte Ratchett andere Kinder entführt. Soll ten in Zukunft vielleicht noch mehr Menschen leiden? Die Ge sellschaft hatte ihn verurteilt; wir haben dieses Urteil nur voll streckt. Doch es ist unnötig, Monsieur Poirot, alle meine Helfer preiszugeben. All die guten, treuen Seelen – den armen Michel, Mary und Oberst Arbuthnot, die sich lieben.« Wie wunderbar ihre Stimme in dem kleinen Raum klang, in dem sich so viele Menschen drängten – diese tiefe, warme, herzbewegende Stimme, die ihr Publikum so oft zu Begeiste rungsstürmen hingerissen hatte. Poirot sah seinen Freund an. »Sie sind Direktor der Gesellschaft, M. Bouc. Was sagen Sie?« »Meiner Meinung nach, Monsieur Poirot«, erwiderte Bouc, nachdem er ein paarmal geschluckt und sich ausgiebig geräus pert hatte, »ist die erste Theorie, die Sie uns darlegten, die rich tige. Ganz bestimmt! Ich schlage vor, daß wir diese Lösung auch der jugoslawischen Polizei vortragen, sobald sie erscheint. Stimmen Sie mir zu, Doktor?« »Aber gewiß. Und was mein medizinisches Gutachten anbe langt… Hm – hm – ich fürchte fast, daß ich mich da zu ein paar phantastischen Vermutungen verstiegen habe.« »Sehr gut«, sagte Hercule Poirot vergnügt. »Dann habe ich, nachdem ich den Fall zur Zufriedenheit aller aufklären konnte, die Ehre, mich davon zurückzuziehen.«