Henning Hahn Moralische Selbstachtung
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Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
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Henning Hahn Moralische Selbstachtung
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Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Henning Hahn
Moralische Selbstachtung Zur Grundfigur einer sozialliberalen Gerechtigkeitstheorie
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Dissertation der Universität Hildesheim Disputation am 12. 02. 2007 Gutachter: Prof. Dr. Tilman Borsche, Prof. Dr. Volker Gerhardt, Prof. Dr. Stefan Gosepath
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020211-3 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: ⫹malsy, Willich
für Fingal
Vorwort In Verbindung mit den Ideen von Freiheit und Menschenwürde steht der Selbstachtungsbegriff im normativen Zentrum des politischen Liberalismus, der die dominierende Weltanschauung unserer Zeit darstellt. In weiten Teilen von Politik und politischer Philosophie herrscht heute ein Minimalkonsens darüber, dass die Freiheit und Selbstbestimmung individueller Personen einen unüberbietbaren Wert darstellt und dass dieser Wert mit bestimmten Grund- und Freiheitsrechten zusammenhängt. Mir ist kein ernstzunehmendes Argument bekannt, aus dem sich Gründe für die Aufkündigung dieses Minimalkonsenses ergeben. Entsprechend führt die gegenwärtige politische Philosophie eine ebenso vielstimmige wie kontroverse Debatte darüber, wie dieser formal gehaltene Konsens im Einzelnen verstanden und begründet werden kann. In diesem Zusammenhang werden in der Hauptsache zwei Fragen adressiert: unter welchen Voraussetzungen macht es, erstens, überhaupt einen Sinn, von einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Person zu sprechen, und wie kann, zweitens, der grundrechtliche Schutz ihrer Freiheit einerseits gerechtfertigt und andererseits eingegrenzt werden. Mittlerweile hat diese Debatte zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung des Liberalismus in seine libertären, neutralen, egalitären, kommunitaristischen, differenziert universalistischen oder auch perfektionistischen Strömungen geführt. Trotz scharfer Kontroversen vertreten Autoren unterschiedlicher Strömungen eine, wie ich es nennen werde, selbstachtungsfunktionale Begründungsstrategie; für diese Autoren ist eine gerechte Gesellschaft dadurch gekennzeichnet, dass in ihr jede Person ihre Selbstachtung aufrechterhalten kann. In dieser Begründungsfunktion bezeichnet das Selbstachtungskonzept primär ein rechtsgebundenes
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Vorwort
Selbstverhältnis; eine Person achtet sich selbst als selbstbestimmte Person, weil sie sich als Träger bestimmter Rechte versteht – und andersherum: indem sie sich selbst als Träger bestimmter Rechte versteht, kann sie sich selbst als eine selbstbestimmte Person konstituieren. In dieser technischen Definition des Selbstachtungskonzepts laufen die beiden Grundelemente des liberalen Minimalkonsenses – die Selbstbestimmung der Person und ihre Grund- und Freiheitsrechte – in einem wechselseitigen Begründungsverhältnis zusammen. Daher trägt eine Analyse des moralischen Selbstachtungsbegriffs dazu bei, den moralischen Kern einer liberalen Gerechtigkeitstheorie freizulegen. Dieses systematische Interesse leitet meine Textexegese in den Kapiteln 3-5 an. Darin werde ich insbesondere den Zusammenhang von Freiheit, Gerechtigkeit und moralischer Selbstachtung bei Kant und John Rawls rekonstruieren und diese Rekonstruktion zum Ausgangspunkt einer selbstachtungsfunktionalen Begründung moralischer Grundrechte nehmen. Zuvor nähere ich mich dem moralischen Selbstachtungskonzept, indem ich auf konkrete Fälle eingehe, die ich mir zu erklären und zu beurteilen vorgenommen habe. Ich bin davon überzeugt, dass moralphilosophische Theorien aus der Auseinandersetzung mit klar bestimmbaren Problemfällen hervorgehen und dass es deswegen aufschlussreich ist, von Anfang an explizit zu machen, für welche Problemkonstellation das Begriffsinstrumentarium einer Theorie entwickelt wird. Im ersten Kapitel gehe ich insbesondere auf die Frage ein, wie eine entrechtete Person ihre Selbstachtung aufrechterhalten kann. Diese Person kann im Wesentlichen auf zwei Strategien zurückgreifen. Zum einen kann sie eine nicht rechtsgebundene Form des Selbstwertgefühls ausbilden, indem sie sich etwa – wie im Beispiel des Onkel Tom – ihre innere Würde vor Gott bewahrt; zum anderen hat sie die Möglichkeit, ihre moralische Selbstachtung in universellen Rechten zu verankern. Beide Strategien eröffnen einen Ausweg in die innere Emigration, können aber auch zum politischen Widerstand führen. Ein kategorialer Unterschied besteht allerdings darin, dass der politische Widerstand nur dann gerechtfertigt ist, wenn er in einer rechtsgebundenen Selbstachtung begründet wird, nicht jedoch, wenn er sich allein
Vorwort
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aus religiösen oder anderen persönlichen Überzeugungen motiviert. Aus diesen Überlegungen wird im zweiten Kapitel der Grundriss einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie konstruiert, der aufgrund seiner programmatischen Knappheit einen unverstellten und damit zur Erwiderung anregenden Zugriff auf die gesamte Theorie bereitstellen soll. In der Entwicklung dieser Theorie habe ich von einer Vielzahl positiver Anregungen und kritischer Kommentare profitiert. Erst aufgrund dieser fortlaufenden Gespräche haben meine vereinzelten Argumentationslinien an Kontur gewinnen und schließlich in einer eigenständigen Theorie zusammenlaufen können. Dafür gebührt mein Dank einer Reihe von Personen und Institutionen, von denen ich hier zumindest die wichtigsten nennen möchte. Vor allem danke ich Volker Gerhardt für eine ganze Reihe wertvoller Anregungen und dafür, dass er mich zu einer systematischen Darstellungsweise ermutigt hat. Tilman Borsche danke ich für die Betreuung der Arbeit und Stefan Gosepath für viele freundlich gehaltene Korrekturen, von denen das Manuskript nachhaltig profitieren konnte. Hinzu kommt, dass ich zu unterschiedlichen Gelegenheiten einzelne Kapitel und Thesen dieser Arbeit zur Diskussion stellen durfte. Diesbezüglich habe ich insbesondere Jonathan Wolff zu danken, der mit mir die ersten Ideen und Exposés gemeinsam konzipiert hat. Mein großer Dank gilt auch dem Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar, Rüdiger SchmidtGrépály, der es ermöglicht hat, das Begründungsverhältnis von Selbstachtung und Anerkennung auf einem internationalen Symposium zu diskutieren. Weitere Diskussionsforen boten mir das Margot Möller-Meyer Promotionskolleg an der Universität Hildesheim, die Irmgard Coninx Foundation in Berlin und das Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover. Außerdem hatte ich das Glück, viele meiner Thesen und Argumente wiederholt auf Veranstaltungen der Studienstiftung des deutschen Volkes vorstellen zu dürfen, der ich auf diesem Weg meinen Dank für ihre großzügige materielle und ideelle Unterstützung ausspreche. Für die Bezuschussung der Druckkosten danke ich ferner der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geis-
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Vorwort
teswissenschaften. Und nicht zuletzt geht mein persönlicher Dank für freundschaftliche Gespräche, unverhohlene Kritik und wertvolle Korrekturarbeiten an Asmus Trautsch, Matthias Katzer, Anna Goppel, Christoph Broszies, Claus Langbehn, Dirk Jörke, Simon Sörensen, Jörn Reinhard und Fabian Dorsch. Berlin, im Mai 2007
Henning Hahn
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung .................. 1 1.1. Der Präzedenzfall Onkel Tom................................................. 1 1.2. Kampf um Selbstachtung ......................................................... 5 2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss ...............................................................................................14 2.1. Praktische Identitäten..............................................................14 2.2. Normative Kontexte ...............................................................18 2.3. Juridische, politische, kulturelle und ökonomische Grundrechte.................................................................................................24 2.4. Moralische Selbstvergewisserung ..........................................27 2.5. Auf dem Weg zu einer kontextsensiblen Gerechtigkeitstheorie......................................................................33 3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung....................................................................36 3.1. Praktische Selbstverhältnisse..................................................36 3.2. Zur Ethik der Selbstschätzung ..............................................40 3.3. Zur Moral der Selbstachtung .................................................52 3.3.1. Selbstachtung und moralische Selbstbestimmung......54 3.3.2. Das Paradox der Affizierbarkeit moralischer Selbstachtung ..............................................................................56 4. Selbstachtung und Selbstkonstitution...........................................66 4.1. Die normative Frage................................................................66 4.2. Das Schamgefühl der Vernunft: Immanuel Kant...............70 4.2.1. Selbstdisziplinierung und Selbstbilligung.....................71 4.2.2. Die Pflicht zur Selbstachtung ........................................79
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Inhaltsverzeichnis
4.2.3. Eleutheronomie ...............................................................84 4.3. Gründebedürftigkeit................................................................93
5. Gerechtigkeit aus Selbstachtung..................................................101 5.1. Politischer Liberalismus und Selbstachtung: John Rawls I...................................................................................101 5.2. Libertarismus und Selbstschätzung: Robert Nozick ...............................................................................112 5.3. Zur Rechtsgebundenheit moralischer Selbstachtung: John Rawls II .................................................................................119 5.4. Gerechtigkeit und Anstand: Avishai Margalit ...................128 6. Moralische Grundrechte ...............................................................136 6.1. Positive Handlungsfreiheit ...................................................136 6.2. Ökonomische Grundrechte .................................................141 6.3. Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit ..............146 6.4. Kulturelle Minderheiten- und Selbstbestimmungsrechte 155 6.5. Politische Partizipation .........................................................162 6.6. Moralische Grundlagen eines subsidiären Kosmopolitismus .....................................................165 Anmerkungen .....................................................................................171 Literaturverzeichnis............................................................................214 Namen- und Sachregister..................................................................228
1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung 1.1. Der Präzedenzfall Onkel Tom In ihrem Roman Onkel Toms Hütte erzählt Harriett Beecher-Stowe davon, was es für einen Menschen bedeutet, wie eine Sache behandelt und wie eine Ware verkauft zu werden.1 Von der Familie getrennt und der Willkür wechselnder Besitzer ausgesetzt, gelingt es Tom dennoch, sich eine innere Würde zu bewahren. Tom ist ein zutiefst religiöser Mensch. Er nimmt die Sklaverei als eine Prüfung, der er sich solange demutsvoll beugt, bis ihn der Tod von seinen irdischen Qualen befreien wird. Dieser Glaube an eine göttliche Gerechtigkeit nach dem Tode gibt ihm die Kraft, unter menschenverachtenden Bedingungen zu existieren und dabei sein Selbstwertgefühl und seine moralische Integrität aufrecht zu erhalten. Anders ausgedrückt ist es die eschatologische Verankerung seines Selbstwertgefühls, die ihn dazu befähigt, größtes Unrecht zu erdulden und dabei sogar noch das Leid anderer Sklaven auf sich zu nehmen. Als er Lucy, einer kränklichen Sklavin, trotz drohender Auspeitschung bei der Baumwollernte zur Hilfe kommt, versucht sie ihn zurückzuweisen: „Das sollst du nicht tun – du weißt nicht, was sie mit dir machen werden.“ Aber Tom bleibt stoisch: „Ich ertrage es schon“, antwortet er gelassen, „ich ertrage es besser als du“ (S. 228). Als Konsequenz wird Tom grausam zugerichtet. Cassy, eine mitleidige Sklavin und ehemalige Geliebte des grausamen Sklavenhalters, versorgt seine Wunden und versucht Tom von seiner unbeugsamen Haltung abzubringen: „Es hat keinen Zweck. Du bist tapfer, das Recht ist auf deiner Seite – aber was nützt dir das?
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1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung
Du bist dem Teufel in die Hände gefallen, und er ist stärker als du. Du musst nachgeben.“ (S. 232) Aber Tom widersteht der Verlockung, sich weniger um sein Seelenheil und mehr für sein irdisches Wohlergehen zu sorgen. Später wird ihn Cassy noch ein weiteres Mal in Versuchung führen, indem sie ihm die gewalttätige Flucht vorschlägt: „Tom – hättest Du gerne Deine Freiheit?“ (S. 251) fragt sie ihn und fordert ihn auf, ihren bestialischen Besitzer mit der Axt zu erschlagen. Doch Tom lehnt die Gelegenheit zur gewaltsamen Flucht ab. Er ist sich sicher, dass ihm Gott die Freiheit geben wird – spätestens nach seinem Tode. „Wir müssen“, erklärt er fromm, „leiden, unsere Zeit abwarten und unsere Feinde lieben! […] Wenn wir trotz allem leben und lieben können, muss der Sieg unser sein!“ (S. 251 f.) In diesen Auszügen wird deutlich, dass Harriett BeecherStowe die Sklaverei als Passionsgeschichte erzählt. Toms Leben ist eine imitatio christi. Er nimmt das Leiden der Armen auf sich, wird durch eine heilige Hure versucht, gegeißelt und hält doch an seinem Glauben und am Liebesgebot der Bergpredigt fest. Unerschütterlich glaubt er, dass der Tod das Tor zu einem Reich ewiger Gerechtigkeit öffnet. In dieser Dramaturgie führt Toms Leidensweg unausweichlich dem Martyrium entgegen. Er beteiligt sich nicht an der Flucht der Sklaven, verrät sie aber auch nicht und wird dafür brutal zu Tode geschlagen. Doch noch im Sterben sorgt er sich nicht um sich, sondern um das Seelenheil seiner Schänder: „Herr, nehmt die Sünde des Mordes nicht auf Euch!“ (S. 267), fleht er und raunt mit erlöschender Stimme: „Armer, elender Mensch! Ist das alles, was Du kannst?“ (S. 269) Mit seinem allerletzten Wort vergibt Tom seinen Mördern, die nun erst sein Martyrium erfassen und dadurch geläutert werden. Das politische Anliegen Beecher-Stowes gewinnt in der Gegenzeichnung von Toms heiliger Natur und der grausamen Tragik seines Schicksals an Dramatik. Insbesondere durch den scharfen Kontrast zwischen Demut und Demütigung gelingt es ihrem 1852 erschienenen Roman, das zutiefst Menschenverachtende der Sklaverei herauszuarbeiten und ihre mit der christologischen Symbolik vertrauten Leser für das Leiden afroamerikanischer Sklaven zu sensibilisieren. So konnte Toms literarisches Schicksal eine Welle der Empathie auslösen, die nicht unmaßgeblich zu
1.1. Der Präzedenzfall Onkel Tom
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einem politischen Bewusstseinswandel beigetragen hat. Onkel Tom, so können wir festhalten, ist eine der Symbolfiguren des Abolutionismus und der Emanzipation der Afroamerikaner im 19. Jahrhundert. In der Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt sich die Wahrnehmung Onkel Toms allerdings zu wandeln. In der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist er, wie Avishai Margalit feststellt, „zum negativen Symbol und zum lebendigen Beweis für den in der Bibel erwähnten Sklaven geworden, der ‚Ich liebe meinen Herrnȧ sagt und sich das Ohr durchbohren lässt.“2 Toms Demut wird ihm als Ergebenheit ausgelegt, seine Treue als Kollaboration und seine Religiosität als Opiat. Der Glaube lässt ihn zwar größte Ungerechtigkeiten ertragen, aber er nimmt ihm auch das politische Bewusstsein. Tom erregt Mitleid, vielleicht Bewunderung, aber er ist kein politischer Revolutionär, der sich aktiv gegen das Unrecht stellt, und auch kein politischer Reformer, der sich für eine Verbesserung politischer Rahmenbedingungen engagiert. Seine eschatologische Hoffnung auf Gerechtigkeit ist ganz auf ein Reich gerichtet, das nicht von dieser Welt ist. Von Rechten zu sprechen, die ihm als Menschen zustehen, macht für ihn nur Sinn im Kontext göttlicher Gerechtigkeit. Genau dagegen richtet sich die Kritik aus Teilen der Bürgerrechtsbewegung. Der Kontext der Gerechtigkeit, auf den sich ihre Forderung nach Gleichberechtigung bezieht, ist politisch und nicht religiös.3 Das positive Selbstwertgefühl des Bürgers ist an die Überzeugung gekoppelt, dass ihm die gleichen Grund-, Freiheits- und Partizipationsrechte zustehen. Wem diese Rechte vorenthalten werden, kann sich nicht in Erwartung eines jenseitigen Gerichtshofs aus dem politischen Leben zurückziehen, sondern ist moralisch aufgefordert, für das eigene Recht und entsprechende politische Reformen zu kämpfen. Tom hingegen hat überhaupt keinen Begriff davon entwickelt, was es heißt, politische Rechte zu besitzen und sich dafür einzusetzen.4 Seine Strategie, die Sklaverei ‚auszusitzenȧ, gilt der Bürgerrechtsbewegung daher als das Sinnbild eines falschen politischen Bewusstseins, das sich in der Duldung des Unrechts als dessen Komplize erweist. Ein ‚Onkel Tomȧ wird fortan zum Ausdruck für eine Person, die Un-
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1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung
gerechtigkeit und Entrechtung einfach hinnimmt, ohne sich über sie zu entrüsten oder zu empören.5 Wenn Tom anstelle eines berechtigten Grolls nur Demut verspürt, dann stellt dies in der Sicht der Bürgerrechtsbewegung eine Perversion seiner moralischen Gefühle dar. Was bei einer Person, die sich nicht über Ungerechtigkeiten empört, falsch zu laufen scheint, ist, dass sie sich nicht genügend mit ihrer politischen Existenz identifiziert. Insbesondere fehlt es ihr am Bewusstsein, ein Recht auf bestimmte Grund- und Freiheitsrechte zu haben, so wie sie auch kein Pflichtbewusstsein dafür entwickelt hat, sich für diese Rechte einzusetzen. Mit anderen Worten, Onkel Tom ist zum Sinnbild „für einen guten Menschen geworden, dem es an Selbstachtung gebricht“ (PW, S. 53), dem es am Bewusstsein unveräußerlicher politischer Rechte mangelt und der insofern keine rechtsgebundene Selbstachtung aufbauen konnte. Über keine in diesem Sinne rechtsgebundene Selbstachtung zu verfügen, ist für die Bürgerrechtsbewegung ein, wenn nicht der moralische Kardinalfehler. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich der Selbstachtungsbegriff zu einem ihrer Leitbegriffe entwickelt, der dann verstärkt Eingang in die Idiome von Politik und normativer Theorie gefunden hat.6 Der Anspruch auf religiöse, ethnische und sexuelle Emanzipation wird seither ebenso an den Selbstachtungsbegriff geknüpft wie die Forderung nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit. Teils unterschwellig, teils expressis verbis wird der Selbstachtungsbegriff als umfassendes Kriterium der Gerechtigkeit eingeführt. Eine Gesellschaft gilt demnach als gerecht, wenn sie die Rahmenbedingungen bereitstellt, unter denen jeder Bürger ein auf seine moralische Selbstachtung gegründetes Selbstwertgefühl entwickeln kann. Zu diesen Rahmenbedingungen zählt oft nicht nur die Garantie fundamentaler Grund- und Freiheitsrechte, sondern ebenso eine sozialpolitisch gesteuerte Güterverteilung sowie die identitätspolitisch gesicherte Gleichstellung von Minderheiten und minderprivilegierten Gruppen. Diese weitreichenden Forderungen einer am Selbstachtungsbegriff verankerten Gerechtigkeitstheorie werden in der gegenwärtigen politischen Theorie ausgiebig reflektiert und bilden den Gegenstand dieser Studie.
1.2. Kampf um Selbstachtung
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Zum Einstieg in die damit verbundenen Problemstellungen verdeutlicht der Fall Onkel Toms auf exemplarische Weise, worin der Wert einer rechtsgebundenen Selbstachtung liegt und warum sie sich als Leitnorm einer politischen Gerechtigkeitstheorie anbietet. Zunächst ist Selbstachtung ein moralisches Gefühl, das spezifische Pflichten gegen sich selbst begründet. Eine Person ist es sich selbst schuldig, sich im Einklang mit ihren moralischen Überzeugungen zu verhalten. Die Vorstellung, die viele liberale Autoren und Bürgerrechtler dem Begriff der Selbstachtung beigelegt haben, ist nun die, dass es nicht hinreicht, an den eigenen moralischen Überzeugungen festzuhalten, wenn es nicht gleichzeitig möglich ist, sie als allgemeine Rechte zu verstehen. Es lässt sich hier bereits absehen, wie eng dieses Konzept einer rechtsgebundenen Selbstachtung mit einem bestimmten Verständnis von Gerechtigkeit verknüpft ist. Die moralische Selbstachtung einer Person beruht diesem engen Verständnis zufolge auf dem Bewusstsein, bestimmte Grund- und Freiheitsrechte beanspruchen zu können, ganz gleich ob diese auch positiv kodifiziert oder lediglich durch moralische Gefühle sanktioniert sind. Der Bürgerrechtsbewegung erscheint Tom deswegen als eine Person, die keine moralische Selbstachtung hat. Eine andere Figur wird dagegen zu ihrem Vorbild: der Dissident, für den es eine unmittelbare Angelegenheit seiner Selbstachtung ist, sich gegen politisches Unrecht zur Wehr zu setzen.1
1.2. Kampf um Selbstachtung Der Literat und spätere tschechische Präsident Václav Havel ist in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit als politischer Dissident bekannt geworden. 1978, ein Jahr nach seiner Inhaftierung, erscheint ein Essay, in dem Havel sein Dissidententum rechtfertigt.2 Das Wesen totalitärer Systeme liegt Havels Analyse zufolge im „Prinzip der gesellschaftlichen Autototalität“, der vollständigen Durchdringung des alltäglichen Lebens durch politische Machtstrukturen. In einem totalitären Regime nimmt jede Form der Artikulation die Bedeutung eines
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1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung
politischen Statements an und gerade in dieser totalen Politisierung des Alltags liegt ein äußerst effektives Kontrollinstrument. Entweder ein Bürger bestätigt permanent, mit jedem Blick und mit jeder Betonung, seine Loyalität oder er riskiert, ausgegrenzt zu werden. Jede noch so beiläufige Handlung drückt entweder Kollaboration oder Widerstand aus. Jede Geste wirkt entweder subversiv oder konformistisch.3 Dazwischen gibt es für den Bürger einer totalitären Gesellschaft keine Alternative. Die Entgrenzung totalitärer Machtstrukturen wird durch die latente Bereitschaft aller Personen ermöglicht, in der, wie Havel es ausdrückt, Lüge zu leben.4 Das Leben in Lüge besteht nicht darin, dass man die Identifikation mit dem totalitären System seiner moralischen Identität, seiner Sehnsucht nach menschlicher Würde und moralischer Integrität, einfach vorzieht. „Es geht“, stellt Havel heraus, „schon lange nicht mehr um einen Konflikt zweier Identitäten. Es geht um etwas viel Schlimmeres – um die Krise der Identität selbst“. Der Wirkmechanismus totalitärer Regimes vernichtet die Individualität des Einzelnen, dessen Leben vollständig von heteronomen Verhaltenskodizes dominiert wird. Gegen diese Entfremdung stellt Havel seinen Versuch, in der Wahrheit zu leben. Dieses ‚Leben in Wahrheitȧ ist vor allem durch den Versuch gekennzeichnet, das eigene Selbst zurückzugewinnen und sich wieder mit seiner ‚authentischen Existenzȧ zu versöhnen. „Als existentielle Lösung“, so Havel, „bringt es den Menschen auf den festen Grund seiner eigenen Identität zurück“.5 In einem posttotalitären System wird der Versuch, in Wahrheit zu leben, automatisch zum Politikum. Die Befreiung von der Autototalität gesellschaftlicher Machtstrukturen bedeutet die politische Stigmatisierung, der Preis für die Rückkehr zu sich selbst ist das Dissidententum. Der Dissident wird als Staatsfeind betrachtet, weil sein Leben in Wahrheit ein gesellschaftliches Gegenmodell manifestiert und so neben der existentiellen zugleich eine, wie Havel es ausdrückt, noetische und vor allem auch eine politische Bedeutung gewinnt.6 In seiner noetischen Dimension entlarvt das Leben in Wahrheit die Verlogenheit des posttotalitären Systems, weil es mit einer authentischen Seinsweise konfrontiert wird und sich in dieser Konfrontation, so Havels Hoffnung, die fragile Autorität des Unrechtsregimes und seine Entfremdungsmechanis-
1.2. Kampf um Selbstachtung
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men offenbaren. Für unseren Argumentationsgang ist es aber zweitrangig, ob Havel die politischen Einflussmöglichkeiten des Dissidenten angemessen einschätzt. Entscheidend ist vielmehr, dass ein Dissident, wie Havel selbst einräumt, ein politisches „Vabanquespiel“ eingeht, das sich auszahlen kann oder auch nicht.7 Die Entscheidung zum Dissidententum folgt keinem weitergehenden Nutzenkalkül, sondern einzig und allein dem Impuls, die eigene Identität verteidigen zu wollen: „Das ‚Leben in Wahrheitȧ“ ist für Havel der Versuch, „wieder die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen“, und dies ist „ein deutlich moralischer Akt“.8 Was Havel hier zu beschreiben versucht, ist die paradigmatische Szene moralischer Selbstbestimmung. Um seine Identität aufrechtzuerhalten, handelt der Dissident gegen sein scheinbar fundamentalstes Interesse – seine Selbsterhaltung. Sein leitendes Motiv ist die Sicherung seiner moralischen Integrität oder, wie Kant zuspitzend ausdrückt, seine „moralische Selbsterhaltung“.9 Zunächst ist es aber weiter erläuterungsbedürftig, warum einem scheinbar so extremen Fall in der Kasuistik moralischen Handelns wie dem Dissidententum eine exemplarische Bedeutung für die Konstruktion einer normativen Theorie beigemessen werden soll und inwiefern moralische Selbstachtung und Dissidententum bzw. – etwas weiter gefasst – politischer Widerstand zusammenhängen. Der Akt des politischen Widerstands lässt uns eine moralische Handlung in Reinkultur betrachten, weil der Dissident weder aus einem bloßen Nutzenkalkül handelt noch dazu bereit ist, sein Selbstbild an der etablierten Anerkennungskulisse auszurichten. Vielmehr geht er eine reflektierte Distanz zur öffentlichen Anerkennung ein, indem er die Gesellschaft und sich selbst aus der Idee einer gerechten Gesellschaft heraus beurteilt. Es ist unbestreitbar, dass sich der politische Dissident diese Idee nur in kommunikativen Handlungen aneignen kann und immer darauf angewiesen bleibt, von anderen in diesen Ideen bestärkt zu werden; den Grund dafür, dass er dieses Ideal in sein Selbstbild aufnimmt, muss er aber letztendlich mit sich selbst ausmachen. Keine humanistische Kultur, kein Gespräch mit Freunden und keine Lektüre aufklärender Autoren kann es einer Person abnehmen, sich selbst von moralischen Grundsätzen bestimmen lassen zu wollen.10
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1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung
Auch wenn Havel den Begriff der Selbstachtung nicht gebraucht, entspricht es der inzwischen geläufigen Nomenklatur zu sagen, dass der Dissident auf nichts als seine moralische Selbstachtung zurückgeworfen ist. Um dies zu veranschaulichen, bietet es sich an, Havels Dissidententum als einen Präzedenzfall zu begreifen, in dem eine Person um die Aufrechterhaltung ihrer Selbstachtung kämpft. Wir haben keinen Anlass, die Rekonstruktion dieses Falls noch detaillierter zu betreiben. Das totalitäre Herrschaftsmodell ist uns vertraut, ebenso Fälle des politischen Widerstands. Worauf uns die einsame und gefährliche Entscheidung des Dissidenten exemplarisch verweist, ist der überragende Wert, den die moralische Integrität für eine Person annehmen kann. Ich vertrete die Überzeugung, dass sich dieser überragende Wert mit dem Selbstachtungskonzept viel plausibler erklären lässt als mit den Mitteln konsequentialistischer oder anerkennungstheoretischer Modelle. Auch wenn jeder Akt des politischen Widerstands mit der Hoffnung auf ein besseres Leben oder dem Kampf um Anerkennung beschrieben werden kann, kommen wir zu einem Punkt, an dem es sich mit den Mitteln dieser Theorien kaum noch nachvollziehbar machen lässt, was eine Person dazu antreibt, ihre anerkannte Existenz aufs Spiel zu setzen und notfalls sogar ihr eigenes Leben für ihre politischen Ziele zu opfern. Zum Konsequentialismus können wir dabei alle Theorien zählen, die Handlungen unter dem Aspekt der Präferenzbefriedigung oder der Glücksmaximierung als richtig oder falsch klassifizieren. Diesen Theorien gelingt es schon deswegen nicht – oder zumindest nicht ohne die Konstruktion aufwendiger Hilfshypothesen –, das Risiko des Dissidenten zu erklären, weil es ihnen in der Regel als eine irrationale oder zumindest supererogatorische Strategie erscheint, sein physisches Selbst zu riskieren.11 Demgegenüber stehen wir vor der Herausforderung, einen Begriff praktischer Vernunft zu bilden, nach dem es begründet sein kann, dass eine Person ihr Leben aufs Spiel setzt und die sozialen Bindungen gefährdet, die ihr Leben geschützt und stabilisiert haben. Meine und auch Havels Antwort auf diese Herausforderung liegt darin, nachvollziehbar zu machen, dass die Bewahrung der moralischen Selbstachtung für eine Person wichtiger werden kann als
1.2. Kampf um Selbstachtung
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jedes andere Motiv – in extremis wichtiger als ihre körperliche Selbsterhaltung. Während Fälle von Selbstaufopferung jedem konsequentialistischen Modell Probleme bereiten, müssen wir die Anerkennungstheorie – und müssten wir weitere Modelle der Sozialethik und der Ethik des Anderen – differenzierter betrachten. Dazu können wir sie in eine schwächere und eine stärkere Begründungsvariante unterteilen.12 Unter ihrer schwächeren, dafür aber unserer Alltagspsychologie allzu vertrauten Variante verstehe ich die sozialdeterministische These, dass das Wertebewusstsein einer Person unhintergehbar von ihrem sozialen Umfeld geprägt wird.13 Eine begründungstheoretische Akzentverschiebung von Anerkennung auf Selbstachtung ist unmittelbar darin begründet, dass dieses sozialdeterministische Bild zu kurz greift. Wenn wir die komplizierte Geschichte beider Begriffe, ihre Verschränkung in der Kantischen respektive Hegelianischen Begründungstradition sowie ihre jeweilige Funktion in diesen Theoriezusammenhängen erst einmal vernachlässigen, dann begegnen uns bereits im Alltagsverständnis der beiden Begriffe zwei sich signifikant unterscheidende Strukturmerkmale.14 Der Anerkennungsbegriff bezeichnet ein affirmatives Verhältnis zwischen zwei Entitäten, in der Regel zwischen einer Person und einem Sachverhalt, dessen Gültigkeit anerkannt wird, oder zwischen zwei Personen, die sich wechselseitig in ihrem Selbstbewusstsein bestätigen. Wenn jede Art der Selbstvergewisserung über einen kommunikativen Akt der Anerkennung verläuft, dann gehen die Person, ihre Selbstinterpretation und ihr Selbstbewusstsein vollständig in der sozialen Anerkennungsstruktur auf. Das Selbst versteht sich selbst ausschließlich als ein von anderen anerkanntes Selbst. Aber auch die anderen Personen kommen nur als Knotenpunkte in einem allumfassenden Kommunikationsnetz vor. Die sozialdeterministische Variante der Anerkennungstheorie zieht daraus den Schluss, dass sich eine Person streng genommen überhaupt nicht selbständig beurteilen kann. In dieser Beschreibung wird aber eine sehr zentrale Frage gar nicht oder nur ungenügend beantwortet, nämlich die Frage danach, wer wen für was anerkennen sollte. Eine deskriptiv verfahrende Sozialtheorie kann nichts darüber aussagen, warum sich eine Per-
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1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung
son nur ganz bestimmte Anerkennungsangebote zu Eigen machen soll. In einer Gesellschaft, die wie in dem beschriebenen Fall durch die Autototalität gesellschaftlicher Machtstrukturen gekennzeichnet ist, stehen die Anerkennungsverhältnisse unter der Kontrolle des totalitären Regimes. Wenn nun die Formation moralischer Überzeugungen allein an die intersubjektive Anerkennung gebunden wäre, käme es einer Person gar nicht in den Sinn, gegen die totalitäre Indoktrination des Regimes zu rebellieren. Sie wäre nicht einmal in der Lage, das Regime überhaupt als Unrechtsregime zu erkennen, da ihr keine zweite, unabhängige Perspektive auf die öffentliche Anerkennungskulisse zur Verfügung stünde. Die genuine Frage der Moral lautet dabei nicht, wie sie sich de facto entscheidet, sondern ob sie dazu fähig ist, das Regime trotz der totalen ideologischen Infiltration der Öffentlichkeit und der Furcht vor Sanktionen als Unrechtsregime selbständig zu beurteilen. Zur Verteidigung einer sozialdeterministischen Theorie ließe sich darauf verweisen, dass die erfolgreich praktizierte Herrschaftstechnik des Totalitarismus ja gerade darin besteht, ein – eben totales – Anerkennungsmonopol zu installieren und damit die notwendige intersubjektive Bestätigung für alternative Handlungen und Urteile zu vereiteln. Das Phänomen des politischen Widerstands erklärte sich dann eben aus den Defiziten des totalitären Annerkennungsmonopols, aus der Existenz einer subversiven Gegenöffentlichkeit, der Propaganda anderer Staaten, der Organisation von Widerstandszellen, der Kontinuität religiöser Praktiken, der Verbreitung humanistischen Gedankenguts, etc. Dieser Einwand besagt, dass der Dissident zwar nicht zwischen einerseits sozial etablierten und andererseits objektiv richtigen Normen wählt, dafür aber zwischen zwei alternativen Weltanschauungen, die unterschiedlichen sozialen Anerkennungsordnungen gehorchen. Dieser Einwand ist insofern berechtigt, als die Bildung und Verifikation eines politischen Urteils grundsätzlich auf ein affirmatives Gegenüber angewiesen ist. Aber auch wenn es prinzipiell immer möglich ist, das Selbstverständnis des Dissidenten als ein Resultat intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse zu beschreiben, gibt uns unsere (unumstrittene) Bezogenheit auf die Anerkennung durch den Anderen noch überhaupt keine Erklärung dafür, aus welchen Gründen sich eine Person ausgerechnet
1.2. Kampf um Selbstachtung
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für eine ihre eigene Existenz gefährdende Form der Anerkennung entscheidet. Diese Entscheidung erfolgt im Fall des politischen Widerstands offensichtlich aufgrund einer existentiellen und genuin moralischen Entscheidung. Gegenüber der Anerkennungstheorie akzentuiert die Theorie der Selbstachtung, dass wir uns immer schon als autonome bzw. moralisch selbstbestimmte Personen verstehen. Sich selbst zu achten setzt eine moralische Selbstreflexion voraus, in der sich, grammatisch gesprochen, ein subjektives Selbst auf sein objektives Selbst bezieht. Das objektive Moment des Selbst wird in der Theorie der Anerkennung ausführlich analysiert: es ist das Selbst, das sich in anerkannten Rollen realisiert, das erfolgreich in die öffentliche Kommunikation eingetreten ist und das sich unter sozialen Bedingungen verwirklicht. Wir können es in Anlehnung an Charles Taylor das soziale Selbst nennen.15 Während die Anerkennungstheorie das Selbst wesentlich über dieses soziale Moment definiert, legt das Selbstachtungskonzept den Akzent auf die dem sozialen Kontext vorgängigen – oder zumindest einer eigenen Gesetzmäßigkeit folgenden – Gründe des Selbst. Das in diesem Sinne autonome Selbst beurteilt sich selbst in seinen Objektivierungen danach, ob es ein Leben nach seinen eigenen Gründen führen kann. Es achtet sich aber nur für solche Objektivierungen, die es aufgrund allgemein gerechtfertigter Grundsätze eingegangen ist oder die es – noch näher an einer Kantischen Interpretation formuliert – als Ausdruck seines vernünftigen Willens verstehen kann. Festzuhalten bleibt daher, dass die Theorie der Selbstachtung an einer Idee der Autonomie des Selbst festhält. Allerdings würde es die Plausibilität unserer Theorie verringern, wenn wir die Autonomie des Selbst einfach voraussetzten, ohne ihre soziale Einbettung weiter zu analysieren. Wie der systematische Teil zeigen wird, trägt die stärkere Variante der Anerkennungstheorie selbst dazu bei, dem Begriff der Autonomie einen nachvollziehbaren Sinn abzugewinnen. Der methodische Vorteil, über ein solches Konzept zu verfügen, liegt aber bereits jetzt auf der Hand. Das autonome Selbst kann selbstbestimmt beurteilen, wann es moralisch richtig ist, sich eine bestimmte Form der Anerkennung zu Eigen zu machen. Das an die Idee moralischer Autonomie ge-
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1. Einleitung: Zur Kasuistik moralischer Selbstachtung
knüpfte Selbstachtungskonzept hat somit den Vorzug, eine überparteiliche Urteilsfähigkeit gegenüber faktischen Anerkennungsverhältnissen zu begründen, und eignet sich so in besonderer Weise, das Paradigma des moralischen Handelns, den politischen Widerstand, zu erklären. Abschließend können wir nun den strukturellen Zusammenhang zwischen politischem Widerstand und moralischer Selbstachtung klarer hervortreten lassen. Um überhaupt den Dissidenten vom Terroristen unterscheiden zu können, müssen wir ihm die Fähigkeit zurechnen, eine politische Ordnung objektiv als gerecht oder ungerecht zu beurteilen. Ich behaupte, dass jede vernünftige Person über diese Fähigkeit verfügt und in der Lage ist, politische Normen aus der Perspektive einer gerechten Ordnung heraus zu beurteilen. Es ist diese Fähigkeit, die einer Person die begründete Gewissheit gibt, herrschenden Meinungen und Normen gegenüber im Recht zu sein.16 Im Folgenden argumentiere ich dafür, dass jede sich in diesem moralischen Sinne selbst achtende Person ihre praktische Identität auf einer moralischen Verfassung gründet, die es ihr ermöglicht, die Legitimität normativer Kontexte selbständig zu bewerten. Zur Veranschaulichung dieses Grundgedankens dient ein immer wieder hervorgeholtes Fragment George Herbert Meads, in dem er den Zusammenhang von moralischer Selbstachtung, politischem Widerstand und der Behauptung der eigenen Identität auf den Punkt bringt: A man has to keep his self-respect, and it may be that he has to fly in the face of the whole community in preserving this self-respect. But he does that from the point of view of what he considers a higher and better society than that which exists. Both of these are essential to moral conduct: that there should be a social organisation and that the individual should maintain himself. The method for taking into account all of these interests which make up society on the one hand and the individual on the other is the method of morality.17
Auch Mead konstruiert den politischen Widerstand als Paradigma moralischen Handelns, weil in ihm die beiden Elemente solcher Handlungen – einerseits der Kampf um die eigene Selbstachtung und andererseits die objektive Rechtfertigung durch die Idee einer gerechten Gesellschaft – am deutlichsten hervortreten. An dieser Stelle ist es aber erst einmal wichtig festzuhalten, dass die-
1.2. Kampf um Selbstachtung
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ser Gedanke nicht für eine Theorie des politischen Widerstands, sondern für eine liberale Gerechtigkeitstheorie fruchtbar gemacht werden soll. Der Fall des Dissidenten dient ausschließlich als Brennglas auf eine Person, die ihre moralische Identität gegen eine totalitäre Anerkennungskulisse und gegen die Androhung massiver rechtlicher Sanktionen behaupten will. Aber auch wenn sich das Phänomen moralischer Selbstbestimmung am Dissidenten besonders gut veranschaulichen lässt, geht es darum, allgemein zu zeigen, dass eine sich selbst achtende Person einen Grund hat, ihre praktische Identität gegenüber normativen Kontexten zu behaupten und dass sie dazu die allgemein begründete Vorstellung einer gerechten Gesellschaft entwickeln muss.
2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss 2.1. Praktische Identitäten Die beiden Fallbeispiele sollten veranschaulichen, dass die moralische Selbstachtung einen normativen Fluchtpunkt markiert, an dem sich eine ganze Gerechtigkeitstheorie ausrichten lässt. Als Prototyp einer selbstachtungsfunktional begründeten Gerechtigkeitstheorie kann John Rawls’ A Theory of Justice gelten (s. 5.).1 Daran anschließende Gerechtigkeitstheorien haben Selbstachtung als einen fundamentalen Wert eingeführt, der den heuristischen Vorteil mit sich führt, für heterogenste Vorstellungen vom guten Leben offen zu sein, und der sich daher als Grundwert multikultureller oder pluralistischer Gesellschaften eignet.2 Meine Analyse wird diesen Theorien nachweisen, dass sie sich über ihre normative Ausrichtung am Selbstachtungskonzept für eine sehr weitgehende Gleichheitsvorstellung öffnen. Mit Bezug auf die ‚Equalityof-What?-Debatteȧ heißt dies, dass sich begründungsfähige Gleichheitsforderungen im Wesentlichen als Ansprüche auf die gleiche Versorgung mit den sozialen Grundlagen der Selbstachtung stellen.3 Selbstachtung fungiert sozusagen als die ‚ultimative Ressourceȧ, auf die jeder Bürger gleichermaßen ein Anrecht hat.4 Und in der ‚Why-Equality?-Debatteȧ argumentiert dieser Ansatz mit dem fundamentalen Interesse, das jede Person an der Ausbildung und Aufrechterhaltung ihrer Selbstachtung nimmt. In Grundzügen geht es in dieser Untersuchung also darum, die selbstachtungsfunktionale Begründungslinie liberaler Gerechtigkeitsmodelle zu verteidigen und dabei ihre perfektionistischen Implikationen und egalitären Konsequenzen zu verdeutlichen. In Hinfüh-
2.1. Praktische Identitäten
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rung auf die exegetischen Kapitel, in denen der genaue Zusammenhang von moralischer Selbstachtung und einem sozialliberalen Grundrechtsverständnis hervortreten wird, soll hier in den Begriff der praktischen Identität eingeführt werden.5 Die praktische Identität einer Person bezeichnet ein normatives Selbstverhältnis. Das bedeutet, dass die Gesamtheit aller sozialen Praktiken, die eine Person als integralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit versteht, mit spezifischen Verpflichtungen korrespondiert. Über die Identifikation mit der Praxis einer partnerschaftlichen Beziehung verpflichtet sie sich beispielsweise zur Treue, zur Fürsorge und zu einer Reihe weiterer Verhaltensregeln. Kurz, sie ist über ihre praktische(n) Identität(en) in einem Netz von Verhaltensregeln eingesponnen, deren Einhaltung von allen an der jeweiligen sozialen Praxis beteiligten Personen eingefordert wird. Die Rede von einer praktischen Identität erhält dadurch einen deutlich normativen Sinn. Eine Person, die sich mit bestimmten sozialen Praktiken identifiziert, muss auch zugleich mit den diesen Praktiken inhärenten Normen einverstanden sein. Das subjektive Moment in diesem Identifikationsprozess wird durch die Vorstellung bestimmt, welche Person sie sein will. Ich nenne diese Vorstellung in Anlehnung an Ernst Tugendhat ihr eigenes „So-SeinWollen“.6 Aufgrund ihres So-Sein-Wollens identifiziert sich eine Person mit einem Bündel sozialer Praktiken, in dem einige Praktiken besonders wichtig für ihr eigenes Selbstverständnis sind, andere weniger wichtig und viele soziale Praktiken gar keine Rolle spielen. Eine Person, die für ein Fußballspiel nur noch Tickets im gegnerischen Fanblock ergattern konnte, wird dort zwar mit Nachdruck zu bestimmten Verhaltensformen aufgefordert (zum Mitsingen oder zum Applaudieren), sie fühlt sich aber in keiner Weise dazu verpflichtet, weil sie sich eben nicht als einen Anhänger dieses Teams betrachtet. Und selbst wenn sie Tickets im Fanblock ihres eigenen Teams besäße, könnte es natürlich sein, dass sie das Spiel ausfallen lässt und stattdessen zu einer anderen Veranstaltung, wie etwa zu einer Familienfeier, geht, die für ihr eigenes Selbstverständnis wichtiger ist und zu deren Teilnahme sie sich eher verpflichtet fühlt. Aufgrund einer zunächst ganz persönlichen Rangordnung entsteht aus der Identifikation mit einer Praxis ein Verpflichtungsgrund und aus einer anderen nicht.
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
Die Rede von der praktischen Identität einer Person meint also die voluntative Bejahung bestimmter sozialer Praktiken, durch die sich eine Person auch zugleich mit den diese Praktiken korrespondierenden Normen identifiziert. In diesem Zusammenhang werde ich davon sprechen, dass das So-Sein-Wollen einer Person ihre normative Verfassung bestimmt, womit ich die Gesamtheit aller Normen bezeichne, gegenüber denen sich eine Person verpflichtet fühlt. Ihre normative Verfassung versetzt eine Person aber nicht nur in die Lage, die Relevanz einzelner Normen für sich zu beurteilen. In Form ihrer spezifisch moralischen Verfassung ist sie auch dazu fähig, den Rechtsgrund dieser Normen selbständig zu prüfen. Mit dieser Fähigkeit hängt auch mein Gebrauch des Personenbegriffs zusammen. Eine Person ist ein Selbst, das potentiell in der Lage ist, sich eine ihrem eigenen So-Sein-Wollen entsprechende normative Verfassung zu geben. Diese Definition schließt an einen mit dem Begriff der Autonomie bzw. der Selbstgesetzgebung verbundenen Personenkonzept Kantischer Provenienz an. Gegenüber dieser Tradition akzentuiert die Rede von der praktischen Identität allerdings die Gelingensbedingungen, unter denen eine Person ihre potentielle Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung realisiert. Dazu muss sie vor allem in der Lage sein, ihr So-SeinWollen auf das vorhandene Angebot sozialer Praktiken einzustellen und ihre normative Verfassung mit den normativen Kontexten abzustimmen, in denen ihre Selbstverwirklichung eingeschränkt wird. Als Beispiel, das in dieser Diskussion zum festen Topos geworden ist, können wir uns eine Person vorstellen, die sich selbst als Violinespieler versteht, der es aber an jeglichem Talent dazu mangelt und die dazu noch in einer Gesellschaft lebt, in der das Violinespielen als eine Todsünde gilt. Das Beispiel macht deutlich, dass es in der Regel irrational ist, wenn eine Person ihr So-Sein-Wollen und die damit korrespondierende normative Verfassung unabhängig von ihrer Selbst- und Welterkenntnis festlegt. Trotzdem ist es sinnvoll, von der Autonomie einer Person zu sprechen. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der Begriff der Person vor allem zur Abgrenzung dient. Eine Person stellt eine eigenständige und einzigartige Einheit dar, die sich aufgrund ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit bzw. aufgrund ihres Charakters von anderen Personen unterscheidet. Kurz, eine Person
2.1. Praktische Identitäten
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versteht sich selbst als ein Individuum, als ein von der Welt separiertes Ganzes. Ihr Selbst- und Weltbild orientiert sich an ihrer eigentümlichen normativen Verfassung; diese ist aber nicht unbedingt deckungsgleich mit den gesellschaftlichen Normen. Deswegen ist es für eine Person solange klug, ihre normative Verfassung mit den objektiv geltenden Normen in Einklang zu bringen, solange es ihr gelingt, ihre eigenständige Einheit unter diesen Normen zu bewahren und in ihnen zugleich ihre Individualität auszudrücken. Wenn ein totalitäres System das Netz geltender Normen aber so eng zieht, dass eine Person gezwungen ist, sich konformistisch zu verhalten, bleibt von ihrem So-Sein-Wollen nur noch ein ‚SoSein-Müssenȧ übrig. Es ist dieser drohende Verlust der Selbstbestimmung, auf den Václav Havel hinweist, wenn er davon spricht, dass totalitäre Systeme die Identität insgesamt gefährden. Jede einzelne Norm, die, wie das Verbot des Violinespielens, soziale Praktiken auf eine ungerechtfertigte Weise einschränkt, erhebt einen bloß heteronomen Geltungsanspruch; das heißt, dass eine Person aus sich heraus keinen Grund dazu hat, ihre normative Verfassung auf eine solche Norm abzustimmen – zumindest hat sie dazu keinen positiven Grund, denn ihre Furcht vor Sanktionen ist zwar in gewisser Hinsicht ein Grund, aber keiner, der direkt mit ihrem So-Sein-Wollen im Zusammenhang steht. Unter dem Druck solcher Normen steht die Person vor der Alternative, ihr Selbstverständnis als eine autonome Person zu verteidigen oder die Verwirklichung ihrer praktischen Identität insgesamt preiszugeben und sich gegenüber ihrem So-Sein-Wollen zu entfremden. Ich habe im vorangehenden Abschnitt angedeutet, dass eine intakte Selbstachtung die Voraussetzung dafür bildet, dass eine Person ihr eigenes So-Sein-Wollen ernst nimmt, und ich werde im folgenden Abschnitt zu zeigen versuchen, dass eine sich in heteronomen normativen Kontexten realisierende Person nur dadurch ihre Autonomie bewahren kann, dass sie sich moralisch konstituiert. Damit ist gemeint, dass sie ihre normative Verfassung universell rechtfertigt. Es ist diese alle normativen Kontexte überschreitende Bedeutung der moralischen Identität einer Person, die für unsere Untersuchung zum Zusammenhang von Selbstachtung
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
und praktischer Identität ausschlaggebend sein wird. Die Frage, die diesbezüglich in den Vordergrund rückt, lautet, wie sich Personen selbst, das heißt unabhängig von ihrer sozialen Einbettung, bestimmen können. Der Begriff der moralischen Identität verweist auf die Möglichkeit, objektiv zu prüfen, ob eine Norm gerechtfertigt ist oder nicht. Durch diese Prüfung vergewissert sich eine Person aber nicht nur, dass sie im Recht oder Unrecht ist. In der moralischen Selbstvergewisserung erfährt sie sich zugleich als eine der normativen Welt gegenüberstehende Einheit.
2.2. Normative Kontexte Es geht in diesem Abschnitt zunächst darum, das Verständnis der praktischen Identität weiter zu vertiefen und auf eine Besonderheit der moralischen Identität vorzubereiten. Dazu werde ich an einen Theorieteil Rainer Forsts anknüpfen, in dem er vier Kontexte menschlichen Zusammenlebens unterscheidet und zeigt, dass diese Kontexte umfassende normative Ordnungen generieren, unter denen sich jeweils spezifische Aspekte unserer praktischen Identität ausbilden.1 Forsts hilfreicher Einteilung zufolge lassen sich in der Hauptsache ethische, rechtliche, politische und moralische Kontexte nennen, die wir noch durch einen spezifisch ökonomischen Kontext ergänzen werden. Qua ethischer Person fühlen wir uns ethischen bzw. kulturell geteilten Werten und Sitten verpflichtet, qua rechtlicher Person dem Recht, qua moralischer Person dem moralischen Grundgesetz bzw. einer moralischen Verfassung und qua politischer Person den spezifischen Normen, durch die unsere Beteiligung an der öffentlichen Willens- und Meinungsbildung geregelt wird. In einer kurzen Diskussion dieser Kontexte praktischer Identität werde ich die fundamentale Bedeutung der moralischen Identität für alle Kontexte hervorheben und verdeutlichen, dass die moralische Identität kontextübergreifend an der Ausbildung einer praktischen Identität beteiligt ist. In Hinsicht auf ihre praktische Identität ist es entscheidend, dass eine Person eine feste Vorstellung davon hat, wer sie sein will. Dafür, dass ihr eigenes So-Sein-Wollen es auch wert ist, reali-
2.2. Normative Kontexte
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siert zu werden, erfährt sie je nach Kontext eine spezifische Form der Bestätigung. Dementsprechend entwickelt eine Person auch kontextrelationale Formen des Selbstwertgefühls. Sich qua Rechtsperson als wertvoll zu empfinden, hat beispielsweise damit zu tun, dass eine Person mit bestimmten Grund- und Freiheitsrechten ausgestattet ist, während sich ihr Wert als Staatsbürger nicht nur an ihren Bürgerrechten bemisst, sondern beispielsweise auch daran, dass sie für ihr bürgerliches Engagement öffentlich geehrt wird. Ich werde daher der sich immer weiter durchsetzenden Sprachregelung folgen und den Selbstachtungsbegriff für den enggefassten moralischen Kontext reservieren, während ich die Formen des Selbstwertgefühls, die eine Person für ihre ethische, rechtliche und politische Identität empfindet, als Formen der Selbstschätzung bezeichne.2 Beginnen wir mit der Diskussion der ethischen Identität einer Person, die ich mit Bezug auf die entsprechenden Debatten auch ihre kulturelle Identität nennen werde. In dem an Forst orientierten Begriffsgebrauch umfasst der ethische Bezugsrahmen die historisch und kulturell geteilten Werte, Sitten und Lebensformen einer Gemeinschaft, in die jedes ihrer Mitglieder hineinwächst und in der es sich selbst als eine ethische Person konstituiert, dass heißt ein Welt- und Selbstbild entwickelt, das maßgeblich von ihrer sittlichen Gemeinschaft geprägt ist.3 Die spezifisch ethische bzw. kulturelle Selbstschätzung dieser Person rührt daher, dass sie die normativen Standards ihrer Kultur erfüllt und dafür als ein wertvolles Mitglied ihrer Gemeinschaft anerkannt wird. Es ist dieser kulturelle Kontext, den die kommunitaristische Moralpsychologie zu einseitig gewichtet, wenn sie dazu neigt, das Selbstwertgefühl einer Person vollständig in ihrer kulturellen Selbstschätzung aufgehen zu lassen. Demgegenüber ist es angemessener, die kulturelle Selbstschätzung als ein normatives Selbstverhältnis neben weiteren kontextspezifischen Selbstverhältnissen zu analysieren. In diesem spezifischen Selbstverhältnis hat eine Person die kulturellen Werte in ihre normative Verfassung hinein genommen und identifiziert sich mit ihnen soweit, dass ihre Selbstschätzung eng mit der Wertschätzung ihrer Gemeinschaft korreliert ist und dass sich ihre praktische Identität an den Identitätsvorgaben und Rollenmodellen ihrer Kultur orientiert.
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
Zumindest in Hinsicht auf pluralistische Gesellschaften ist eine Reduktion der praktischen Identität auf ein kulturell geprägtes Selbstverständnis unbefriedigend, weil in ihnen die kommunitaristische Voraussetzung intakter Wertegemeinschaften und stabil tradierter Identitätsmodelle schlicht nicht gegeben ist. In einer funktional und kulturell ausdifferenzierten Gesellschaft gewähren ethische Identitäten keine ausreichende Orientierung, so dass ein in diesem Sinne reduktionistischer Kommunitarismus auf einen theoretisch schwachen Wertekonservativismus hinauszulaufen droht. Aber auch gegenüber differenzierteren Modellen, in denen in irgendeiner Weise der Kontext der ethischen Identität verabsolutiert wird, lässt sich einwenden, dass diese den Kern der Frage nach der praktischen Identität verfehlen, da der Begriff der Identität, wie beschrieben, eine Erklärung für das Phänomen anbieten muss, aus welchen Gründen Personen bereit sind, sich mit bestimmten kulturellen Praktiken zu identifizieren, und warum sie ihre Identität unter Umständen unabhängig von den geltenden kulturellen Praktiken und ihren Normen bestimmen. In Abgrenzung zur ethischen Person führt Forst das Selbstverständnis ein, eine Rechtsperson zu sein.4 Im Rechtskontext oder, wie ich ihn häufiger bezeichnen werde, im juridischen Kontext wird die Person als Träger von Rechten bzw. als Rechtssubjekt konzeptionalisiert. Die normative Rechtsordnung wird über das Gesetz geschützt, das einen spezifischen Sanktionsapparat mit sich führt, durch den Normenübertritte nicht nur kulturell geächtet, sondern strafrechtlich verfolgt werden. Auf der anderen Seite haben Gesetze die Funktion, alle Rechtspersonen gegen Übergriffe in ihre Freiheit zu schützen und ihnen einen gleichberechtigten Status zu garantieren. Das Selbstwertgefühl einer Rechtsperson hängt von eben diesem Rechtsstatus ab, da sie als Rechtssubjekt eine kontinuierliche Anerkennung ihrer Grund- und Freiheitsrechte erfährt und daraus ein stabiles Selbstverhältnis entwickeln kann, das ich in Abgrenzung zur kulturellen Selbstschätzung ihre juridische Selbstschätzung nenne. Aber auch der juridische Kontext stellt die praktische Identität auf eine sozialpsychologische und somit letztlich kontingente Erfahrung. Das Selbstverständnis einer Rechtsperson hängt von ihrer faktischen Anerkennung im positiven Recht ab. Abermals
2.2. Normative Kontexte
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führt uns das Beispiel der Selbstbehauptung im Unrechtsregime vor Augen, dass der juridische Kontext nicht hinreicht, um die praktische Identität einer Person zu schützen. Das geltende oder positive Recht ist zunächst nichts weiter als eine historische Einrichtung, die pervertiert oder vorenthalten werden kann. Entscheidend für unsere Argumentation ist jedoch, dass man sich bereits als autonome Person konstituiert haben muss, um die (moralische) Legitimität einer Rechtspraxis zu beurteilen. Für eine Person, die sich nicht bereits einer moralischen Selbstdisziplin unterzogen hat, erscheint das Recht notwendig als ein externer Zwang, der ihre Willkürfreiheit empfindlich beschneidet. Sich mit diesem externen Zwang zu identifizieren, ist für eine Person nur unter der Voraussetzung sinnvoll, dass sie in ihrem eigenen SoSein-Wollen mit den Normen übereinstimmt, zu denen sie rechtlich verpflichtet wird. Darum ist in der Rede von einer rechtlichen Identität immer schon vorausgesetzt, dass sich die Person gegenüber einer internen normativen Verfassung verpflichtet versteht bzw. dass sie über eine rechtsförmige Selbstachtung verfügt. Unter einer analogen Voraussetzung steht auch Forsts dritter identitätsstiftender Kontext, in dem sich eine Person als politische Person respektive als Staatsbürger konstituiert.5 Der politische Kontext meint hier im engeren Sinne eine normative Ordnung, in der die Teilnahme am öffentlichen Willensbildungsprozess geregelt wird. In diesem Kontext gewinnt eine Person ihre praktische Identität daraus, dass sie an politischen Entscheidungsprozessen partizipiert und sich als Teil der Zivilgesellschaft versteht. Das spezifische Selbstwertgefühl des Bürgers wird daraus gespeist, dass er Verantwortung für den Zustand der politischen Kultur übernimmt und über zivilgesellschaftliche Einrichtungen, wie Vereine, Kirchengemeinden, Parteien oder NGOs, in die politische Öffentlichkeit hineinwirkt. Auch wenn der politische Kontext nicht immer trennscharf vom juridischen Kontext zu unterscheiden ist, lässt sich die spezifische Differenz an ihren jeweiligen Sanktionsapparaten verdeutlichen. Denn während der juridische Kontext mit strafrechtlichen Sanktionen droht, wird der Zutritt zur Öffentlichkeit über ein System von Scham und Wertschätzung reguliert. Die politische Selbstschätzung eines Bürgers resultiert aus den Ehrbekundungen seiner Mitbürger, durch die er sich als einen
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
vollständig anerkannten Teilnehmer an der bürgerlichen Gesellschaft ansehen kann. Zielpunkt seines Engagements ist die Stärkung substantieller Partizipations- und Bürgerrechte und darin insbesondere die Durchsetzung der Gleichberechtigung, die Ausweitung politischer Mitbestimmung und die Überwindung jeglicher Diskriminierung. Das übergeordnete Kriterium für einen gerecht eingerichteten politischen Kontext lautet daher, dass sich keine Person schämen muss, in die Öffentlichkeit zu treten.6 Aber auch die politische Identität setzt bereits die Konstitution der moralischen Person voraus, deren So-Sein-Wollen darauf geht, in alle normativen Restriktionen von sich aus einwilligen zu können. Wenn die normative Verfassung eines Bürgers mit bestimmten Partizipations- und Bürgerrechten korrespondiert und er ein öffentliches Leben ohne Scham führen will, dann beurteilt er den politischen Kontext bereits aus einer genuin moralischen Verfassung heraus. Der Unterschied ist nur, dass sich die moralische Identität nicht auf die Bürger eines Staates und ihre Bürgerrechte beschränkt, sondern die Menschheit als ganze und das Menschenrecht zum Gegenstand ihrer normativen Verfassung hat. Wichtiger noch ist aber der Unterschied, dass das Schamgefühl und die Selbstschätzung der politischen Person konstitutiv von der Ehrbekundung ihrer Mitbürger abhängt, während die moralische Selbstachtung einer Person auf ihrer autonomen moralischen Verfassung beruht. In dieser hier in aller Kürze vorgetragenen Diskussion normativer Selbstverhältnisse im ethischen, rechtlichen und politischen Kontext vertrete ich die These, dass diese Kontexte bereits den moralischen Kontext voraussetzen, der eine Art Metakontext für das Problem der praktischen Identität darstellt.7 So hilfreich Forsts Unterscheidung in die verschiedenen normativen Kontexte ist, um unterschiedliche Perspektiven auf das Selbst voneinander abzugrenzen, so darf doch nicht übersehen werden, dass wir mit dem Begriff der praktischen Identität einer Person nach einer Einheit aller praktischen Identitäten über alle Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens hinweg suchen. Ein kontextsensibles Erklärungsmodell kann die Einheit der Person nicht ausreichend beschreiben und muss durch eine Erklärung ergänzt werden, wie sich eine Person aufgrund unabhängiger Kriterien zu den kontext-
2.2. Normative Kontexte
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spezifischen Normen verhalten kann. Dieses Vermögen, Normen nach einheitlichen Kriterien zu beurteilen, resultiert, so meine These, aus der übergeordneten moralischen Verfassung der Person. Ich betrachte also die moralische Identität als eine kontextübergreifende wie notwendige Voraussetzung dafür, um überhaupt eine praktische Identität zu entwickeln. Die moralische Identität einer Person besteht in der Identität zwischen einem spezifisch moralischen So-Sein-Wollen und der objektiven Verwirklichung dieses Willens in einem selbstbestimmten Leben. Einführend wurde gezeigt, dass jedes So-Sein-Wollen mit einer selbstauferlegten normativen Verfassung zusammenhängt und dass eine Person nur solche Normen als gerechtfertigt ansieht, die sie auch aufgrund ihrer eigenen normativen Verfassung vertreten kann. Übertragen wir diese Definition auf die moralische Identität, dann ist das So-Sein-Wollen einer Person dadurch bestimmt, dass sie sich als selbstbestimmte Person und ihre moralische Verfassung als ihre eigene bzw. selbstgegebene Verfassung verstehen können will. Nur weil die moralische Person einen eigenständigen Standpunkt gegenüber externen Normen einnimmt, konstituiert sie sich überhaupt als eine Person, als ein eigenständiges bzw. autonomes Selbst. Das moralische So-Sein-Wollen bezieht sich also in einem ersten Schritt nicht darauf, eine auf irgendeine Weise altruistisch motivierte Person zu sein, sondern darauf, überhaupt jemand zu sein, und zwar jemand, der einen eigenen Standpunkt vertritt und sein Leben selbst bestimmt. Das entsprechende normative Selbstverhältnis legt den Akzent auf die Selbstachtung, auf die Achtung vor der eigenen Selbstbestimmung und dem Respekt davor, ein Zweck an sich selbst zu sein. Um einer Person eine praktische Identität zuzuschreiben, müssen wir ihr bereits unterstellen, dass sie sich als eine autonome Person konstituiert hat, die sich mit ihrem eigenen Leben identifiziert. Wenn es in der moralischen Selbstkonstitution zunächst nur darum geht, jemand zu sein und ein eigenes Leben zu führen, was sind dann die spezifisch moralischen Praktiken, in denen sie ihr moralisches Selbstverständnis realisiert? Die Antwort führt uns zu einer Besonderheit in der Bestimmung der moralischen Identität. Sie lautet: Es gibt keinen spezifisch moralischen Kontext – jeden-
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
falls keinen, in dem sich eine moralische Person verwirklichen kann. Deswegen kommt es zwischen der moralischen Identität einer Person und anderen Formen ihrer praktischen Identität zu einer Überlagerung normativer Strukturen, die ich im Folgenden als Normeninterferenz bezeichnen werde. Die moralische Person muss sich in Kontexten realisieren, die anders gelagerten Normen gehorchen und unter denen ethische, rechtliche, politische und ökonomische Normen nur die umfassendsten Kontexte bezeichnen.
2.3. Juridische, politische, kulturelle und ökonomische Grundrechte Aus dem Selbstverständnis, eine selbstbestimmte Person zu sein, erwächst eine spezifisch moralische Verfassung, die sich im Grunde auf das einfache Prinzip beschränkt, seine Eigenständigkeit abzusichern. In anderem Wortlaut gebietet dasselbe Prinzip, dass man sich selbst achten soll – nämlich als Zweck an sich selbst bzw. als eigenständige Person. Dieses einfache Prinzip gibt jeder Person einen Grund, sich ein unabhängiges Urteil über die moralische Berechtigung derjenigen normativen Kontexte zu bilden, in denen sie ihr Leben verwirklicht. Das Gebot, sich als autonome Person zu achten, nimmt für jeden normativen Kontext eine andere Bedeutung an, so dass dieses einfache Grundgesetz der moralischen Verfassung in kontextspezifische Grundrechte umformuliert werden muss. Im kulturellen Kontext nimmt das Autonomiegebot zum Beispiel die Bedeutung an, dass sich eine Person nur denjenigen ethischen bzw. kulturellen Praktiken gegenüber verpflichtet fühlen sollte, die sie in ihrem eigenen SoSein-Wollen autorisiert hat. Wer aus seinem subjektiven Selbstverständnis keinen Grund hat, sich beschneiden zu lassen, Fleisch zu essen, den Gottesdienst zu besuchen oder einen Schleier zu tragen, erfährt eine entsprechende Norm als fremdbestimmt und gibt ihr nur auf Kosten seiner eigenen Selbstachtung nach. Offensichtlich führt es aber viel zu weit, in diesem Fall von einer Gefährdung der ganzen Identität zu sprechen, weil dies be-
2.3. Juridische, politische, kulturelle und ökonomische Grundrechte
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deutete, dass Selbstachtung und praktische Identität einer Person von einer einzigen sozialen Praxis abhingen. Im ethischen Kontext ist es auch dann noch nicht hinreichend, von einer Gefährdung der gesamten Identität zu sprechen, wenn eine Person ein ganzes Bündel sozialer Praktiken, die für ihr kulturelles Selbstverständnis besonders wichtig sind, den kulturellen Normen einer Gesellschaft anpassen muss. Solch eine oft langwierig verlaufende und als schmerzlich erfahrene Kontextanpassung – wie im Beispiel kulturell entwurzelter Emigranten – entfremdet eine Person zwar von ihrer ursprünglichen kulturellen Identität, zwingt sie aber keinesfalls zur Preisgabe ihrer Identität als solcher, da sie aus dem vorgelagerten Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auch Gründe für einen kontextsensiblen Umbau ihrer kulturellen Identität generieren kann und darin ihre moralische Selbstachtung aufrecht erhält. Unsere kulturelle Identität umgibt uns weder wie eine natürliche Haut noch wie ein Kleid, das sich beliebig wechseln lässt. Aus Gründen der Selbst- und Wertevergewisserung sind wir auf ein Leben in kulturellen Gemeinschaften angewiesen, ohne deren Halt wir genauso wenig existieren können wie ohne eine alltägliche Orientierung an kulturell codierten Umgangsformen und Verhaltensweisen. Es ist deswegen die angemessenere Metapher, wenn wir von der kulturellen Identität als einer zweiten Haut sprechen. Im Laufe ihres Lebens ist es einer Person möglich und unter Umständen sogar zuzumuten, ihre kulturelle Identität auf neue kulturelle Kontexte einzustellen – solange ihre ‚kulturelle Häutung’ nicht den Kern ihrer Identität betrifft. Einer Person muss es möglich sein, ihre Autonomie auch in der Assimilation zu bewahren, das heißt, sie muss einen eigenen Grund haben, ihre kulturelle Identität zu ändern. Dazu muss ihr prinzipiell die Option offen stehen, zwischen alternativen kulturellen Identitäten diejenige wählen zu können, die sie aus Gründen ihres eigenen So-SeinWollens vorzieht. Mit anderen Worten, sie muss ihre kulturelle Mitgliedschaft frei wählen können, und das impliziert, dass ihr als Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft eine echte Ausstiegsoption (exit option) offen stehen muss.1 Ohne die prinzipielle Möglichkeit, eine Wertegemeinschaft zugunsten einer anderen zu verlassen, kommt die Assimilation einer Art Zwangskonvertierung
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
gleich und gefährdet die Selbstachtung und die Identität einer Person.2 Wir sehen, wie die moralische Identität, obwohl sie keinen eigenen Realisierungskontext hat, den kulturell normierten Kontext mit ihrem eigenen Grundgesetz überformt und einen Rechtsanspruch auf kulturelle Freizügigkeit begründet. Wie ich bereits in Anlehnung an Rainer Forst angedeutet habe, verlagert sich dieser Anspruch im politischen Kontext zur Hauptsache auf die Gewährleistung substantieller Partizipationsrechte (s. 6.5.). Diesbezüglich sind vor allem die Durchsetzung der Gleichberechtigung, die Ausweitung politischer Mitbestimmung und die Überwindung jeglicher Diskriminierung zu nennen. Diese Grundrechte sind notwendig, um am politischen Leben teilzunehmen und dieses öffentliche Leben ohne Scham führen zu können.3 Ganz analog verhält es sich im juridischen Kontext, in dem eine sich selbst achtende Person ihre Autonomie als Rechtsperson realisieren will. Das moralische Autonomiegebot nimmt in diesem normativen Kontext vor allem die Bedeutung grundlegender Gleichheits- und Freiheitsrechte an, in denen sichergestellt ist, dass sich eine Person gleichberechtigt verwirklichen kann. Selbstverständlich bilden diese drei normativen Kontexte nicht die einzigen Kontexte, in denen eine moralische Person ihre Autonomie und Selbstachtung aufrechtzuerhalten hat. Damit zumindest die umfassendsten normativen Kontexte berücksichtigt werden, sollten wir den ökonomischen Kontext mit in die Argumentation hineinnehmen. Offenkundig überzieht der ökonomische Kontext unsere Lebenswelt mit Normen, die auf eine empfindliche Weise in die Autonomie von Personen eingreifen. Deswegen läßt sich an wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen besonders gut nachvollziehen, wie heteronome Normen die Selbstbestimmung einer Person einschränken und wie Normenverletzungen zu existenzbedrohenden Sanktionen führen können. Eine moralische Ausrichtung dieser Normen liefe auf spezifisch ökonomische Grundrechte hinaus, sich entwürdigenden Arbeitsbedingungen verweigern zu dürfen und prinzipiell zwischen alternativen Arbeitskarrieren wählen zu können (s. 6.3.). Die in diesem Kontext relevante Austrittsoption aus der ökonomischen Abhängigkeit setzte darüber hinaus die Garantie eines minimalen Le-
2.4. Moralische Selbstvergewisserung
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bensstandards sowie weitere rechtliche wie bildungspolitische Maßnahmen zur Subsistenzbefähigung voraus (s. 6.2.). In Grundzügen liegt damit eine Theorie vor, die zeigt, wie aus dem moralischen Grundgesetz, seine eigene Autonomie zu achten, eine moralische Verfassung hervorgeht, die auf alle normativen Kontexte übergreift. Allerdings haben wir es angesichts dieser Normeninterferenz lediglich mit moralisch begründeten Forderungen gegenüber den relevanten normativen Kontexten zu tun, und es bleibt zu klären, wie diese moralischen Forderungen mit einer (moralischen) Gerechtigkeitstheorie zusammenhängen. Eine weiterführende Antwort haben wir auch auf die Frage gewonnen, wie eine Person ihre auf Autonomie beruhende Selbstachtung bewahren kann, wenn ihre moralischen Appelle nicht auf die entsprechende Resonanz innerhalb der einzelnen normativen Kontexte stoßen. Solange die normativen Kontexte die moralischen Grundrechte der Person ignorieren, wird sie sich nicht in einem im vollen Sinne selbstbestimmten Leben verwirklichen können. In diesem Fall bezieht sich die moralische Identität einer Person nicht auf eine Identität zwischen ihrem subjektiven So-SeinWollen und ihrem objektiven Leben, sondern auf die Identität zwischen ihrem subjektiven So-Sein-Wollen und ihrer subjektiven (aber objektiv begründeten) moralischen Verfassung. Wie der Fall des Dissidenten veranschaulicht hat, kann eine moralische Person auch um den Preis rechtlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Sanktionen an ihrem moralischen Selbstverständnis festhalten und sich ihre moralische Identität als eine autonome Person bewahren.1
2.4. Moralische Selbstvergewisserung Das moralische Grundgesetz, sich selbst als autonome Person zu achten, ist in der Auseinandersetzung mit den einzelnen normativen Kontexten zu einer ganzen Verfassung ausgewachsen, an der eine Person ihre moralische Identität festmachen kann. Zusammenfassend beinhaltet diese Verfassung in der Hauptsache vier Arten von Grundrechten. Das juridische Grundrecht besagt, dass jede Person die Freiheit genießt, ihre eigenen Lebensziele zu verfolgen,
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
und ein Anrecht darauf hat, gegenüber ungerechtfertigtem Zwang geschützt zu werden. Gemäß dem politischen Grundrecht hat jede Person ein Recht auf eine gleichberechtigte Partizipation am öffentlichen Leben und dem kulturellen Grundrecht zufolge gilt, dass jede Person ein Recht auf die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft hat und die Freizügigkeit genießt, diese Gemeinschaft zu verlassen. Schließlich ist im ökonomischen Grundrecht verankert, dass jede Person das Recht auf einen minimalen Lebensstandard und insbesondere auf eine Ausbildung hat, die sie zu einem selbständigen Leben befähigt.2 Für jedes dieser juridischen, politischen, kulturellen und ökonomischen Grundrechte gibt es einschlägige Formulierungen, Kodifizierungen und weitere Präzisierungen, die zum Abschluss ausführlicher diskutiert werden (s. 6.2.-6.5.). Für den Argumentationsgang ist es aber erst einmal entscheidend zu beantworten, warum aus dem moralischen Anliegen, die eigene Autonomie zu sichern, eine Forderung nach Rechten entsteht, die für jede Person gelten. Denn zunächst rechtfertigt die Sorge um die eigene Selbstachtung nur diejenigen Normen, die die eigene Autonomie absichern. Für die eigene Autonomie ist es völlig irrelevant, ob sie in Form allgemeiner Rechte oder als persönliches Privileg geschützt wird. Wir müssen darum noch einen Grund dafür angeben, warum eine Person ihr Autonomieinteresse überhaupt in der Sprache von Rechten ausdrückt. In unserer Reduktion der moralischen Identität auf die Autonomie fehlt noch das Scharnier, warum beispielsweise auch ein in einem Apartheidsregime privilegierter Bürger moralisch motiviert sein soll, politische und juridische Grundrechte auf jeden Bürger zu übertragen. Das folgende Theoriestück verbindet deswegen den moralischen Anspruch an sich selbst, eine autonome Person zu sein, mit einer Begründung dieser juridischen, politischen, kulturellen und ökonomischen Grundrechte. Meine These ist, dass die rechtsförmige Universalität der moralischen Selbstvergewisserung direkt auf die Struktur umfassender Normen reagiert. Während ich bislang vornehmlich Normeninterferenzen von Seiten moralischer Ansprüche beschrieben habe, ist es wichtig zu betonen, wie tief normative Ordnungen in das Leben und Selbstverständnis von Personen eingelassen sind. Als Normen bezeichne ich generell interpersonal sanktionierte
2.4. Moralische Selbstvergewisserung
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Regeln, die das Verhalten einer Person bestimmen. In einem ‚vollen sozialen Lebenȧ, das im Gegensatz zur unfreiwilligen und nur zeitweilig aufrechtzuerhaltenden Isolation des Dissidenten steht, identifiziert sich eine Person zwangsläufig mit sozialen Praktiken aller Art und verstrickt sich in einem komplexen Gewebe wechselseitiger Pflichten, deren externer Verpflichtungsgrund sich direkt aus der entsprechenden Sanktion ergibt. Als Beispiel aus dem Kontext kultureller Normen kann dafür der Dresscode dienen, der eine dem Anlass oder dem Status angemessene Garderobe vorschreibt und mit spezifischen Sanktionen verbunden ist, die vom Anstarren bis zur gesellschaftlichen Ächtung und rechtlichen Verfolgung reichen können. Um in derartige normative Ordnungen einzugreifen, ist es wenig hilfreich, auf eine persönliche Ausnahmeregelung zu insistieren, wie etwa in unserem Beispiel zu sagen, dass man die restriktiven Sanktionen eines Dresscodes für andere akzeptiert, sich selbst aber aus Gründen der Autonomie nach eigenem Belieben zu kleiden wünscht. Die interpersonale Sanktionsmaschinerie normativer Kontexte richtet sich nicht nach einzelnen Wünschen, sondern durchdringt alle am jeweiligen Kontext beteiligten Personen. Darum nimmt der persönliche Wunsch nach Autonomie notwendig die Form an, die allgemeine und für alle Beteiligten geltende Struktur sozialer Normen umzucodieren. Aus dem subjektiven Autonomieanspruch kann eine allgemeine Forderung werden, eine Norm zu ändern, und diese allgemeine Forderung kann nur dann auf allgemeine Unterstützung rechnen, wenn sie den Autonomiewunsch jeder betroffenen Person respektiert. Zu sagen, dass alle beteiligten Personen einen Grund haben, einer Normgeltung oder auch einer Normänderung zuzustimmen, ist gleichbedeutend damit zu sagen, dass man ein moralisches Recht darauf hat, dass die betreffende Norm gilt oder geändert wird. An dieser Stelle erhält die Rede von der moralischen Verfassung einen tieferen Sinn. Das der moralischen Identität zugrundeliegende So-Sein-Wollen ist auf den eigenen Wunsch festgelegt, eine autonome Person zu sein. Aber die Übertragung in eine moralische Verfassung verallgemeinert diese Perspektive. Hier fordert eine Person keine Ausnahmeregelung, die nur ihre eigene Autonomie berücksichtigt, sondern ein Recht, das die Autonomie jeder beteiligten Person schützt.
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
Die Rechtsförmigkeit, die der moralische Anspruch auf Autonomie annimmt, ist zugleich ein wesentlicher Bestandteil der universalistischen Rechtfertigung dieser Ansprüche, da es sich um Rechtsansprüche handelt, mit denen jede Person, die das fundamentale Interesse teilt, ein eigenes Leben zu leben, rationalerweise einverstanden sein muss. Um diesen letzten Schritt von der Allgemeinheit moralischer Rechtsansprüche zur Universalität nachzuvollziehen, muss noch gezeigt werden, warum der Geltungsbereich moralischer Rechte auf alle Menschen gleichermaßen Anwendung findet (s. dazu auch 4.4 und 4.5.). Der Apartheidsanhänger kann durchaus allen bislang entwickelten moralischen Grundrechten zustimmen; er schränkt die Klasse der in Frage kommenden Rechtssubjekte lediglich auf eine bestimmte Gruppe ein, die er über ihre Rassenzugehörigkeit, ihren Status, ihr Geschlecht, ihren Glauben oder ähnliche Merkmale definiert. Welchen Grund hat er also, jedem Menschen diese Grundrechte zuzubilligen? Diese Frage berührt die entscheidende Stelle in der Begründung einer universalistischen Moralphilosophie (s. 3.3.1.). Es ist diese Stelle, die in meiner Argumentation und in Teilen der gegenwärtigen Gerechtigkeitstheorie durch das Selbstachtungskonzept besetzt wird. Ich habe Selbstachtung als eine Form des Selbstwertgefühls eingeführt, das eine Person für ihre moralische Autonomie empfindet. Diesbezüglich wurde das So-SeinWollen einer moralischen Person primär als ihr Interesse an einem autonomen Leben beschrieben. Dieses Interesse generiert Gründe sui generis, die es einer Person ermöglichen, einen eigenen Standpunkt gegenüber ihren normativen Einbindungen einzunehmen und Rechtsansprüche zu formulieren, die sich inhaltlich immer in Relation zum jeweiligen normativen Kontext bestimmen. Gegenüber dem ökonomischen Kontext äußert sich der Autonomiewunsch beispielsweise in dem moralisch begründeten Rechtsanspruch auf einen Zugang zu höherer Bildung und auf eine soziale Grundsicherung. Nun kann ein auf dem Eigeninteresse beruhender Grund aber noch nicht die objektive Geltung beanspruchen, die eine Person anvisiert, wenn sie einen Rechtsanspruch aufstellt. Es ist auch zu schwach zu sagen, dass ihr Rechtsanspruch ausreichend begründet ist, wenn er im positiven Recht oder in der öffentlichen Meinung anerkannt wird, weil er dann aus bloß hetero-
2.4. Moralische Selbstvergewisserung
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nomen Gründen gilt. Eine Person muss ihren Rechtsanspruch an ihrem eigenen Selbstverständnis objektiv rechtfertigen können, genauso wie auch jeder beliebige Adressat dieses Anspruchs einen Grund in sich selbst finden muss, sich dieser Rechtfertigung anzuschließen. Eine in diesem Sinne objektive Begründung ist für die Selbstvergewisserung einer Person unverzichtbar. Am Beispiel des Dissidenten haben wir gesehen, dass er seine moralische Verfassung außerhalb jeglicher Form der sozialen Anerkennung verankern muss. Trotzdem formuliert er objektive Rechtsansprüche, die sich auf alle normativen Kontexte beziehen und die eine spezifische Form der Anerkennung einfordern. Seine Gewissheit, dass diese Rechtsansprüche tatsächlich berechtigt sind, basiert darauf, dass seine eigene moralische Verfassung nicht seine eigenen Interessen privilegiert, sondern dass er sie unter Einbeziehung aller denkbaren Interessen festgelegt hat. Nur ein in diesem Sinne objektiv berechtigter Anspruch begründet seine moralische Identität und kann zum Gegenstand seiner moralischen Selbstachtung werden.3 Der von allen normativen Kontexten unabhängige Grund, sich selbst zu achten und an seiner moralischen Verfassung festzuhalten, ist der, dass wir allen Menschen ein fundamentales Interesse unterstellen, ihr Leben selbst zu bestimmen und sich dafür selbst zu achten. Unter dieser minimalanthropologischen Prämisse sind alle um ihre Selbstbestimmung besorgten Menschen zunächst einmal prinzipiell bereit, die skizzierten Grundrechte für sich anzuerkennen. Die Bereitschaft, diese Grundrechte auch allen anderen Menschen zuzubilligen, wird in der Regel durch Empathie oder durch Furcht begründet. Zwischenmenschliche Empathie kann uns dazu bewegen, die Interessen anderer Menschen zu unseren eigenen zu machen, während die Furcht vor anderen einen starken Antrieb bildet, deren Interessen gleichermaßen zu achten und einen wechselseitigen Friedensschluss abzusichern. Letztlich sind diese klassischen Erklärungsweisen aber kritisch zu beurteilen. Empathie ist ein konkretes zwischenmenschliches Gefühl, dass sich nicht ohne Qualitätsverlust universalisieren lässt; und die Furcht, die uns im Naturzustand gleich macht, ist uns unter dem Schutz des Staates weitgehend genommen. Eine im Apartheidsregime privilegierte Person, die vom Schicksal ausgegrenzter Personen unberührt
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
bleibt und in gut bewachten Schutzzonen lebt, hat erst dann einen Grund, allen anderen Personen gleiche Grundrechte zuzuerkennen, wenn sie sich von sich aus unter die Idee der Vernunft stellt. Mit der Vernunftidee ist eine Art der Selbstinterpretation gemeint, nach der sich eine Person als eins mit allen anderen vernünftigen Wesen begreift. In diesem fiktiven Zusammenschluss sichert sie nicht nur ihre Existenz gegen äußere Anfeindungen, sondern vor allem ihre normative Verfassung gegenüber ihrem Selbstzweifel. Ihre Selbstgewissheit beruht letztlich darauf, dass sie sich moralisch konstituiert bzw., so das Kantische Diktum, die Menschheit in ihrer Person repräsentiert.4 Analog zur eschatologischen Selbstinterpretation vergewissert sie sich ihrer selbst an einer unabhängigen und erhabenen Vorstellung, allerdings mit dem Unterschied, dass sie keine partikulare Gottesprojektion, sondern eine allgemein teilenswerte Vorstellung von Gerechtigkeit bildet und sich dafür als allgemein anerkennungswürdig betrachten kann. Die Gewissheit, objektiv legitimierte Ansprüche zu stellen, bestärkt eine Person in ihrer Selbstachtung und ihre Selbstachtung festigt sie wiederum darin, ihre moralische Verfassung in normativen Kontexten zu realisieren. Mit anderen Worten, eine sich selbst achtende Person transformiert objektive Gründe in subjektive Motive. Weil eine objektiv begründete moralische Verfassung ihre Autonomie sichert, hat sie ein Motiv, sich für die Geltung entsprechender Grundrechte einzusetzen. Ausschlaggebend ist aber nicht, und hier verlässt unsere Theorie endgültig den Kantischen Pfad, die praktische Vernunft dieser Gründe, sondern das vorgelagerte moralische Autonom-Sein-Wollen einer Person, die sich diese Gründe zu Eigen macht.1 Das fundamentale Interesse, ein eigenes Leben zu führen, führt zur Ausbildung einer moralischen Verfassung, in der eine Person für sich selbst festlegt, welche Art von Gründen für sie relevant sind und welche nicht. Deswegen steht und fällt die Kette von Gründen und Motiven mit der Entscheidung, eine eigenständige Person zu sein, die ihr eigenes Leben führt. Und dazu gibt es nur ein Motiv: die Achtung vor dem eigenen Selbst getragen durch das erhabene Gefühl, jedem Menschen gegenüber anerkennungswürdig zu sein.
2.5. Auf dem Weg zu einer kontextsensiblen Gerechtigkeitstheorie
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2.5. Auf dem Weg zu einer kontextsensiblen Gerechtigkeitstheorie Nachdem bislang der Übergang vom Autonomieanspruch zu allgemeinen Rechtsforderungen dargestellt und vorgreifend auch der Weg zu ihrer universalistischen Begründung skizziert wurde, schließt der programmatische Grundriss mit einigen Überlegungen zum Zusammenhang von moralischen Grundrechten und dem Geltungsbereich einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie. Es gibt dazu in der Hauptsache zwei Auffassungen, die wir mit Thomas Nagel als den politischen und den kosmopolitischen Ansatz bezeichnen können.2 Der politische Ansatz argumentiert partikularistisch. Moralische Rechte reichen genau so weit, wie die an einer sozialen Praxis beteiligten Personen ihnen Geltung verschaffen und den wechselseitigen Anspruch auf Autonomie anerkennen. Der für den politischen Ansatz entscheidende normative Kontext ist der Rechtsstaat, in dem strafrechtliche Sanktionen darüber legitimiert werden, dass alle Bürger an der gemeinsamen Praxis der politischen Willensbildung und Gesetzgebung beteiligt werden. Die Rede von einem Rechtsanspruch, der von einem solchen politischen Kontext unabhängig ist, ergäbe diesem Ansatz zufolge keinen Sinn, denn ein Recht zu beanspruchen, setzt bereits den Rechtsstaat oder eine vergleichbare Institution als Adressaten voraus, an dem eine Person ihre Ansprüche geltend machen kann. Gegenüber Personen, die den rechtsstaatlichen Kontext und die damit verbundene Praxis der Willensbildung nicht teilen, bestehen keine rechtsförmigen Verpflichtungen. Der politische Ansatz grenzt also die Reichweite von Rechtsansprüchen auf bestehende juridische Kontexte ein und betrachtet alle darüber hinausgehenden moralischen Forderungen als irrelevant oder zumindest als nicht im gleichen Maße verbindlich wie juridische Forderungen. In dieser schematischen Gegenüberstellung vertritt der kosmopolitische Ansatz einen moralischen Universalismus, aus dem er die kontextübergreifende Geltung allgemeiner Grund- und Menschenrechte einfordert, ohne diese Forderungen an eine politische Institution adressieren zu können. In gewisser Weise werde ich eine kontextsensible Variante des Kosmopolitismus verteidigen,
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2. Die selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie im Grundriss
indem ich den Skopus moralischer Rechtsforderungen in Relation zum jeweiligen normativen Kontext setze (s. 6.6.). Mit dem politischen Ansatz teile ich nicht nur die partikularistische Ansicht, dass sich begründungsfähige moralische Forderungen auf die an einer jeweiligen Praxis beteiligten Personen beschränken, sondern auch die konstitutive Rolle, die normative Kontexte und ihre Institutionen für die inhaltliche Bestimmung moralischer Grundrechte spielen. Mit dem kosmopolitischen Ansatz verbindet mich hingegen die Grundüberzeugung, dass moralische Rechtsansprüche alle normativen Kontexte mit universalistischen Forderungen überziehen. Aber nur in Fällen, in denen sich normative Kontexte entgrenzen und in das Leben von nahezu jedem Menschen hineinwirken, liegt es auch im moralischen Interesse jedes Menschen, diese quasi-universellen Normeninterferenzen über allgemeine Menschenrechte so zu regeln, dass die Autonomie aller Beteiligten (und dass bedeutet nur in diesem Fall: aller Menschen) gesichert wird. In diesen Kontexten – nahe liegend ist es, den ökonomischen zu nennen –, lässt sich mit Recht von einer Globalisierung normativer Kontexte und der entsprechenden Institutionen sprechen, die diese Kontexte regulieren. In diesem Zusammenhang gibt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ein Beispiel, wie die expandierende Ausdifferenzierung des Rechtskontextes mit der Ausweitung anderer normativer Kontexte Schritt halten und sie selbstachtungsfunktional ausrichten könnte. Auf diese Weise werden utopisch anmutende Gerechtigkeitsvorstellungen vermieden und trotzdem bleibt ein kritischer Zugriff auf alle normativen Kontexte menschlichen Zusammenlebens gewahrt. Die einzige Voraussetzung ist, dass wir allen an einer sozialen Praxis beteiligten Menschen ein tiefgreifendes moralisches Interesse unterstellen, die geltenden Normen auf die Selbstbestimmung aller Beteiligten einzustellen. Deswegen nenne ich eine Gesellschaft, in der alle relevanten normativen Kontexte und Institutionen so verfasst sind, dass jeder Mensch in ihnen ein Leben in Selbstachtung führen kann, gerecht. Dass der Begriff der Selbstachtung in diesem Zusammenhang eine so tragende Rolle spielt, hängt damit zusammen, dass sie uns darin bestärkt, unsere Identität nicht unter dem Anpassungsdruck sozialer Zwänge preiszugeben. Sie ist das Selbstverhältnis, in dem
2.5. Auf dem Weg zu einer kontextsensiblen Gerechtigkeitstheorie
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wir uns selbst als moralische Personen betrachten, und damit als Wesen einer unabhängigen wie eigenberechtigten Ordnung ansehen (s. 4.4.). Die moralische Verfassung dieser Ordnung verleiht der Person einen eigenständigen Standpunkt, von dem aus sie die Berechtigung ihrer Interessen selbst beurteilen kann. Diese Unabhängigkeit führt zum Konflikt, wenn gesellschaftliche Normen mit begründeten Interessen kollidieren. Da die Selbstachtung einer Person nicht nur auf der Beurteilung, sondern auch auf der Realisierung ihrer Interessen beruht, wird es zu einer Angelegenheit ihrer Selbstachtung, die Verfassung normativer Ordnungen im Sinne ihrer moralischen Verfassung zu reformieren. So gesehen ist die eigene moralische Verfassung keine Utopie, sondern beansprucht einen Ort in der Realität als juridische Verfassung. Zugleich ist sie eine Affirmation dieser Sichtweise. Sie bestärkt uns darin, mehr zu sein, als eine Konfiguration im sozialen Netz von Anerkennungsverhältnissen, indem sie uns die Gewissheit gibt, Jemand zu sein, nämlich eine gegenüber ihrer physischen und sozialen Determination freie Person, die ein Recht und eine Würde hat, die eine eigene und von allen anderen unabhängige Einheit bildet und die einen Anspruch darauf hat, ernst genommen zu werden.
3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung 3.1. Praktische Selbstverhältnisse In ihren Grundlinien liegt uns nun eine selbstachtungsfunktional begründete Gerechtigkeitstheorie vor. Deswegen wird es in den folgenden Kapiteln in erster Linie darum gehen, die einzelnen Elemente dieser Theorie weiter zu explizieren, sie auf klassische Texte und aktuelle Debatten in der praktischen Philosophie zu übertragen und mögliche Gegenargumente zu erörtern. Das systematische Interesse dieses Kapitels ist zunächst darauf gerichtet, den auf die moralische Autonomie reduzierten Begriff der Selbstachtung begriffsgeschichtlich zu verankern und ihn gegenüber anderen Formen praktischer Selbstverhältnisse abzugrenzen. Mein Verständnis praktischer Selbstverhältnisse ist maßgeblich durch die Begriffsbestimmung Dieter Sturmas beeinflusst.1 Um erfolgreich handeln und sich in ihren Handlungen als selbstbestimmte Person verstehen zu können, muss eine Person, so Sturma, ihre unmittelbaren Wünsche mit einer Vorstellung, wer sie sein will, und mit einer Einschätzung, was geboten ist, koordinieren. Darin nimmt sie notwendig den Standpunkt einer zweiten und dritten Person ein; in der zweiten Person reflektiert sie auf das Leben, das sie in Zukunft leben möchte, und in der dritten Person auf die normativen Restriktionen, die sie im Zusammenleben mit anderen Menschen zu erwarten hat. Anhand ihrer Reflexion auf den eigenen Lebensplan – der in etwa dem entspricht, was ich zuvor ihr So-Sein genannt habe – und auf die zu erwartenden normativen Restriktionen – die als Beurteilung aller für sie relevanten normativen Kontexte angesprochen wurden –, ge-
3.1. Praktische Selbstverhältnisse
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winnt eine Person die Fähigkeit, sich distanziert zu ihren Wünschen zu verhalten und sich in praktischer Absicht selbst zu beurteilen.2 Ein praktisches Selbstverhältnis ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass eine Person sich und die erwartbaren normativen Restriktionen aus den Augen eines internalisierten Anderen bewertet, der die Person repräsentiert, die sie sein will. Die Vorstellung des internalisierten Anderen tritt uns ideengeschichtlich in unterschiedlichen Formen entgegen. Entscheidend für die Unterteilung praktischer Selbstverhältnisse ist dabei, als welche Person man den Anderen konzeptionalisiert und ob man eine emotionale oder eine rationale Ursache hat, sich dessen Bewertung anzueignen. Am wichtigsten für unsere Selbstschätzung ist, dass wir uns selbst in den Augen einer geliebten Person und im Urteil eines engen Freundes schätzen. Es ist naheliegend, dass unsere konkreten Erfahrungen von Liebe und persönlicher Wertschätzung für die Formation unserer Lebenspläne bzw. unseres So-Sein-Wollens ebenso prägend wie unentbehrlich sind. Wenn es hingegen darum geht, die Berechtigung normativer Einschränkungen zu beurteilen, ist es zwar abstrakter aber auch angemessener, sich selbst aus dem Blickwinkel eines unparteiischen Beobachters zu bewerten und sich – in den bekannten Analogien – mit den verbundenen Augen der Justitia zu betrachten oder den Blick der gesamten Menschheit auf seine Person gerichtet zu sehen. Während die Vorstellung der Person, die wir in Zukunft sein wollen, eng an emotionale Erfahrungen gebunden ist, lautet die für die Beurteilung einer Norm einzig relevante Frage, ob sie einer unser So-Sein-Wollen begleitenden sozialen Praxis inhärent ist, und wenn nicht, ob sie ihre Geltung dann aus dem Interesse herleitet, welches jede Person an ihrer Selbstbestimmung nimmt. Das moralische Selbstverhältnis, das dafür ausschlaggebend ist, dass wir unsere praktische Identität auch im Widerspruch gegen geltende Normen aufrecht erhalten, heißt – so auch bei Sturma – die rationale Selbstachtung einer Person.3 Eine Person, die sich selbst achtet, verfügt über ein gesundes Selbstwertgefühl, im Sinne eines stabilen Selbstbewusstseins und eines widerstandsfähigen Selbstvertrauens. In anderen Kontexten überschneiden sich die Bedeutungen von Selbstachtung und Würde. ‚Die eigene Selbstachtung aufrechtzuerhaltenȧ hat hier die Bedeutung von ‚seine Würde oder
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3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung
seine Integrität zu bewahrenȧ. Das klassische Beispiel für die von sozialer Anerkennung unabhängige Form des Selbstwertgefühls gibt die Stoa, wonach die Selbstachtung bzw. die innere Würde einer Person auch durch Sklaverei und Gefangenschaft unerschütterlich bleibt. Es ist diese Tradition, Selbstachtung als ein vernunftgewirktes Selbstverhältnis zu bestimmen, in der das Selbstachtungskonzept schließlich in das normative Zentrum der Debatten um Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit gerückt ist. In Abgrenzung zu anderen Formen praktischer Selbstverhältnisse und entgegen seiner weiteren Verwendungsweise in der deutschen wie englischen Alltagssprache hat sich der Selbstachtungsbegriff (self-respect) mittlerweile als ein spezifisch moralisches Selbstverhältnis idiomatisiert. Ihm wird der Begriff der Selbstschätzung (self-esteem) gegenübergestellt.4 Eine Person, die sich selbst schätzt, vergewissert sich dabei der affirmativen Wertschätzung und Anerkennung, die ihr von Anderen entgegengebracht wird.5 Diese nicht auf begründete Prinzipien, sondern auf die interpersonale Wertschätzung bezogene Form des Selbstwertgefühls lässt sich je nach Beziehungsmodus weiter unterteilen.6 Die Selbstschätzung einer Person beruht beispielsweise auf der liebevollen Zuwendung innerhalb der Familie, auf ihrer Anerkennung im Arbeitsleben oder auf der Bewunderung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten durch Außenstehende; in jedem dieser Beispiele basiert ihre Selbstschätzung auf einer öffentlich bezeugten Wertschätzung. Demgegenüber wird Selbstachtung im engeren Sinne als Achtung vor der eigenen Autonomie definiert. In dieser technischen Diktion bezeichnet der Achtungsbegriff keine interpersonellen Beziehungen, sondern ein spezifisch moralisches Gefühl, das sich einzig und allein auf die moralische Integrität einer anderen Person bzw., im Falle der Selbstachtung, auf die eigene moralische Integrität bezieht.7 Selbstachtung basiert auf der Achtung vor sich selbst als moralischer Person bzw. als Mensch, der dazu in der Lage ist, seine Handlungsprinzipien mit Rücksicht auf die moralische Integrität aller anderen Menschen zu bestimmen.8 Zusammenfassend können wir sagen, dass das Selbstwertgefühl einer Person von zwei Säulen getragen wird. Auf der sozial-
3.1. Praktische Selbstverhältnisse
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psychologischen Seite wird es durch interpersonelle Anerkennung bestärkt, auf der normativen Seite gründet es auf der Gewissheit, eine eigenständige und als solche anerkennungswürdige Person zu sein. Die Unterteilung des Selbstwertgefühls in Selbstschätzung und Selbstachtung ist, wie angedeutet, von der nachhaltigen Wirkung der Kantischen Moralphilosophie geprägt. Allerdings führt die Entkopplung des moralphilosophischen Selbstachtungsbegriffs vom eingespielten Sprachgebrauch, in dem sich die Bedeutungsfelder von Selbstachtung und Selbstschätzung überlagern, auch Probleme mit sich.9 Das Selbstachtungskonzept führt im Zuge einer Gerechtigkeitstheorie nur dann zu normativen Konsequenzen, wenn sich zeigen lässt, dass die Selbstachtung einer Person aufgrund mangelnder sozialer Anerkennung unterminiert werden kann und dass es soziale Verhältnisse gibt, wie Armut oder Entrechtung, die nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern auch ihre moralisch-rationale Selbstachtung beschädigen. Dazu muss die Gerechtigkeitstheorie eine plausible Beschreibung dafür entwickeln, wie sich die Selbstachtung einer Person einerseits unabhängig von sozialer Anerkennung begründet, wie sie andererseits aber doch durch soziale Faktoren affizierbar bleibt. Wie, so die zugespitzte Frage, können wir die Affizierbarkeit unserer Selbstachtung beschreiben, ohne davon abzugehen, dass sie allein auf einer von sozialen Faktoren unabhängigen Verfassung beruht? Die Antwort auf diese Frage wird dafür entscheidend sein, ob sich überhaupt eine Gerechtigkeitstheorie durch den Selbstachtungsbegriff begründen lässt. Insbesondere die selbstachtungsfunktional begründete Forderung nach distributiver Gerechtigkeit ist ja nur dann nachzuvollziehen, wenn eine Ungleichverteilung materieller Ressourcen auch die moralische Selbstachtung angreifen kann. In Hinführung darauf sollen hier zunächst einige der prononciertesten Vertreter einer ‚Ethik der Selbstschätzungȧ vorgestellt werden. Dabei lässt sich zeigen, wie sich mit dem zunehmenden Problembewusstsein, dass normative Ansprüche objektiv und kulturübergreifend begründet werden müssen, eine rechtsgebundene ‚Moral der Selbstachtungȧ herausgebildet hat.
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3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung
3.2. Zur Ethik der Selbstschätzung Ebenfalls mit kritischem Bezug auf die indifferente Begriffssetzung bei John Rawls hat Avishai Margalit darauf hingewiesen, dass der Begriff der Selbstschätzung für eine Theorie der Gerechtigkeit ungeeignet ist, weil sich die Wertschätzung gegenüber Personen notwendig ungleich verteilt.1 Den Unterschied der Selbstschätzung zum Begriff der Selbstachtung sieht Margalit darin, dass „Achtung eine Basis für die Gleichbehandlung von Menschen liefert, während Wertschätzung als Grundlage für ihre Ungleichbehandlung dienen kann“.2 Man bewertet sich selbst in Relation zu anderen und leitet seine Selbstschätzung daraus ab, dass man erfolgreicher als andere ist oder in besonderem Maße über eine schätzenswerte Eigenschaft verfügt. Im Wettstreit um soziale Wertschätzung bzw. im Kampf um Anerkennung geht es daher immer auch darum, den anderen zu übertreffen. Eine Auszeichnung für besondere Arbeitsleistungen wirkt sich beispielsweise nur dann positiv auf unsere Selbstschätzung aus, wenn wir auch selbst das Gefühl haben, dass wir besser als andere oder zumindest besser als die Norm gearbeitet haben oder wenn wir unseren eigenen Ansprüchen über die Maßen gerecht geworden sind.3 Mit Michael Walzer können wir die Selbstschätzung ein sowohl komparatives als auch kompetitives Konzept nennen.4 Im wörtlichen Sinne gewinnt eine Person ihre Selbstschätzung im Vergleich mit anderen und im Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit. Darum eignet sich der Begriff der Selbstschätzung gleich aus zwei Gründen nicht zum Kriterium einer Gerechtigkeitstheorie. Einerseits beruhen alle Formen der sozialen Wertschätzung auf affirmativen Einstellungen wie Liebe, Zuneigung oder Bewunderung. Affirmative Einstellungen können aber ausgesprochen ungerechte Konsequenzen zur Folge haben, weil sie uns dazu motivieren, Menschen aufgrund ganz und gar kontingenter Eigenschaften zu diskriminieren.5 Andererseits wäre eine Forderung nach gleicher Selbstschätzung schon aus psychologischen Gründen unsinnig.6 Denn wenn die Wertschätzung einer Person vollständig von ihrer Überlegenheit in Hinsicht auf bestimmte Eigenschaften abhinge, würde jeder Kompensationsver-
3.2. Zur Ethik der Selbstschätzung
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such zwangsläufig zur Minderung der Selbstschätzung aller Personen führen.7 Im sozialpsychologischen Selbstschätzungskonzept stützt sich das Selbstwertgefühl einer Person notwendig auf die affirmativen Einstellungen ihrer sozialen Umwelt, die sich als Liebe, Zuneigung, Bewunderung, Lob, Respekt, Huldigung, Ehrerbietung und dergleichen äußern. In solchen konkreten Erfahrungen sozialer Wertschätzung bildet eine Person ihr Selbstvertrauen und stabilisiert ihr Selbstwertgefühl. Deswegen hat es in der praktischen Philosophie epochenübergreifend Ansätze gegeben, die das Konzept der Selbstschätzung entweder selbst zur Norm erhoben oder ihm eine wichtige Funktion in ihrer Moralpsychologie zugewiesen haben. In Bezug auf diese Tradition können wir von einer Ethik der Selbstschätzung sprechen. Nicht nur aufgrund einer reichen Ideengeschichte ist die Ethik der Selbstschätzung unserer Alltagspsychologie sehr vertraut. Ich halte insbesondere den Gedanken für evident, dass wir unser Selbstwertgefühl in der Internalisierung affirmativer Einstellungen generieren, teile aber nicht die sozialdeterministische Grundannahme, dass sich das Selbst- und Wertebewusstsein einer Person einzig und allein an der Resonanz ihrer sozialen Umwelt vergewissert. Das Gefühl des objektiv begründeten Berechtigt-Seins ist für die Ausbildung eines stabilen Selbstwertgefühls und für die Formulierung eigenständiger Rechtsansprüche unerlässlich. Deswegen bemisst sich der Erklärungswert einer Ethik der Selbstschätzung daran, ob sie uns plausibel machen kann, wie sich aus der Erfahrung sozialer Wertschätzung oder Anerkennung ein autonom begründetes Selbstwertgefühl herausbildet. Zu den klassischen Vertretern der starken Varianten dieses Ethiktyps zählen David Hume, Adam Smith und George Herbert Mead sowie für einige Autoren auch Aristoteles, in dessen Tugend der megalopsychia der erste ideengeschichtlich bedeutsame Beitrag zu einer Ethik der Selbstschätzung liegt.8 In der Nikomachischen Ethik bestimmt Aristoteles die megalopsychia als eine Charaktertugend (aretê êthikê), die er als eine feste Disposition (hexis) zur Steuerung des eigenen Affekthaushalts definiert (NE, 1123a1125b).9 Tugendhafte Menschen zeichnen sich für Aristoteles dadurch aus, dass sie ihre Affekte in einer für ihre eigene Situati-
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3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung
on angemessenen Mitte (meson pros hêmas) auszutarieren verstehen. Der megalopsychos (1123b) ist ein mit solch einer Charaktertugend ausgestatteter Mensch, der maßvoll mit seinem Bedürfnis nach Ehre (timê) umzugehen gelernt hat.10 Er weiß seine Leistungen und Fähigkeiten genau einzuschätzen und hat deswegen eine angemessene Vorstellung, welche gesellschaftlichen Anerkennungen und Privilegien ihm zustehen. Als angemessene Selbsteinschätzung nimmt die megalopsychia eine herausragende Stellung in Aristoteles Tugendeinteilung ein, denn sie vermittelt das eigennützige Interesse an sozialer Ehre und lukrativen Ämtern mit einem Sinn für die Schicklichkeit und Berechtigung dieses Interesses.11 Der megalopsychos hat, kurz gesagt, die Kompetenz, seine eigenen Kompetenzen und seine entsprechende Ehrwürdigkeit richtig einzuschätzen. Diese Kompetenz gründet aber ursprünglich nicht in ihm selbst, etwa in seinem Urteilsvermögen, sondern er gewinnt sie wiederum aus den affirmativen Einstellungen seiner Mitbürger und Freunde, die er in eine angemessene Selbsteinschätzung verwandelt. Erst wenn er die megalopsychia zur Disposition verfestigt hat, verfügt er über die Gewissheit, dass seine öffentlichen Ansprüche auf Ruhm und Ehre auch objektiv berechtigt sind. Er ist in der Lage, seine Ehrwürdigkeit selbst einzuschätzen und den Wert öffentlicher Wertschätzung unabhängig von der geltenden Meinung zu beurteilen.12 Darum unterscheidet Aristoteles zwischen einer kleinen und einer großen Ehre (time mikra kai megale). Die kleine Ehre besteht in der Wertschätzung gewöhnlicher Leute (tugchanontes) in Form von Geschenken und Auszeichnungen, die keinen intrinsischen Wert haben. Groß ist eine Ehre hingegen dann, wenn sie von Vernünftigen (tôn axion logou) erteilt wird und dem Geehrten tatsächlich Preiswürdiges (timia einai) zuteil wird (EE 1232).13 Die Selbstschätzung des megalopsychos bleibt zwar auf die Anerkennung seiner Mitbürger bezogen, aber er verfügt aufgrund seiner Erfahrungen über ein eigenständig operierendes Urteilsvermögen, an dem er den Wert sozialer Ehrerweisungen einzuschätzen vermag.14 Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Aristoteles in der Autonomie des megalopsychos bereits einige Schritte von der Ethik der Selbstschätzung zu einer Moral der Selbstachtung vorwegnimmt,
3.2. Zur Ethik der Selbstschätzung
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die wir über genau diese Eigenständigkeit des Urteilsvermögens definiert haben.15 Aber auch wenn der megalopsychos über Kriterien verfügt, an denen er seine Ansprüche objektiv rechtfertigen kann, bleibt dem Aristotelischen Denken ein Konzept der Selbstbestimmung fremd, das nicht auf das Leben in der Polis bezogen bleibt. Der wesentliche Unterschied zu einer Moral der Selbstachtung liegt darin, dass der eigenständig operierende Sinn für Angemessenheit und Schicklichkeit innerhalb eines kulturell normierten Kontextes ausgebildet und von diesem auch nachhaltig geprägt wird. Deswegen scheint das Urteil einer tugendethisch konstituierten Person zunächst nicht im gleichen Maße unabhängig zu sein wie das rechtsgebundene Urteil einer moralisch verfassten Person. Im Rückbezug auf Aristoteles greift David Hume das Konzept der megalopsychia unter dem Titel „Greatness of Mind“ wieder auf.16 Wie jeder Tugendethiker steht Hume vor der Aufgabe zu erklären, wie eine Person aus der sozialen Konstitution ihrer Selbstschätzung zu objektiv gewissen Standards ihrer Selbstbeurteilung gelangt. Im Fokus der Selbstschätzung (self-esteem) steht bei Hume der angemessene Umgang mit zwei Extremen des Selbstwertgefühls im Vordergrund, die er als Stolz (pride) und Demut (humility) bezeichnet. Ähnlich wie im Aristotelischen Konzept der Ehrwürdigkeit bezieht sich der begründete (well-founded, wellgrounded) Stolz einer Person auf die affirmativen Einstellungen, die sie in ihrer Gemeinschaft erfährt; allerdings macht Hume deutlicher, dass die Internalisierung affirmativer Einstellungen nicht auf die Entwicklung eines eigenständigen Selbstwertgefühls abzielt, sondern durch den Wunsch motiviert wird, sich der sozialen Wertschätzung seiner Mitbürger nachhaltig zu versichern. Dagegen bezweifelt Hume, dass es überhaupt möglich ist, die Berechtigung seiner eigenen Ansprüche aus sich selbst heraus einzuschätzen: „No one“, konstatiert er, „can well distinguish in himself betwixt the vice and virtue, or be certain, that this esteem of his own merit is well-founded“.17 In Humes Theorie ist die soziale Genese der Selbstschätzung aufs Engste mit der Frage verknüpft, ob es objektive Gründe gibt, an denen sich die Selbstschätzung einer Person orientieren kann. Diese objektiven Gründe ergeben sich für Hume direkt aus
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3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung
der sozialen Wertschätzung, so dass es einer einzelnen Person im Grunde unmöglich ist, ihre Selbstschätzung von der konkreten Erfahrung des Geschätztwerdens frei zu machen.18 Die Übernahme sozialer Wertschätzung in die eigene Selbstschätzung führt vom subjektiven Standpunkt aus betrachtet große Vorzüge mit sich – Hume nennt die Nützlichkeit (utility) und die Annehmlichkeit (agreeableness) eines sozial bestätigten Selbstwertgefühls –, aber diese Vorzüge bilden keine eigenständigen Gründe zur Aufrechterhaltung der Selbstschätzung; die Annehmlichkeit und die Nützlichkeit eines gut verbürgten Selbstwertgefühls stehen und fallen mit der affirmativen Einstellung der Anderen. Trotzdem macht uns auch Hume ein Angebot zu einer genuin moralischen Perspektive, in der die Selbstschätzung von der faktischen Anerkennungsstruktur unabhängig ist: „A genuine and hearty pride, or self-esteem, if well conceal'd and well founded“, so betont Hume, „is essential to the character of a man of honour“; und dieser ehrenwerte Charakter wird einzig und allein aus dem Grund kultiviert, „that there is no quality of the mind, which is more indispensibly requisite to procure the esteem and approbation of mankind“.19 Dass sich eine Person in diesem Sinne selbst schätzt, gründet ähnlich wie bei Aristoteles auf ihrer eigenen Tugendhaftigkeit. Aus dieser Tugendhaftigkeit erwächst für Hume aber ein natürlicher Anspruch auf die Billigung (approbation) jedes Mitmenschen. Die Billigung ist eine Form der Bejahung, die nicht auf die Mitglieder der eigenen Weltanschauungsgemeinschaft reduziert werden kann, sondern die sich auf die Menschheit als Ganze (mankind) bezieht. Aus dem Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung folgt für Hume nicht nur, dass eine Person ihre affirmative Einstellung gegenüber sich selbst mit den affirmativen Einstellungen ihrer Umwelt in Übereinstimmung bringt, sondern auch, dass sie sich allen Menschen gegenüber als schätzenswert zu verstehen anstrebt und in dieser Gewissheit ein objektives Kriterium für ihr Selbstwertgefühl gewinnt.20 Obwohl Hume in der Perspektive der gesamten Menschheit auf ein objektives Kriterium zu stoßen scheint, darf er nicht so verstanden werden, dass sich dieses Kriterium von den affirmativen Einstellungen der Anderen wirklich emanzipieren könnte. Für Hume können wir uns niemals ganz von unserem Mitgefühl (sym-
3.2. Zur Ethik der Selbstschätzung
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pathy) frei machen. Als mitfühlende Wesen halten wir unsere Selbstschätzung immer für den affizierenden Blick unseres Gegenübers offen, in dem sich entweder Billigung oder Missbilligung, Bewunderung oder Geringschätzung, Respekt oder Verachtung ausdrückt. Allein die Angst davor, dass uns andere Menschen verabscheuen könnten, wenn sie nur die leiseste Idee davon hätten, welche Motive uns wirklich antreiben, beeinflusst uns Hume zufolge dazu, einen tugendhaften Charakter zu kultivieren: By continual and earnest pursuit of a character, a name, a reputation in the world, we bring our own deportment and conduct frequently in review, and consider how they appear in the eyes of those who approach and regard us. This constant habit of surveying ourselves as it were, in reflection, keeps alive all the sentiments of right and wrong, and begets, in noble natures, a certain reverence for themselves as well as others, which is the surest guardian of every virtue.21
Hume schwenkt in dieser Passage von konsequentialistischen auf tugendethische Überlegungen ein. Die ständige Beäugung durch andere – eine soziale Kontrolle, die wesentlich zum menschlichen Leben gehört – führt zum tugendhaften Habitus. Allerdings ist es im engeren Sinne nicht die Sorge um ihre moralische Integrität, die eine Person zur Tugend motiviert, sondern die Sorge um ihren guten Namen. Deswegen ist Hume zwar darin beizupflichten, dass die Selbstschätzung einer Person davon abhängt, wie sie in den Augen eines Anderen wahrgenommen wird, er gibt aber nur eine unzureichende Antwort auf die Frage, nach welchen Kriterien wir uns den Blick des Anderen zu eigen machen. Der eigene gute Ruf kann nur zum Gegenstand der moralischen Integrität und Selbstachtung einer Person führen, wenn sich eine Person gewiss sein kann, dass sie diesen guten Ruf auch zu Recht genießt. So hat Hume, wenn er aus der Erfahrung sozialer Wertschätzung und über die interpersonale Konstitution der Selbstschätzung auf einen objektiven Orientierungspunkt in der Perspektive der gesamten Menschheit schließt, einen Schritt übersprungen. Denn die Erfahrung des tugendhaften Menschen, geschätzt zu werden, ist eben genau das, eine Erfahrung, und damit auf einen Erfahrungshorizont eingeschränkt, der, wie im Ausgangsbeispiel eines totalitären Systems oder auch innerhalb einer Aristotelischen Sklavenhaltergesellschaft, ungerecht verfasst sein kann.
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3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung
Während die Theorie der Selbstachtung ein Kriterium für die eigenständige Beurteilung geltender Normen und Sitten vorlegt, begründet Humes Ethik der Selbstschätzung an keiner Stelle, wie es einer Person möglich sein soll, ihre Selbstschätzung von den affirmativen Einstellungen ihres kulturellen Milieus abzukoppeln, und worin ihre moralische Motivation besteht, sich aus der Perspektive der gesamten Menschheit zu betrachten. Es sind diese Gründe und Motive, die Adam Smith mit explizitem Bezug auf Hume in The Theory of Moral Sentiments nachliefert.22 Hier finden wir die aus der Perspektive einer Ethik der Selbstschätzung wohl plausibelste Beschreibung, wie eine Person aus sozialer Wertschätzung ein objektiv begründetes und darin unabhängiges Selbstwertgefühl entwickelt.23 Smith stellt die Frage nach einer eigenständigen Selbsteinschätzung (self-estimation) im Zuge seiner Diskussion der Tugend der Selbstbeherrschung (selfcommand). Um so starke Affekte wie Wut (anger) und Furcht (fear) unter die Kontrolle mäßigender Tugenden zu bringen, muss eine Person immer schon über die Tugend der Selbstbeherrschung verfügen. Und weil die Tugendhaftigkeit einer Person insgesamt in nichts anderem besteht als in der maßvollen Kontrolle der eigenen Affekte, fungiert die Selbstbeherrschung bei Smith – ähnlich wie die Aristotelische megalopsychia – als eine Tugend zweiter Ordnung, die in anderen Tugenden immer schon vorausgesetzt wird.24 Die eigene Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, ist insbesondere dann eine große Leistung, wenn eine Person unter Druck gerät. Smith selbst bringt dazu das Beispiel, dass eine Person auch unter Lebensgefahr in der Lage ist, an ihrer Gerechtigkeitsvorstellung festzuhalten.25 Er ist damit der erste Autor dieser Reihe, für den sich die Frage nach der moralischen Selbstbestimmung an einer Ausgangskonstellation stellt, die es besonders dringlich macht zu erklären, wie eine Person ihre Selbstbeherrschung in ungerechten Kontexten aufrechterhalten kann. Dazu muss Smith beantworten, was Hume einfach voraussetzte, nämlich wie eine Person aus ihrer Bezogenheit auf die affirmativen Einstellungen anderer Personen zu einer unabhängigen Selbsteinschätzung kommen kann und welche Motive sie hat, an ihrer eigenständigen Selbsteinschätzung festzuhalten.
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Zu diesem Zweck konzipiert Smith die Figur des unparteiischen Beobachters (impartial spectator).26 Der unparteiische Beobachter ist vereinfacht gesagt ein Mensch, der unsere Affekte danach beurteilt, ob er mit ihnen sympathisieren kann.27 Er ist keine abstrakte Personifikation der menschlichen Vernunft, sondern wird als eine konkrete Person gedacht, die sich in unsere Lage versetzen und an unseren moralischen Empfindungen Anteil nehmen kann. Wenn wir Groll, Empörung oder Scham empfinden, sehen wir uns dazu genau dann objektiv berechtigt, wenn wir einen Grund haben zu meinen, dass jeder Mensch in unserer Situation ebensolche Gefühle entwickeln würde und wir auf das Mitgefühl jedes Menschen rechnen könnten, der sich mit dieser Situation vertraut gemacht hätte. Der unparteiische Beobachter ist in Smiths Worten eine Konstruktion, um uns der Schicklichkeit (propriety) und der Billigkeit (approbation) unserer Empfindungen zu vergewissern. Diese Empfindungen, so fasst Smith diesen Gedanken zusammen, „seem proper and are approved of, when the heart of every impartial spectator entirely sympathizes with them, when every indifferent by-stander entirely enters into, and goes along with them“. (II.i.2.2.) In der Billigung des unparteiischen Betrachters verfügt eine Person über ein objektives Kriterium, um sich selbst zu beurteilen und um sich von den Urteilen anderer unabhängig zu machen. Der tugendhafte Mann macht seine Selbsteinschätzung allein von der „idea of exact propriety and perfection“ abhängig (VI. iii.25), die er aus seiner Erfahrung im Umgang mit anderen und sich selbst gewonnen hat. So lässt sich an der Reaktion des unparteiischen Beobachters die Schicklichkeit der eigenen Empfindungen ablesen, und dies führt zu der Gewissheit, sie auch gegen faktische Missbilligung durch parteiische Beobachter für berechtigt zu halten. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass Smith mit seiner Einführung des unparteiischen Beobachters zwar erklärt, wie eine Person die Berechtigung ihrer Selbstschätzung objektiv prüfen kann, aber dass er die bei Hume liegen gelassene Frage nach der Motivation, sich selbst auf den Prüfstand zu stellen, ebenfalls nicht ausreichend beantwortet. Es bleibt insbesondere unklar, was einer Person daran liegt, von einem unparteiischen Beobach-
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ter gebilligt zu werden, der nichts weiter als eine, wie Tugendhaft meint, „regulative Idee“ ist.28 Tugendhats Antwort lautet, dass es einer Person gar nicht um ihr faktisches „Gebilligtwerden“ geht, sondern um ihr „Billigenswertsein“ bzw. darum, dass sie, wie Smith es bezeichnet, nicht aus „love of praise“, sondern aus „love of praise-worthiness“ handelt (III.2.2.). Das Motiv, sich selbst an der Billigung des unparteiischen Beobachters zu orientieren, liegt also, wie Tugendhat mit Smith feststellt, im „Gebilligtwerdenwollen“ selbst und was in diesem Sinne schicklich bzw. billigenswert ist, lässt sich nur aus dem imaginierten Blickfeld eines nicht direkt Beteiligten herausfinden.29 Bis hierher ist aber noch nicht geklärt, warum sich eine Person selbst als allgemein billigenswert verstehen will. Intuitiv führt es zwar eine große Plausibilität mit sich, dass es uns mehr befriedigt, wenn wir für unsere eigenen Leistungen und nach bewährten Kriterien beurteilt werden als wenn wir von Laien und für unabsichtliche oder von anderen ausgeführte Handlungen Anerkennung finden, aber worauf wiederum diese Befriedigung zurückzuführen ist, lassen sowohl Smith als auch Tugendhats Interpretation offen.30 Ein Repräsentant der Anerkennungstheorie, der diese Lücke zu füllen sucht, ist George Herbert Mead. Neben den Arbeiten Axel Honneths zählen Meads Schriften zur starken Variante der Anerkennungstheorie. Damit ist gemeint, dass Mead sowohl ein Problembewusstsein als auch ein Erklärungsmodell dafür entwickelt hat, wie aus der sozialen Genese des Selbstbewusstseins ein eigenständig urteilendes Selbst erwachsen kann. In Mind, Self and Society – neben dem Werk Hegels eine Art Gründungsschrift der gegenwärtigen Anerkennungstheorie – erscheint Mead zwar deutlich als ein Anwalt des sozialpsychologischen Modells der Selbstschätzung, dies relativiert sich aber, wenn man ihn stärker von seinen moralphilosophischen Fragmenten her interpretiert.31 Mead sucht darin nach einer Erklärung, wie sich das Selbst aus seiner sozialen Prägung befreien und sich eigenständig beurteilen kann. Nicht zufällig thematisiert er diese Befreiung als Akt des politischen Widerstands und nicht zufällig erfolgt dieser Akt ausdrücklich als ein Gebot der Selbstachtung.32
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Zunächst ist Mead aber ein Autor, der zeigt, dass bereits das Bewusstsein, ein Selbst zu sein, unauflöslich in sozialen und kommunikativen Praktiken eingebunden ist. Meads zugrunde liegende Theorie fächert das Selbst in ein subjektives und ein objektives Moment auf. Anstelle von subjektiven und objektiven Momenten spricht Mead von dem „I“ und dem „Me“.33 Das I fungiert als ein unreflektierter Impuls, den wir auch als eine Art reine Willkür verstehen können, wohingegen das Me eine mentale Repräsentation davon darstellt, als wer wir von anderen anerkannt werden.34 Erst wenn der ungerichtete Impuls des I über die entsprechenden Interpretationsschemata des Me bewusst gemacht wurde, kann ihn ein Selbst in einer sozial anerkannten Praxis realisieren; es kann seinen Impuls beispielsweise als Durst verstehen und ein Glas Wasser in einem Café bestellen. Die praktische Identität des Selbst besteht also darin, dass ihre subjektiven Stimuli einen objektiven Ausdruck in einer sozial anerkannten Praxis finden.35 Den zentralen Gedanken, den Mead einführt, um den moralischen Anspruch des eigenen Selbstverständnisses zu prüfen, ist der generalisierte Andere (generalised other), der die im Me internalisierte Gemeinschaft bezeichnet, deren Anerkennung für das eigene Bewusstsein konstitutiv ist.36 Solange es einer Person sowohl gelingt, ihre Impulse innerhalb des kommunikativ-narrativen Reservoirs einer kulturellen Gemeinschaft zu interpretieren, als auch, sich innerhalb ihres Reservoirs an sozialen Praktiken zu verwirklichen, bildet die kulturelle Gemeinschaft selbst den generalisierten Anderen. Aber in genuin moralischen Konfliktfällen kommt es entweder dazu, dass das I keine Resonanz in den kulturellen Identitätsmodellen findet und gezwungen ist, sich neue Formen der Selbstinterpretation zu erschließen, oder – und auf diesen unproblematischeren Fall werde ich mich konzentrieren – es kommt dazu, dass eine Person ihr Selbstverständnis nicht in den geltenden Normen umsetzen kann und sie sich der Berechtigung ihres So-Sein-Wollens an übergeordneten Normen vergewissern muss.37 Um sich ihre Identität in dieser Gesellschaft zu bewahren, muss die Person einen generalisierten Anderen unabhängig von der faktischen Anerkennungskulisse konstruieren. Was Mead für unsere Theorie der moralischen Selbstkonstitution anschlussfähig macht, ist, dass er sowohl zeigt, wie sich das
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Selbstverständnis einer Person sozial konstituiert, als auch, wie sich diese Person im Vorgriff auf die Idee einer gerechten Gesellschaft selbst bestimmen kann. Eine Gesellschaft wäre in dem Maße gerecht, in dem es ihren Bürgern möglich ist, jeden Impuls ihres I in einem Me auszudrücken und in einer sozial anerkannten Praxis zu verwirklichen. Wenn die Normen innerhalb einer politischen Gemeinschaft dies verhindern, greifen die Mechanismen des politischen Widerstands, zu dem sich eine Person vom Standpunkt des generalisierten Anderen aus berechtigt sehen kann.38 Die Selbstachtung einer Person besteht in diesem Sinne darin, dass sie die Vereinbarkeit ihres I und Me in ihrer praktischen Identität ernst nimmt. Eine sich in diesem Sinne selbst achtende Person steht zunächst in der Verantwortung, ihre eigene Willkürfreiheit im Rahmen der sozialen Praktiken ihrer politischen Gemeinschaft zu verwirklichen. Nur wenn es keine sozial normierte Praxis gibt, die ihrer Willkürfreiheit eine Form geben kann, wird sie durch ihre Selbstachtung dazu motiviert sein, sich auch gegen ihre Gesellschaft zu verwirklichen. Mead hat damit präziser als alle bislang behandelten Autoren zu beschreiben versucht, wie die sozialpsychologische Genese des personalen Selbst- und Wertebewusstseins mit dem kontextüberschreitenden Begründungsanspruch moralischer Urteile vereinbar ist. Die für unsere gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen anschlussfähigste Fortführung dieser Theorielinie bietet derzeit wohl die Anerkennungstheorie Axel Honneths, der seine kritische Gesellschaftstheorie auf einer Theorie normativer Selbstverhältnisse aufbaut.39 Den normativen Fluchtpunkt dieser Gesellschaftstheorie bildet die Integrität der einzelnen Person, wobei Honneth sein „intersubjektivitätstheoretisches Personenkonzept“ explizit von Mead herleitet.40 Zu den sozialen Voraussetzungen personaler Integrität zählt Honneth die Sozialisation in bestimmten Anerkennungskontexten, in denen eine Person ihr eigenes Selbst- und Wertebewusstsein herausbildet, stabilisiert und über eine ganze Lebensspanne verwirklicht. In Anlehnung an Hegels Rechtsphilosophie nennt Honneth drei solcher intersubjektiven Anerkennungskontexte.41
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Die Herausbildung der personalen Identität vollzieht sich erstens im Anerkennungsverhältnis der Liebe, sinnbildlich verkörpert in der ihr Kind liebenden Mutter. In dieser traditionell der Familie zugeordneten Form der Anerkennung erfährt das Kind in der ‚selbstlosen’ Mutterliebe oder, wie Honneth es ausdrückt, in der „ambivalenzfreien Anerkennung der Mutter“ eine Geborgenheit, in deren Schutz es ihm trotz erster Erfahrungen mit einer „verfügungsresistenten Realität“ und trotz der „Erfahrung des Verlustes seiner omnipotenten Kontrolle“ gelingt, ein gesundes Selbstvertrauen aufzubauen.42 Zur Stabilisierung dieses ursprünglichen Selbstvertrauens kommt es zweitens, weil die wechselseitige Anerkennung der Person im Recht festgeschrieben wird. Honneth spricht diesbezüglich von einer spezifisch rechtlichen Anerkennung, die dem Subjekt „einen gesellschaftlichen Schutz seiner menschlichen Würde“ garantiert.43 Das entsprechende normative Selbstverhältnis ist die rechtsgebundene Selbstachtung einer Person, die Honneth zufolge auf der wechselseitigen Achtung der Grund- und Freiheitsrechte beruht.44 Und schließlich hängt die Verwirklichung der praktischen Identität einer Person mit der Erfahrung sozialer Wertschätzung zusammen, die durch Lob, Bewunderung, Verehrung, usw. artikuliert wird. Die entsprechende Selbstschätzung bildet bei Honneth zusammen mit dem Selbstvertrauen und der Selbstachtung die psychologische Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Selbstverwirklichung. Honneth will seine Anerkennungstheorie als eine kritische Gesellschaftstheorie verstanden wissen, deren normativer Fluchtpunkt durch die Integrität der Person markiert wird. Entsprechend steht und fällt der kritische Zugriff seiner Theorie damit, dass wir die fundamentale Werthaltigkeit einer gesunden Individuation für evident halten und jeden unberechtigten Eingriff in die Integrität einer Person unisono als verurteilenswert ansehen. Im Versuch, diese intuitive Evidenz zu systematisieren, unterteilt Honneth drei kontextspezifische Formen der Demütigung. Eine physische Misshandlung greift die leibliche Integrität einer Person an und zerstört ihr Selbstvertrauen, die Entrechtung bzw. die Missachtung der Rechte von Personen beschädigt ihre
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Selbstachtung und die „evaluative Degradierung von bestimmten Mustern der Selbstverwirklichung“ führt zum Verlust ihrer Selbstschätzung.45 Aufgrund der weitgehenden Übereinstimmungen mit Honneths Anerkennungstheorie, bezieht sich meine Kritik an Honneth allein auf seine terminologische Engführung des Selbstachtungsbegriffs auf den Rechtskontext. Anstatt Selbstachtung als einen Modus der rechtlichen Selbstanerkennung zu klassifizieren und damit seine moralische Begründungsfunktion preiszugeben, schlage ich vor, den Selbstachtungsbegriff seinerseits zur Leitnorm einer normativen Gerechtigkeitstheorie auszuarbeiten. Während Honneth eine sehr präzise Erklärung dafür anbietet, wie einzelne normative Kontexte funktionieren und worin ihre Bedeutung für die Integrität einer Person besteht, setzt der Begründungsanspruch einer Moral der Selbstachtung noch einen Schritt früher an, insofern sie sich den Wert der persönlichen Integrität selbst objektiv zu erklären vornimmt und dadurch eine von der jeweiligen Rechtskultur unabhängige Begründung des Rechts auf Selbständigkeit zu entwickeln sucht.
3.3. Zur Moral der Selbstachtung Je konsequenter sich die Ethik der Selbstschätzung dem Problem einer objektiven Selbstbeurteilung zuwendet, desto weiter nähert sie sich einer Moral der Selbstachtung an. Avishai Margalit zufolge besteht die entscheidende Differenz zur Selbstschätzung darin, dass Selbstachtung explizit kein psychologisches Phänomen, sondern ein normatives Konzept ist.1 Moralische Gefühle wie Demütigung und Selbstachtung haben, so Margalit, „nicht nur Anlässe, sondern auch Gründe“ (PW, S. 23). Nur wer einen Grund hat, interpersonelle Handlungen oder Verhältnisse als ungerecht und unanständig auszuweisen, verfügt auch über einen Grund, sich gedemütigt bzw. sich in seiner Selbstachtung verletzt zu fühlen.2 Die normative Bedeutung des Selbstachtungsbegriffs beschränkt Phänomene der begründeten Demütigung auf menschliche Handlungen und Verhältnisse. „Nur Menschen können demüti-
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gen“ (PW, S. 24), nicht aber natürliche Phänomene wie Krankheiten und Katastrophen. Demütigend sind allein die Resultate von Handlungen, in denen unsere Freiheit unberechtigterweise eingeschränkt wird. Auf politischer Ebene bezeichnet Margalit eine Gesellschaft entsprechend als anständig, „wenn ihre Institutionen den Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten“ (PW, S. 24 f.). Die im Verlauf dieser Arbeit noch von ergänzenden Gesichtspunkten aus in den Blick kommende Frage ist, auf welche Eigenschaft oder Fähigkeit sich die Selbstachtung einer Person genau gründet und wie sie diesbezüglich von der Selbstschätzung unterschieden werden kann. Die Antwort lautet, dass wir uns selbst und andere für die Fähigkeit achten, ein eigenes Leben zu führen. Selbstachtung ist nichts anderes als die Achtung vor der eigenen Selbstbestimmung. Im Anschluss an diese Definition stellen sich wiederum zwei Fragen, zu denen die tragfähigsten Antworten in den folgenden Abschnitten diskutiert werden. Die erste Frage stellt zur Disposition, dass Selbstachtung überhaupt als eine konstante Größe verstanden werden kann. Ganz offensichtlich herrschen gewaltige Unterschiede darin, in welchem Grade es einzelnen Personen gelingt, ihr Leben faktisch selbst zu bestimmen, so dass es von vornherein sinnlos wäre, eine Gesellschaft anzustreben, in der jede Person über ein gleiches Maß an Selbstachtung verfügt. Darum werden wir weiter qualifizieren müssen, wie es zu verstehen ist, dass die Achtung vor einer Person auf ihrer Fähigkeit beruht, sich selbst moralisch zu konstituieren und ihre Individualität in Übereinstimmung mit den berechtigten Interessen aller anderen Personen zu entfalten. Ein zweiter Abschnitt adressiert dann das Paradox der Affizierbarkeit rationaler Selbstachtung. Die gegenüber der Selbstschätzung herausgehobene Möglichkeit zur unabhängigen Selbstvergewisserung führt uns nämlich zu dem widersinnigen Ergebnis, dass soziale Faktoren gar keinen Einfluss auf die Selbstachtung einer Person nehmen können. Wenn es aber für die Selbstachtung einer Person irrelevant wäre, ob sie bedürftig ist oder gar entrechtet wird, dann ließen sich aus einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie gar keine normativen Konsequenzen ableiten.
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3.3.1. Selbstachtung und moralische Selbstbestimmung Auf dem Weg zu einer Moral der Selbstachtung müssen wir zunächst genauer klären, wofür sich eine Person achtet. Der gängige und auch hier vertretene Vorschlag, dass sie sich für ihre Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung achtet, kann dabei nicht so verstanden werden, dass sich ihre Achtung auf ihre aktuale Selbstverwirklichung bezieht. Denn offenkundig gelingt es nicht allen Personen gleichermaßen, ihr Leben selbst zu bestimmen, sei es, weil sie ihre Selbstverwirklichung unterschiedlich ernst nehmen, sei es, weil sie unter einer besonders restriktiven Form der Fremdbestimmung leiden, oder sei es, weil es ihnen einfach an den natürlichen Voraussetzungen gebricht. Vielversprechender ist es daher, wenn wir uns zunächst Klarheit darüber verschaffen, für welche potentiellen Eigenschaften sich Personen selbst und wechselseitig achten. Der wirkmächtigste Vorschlag für die gesuchte Eigenschaft ist Kants Vermögen der praktischen Vernunft. Avishai Margalit weist aber darauf hin, dass sich dieses Vermögen wiederum aus mehreren Eigenschaften und Fähigkeiten zusammensetzt.1 Eine im Kantischen Sinne vernünftige Selbstbestimmung stellt dabei große Anforderungen an eine Person, insbesondere an ihr geschultes Abstraktionsvermögen und ihre Selbstdisziplin. Auch diese Vermögen, so bemängelt Margalit, sind im Grunde gradueller Natur, so dass nicht alle Menschen in gleichem Maße Grund haben, sich für diese potentiellen Fähigkeiten zu achten. Darum schlägt er vor, Achtung nicht von einer Fähigkeit, sondern von der Zugehörigkeit zur Menschheit abhängig zu machen (PW, S. 68). Allerdings bleibt eine solche Umstellung von achtenswerten Eigenschaften auf die bloße Gruppenzugehörigkeit unbefriedigend, weil der Begriff der Gruppenzugehörigkeit nur überdeckt, was geklärt werden müsste, nämlich über welche Fähigkeit oder Eigenschaft sich wiederum diese Gruppe konstituiert. Das achtungsgebietende Spezifikum des Menschen ist dabei nichts anderes als seine potentielle Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung. Deswegen können wir der anfangs gestellten Frage nicht
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aus dem Wege gehen, wie wir im Zusammenhang mit der Selbstachtung von Personen überhaupt von Gleichheit sprechen können, wenn sich die entsprechenden Vermögen von Person zu Person unterscheiden.2 Am besten tun wir daran, wenn wir die Fähigkeit zur moralischen Selbstkonstitution von vornherein als ein eher triviales Vermögen begreifen.3 In dieser Sichtweise ist die Anforderung, das eigene Leben nach eigenen Gründen zu bestreiten, ein ganz alltägliches Faktum und es ist unangebracht, genuin moralische Situationen, in denen wir bekennen müssen, wer wir sein wollen, existentialistisch zu überhöhen – auch wenn sie uns nur in wenigen, dann aber auch existentiellen Entscheidungen bewusst werden. So sind es in der Regel ganz alltägliche Verrichtungen, in denen sich eine Person anderen und sich selbst gegenüber zu verantworten hat und in denen sie sich selbst in ihren eigenen Gründen repräsentiert.4 Und weil es vom Kindesalter an zum Leben eines Menschen dazugehört, sich selbst als ein gründegebendes Wesen auszuprobieren, sind wir zumindest auf dieser rudimentären Ebene berechtigt zu sagen, dass sich alle Menschen gleichermaßen selbst bestimmen können.5 Mit der potentiellen Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung ist unsere Frage zumindest in Hinsicht auf den Gegenstand wechselseitiger Achtung ausreichend beantwortet. Auch wenn sich viele Personen unfähig oder unwillig zeigen, sich moralisch zu verfassen oder nach ihrer moralischen Einsicht zu handeln, ist es allen Personen doch grundsätzlich möglich, ihr Selbstverständnis in der Zukunft zu ändern. Was uns ein Gefühl der Achtung vor allen anderen Menschen und genauso vor der Menschheit in der eigenen Person einflößt, beruht letztlich, so auch Margalit, „auf seiner Fähigkeit, dem eigenen Leben eine völlig neue Deutung zu geben und es dadurch radikal zu ändern“.6 Auf den Begriff gebracht, ist es seine Fähigkeit zur Läuterung, die uns Achtung vor dem Menschen abverlangt. Die Möglichkeit zu Reue und Läuterung, die Margalit in existentialistischer Tradition als ‚radikale Freiheitȧ bezeichnet, zeigt den Menschen als ein Wesen, dessen Zukunft nicht festgelegt ist. Solange seine Zukunft aber offen steht, nötigt uns noch der größte Verbrecher Achtung vor seiner Person ab, quasi als ein Kredit auf die Person, die er einmal sein könnte.
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Damit ist unsere Frage aber erst zum Teil beantwortet, weil wir ja nicht den Grund wechselseitiger Achtung, sondern in erster Linie den Grund der Selbstachtung bestimmen wollten. Für die Selbstachtung einer Person ist es nun keineswegs hinreichend, dass sie sich als eine prinzipiell läuterungsfähige Person betrachtet. Sie muss auch dazu bereit sein, etwas für ihre eigene Selbstbestimmung einzusetzen. Dieses Kriterium hat Ernst Tugendhat den „Modus der Ernsthaftigkeit“ im „Sich-zu-sich-Verhalten“ genannt.7 Eine Person kann sich demnach nur unter der Voraussetzung als achtenswert verstehen, dass sie ihre Existenz ernst nimmt und auch unter widrigen Umständen an ihren eigenen Wünschen und Ideen festhält. Sie muss vor sich selbst das Gefühl haben, dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel aufgeboten hat, um ihre rechtmäßigen Wünsche und Ideen gegenüber Widerständen zu behaupten. Nimmt sie hingegen – ‚wie ein Onkel Tomȧ – jede ungerechtfertigte Beschränkung ihrer Selbstbestimmung hin oder kann sie sich gegenüber ihren eigenen Zielen nur zynisch verhalten, droht sie ihre Selbstachtung zu verlieren. Darum bildet das Konzept der Selbstachtung die gegenüber dem Konzept wechselseitiger Achtung voraussetzungsreichere Norm. Denn die eigene Gewissheit, achtenswert zu sein, gründet nicht allein auf der moralischen Person, die wir einmal sein könnten, sondern darauf, dass wir auch ernsthaft versuchen, wie diese Person zu leben.
3.3.2. Das Paradox der Affizierbarkeit moralischer Selbstachtung Umgangssprachlich zählt Selbstachtung auch im Deutschen zu den moralisch anspruchsvollsten Vokabeln. Beispielsweise sprechen wir von der Aufrechterhaltung unserer Selbstachtung, um zu zeigen, dass es für uns moralisch wertvoll ist, unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu führen. Auf politischer Ebene dient der Selbstachtungsbegriff vor allem als Protestausdruck, mit dem wir Diskriminierung verurteilen oder demütigende Arbeitsbedingungen kritisieren.1 Genauso wie einer individuel-
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len Person ist es auch möglich, kollektiven Personen bis hin zu ganzen Völkern Selbstachtung zuzuschreiben. Wir sprechen dann beispielsweise davon, dass eine kulturelle Minderheit unter einem Mangel an Selbstachtung leidet.2 Kurz und allgemein gesagt, wir argumentieren mit dem Selbstachtungsbegriff, wenn wir uns für Selbstbestimmung und Gerechtigkeit einsetzen bzw. auf Gerechtigkeitsdefizite hinweisen. Diesem Sprachgebrauch zufolge hängt die Selbstachtung einer Person mit ihrem sozialen Status zusammen. Nur deswegen verleiht das Selbstachtungskonzept den politischen Forderungen nach sozialer Gleichheit und gegen Diskriminierung ein moralisches Gewicht und nur deswegen kann der Sozialstaat selbstachtungsfunktional gerechtfertigt werden.3 Wie Michael Walzer unterstreicht, ist der Sozialstaat zwar keine hinreichende Bedingung der Selbstachtung, er zählt aber zu ihren Ermöglichungsbedingungen, weswegen auch Walzer seine Theorie sozialer Gerechtigkeit selbstachtungsfunktional begründet. Der Sozialsstaat, so Walzer, „doesn’t guarantee self-respect, it only helps to make it possible. This is, perhaps, the deepest purpose of distributive justice. When all social goods, from membership to political power, are distributed for the right reason, then the conditions of self-respect will have been established as best as they can be.“4 Wenn die distributive Funktion des Sozialstaats letztlich mit der Sicherung der Selbstachtung aller Bürger legitimiert wird, benötigen wir allerdings ein präziseres Verständnis dafür, was es heißen soll, dass soziale Faktoren keine unmittelbare Ursache für die Ausbildung unserer Selbstachtung darstellen, sie aber doch irgendwie unterstützen bzw., wie Walzer diese Unbestimmtheit hier wiedergegeben hat, ihr ‚zur Möglichkeit verhelfenȧ. Bislang wurde in der Unterscheidung rationaler und sozialpsychologischer Selbstverhältnisse hervorgehoben, dass die moralische Selbstachtung einer Person von ihren eigenen Gründen und nicht von sozialen Faktoren abhängt. Wie können wir dann aber an einer am Selbstachtungsbegriff orientierten Begründung des Sozialstaats festhalten? Diese für eine selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie entscheidende Frage verlangt nach einer Erklärung, wie die rationale Selbstachtung von Personen durch
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soziale Verhältnisse affiziert werden kann, ohne dass sie dadurch selbst als ein sozialpsychologisches Gefühl betrachtet wird. Darauf hinleitend wende ich mich wiederum in Auseinandersetzung mit Margalit der prinzipiellen Frage zu, „ob man Selbstachtung ohne Selbstschätzung und umgekehrt Selbstschätzung ohne Selbstachtung haben kann“.5 Margalit vertritt die These, dass es ohne weiteres möglich ist, sich eine Person vorzustellen, die ihre Selbstachtung zugunsten ihrer Selbstschätzung preisgibt, und der es nichtsdestotrotz gelingt, ein stabiles Selbst- und Wertebewusstsein auszubilden.6 Um dies zu veranschaulichen, konstruiert er den Fall einer Person, die sich durch ihre Untertänigkeit Vorteile und Posten erschleicht, was ihr wiederum bestimmte Formen der Wertschätzung einbringt. Paradefigur ist der Opportunist – Margalit nennt den Schauspieler Höfgen aus Klaus Manns Mephisto – der sich Ruhm und Einfluss in einem Unrechtsregime erschleicht und dafür sein Selbstverständnis preisgibt, eine Person zu sein, die nach ihren eigenen wie allgemein zu rechtfertigenden Gründen handelt. Dagegen vertrete ich die Position, dass sich eine klare Auftrennung des Selbstwertgefühls in eines, welches das soziale Prestige widerspiegelt, und eines, das sich der moralischen Selbstbestimmung verdankt, nicht aufrechterhalten lässt. Es ist richtig, dass sich ein Opportunist unter Preisgabe seiner Selbstachtung ein größeres Prestige verschaffen kann, aber dieses Prestige in ein stabiles Selbstwertgefühl zu übertragen, ist ein Akt, in dem es eigentlich bereits auf eine ausgebildete Selbstachtung ankommt. Betrachten wir einen Fall von Opportunismus in einem Unrechtsregime, wie den Karrieristen Albert Speer, dann lässt sich vielleicht sagen, er habe sich mit der Preisgabe seiner moralischen Selbstachtung ein enormes Prestige verschafft. Aber ohne eine ausgebildete Selbstachtung, so die Leitthese meiner gesamten Argumentation, kann sich eine Person nur schwer als ein eigenständiges Selbst gegenüber normativen Restriktionen behaupten. Selbst die Verleihung höchster Ämter und die renommiertesten Auszeichnungen wird eine Person nicht in ihr Selbstwertgefühl übertragen können, wenn sie sich nicht bereits als ein eigenständiges Selbst versteht und wenn sie keinen Grund hat, die soziale Wertschätzung als verdiente Wertschätzung anzusehen. Der Op-
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portunist bzw. der Kriecher, wie Kant diese Figur nennt (s. 4.3.2.), handelt deswegen nicht einfach irrational, sondern er riskiert den rationalen Grund seiner praktischen Identität insgesamt. Das heißt, er liefert seine Existenz auf Gedeih und Verderb der Willkür und Gnade anderer Personen aus und macht sich dabei selbst zum Instrument eines fremden Willens.7 Um unsere Frage einzugrenzen, wie Selbstachtung durch gesellschaftliche Verhältnisse affiziert werden kann, bietet es sich an, wenn wir, wiederum Margalit folgend, zunächst zwei Extrempositionen ausschließen. Auf der einen Seite definiert der Anarchismus jede Einschränkung, die eine Person durch eine staatliche Institution erfährt, als per se demütigend und auf der anderen Seite behauptet der Stoizismus, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse prinzipiell nicht auf die Selbstachtung einer Person auswirken.8 Die anarchistische Position, wie Margalit implizit den Libertarismus bezeichnet, ist schon deswegen unhaltbar, weil eine stabile Gesellschaft samt der sie stützenden Institutionen zu den existentiellen Daseinsbedingungen einer Person gehört und es hochgradig unplausibel wäre, Institutionen, die notwendig zur conditio humana zu zählen sind, von vornherein als demütigend zu disqualifizieren.9 Auf der anderen Seite kritisiert Margalit an der epikureischen und kynischen Stoa – die bei ihm wiederum stellvertretend für einen rigiden Kantianismus steht – die ihr zugrundeliegende Idee der Autarkie (autarkeia), die er als ein Vermögen definiert, „in der Befriedigung unserer Bedürfnisse von äußeren Dingen und anderen Menschen unabhängig zu sein“ (PW, S. 39). Die Autarkie soll eine Person befähigen, sich ihre Seelenruhe (ataraxía) auch unter den widrigsten Verhältnissen, wie Sklaverei oder Folter, zu bewahren. Eine Person, die sich in diesem Sinne autark respektive autonom beurteilt, wäre entsprechend der stoischen Auffassung gegen Demütigungen aller Art unempfindlich. Die starke These des Stoikers besagt also, dass alle Gefühle unter rationaler Kontrolle gebracht werden sollten. Diese sich in der Kantischen Moralphilosophie fortsetzende Konzeption, birgt die größte Herausforderung für eine Gerechtigkeitstheorie, deren normative Forderungen gerade an der intersubjektiven Affizierbarkeit der Selbstachtung gerechtfertigt werden müssen. In den Worten Margalits stellt sich diese Herausforderung wie folgt dar:
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Wenn wir unter Demütigung die Verletzung unserer Selbstachtung verstehen, wie kann dann das wie auch immer geartete Verhalten anderer ein triftiger Grund für das Gefühl der Erniedrigung sein? [...] Warum soll die Anerkennung durch andere Menschen für die eigene Selbstachtung überhaupt von Bedeutung sein? […] Außerdem ist Selbstachtung, wie der Begriff schon sagt, die Achtung, die auf nichts anderem als dem „Selbst“ der jeweiligen Person beruht. Um Selbstachtung zu erlangen, braucht man keine externe Autorisierung in Form einer Würdigung oder Anerkennung. Daher kann auch keine Gesellschaft oder irgendein Gesellschaftsmitglied einen rationalen Grund für das Gefühl der Demütigung liefern.10
Diese Passage verdeutlicht unser Kernproblem. Intuitiv scheint es eindeutig, dass eine Person spätestens unter extremen Formen der Schändung und Entrechtung damit überfordert ist, ihr Selbstwertgefühl aus rationalen Gründen aufrechtzuerhalten. Ihrem Versuch, die Kontrolle über sich selbst zu behaupten, steht ein Gefühl von Ohnmacht und Fremdbeherrschung gegenüber. In den entsprechenden Metaphern erfährt sich eine Person als ‚überwältigt von Sorge und Schmerzȧ, ist sie ‚außer sichȧ oder ‚lässt sich gehenȧ und ist ‚für keinen guten Grund zugänglichȧ. In seiner Abgrenzung gegen die übermenschlich erscheinende Forderung der Stoa greift Margalit auf ein Argument aus Nietzsches Genealogie der Moral zurück. Während in Nietzsches Typologie der Herr für eine Person steht, die den Mut und das soziale Selbstvertrauen besitzt, sich selbst zu bejahen, konstruiert der erniedrigte Sklave eine fiktive Weltordnung, von der aus es sich als eine gleichwertige oder sogar moralisch überlegene Person beurteilen kann.11 Aber, so Margalits Haupteinwand, diese (eschatologische) Selbstermächtigung lässt sich faktisch nicht aufrechterhalten und ist in toto auch psychologisch nicht zu verkraften, weil der Mensch immer auch ein soziales und emotionales Wesen ist, das unter seiner Diskriminierung leidet. Wenn wir gegenüber dem Stoizismus davon ausgehen, dass eine Person ihr Selbstwertgefühl durch demütigende Verhältnisse einbüßen kann, wir aber andererseits daran festhalten wollen, dass ihre rationale Selbstachtung eine eigenständige Säule ihres Selbstwertgefühls darstellt, die nicht direkt durch die Erfahrung sozialer Geringschätzung affiziert wird, dann bleibt uns nur zu zeigen, wie sich solche Erfahrungen indirekt auf ihre rationale Selbstachtung
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und damit auf ihr ganzes Selbstwertgefühl auswirken können. Die stoische bzw. Kantische Position ist also insofern im Recht, als sich eine Person auch in einem Unrechtsregime ihre positive Utopie einer gerechten Gesellschaft bewahren und ihre moralische Identität an dieser Vorstellung festmachen kann. Wenn aber die Ungerechtigkeit so tiefgreifend ist, dass sie demütigt, beginnt sie, die Selbstachtung einer Person anzugreifen.12 Während Margalit bei einem Angriff auf die Selbstachtung von einer Demütigung spricht, nennt er den Angriff auf die Selbstschätzung eine Kränkung.13 In dieser Differenz zwischen Kränkung und Demütigung macht Margalit noch einmal den wesentlichen Unterschied zwischen den sozialpsychologischen und rationalen Grundlagen des Selbstwertgefühls einer Person sichtbar. Als Kränkung erfahren wir jede Art öffentlicher Degradierung. Eine Person fühlt sich zum Beispiel gekränkt, wenn ihre Arbeit bei Mitarbeitern und Vorgesetzten auf wenig Anerkennung stößt, wenn sie etwa nicht die Beförderung bekommt, von der sie meint, dass sie sie verdient hätte. Kurz, eine Kränkung entsteht, wenn eine Person „in den Augen anderer“ schlecht dasteht (PW, S. 148). Für die (moralische) Demütigung ist dagegen ausschlaggebend, wie sich eine Person unabhängig von der Wertschätzung anderer beurteilt. Zur Demütigung gehört deswegen, so Margalit, „dass das Opfer einen triftigen Grund haben muss, sich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen“ (PW, S. 149).14 Die Rede von einer Demütigung der Selbstachtung einer Person scheint sich prima facie selbst zu widerlegen, denn wenn ihre Selbstachtung dann und nur dann gedemütigt werden kann, wenn sie einen Grund dafür hat, der diese Demütigung rechtfertigt, dann ist der Akt der Demütigung gewissermaßen immer im Recht. Eine Demütigung wäre dann nichts weiter als „eine berechtigte Kritik“, die dazu dienen sollte, „die Selbsteinschätzung einer Person zu ändern, ohne ihre Selbstachtung zu verletzen“ (PW, S. 149). Paradoxerweise haben wir es mit zwei sich widersprechenden Thesen zu tun, die aber gleichermaßen plausibel erscheinen. Wir gehen davon aus, dass grundlose Demütigungen, wie die systematische Entrechtung oder eine inhumane und vergegenständlichende Behandlung einen tiefen Eingriff in die Selbstachtung einer
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Person bewirkt, obwohl diese Person keinen rationalen Grund dazu hat, sich nicht prinzipiell als einen gleichberechtigten und gleichwertigen Menschen zu achten. Hätte die Demütigung aber tatsächlich einen Grund, beispielsweise weil eine verächtliche Geste darauf reagiert, dass sich eine Person ‚wie ein Tierȧ aufgeführt hat, dann gefährdet diese Geste nicht ihre Selbstachtung, sondern korrigiert lediglich ein Fehlverhalten und motiviert sie vielleicht sogar noch dazu, sich in Zukunft angemessener zu verhalten. Warum also können wir durch andere gedemütigt und in unserer Selbstachtung gefährdet werden, wenn wir uns selbst völlig unabhängig von anderen achten?15 Im Grunde artikuliert sich in diesem Paradox ein grundsätzliches Problem der Kantischen Moralphilosophie, die Schwierigkeiten hat, plausibel zu machen, wie reine Vernunft zum moralischen Handeln stimulieren kann. Selbstachtung ist in diesem Rahmen zwar ein rationales Gefühl, aber qua Gefühl zugleich durch die Einwirkung anderer Gefühle und Vorstellungen affizierbar.16 Margalits Auflösung dieses Paradoxes gründet in dem Argument, dass die Selbstachtung einer Person auf ihrem Menschsein beruht und dass der Begriff des Menschseins durch eine Gemeinschaft der wechselseitigen Achtung gebildet wird. Am sinnvollsten ist es, wenn wir Margalit so verstehen, dass eine Person ihre Achtung vor sich selbst als einem Menschen dadurch verliert, dass eine Demütigung durch einen anderen Menschen den Wert, zur menschlichen Gemeinschaft zu gehören, selbst korrumpiert. Die Achtung, ein Mensch zu sein, ist auf der Erfahrung gegründet, dass sich Menschen in der Regel wechselseitig achten. Wenn dann ein Mensch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft inhuman behandelt wird, dann verliert er das Vertrauen in die Menschheit als einer moralischen Gemeinschaft, so dass seine Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft den Wert verliert, der für seine Selbstachtung konstitutiv war. Die Demütigung verletzt sozusagen den Glauben des Opfers an die Humanität der Menschheit.17 Aber indem Margalit die moralische Selbstachtung so eng an die Faktizität wechselseitiger Achtung bindet, kann seine Theorie nur noch erklären, warum sich Menschen gedemütigt fühlen, nicht aber, warum sie es in vielen Fällen nicht tun. Damit verfügen wir nach wie vor über kein Erklärungsmodell, warum es dem Dissi-
3.3. Zur Moral der Selbstachtung
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denten gelingt, seine moralische Selbstachtung auch unter größten Demütigungen aufrechtzuerhalten. Wenn der Dissident wiederum seine Selbstachtung unabhängig vom Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen verfasst hat, warum sollte er sich dann noch gedemütigt fühlen? Die Antwort lautet, dass er die Demütigung unter Umständen für begründet hält und sich in diesem Fall berechtigterweise selbst verachtet. Das bedeutet aber nicht, dass die demütigende Handlung objektiv im Recht ist. Eine Demütigung ist per definitionem ein nicht zu rechtfertigender Akt der Inhumanität. Trotzdem ist es besonders schwer für eine Person, sich eine Demütigung nicht zu Eigen zu machen. Eine Demütigung ist eine Erniedrigung, die in der Hauptsache darin besteht, dass eine Person eine abwertende oder herablassende Behandlung erfährt, dass sie instrumentalisiert wird oder dass ihre Grundrechte missachtet werden. Durch diese Formen der Demütigung wird zunächst nur die sozialpsychologische Selbstschätzung einer Person beschädigt; ihre moralische Selbstachtung bleibt davon zunächst einmal unberührt. Aber eine Person, die über einen gesunden Gerechtigkeitssinn verfügt, wird sich über ihre Erniedrigung empören. So ist es gerade ihre gerechte Empörung, die eine gedemütigte Person nicht so einfach zur Ruhe kommen lässt, wie es das stoische Bild vermittelt. Die gerechte Empörung ist der erste Schritt zur Selbstaneignung einer Demütigung. Die Erfahrung ihrer Missachtung lässt eine sich selbst achtende Person nicht los und sie beginnt, ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen und sich zu verteidigen. Das Perfide an der Demütigung ist nämlich, dass man sie in der Regel nicht hinnehmen kann. Es gibt eine Reihe guter Gründe dafür, für die eigenen Rechte, für den guten Ruf und für die eigene körperliche Integrität zu kämpfen. Um dies zu veranschaulichen, brauchen wir nicht gleich auf extreme Beispiele zurückgreifen. Schon eine leicht abfällige Geste, eine belehrende Tonart oder ein vermeintlich belangloser Stereotyp können eine empörte Reaktion auslösen, weil hier auf subtile Weise eine Einstellung zum Ausdruck kommt, die den Status als gleichberechtigte und achtungswürdige Person insgesamt untergräbt. An diesem Status hängen sowohl das Selbstwertgefühl als auch die physische Existenz einer Person, die einerseits durch das Recht geschützt, andererseits
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3. Ethische Selbstschätzung und moralische Selbstachtung
durch ein feinmaschiges Netz affirmativer Einstellungen getragen wird. In einem öffentlichen Milieu herablassender Vorurteile haben es die Betroffenen zumindest sehr viel schwerer, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, weil sie ständig gezwungen sind, ihre gleichwertige Eignung unter Beweis zu stellen, oder weil sie gelernt haben, im vorauseilenden Gehorsam auf die Vorurteile zu reagieren. So wird zumindest ein Teil ihres Lebens von den Demütigungen bestimmt, bis es ihnen im defensiven Kampf gegen die Vorurteilsstruktur schließlich nicht mehr gelingt, ihr eigenes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen und sie nun auch noch einen Grund haben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu fühlen. Das eigentliche Paradox besteht also darin, dass sich eine ganz durch ihre Empörung beherrschte Person selbst zum Komplizen der Demütigung macht, da ihr Kampf gegen die Demütigung selbst ein Akt ihrer Anerkennung ist. In ihrer Empörung ist sie nicht mehr die selbstbestimmte Person, die sie sein will. Und erst an dieser Stelle hat sich die Demütigung selbst ins Recht gesetzt, weil es nun einen rationalen Grund gibt, sich zu schämen. Die zu Recht angeeignete Demütigung heißt moralische Scham (s. auch 5.3.). Sie ist selbst ein rationales Gefühl; der Grund, sich zu schämen, liegt darin, dass eine Person ihre eigene Selbstachtung im Kampf um ihre eigene Existenz preisgegeben hat. Wie eine Demütigung zur beschämenden Preisgabe der Selbstachtung führt, lässt sich an drastischen Beispielen, wie der Folter, besonders deutlich nachvollziehen. In der Folter führen Angst und Schmerz dazu, dass eine Person willfährig gemacht wird. Angst und Schmerz sind die überwältigendsten Mittel der Demütigung. Sie zeugen von einer absoluten Geringschätzung gegenüber dem Folteropfer und davon, dass sein Recht auf eine psychische und körperliche Integrität nicht mehr geachtet wird. Darum ist es nicht allein der Schmerz, sondern die sich in der Grausamkeit des Folterers artikulierende Bereitschaft zur totalen Instrumentalisierung, welche die Selbstschätzung des Opfers zerstört und sein Vertrauen in eine menschenwürdige Behandlung zerbricht. Wenn dem Folteropfer alle Formen der faktischen Wertschätzung entzogen sind, muss es sich auf seine rationale Selbstachtung zurückziehen, um sich etwa davon zu überzeugen, dass es
3.3. Zur Moral der Selbstachtung
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keine unschuldige Person ausliefern darf. Aber wie lange kann es dieses autonome Selbstverständnis aufrechterhalten? Sein unmittelbarer Wille, den Schmerz zu beenden, am Leben zu bleiben und wieder in seiner körperlichen Integrität anerkannt zu werden, macht das Opfer willfährig. An einer bestimmten Schwelle seiner Angst und seines Schmerzens gibt es den Widerstand auf und lässt sich durch einen anderen Willen bestimmen. Dadurch verliert es dann auch seine Selbstachtung und findet, dass sein eigener Körper zum Komplizen des Unrechts wird.18 Seine moralische Scham, gegen die sich das Opfer ebenso wenig wehren kann, beruht auf einem Gefühl der Schuld – der Schuld, selbst an der Preisgabe des eigenen Willens beteiligt gewesen zu sein.19 Das Paradox der Affizierbarkeit rationaler Selbstachtung löst sich demnach auf, wenn wir einräumen, dass Personen tatsächlich einen Grund haben, sich eine Demütigung anzueignen. Empörung und existentielle Sorge, so berechtigt sie selbst sind, machen Betroffene zu unfreiwilligen Komplizen des Unrechts und nehmen ihnen ihre Selbstbestimmung und damit letztlich auch den rationalen Grund, sich selbst zu achten. Eine gerechte Gesellschaft schützt die Selbstachtung ihrer Mitglieder so weit es geht vor diesen Erfahrungen. Dies bedeutet zum einen, wie Margalit hervorgehoben hat, dass ihre Institutionen alle Personen gleichermaßen respektvoll behandeln. Vor allem aber bedeutet es, dass Personen ein starkes Interesse an einem weitgehenden Grundrechtsschutz haben. Erst eine juridisch kodifizierte Verfassung schützt ihre Selbstachtung nachhaltig gegen die schlimmsten Arten zwischenmenschlicher und institutioneller Demütigungen und bildet so einen eigenständigen und stabilen Grund ihres Selbstwertgefühls.
4. Selbstachtung und Selbstkonstitution 4.1. Die normative Frage Meine im zweiten Kapitel eingeführte These lautet, dass die Selbstachtung einer Person im Grunde darauf zurückzuführen ist, dass sie ihre Eigenständigkeit ernst nimmt. Ihre Selbstgewissheit, eine Person und als solche einen Selbstzweck darzustellen, gründet in letzter Konsequenz auf der Achtung vor ihrer Autonomie bzw. vor ihrer Fähigkeit, sich selbst eine Verfassung zu geben, in der sie über einen eigenständigen normativen Referenzrahmen verfügt, um die objektive Berechtigung ihrer Willkür gegenüber den Restriktionen äußerer Normen zu prüfen. Diese hier in Kürze rekapitulierte These baut sichtbar auf einer bestimmten Kantinterpretation auf, die in diesem Kapitel vorgestellt und diskutiert werden soll. Zunächst soll diese Interpretation aber in den Horizont von Christine M. Korsgaards ‚normativer Frageȧ gestellt werden.1 Worum es in der ‚normativen Frageȧ geht, hat Korsgaard an der Figur des ‚klugen Schurkenȧ (sensible knave) veranschaulicht. David Hume führte diese Figur ein, um an ihr zu illustrieren, unter welchen Bedingungen es für eine Person nicht mehr rational ist, sich an moralische Pflichten zu binden. Genauer gesagt geht es Hume darum, einen exemplarischen Fall zu konstruieren, in dem die Erfüllung einer moralischen Pflicht nicht nur den unmittelbaren Interessen einer Person widerstreitet – dieser Fall wäre für eine konsequentialistische Ethik letztlich unproblematisch –, sondern in dem sich die Einschränkung ihrer unmittelbaren Interessen auch nicht durch positive Folgen rechtfertigen lässt, die sich erst langfristig erschließen. Mit anderen Worten, Hume prüft seine Theorie an einem klassischen free rider Problem, und zwar in seiner
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herausforderndsten Variante, in der normkonformes Verhalten zu einem persönlichen Verzicht führt, ohne dass dieser Verzicht durch einen Vorteil für alle anderen oder auf lange Sicht aufgewogen wird: Treating vice with the greatest candour [...] we must acknowledge that there is not the smallest pretext for giving it the preference above virtue, with a view to self-interest; except perhaps in the case of justice, where a man […] may often seem to be a loser by his integrity. And though it is allowed that without a regard to property, no society could subsist; yet according to the imperfect way in which human affairs are conducted, a sensible knave, in particular incidents, may think that an act of iniquity or infidelity will make a considerable addition to his fortune, without causing any considerable breach in the social union and confederacy…2
Wenn sich eine Person moralischen Normen gegenüber nur deshalb verpflichtet fühlt, weil ihre Geltung für die Erfüllung bestimmter Wünsche von Nutzen ist, dann scheinen Pflichtverletzungen, die ihre eigenen Wünsche in einem hohen Maße befriedigen, im Rahmen eines auf dem Eigeninteresse gegründeten Rationalitätsbegriff sogar geboten zu sein. Unter diesen Voraussetzungen ist es, wie Hume hervorhebt, eine Frage unserer Integrität gegenüber uns selbst, unsere eigenen Wünsche gegenüber unserer moralischen Pflicht vorzuziehen. Die Herausforderung liegt darin, dass der kluge Schurke durchaus ein Interesse an der Geltung moralischer Normen und am Funktionieren entsprechender Sanktionspraktiken nimmt. Aus seiner Sicht ist es rational, den Nutzen dieser Institutionen im Auge zu behalten und trotzdem abzuwägen, ob nicht andere Vorteile höher zu gewichten sind als ein zu vernachlässigender Schaden für die Moral. Demzufolge wäre zum Beispiel eine Notlüge geboten, wenn sie große Vorteile nach sich zieht, wenn dadurch weder die eigene Glaubwürdigkeit noch das wechselseitige Vertrauen aufs Spiel gesetzt wird und wenn auch sonst niemand zu Schaden kommt. Auch wenn es in der Regel rational sein mag, auf die moralische Handlungsstrategie zu setzen, sind daher ohne weiteres Situationen denkbar, in denen es rationaler ist, eine abweichende Strategie anzuwenden und zum free rider, gambler, outlaw, Tyrann oder eben zum klugen Schurken zu werden.
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4. Selbstachtung und Selbstkonstitution
Korsgaard nimmt diese Herausforderung an die Kantische Moralphilosophie zum Anlass zu fragen, warum sich Personen moralischen Forderungen gegenüber überhaupt verpflichtet fühlen.3 Eine zunächst vielversprechende Antwort auf ihre normative Frage findet Korsgaard in der Theorie des reflective endorsement. Wir können diese Position darin zusammenfassen, dass sich Personen Verpflichtungsgründe im Wortsinne selbst aufschultern. In Übereinstimmung mit der These, dass sich subjektive Verpflichtungsgründe aus dem So-Sein-Wollen einer Person ergeben, geht die Theorie des reflective endorsement davon aus, dass die normative Frage aus der Überprüfung unseres eigenen Selbstverständnisses zu beantworten ist. Wenn eine Person die mit ihrem Selbstverständnis verbundenen Praktiken für sich bejahen kann, hat sie in sich selbst einen Grund, die diesen Praktiken eingeschriebenen Normen zu befolgen. Als Beispiel für den Zusammenhang zwischen der praktischen Identität einer Person und ihren normativen Verpflichtungen betrachten wir einen Studenten, der vor der Frage steht, warum er der Pflicht gehorchen soll, in aller Frühe aufzustehen und in eine Vorlesung zu gehen. Zwar ist es möglich, dass er diese normative Frage zunächst mit dem Hinweis auf externe Verpflichtungsgründe in Form drohender Sanktionen beantworten will, aber letztlich steht er ganz allein vor der Frage, ob er sich selbst mit der Praxis des Studierens identifizieren und sich die damit zusammenhängenden normativen Sanktionen zu eigen machen will oder nicht. An diesem Beispiel wird deutlich, wie die Sollgeltung von Normen mit einem Prozess reflexiver Selbstvergewisserung verschaltet ist. Die Pflicht, Normen zu folgen, hat darin ihren Grund, dass eine Person die Praxis bejaht, aus der sich diese normative Ansprüche für sie aufbauen, so dass sie die Pflicht als Pflicht gegenüber sich selbst versteht.4 Die Theorie des reflective endorsement bietet zwar eine anschlussfähige Beschreibung dafür an, wie unser jeweiliges Selbstverständnis subjektive Verpflichtungsgründe generiert, die normative Frage ist damit allerdings noch nicht abschließend beantwortet, weil sie noch tiefer in das Problem eindringt, ob unsere persönlichen Gründe auch objektiv zu rechtfertigende Gründe sind. Ein subjektiver Verpflichtungsgrund lässt sich darauf zurückführen, dass wir
4.1. Die normative Frage
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uns mit einer bestimmten sozialen Praxis und den damit verbundenen Normen identifizieren, aber auf einen genuin moralischen Verpflichtungsgrund stoßen wir erst, wenn wir die entsprechenden Normen auch allgemein rechtfertigen wollen. Die Theorie des reflective endorsement erklärt zwar, wie sich aus der Identitätsaussage, dass ich ein Student der Neurowissenschaften, dein Freund oder ein Bürger dieses Landes bin, subjektive Verpflichtungsgründe ergeben, sie klärt uns aber nur unzureichend darüber auf, wie wir zu den normativen Pflichten unserer praktischen Identität in Distanz treten und die objektive Berechtigung einzelner Pflichten beurteilen können – und warum dies wichtig für uns ist. Dieses Problem wird dann offensichtlich, wenn eine Person in einem Normenkonflikt steht und ein objektives Kriterium dafür sucht, welche identitätsstiftende Praxis moralisch richtig ist. Eine Person ist zugleich Familienvater, Freund, Bürger oder Kollege und ihr Leben wird durch jede dieser praktischen Identitäten mit einem ganzen Netzwerk normativer Pflichten überformt. Zunächst ist es eine ganz alltägliche Begebenheit, dass sie ihre Verpflichtungen zwischen Familie, Karriere und Praktiken, die ihr für ihre Selbstverwirklichung wichtig sind, gewichten muss. Die Frage ist nur, nach welchen Kriterien sie über die Priorität ihrer normativen Verpflichtungen entscheidet. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Einflüssen, wie kulturell etablierte Rollen oder sozial vermittelte Standards, aber diese kontingenten Einflüsse verlegen den Verpflichtungsgrund wieder von der Einwilligung einer selbstbestimmten Person nach außen in heteronome Verpflichtungsgründe. Traditionell hat sich eine Vielzahl von Modellen und Metaphern herausgebildet, die beschreiben sollen, wie eine Person unter verschiedenen Handlungsoptionen wählt und wie sie sich zwischen widerstreitenden Wünschen entscheidet. Das einfachste Modell geht davon aus, dass sich der stärkste Wunsch gegen andere Wünsche durchsetzt. Dieses Modell übermächtiger Wünsche ist aber unbrauchbar, wenn es darum geht zu beschreiben, wie sich Personen selbständig gegenüber ihren Wünschen verhalten, dass heißt, wie sie sie gegebenenfalls unterdrücken oder kanalisieren können. Schon um verständlich zu machen, warum eine Person ihrem starken Wunsch zu trotz handelt, hat Hume auf ein diffe-
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4. Selbstachtung und Selbstkonstitution
renziertes Bild eines seine Wünsche abwägenden und seine mittelund langfristigen Interessen ausbalancierenden Selbst zurückgegriffen. In diesem Bild ist das eigentliche Selbst dasjenige, das seine Wünsche aufgrund seiner eigenen Vorstellung davon austariert, was für eine Person es sein will. Das Problem der Priorisierung gegensätzlicher Verpflichtungsgründe ist über eine Reflexion des eigenen So-Sein-Wollens aber noch nicht abschließend gelöst. Wenn eine Person ihre Verpflichtungen gegenüber anderen gewichtet und dabei selbst bestimmte Wünsche unterdrückt, dann braucht sie Gewissheit, dass ihre Selbstdisziplin auch richtig ist. In der moralischen Selbstvergewisserung prüft sie daher, ob ihre Pflichten auch wirklich auf ihrem eigenen So-Sein-Wollen basieren oder lediglich aus ihrer kontingenten Verstrickung in normative Kontexte herrühren. Dazu stellt sie sich die genuin moralische Frage, ob sie selbst in einer Welt leben wollen könnte, in der die betreffenden Normen allgemein gelten; und nur die ernsthafte Antwort auf diese Frage gibt ihr die Gewissheit, ob ihre Wünsche und Interessen berechtigt sind oder nicht.
4.2. Das Schamgefühl der Vernunft: Immanuel Kant Wir können nun Teile der Kantischen Moralphilosophie als eine Antwort auf die Frage lesen, welchen Grund eine Person hat, sich gegenüber einer Norm verpflichtet zu fühlen. Die Erklärung, die uns Kant hierfür anbietet, läuft darauf hinaus, dass der gesuchte subjektive Verpflichtungsgrund in der Achtung vor uns selbst als einer autonomen Person liegt. Zwar kommt das Wort ‚Selbstachtungȧ in Kants Schriften gar nicht vor, wir werden aber sehen, dass der Selbstachtungsbegriff der Sache nach einen Schlüsselgedanken in Kants Moralsystem bildet – und dann zumeist unter dem Namen der ‚moralischen Selbstschätzungȧ oder in der Umschreibung als ‚Achtung für sich selbstȧ.1 Achtung für sich selbst ist die Triebfeder, die eine Person dazu motiviert, sich unter das Gesetz der praktischen Vernunft zu stellen. Damit nimmt der Selbstachtungsbegriff einen überragenden Stellenwert in Kants praktischer
4.2. Das Schamgefühl der Vernunft: Immanuel Kant
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Philosophie ein – zumal, wenn wir in ihr nach einer Antwort auf die Frage suchen, warum sich eine Person moralisch konstituieren soll. 2 Während der objektive Verpflichtungsgrund direkt im Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft liegt, verortet Kant den subjektiven Verpflichtungsgrund explizit im moralischen Gefühl der Selbstachtung. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Vernunft prinzipiell nur in sich selbst achtenden Personen wirksam wird. In den beiden folgenden Abschnitten soll dieser Zusammenhang weiter vertieft und gezeigt werden, wie Kant eine Pflicht zur Selbstachtung begründet. Nachdem wir in einem dritten Abschnitt den Zusammenhang von Selbstachtung, Freiheit und Selbstgesetzgebung bei Kant rekonstruiert haben, werden wir zum Ende des Kapitels wieder auf Korsgaard zurückkommen und ihre normative Frage zu beantworten suchen.
4.2.1. Selbstdisziplinierung und Selbstbilligung In Kants System der praktischen Vernunft hat das Selbstachtungskonzept die Funktion zu erklären, aus welchen Motiven sich eine Person eine moralische Verfassung gibt bzw. warum sie sich unter das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft stellt. Nachdem die „Analytik“ in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) noch ganz darauf ausgerichtet war, dieses Grundgesetz auszuformulieren, blickt Kant an ihrem Ausgang auf eine Moral zurück, in der die Frage, was eine Person dazu motiviert, ihren Willen am Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft zu bestimmen, noch gänzlich unbeantwortet geblieben ist.1 Dies ist umso bemerkenswerter, als sich Kant theorieimmanent alle herrkömmlichen Wege verschlossen hat, um zu erklären, was eine Person dazu motiviert, in eine moralische Verfassung einzuwilligen und sich auch in Konfliktfällen an sie zu halten. So argumentiert er ebenso gegen hedonistische, eudämonistische oder utilitaristische Vorteilserwägungen, wie gegen die Vorstellung, dass Menschen notwendig von ihren sympathisierenden Gefühlen geleitet werden oder anderweitig von Natur aus altruis-
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4. Selbstachtung und Selbstkonstitution
tisch oder kooperativ veranlagt sind.2 Aus Kants Sicht verlagern diese Motive den Verpflichtungsgrund entweder in eine zu optimistische Sicht der menschlichen Natur oder aber in eine zu mechanistische Anthropologie, in der ein Mensch einzig nach seinem Glück strebt und seine moralische Verfassung jederzeit dafür preisgeben würde.3 Um ohne diese sehr starken Voraussetzungen erklären zu können, warum Personen unter allen Umständen einen Grund haben, an ihrer moralischen Identität festzuhalten, untersucht er, ob sich der moralische Verpflichtungsgrund nicht direkt aus dem Vernunftgesetz ergibt. Er setzt sich mit anderen Worten die Aufgabe zu zeigen, wie die objektiv vernünftige Pflicht, den Willen durch das Gesetz bestimmen zu lassen, Einlass in die subjektive Motivation einer Person findet. Im Triebfedernkapitel der Kritik der praktischen Vernunft nimmt Kant diese Aufgabe systematisch in Angriff.4 In sich wiederholenden Anläufen ringt er hier sichtbar um die Entwicklung einer tragfähigen Beschreibung. Seine Eingangsthese bildet die Annahme, dass ein moralischer Wille durch nichts anderes als durch das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft bestimmt wird.5 Nun verfügt der Mensch aber über keinen reinen, heiligen bzw. göttlichen Willen, der sich unmittelbar durch Gründe bestimmen lässt, die „für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig“ (AA V, KpV, S. 19), also objektiv gerechtfertigt sind. Für Kant ist der Mensch kein Wesen, das direkt durch vernünftige Gründe motiviert wird.6 Das einzige Vermögen, durch das der Mensch qua Sinnenwesen stimuliert werden kann, ist sein subjektives Begehrungsvermögen. Mit anderen Worten, ein Mensch handelt nicht aus Vernunft, sondern einzig und allein aus dem Gefühl der Lust oder Unlust. Nach Kants Prämisse, dass allein ein durch das Vernunftgesetz bestimmter Wille moralisch ist, müsste sich das subjektive Motiv (die Lust) demzufolge direkt aus dem objektiven Bestimmungsgrund (dem Vernunftgesetz) ergeben. Tatsächlich kommt er zu der Schlussfolgerung, dass die reine praktische Vernunft auf einen Zugriff auf das Gefühl der Lust und Unlust, eben auf eine „Triebfeder (elater animi)“ (AA V, KpV, S. 72), angewiesen ist, mittels der die Vernunft die subjektive Aneignung des moralischen Gesetzes vorantreibt. Im mechanischen Bild der Triebfeder versucht Kant zu erfassen, wie die reine und als solche immerhin
4.2. Das Schamgefühl der Vernunft: Immanuel Kant
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gar keinen Gegenstand möglicher Erfahrung bildende praktische Vernunft unser Begehrungsvermögen für einen moralischen Verpflichtungsgrund empfänglich macht. Die Aufgabe, der sich Kant nun stellt, ist zu erklären, warum unsere moralische Selbstdisziplin eine Lust auslöst, die uns subjektiv dazu motiviert, unseren Willen moralisch zu verfassen. Anders gesagt geht es darum „sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe“ (AA V, KpV, S. 72).7 Kurz gesagt teilt sich uns das Gesetz der praktischen Vernunft mit, wenn wir spüren, wie wir unsere unberechtigten Neigungen zurückweisen – und diese Erfahrung ist für uns schmerzhaft.8 Die Neigungen einer Person werden gewaltsam diszipliniert und nur, weil es sich darin um eine objektiv berechtigte Selbstdisziplinierung handelt, hat die Person in ihrem Schmerz zugleich ein Pfand ihres vernünftigen Selbst. Um diesen Zusammenhang zwischen Selbstdisziplinierung und Selbsterhebung besser zu verstehen, bietet es sich wiederum an, ihn umgangssprachlich zu veranschaulichen. Wir sprechen beispielsweise davon, dass wir unsere ‚Bequemlichkeit überwindenȧ, uns ‚einen Genuss verkneifenȧ oder ‚unseren Appetit zügelnȧ. In diesen Idiomen interpretieren wir uns als selbstbeherrschte Personen, die ihre sinnlichen Neigungen durch vernünftige Grundsätze maßregeln. Im weiteren Verlauf des Triebfedernkapitels schildert Kant nun die Unterwerfung der phänomenalen unter die intelligible Persönlichkeit.9 Bevor er aber zur moralischen Selbstachtung kommt, klassifiziert er zunächst die Erscheinungsformen unmoralischer Selbstverhältnisse.10 Sein Oberbegriff für ein Selbstverhältnis, das auf die eigene Glückseligkeit reduziert ist, heißt Selbstsucht (solipsismus). Sie gliedert sich in Eigenliebe und Eigendünkel. Die Eigenliebe oder auch Selbstliebe (philautia) beruht auf einem übermäßigen Wohlwollen gegenüber sich selbst. Dies ist zwar, wie Kant einräumt, ein ganz natürliches Gefühl, hat aber nur dann eine Berechtigung, wenn es mit dem Grundgesetz der praktischen Vernunft in Übereinstimmung gebracht wird. „Die reine Vernunft“, so Kant, „tut der Eigenliebe bloß Abbruch“, und schränkt sie auf die „Einstimmung mit diesem Gesetze“ ein, wodurch sie
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4. Selbstachtung und Selbstkonstitution
zur vernünftigen Selbstliebe wird. Entscheidend ist, dass wir auch nach Kant nicht einfach unsere willkürlichen Impulse ausmerzen, sondern dass wir sie ins Recht zu setzen suchen. Auch in der vernünftigen Selbstliebe verfolgen wir unser eigenes Wohl; allerdings reduzieren wir die Mittel zur Erreichung unseres Wohlergehens auf solche, die ein moralisch konstituierter Wille gelten lassen kann. Der Eigendünkel (arrogantia) auf der anderen Seite besteht nicht im Wohlwollen gegen sich selbst, das auf Sinnlichkeit beruht, sondern im Wohlgefallen an sich selbst.11 Ihm liegt das Urteil zugrunde, dass das eigene Wohl einen objektiven Wert darstellt. Im Eigendünkel – oder geläufiger: in der Arroganz – macht sich die Selbstsucht zum Souverän über den Willen. Eine falsche Selbstschätzung kann aber die Vernunft noch viel weniger dulden als die Selbstliebe, weil jene die moralische Selbstschätzung zu ersetzen droht. Während die moralische Selbstschätzung darauf beruht, einen Wert aufgrund der Übereinstimmung mit dem Gesetz zu haben, glaubt die arrogante Person, dass ihr eigenes Wohlergehen besonders wertvoll ist, und gründet ihr ganzes Selbstwertgefühl auf selbstsüchtigen Motiven. Deswegen schränkt das moralische Gesetz die Arroganz nicht bloß ein, sondern wird geradewegs gewalttätig und schlägt sie nieder – und indem die praktische Vernunft die Arroganz „niederschlägt, d. i. demütigt, [ist sie] ein Gefühl der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird“ (AA V, KpV, S. 73). Während auf der einen Seite die Selbstschätzung einer empirischen Person gewaltsam niedergeschlagen wird, richtet sich das Selbstwertgefühl des ganzen Menschen umgehend wieder auf, und zwar dadurch, dass er Achtung für seine intelligible Persönlichkeit empfindet. Die Achtung vor sich selbst als intelligibler Person gründet im Wesentlichen auf ihrer Einsicht, dass sie sich den objektiven Verpflichtungsgrund (das moralische Gesetz) selbst gegeben hat. Begleitet wird diese Einsicht vom ästhetisch-moralischen Gefühl der eigenen Erhabenheit, das sich dann als handlungsauslösende Triebfeder, sprich als subjektives Motiv moralischen Handelns auswirkt. Seinen Ursprung, so insistiert Kant, hat das moralische Erhabenheitsgefühl aber nicht in der Erfahrung, sondern im moralischen Gesetz selbst bzw. in der praktischen Ver-
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nunft. Kant vertritt mit anderen Worten die These, dass es rationale Gefühle gibt, die einzig und allein durch vernünftige Gründe hervorgerufen werden und nicht durch andere Gefühle affizierbar sind.12 Das rationale Gefühl, das Kant als Verpflichtungsgrund einführt, ist die Achtung vor dem Gesetz – oder subjektiv gewendet: die Achtung vor sich selbst als moralischem Gesetzgeber. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, weder den emotionalen noch den rationalen Aspekt des Achtungsbegriffs zu vernachlässigen. Achtung ist einerseits ein rationales Gefühl, insofern sie uns Lust bereitet und zum moralischen Handeln motiviert; sie ist aber auch ein rationales Gefühl und insofern ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden“.13 Die Achtung, die wir subjektiv als ein pathologisches Gefühl empfinden, ist im „Urteile der Vernunft“ ein rationales Gefühl, für das es einen objektiven Grund gibt.14 Wenn wir von einer Achtung vor uns selbst sprechen, dann basiert diese Achtung zwar auf der empirischen Erfahrung, dass unsere Neigungen gemaßregelt werden, aber ausschlaggebend für die Umwandlung dieser schmerzvollen Erfahrung in eine positive Selbstachtung ist das rationale Urteil, dass wir uns selbst und zu Recht diszipliniert haben – etwa weil eine ungezügelte Verwirklichung unserer Neigungen mit unseren eigenen vernünftigen Lebensplänen oder den vernünftigen Lebensplänen anderer unvereinbar wäre. „Kurzum“, so bringt es Giovanni B. Salas Kommentar auf den Punkt, „die Achtung für das Gesetz ist im Grunde Achtung vor sich selbst; man gewinnt Interesse an einer pflichtmäßigen Handlung, weil die eigene Vernunft die Gesetzgeberin ist.“15 Um die logische Gleichzeitigkeit des vernünftigen und pathologischen Moments der Achtung noch besser begreifbar zu machen, unterscheidet Kant zwei Formen der Kausalität. Er nennt das sinnliche Gefühl die Bedingung der Achtung vor dem Gesetz, während die praktische Vernunft ihre Ursache ist.16 Entsprechend seiner Unterscheidung von subjektiven und objektiven Bestimmungsgründen des Willens führt Kant auch objektiv und subjektiv wirkende Kausalketten ein. Im objektiven Betrachtungswinkel
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4. Selbstachtung und Selbstkonstitution
erscheint die praktische Vernunft als transzendentes und überpersönlich wirksames moralisches Gesetz, das die sittliche Welt analog zu einem Naturgesetz bestimmt. Entsprechend ist im Achtungsbegriff die mit einer ehrfürchtigen Scheu begleitete Erkenntnis ausgedrückt, dass unsere sittliche Welt nach vernünftigen Gesetzen eingerichtet ist, analog zum berühmten bestirnten Himmel über uns, der ein Zeugnis der gesetzmäßigen und quasi göttlichen Einrichtung der Natur abgibt. Kant kann deswegen behaupten, dass die „Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit“ ist, sondern „die Sittlichkeit selbst [ist], subjektiv als Triebfeder betrachtet“ (AA V, KpV, S. 76). Im subjektiven Betrachtungswinkel erscheint das Gefühl der Achtung aber als Motiv der Handlung. Wenn sich eine Person selbst als Urheber des moralischen Gesetzes, sprich als moralisch verfasste bzw. autonome Person, versteht, empfindet sie Achtung für sich selbst als ein erhabenes Gefühl für ihre intelligible Persönlichkeit bzw. für ihre moralische Identität. Um die scheinbare Schizophrenie rationaler Gefühle, die zugleich in einer Wirkkette der Freiheit und der Natur stehen, aufzulösen, ist es hilfreich, wenn wir die beiden normativen Selbstverhältnisse analysieren, in denen Kant diese beiden Momente der moralischen Selbstachtung zur Sprache bringt. Als die Selbstbilligung einer Person bezeichnet Kant einerseits das ganz und gar rationale Moment der Selbstachtung, in dem eine Person ihr moralisches Erhabenheitsgefühl vor ein „Gewissensgericht (forum poli)“ bringt (AA VI, MS (RL), S. 235), das über ihre objektive Rechtmäßigkeit entscheidet und dadurch moralische Arroganz und Selbstherrlichkeit unterbindet.17 Mit dieser rationalen Selbstaffirmation korrespondiert auf der Ebene der Naturkausalität ein moralisches Selbstverhältnis, das einseitig durch das subjektive Begehrungsvermögen bedingt wird, nämlich die Selbstzufriedenheit. Selbstzufriedenheit beruht nach Kant auf einem tugendhaften Charakter; sie ist, wie er es in der Metaphysik der Sitten ausdrückt, der „Tugendlohn“ (AA VI, MS (TL), S. 377). Wenn eine empirische Person ihren Willen vom Gesetz bestimmen lässt, bewirkt „die öftere Ausübung diesem Bestimmungsgrunde gemäß subjektiv ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst“ (AA V, KpV, S. 38).18 Diese Zufriedenheit ist aber kein Glücksgefühl im her-
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kömmlichen Sinne, sondern eben ein vernunftgewirktes Gefühl. Wie Kant es ausdrückt, erzeugt die Vernunft „ein Bewusstsein der Obermacht über seine Neigungen, hiermit also der Unabhängigkeit von denselben, folglich auch der Unzufriedenheit, die diese immer begleitet und also ein negatives Wohlgefallen mit seinem Zustande, d. i. Zufriedenheit [...], welche in ihrer Quelle Zufriedenheit mit seiner Person ist“ (AA V, KpV, S. 118). Diese Zufriedenheit mit sich selbst und seiner moralischen Identität ist bei Kant eng mit dem Freiheitsbegriff korreliert, weil sie die empirische Person erst für den Wunsch empfänglich macht, sich als eine freie Person zu konstituieren. „Freiheit selbst“, so Kant, „wird auf solche Weise (nämlich indirekt) eines Genusses fähig“ (AA V, KpV, S. 118). Subjektiv wird eine Person durch die Lust an der eigenen Freiheit zu moralischen Handlungen stimuliert, objektiv aber gründet dieses moralische Gefühl in der reinen praktischen Vernunft. Kant begreift die Selbstzufriedenheit sozusagen als das Vehikel, in dem die reine praktische Vernunft in die Sinnlichkeit vorstößt und diese zum ausführenden Organ, gleichsam zur Exekutive ihrer Gesetzgebung macht. Deswegen bezeichnet er es als eine Pflicht, die Zufriedenheit mit sich selbst, „welche eigentlich allein das moralische Gefühl genannt zu werden verdient, zu gründen und zu kultivieren“ (AA V, KpV, S. 38). Wenn wir in Kants Theorie klar zwischen einer objektiven und einer subjektiven Perspektive trennen, müssen wir die normative Frage vorerst so beantworten, dass ein objektiver Verpflichtungsgrund in der Selbstbilligung einer Person durch das Vernunftgesetz liegt, während ein weiterer, subjektiv gelagerter Verpflichtungsgrund in ihrer spezifisch moralischen Selbstzufriedenheit zu finden ist. Im Konzept der Selbstachtung laufen diese Perspektiven in einem einzigen Verpflichtungsgrund zusammen. Selbstachtung, die Kant wie gesagt in Abgrenzung zu egoistischen oder arroganten Erscheinungsformen der Selbstschätzung als „eine mit Demut verbundene Selbstschätzung“ (AA V, KpV, S. 128), zumeist aber eine moralische Selbstschätzung und eine Achtung für uns selbst nennt, bezeichnet die einzig mögliche Wirkung der Vernunft auf die menschliche Natur.19
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In Abwandlung der normativen Frage will Kant in der „Methodenlehre“ der Kritik der praktischen Vernunft wissen, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluss auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objektiv praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne“ (AA V, KpV, S. 151). Die Antwort darauf gibt Kant folgerichtig in dem seine Kritik der praktischen Vernunft abschließenden Textbaustein, der zu den wenigen Stellen zählt, in denen Kant explizit von einer Achtung für uns selbst spricht: Und nun findet das Gesetz der Pflicht durch den positiven Werth, den uns die Befolgung desselben empfinden lässt, leichteren Eingang durch die Achtung für uns selbst im Bewusstsein unserer Freiheit. Auf diese, wenn sie wohl gegründet ist, wenn der Mensch nichts stärker scheuet, als sich in der inneren Selbstprüfung in seinen eigenen Augen geringschätzig und verwerflich zu finden, kann nun jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden; weil dieses der beste, ja der einzige Wächter ist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Gemüte abzuhalten. (Hervorhebung im Original, AA V, KpV, S. 161)
In Kants Antwort auf die normative Frage läuft demnach alles auf den Begriff der Achtung vor uns selbst hinaus. Statt eines ehrfürchtigen Erschauderns vor einer äußerlichen Macht, einem Gott oder Herrscher, lässt uns unsere Selbstachtung vor uns selbst und vor der Anwesenheit reiner Vernunft in uns eine Art heiliger Scheu empfinden und gewährt uns eine Ahnung von einer erhabeneren Welt, von der wir keinen anderen empirischen Hinweis haben als das Faktum, dass wir unseren Egoismus freiwillig einschränken und unsere Arroganz als demütigend und peinlich erfahren. Selbstachtung ist gleichsam das Schamgefühl der Vernunft, zumindest aber ist sie mit dem moralischen Schamgefühl einer Person verbunden, das diese nur empfindet, wenn sie sich selbst als eine vernünftige, autonome und freie Person achtet. Denn nur weil sie das Grundgesetz der praktischen Vernunft auf sich selbst bezieht, fühlt sie sich von ihm wie von einem selbstgegebenen Gesetz angesprochen.20 Dies ist aber nicht mehr Kants Ansicht, für den die Identifikation mit dem Gesetz keine Frage des eigenen So-Sein-Wollens, sondern ein Faktum ist. Dagegen halte ich es für viel plausibler zu sagen, dass wir uns für das moralische Gesetz
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empfänglich zeigen, weil wir subjektiv gewillt sind, unsere Selbstachtung aufrechtzuerhalten. Erst wenn wir das Gefühl der Achtung noch deutlicher, als Kant es tut, auf unser So-Sein-Wollen beziehen, haben wir in dem Gefühl der Achtung für uns selbst einen eigenständigen Verpflichtungsgrund, unseren Willen durch das Grundgesetz der praktischen Vernunft bestimmen zu lassen und uns eine moralische Verfassung zu geben.21
4.2.2. Die Pflicht zur Selbstachtung In seinem Spätwerk, der Metaphysik der Sitten (1797), entwickelt Kant eine sehr viel differenziertere Lehre subjektiver Verpflichtungsgründe, in der dem Selbstachtungskonzept ebenfalls die zentrale Rolle zufällt. Bereits in der Einleitung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre (TL) unterscheidet er vier „Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“: Sie sind das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung), welche zu haben es keine Verbindlichkeit gibt; weil sie als subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, nicht als objektive Bedingungen der Moralität zum Grunde liegen. Sie sind insgesamt ästhetisch und vorhergehende, aber natürliche Gemütsanlagen (praedispositio), durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden; ... die jeder Mensch hat und kraft deren er verpflichtet werden kann. (AA VI, MS (TL), S. 399)
Moralisches Gefühl, Gewissen, Liebe und Selbstachtung bilden demzufolge die natürliche Ausstattung einer Person, um einen objektiven Verpflichtungsgrund in ihrem Begehrungsvermögen zu verankern.1 Weil eine objektive Pflicht ohne diese subjektiven Bedingungen der Moralität keinen Zugriff auf den Willen findet, kann es noch nicht einmal eine Pflicht geben, diese subjektiven Voraussetzungen von Grund auf zu schaffen, da eine Pflicht nur dann eine Pflicht für uns sein kann, wenn wir die subjektive Empfänglichkeit für eine solche Pflicht bereits mitbringen. Der gewissenlose Verbrecher, der zur Liebe unfähige Egomane, der sich selbst missachtende Opportunist und schließlich auch die Person, die einen lack of moral sense aufweist, ihnen allen scheint der subjek-
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tive Verpflichtungsgrund abzugehen, durch den sich die praktische Vernunft in ihnen Resonanz verschaffen könnte. Auch wenn es also keinen Sinn macht, von einer Pflicht zur Aneignung dieser Gemütsanlagen zu sprechen, so lässt sich immerhin eine Pflicht gegen sich selbst begründen, diese natürlichen Anlagen weiter auszubauen und sie, so Kants bevorzugte Metapher, zu kultivieren. Das moralische Gefühl, das Kant an dieser Stelle als den Oberbegriff für die subjektive „Empfänglichkeit für Lust und Unlust, bloß aus dem Bewusstsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetz“ (AA VI, TL, S. 399) definiert, gehört zur natürlichen Ausstattung des Menschen, so dass es eine Pflicht gegen sich selbst ist, die eigenen moralischen Gefühle zu „kultivieren“ (ebd.). Entsprechend besteht gegenüber dem Gewissen, das Kant als „das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ definiert (AA VI, TL, S. 438), eine ebensolche Pflicht, es „zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden [...], um ihm Gehör zu verschaffen“ (AA VI, TL, S. 401). Zu diesen beiden indirekten Pflichten gegenüber sich selbst tritt allerdings keine wirkliche Pflicht zur Nächstenliebe hinzu, weil Liebe ein zutiefst irrationales Gefühl ist und sich für die Stimme der Vernunft gänzlich unempfänglich zeigt.2 Aber auch wenn man sich selbst nicht zur Liebe überreden oder gar zwingen kann, so unterstellt Kant doch, dass es zumindest ein „Wohlwollen (amor benevolentiae)“ gegenüber allen Menschen gibt und dass es eine Pflicht gegenüber sich selbst ist, eine philanthrope Einstellung zu kultivieren – auch wenn man, wie Kant süffisant einräumt, „gleich die traurige Bemerkung machen müsste, dass unsere Gattung, leider! dazu nicht geeignet ist, dass, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig befunden werden dürfte“ (AA VI, TL, S. 402). Entsprechend ist es im engeren Sinne irreführend, von einer Pflicht zur Selbstachtung zu sprechen, weil ein vernünftiger Verpflichtungsgrund nur in einer sich bereits selbst achtenden Person wirksam werden kann.3 Es macht daher nur Sinn, von den Pflichten einer sich bereits selbst achtenden Person zu sprechen. Die umfänglichste Pflicht dieser Person besteht einfach darin, ihre
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Selbstachtung aufrechtzuerhalten – woraus sich für Kant im Grunde alle moralischen Pflichten ableiten lassen, angefangen von der Pflicht zur Selbsterhaltung, über die Pflicht zur Selbstvervollkommnung bis zur Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Bemerkenswerterweise ist es gerade die Unwahrhaftigkeit gegenüber sich selbst, die für Kant die größte Verletzung gegenüber der Pflicht zur Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung darstellt. Denn eine sich über ihre eigentlichen Motive betrügende Person desavouiert die Moral selbst, indem sie vorgeblich im Namen der Moral handelt, dabei aber die Rechte und Würde anderer Menschen verletzt.4 Als zweites Laster wider die Pflicht, seine Selbstachtung zu bewahren, nennt Kant den Geiz, und zwar genauer den Geiz gegen sich selbst. Dieser besteht in der „Verengung seines eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben unter das Maß des wahren eigenen Bedürfnisses“ (AA VI, TL, S. 432). Eine moralisch verfasste Person ist in Kants angeblich asketischer Moralphilosophie ausdrücklich dazu verpflichtet, den „angenehmen Lebensgenuss“ wichtig zu nehmen, weil er zur natürlichen Vollkommenheit ihres Lebens beiträgt. Es ist daher schon ein Verstoß gegen die Pflicht zur Selbstachtung, wenn sie sich ohne vernünftigen Rechtsgrund einen Genuss versagt! Denn in diesem Fall hat ihr Geiz soweit von ihr Besitz ergriffen, dass er ihre eigenen Bedürfnisse unterdrückt und sich der Geizkragen selbst zum Mittel seines Besitzes macht, womit er seine Achtung vor sich selbst als einem Zweck an sich selbst untergräbt. Mit dem Laster der Kriecherei führt Kant schließlich vor Augen, wie sich Menschen so weit erniedrigen können, dass sie ihre Selbstachtung und damit ihre Freiheit und moralische Selbstbestimmung gänzlich preisgeben. Als Kriecherei bezeichnet Kant ein fehlendes „Bewusstsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage“ (AA VI, TL, S. 435), kurz, dem Kriecher oder – geläufiger ausgedrückt – dem Opportunisten fehlt es an einer angemessenen Einschätzung seines moralischen Wertes. Eingangs haben wir gesehen, dass diese Pflichtverletzung mittlerweile sprichwörtlich mit der demutsvollen Servilität Onkel Toms gleichgesetzt wird. Später werden wir darauf zurückkommen und sehen, dass es Onkel Tom gar nicht an Selbstachtung fehlt – ohne diese natürliche Empfänglichkeit für das Gesetz könnte man ihm gar keine
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Pflichtverletzung vorwerfen –, sondern dass ihm das Bewusstsein abgeht, einen Anspruch auf bestimmte moralische Rechte zu haben, die er aus Sorge um seine Selbstachtung ernster nehmen sollte, als er es tut.5 Zwar kann ein Mensch als, wie Kant plakativ schreibt, „Tiermensch“ gute Gründe haben, sich erniedrigt zu fühlen, aber das „Bewusstsein seiner Würde als Vernunftmensch“ oder seine, wie Kant es weiter ausdrückt, „moralische Selbstschätzung“ sollten über jede Erniedrigung erhaben sein (AA VI, TL, S. 435). Deswegen bleibt die Pflicht zur Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung immer bestehen, ganz gleich ob eine Person, so der klassische Topos der Stoa, als Sklave vernutzt oder als Kaiser verehrt wird. Kant drückt dies in dem Gebot aus: Er [der Vernunftmensch, HH] soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, sondern immer mit dem Bewusstsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist); und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst. (AA VI, TL, S. 434)
Kriecherei und Opportunismus sind der Versuch, sich unter Umgehung des moralischen Gesetzes einen Wert zu sichern. Die Strategie des Opportunisten geht insbesondere darauf, sich einer anderen selbstbestimmten Person zu unterwerfen und an ihrem Wert zu parasitieren.6 Das Verwerflichste ist aber, dass der Opportunist einen Weg gefunden hat, sich sein Selbstwertgefühl durch die Unterwerfung unter eine andere Person zu erschleichen und so gar keine Motivation mehr zur Selbstbestimmung und zur Kultur seiner Selbstachtung verspürt.7 So sichert er sich zwar sein Selbstwertgefühl, verspielt aber seine Selbstachtung und seine Würde, denn nur darauf, „daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, [folgt] zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung als Gefühl seines inneren Werths (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist und eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt.“ (AA VI, TL, S. 436)
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Je deutlicher Kant herausstellt, dass unsere Selbstachtung den subjektiven Verpflichtungsgrund für Pflichten gegen uns selbst bildet, desto klarer tritt auf der anderen Seite hervor, dass die moralische Selbstachtung als der ultimative Verpflichtungsgrund gelesen werden kann, der allen Pflichten gegen uns selbst und auch gegenüber anderen Personen zugrunde liegt. Die empirische Seite der Selbstachtung, die Kant streng genommen als Gefühl der Selbstzufriedenheit bezeichnet, ist das einzige moralische Gefühl, von dem sich zuvor zeigen ließ, dass es wirklich empfänglich für das Gesetz ist. Dagegen stellt seine eigentümliche Definition des Gewissens als eines inneren Gerichtshofes nichts anderes dar als eine Explikation der moralischen Verfassung einer Person, welche die objektive Seite ihrer moralischen Selbstachtung bildet. Ebenso können wir die Menschenliebe, respektive das Wohlwollen gegenüber anderen, auf die Selbstachtung zurückführen. Denn „anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun“, ist für Kant eine „Pflicht, man mag sie lieben oder nicht“ (AA VI, S. 402). In dieser Form lässt Kant von der klassischen Bedeutung der benevolentia als einer universellen Sympathie mit allen leidfähigen Wesen wenig übrig.8 Ein universelles Wohlwollen, das nicht aus Sympathie geschieht, sondern aus Pflicht, heißt in der Kantischen Terminologie eigentlich Achtung, zu der sich eine Person wiederum aus Selbstachtung verpflichtet fühlt. Auch die Pflicht zur wechselseitigen Achtung lässt sich schließlich auf die Pflicht zurückführen, die Selbstachtung jedes Menschen zu bewahren – einschließlich seiner eigenen.9 Als wichtigste Verstöße gegen das Achtungsgebot nennt Kant den Hochmut, die schlechte Nachrede und die Verhöhnung. Insbesondere der Hochmut oder eben die Arroganz beruhen nach Kant auf einem defekten normativen Selbstverhältnis. Diesbezüglich unterscheidet Robin Dillon in Kants Werk zwischen einer interpersonellen Arroganz, in der eine Missachtung gegenüber einer anderen Person zum Ausdruck kommt, und einer elementaren Arroganz, in der sich eine Person fälschlicherweise eine moralische Überlegenheit anmaßt.10 Beide Formen der Arroganz sind, so Dillon, auf eine beschädigte Selbstachtung zurückzuführen.11 Im Fall der interpersonellen Arroganz gewinnt die arrogante Person ihr Selbstwertgefühl daraus, dass sie sich mit anderen Personen vergleicht und sich
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dabei höher bewertet. Entsprechend definiert Kant interpersonelle Arroganz als „eine Art von Ehrbegierde (ambitio), nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen“ (AA VI, TL, S. 465). Dass eine arrogante Person ihr Selbstwertgefühl aus der Erniedrigung einer anderen Person zieht, verrät aber bereits ihren Mangel an Selbstachtung, weil sie ihren Wert in Relation zu anderen Personen setzt und dadurch die für ihre Selbstachtung konstitutive Unabhängigkeit ihres Selbstwertgefühls einbüßt. Die elementare Arroganz bzw. der „Tugendstolz (arrogantia moralis)“ (AA VI, TL, S. 435) besteht bei Kant hingegen darin, dass sich eine Person unverdienterweise einen Wert zuschreibt, zu dem sie nicht berechtigt ist. Diese Form der Arroganz ist dort am gravierendsten, wo sich eine Person moralisch im Recht wähnt und aus dem Selbstbewusstsein handelt, in besonderer Weise achtungswürdig zu sein, während ihr eigentliches Motiv in der Steigerung ihres Selbstwertgefühls liegt. Diese von Kant als die tiefste Wurzel des Bösen identifizierte moralische Arroganz ist im Grunde die Außenseite der oben behandelten Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst, in der sich eine Person fälschlicherweise als Autorität über ihre Handlungen versteht und eigentlich doch nur ihrer Begierde nach einem hohen Selbstwertgefühl nachhängt.12 Im falschen Bewusstsein, etwas moralisch Wertvolles zu tun, pervertiert eine arrogante und sich selbst gegenüber unaufrichtige Person ihre Selbstachtung, und versteht sich fälschlicherweise als frei, wo sie doch in höchstem Maße unfrei ist.
4.2.3. Eleutheronomie Unsere Rekonstruktion Kants hat bis hierher zu dem Ergebnis geführt, dass die moralische Selbstachtung den subjektiven Verpflichtungsgrund bildet, um sich unter das moralische Gesetz zu stellen. Darum liegt die Pflicht, die eigene Selbstachtung unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, allen anderen moralischen Pflichten zugrunde. Eine Frage ist aber noch offen, nämlich, warum es in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse sein soll,
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solch ein fundamentales Interesse an der Aufrechterhaltung unserer Selbstachtung zu nehmen. Kant gibt darauf keine explizite Antwort, weil sich im Horizont seiner Vernunftphilosophie diese Frage so gar nicht stellt. Dafür bietet er aber zumindest implizit ein Begriffsgerüst an, um eine Antwort auf diese Frage zu konstruieren. Diese Antwort lautet folgendermaßen: Eine Person hat ein grundlegendes Interesse daran, sich moralisch zu konstituieren, weil sie nur so ihre Freiheit sichern kann. Um den Zusammenhang von Freiheit, moralischer Selbstkonstitution und rechtsgebundener Selbstachtung bei Kant besser nachzuvollziehen, ist es angebracht, Kants kompatibilistische Überlegungen zum Verhältnis zwischen Freiheit und Natur genauer anzuschauen.1 Kant vertritt die These, dass die Idee der Freiheit mit einer lückenlosen Naturkausalität vereinbar ist. Darin, dass das Begehrungsvermögen streng nach Naturgesetzen determiniert ist, gründete sich Kants Skepsis gegen Versuche, den ausschlaggebenden Verpflichtungsgrund von der Vernunft ganz auf das subjektive Begehrungsvermögen zu übertragen. Sein theoretischer Gegner ist entsprechend „der Eudämonist“ (AA VI, TL, S. 377), der meint, nicht „der Begriff der Pflicht bestimme unmittelbar seinen Willen, sondern nur vermittelst der im Prospekt gesehnen Glückseligkeit werde er bewogen seine Pflicht zu tun“ (AA VI, TL, S. 377).2 Wie wir es einleitend an der Figur des klugen Schurken erörtert haben, begreift der Eudämonist sein tugendhaftes Verhalten als eine Strategie zur maximalen Wunscherfüllung. Diese strategische Einstellung führt aber, wie Kant unermüdlich hervorhebt, niemals zu den Vorzügen, die wir uns vom Zustand höchster Glückseligkeit tatsächlich erwarten, nämlich dass er in gleich bleibend hoher Intensität andauert. Nachhaltige Glückseligkeit kann allein die spezifisch „moralische Glückseligkeit“ gewährleisten (AA VI, TL, S. 377), in der wir von Gefühlsschwankungen und Schicksalsschlägen befreit sind. An die Stelle der Eudämonie muss deswegen die, wie Kant es nennt, Eleutheronomie treten (AA VI, TL, S. 378), eine freiheitsfunktionale Selbstgesetzgebung, deren Zweck nicht Glückseligkeit, sondern moralische Selbstbestimmung ist, und die uns zwar nicht unmittelbar glücklich, dafür aber glückswürdig und angesichts dieser erwartungsfrohen Einstellung immerhin zufrieden macht.
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Kants drastisches Beispiel für die Möglichkeit freier Selbstbestimmung handelt von einer Person, die unter Androhung der Todesstrafe dazu gezwungen wird, eine falsche Aussage wider einen Unschuldigen abzulegen, was wiederum dessen Tod zur Folge hätte. Das Dilemma wird gezielt so aufgebaut, dass sich ein Mensch zwischen seiner körperlichen und seiner moralischen Integrität entscheiden muss. Die Frage an ihn lautet nun „ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte?“ (AA V, KpV, S. 30) Wenn die Gesetzgebung der Freiheit, in der es einer Person um ihre „moralische Selbsterhaltung“ geht (AA VI, TL, S. 419), mit der Gesetzgebung der Natur, in der eine Person um ihre körperliche Selbsterhaltung kämpft, in Widerstreit gerät, dann ist es nach Kant zumindest nicht vorentschieden, nach welchem Gesetz sie ihren Willen bestimmt. Allein die Tatsache, dass sie die Berechtigung der moralischen Forderung anerkennt, auch wenn sie sich gegen die Grundlage ihrer Existenz, den Leib, richtet, erweckt in ihr das Bewusstsein der Freiheit. Deswegen kann Kant konstatieren: „Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; dass es ihm aber möglich sei, muss er ohne Bedenken einräumen. Er urteilt also, dass er etwas kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ (AA VI, KpV, S. 30) Kants Freiheitsbegriff, der nichts weniger als „den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft“ bildet (AA VI, KpV, S. 3 f.), ist eng an den Selbstachtungsbegriff geknüpft. Ich habe Selbstachtung von Anfang an als ein affirmatives Gefühl für das Bewusstsein gedeutet, eine selbstbestimmte Person zu sein. Ebenso gut könnten wir sagen, dass sich eine Person für ihre Freiheit achtet. Zur Veranschaulichung des Zusammenhangs von Selbstachtung und Freiheit bietet es sich an, Kants Konzeption in Harry Frankfurts äußerst hilfreiche Unterscheidung zwischen Volitionen erster und zweiter Ordnung zu übertragen.3 Was wir üblicherweise als Willen bezeichnen, nämlich ein handlungsauslösender Impuls, „der eine Person dazu bringt (oder dazu bringen wird oder würde), den ganzen Weg bis zu einer Handlung zu gehen“, nennt Frankfurt
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eine Volition erster Ordnung (first order volition).4 Dabei ist es zunächst ganz gleich, ob eine Volition erster Ordnung aus Neigung oder Vernunft bestimmt wird.5 Ein guter Wille lässt uns moralisch und ein selbstsüchtig gestimmter Wille eigennützig handeln. Die Frage ist nun, wer oder was den Willen bestimmt? Oder genauer, wer bestimmt, wodurch der Wille bestimmt wird? Kant hat diese Frage damit beantwortet, dass der gute Wille von der Vernunft in Form eines allgemeinen Gesetzes bestimmt wird. Dagegen haben wir betont, dass eine Person zunächst eine selbstbestimmte Person zu sein wünscht und dass sie erst in diesem Autonom-Sein-Wollen einen subjektiven Grund gewinnt, das moralische Gesetz in ihrem Selbstverständnis zu verankern. An dieser Stelle können wir nun Frankfurts Begriff einer Volition der zweiten Ordnung (second order volition) hinzuziehen. Personen zeichnen sich Frankfurt zufolge gegenüber Tieren darin aus, dass sie nicht nur „wünschen und bewegt werden, dies oder das zu tun“, sondern dass sie darüber hinaus auch wünschen können, „bestimmte Wünsche oder Motive zu haben (oder nicht zu haben)“.6 Die den Menschen als Person auszeichnende „Fähigkeit zur reflektierenden Selbstbewertung“ ist die Fähigkeit, solche Volitionen der zweiten Ordnung zu bilden.7 Auf der Ebene der Volitionen erster Ordnung können wir lediglich einen moralisch oder amoralisch gestimmten Willen und eine entsprechende Handlungsdisposition konstatieren, wir können aber nicht erklären, warum eine Person auch subjektiv gewillt ist, den einen oder anderen Bestimmungsgrund des Willens anzunehmen. Ihr Wille, einen moralisch gestimmten Willen zu haben, bedarf einer Volition der zweiten Ordnung, einer Selbstreflexion darauf, welchen Willen sie sich subjektiv zu Eigen machen möchte. Wenn wir diese Struktur auf unsere Fragestellung übertragen, können wir sagen, dass es für eine sich moralisch verstehende Person nicht ausreicht, dass ihr Wille vernünftig gestimmt ist. Sie muss darüber hinaus auch wollen, dass er es ist, weil sie sich nicht – auch nicht durch eine göttliche Vernunft – als fremdbestimmt verstehen will. Erst durch den Wunsch, ihre Volitionen erster Ordnung selbst zu bestimmen, bildet eine Person den subjektiven Verpflichtungsgrund, sich selbst eine moralische Verfassung zu geben.
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Zusammengefasst kommt es in dieser Interpretation der Willensfreiheit auf zwei Momente an. Erstens muss es zu einer Übereinstimmung des moralischen Willens auf der ersten und der zweiten Stufe kommen.8 Wir erfahren unseren Willen als frei, wenn wir auch auf unseren Willen reflektierend sagen können: Dies ist genau der Wille, den ich aus meinen eigenen Gründen zu haben wünsche. Damit hängt das zweite Moment der Willensfreiheit zusammen, das wir als die moralische Selbstbestimmung einer Person bzw. ihre Autonomie eingeführt haben. Eine freie und selbstbestimmte Person zu sein, bedeutet zunächst negativ, dass ihr Wille nicht allein durch sinnliche Neigungen affiziert wird. Wie bereits herausgestellt wurde, beruht Kants Zurückweisung sinnlicher Bestimmungsgründe einzig und allein auf der Anerkennung einer geschlossenen Naturkausalität, in der es einer Person nicht frei steht, ihre Neigungen und Bedürfnisse selbst zu bestimmen. Darum definiert er Freiheit positiv – wenn auch provozierend kontraintuitiv – als eine strenge Determination des Willens durch das moralische Gesetz.9 Hier drängt sich die Frage auf, warum die positive Bestimmung der Willensfreiheit über ein Gesetz erfolgt, das eine freiheitseinschränkende Assoziation erweckt und einen eher restriktiven Verpflichtungsgrund abzugeben scheint. Wie passt diese restriktive Bestimmung mit Frankfurts Definition zusammen, dass eine Person nur dann wirklich frei ist, „wenn sie frei ist, den Willen zu haben, den sie möchte“.10 Kant antwortet darauf mit der Unterscheidung zwischen einer tierischen und einer freien Willkür. Die „tierische Willkür (arbitrium brutum)“ wird allein durch Neigungen beeinflusst (AA VI, MS, S. 213). Der durch sie bestimmte Wille ist heteronom und, dies ist der entscheidende Punkt, die tierische Willkür kann keine Volition der zweiten Ordnung bilden. Ein auf dieser Stufe stehendes Wesen wird je nach Notwendigkeit durch eine bestimmte Neigung affiziert oder eben nicht. Von einer bewussten Selbstreflexion zu sprechen, in der eine Person die ihren Willen bestimmenden Neigungen überprüft, trifft für die tierische Willkür nicht zu, weil sie einer geschlossenen Kausalität der Natur verhaftet bleibt und so niemals die reflexive Stufe betritt, die für einen freien Willen konstitutiv ist.
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Während sich relativ unproblematisch zeigen lässt, dass eine Person durch ihre Neigungen in heteronome Verpflichtungsgründe verstrickt wird, suchen wir noch nach einer Erklärung dafür, inwiefern sich Willensfreiheit und moralische Selbstgesetzgebung wechselseitig bedingen. Ein moralisches Gesetz definiert Kant als einen objektiven Bestimmungsgrund des Willens, der „für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig“ ist (AA V, KpV, S. 19). Wir bekommen Kants Begriff des moralischen Gesetzes noch besser zu fassen, wenn wir seine analoge Konstruktion zum Naturgesetz und zum Recht betrachten. Wie das Naturgesetz ausnahmslos für alle Sachverhalte gilt, die in der raumzeitlich eingerichteten Welt stattfinden, so gilt das moralische Gesetz für den Willen jedes vernünftigen Wesens. Und wie das Recht die Handlungsfreiheit einer Person sichert, so schützt das moralische Gesetz ihre Willensfreiheit. Der Inhalt des moralischen Gesetzes besteht in nichts anderem, als einer formalen Überprüfung, ob die Volition erster Stufe durch eine Bedingung der Natur oder durch die Vernunft bestimmt wird. Um uns zu vergewissern, dass unsere Volitionen erster Ordnung nicht allein der Logik natürlicher Bedürfnisse gehorchen, sondern in zweiter Ordnung auch durch unsere Vernunft bestimmt werden, gebietet das moralische Gesetz zu prüfen, ob sich die unseren Willen bestimmenden Prinzipien als Verfassungsgrundsätze einer moralischen Republik eignen, in die jede vernünftige Person einwilligen kann. Ich vertrete die Auffassung, dass sich aus Kants Konzeption eine sehr anschlussfähige Antwort auf die normative Frage gewinnen lässt, wenn wir den Analogiestrang zur Verfassung einer Republik stärker herausarbeiten. In diesem Zusammenhang führt Christine Korsgaard eine meines Erachtens äußerst hilfreiche Unterscheidung ein, indem sie zwischen dem kategorischen Imperativ, der gebietet, nur nach Maximen zu handeln, von denen man wollen kann, dass sie Gesetzeskraft erhalten, und dem moralischen Gesetz differenziert.11 Das moralische Gesetz ist nach Korsgaard das im Reich der Zwecke herrschende Recht, das alle vernünftigen Wesen umschließt.12 Während der kategorische Imperativ nur fordert, dass eine Person aufgrund verallgemeinerungsfähiger Prinzipien handelt, markiert das moralische Gesetz „the domain over which the law of a free will must range“ (SN, S.
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99). Ohne die Festlegung des Geltungsbereichs im moralischen Gesetz kann sich die im kategorischen Imperativ vorgeschriebene Autonomie auf alle möglichen selbstgegebenen Gesetze beziehen – auch auf eine gänzlich amoralische Maxime, wie beispielsweise, dass man sich den rechten vor dem linken Schuh zuschnüren soll. Darum muss die Verallgemeinerungsfähigkeit durch das moralische Gesetz ergänzt werden, in dem festgelegt wird, dass selbstgegebene Gesetze und Maximen auf die mögliche Einwilligung aller rationalen Wesen in einem Reich der Zwecke bezogen sind. Bevor wir aber diesen Zusammenhang für unsere gerechtigkeitstheoretische Fragestellung fruchtbar machen, können wir zunächst zusammenfassen, warum eine Person ihre Freiheit nur unter der Voraussetzung aufrecht erhalten kann, dass sie ihre Willkürfreiheit bzw. ihre Volitionen erster Ordnung durch das moralische Gesetz einschränkt. Kant zufolge prüft eine autonome Person, ob sich ihre Grundsätze widerspruchsfrei als Verfassungsgrundsätze einer freiheitlich eingerichteten Republik einsetzen lassen.13 Eine Person, die diesen Gesetzen folgt, ordnet sich, so Kants Gedanke, einer eigenständigen normativen Ordnung unter, die von der Naturgesetzlichkeit vollkommen unterschieden ist. Dass Kant diese Gesetzesordnung ein ‚Reich der Freiheitȧ nennt (AA VI, Rel., S. 82), macht nur dann Sinn, wenn eine Person auch subjektiv gewillt ist, sich unter das moralische Gesetz zu stellen. Wie wir gesehen haben, nennt Kant den subjektiven Verpflichtungsgrund zur moralischen Selbstkonstitution die Achtung vor sich selbst als einer selbstbestimmten und – wie wir nun hinzufügen können – freien Person. Die Suche nach einer Antwort auf die normative Frage führt uns dazu, den Zusammenhang zwischen der Freiheit und der Gesetzgebung in einem Reich der Zwecke zu verdeutlichen und zu untersuchen, was eine Person dazu bewegt, sich freiwillig unter das moralische Gesetz zu stellen. Wie in den vorhergehenden Abschnitten ersichtlich wurde, steht dabei das Konzept moralischer Selbstachtung im Vordergrund, die wir mit Kant auch als Achtung vor der eigenen Freiheit begreifen können. Im Reich der Natur gibt es zwar keine Freiheit – wohl aber im Reich der Zwecke. Eine ihre Freiheit achtende Person interpretiert sich deswegen als ein Mitglied dieses Reiches, das Kant als eine „systemati-
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sche Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ definiert (AA IV, GMS, S. 433). In diesem Bild ist Kants Anknüpfung an rechtsphilosophische Denkmuster und insbesondere an Rousseau nicht zu übersehen.14 Wie im Reich der Zwecke die tierische zugunsten einer freien Willkür abgelegt wird, schränkt der Rechtsstaat die anarchische Handlungsfreiheit zugunsten einer vernünftigen und mit der Selbstzwecksetzung jeder anderen Person vereinbaren Handlungsfreiheit ein. Eine der Leistungen der Kantischen Moralphilosophie besteht darin, dass sie diese rechtsphilosophische Gedankenfigur auf die Moral überträgt und die Willensfreiheit anstelle der Handlungsfreiheit in den Vordergrund stellt. Willensfreiheit bedeutet, einen durch das moralische Gesetz bestimmten Willen zu haben – und ihn freiwillig zu haben. Weil die freie Willkür immer gefährdet ist, in die tierische Willkür zurückzufallen und sich durch unsere natürlichen Begierden und Neigungen für fremdbestimmte Gründe zu öffnen, ist es folgerichtig, dass wir unsere Freiheit auch auf dem Terrain der Willensfreiheit durch ein Gesetz schützen wollen und dazu einen Gerichtshof der praktischen Vernunft in uns errichten. Kants „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ lautet entsprechend: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (AA V, KpV, S. 30). Die subjektiven Bestimmungsgründe einer Person erweisen sich vor diesem Grundgesetz als legitim, wenn und nur wenn sie in ihren Grundsätzen universalisierbar und mit dem Willen jedes vernünftigen Wesens vereinbar sind. Indem sich eine Person unter diese moralische Verfassung stellt, kann sie selbst einen Prozess über ihre Beweggründe führen und eigenständig beurteilen, ob sie durch ihre Selbstsucht oder allgemein zu rechtfertigende Gründe bestimmt werden. In diesem Prozess werden alle heteronomen Bestimmungsgründe systematisch ausgeschlossen. Die Herrschaft des Grundgesetzes der praktischen Vernunft ist aber nur die erste Bedingung eines freien Willens, die zweite Bedingung besteht darin, dass eine Person auch freiwillig in den Gesetzeszustand eintritt. Entsprechend findet sich auch bei Kant das Argument, dass sich eine Person gleichsam
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selbst als Nomothet seiner moralischen Verfassung verstehen muss: „Das vernünftige Wesen muss sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten [...] Diese Gesetzgebung muss aber in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus seinem Willen entspringen können [...]“ (AA IV, GMS, S. 343). Wie das Recht kann das moralische Gesetz keine Geltung beanspruchen, die wir ihm nicht freiwillig zuerkannt haben. Wenn wir uns dem moralischen Gesetz unterstellen, dann nur aus freiem Willen und damit immer schon aufgrund der hypothetischen Voraussetzung, dass wir unsere Freiheit unter einem Gesetz absichern wollen, sei es, dass sie als Willensfreiheit unter dem Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft oder als Handlungsfreiheit unter dem Protektorat juridischer Rechte steht. Während Kant aber einfach voraussetzt, dass sich ein guter Wille bereitwillig dem moralischen Gesetz unterwirft, verlangt unsere normative Frage eine Antwort darauf, warum sich der Wille überhaupt auf das moralische Regiment einlassen und sich als ein guter Wille konstituieren sollte. Diese Fragestellung bringt mich auf den voluntativen Zug in meiner Kantinterpretation. Ich gehe davon aus, dass es bereits gute Gründe dafür geben muss, einen guten Willen haben zu wollen und sich unter das moralische Gesetz zu stellen. Der Kantische Lösungsvorschlag richtet sich darauf, dass kein subjektiver Verpflichtungsgrund, seinem Willen ein moralisches Gesetz zu geben, so tragfähig ist wie die Vorstellung der eigenen Freiheit; weswegen er Freiheit als eine Denknotwendigkeit oder ein Postulat bezeichnet.1 Aber damit ist die Frage nach dem Beweggrund unserer moralischen Selbstkonstitution nur auf den Freiheitsbegriff verschoben, der uns noch keine hinreichende Erklärung dafür anbietet, warum wir um jeden Preis frei sein wollen. Kant stellt uns streng genommen vor die Alternative, entweder unfrei und fremdbestimmt zu sein oder uns durch das Grundgesetz der praktischen Vernunft bestimmen zu lassen. Für ihn ist die Rangordnung eindeutig: die Vernunft gibt den objektiven Verpflichtungsgrund vor, die Person reagiert darauf mit dem rationalen Gefühl der Achtung vor dem Gesetz und dieses Gefühl ist mit einer stimulierenden Lust verbunden. Dagegen akzentuiert unsere Interpretation viel stärker, dass Autonomie und Freiheit zunächst
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subjektiv als ein fundamentales Bedürfnis empfunden werden, und dass das moralische Gefühl der Selbstachtung den einzigen erfahrbaren Verpflichtungsgrund dafür abgibt, dieses fundamentale Freiheitsbedürfnis ernst zu nehmen und sich eine moralische Verfassung zu geben, von der es zugleich denkbar ist, dass sie die juridische Verfassung einer Republik aller rationalen Wesen bildet. Entsprechend fußt unser politischer Gerechtigkeitsbegriff darauf, dass die juridische Verfassung einer Republik an die moralische Verfassung eines Reichs der Zwecke angepasst wird. Eine moralische Person zeichnet sich darin aus, dass sie diese moralische Verfassung über ihre rechtsgebundene Selbstachtung zur Grundlage ihrer praktischen Identität gemacht und sich dadurch in die Lage versetzt hat, den juridischen Kontext wie auch alle weiteren normativen Kontexte von einem unabhängigen Standpunkt aus zu beurteilen. Während Kants eigener politischer Libertarismus dem Staat lediglich zutraut, Freiheitsräume offenzuhalten, und für alles weitere auf die Moral seiner Bürger setzt, können wir in eben dieser moralischen Selbstkonstitution den Grund dafür finden, dass jede vernünftige Person in eine weiterführende Gerechtigkeitskonzeption einzuwilligen bereit ist. Wenn sie ihre Autonomie ernst nimmt, wird sie sich nicht damit zufrieden geben, ihren Willen zu befreien und ihre moralische Identität an einer eschatologischen Vorstellung aufrechtzuerhalten, sondern sie wird es zu einer Angelegenheit ihrer Selbstachtung machen, dass ihre moralischen Grundrechte auch juridisch anerkannt und schwerwiegende Formen der Demütigung auch juristisch verfolgt werden.
4.3. Gründebedürftigkeit Wenn wir die sich abzeichnenden Grundzüge unserer Antwort auf die normative Frage rekapitulieren, dann können wir Kant soweit folgen, dass der objektive Verpflichtungsgrund zwar im Gesetz der praktischen Vernunft selbst liegt, dass dieser Verpflichtungsgrund aber erst in der Selbstachtung einer sich als frei verstehenden Person zum Motiv ihrer Selbstbestimmung wird. Parallel zur
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theoretischen Vernunft, in der das Ich denke alle Vorstellungen begleiten können muss (KrV, B132), begleitet das Ich achte mich selbst notwendig jede freie Willensbestimmung und bildet den Grund der praktischen Identität. Nach Kant verspürt jedes vernunftbegabte Sinnenwesen Achtung vor dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft, von der es einen empirischen Eindruck in einer ebenso schmerzhaften Selbstdisziplin wie stimulierenden Selbstaufwertung seiner Persönlichkeit gewinnt. Als kritischer Einwand drängt es sich hier geradezu auf zu bemerken, dass die Erfahrung der Achtung ein eher schwaches Indiz für die Behauptung darstellt, dass es praktische Vernunft objektiv gibt. An dieser Stelle ist die Kritik berechtigt, die unter anderem Ernst Tugendhat geäußert hat und die vorschlägt, an Kants Idee der moralischen Selbstkonstitution festzuhalten, ohne die voraussetzungsreiche These einer unabhängigen Vernunft zu teilen. Nur weil wir uns selbst als vernünftige Wesen verstehen wollen, so Tugendhats „voluntative Prämisse“, statuieren wir in uns selbst einen Grund, uns moralisch zu disziplinieren, unsere Selbstdisziplin als achtenswert einzuschätzen und unser Gefühl der Achtung vor allen anderen zu rechtfertigen.2 Die Differenz zu Kant besteht nicht im Verpflichtungsgrund, der bei beiden im moralischen Selbstverständnis einer Person liegt, sondern darin, dass es für Tugendhat eine Sache der – nicht auf zwingende Weise begründbaren – Entscheidung ist, sein moralisches Selbstverständnis gegenüber anderen Weisen des Sich-Verstehens vorzuziehen. Auf die dann in den Vordergrund tretende Frage, warum wir uns überhaupt als moralische Personen verstehen wollen, versuche ich am Ende dieses Kapitels eine Antwort zu geben, die jenseits der Extreme eines Tugendhatschen Dezisionismus und einer Kantischen Vernunftphilosophie betont, dass es sich zumindest in bestimmten Gesellschaften als vorteilhaft herausgestellt hat, wenn sich Personen als moralische Wesen konstituieren. Indem Tugendhat unterstreicht, dass wir uns letzten Endes entscheiden müssen, ob wir uns vom moralischen Gesetz bestimmen lassen wollen oder nicht, grenzt er sich nicht nur gegen Kants starken Vernunftbegriff ab, sondern auch gegen die von mir vertretene These, dass die moralische Identität einer Person nicht gänzlich unabhängig von einer spezifisch menschlichen Bedürfnis-
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struktur begriffen werden kann. Ich habe diesbezüglich abwechselnd von einem tiefgreifenden Bedürfnis gesprochen, frei zu sein, jemand zu sein, ein eigenes Leben zu leben, seine Selbstachtung zu bewahren oder seine Individualität zu verwirklichen. Diese Begriffe sollen unterstreichen, dass es einer Person nicht in gleichem Maße frei steht, sich moralisch zu verfassen, wie es ihr etwa frei steht, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, sondern dass in ihrer moralischen Identität etwas sehr viel grundlegenderes auf dem Spiel steht. Und trotzdem bleibt es möglich zu sagen, dass sich eine Person letztlich freiwillig, das heißt aus ihren eigenen und unabhängigen Gründen, unter eine moralische Verfassung stellt. In abermaliger Auseinandersetzung mit Christine Korsgaard schlage ich hier eine Antwort vor, die beide Alternativen in einem Konzept zusammenführt. Die Gründe zur Annahme einer moralischen Identität ergeben sich demnach direkt aus Überlegungen zur politischen Anthropologie; genauer: aus der spezifischen Gründebedürftigkeit des Menschen. Bislang haben wir Korsgaards Antwort auf die normative Frage soweit nachvollzogen, dass sich Verpflichtungsgründe aus dem reflektierten Selbstverständnis (reflective endorsement) einer Person bzw. aus ihrer praktischen Identität ergeben. In unserer Kantexegese haben wir zusätzlich die Bestimmung gewonnen, dass ein genuin moralischer Verpflichtungsgrund aus dem Selbstverständnis folgt, ein Gesetzgeber in einem Reich der Zwecke zu sein. Was Kant nicht, oder nur in unbefriedigender Weise gezeigt hat, ist, wieso sich ein Mensch als moralisches Wesen verstehen will. Auf diese Frage versucht Korsgaard eine anschlussfähigere Antwort zu geben. Nachdem sie explizit gemacht hat, dass sich Personen aufgrund ihrer praktischen Identität selbst zur Einhaltung entsprechender Normen verpflichten, versucht sie nämlich in einem zweiten Schritt zu zeigen, warum jede Form der praktischen Identität bereits eine genuin moralische Identität voraussetzt. Für sie ist das Selbstverständnis, ein Bürger in einer Republik aller rationalen Wesen zu sein, keine wählbare Identität neben anderen. Vielmehr sieht sie die moralische Identität bereits in jeder Form praktischer Identität vorausgesetzt, so dass jede Person einen Grund in sich selbst hat, sich moralisch zu konstituieren.3
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Die Tatsache, dass verschiedene Menschen in unterschiedlichsten kulturellen und biographischen Kontexten und aufgrund gänzlich kontingenter Umstände sehr verschiedene praktische Identitäten ausbilden und diese Identitäten aufgrund unterschiedlicher Anlässe verändern können, verweist uns gerade darauf, dass es Teil einer kulturübergreifenden Minimalanthropologie ist, dass Menschen zumindest irgendeine praktische Identität annehmen müssen. Bei aller offensichtlichen Kontingenz persönlicher Lebenspläne und Präferenzen gilt nach Korsgaard: „what is not contingent is that you must be governed by some conception of your practical identity“ (SN, S. 120). Ohne praktische Identität verlöre eine Person jeglichen Grund zu handeln. Der Verlust ihrer praktischen Identität hätte allerdings gravierende Folgen, weil für diese Person nichts mehr von Bedeutung wäre. Sie hätte jeden Sinn, jeden Grund zu leben verloren und funktionierte, wie in Hobbes’ mechanistischem Bild des durch Begierde und Angst getriebenen Menschen, als ein mechanischer Golem.4 Dieser Mensch wäre kein Mensch mehr, erst recht keine Person. Eine Person ist ein Mensch, der einen Grund hat, zu handeln und zu leben. Dieser Grund ergibt sich aus der Bindung an ihre praktische Identität. Während es relativ kontingent ist, welche praktische Identität eine Person annimmt und welche Gründe ihrem Handeln zugrunde liegen, so ist für Korsgaard eins eben nicht kontingent, nämlich dass sie sich an irgendeinen Grund binden muss: „But this reason for conforming to your particular identities“, so Korsgaard, „is not a reason that springs from one of those particular practical identities. It is a reason that springs from your humanity itself, from your identity simply as a human being, a reflective animal who needs reasons to act and to live.“ (SN, S. 121) Der Mensch ist von Natur aus kein instinktives, sondern ein rationales Wesen, das für seine Handlungen Gründe benötigt, und es ist diese – wie ich es nenne – Gründebedürftigkeit, die ihn an seine praktische Identität bindet.5 Im gewissen Sinne ist der Mensch überhaupt nur handlungs- und überlebensfähig, weil er sich eine praktische Identität angeeignet und seinem eigenen Leben einen Sinn gegeben hat.6 In dieser Betrachtung sind wir einer abschließenden Antwort auf die normative Frage einen weiteren Schritt näher gerückt.
4.3. Gründebedürftigkeit
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Unsere praktische Identität generiert solche Pflichten, die wir eingehen wollen – und ihre Bindekraft rührt aus unserem notwendigen Bedürfnis, uns mit irgendeinem Bündel sozialer Praktiken identifizieren zu müssen. Der Verpflichtungsgrund zur Normenbefolgung ergibt sich also daraus, dass wir unsere, wie Korsgaard betont, reflexive Natur ernst nehmen müssen.7 Aber die normative Frage ist dadurch noch nicht ausreichend beantwortet, dass wir den subjektiven Grund unserer normativen Selbstverpflichtung klären, wir müssen auch noch eine Antwort darauf entwickeln, warum wir an uns selbst genuin moralische Ansprüche stellen. Korsgaards Lösungsvorschlag besteht nun darin, dass der Grund, sich eine Gründe generierende praktische Identität anzueignen, immer schon in einem entsprechenden Selbstbild, ein Mensch zu sein, verankert ist. Für sie bildet die praktische Identität, ein gründebedürftiger Mensch zu sein, eine Art Metaidentität jeder Person, die mit einer spezifischen Praxis des Begründens verbunden ist. Dadurch versucht Korsgaard direkt von der Identität, ein Mensch zu sein, auf die moralische Identität hinüberzublenden und von der notwendigen Achtung des Menschseins in der eigenen Person auf die Achtung gegenüber allen Menschen zu schließen.8 Um zu zeigen, wie aus der spezifischen Gründebedürftigkeit des Menschen eine normative Beziehung zu allen anderen Menschen entsteht, interpretiert sie die Identität, ein Mensch zu sein, selbst als eine Form praktischer Identität, eine Form, die sich jede Person notwendig zu eigen gemacht haben muss, noch bevor sie sich ihrer individuellen praktischen Identität verpflichtet fühlt. Analog zur praktischen Identität eines Studenten, die mit einer Reihe einzelner Praktiken und damit korrespondierender Normen verbunden ist, generiert die praktische Identität, ein gründebedürftiger Mensch zu sein, ebenfalls bestimmte soziale Praktiken und korrespondierende Normen. Zur sozialen Praxis einer sich selbst als gründebedürftigen Menschen verstehenden Person gehört vor allem anderen die Praxis des Begründens selbst. Wenn Korsgaard von der spezifischen menschlichen Gründebedürftigkeit unmittelbar zu einer moralisch normierten Praxis des Begründens kommt, lässt sie allerdings einen entscheidenden Zwischenschritt aus. Um diesen Schritt nachzutragen, ist es hilfreich, zwischen Begründungen gegenüber anderen Menschen und ge-
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genüber sich selbst zu differenzieren. Gegenüber anderen Personen lässt sich unser Bedürfnis nach Rechtfertigung darauf zurückzuführen, dass wir uns immer schon in sozial normierten Praktiken verwirklichen.9 Wie oben ausgeführt wurde, sind Normen allgemeine Regeln, die für jeden Beteiligten an einer sozialen Praxis gelten und in die eine Person nur durch allgemeine Gründe eingreifen kann. Die Norm, dass ein Student eine bestimmte Pflichtveranstaltung besuchen muss, ist eben nicht dadurch außer Kraft zu setzen, dass er sich in seiner bloßen Willkürfreiheit bzw. in seiner Neigung eingeschränkt fühlt, sondern einzig und allein dadurch, dass er allgemeine Gründe geltend machen kann, die gegen seine Teilnahme sprechen und die jede Person, so sie sich in seine Lage versetzt, nachvollziehen kann. Mit anderen Worten, seine Gründe müssen auf die Anerkennung aller Beteiligten rechnen können. Nicht unerheblich ist hierbei, dass die Praxis des wechselseitigen Begründens von moralischen Gefühlen kontrolliert wird. So bringt es uns in Rage, wenn man uns unser zwischenmenschliches Recht auf Rechtfertigung verweigert, wir sind empört und fühlen uns missachtet – nicht zuletzt deswegen, weil unser Personenstatus von diesem Recht abhängt.10 Kurz, die interpersonelle Ursache für unsere Identifikation mit der wechselseitigen Praxis des Begründens liegt darin, dass wir auf die Geltung dieser Norm in unserem Alltagsleben weder verzichten wollen noch können. Gründebedürftig sind wir aber nicht nur gegenüber anderen Personen, sondern auch uns selbst gegenüber; dass heißt, wir müssen uns vor uns selbst Rechenschaft über unsere praktische Identität und den damit verbundenen normativen Einstellungen geben. Ohne den Referenzrahmen einer normativen Verfassung wäre es uns unmöglich, zwischen berechtigten und unberechtigten Normen zu unterscheiden und uns in einer normativ überformten Welt als selbständige Einheit zu behaupten. Daher sind wir auf eine objektive Selbstvergewisserung angewiesen, wozu wir auf ein reiches kulturelles Reservoir an Modellen zur Selbstdeutung zurückgreifen können. Innerhalb dieses Reservoirs macht uns das spezifisch moralische Identitätsmodell ein besonders attraktives, weil posttraditionalen Beziehungskontexten angemessenes Angebot. Zunächst verspricht es uns, unser Selbstwertgefühl von kon-
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tingenten Schicksalsschlägen zu befreien. Wie wir am Beispiel Onkel Toms gesehen haben, leisten dies aber auch andere, beispielsweise religiöse Identitätsmodelle. Was den evolutionären Vorteil der moralischen gegenüber der eschatologischen Selbstkonstitution ausmacht, ist, dass die moralisch verfasste Person die Selbstachtung jeder anderen Person direkt in das Prinzip ihrer normativen Verfassung hineinnimmt. Indem sie sich als Mitglied einer, wie Kant es ausdrückt, erhabenen Gemeinschaft ansieht, wertet sie nicht nur ihre eigene Existenz auf, sondern macht sich auch prinzipiell für jeden anderen Menschen anerkennungswürdig. Aus ihrer moralischen Selbstkonstitution zieht sie die ebenso begründete wie anerkannte Gewissheit, im Recht zu sein, eine Gewissheit, die ihre praktische Identität auch in pluralistischen Gesellschaften nachhaltig stabilisiert und ihrem Selbstwertgefühl noch im Unrechtsregime Orientierung anbietet. Zusammengefasst erlaubt es der Begriff der Gründebedürftigkeit, die normative Frage abschließend zu beantworten. Das durch diese Frage aufgeworfene Problem bestand darin zu klären, welchen Grund eine Person hat, einen genuin moralischen Verpflichtungsgrund in ihrem Selbstverständnis zu verankern. Der erste Teil der Antwort lautet, dass sie sich selbst eine moralische Verfassung gibt, weil sie ihre Freiheit bzw. Selbstbestimmung bewahren will. Damit war aber noch nicht klar, ob sie einen weiteren Grund hat, ihren Freiheitswunsch gegenüber anderen Wünschen vorzuziehen. Die Option, dass es an dieser Stelle einfach eine existentialistische Entscheidung ist, als welche Person man sich verstehen will, ist genauso unbefriedigend, wie die Option, dass sich in uns die übermächtige Stimme der Vernunft Gehör verschafft. An dieser Stelle setzt das Konzept der Gründebedürftigkeit an, mit dem wir in unserer Fragestellung zu einem Punkt kommen, an dem es nicht mehr sinnvoll ist, die Unterscheidung zwischen einer Ordnung natürlicher Bedürfnisse und einer Struktur rationaler Gründe aufrecht zu erhalten. Unsere Rationalität ist keine akzidentielle Eigenschaft, die wir gegebenenfalls ablegen könnten, sondern der Mensch ist ein animal rationale, das ohne Gründe ähnlich unbefriedigt leben müsste wie ohne Nahrung. Es ist diese Gründebedürftigkeit, die eine Person an eine praktische Identität bindet, durch die sie ihrem Leben und Handeln einen
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Grund – und das bedeutet eben auch einen Sinn – gibt, an dem sie mit ihrer ganzen Selbstachtung hängt. Wie wir schließlich gesehen haben, ist es für die Identität einer Person von Vorteil, wenn sie sich unter eine spezifisch moralische Verfassung stellt und eine spezifisch moralische Selbstachtung herausgebildet hat, weil sich nur dann Selbstachtung und Anerkennung wechselseitig stabilisieren. Wie wir mit Rawls im folgenden Kapitel herausarbeiten werden, gelingt dies langfristig aber nur, wenn die Person in einer gerecht eingerichteten Gesellschaft lebt.
5. Gerechtigkeit aus Selbstachtung 5.1. Politischer Liberalismus und Selbstachtung: John Rawls I Im vorangegangenen Kapitel wurde das Konzept moralischer Selbstachtung weiter erläutert. Wenn sich eine Person im moralischen Sinne selbst achtet, versteht sie sich als Teilnehmer an einem normativen Kontext, der durch das Recht auf Rechtfertigung respektive durch die Norm der wechselseitigen Achtung reguliert wird. Bis zu dieser Stelle hat die moralphilosophische Antwort auf die normative Frage allerdings eine große Schwäche: Faktisch gibt es gar keinen eigenständigen moralischen Kontext, der durch das Recht auf Rechtfertigung reguliert wird, und es existiert auch kein unabhängiges Reich der Zwecke, in dem sich die Moral wechselseitiger Achtung vollständig durchgesetzt hat. Dieses Problem wurde oben unter dem Begriff der Normeninterferenz angesprochen. Zwar reguliert das moralische Gesetz keinen eigenen Kontext, über das moralische Gefühl der Selbstachtung greift es aber auf alle anderen normativen Kontexte über. Das wirkmächtigste Instrument zur Übertragung moralischer Normen auf andere Normen ist das Recht. Ein entsprechendes Anliegen, das moralische Gesetz in einer juridischen Verfassung zu verankern, es in einzelne Kontexte zu übersetzen und mit strafrechtlichen Sanktionen auszustatten, führt uns auf das Terrain genuin politischer Praktiken und genuin juridischer Normen. Damit stoßen wir nun zur politischen Philosophie vor und werden hier insbesondere John Rawls’ selbstachtungsfunktionale Begründung des sozialliberalen Rechtsstaats in den Blick nehmen.
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Es ist das Verdienst von John Rawls’ A Theory of Justice, dass die politische Philosophie wieder den Rang einer philosophischen Kerndisziplin beanspruchen kann.1 Im Zuge seiner anhaltenden Rezeption konnte das Selbstachtungskonzept zu einem viel diskutierten Kriterium für soziale Gerechtigkeit avancieren.2 Danach ist eine Gesellschaft gerecht, wenn sie die sozialen Grundlagen der Selbstachtung für jeden zur Verfügung stellt. Auch ich interpretiere Rawls’ Kontraktualismus als eine selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie, sehe die Begründungsfunktion seines Selbstachtungskonzepts aber nicht auf die soziale Gerechtigkeit beschränkt, sondern bezeichne eine Gesellschaft als gerecht, in der generell alle normativen Kontexte selbstachtungsfunktional ausgerichtet sind, also neben dem ökonomischen auch der juridische, der politische und der kulturelle Kontext. John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie knüpft direkt an die Kantische Beschreibung der moralischen Selbstkonstitution der Person an und richtet sich insgesamt am normativen Fluchtpunkt des Selbstachtungskonzepts aus. Zwar entwickelt er mit dem Konzept des Überlegungsgleichgewichts auch eine eigenständige und moralphilosophisch weniger ambitionierte Begründungstheorie, aber je weiter wir den selbstachtungsfunktionalen Begründungsstrang hervortreten lassen, umso deutlicher wird, dass sich Rawls in der Theory of Justice im Vergleich zu seinen späteren Arbeiten noch stark um eine moralphilosophische Fundierung seiner Theorie bemüht.3 Es ist dieser Begründungsstrang, den ich aus Rawls’ Theorie herauslösen und innerhalb der Fragestellung nach dem Grund der moralischen Selbstvergewisserung fruchtbar machen möchte. Die Fragen, warum die Gerechtigkeitsprinzipien in jedem Fall richtig sind – ob sie den Gerechtigkeitsintuitionen einer Person nun entsprechen oder auch nicht – und was eine Person dazu motiviert, eine überparteiliche Position einzunehmen, werden erst im moralpsychologischen dritten Teil der Theory of Justice beantwortet. Darin nimmt Rawls die zunächst liegen gelassene Frage wieder auf, aus welchem Grund eine Person überhaupt eine faire Argumentationshaltung einnehmen und sich hypothetisch in eine Ursprungsposition hineinversetzen soll, anstatt als möglichst effizienter Anwalt ihrer eigenen Interessen in politische Verhandlungen einzutreten.4 Und erst in diesem nachgetragenen
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Teil finden wir auch Rawls’ Antwort, die mit der Rechtsgebundenheit der Selbstachtung einer Person zu tun hat und damit, dass ihre Selbstachtung tief in ihr Selbstverständnis, eine rationale Person zu sein, eingelagert ist.5 Bevor wir uns der Begründungsfunktion des Selbstachtungskonzepts in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zuwenden, lassen sich die wichtigsten Bedeutungsaspekte und die damit behafteten Probleme bereits an seiner ersten Definition des Selbstachtungskonzepts veranschaulichen. Nach Rawls ist „self-respect … the sense that one's plan [of life, HH] is worth carrying out“ (TJ, S. 155). Wir haben oben Selbstachtung als ein normatives Selbstverhältnis eingeführt und es ist immer sinnvoll, wenn wir die subjektiven und die objektiven Momente eines Selbstverhältnisses unterscheiden. Rawls’ Selbstachtungskonzept zufolge achtet sich das Selbst für seine Objektivierung in einem als wertvoll anerkannten Lebensplan. Das subjektive Selbst fungiert als ein zweckrationales Wesen, dessen Interesse es ist, die nachhaltigsten und bestmöglichen Lebensbedingungen für sich selbst zu wählen.6 Sein rationales Interesse geht darauf, über möglichst viele soziale Grundgüter, wie Einkommen, Wohlstand oder Bildung zu verfügen, weil diese Grundgüter seine Chancen erhöhen, einen sinnvollen Lebensplan zu entwickeln.7 Rawls geht in seinem von der rational choice theory hergeleiteten Rationalitätsbegriff davon aus, dass sich eine in diesem Sinne rationale Person in Abschätzung ihrer Fähigkeiten und den (politischen) Realisierungsbedingungen einen Lebensplan auswählt, in dem sie sich möglichst viele ihrer präferierten Wünsche erfüllen kann.8 Aber dieses rational auswählende Selbst stellt eben nur das subjektive Moment im praktischen Selbstverhältnis einer Person dar; das objektive Moment bezeichnet Rawls als den Lebensplan der Person.9 Im Gegensatz zu einzelnen Handlungsplänen, in denen sich eine Person für einzelne Praktiken aufgrund rationaler Bedürfnisabwägungen entscheidet, zeichnet sich ein Lebensplan dadurch aus, dass er selbst Ziele und Bedürfnisse generiert. Wer sich für einen Lebensplan entscheidet, wählt ein Paket sozialer Praktiken, die ihre eigene Bedürfnislogik entfalten und aus denen sich ein Leben lang weitere spezifische Ziele und normative Verpflichtungen ergeben.
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Trotz kritischer Einwände gibt es gute Gründe, an einem Konzept prospektiv ausgerichteter und lebensbegleitender Pläne festzuhalten.10 Immerhin ist es geradezu unumgänglich, langfristige Vorstellungen davon zu entwickeln, wer wir sein wollen, bevor wir umfassende soziale Praktiken wie die Ehe oder eine bestimmte Karriere eingehen, die unsere Zukunft in wichtigen Bereichen unseres Lebens normieren. Grundsätzlich lebt eine Person in dem Selbstverständnis, dass sie diejenigen sozialen Praktiken, die ihr besonders wichtig und daher für ihre praktische Identität konstitutiv sind, auch selbst gewählt hat. Während der Rollenbegriff die soziale Vorgabe einzelner Lebensformen betont, legt das Konzept des Lebensplans den Akzent auf die Selbstbestimmung des eigenen Lebens. Das Leben ist ein Projekt, in dem sich eine Person – oft retrospektiv – eine Einheit zuschreibt. Diese Einheit in einem sich fortlaufend umstrukturierenden Geflecht sozialer Praktiken ist ihr objektives Selbst, das nur so lange nicht in einzelne Identitätsfragmente zerfällt, wie sich eine moralische Person für ihre individuellen Handlungen und Einstellungen als Ganze verantwortlich zeichnet. Es ist deutlich, dass wir den Lebensplan als einen präziseren Begriff für das oben eingeführte So-Sein einer Person einsetzen können. Eine Person wählt mit ihrem Lebensplan zugleich die Normen, die sie auch subjektiv aus der Sicht ihres rationalen Eigeninteresses befürworten kann. In Rawls’ Theorie spiegelt sich dieser Vorgang in der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand wider. Hier wählt die Person Grundsätze, die nicht nur eine juridische Verfassung bestimmen, sondern auch ihrem eigenen Selbstbild zugrunde liegen, so dass Rawls feststellen kann: „Convictions about what sort of person to be are similarly involved in the accaptance of principles of justice“. (TJ, S. 365) Dies bedeutet wiederum nicht, dass die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze in einem Akt reiner Dezision erfolgt, in dem es einer Person völlig frei steht, sich auf ein bestimmtes Selbstverständnis und eine beliebige Verfassungsform festzulegen. Eine Person ist es – und genau darin besteht die begründungstragende Funktion – ihrer Selbstachtung als rationale Person schuldig, genau die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze anzunehmen, die eine freiheitliche Selbstverwirklichung bei fairer Grundgüterverteilung garantieren.
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Wie die Selbstachtung einer Person mit der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze genau zusammenhängt, werden wir allerdings erst dann abschließend einordnen können, wenn wir die Begründungsfunktion des Selbstachtungskonzepts in allen tragenden Elementen der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie untersucht haben. Auf die wesentlichen Bestandteile vereinfacht vertritt Rawls eine Vertragstheorie, die nur in Details vom klassischen Kontraktualismus abweicht.11 Wie jeder vertragstheoretische Entwurf kennt seine Theorie eine überparteiliche Perspektive, in der eine Person die objektive Berechtigung einzelner Normen überprüft. Um die Zustimmung aller rationalen Personen einzuholen, begibt sie sich hinter den Schleier des Nichtwissens und blendet ihre als arbiträr zu betrachtenden Präferenzen aus. In der repräsentativen Perspektive des Urzustands ist es dann rational, aus einer Liste aller bekannten Gerechtigkeitsgrundsätze genau zwei auszuwählen: das Freiheitsprinzip (liberty principle) und das Differenzprinzip (difference principle). Das Freiheitsprinzip setzt fest, dass jeder Person die gleichen und vollen Grund- und Freiheitsrechte zustehen, und genießt Priorität vor dem Differenzprinzip, das besagt, dass eine Ungleichverteilung sozialer Grundgüter nur dann gerechtfertigt ist, wenn diese Ungleichverteilung für die am schlechtesten Gestellten von Vorteil ist.12 Unter der Leitthese, dass Rawls mit dem Selbstachtungskonzept eine moralphilosophische Begründung seines theoretischen Teils nachträgt, können wir nun dazu übergehen, die selbstachtungsfunktionale Begründung einzelner Elemente seiner Theorie zu rekonstruieren.13 Beginnen wir mit der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze, ihrer lexikalischen Ordnung und der Priorität des Rechts vor dem Guten, alles drei Kernelemente, die Rawls explizit am Selbstachtungskonzept begründet.14 Insbesondere die Priorität des Freiheitsprinzips kommt unter der Voraussetzung zustande, dass sich jede Person eine gleichberechtigte Chance auf einen eigenen Lebensplan sichern will.15 So macht Rawls deutlich, dass das übergeordnete Interesse einer Person an der Sicherung ihrer Freiheit wiederum auf das übergeordnete Interesse an der Sicherung ihrer eigenen Selbstachtung zurückzuführen ist: „The effective protection of the equal liberties becomes increasingly of
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first importance in support of self-respect and this affirms the precedence of the first principle.“ (TJ, S. 480) Ebenso rechtfertigt er das Differenzprinzip darin, dass jede rationale Person an der Aufrechterhaltung ihrer Selbstachtung interessiert ist. In seiner meritokratischen Konsequenz lässt das Differenzprinzip Anreize für besondere Verdienste zu, weil sich eine Person gerade für ihre eigenen Leistungen selbst achtet, und in seiner egalitaristischen Konsequenz bleibt es sensibel für das soziale Gleichgewicht, weil berechtigter Neid und eine ungleiche Chancenverteilung die Selbstachtung einzelner Personen zu beschädigen drohen.16 Und schließlich ist die Entscheidung gegen utilitaristische Gerechtigkeitsgrundsätze dem fundamentalen Bedürfnis nach Selbstachtung geschuldet, die ein Gut ist, das eine vernünftige Person für keinen Preis in die Verhandlungsmasse einfließen lassen will.17 Ein anderer Grundgedanke in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, den er selbstachtungsfunktional begründet, ist die Priorität des Rechts vor dem Guten, einer Priorisierung, die Rawls viel Kritik von kommunitaristischer und tugendethischer Seite eingebracht hat. Das hat vor allem damit zu tun, dass er seine Idee des Guten als eine rein formale Idee einführt.18 Unter einem unaufgeregten Blick geht es Rawls hierbei lediglich um die naheliegende Unterscheidung, dass im Recht allgemeine Handlungsspielräume festgelegt werden, in deren Rahmen Individuen ihre eigenen Lebenspläne frei gestalten, während mit dem Konzept des Guten eine inhaltliche Festlegung gemeint ist, wie Lebenspläne im Einzelnen abzulaufen haben bzw. welche Lebenspläne überhaupt im Sinne einer kulturell geteilten Idee des Guten akzeptabel sind. Der Begriff des Guten legt nicht, wie das Recht, formale Grenzen von Lebensplänen fest, sondern Standards für die Lebenspläne selbst. Die Kritik lautet hier, dass die Idee des Rechts ihrerseits nichts anderes ist, als eine bestimmte Idee des Guten – nämlich eben die des zeitgenössischen Liberalismus – und dass die Priorität der Grund- und Freiheitsrechte auf einer nicht zu verallgemeinernden kulturellen Vorstellung aufruht.19 In der Begrifflichkeit, die sich im Zuge dieser Debatte eingebürgert hat, ist dies die Kritik der Ethik an der Moral, wobei die Ethik im aristotelischen Sinne als Begründung einer konkreten Idee des guten Lebens und der Glückseligkeit verstanden wird,
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während sich die Moral im Anschluss an Kant darauf beschränkt, formal zu überprüfen, ob ein normativer Anspruch im Recht ist. Aus dem ethischen Betrachtungswinkel wird die rechtsgebundene Moral des Liberalismus aber selbst als eine Art ethischer Sonderfall begriffen, der das Resultat eines bestimmten kulturellen Entstehungshintergrundes ist und dessen Normen, wie Selbstbestimmung und Selbstachtung, mit anderen Ideen des Guten konkurrieren. Um diese Kritik zurückzuweisen, grenzt Rawls zu Beginn des dritten Teils von A Theory of Justice eine schwache Konzeption des Guten von einer starken ab. Während eine starke Konzeption die ethischen Standards für einen guten Lebensplan festlegt, beschränkt sich seine schwache Konzeption darauf, Rechtsgrenzen abzustecken, innerhalb derer jede Person für sich selbst bestimmen kann, was für sie gut ist. Ein Problem besteht aber darin, dass Rawls aus dieser schwachen Konzeption des Guten Konsequenzen zieht, die im Grunde einer stärkeren Konzeption vorbehalten bleiben. Während Freiheit und Selbstachtung zunächst als bloß formale Leitnormen seines Liberalismus eingeführt werden, dienen sie ihm im Laufe seiner Argumentation dazu, substantielle Forderungen nach einer fairen Umverteilung sozialer Grundgüter, darunter Einkommen und Wohlstand, zu begründen. Weil die Gestaltungsmöglichkeiten wertvoller Lebenspläne, für die sich Personen achten, in einem Verhältnis zur Verfügbarkeit dieser Grundgüter gesetzt werden, verwandelt sich Rawls’ selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie in eine sozialliberale Theorie distributiver Gerechtigkeit: „Nevertheless, the thin theory of the good which the parties are assumed to accept shows that they should try to secure their liberty and self-respect, and that, in order to advance their aims, whatever these are, they normally require more rather than less of the other primary goods.“ (TJ, S: 349) Hier formuliert Rawls seinen Anspruch, aus den klassischen liberalen Prämissen und Normen eine Begründung sozialstaatlicher Umverteilung ableiten zu können. Ich vertrete die Auffassung, dass dieser Anspruch nur dann berechtigt ist, wenn wir seine Theorie der Gerechtigkeit ihrerseits als einen schwachen Perfektionismus lesen.20 Nach Rawls eigener Definition argumentiert eine Theorie perfektionistisch, wenn sie über eine sehr präzi-
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se Vorstellung „of human excellence“ verfügt (TJ, S. 22), wie sie etwa Aristoteles im bios theôrêtikos oder Nietzsche im Übermenschen festlegen. Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie eine einzige Form der Daseinsbewältigung als gelungen, gut oder eben als perfekt auszeichnen. Der nahe liegende Einwand des perfektionistischen Liberalismus gegenüber Rawls’ neutralem Liberalismus lautet entsprechend, dass das dem Liberalismus zugrunde liegende Menschenbild ebenfalls von perfektionistischen Vorstellungen begleitet wird, in denen ein eigenverantwortliches Leben, dass wir mit den Begriffen Autonomie, Freiheit und Selbstachtung gekennzeichnet haben, besser ist als andere Lebensformen.21 Ich teile diese perfektionistische Kritik, bin aber der Überzeugung, dass der Begründungsanspruch des Liberalismus keineswegs verloren geht, wenn er einzuräumen bereit ist, dass er einem bestimmten Menschenbild anhängt und dass er die politischen Institutionen auf dieses Menschenbild einstellen will.22 Im Gegenteil, wenn sich der Liberalismus selbst offensiver als eine perfektionistische Theorie darstellen würde, deren Menschenbild von der Idee selbstbestimmter Personen getragen wird, dann würde es ihm wahrscheinlich viel besser gelingen, seine perfektionistischen Voraussetzungen mit alternativen Modellen zu diskutieren, sie als kontextsensible und kulturell divergierenden Menschenbildern angemessene Voraussetzungen zu verteidigen und so insgesamt die enorme Attraktivität einer Konzeption offen zu legen, die den Freiheits- und Grundrechten des Einzelnen Priorität einräumt. Aber auch wenn es schon aus diskurspragmatischen Gründen geboten ist, Rawls’ Rede von einem neutralen Liberalismus zu relativieren und seinen Liberalismus in Richtung eines perfektionistischen Liberalismus umzuarbeiten, ist dadurch nicht gleich die wichtige Unterscheidung zwischen dem Recht und dem Guten obsolet geworden. Der Vorzug des rechtsgebundenen Selbstachtungskonzepts gegenüber anderen normativen Leitbegriffen besteht eben darin, dass diese liberale Grundfigur einen sehr schwachen Perfektionismus vertritt, insofern sie das gute Leben nicht auf eine bestimmte Lebensform festlegt, sondern die Konzeption für alle Formen rationaler Selbstbestimmung öffnet und über die
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Freiheitsrechte lediglich einen Rahmen absteckt, innerhalb dessen sich jede Person ‚nach ihrer Fassonȧ verwirklichen kann. Meine Lesart, Rawls’ Liberalismus als eine auf den Perfektionismus der Selbstachtung verschlankte Theorie des Guten zu beschreiben, bezieht sich vornehmlich auf den dritten Teil der Theory of Justice. Darin bestimmt Rawls, welche Werte und Ziele seiner liberalen Theorie der Gerechtigkeit zugrunde liegen, oder anders formuliert, er entwirft seine eigene, wenn auch eben dünne Theorie des Guten. Im einzelnen untergliedert sich dieser dritte Teil wiederum in drei Kapitel, von denen das erste die Grundzüge seiner Theorie des Guten begründet, während das zweite, moralpsychologische Kapitel seinen Begriff des Gerechtigkeitssinns erklärt und das abschließende dritte Kapitel die Gerechtigkeit selbst als das größte moralische wie politische Gut auszeichnet, weil sie, und hier läuft Rawls Argumentation auf die Kernthese meiner gesamten Arbeit hinaus, die Voraussetzung dafür ist, dass sich ein Selbst als eine einheitliche Person konstituieren kann. Es bietet sich an, den gesamten dritten Teil der Theory of Justice als eine Explikation des Freiheitsbegriffs zu lesen. Genau genommen bilden die Freiheitsrechte aber nur deswegen das oberste Prinzip seiner Gerechtigkeitstheorie, weil sie den Raum für selbstbestimmte Lebenspläne öffnen und darin die Selbstachtung von Personen absichern.23 Deswegen ist es präziser, wenn wir Rawls’ Theorie vorrangig als eine selbstachtungsfunktionale und nur in abgeleiteter Form als eine freiheitsfunktionale oder eben liberale Theorie des Guten beschreiben.24 In dieser Theorie ist ein Leben gut, wenn es selbstbestimmt geführt wird, und dies setzt wiederum voraus, dass es einer Person gelingt, ihren Lebensplan als Resultat ihrer eigenen Entscheidung zu begreifen, weil sie ihn aufgrund einer eingängigen Prüfung ihrer Vorlieben und Fähigkeiten gewählt hat und ihn permanent im Lichte aller verfügbaren Kenntnisse korrigiert.25 Wie wir gesehen haben, führt die Wahl eines langfristigen Lebensplans eine weitreichende Festlegung mit sich, wer wir sein wollen und welche spezifischen Bedürfnisse und Wünsche wir im Verlauf unseres Lebens ausbilden werden.26 Die Wahl einzelner Praktiken, die unser Selbstverständnis in besonderer Weise prägen und unser Leben langfristig normieren,
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hat eine existenzielle Bedeutung, auch wenn sie sich, wie die Wahl unseres Berufs oder unseres Lebenspartners, gleichsam wie von selbst zu ergeben scheinen. Deswegen wäre es hochgradig irrational, einen Lebensplan zu wählen, der mit unserem grundsätzlichen Interesse an einem zufriedenen und sinnvollen Leben unvereinbar ist. Aber was macht einen Lebensplan zufriedenstellender und sinnvoller als einen anderen? Zur Erklärung stellt Rawls den Aristotelischen Grundsatz auf.27 Dieser Grundsatz besagt, dass Menschen in der Regel zufrieden sind, wenn sie ihre persönlichen Fähigkeiten verwirklichen können, und dass es besonders befriedigend ist, wenn diese Fähigkeiten auf eine möglichst komplexe und interessante Weise beansprucht werden.28 Als Beispiel dient Rawls das Schachspiel, das derjenige, der es beherrscht, dem Damespiel vorziehen wird, weil es eine kompliziertere Aktivität erfordert und damit einen raffinierteren Genuss mit sich führt. Dieser Genuss ergibt sich Rawls zufolge aus der Befriedigung unseres Bedürfnisses nach vielfältigen und überraschenden Erfahrungen sowie daraus, dass komplexe Tätigkeiten unsere Kreativität stimulieren und in sich selbst schön und faszinierend sind.29 In dieser Formulierung wird deutlich, dass Rawls mit dem aristotelischen Grundsatz ein ästhetisches Kriterium für die Bewertung von Lebensplänen einführt. Ein Lebensplan ist umso wertvoller, je komplexer die mit ihm verbundenen Praktiken sind und desto besser es einer Person gelingt, eine eigenständige wie interessante praktische Identität zu entwickeln.30 Entsprechend ist es rational, einen Lebensplan zu wählen, der möglichst vielschichtige Betätigungsfelder erschließt und aus dem sich reichhaltige Möglichkeiten ergeben, sein eigenes Leben sinnvoll zu interpretieren. Zum Beispiel wäre die Entscheidung, eine Ausbildung zugunsten einer Hilfsarbeitertätigkeit abzubrechen, unter diesem Prinzip irrational, während es in hohem Maße rational wäre, das Spektrum der eigenen Fähigkeiten in einem Studium auszubilden. Insgesamt zeichnet sich für Rawls ein formal guter Lebensplan darin aus, dass er einer Person ermöglicht, ihre eigenen Fähigkeiten über die gesamte Lebensspanne auf eine komplexe Weise umzusetzen, dass ihre Chance, diesen Lebensplan auch zu verwirklichen, relativ groß ist, dass er auf effektive Weise den
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größtmöglichen Teil ihrer selbstgesetzten Ziele umfasst und dass er am Gemeinwohl orientiert ist und dadurch auf eine allgemeine Achtung rechnen kann. Es wird ferner deutlich, dass Rawls’ formale Qualifikation rationaler Lebenspläne letztendlich dazu führt, dass sich seine Theorie nicht mehr neutral gegenüber unterschiedlichen Lebensplänen verhält.31 Weil Rawls selbst diesen perfektionistischen Zug in seiner Theory aber noch nicht erkennt hat, sieht er meines Erachtens nicht scharf genug, dass die ästhetische Auszeichnung komplexerer Lebenspläne von einem schwerwiegenden Gerechtigkeitsproblem begleitet wird. In einer freiheitlich eingerichteten Gesellschaft herrscht nämlich ein echter Konkurrenzkampf um Ausbildungsplätze, in denen möglichst viele und komplizierte Fähigkeiten erworben werden, und um Arbeitsplätze, in denen sich Personen auf eine möglichst kreative und sinnvolle Weise verwirklichen können (s. 6.3.). Wenn Rawls nun feststellt, dass rationalerweise alle Personen möglichst anspruchsvolle Lebenspläne entwickeln wollen, öffnet er seine Theorie für ein stark egalitaristisches Konzept sozialer Gerechtigkeit, weil unter dieser Voraussetzung alle Personen im Urzustand an den entsprechenden Ausbildungs- und Karrierechance interessiert sind und deswegen keinem Verfassungsgrundsatz zustimmen werden, der auch nur eine einzige Person aus sozialen Gründen davon exkludiert, ein möglichst interessantes und vielschichtiges Leben zu führen. Oft wird angeführt, dass derartige Exklusionen und Ungleichheiten sozialen Neid schüren und die politische Stabilität gefährden.1 Aus moralischer Sicht ist sozialer Neid aber nicht zwingend relevant, weil er oft selbst auf einen Mangel an Selbstachtung zurückzuführen ist.2 Im Gegensatz zum bloßen Sozialneid gibt es aber auch einen moralisch berechtigten Neid, der die Selbstachtung einer Person gefährdet, nämlich genau dann, wenn sich Wohlstands- und Karriereunterschiede aus ungerechten Verfassungsgrundsätzen ergeben.3 Eine gerechte Verfassung verhindert, dass der Zugang zu erfüllenden Tätigkeitsfeldern über Statusunterschiede entschieden wird, indem sie etwa festlegt, dass Ausbildungschancen fair verteilt werden. In diesem Sinne kann der soziale Neid auf den Status einer anderen Person durchaus
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berechtigt sein; wenn er nämlich weder aus dem pleonektischen Wunsch herrührt, mehr haben zu wollen, noch ein Ausdruck der Ich-Schwäche ist, wie ein anderer sein zu wollen, sondern wenn Neid darin begründet ist, dass eine andere Person einen unfairen Vorteil zur Entwicklung und Realisierung eines sinnvollen Lebensplans genießt.4 Dass Rawls die starken egalitären Konsequenzen seiner Theorie der Selbstachtung nur behutsam in seinem Differenzprinzip aufgreift, hat mit dem Einwand zu tun, dass sich Macht- und Statusunterschiede in unterschiedlichsten Bereichen manifestieren, die in pluralistischen Gesellschaften voneinander abgeschieden sind. Die Geringschätzung und Inferiorität, die eine Person in einem dieser Bereiche erleidet, spielt in einem anderen Bereich schon keine Rolle mehr, so dass es die Pflicht einer Person ist, sich in einem ihren Möglichkeiten angemessenen Feld zu verwirklichen, und nicht die Pflicht einer Gesellschaft, jeder Person den Zugang zu jedem Feld zu ermöglichen. Das Argument gegen dieses libertäre Modell einer fragmentarisierten Gesellschaft lautet, dass es sehr wohl umfassende normative Kontexte gibt (wie die Politik, das Recht, die gesellschaftliche Kultur (societal culture) oder die Ökonomie), denen sich eine Person nicht entziehen kann und in denen sie einen Anspruch auf gleiche Verwirklichungsmöglichkeiten hat.5 In Hinführung auf unsere Absicht, innerhalb eines Rawls’schen Frameworks sozialliberale Grundrechte zu begründen, werden wir an dieser Stelle einen Exkurs in das libertär-anarchistische Gegenmodell unternehmen und zeigen, dass wir, gerade was den sozialen Status betrifft, allen Grund haben, ein libertäres Laisser-faire zurückzuweisen.
5.2. Libertarismus und Selbstschätzung: Robert Nozick Als prononciertester Vertreter der libertären Denkschule kann nach wie vor Robert Nozick gelten, der Rawls’ egalitären Liberalismus für dessen selbstachtungsfunktionale Begründung wohl-
5.2. Libertarismus und Selbstschätzung: Robert Nozick
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fahrtsstaatlicher Umverteilung scharf kritisiert hat. Unser Argumentationsgang eröffnet nun einen neuen Zugang zu dieser libertären Kritik am Sozialstaat, weil wir sie als eine Verschiebung des moralpsychologisch ausschlaggebenden Selbstverhältnisses von Selbstachtung auf Selbstschätzung rekonstruieren können. In seiner zur Begründungsakte des Libertarismus avancierten Schrift Anarchy, State and Utopia führt Nozick sein Konzept der Selbstschätzung (self-esteem) ein, um das Herzstück seiner Gerechtigkeitstheorie, die entitlement theory, gegen den Einwand der sozialen Ungerechtigkeit zu verteidigen.6 Die wiederholt gegenüber Nozick geäußerte Kritik, dass seine libertäre Theorie mit der sozialstaatlichen Umverteilung auch die dem Liberalismus zugrunde liegende Idee der Gleichheit abwickeln will, greift allerdings zu kurz, weil Nozick die Gerechtigkeitstheorie lediglich von einem selbstachtungsfunktionalen Egalitarismus à la Rawls auf seinen Egalitarismus der Selbstschätzung umstellen will.7 Im Kern handelt es sich bei Nozicks Egalitarismus um den systematischen Versuch zu zeigen, dass Personen einen fundamentalen Anspruch auf gleiche Selbstschätzung geltend machen können und dass dieser Anspruch durch sozialstaatliche Angleichungen der Lebensverhältnisse unterlaufen wird. Darum mündet seine Kritik an allen distributiven Gerechtigkeitstheorien darin, dass ihr Wohlfahrtsdenken von einer falschen Moralpsychologie ausgeht, welche die komparativen und kompetitiven Seiten des Selbstwertgefühls verkennt. Im Gegenzug dazu bringt Nozick die neoliberale Gerechtigkeitsutopie mit seiner Formel von der Gleichheit ohne Umverteilung auf den Punkt. Wie der Titel bereits indiziert, gliedert sich Anarchy, State and Utopia in drei Sektionen. Die erste zeigt, wie ein Minimalstaat – der ‚Nachtwächterstaatȧ der klassischen liberalen Theorie – sich zwangsläufig und legitim aus dem Naturzustand heraus entwickelt. In naturrechtlicher Tradition betont Nozick, dass Individuen Rechte genießen, die in jeder Gesellschaft und um jeden Preis aufrechtzuerhalten sind. Deswegen bezeichnet er den Staat als eine ‚Sicherheitsagenturȧ (protection agency), die zwischen den Freiheitsräumen seiner Bürger patrouilliert. Im zweiten Teil argumentiert Nozick dann dafür, dass dieser Nachtwächterstaat die weitgehendste Form staatlicher Gewalt darstellt, die gegenüber den
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natürlichen Rechten ihrer Bürger zu rechtfertigen ist, und entwirft im dritten und abschließenden Teil seine eigene Utopie: den Minimalstaat, in dem sich die divergierendsten Ideen vom Guten frei entfalten können. Das Herzstück in Nozicks Libertarismus bildet seine Rechtfertigungstheorie (entitlement theory).8 Darin kritisiert er alle gängigen Theorien distributiver Gerechtigkeit mit dem Argument, dass es so gut wie keine Ressourcen gibt, die sich nicht bereits in rechtmäßigem Besitz befinden und dass deswegen niemand – weder eine Person, noch eine Institution, noch der Staat – dazu berechtigt ist, über die im Privatbesitz befindlichen Ressourcen zu verfügen. In Abgrenzung zu der, wie Nozick meint, illegitimen Annahme einer öffentlichen Ressourcenverfügbarkeit, wie sie in allen distributiven Gerechtigkeitsmodellen vorausgesetzt wird, verteidigt Nozick das libertäre Ideal einer Gesellschaft ohne einen zentralen Umverteilungsapparat.9 Sozialstaatliche Umverteilung ist für Nozick auch deswegen illegitim, weil der Sozialstaat die gleiche Selbstschätzung seiner Bürger zu untergraben droht. Auch Nozick trägt seine Kritik also ausdrücklich im Namen der Gleichheit vor – nur dass diese Gleichheit eben nicht, wie im egalitären Liberalismus, die gleiche Verteilung der sozialen Grundlagen der Selbstachtung anvisiert, sondern dass es stattdessen im Libertarismus immer nur um gleiche Zugangsbedingungen zur sozialpsychologischen Selbstschätzung geht.10 Diese libertäre Verlagerung der normativen Selbstverhältnisse, die – soweit ich sehen kann – nirgends ausführlich untersucht worden ist, ermöglicht es, den Libertarismus gründlicher zu hinterfragen. Um Rawls’ selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie zu verwerfen, muss Nozicks zeigen, wie Personen ihre Selbstschätzung ohne eine sozialstaatlich gewährleistete Absicherung ihres Lebensstandards entwickeln und aufrechterhalten können. Darüber hinaus muss er das Kunststück vollbringen zu erklären, wie der Nachtwächterstaat in der Lage sein soll, eine gleiche Selbstschätzung ohne Umverteilung zu garantieren. Dass sich die sozialen Grundlagen der Selbstschätzung nicht zentral verteilen lassen, begründet er damit, dass jede Person ihre Ressourcen nach sehr persönlichen Gründen gewichtet, die sich aus ihren ganz privaten Vorstellungen eines guten Lebens erschließen. Was
5.2. Libertarismus und Selbstschätzung: Robert Nozick
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für einen Mönch von unschätzbaren Wert sein kann, mag aus der Perspektive eines Bankiers erbärmlich erscheinen – und umgekehrt. Allen Personen ist hingegen gemein, dass sich ihre Selbstschätzung im Bewusstsein gründet, etwas Wertvolles geleistet zu haben. Eine sozialstaatliche Alimentation verbessert zwar den Lebensstandard einer Person, aber sie nimmt ihr zugleich den Stolz, ihr Leben selbst bestreiten zu können.11 Im Geleisteten verwirklicht sich eine Person auf eine Weise, die auf soziale Wertschätzung stößt und ihr Selbstwertgefühl erhöht. An dieser Stelle müssen wir aber aus der Perspektive unserer Selbstachtungstheorie einwenden, dass die Leistungsfähigkeit einer Person zwar einen notwendigen, aber doch keinen hinreichenden Grund für die Bildung ihres Selbstwertgefühls darstellt. Es ist diese Engführung des Selbstwertgefühls auf die eigene Leistungsfähigkeit, genauer, es ist die Engführung des Leistungsbewusstseins auf das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit, die Nozick zum entschiedenen Gegner einer sozialstaatlichen Umverteilung macht, die den Bürger entmündigt und ihm seine Selbstschätzung raubt.12 Für Nozick gibt es keinen unabhängigen Standard dafür, dass wir unser Leben als wertvoll erfahren, außer dem, dass wir in Bereichen unseres Leben, die für unser Selbstverständnis wichtig sind, erfolgreich mit anderen konkurrieren. In seiner libertären Akzentuierung der komparativen und kompetitiven Ursachen der Selbstschätzung, entkoppelt er das Selbstwertgefühl einer Person vollständig von der Vorstellung, dass es auf Eigenschaften beruht, die jeder Mensch teilt, oder auf Kriterien gründet, die jeder Mensch billigt. Erst aus dieser Reduktion des Selbstwertgefühls auf die Psychologie des Überlegenheitsgefühls ist Nozicks Schlussfolgerung zu verstehen, dass eine künstlich hergestellte Gleichverteilung von Gütern die Selbstschätzung untergräbt.13 Um die Bedeutung der Ungleichheit für die Selbstschätzung zu illustrieren, konstruiert Nozick eine suggestive Analogie. Gesetzt, dass Aristoteles, Goethe und Marx eine Gemeinschaft miteinander bilden, dann würden ihre herausragenden intellektuellen Fähigkeiten gerade einmal durchschnittlich sein.14 Keiner der drei, so Nozick, könnte eine besonders positive Selbstschätzung aufbauen, weil ihre intellektuellen Leistungen keine Ausnahmeleis-
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tungen wären. Ihre Leistung würde als vergleichsweise banal und mittelmäßig erscheinen – so wie heute niemand mehr seine Selbstschätzung aus der Fähigkeit zieht, schreiben zu können, wenngleich sich diese Fähigkeit unter Analphabeten großer Wertschätzung erfreut und in vergangenen Epochen die Grundlage für eine außergewöhnliche Selbstschätzung gebildet hat. Auch wenn sich mit Rawls’ Aristotelischem Grundsatz einwenden ließe, dass die Praxis des Schreibens eine in sich selbst befriedigende Tätigkeit ist, führt Nozicks Emphase der kompetitiven Psychologie der Selbstschätzung eine gewisse Überzeugungskraft mit sich. Um aber von einem Egalitarismus der Selbstschätzung zu einer Begründung seiner entitlement theory zu gelangen, fehlt noch ein Theoriestück, in dem die ganze Misere der libertären Moralpsychologie offenkundig wird. Noch schuldet Nozick nämlich eine Beschreibung dafür, wie sein Nachtwächterstaat die Selbstschätzung von jedem Bürger gleichermaßen sichern kann. Denn wenn die sozialstaatliche Umverteilung von Ressourcen illegitim ist, muss es in irgendeiner Weise von selbst dazu kommen, dass jeder einzelne Bürger dieses Staates mit seinem Leben zufrieden ist und zwangsläufig über eine gesunde Selbstschätzung verfügt. In seiner Moralpsychologie muss Nozick vermeiden, dass es gemeinsam geteilte Standards intersubjektiver Wertschätzung gibt. Denn sollte sich die Selbstschätzung auf geteilte Eigenschaften beziehen, über die die Staatsbürger in unterschiedlicher Weise verfügen (wie Reichtum, Talente, Bildung), dann wären die einen den anderen darin überlegen und das Resultat wäre eine massive Ungleichheit des Selbstwertgefühls zwischen den Staatsbürgern. Es bleibt Nozick nur der Weg, davon auszugehen, dass sich die Bürger einer libertären Gesellschaft für Eigenschaften schätzen, die zwar von den Mitbürgern anerkannt, geschätzt oder sogar beneidet werden, die aber niemand vollständig teilt. Oder, wie es Nozick erklärt: The most promising ways for a society to avoid widespread differences in self-esteem would be to have no common weighting of dimensions; instead it would have a diversity of different lists of dimensions and of weightings. This would enhance each person’s chance of finding dimensions that some others also think important, along which he does reasonable well, and so to make a nonidiosyncratic favourable estimate
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of himself. Such a fragmentation of a common social weighting is not to be achieved by some centralised effort to remove certain dimensions as important. (ASU, S. 245 f.)
In der Fragmentarisierung gemeinschaftlicher Wertmaßstäbe liegt Nozicks Schlüssel zur Begründung seiner entitlement theory, die dem Staat verbietet, in das freie Spiel der Interessensgewichtungen einzugreifen. Jedem Bürger soll freigestellt sein, welche Eigenschaften für seine persönliche Selbstschätzung konstitutiv sind und wie er diese Eigenschaften auswählt und entwickelt. Die Einwände gegen diese Argumentation sind so offenkundig, dass Nozick sie selbst antizipiert und versucht, sie vorausgreifend aus dem Weg zu räumen. Vor allem sieht sich Nozick mit dem Bedenken konfrontiert, dass eine untergeordnete und unselbständige Arbeit der Selbstschätzung einer Person niemals im gleichen Maße zuträglich sein kann, wie eine selbständige, leitende und hoch qualifizierte Tätigkeit.15 Die Karriere und die daran gebundene ökonomische Existenz bilden, so dieses Argument, eine allgemein geteilte Dimensionen der persönlichen Sinngebung und alle Personen stehen auf dem Arbeitsmarkt in einer direkten Konkurrenz um erfüllende und die Selbstschätzung flankierende Möglichkeiten der Lebensgestaltung (s. 6.3.). Nozicks Gegenbeispiel zufolge muss in einem Symphonieorchester kein Musiker seine Selbstschätzung preisgeben, nur weil er den Anweisungen des Dirigenten zu folgen hat. Entscheidend ist hier nicht, dass es zu einer objektiv subordinierten Tätigkeit kommt, sondern inwiefern diese Subordination auch das Selbstbild des einzelnen Musikers betrifft. Wenn es der Wunsch des Cellisten gewesen ist, die Orchesterleitung zu übernehmen, kann das eigene Dirigiert-werden als eine Kränkung erscheinen; versteht sich eine Person aber eben selbst als ein Cellist, dem der Dirigent dazu dient, seine Einsätze und Tempi mit dem Orchester zu koordinieren, dann bemisst sich seine Selbstschätzung an den spezifischen Standards seines Instruments. Und auch wenn der Cellist nur als viertes Cello besetzt wird, weil das Orchester über begabtere Cellisten verfügt, kann sich seine Selbstschätzung daran aufrichten, dass er über weitere anerkennenswerte Fähigkeiten verfügt und beispielsweise ein besonders fürsorglicher
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Vater, ein verlässlicher Kollege oder ein unterhaltsamer Tischgenosse ist. Trotzdem nimmt sich Nozicks Orchesterbeispiel zynisch aus, weil es für das grundsätzliche Problem demütigender Arbeitsbedingungen gleichsam moralisch unmusikalisch bleibt. Zwar räumt auch Nozick ein, dass eine untergeordnete Stellung das Selbstwertgefühl von Personen herabmindern kann, zugleich behauptet er aber, dass der libertäre Staat gerade die Freiräume schafft, in denen jeder die Möglichkeit hat, selbst zu entscheiden, worauf die Schätzung seines eigenen Wertes als eine einzigartige Person basiert.16 Damit verfehlt Nozicks Utopie in eklatanter Weise das Problem unbefriedigender, monotoner und ausbeuterischer Arbeitsbedingungen, weil er weder anerkennt, dass die Karriere für die persönliche Sinngebung von besonderer Bedeutung ist, noch das Argument zu entkräften versteht, dass die existenzielle Abhängigkeit von der Lohnarbeit einen quasi-objektiven Maßstab der sozialen Wertschätzung kreiert. Über den Arbeitsmarkt sind die persönlichen Verwirklichungschancen auf öffentliche Anerkennungsarenen festgelegt, in denen es objektiv mehr und weniger geschätzte Tätigkeiten gibt, inklusive einer Konkurrenz um Tätigkeiten, die sich durch ein hohes Maß an Selbständigkeit, Komplexität und gesellschaftlichem Ansehen auszeichnen. Auch wenn Nozicks Minimalstaat eine wechselseitige Fürsorge fördern und freiwillige Formen des füreinander Aufkommens wie private Stiftungen unterstützen soll, so ist doch seine Zuversicht unbegründet, dass in einer libertär verfassten Gesellschaft jeder Person die gleiche Chance offen steht, sich ein ebenso einzigartiges wie gleichgewichtiges Fragment an Selbstschätzung zu erarbeiten. Aus allen möglichen Gründen (wie körperliche oder geistige Benachteiligungen, Diskriminierung oder unvorhersehbare Unglücksfälle) verfügt nicht jede Person über gleiche Chancen. Zum sozialstaatlichen Instrument, eine mangelnde Chancengleichheit zu kompensieren, bietet Nozick daher keine überzeugende Alternative an. Stattdessen abstrahiert er ganz und gar von allgemein geteilten Werten, Werte, die bei Rawls als soziale Grundgüter eine wichtige Rolle einnehmen, weil sie jedem vernünftigen Lebensplan und damit der Selbstachtung und dem
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Selbstwertgefühl jeder Person zugrunde liegen, wie ein Mindesteinkommen, Bildung oder auch Gesundheit.1
5.3. Zur Rechtsgebundenheit moralischer Selbstachtung: John Rawls II Wie tief das Selbstachtungskonzept in das begründungstheoretische Zentrum der Theory of Justice eingelagert ist, konnten wir vor allem an Rawls’ Argument ablesen, dass Personen den Gerechtigkeitsgrundsätzen zustimmen, weil sie ihre Selbstachtung um jeden Preis aufrecht erhalten wollen. Dieses Argument soll nun vertieft werden. Schon am Ausgang des ersten Teils, in dem Rawls die Grundlinien seiner Theorie entworfen hat, stellt er erste Überlegungen zur Verankerung seiner Theorie in der Moralpsychologie an und formuliert einige Hauptgründe für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze.2 Darin wird vor allem ein Gedanke deutlich, den wir in diesem Kapitel näher analysieren werden und der besagt, dass die moralische Selbstachtung einer Person mit ihrem Status zusammenhängt, eine gleichberechtigte Rechtsperson zu sein. Nach Rawls kommt es in einer wohlgeordneten Gesellschaft zu einer wechselseitigen Stabilisierung zwischen der Selbstachtung einzelner Personen und der öffentlichen Anerkennung ihres Rechtsstatus, die sich in einer juridischen Verfassung ausdrückt.3 Da es exakt dieses Wechselverhältnis ist, das es uns erlaubt, aus dem moralischen Selbstachtungskonzept politische Gerechtigkeitsbzw. juridische Grundrechtsforderungen zu begründen, werden wir dieses Argument hier Schritt für Schritt rekonstruieren. Den Ausgangspunkt in Rawls’ moralphilosophischer Argumentation bildet wie gesagt die These, dass es im Interesse jeder rational denkenden Person ist, ihre Selbstachtung zu sichern, weil sie eine notwendige Bedingung dafür ist, überhaupt ein wertvolles Leben zu führen.4 Deswegen wählen die Personen unter den Bedingungen einer rein rationalen Entscheidung im Urzustand
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genau die Gerechtigkeitsprinzipien, die ihrer moralischen Verfassung entsprechen und ihre Selbstachtung schützen. Nachdem Rawls Selbstachtung als das im Wortsinne Selbstwertgefühl einer rationalen Person bestimmt hat, versucht er in einem zweiten Argumentationsschritt eine Erklärung dafür zu konstruieren, warum unser Gefühl, ein sinn- und wertvolles Leben zu führen, davon abhängt, von anderen Achtung entgegengebracht zu bekommen. „Our self-respect“, so Rawls, „normally depends upon the respect of others“, und „unless we feel that our endeavors are respected by them, it is difficult if not impossible for us to maintain the conviction that our ends are worth advancing“ (TJ, S. 155 f.). In dieser These wird zum einen deutlich, dass Rawls aus dem Bedürfnis, sich selbst zu achten, eine Moral der wechselseitigen Achtung ableitet, worin andererseits das eigentliche Problem seines Ansatzes zum Vorschein kommt, nämlich dass er die Selbstachtung von einer faktischen Erfahrung wechselseitiger Achtung abhängig macht, die er nicht weiter von anderen Formen sozialer Anerkennung oder Wertschätzung zu unterscheiden scheint.5 Die Interdependenz zwischen Selbstachtung und wechselseitiger Achtung führt Rawls darauf zurück, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze in dem Moment, in dem sie als Recht anerkannt worden sind, eine Manifestation der wechselseitigen Achtung bilden – was wiederum eine Person in ihrer Selbstachtung bestärkt.6 Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn sie das Prinzip der wechselseitigen Achtung in einer juridischen Verfassung verankert hat, die moralisch im individuellen Interesse an der Sicherung der Selbstachtung begründet ist und die über die öffentliche Anerkennung dieser moralischen Verfassung im Recht wieder affirmativ auf die Person zurückwirkt. Der Kunstgriff in Rawls’ selbstachtungsfunktionaler Argumentation besteht darin, dass sie das fundamentalste Eigeninteresse an einem Leben in Selbstachtung mit dem Interesse jeder anderen Person an der Sicherung ihrer Selbstachtung aufgrund einer gerechten Verfassung des juridischen Kontextes vermittelt. Aus ihrem Wunsch, ein sinnvolles Leben zu leben, gewinnt eine Person das Motiv, juridischen Grundrechten zuzustimmen, die ihr einerseits das Recht einräumen, einen eigenständigen Lebensplan zu realisieren, und ande-
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rerseits die Pflicht auferlegen, alle anderen Personen gleichermaßen zu achten.7 Prima facie scheint sich hier eine Indifferenz gegenüber dem Begriff rationaler Selbstachtung und dem Begriff sozialpsychologischer Selbstschätzung fortzusetzen, die in der Literatur ausführlich beanstandet worden ist.8 So scheint Rawls die Antwort schuldig zu bleiben, ob Selbstachtung letztendlich auf Anerkennung oder auf einer rationalen Begründung beruht. Einerseits führt er sein Konzept sozialpsychologisch ein und gebraucht es auch teilweise synonym zur Selbstschätzung. Auf der anderen Seite geht Rawls immer wieder davon aus, eine rationale und letztlich gerade nicht sozialpsychologische Begründung seiner Gerechtigkeitstheorie vorzulegen. Dazu betont er die Kantischen Aspekte seiner Theorie, wonach die öffentliche Geltung der Gerechtigkeitsgrundsätze als ein Ausdruck des Wunsches verstanden wird, „to treat one another not as means only but as ends in themselves“ (TJ, S. 156). In dieser Argumentationslinie stellt Rawls heraus, dass wir ein vorgängiges Interesse daran haben, unser Selbstbild als eine autonome Person und damit unsere moralische Selbstachtung aufrechtzuerhalten, und dass dieses fundamentale Interesse dafür ausschlaggebend ist, dass wir die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze wählen und uns ihnen gegenüber als moralisch verpflichtet verstehen. Solange der Verpflichtungsgrund, die Gerechtigkeitsprinzipien zu wählen, in ihrer rationalen Selbstachtung liegt, will sie ihre Rechtsgeltung nicht aus einem Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung, sondern aus ihrem ursprünglichen Bedürfnis nach rationaler Selbstbestimmung; und erst um dieses Grundbedürfnis zu realisieren, ist sie auf die Anerkennung als Rechtsperson angewiesen. Auch wenn es hilfreich ist, die Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung in Rawls’ Theorie nachzutragen, gibt es ebenso gute Gründe, diese Indifferenz als den gezielten Versuch zu lesen, Übergänge zwischen den sozialpsychologischen und rationalen Argumentationslinien herzustellen und sie in einer politischen Theorie zusammenzuführen. Im Kapitel 67 „Self-Respect, Excellences, Shame“ greift Rawls dazu ähnliche Überlegungen zur sozialpsychologischen Affizierbarkeit der rationalen Selbstachtung auf, wie wir sie im dritten Kapitel angestellt
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haben, und fügt sie in den spezifischen Kontext seiner politischen Gerechtigkeitstheorie ein (TJ, S. 386 ff.). Darin trägt er zunächst eine präzisierte Definition seines Selbstachtungskonzepts nach. Selbstachtung ist „a person's sense of his own value“ (TJ, S. 386), wobei es sich um die gesicherte Überzeugung (secure conviction) handelt, „that his conception of his good, his plan of life, is worth carrying out“ (TJ, S. 386). In einem zweiten Schritt erweitert Rawls diese Definition und betont, dass eine Person auch über das Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten (confidence in one’s ability) verfügen muss, ihren Lebensplan in die Tat umsetzen zu können.9 Ohne dieses Selbstvertrauen, ein wert- und sinnvolles Leben zu führen, verliert eine Person ihre Ziele und versinkt in Apathie oder Zynismus.10 Diese Emphase auf das Selbstvertrauen, den eigenen Lebensplan auch realisieren zu können, leitet sich einerseits davon ab, dass zu einer vernünftigen Wahl des Lebensplans eine genaue Abstimmung der eigenen und gesellschaftlichen Möglichkeiten gehört, sie leitet aber auch dahin über, dass aus dem Anspruch auf Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung ein Rechtsanspruch auf die Ausstattung mit Mitteln und Chancen erwächst, die eine Person zur erfolgreichen Umsetzung ihres vernünftigen Lebensplans befähigen. In dieser Definition wird deutlich, warum Selbstachtung ein Grundgut ist. Ein Grundgut ist ein Gut, das, wie Rawls gleich zu Beginn definiert hat, jedes rationale Wesen notwendig besitzen will, weil es eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.11 Innerhalb dieser sozialen Grundgüter spielt die Selbstachtung eine herausragende Rolle. Sie ist nicht nur „perhaps the most important primary good“ (TJ, S. 386), sondern sie fungiert in Rawls Konzept, wie Thomas Steinforth zu Recht anführt, als eine Art „Grundgut zweiter Ordnung“, insofern alle anderen sozialen Grundgüter, wie Einkommen, Lebensstandard und Chancengleichheit, zu ihren sozialen Voraussetzungen zu zählen sind.12 In den folgenden Passagen macht Rawls die sozialen Voraussetzungen der Selbstachtung immer stärker.13 So stellt er fest, dass es beinahe unmöglich ist, an der Überzeugung festzuhalten, dass der eigene Lebensplan wertvoll ist, wenn unsere Bemühungen nicht auch von anderen geschätzt werden.14 In dieser sozialpsychologi-
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schen Wendung bezeichnet es Rawls als notwendig, dass eine Person ein anerkanntes Mitglied in einer Gemeinschaft ist, in der sie eine öffentliche Bestätigung für ihren Lebensplan erfährt und daran ihr Selbstwertgefühl aufrichten kann. Denn nur als Mitglied einer Gemeinschaft kann sie die Anerkennung finden, dass ihr Lebensplan wertvoll ist, und die Unterstützung bekommen, ihn zu realisieren. In einer liberalen Gesellschaft herrscht eine Pluralität solcher Gemeinschaften, so dass kulturell divergierende Lebenspläne auf Wertschätzung und Anerkennung stoßen. Rawls baut in diesen Passagen ganz gezielt die Interdependenz von öffentlicher Anerkennung und rationaler Selbstachtung auf, die in seinen anschließenden Ausführungen zum Schamgefühl noch klarer hervortritt. Wir können moralische Scham als den klassischen Komplementärbegriff zur moralischen Selbstachtung verstehen; sich für eine Handlung moralisch zu schämen, heißt demnach genauso viel, wie sich selbst für seine unmoralischen Motive zu verachten. Rawls’ greift diesen Begriffsgebrauch auf, unterscheidet aber noch genauer zwischen einer natürlichen und einer moralischen Scham. Demnach empfinden wir eine natürliche Scham (natural shame), wenn wir unsere Person in den Augen derer, von deren Wertschätzung unser Selbstwertgefühl abhängt, herabgewürdigt sehen. Rawls betont diesbezüglich, dass sich die Wertschätzung auf unsere Vorzüge (excellences) bezieht, die uns befähigen, bestimmte soziale Praktiken erfolgreich zu bewältigen. Es ist klarerweise rational, einen Lebensplan zu wählen, der den eigenen Vorzügen entspricht und in dem man diese Vorzüge immer weiter entwickeln kann. Wenn aber das Talent einer Person für eine bestimmte Karriere nicht ausreicht, wird sie öffentlich für ihre falsch getroffene Berufswahl bloßgestellt und schämt sich dafür. Aber diese natürliche Scham zerstört weder ihr Selbstbewusstsein noch ihre Identität als eine Person, sondern hat lediglich eine regulative Funktion, indem sie einer Person anzeigt, dass sie ihren Lebensplan korrigieren sollte.15 Während die natürliche Scham darauf zurückzuführen ist, dass sich eine Person mit einem für ihre Persönlichkeitsstruktur unangemessenen Lebensplan identifiziert und sie dafür abschätzig bewertet wird, ist ihre moralische Scham einzig und allein von ihren moralischen Tugenden abhängig. Die moralischen Tugenden
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bestehen Rawls zufolge in einer festen Charakterdisposition, den eigenen Lebensplan auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze abzustimmen.16 Diese Tugenden sind Vorzüge, die nicht von kontingenten Begabungen abhängen, sondern die sich jede rationale Person zu Eigen machen sollte. Ein rationaler Lebensplan exemplifiziert ein in diesem Sinne moralisches Leben. Er richtet sich nach Normen, die jeder von jedem zu erfüllen verlangt, und kann daher beanspruchen, dass er von jedem, also nicht nur von einer spezifischen Wertegemeinschaft, geachtet wird. Nach Rawls bedeutet die moralische Scham eine Erniedrigung des ganzen Selbst (TJ, S. 390). In dieser ausdrücklich als Kantinterpretation ausgewiesenen Begriffsetzung schämt sich eine Person dafür, dass sie nicht gemäß ihrer moralischen Verfassung gehandelt und dass sie dadurch die Grundlage ihrer ganzen Achtung vor sich selbst als einer rationalen, freien und gleichen Person korrumpiert hat – denn, so Rawls, „the desire to do what is right and just is the main way for persons to express their nature as free and equal rational beings“ (TJ, S. 390). Solch ein nach den Gerechtigkeitsgrundsätzen eingerichteter Lebensplan drückt denselben Gedanken aus, den wir von Anfang an als die moralische Selbstkonstitution einer Person bezeichnet haben. Rawls’ Ausführungen fügen sich passgenau in unsere Grundthese ein, dass es im fundamentalen Interesse einer rationalen Person ist, sich ihre Selbstachtung in einer moralischen Verfassung zu erhalten und diese über das Recht auf alle normativen Kontexte zu übertragen. Die spezifisch moralischen Gefühle, die eine Person zu dieser Selbstverpflichtung motivieren, sind genau zwei, nämlich ihre moralische Selbstachtung und ihre moralische Scham.17 Die moralische Scham sanktioniert moralische Verfehlungen und die Selbstachtung stimuliert eine Person dazu, die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze zu moralischen Tugenden auszubilden, die ihrem moralischen Charakter Stabilität verleihen. Diese moralischen Tugenden sind, so Rawls, sowohl für uns selbst, als auch für andere wertvoll – aber: „The lack of them will tend to undermine both our self-esteem and the esteem that our associates have for us. Therefore indications of these faults will wound one’s self-respect with accompanying feelings of shame.“ (TJ, S. 391)18
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Um die Bedeutung der moralischen Scham besser verständlich zu machen, ist es hilfreich sich zu vergegenwärtigen, welche Beispiele Rawls dabei vor Augen hat. Die natürliche Scham war auf Fälle bezogen, in denen sich eine Person dafür schämt, dass sie ihrem eigenen Anspruch an sich selbst nicht gerecht wird, weil sie beispielsweise ihre Begabung überschätzt und ihr diese Fehleinschätzung in einer öffentlichen Geringschätzung entgegentritt. Moralische Scham unterscheidet sich davon lediglich darin, dass ihr keine Fehleinschätzung des eigenen Vermögens, sondern ein Verstoß gegen die eigene moralische Verfassung zugrunde liegt. Eine Person, die unmoralisch handelt, schämt sich vor allem dafür, dass es ihr nicht gelungen ist, sich selbst zu beherrschen und sich auch nach außen als eine autonome Person zu repräsentieren.19 Auch in Rawls’ Theorie beruht Selbstachtung letztlich auf der aktualisierten Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf der Basis moralischer Grundrechte. Wenn wir darin scheitern, uns selbst zu verfassen und ein anständiges Leben zu führen, tritt uns diese Unfähigkeit in unserem eigenen wie im öffentlichen Bewusstsein entgegen. Weil es für gründebedürftige Wesen aber rational ist, sich moralisch zu konstituieren, ist es ihr auch wichtig, als solche angesehen zu werden. Wenn allerdings vor ihr selbst und vor anderen sichtbar wird, dass sie sich – sei es aus Unachtsamkeit oder aus Neigung – nicht selbst unter Kontrolle hat, schämt sie sich für ihre moralische Entblößung. An dieser Konstellation lässt sich das dialektische Verhältnis zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung besser nachvollziehen.20 Die Grundidee lautet, dass das Selbstverständnis, eine selbstbestimmte Person zu sein, auf der einen Seite vom moralischen Gefühl der Selbstachtung motiviert und begleitet wird, dass dieses Selbstverständnis aber auf der anderen Seite auch den dazugehörigen Wunsch erzeugt, für eben diese Fähigkeit geschätzt zu werden.21 Im Gegensatz zu Kant sind diese beiden Aspekte für Rawls nicht voneinander zu trennen. Die soziale Wertschätzung ist nichts, was zur Selbstachtung hinzutritt, etwa, um eine Person in ihren Überzeugungen zu stabilisieren, sondern sie ist für das Selbstwertgefühl einer im Leben mit anderen stehenden Person von Anfang an unersetzlich.22 Andererseits lässt sich ihr Selbstwertgefühl aber auch nicht allein auf die Internalisierung
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sozialer Wertschätzung zurückführen. Vielmehr wird das Wechselverhältnis zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung dadurch in Gang gesetzt, dass eine sich selbst achtende Person Anspruch auf eine bestimmte Weise der Wertschätzung erhebt, die dann wiederum für die Aufrechterhaltung ihrer Selbstschätzung in interpersonalen Kontexten bestimmend wird.23 Wenn in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie das Bedürfnis nach moralischer Selbstvergewisserung fundamentaler angesetzt wird als das Bedürfnis nach sozialpsychologischer Anerkennung, dann deshalb, weil es keinen Sinn macht, in die privaten Wertschätzungsverhältnisse hineinregulieren und die damit korrespondierenden Statusunterschiede beseitigen zu wollen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene – und in dieser integrativen Perspektive grenzt sich der Liberalismus deutlich vom Libertarismus ab – sind Statusunterschiede nichtsdestotrotz ungerecht und wären in Rawls’ kontraktualistischer Prozedur nicht zu legitimieren.24 Keine Person würde in Gerechtigkeitsgrundsätze einwilligen, die ihr einen inferioren Status zuweisen bzw. ihre soziale Gleichheit in Frage stellen würden. Das liegt Rawls zufolge daran, dass jede Person einen „need for status“ hat (TJ, S. 477), ein Bedürfnis, dass sie öffentlich als eine gleichwertige Person angesehen wird. Dieses Bedürfnis wird in der öffentlichen Anerkennung gestillt, die ihr von gerechten Institutionen entgegengebracht wird (TJ, S. 477). Gerechte Institutionen sind gegenüber dem Status einer Person blind und behandeln sie als einen gleichberechtigten Bürger. Ihre Gleichheit ist in einer juridischen Verfassung zugesichert, vor der jede Person als eine gleichrangige Rechtsperson zählt. So verfügt jede Person vor den die Grund- und Freiheitsrechte repräsentierenden Institutionen über einen „similar and secure status“ (TJ, S. 477). In einer gerechten bzw. wohlgeordneten Gesellschaft stabilisiert die rechtliche Anerkennung daher nicht nur die juridische Selbstschätzung einer Person, sondern sie ist ein unmittelbarer Ausdruck ihrer moralischen Selbstachtung, die wir deshalb von Anfang an auch als rechtsgebundene Selbstachtung bezeichnet haben. Eine Person hat einen Grund in sich selbst, den ihrer rechtlichen Gleichstellung zugrundeliegenden Gerechtigkeitsgrundsätzen beizupflichten. Diese Grundsätze sind der objektive Aus-
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druck ihrer eigenen moralischen Verfassung. In der spezifisch juridischen Wertschätzung aller Personen als gleichwertige Rechtspersonen fühlt sich die moralische Person anerkannt, weil es sich um die Übertragung ihrer eigenen moralischen Verfassung auf den juridischen Kontext handelt. Und nur weil diese Anerkennung aus der unabhängigen Sicht der moralischen Person zu Recht besteht, ist sie zugleich Ausdruck und Grundlage ihrer Selbstachtung.25 Entsprechend konstatiert Rawls: „In a well ordered society then self-respect is secured by the public affirmation of the status of equal citizenship for all.“ (TJ, S. 478)26 Rawls’ dialektische und beinahe Hegelianisch anmutende Gedankenfigur besagt, dass der Rechtsstaat oder genauer der freiheitlich und pluralistisch verfasste Rechtsstaat die gesellschaftliche Wirklichkeit der moralischen Person ist. Im gerecht verfassten Rechtsstaat ist der juridische Kontext weitgehend durch den moralischen Kontext überformt. Während die Verhaltensregulierung in weiten Teilen der Selbstorganisation subkultureller Schamgesellschaften überlassen bleibt, ziehen die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze eine moralische Grenze, die in alle normativen Kontexte hineinwirkt. Die erste und wichtigste soziale Voraussetzung der Selbstachtung besteht dabei in der grundrechtlichen Verankerung negativer Freiheitsrechte sowie in der juridischen Anerkennung der Gleichberechtigung aller Personen. Als zweite, auf den kulturellen Kontext übergreifende Bedingung der Selbstachtung nennt Rawls die Aufrechterhaltung einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur, die er als „social union of social unions“ bezeichnet (TJ, S. 462 f.). Darin ist sichergestellt, dass jede Person ihren Lebensplan in Bezug auf eine engere Wertegemeinschaft als schätzenswert erfährt, während ihr der Wechsel in eine andere Wertegemeinschaft jederzeit offen steht. Eine dritte, auf den ökonomischen Kontext bezogene Bedingung ist im Differenzprinzip angelegt, wonach jede Person über ein basales Einkommen und Vermögen, sowie über gleiche Chancen verfügen muss. Und weil es, wie wir Rawls ergänzen können, in erster Linie eine Sache der politischen Deliberation ist festzulegen, welche sozialen Voraussetzungen in welchem Maße für die Ausbildung und Aufrechterhaltung der Selbstachtung erforderlich sind, und auch, wie die Grenze zwischen einem befähigenden Sozialstaat
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und einem entmündigenden Paternalismus genau zu justieren ist, bildet die politische Partizipation eine weitere Voraussetzung, so dass wir nun insgesamt über einen sehr anschlussfähigen Theorierahmen verfügen, um rechtliche, politische, kulturelle und ökonomische Grundrechte selbstachtungsfunktional begründen zu können.
5.4. Gerechtigkeit und Anstand: Avishai Margalit An einigen Gelenkstellen der Argumentation haben wir bereits auf Avishai Margalits Beitrag zu einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie Bezug genommen. In The Decent Society (1996) nimmt er einige entscheidende Korrekturen und Schärfungen an Rawls’ Theorie vor, die vor allem damit zu tun haben, dass er den moralphilosophischen Begründungsstrang noch deutlicher in das Begründungszentrum seiner Theorie hineinnimmt und dabei den Aspekt der Rechtsgebundenheit moralischer Selbstachtung noch deutlicher herausstellt.1 Mit Blick auf die Übertragung des Selbstachtungskonzepts auf die Gerechtigkeitstheorie lohnt es sich, wenn wir uns Margalits oben ausgeführte Erörterungen noch einmal vergegenwärtigen. Entscheidend ist, dass auch Margalit unter Selbstachtung kein bloß sozialpsychologisches Phänomen, sondern explizit ein rationales Selbstverhältnis versteht. Moralische Gefühle wie Demütigung und Selbstachtung haben, so Margalit, „nicht nur Anlässe, sondern auch Gründe“ (PW, S. 23). Nur wer Grund hat, bestimmte Handlungen oder Zustände als unanständig zu beurteilen, hat auch einen Grund, sich durch sie gedemütigt bzw. sich in seiner Selbstachtung verletzt zu fühlen. Daher ist es nur dann sinnvoll, von einer Demütigung zu sprechen, wenn es sich um eine ungerechte Behandlung durch eine andere Person oder eine den Willen anderer Personen repräsentierenden Institution handelt. Auf die politische Ebene übertragen definiert Margalit eine Gesellschaft folgerichtig als anständig, „wenn ihre Institutionen den
5.4. Gerechtigkeit und Anstand: Avishai Margalit
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Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten“ (PW, S. 25).2 Es ist zunächst naheliegend, eine anständige Gesellschaft mit einer gerechten Gesellschaft gleichzusetzen und zu sagen, dass eine Gesellschaft genau dann anständig ist, wenn und nur wenn sie rechtlich so verfasst ist, dass keine Person durch politische Institutionen gedemütigt wird. Für Margalit, der sich darum zunächst an Rawls anschließt, steht es fest, „dass eine gerechte Gesellschaft ihrem Geist nach keine systematisch demütigenden Institutionen tolerieren kann. Dies ist doppelt wahr, wenn es sich bei dem Gut, das es zu verteilen gilt, um das wichtigste gesellschaftliche Grundgut handelt, nämlich um die sozialen Grundlagen der Selbstachtung.“ (PW, S. 312) Im Ganzen bildet eine gerechte juridische Verfassung die wichtigste soziale Grundlage der Selbstachtung, und zwar nicht nur negativ, weil sie Personen vor Demütigungen schützt, sondern auch positiv, weil sie die auf den juridischen Kontext übertragene moralische Verfassung einer Person repräsentiert. Die Gewährleistung gleicher Grundrechte ist ein öffentlicher Ausdruck für die wechselseitige Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht jeder einzelnen Person, weswegen jede sich selbst achtende Person ein Bewusstsein dafür hat, diese Rechte auch zu Recht zu genießen. Der enge Zusammenhang zwischen der Selbstachtung einer Person und ihrem Rechtsstatus wird besonders anschaulich, wenn wir uns vor Augen führen, warum eine Person aufgrund einer Rechtsverletzung, viel tiefgreifender aber noch durch ihre systematische Entrechtung gedemütigt wird. Im Fall der Rechtsverletzung werden bestimmte Rechte einer Person missachtet, was ihr Vertrauen in sich selbst und die sie schützenden Institutionen zutiefst erschüttert. Trotzdem ist es möglich, dass ihre Selbstachtung intakt bleibt; sie kann die entsprechende Rechtsverletzung als ein Unrecht formulieren und ihre Ansprüche öffentlich zur Geltung bringen.3 Eine sehr viel ernstere Form der Demütigung liegt dann vor, wenn eine Person systematisch von der Gemeinschaft aller Rechtspersonen ausgeschlossen wird, sei es aufgrund einer rassistischen Diskriminierung wie im Nationalsozialismus, sei es durch irgendeine Praxis der Versachlichung wie im Fall einer Sklavenhaltergesellschaft. In solchen Fällen der Entrechtung wird das Selbst-
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verständnis, eine Rechtsperson zu sein, systematisch zerstört. Für einen Sklaven, dem die Erfahrung eines Rechtsschutzes seiner Person fehlt, macht es daher wenig Sinn, seine Selbstachtung an einem Verständnis moralischer Grundrechte zu verankern. Wir können in diesem Zusammenhang zu einer der Ausgangsfragen unserer Argumentation zurückkommen und beantworten, was ‚ein Onkel Tomȧ falsch macht, wenn er größte Ungerechtigkeiten hinzunehmen bereits ist. Zunächst einmal ist Onkel Tom ein Beispiel für eine entrechtete Person, für die ein moralischer Appell an die Idee gleicher Grundrechte sinnlos erscheint, da er ohne eine rechtskräftige Resonanz verhallen würde. Trotzdem lautet der in der Bürgerrechtsbewegung erhobene Vorwurf gegen ihn, dass er, wenn er es nicht als seine moralische Pflicht anerkennt, sich für die Anerkennung seiner Grund- und Freiheitsrechte einzusetzen, keine Selbstachtung hat. Ob diese Kritik berechtigt ist, hängt wiederum von der Frage ab, ob eine moralische Selbstachtung unabhängig von einer gerecht eingerichteten Gesellschaft entwickelt werden kann. Für Axel Honneth ist es diesbezüglich eindeutig, dass eine rechtsgebundene Selbstachtung die Erfahrung rechtlicher Anerkennung bereits voraussetzt.4 Honneth bezieht sich dabei auf ein Gedankenexperiment Joel Feinbergs, worin Feinberg eine Gesellschaft (‚Nowheresvilleȧ) entwirft, in der es keine individuellen Grundrechte gibt.5 Zweck dieses Gedankenexperiments ist es zu zeigen, dass die Bewohner von Nowheresville gar nicht erst dazu in der Lage wären, ein Bewusstsein für sich selbst als gleichberechtigte Träger von Rechten zu entwickeln und ihre Selbstachtung auf diesem Bewusstsein zu gründen. Wenn wir die moralische Selbstachtung so eng an die konkrete Erfahrung binden, Rechte zu haben, ist es nachvollziehbar, dass Onkel Tom eine andere Strategie wählt, um sein Selbstwertgefühl zu verteidigen. Vor Gott und in Hinsicht auf ein gerechtes Himmelreich fühlt sich Onkel Tom bedingungslos respektiert und zieht aus dieser Gewissheit die Kraft, seine zutiefst demütigende Entrechtung zu ertragen. Diese Beschreibung ist zunächst sehr attraktiv, weil eine systematisch entrechtete Person in der Tat keinen Anlass zu haben scheint, ihr Selbstwertgefühl an eine rechtsgebundene Moral zu
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binden. Wenn trotzdem etwas an der stoisch-christlichen Abkopplung von Recht und Selbstachtung nicht stimmt, dann, weil wir berechtigte Zweifel daran haben, dass es einer Person vollständig gelingt, ihr Selbstbild von allen faktischen normativen Kontexten soweit unabhängig zu machen, dass sie sich selbst nur noch mit ihrem, wie wir es genannt haben, eschatologischem Selbstverständnis identifiziert. Ein eschatologisches Selbstverständnis besteht darin, dass eine Person ihr ‚eigentlichesȧ Selbst mit einer jenseitigen Welt identifiziert. Dazu müsste sie in der Lage sein, ihr Selbstverständnis vollständig von ihrer ‚irdischen Existenzȧ, also von ihrem sozialen Status und ihren körperlichen Empfindungen zu trennen. Zweifelsohne gibt es Fälle, in denen eine solche eschatologische Selbstinterpretation dazu beiträgt, dass eine Person eine gewisse Distanz zu den menschenverachtenden Umständen ihrer Existenz gewinnt und sich darin ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit bewahrt.6 Dennoch scheint es zu weit zu gehen, einer Person die geradezu übermenschliche Selbstinterpretationsleistung zuzumuten, weder ihr Sklavendasein als erniedrigend zu betrachten noch ihren brutal zugerichteten Körper als einen Teil ihres Selbst zu achten. Fraglich bleibt auch, welchen Sinn es macht, hier überhaupt noch von Selbstachtung zu sprechen, da es sich im Fall eines eschatologischen Selbstverständnisses eher um eine Form der Selbstrelativierung handelt. Aus der Sicht des Bürgerrechtlers steht ‚ein Onkel Tom’ daher eher für ein religiös motiviertes Loslassen vom eigenen Selbst und für eine Person, die den Kampf um ihre Selbstachtung und Selbstbestimmung verloren gibt.7 Aber auch wenn wir voraussetzen, dass es einer Person gelingt, ihre praktische Identität ganz auf ihr eschatologisches Selbstverständnis hin zu interpretieren, gibt es einen objektiven Grund, diese Person für ihre ‚falsche’ Selbstachtung zu kritisieren. Dieser Grund besteht darin, dass wir von jeder Person nicht nur erwarten können, sondern als Mitglieder derselben Gesellschaft auch von ihr fordern müssen, ihr Leben ernst zu nehmen und sich für ihre moralischen Grundrechte, die nämlich zugleich auch unsere Grundrechte sind, einzusetzen. Diese Kritik ist lediglich von zwei Voraussetzungen abhängig. Erstens muss es der kritisierten Person prinzipiell möglich sein,
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sich selbst als ein Träger von bestimmten Grund- und Freiheitsrechten zu interpretieren, und zweitens muss sich die diese Kritik äußernde Person selbst mit diesen Grundrechten identifizieren. Die erste Bedingung ist erfüllt, seitdem die Idee der Gleichberechtigung und die Idee Allgemeiner Menschenrechte ‚in der Welt istȧ; dass heißt, seitdem es einer Person prinzipiell möglich ist, ihre Selbstachtung an eine rechtsgebundene Moral zu binden. So räumt Margalit selbst ein, dass auch Onkel Tom nicht in Nowheresville lebt, sondern dass er sich „durchaus bewusst ist, dass seine Grundrechte verletzt werden“ (PW, S. 54). Trotz dieses Bewusstseins ist er nicht über seine ungerechte Behandlung entrüstet und nimmt sie schicksalsergeben hin. Aus der Sicht einer Person, die ihre moralische Verfassung an allgemeine Rechte gebunden hat, zeugt Onkel Toms Verhalten daher von einem eklatanten Mangel an Selbstachtung. Jede in diesem Sinne moralisch verfasste Person hat Gründe, Onkel Tom eine falsche Selbstachtung vorzuwerfen, und zwar nicht nur, weil sie einfach aus der Perspektive einer anderen Selbstinterpretation urteilt und diese Selbstinterpretation als angemessener, umfassender und praktikabler ansieht, sondern weil eine Person, die sich selbst als Träger bestimmter Grundrechte versteht, ihren Rechtsanspruch notwendig auf alle anderen Rechtssubjekte überträgt. Während die Garantie bestimmter Grund- und Freiheitsrechte ein Instrument ist, um die Selbstachtung jeder Person sicherzustellen, kann Onkel Toms Hinwendung zu einem gerechten Himmelreich nur seine eigene Würde sichern. Auch wenn es überzogen wäre, von jeder entrechteten Person einen aufopferungsvollen Widerstandskampf zu verlangen, ist die Kritik der Bürgerrechtsbewegung an Onkel Tom insofern objektiv berechtigt, als dieser nicht einmal seine moralische Pflicht erkennt, sich für eine gerechte Verfassung aller normativen Kontexte einzusetzen. Für eine Person, die selbst als ein Mitglied der moralischen Gemeinschaft geachtet werden will, besteht diese Pflicht gegen sich selbst unter allen Bedingungen fort, auch wenn es nur wenigen Menschen gelingt, ihr im Zustand ihrer eigenen Entrechtung zu genügen. Dass diese Pflicht schwer zu erfüllen ist, spricht aber nicht gegen sie, sondern sagt viel über die Schwere des Unrechts einer Sklavenhaltergesellschaft aus. Denn gerade weil un-
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gerecht verfasste Gesellschaften effektiv dazu in der Lage sind, die Selbstachtung ihrer Bürger zu korrumpieren, haben wir ja einen Grund, sie moralisch zu verurteilen. Zusammenfassend können wir sagen, dass sich in unserer Auseinandersetzung mit Rawls und Margalit einige weitreichende Aussagen zum Zusammenhang zwischen Selbstachtung und Rechten ergeben haben. Unsere moralische Selbstachtung ist daran gebunden, dass wir uns selbst als Träger gleicher Rechte verstehen, durch die wir unsere moralische Verfassung auf die unterschiedlichsten normativen Kontexte übertragen. Diesbezüglich kommt dem juridischen Kontext eine überragende Bedeutung zu, weil er auf alle anderen Kontexte regulierend einwirkt. Mit Margalit bleibt allerdings zu überprüfen, ob „Rechte eine hinreichende Bedingung für Selbstachtung – die wir auch Würde nennen – sein“ können, „und wenn ja, welche Rechte“ (PW, S. 58). Ein offensichtlicher Kandidat für Rechte, die mit der moralischen Selbstachtung korrespondieren, sind moralische Grund- und Menschenrechte, die den Gegenstand des abschließenden Kapitels bilden.8 Bevor wir aber eine Erörterung dieser Grundrechte beginnen, müssen wir uns noch dem zweiten Teilaspekt in Margalits Frage zuwenden, nämlich, ob die Geltung allgemeiner Rechte eine hinreichende Bedingung für eine anständige Gesellschaft ist. Diese Formulierung impliziert die Frage, ob eine gerecht verfasste Gesellschaft notwendig auch eine anständige Gesellschaft ist, oder ob eine Gesellschaft, deren Verfassungsgrundsätze und Verteilungsverfahren gerecht und effizient sind, nichtsdestotrotz für bestimmte Bevölkerungsteile demütigend sein kann. Wie Angelika Krebs gezeigt hat, ist in Margalits Ideal einer gerechten Gesellschaft immer schon vorausgesetzt, dass ihre Mitglieder weder gedemütigt noch gekränkt werden, so dass er bereits per definitionem auszuschließen scheint, dass eine gerechte Gesellschaft die Selbstachtung ihrer Mitglieder unterminiert.9 Mit Blick auf die Rawls’sche Gerechtigkeitstheorie stellt Margalit diese Definition aber in Frage und weist auf Defizite in Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption hin. Die Phänomene, die Margalit dabei im Auge hat, sind Diskriminierungen, die nicht durch allgemeine Grundrechte erfasst werden oder die mit der Art zu tun haben, wie diese Grundrechte umgesetzt werden.10 Die bislang behandelten For-
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men der Rechtsverletzung und Entrechtung wären demnach nur eine Gestalt, wie eine Person in ihrer Selbstachtung verletzt werden könnte. Daneben gibt es subtilere Formen der Demütigung, die die Selbstachtung einer Person beschädigen, ohne dass zugleich ihr Selbstverständnis beeinträchtigt wird, gleiche Rechte beanspruchen zu können. Die Empfänglichkeit des Selbstwertgefühls einer Person für subtile Demütigungen steht außer Frage und es ist nicht auszuschließen, dass die Selbstachtung einer Person durch derartige Vorurteile indirekt ebenso affiziert wird, wie durch die Verletzung einzelner Rechte. Margalits Begriff der Anständigkeit ist auch aus der Einsicht heraus gewählt, dass das Recht de facto nicht so weit verfeinert und in Geltung gebracht werden kann, dass es alle Formen der Demütigung einfängt. Der Begriff der Anständigkeit erlaubt es ihm, Gesellschaften zu kritisieren, die Bürgerrechte ungerecht umsetzen oder in denen sich eine chauvinistische, rassistische, xenophobe oder bürokratische Mentalität trotz intakter Bürgerrechte und gerecht verfasster Institutionen erhalten konnte. Für Margalit sind es solche im toten Winkel rechtlicher Normen verübten Demütigungen, die darüber entscheiden, ob eine Gesellschaft anständig oder unanständig ist. Denn ohne eine Alltagskultur des wechselseitigen Respekts schützt auch die weitgehende Umsetzung moralischer Grundrechte nicht vor der Erfahrung der Demütigung und Diskriminierung. Aber auch wenn Margalit darin zuzustimmen ist, dass moralische Grundrechte durch eine sittliche Alltagskultur flankiert werden müssen, werden wir uns im Folgenden auf eine selbstachtungsfunktionale Begründung dieser Grundrechte beschränken. Immerhin ist das Recht zumindest dazu in der Lage, die stärksten Formen der Demütigung und Entwürdigung einzudämmen. Häufig ist außerdem schon die juridische Selbstschätzung, eine gleichrangige Rechtsperson zu sein, für das Bewusstsein ausreichend, alltägliche Demütigungen nicht als Missachtung zu empfinden, sondern als ein äußeres Unrecht abzuqualifizieren. Und schließlich trägt eine gerechte Verfassung, in der moralische Grundrechte Gesetzeskraft erhalten, selbst zur Kultur der Anständigkeit bei, weil sie die Perspektive der wechselseitigen Achtung in alle Berei-
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che zwischenmenschlicher Beziehungen und bis in die Gewissensbildung der Person hineinträgt.
6. Moralische Grundrechte 6.1. Positive Handlungsfreiheit Im abschließenden Kapitel werden wir uns den wichtigsten moralischen Grundrechten zuwenden, die im Zuge der postrawls’schen Selbstachtungstheorie diskutiert worden sind.1 In Hinführung auf diesen letzten Schritt ist es hilfreich, wenn wir kurz die Erträge der beiden vorhergehenden Kapitel zusammentragen. Aus Kants Moralphilosophie konnten wir eine richtungsweisende Antwort auf die Frage herauslösen, warum Personen ein fundamentales Bedürfnis haben, sich selbst zu achten, und inwiefern dieses Bedürfnis sie dazu verpflichtet, sich selbst eine moralische Verfassung zu geben. Wie wir gesehen haben, gibt sich eine Person eine moralische Verfassung, weil sie sich überhaupt als eine eigenständige und freie Person ansehen können will. Und Rawls geht noch einen Schritt weiter, indem er deutlich macht, dass die Selbstachtung einer Person der fundamentalste Beweggrund dafür ist, sich selbst in einem eigenständigen und freien Lebensplan realisieren zu wollen und in die Gerechtigkeitsgrundsätze des sozialliberalen Rechtsstaates einzuwilligen. In seiner Kantischen Interpretation des Urzustands deutet Rawls seine Gerechtigkeitstheorie folgerichtig selbst als eine Repolitisierung der Kantischen Moralphilosophie, die sich allerdings in zwei Punkten von Kant unterscheidet.2 Auf den ersten Unterschied sind wir bereits oben eingegangen. Er besteht darin, dass der politische Freiheitsbegriff eine umfassendere Struktur aufweist, als der Kantische Begriff der Willensfreiheit. Kants moralischer Kompatibilismus, nach dem sich eine Person als frei verstehen kann, ohne dabei in einen Widerspruch zu ihrer sozialen und physikalischen Determiniertheit zu geraten, lässt sich insge-
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samt aber nur durchhalten, wenn der Mensch in eine intelligible und eine phänomenale Person aufgetrennt wird. Diese Auftrennung wird bei Rawls gewissermaßen zurückgenommen, wenn er betont, dass eine Person darauf angewiesen ist, sich in einem politischen Kontext zu verwirklichen. Für Kant bleibt die moralische Selbstkonstitution daher immer eine persönliche Angelegenheit, während sie für Rawls notwendig zu einer politischen Aufgabe wird. Die zweite und damit zusammenhängende Differenz lässt sich als Unterschied der Zeitkonzeptionen verdeutlichen. Während Kants Moralphilosophie am eschatologischen Postulat eines ewigen Lebens orientiert bleibt, erscheint die Hoffnung auf Gerechtigkeit bei Rawls auf die Lebenszeit verknappt. In dieser engen Zeitspanne hängt die Selbstachtung einer Person nicht an ihrer moralischen Glückswürdigkeit, sondern daran, dass es ihr tatsächlich gelingt, einen eigenständigen und sinnvollen Lebensplan zu verwirklichen. Trotz dieser Unterschiede stimmt Rawls in der Grundidee mit Kant überein, dass der Wunsch, sich selbst moralisch zu konstituieren, auf ein tiefer liegendes Verlangen zurückzuführen ist, seine freie und rationale Persönlichkeit auszudrücken. Wie wir gesehen haben, lag in diesem Gedanken aber nicht nur eine der Leistungen der Kantischen Moralphilosophie, sondern auch eines ihrer Probleme, insofern er nicht restlos überzeugend klar machen kann, warum sich eine Person mit einer moralischen Verfassung besser identifizieren kann als beispielsweise mit einer auf hedonistischen oder utilitaristischen Prinzipien basierenden Gesetzgebung.3 Es blieb insbesondere zweifelhaft, ob es überhaupt zu Widersprüchen führt, wenn eine Person nach dem Prinzip eigener Nutzenmaximierung handelt. Das Reich der Zwecke wäre dann eben keine Republik, sondern eine Tyrannis, in der man sich selbst als Alleinherrscher einsetzen würde. Um eudämonistische, hedonistische oder konsequentialistische Grundsätze als irrational auszuweisen, haben Korsgaard und vor allem Rawls versucht, das moralische Gesetz von Anfang an auf die Verfassung einer freiheitlichen Republik zu beziehen.4 Zwar gleicht die Perspektive im Urzustand, wie Rawls selbst einräumt, in wichtiger Hinsicht dem Standpunkt, von dem aus Kants noumenales Selbst die Welt betrachtet (vgl. TJ, S. 225), der entscheidende Perspekti-
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6. Moralische Grundrechte
venwechsel vom moralischen zum politisch-juridischen Gesetzgeber vollzieht sich aber darin, dass dieser nun vor der viel konkreteren Frage steht, wie er sein Freiheitsbedürfnis unter den jeweiligen Restriktionen politischer, kultureller und ökonomischer Kontexte realisieren kann.5 Rawls’ Akzentverschiebung gegenüber Kant besteht zusammengefasst darin, dass Personen nicht nur Grund haben, sich selbst moralisch zu konstituieren, sondern dass sie auch die politische Inkraftsetzung dieser Konstitution in einer juridischen Verfassung anstreben. Das fundamentale Interesse einer Person, ihre moralische Identität in einem freiheitlich verfassten Reich der Zwecke zu schützen, erscheint in der Perspektive der politischen Philosophie als ein Interesse, diese Freiheit in einer liberalen politischen Vereinigung abzusichern.6 Im Hinblick auf eine politische Gerechtigkeitstheorie gilt es nun, die moralische Verfassung auf konkretere moralische Grundrechte zu übertragen. Es wäre allerdings etwas voreilig, wenn wir dazu die Unterscheidung zwischen Moral und politischer Gerechtigkeit einkassierten. Wogegen sich unsere Argumentation allerdings richtet, ist eine bestimmte Begründung der Unterscheidung zwischen Moral und Gerechtigkeit, der zufolge es in der Moral um die Aufrechterhaltung der Gewissensfreiheit geht, während es die politische Gerechtigkeit mit der Gewährleistung der Handlungsfreiheit zu tun hat. Diese Kritik richtet sich auch gegen Kant, zumindest gegen eine bestimmte Kantinterpretation, in der die moralische Freiheit als bloße Gewissensfreiheit bestimmt wird, während sich seine Rechtsphilosophie ganz auf die Sicherung der äußeren Handlungsfreiheit konzentriert. Meine Kritik an dieser Unterteilung setzt daran an, dass es viel überzeugender ist, wenn wir die Willens- und Handlungsfreiheit als ineinander verbundene Aspekte der Freiheit einer ganzen Person betrachten. Denn da wir erst in der juridischen Kodifizierung des moralischen Grundgesetzes auch über den äußeren Sicherungsgrund verfügen, unserem Willen entsprechend zu handeln, bietet es sich an, den eigenen Willen von vornherein im Hinblick auf eine Gesetzgebung zu bestimmen, die wir zugleich als Grundgesetz einer gerechten politischen Ordnung befürworten können. Unter der Voraussetzung, dass die rechtliche Verfassung des öffentlichen Raums mit der moralischen Konstitution
6.1. Positive Handlungsfreiheit
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einer Person übereinstimmt, genießt eine Person die ganze Freiheit, ihren eigenen Willen auch verwirklichen zu können. Eine gerechte Verfassung hat daher genau zwei Aufgaben: den Schutz der Freiheit einer Person gegenüber ungerechtfertigtem Zwang und die Gewährleistung politischer, kultureller und ökonomischer Grundlagen ihrer Selbstverwirklichung. Wir können diesbezüglich auch von einer negativen und einer positiven Handlungsfreiheit sprechen. Die negative Handlungsfreiheit (freedom from constraint) einer Person wird in den klassischen liberalen Schutzrechten gesichert, während ihre positive Handlungsfreiheit (agency) auf der sehr viel anspruchsvolleren Forderung beruht, mit den sozialen Grundlagen ihrer Selbstachtung und den entsprechenden Leistungsrechten ausgestattet zu werden.7 Exemplarisch lässt sich dieser Zusammenhang aus einem sehr instruktiven Aufsatz Ernst Tugendhats rekonstruieren. In „Liberalism, Liberty and the Issue of Human Rights“ untergliedert Tugendhat unterschiedliche Strömungen in der zeitgenössischen politischen Philosophie anhand ihrer Freiheitsbegriffe.8 Der Libertarismus und der klassische Liberalismus halten demzufolge an einer Idee der negativen Handlungsfreiheit als Leitnorm fest, wohingegen Rawls’ sozialliberaler Theorie ein Begriff positiver Handlungsfreiheit zugrunde liegt. Weil nur dieser positive Freiheitsbegriff in ein Begründungsverhältnis mit sozialen und ökonomischen Grundrechten – den so genannten Menschenrechten der zweiten und dritten Generation – gebracht werden kann, will Tugendhat zeigen, dass politische Gerechtigkeit an einem Begriff positiver Handlungsfreiheit fundiert werden muss. Rechtsgeschichtlich, so Tugendhats Ausgangsanalyse, ist der Freiheitsbegriff eng mit einem bestimmten Status verbunden; frei zu sein, bedeutet ursprünglich, dass eine Person kein Sklave ist.9 Eine freie Person ist ihr eigener Herr und keine Person darf sie gegen ihren Willen zwingen. Es ist dieser interpersonelle Freiheitsbegriff, den der Libertarismus vertritt, wenn er die Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft betont. Solange es nur ihre negative Freiheit ist, die eine Person in einer Rechtsgemeinschaft sichern will, ist eine zentrale Umverteilung über die Besteuerung von Gütern nicht zu rechtfertigen – oder allenfalls dann, wenn sozialstaatliche Eingriffe notwendig erscheinen, um den sozialen
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6. Moralische Grundrechte
Frieden zu schützen.10 Eine direkte Verbindung zwischen dem Gut der Freiheit und dem Konzept der sozialen Gerechtigkeit gibt es hingegen nicht. Dass der Freiheitsbegriff in seiner libertären Konzeption unterbestimmt bleibt, illustriert Tugendhat am Beispiel des Bergsteigers, der in eine Gletscherspalte gestürzt ist. Der in dieser Lage zum Tode verurteilte Bergsteiger ist zwar nach dem negativen Verständnis frei, insoweit er keinem Zwang ausgesetzt ist, aber es wäre kontraintuitiv, ja widersinnig, ihn im vollen Sinne als frei zu bezeichnen. Denn der Freiheitsbegriff umfasst in einer weiteren Bedeutung auch immer die Freiheit, über die Mittel zu verfügen, um den eigenen Willen in entsprechenden Handlungen umzusetzen.11 Darum wird der negative Freiheitsbegriff des Libertarismus, der auf die Freiheit von Zwang beschränkt blieb, im sozialdemokratischen Liberalismus durch einen positiven Freiheitsbegriff ersetzt, der auch die Freiheit zu handeln umfasst. Dass unsere Gerechtigkeitstheorie einen derart umfassenden Begriff positiver Handlungsfreiheit voraussetzt, ist unter anderem auf die Verschiebung des Selbstachtungskonzepts von der Aufrechterhaltung der moralischen Identität bei Kant hin zur Realisierung der praktischen Identität in einem sinnvollen Lebensplan bei John Rawls zurückzuführen. Eine ihre ganze Identität achtende Person will alle normativen Kontexte nach der Maßgabe einrichten, dass ihre positive Handlungsfreiheit nur durch dieselbe Handlungsfreiheit einer anderen Person begrenzt wird. Darum lässt sich für jeden der genannten Kontexte zeigen, dass das fundamentale Bedürfnis von Personen, ein eigenes Leben zu leben, nicht auf den Wunsch reduziert werden kann, vor unberechtigten Übergriffen geschützt zu werden. Eine sich selbst achtende Person will sich vielmehr in jedem Kontext zwischen echten Alternativen entscheiden können, so dass sich das moralische Grundgesetz, die eigene Selbstachtung zu bewahren, in Hinsicht auf die einzelnen normativen Kontexte zu einer vielschichtigen Verfassung moralischer Grundrechte ausdifferenziert. Im politischen Kontext stellt sich das moralische Grundgesetz negativ als ein Anspruch auf den Schutz der eigenen Meinungsbildung dar, während es positiv gewendet in ein moralisches Anrecht auf die Befähigung zur gleichen Partizipation am öffentli-
6.2. Ökonomische Grundrechte
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chen Leben übersetzt werden kann. Auf den kulturellen Kontext angewendet stellt dieses Grundgesetz negativ die Mitgliedschaft in einer kulturellen Gemeinschaft unter Schutz und fordert positiv die Eröffnung einer echten Ausstiegsoption (exit option) aus dieser kulturellen Identität. Was drittens den ökonomischen Kontext betrifft, nimmt das moralische Verfassungsprinzip negativ die Form von Schutzrechten an, in denen beispielsweise das Recht auf Eigentum festgeschrieben wird, während es positiv einen minimalen Lebensstandard festsetzt und gleiche Ausbildungschancen garantiert. Und schließlich fordert jede moralisch konstituierte Person vom juridischen Kontext, dass ihre hier skizzierten moralischen Grundrechte in eine rechtskräftige Verfassung gegossen werden, vor der sie als gleichberechtigte Rechtsperson ihre Grundrechte einfordern kann. Im Folgenden werden wir diese kontextspezifischen Grundrechte weiter verteidigen und einige damit zusammenhängende Probleme diskutieren (6.2.-6.5.). Ausblickend münden diese Erörterungen dann in die politischmoralische Begründung eines subsidiären Kosmoplitismus (6.6.).
6.2. Ökonomische Grundrechte In seinem oben eingeführten Aufsatz „Liberalism, Liberty and the Issue of Human Rights“ macht Ernst Tugendhat mit Bezug auf den ökonomischen Kontext noch einmal exemplarisch deutlich, wie einerseits Selbstachtung und positive Handlungsfreiheit und andererseits Menschenrechte und Selbstachtung miteinander zusammenhängen.1 Zunächst baut Tugendhat sein Argument auf einer Kritik der libertären bzw. neoliberalen Gerechtigkeitstheorie auf, die in der Tradition Adam Smith’s annimmt, dass eine deregulierte Marktwirtschaft wie von selbst – eben mit unsichtbarer Hand – die Freiheitsspielräume aller Personen erweitert.2 Um dies zu zeigen, modelliert der Libertarismus die Marktwirtschaft als ein System freiwillig eingegangener Verträge, in denen der Arbeiter seine Arbeitskraft und der Kapitaleigner die Produktionsmittel anbietet. Auf dem Markt kommt es dann zu wechselseitigen Vereinbarungen, die man frei und „bilaterally voluntary“ eingeht.3 So
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6. Moralische Grundrechte
basieren letztlich alle faktischen Abhängigkeiten auf freien Entscheidungen. Die Freiheit des Lohnarbeiters besteht darin, dass er aus dem Arbeitsvertrag, der ihn vom Willen eines anderen abhängig macht, jederzeit heraustreten kann. In letzter Konsequenz, so betont Tugendhat, muss es dem Arbeitnehmer möglich bleiben, aus dem Marktsystem auszutreten und subsistent zu leben, denn nur wenn er über eine echte Alternative zur Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt verfügt, macht es überhaupt Sinn, von einer freiwilligen Entscheidung und von Wahlfreiheit (choice) zu sprechen.4 Aber genau eine solche Alternative, so moniert Tugendhat, existiert de facto nicht, und zwar schon deswegen nicht, weil der moderne Arbeitnehmer ohne Grundbesitz lebt, der es ihm ermöglichen könnte, seine Subsistenz aus eigener Kraft zu sichern und außerhalb des Marktes zu existieren. Ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse legen einer Person vielmehr besonders starke normative Bindungen auf, weil ihr kaum mehr als eine theoretische Alternative zur ökonomischen Kooperation offen steht und sie sich an ökonomische Normen aufgrund existentieller Bedürfnisse bindet, Bedürfnisse also, zu denen sie sich nicht – zumindest nicht ernsthaft – frei verhalten kann.5 Deswegen greift es zu kurz, generell zu behaupten, dass ein deregulierter Markt Freiheitsspielräume vergrößert. Im Gegenteil, dort, wo er asymmetrische Arbeitsverträge (asymetric contracts) und einseitige Abhängigkeiten (onesided dependencies) produziert, schränkt er die Freiheit von Personen in einem erheblichen Maße ein.6 Wir brauchen die Rechtfertigungsstrategie des Libertarismus und Tugendhats Kapitalismuskritik an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Das entscheidende Argument lautet, dass ökonomische Bedürfnisse existentieller und damit mehr oder weniger alternativloser Natur sind. Die Abwesenheit von Zwang, die in der libertären Rechtsphilosophie gesichert werden soll, kehrt deswegen in Form einseitiger Abhängigkeiten zurück. Freiheit qua Abwesenheit von Zwang herrscht erst, wenn eine Person echte Alternativen hat und ihre existentiell berechtigte Sorge um ihr Überleben in einem ökonomischen Rechtsanspruch abgesichert wird. In einem kontraktualistischen Begründungsszenario, wie es Rawls’ vertritt, ist deswegen nicht davon auszugehen, dass sich Personen mit den
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klassischen liberalen Schutzrechten zufrieden geben. Stattdessen wollen sie sich die faktischen Chancen (opportunities) und Fähigkeiten (capacities) sichern, die ihnen echte Alternativen schaffen und es ihnen ermöglichen, ihrem eigenen Willen gemäß zu handeln und ihr eigenes Leben zu leben.7 Kurz, eine um ihre Freiheit besorgte Person wird den ökonomischen Raum durch Gesetze regeln wollen, die ihr nicht nur eine Art Kündigungsrecht, sondern eine echte Alternative innerhalb des Marktes anbieten. Mit dem Begriff der positiven Handlungsfreiheit bzw. der echten Wahlfreiheit hat Tugendhat bereits den Weg für eine freiheits- und letztendlich selbstachtungsfunktionale Begründung sozialer und ökonomischer Grundrechte bereitet. In Anlehnung an die §§ 22-26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und an die U.N. Covenant on Economic, Social and Cultural Rights von 1966 zählt hierzu ein Recht auf Bildung, ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, ein Recht auf medizinische Versorgung und ein Recht auf eine Sozialversicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Arbeitsunfähigkeit.8 Einige dieser ökonomischen Rechte, wie das Recht auf Arbeit und (Aus-)Bildung, begründen zwar kein Anrecht auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, stellen aber sicher, dass die Chancengleichheit (opportunities) in diesen Bereichen gewahrt bleibt.9 Andere ökonomische Grundrechte wiederum, wie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard oder das Recht auf medizinische Grundversorgung, sind darüber gerechtfertigt, dass sie die grundsätzlichen Fähigkeiten (capacities) aufrechtzuerhalten helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ebenso lassen sich soziale Kompensations- und Hilfeleistungen im Fall von Behinderung, Krankheit oder unverschuldetem Unglück rechtfertigen. Während das eigene Bewusstsein, ‚selbstbestimmt zu lebenȧ, eine echte Wahlfreiheit voraussetzt, hängt die Selbstverwirklichung in einem selbstbestimmten Leben von der positiven Handlungsfreiheit und ihrem juridischen Schutz ab. Im spezifisch ökonomischen Kontext nimmt der Begriff der moralischen Selbstbestimmung die Bedeutung der Selbständigkeit an, die Tugendhat als spezifisch ökonomische Nicht-Abhängigkeit (nondependency) definiert.10 Freiheit meint in diesem Kontext, weder
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6. Moralische Grundrechte
von einer entwürdigenden Arbeit noch von wohlwollenden Almosen abhängig zu sein. Sie äußert sich darin, dass eine Person durch freiwillige Arbeit für sich selbst sorgen und ein selbständiges Leben führen kann. Wie wir gesehen haben, ist die Freiwilligkeit in diesem Kontext von spezifischen Ausstiegschancen abhängig, wozu unter anderem gleiche Ausbildungschancen, eine freie Berufswahl und eine soziale Grundsicherung beitragen. Wie Tugendhat schließlich explizit macht, wird das Menschenrecht auf ökonomische Selbständigkeit durch die Begründung getragen, dass die Selbstachtung einer Person im direkten Zusammenhang zu ihrer ökonomischen Autonomie steht: In all instances what is at stake is the possibility of self-respect which always hinges on being able to do things well, to well exercise one's capacities and to become either autonomous, or, if that is not possible, as autonomous as possible in making one's own living. What the most unfortunate groups of society must be helped to, is not simply survival, but an existence of self-respect and that means of as little unfreedom in the sense of one-sided dependency as possible. (ebd., S. 363)
Das im ökonomischen Kontext übergeordnete Interesse der Person beschränkt sich nicht auf ihr physisches Überleben – dazu könnte sie sich auch versklaven –, sondern ist auch darauf gerichtet, dies mit Selbstachtung zu tun; und ihre Selbstachtung ist wiederum davon abhängig, dass sie sich den normative Einschränkungen des Marktes freiwillig unterstellt und sich die Möglichkeit bewahrt, ihre Fähigkeiten, Wünsche und Interessen als gleichberechtigter Marktteilnehmer zu realisieren. Mit Bezug auf den ökonomischen Kontext können wir nun auch den Aspekt der Rechtsgebundenheit der moralischen Selbstachtung in den Blick nehmen. Tugendhat selbst vertritt die These, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der moralischen Selbstachtung einer Person und ihrem Bewusstsein gibt, bestimmte Grundrechte beanspruchen zu können. Die enge Beziehung zwischen dem positiven Selbst- und dem praktischen Rechtsbewusstsein einer Person ist für ihn darauf zurückzuführen, dass nur die Gewissheit, objektiv im Recht zu sein, eine Person trotz normativer Restriktionen darin bestärken kann, ihren eigenen Überzeugungen zu vertrauen. „To have self-respect“, so bringt Tugendhat diesen Zusammenhang zwischen Autonomie,
6.2. Ökonomische Grundrechte
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Selbstachtung und Rechtsbewusstsein auf den Punkt, „seems to imply that one has the consciousness of being autonomous – a person that is not dependent on others and that chooses his or her own way of living – and secondly, that one conceives oneself as having rights – and equal rights – to everyone else.“ (ebd., S. 366) Tugendhats eigentliche Begründung für die Erweiterung der Menschenrechte durch ökonomische Grundrechte lässt sich darauf zurückführen, dass die Selbstachtung einer Person eng mit ihrem Selbstverständnis verflochten ist, gleiche Rechte zu genießen. Der Grund dafür, dass es wichtig für die Selbstachtung einer Person ist, wenn sie ihren moralischen Anspruch auf Selbstbestimmung als ein Grundrecht formuliert, liegt im grundsätzlichen Perspektivenwechsel, der mit der Sprache des Rechts einhergeht. Ein Recht ist keine Vergünstigung, die einer Person aus altruistischen Gründen gewährt wird. Als Rechtsperson versteht sich eine Person vielmehr als ein Jemand, der ein Anrecht auf die Anerkennung und die Umsetzung seiner moralischen Grundrechte hat. „To speak of a right“, so bringt Tugendhat diesen Gedanken auf den Punkt „implies to speak of something due to a person.“ (ebd., S. 367) Für den ökonomischen Kontext bedeutet dies, dass sich eine Person ein Recht auf ökonomische Selbständigkeit zuschreibt. In der Perspektive moralischer Grundrechte sieht sie sich nicht als Bittsteller, der um wohlfahrtsstaatliche Gaben ansucht, sondern als eine Rechtsperson, deren gutes Recht es ist, sich im ökonomischen Kontext zu verwirklichen und der bestimmte soziale Leistungen zustehen, weil sie die ökonomische Selbständigkeit und Selbstachtung jeder Person sichern und damit jede Person einen Grund hat, in eine entsprechende Gesetzgebung einzuwilligen.11 „What we want“, so Tugendhats Zuspitzung seiner selbstachtungsfunktionalen Begründung ökonomischer Menschenrechte, „is a society where the possibility to live a life with self-respect is not a privilege of some, but a right of everybody. This is the point of the extended conception of human rights.“ (ebd., S. 369) Zusammengefasst besteht Tugendhats Beitrag zu einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie in drei Punkten. Erstens macht er verständlich, warum sich der Freiheitsbeg-
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6. Moralische Grundrechte
riff der politischen Philosophie gegenüber der Moralphilosophie zugunsten der positiven Handlungsfreiheit verschiebt, zweitens verdeutlicht er, dass die positive Handlungsfreiheit im ökonomischen Kontext die rechtliche Nicht-Abhängigkeit von anderen Personen, heteronomen Tätigkeiten oder ungerechten Institutionen meint, und drittens zeigt er, wie die Festschreibung dieser Nicht-Abhängigkeit in einem allgemeinen Grund- bzw. Menschenrecht zu einem Rechtsbewusstsein beiträgt, das es einer Person ermöglicht, eine rechtsgebundene Selbstachtung zu entwickeln, die objektiv gerechtfertigt ist und darin einen besonders stabilen Referenzrahmen für ihre praktische Identität konstituiert. Darüber hinaus macht Tugendhat die spezifische Ausstiegsoption explizit, durch die Freiheit und Selbstachtung einer Person im ökonomischen Kontext gesichert werden: nämlich das Grundrecht auf eine ökonomische Grundsicherung. Aber auch wenn es gegenüber dem Libertarismus und Neoliberalismus zunächst von übergeordneter Bedeutung ist, die prinzipielle Vereinbarkeit von Sozialstaat und Selbstachtung zu verteidigen, klammert Tugendhat darüber das konkretere Problem weitgehend aus, wie weit ökonomische Grundrechte reichen, und vor allem, welche Pflichten mit diesen Rechten korrespondieren. Insbesondere der enge Zusammenhang von Selbstachtung und Arbeit legt eine zunächst sehr weitgehende Interpretation ökonomischer Grundrechte bis hin zu einem Recht auf eine sinnvolle Arbeit nahe. Diese nicht nur aus realpolitischer Sicht zu weitgehenden Implikationen machen es erforderlich, im Folgenden genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen eine Person sich selbst und anderen gegenüber in der Pflicht steht, ihre Selbständigkeit selbst zu sichern, und wann sie es ihrer Selbstachtung schuldig ist, unzumutbare Arbeiten zu verweigern.
6.3. Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit Wenn wir die Interferenzen zwischen dem Fundamentalwert der Selbstachtung und dem ökonomischen Kontext analysieren, spielt die Diskussion zur Bedeutung der Arbeit eine besondere Rolle.
6.3. Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit
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Arbeit bzw. im engeren Sinne Erwerbsarbeit stellt eine der wesentlichen Quellen eines Lebens in Selbstachtung dar, weil einerseits die ökonomische Selbständigkeit der meisten Personen von ihrer Erwerbsarbeit abhängt und weil Arbeit zugleich eine der wichtigsten sozialen Praktiken ist, in denen eine Person ihre praktische Identität entwickelt und sich selbst verwirklicht.1 Deswegen besetzt der Selbstachtungsbegriff nicht nur in der politischen Theoriebildung, sondern auch im politischen Diskurs eine herausragende Position, wenn es um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, um ein Grundrecht auf Arbeit, um Zumutbarkeitsbedingungen, entwürdigende Arbeitsverhältnisse oder um die gesellschaftliche Anerkennung ehrenamtlicher, häuslicher oder erzieherischer Arbeit geht. Die moderne Karriere des Arbeitsbegriffs lässt sich am besten mit einem exemplarischen Rekurs auf Aristoteles, Hegel und Marx verstehen. Stellvertretend für die antike Auffassung beschreibt Aristoteles Arbeit als Schinderei, die keine Tätigkeit eines selbständigen Bürgers, sondern Sache von Sklaven ist. Die Arbeitsverpflichtung des Bürgers beschränkt sich auf die Leitung des Haushaltes und schon dieser Tätigkeit sollte er nur sehr eingeschränkt nachgehen, um sich sinnvolleren Tätigkeiten im politischen Leben, im Kunstgenuss und im Philosophieren zu widmen.2 An Hegel lässt sich paradigmatisch ablesen, wie sich der Stellenwert der Arbeit an der Schwelle zur Moderne gründlich umgestaltet. In den einschlägigen Passagen zum Anerkennungsverhältnis zwischen Herrn und Knecht führt er vor, wie ein Mensch zum Bewusstsein seiner selbst kommt, indem er seine Umwelt handwerklich bearbeitet und sich in seinen Werken selbst wiedererkennt.3 Es ist dieser Gedanke des sich in der Arbeit zum Bewusstsein seiner selbst kommenden Menschen, von dem wir bis heute zehren, wenn wir Arbeit als Medium unserer Selbstverwirklichung betrachten. Allerdings hat der Linkshegelianismus und insbesondere Karl Marx bereits für das anbrechende Industriezeitalter zu beschreiben versucht, wie eine kapitalistische Marktwirtschaft das Verhältnis zwischen Selbstverwirklichung und Arbeit zu pervertieren droht. Der Begriff der Entfremdung steht bei Marx dafür, dass sich der Arbeiter weder in den Produktionsprozessen verwirklichen,
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6. Moralische Grundrechte
noch in den Industrieprodukten wiedererkennen kann.4 Und auch wenn sich die marxistische Kapitalismuskritik nicht mehr ohne weiteres auf eine postfordistische Arbeitswelt übertragen lässt, haben sich heute neue Formen von Entfremdung und Ausbeutung herausgebildet, durch die Menschen in eine ihre Selbstachtung untergrabende Abhängigkeit geraten. Einerseits greifen die Entfremdungsmechanismen der gegenwärtigen Arbeitswelt viel subtiler in einzelne Arbeitskarrieren ein, indem sie diese fortlaufend flexibilisieren und dadurch immer mehr Existenzen prekarisieren; andererseits haben wir es mit einer Verschärfung makroökonomischer Abhängigkeiten und mit dem Entstehen einer Welthandelsordnung zu tun, in deren Zuge die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft weitgehend auf Schwellenländer verlagert wird.5 Das Dilemma, das sich an den klassischen Positionen zum Arbeitsbegriff ablesen lässt, ist, dass die Erwerbsarbeit zwar zu existentiellen Abhängigkeiten führt, andererseits aber zu den wichtigsten sozialen Praktiken zählt, in denen eine Person ihre praktische Identität entwickelt und sich selbst verwirklicht. Oft deckt sich ein Lebensplan so weitgehend mit der eigenen Arbeit, dass eine Person auf die Frage, wer sie ist, mit einer Beschreibung ihrer Arbeit antwortet. Im ökonomischen Kontext hängt die Selbstachtung einer Person entsprechend auch davon ab, dass es ihr gelingt, ihre Arbeit als eine selbstgewählte und ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit zu verstehen, die darüber hinaus ihre Selbständigkeit sichert. Stephan Schlothfeld hat in seiner Untersuchung „Arbeit, Selbstachtung und Selbstverwirklichung“ die einschlägigen Argumente zu diesem Thema besprochen.6 Darin betont er vor allem den Zusammenhang zwischen dem Selbstbild einer Person (ihrem „so-undso sein Wollen“) und ihrem positiven Selbstwertgefühl.7 Das Selbstwertgefühl einer Person beruht für Schlothfeld darauf, dass sie in ihrer Arbeit genau die Eigenschaften und Fähigkeiten betätigen kann, die ihr für ihre praktische Identität besonders wichtig sind. Beispielsweise ist es denkbar, dass ein großer Violinist kein Selbstwertgefühl aus seiner sozial sehr hochgeschätzten Tätigkeit zieht, weil er sich selbst als verhinderten Komponisten ansieht
6.3. Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit
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und innerlich völlig verzweifelt ist, dass er nicht für sein eher bescheidenes Kompositionstalent anerkannt wird. Wie Schlothfeld betont, ist es dabei für das Selbstwertgefühl einer Person sekundär, ob sie diese Fähigkeiten und Eigenschaften selbst erworben hat oder ob es sich um natürliche Begabungen oder ererbte Privilegien handelt.8 Allerdings wären wir dann nicht mehr berechtigt, von der Leistung einer Person zu sprechen – und darin liegt eben die in diesem Kontext entscheidende Differenz zwischen der Selbstschätzung einer Person und ihrer Selbstachtung. Die Selbstachtung beruht darauf, dass sie es als ihre eigene Leistung verstehen kann, wenn es ihr gelingt, ihre präferierten Fähigkeiten und Eigenschaften in einer Arbeitskarriere umzusetzen. Etwas zu leisten, bedeutet, dass eine Person bestimmte Arbeiten besonders gut ausführt und dass diese Arbeiten in besonderer Weise anerkennenswert sind, weil sie beispielsweise ein besonderes Können voraussetzen oder einen überproportionalen Beitrag zu den gesellschaftlichen Zielen leisten. Deswegen ist es für die Selbstachtung einer Person weitgehend irrelevant, über welche natürlichen Begabungen und gesellschaftlichen Privilegien sie verfügt; ausschlaggebend ist vielmehr, wie erfolgreich sie selbst darin ist, ihr persönliches So-Sein-Wollen in ihrer Arbeit zu verwirklichen. Mit Privilegien ausgestattet zu werden, kann der eigenen Selbstachtung sogar abträglich sein; zum Beispiel dann, wenn eine Person an einem College der Ivy-League aufgenommen wird, bloß weil sie aus einem einflussreichen Elternhaus stammt. Ausschlaggebend für die Selbstachtung dieser Person ist nicht ihr Privileg, sondern dass sie das Studium um ihrer selbst willen aufnimmt und dass sie sich als eine Person ansehen kann, die dieses Privileg zu Recht genießt, und dass heißt in diesem Beispiel, dass sie sich ihrer Privilegien durch Leistung würdig erweist. Diesen Zusammenhang zwischen Selbstachtung, So-Sein-Wollen und Leistung können wir nun auf den ökonomischen Kontext übertragen und allgemein sagen, dass sich eine Person dafür achtet, dass sie ihre ökonomische Selbständigkeit selbst verdient und dabei ihre charakteristischen Fähigkeiten und Interessen betätigt. Zwei der wichtigsten Fragen, die sich an diese Überlegungen anschließen, betreffen erstens den Stellenwert unbezahlter Arbeit für die Selbstachtung einer Person und zweitens die Bestimmung
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6. Moralische Grundrechte
menschenunwürdiger Arbeit und hier insbesondere die Fragen, welche Rechtsansprüche gegenüber entwürdigenden Arbeitsbedingungen geltend gemacht werden können und wie stark die Pflicht gegen sich selbst zu gewichten ist, die eigene ökonomische Selbständigkeit notfalls auch durch Arbeiten zu sichern, in denen die charakteristischen Fähigkeiten und Interessen seiner Person kaum stimuliert werden. Die erste Frage ist innerhalb unserer kontextrelationalen Gerechtigkeitstheorie relativ einfach zu beantworten. Demnach kann eine unbezahlte Tätigkeit, ein Ehrenamt, ein soziales Engagement oder ein Hobby selbstverständlich zur Selbstverwirklichung, zur sozialen Anerkennung und letztlich auch zur Selbstachtung beitragen – allerdings nicht im ökonomischen Kontext. In diesem Kontext ist die Selbstachtung so eng an die ökonomische Selbständigkeit gebunden, dass sich eine Person, die unentgeltlich arbeitet, ohne dabei selbst vermögend zu sein, in eine Abhängigkeit von anderen Personen begeben muss. Die markantesten Problemfälle dieser Art sind Haus- und Erziehungstätigkeiten, also Arbeiten, die vorwiegend von Frauen ausgeführt werden und die in der Regel nicht entlohnt werden.9 Solange eine Hausfrau und Mutter kein Recht auf eine Entlohnung und Alterssicherung über diese spezifischen Tätigkeiten geltend machen kann, bleibt sie ökonomisch von einem ‚Ernährerȧ abhängig, eine Abhängigkeit, die durchaus geeignet ist, ihre Selbstachtung zu gefährden.10 Deswegen ist eine Gesellschaft nur dann als gerecht zu bezeichnen, in der entweder alle gesellschaftlich relevanten Arbeiten fair entlohnt werden – und das bedeutet zumindest, dass diese Arbeiten zu einem selbständigen Leben befähigen – oder in der von vornherein allen Personen eine finanzielle Grundsicherung zusteht.11 Ein Grundrecht auf einen rudimentären Lebensstandard macht in einer selbstachtungsfunktionalen Begründung allerdings nur dann Sinn, wenn es mit einer hohen Gewichtung der Pflicht einhergeht, seine ökonomische Selbständigkeit aus eigener Kraft zu sichern und zumutbare Arbeiten anzunehmen.12 Daher ist es wichtig, die Kriterien noch weiter zu präzisieren, die darüber entscheiden, ob eine Arbeit entwürdigend ist oder nicht. Der Lösungsweg, diese Kriterien schlicht auf die subjektive Zufrie-
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denheit mit der eigenen Arbeit zurückzuführen, ist uns verbaut, weil es das Phänomen eines falschen bzw. unfreien Bewusstseins gibt.13 Es ist zwar unbestreitbar, dass es Menschen gibt, die in starken Abhängigkeitsverhältnissen leben und trotzdem glücklicher und zufriedener mit ihrem Leben sind, als sie es in einem mündigen Leben wären – auf diesem Argument beruhte schon Aristoteles Verteidigung der Sklaverei –, aber diese Menschen verfügen gerade nicht über eine moralische Selbstachtung.14 Ihr Status hängt von einer anderen Person ab, wodurch ihre praktische Identität selbst prekarisiert wird; denn auch der ‚glückliche Sklaveȧ hat seinen eigenen Willen, der mit dem Willen eines noch so ‚guten Herrenȧ nicht immer vereinbar ist. Herausfordernder als das Problem des glücklichen Sklaven ist der Fall einer Person, die eine als entwürdigend anmutende Arbeit aus guten Gründen gewählt hat. Beispielsweise ist es denkbar, dass eine Prostituierte ihre Arbeit als eine voll und ganz selbstbestimmte Tätigkeit auffasst, mit deren Hilfe sie ihren Lebensunterhalt sichert und die es ihr beispielsweise erlaubt, ihr Kind aufzuziehen oder unabhängig von ihrem gewalttätigen Ehemann zu leben. Trotz dieser Selbsteinschätzung lassen sich Zweifel geltend machen, dass Prostitution eine mit der Selbstachtung einer Person vereinbare Arbeit ist.15 Diese Zweifel sind berechtigt, wenn wir begründeterweise in Abrede stellen können, dass diese Person eine echte Alternative zur Prostitution gehabt hat. Wir gehen davon aus, dass sie vor die Wahl zwischen Prostitution und einer ihren Fähigkeiten und Interessen weiter entgegenkommenden Arbeit gestellt, letztere vorgezogen hätte; und wir fühlen uns zu dieser Unterstellung berechtigt, weil die Prostitution als eine besonders demütigende Tätigkeit angesehen wird, in der die körperliche Intimität einer Person fremdbestimmten Handlungen ausgesetzt ist und durch die ihr Schamgefühl in der Öffentlichkeit verletzt wird.16 Das vorrangige Kriterium für eine zumutbare Arbeit lautet, dass sie frei gewählt wurde, und diese scheinbar subjektive Bedingung beruht auf der objektiven Voraussetzung, dass einer Person echte Alternativen offen gestanden haben und jederzeit weiter offen stehen. Dabei ist es weder nötig noch möglich zu definieren, was in allen Einzelheiten zu einer echten Alternative ge-
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hört, weil dies für jeden Fall und für jeden kulturellen Kontext unterschiedlich erörtert werden muss. Im diskutierten Fall könnte die Freiwilligkeit beispielsweise darüber geprüft werden, ob die Berufswahl unter Druck von anderen gestanden hat, ob die Prostituierte durch ihre Ausbildung dazu befähigt war, eine andere Berufswahl zu treffen, ob das Scheidungsrecht eine ausreichende Unterhaltspflicht vorsieht oder ob ihre Kinder auch unter den Bedingungen der Sozialhilfe chancengleich hätten aufwachsen können. Das einzige Kriterium, das nicht situativ bestimmt werden muss, ist das Grundrecht auf einen menschenwürdigen Lebensstandard. Ein solches Grundrecht eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, eine entwürdigende Arbeit zu verlassen und bildet deshalb die im ökonomischen Kontext wichtigste soziale Bedingung der Selbstachtung.17 Wenn wir diese Erörterung mit der Frage nach der Zumutbarkeit einer Arbeit verbinden, müssen wir noch ein weiteres Problem aus dem Weg räumen. Es ist nämlich mit unseren Kriterien sehr wohl vereinbar, dass eine Person die Prostitution in Kenntnis echter Alternativen wählt, und trotzdem wäre es absonderlich zu sagen, dass die Prostitution eine zumutbare Arbeit wäre und dass es vertretbar ist, Sozialleistungen einzuschränken, wenn sich eine Person dieser Arbeit verweigern würde. Zwar steht es jeder Person frei, sich nach ihrer Fasson zu verwirklichen – auch als selbstgewählter Sklave oder als freiwillig Prostituierte – aber es ist eine ganz anders gelagerte Fragestellung, welche Tätigkeiten zumutbar sind, wenn eine Person durch andere dazu verpflichtet wird. Einer anderen Person gegenüber ist es bereits herabwürdigend, sie überhaupt zu irgendeiner Arbeit zu nötigen, und es gibt erst recht keine Legitimation dafür, ihr eine Arbeit zuzumuten, die, wie im Fall der Prostitution, nach den Standards der jeweiligen Schamgesellschaft als erniedrigend bewertet wird und darüber hinaus mit völlig inakzeptablen Eingriffen in die körperliche Integrität verbunden ist.18 Wir können nun zur Frage übergehen, warum wir bestimmte Arbeiten als entwürdigend empfinden und welche objektiven Kriterien wir für dieses Urteil geltend machen können. Die Dringlichkeit dieser Frage rührt vor allem daher, dass die Pflicht zur selbständigen Existenzsicherung mit der zentralen Funktion
6.3. Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit
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kollidiert, die die Erwerbsarbeit für die Selbstverwirklichung einer Person einnimmt. Diesbezüglich können wir eine Erörterung wieder aufnehmen, die wir in Auseinandersetzung mit Rawls’ Aristotelischem Grundsatz zu führen begonnen haben. Für Rawls gibt es Praktiken, die aufgrund ihres komplexen Anforderungscharakters erfüllender sind als andere. Er legt damit einen formalen Standard für die Frage fest, ob es abseits von der jeweiligen Kultur, Situation und persönlichen Einstellung auch objektive Kriterien gibt, die bestimmte Tätigkeiten als demütigend disqualifizieren. Zugespitzt lautet die Frage: Kann ein Bandarbeiter, der einer sehr monotonen Arbeit nachgeht, eine vergleichbare Selbstachtung ausbilden wie ein Arzt oder Wissenschaftler oder sind einige Tätigkeiten nicht in sich selbst anspruchsvoller und dadurch eine ergiebigere Quelle der Selbstachtung als andere? Für einen solchen Zusammenhang zwischen Selbstachtung und Anforderung spricht, dass es auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt einen Wettbewerb um solche Berufe gibt, in denen geistige oder körperliche Fähigkeiten auf eine besonders komplexe Weise betätigt werden. Entsprechend ist es naheliegend zu sagen, dass monotone Arbeiten die Selbstachtung einer Person eher beschädigen, weil sie eben nicht nur eine ökonomisch selbständige Person sein will, sondern auch Jemand, dem es gelingt, sich in seiner Arbeit zu verwirklichen. In diesem Kontext hängt die Selbstachtung weitgehend an ihrer Kunst, ihre Arbeitskarriere auf ihre charakteristischen Interessen und Fähigkeiten abzustimmen und gerade dies scheint einem Bandarbeiter in sehr viel geringerem Maße zu gelingen, als etwa einem Wissenschaftler, einem Arzt oder einem Künstler. Der Wissenschaftler, der Künstler und der Arzt – sie stehen für Karrieremodelle, die nicht nur aufgrund ihrer komplexen Anforderungen ein hohes Ansehen genießen, sondern die darüber hinaus auch einen sichtbaren Beitrag zum Allgemeinwohl leisten, die in hohem Maße eigenständige Entscheidungen erfordern und nur aufgrund einer stark spezialisierten Ausbildung bewerkstelligt werden können.19 Angesichts von Arbeiten, die nicht auf einer besonderen Qualifikation beruhen und deren Arbeitsschritte bis aufs Kleinste festgelegt sind, scheint es dagegen problematischer, das Bewusstsein auszubilden, etwas Sinnvolles
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6. Moralische Grundrechte
zu leisten. Nicht nur, dass ein Bandarbeiter keine Befriedigung in seiner eigenen monotonen Tätigkeit empfindet, er legt seine Arbeitsabläufe auch nicht eigenständig fest – und vor allem: er ist in seiner Funktion vollständig ersetzbar. Kaum etwas ist der Selbstachtung einer Person abträglicher als das Gefühl, austauschbar zu sein; und zwar nicht nur, weil es ihre ökonomische Existenz prekarisiert, sondern weil es ihr außerdem nicht erlaubt, sich die Anerkennung für ihre Arbeit ihrer individuellen Leistung und damit ihrer einzigartigen Persönlichkeit zuzuschreiben. Wir haben gesehen, dass die Konkurrenz um den Zugang zu interessanten Karrierewegen den Keim eines Gerechtigkeitsproblems in sich trägt, der innerhalb des Rawls’schen Theorierahmens zu stark egalitaristischen Konsequenzen führt. Wenn es zur sozialen Voraussetzung der Selbstachtung gehört, dass sich eine Person in einer möglichst angesehenen, eigenständigen und sinnvollen Arbeit verwirklicht, dann scheint eine selbstachtungsfunktionale Gerechtigkeitstheorie auf ein Recht auf eine solche Arbeit hinauszulaufen und einen gewaltigen Apparat arbeitsmarkt- und identitätspolitischer Eingriffe zu rechtfertigen. Dass dies nicht so ist, liegt daran, dass das Bewusstsein, sein Leben aus eigener Kraft zu meistern, für das Selbstwertgefühl einer Person viel tiefliegender ist als das Gefühl, in Konkurrenz zu anderen etwas besonders wertvolles und anerkennenswertes zu leisten. Daher ist es für ihr Selbstwertgefühl völlig ausreichend, wenn sie ihre Arbeit als einen anerkennenswerten Beitrag zu den gesellschaftlichen Zielen verstehen kann und dieser Beitrag kann unter Umständen schon in ihrem sehr ehrbaren Pflichtverständnis bestehen, dass sie in erster Linie für sich selbst ökonomisch verantwortlich ist.20 Während es daher zu weit geht, von einem Recht auf Arbeit oder sogar von einem Recht auf eine der Selbstverwirklichung entgegenkommenden Arbeit zu sprechen, begründet der Zusammenhang von Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit trotzdem einen Rechtsanspruch, der über die Garantie eines minimalen Lebensstandards hinausgeht.1 Den ökonomischen Kontext selbstachtungsfunktional einzurichten, erfordert auch, dass jede Person die gleiche Chance hat, besonders komplexe und anspruchsvolle Lebenspläne zu wirklichen. Das wichtigste
6.4. Kulturelle Minderheiten- und Selbstbestimmungsrechte
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Grundrecht, das in diesem Zusammenhang die Chancengleichheit sichert, ist das Recht auf Bildung. Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass alle Personen gleichermaßen die Chance haben, eine ansprechende Karriere zu ergreifen. Sie befähigt eine Person, einen, in den Worten Thomas Steinforths. „selbstachtungsförderlichen Lebensplan zu konzipieren und auszuführen“, so dass wir für den ökonomischen Kontext zusammenfassend sagen können, dass er gerecht eingerichtet ist, wenn er über die Garantie eines minimalen Lebensstandards eine kontextspezifische Austrittsoption eröffnet und den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt chancengleich gestaltet.2
6.4. Kulturelle Minderheitenund Selbstbestimmungsrechte Unsere Diskussion des ökonomischen Kontexts hat noch einmal deutlich gemacht, dass normative Kontexte nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Die Erwerbsarbeit ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine kontextübergreifende soziale Praxis Normeninterferenzen hervorruft, weil sie zugleich der Logik des ökonomischen und des kulturellen Kontextes folgt. Der Fall der selbstgewählten Prostitution kann beispielsweise eine im ökonomischen und juridischen Kontext vollständig legitimierte Praxis darstellen, ist aber in den meisten kulturellen Kontexten ethischen Sanktionen, wie Schmähung oder Stigmatisierung, ausgesetzt. Mein Vorschlag, alle normativen Kontexte über entsprechende Grundrechte selbstachtungsfunktional gleichzuschalten, muss sich deswegen zwei Vorbehalten stellen. Erstens ist der juridische Kontext nur begrenzt dazu im Stande, durch moralische Grundrechte in kulturelle Normen hineinzuwirken. Wenn es in einer homogenen Schamgesellschaft zum Beispiel als unanständig gilt, das weibliche Haupthaar in der Öffentlichkeit zu entblößen, dann droht bei Zuwiderhandlung das kulturelle Stigma, ob die Entscheidung rechtlich geschützt ist oder nicht. Der juridische Kontext kann zwar die moralische Selbstvergewisserung einer Person schützen, indem er jede indi-
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6. Moralische Grundrechte
viduelle Idee vom guten Leben als gleichberechtigt anerkennt, aber es gehört geradezu zur Signatur einer kulturellen Gemeinschaft, unterschiedliche Ideen vom guten Leben ungleich zu behandeln und bestimmte Praktiken zu diskriminieren. Unsere Frage lautet entsprechend, wie ein Grundrechtsschutz der Selbstachtung im Verhältnis zu einzelnen Kulturen gewährleistet werden kann. Die Beantwortung dieser Frage verkompliziert sich weiter, wenn wir den zweiten Vorbehalt gegen die juridische Gleichschaltung ins Auge fassen. Dieser Vorbehalt besagt, dass der kulturelle Kontext eine eigenberechtigte soziale Grundlage der Selbstachtung einer Person bildet. Eine sich selbst achtende Person ist danach immer schon darauf angewiesen, ihren Lebensplan innerhalb eines kulturell tradierten Systems sozialer Praktiken zu entwickeln und ihr Zutrauen, dass der eigene Lebensplan wertvoll ist, innerhalb einer Wertegemeinschaft bestätigt zu finden. Diese Vorbehalte, dass kulturelle Normen unberührt vom juridischen Kontext Wege zu ihrer Durchsetzung finden und dazu in gewisser Weise auch berechtigt sind, weil der kulturelle Kontext eine soziale Grundlage der Selbstachtung sui generis bildet, spielen in der Multikulturalismusdebatte eine tragende Rolle. Am systematischsten sind sie von Will Kymlicka aufgegriffen worden.3 Die Differenz seines perfektionistischen zu Rawls’ neutralem Liberalismus lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass für ihn die Mitgliedschaft in einer kulturellen Gemeinschaft (cultural membership) konstitutiv für die Ausbildung von Selbstachtung ist. Daraus zieht Kymlicka den Schluss, dass eine Kultur bzw. eine Wertegemeinschaft einen besonderen Schutz beanspruchen kann. Entscheidend ist aber, dass auch Kymlicka selbstachtungsfunktional argumentiert. Gemeinschaften und Kulturen sind für ihn kein Wert an sich, sondern prinzipiell danach zu beurteilen, ob sie ihren Mitgliedern die Ausbildung und Aufrechterhaltung ihrer Selbstachtung ermöglichen. Dadurch gelingt es ihm, die Begründung kultureller Grundrechte in eine liberale Argumentation einzubeziehen. Ausgehend von diesem Hintergrund muss Kymlicka nun zeigen, warum die Mitgliedschaft in einer kulturellen Gemeinschaft zu den sozialen Voraussetzungen der Selbstachtung zählt.4 Eine
6.4. Kulturelle Minderheiten- und Selbstbestimmungsrechte
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Kultur definiert sich für ihn dadurch, dass sie einen Kontext von Wahlmöglichkeiten (context of choice) bereitstellt, innerhalb dessen sich eine Person für verschiedene Lebenspläne entscheiden kann. In ihr haben sich soziale Praktiken ausgebildet und überliefert, die einer Person überhaupt erst eine Auswahl an Optionen (range of options) eröffnen, ihre eigenen Impulse zu verstehen und umzusetzen.5 Mit anderen Worten, ihre Selbstinterpretation und verwirklichung ist auf ihren kulturellen Horizont bezogen, so dass wir mit der oben eingeführten Terminologie sagen können, dass die kulturelle Identität einer Person einen integralen Aspekt ihrer praktischen Identität darstellt. Aber nicht nur das Wissen um sich selbst, sondern auch ihr Selbstwertgefühl basiert darauf, dass sich die Person gegenüber kulturell repräsentierten Sinnmodellen und Wertvorstellungen autonom verhält. Sinn und Wert ihres Lebens bestimmen sich darüber, mit welchen Wert- und Sinnangebot sich eine Person identifiziert und wie sie mit den Erfahrungen von Anerkennung und Missachtung umzugehen lernt. Sie ist selbst dafür verantwortlich, welches Leben sie wählt; aber ganz gleich wie sie auch wählt, ihre Wahl orientiert sich an dem kulturellen Reservoir, in das sie von Kindesbeinen an hineinwächst. Als wichtigste Medien der kulturellen Sozialisation nennt Kymlicka die Sprache und die Geschichte bzw. die Geschichten, in denen sich ein kulturspezifisches Angebot zur narrativen Sinnkonstruktion und Identitätsbildung überliefert. Kurz, die Möglichkeit, ein sinnvolles und selbstbestimmtes Leben zu leben, ist immer schon auf die Mitgliedschaft in einer kulturellen Gemeinschaft angewiesen, die daher zu den sozialen Voraussetzungen der Selbstachtung zählt. Für Kymlicka sollte die liberale Gerechtigkeitstheorie daher um ein weiteres Grundgut ergänzt werden: „The relationship between cultural membership and self-respect gives the parties of the original position a strong incentive to give cultural membership status as a primary good.“6 Auf dem Argument, dass ein individuell selbstbestimmtes Leben auf einen kulturellen Kontext von Wahlmöglichkeiten angewiesen ist, baut Kymlicka nun eine selbstachtungsfunktionale Begründung kultureller Selbstbestimmungsrechte auf. Mit Blick auf seine kanadische Heimat begründet er hiermit vor allem das
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6. Moralische Grundrechte
Recht der indogenen Bevölkerung und der frankophonen Minderheit der Québécois, „durch den Gebrauch der eigenen Sprache an der modernen Welt zu partizipieren“.7 Faktisch führt die Umsetzung dieses Grundrechts schon zur weitgehenden Selbstbestimmung kultureller Minderheiten, da der Gebrauch der eigenen Sprache im öffentlichen Leben die Einrichtung entsprechender Schulen, Universitäten, Zeitungen, Fernsehsender sowie bilingualer Gerichte und Parlamente erfordert. Angesichts dieser weitreichenden Forderungen stellt sich die Frage, wie weit das Selbstbestimmungsrecht kultureller Minderheiten reicht. Der Vorzug von Kymlickas Position besteht darin, dass eine kulturelle Mitgliedschaft kein Selbstzweck ist, sondern über ihre Funktion zur Stabilisierung individueller Selbstachtung weiter qualifiziert wird. In dieser selbstachtungsfunktionalen Begründung werden nur solche kulturellen Selbstbestimmungsrechte legitimiert, die jeder Person eine echte Alternative zu ihrer kulturellen Mitgliedschaft garantieren. Die kontextspezifische Austrittsoption besteht in der Möglichkeit, aus einer kulturellen Gemeinschaft zu emigrieren. Ein solches Recht auf kulturelle Freizügigkeit beinhaltet, dass einer Person alternative kulturelle Mitgliedschaften offen stehen, wenn es ihr beispielsweise nicht mehr gelingt, sich mit den Werten ihrer Gemeinschaft zu identifizieren oder sich in den kulturell codierten Praktiken zu realisieren. Darum setzt die erste Ausstiegsoption eine pluralistische Grundstruktur voraus. Dieses moralische Argument für einen gesellschaftlichen Pluralismus greift allerdings viel zu weit in die Souveränität von Staaten ein, die kulturell oder religiös homogen organisiert sind. In diesen Fällen macht es mehr Sinn, die internationale Staatengemeinschaft in der moralischen Verantwortung zu sehen, stellvertretend eine pluralistische Grundstruktur bereit zu stellen. Das moralische Grundrecht auf kulturelle Freizügigkeit begründet daher den Rechtsanspruch auf Emigration und Asyl. Allerdings ist es unzureichend, das Grundrecht auf kulturelle Freizügigkeit einzig und allein durch ein Recht auf Emigration zu sichern. Mit der Emigration sind in der Regel Erfahrungen kultureller Entwurzelung verbunden, die zur nachhaltigen Destabilisierung des Selbstwertgefühls führen können.8 Darum ist es vorran-
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gig geboten, einen kulturimmanenten Pluralismus zu fordern; und genau dies hat Kymlicka getan, wenn er die Legitimität und den Wert einzelner Kulturen davon abhängig macht, dass sie eine Pluralität sozialer Praktiken bereitstellen, dass sie in ihrer Sprache einen narrativen Reichtum tradieren und dass sie ein selbstbestimmtes Verhalten gegenüber ihrem kulturellen Angebot ermöglichen. Entsprechend kann nicht jede neu gegründete Sekte oder Subkultur besondere Selbstbestimmungsrechte beanspruchen, sondern nur Kulturen und religiöse Gemeinschaften, deren narrativer Pool einen gewissen Komplexitätsgrad aufweist und die dadurch in sich selbst einen gewissen Grad an Pluralität zulassen. Wenn wir sagen, dass eine kulturelle Gemeinschaft nur dann ein Selbstbestimmungsrecht beanspruchen kann, wenn sie selbst einen ausreichend weiten Kontext von Wahlmöglichkeiten anbietet, dann ist dies zugegeben ein unscharfes Beurteilungskriterium, weil zwischen einer Monokultur und einer ausreichenden Pluralität keine klare Grenze verläuft. Letztendlich muss jede Person für sich selbst bestimmen, ob sie in einer jeweiligen Kultur leben kann. Präzisere Kriterien haben wir erst in der Hand, wenn es um die normativen Mindeststandards geht, die in einer kulturellen Gemeinschaft in jedem Fall anerkannt sein müssen. Diese Mindeststandards sind nun genau die moralischen Grundrechte, die die Selbstachtung einer Person gegenüber allen normativen Kontexten schützen. Allerdings habe ich einleitend darauf hingewiesen, dass diese Grundrechte kulturellen Standards widerstreiten können. Da aber kulturelle Gemeinschaften eine soziale Voraussetzung der Selbstachtung sui generis darstellen, wäre es zu einseitig gedacht, jeder kulturellen Gemeinschaft ihr Selbstbestimmungsrecht abzusprechen, deren identitätsstiftenden Praktiken gegen unser Verständnis von Grundrechten verstoßen. Ebenso wenig Sinn macht es, ein einzelnes moralisches Grundrecht gegen das Grundrecht auf kulturelle Mitgliedschaft abzuwiegen, weil beide eine unhintergehbare soziale Voraussetzung für die Selbstachtung einer Person darstellen. Der herausforderndste Fall, an dem wir uns dieses Problem veranschaulichen können, ist die weibliche Beschneidung. In ihren Härteformen der Klitoralbeschneidung, wie sie in einigen zentralafrikanischen Ländern praktiziert wird, bedeutet diese Praxis einen schmerzhaf-
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ten, gefährlichen und irreversiblen Eingriff, der mit dem Grundrecht einer Person auf körperliche Integrität, Handlungsfreiheit und eine befriedigende Sexualität unvereinbar ist. Trotzdem folgt nicht notwendig, dass Kulturen, in denen die Praxis der Beschneidung einen wichtigen Initiationsritus darstellt, kein Recht auf kollektive Selbstbestimmung geltend machen können. Denn es ist zumindest denkbar, dass eine Mehrheit dieser Frauen ihre Beschneidung nicht als erniedrigend, sondern als Ausdruck ihrer kulturellen Identität erfährt. Ein Menschenrechtsinterventionismus liefe in diesem Fall auf eine Entmündigung dieser Frauen hinaus, jedenfalls dann, wenn ihnen eine echte Alternative offengestanden hat, sich gegen die Beschneidung zu entscheiden. Unser Grundsatz lautet, dass eine kulturelle Praxis solange selbstachtungsfunktional begründet ist, wie sich eine Person ihr freiwillig unterwirft, und diese Freiwilligkeit ist wiederum nur dadurch garantiert, dass sie jederzeit ihr Grundrecht wahrnehmen und aus der jeweiligen Praxis aussteigen kann. Diesem Vorschlag zufolge wäre es möglich, zwei widerstreitende normative Ordnungen nebeneinander gelten zu lassen. Es bliebe der betroffenen Person überlassen zu entscheiden, ob sie sich auf ihr Recht auf körperliche Integrität berufen will oder ob sie indirekt ein Recht auf Selbstverstümmelung geltend macht. Denn solange es darum geht, die Selbstachtung einer Person zu bewahren, sind wir dazu verpflichtet, ihre Entscheidung zu respektieren. Wir können lediglich prüfen, ob es sich um eine echte Entscheidung handelt und das ist eben erst dann gesichert, wenn es einer Person aufgrund geltender Grundrechte auch faktisch möglich ist, sich selbständig zu ihrer kulturellen Identität zu verhalten und sich einer identitätsstiftenden Praxis zu verweigern, ohne dazu den Preis des kulturellen Pariatums bezahlen zu müssen. Eine pluralistische Grundstruktur, ein selbstachtungsfunktionales Grundgesetz und eine Kultur des wechselseitigen Respekts vor den Grundrechten des Anderen bilden weitreichende Bedingungen für ein Recht auf kulturelle Selbstbestimmung. Diese Kriterien schlagen einen deutlich aufklärerischen Ton an und haben selbst einen kulturspezifischen Entstehungshintergrund. Aber auch wenn wir dies einzuräumen bereit sind und es uns zur pragmatischen Vernunft machen, in interkulturellen Verhandlun-
6.4. Kulturelle Minderheiten- und Selbstbestimmungsrechte
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gen einen Konsens bezüglich dieser Kriterien zu suchen, müssen wir unsere Überzeugungen weiterhin vor uns selbst universell rechtfertigen, um überhaupt zwischen akzeptablen und unannehmbaren Kompromissen unterscheiden können. Eine solche Rechtfertigung gewinnt an Relevanz, wenn es um kulturelle Minderheitenrechte von Immigranten geht.9 Weil sich innerhalb eines Staates bereits ein Prozess der Nationenbildung vollzogen hat, ist für Kymlicka der Anspruch von Immigranten, ihre eigene Sprache zu sprechen, schwächer zu gewichten als der Anspruch ortsansässiger Kulturen.10 Selbst wenn eine Gruppe in eine multikulturell strukturierte Gesellschaft einwandert, hat sich dort bereits eine, wie Kymlicka es nennt, Gesellschaftskultur (societal culture) etabliert.11 Eine Gesellschaftskultur beruht nicht auf einer gemeinsam geteilten Idee vom Guten, sondern zeichnet sich vor allem darin aus, dass in ihren sozialen Institutionen dieselbe Sprache gesprochen wird. Wie wir gesehen haben, schreibt Kymlicka der Sprache eine akkulturierende Funktion zu. Eine Sprache tradiert das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft, ihre narrativen Identitätsangebote und ihre normative Struktur. So eignet sich ein Immigrant, der verpflichtet ist, diese Sprache zu erlernen, nolens volens auch die Gesellschaftskultur dieser Sprachgemeinschaft an. Die Anerkennung des geltenden Rechts und die Integration in die amtlichen Sprachen bilden daher die wichtigsten Anforderungen, die eine Gesellschaft gegenüber einem Immigranten zu stellen berechtigt ist. Bei der Beurteilung einzelner kultureller Praktiken von Einwanderungsgruppen werden wir hingegen auf die Kriterien zurückverwiesen, an die wir auch das Selbstbestimmungsrecht kultureller Gemeinschaften geknüpft haben. Die Diskussion, ob eine türkische Lehrerin ein Kopftuch oder ein motorradfahrender Sikh einen Turban tragen dürfen und ob es legitim ist, wenn ein jüdischer Junge oder ein afrikanisches Mädchen beschnitten werden, muss folgerichtig Überlegungen darüber berücksichtigen, wie eng die jeweilige Praxis in das kulturelle Selbstverständnis einer Person eingelagert ist, ob ihre Grundrechte gegen ihren Willen verletzt worden sind oder ob ihr eine echte kulturelle Alternative offen gestanden hat. Die Prüfung dieser Fragen kann bestimmte Minderheitenrechte begründen, wie im
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6. Moralische Grundrechte
Fall von Ausnahmeregelungen von der Straßenverkehrsordnung für religiöse Sikhs in Kanada oder von Tierschutzbestimmungen für das rituelle Schächten in Deutschland. Zudem kann es weitere Faktoren geben, welche die Entscheidung für oder wider ein bestimmtes Minderheitenrecht beeinflussen – im Fall des Kopftuchs etwa eine laizistische Beamtenbekleidungsordnung. Das Entscheidende für diese Entscheidungsprozesse ist jedoch, dass die gesellschaftliche Deliberation über kulturelle Selbstbestimmungs- und Minderheitenrechte selbstachtungsfunktional geführt wird, und dies bedeutet, dass unter fairen Bedingungen geprüft wird, ob eine Kultur ausreichende Alternativen anbietet und ob alle kulturellen Praktiken mit den moralischen Grundrechten einer Person vereinbar sind.
6.5. Politische Partizipation Mit einer kurzen Erörterung des politischen Kontexts kommt nun der kontextrelationale Durchgang durch die moralischen Grundrechte zum Abschluss. Eine genuine Sphäre des Politischen gegenüber anderen normativen Kontexten eindeutig abzugrenzen, ist vielleicht noch schwieriger, als dies für andere normative Kontexte der Fall war; und zwar nicht nur, weil das Politische im weiteren Sinn alle normativen Kontexte überlagert, sondern natürlich auch, weil nicht immer restlos plausibel zu machen ist, wie der politische Kontext von anderen normativen Ordnungen wie etwa dem juridischen Kontext trennscharf unterschieden werden kann. Oben wurde der politische Kontext bereits über seine Funktion definiert, politische Entscheidungsprozesse zu ordnen. Die spezifische Differenz des politischen zum juridischen Kontext lässt sich zunächst an den charakteristischen Anerkennungs- und Sanktionsmechanismen politischer Normen veranschaulichen. Während eine Person im juridischen Kontext als Rechtsperson anerkannt wird und ihre diesbezüglichen Verfehlungen durch das Strafrecht geahndet werden, gründet ihre Selbstschätzung im politischen Kontext darauf, dass sie als ehrenwerter Mitbürger anerkannt wird. Ihr Bürgerstatus speist sich aus den spezifisch
6.5. Politische Partizipation
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politischen Formen wechselseitiger Anerkennung – deren Spektrum von der ‚Sieȧ-Anrede bis zur öffentlichen Ehrung für ihr bürgerliches Engagement reicht. Auf der anderen Seite wird ihre Selbstschätzung durch spezifisch politische Formen der Missachtung sanktioniert – wobei sich das Spektrum ebenfalls von einer geringfügigen Respektverweigerung bis zur Einschränkung politischer Mitbestimmungsrechte erstreckt. Wie Rainer Forst in Übereinstimmung mit Rawls betont, stellt der Bürgerstatus eine eigenständige soziale Voraussetzung der Selbstachtung dar.1 Die Selbstachtung einer Person hängt generell davon ab, dass sie ein öffentliches Leben ohne Scham führen kann, und im speziellen davon, dass sie an der Einrichtung politischer Normen beteiligt ist. Dieses Erfordernis politischer Teilhabe übersetzt Jürgen Habermas in den Anspruch jeder Person, in der Bürger- bzw. Zivilgesellschaft repräsentiert zu sein, weil diese das Forum der politischen Willens- und Meinungsbildung bildet.2 Wie in Habermas’ Diskurstheorie des Rechts deutlich wird, ist die Teilnahme an der Bürgergesellschaft die Grundbedingung dafür, dass eine Person ihre eigenen Interessen in die Öffentlichkeit hineinkommuniziert und sich dadurch ihr Bewusstsein bewahrt, politische Normen mitzugestalten und politische Entscheidungen beeinflussen zu können.3 Wie wichtig die Beteiligung an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen für das Selbstwertgefühl einer Person ist, wird bereits daran deutlich, dass wir oben einige der entscheidenden Fragen an die politische Deliberation verweisen mussten, wie beispielsweise die Frage nach der Zumutbarkeit von Arbeitsbedingungen oder nach der politischen Bewertung kultureller Praktiken. Zugespitzt sind wir darum berechtigt festzustellen, dass die genuin politische Voraussetzung der Selbstachtung in der Möglichkeit besteht, als Gleicher an der Zivilgesellschaft teilzuhaben. Am griffigsten wird diese selbstachtungsfunktionale Leitnorm in Nancy Frasers Formel von der partizipatorische Parität (participatory parity) ausgedrückt.4 Demnach ist eine Gesellschaft gerecht, wenn jedem Bürger eine chancengleiche Teilhabe am politischen Deliberationsprozess offen steht. Im rechtlichen Kontext korrespondiert die politische Norm der partizipatorischen Parität mit den so genannten Partizipati-
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6. Moralische Grundrechte
onsrechten, wie dem passiven und aktiven Wahlrecht, der Versammlungsfreiheit, dem Recht auf Bildung politischer Vereinigungen, etc. Da aber nicht jede Person gleichermaßen die Fähigkeit besitzt, ihre Interessen in die Öffentlichkeit hineinzukommunizieren, taucht hier ein neues Gerechtigkeitsproblem auf. Damit es auch in Bezug auf die politische Partizipation eine echte Chancengleichheit gibt, muss jede Person solche partizipatorischen Funktionen auch tatsächlich wahrnehmen können. Dies setzt voraus, dass jeder Bürger prinzipiell dazu befähigt werden muss, politische Funktionen zu übernehmen. Die entsprechenden Fähigkeiten setzen sich vor allem aus einer ausreichenden politischen Bildung und aus Kenntnissen in den Techniken öffentlicher Kommunikation zusammen. Weiter muss es eine stellvertretende Repräsentation für diejenigen Bürger geben, die ihre partizipatorischen Funktionen nicht auszufüllen im Stande sind, wie zum Beispiel Kinder oder geistig behinderte Personen.5 Es ist offensichtlich, dass eine derart weitgehende juridische Normierung des politischen Raums eine demokratische Grundstruktur erfordert. Die Demokratie ist die einzige Regierungsform, die jede Person in ihre Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse integriert, und stellt folgerichtig die einzige legitimierbare Verfassungsform einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie dar.1 Für seine Theorie internationaler Gerechtigkeit will Rawls diesen Schluss bekanntlich vermeiden; und zwar auch, weil er es als zu weitgehend empfindet, so genannte anständige hierarchische Völker (decent hierarchical peoples) aus seinem völkerrechtlichen Vertragswerk auszuschließen.2 Eine im Rawls'schen Sinne anständige Gesellschaft akzeptiert zwar grundlegende Menschenrechte, nicht aber gleiche Bürger- und Partizipationsrechte für alle Personen.3 Zu denken ist beispielsweise an eine freie Republik Tibet, in der es keine demokratische Grundstruktur geben würde, weil der Dalai Lama zugleich das geistige und weltliche Oberhaupt repräsentiert.4 Die moralischen Probleme dieser Konzeption treten an die Oberfläche, wenn wir die Frage stellen, ob wir uns neutral verhalten sollen, wenn sich in einer in diesem Sinne anständigen Gesellschaft eine demokratische Opposition, oder aber, wenn sich in unserer liberalen Gesellschaft eine anständige,
6.6. Moralische Grundlagen eines subsidiären Kosmopolitismus
165
aber hierarchische Grundstruktur zu entwickeln beginnt. Zumindest was unsere eigene Gesellschaft angeht, ist es auch für Rawls eindeutig, dass die enge Korrelation zwischen der moralischen Selbstachtung einer Person und ihren Bürger- und Partizipationsrechten auf die Legitimation einer demokratischen Grundordnung hinausläuft. Dass sich diese Vorzeichen im internationalen Kontext verkehren sollen, ist nur dann folgerichtig, wenn ein politischer Pragmatismus die moralische Perspektive überblendet. Eine in diesem Sinne politische Vernunft folgt der Logik des Konsenses und der außenpolitischen Stabilität, und gibt tolerantere und für die meisten Problemfelder der internationalen Politik auch praktikablere Handlungsdirektiven als eine Gerechtigkeitstheorie, die die selbstachtungsfunktionale Ausrichtung aller normativen Kontexte einfordert. Deshalb ist noch einmal zu unterstreichen, dass die Bedeutung einer selbstachtungsfunktionalen Gerechtigkeitstheorie vor allem in der moralischen Selbstvergewisserung liberaler Gesellschaften liegt. Das im folgenden Abschnitt adressierte Problem globaler Gerechtigkeit resultiert aber daraus, dass die angesprochenen Kontexte längst die Grenzen liberaler Gesellschaften überschritten haben und dass es in unserem moralischen Interesse liegt, die transnationale Auswirkung normativer Kontexte selbstachtungsfunktional zu kontrollieren.
6.6. Moralische Grundlagen eines subsidiären Kosmopolitismus Bis zu dieser Stelle haben wir einen Katalog von Grundrechten herausgearbeitet, der sich aus der selbstachtungsfunktionalen Einrichtung der umfassendsten normativen Kontexte zusammenstellt. Neben den klassischen Freiheits- bzw. negativen Schutzrechten zählen dazu ein Grundrecht auf einen minimalen Lebensstandard sowie auf gleiche Ausbildungschancen, ein Grundrecht auf kulturelle Freizügigkeit und Selbstbestimmung und schließlich ein Recht auf politische Partizipation verbunden mit einem weitgehenden Katalog von Bürgerrechten. Die sich daran anschlie-
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6. Moralische Grundrechte
ßende Frage lautet, inwieweit Staaten die angemessenen Akteure sind, um diese Grundrechte zu gewährleisten. Folgt aus der Interdependenz von moralischer Selbstachtung, transnationalen Normen und universellen Grundrechten nicht die Utopie einer Weltrepublik?5 Keineswegs. Der Anspruch einer moralischen Person, ihr Leben nach moralischen Grundsätzen auszurichten, von denen sie Grund zu der Annahme hat, dass ihnen jede Person beipflichten kann, ist zwar in der Tat ein universeller Anspruch, aber dieser moralische Universalismus hat zunächst nur in der Selbstvergewisserung einer Person seine Berechtigung. In genuin moralischen Situationen dient die universelle Selbstkonstitution einer Person dazu, ihre praktische Identität gegenüber allen möglichen normativen Kontexten aufrechtzuerhalten und ein eigenständiges Urteil über die Berechtigung dieser Normen zu fällen. Nur in diesem moralischen Reich korrespondiert die Selbstkonstitution der Person mit einer globalen Gerechtigkeitsordnung, in der die Idee universeller Menschenrechte einen Art Verfassungskern bildet. Demgegenüber muss der Ansatzpunkt der politischen Philosophie berücksichtigen, dass eine Person ihre moralische Autonomie im Zusammenleben mit anderen realisieren will. Auf der Ebene des Politischen – womit hier nicht der spezifische Kontext der Zivilgesellschaft, sondern eine alle normativen Kontexte umschließende Sphäre interpersoneller Beziehungen gemeint ist – stellt sich die normative Frage konkret danach, welche Institutionen notwendig sind, um die Grundrechte einer Person zu gewährleisten. Um diese realpolitische Frage zufriedenstellend zu beantworten, ist es offensichtlich unangebracht, sich auf eine moralphilosophische Utopie zurückzuziehen. Stattdessen vertrete ich zwei aufeinander zulaufende Argumentationslinien. Auf der einen Seite setzt meine Argumentation politisch an, auf der anderen Seite moralisch. Aus der deskriptiv-politischen Perspektive hängt die Bestimmung des Gerechtigkeitskontextes von zwei Faktoren ab: Erstens von der Reichweite normativer Kontexte und zweitens von ihrem institutionellen Design. Für unsere Schlussbetrachtung ist es hinreichend, wenn wir diese Faktoren kurz an den jeweiligen normativen Kontexten abprüfen.6
6.6. Moralische Grundlagen eines subsidiären Kosmopolitismus
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Für den kulturellen Kontext gilt, dass weder seine Normen noch sein institutionelles Design an einen Nationalstaat gebunden sein müssen. Beispielsweise kann sich die Glaubenskongregation des Vatikans auf Dogmen festlegen, an die die gesamte katholische Christenheit gebunden ist. Und mit der Pop- und Weltkultur hat sich ein global auswirkendes Angebot kultureller Identitäten herausgebildet, deren institutionelles Design (Hollywood und MTV) mit länderspezifischen Varianten (Bollywood und Viva) in einem transnationalen Netzwerk operiert. Etwas Ähnliches gilt für den politischen Kontext, auch wenn es hier leichter fällt, eine nationalstaatsspezifische Zivilgesellschaft, die stark durch politische Parteien geprägt ist, von der transnationalen Zivilgesellschaft zu unterscheiden. Und schließlich ist bezeichnend, dass die Globalisierungsdebatte vorwiegend in Hinblick auf den ökonomischen Kontext geführt wird, weil der Weltmarkt Normen setzt, die den einzelnen Sozialstaat überfordern und deren institutionelle Ordnung in zunehmendem Maße von internationalen Wirtschaftsabkommen und insbesondere von den Vertragswerken der WTO abhängen.7 Während Weltkultur, Weltöffentlichkeit und Weltmarkt also normative Makrokontexte bilden, die eine Einrichtung internationaler Institutionen vorantreiben, ist der juridische Kontext derjenige, den wir am Bestimmtesten dem Nationalstaat zuordnen können. Die Sanktionsmacht des Rechtsstaats ist streng auf seine Staatsgrenzen beschränkt, weswegen kosmopolitismuskritische Theoretiker wie Thomas Nagel dafür argumentieren, dass der Gerechtigkeitskontext durch politische Willensbildungsgemeinschaften begrenzt wird.8 Diese These wird dadurch gestützt, dass wir dem juridischen Kontext eine herausragende Rolle zugeschrieben haben, weil er als einziger die Exekution moralischer Grundrechte garantieren kann, die für eine selbstachtungsfunktionale Ausrichtung der einzelnen Gerechtigkeitskontexte ausschlaggebend sind. Aber mit der Globalisierung dieser Kontexte hat sich auch das Design des juridischen Kontexts erweitert; es sind internationale Gerichtshöfe entstanden, wir beraten über eine Europäische Verfassung und mit den Menschenrechten hat sich bereits eine virtuelle Weltverfassung verankert.9 Kurz, keiner
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6. Moralische Grundrechte
der untersuchten normativen Kontexte lässt sich vollständig auf den Nationalstaat beschränken. Mit dieser Beobachtung können wir nun zur moralphilosophischen Seite unseres Arguments übergehen. Wenn wir uns über unsere moralischen Pflichten im Umgang mit diesen normativen Kontexten Klarheit verschaffen wollen, ist es hilfreich, eine positive von einer negativen Pflicht zu unterscheiden. Wir stehen erstens in der positiven Pflicht, alle normativen Kontexte selbstachtungsfunktional einzurichten, und dies impliziert, dass es im Interesse unserer Selbstachtung ist, juridische Institutionen aufzubauen, deren Wirkungsbereich mit dem institutionellen Design und der Reichweite bestehender normativer Kontexte deckungsgleich ist. Andererseits stehen wir in der negativen Pflicht, keiner Person durch unsere direkte Mitwirkung in den normenregulierenden Institutionen in ihrer Selbstachtung zu schaden. Diesen zweiten Weg wählt der ‚institutionelle Kosmopolitismusȧ Thomas Pogges, der die Überzeugungskraft einer positiven Hilfspflicht nur sehr pessimistisch einschätzt und sich deshalb in seiner Argumentation auf die negative Pflicht beschränkt, niemand zu schaden.10 Schon dieser Pflicht, so Pogges Analyse, kommen die Repräsentanten reicher Länder nicht ausreichend nach. Vielmehr lässt sich zeigen, dass sie bestehende Institutionen und insbesondere die WTO dazu instrumentalisieren, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.11 Zuletzt, so Pogge, geht die Verantwortungskette für diese Ungerechtigkeit auf jede einzelne Person zurück, durch die die Repräsentanten dieser Institutionen autorisiert worden sind – in demokratischen Staaten also auf jeden einzelnen Bürger.12 Entsprechend ist eine Person moralisch dazu verpflichtet, über ihre Repräsentanten auf transnationalen Rechtsordnungen einzuwirken, sei es, dass sich diese Rechtsordnungen auf einzelne normative Kontexte beziehen – wie im Fall des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg oder des Schiedsgerichts der Internationalen Handelskammer in Paris –, sei es, dass es sich um eine alle normativen Kontexte umfassende Verrechtlichung internationaler Beziehungen handelt – wie im Fall des Internationalen Menschengerichtshofs oder im Europäischen Verfassungsprozess.13
6.6. Moralische Grundlagen eines subsidiären Kosmopolitismus
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Es hat bereits weitreichende Folgen, wenn wir allein auf die negative moralische Pflicht insistieren, der eigenen moralischen Verantwortung bei der Regulierung normativer Kontexte gerecht zu werden. Eine positive Pflicht reicht allerdings noch weiter, weil sie die selbstachtungsfunktionale Einrichtung aller normativen Kontexte auch dort einfordert, wo sich noch keine entsprechenden Institutionen etabliert haben. Während sich die negativen Pflichten direkt aus der Internationalisierung juridischer Ordnungen ergeben, ist die positive Pflicht, moralische Grundrechte in internationalen Rechtsordnungen zu implementieren, darauf bezogen, dass sich diese Kontexte selbst internationalisiert haben. Wenn es im fundamentalen Interesse einer sich selbst achtenden Person liegt, ein Leben ohne ungerechtfertigte Einschränkungen zu führen, dann liegt es auch in ihrem Interesse, dass der Geltungsbereich ihrer Grundrechte mit der fortschreitenden Entgrenzung normativer Kontexte Schritt hält. Der Zielpunkt positiver Pflichten liegt demnach ausschließlich darin, dass die Geltung moralischer Grundrechte koextensiv mit der Geltung kultureller, politischer, ökonomischer und juridischer Normen bleibt. Dies ist aber ein deutlich bescheidenerer und politisch realistischerer Anspruch als die einfache Übertragung eines moralischen Universalismus auf die Ebene des Politischen, wie sie Beitz und Pogge vertreten.14 Diese Überlegungen laufen auf einen, wie ich es in Abwandlung zu Otfried Höffe nenne, subsidiären Kosmopolitismus hinaus.15 In diesem Modell sind Nationalstaaten die herausragenden Akteure, um die sozialen Bedingungen der Selbstachtung und damit insbesondere die polizeiliche Durchsetzung allgemeiner Grundund Menschenrechte zu gewährleisten. Transnationale Einrichtungen greifen erst dort, wo eine Gesellschaft allein nicht in der Lage ist, die Grundrechte in bestimmten Kontexten durchzusetzen, oder auch dann, wenn die Selbstachtung ihrer Bürger in eklatanter Weise verletzt wird. In diesen Fällen ist es moralisch geboten, dass internationale Institutionen die Gewährleistungsfunktionen des Staates übernehmen. Es ist kein Zufall, dass Elemente dieser Internationalisierung einzelner Staatsaufgaben und Elemente einer am Menschenrecht orientierten transnationalen Rechtsprechung seit Jahrzehnten im Aufbau begriffen sind, um
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6. Moralische Grundrechte
die nationalstaatlichen Aufgaben zu flankieren. Diesen Aufbau zu unterstützen, ist insoweit eine positive moralische Pflicht, wie die Globalisierung normativer Kontexte voranschreitet und in unsere Lebenspläne eingreift. Ob sich aber der Weltmarkt, die Weltkultur, die politische Weltöffentlichkeit und das Weltstrafrecht in der Tat soweit entwickeln werden, dass sie eine institutionelle Infrastruktur ausbilden, die dann auch den Namen einer föderalen Weltrepublik verdient, bleibt allenfalls eine geschichtsphilosophische Prognose.
Anmerkungen 1.1. Der Präzedenzfall Onkel Tom 1. 2. 3.
4.
5.
6.
7.
Harriett Beecher-Stowe, Oncle Tom’s Cabin, Boston 1852. Die folgenden Zitate sind der deutschen Ausgabe (Onkel Toms Hütte, München 1964) entnommen. Zitiert nach Avishai Margalit, „Der Fall Onkel Tom“, in: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung (zit.: PW), Frankfurt am Main 1999, S. 53 ff. (Orig.: The Decent Society, Cambridge/Mass., 1996). Oft waren die politischen Forderungen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung stark religiös motiviert, entscheidend ist aber, dass sie als Rechtsforderungen eine allgemeine Zustimmungsfähigkeit beanspruchten. Zum Zusammenwirken von spiritueller Inspiration und Menschenrechten in den Auftritten Martin Luther Kings vgl. Volker Gerhardt, „Menschenrecht und Rhetorik“, in: Hauke Brunkhorst, Wolfgang R. Köhler und Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, S. 20-41, hier S. 29 ff. Dagegen betont Margalit, man könne Onkel Tom durchaus zugestehen, ein politisches Rechtsbewusstsein entwickelt zu haben. Immerhin ist der Sklavenstatus in den meisten Staaten der USA Mitte des 19. Jahrhunderts kein rechtsfreier Status, wenn Afroamerikanern auch das Grundrecht auf Freiheit und Gleichberechtigung vorenthalten wird und es ihnen lange Zeit nicht gestattet ist, vor dem Supreme Court zu klagen. Vgl. Margalit, PW, S. 54. In der Emanzipationsbewegung gibt es eine analoge Figur zu Onkel Tom, an der die Entmündigung von Frauen thematisiert wird. Ein ‚Stepford Wifeȧ versinnbildlicht eine Frau, die ihre untergeordnete Rolle hinnimmt und darin ihre moralische Selbstachtung veräußert. Vgl. dazu Catriona McKinnon, „Self-Respect and the Stepford Wifes“, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Bd. 97, Nr. 3 (1997), S. 325-330. Zwar sind ‚Selbstwertgefühlȧ und ‚Selbstachtungȧ vorher bereits normative Leitbegriffe der Europäischen Arbeiterbewegung, aber soweit ich sehen kann erhält das Selbstachtungskonzept erst in der Bürgerrechtsbewegung seinen spezifisch rechtsgebundenen Gehalt, der für unsere moralisch gelagerte Gerechtigkeitstheorie ausschlaggebend sein wird. Maßgebliche Lektüre wird Henry David Thoreaus kleine Schrift Civil Disobedience, die 1859 sieben Jahre nach Onkel Toms Hütte erscheint. Vgl. zum Zusammenhang von Selbstachtung und zivilem Ungehorsam auch Bernhard R. Boxhill, „Self-Respect and Protest“, in: Robin Dillon (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York/London 1995, S. 93-106.
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Anmerkungen
1.2. Kampf um Selbstachtung 1.
Václev Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Hamburg 1980 (tsch.: Moc Bezmocných, 1978). 2. Ein Beispiel für die permanent abverlangte Bestätigung der politischen Loyalität in totalitären Systemen ist der Hitlergruß, der die alltägliche Begrüßung zum Ritual der Ergebenheit umkodiert. Das Perfide daran ist, dass die wechselseitige Kontrolle in private Beziehungen getragen wird. Eine Verweigerung, ja bereits ein halbherziges Heben der Hand oder ein vernuscheltes Aussprechen des Grußes wirkt subversiv und kann unter Umständen existenzbedrohende Konsequenzen nach sich ziehen. 3. Ebd., S. 18. 4. Ebd., S. 28. 5. Ebd., S. 28 f. 6. Ebd. S. 12. 7. Ebd., S. 34. 8. Immanuel Kant Die Metaphysik der Sitten (MS), AA VI, S. 419. Alle Kantzitate folgen der Akademieausgabe und den üblichen Siglen (Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., zit. AA). Vgl. zum Begriff moralischer Integrität und einer insgesamt verwandten Argumentationsanlage: Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, Bielefeld 9. 2005. Im deutschen Sprachraum wird diese voluntaristische Position am deutlichsten von Ernst Tugendhat vertreten, der betont, dass sich eine Person zunächst als moralische Person verstehen wollen muss, bevor ihre moralische Identität eine normative Bedeutung für sie gewinnen kann. Vgl. insbesondere Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, S. 88 ff. Für eine grundlegendere Darstellung, wie der Wille sowohl mit der praktischen als auch mit der theoretischen Vernunft im Wechselverhältnis steht vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, vor allem S. 321 ff. und das Kapitel „Selbstverantwortung“, S. 273-310. 10. Für eine systematische Zurückweisung des Konsequentialismus vgl. Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 1993. 11. Zu den Vertretern einer starken Variante der Anerkennungstheorie zähle ich neben den Klassikern Hegel und George Herbert Mead vor allem Axel Honneth (Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1994) und Charles Taylor (Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993). 12. Von Seiten der kommunitaristischen Liberalismuskritik wird zwar auch der Vorwurf erhoben, dass es keine Autonomie ohne kulturellen Kontext (Charles Taylors ‚social thesisȧ) und kein sozial losgelöstes Selbst (Mike Sandels ‚unencumbered selfȧ) geben könne, aber diese Ansätze sind nicht sozialdeterministisch, sondern in einem rudimentären Sinne selbst liberal, da sie keine strenge soziale Determination behaupten, sondern lediglich auf die kulturellen Voraussetzungen aufmerksam machen, die ein autonomes Verhalten zu sich selbst erst ermöglichen.
Anmerkungen
173
13. Vgl. zur Differenz zwischen Selbstachtung und Anerkennung: Volker Gerhardt, „Kein Kampf um Anerkennung“, in: K. H. Bohrer und K. Scheel, Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Heft 645, Stuttgart 2003, 24-35; ders., „Anerkennung zwischen Tatsache und Norm“, in: H. H. Gander (Hg.), Anerkennung. Zu einer Kategorie wissenschaftlicher Praxis, Würzburg 2004, S. 13-32; und Henning Hahn (Hg.), Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005. 14. Charles Taylor, Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers, Cambridge 1985, 190 f. Zu Taylors ‚social thesis‘ vgl. auch Will Kymlicka, Contemporary Political Philosophy. An Introduction, Oxford 1990, S. 216 f. 15. „Selbstachtung“, so formuliert Bernd Ladwig diesen Gedanken, „ermöglicht das begründete Festhalten an einem Lebensentwurf gegen den Andrang äußerer und innerer Infragestellungen“. Bernd Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000, S. 99. 16. George Herbert Mead, Mind, Self, and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, hg. von Charles W. Morris, Chicago 1967, darin: „Fragments on Ethics“, S. 389.
2.1. Praktische Identitäten 1.
2.
3.
4.
5.
6.
John Rawls’ A Theory of Justice. Revised Edition (zit.: TJ), Oxford 1999. Für einen detaillierten Überblick über diesen Interpretationsstrang vgl. Thomas Steinfort, Selbstachtung im Wohlfahrtsstaat. Eine sozialethische Untersuchung zur Begründung und Bestimmung staatlicher Wohlfahrtsförderung, München 2001; sowie Frank Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt am Main 2000. Zur Übertragung des Rawls’schen Selbstachtungskonzepts auf die Multikulturalismusdebatte sind die Arbeiten Will Kymlickas hervorzuheben. Vgl. insbesondere das Kapitel „The Value of Cultural Membership“, in: Liberalism, Community, and Culture, Oxford 1991, S. 162-181. Einen hervorragenden Einstieg in die sogenannte ‚Equality-of-What?Debatteȧ bieten: Gerald A. Cohen, „Equality of What? On Welfare, Goods, and Capabilities“, in: Martha Nussbaum, Amartya Sen (Hg.), The Quality of Life, Oxford 1993, S. 9-29; sowie das erste Kapitel („Equality of What?“) in Amartya Sen, Equality Reexamined, Harvard University Press 1992, S. 12-30. Eine prägnante Bewertung dieser Debatte findet sich in Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt am Main 2004, S. 250 ff. Bernd Ladwig spricht ebenfalls von der „Ressource Selbstachtung“, die er als eine „Bedingung für das Erlangen und den Genuss von Lebensgütern“ definiert. Bernd Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000, S. 99 und S. 114 f. Der Begriff der praktischen Identität ist eine Anleihe an Christine Korsgaard, die eine „practical identity“ als eine „description under which you value yourself“ definiert. Eine praktische Identität bezeichnet eine Selbstinterpretation, aus der sich spezifische „reasons and obligations“ generieren. Vgl Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 100 ff. Ernst Tugendhat, a.a.O. (1993), S. 97.
174
Anmerkungen
2.2. Normative Kontexte 1.
2.
3.
4. 5. 6.
7.
Vgl. Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt am Main 1994, insbesondere 5.2. „Kontexte der Rechtfertigung“ und 5.4. „Kontexte der Anerkennung“, S. 362-412 und S. 413-437. Dass die Unterscheidung zwischen sozialpsychologischer Selbstschätzung (self-esteem) und moralischer Selbstachtung (self-respect) inzwischen einschlägig geworden ist, ist vor allem David Sachs zuzuschreiben („How to Distinguish Self-Respect from Self-Esteem“, in: Philosophy and Public Affairs, 10, 1981, 346-360). Vgl. auch den prägnanten Überblick bei Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, Oxford 1983, darin „Self-Respect and Self-Esteem“, S. 272-280; sowie Stephen J Massey, „Is Self-Respect a Moral or a Psychological Concept?“, in: Dillon, Robin S. (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York 1995, S. 198-217; Robin Dillon, „SelfRespect: Moral, Emotional, Political“, in: International Journal of Ethics, Bd. 107, H. 2, 1997, S. 226-249; Pauline Chazan: „Self-Esteem, Self-Respect, and Love of Self: Ways of Valuing the Self“, in: Philosophia: Philosophical Quarterly of Israel, Bd. 26, Nr. 1/2, 1998, S. 41-65; sowie die entsprechenden Passagen bei Margalit („Selbstachtung und Selbstwertgefühl“, PW, S. 64 ff.) und bei Bernd Ladwig (Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000, insbesondere der Abschnitt „Selbstachtung“, S. 97-99). Die wichtigsten Passagen zum ethischen Kontext der Gerechtigkeit finden sich in Rainer Forst, a.a.O., S. 341-344 und S. 388-395. Wie bei Forst hat sich auch bei anderen von mir behandelten Autoren die von Rawls eingeführte Unterscheidung zwischen einer rechtsgebundenen Moral und einer an der Idee des Guten orientierten Ethik durchgesetzt, weswegen ich diese Sprachregelung übernehme. Ebd., S. 420 f. und S. 430 ff. Ebd., S. 400-402. Forst selbst übernimmt dieses Kriterium von Amartya Sen, der es wiederum bei Adam Smith entlehnt: „Es geht darum, wie Sen mit Adam Smith sagt, ‚not being ashamed to appear in publicȧ – das heißt, die Mittel zu einem Leben zu haben, das nach den Standards der jeweiligen Gesellschaft eine Person nicht stigmatisiert.“ Ebd., S. 225. Vgl. Amartya Sen, The Standard of Living, Cambridge University Press, Cambridge 1987, S. 17. Siehe hierzu auch Bernard Williams, Shame and Necessity (University of California Press, London 1993), worin Williams den Begriff der politischen Schamgesellschaft entwickelt; sowie die Arbeiten Martha Nussbaums, insbesondere: Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law, Princeton University Press, Princeton and Oxford 2004; und „Shame, Seperateness, and Political Unity“, in: Amélie Oksenberg Rorty, Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley 1980, S. 395-436. Forst betrachtet die moralische Identität zwar als einen gleichberechtigten Kontext der Gerechtigkeit (ebd., S. 263-265 und S. 433-435), sieht aber auch die tiefere Bedeutung der moralischen Selbstachtung für das Selbstbewusstsein einer Person: „Eine Person gibt ihre Selbstachtung auf, wenn sie den Anspruch auf Selbstbestimmung aufgibt, ihren Anspruch auf körperliche
Anmerkungen
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Unversehrtheit und auf ein Leben, das es wert ist, ‚meinȧ selbstverantwortetes Leben genannt zu werden. Während der Verlust des Selbstwertgefühls dem Urteil eines Versagens, gemessen an einem bestimmten Standard, entspringt, liegt der Verlust der moralischen Selbstachtung tiefer. Denn die Wahrnehmung eines ethischen Versagens beruht auf der Selbstachtung, dass man in der Lage gewesen wäre, dem geforderten Wert zu entsprechen (oder es hätte sein müssen), der Verlust der Selbstachtung jedoch stellt selbst die Voraussetzung solcher Überlegung in Frage: das Vertrauen in menschliche Fähigkeiten überhaupt ist gestört. Seine Selbstachtung zu verlieren heißt, nicht mehr den Anspruch zu erheben, als sich selbst bestimmende Person anerkannt zu werden – nicht mehr zu beanspruchen, als moralische Instanz anerkannt zu sein, vor der andere sich rechtfertigen müssen.“ (S. 434)
2.3. Juridische, politische, kulturelle und ökonomische Identitäten 1.
2.
3.
4.
Eine umfängliche Kritik an dieser liberalen Idee vertritt Chandran Kukathas (A Liberal Archipelago. A Theory of Diversity and Freedom, Oxford 2003), der auf die erheblichen sozialen Kosten eines kulturellen Ausstiegs verweist. Dieses Problem wird diskutiert in: Dagmar Borchers, „Über Aus- und Einsteiger. Der Ausstieg aus illiberalen Gruppen als Einstieg in die liberale Utopie einer pluralistischen Gesellschaft“, in: Günter Abel (Hg.), Kreativität. Sektionsbeiträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, Band 1, Berlin 2005, S. 173-184. Später werden wir einige der dringendsten Fragen diskutieren, die dieser Gedanke für eine Vielzahl politischer Probleme aufwirft, wie das Asyl- und Emigrationsrecht, den Umgang mit Sekten und engen Glaubensgemeinschaften oder die Gewährung bestimmter Minderheitenrechte (s. 6.4.). Es ist bereits vor dieser Erörterung absehbar, dass die moralische Forderung einer Ausstiegsoption ein starkes Argument für einen kulturellen Pluralismus bereitstellt, worunter eine Vielzahl gewachsener Kulturen und Subkulturen zu verstehen ist, unter denen eine Person ihre Zugehörigkeit wählen und die sie ihren Bedürfnissen entsprechend mitgestalten kann. Generell können wir Scham als ein zur moralischen Selbstachtung komplementäres Gefühl definieren. Im politischen Kontext erfährt eine Person Scham, wenn ihre politische Ohnmacht öffentlich bloßgestellt wird. Bekannte Beispiele sind Schilder, die Afroamerikanern Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln verwehrt haben, oder der Judenstern, der das Stigma der Entrechtung öffentlich zur Schau stellte. Das Beschämende besteht hier darin, dass der öffentliche Raum insgesamt zu einem Ort der Demütigung geworden ist. Darin gelingt es der gedemütigten Person nicht mehr, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, wodurch sie die für den politischen Kontext relevante Möglichkeit zur Selbstbestimmung einbüßt. Aber auch wenn es einer religiösen Person, wie Onkel Tom, gelingen kann, ihre Identität an der Idee eines moralisch verfassten Jenseits zu stabilisieren, ist es ein Missverständnis, diese Gerechtigkeitsutopie als apolitisch einzuordnen. Auch die religiös getragene Vorstellung eines gerecht verfassten Himmelreichs bewirkt eine Normeninterferenz, aus der die Berechtigung normativer Strukturen in Frage gestellt wird. Deswegen löst Toms Demut
176
Anmerkungen bei seinen Aufsehern Feindseligkeit aus und deswegen versuchen totalitäre Staaten in der Regel, die Kontrolle über religiöse Institutionen zu gewinnen.
2.4. Moralische Selbstvergewisserung 1.
2.
3.
4.
Es versteht sich von selbst, dass diese Liste keine Vollständigkeit beansprucht. Ich bin aber durchaus der Überzeugung, dass sich aus dem Selbstachtungsprinzip für jeden weiteren normativen Kontext ein moralisch gerechtfertigtes Grundrecht konstruieren ließe. Zur Rationalität des moralischen Gefühls der Selbstachtung vgl. Avishai Margalit, PW, S. 23; im Anschluss an Margalit bestimmt Julian NidaRümelin die Menschenwürde an einem rationalen Begriff der Selbstachtung. Vgl. Julian Nida-Rümelin, „Menschenwürde und Selbstachtung“, in: Henning Hahn (Hg.), Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005, S. 86-103; und ders., Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S. 127-160. Die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs lautet entsprechend: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (AA IV, GMS, S. 429) In den Worten Volker Gerhardts: „Die autonome Person gibt sich selbst eine Verfassung. Das ist … eine selbst wieder Verbindlichkeit erzeugende Form. Der immer schon präskriptive Selbstbegriff der Person erhält nun ausdrücklich den Status einer Norm. Es ist dies aber eine Norm, die strikte Geltung nur innerhalb der Grenzen des individuellen Wollens beanspruchen kann.“ Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 409. Vgl. zur Analogie der politischen Verfassung und der Selbstkonstitution bei Gerhardt auch das Kapitel „Person als Institution“ (ebd., S. 337-342); sowie ders., Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 157-159; und ders., „Person als Institution“, in: Rüdiger Bubner und Walter Mesch (Hg.), Die Weltgeschichte - Das Weltgericht?, Stuttgart 2001, 244-260.
2.5. Auf dem Weg zu einer kontextsensiblen Gerechtigkeitstheorie 1.
Thomas Nagel, „The Problem of Global Justice“, in: Philosophy and Public Affairs, Bd. 33, Nr. 2, 2005, 113-147, hier S. 118 ff.
Anmerkungen
177
3.1. Praktische Selbstverhältnisse 1.
2.
3.
4. 5. 6.
7.
8.
Dieter Sturma, Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität, Paderborn 1997. Eine ausführliche Untersuchung moralischer Selbstverhältnisse gibt Dieter Henrich, Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 656. Sturma selbst entnimmt diese Definition Harry Frankfurts einschlägigem Willensfreiheitsaufsatz, in dem, so Sturma, „Selbstbewertungen als die entscheidende diskriminatorische Fähigkeit von Personen herausgestellt“ werden (S. 202). Vgl. Harry Frankfurt: „The Freedom of the Will and the Concept of a Person“, in: ders., The Importance of What We Care About: Philosophical Essays, Cambridge 1988; dt.: „Willensfreiheit und der Begriff der Person“, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein 1987, S. 287-302. „In folgenreichen Entscheidungssituationen“, so Sturma, „ist Selbstachtung der tiefere moralische und existentielle Grund für die Einsicht, die Grenze der Zumutungen sich selbst gegenüber erreicht zu haben. Personen sind imstande, in der Alltagserfahrung Klarheit darüber zu gewinnen – oftmals ohne die Gründe dafür im Einzelnen benennen zu können –, dass bestimmte Handlungen nur unter Verlust des Selbstwertgefühls begangen oder unterlassen werden können.“ Vgl. insbesondere das Kapitel „Der Schritt des Selbst zum Anderen (2): Selbstinteresse und Selbstachtung“, a.a.O., S. 316347, hier S. 346. Vgl. Kap. 2.2., Fn 8. Stephen Darwall hat dafür die Bezeichnung recognition self-respect eingeführt. Stephen Darwall, „Two Kinds of Respect“, in: Ethics, Bd. 88, 1977, S. 34-49. Eine sinnvolle Unterteilung schlägt beispielsweise Axel Honneths Anerkennungstheorie vor, die drei Ebenen der Selbstanerkennung bzw. Selbstschätzung einführt: die Liebe in familiären Beziehungen, die wechselseitige Achtung in Rechtsbeziehungen und die Wertschätzung in öffentlichen Beziehungen. A.a.O., S. 114-147 (s. auch 3.2.). In seiner Gegenüberstellung von Selbstachtung und Selbstschätzung hat Michael Walzer diese Unterschiede ausführlich erörtert. Den wichtigsten Grund für die Unterscheidung von Selbstachtung (self-respect) und Selbstschätzung (self-esteem) sieht Walzer zurecht in einem drohenden „circle in recognition“ (S. 272). So ist es zwar ein „old argument that conceptions of the self are nothing but internalized social judgments“ (ebd.), diese These kann aber eben nur schlecht solche Fälle erklären, in denen eine Person ihre Selbstschätzung gegen die öffentliche Geringschätzung und ihre Selbstachtung gegen eine öffentliche Missachtung bewahrt. Dagegen ist das rationale Selbstachtungskonzept viel geeigneter, um zu erklären, warum wir auch dann noch über eine Art des Selbstwertgefühls verfügen, wenn uns jegliche Anerkennung versagt bleibt. Vgl. Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, Oxford 1983, 272-280. Vgl. dazu auch Sturma, a.a.O., S. 354: „Selbstachtung ist ein Selbstverhältnis, das unabhängig von charakterlichen und intellektuellen Dispositionen die eigene moralische Präsenz wie die anderer Personen anerkennt.“
178 9.
Anmerkungen Die breit geführte Diskussion um Rawls’ Gerechtigkeitstheorie hat selbst maßgeblich dazu beigetragen, dass sich inzwischen eine streng differenzierende Sprachregelung etabliert hat. Aber auch wenn die technische Distinktion zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung auf wichtige Unterschiede aufmerksam macht, hat sie den Nachteil, dass sie uns weder eine phänomengerechte Beschreibung praktischer Selbstverhältnisse anbietet noch der Aufgabe gerecht wird, eine Verbindung zwischen den moralischen und den sozialen Selbstverhältnissen einer Person herzustellen. In diesem Sinne werde ich Rawls’ Theorie der Selbstachtung später als den gezielten Versuch interpretieren, die vordergründige Unterscheidung zwischen sozialem und moralischem Selbstverhältnis in einer Beschreibung zusammenzuführen (s. 5.3). In vielen Arbeiten zu John Rawls’ A Theory of Justice ist dagegen kritisiert worden, dass er Selbstachtung und Selbstschätzung weitestgehend synonym verwendet. Rawls trägt diese Unterscheidung erst in „Gerechtigkeit als Fairness: politisch und nicht metaphysisch“ nach (in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Politische Aufsätze 1978-1989, hg. von W. Hinsch, Frankfurt/Main 1992, S. 291, Fn 34). Neben den genannten Stellen bei Sachs (1981), Walzer (1983) und Steinforth (2001) findet sich diese Kritik auch bei Stephen J. Massey: „Is Self-Respect a Moral or a Psychological Concept?“, in: Dillon, Robin S. (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York 1995, S. 198-217.
3.2. Zur Ethik der Selbstschätzung 1.
2. 3.
4. 5.
Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung (zit.: PW), Frankfurt am Main 1999. Margalit selbst leitet diese Unterteilung explizit von David Sachs ab („How to Distinguish Self-Respect from Self-Esteem“, a.a.O.). PW, S. 64. Darauf, dass die Selbstschätzung einer Person vom Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit abhängt, hat George Herbert Mead bereits in Mind, Self, and Society hingewiesen. Allerdings bezeichnet er hier das Gefühl, besser als andere zu sein, als Selbstachtung (self-respect) statt in unserer Begriffssetzung als Selbstschätzung (self-esteem): „We are able to hold on to ourselves in little things; in the way in which we feel ourselves to be a little superior. If we find ourselves defeated at some point we take refuge in feeling that somebody else is not as good as we are. Any person can find this little supports for what is called his self-respect.“ (A.a.O., S. 315) Die grundlegenden Ideen zum Verhältnis des sozialen Selbst (social Me) und Formen der Selbstanerkennung (self-appreciation) finden sich bei Willliam James, der die Gleichung aufstellt: „Self-Esteem = Success : Pretension“. In: Ders., Psychology. Briefer Discourse, Toronto 1962, S. 199. Michael Walzer, a.a.O., S. 273 f. Wer dagegen so etwas wie eine Gleichheit emotionaler Wertschätzungen sicherstellen wollte, müsste sich mit einer zentralen Regulation von Gefühlen befassen; ein Projekt, das notwendig ins Totalitäre abzudriften droht.
Anmerkungen 6.
7. 8.
9. 10. 11.
12. 13.
179
Eine entsprechende Kritik übt Nancy Fraser an Axel Honneths Anerkennungstheorie, in der die Identitätsbildung einer Person von ihrer sozialen Wertschätzung abhängig gemacht wird. Diesbezüglich sei es unsinnig zu sagen, dass eine Person ein Recht auf dieses psychologische Gefühl habe (Nancy Fraser: „Soziale Ungleichheit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung“, in: Dies. und Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main 1993, S. 13-128, hier S. 48 f.). Demgegenüber vertritt Fraser ein gerechtigkeitstheoretisches Statuskonzept, aus dem sie selbst weitreichende identitätspolitische Maßnahmen rechtfertigt. Vgl. ebd., S. 46-69 und „After the Family Wage. A Postindustrial Thought Experiment“, in: Dies., Justice Interruptus. Critical Reflections on the ‚Postsocialistȧ Condition, New York 1997, S. 4168. Dieses Argument vertritt vor allem Robert Nozick (s. 5.2.), dessen Libertarismus genau dieser komparative und kompetitive Begriff der Selbstschätzung zugrunde liegt (Anarchy, State, and Utopia, Oxford 1974, S. 244 ff.). Die deutschen Übersetzungen „Seelengröße“ (Rolfes), „Hochsinnigkeit“ (Dirlmeier) oder „Großgesinntheit“ (Gigon) sind hier wenig aufschlussreich. Vgl. dazu Eckart Schütrumpf, “Magnanimity, Megalopsychia and the System of Aristotle’s Ethics”, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 71, 1989, S. 10-22; und den Kommentar zur megalopsychia von Franz Dirlmeier in Aristoteles: Nikomachische Ethik in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Berlin 1983, S. 370 f. Zum Zusammenhang zwischen Selbstachtung und megalopsychia vgl. Robin S. Dillon (1995), S. 7-9; Thomas Steinforth, (2001), S. 74-85; und Kritjân Kristjânsson, „Self-Respect, Megalopsychia, and Moral Education“, in: Journal of Moral Education, Bd. 27, 1998, S. 5-19. In der Nikomachischen Ethik erklärt Aristoteles, dass diejenigen, die über ein angemessenes Urteil ihres Wertes verfügen, darin die Krone der Tugendhaftigkeit besitzen (NE, 1124a), und bezeichnet diese Tugend als megalopsychia. Ehre ist, wie Aristoteles feststellt, der Preis der Tugend (tês aretês gar athlon hê timê, NE 1123b). In der Nikomachischen Ethik stellt Aristoteles fest, dass die megalopsychia die Tugenden erhebt und selbst nicht ohne die Tugenden zur Entwicklung kommen kann (NE 1124a). Zudem präzisiert er in der Eudemischen Ethik, dass die Tugend der megalopsychia in allen anderen Tugenden enthalten ist (EE 1232a), und konstatiert ferner, dass der megalopsychia „alle Tugenden folgen oder dass sie allen Tugenden folgt“ (EE 1232a). Vgl. Aristoteles: Eudemische Ethik in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Bd. 7, Berlin 1984 (4. Aufl.). Vgl. dazu auch EE 1232b. Die megalopsychia hat ihr maßgebliches Ziel nicht in der äußeren Anerkennung, auch nicht in einem inneren ‚guten Gefühlȧ für die eigene Moralität, sondern, wie jede Charaktertugend, im guten Handeln (eu prattein), im guten Leben (eu zen) und im Glück (eudaimonia). Über die tugendhafte Affektbeherrschung hinaus gehören zu einem guten Leben, so Aristoteles in der Rhetorik, noch weitere soziale Faktoren (vgl. Rhetorik, 1360b19-24). Ausdrücklich weist er darum die stoische Position zurück, wonach der Tugendhafte selbst unter der Folter als glücklich bezeichnet werden könne (NE 1153).
180
Anmerkungen
14. Otfried Höffe weist deswegen darauf hin, dass „im Hintergrund“ der Charakterskizze des megalopsychos „das Standesbewusstsein einer Aristokratie“ steht, dass aber nun „an die Stelle eines Erbadels … gewissermaßen der moralische Adel“ tritt. Vgl. Otfried Höffe, Aristoteles, München ²1999, S. 233. 15. In Peri aretôn kai kakiôn wird sogar angedeutet, dass sich der megalopsychos ganz von sozialer Ehre unabhängig machen kann. Sein Selbstwertgefühl ist hier so eigenständig, dass er auch Schicksalsschläge und mangelnde Ehrerweisung erträgt, solange er sich seiner eigenen Redlichkeit und Wahrhaftigkeit (haplotes kai aletheia) oder – in unserer Diktion – seiner moralischen Integrität gewiss ist. Vgl. Aristoteles, Peri aretôn kai kakiôn (De Virtutibus et Vitiis Libellus), 1250b. Rackham führt allerdings viele Evidenzen dafür an, dass dieser Text ein späteres Produkt der peripatetischen Schule ist. Vgl. Aristoteles, „Virtue and Vices“, in: Aristotle in Twenty-Three Volumes, 20, eingeleitet und übersetzt von Harris Rackham, Harvard University Press, Cambridge/Mass., 1935, S. 484-505, hier S. 485 f. 16. Vgl. für das Folgende: David Hume, A Treatise of Human Nature, edited by L. A. Selby-Bigge. Oxford: Oxford University Press, ²1978 (Originalausgabe 1739), III. Sect. 3, S. 592-602. Die neben der greatness of mind auf der lateinischen Übersetzung von megalopsychia beruhende magnanimity fungiert bei Hume allerdings nur als eine Unterart von self-esteem. Magnanimity ist ein heroisches Selbstbewusstsein, dessen Nutzen nicht in einem angenehmen Leben, sondern in der Verehrung post mortem besteht (ebd., S. 599 f.). 17. Ebd., S. 597 f. Einer eigenständigen Selbstbewertung steht Hume insbesondere deswegen skeptisch gegenüber, weil sie natürlicherweise dazu neigt, in Selbstliebe (self-love, self-applause), Eitelkeit (vanity) und Selbstüberschätzung (over-value oneself) auszuarten. Deswegen kann es angebracht sein, seinen Stolz in der Öffentlichkeit verborgen (well concealed) zu halten, selbst dann, wenn er, wie Hume an anderer Stelle herausstellt, ein wohlbegründeter Stolz (well establish’d pride) ist (ebd., S. 599). 18. Wie weit sich das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung in einer sozialen Kontrolle des Verhaltens einzelner Personen auswirkt, wird klar, wenn Hume feststellt „that the world naturally esteems a well-regulated pride, which secretly animates our conduct“ (ebd., S. 600). 19. Ebd., S. 598 f. 20. Diesen universalistischen Aspekt in Humes Denken hebt vor allem Robin Dillon hervor: „As social beings, we sustain our pride only if we look at ourselves through other's eyes as well as our own, and how we appear in their eyes matters as much if not more to us than how we appear in our own. This facility in shifting perspectives also underlies the inevitable metarmorphosis of ‚socialȧ pride into a moral passion.“ (Dillon, a.a.O., S. 12) 21. David Hume, Enquiry Concerning the Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, hg. von L.A. Selby-Bigge, Oxford: Oxford University Press, 1972 (1751), S. 276. 22. Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments, hg. von D. D. Raphael und A. L. Macfie, Oxford 1976 (Originalausgabe 1759). Meine Zusammenfassung bezieht sich insbesondere auf die Kapitel III („Of the Foundation of our Judgments concerning our own Sentiments and Conduct, and of the Sense of
Anmerkungen
23.
24. 25.
26.
27. 28. 29. 30. 31. 32.
181
Duty“) und IV („Of the Effect of Utility upon the Sentiments of Approbation“), S. 109-193. Deswegen greift beispielsweise auch Ernst Tugendhat auf Adam Smiths Konstruktion des unparteilichen Beobachters zurück, wenn er genau unser Problem adressiert, dass sich Bewertungsmaßstäbe einerseits genuin auf die affirmativen Einstellungen der Mitmenschen beziehen, dass eine selbstbestimmte und moralisch konstituierte Person aber andererseits über eine eigenständige Bewertungsperspektive verfügen muss (Tugendhat (1983), a.a.O., S. 282-309). Die Tugend der Selbstbeherrschung ist „not only itself a great virtue, but from it all other virtues seem to derive their principle lustre“. (VI, iii, 11) „To act according to the dictates of prudence, of justice, and proper beneficence, seems to have no great merit where there is no temptation to do otherwise. But to act with cool deliberation in the midst of the greatest dangers and difficulties; to observe religiously the sacred rules of justice in spite both of the greatest interests which might tempt, and the greatest injuries which might provoke us to violate them […]; is the character of the most exalted wisdom and virtue.“ (Smith, VI.iii.11) Vgl. dazu Christian Strub, „Gastfreundschaft für den freundlichen Fremden. Selbstschätzung im Ausgang von Adam Smiths Konzept des ‚unparteiischen Zuschauersȧ“: „Die Schätzung, die wir von einem solchen ‚unparteiischen Zuschauer’ erfahren, ist eine erdachte Schätzung, die zur Selbstverteidigung gegen parteiische Urteile anderer Personen dient, ein erdachter Notbehelf, der die von anderen Personen faktisch verweigerte Schätzung ersetzt.“ (in: Henning Hahn, a.a.O., S. 20-49, hier: S. 37.) Für eine weitergehende Interpretation der Figur und Funktion des unparteiischen Zuschauers vgl. Strub, ebd., S. 24 ff.; und Tugendhat (1993), S. 284 ff. „Der unparteiliche Betrachter“, so Tugendhaft dazu, „ist die regulative Idee des Billigens selbst“ (a.a.O., S. 313). Ebd., S. 312. Vgl. dazu Tugendhat, ebd., S. 313; und Smith, III.2.4: „The most sincere praise can give little pleasure when it cannot be considered as some sort of proof of praise-worthiness.“ Mead, George Herbert, Mind, Self, and Society. The Standpoint of a Social Behaviorist, hg. von Charles W. Morris, Chicago 1967; darin vor allem: „Fragments on Ethics“, S. 379-389. Das nicht nur für meine Meadinterpretation, sondern für die Theorie der Selbstachtung insgesamt richtungsweisende Fragment habe ich bereits in 1.2. angeführt: „A man has to keep his self-respect, and it may be that he has to fly in the face of the whole community in preserving this self-respect. But he does that from the point of view of what he considers a higher and better society than that which exists. Both of these are essential to moral conduct: that there should be a social organisation and that the individual should maintain himself. The method for taking into account all of these interests which make up society on the one hand and the individual on the other is the method of morality.“ (Ebd., „Fragments on Ethics“, S. 389)
182
Anmerkungen
33. Die folgende Zusammenfassung basiert weitgehend auf den Abschnitten 22. („The ‚Iȧ and the ‚Meȧ“) und 27. („The Contribution of the ‚Meȧ and the ‚Iȧ“), ebd., S. 173-178 und 209-214. 34. Wie Hans Joas feststellt, bezieht sich das Me „to the mental presentation of the image that the other has of me, or, at a primitive level, to my internalisation of his expectations of me.“ (George Herbert Mead. A Contemporary ReExamination of his Thought, MIT Press 1985, S. 118) 35. Ein moralisches Problem entsteht allerdings dann, wenn das I ungerichtete Impulse auslöst, die auf keine Anerkennung in einer sozialen Praxis stoßen. Die Liebe zu einem gleichgeschlechtlichen Partner kann so einen Fall bilden, wenn es einer Person entweder gar nicht erst möglich ist, ihren Impuls als eine homosexuelle Neigung zu interpretieren, oder wenn sie in einer Gesellschaft lebt, in der Homosexelle diskriminiert werden und die daher keine sozial normierten Rollenmodelle und öffentlich anerkannten Praktiken für Homosexuelle bereitstellt. Wenn sich, wie in diesem Fall, das I nicht mit dem Me vermitteln lässt, gerät die praktische Identität als solche in Gefahr, und genau diese Gefährdung der praktischen Identität ist das moralische Grundproblem, um das es uns geht. 36. Vgl. dazu vor allem den Abschnitt 20. („Play the Game and the Generalized Other“): „The organized community or social group which gives to the individual the unity of self may be called ‚the generalised otherȧ.“ A.a.O., S. 152-164, hier S. 154. 37. Eine weitere bemerkenswerte Passage Meads bringt diesen Zusammenhang von Selbstvergewisserung, Widerstand und Gerechtigkeitsvorstellung auf den Punkt: „At times it is the response of the ego or ‚Iȧ to a situation, the way in which one expresses himself, that brings to one a feeling of prime importance. One now asserts himself against a certain situation, and the emphasis is on the response. The demand is freedom from conventions, from given laws. Of course such a situation is only possible where the individual appeals, so to speak, from a narrow and restricted community to a larger one, that is, larger in the logical sense of having rights which are not so restricted. One appeals from fixed conventions in which the rights shall be publicly recognized, and one appeals to others on the assumption that there is a group of organized others that answer to one’s appeal – even if the appeal be made to posterity. In that case there is the attitude of the ‘I’ as over against the ‚Meȧ.“ A.a.O., S. 199. 38. Ernst Tugendhat hebt in seiner Meadinterpretation ebenfalls hervor, dass das I nicht nur als Reaktion auf das soziale Me angesehen werden kann, sondern es die Alternative hat, sich im Kampf um seine Selbstbehauptung dem Me zu verweigern: „Mit ‚Selbstbehauptungȧ wird“, so Tugendhat, „die Möglichkeit angesprochen, dem allgemein Anerkannten eine Absage zu erteilen“, und zwar notfalls mit Hilfe der Konstruktion einer vernünftigeren Gesellschaft, aus der „das Selbst eine Stimme gewinnen kann“, um die Einstellungen ihrer Gemeinschaft zu ändern. Ernst Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main 1979, S. 279 ff. 39. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1994.
Anmerkungen
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40. Ebd., S. 8. 41. Diese Dreiteilung orientiert sich an Hegels Rechtsphilosophie. Hegels System der Sittlichkeit setzt sich darin aus dem „affektiven Anerkennungsverhältnis der Familie“, dem „kognitiv-formellen Anerkennungsverhältnis des Rechts“ und dem „emotional aufgeklärten Anerkennungsverhältnis des Staates“ zusammen (Honneth, a.a.O., S. 45). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien zur Philosophie des Rechts (1820), „Dritter Teil: Die Sittlichkeit“, Hamburg 1995 (5. neu durchgesehene Aufl.), S. 142-297 (Originalausgabe S. 156-355). 42. Ebd., S. 162f. 43. Ebd., S. 177. 44. Zur vollen Anerkennung seiner selbst als Rechtsperson und damit zur Aufrechterhaltung seiner Selbstachtung ist die bloße Garantie negativer Freiheitsrechte auch für Honneth unzureichend, weil sich eine Person erst dann als ein vollwertiges Mitglied eines politischen Gemeinwesens erfährt, wenn ihr auch bestimmte politische Partizipations- und Sozialrechte eingeräumt werden. Der Kampf um rechtliche Anerkennung und damit der Kampf um die eigene Selbstachtung erstrecken sich demnach über die Freiheitssphäre des Einzelnen hinaus und betreffen die „Chance zur Partizipation am öffentlichen Willensbildungsprozess“ sowie „ein gewisses Maß an sozialem Lebensstandard“ (S. 190). 45. Ebd., S. 217.
3.3. Zur Moral der Selbstachtung 1.
2.
Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung (zit. PW), Frankfurt am Main 1999, S. 23 ff. Vgl. zu dieser Diskussion auch Stephen J. Massey, „Is Self-Respect a Moral or a Psychological Concept?“, in: International Journal of Ethics, Bd. 93, Nr. 22, S. 246-261. Vgl. dazu auch Julian Nida-Rümelin: „Menschenwürde und Selbstachtung“, in: Henning Hahn, a.a.O., S. 86-103.
3.3.1. Selbstachtung und moralische Selbstbestimmung 1.
2.
Margalit nennt die „Fähigkeit, sich Ziele zu setzen“, „die Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben“, „die Fähigkeit der Selbstvervollkommnung“, „die Fähigkeit, moralisch zu handeln“, die Fähigkeit, „die Naturkausalität zu transzendieren“ und insgesamt die Eigenschaft, „ein vernünftiges Wesen zu sein“. (PW, S. 83 f.) Wenn man zudem Selbstachtung und Würde in einen konstitutiven Zusammenhang stellt, hätte eine von Person zu Person divergierende Selbstachtung den allen Intuitionen widerstrebenden Effekt, dass sich nicht mehr alle Menschen in ihrer Würde gleichen. Aus dieser Befürchtung resultierte die überzogene Kritik gegen den Versuch Julian Nida-Rümelins, im Anschluss an Margalit den Begriff der Selbstachtung als Kriterium des Würdebegriffs einzuführen. Dokumentiert wird diese Debatte in: Julian Nida-
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3.
4.
5.
6.
7.
Anmerkungen Rümelin, „Bioethik und Menschenwürde: Dokumentation einer Debatte“, in: Ders., Ethische Essays, Frankfurt am Main 2002, S. 405-469. Die typische Hilfskonstruktion des Kantianers besteht laut Margalit dann darin, dass er zwar Abstufungen einräumt, trotzdem aber an einem „Mindestmaß dieser Eigenschaften“ festhält, „das allen Menschen grundlegende Achtung sichert“. „Was über dieses Mindestmaß hinausgeht“, so Margalit weiter, „ist Grundlage der sozialen Wertschätzung, die sich danach richtet, in welchem Maße und wie stark die betreffende Eigenschaft beim jeweiligen Individuum vorhanden ist“. (PW, S. 86) Volker Gerhardt beschreibt den Akt moralischer Selbstbestimmung deswegen als einen ganz natürlichen Ausdruck unserer „praktizierten Selbständigkeit“. Demnach resultieren moralische Forderungen sowohl aus dem eigenen „Selbstverständnis“ als auch aus den Ansprüchen anderer und führen zu einer dem Selbstverständnis und der jeweiligen Situation angemessenen Handlung, die genauso gut eine Alltagsverrichtung wie eine heroische Selbstaufopferung sein kann: „In allen diesen Fällen bin ich selbst berührt und stehe unter dem Anspruch, dass von mir aus (also aus eigener Einsicht) etwas getan werden muss – ganz gleich, ob dies dann in einer Anweisung an andere, in einem einfachen Vorsatz, einer allgemeinen Aufforderung, einer einfachen Tat oder im eigenen Opfer besteht. Ich fühle mich als ganze Person gefordert und muss infolgedessen aus Selbstachtung etwas tun.“ (Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individuaität, Stuttgart 1999, S. 101 f.) Auf dieser Ebene ist es auch unproblematisch einzuräumen, dass Personen faktisch überaus häufig aus heteronomen Gründen handeln und sich irrational verhalten. Ihre Selbstachtung bleibt solange davon unberührt, wie sie selbst ihr Leben noch irgendwie als eine rationale Weise der Selbstbestimmung verstehen können. Erst an dem Punkt, an dem es einer Person grundsätzlich nicht mehr möglich ist, ihr Leben als selbstbestimmtes Leben zu verstehen, verliert sie die Achtung vor sich selbst. Dieser Punkt ist etwa dann erreicht, wenn sich eine Person ganz in ein Abhängigkeitsverhältnis fügt oder sich durchgehend irrational verhält. Neben dem Leben in einem autototalen Unrechtsregime ist hier vor allem an pathologische Fälle zu denken, an ein Ausgeliefertsein an bestimmte Phobien und Manien, an eine den Willen beherrschende Sucht sowie an Demenz oder an komatöse Patienten, die auch in einem rudimentären Sinne nicht mehr dazu in der Lage sind, sich selbst zu bestimmen. „Noch die übelsten Verbrecher“, so Margalit, „verdienen Achtung allein aufgrund der Möglichkeit, dass sie ihr vergangenes Leben radikal in Frage stellen und den Rest ihres Lebens auf würdige Weise verbringen können“ (PW, S. 92). Vgl. Ernst Tugendhat, „Retraktationen“, in: Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 171 ff.
Anmerkungen
185
3.3.2. Das Paradox der Affizierbarkeit moralischer Selbstachtung 1.
Vgl. Bernard R. Boxill, „Self-Respect and Protest“, in: Philosophy and Political Affairs, Bd. 6, Nr. 1, 1976, S. 58-69; und Chesire Calhoun, „Standing for Something“, in: The Journal of Philosophy, Bd. 92, Nr. 5, 1995, S. 235-260. 2. Vgl. dazu John Tomasi, „Kymlicka, Liberalisms, and Respect for Cultural Minorities“, in: Ethics, Bd. 105, Nr. 3, 1995, S. 580-603; sowie Carolin Emcke, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt am Main 2000. 3. Bernd Ladwig zufolge spricht beispielsweise „viel dafür, die Verteilung der übrigen allgemeinen Ressourcen bevorzugt an der Stärkung von Selbstachtung aufzurichten“. Bernd Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000. Vgl. zum Zusammenhang von Selbstachtung und sozialer Gerechtigkeit auch Frank Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt am Main 2000, besonders 3.2. „Selbstachtung und Neidzerstreuung“, S. 78-81; und Thomas Steinforth, Selbstachtung im Wohlfahrtsstaat. Eine sozialethische Untersuchung zur Begründung und Bestimmung staatlicher Wohlfahrtsförderung, München 2001. 4. Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, Oxford 1983, S. 278. 5. PW, S. 65. Gunnar Schmidt und Anne Vonderstein übersetzen an dieser Stelle das englische ‚self-esteemȧ als ‚Selbstwertgefühlȧ und nicht, wie ich es hier der gängigen Begriffsetzung angepasst habe, als ‚Selbstschätzungȧ. 6. „Mir scheint, es ließen sich ohne weiteres Fälle nennen, in denen jemand zwar eine stark ausgeprägte Selbstschätzung besitzt, aber keine Selbstachtung.“ (PW, S. 65; zur Begriffanpassung vgl. Fn 67) 7. Man könnte dies so ausdrücken, dass der Opportunist seine eigenständige Persönlichkeit aufgibt und sich – in der Aristotelischen Diktion - wie ein Sklave von Natur aus verhält, der von der eigenständigen Persönlichkeit eines anderen abhängt. Vgl. Aristoteles, Politik, 1254b. 8. „Selbstachtung ist demnach völlig unabhängig von jeder Handlung oder unterlassenen Handlung, gleichgültig, ob man nun wie Epiktet Sklave oder wie Marc Aurel Kaiser ist.“ (PW, S. 25) 9. Wenn wir, so Margalit, „unter Demütigung eine Verletzung unserer Selbstachtung [verstehen], jener Achtung, die ein Mensch allein dafür verdient, dass er ein Mensch ist“, ergebe es keinen Sinn, „etwas, was für die menschliche Existenz unerlässlich ist, als demütigend zu betrachten“ (PW, S. 34). 10. PW, S. 41 f. 11. „Selbstachtung“, so fasst Margalit Nietzsches Überlegungen zusammen, „erfordert soziales Selbstvertrauen, und ein mangelndes Selbstvertrauen dieser Art führt lediglich zu einer vorgetäuschten Unabhängigkeit, die der Kern der Sklavenmoral ist“ (PW, S. 42). Margalit bezieht sich in seiner Interpretation vor allem auf die Bestimmung der Sklavenmoral im ersten Hauptsstück: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selbst herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Ausserhalbȧ, zu einem ‚Andersȧ, zu einem ‚Nicht-Selbstȧ ...“ (KSA 5, GM, S. 245-412, hier S. 270).
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Anmerkungen
12. Deswegen stimme ich mit Margalits Definition überein, dass „eine Gesellschaft [...] dann anständig [ist], wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen“ (PW, S. 15), sowie darin, dass unter einer Demütigung alle Verhältnisse zu verstehen sind, „die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu fühlen“ (PW, S. 23). 13 „‚Kränkungȧ meint die Verletzung der sozialen Ehre, ‚Demütigungȧ die Verletzung der Selbstachtung. Kränkungen greifen die Selbstschätzung eines Menschen an, während Demütigungen den inneren Wert einer Person anfechten.“ (PW, S. 148) 14. Angelika Krebs zeigt, dass mit dieser Differenz auch Margalits Unterscheidung in eine gerechte und eine anständige Gesellschaft zusammenhängt. Während die anständige Gesellschaft institutionelle Demütigungen vermeidet, um die Selbstachtung von Personen zu schützen, ist eine gerechte Gesellschaft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Institutionen darüber hinaus auch keine Person kränken und in ihrer Selbstschätzung herabmindern. Insgesamt sieht es Margalit aber als dringlicher an, eine anständige Gesellschaft zu schaffen, die niemanden herabwürdigt, als eine gerechte Gesellschaft, die niemanden abschätzig behandelt. Vgl. Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2002, „IV. Würde statt Gleichheit. Zum Beispiel: Avishai Margalits Decent Society“, S. 144-166, hier S. 147 ff. 15. Oder, wie Margalit das Paradox ausformuliert: „Warum ist es rational, sich als gedemütigt zu betrachten? Das Empfinden sozialer Ehre setzt die Existenz einer Gesellschaft voraus, Selbstachtung bedarf nur der eigenen Person. Wie sollen dann aber andere Menschen überhaupt darüber bestimmen können, ob und wie ich mich selbst achte?“ (PW, S. 152). 16. Margalit fühlt sich durch die Beschreibung demütigender Erfahrungen dazu berechtigt zu sagen, dass sich die Einstellungen anderer Personen direkt auf unsere Selbstachtung auswirken. Wenn unsere Selbstachtung darauf beruht, dass wir uns selbst als ein Teil der menschlichen Gemeinschaft verstehen, dann kann der faktische Ausstoß aus der menschlichen Gemeinschaft – und alle Formen der Demütigung lassen sich als Ächtung aus der moralischen Gemeinschaft aller Menschen beschreiben – die eigene Selbstachtung affizieren (vgl. PW, S. 153 f.). 17. Eine Ursache dafür, dass Margalits Argument an dieser entscheidenden Stelle wenig überzeugt, ist, dass er mit unterschiedlichen Begriffen der Menschheit operiert. Es lassen sich zumindest vier normativ relevante Unterscheidungen des Menschheitsbegriffs aufzählen: Eine Person ist ein Mensch als Angehöriger einer biologischen Spezies, Mensch im Sinne eines politischen Mitbürgers, Mitmensch im Sinne eines affektiven Mitseins und Mensch im moralischen Sinne als Träger einer den Menschen auszeichnenden Humanität und entsprechender Eigenschaften. 18. Die Beschreibung, wie sich das Folteropfer vor sich selbst zum Komplizen der Demütigung macht, verdanke ich David Sussman, „What's Wrong With Torture?“, Political and Public Affairs, Bd. 33, Nr. 1, 1995, S. 1-33. 19. Parallel dazu lässt sich Armut als demütigend begreifen, weil in ihr die Sorge um die eigene Existenz dazu führen kann, dass man sich von ihr bestimmen
Anmerkungen
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lässt und seine Selbstachtung in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen verliert.
4.1. Die normative Frage 1.
2. 3.
4.
Ich beziehe mich dabei in der Hauptsache auf ihre auf große Resonanz gestoßenen Tanner Lectures Sources of Normativity (zit.: SN), Cambridge 1996. Später führt auch Korsgaard den Begriff moralischer Selbstkonstitution (self-constitution) ein. Vgl. Christine Korsgaard, „Self-Constitution in the Ethics of Plato and Kant“, in The Journal of Ethics, Nr. 3, 1999, S. 1-29. Hume, Enquiry Concerning the Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, hg. von L.A. Selby-Bigge, Oxford: Oxford University Press, 1972 (1751), S. 282 f. „The normative question is a first-person question that arises for the moral agent who must actually do what morality says. When you want to know what a philosopher’s theory of normativity is, you must place yourself in the position of an agent on whom morality is making a difficult claim. You then ask the philosopher: must I really do this? Why must I do it? And his answer is the answer to the normative question.“ (SN, S. 16) Selbstverständlich werden soziale Praktiken nicht immer freiwillig eingegangen – man denke nur an das Beispiel einer ungewollten Schwangerschaft. Aber die Tatsache, dass wir auch aus kontingenten Gründen in eine soziale Verpflichtung geraten können, ändert nichts daran, dass wir uns die Normen dieser Praxis freiwillig zu Eigen machen müssen, wenn sie für uns gelten sollen.
4.2. Das Schamgefühl der Vernunft: Immanuel Kant 1.
2.
Kant spricht entweder von „Selbstschätzung“ (AA V, KpV, S. 73) oder genauer von „moralischer Selbstschätzung“ (AA VI, TL, S. 435 und AA V, KpV, S. 79), um diese mit dem pathologischen Gefühl der Selbstliebe zu kontrastieren. Synonym spricht Kant von „vernünftiger Selbstliebe“ (AA V, KpV, S. 73), „Selbstzufriedenheit“ (AA V, KpV, S. 117/118) und eben auch ganz explizit von der „Achtung für uns selbst“ (AA V, KpV, S. 161), der „Achtung gegen sich selbst“ (AA VI, TL, S. 403), der „Achtung für sich selbst (Selbstschätzung)“ (AA VI, TL, S. 399) bzw. der „Achtung (reverentia) gegen sich selbst“ (AA VI, TL, S. 436). Alle Zitate beziehen sich mit den üblichen Siglen auf: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften (AA), hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Eine am Selbstachtungsbegriff akzuentierte Kantdeutung kann heute an eine Vielzahl von Publikationen anschließen. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf: Thomas E. Hill, Autonomy and Self-Respect, Cambridge 1991 (darin: „Servility and Self-Respect“, S. 4-19); Thomas Steinforth, Selbstachtung im Wohlfahrtsstaat. Eine sozialethische Untersuchung zur Begründung und Bestimmung staatlicher Wohlfahrtsförderung, München 2001 (v.a. „Kant: Selbstachtung und die Achtung vor dem moralischen Gesetz“, S. 117-137.); Robin S. Dillon,
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Anmerkungen „Zu Arroganz und Selbstachtung bei Kant“, in: Henning Hahn (Hg.), Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zum Begründungsdiskurs um Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005, S. 50-75; Stephen J. Massey: „Kant on SelfRespect“, in: Journal of the History of Philosophy, Bd. 21, Nr. 1 (1983), S. 57-73.
4.2.1. Selbstdisziplinierung und Selbstbilligung 1. 2.
3.
4.
5. 6.
7.
Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft lautet in dieser Version: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (AA V, KpV, S. 30) In seiner Vorlesung zur Moral im Wintersemester 1773/74 oder 1774/75 konnte Kant noch als Motiv für das honeste vive den „BewegGrund“ angeben, von anderen geschätzt zu werden. Der Imperativ lautete hier: „Thue das, was dich zum Object der Achtung und Schätzung macht.“ Aber bereits in den Vorlesungen ist es nicht allein der „Beyfall in den Augen anderer“, sondern die „Achtung in unsern Augen“, die den Verpflichtungsgrund in uns selbst legt. Immanuel Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, hg. von Werner Stark, Berlin 2004, „De Obligantia“, §§ 92-94, S. 76. Eine Bestimmung des Willens, die nicht direkt durch das Sittengesetz veranlasst wird, aber die gleiche Handlung hervorbringt wie dieses, heißt in der Kantischen Terminologie bekanntlich „Legalität, aber nicht Moralität“ (AA V, KpV, S. 71). Der Verpflichtungsgrund liegt hier in der äußeren Sanktion (dem Gesetz) und nicht in der Autonomie der Person. Vgl. zum Triebfedernkapitel: Giovanni D. Sala (2004), S. 160-233; Nico Scarano (2002), S. 143-151; Volker Gerhardt (2002), S. 225 ff.; Lewis White Beck (³1995) S. 197-212; Volker Gerhardt und Friedrich Kaulbach (²1989), S. 88-91; sowie Friedrich Kaulbach (²1982) S. 243-249. Vgl. AA V, KpV, S. 71. In diesem Sinne vertritt auch Kant eine ‚internalistische Forderungȧ; die noumenale bzw. intelligibele Person wird zwar direkt über Vernunftgründe affiziert, aber um den ganzen Menschen zu motivieren und damit auch auf seine phänomenale bzw. empirische Person überzugreifen, müssen sich die Vernunftgründe auf irgend eine Weise auf ihre sinnlichen Wünsche auswirken. Zur Unterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus vgl. einführend Stefan Gosepath: „Praktische Rationalität. Eine Problemübersicht“, in ders.: Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt am Main 1999, S. 7-56, insbesondere S. 15-33; sowie Bernard Williams: „Interne und externe Gründe“, ebd., S. 105-120; und zum Begriff der internalistischen Forderung Christine M. Korsgaard: „Skeptizismus bezüglich praktischer Vernunft“, ebd., S. 121-145, hier S. 129 und mit direktem Bezug auf Kants Triebfedernkapitel S. 143 f. Diese Argumentation setzt Kants Fassung des Problems der Willensfreiheit voraus. Ein freier Wille ist für Kant ein Wille, der allein durch das Grundgesetz der praktischen Vernunft bestimmt wird und der folglich, in unserer Diktion, ein moralisch verfasster Wille ist. Der freie Wille, so Kant, ist „nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem
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8. 9. 10.
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13.
14.
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Gesetz zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt“ (AA V, KpV, S. 72). Vgl. AA V, KpV, S. 72 f. Kants im Zusammenhang mit dem Freiheitsproblem entwickelte Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter findet sich in KrV(B), S. 567. Zum Vergleich gebe ich hier die gesamte Passage wieder: „Alle Neigungen zusammen [...] machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst (arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel. Die reine Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetz einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbstliebe genannt wird. Aber den Eigendünkel schlägt sie gar nieder, indem alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugnis sind, indem eben die Gewissheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werths der Person ist [...[ Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellektuellen Kausalität, d. i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und indem es ihn sogar niederschlägt, d. h. demütigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können.“ (AA V, KpV, S. 73.) Vgl. Robin S. Dillon „Zu Arroganz und Selbstachtung bei Kant“, in: Henning Hahn (Hg.), Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005, S. 50-74. Diesbezüglich wirft Kant der Theorie moralischer Gefühle vor, dass pathologische Gefühle wie Scham, Groll oder Sympathie situativen Schwankungen unterliegen und direkt durch unmoralische Gefühle wie Zorn oder Hass affiziert werden können. Diese Instabilität disqualifiziert diese Gefühle aber von vornherein dazu, einen objektiven Verpflichtungsgrund zu bilden. Vgl. AA IV, GMS, S. 443. Vgl. AA IV, GMS, S. 401, zweite Fn. Im Anschluss an Dieter Henrich heben Volker Gerhardt und Friedrich Kaulbach die zentrale Bedeutung der Achtung als kritisch gewendetes moralisches Gefühl hervor, dessen Ursprung allein in der Vernunft bzw. im moralischen Gesetz liegt. Vgl. Volker Gerhardt und Friedrich Kaulbach, Kant, Darmstadt ²1989, S. 88 f; und dazu auch Lewis White Beck, Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft’, München ³1995, S. 210 ff. Vgl. AA V, KpV, S. 75. Kant vertritt hier die Auffassung, dass das subjektive, pathologisch wirksame Gefühl der Achtung überhaupt nur dann in Erscheinung tritt, wenn es rational, das heißt vor dem Grundgesetz der prakti-
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Anmerkungen schen Vernunft gerechtfertigt ist. Ein nicht in diesem Sinne vernunftgewirktes Gefühl heißt per definitionem nicht Achtung, sondern Schätzung. Giovanni B. Sala, Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar, Darmstadt 2004, S. 175. Ein sinnliches Gefühl ist, wie Kant es ausdrückt, „zwar die Bedingung derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft, und diese Empfindung kann daher ihres Ursprunges wegen nicht pathologisch, sondern muss praktisch gewirkt heißen; indem dadurch, dass die Vorstellung des moralischen Gesetzes der Selbstliebe den Einfluss und dem Eigendünkel den Wahn benimmt, das Hindernis der reinen praktischen Vernunft vermindert und die Vorstellung des Vorzuges ihres objektiven Gesetzes vor den Antrieben der Sinnlichkeit [...] hervorgebracht wird. Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet [...]“ (AA V, KpV, S. 75 f.) „Das Gefühl [das rationale Gefühl der Achtung, HH], das aus dem Bewusstsein dieser Nötigung entspringt, ist nicht pathologisch, [...] sondern allein praktisch. [...] Es enthält als Unterwerfung unter ein Gesetz, d. i. als Gebot (welches für das sinnlich affizierte Subjekt Zwang ankündigt), keine Lust [...] Dagegen aber, da dieser Zwang bloß durch Gesetzgebung der eigenen Vernunft ausgeübt wird, enthält es auch Erhebung und die subjektive Wirkung aufs Gefühl, so fern davon reine praktische Vernunft die alleinige Ursache ist, kann also bloß Selbstbilligung in Ansehung der letzteren heißen, indem man sich dazu ohne alles Interesse bloß durchs Gesetz bestimmt erkennt...“ (AA V, KpV, S. 80 f.) Selbstzufriedenheit, so bringt es Kant an anderer Stelle auf den Punkt, ist „ein Analogon der Glückseligkeit, welche das Bewusstsein der Tugend notwendig begleiten muss“ (AA V, S. 118). Mit Bezug auf diese Textstellen weist Nico Scarano Kant einen moralischen Internalismus nach, insofern das moralische Gesetz zugleich den objektiven Bestimmungsgrund als auch die subjektive Triebfeder des Handelns ausmacht. Vgl . Nico Scarano, „Moralisches Handeln. Zum dritten Hauptstück von Kants Kritik der praktischen Vernunft“, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, S. 148 ff. Demgegenüber versuche ich Kant so weit es geht in die Richtung zu interpretieren, dass sich eine Person auch willentlich dem moralischen Gefühl der Achtung öffnen muss, damit das moralische Gesetz motivierend wirken kann. In völliger Übereinstimmung bemerkt Volker Gerhardt: „Doch die Achtung vor dem ‚moralischen Gesetz in mirȧ (5,161) ist ursprünglich auf mich selbst bezogen. Das Sittengesetz kann nur als selbstgegebenes Gesetz verstanden werden. Also verdankt sich die Achtung vor dem Gesetz einer gesteigerten Achtung vor der eigenen Vernunft. Und die schließt die Selbstachtung ein. Die ‚Triebfeder der Achtungȧ stammt also aus einer Selbstüberbietung des Eigeninteresses. Die Achtung vor dem Gesetz ist von der Selbstachtung der eigenen Person nicht zu trennen.“ Volker Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 225. Vgl. zum Begriff der moralischen Verfassung bei Kant auch Friedrich Kaulbach (Immanuel Kant, Berlin ²1982, S. 210): „Wie in der Natur, so ist auch im
Anmerkungen
191
menschlichen Subjekt eine moralische Verfassung angelegt, auf Grund der der Mensch von sich aus gemäß seiner eigenen notwendigen inneren Natur ein allgemeines moralisches Gesetz repräsentiert und sich dessen durch das Gefühl bewusst wird: Freies Handeln besteht in der Übereinstimmung des Verhaltens mit dem inneren Gesetz.“
4.2.2. Die Pflicht zur Selbstachtung 1.
2. 3. 4.
5.
6.
7. 8.
Bezeichnenderweise übersetzt Rawls in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie ‚Selbstschätzungȧ mit ‚self-respectȧ: „Let’s consider what Kant may mean by gaining entry for the moral law. Last time, we saw that it is a feature of our humanity that we have certain moral dispositions, such as moral feeling and conscience, love of neighbours, and self-respect.“ John Rawls, Lectures on the History of Moral Philosophy, Harvard University Press, Cambridge/Mass. 2000, S. 201. Deswegen nennt Kant „eine Pflicht zu lieben [...] ein Unding“ (AA VI, TL, S. 401). Vgl. AA VI, TL, S. 402. Man macht sich damit, so Kant, auch „in seinen eigenen Augen zum Gegenstande der Verachtung und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“ (AA VI, TL, S. 429). Noch schärfer ausgedrückt ist eine Lüge die „Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde“ und die „Verzichttuung auf seine Persönlichkeit“ (AA VI, TL, S. 429). Sich selbst zu belügen, ist für Kant der eigentliche Grund des Bösen in der Welt, weil wir uns selbst darüber betrügen, dass wir nicht aus Pflicht, sondern aus Selbstsucht handeln. Vgl. AA VI, TL, S. 430. Vgl. dazu auch Thomas Hill Jr. „Servility and Self-Respect“, a.a.O., S. 13: „One must, so to speak, take up the spirit of morality as well as meet the letter of its requirements. […] one should take an attitude of respect towards the principles, ideals, and goals of morality. A respectful attitude of respect towards a system of rights and duties consists of more than a disposition to conform to its definite rules of behavior; it also involves holding the system in esteem, being unwilling to ridicule it, and being reluctant to give up one's place in it.“ Durch „Heuchelei und Schmeichelei“ (AA VI, TL, S. 436) erschleicht sich der Opportunist ein Ansehen, für das er mit seiner Selbstachtung bezahlt, weil er sich der Vernunft einer anderen Person ausliefert und sich selbst nicht mehr als eine selbstbestimmte Person verstehen kann. Das oikos des Aristoteles würde eine in der Kantischen Sicht unmoralische Symbiosegemeinschaft exemplifizieren, weil in ihr eine Reihe unselbständiger Personen am Wert ihres Herrn parasitieren, was eine Missachtung ihrer Pflicht gegenüber sich selbst darstellt, sich um ein selbständiges Leben zu bemühen. Weil der Opportunist für sich selbst keinen moralischen Wert beanspruchen kann, versucht er sich „einen geborgten zu erwerben“ (AA VI, TL, S. 435). Eine klassische Beschreibungen der benevolentia als „the sympathy which we feel with the misery and resentment of those other innocent and sensible
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Anmerkungen
beings“ gibt beispielsweise Adam Smith (Theory of Moral Sentiments, a.a.O., VI.ii.3.1). 9. Kant selbst unterstreicht, dass wir andere Personen dafür achten, dass sie sich selbst achten: „Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegen handeln, d.i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.“ (AA VI, TL, S. 462) 10. Robin Dillon, „Zu Arroganz und Selbstachtung bei Kant“, in: Henning Hahn, Selbstachtung oder Anerkennung. Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005, S. 50-75. 11. „Kant stellt die elementare Arroganz ausdrücklich der Selbstachtung und die interpersonelle Arroganz der Achtung anderer Personen gegenüber. Trotzdem zeigt sein Zugang zur interpersonellen Arroganz, dass auch sie aus fehlender Selbstachtung herrührt.“ Ebd., S. 51. 12. Dillon bezeichnet dies als ein Defizit an „handlungsorientierter Anerkennungsselbstachtung (agentic recognition self-respect): Die Person, die über handlungsorientierte Anerkennungsselbstachtung verfügt, hält eine autonome Ausübung ihres vernünftigen Urteilsvermögens und Willens für uneingeschränkt wertvoll. [...] Für die arrogante Person ist hingegen ein hohes Selbstwertgefühl der einzige Wert.“ Ebd., S. 71.
4.2.3. Eleutheronomie 1.
2.
3. 4. 5.
6.
Kant führt seinen erkenntnistheoretischen Kompatibilismus vor allem in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft aus (KrV, B 472-478 und 560-586). Vgl. zu dieser Deutung Hud Hudson, Kant's Compatibilism, London 1996. Kants Zirkularitätsvorwurf gegen den Eudämonisten wendet sich gegen die Annahme, dass wir glücklich sind, wenn wir moralisch handeln, während wir wiederum nur darum moralisch handeln, um glücklich zu sein: „Er [der Eudämonist, HH] dreht sich mit seiner Ätiologie im Zirkel herum. Er kann nämlich nur hoffen, glücklich (oder innerlich selig) zu sein, wenn er sich seiner Pflichtbeobachtung bewusst ist: er kann aber zur Beobachtung seiner Pflicht nur bewogen werden, wenn er voraussieht, dass er sich dadurch glücklich machen werde.“ (AA VI, TL, S. 377). Harry Frankfurt: „Willensfreiheit und der Begriff der Person“, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein 1987, S. 287-302. Ebd., S. 290. Ganz analog definiert Kant den Willen als ein Vermögen „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben (das physische Vermögen mag nun hinreichend sein oder nicht), d. i. seine Kausalität, zu bestimmen“ (AA V, KpV, S. 15). Frankfurt am Main, a.a.O., S. 288.
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9. 10. 11. 12. 13. 14.
15.
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Ebd. Ein Mensch macht, wie Frankfurt mit Bezug auf die Willensfreiheit formuliert, „also von seiner Willensfreiheit Gebrauch, wenn er sicherstellt, dass sein Wille und seine Volitionen der zweiter Stufe übereinstimmen.“ (Ebd., S. 296) Freiheit ist ein „Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen“. (KrV, B 478) Frankfurt am Main, a.a.O., S. 299. Christine Korsgaard, Sources of Normativity (zit.: SN), Cambridge 1996, S. 98. „The moral law tells us to act only on maxims that all rational beings could agree to act on together in a workable cooperative system.“ (SN, S. 99) Vgl. zu Kants rechtsphilosophischen Metaphern und insbesondere zu seinem „kosmopolitischen Leitmotiv“ Otfried Höffe, Königliche Völker. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt am Main 2001. Die grundlegende Norm von Kants Rechtsphilosophie besteht in der Verpflichtung, so zu handeln, dass „die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (AA VI, MS (RL), S. 230). Lesenswert zum Thema, wie Rousseau Kant ‚zurechtgebracht hat’, ist: Harald Höffding, „Rousseaus Einfluss auf die definitive Form der Kantischen Ethik“, in: Kantstudien, Bd. 2, 1898, S. 11-21. Postulate sind, laut Kant, „nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ (AA V, KpV, S. 132). In der Postulatenlehre führt er den Beweis, dass es Freiheit gibt, nicht aus der theoretischen Vernunft, für die Freiheit eine letztlich unbeweisbare Idee darstellt, sondern aus einer Notwendigkeit der praktischen Vernunft, wodurch die Möglichkeit der Freiheit aber genauso fest begründet ist.
4.3. Gründebedürftigkeit 1.
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3. 4.
„Vielmehr ist die Moral nach Kant in Inhalt und Form (mit der Form meine ich das Gebotensein) bereits im Sinn des (absolut verstandenen) Vernünftigseins enthalten. Versteckterweise ist hier, wenn man das Moralische als Gebot für den Willen sieht, gleichwohl eine voluntative Prämisse vorausgesetzt, die lauten müsste: ‚Wenn du vernünftig sein willst …ȧ. Aber Kant hat das nicht als Prämisse gesehen, sondern das Vernunftgebot ist bei ihm einfach vorgegeben, durchaus analog wie das Gebot Gottes für den Christen“ Ernst Tugendhat (1993), a.a.O., S. 70. „The agent must think of herself as a Citizen of the Kingdom of Ends.“ (SN, S. 100). Korsgaard selbst versteht hier John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als einen Versuch zu bestimmen, wie die Gesetzgebung für ein solches Reich der Zwecke auszusehen hätte. Thomas Hobbes, Leviathan, (1651), „IV. Of the Interior Beginnings of Voluntary Motions; Commonly Called the Passions; and the Speeches by which they are Expressed“. Es macht hier durchaus Sinn, die Notwendigkeit, unser Leben vor uns selbst wie vor anderen Menschen zu begründen, ein Bedürfnis zu nennen,
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5.
6.
7. 8.
9.
Anmerkungen weil diese Notwendigkeit so tief in unserer zweiten Natur verwurzelt ist, dass es alle Bedürfnisse unserer so genannten ersten Natur, unter Umständen auch das Bedürfnis zu überleben, übertrumpfen kann. Auch Korsgaard scheint davon auszugehen, dass es ein genuin menschliches Bedürfnis (need) ist, die eine Person an ihre normativen Praktiken bindet: „But part of the normative force of those reasons springs from the value we place on ourselves as human beings who need such identities.“ (SN, S. 121, Hervorhebung HH) Deswegen beruht die ganze Pointe einer am Selbstachtungsbegriff orientierten Moralphilosophie darauf, dass Gründe unter Umständen wichtiger sind als das eigene Überleben. Als extreme Fälle, die diesen Wesenszug des Menschen belegen sollen, wird traditionell seine Fähigkeit zum Suizid und zum Martyrium angeführt. Das Martyrium und andere Beispiele der Selbstaufopferung zeigen, dass der Verpflichtungsgrund in einer praktischen Identität wirkmächtiger werden kann als der natürliche Drang zu überleben, während das Suizidbeispiel veranschaulichen kann, wie das natürliche Überlebensbedürfnis mit dem Sinnverlust des eigenen Lebens schwindet. Bereits Hegel betont diese Verfügungsgewalt des Einzelnen über seinen Körper als die spezifische Eigenschaft einer Person: „Aber als Person habe ich zugleich mein Leben und Körper, wie andere Sachen, nur insofern es mein Wille ist.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), Hamburg 1995 (5. neu durchgesehene Aufl.), § 47, S. 59. „But this reason for conforming to your particular practical identities is not a reason that springs from one of those particular identities. It is a reason that springs from your humanity itself, from your identity simply as a human being, a reflective animal who needs reasons to act and to live.“ A.a.O., S. 121. SN, S. 130. An anderer Stelle schreibt Korsgaard: „For now, I will assume that valuing ourselves as human beings involves valuing others that way, and carries with it moral obligation.“ (SN, S. 121) Vgl. dazu insbesondere Forsts Unterteilung verschiedener „Kontexte der Rechtfertigung“, in: Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt am Main 1996, S. 362412. Rainer Forst spricht in diesem Sinne von einem „‚Recht auf Rechtfertigungȧ…, das Menschen qua ihrer Mitgliedschaft in der Menschengemeinschaft haben. Eine Person als moralische Person, kantisch gesprochen als Zweck und nicht als Mittel, anzuerkennen, heißt somit, sie als Vertreter der moralischen Instanz der Menschheit anzuerkennen und ihr gegenüber Normen gemäß zu handeln, die auf geteilten Gründen beruhen und im strikten Sinne praktischer Vernunft gerechtfertigt sind.“ (ebd., S. 262 f.) Vgl. auch ders., „Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Zu einer konstruktiven Konzeption von Menschenrechten“, in: Hauke Brunkhorst, Wolfgang R. Köhler und Matthias Lutz-Bachmann, Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, S. 66 -105.
Anmerkungen
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5.1. Politischer Liberalismus und Selbstachtung: John Rawls I 1.
John Rawls, A Theory of Justice (zit.: TJ), Cambridge 1999 (2. überarb. Aufl. 1999). Zur Wirkungsgeschichte vgl. Wolfgang Kersting, John Rawls zur Einführung, Hamburg 2001, S. 13 ff.; sowie Norman Daniels (Hg.). Reading Rawls. Critical Studies of „A Theory of Justice“, Oxford 1975; und Samuel Freeman (Hg.), The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge University Press, Cambridge 2003. 2. Vgl. Thomas Steinforth, Selbstachtung im Wohlfahrtsstaat. Eine sozialethische Untersuchung zur Begründung und Bestimmung staatlicher Wohlfahrtsförderung, München 2001, S. 138-160; Frank Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt am Main 2000, S. 78-81; Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, Oxford 1983, S. 272-270. 3. In Political Liberalism (1993), The Law of Peoples (1999) und Justice as Fairness (2001) wird Rawls weiter auf genuin politische Begründungslinien einschwenken und mit der Idee des übergreifenden Konsenses (overlapping consensus) eine elaborierte politische Begründungstheorie vorlegen. 4. Ansonsten könnte leicht der Eindruck entstehen, dass die restriktiven und mit Rawls’ instrumentellem Vernunftbegriff unvereinbar scheinenden Bedingungen hinter dem Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance), hinter den eine Person ihre Interessen zugunsten einer unparteiischen, allgemeingültigen und eben fairen Perspektive zurücknimmt, einem Altruismus geschuldet ist, von dem völlig unklar bleibt, woraus sich diese selbst auferlegte Pflicht speist (Rawls spricht an dieser Stelle von „self-imposed obligations“, TJ, S. 12). 5. So konstatiert Rawls: „It is clearly rational for men to secure their selfrespect.“ (TJ, S. 155) 6. Wir erhalten einen Eindruck dieses Subjekts, wenn wir uns die Einstellung der Personen im Urzustand anschauen. In jenem fiktiven Standpunkt hinter dem Schleier des Nichtwissens blendet eine Person ihre konkreten Interessen und Fähigkeiten aus, um einen in diesem Sinne rationalen Standpunkt zu gewinnen. Vgl. TJ, S. 123. 7. „They assume that they normally prefer more primary social goods rather than less […] They know that in general they must try to protect their liberties, widen their opportunities, and enlarge their means for promoting their aims whatever these are.“ (ebd.) 8. Vgl. TJ, S. 124. Rawls selbst orientiert sich hierbei an den einschlägigen Arbeiten zur Rationalität und zur rational-choice-Theorie Amartya Sens, K. J. Arrows, Jonathan Bennetts und anderen (vgl. TJ, S. 124, Fn 14). 9. Die an Josiah Royce anschließende Konzeption eines Lebensplans definiert er als „the coherent, systematic purposes of the individual, what makes him a conscious, unified moral person“ (TJ, S. 358). Vgl. Josiah Royce, The Philosophy of Loyalty, New York 1908, Lect. 4, Abschn. 4. 10. In diesem Zusammenhang hat Wolfgang Kersting eine weitreichende Kritik an Rawls’ Idee einer vorgängigen Lebensplanwahl geübt. Das Leben einer Person, so können wir diesen Einwand zusammenfassen, steht niemals vollständig unter ihrem Einfluss. Biographien sind kontingenten Schicksalsschlägen, sozialen Einflüssen und neuen Erfahrungen ausgesetzt, die sie
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Anmerkungen permanent aus der Verfügungsgewalt des planenden Verstandes herausreißen. Wenn Rawls dennoch der Vorstellung anhängt, dass das eigene Leben als Ganzes, das heißt als Lebensplan, unter der Verfügungsgewalt des Individuums steht, dann dokumentiert sich darin, so Kersting, eine Selbstüberschätzung, die alle metaphysischen Mängel des neuzeitlichen Individualismus in sich trägt. Vgl. Wolfgang Kersting, „Über ein Leben mit Eigenbeteiligung - Unzusammenhängende Bemerkungen zum gegenwärtigen Interesse an der Lebenskunst“, in: ders., Gerechtigkeit und Lebenskunst. Philosophische Nebensachen, Paderborn 2004, S. 179-207. Eine umfangreiche Übersicht gibt Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994. In der endgültigen Version lautet das Freiheitsprinzip: „Each person is to have an equal right to the most extensive total system of equal basic liberties compatible with a similar system of liberty for all.“; und das zweite Prinzip inklusive des Differenzprinzips: „Social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) to the greatest benefit of the least advantaged, consistent with the just savings principle, and (b) attached to offices and positions open to all under conditions of fair equality and opportunity.“ (TJ, S. 266) Diese These vertritt zum Beispiel auch Axel Honneth, wenn er gegenüber Nancy Fraser herausstellt: „Es bedarf nur einer kurzen Erinnerung an den moralpsychologischen Aufwand, den John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit bei seiner Einführung des Grundgutes der ‚Selbstachtungȧ betreibt, um sich das ganze Ausmaß der Angewiesenheit der normativen Theorie auf derartige Versatzstücke einer Identitäts- und Persönlichkeitstheorie klarzumachen, wie sie Nancy Fraser gerade in Abrede stellt.“ Axel Honneth und Nancy Fraser, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main 2003, S. 212. Vgl. TJ, S. 156 f. In „Liberty and Self-Respect“ rekonstruiert Henry Shue Rawls’ Argument für die Priorität des Freiheitsprinzips Schritt für Schritt und stellt klar, dass diese Priorität auf das überragende Interesse an der Selbstachtung einer Person zurückzuführen ist: „Hence, the general form of the argument for the priority of liberty is the following hypothetical: if self-respect has first priority among the primary goods, … then liberty is to take priority over the remaining primary goods“ (in: Ethics, Bd. 85, Nr. 3 (1975), S. 195-203, hier S. 197). Im Folgenden werde ich zwischen sozialem und berechtigtem Neid unterscheiden. Um das Differenzprinzip zu halten, bestimmt Rawls den Sozialneid (envy oder auch jealousy) als einen „lack of self-confidence“ (TJ, S. 469), der bereits das Resultat einer beschädigten Selbstachtung ist. Nur weil Rawls die Sicherung der Selbstachtung als höchstes Interesse voraussetzt, kann er die Strategie des gamblers zurückweisen, der bei der Formulierung der Grundsätze seine eigene Selbstachtung einzusetzen bereit wäre. Vgl. TJ, S. 372. Einschlägig dazu ist die Debatte um so genannte ‚Asian Valuesȧ, die in den 1990er Jahren gleichermaßen für die okzidentale Besonderheit einer rechts-
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gebundenen Moral, wie für die Universalität bestimmter Menschenrechte sensibilisiert hat. Vgl. beispielsweise Amartya Sen: „Human Rights and Asian Values“, in The New Republic, July 14.-21., 1997. Dagegen betont beispielsweise Otfried Höffe die interkulturellen Gemeinsamkeiten traditioneller Gerechtigkeitsvorstellungen, in: ders., Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2001, S. 9 ff. Auch mit Bezug auf Rawls’ differenzierterem Ansatz in Political Liberalism (1993) unterstellt ihm Wolfgang Kersting „einen Hang zum Perfektionismus“, weil die auch hier am Selbstachtungsbegriff gerechtfertigte Verteilung sozialer Güter auf die Befähigung zu einer sehr komplexen Lebensweise ausgerichtet ist. Wolfgang Kersting, John Rawls zur Einführung, S. 182 f. Diese Kritik ist schon explizit von William A Galston vertreten worden, der in Liberal Purposes. Goods, Virtues and Diversities in the Liberal State (Cambridge 1991, S. 121-129) zeigt, dass Rawls’ Liberalismus ein bestimmtes Ideal der Person und damit verbunden eine klare Wertekonzeption vertritt. Herlinde Pauer-Studer weist Galstons Perfektionismusvorwurf zwar als zu weitgehend zurück, räumt aber selbst ein, dass „Rawls’ Theorie der Grundgüter […] als Ausdruck einer Wertekonzeption interpretiert werden“ kann (Herlinde Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt am Main 2000, „4.2. Perfektionistische Tendenzen des Liberalismus?“, S. 219-237, hier S. 221. Vgl. zur liberalen Kritik am Perfektionismus und zur perfektionistischen Kritik am formalen Selbstverständnis des Liberalismus auch Will Kymlicka, Contemporary Political Philosophy, Oxford 1990, S. 202-205; und zu einer perfektionistischen Variante des Liberalismus ebenfalls Kymlicka, Liberalism, Community and Culture, Oxford 1989; und Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986. In gewisser Weise teilt Rawls diese Einsicht, wenn er in Politischer Liberalismus (zit.: PL) einräumt, dass er in der Theory keinen echten Pluralismus vertreten hat, sondern selbst einer kulturell geprägten Vorstellung rationaler Personen anhing, die er in PL mit dem Konzept sich einander ausschließender, aber zugleich vernünftiger und umfassender Ideen des Guten zu korrigieren sucht (PL, S. 12 f.). Vgl. übereinstimmend: Shue, Henry, „Liberty and Self-Respect“, in: Ethics, Bd. 85, Nr. 3 (1975), S. 195-203. Stefan Gosepath macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass politische Freiheit nicht intrinsisch wertvoll ist, sondern nur in ihrer konstitutiven Funktion dafür „unsere Projekte nach unseren eigenen Wertvorstellungen zu formen, zu revidieren und unser Leben nach ihnen zu führen“. Politische Freiheit ist die Bedingung für ein autonomes Leben und die Missachtung unserer Autonomie, so Gosepath in Übereinstimmung mit Rawls’ Verhältnisbestimmung von Selbstachtung und Freiheit, beschädigt die „(kausale) Basis unseres Selbstwertgefühls“. Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines libertären Egalitarismus, Frankfurt am Main 2004, S. 297-299. Diesbezüglich stellt Rawls drei Kriterien auf, die seines Erachtens einen rationalen Lebensplan auszeichnen. Jeder Plan ist rational, wenn er eine möglichst ökonomische Zweck-Mittel Relation anstrebt (principle of effective means), wenn er möglichst viele angestrebte Ziele zu realisieren verspricht
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Anmerkungen (principle of inclusiveness) und wenn seine Erfüllungsbedingungen wahrscheinlicher sind als ein alternativer Plan (principle of likelihood) (vgl. TJ, S. 361 f.). Vgl. TJ, S. 365. TJ, S. 372 - 380, „64. The Aristotelian Principle“. Grundlage seiner Interpretation sind die Bücher VII und X der Nikomachischen Ethik; sowie W. F. R. Hardie, Aristotle Ethicall Theory, Oxford 1968; und G. C. Field, Moral Theory, London 1932. „Other things equal, human beings enjoy the exercise of their realized capacities (their innate or trained abilities), and this enjoyment increases the more the capacity is realized, or the greater its complexity“ (TJ, S. 374). „Presumably complex activities are more enjoyable because they satisfy the desire for variety and novelty of experience, and leave room for feats of ingenuity and invention. They also evoke the pleasures of anticipation and surprise, and often the overall form of the activity, its structural development, is fascinating and beautiful.“ (TJ., S. 374 f.) Eine weitere Qualifikation guter Lebenspläne erkennt Rawls darin, dass sie das Gemeinwohl (common good) fördern (TJ, S. 373) und den Zielen aller genauso dienen, wie den eigenen (TJ, S. 374). Diese soziale Interdependenz der Werte („the social interdependence of these values“, TJ, S. 373) wird durch die Achtung der Mitmenschen bzw. durch deren soziale Anerkennung gestützt. Wie Kersting berechtigterweise moniert, verhält sich Rawls’ Theorie nicht neutral gegenüber unterschiedlichen Lebensplänen, weil er die „BenthamBedingung der Gleichberechtigung aller Präferenzen“ nicht anerkennt, der zufolge ein „Pushpin-Leben“ genauso zu begünstigen wäre wie ein „PoetryLeben“, Kersting (2001), S. 182. Das politische Stabilitätsargument spielt zwar bereits in der Theory of Justice eine Rolle (TJ, S. 434 ff.), ist aber der moralphilosophischen Begründungslinie untergeordnet und wird erst in Political Liberalism zum Begründungskern seiner genuin politischen Gerechtigkeitstheorie ausgearbeitet. Vgl. TJ, S. 469. So räumt auch Rawls ein: „to some extent men's sense of their own worth may hinge upon their institutional position and their income share“ (TJ, S. 478). Nur weil Jeanne S. Zaino diesen Unterschied zwischen berechtigtem Neid und bloßem Sozialneid bei Rawls nicht wahrnimmt, kann sie die Gleichgültigkeit der moralischen Selbstachtung gegenüber einigen sozioökonomischen Unterschieden zum Ausgangspunkt ihrer Kritik an Rawls machen, „that he is merely a defender of a bourgeois, inegaliterian class order“. Zaino, Jeanne S., „Self-Respect and Rawlsian Justice“, in: The Journal of Politics, Bd. 60, Nr. 3, 1998, S. 737-753, hier S. 737. Deswegen definiert Rawls sein Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft (well ordered society) als eine „social union of social unions“ (TJ, S. 462), in der es zwar zu einer Fragmentisierung einzelner Anerkennungskontexte und Subkulturen kommt, die aber selbst einen gesamtgesellschaftlichen Anerkennungskontext bildet, in dem gesellschaftsübergreifende Statusunterschiede produziert werden.
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5.2. Libertarismus und Selbstschätzung: Robert Nozick 1.
Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia (zit.: ASU), Basil Blackwell, Oxford, 1974. Vgl. für einen unentbehrlichen Kommentar: Jonathan Wolff, Property, Justice and the Minimal State, Oxford 1991. 2. Eine Analyse seines Selbstschätzungskonzepts fördert deswegen unter anderem zu Tage, dass weite Teile seiner Theorie als eine direkte Kritik an Rawls’ A Theory of Justice gelesen werden können, in der Nozick seinen Begriff der Selbstschätzung (self-esteem) Rawls’ Selbstachtungskonzept (self-respect) direkt entgegenstellt. 3. Vgl. ASU, S. 150-182. 4. Ein Hauptargument des Libertarismus, dessen sich auch Nozick bedient, lautet, dass dieser Umverteilungsapparat selbst Ungerechtigkeiten produziert, da er nicht allwissend ist und von eigennützigen Personen bedient wird (ASU, S. 149). Anstelle von distributiver Gerechtigkeit zu sprechen, schlägt Nozick deswegen den Ausdruck einer ‚Gerechtigkeit der Besitzständeȧ (justice in holdings) vor, die er folgendermaßen definiert: „Whatever arises from a just situation by just steps is itself just.“ (ASU, S. 151) 5. Diesbezüglich macht Nozick deutlich: „It is plausible to connect equality with self-esteem.“ (ASU, S. 239) 6. Wie wir bereits mit Avishai Margalit und anderen Autoren herausgehoben haben, stützt sich die Selbstschätzung von Personen „auf die unterschiedlichen Einschätzungen, welche die Menschen mit Blick auf ihre eigenen Leistungen vornehmen“ (PW, S. 67). Genauer ist es die Einschätzung der eigenen „Leistungsfähigkeit“ (PW, S. 67), die den Grund der eigenen Selbstschätzung bildet. 7. „How can another’s activities, or characteristics, affect one’s own selfesteem? Shouldn’t my self-esteem, feeling of worth, and so forth, depend only upon facts about me? If it is me that I am evaluating in some way, how can facts about other persons play a role? The answer, of course, is that we evaluate how well we do something by comparing our performances to others, to what others can do.“ (ASU, S. 240) 8. „When everyone, or almost everyone, has some thing or attribute, it does not function as a basis for self-esteem. Self-esteem is based on differentiating characteristics; that’s why it’s self-esteem.“ (ASU, S. 243) 9. Vgl. ASU, S. 241. Das Beispiel dient ursprünglich Leon Trotski dazu, den Gleichheitstraum des Kommunismus zu illustrieren. Genau gegen diesen Zusammenhang richtet sich die libertäre Utopie, für die die erzwungene Gleichverteilung eine Erniedrigung darstellt. 10. Vgl. dazu ASU, S. 246 f. 11. Nozick diskutiert zwar den Einwand, dass „being subordinate in a work scheme adversely affects self-esteem“ (ASU, S. 246 f), aber dieses Argument wird, wie so oft im Neoliberalismus, mit dem Hinweis entkräftet, dass es eine Sache der feien Wahl (free choice) ist, als was eine Person arbeitet. 12. Zu einer entsprechenden Ergänzung des Rawls’schen Grundgüterkatalogs vgl. Norman Daniels, Just Health Care, Cambridge 1985.
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Anmerkungen
Zur Rechtsgebundenheit moralischer Selbstachtung: John Rawls II 1.
Vgl. TJ, S. 153ff. („29. Some Main Grounds for the Two Principles of Justice“). 2. „Furthermore, the public recognition of the two principles gives greater support to men’s self-respect and this in turn increases the effectiveness of social cooperation.“ (TJ, S. 155) 3. „It is clearly rational for men to secure their self-respect. A sense of their own worth is necessary if they are to pursue their conception of the good with satisfaction and to take pleasure in its fulfilment. Self-respect is not so much a part of any rational plan of life as the sense that one’s plan is worth carrying out.“ (TJ, S. 155) 4. Die öffentliche Geltung der Gerechtigkeitsgrundsätze, so fasst Rawls sein sozialpsychologische Argument zusammen, resultiert aus „der natürlichen Pflicht der wechselseitigen Achtung“, die dazu führt, dass man sich respektvoll und zivilisiert (civilly) gegenüber seinen Mitbürgern verhält und ihnen insbesondere eine Rechtfertigung der eigenen Gründe schuldet („to explain the grounds of their actions“; TJ, S. 156). 5. „Moreover, one may assume that those who respect themselves are more likely to respect each other and conversely. Self-contempt leads to contempt of others and threatens their goods as much as envy does.“ (TJ, S. 156). 6. Entsprechend lässt sich bei Rawls auch die These nachweisen, dass sich die Einwilligung einer Person in eine gerechte politische Verfassung aus ihrer, wie wir es mit Christine Korsgaard gennant haben, moralischen Selbstkonstitution herleitet: „For by arranging inequalities for reciprocal advantage and by abstaining from exploitation of the contingencies of nature and social circumstance within a framework of equal liberties, persons express their respect for one another in the very constitution of their society. In this way they insure their self-respect as it is rational for them to do.“ (TJ, S. 156) 7. Vgl. David Sachs (1981); Walzer (1983, S. 272-280); Margalit (1999, S. 64 ff.); Massey (1995); Hahn (2005, S. 6-19). 8. „Self-respect“, so stellt Rawls fest, „implies a confidence in one’s ability, so far as it is within one’s power, to fulfill one’s intentions“ (TJ, S. 386). Dazu müssen wir einerseits über einen realistischen Lebensplan verfügen, der das Aristotelische Kriterium erfüllt, andererseits gehört dazu, dass wir für diesen Lebensplan soziale Wertschätzung erfahren (TJ, S. 386). 9. Vgl. TJ, S. 386. 10. Rawls definiert Grundgüter als „things that every rational man is presumed to want. These goods normally have a use whatever a person’s rational plan of life.“ (TJ, S. 54) 11. Thomas Steinforth, 2001, S. 142 f. Vgl. dazu ebenso Ladwig, 2000, S. 97; und Shue, 1975, S. 196 ff. In Politischer Liberalismus stellt Rawls die übergeordnete Position der Selbstachtung noch klarer heraus, zu deren Grundlagen hier explizit alle anderen Grundgüter, sowie die gerecht eingerichteten Institutionen selbst und die entsprechenden Grundrechte sowie eine öffent-
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liche Kultur gezählt wird, in der die Gerechtigkeitsgrundsätze anerkannt und akzeptiert werden. Vgl. PL, S. 274 f. Diese Redeweise von den sozialen Grundlagen der Selbstachtung führt Rawls nicht zufällig in der Formulierung seines generellen Gerechtigkeitsprinzips ein, zu dem sich die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze nur als Spezialfälle verhalten: „All social values– liberty and opportunity, income and wealth, and the social bases of self-respect – are to be distributed equally unless an unequal distribution of any, or all, of these values is to everyone’s advantage.“ (TJ, S. 54) Vgl. TJ, S. 387. Mit Bernard Williams lassen sich ethische bzw. kulturelle Gemeinschaften auch als Schamgesellschaften verstehen, deren spezifische Sanktion im Schuldgefühl (guilt) besteht: „The structures of shame contain the possibility of controlling and learning from guilt, because they give a conception of one’s ethical identity, in relation to which guilt can make sense.“ Bernard Williams, Shame and Necessity, University of California Press, Berkeley, Los Angeles, London 1993, S. 93. Zumindest in einer gerecht eingerichteten Gesellschaft ist es ausreichend, wenn Personen nur genuin moralische Tugenden ausbilden, „that is, the strong and normally effective desires to act on the basic principles of right“ (TJ, S. 382). Vgl. dazu Nussbaum, Martha C., „Shame, Seperateness, and Political Unity“, in: Amélie Oksenberg Rorty, Essays on Aristotle's Ethics, Berkeley 1980, S. 395-436, darin der Abschnitt “Shame and Self-Respect, S. 397-404. Für die deutsche Ausgabe übersetzt Hermann Vetter an dieser Stelle sowohl self-esteem als auch self-respect mit Selbstachtung. Vgl. TJ, S. 391. Bernd Ladwig spricht in diesem Zusammenhang von einem „ontogenetischen Wechselverhältnis zwischen Selbstachtung und Selbstwertschätzung“ (bzw. Selbstschätzung) und fordert ebenfalls „eine stärker ‚ganzheitlicheȧ Deutung des Zusammenhangs von Selbstachtung und Selbstwertschätzung“. Bernd Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000, S. 99. Eine andere Textstelle, die diesen Zusammenhang betont, lautet: „The account of self-respect as perhaps the main primary good has stressed the great significance of how we think others value us.“ (TJ, S. 477) Es ist prinzipiell ebenso gut möglich, dieses Wechselverhältnis vom Bedürfnis nach Selbstschätzung her aufzuziehen. Ein Autor, der diese Position vertritt, ist Paul Riccœur, der ganz in unserem Sinne ein ethisches Konzept der Selbstschätzung von einem deontischen Begriff der Selbstachtung (respect de soi) unterscheidet: „Gemäß der hier vorgeschlagenen These müsste sich zeigen: 1) dass die Selbstschätzung fundamentaler ist als die Selbstachtung; 2) dass die Selbstachtung derjenige Aspekt ist, die die Selbstschätzung unter der Herrschaft der Norm annimmt …“ (S. 209) Genau im Gegenteil zu unserer Annahme kontextabhängiger Gegenstücke zur moralischen Selbstachtung, setzt Riccœur also voraus, dass die ethische Ebene die umfassendere ist und dass Selbstachtung „auf der moralischen Ebene der Selbstschätzung
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Anmerkungen der ethischen Ebene entspricht“. (S. 247) Paul Riccœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996 (orig.: Soi-même comme un autre, Paris 1990). „First of all, the Kantian Interpretation of the original position means that the desire to do what is right and just is the main way for persons to express their nature as free and equal rational beings. And from the Aristotelian Principle it follows that this expression of their nature is a fundamental element of their good. Combined with the account of moral worth, we have, then, that virtues are excellences. They are good from the standpoint of ourselves as well as from that of others. The lack of them will tend to undermine both our self-esteem and the esteem that our associatives have for us. Therefore indications of these faults will wound one’s self-respect with accompanying feelings of shame.“ (TJ, S. 390) In der Regel will eine Person einen niedrigen Status vermeiden, weil er ihre Selbstschätzung zerstört: „This subordinate ranking in public life would indeed be humilating and destructive of self-esteem.“ (TJ, S. 477) Ungerecht werden Statusunterschiede aber erst aus dem Grund, dass keine rationale und sich selbst achtende Person Gerechtigkeitsprinzipien zustimmen würde, die solche Erniedrigungen und Ungleichheiten zulassen. Eine politische Verfassung, in der sich diese besondere Weise der Anerkennung ausdrückt, besteht aus der Sicht einer moralischen Person zu Recht und bildet, wie Rawls schreibt, die objektive Grundlage ihrer Selbstachtung in einer gerecht eingerichteten Gesellschaft: „The basis for self-respect in a just society is [...] the publicly affirmed distribution of fundamental rights and liberties“. (TJ, S. 477) Eine vorzügliche Zusammenfassung dieses Arguments findet sich in Norman Daniels, „Equal Liberty and Unequal Worth of Liberty“, in: ders. Reading Rawls. Critical Studies on Rawls’ A Theory of Justice, Oxford 1975, S. 273f. Hier vertritt Daniels auch die These, dass das Interesse an Selbstachtung erst dann diesen enormen Stellenwert gewinnt, wenn die grundlegenden Bedürfnisse bereits gestillt sind. Meines Erachtens ist es aber falsch und auch mit Rawls nicht vertretbar, Selbstachtung als ein luxuriöseres Bedürfnis anzusehen als solche basale Bedürfnisse wie Nahrung oder Kleidung. Vielmehr bedingen sich diese basalen Bedürfnisse und das fundamentale Bedürfnis nach Selbstachtung immer schon wechselseitig.
5.4. Gerechtigkeit und Anstand: Avishai Margalit 1.
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Avishai Margalit, The Decent Society, Harvard University Press, Cambridge/Mass. 1996. Der Titel der von mir zitierten deutschen Ausgabe (Politik der Würde (zit. PW), Frankfurt am Main 1999) ist etwas irreführend gewählt, da in Margalits Buch die Begriffe der Anständigkeit, Demütigung und Selbstachtung gegenüber dem Begriff der Würde im Vordergrund stehen. Vgl. auch PW, S. 11, S. 15 und S. 23. Beispielsweise hat die Ratifizierung der Universellen Deklaration der Menschenrechte durch die totalitären Staaten des Warschauer Pakts es vielen Dissidenten ermöglicht, ihre Unterdrückung mit bestärktem Selbstbewusst-
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sein als eine Verletzung vorgeblich anerkannter Grund- und Freiheitsrechte auszudrücken. Honneth zeigt den „konzeptuellen Zusammenhang“ auf, „in dem die rechtliche Anerkennung mit dem Erwerb von Selbstachtung steht“, und zieht aus diesem Zusammenhang den Schluss, „dass ein Subjekt sich in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung als eine Person zu betrachten vermag, die mit allen anderen Mitgliedern seines Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung befähigen; und die Möglichkeit, sich in derartiger Weise positiv auf sich selbst zu beziehen, können wir Selbstachtung nennen“. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1994, S. 192195. Joel Feinberg, „The Nature and Value of Rights“, in: ders., Rights, Justice, and the Bounds of Liberty. Essays in Social Philosophy, Princeton 1980, S. 143ff. Und auch in einer gerechten Gesellschaft kann es Sinn machen, sich wieder von sich selbst zu lösen und sich nicht mehr so ernst zu nehmen, wie auch Tugendhat einräumt, dem wir den Begriff vom ernsthaften „Sich-zu-sichVerhalten“ bzw. vom Ernst des „Sich-in-Autonomie-selbst-Übernehmens“ entnommen haben (Tugendhat 1984, S. 175). In Egozentrizität und Mystik (Eine anthropologische Studie, München 2003) zeigt er, dass es im Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit für eine Person wichtig werden kann, von sich selbst zurückzutreten. Stephen Massay (1995, S. 253) ist beispielsweise davon überzeugt, dass eine Person ihre Selbstachtung objektiv verliert, wenn sie sich nicht ausreichend für ihre Rechte einsetzt, auch wenn sich dies nicht in ihrem subjektiven Empfinden widerspiegelt. Gegen Massays Versuch, eine objektive von einer subjektiven Selbstachtung zu trennen, ist Andreas Wildt überzeugt, dass wir nicht einmal glauben, „dass etwa der berühmte Onkel Tom wirklich über intakte Selbstachtung (im subjektiven Sinne) verfügt“, weil wir intuitiv der Meinung sind, dass eine normale Person die Demütigung ihrer Entrechtung auch bemerken muss: „Wenn man einmal von gewissen extremen Lebensformen oder -idealen wie denen von Heiligen und Asketen absieht, so ist mindestens in modernen Gesellschaften und für moralisch normale Personen das praktische Engagement für fundamentale eigene Rechte, falls diese bestritten werden und nicht gesichert sind, notwendige Bedingung für Selbstachtung.“ In: Andreas Wildt, „Recht und Selbstachtung im Anschluss an die Anerkennungslehre von Fichte und Hegel“, in: Kahlo, M. u.a. (Hg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, Frankfurt am Main 1992, S. 156-172, hier S. 171. Menschenrechte sind moralische Rechte, so Margalits Definition, „die allen Menschen in gleichem Maße allein aufgrund ihres Menschseins zukommen“ (PW, S. 58). Die freiheitsfunktionale Begründung der Menschenrechte wird von Margalit zugunsten des Würdebegriffs und damit letztlich zugunsten einer selbstachtungsfunktionalen Begründung der Menschenrechte zurückgewiesen: „Bei der unmittelbaren Begründung der Menschenrechte als ein Interesse, das die Menschenwürde selbst ausmacht, gelten sie jedoch als ein Gut an und für sich. An dieser Stelle betrachten wir die Menschenrechte als einen Schutz der Menschenwürde. Den im Rahmen einer an Rechten orien-
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tierten Moral sind die Menschenrechte jene ‚Symptomeȧ, an denen sich die Menschenwürde gewissermaßen ablesen lässt.“ (PW, S. 59) 9. Vgl. Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2002, S. 144-154. 10. Margalit weist unter anderem darauf hin, dass nicht alle Anwohner einer Gesellschaft (er nennt mexikanische Gastarbeiter in den USA) auch gleichberechtigte Mitglieder dieser Gesellschaft sind. Am stärksten zeigt sich der Unterschied zwischen Anstand und Gerechtigkeit, wenn Margalit beschreibt, wie eine gerechte Umverteilung zu spezifischen institutionellen Demütigungen führt, wenn z.B. eine Person in Arbeits- und Sozialämtern als eine Nummer behandelt wird (vgl. PW, S. 310-321). Schon Kant berücksichtigt bei der Hilfspflicht gegenüber bedürftigen Personen, dass man dem Notleidenden jede „Demütigung zu ersparen“ sucht und ihm hilft, „seine Achtung für sich selbst zu erhalten“ (AA VI, Tl, S. 449). Die Abhängigkeit von der Wohlfahrt ist nämlich „der echten Selbstschätzung (auf die Würde der Menschheit in seiner Person stolz zu sein) zuwider“ (AA VI, TL, S. 458). Eine ähnliche Erörterung dieser Passagen und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Konsequenzen gibt Thomas Steinforth, a.a.O., S. 131-138.
6.1. Politische Handlungsfreiheit 1.
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Mit Stefan Gosepath definiere ich moralische Rechte als „moralisch begründete Ansprüche, das heißt, der Rechtsgrund ist ausschließlich ein moralischer […]. Legale Rechte verlangen die Befolgung von allen Rechtsgenossen als Mitgliedern einer bestimmten Rechtsgemeinschaft, während moralische Rechte universale Gültigkeit beanspruchen.“ Stefan Gosepath, „Zu Begründungen sozialer Menschenrechte“, in: ders. und Georg Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, S. 146-187, hier S. 148 f. Und in der Diktion Henry Shues bezeichnen wir ein moralisches Recht als ein Grundrecht (basic right), weil es einer Person überhaupt erst ermöglicht, ihre Rechte einfordern zu können. Vgl. Henry Shue, Basic Rights. Subsistence, Affluence, and U.S. Foreign Policy, Princeton University Press, Princeton 1980. In seiner politischen Lesart der Kantischen Moralphilosophie stellt Rawls fest: „Kant's aim is to deepen and to justify Rousseau’s idea that liberty is acting in accordance with a law we give to ourselves. And this leads not to a morality of austere command but to an ethic of mutual respect and selfesteem.“ (TJ, S. 225). Sidgwicks Kantinterpretation folgend konstatiert Rawls, „that nothing in Kant’s ethics is more striking than the idea that a man realizes his true self, when he acts from the moral law, whereas if he permits his actions to be determined by sensuous desires, or contingent aims, he becomes subject to the law of nature“ (TJ, S. 224). Vgl. Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Appendix, „The Kantian Conception of Free Will“, 7. Aufl. 1907 (1. Aufl. Indianapolis 1874), S. 511-516, hier S. 516. Entsprechend formuliert Rawls das Kriterium der Öffentlichkeit (publicity), das besagt, dass die Parteien die Gerechtigkeitsgrundsätze immer schon in Hinsicht auf eine öffentliche Gerechtigkeitsvorstellung aufstellen, deren Ak-
Anmerkungen
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zeptanz auf einer allgemeinen und öffentlichen Übereinstimmung (agreement) beruht. In diese Richtung interpretiert er dann auch Kants moralisches Gesetz: „The publicity condition is clearly implicit in Kant’s doctrine of the categorical imperative insofar as it requires us to act in accordance with principles that one would be willing as a rational being to enact as law for a kingdom of end. He thought of this kingdom as an ethical commonwealth, as it were, which has such moral principles for its public charter.“ (TJ, S. 115) 5. Nachdem die Personen im Urzustand die Gerechtigkeitsprinzipien angenommen haben, gehen sie zu Fragen der konkreten juridischen Verfassungskodifikation über, indem sie sich als Delegierte in einer Verfassungsversammlung (delegates to a constitutional convention) betrachten (TJ, S. 172). 6. Dass diese politische Vereinigung nicht notwendig auf den liberalen Verfassungsstaat beschränkt ist, hebt vor allem Thomas Pogge hervor. Vgl. Realizing Rawls, Cornell University Press, Ithaca und London, 1989, insbesondere „Part Three: Globalizing the Rawlsian Conception of Justice“, S. 211280. 7. Eine aufschlussreiche Diskussion dieser beiden Konzepte findet sich in Herlinde Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt am Main 2000, „1.2. Negative oder positive Freiheit?“, S. 18-24. 8. Ernst Tugendhat, „Liberalism, Liberty and the Issue of Human Rights“, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, S. 352-370. 9. Ebd., 354. 10. Für Nozick und andere libertäre Autoren ist eine Besteuerung für sozialstaatliche Aufgaben entsprechend nicht zu begründen und mit Zwangsarbeit gleichzusetzen: „Taxation of earnings from labor is on a par with forced labor.“ (ASU, S. 169) 11. In Tugendhats Diktion impliziert die Willensfreiheit immer schon Fähigkeiten (capacities) und Möglichkeiten (opportunities), die auf die Verwirklichung des Willens in der Handlung verweisen: „When we deal in the philosophy of mind with the freedom of the will, we say: an action is free, if, granted that we have the capacity and the opportunity to perform it, we do it, if we choose it.“ (a.a.O., S. 356)
6.2. Ökonomische Grundrechte 1. 2.
3. 4.
Ernst Tugendhat: a.a.O., S. 352-370.
Im Gegensatz zu seiner Theory of Moral Sentiments (1759) berücksichtigt Adam Smith in The Wealth of Nations (1776) bezeichnenderweise nur ein einziges ökonomisch relevantes Selbstverhältnis: die Selbstliebe (self-love). Tugendhat, a.a.O., S. 155. Die Wahlfreiheit in einem Marktsystem auf die Möglichkeit zur Subsistenzwirtschaft zurückzuführen, ist ein Argument, das u.a. Milton Friedman vorgebracht hat, den Tugendhat an dieser Stelle referiert: „Since the household always has the alternative of producing directly for itself, it need not enter into any exchange unless it benefits from it.“ (Ebd., S. 356) Vgl. Milton Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago 1963, S. 13.
206
Anmerkungen
5.
Zwar führen die meisten Praktiken zu Abhängigkeiten. Die Praxis, nach München zu reisen, führt beispielsweise in die Abhängigkeit von Tarifen und Zeitplänen öffentlicher Verkehrsmittel, aber bei allen Praktiken gibt es die Alternative, sie ganz einfach nicht auszuführen. Diese Option ist bei einer existentiellen Praxis, wie der ökonomischen Grundsicherung des eigenen Lebens, nicht gegeben. Statt dessen ist jede Person dazu gezwungen, am Markt teilzunehmen und sich seinen Bedingungen zu unterwerfen. Selbst wenn wir einräumen, dass keine Person einem direkten Zwang (coercion) ausgesetzt ist, einen abhängig machenden Arbeitsvertrag einzugehen, so wird sie doch immerhin durch ihr existentielles Bedürfnis zu überleben fest an solche Verträge gebunden, was in Tugendhats Verschärfung dem Tatbestand der Nötigung (duress) zumindest sehr nahe kommt: „The capitalist“, so Tugendhat, „is abusing the fact that the proletarian has no alternatives and this could be said to come at least close to coercion“. (Ebd., S. 358) 6. Ebd., S. 358 f. 7. In der Equality-of-What?-Debatte vertritt Tugendhat also einen Ansatz, der die Chancengleichheit und die Gleichheit von Befähigungen anvisiert und diesbezüglich am deutlichsten von einem Konzept der Ressourcengleichheit (equality of ressources) abweicht, wie ihn beispielsweise Ronald Dworkin vertreten hat. Nicht zufällig steht Tugendhats Vorschlag den Theorien Martha Nussbaums und Amartya Sens sehr nahe, die vorschlagen, den Gerechtigkeitsbegriff auf eine Gleichheit von Befähigungen (capability approach) und genuin menschlichen Betätigungen (Human functionings) umzustellen. Vgl. Ronald Dworkin: „What is Equality? Part 2: Equality of Resources“ in: Philosophy and Public Affairs, Bd. 10, Nr. 4, 1981, S. 283 - 345; Amartya Sen, Commodities and Capabilities, Oxford 1999 (Originalausgabe 1985); Martha Nussbaum: „Human Functioning and Social Justice: In Defence of Aristotelian Essentialism“, in: Political Theory, Bd. 20, Nr. 2, 1992, S. 202-246. 8. Tugendhat, a.a.O., S. 361. 9. Ein Recht auf Arbeit bedeutet in diesem Rahmen lediglich, dass man einen Anspruch darauf geltend machen kann „for obtaining the opportunity to the exercise of one’s activities in order to provide oneself for one’s own and one’s family means to live“ (Ebd., S. 362). 10. Ebd., S. 362. 11. „That the citizen can claim these things as rights and therefore as his due gives him a feeling of non-dependency and self-respect.“ (ebd., S. 367)
6.3. Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Arbeit 1.
2.
Vgl. Kildal, Nanna, „The Social Basis of Self-Respect. A Normative Discussion of Politics Against Unemployment“, in: Thesis Eleven, H. 54, 63-79; und Diana T. Meyers, „Work and Self-Respect“, in: Ezorsky, Gertrude (Hg.), Moral Rights in the Workplace, Albany, State Universíty of New York Press, 1987. Arbeit und Selbstverwirklichung schließen sich Aristoteles zufolge gegenseitig aus, weil Arbeit eine per se unfreie und ermüdende Tätigkeit ist, die uns
Anmerkungen
3.
4.
5.
6. 7.
8.
207
nicht zur Muße (scholé) kommen lässt, in der es uns allein gelingt, ein glückseliges Leben (als bios theôorêtikos) zu verwirklichen. (NE, 1177b) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), darin: „IV. Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst; A. Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft“, S. 103109. (in: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. Von W. Bonsiepen und R. Heede, Hamburg 1980.) Weil das materielle Sein für Marx konstitutiv für das Bewusstsein ist und das materielle Sein des Proletariers vom Kapitaleigner abhängt, ist der Proletarier nicht nur ökonomisch gebunden, sondern auch in seinem eigenen Bewusstsein unfrei. Dieser konsequente Materialismus ist aber nicht sehr plausibel. In der rechtsgebundenen Selbstachtung einer Person haben wir einen möglichen Weg beschrieben, um sich selbst außerhalb eines materiellen Determinismus zu konstituieren. Eine genauere Besprechung der marxistischen Kapitalismuskritik in Auseinandersetzung mit dem Selbstachtungskonzept findet sich bei Stephan Schlothfeld, Arbeit, Selbstachtung, Selbstverwirklichung. Eine Einführung zum Thema ‚Zukunft der Arbeit’ aus philosophischer Perspektive, Forschungsgruppe Zukunft der Arbeit, Heft 24, hg., von Birger P. Priddat, Witten Herdecke 1995 (wiederabgedruckt in: B. Priddat: Arbeits-Welten, Marburg 1996); die einschlägigen Passagen bei Marx finden sich in den „Pariser Manuskripten“ (Karl Marx und Friedrich Engels Studienausgabe, Bd.I und II, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt am Main 1966, darin: „Aus den Exzerptheften: die entfremdete und die unentfremdete Gesellschaft, Geld, Kredit und Menschlichkeit“, S. 243-257) und dem Kapital, MEW, Bd. 23, 1962). Vgl. zur Prekarisierung der Arbeitswelt Robert Castel, Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000 (orig.: Les métamorphoses de la question sociale, 1995); zur Flexibilisierung der Arbeitswelt: Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998 (orig.: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, 1998); und zu neueren Analysen makroökonomischer Dependenzerscheinungen: Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, Cambridge 2002; sowie: Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, Cambridge, Harvard University Press, 2001. A.a.O., darin insbesondere der Abschnitt „Was ist Selbstachtung?“ und „Inwiefern hängen Selbstachtung und Arbeit zusammen?“, S. 18-26. Ebd., S. 19. Schlothfeldt verwendet Selbstachtung ausdrücklich synonym zur Selbstschätzung und zum Selbstwertgefühl und stützt sich dabei auf den eher sozialpsychologisch geprägten Selbstachtungsbegriff Ursula Wolfs, für die Selbstachtung von einer affektiven Beziehung zu anderen, von der Ausübung von Tätigkeiten, die man gern tut und von der Erfahrung, geschätzt zu werden, abhängt. Vgl. Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin 1984, S. 140 ff. Wolfs Begriff wird dann wieder von Ernst Tugendhat aufgegriffen, der in seinen „Retraktationen“ zwischen der Selbstschätzung für das eigene Gutsein und dem Selbstrespekt für das eigene Sein unterscheidet (in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 132-176, hier: S. 135 ff.). Zumindest will es Schlothfeldt offen lassen, ob Menschen ihre Selbstachtung nicht genauso gut durch „ererebten Reichtum, Geburtsadel oder ihr
208
9.
10. 11.
12.
13.
14. 15. 16.
17.
18.
Anmerkungen natürlich schönes Gesicht gewinnen“ (ebd., S. 20) wie durch ihre eigenen Lebenspläne und Leistungen. In „After the Family Wage“ gibt Nancy Fraser eine Bestandsaufnahme der Debatte um den Familienlohn und argumentiert für eine Dekonstruktion der genderspezifischen Unterscheidung in Lohn- und Hausarbeit (in: dies., Justice Interruptus. Critical Reflections on the ‚Postsocialistȧ Condition, New York 1997, S. 41-68). Vgl. Linda Tschirhat Stanford und Marry Ellen Donovan, Frauen und Selbstachtung, Hamburg 1994. Vgl. Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2002, hier insbesondere Kap. II „Familienarbeit: Kann denn Liebe Arbeit sein“ und darin II.7. „Die Lohnforderung für Familienarbeit“, S. 75-79. Bernd Ladwig stellt diesbezüglich fest: „Weiterhin dürfte die Chance, durch gesellschaftlich nützliche und geachtete Anstrengungen zum eigenen Lebensunterhalt wenigstens beizutragen – also nicht allein von Transfereinkommen abzuhängen –, eine wichtige Bedingung personaler Selbstachtung sein“. Bernd Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000, S. 150. Thomas Pogge weist beispielsweise darauf hin, dass Personen, die in einem Unrechtsregime (oppressive institutional order) systematisch diskriminiert werden, möglicherweise irgendwann ihren niederen Status zu akzeptieren beginnen und sich mit ihrer Situation arrangieren. Allerdings betrachtet Pogge dies nicht als freie Entscheidung, sondern spricht in diesem Fall davon, dass solche Personen manipuliert (brain-washed) wurden. Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, Cambridge 2002, S. 36. Vgl. Aristoteles Politik, 1254a-1255a. Vgl. dazu auch J. Kupfer, „Prostitutes, Musicians, and Self-Respect“, in: Journal of Social Philosophy, Bd. 26, 1995, S. 75-88. Eine freiwillige Prostitution, in der einer Prostituierten echte Alternativen zur Lebenssicherung offen stehen, wäre dagegen mit ihrer Selbstachtung vereinbar. In der Regel ist aber wohl die Einschätzung zutreffend, dass die ursprüngliche Entscheidung zur Prostitution einer existentiellen Sorge, einem externen Druck, einem falschen Versprechen oder einer Kombination dieser drei Momente und damit einer unfreien Entscheidungssituation entsprungen ist. Nanna Kildal hat in diesem Zusammenhang ebenfalls dafür argumentiert, dass eine selbstachtungsfunktionale Begründung zwar auf ein Recht auf eine ökonomische Grundsicherung, nicht aber auf ein Recht auf Arbeit hinausläuft. Kildal, Nanna: „The Social Basis of Self-Respect: A Normative Discussion of Politics Against Unemployment“, in: Thesis Eleven, Bd. 54, S. 63-79. Vgl. auch den Artikel 25.1. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das Grundrecht auf körperliche Integrität (self-ownership) kann nicht kulturell relativiert werden, weil der Körper unmittelbar mit der positiven Handlungsfreiheit der Person zusammenhängt und Grundlage ihrer Selbstachtung ist.
Anmerkungen
209
19. Für den sozialpsychologischen Selbstachtungsbegriff gibt Stephan Schlothfeldt eine Reihe weiterer Kriterien für eine erfüllende und das Selbstwertgefühl einer Person steigernden Tätigkeit an: a) das Einkommen, b) die Möglichkeit sozialer Kontaktbildung, c) eine vorhersehbare und langfristige Zeiteinteilung verbunden mit planbarer Freizeit, d) ein gehobener sozialer Status, e) soziale Wertschätzung und Anerkennung sowie damit verbunden das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas nützliches zu leisten. A.a.O., S. 23f. 20. Richard Sennett hat diesen die Selbstachtung von Personen tragenden Stolz auf ihre ökonomische Selbständigkeit ausführlich in seinen Chicagoer Milieustudien beschrieben: „In ihrem statusarmen Beruf gefangen, hatten sie oft das Gefühl, sie hätten versagt und in ihrer Arbeit nichts gemacht. Aber es fehlte ihnen nicht an Selbstachtung; die bezogen sie aus der Tatsache, dass sie ihre Familien versorgten.“ Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002, S. 65. 21. Zur Diskussion um den Zusammenhang von Selbstachtung und einem Recht auf Arbeit vgl. Thomas Steinforth, Selbstachtung im Wohlfahrtsstaat. Eine sozialethische Untersuchung zur Begründung und Bestimmung staatlicher Wohlfahrtsförderung, München 2001, S. 264-266. 22. Weiter bietet es sich an, das Recht auf Privatbesitz und auf Eigentum zu den spezifisch ökonomischen Voraussetzungen der Selbstachtung zu zählen. Für diese Position argumentiert auch John Rawls: „Zu den Grundrechten gehört das Recht auf Besitz und ausschließlichen Gebrauch persönlichen Eigentums […] Dass man dieses Recht hat und es wirksam wahrnehmen kann, ist eine der sozialen Voraussetzungen der Selbstachtung.“ (Gerechtigkeit als Fairness, Frankfurt am Main 2003, S. 180.)
6.4. Kulturelle Minderheiten- und Selbstbestimmungsrechte 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7.
Vgl. vor allem Will Kymlicka, Liberalism, Community and Culture, Oxford 1989, insbesondere Kap. 8, „The Value of Cultural Membership“, S. 162181. Ebd., S. 162. Ebd., S. 164 f. Ebd., S. 166. Will Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten in Staaten und Nationen, Hamburg 1999, S. 59. Bei Kymlicka rührt die Verletzung der Selbstachtung aufgrund des erzwungenen Verlassens der eigenen Kultur einerseits aus der Erfahrung, dass die soziale Voraussetzung der Mitgliedschaft wegfällt, bei Vertriebenen aber noch vielmehr aus dem Zwangscharakter ihrer Vertreibung, weil der Entzug der Staatsbürgerschaft eine besonders ernste Form der Entrechtung darstellt. Diskutiert wird dieser Zusammenhang bei Carolin Emcke, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt a. M. 2000, S. 55 ff. Für eine an Kymlicka orientierte Diskussion des Verhältnisses von Selbstachtung und Immigration vgl. Micha Brumlick, „Selbstachtung und nationale Kultur. Zur politischen Ethik multikultureller Gesellschaften“, in: Blätter
210
8.
9.
Anmerkungen für deutsche und internationale Politik, Bd. 43, Nr. 8, 1998, S. 943-953, hier S. 945-948. Zum Begriff der Nationenbildung, vgl. Will Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten und Nationen, Hamburg 1999, S. 22 ff.; und ders., Politics in the Vernacular. Nationalism, Multiculturalism, and Citizenship, Oxford 2001, S. 27 ff. Kritisiert wird dieses Argument bei Carolin Emcke, a.a.O., S. 61 f. Zum Begriff der gesellschaftlichen Kultur, vgl. Will Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten und Nationen, Hamburg 1999, S. 21 ff.; und ders., Politics in the Vernacular. Nationalism, Multiculturalism, and Citizenship, Oxford 2001, S. 25 ff.
6.5. Politische Partizipation 1.
2.
3. 4.
Rainer Forst stellt fest, dass die „politische Dimension der Selbstachtung […] in der Anerkennung als vollwertiger Mitbürger“ (Forst 1996, S. 219) besteht und macht darauf aufmerksam, dass Rawls in späteren Arbeiten immer mehr den politischen Charakter seiner Theorie der Grundgüter herausstellt und „diese Grundgüter hinsichtlich der Bedürfnisse von Bürgern spezifiziert“ (ebd., S., 220). Insbesondere in seinen Aufsätzen der achtziger Jahre arbeitet Rawls seine selbstachtungsfunktionale Begründungslinie auf den politischen Kontext um, so dass Forst ihn folgendermaßen auf den Punkt bringen kann: „Die Prinzipien der Gerechtigkeit entsprechen somit dem Bestreben der Bürger, soziale Verhältnisse zu schaffen, in denen die Möglichkeit für Personen besteht, ein eigenes, der Selbstachtung zuträgliches Leben zu führen.“ (ebd., 220) Vgl. John Rawls, „Der Vorrang der Grundfreiheiten“ (1982) in: Die Idee des politischen Liberalismus. Politische Aufsätze 1978-1989, hg. von W. Hinsch, Frankfurt am Main 1992, S. 166. Für eine anschlussfähige Definition der Bürger- oder Zivilgesellschaft vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Darmstadt (WBG) 1994 (4. Aufl.), S. 443: „Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten.“ Vgl. zur Theorie der Zivilgesellschaft auch: Jean L. Cohen und Andrew Arrato, Civil Society and Political Theory, Cambridge/Mass. 1992; und Frank Adloff, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt am Main 2005. Vgl. Habermas, a.a.O., S. 448 ff. Am prägnantesten wir diese Idee vorgestellt in Nancy Fraser, „Ethik ohne Anerkennung?“, in: Henning Hahn, Selbstachtung oder Anerkennung. Beiträge zum Begründungsdiskurs um Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005, S. 152-176. Weiter ausgeführt wird sie unter anderem in: Dies., „Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung“, in: dies. und Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung?
Anmerkungen
5.
6.
7.
211
Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main 2003, S. 13-128, hier S. 51-69. Was die konkreten Grundrechtsforderungen angeht, die eine partizipatorische Parität über die genannten Partizipationsrechte hinaus sichern, können wir uns der sicherlich nicht vollständigen, aber sehr weitgehenden Auflistung anschließen, in der Jürgen Habermas alle vom deutschen Grundgesetz ausgehenden Partizipations- und Bürgerrechte aufzählt, die notwendig sind, um die Zivilgesellschaft im Sinne einer chancengleichen Partizipation zu normieren: „Die grundrechtliche Verfassung dieser Sphäre gibt einen ersten Aufschluss über deren gesellschaftliche Struktur. Die Versammlungsfreiheit und das Recht, Vereine und Gesellschaften zu gründen, definieren, in Verbindung mit der Meinungsfreiheit, den Spielraum für freiwillige Assoziationen, die in den Prozess öffentlicher Meinungsbildung eingreifen [...] Die Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie das Recht zu freier publizistischer Betätigung sichern die mediale Infrastruktur der öffentlichen Kommunikation [...] Das politische System [...] ist über die Betätigung politischer Parteien und die Wahlberechtigung der Staatsbürger mit Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft verschränkt. Diese Verzahnung wird durch das Recht der Parteien auf Mitwirkung bei der politischen Willensbildung sowie durch das aktive und passive Wahlrecht (und andere Partizipationsrechte) der Bürger garantiert.“ Darüber hinaus nennt Habermas noch den grundrechtlichen Schutz der Privatsphäre; wie „Persönlichkeitsrechte, Glaubens- und Gewissenfreiheit, Freizügigkeit, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung sowie den Schutz der Familie“, weil die Familie „eine unantastbare Zone persönlicher Integrität und selbständiger Gewissens- und Urteilbildung“ bereitstellt. (Ebd., 445 f.) Vgl. auch Walzer (1983, S. 277 f.), der „democratic citizenship“ als eine soziale Grundlage der Selbstachtung versteht: „But it is the minimal standards intrinsic to the practice of democracy that set the norms of selfrespect. And as these standards spread throughout civil society, they make possible a kind of self-respect that isn’t dependent on any particular social position, that has to do with one’s general standing in the community and with one’s sense of oneself, not as a person simply, but as a person effective in such and such a setting, a full and equal member, an active participant.“ Ebenso argumentiert Joshua Cohen, dass das Rawls’sche Selbstachtungskonzept nur mit einer demokratischen Grundstruktur vereinbar ist („For a Democratic Society“, in: Samuel Freeman (Hg.), The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 86138, hier S. 108 ff. Auch in diesem Zusammenhang führt Rawls Selbstachtung als normatives Konzept ein, wenn auch in dem völlig anders gelagerten Sinn, dass die Selbstachtung oder eben präziser die Selbstschätzung einer Person auf der Identifikation mit der Geschichte ihrer Volksgemeinschaft beruht, für deren Errungenschaften und Irrwege sie von Angehörigen anderer Völker geachtet oder auch verachtet wird. John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge/Mass. 2001, S. 59 ff.
212 8. 9.
Anmerkungen „A decent hierarchical society’s conception of the person ... does not require accaptance of the liberal idea that citizens are citizens first and have equal basic rights as equal citizens.“ (ebd., S. 67) „This interest is a people's proper self-respect of themselves as a people, resting on their common awareness of their trials during their history and of their culture with its accomplishments. Altogether distinct from their selfconcern … this interest shows itself in a people’s insisting on receiving from other peoples a proper respect and recognition of their equality.“ (ebd., S. 34 f.)
6.6. Moralische Grundlagen eines subsidiären Kosmopolitismus 1.
Vgl. dazu Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999; ders., Königliche Völker. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt am Main 2001; und: Stefan Gosepath und Jean-Christoph Merle, Föderale Weltrepublik. Über die Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2002. 2. Für eine umfangreichere Behandlung der Globalisierung normativer Kontexte vgl. vor allem Höffe (1999), S 352-434. 3. Vgl. Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, Cambridge 2002. 4. Vgl. Thomas Nagel Ders., „The Problem of Global Justice“, in: Philosoophy and Public Affairs, 33, Nr. 2, 2005, S. 113-147. 5. Stefan Gosepath weist darauf hin, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zwar kein verbindliches und einklagbares Recht darstellt, dass aber beispielsweise der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als ein verbindliches Vertragswerk gelten kann und dass die Europäische Sozialcharta mittlerweile in positives und damit einklagbares Recht umgesetzt ist. Vgl. Stefan Gosepath, „Zur Begründung sozialer Menschenrechte“, in: ders. und Georg Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main, S. 146 - 187, hier S. 146 f. 6. Vgl. Pogge, a.a.O. 7. Darum, so Pogges weitreichender Vorwurf, haben diese Länder den Hungertod von Millionen von Menschen mit zu verantworten: „I agree that the distinction between causing poverty and merely failing to reduce it is morally significant ... I challenge the claim that the existing global order is not causing poverty, is not harming the poor.“ (ebd., S. 13) 8. „Death caused by global economic arrangements designed and imposed by our governments are a different matter: these governments are elected by us, responsive to our interests and preferences, acting in our name and in ways that benefit us. This buck stops with us.“ (ebd., S. 21) 9. Vgl. Höffe (1999), S. 363. 10. Vgl, Pogge, a.a.O., und Charles Beitz, Political Theory and International Relations, Princeton 1999. 11. Otfried Höffe spricht von einer „subsidiären und föderalen Weltrepublik“, ebd., S. 225 ff. Für eine Diskussion des Subsidiaritätsprinzip vgl Stefan Go-
Anmerkungen
213
sepath, „The Global Scope of Justice“, in: Thomas Pogge, Global Justice, ³2001, S. 145-168, hier 162 ff.
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Diskriminierung, 57, 129, 133f. Dissident, 5, 7ff. Dworkin, Ronald, 206 Egalitarismus 15, 106, 111, 113, 154 Eigenliebe, 73f. Emcke, Caroline, 185, 210 Empörung, 63 Erhabenheit, moralische, 74, 99 Erniedrigung, 63 Ethik, 40ff., 106f. Feinberg, Joel, 130, 203 Folter, 64f. Forst, Rainer, 18, 21, 26, 163, 174, 175, 194, 210 Frankfurt, Harry, 88f. Fraser, Nancy, 164, 179, 208 Freiheit, 85ff. Handlungsfreiheit, 89, 91, 136ff., 140, 145f., 205 radikale, 55 und Selbstachtung 105, 108ff. Wahlfreiheit, 142 Willensfreiheit, 87f., 91, 138, 188f., 193 Galston, William A., 197 Gefühle, moralische, 5, 46f., 52, 71, 79ff., 128 rationale, 75, 128f. Geiz, 81 Gemeinschaft, kulturelle, 156ff. moralische, 62, 132
Namen- und Sachregister Gerechtigkeit, distributive, 57, 114 soziale, 102ff., 107, 140 Gerechtigkeitstheorie, liberale, 13 selbstachtungsfunktionale, 4ff., 14ff., 34, 53, 57, 101ff., 107, 136, 145, 165 Gerhardt, Volker, 172, 173, 176, 184, 188ff. Gewissen, 76, 79, 83 Goethe, Johann W. v., 115 Gosepath, Stefan, 174, 188, 197, 204, 212 Gründebedürftigkeit, 93ff. Grundgesetz, moralisches, 27 der praktischen Vernunft, 91 Grundgüter, 103f., 122, 200 Grundrechte, juridische, 27, 120, 140 kulturelle, 24f., 28, 140, 157ff. moralische, 133, 137ff., 145, 156, 204 ökonomische, 26-28, 140ff., 145f., 152, 155 politische, 28, 140, 163ff. Guten, Idee des, 106 Habermas, Jürgen, 163, 210f. Havel, Václav, 5ff., 17, 172 Hegel, Georg W.F., 147f., 207 Hill, Thomas, 187, 191 Hobbes, Thomas, 194 Höffe, Otfried, 169, 180, 190, 193, 197, 212 Honneth, Axel, 48, 50f., 130, 172, 176, 179, 183, 196, 203 Hume, David, 41, 43ff., 68f., 180, 187 Identität, 6f.; praktische, 13, 15ff.; 19ff., 25, 68, 96ff., 110, 131, 147f., 173 juridische, 20f. kulturelle, 19ff., 24f., 157f. moralische, 23-27 politische, 21f.
229
Integrität, moralische, 1, 7f., 38 James, William, 178 Joas, Hans, 182 Kant, Immanuel, 54, 70-95, 137f., 187ff. Kersting, Wolfgang, 195-198 Kaulbach, Friedrich, 188f. Konsequentialismus, 8 Kontext, normativer, 18ff., 167 kultureller, 18, 24f., 157ff., 167 juridischer, 18, 169 moralischer, 18 ökonomischer, 26f., 141ff., 167 politischer, 21f., 163ff., 167 Kommunitarismus, 19f. Korsgaard, Christine, 67ff., 89, 95ff., 173, 187f., 193ff., 200 Kosmopolitismus, 33ff., 166ff., 193 Kränkung, 61, 186 Krebs, Angelika, 133 Kymlicka, Will, 156ff., 173, 197, 209f. Ladwig, Bernd, 173, 174, 185, 201, 208 Lebensplan, 103ff., 120ff., 155, 195 Leistung, 115, 149f. Liberalismus, 101ff., 107, 119ff. Libertarismus, 93, 112ff., 139, 141f., 146, 199ff. Margalit, Avishai, 40, 52ff., 58ff., 128ff., 176ff., 183ff., 202ff. Marx, Karl, 115, 147f. Massey, Stephen J., 178, 203 McKinnon, Catriona, 171 Mead, George Herbert, 12, 41, 48ff., 173, 178, 181f. Megalopsychia, 41ff., 179f. Menschenrechte, 34, 132f., 139, 145, 160, 194, 204 Minderheitenrechte, 157ff., 161f. Moral 52ff., 106ff. Moralpsychologie, 116, 119, 196 Motivation 32f., 72f., 76
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Namen- und Sachregister
Nagel, Thomas, 33, 168, 176 Neid, 111, 196 Nida-Rümelin, Julian, 172, 176, 183f. Nietzsche, Friedrich, 60, 108, 185 Nozick, Robert, 112ff., 199ff. Nullmeier, Frank, 173, 185 Nussbaum, Martha, 173, 174, 201, 206 Öffentlichkeit, 21f., 205 Onkel Tom, 1ff., 56, 99, 130, 176 Opportunismus, 58f., 81f., 191 Partizipation, 162ff. Pauer-Studer, Herlinde, 197, 205 Perfektionismus, 14, 107f., 197 Person, 7f., 16-24, 35ff., 87, 96, 145 autonome, 11, 17, 55f., 121 freie, 139 moralische, 93, 127, 166 rationale, 103f., 120 Pflicht, 15f., 68f., 79ff., 132, 168f. Pluralismus, 99, 159 Pogge, Thomas, 168f., 205, 207f., 212f. Rawls, John, 14, 40, 101-138, 153, 63, 165, 178, 191, 195ff., 200ff., 209f., 212 reflective endorsement, 68ff. Reich der Zwecke, 89f., 137, 193 Ricœur, Paul, 201f. Rousseau, Jean Jacques, 91, 205 Sachs, David, 174 Sala, Giovanni B., 75, 188 Scarano, Nico, 188, 190 Scham, 121ff., 152, 175 moralische, 63, 78, 123f. natürliche, 123f. Schlothfeld, Stephan, 149f., 207ff. Selbst, autonomes, 23 rationales, 103ff. soziales, 11
Selbstachtung, moralische, 8ff.; 18ff., 23ff., 30f., 56ff. , 62ff., 102ff.,125f., 144, 151, 178 rationale, 37f., 58, 61, 64-65, 99f., 121ff., 176, 177, 186 rechtsgebundene, 4f., 28f., 31, 85, 93, 103ff., 119ff., 126f., 128ff., 132f., 144f. soziale Voraussetzungen, 14, 102f., 122, 127, 139, 152, 157ff., 163, 201 Selbständigkeit, 149ff. Selbstbilligung, 71ff., 76, 190 Selbstbestimmung, moralische, 7, 13, 23f., 53ff., 87, 125 rationale, 108, 121 Selbstdisziplin, 54, 71ff. Selbstinterpretation, 9, 131f., 157 Selbstkonstitution, 17, 23, 67ff., 85, 90, 99, 124, 137, 187, 200 Selbstliebe, 74, 180, 189 Selbstschätzung, komparative, 40, 113ff., 178, 199f. kulturelle, 19f.,40ff.; juridische, 20f. 18ff. ökonomische, 18ff. politische 21f., 163 sozialpsychologische 38; 41ff., 114, 121f., 125f., 178 Selbstvergewisserung, 9, 25, 53, moralische 17, 28ff., 70, 102, 126, 156 Selbstverhältnis, normatives, 15f., 19, 114 praktisches, 36ff., rationales, 128 sozialpsychologisches, 58 Selbstverständnis, 15, 17, 28 eschatologisches, 131 kulturelles, 162 Selbstvertrauen, 122 Selbstverwirklichung, 54, 148f. Selbstwertgefühl, 1ff., 18, 38, 41, 61, 115, 120, 125f., 149 Selbstzufriedenheit, 76
Namen- und Sachregister Sen, Amartya, 173, 174, 197, 206 Sennett, Richard, 209 Shue, Henry, 196, 204 Sidgwick, Henry, 205 Sklaverei, 1ff., 132, 139, 147, 151 Smith, Adam, 41, 46ff., 141, 180f., 192 So-Sein-Wollen, 15ff., 23, 30, 70, 149 Sozialstaat, 57f., 101ff., 107, 114, 127, 146 Status, 125, 131, 202 Steinforth, Thomas, 173, 178, 187, 204, 209 Stoizismus, 38, 59f., 185 Strub, Christian, 181 Sturma, Dieter, 36, 177 Sussmann, David, 186 Taylor, Charles, 11, 172, 173 Thoreau, Henry David, 171 Triebfeder, 71ff., 188, 190
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Tugendhat, Ernst, 15, 48, 56, 94, 139-146, 172, 174, 181ff., 193, 203, 205f. Urzustand, 105, 119, 137 Utilitarismus, 106 Verfassung, juridische, 35, 93, 101, 119, 129 moralische, 12, 23f., 28ff., 35, 91ff., 124, 127, 129, 132, 137 normative, 16f. Vernunft, praktische, 8, 70ff. Verpflichtungsgrund, 71, 77, 83, 92f., 188 Walzer, Michael, 40, 57, 176, 211 Wildt, Andreas, 203f. Weltrepublik, 166 Williams, Bernard, 174, 201 Wolf, Ursula, 208