Alfred Bollinger
Mit dem Ball zu den Sternen
Ein Fußball-Roman
Lektorat: Anja Thea Bayer, Michael Friedrichs Umschl...
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Alfred Bollinger
Mit dem Ball zu den Sternen
Ein Fußball-Roman
Lektorat: Anja Thea Bayer, Michael Friedrichs Umschlag: Marc Grethen Druck: Ebner et Spiegel, Ulm Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-89639-506-8 © Wißner-Verlag Augsburg 2005 Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags.
Sachbücher über Fußball füllen die Regale in den Buchläden und Bibliotheken. Fußballromane für Erwachsene sucht man auf dem deutschen Buchmarkt jedoch meist vergeblich. Der Schweizer Autor erzählt hier die Geschichte des talentierten Spielers Pablo aus Honduras, der es zu einem Vertrag bei den Grasshoppers Zürich bringt und als Stammspieler der Nationalmannschaft die große Stürmerhoffnung während der WM 1998 ist. Das Schicksal und die Götter der Mayawelt meinen es nicht immer gut mit Pablos Familie: Im so genannten Fußballkrieg stirbt sein Vater und seine Mutter muss in ärmlichen Verhältnissen ihre Kinder alleine großziehen. Durch Pablo lernt sie einen Mäzen kennen, der ihre Familie und vor allem Pablo fördert und finanziell unterstützt. Bolinger vermischt reale und fiktive Ereignisse und Gegebenheiten und würzt diese mit den Bemerkungen der Götter, die das ereignisreiche Leben des Fußballspielers verfolgen und letztendlich sein Schicksal bestimmen.
Üblicherweise machen die Fans aus dem Spiel ein Drama, bisweilen aber auch aus dem Drama ein Spiel. Der französische Ethnologe Christian Bromberger in seinem Buch »Football, la bagatelle la plus sérieuse du monde«
1
Carlos Moya fuhr mit seinem Taxi in Richtung Stadtzentrum. Der Verkehr war dichter als sonst, er kam nur im Schritttempo voran. Dann stockte die Kolonne ganz. Carlos fluchte vor sich hin und drückte auf die Hupe. Doch die Avenida war weit vorn durch einen Menschenpulk verstopft. »Keine Chance durchzukommen«, bedeutete er dem Fahrgast, der schimpfte, ausstieg und sich ohne zu zahlen davonmachte. Wie kleine Lauffeuer breiteten sich Gerüchte entlang der Wagenkolonne aus. »El Salvador« und »Denen werden wir’s zeigen« waren die Schlagworte. Carlos verließ sein Auto und diskutierte vor der Kühlerhaube über das Ereignis des kommenden Tags, über das Fußball-Länderspiel zwischen Honduras und El Salvador. Aber war das Spiel ein Grund, dass die Fans schon am Vortag randalierten und den Verkehr zum Erliegen brachten? Als Carlos nach fast einer Stunde aus der Kolonne ausscheren und in eine ruhigere Straße ausweichen konnte, parkte er und lief dem Lärm entgegen. Je näher er kam, desto ohrenbetäubender wurde das Gebrüll. Über einen Hinterhof mischte er sich unter die Zaungäste. Rotten von Jugendlichen, die blauweiße Trikots der Nationalelf trugen, versperrten die Hauptader der Altstadt und belagerten das Hotel Prado. Dort war, wie Carlos erfuhr, die Mannschaft von El Salvador einquartiert. Die Demonstranten schwangen rhythmisch die Arme und skandierten: »Halunken, Gauner, Foulspieler!« Frauen verteilten Pfannendeckel, worauf ein Geklapper und Geschrei anhob, das bis hinunter zum Fluss Choluteca und hinüber zum Nationalstadion drang. Ein wahrer Cacerolazo. Die Polizisten fraternisierten mit den Fans und machten
keinerlei Anstalten, die Straße zu räumen. Trommeln und Pauken wurden herbeigeschleppt, die Zahl der Pfannendeckel vervielfacht. Steine sirrten durch die Luft, Fensterscheiben klirrten, Farbbeutel platschten an die Hotelfassade. Wieder wurden Sprechchöre laut: »Keine Minute Schlaf für euch Hurensöhne, Krach bis in den Morgen!« Jetzt erst begriff Carlos, was hier los war. Die Demonstranten wollten den Spielern von El Salvador eine höllische Nacht bereiten, um sie für den folgenden Tag zu schwächen. Gruppen von Radaubrüdern wechselten einander mit Werfen und Grölen ab. Während der Ruhepausen ölten sie ihre Stimmen mit Bier und knabberten Schweinswürstchen, die alte Weiber an den Hausmauern rösteten. Der Krawall flaute auch nicht einen Augenblick lang ab, Knallfrösche zuckten über das Pflaster, Trommelwirbel und Paukensalven ertönten. Carlos hatte genug. Zwar wünschte auch er den Salvadorianern eine Niederlage im Länderspiel, doch lehnte er Gewalt in jeder Form ab. Die freche Drohung El Salvadors, Teile des Hoheitsgebiets von Honduras zu erobern, nahm Carlos auf die leichte Schulter. Er glaubte an die Schlagkraft der eigenen Armee. Die drei kleinen Parterre-Zimmer, die Carlos Moya und seine Frau Ada mit den Töchtern Elsa und Isabel in der Hauptstadt Tegucigalpa bewohnten, lagen an der Avenida 7 des heruntergekommenen Viertels Comayagúela, an der Ecke zur Calle 11. Im Vergleich zu den Behausungen der Nachbarn war ihre Wohnung ordentlich eingerichtet. Die Mädchen nächtigten auf Doppelpritschen in einem zehn Quadratmeter großen Raum. An der Wand hing ein Poster mit einer Pinguinfamilie, die über antarktisches Eis wackelt. Auf dem Stuhl, der eigentlich als Ablagefläche gedacht war, schnurrte die Katze Chucha in ihrem Körbchen. Aus einer Nische des Elternzimmers lächelte eine Marienfigur, mit der Ada häufig
Zwiesprache hielt. Einziger Luxus des Wohn- und Esszimmers waren ein Kleinradio und ein schäbiger Polstersessel, in dem sich Vater Carlos ausruhte, wenn er vom zwölfstündigen Pensum als Taxichauffeur heimkehrte. Bei Besuchen wurden Hängematten aufgespannt. Alle zwei Jahre kreuzten Carlos’ Schwiegereltern aus Copán auf, woher Adas Familie stammte. Ada war stolz darauf, dass sie zu drei Vierteln indianisches Blut hatte. Entgegen ihrer bescheidenen und zurückhaltenden Natur taute sie bei diesem Thema auf und behauptete dann gerne, Fürst Mond-Jaguar sei ihr Vorfahre, der einstige Herrscher der Maya-Stadt Copán im Norden des Landes. Sie hatte dunkle Haut, buschige Augenbrauen, eine leichte Hakennase und üppige Lippen. Von Statur war sie mittelgroß und schlank. Nicht nur Carlos fand seine Frau attraktiv. Als er die Wohnung betrat, schliefen die Kinder bereits. Ada setzte sich zu ihm und reichte ihm einen gebratenen Hühnerschenkel, an dem er genüsslich zu nagen begann. »Hattest du einen anstrengenden Tag?«, wollte sie wissen. Carlos erzählte ihr von der Demonstration vor dem Hotel Prado. »Hm, ich habe von den Krawallen gehört.« »Heute Nachmittag hab ich nicht einen Centavo verdient.« »Aber wenigstens hast du Karten für das Spiel von morgen?« »Die hab ich wieder verkauft. Ich brauchte Geld.« »Gut, dass du den Prügeleien aus dem Weg gehst. Vor den Salvadorianern muss man sich hüten.« »Ach was, vor denen haben wir doch keine Angst. Die haben Angst vor uns.« »Jetzt vielleicht, aber nicht beim Rückspiel in ihrem Land«, gab Ada zu bedenken. Seit kurzem hatte sie das Gefühl, wieder schwanger zu sein. Jedenfalls war ihr morgens immer verdächtig übel. Die Präsidenten beider Nachbarländer waren Generale. Als General und Staatschef Hernández in El Salvador von der
Belagerung und Belästigung seiner Spieler erfuhr, wollte er seinen Kollegen von Honduras, General Villeda anrufen. Doch Villeda ließ sich verleugnen und für unabkömmlich erklären. So konnte Hernández am Telefon nur den Stabssekretär einschüchtern und ihm drohen, Honduras werde die Zeche noch bitter bezahlen. Die aufgeheizte Stimmung zwischen den Nachbarstaaten erreichte einen ersten Höhepunkt. Ganz El Salvador war der Meinung, dass es als kleines und überbesiedeltes Land ein gutes Recht hatte, Teile von Honduras für sich zu beanspruchen, insbesondere seit Präsident Villeda dazu übergegangen war, Tausende von Salvadorianern, die sich in Honduras angesiedelt hatten, des Landes zu verweisen. Hernández fand diese Maßnahme skrupellos. »Bei der geringen Bevölkerungsdichte wäre es für Honduras ein Leichtes, freiwillig auf die Hälfte seines Territoriums zu verzichten,« sagte er. Das leuchtete in Tegucigalpa keinem Knochen ein, schon gar nicht Präsident Villeda und seinem Stab. »Wir und zu viel Boden?«, fragte Villeda indigniert und bohrte mit dem Zeigefinger in der Nase, »es wird noch so weit kommen, dass die Salvadorianer unsere Urwälder roden, das Edelholz teuer verkaufen und den Profit in die eigene Tasche stecken! Nein, nein, nein – nicht mit mir! Der Waldreichtum gehört Honduras! Und auch bei uns liegt die Geburtenrate hoch, sogar sehr hoch.«
Was in Tegucigalpa stattfand, war nicht irgendein Länderspiel. Es ging um die Wurst, es ging um die Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft von 1970 in Mexiko. Etwas müde wirkten die Salvadorianer schon, als sie unter gellendem Pfeifkonzert ins Stadion einliefen. Doch beim Singen der Nationalhymne reckten sie kampfbereit Rücken und Hälse.
Carlos und Ada saßen vor dem Radio und lauschten der Übertragung des Länderspiels, während zu ihren Füßen Elsa und Isabel mit einer Puppe spielten. Die Stimme des Sprechers überschlug sich, als er berichtete, wie die Heimmannschaft Angriff auf Angriff lancierte. Mit Finten und Mätzchen wehrten sich die Salvadorianer gegen den Ansturm. Unzimperlich in den Mitteln riegelten sie mit neun Mann ihren Strafraum ab und beließen nur einen Mann vorne, der auf weite Abschläge lauerte. Die Honduraner berannten das gegnerische Tor, doch der Führungstreffer wollte und wollte nicht fallen. »Jetzt!«, rief der Radioreporter, als Mittelstürmer Soto nach Steilpass von Regisseur Callejas allein aufs Tor zustürmte, und stöhnte auf, als Soto den Ball vor den Fängen des Hüters verstolperte. »Jetzt!«, schrie er wieder, als ein Flankenball sich unter die Oberlatte ins Netz zu senken schien, aber nur den Balken streifte. Die Heimspieler kämpften bis zum Umfallen. Zu Hause mussten sie gewinnen, sonst war die Qualifikation bereits jetzt im Eimer, denn nüchtern betrachtet war es wenig wahrscheinlich, dass sie in El Salvador einen Sieg erringen würden. Je länger das Spiel dauerte, desto unerträglicher wurde die Spannung. Kurz vor Schluss kam die Erlösung doch noch. »Tooooor!«, brüllte der Reporter in einer Lautstärke, die das Holzgehäuse von Moyas Radio zum Erzittern brachte. »Chinooooo!« Der Abpfiff ließ nicht lange auf sich warten. Ganz Honduras war in Ekstase und feierte den Torschützen. Chino Aguilar hieß der Held. Carlos und Ada stürzten vor die Tür, alles umarmte sich, man rief »Chino! Chino!« und tanzte auf Straßen und Gassen. Die Schlachtenbummler aus El Salvador hingegen schlichen wie geschlagene Hunde aus dem Stadion und fuhren in Auto- und Buskolonnen zurück über die
Grenze. Mit Ausnahme von harmlosen Zwischenfällen blieben sie unbehelligt. Hüben und drüben fieberte man dem Rückspiel in El Salvador entgegen. Auch hier wurden die Spieler der Gastmannschaft drangsaliert. Obwohl die Honduraner sich Stöpsel in die Ohren gesteckt hatten, schreckten sie in der Nacht immer wieder auf und kamen unausgeruht auf den Platz. Schon zehn Minuten nach Spielbeginn traf El Salvador zum 1:0. Dem Radioreporter aus Honduras rissen die Nerven. Er wiegelte seine Landsleute auf, die ihr Team im Stadion anfeuerten und zugleich die Übertragung verfolgten. Als sich Chino Aguilar nach einem Zusammenstoß auf dem Rasen wälzte, behauptete der Kommentator, der Gegenspieler habe ihn mit einem Fußtritt außer Gefecht gesetzt. »Der argentinische Schiedsrichter lässt das Spiel einfach weiterlaufen«, schrie er und setzte dann frei erfunden nach: »Unsere Fan-Frauen sind gestern Abend durch Einheimische vergewaltigt worden!« Die Honduraner waren entsetzt. Zu Hause vor dem Radio ballten sie die Fäuste, auf den Rängen gestikulierten und brüllten sie. Zu allem Überfluss erzielten die Gastgeber ein zweites und ein drittes Tor. Bald nach dem Abpfiff gingen die Fanatiker der verfeindeten Lager aufeinander los. Die Salvadorianer waren mit Stöcken bewaffnet. Zuerst gab es nur blaue Augen und Knochenbrüche. Dann aber wurden unter den Autobussen der Honduraner, die zur Rückfahrt bereit standen, Molotow-Cocktails gezündet. Schüsse fielen. In Tegucigalpa sprach man von acht Toten, was man in El Salvador vehement bestritt. Aber die Fakten waren eindeutig. Einem Postbeamten riss eine Explosion die Beine vom Leib, ein Chauffeur wurde von einer Kugel getroffen und brach zusammen. Bei je einem Heimsieg ordnete die Fifa ein Entscheidungsspiel auf neutralem Boden an. Austragungsort
war Mexico City, 2200 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Im Vorfeld wurde das Spiel von den Kontrahenten zum Gottesgericht hochstilisiert. Wer siegte, musste auch politisch im Recht sein. Die Regierung von El Salvador erklärte Honduras zum Selbstbedienungsladen: Landlose Bauern sollten Boden im Nachbarland erhalten. Aus strategischen Gründen verlangte General Hernández zudem, sein Staat müsse entlang der Grenze zu Guatemala einen Zugang zur karibischen See erhalten. Darauf versetzte General Villeda seine Armee in höchste Alarmbereitschaft. Auf beiden Seiten machte man verrostete Panzer flott und reparierte Kampfflugzeuge, holte Maschinengewehre aus den Magazinen und putzte sie blank, hob Soldaten aus und formierte sie zu improvisierten Einheiten. In den Köpfen der verfeindeten Nachbarn irrlichterte die Unvernunft. Der mexikanische Präsident, der das Schlimmste befürchtete, ermahnte die Kollegen aus Mittelamerika, sich zu besinnen und nicht unbedacht einen Krieg zu entfachen. Das Aztekenstadion von Mexico City mit einem Fassungsvermögen von 110 000 Zuschauern blieb zu drei Vierteln leer. Aus den beteiligten Ländern konnten sich nur wenige die Reise leisten. Die Mexikaner selbst zogen es vor, das Spiel zu ignorieren oder die Kampfhähne vor dem Radio zu verspotten. In der Arena wurden die Fans beider Lager rigoros voneinander getrennt. Sicherheitsbeamte fahndeten nicht nur nach Waffen und Munition, sondern beschlagnahmten auch nur entfernt verdächtige Instrumente wie Spazierstöcke oder Regenschirme. Anstelle eines Fußballspiels fand im Aztekenstadion ein ritualisierter Krieg statt. Fouls der barbarischen Sorte häuften sich. Doch der Schiedsrichter aus Kolumbien griff hart durch. Nach einer Viertelstunde unterbrach er den Kampf und gab den Kapitänen zu verstehen, er habe die Vollmacht, das Spiel
wenn nötig abzubrechen und beide Länder für die Weltmeisterschaft zu disqualifizieren. Trotzdem bewegte sich die Begegnung am Rande des Regulären. Die Spieler droschen verbissen drauflos und verwechselten den Ball oft mit dem Schienbein des Gegners. Bereits zu Beginn der zweiten Halbzeit war das Kontingent an Auswechselspielern erschöpft. Verletzte waren nun nicht mehr zu ersetzen. Dabei humpelten die Innenverteidiger der Zebras, wie die Repräsentanten von Honduras wegen ihrer blauweiß gestreiften Trikots genannt wurden, nur noch kläglich umher. Einer hatte ein Knie wie ein aufgeblasener Ballon, der andere ein Sprunggelenk blau wie eine Pflaume. Weil beide Teams bis zum regulären Spielende zweimal getroffen hatten, kam es zur Verlängerung. Die Spannung näherte sich nun dem Siedepunkt. Fünf Minuten vor Schluss und dem erwarteten Elfmeter-Schießen stockte den Honduranern das Blut: Ein Verteidiger des Gegners rückte an der Seitenlinie vor, passte zu einem Kumpanen, rannte gegen den Strafraum, erhielt das Streitobjekt zurück, umdribbelte die beiden Hinkebeine und schlenzte den Ball in die Maschen. Genau wie böse Auguren prophezeit hatten! Die Salvadorianer stürmten das Spielfeld und trugen ihre Helden im Triumph davon. »Sieg!«, schrien sie. »Wir haben 3:2 gewonnen! Gott und alle Heiligen haben uns das Zeichen gegeben, dass diese Scheißkerle auch den Krieg verlieren werden!« Volk und Regierung in Tegucigalpa ihrerseits hielten den Ausgang des Spiels für ein Malheur, für eine Inkarnation der Ungerechtigkeit. Hatte die Nationalheilige, die Jungfrau von Suyapa, versagt oder hatten sie ihr zu wenig Ehrfurcht erwiesen? Zu den Ratlosen gehörten auch Carlos und Ada Moya mit den befreundeten Familien Garcia und Fuentes. Ein Gottesgericht zugunsten der Feinde? Nein, so etwas konnte und durfte nicht wahr sein. Gott war doch Honduras gnädig.
Carlos suchte nach irdischen Gründen und beschuldigte den Schiedsrichter, er sei von Präsident Hernández bestochen worden, sonst hätte er den Gegnern drei, wenn nicht vier rote Karten zeigen müssen. Am folgenden Tag wurde Carlos zum Militärdienst eingezogen.
2
Es war Allerseelen. Auf dem Friedhof außerhalb von Tegucigalpa versammelten sich zahlreiche Familien, um ihrer Verstorbenen zu gedenken. Als es dämmerte, stellte Ada Moya einen Topf mit Räucherharz, den Mutter Sara vorbereitet hatte, auf die Grabplatte. Hier ruhte ihr Ehemann Carlos. Bald duftete es weit herum nach Kopal, dem Weihrauch der Maya. Gut sechs Jahre waren vergangen, seit Carlos im Fußballkrieg gefallen war. Er starb an der Front bei Santa Rosa de Copán am zweiten Tag der Feindseligkeiten. Die Linien der Honduraner gerieten unter Artilleriefeuer. Als seine Kompanie über einen Acker vorrückte, donnerte es. Granaten schlugen ein und detonierten. Ein Soldat wurde am Kopf, ein anderer am Bauch getroffen, Carlos zerriss es die Brust. Die Schwerverwundeten überlebten nur Minuten. Auf einem Armeelastwagen wurden sie von der Front in die Hauptstadt zurückgebracht. Ada weinte einen vollen Tag lang über der Leiche ihres Mannes, die in der Wohnung von Comayagúela aufgebahrt lag. Bei der Beerdigung blieben ihre Augen trocken. Trotz der kurzen Dauer von nur hundert Stunden forderte der Konflikt Tausende von Todesopfern. Drei Ballspiele hatten den Zunder, der sich über Jahre angehäuft hatte, in Brand gesteckt und den Fußballkrieg entfesselt. Unerwartet endete er mit einer Niederlage für El Salvador, das zwar zu Beginn Geländegewinne erzielte, dann aber die Luftherrschaft verlor. Ein Pilot, der später mit Orden überhäuft wurde, schoss feindliche Jagdflugzeuge in Serie ab. Nun hatten die honduranischen Bomber freie Bahn. Ihre Angriffe richteten
schwere Schäden an. Das zentrale Treibstofflager bei der Hauptstadt San Salvador ging in Flammen auf. Nach den herben Verlusten willigten die Nachbarn in einen Waffenstillstand ein. Am zweiten November pflegten Familien indianischen Ursprungs wie die Moyas, mit ihren Toten zu tafeln und Gedanken auszutauschen. In dieser Nacht, davon waren sie überzeugt, wachten die Seelen der Verstorbenen auf. Sie konnten reden, an den Freuden und Leiden ihrer Familie teilnehmen. Die Nachfahren der Maya empfanden den Tod als natürlichen Teil des Lebens, nicht als unwiderruflichen Abschluss. Der Abschied von Männern, die auf dem Schlachtfeld fielen, war am wenigsten traurig. Sie wurden zu Sternen am Himmel. Ada entfaltete ein blütenreines Tischtuch auf dem Grabstein. Es war an manchen Stellen geflickt und an den Rändern ausgefranst, aber peinlich sauber, ein Erbstück der Familie. Elsa und Isabel, jetzt neun- und siebenjährig, hoben den Speisekorb aus dem Leiterwagen, den sie auf einem Kiesweg herbeigezogen hatten. Wortlos setzten sie sich zwischen Ada und Sara ans Grab, überkreuzten die Beine im Schneidersitz und schnupperten Kopalrauch. Nur der fünfeinhalb Jahre alte Pablo, der sechs Monate nach dem Tod von Carlos zur Welt gekommen war, kümmerte sich wenig um das rituelle Abendbrot. Wie sollte er auch eines Vaters gedenken, den er nie kennen gelernt hatte? Er versetzte seinem Gummiball einen Kick, ohne auf die Gräber zu achten, die wie Mahninseln vereinzelt aus der Wiese ragten. Ada rief ihm vergeblich zu: »Jetzt lass den Ball, Pablo, und komm zu uns, wir essen!« Das Grab sah sonntäglich aus. Unter den Frauenhänden hatte sich die Platte mit der Inschrift Carlos, leuchte uns in der Nacht in eine festliche Tafel verwandelt. Elsa und Isabel hatten sie gedeckt, mit orangefarbenen Ringelblumen bestreut und mit Kerzen geschmückt, Ada entzündete behutsam die Dochte.
Im flackernden Licht, das über die Gesichter huschte und ihnen ein warmes Kolorit verlieh, teilte Großmutter Sara Tortillas aus. Ada und Töchter füllten sie mit Schinken, Käse und gehackten Zwiebeln, rollten sie und tunkten sie in Chilisoße. Seltene Leckerbissen für die Moyas. Kaum war die erste Tortilla bereit, rannte Pablo herbei und schnappte sie Isabel vom Mund weg. Das störte die Großmutter wenig. Sie mochte den Knaben besonders gern und gab ihm ein bis zum Rand gefülltes Glas Milch. Die Milch schwappte über und verkleckerte sein Hemd. Nun reichte es Ada. Sie packte den Buben am Arm, zwang ihn neben sich auf den Boden und sagte ihm, es sei höchste Zeit, dass auch er still sitze und warte. Widerstrebend fügte sich Pablo. »Warten, auf was?«, fragte er nach einer Weile. »Weißt du denn nicht«, schimpfte Ada, »wer hier ruht?« »Doch, aber warum muss unser Vater unter dem Stein liegen?« »Weil ihn die Bösen getötet haben«, flüsterte ihm Elsa altklug zu und Isabel ergänzte geheimnisvoll: »Wir warten hier, bis er mit uns spricht.« »Wenn du zuhören willst, erzählen wir dir, was ihm geschah und wie es dazu kam«, schaltete sich Großmutter Sara ein. Doch Pablo fehlte das Sitzleder. Er entwand sich Adas Griff und schlug seinen Gummiball so in die Luft, dass er für Momente in der Dunkelheit verschwand. Spielkamerad Ruben Fuentes, der mit Eltern und Tante in der Nähe um das Grab seiner Großeltern saß, hörte den Kick und eilte herbei. Obwohl die beiden Knaben in der Dämmerung nur mehr wenig sahen, jagten sie dem Ball nach, als sei der Friedhof ein Fußballfeld. »He«, rief plötzlich Rubens Vater Jaime, »lasst das bleiben!« Um Zentimeter hatte ein scharf getretener Ball die Köpfe der Familie Fuentes verfehlt, flog aber weiter und kippte den Molekrug der dahinter lagernden Familie Garcia um. Die
braune Soße bildete eine Lache auf dem weißen Tuch und duftete köstlich, was Vater Arturo nicht daran hinderte, mit einem Satz aufzufahren. Er ruhte nicht, bis er Pablo zu fassen kriegte und ihm einen Klaps geben konnte. Der Bub presste die Zähne aufeinander und unterdrückte die Tränen. Kaum war der erste Schmerz abgeklungen, verlangte er den Ball zurück, den Vater Garcia unter einer Wolldecke versteckt hatte, während Mutter Barbara den Moletopf abrieb und die Flecken auftupfte. Da rollte die dreijährige Ofélia García die Augen und zog den Ball unter der Decke hervor. Sie hatte ebenfalls von der Mole abbekommen, Nase, Hände und Röckchen waren verschmiert. Ehe es sich die Eltern versahen, schob sie den Ball zu Pablo, der ihn an sich riss und wieselflink davonlief. Breitspurig begab sich Arturo García zu den Frauen der Familie Moya und murrte: »Diese Saububen nerven! Fußbälle gehören nun einmal nicht auf einen Friedhof!« Kleinlaut begütigte Ada: »Ja ja, diese Buben.« Ofélias Vater Arturo nahm auch die Fuentes ins Visier: »Auch euer Ruben ist nicht besser, er stört gerade so wie Pablo, habt ihr’s mitbekommen?« Dann wandte er sich in milderem Ton an Ada: »Wie geht’s dir sonst? Brauchst du wieder Schnitzereien?« »Wenn ich nur mehr verkaufen könnte. Und zu höheren Preisen. Es ist schon schwer, die Familie ohne Mann durchzubringen.« »Du weißt ja, dass ich dir die Ware billiger gebe, als ich es eigentlich verantworten kann. Die Lager meiner Schreinerei sind randvoll, irgendwie muss der Absatz zunehmen.« »Was kann ich dafür, wenn die Nachfrage so gering ist, Arturo? Was wir an Geld haben, reicht kaum zum Essen, geschweige denn für Kleider, Schuhe oder Schulhefte. Pablo trägt Zeitungen aus, Sara und Elsa flicken Strümpfe, Isabel und ich gehen putzen.« »Wartest du noch immer auf eine Rente der Regierung?«
»Ja«, antwortete Ada. Nach Carlos’ Tod war ihr eine Pension zugesprochen worden. Bis jetzt hatte sie keinen Centavo davon gesehen. Arturo García zuckte mit den Achseln, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schultern und kehrte zu seiner Familie zurück. Vater und Mutter Fuentes, die wie die Garcías und Moyas in Comayagúela wohnten, nickten teilnehmend. Der Mond ging über einer bewaldeten Kuppe auf. Er war nahezu voll und tauchte den Friedhof in ein silbernes Licht. »Mondgott Ixbalanqué beschützt uns in der Nacht«, flüsterte Sara, die zutiefst in der Welt der alten Mayas verwurzelt war. Pablo fragte Ada mit traurigen Augen: »Warum haben wir keinen Vater, der uns einen richtigen Lederball bringt?« »Wir haben’s dir ja gesagt, dass er unter diesem Stein begraben liegt.« Endlich hörte der Knabe zu, was die Großmutter zu erzählen hatte: »Die schlimmen Nachbarn aus El Salvador kamen mit Kanonen und Panzern. Sie wollten uns Land wegnehmen und uns alle töten! Darum musste dein Vater Soldat werden. Er nahm ein Gewehr, verteidigte uns und verjagte die Teufelsbande. Dabei verlor er das Leben.« »Armer Papa«, sagte Pablo. »Auch ich will einen Vater haben!«, begehrte auch Isabel plötzlich auf. »Guckt mal an den Himmel, Kinder! Oben in der Milchstraße glitzert er«, sagte Sara und Ada bekräftigte: »Ixbalanqué ist als Mond aufgegangen, euer Vater als Stern.« »Dann ruht er nicht mehr unter diesem Stein?«, wunderte sich Pablo und blinzelte fragend seine Großmutter an. »Dein Vater ist gleichzeitig oben und unten. Mag sein, dass er heute zu uns spricht.«
»Wie schön«, sagte Pablo, »hat er auch gern Fußball gespielt?« »Vielleicht kannst du ihn bald selber fragen.« »Psst, seid still, ich höre ihn!«
3
Nur das Meer war da und der Himmelsraum. Ins Unendliche dehnte sich das All. Finsternis herrschte. Allein die Urgötter Tepeu und Gucumatz, die Gefiederte Schlange, waren von Licht umflossen. Ihrem Wort gehorchend entstand die Erde und rundete sich, denn wie bei Johannes war am Anfang das Wort. Unter den Göttern der zweiten Generation taten sich die Brüder Hunahpu und Ixbalanqué mit ihrem Mut hervor. Gemeinsam mit den Vierhundert Jünglingen waren sie dazu berufen, gegen das Böse zu kämpfen. Denn ohne Sieg über die Mächte des Dunkel in der Welt konnte es nicht Licht werden. Woher die Schurken gekommen waren, wusste niemand, aber sie waren stark und großmäulig. Sieben-Papagei rühmte sich seiner Schöpfungen, noch bevor er sie vollbracht hatte. Inmitten der Urfinsternis behauptete er, er werde sich in eine Sonne verwandeln und der Erde leuchten. Die Prahlerei verärgerte Hunahpú und Ixbalanqué. Als Sieben-Papageis Sohn Zipacná gar die Vierhundert Jünglinge überlistete und grausam umbrachte, kannte ihr Zorn keine Grenzen mehr. Die göttlichen Brüder rückten den Bösewichten zu Leibe. Mit einem Geschoss aus dem Blasrohr blendeten sie SiebenPapagei und töteten ihn. Indem sie einen ungeheuerlichen Berg schüttelten, lösten sie eine Gerölllawine aus, die Zipacná verschüttete. Seinen Bruder Cabracán vergifteten sie. Den Vierhundert Jünglingen erwiesen Tepeu und Gucumatz die Ehre, als Sterne am Himmelszelt aufzugehen und die Gruppe der Plejaden zu bilden. Auf der Erdoberfläche war den Bösen nun das Handwerk gelegt, in der Unterwelt blieb ihre Macht aber ungebrochen.
Eins- und Siebentod, die Herren der Schatten, hausten in dunkeln Grüften. Sie ersannen Furchtbares und brachten es sogar fertig, Tepeu und Gucumatz, die heiligen Urgötter zu erschlagen. Dadurch geriet die kosmische Ordnung ins Wanken. Hunahpú und Ixbalanqué schworen Rache. Um das Werk ihrer Väter zu vollenden und auf Erden endlich Licht in die Finsternis zu bringen, planten sie, die Mächtigen der Unterwelt in ein Ballspiel auf Leben und Tod zu verwickeln. Wohl ausgerüstet mit Hartgummiball, Hals-, Lenden- und Knieschutz stiegen sie hinab ins Totenreich. Eins- und Siebentod ließen sich herausfordern und schleuderten eine Kugel, die mit Obsidianspitzen besetzt war, voller Tücke gegen Hals und Brust von Hunahpú. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Doch beim nächsten Kampf wurde er mit einer Klinge enthauptet. Die Fürsten der Unterwelt spielten mit dem abgetrennten Kopf, bis Ixbalanqué das Haupt packen konnte, es dem Bruder wieder aufsetzte und ihm frisches Leben einhauchte. In einer Kette von weiteren Kämpfen unterlagen schließlich Eins- und Siebentod. Hunahpú und Ixbalanqué hatten das Böse besiegt.
Trotz ihrer göttlichen Abstammung und der vollbrachten Wundertaten waren aber auch sie sterblich. Nach ihrem Tod schwebten sie wie die Vierhundert Jünglinge zum Himmel empor. Hunahpú wurde zur Sonne, Ixbalanqué zum Mond – auf der Erde wurde es hell.
4
»Wo ist denn Pablo?«, fragten sich die Schwestern Elsa und Isabel, als sie eines Sonntagnachmittags vom Religionsunterricht nach Hause kamen. Nach Carlos’ Tod, sechs Monate vor Pablos Geburt, waren Ada, Elsa und Isabel innerhalb von Comayagúela umgezogen, weil Ada sich die alte Wohnung nicht mehr leisten konnte. Um ihre Tochter mit Rat und Tat zu unterstützen, war Großmutter Sara aus Copán hinzugestoßen. Die Moyas wohnten nun in einer Hintergasse, wo Wasserversorgung und Müllabfuhr schlecht oder gar nicht funktionierten. Besonders an heißen Tagen lagerten faulige Gerüche in Flur und Gasse. Die Unterkunft hatte zwei Zimmer, die mehreren Zwecken dienten. Zwischen Tapetenresten in der Stube war ein Bild von Carlos befestigt, wie er in Uniform und mit Kameraden auf einem Armeelastwagen stand, bereit zur Fahrt an die Front. Die Aufnahme war das Geschenk eines Freundes gewesen, der den Krieg heil überstanden hatte. Carlos sah martialisch aus, eine Schirmmütze beschattete Stirn und Augen, beschienen waren nur Mund und dichte Bartstoppeln. Er hatte ein Maschinengewehr geschultert. Hier im Wohnraum spannte Ada nachts an großen Haken zwei Hängematten auf. Eine war für Pablo und eine für sie selbst bestimmt. Die Großmutter schlief mit den Mädchen in der Kammer nebenan, wo man sich kaum umdrehen konnte und der Verputz von den Wänden blätterte. Neben einem trüben Gangfenster, dessen Risse mit Plastik abgedichtet waren, gab es eine Kochnische in der Mauer. An Nägeln baumelten Schürzen, eine Brat- und eine Suppenpfanne. Geschirr und Besteck lagen auf einem
Regalbrett, an dem sich die Kinder oft Splitter holten. Ein Kabel, über das früher der Telefonanschluss lief, ragte zerfasert aus der Wand. Der Wasserhahn war abgewürgt, ein Waschbecken nicht vorhanden. Mit Kübeln musste Frischwasser aus der Parallelgasse herbeigeschleppt werden. Die Notdurft verrichteten sie in einer Blechtonne. An jenem Sonntagnachmittag wollten Elsa und Isabel, wie es ihnen Mutter Ada aufgetragen hatte, den sechsjährigen Pablo abholen und zu Nachbarn mitnehmen, die einen Fernsehapparat besaßen. Aber wo war nur ihr Bruder? Winkel, um sich zu verstecken, gab es in der Wohnung nicht. Im Hinterhof, in dem er mit dem Gummiball oft Scharfschüsse übte, war er auch nicht zu finden. Ebenso wenig wussten die Nachbarn, wo er steckte. Von Großmutter Sara nicht zu reden. Gebeugt strickte sie in Carlos früherem Polstersessel an der Ferse eines Wollsockens. Mutter war wahrscheinlich an ihrem Stand in der Altstadt. Sie hatte den Mädchen nur gesagt, sie habe zu tun und sei erst gegen Abend zurück. Bis dahin waren die Schwestern für Pablo verantwortlich. Ada hatte ihnen wie immer eingebläut, sie hätten darauf zu achten, dass der Bruder nichts Dummes anstelle, er sei schrecklich übermütig und stets zu Streichen aufgelegt. Als ob sie das nicht selbst gewusst hätten. Gut, dass er bald zur Schule musste. Doch der Bengel war weg, wie vom Erdboden verschluckt. Während Isabel Tassen und Teller wusch, die Suppenpfanne mit einer Bürste säuberte und der Großmutter Tee brachte, machte sich Elsa in die Altstadt auf. Sie ging über die Brücke, die den Fluss Choluteca überquerte und den Stadtteil Comayagúela mit dem Zentrum von Tegucigalpa verband. Wie erwartet traf sie die Mutter an ihrem Stand in der Avenida Barahona, wo sie die Holz- und Schnitzwaren von Arturo García, dem Vater der kleinen Ofélia anbot. Die Straße wimmelte von Passanten. Gäbe es darunter nur mehr Touristen, so ließen sich die
kunstvollen Spiegelrahmen, Kellen und Schalen, die Figuren von Quetzalen und Papageien wohl besser absetzen. Die meisten Fremden, die Honduras besuchten, mieden die Hauptstadt und flogen über San Pedro Sula und La Ceiba zu den Bay-Islands mit dem zweitgrößten Korallenriff der Welt. Die Pisten auf dem Flugplatz von Tegucigalpa waren für Jumbojets entschieden zu kurz. Deshalb beschränkten sich die internationalen Verbindungen auf Destinationen in Mittelamerika. Der Grund für das Manko amüsierte die wenigen Gäste: Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man gleichzeitig vor, den Flugplatz zu vergrößern und ein nationales Fußballstadion zu bauen. Nach den ersten Spatenstichen stellte das Baudepartement fest, dass die Mittel nur für eines der beiden Projekte reichten. Im Tauziehen, welches Vorhaben bevorzugt zu realisieren sei, obsiegte der Fußball. Die Entscheidung des Präsidenten entsprach den Vorlieben der Volksseele. Wer wollte denn schon ohne Zwischenhalt in die USA oder nach Europa fliegen? Und für Propellermaschinen und Hubschrauber genügte die vorhandene Piste vollauf. Ada brauchte dringend Geld. Das Nötige für das Allernötigste fehlte. Seit Monaten schuldete sie die Wohnungsmiete und befürchtete die Kündigung. Auch beim Krämer stand sie in der Kreide. Und wieder hatte sie nichts verkauft. Nun kam noch Elsa und gestand ihr kleinlaut, Pablo sei spurlos verschwunden. »Der taucht am dümmsten Ort wieder auf«, sagte sie zur Tochter, »geh doch und such mit Isabel in der weiteren Nachbarschaft. Vielleicht steckt er bei Ruben.« »Auch Ruben ist weg, sagen seine Eltern. Sie sind aber nicht so besorgt wie du«, motzte Elsa, änderte übergangslos den Ton und fragte: »Darf ich ein Eis haben?«
Ada sah ein, dass sie selbst nach dem Rechten sehen musste und räumte ihren Stand. Die Holzwaren füllte sie in den Militärrucksack, den Carlos im Fußballkrieg getragen hatte. Er war ihr zurückerstattet worden, mit Pullover, Hemden, Unterhosen und einem Familienfoto als Inhalt. Den Rest der Waren verstaute sie in einem Koffer. Was Elsas Eis anbetraf, sagte sie nur: »Du weißt ja, dass uns das Geld fehlt, um Maismehl für Tortillas zu kaufen.« Mit den Lasten zwängten sich die beiden durch die Engpässe, die zwischen den aneinander gereihten Ständen offen blieben. Die Avenida Barahona war ein Gewirr von Farben, Gerüchen und Geschrei, durch das sich die Fußgänger im Gänsemarsch schlängeln mussten. Hier duftete es von Heilkräutern gegen Kopfweh und Gicht, dort stank es nach Harn von Straßenkötern, die in Abfallsäcken wühlten, oder von Fischständen mit Seeigeln und Polypen. Landstreicher und obdachlose Bettler streunten umher, Mädchen boten ihre Dienste feil. Vom Kaugummi bis zum Büstenhalter wurde alles Erdenkliche offeriert, vom T-Shirt bis zu ChiquitaBananen, von Geranien bis zu Ammonshörnern, vom Türkenhonig bis zu Schnürschuhen. An Wäscheleinen flatterten Sporttrikots und Kinderkleidchen mit Rüschen, Sandwichs und Zeitungen wurden angepriesen, auch Fähnchen in den Landesfarben, Schnuller für Säuglinge und Lotterielose, die plötzlichen Reichtum verhießen. Vor dem Portal der Kolonialkirche La Merced schlugen Ada und Elsa im Vorbeigehen das Kreuz und murmelten: »Gott sei uns gnädig.« Dann schleppten sie Rucksack und Koffer zügig nach Hause. »Ist er zurück?«, rief Ada Isabel zu, die neben Carlos Bild im Wohnzimmer lehnte und gähnte. »Unauffindbar«, war die Antwort. Pablo war nach dem kargen Mittagessen zu Ruben Fuentes gerannt. Sie übten Schüsse mit dem Gummiball, als plötzlich
zischend die Luft aus dem Spielzeug entwich. Flickzeug hatten sie nicht, und im Sportgeschäft der Calle 1 einen Ersatz zu klauen, war ihnen zu riskant. So vertrödelten sie die Zeit, bis sie von älteren Schülern hörten, dass ein spannendes FußballSpiel im Estadio Nacional bevorstand. Was den eigentlichen Hit ausmachte, kapierten sie nicht. Doch es lockte sie seit langem, ein richtiges Spiel mitzuerleben. Sie machten sich auf den Weg zum Stadion. Dabei hatten sie nur dem Menschenstrom zu folgen, der sich über die Choluteca-Brücke ergoss. Wie ein Zauberschloss schmiegte sich das Oval der Fußball-Arena an den Berg Juan Lainez mit der wehenden Nationalflagge. In Stadionnähe wurden sie vom Gedränge verschluckt. Ausweichen konnten sie nicht. Als Kleinste in der Leibermenge verließ sie für einen Augenblick der Mut. Doch pfiffig, wie sie waren, lernten sie im Nu, durch den Wald der Beine zu schlüpfen. Vor der Kasse duckten sie sich und wischten durch die Ticketkontrolle, ohne beachtet oder gar aufgehalten zu werden. Sie waren drin! Ihr Traum schien sich zu erfüllen. Mädchen im Teenageralter betraten den Rasen, hüpften und tanzten zu Sambarhythmen. Unendlich viele Köpfe und Lärm von allen Rängen. Wären die Buben schon mit Zahlen vertraut gewesen, hätte sie das Fassungsvermögen des Stadions noch mehr erstaunt. Bis zu 40 000 Leute konnten die Spiele verfolgen. Kaum hatten sie sich ein bisschen an die Atmosphäre gewöhnt, keimte Stolz in ihnen auf: »Und wir sind dabei!« Als Nächstes erfuhren sie, was Stadtrivalen sind. »Motagua und Olimpia spielen gegeneinander«, klärte sie ein Dreikäsehoch auf. Ach, das hätten sogar sie eigentlich wissen müssen. Das waren doch die beiden Großklubs von Tegucigalpa. Sie stiegen zielsicher zur Haupttribüne empor und stellten sich vorn an die Balustrade direkt vor die Sitzreihen der Ehrengäste. Die Ordnungshüter wollten sie gerade zu den Stehplätzen hinüberschicken, als ein
freundlicher Herr in der ersten Reihe versicherte, für die zwei bürge er, sie störten hier nicht im Geringsten. Mit Glupschaugen beobachteten Ruben und Pablo, wie sich die Weißen und Blauen um den Ball zankten. Plötzlich ein Monstergebrüll. »1:0 für Olimpia!«, jubelten die Fans mit den weißen Löwenschärpen. »Ein Abseitstor! Schiedsrichter, du Esel, hast du denn nicht gemerkt, dass dieser Treffer nicht zählen darf?!«, zeterten die Fans von Motagua. »Hm, für welche bist du?«, fragte Ruben. »Für die weißen Löwen«, gab Pablo zur Antwort. Er hatte erkannt, dass die Spieler von Olimpia einen Löwen aus Afrika auf der Brust trugen, nicht etwa einen einheimischen Jaguar. Das imponierte ihm. »Ich bin auch für die Löwen«, meinte Ruben. Trotz der Proteste von Motagua gab der Referee das Tor. Aber es dauerte nicht lang, bis der Ausgleich fiel. Die Fans von Motagua machten einen Radau, der dumpf von den Felsen des Picacho widerhallte, dessen Spitze über dem Häusermeer thronte. In der Pause fragte sie der Mann hinter ihnen: »Wo habt ihr denn eure Väter?« »Meiner ist oben in der Milchstraße«, entgegnete Pablo trocken. Auf das verblüffte »Wie?« reagierte er nicht. »Meiner guckt das Spiel am Fernseher«, behauptete Ruben, worauf Pablo rief: »Ihr habt ja gar keine Glotze!« »Bah und ihr erst? Mein Vater guckt in der Wirtschaft. Sei billiger als Kartenspielen, hat er gesagt.« Der freundliche Herr trug einen ausladenden Strohhut, ein dunkles Jackett und eine Krawatte. Ein Schmunzeln lief über sein Gesicht, als er realisierte, dass die Kinder ohne Begleitung der Eltern hier waren. Er witterte einen Bubenstreich und
schenkte ihnen einen Bausch von rosaroter Zuckerwatte. Daran schleckten die Bengel selig und hielten Fußball einfach für wundervoll. Als das Spiel zu Ende war – es ging 2:1 für Olimpia aus –, schrien Pablo und Ruben aus vollem Hals: »Wir haben gewonnen, wir!« Hinter ihrem Wohltäter her trotteten sie zum Ausgang. Als sich dieser umdrehte, schüttelten sie ihm schüchtern die Hand. Der Herr sagte: »Ihr seid Olimpia-Fans wie ich. Super, dass wir gewonnen haben.« »Ja!«, riefen die Buben. Dann kam der Herr auf Pablos Bekenntnis zurück: »Rück mal raus, was dein Vater tut! Das mit der Milchstraße ist doch wohl ein fauler Witz.« »Er ist tot.« »Wirklich?« »Wegen des Fußballkriegs«, bestätigte Pablo mit leiser Stimme. »Ist er gefallen?« »Von einem Geschoss getroffen worden. Darum darf er ein Stern sein.« Juan Ramos war so gerührt, dass er Pablo fünfzig Lempiras schenkte. Ruben ging leer aus, was er überhaupt nicht verstand. Erhielt er nichts, weil er einen Vater hatte? »Um dir einen Wunsch zu erfüllen«, sagte Ramos zu Pablo. »Danke«, stotterte der Knabe. »Macht’s gut, ihr beiden«, ermahnte er sie und verschwand. Ruben versuchte, Pablo die Geldscheine zu entreißen, aber es gelang ihm nicht. Sein Freund war kräftiger und wendiger als er. Er war auch der bessere Fußballspieler.
»Da bist du endlich, du Mistkerl!«, empfing Isabel ihren Bruder, als er zu Hause durch den Türspalt blickte. Auch Mutter Ada schimpfte: »Schäm dich, einfach wegzulaufen! Du hast uns schön Angst gemacht.«
Nur Elsa ließ sich keinen Ärger anmerken und fragte: »Mama, was gibt’s heute Abend zum Essen?« »Tortillas und etwas Milch«, sagte Ada traurig, »mehr haben wir nicht.« Da hakte Pablo ein: »Ich geh und kauf uns was Gutes.« Isabel schien das absurd: »Du kleiner Wicht, mach uns nichts vor! Womit willst du denn bezahlen?« Aber er war bereits fort. Das Glücksgefühl, bei einem Fußballmatch gewesen zu sein – noch spürte er den nun schalen Geschmack von Zuckerwatte am Gaumen –, füllte ihn aus. Voll Zuversicht lief er durch die Gassen bis an den Rand von Comayagúela, wo die Häuser weniger dicht standen. Dort kannte er die Besitzerin eines Hühnerhofes. Ihr zeigte er die Noten, die er von seinem Wohltäter erhalten hatte, und verlangte zehn Eier. So weit konnte er gerade zählen. »Du hast das Geld doch nicht etwa gestohlen?«, misstraute ihm die Frau. »Nein, geschenkt bekommen«, beteuerte Pablo. Die Frau gab die Eier in eine Plastiktüte, hielt sie ihm hin und kassierte. Mit dem Restgeld in der Tasche und der Tüte am Arm eilte Pablo davon. Ohne dass es die Halbwüchsige bemerken konnte, die an der nächsten Ecke den Lebensmittelladen der Mutter hütete, stibitzte er einen Beutel Tortillas. Als er zuhause die Schätze auf dem Tisch ausbreitete, schlug die Großmutter die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Du Dieb!« Pablo neckte sie: »Großmama, willst du wirklich keine Spiegeleier?« Auch Elsa machte große Augen, ging aber sogleich zur Kochnische, entzündete den Gasbrenner und gab einen Rest Kokosfett in die Bratpfanne. Schon brutzelten die Eier und verbreiteten einen appetitlichen Geruch. Sie hatte Hunger. Ebenso Isabel, die flugs den Tisch deckte und die Tortillas auf einen Teller türmte. Ada sagte nichts. Obwohl ihr die Initiative
ihres Sohns nicht über alle Zweifel erhaben schien, wollte sie ihn nicht ausfragen oder gar rügen. Die frischen Spiegeleier genoss sie ebenfalls. Und die Kinder waren zufrieden, griffen zu und schwatzten drauflos.
Am nächsten Tag stand Ada wieder hinter ihrem Stand in der Avenida Barahona. Wie so oft ließ die Kundschaft auf sich warten. Welche Begüterten wagten sich schon ins Gewühl des Zentrums? Tegucigalpa wuchs immer rascher zu einer Großstadt heran und hatte jetzt mehrere 100 000 Einwohner. Der Kern der Altstadt hatte sich im Kolonialstil erhalten, atmete noch den Pioniergeist der spanischen Eroberer. Über den Gassen hingen Elektrizitätsleitungen, die mal straff gezogen, mal durchhängend den Himmel in Stücke schnitten. Manchmal sprühten Feuergarben aus dem Spinnennetz der Drähte. An den Masten arbeiteten Monteure auf hohen Leitern. Die von Milliarden von Füßen polierten Pflastersteine waren in den Gassen kaum zu sehen vor Verkaufsbuden, die sich ineinander verschachtelten. Um jeden Quadratmeter wurde gefeilscht. Aus den Kneipen ertönten Schreie, Gekicher, Faustschläge, Würfelrollen und Gläsergeklirr. In Tegucigalpas Zentrum wehte Abenteuerluft. Nicht von ungefähr bedeutete der Name in der Sprache der Indios Silberberg. Bis in die Fünfzigerjahre wurde Edelmetall in den Höhlenlabyrinthen über der Stadt abgebaut. Unrentabel geworden verfielen dann die Gold- und Silberminen. Allmählich überwucherten Moose und Flechten die Eingänge zu den Grubenschächten im Bergnebelwald. In der Nähe von Adas Stand pries Pablo Zeitungen an. »La Prensa, La Prensa!«, rief er. Bei wem ein kindliches Augenrollen den Geldbeutel locker machte, wer gerne kaufte, wenn er beim Kaffee saß, wusste er genau. Besonders
erfolgreich war er bei Herren, die am Zentralpark sich die Stiefel putzen ließen. Schlagzeilen überfliegen, Grüße ausrichten lassen, während die Jungen die Schuhe einrieben, bürsteten und polierten, das war beliebt. Der Kiosk, für den Pablo arbeitete, lag strategisch günstig an einer Ecke des Parks. Gegenüber erhob sich die Kathedrale, an deren Fassade unablässig Tauben flatterten und gurrten. Die Dimensionen der Kolonialkirche mit Turm und Kuppel wirkten provinziell und passten nicht zur heutigen Größe und Bedeutung der Stadt. Schon gar nicht zu einer modernen Metropole, deren Land dem Ruf einer Bananenrepublik entwachsen war. Wohl aber passte die Kathedrale zum Mischmasch von Mestizen und Mulatten, von Mayas, Lencas, Miskitos und Chortis, die die Gassen und Plätze überquerten oder auf dem Boden hockten, Tand und Naschereien anpriesen. Die schwarzen Garifunas waren Nachkommen jener Negersklaven, die einst den Engländern entflohen waren, als ein Sturm die karibische See aufgepeitscht und die Schiffe zum Stranden gebracht hatte. Weiße mit rein spanischer Abstammung waren stark in der Minderzahl. Pablo lungerte mit Zeitungsbündeln unter den Armen am Zentralpark herum und wiederholte immer wieder »Periódicos!« Da stutzte er. Saß dort bei den Stiefelputzern nicht der Mann, den er im Stadion kennen gelernt hatte? »La Prensa?«, fragte er ihn mit gedämpfter Stimme. Juan Ramos blickte auf und musterte den Knaben. Auch ihm dämmerte es gleich: »Bist du nicht der Bub, der gestern beim Spiel von Olimpia gegen Motagua war?« »Ja«, antwortete Pablo. »Gib mir eine«, forderte ihn Juan auf und fragte: »Musst du verdienen helfen?« »Ja, Mutter hat heute am Stand noch nichts verkauft.« »Wo hat sie denn ihren Stand?« »Hinten in der Barahona.«
»Ich komme mit dir, wenn meine Schuhe sauber sind.« Bald glänzten die schwarzen Lederschuhe, als stehe ein Wohltätigkeitsball bevor. Juan Ramos stieg vom Podest, bezahlte und begleitete Pablo. »Die sind aber hübsch«, fand er, als er die Schnitzwaren an Adas Stand prüfte. Pablos Mutter erhob sich hinter dem Brettertisch und rückte ihre Figuren in ein günstiges Licht. Unbewusst auch sich selbst. Denn mit ihren 28 Jahren, ihrer schlanken Statur, dem schulterlangen, anthrazitfarbenen Haar, der geschwungenen Nase und dem weichen Zug um den Mund wirkte sie begehrenswert, was Juan nicht entging. War es deshalb, dass er einen geschnitzten Guacamayo, den Grünflügel-Ara der Mayas, länger drehte und wendete, als es notwendig gewesen wäre? Weil sein Interesse vor allem den heiligen Vögeln der Mayas zu gelten schien, kramte Ada in einer Kiste und zog weitere Exemplare hervor. »Quetzale, nicht schlecht«, lobte Ramos, »aber für heute nehme ich einen Tukan. Wie viel kostet der?« Den Preis schien er zu überhören. Er gab Ada, die den Vogel in Seidenpapier einwickelte, das Doppelte des Verlangten und Pablo einen Nasenstüber. Mit dem Holztukan und einem »Que te vaya bien« verschwand er in der Menge. Bei seinem zweiten Besuch an Adas Stand suchte Juan nach einem Schmuckkästlein aus Edelholz. »Hast du keines mit einem Quetzal auf dem Deckel?«, fragte er. »Nein, nur die Vögel einzeln. Zum Aufhängen an die Wand. Aber wenn Sie einen Quetzal auf dem Deckel wollen, kann ich bei Arturo García ein speziell angefertigtes Kästchen bestellen.« »Gut. Wenn du eines auftreibst – es muss aber besonders hübsch sein –, kannst du es mir nach Hause bringen.« »Ja gern, aber wohin?«
»An die Calle Los Dolores beim ehemaligen Palast des Präsidenten. Ich heiße Juan Ramos.« Der Erlös aus dem ersten Kauf des Gönners war rasch aufgebraucht. Ada wusste weder ein noch aus. Isabel brauchte dringend eine Hose, Pablo ein Hemd. Und im Gemüseladen hatte sie immer noch Schulden. Verzweifelt pumpte sie Rubens Vater an, doch der war zugeknöpft. Am guten Willen hätte es ihm nicht gemangelt, aber den Fuentes ging es kaum besser als den Moyas. Darauf klopfte sie bei Onkel Esteban an, dem Bruder ihres Mannes, der wie Arturo García im Kunsthandwerk von Valle de Angeles tätig war: »Tu mir den Gefallen und bring mir ein Schmuckkästlein mit einem Quetzal drauf. Aus dem besten Pinienholz, das du auftreiben kannst. Es muss wunderschön gearbeitet und bemalt sein.« Esteban, der Ada mochte und ihr schon häufiger aus der Patsche geholfen hatte, als seine eigenen Verhältnisse es erlaubten, erfüllte ihren Wunsch. Allerdings bemerkte er bei der Auslieferung, der Preis entspreche der hohen Qualität. Unbeeindruckt wickelte Ada die Schatulle in silbernes Papier, klebte ein rotes Herz drauf, lief durch die Altstadt und stieg in der Calle Los Dolores steil bergauf. Die Villa der Ramos lag hinter Bäumen und einer hohen Mauer versteckt. Kaum hatte sie es entdeckt, rief sie den Gärtner, der ein Rosenbeet hackte, und fragte nach dem Hausherrn. »Der ist heute nicht zu sprechen«, sagte der Mann und bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. So leicht war Ada nicht abzuwimmeln. Sie hatte sich sorgfältig zurecht gemacht. Nur die Kleider konnten ihre Armut nicht verbergen. Weil sie sich nicht vom Fleck rührte, murrte der Gärtner: »Wenn du es nicht glaubst, kannst du ja läuten.« Murrend öffnete er ihr das schwere Schmiedeeisentor. Ada stieg die
Treppe hoch zum Hauptportal, auf dem ein Löwenkopf aus poliertem Messing bleckte, und drückte die Klingel. Ein Dienstmädchen in weißer Schürze mit aufgestickten Blumen erschien und fragte sie nach ihrem Begehren. Sie müsse Herrn Juan Ramos ein Kästlein bringen, das er bei ihr bestellt habe, antwortete sie. Heute sei er in San Pedro Sula, erwiderte die Frau, und komme nicht vor morgen zurück. Ada versuchte es an den folgenden Tagen, stets vergeblich. Doch dabei gewann sie die Sympathie der Bediensteten. Schon fast zur Komplizin geworden verriet sie ihr, wann die Chancen gut standen, den Herrn bei Laune anzutreffen: »Übermorgen, nach seinem ersten Abendaperitif müssen Sie kommen, so um halb sechs.« Diesmal klappte es. Von einer Freundin hatte Ada sich eine Korallenkette ausgeliehen, die Haare mit einem Rest fein duftenden Shampoos gewaschen, den Mutter Sara irgendwo hervorgezaubert hätte, und sich sorgfältig frisiert. »So hab ich mich, seit ich achtzehn bin, nicht mehr zurecht gemacht«, wurde sie sich bewusst, »seit ich Carlos kennen gelernt habe.« Sie war gerade neunzehn gewesen, als Elsa zur Welt kam. Jetzt hielt sie in der einen Hand einen Strauß Nelken, mit dem sie Herrn Ramos überraschen wollte, an der anderen Pablo und die Plastiktüte mit der Schatulle. Die Magd öffnete ihnen und flüsterte: »Es ist günstig.« Schon die Eingangshalle und der glitzernde Kronleuchter schüchterten Ada ein, erst recht die Wandteppiche, die Stilmöbel und das Edelholzparkett im Salon, wo Juan an einer Zigarre paffte. »He, du kleiner Olimpia-Fan, bist du wieder einmal im Stadion gewesen?«, fragte der Hausherr Pablo, ohne sich zunächst an Ada zu wenden. »Es tut mir so Leid, dass er Sie belästigt hat«, entschuldigte sich Ada, der es immer noch peinlich war, dass Pablo allein mit Ruben zum Match gegangen war. Inzwischen hatte sie ja
erfahren, wer ihm die fünfzig Lempiras geschenkt hatte. »Belästigt? Eher belustigt. Was darf ich dir anbieten?« »Nichts, nein bitte – « »Wie heißt du eigentlich?« »Ada Moya«, sagte sie flüchtig und wollte partout nichts anderes trinken als ein Glas Wasser. Juan schenkte sich Weißwein ein. Unter den neugotischen Fenstern setzten sie sich auf dunkel gebeizte Kolonialstühle. Ada enthüllte das Schmuckkästlein, Juan fand es geschmackvoll. »Ich nehme es«, sagte er, »der Paradiesvogel scheint so echt, dass man glauben könnte, er würde gleich davonfliegen.« Als Ada keinen Preis nennen wollte, bezahlte er soviel, dass sie errötete. Ihm gefielen nicht nur die Schatulle und der Junge, sondern ebenso die Mutter. Jahrelang hatte Juan Ramos Bananen exportiert. Nun wirkte er bei der Regierung als landwirtschaftlicher Berater, ohne auf die Handelstätigkeit zu verzichten. Ada schätzte ihn auf fünfundvierzig. »Meine Ehefrau ist gerade auf der Karibikinsel Roatán«, sagte er unvermittelt, »sie schnorchelt und faulenzt. Von dorther kommen die Korallen, die du am Halse trägst. War dir die Kette nicht zu teuer?« »Ich habe sie ausgeliehen«, antwortete Ada, schaute aber bei diesem Satz nicht zu Boden, sondern blickte Juan offen ins Gesicht. Der lachte und strich sich über das Bäuchlein, das er sich in letzter Zeit zugelegt hatte. Ada erhob sich und dankte ihm: Die heilige Jungfrau von Suyapa möge ihm seine Großzügigkeit vergelten, sagte sie und verabschiedete sich. Auf ihre Ermahnung hin gab Pablo die Hand. Wie beiläufig bemerkte der Kaufmann: »Du darfst wieder einmal kommen.«
5
Die Schule war für Pablo kein Zuckerschlecken. Mit dem Rechnen haperte es nicht, wohl aber mit der Sprache. Beim Lesen komplizierter Texte hatte er Mühe, den Sinn zu verstehen, beim Schreiben verwechselte er mit seinen elf Jahren noch immer die Buchstaben b und p sowie n und m, von den üblichen Orthographiefehlern ganz zu schweigen. Der Lehrer führte die mangelnden Fähigkeiten auf Unaufmerksamkeit zurück und gab ihm Strafarbeiten, die er selten erledigte. Seine Interessen lagen einfach woanders. Schon seit der dritten Schulklasse spielte er bei den Junioren von Olimpia, was ihm ungemein Spaß machte. Dem Jugendtrainer fiel auf, dass Pablo ungewöhnlich talentiert war. Er war Linkshänder, schnell, wendig und ballgewandt. In turbulenten Situationen wahrte er die Übersicht, blieb kühl mitten unter Hitzköpfen. Ruben, der zu den besten Schülern zählte, war immer noch Pablos engster Freund. Bei ihm durfte er Hausaufgaben abschreiben und Englischwörter spicken. Doch mit aktivem Fußball wusste Ruben nichts anzufangen. Er war schmächtig gebaut, seine Bewegungen wirkten immer etwas fahrig. Was ihm an Sportbegabung fehlte, machte er allerdings durch Sachverstand wett. Bei jedem Spiel von Pablo analysierte er die Taktik, die der Trainer verfolgte. Auch wie die Spieler sie auf dem Feld umsetzten. Scharfzüngig kritisierte er einzelne Akteure und die Abstimmung zwischen den Mannschaftsteilen. Ihm verdankte Pablo eine Kritik, die ebenso schonungslos wie aufbauend war, sich von den Mäkeleien und der Pedanterie des Trainers wohltuend abhob.
Als Gegenleistung verschaffte er dem Freund eine Jahreskarte für sämtliche Spiele von Olimpia. Bereits im Juniorenalter einen treuen Fan zu haben, war nicht alltäglich. Besonders erfreut war Pablo, als er an einem strahlenden Sommertag Ruben Fuentes mit Ofélia García am Spielfeld erblickte. Ofélia war zwei Jahre jünger als die Knaben. Sie hatte Schalkgrübchen und ein herausforderndes Lachen, das man eher bei einem Teenager als bei einer Neunjährigen vermutet hätte. Die schwarzen Haare flocht ihr die Mutter zu Zöpfen, die keck abstanden und mit roten Bändern geschmückt waren. Sie besuchte dieselbe Schule wie Ruben und Pablo. Da die Familien Moya, Fuentes und García nahe beieinander wohnten, bummelten sie nach Schulende oft zu dritt heimwärts. Dabei nahmen die Freunde Ofélia in die Mitte und gaben ihr die Hände. Der Spott der Kameraden war ihnen schnuppe. Je mehr Pablo als Stürmer der Juniorenelf Erfolg hatte, desto gelassener nahm er die Kritik des Klassenlehrers. Die Tore, die er schoss oder vorbereitete, auch gelungene Passfolgen waren ihm wichtiger als die Noten im Zeugnis. Mehr und mehr entwickelte er sich zu einem stattlichen Jungen. Er war der Zweitgrößte der Klasse. Wie Mutter Ada hatte er indianische Züge. Haar und Brauen bildeten ein Gestrüpp, die Nase war immerhin so gekrümmt, dass Ofélia ihn im Scherz »Adlerkrieger« rief. Dazu passte, dass seine Augen sich nach außen zu einem Schlitz verjüngten. Weil er von ausgesprochen kräftiger Statur war, hüteten sich die Schulkameraden, seinen Unmut herauszufordern. Auf Kämpfe ließen sie es gar nicht ankommen. Als ein anderer Junge es einmal wagte, Ofélia an ihren Zöpfen festzuhalten, befreite Pablo sie mit einem Griff. Pablos ältere Schwester Elsa war ein ganz anderer Typ, ruhig, pummelig und blass. Sie hatte bereits die Schule verlassen und dank Onkel Esteban eine Lehrstelle in einem Reisebüro
gefunden. Die Lernprobleme ihres Bruders führte Elsa auf Faulheit und Fußballverrücktheit zurück. Isabel besuchte ein Colegio, eine Oberschule, und wusste noch nicht, was sie werden wollte. Wie Elsa war sie aufgeweckt. Aber im Unterschied zu ihrer Schwester, die sie manchmal mit Ausdrücken wie »Leberwurst« oder »Kröte« beleidigte, neigte die hübsche und schlanke Isabel zu Extravaganzen. Trotz ihrer Jugend fehlte sie auf keinem Fest, tanzte wild und ausgelassen und glänzte durch Beweglichkeit. Ihre Brüste hatten sich längst gerundet. »Etwas gar früh«, meinte Ada und vergaß dabei, dass Isabel schon dreizehn war.
Bald kam der Tag, an dem Elsa und Isabel die Köpfe zusammensteckten und tuschelten: »Woher nimmt Mutter plötzlich das Geld, um ein Plüschsofa und Betten mit weichen Matratzen zu kaufen?« In den Augen der Nachbarn war es tatsächlich absurd, dass die Moyas mit solch neuen Möbeln zwei Zimmer in Comayagúela bewohnten. Doch sie kamen nicht aus dem Staunen heraus. Maurer erschienen, pflasterten Schwellen, verputzten Decken und Wände, Schreiner setzten Türen ein, Elektriker verlegten Stromkabel und installierten Anschlüsse für Telefon und Fernsehen. Der Boden erhielt einen grünen Belag aus Linoleum. Es roch nach Leim und frischer Farbe. Nur der Einbau von Waschbecken und Toilette war nicht möglich, da ja der Wasseranschluss fehlte. Die Kinder hänselten ihre Mutter. Wie sollten auch Lackgeschirr und Kupferpfannen zur schäbigen Kochnische passen? Als Ada eines Abends in einem malvenfarbenen Seidenrock daherkam, rief Isabel: »Jetzt guckt euch mal die Mutter an!« Elektrisiert wandte sich Elsa um und kicherte, nachdem sich das erste
Erstaunen gelegt hatte: »Mama, bei dir tut sich was. Du hast es faustdick hinter den Ohren!« »So?«, spielte Ada die Unschuldige und drehte an der Rosenquarz-Kette, die an ihrem Hals hing. »In was für eine Disko willst du denn?«, spottete Isabel. »Soll ich dir beibringen, wie man Samba tanzt?« »Ohlala«, taute nun sogar Großmutter Sara auf, »du willst es aber wissen!« Da pflanzte sich Pablo schützend vor Ada auf, reckte sich und ballte die Fäuste. »Mutter ist okay. Lasst sie in Ruhe, sonst bekommt ihr’s mit mir zu tun!« Er erhielt noch weitere Gelegenheiten, Anspielungen der Schwestern auf Mutters ungewohnten Stil zu parieren. Witwe Ada, die dreiunddreißig geworden war, galt bei Freunden und Bekannten bisher als die Bescheidenheit in Person. Jetzt schminkte sie sich vor dem Spiegel. Der Lippenstift hatte einen unverständlichen Namen. »Chanel«, war das jetzt Französisch? Sie strich sich Desodorant in die Achselhöhlen, rasierte die Beine mit Seife und Pinsel, puderte die Wangen und betupfte Gesicht und Hals mit Parfüm. Die ganze Wohnung duftete und Isabel höhnte: »Wie im Blumenladen!« Aus einer Tüte nahm Ada eine Glanzledertasche und stelzte auf Stöckelschuhen davon, ohne zu verraten wohin. Pablo holte seine Sporttasche. Er musste ins Training. Auch Isabel verließ die Wohnung. »Ich gehe Tango tanzen«, sagte sie. So blieben Sara und Elsa allein auf dem bequemen Plüschsofa zurück. »Großmutter, sag mir doch, hat Mama einen reichen Freund?«, platzte Elsa heraus. »Sei doch nicht so naiv. Natürlich hat sie einen. Wären wir denn sonst so vornehm ausstaffiert und hätten einen nagelneuen Kühlschrank voller Leckereien?«
Elsa schaltete das Fernsehgerät ein, das vor zehn Tagen eingetroffen war, und zappte durch die Programme. »Kommt denn heute gar kein Liebesfilm?« »Ich ziehe einen Krimi vor«, fand die Großmutter, »oder einen Western mit John Wayne.« Elsa war baff, sie hatte Saras Fernsehkonsum und ihre Kenntnisse über Hollywood-Größen unterschätzt. Schließlich einigten sie sich auf eine Quizshow. Mit den Kandidaten versuchten sie, die Fragen des Masters zu lösen, was ihnen nur selten gelang. Umso mehr genossen sie die Showeinlagen. In einer Werbepause entwischte Sara die rhetorische Frage: »Wie könnten wir uns denn ohne Adas Eroberung einen Flimmerkasten leisten?« Pablo kam prompt nach Ende des Trainings zurück, auch Isabel vom Tango. Auf Ada hätten sie die ganze Nacht lang warten können. Erst am folgenden Abend trudelte sie ein, frisch geduscht, aber mit geschwollenen Augenlidern. Ohne Erklärung ging sie ihrer gewohnten Arbeit nach. Bald kam es zu einer weiteren Überraschung. Ada, die nun zwei bis drei Nächte pro Woche ausblieb, sagte beim Abendessen: »Am Samstag sind wir eingeladen.« Später wurde sie konkreter: »Pablo, guck mal her, ich habe dir ein weißes Hemd gekauft. Und Hosen mit Bügelfalten. Die ziehst du mir aber nicht an, wenn du zum Training gehst.« »Und wir?«, quengelten die Mädchen. »Ihr zieht die Sonntagskleider an, die ihr kürzlich bekommen habt.« »Nichts Neues für uns?« Darauf ging Ada nicht ein und trank einen starken Kaffee. Die Töchter noch mehr zu verwöhnen, schien ihr fahrlässig. Wer wusste denn, was das Leben ihnen in Zukunft bescheren würde, ob der Wohlstand der Familie nicht eine Eintagsfliege war? Am Samstagabend fuhren die Moyas per Taxi zum
Boulevard Morazán, wo sich Luftgesellschaften, Automobilfirmen und MacDonalds niedergelassen hatten. Die Banken wurden von Türwächtern mit geladenen Flinten bewacht. Bloß Sara hatte nicht mitkommen wollen und erklärt, in Nobelquartieren wie der Colonia Palmira habe sie nichts verloren. Elsa und Isabel waren aufgekratzt, während Pablo schnoddrig tat und sich über die Prunksucht der Frauen lustig machte. Der Toyota bog in eine Nebenstraße ein und hielt vor einem Kondominium. Hinter dem hohen Hag, der von Stacheldraht gekrönt war, kläfften Hunde. »Wie bei der USBotschaft«, dachte Elsa. Ada drückte eine der sechs Türklingeln und sagte in die Gegensprechanlage: »Wir sind da.« Ein Diener in Uniform öffnete und begleitete sie zum Lift. Drei Etagen höher erwartete sie Juan Ramos. Nun geriet auch Pablo ins Staunen. Verlegen stammelte er: »Sie?« Juan zwinkerte ihm zu und umarmte Ada kurz und dezent. Elsa und Isabel gab er Küsse auf die Wangen, Pablo klopfte er auf die Schulter. Im Salon, der fünfmal so geräumig war wie ihr Ess-Schlafzimmer daheim, gab es zum Aperitif delikate Häppchen und Limonade. Comme il faut benahmen sich die Kinder nicht. Anstatt die Oliven mit Holzstäbchen aufzuspießen, nahmen Elsa und Isabel die Finger zu Hilfe. Mit Blicken versuchte Ada, Pablo anzuhalten, beim Räucherlachs nicht so ungehemmt zuzuschlagen, aber das dämpfte den Appetit ihres Sohnes nicht im geringsten. Amüsiert und keineswegs indigniert reichte ihm Juan immer wieder die Platte mit Lachs und Chicharrón, wie die gebratenen Schweinsschwarten hießen. Er sagte: »Wie ich gehört habe, Pablo, bist du auf dem besten Weg zu einem Superstürmer. Da musst du essen.«
Beiläufig erfuhren sie, dass Juan dem Vorstand des Fußballklubs Olimpia angehörte. Kürzlich hatte er den Jugendtrainer über Pablos Fortschritte befragt. Als er vernahm, dieser sei ein echtes Talent, nur noch zu inkonstant in den Leistungen und zu wenig geschult, empfahl er ihn der speziellen Fürsorge. Pablo sei sein Schützling, betonte er, was er den Moyas wohlweislich verschwieg. Das Abendessen war bewusst einfach gehalten. Aber der Service, die Kristallgläser, das Silberbesteck und die riesigen Teller machten Eindruck genug. Nach einem Glas Wein mit Ada klärte Juan die Halbwüchsigen auf: »Wenn ihr Mama einmal sucht oder etwas von mir braucht, so dürft ihr hier anrufen, falls es eilt, auch bei meiner Sekretärin im Ministerium. Erwähnt nur das Losungswort Picacho und sie wird euch mit mir verbinden. Ich gebe euch die Nummer. Meiner Familie an der Calle los Dolores gegenüber muss die Beziehung zwischen Ada und mir vorläufig geheim bleiben.« »Gefällt euch die Wohnung?«, wandte er sich dann an Elsa und Isabel. Elsa hüstelte befangen, Isabel jedoch platzte heraus: »Hier würde ich gern ein Zimmer beziehen.« »Mal sehen«, vertröstete sie Juan lachend und fragte Pablo: »Wie steht es mit deinem Matchprogramm?« »In zehn Tagen spielen wir gegen die Junioren von Motagua.« »Ich bin nicht sicher, ob ich’s dann richten kann«, sagte Juan. »Wenn Sie kommen, muss ich aber gut drauf sein!« Nach einer Portion Karamellkreme, die sie genüsslich auslöffelten, brachte ein Taxi die Geschwister zurück zur Großmutter. Ada blieb bei Juan.
Kurz vor Weihnachten eröffnete die Großmutter ihren Enkeln, am Jahresende gehe es nach Copán, in ihre Heimat. Ihre jüngere Schwester Carmen hatte sie in die Hacienda San Lucas eingeladen, wo sie seit vielen Jahren als Köchin arbeitete. Ada erklärte, sie komme nicht mit. Juan hatte sie überredet, ihn in eine Dschungel-Lodge bei Trujillo zu begleiten. Bei jeder Gelegenheit schärfte sie den Kindern ein, ihre Liaison sei streng geheim zu halten. Dabei spürte sie täglich Gewissensbisse, jetzt im Hinblick auf die Festtage ganz besonders. Sie kniete vor der Madonna nieder, vor derselben Statuette, die sie einst mit Carlos gekauft hatte, und bat um Vergebung für ihre Sünden. Für Juans Ehefrau Rosalba, der sie bisher nie begegnet war, empfand sie Mitleid. Sie konnte es selbst kaum fassen, was ihr da geschah. War es der Luxus, der sie verführt hatte, oder war sie Juan mit Haut und Haar verfallen? So oder so schämte sie sich, aber sie konnte und wollte nicht zurück. Die Reise nach Copán passte Pablo nicht in den Kram. Er befürchtete, dass er sich dort ohne Fußball nur langweilen würde. Lesen war ja nicht seine Stärke. Auf Veranlassung von Juan, den Ada auf Pablos Widerwillen gegen alles Schriftliche aufmerksam gemacht hatte, war er einem psychologischen Test unterzogen worden. Das Resultat war, dass er unter Legasthenie litt. Um Abhilfe zu schaffen, wurde er dazu verknurrt, bei einer Psychologin das Lesen zu üben. Als das wenig fruchtete und Pablo unentschuldigt Stunden versäumte, schlug Juan vor, ihn in ein Sportinternat zu stecken, in dem er auch schulisch gefördert wurde. »Es ist nicht zu verantworten«, argumentierte er, »dass Pablo die Chance verpasst, ein berühmter Spieler und zudem ein passabler Schüler zu werden.« Die Busreise von Tegucigalpa nach Copán dauerte mehr als sieben Stunden. Elsa nestelte aufgeregt am Stirnband, war sie doch nie weiter als bis nach Comayagua
gekommen, der früheren Hauptstadt von Honduras. Sie hatte eine Landkarte auf den Knien und orientierte die anderen bei jeder Gelegenheit, wo sie sich gerade befanden. Zwischendurch aßen sie gefüllte Tortillas, die Straßenverkäuferinnen an den Haltestellen in Körben auf dem Kopf trugen und unter Lärm anboten. Pablo fand die Reise eintönig und döste vor sich hin, Isabel vertiefte sich in einen Fotoroman. Was Sara dachte, errieten die Enkel nicht. Betont aufrecht saß sie in ihrem Sitz und schaute durchs zerkratzte Fenster. Als es durch San Pedro Sula ging, erwachte Pablo und drückte sich die Nase an der trüben Scheibe platt. Der Grund lag darin, dass hier in der zweitgrößten Stadt des Landes die Mannschaft von Real España zu Hause war. Erst kürzlich hatten sie gegen deren gleichaltrige Junioren gespielt und 3:1 verloren. Der Olimpia-Trainer war stinksauer gewesen. Gegen Motagua war es besser gelaufen. Pablo hatte den einzigen Treffer zum 1:0 erzielt und war in der Zeitung gelobt worden. Kurz vor der Ankunft in Copán wurde die Großmutter quicklebendig. »Guckt mal, hier werden Kaffeebohnen an der Sonne getrocknet, und dort waschen die Frauen am Rio Amarillo.« An der Station der Hedman-Alas-Busse holte sie der Chauffeur der Hacienda San Lucas mit dem Jeep ab. Auf dem Dorfplatz stoppte er kurz, um ein Bündel Zeitungen in Empfang zu nehmen, und stob über Schlaglöcher dem Rio Amarillo entlang. Dann ging es so rassig um die Schotterkurven bergauf, dass nicht nur die Räder, sondern auch Elsa und Isabel quietschten. Weiter oben überholten sie eine Gruppe von Reitern, von Touristen, die zum Gästehaus unterwegs waren, um bei Softdrinks die Aussicht hinunter auf die Mayaruinen zu genießen. Bei der Hacienda angekommen empfing sie Tante Carmen mit einer ganzen Kinderschar – waren es nun fünf oder sieben? Mit ihnen zusammen wohnten sie im Diensthaus, das Platz genug bot. Schon am ersten Tag
begriff Pablo, dass er sich nicht um Kurzweil zu sorgen brauchte. Ein amerikanisches Ehepaar war in der Hacienda zu Gast, und Sohn Jimmy spielte für sein Leben gern Fußball. Was kümmerte es Pablo, dass der Gringo das Leder nur jedes zweite Mal richtig traf und von Dribbeln keinen blassen Dunst hatte. Sie verständigten sich durch Gesten, Grimassen oder englische Ausdrücke der Fußballsprache – Goal, Foul, Penalty, Behind, Offside oder Corner kapierten beide. Pablo weihte seinen neuen Freund in Kniffe ein und zeigte ihm, wie man Schüsse abfeuerte. Dafür war ihm Jimmy dankbar. »Daddy, Pablo und ich möchten ein Coke«, rief er, so oft sie Durst hatten. Sie stürzten das Getränk hinunter und spielten weiter. Jimmys Eltern waren auf joviale Art freundlich und verwöhnten die Buben auch mit Kuchen und Eis. Als die Nordamerikaner zu Pablos Leidwesen nach zwei Tagen abreisten, tröstete Sara: »Morgen gehen wir zu den Ruinen.« Carmen hatte ihren freien Tag und beschaffte Gratiskarten bei einem Wächter des archäologischen Parks. Vom Eingang, über dem Papageien mit gestutzten Flügeln krächzten und schnäbelten, rannten die Kinder zum Platz mit den monumentalen Maya-Stelen. Den Säugling hatte Carmen in ihren Rebozo gewickelt, die zweitkleinste Tochter hoppelte an der Hand von Sara über den Rasen. »Das ist 18-Kaninchen«, erklärte die Großmutter ihren Enkeln und deutete auf eine überlebensgroße Stele, die einen Fürsten in vollem Ornat zeigte. »Er verbreitete den Ruhm von Copán im ganzen Maya-Gebiet. Doch im Krieg gegen Quiligua unten im Urwald geriet er in Gefangenschaft. Er unterlag im Ballspiel und wurde mit einem Obsidianmesser geköpft.« »Wie grausig!«, entsetzten sich Elsa und Isabel. »Ballspiel? Haben die denn Fußball gespielt?«, fragte Pablo, der plötzlich hellhörig wurde.
»So etwas Ähnliches«, antwortete Carmen, »gehen wir mal rüber zum Ballspielplatz.« Das entsprach Pablos Geschmack. Die doppelte T-Form des Platzes und vor allem die Skulpturen von Papageienköpfen über den Rampen faszinierten ihn. »Wurden hier auch Spieler geköpft?«, wollte er wissen. Aber er erhielt keine Auskunft mehr, seine Schwestern zog es zur Hieroglyphen-Treppe, wo die Taten der Copán-Dynastie in Maya-Schrift überliefert waren. »Nach 18-Kaninchens Tod verblasste der Ruhm der Stadt bis zur Herrschaft von Fürst Rauch-Schale«, sagte Großmutter und betonte dann mit stolzer Stimme, was die Kinder schon längst von Ada wussten: »Unsere Familie stammt von Luna-Jaguar ab. Der hat noch vor 18-Kaninchen regiert und war ebenso herausragend.« Pablo hörte aufmerksam zu. Dass er von Mond-Jaguar abstammte, leuchtete ihm ein. In seiner Vorstellung war der Fürst der große Star auf dem Spielfeld gewesen. Am nächsten Tag wanderte Pablo frühmorgens eine gute Stunde von der Hacienda hinab zum Rio Amarillo. Er wollte die Ruinen nochmals allein besuchen. In seiner Hosentasche steckte ein Tennisball, ein Geschenk von Doña Flavia, der Chefin der Hacienda, die ihm die Wünsche von den Lippen ablas. Barfuss hüpfte er über den Rasen, auf dem noch Tautropfen glitzerten. In der Mitte des Ballspielplatzes zielte er mit dem Tennisball auf die Arafiguren über ihm. Am Vortag hatte ihm ein Wärter erklärt, das seien die Tore gewesen, die es im Ballspiel zu touchieren galt. Ähnlich den Ringöffnungen an andern Orten, durch die der Ball hindurchzuschlagen war. Beim siebten Wurfversuch prallte der Ball auf die mittlere Papageien-Skulptur. »Tor!«, schrie Pablo, was einen Wärter aufschreckte. Er drohte, den Ball zu konfiszieren. »Weißt du denn nicht, dass die Mayas weder Hände noch Füße benutzen durften?« Der Alte funkelte ihn böse an.
6
Das Sportinternat, in dem Pablo dank der Initiative von Juan Ramos und unter Zustimmung von Mutter Ada nun erzogen wurde, lag außerhalb von Tegucigalpa, gerade so weit entfernt, dass die Stadtmitte zu Fuß nur schwer zu erreichen war. Die Schule war in einem alten Kloster untergebracht, das sich hinter hohen Eukalyptusbäumen versteckte und der Schulung von angehenden Spitzensportlern diente. Wo einst Benediktiner gebetet und gearbeitet hatten, wurden nun Fußball-Novizen ähnlich spartanisch gehalten wie einst die Mönche. Pünktlich um sechs Uhr früh begann der Tag mit einer Andacht in der Kapelle. Nach dem Morgenessen im Refektorium standen Gymnastik und Laufen auf dem Programm. Anschließend mussten die Eleven unter die Dusche und zum Unterricht, der bis zwölf Uhr dauerte und nur durch Pausen von fünf Minuten unterbrochen wurde. Beim Mittagessen aßen sie aus Blechtellern. Geklapper und Geschwätz verstummten augenblicklich, wenn ein Lehrer ans Wasserglas klopfte und eine Mitteilung verlas. Nach weiteren zwei Stunden Unterricht begann um Punkt drei Uhr der Sport im Freien. Die Fußballgruppe umfasste dreißig Schüler. Pablo gehörte zu den Jüngsten, die täglich Kondition zu bolzen und ihre technischen und taktischen Fähigkeiten zu verbessern hatten. Für Spott von Seite der Älteren war stets gesorgt. Pablo war jetzt fünfzehn Jahre alt, athletisch und einen Meter dreiundsiebzig groß. Die schwarzen Haare hielt er weiterhin kurz, Kinn und Wangen mit dem ersten Flaum rasierte er glatt. Seine Hände waren so riesig, dass ihn die Trainer zuerst als Torwart einsetzen wollten, die elegante Hakennase ging in eine
hohe Stirn über. »Eine Denkerstirn«, lästerten die Kollegen. Mit den Zimmerkameraden Enrique Pavón und Fausto Rojas verband ihn vom ersten Tag an eine unkomplizierte Freundschaft. Alle drei kamen aus armen Familien, waren unter Entbehrungen aufgewachsen und vom selben FußballEifer beseelt. Im Stillen hofften sie, der Spruch, der über dem Eingang zum Refektorium hing, würde einmal auf sie zutreffen: Von den Slums zur Weltbühne. Die drei Burschen spielten sich im Training bevorzugt den Ball zu, in der Schule halfen sie sich gegenseitig bei den Aufgaben. Dabei ergänzten sie sich insofern, als Pablo mathematische Formeln bevorzugte, seine Freunde die Fremdsprachen. Beklagten sie sich in der Schule über Müdigkeit, pflegten die Aufseher zu schnöden: »Bringen euch die Kopfbälle durcheinander? Habt ihr eine chronische Gehirnerschütterung?« Solche Bemerkungen gerieten den Schülern in den falschen Hals. Auch die Lehrer müssten wissen, dass der Schädel nach Kopfballübungen bei jedem brummte und Brummschädel wenig zur Lösung von Gleichungen taugten. Das Surren im Kopf störte sie am wenigsten bei der Abendandacht, bei der sie in schwarzer Anstaltstracht zu erscheinen und das Te Deum zu singen hatten. Der Drill kittete Pablo, Enrique und Fausto zusammen. Ein Mitschüler nannte sie »die heilige Dreifaltigkeit«. Da Pablo einmal so unvorsichtig war und damit angab, seine Familie stamme in direkter Linie vom Copán-Fürsten Luna-Jaguar ab, erhielt er den Übernamen Luna. Seither wurde er mit Bemerkungen geneckt wie »Luna, jetzt wirst du echt lunatisch«, und das sogar wenn ihm ein Glanztor glückte. Enrique erhielt den Namen Coco, angeblich weil sein Kopf so hart wie eine Kokosnuss war. Nach dem Abendessen wurden die Schüler zu einer Stunde Pflichtlektüre in die Bibliothek geschickt. Empfohlen, was das Gleiche bedeutete wie erlaubt, waren Bücher über Religion, Fußball
oder Leichtathletik. Beliebt war eine Biographie von Pelé. Diejenige von Maradona hingegen stand nicht zur Verfügung. Umso häufiger wurde sie unter der Bettdecke im Schein von Taschenlampen gelesen. Diskussionen, ob der Star nun dieses oder jenes Tor unter Kokaineinfluss erzielt, ob er die Hand zu Hilfe genommen hatte oder nicht, wurden im Geheimen geführt. Auch Leitfaden über Taktik und Trainingsmethoden lagen auf und natürlich illustrierte Bände über die Weltmeisterschaften mit lateinamerikanischen Ländern als Sieger. Zu den Nationen mit Nimbus gehörten ja nicht nur Brasilien und Argentinien, sondern auch der Kleinstaat Uruguay, was in Honduras besonders beeindruckte. Alkohol war verpönt, um zehn Uhr hieß es Lichterlöschen. Die Fortgeschrittenen erhielten Einzelzellen zugeteilt, die Anfänger mussten mit Schlafsälen für vier bis zwölf Schüler Vorlieb nehmen. Luna, Coco und Fausto teilten ihr Zimmer mit Flavio Suazo, der Monate brauchte, um sich ins Quartett einzugliedern. Für ein Zusatztraining, das Pablo unbedingt notwendig erschien, um seine hoch gesteckten Ziele zu erreichen, stand wenig Zeit zur Verfügung. Zwischen Abendlektüre und Bettruhe reichte es manchmal zu einer halben Stunde Ballakrobatik. Eine weitere Möglichkeit bot sich am Sonntag nach dem Gottesdienst. Doch eigentlich war dieser Tag für Besuche reserviert. Selten wurde den Zöglingen erlaubt, zu Verwandten und Bekannten in der Stadt zu radeln. Strikte Bedingung war die Rückkehr vor sechs Uhr abends. An Samstagen fanden Juniorenspiele statt. Taktische Besprechungen, befohlene Ruhe und Warmlaufen nahmen dann den Löwenanteil der Zeit in Anspruch. Nach den Spielen verhängte der Rektor ein Ausgehverbot. Undenkbar, dass die Jünglinge in einer Bar oder Diskothek vergammelten. Zusätzlich belastete das Leben im Internat, dass Telefonkontakte auf ein Minimum zu beschränken waren. Ada,
Elsa, Isabel und sogar Juan versuchten oft vergeblich anzurufen. Auf der Zentrale vertröstete man sie, Pablo gehe es blendend. Ihn aus der Englischlektion zu holen, im Kraftraum oder an der Andacht zu stören, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Was Pablo bei der Stange hielt und ihn motivierte, diese klösterliche Zucht wenn nicht zu billigen, so doch zu ertragen, war seine Fußball-Leidenschaft. »Wenn du eine Profikarriere anstrebst, musst du an die Spitze der Spielerpyramide gelangen«, hämmerte ihm Juan bei den raren Begegnungen ein. Auch Ada und Isabel rieten ihm durchzuhalten. Erst recht, als der Trainer bestätigte, dass er ungewöhnlich talentiert war. Nur Elsa kam der Fußball fremd und irgendwie suspekt vor. Sie bezweifelte, ob es richtig war, Pablo von der Gemeinschaft abzuschütten und martialisch zu schlauchen, damit er es vielleicht einmal schaffte, ein Star zu werden. Auf Juans Anregung nahmen ihn die Lehrer nicht nur sportlich, sondern auch schulisch an die Kandare. Seine Legasthenie war leichter Natur. Lesen und mündlicher Ausdruck bereiteten ihm mit der Zeit weniger Mühe. Trotzdem hielt er sich an die Maximen »Warum hinter Büchern versauern, wenn es Fußbälle gibt?« und »Ehrgeiz ja, aber nur, wo er sich lohnt.« Unter den Schulfächern machte ihm die Geometrie noch am meisten Spaß. Das Trapez verglich er mit einer Passfolge, die Zickzacklinie mit Doppelpässen, die Parabel mit dem Abschlag des Torhüters, das Rechteck mit Strafraum oder Tor, den Kreis mit dem Anspielkreis und das Oval mit dem Nationalstadion. Auch die Gerade hatte es in sich. Die Vorstellung, schnurgerade in den freien Raum zu spurten, zwei drei Verteidiger aussteigen zu lassen und den Torwart zu täuschen, liebte er.
Ruben nahm das Gymnasium auf die leichte Schulter. Auf Prüfungen bereitete er sich schluderig vor. Trotzdem hatte er keine Mühe, die Sprossen der Klassenleiter zu erklimmen. Noch war er unsicher, welchen Beruf er wählen sollte. Etwas mit Handel zog er in Betracht, aber auch eine DiplomatenLaufbahn reizte ihn. Doch das hatte Zeit. Vorerst verschlang er heißhungrig alles, was er an Zeitungsartikeln ergattern konnte, und war längst zu einem wandelnden Lexikon über den Fußball in Lateinamerika geworden. Speziell interessierten ihn die Teams von Argentinien und Brasilien. Für die Zeitungen, die er mit unerbetenen Matchberichten bombardierte, war er allerdings ein Grünling. Die Redakteure lehnten die Texte ab oder setzten gnadenlos den Rotstift an, wenn er den Trainer einen »phantasielosen Marionettenspieler« oder den Schiedsrichter einen »Zeus mit Zornesblitzen« nannte. An einem Wochenende kam Ruben auf die Idee, mal nachzusehen, wie es Pablo im Internat ging. Einmal mehr war es ihm nicht gelungen, den Freund ans Telefon zu bekommen. Kurz entschlossen fuhr er per Autostopp zum Internat. Der Gebäudekomplex mit der Kapelle kam ihm vor wie ein Gefängnis aus der Kolonialzeit. Hinter solchen Mauern eingesperrt, musste man ja völlig verkommen. An jenem Abend kickte und köpfelte Pablo im Innenhof den Ball gegen eine Mauer, bis ihm der Pförtner zurief, ein Freund wolle ihn besuchen. Verschwitzt und mit rotem Kopf begrüßte Pablo Ruben: »So gut, dass du da bist!« »Störe ich dich beim Training?« »Weil du’s bist, höre ich auf. De una vez.« Sie setzten sich ins Empfangszimmer, das nicht ganz so nüchtern ausgestattet war wie die übrigen Räume. An der Wand hingen
Großaufnahmen der ersten Mannschaften von Olimpia und Motagua. »Wann nimmst du die Kutte?«, hänselte ihn Ruben und gab ihm einen Kaugummi. »Von Ofélia.« »Wie geht es denn der?« »Wird immer hübscher. Sie geht jetzt in die Handelsschule.« Sie schälten den Kaugummi aus dem Silberpapier und kauten genüsslich. »Hast du sie gefragt, ob sie mit dir gehen will?«, fragte Pablo vorsichtig. »Gefragt schon. Sie ist freundlich zu mir, mehr aber nicht. Halt erst dreizehn. Sie will Bankangestellte werden.« »Und du, wie hast du’s im Gymnasium?« »Der Unterricht stinkt mir grässlich«, beschwerte sich Ruben, »warum soll ich immer die Namen der spanischen Eroberer und Dichter pauken?« »Wenigstens bist du nicht in Haft«, sagte Pablo, »das Kloster raubt mir jede Freiheit. Fußball hin oder her, ich hab es satt, ohne Familie und Freunde hinter Mauern aufzuwachsen. Was soll ich bei langweiligen Lehrern aufpassen, wenn draußen Naxquitl spielt?« Naxquitl oder »Vierfuß« hieß der Jungstar im Angriff von Olimpia. Der Name bedeutete in der NahuatlSprache Derjenige, der die vier Ecken abschreitet, der in alle vier Richtungen läuft und den Raum beherrscht. Ein Foto des Idols lag in Pablos Nachttischschublade. »Sehe ich das richtig, dass du dir Naxquitl zum Vorbild nimmst?« »Ja natürlich. Warum?« »So angefressen wie du vom Fußball bist, musst du hier im Kloster bleiben!« Pablo starrte auf die Eukalyptusbäume und ihre Blätter, die im Winde flimmerten und raschelten. »Kommst du mit?«, fragte er. »Wohin?«
»Nächste Woche nach dem Sonntagsmatch Olimpia gegen Marathón mache ich mich aus dem Staub!« »Wirklich dein Ernst? Du schwärmst für Naxquitl, aber setzt deine Ausbildung aufs Spiel?« »Ich verschwinde nur für eine Nacht und so, dass es niemand merkt. Sonst verkomme ich noch in diesem Käfig!« »Du hast den Koller«, konstatierte Ruben. Gemeinsam heckten sie einen Plan aus. Vor Ende des Meisterschaftsspiels wollten sie sich aus dem Stadion schleichen und in die Altstadt fliehen. Vielleicht, so hofften sie, ließ sich ein Stelldichein mit Ofélia und einer ihrer Freundinnen abmachen. Da die Glocke zum Abendessen rief, verabschiedeten sie sich. Im besagten Spiel lief es für Olimpia nicht nach Wunsch. Pablo stand mit den Internats-Kameraden in der Sonnenkurve hinter dem Tor. Durch einen Gegenangriff mit Pass in die Tiefe gelang Marathón die Führung zum 0:1. Olimpia drängte auf den Ausgleich. Naxquitl, gerade neunzehn, wurde im Strafraum gelegt. Weil der Schiedsrichter den fälligen Elfmeter nicht pfeifen wollte, brodelte es auf den Rängen. Den mittleren Tumult nützte Pablo aus, um sich davonzumachen. Vor dem Stadion wartete bereits Ruben. Wie von der Tarantel gestochen rannten sie zum Flussufer und hinüber zur Altstadt. Zuerst suchten sie Onkel Esteban auf, der sie mit Getränken und Naschereien verwöhnte. Pablo rief zu Hause an. Isabel nahm ab und sagte, sie sei in Eile, auf dem Sprung ins Ballett des Teatro Bonilla, wo sie sich jetzt zur Tänzerin ausbildete. Mutter Ada und Elsa waren fort. Und Großmutter war so schwerhörig geworden, dass man nicht mehr mit ihr telefonieren konnte. Darauf riefen sie Ofélia an. Als sie Pablos Stimme vernahm, piepste sie: »So gut, dass Vater weg ist und mir das Ausgehen nicht verbieten kann. Ich komme nach dem Abendessen und nehme eine Freundin mit. Um halb neun hinter der Kirche Virgen de los Dolores, in jener Pinte, wo uns
niemand sieht?« Perfekt, fanden die Freunde, doch bis dahin blieb noch Zeit. Über Hinterhöfe schlenderten sie zu der von Ofé erwähnten Spelunke in der Altstadt und bestellten im Halbdunkel einen Humpen SalvaVida. Bier zu trinken, war Pablo gar nicht gewöhnt, Ruben schon eher. Nach dem zweiten Humpen begann Pablo zu schwafeln: »Bald ist es so weit, dass ich wie Naxquitl Tor um Tor schieße. Zuerst für Olimpia, dann für die Nationalmannschaft. El Salvador werde ich mit einem Hattrick bestrafen.« Bei Ruben brauchte es vier Biere, bis er sich als Bankdirektor wähnte, der Unmengen von Geld verdiente, schöne Frauen im Cabriolet herumchauffierte und in einer Luxusjacht um die Welt segelte. In Pablo gärte der Wunsch, mit Ofélia anzubändeln. Das ärgerte Ruben. Er steckte in einem pubertären Wachstumsschub und forderte das Mädchen für sich. Um eine Begründung war er nicht verlegen: »Hast du vergessen, dass du eingesperrt bist? Wie willst du da mit Mädchen ausgehen?« In diesem Augenblick betrat Ofélia die Schenke. Ihr wunderschönes Haar floss ihr schwarz über die Schultern und rahmte das Gesicht mit den Schalkgrübchen ein. Sie war in Begleitung von Alicia. Die Teenager hatten farbige Bänder um die Stirn geschlungen und trugen halblange Jeansröcke. Schon beim Eingang rümpften sie die Nase. Die verrauchte Bier- und Schnapsluft kam ihnen wenig einladend vor. Zudem schienen ihnen Ruben und Pablo reichlich angeheitert. Sie schlugen vor, in ein besseres Lokal zu gehen und hofften, dass frische Luft und ein Bummel die Burschen ausnüchtern würden. Pablo hatte alle Mühe, Ofélia und Alicia zu überzeugen, dass er sich verstecken musste. Zu ihrer Enttäuschung blieb er sitzen und verlangte ein weiteres SalvaVida. Ofélia murrte: »Lass das, Pablo, du bist ja ohnehin schon besoffen!«
Ruben kippte den Rest seines Humpens und grölte: »Weiber, seid nicht so zickig! Wir heben einen, wie es sich für Männer gehört.« Eine Abfuhr war nicht mehr zu vermeiden. Alicia raunte Ofélia zu: »Warum sollen wir uns mit solchen Typen abmühen?« Und weg waren sie. Erst lange nach Mitternacht, die Halbwüchsigen hatten den Rest des Abends wieder bei Onkel Esteban verbracht, Karten gespielt und Zigaretten geraucht, brachen sie zum Kloster auf. Pablo ritt auf dem Gepäckträger von Rubens Fahrrad. Sein Freund radelte, was das Zeug hielt, bis die Luft zischend aus dem Hinterreifen entwich. Ein Nagel. Nachdem sie einen Brunnen gefunden hatten, wo sie das Leck im Wasser orten und mit einem Kleber aus dem Flickzeug verschließen konnten, holperten sie auf Feldwegen weiter. Bei der Klostermauer verabschiedeten sie sich. Pablo schlüpfte durch ein Loch in der Hecke, die den Obstgarten einzäunte, und zog sich einen schrägen Kratzer auf der Wange zu. Auf Zehenspitzen tappte er ins Zimmer, in dem die Kameraden friedlich schlummerten. Bevor er sich hinlegte, zog er das Porträt von Naxquitl aus der Schublade und murmelte vor sich hin: »Diesen Elfmeter hätte dir der Schiedsrichter schon geben müssen.« Am nächsten Morgen verschlief Pablo gründlich. Das Einlaufen begann präzis um halb Acht. Als der Trainer ihn vermisste, schickte er Fausto aufs Zimmer. »He, du Schlafmütze«, rief Fausto, »auf! Aber schnell!« Pablo zuckte zusammen und wollte sich zur Seite drehen. Da zwackte ihn Fausto in den Hintern und erreichte, dass er sich erhob, den Kopf unter den Wasserhahn hielt, in den Trainingsanzug schlüpfte und hinunter auf den Platz klapperte, wo er vom Drillmeister angeschnauzt wurde. Die Kameraden lachten den Übernächtigten aus, denn er verfehlte einfachste Zuspiele und
ächzte bei den Dehnübungen wie ein Zittergreis. Der Trainer unterließ es, nach den Ursachen seines Katers zu fahnden. Wollte er Pablo schonen? Wenn seine Eskapade nämlich aufgedeckt würde, erhielt er einen Verweis. Im Wiederholungsfall hatte er mit dem Ausschluss aus der Sportschule zu rechnen. Dazu gab es einen Präzedenzfall. Ein älterer Mitschüler war Nächte lang fortgeblieben, um bei der Freundin zu schlafen. Zuerst wurde er vom Rektor vermahnt, dann provisorisch und schließlich definitiv gefeuert. Wegen seines Talents und seiner bescheidenen Art war der Trainer Pablo gewogen, deshalb drückte er beide Augen zu und sah davon ab, ihn bei der Schulleitung anzuzeigen. Seinerseits bemühte sich Pablo, nicht mehr unliebsam aufzufallen und die Hausordnung zu befolgen. Er blieb von der Idee besessen, kein Fußballer im landläufigen Sinn, sondern ein Topspieler zu werden. Der Trainer hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er sehr wohl wusste, was vorgefallen war, dieses eine Mal jedoch schweigen wollte. Pablo war ihm dankbar dafür und noch motivierter als zuvor. Allerdings hätte er den misslichen Eindruck bei Ofélia gerne ausgebügelt. Juan Ramos, der die Eskapade seines Schützlings instinktiv ahnte, ermahnte ihn beim nächsten Besuch: »Mach so weiter beim Fußball, aber lass die Dummheiten!«
7
Hupend und johlend fuhr eine Autokolonne aus Lastwagen, Bussen, Campern, Lieferwagen, Limousinen, Cabriolets und Oldtimern durch die Avenida Morazán zum Nationalstadion, vollgepackt mit Fans aus LaCeiba. Es gab Karosserien, die der Beulen wegen eher auf einen Autofriedhof gepasst hätten, Räder, die Achterbahnen beschrieben und schnarrten. Vida gegen Olimpia stand auf dem Programm des Wochenendes. Kaum eingetroffen stellten die Gäste auf den Stehrampen des Stadions zwei Steelbands und ein Sambaorchester auf. Wenn die Musikanten ihre Verstärkeranlage aufdrehten, ertrank alles andere im karibischen Sound. Eine Stunde später trudelten auch die Olimpia-Fans ein, unter ihnen Isabel, Ofélia und Ruben. Sie versuchten, Schlachtgesänge einzuüben, mussten aber bald ihre Ohnmacht einsehen. Den Zuschauern aus LaCeiba und ihren Bands waren sie hoffnungslos unterlegen. Mit zündrotem Kopf beklagte sich der Chef-Einpeitscher von Olimpia bei der Polizei, die einen Kordon um das Feld zog. Doch die Ordnungshüter waren nicht imstande, bis zu den Steelbands vorzudringen. Rotten von Vida-Fans schirmten die Musikanten ab. Ruben meinte, man hätte Tränengas und Knüppel einsetzen müssen, um sie in die Schranken zu weisen. Doch die Polizei schreckte vor Gewalt zurück. Die Ansage des Stadionsprechers, es sei verboten, Verstärker einzusetzen, nützte wenig. Das Stadion wurde zu einem Resonanzkasten für den Höllenlärm aus LaCeiba. Das mussten nicht nur die Ultras von Olimpia erdulden, sondern auch die Gäste auf der Ehrentribüne, wo Ada und Juan Ramos Platz nahmen. Sie waren gespannt auf Pablos Auftritt. Ada saß kerzengerade
neben ihrem Freund auf der Plastikschüssel, die sie mit einem Kissen gepolstert hatte, und knabberte Popcorn. Erstmals durfte ihr Sohn ein wichtiges Spiel in der Startaufstellung bestreiten, was sie mit Stolz erfüllte. Quasi eine Feuertaufe. Bisher war er nur zu Teileinsätzen gekommen und dabei durch gute Leistungen aufgefallen. Sein Traum einer Profilaufbahn schien sich zu verwirklichen.
Mit Siebzehn hatte Pablo die Internatsschule abgeschlossen, mit Achtzehn gehörte er jetzt bereits zum Kader der ersten Mannschaft. Seit dem Ende der klösterlichen Zucht wohnte er wieder bei seiner Familie, die nicht verlernt hatte, sich über ihren Wohlstand zu wundern. Dank der Zuwendungen von Juan Ramos und der Karriere von Pablo, der bei Olimpia ein Gehalt bezog, um das ihn die früheren Schulkameraden beneideten, waren die Moyas an die unteren Hänge des Picacho umgezogen. Rund herum standen Villen von Prominenten aus Politik und Wirtschaft. Hier anstatt in Comayagúela zu wohnen, mache sich entschieden besser, meinte Ada den neuen Nachbarn gegenüber. »Neureiche seid ihr«, verspottete sie die Witwe eines Generals, die ihre Haare kupferrot färben und alle paar Tage frisieren ließ. Jede Woche verbrachte Ada eine Nacht oder zwei in der Casa chica, im kleinen Haus, wie die Zweitabsteige eines Mannes wie Juan Ramos scherzhaft genannt wurde, auch wenn eine Wohnung ihr geheimer Treffpunkt war. Zu den Zeiten, in denen Juans Ehefrau Rosalba auf der Karibikinsel Roatán weilte und im Strandkorb Kriminalromane las, verbrachte Ada mehrere Tage hintereinander in Juans Villa an der Calle los Dolores. Seit sie den Verkaufsstand an der Avenida Barahona aufgegeben und ein Lokal bezogen hatte, das ihr Juan an der Avenida Morazán mietete, begann für sie auch geschäftlich eine neue
Lebensphase. Den Tisch und die Gestelle an den Wänden hatte Arturo García gezimmert, der ihr wie gewohnt die Schnitzarbeiten lieferte. Der Laden hatte einen Marmorboden, den Ada eigenhändig jeden Morgen blank fegte. Die Bedienung der elektronischen Kasse brachte Elsa ihrer Mutter bei. Die unvermeidlichen Pannen zu Beginn waren rasch überwunden. »Nun arbeitest du aber an bester Lage«, sagten die Freundinnen. Es dauerte nicht lange, bis das geschmackvoll eingerichtete Geschäft eine gehobene Kundschaft anzog. Pablo verzichtete kategorisch auf Vergnügungen, als sei ihm das Klosterleben in die Seele geschweißt und zur lieben Gewohnheit geworden. Ausschweifungen verachtete er. Obwohl ihm Ofélia noch besser gefiel als früher, musste sie, falls sie ausgehen wollte, meist mit Ruben vorlieb nehmen. Pablo war peinlich auf seine körperliche Fitness bedacht. Plagte ihn ein Wehwehchen, ein Stechen im Oberschenkel etwa oder ein Zwicken im Sprunggelenk, konsultierte er unverzüglich den Klubarzt oder fragte den Masseur um Rat. An den Worten von Trainer Jiménez hing er wie Mutter Ada am Evangelium. »Verwechsle die Anweisungen von Jiménez nicht mit den zehn Geboten von Moses«, war Elsas Standardbemerkung, wenn sie von der Arbeit im Reisebüro nach Hause kam. »Soll ich denn so leichtfertig sein und meine Chancen vergeben, ein Superprofi zu werden?«, erwiderte Pablo ihr dann ebenso stereotyp.
Wie gebannt sahen die Moyas jetzt auf den Tunnel, in dem die Mannschaften jeden Augenblick erscheinen mussten, um den Rasen zu betreten. Machte der Trainer mit der Ankündigung Ernst, Pablo in der Originalaufstellung zu nominieren? Da kam er – Ada entfuhr ein Freudenschrei – und trottete hinter
Naxquitl her. Ruben rief »Bravo!«, Isabel »Nun zeig, was du kannst!«, Ofélia »Wir wollen Tore sehen, Pablito!« Ihre Zurufe waren im näheren Umkreis durchaus hörbar, da die Steelbands gerade schwiegen. Sie drehten erst wieder auf, als sich das Vida-Team den Fotografen stellte und zum Fanblock hin verneigte. Enrique Pavón, Pablos Freund, drückte die Ersatzbank als zweiter Torhüter. Das war eine Auszeichnung, hatte er doch in der Rangordnung den dritten Torhüter überholt. Aus dem Dreierbund des Internats spielte nur noch Fausto Rojas in der zweiten Mannschaft. Wie es momentan aussah, waren seine Aussichten gering, in der Hierarchie weiter aufzusteigen. Nachdem Olimpia die Platzwahl verloren hatte – die tief stehende Sonne brannte ihnen ins Gesicht –, pfiff der Schiedsrichter die Partie an. Konfettiwolken aus der VidaKurve wirbelten durch die Luft, Papierschlangen flogen von den oberen auf die unteren Ränge. Unter dem Hämmern der Drums übernahm Olimpia die Initiative. Wie der Wind lief Pablo auf Pass von Naxquitl – »oh Naxquitl!«, stöhnte Isabel – an der Seitenlinie entlang, ließ einen Gegenspieler aussteigen und passte zur Mitte. Im Getümmel, das im Strafraum entstand, prallte der Ball mehrmals von einem Verteidigerbein ab und endete schließlich jenseits der Grundlinie. Aber sie machten weiter Druck. Eine Serie von Eckbällen brachte nichts ein, ein Freistoß aus 25 Metern zischte am Kasten vorbei. Da trickste Naxquitl seine Bewacher erneut aus und tauchte allein vor dem Torhüter auf. Geblendet von der Abendsonne traf er nicht richtig. Der Ball rollte ins Aus. Nun wurden die Gegenstöße von Vida gefährlicher. Bravourös fischte der Olimpia-Goalie einen Scharfschuss aus dem Lattendreieck. »Jetzt aber, Luna, jetzt!«, schrie Ofélia, als Pablo und Naxquitl die Verteidigung mit Doppelpässen überlisteten und der Ball –
sie hielt den Atem an – scharf – von welchem Fuß schon? – ins Netz fuhr. Der Platzsprecher nannte Pablo als Torschützen. Transparente wurden geschwenkt, Knallfrösche gezündet, Trompetenstöße geblasen, die kurz den Lärm der Steelbands übertönten. »Es war nicht Pablo, sondern Naxquitl!«, protestierte Isabel. »Bist du eigentlich in ihn verknallt?«, neckte sie Ruben, der eine Schildmütze und ein T-Shirt mit den Wappentierlöwen von Olimpia trug, »es war doch Lunas linker Fuß.« Bald darauf war Pause. Ada und Isabel lutschten ein Zitronen-Eis, Juan und Ruben kippten ein SalvaVida-Bier. Trotz des Führungstors wurde Olimpia die Suppe gründlich versalzen. Kaum hatte die zweite Hälfte begonnen, lief Pablo auf der linken Außenbahn auf und davon. Er wurde von einem Bullen verfolgt, der Obelix glich und einen gespenstischen Schatten warf. Pablo umdribbelte einen Verteidiger und einen zweiten, hinter ihm keuchte und schnaubte es. »Rasch zur Mitte geben«, blitzte es durch seinen Kopf, denn das Keuchen kam näher und war jetzt dicht hinter seinem Ohr, im Nacken spürte er heißen Atem. Als er zur Flanke ansetzte, säbelte ihn der Bulle um, dass er zusammenzuckte und vornüber stürzte. Die Olimpia-Fans schrien auf, Ofélia, Ruben und Isabel waren außer sich, sogar Juan sprang vom Sitz hoch. Foulgebrüll schallte und widerhallte in der Arena und drang bis hinauf zur Christus-Statue hoch über dem Häusermeer. Schleierhaft blieb, warum der Referee nicht einmal die gelbe Karte zückte. Pablo wälzte sich auf dem Boden. Da die herbeigeeilten Sanitäter erkannten, dass die Verletzung ernsthafter Natur war, betteten sie ihn auf die Tragbahre und schleppten ihn unter Buhgeheul vom Platz. In der Kabine machte der Medicus eine saure Miene. Er stellte fest, dass der rechte Unterschenkel geknickt war. Seine Diagnose lautete doppelter Beinbruch, Fraktur des Schien- und
des Wadenbeins. Zur Schmerzlinderung verabreichte er Pablo eine Spritze und befahl, das Bein auf einer Gipsschiene zu fixieren. Da kam Ada. Sie hatte es geschafft, das Spalier der Sicherheitsbeamten zu durchbrechen und in die Kabinen zu gelangen. »Pablito!«, entfuhr es ihr, »Pablito – « Ihr Sohn hatte die Augen geschlossen. »Ist er bewusstlos?«, fragte sie. Der Arzt beruhigte die Mutter und wies auf die schmerzbetäubende Injektion hin. »Wird er je wieder spielen können?«, fragte Ada ängstlich. »Ganz sicher ist so etwas nie«, antwortete der Doktor, »höchstwahrscheinlich schon. Aber er wird wohl ein halbes Jahr pausieren müssen.« »Falls er wieder spielen kann, bleibt dann ein Schaden zurück? Sagen sie schon!« Der Arzt zuckte mit den Achseln.
Unterdessen lief das Spiel weiter. Ruben forderte seine Begleiterinnen auf: »Kommt Mädels, wir gehen! Mir reicht’s!« Trotzdem blieb er wie angewurzelt stehen und knurrte in sich hinein. Auch Isabel und Ofélia blieben stehen und protestierten: »So brutal hat er ihn umgemäht!« Was nun geschah, war ein Albtraum für Olimpia. Jiménez schickte einen Ersatzstürmer aufs Feld und verlangte einen zweiten Treffer. Der Vorsprung von 1:0 genügte ihm nicht. Da glich Vida im Anschluss an einen Eckball aus. Das Stadion erdröhnte unter den Klängen der Steelbands. Sofort nach dem Wiederanspiel setzten Naxquitl und seine Mannen zu einer Schlussoffensive an und wollten den Sieg erzwingen. Vierfuß links, Vierfuß rechts, stets verfolgt von einem Trio, das ihn am Trikot zerrte, schubste und rempelte, ohne dass der Schiedsrichter eingriff.
Zwar fiel der dritte Treffer dennoch, aber auf der falschen Seite. 1:2 für Vida war das Endergebnis. »Vida, viva Vida!«, skandierten die Sprechchöre in der Arena.
8
Vater Carlos Moya, der vor kurzem als Stern aufgegangen war, blickte verwundert um sich. Er schwebte unter Myriaden von anderen Himmelskörpern, die im All glitzerten und glänzten. Der unmittelbare Nachbarstern blendete durch seine Leuchtkraft, gab aber keine Antwort. »Er ist noch schrecklich jung, nur Augenblicke vor dir am Firmament aufgetaucht«, erklärten ihm die leutseligeren Sterne der Milchstraße. Sie gaben Carlos ein magisches Teleskop, damit er verstehen lernte, weshalb der Stern neben ihm den Nachthimmel zierte. Carlos blickte durchs Zauberfernrohr und sah ein Fußballspiel, ein Länderspiel life. »Auf der Ehrentribüne sitzen Nazibonzen«, flüsterten ihm die Nachbarsterne zu, »in Reih und Glied, mit Schirmmützen und ordenübersäter Brust.« Carlos wusste nicht, was ein Nationalsozialist war. Er fand, dass die Uniformierten auf den Rängen den Ministern von El Salvador glichen, die den Fußballkrieg gegen Honduras entfesselt hatten. Sie verschränkten die Arme und runzelten die Stirn. Auf dem Feld lief es offenbar nicht so, wie sie das wünschten. Ein hagerer Mittelstürmer stand im Fokus ihrer Brillen und Pupillen. Abgefeimt luchste er den Gegenverteidigern den Ball ab, überrumpelte und narrte sie nach Belieben. Ein Katz- und Mausspiel. Trotz der zwingenden Chancen, die er sich schuf, gelangen ihm aber keine Tore. Unglaublich, was er alles vermasselte, wie er freistehend den Ball aus zwei Metern neben den Pfosten zirkelte oder in die Wolken hob. Aus den Gesichtern der Potentaten war abzulesen, dass sie das billigten, ja geradezu forderten.
Carlos holte bei den Nachbarn Rat: »Der Stürmer dort unten führt uns an der Nase herum. Darf er denn nicht ins Netz treffen? Der hätte seine Mannschaft doch längst in Führung bringen müssen.« »Ha, nun schnallst du’s endlich!«, frohlockte es aus dem Sternenwald, »der schießt keine Tore, weil er nicht darf, weil er die Konsequenzen fürchtet.« Die Groteske währte bis zur Pause. Nach üblicher Fußballlogik hätte der Wunderstürmer längst zwei bis drei Treffer erzielen müssen. Der Stadionsprecher jedoch meldete, noch stehe es zwischen der »Ostmark« und dem »Altreich« 0:0 unentschieden. Aber es sei nur noch eine Frage von Minuten, bis das erste Tor zugunsten des Altreichs falle. Nach Wiederaufnahme des Matches begriff Carlos, dass der Topmann zum Team der Ostmark gehörte, die, würde es mit rechten Dingen zugehen, mit mindestens 2:0 Toren in Führung liegen müsste. Aber die Ostmark? Was war das für ein Land? Wieder halfen die Nachbarn weiter: Österreich heiße nach dem Anschluss an Adolf Hitler »Ostmark«, das »Altreich« sei Großdeutschland. Hitler? Noch nie gehört. Deshalb verstand Carlos weiterhin nicht, was den Mittelstürmer der Ostmark bewog, seine Chancen nicht zu nutzen. Schon wieder tanzte er den Abwehrspielern um die Ohren und – unglaublich genug – diesmal zappelte der Ball im Netz! Das Tor zum überfälligen 1:0! Die Nachbarn erklärten Carlos, dass Sindelar damit sein Gelübde gebrochen hatte, gegen Großdeutschland keine Tore zu schießen. Propagandaminister Goebbels hatte der Auswahl der Ostmark untersagt, die Elf des Altreichs zu blamieren. Wer über unumschränkte Macht verfügte, bewies diese auch auf dem Fußballplatz. Jeden Gegner in die Knie zu zwingen, war das Credo der Nationalsozialisten. Doch auch im weiteren Verlauf entwickelte sich das Spiel nicht nach Goebbels Vorgaben. Laune und Nerven der Nazibonzen wurden hart
strapaziert, denn Ostmarkstürmer Karl Sesta tat es Matthias Sindelar gleich und schoss das 2:0 für Österreich. Geblendet vom Erfolg, der nicht sein durfte, hüpften die beiden Freunde vor der Tribüne der Nazibonzen und jubelten: »Tor!« »Matthias Sindelar überlebte das Spiel nicht lang«, informierten ihn die Himmelskörper rund herum. »Österreichs Stürmerstar verstarb vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Entseelt fand man ihn in der Schlafkammer über seinem Wiener Kaffeehaus. Er lag neben seiner Geliebten Camilla Castagnola, Halbjüdin und Wirtin in der Gulaschhütte zum Weißen Rössl. Wie aus den Untersuchungen hervorzugehen schien, wurde das Liebespaar durch Gase vergiftet, die einem lecken Ofen entwichen waren. Mit oder ohne Order aus der Parteizentrale? In der Gerüchteküche an der Blauen Donau dampft es noch heute. Der Verdacht auf einen Auftragsmord ist nicht auszurotten. Wen wundert’s, lieber Carlos, dass Sindelar als Stern aufging und neben dir hell leuchtet?«
Bei einem neuen Anlauf, mit dem Nachbarstern Kontakt aufzunehmen, war Carlos endlich erfolgreich. Sich mit einem Ballkünstler anzufreunden, der in Wien bewundert wurde, fand er spannend. Eines Tages wurde der wortkarge Sindelar auf einmal ganz aufgeregt und rief Carlos zu: »Schau mal runter, meine Enkel ehren mich!« »Entschuldige, ich hatte gerade Honduras im Blickfeld und habe verpasst, was in Wien geschieht.« »Eben jetzt, fast fünfzig Jahre nach meinem letzten Match, wurde ich zum besten Spieler des zwanzigsten Jahrhunderts erkoren. Ich bin Österreichs frisch gebackener Nationalheld!«
9 Mit Trainern ist es so eine Sache. Wenn sie nicht reüssieren, werden sie gnadenlos gefeuert. So auch bei Olimpia, das im Jargon seiner Anhänger Los Merengues hieß. Weniger der Meringues wegen, die zum Nachtisch beliebt waren, sondern in Verehrung von Real Madrid, des Renommierklubs, der unter demselben Spitznamen bekannt war. Nach Pablos Unfall verkam die Saison zu einer Katastrophe. Auf ein Unentschieden folgten drei Niederlagen und ein knapper Sieg gegen einen Verein, der im untersten Tabellenviertel rangierte. Acht Runden vor Ende der Meisterschaft war Olimpia auf den achten Platz zurückgefallen, weit hinter Real España, Vida und Motagua. In der Zeitung La Prensa entbrannte eine Polemik über die Hintergründe. Dem Trainer sei die Kontrolle entglitten, stand in einem Leitartikel, im Team gehe es chaotisch zu. Jedes Teammitglied versuche, sein eigenes Rezept durchzusetzen. Zu allem Überfluss erregte ein Skandal die Gemüter der Fans. Nach einem torlosen Remis fuhren einige Spieler per Range Rover in den Urwald bei Catacamas, wo sie sich mit Nachtklubmädchen nackt in Tropenflüssen suhlten und Unmengen Wodka kippten. Der Besuch einer Felshöhle, in der fluoreszierende Schädel aus vorkolumbianischer Zeit von den Decken und Wänden glotzten, artete in einer Orgie aus. Angesichts solcher Ausschweifungen wunderte es niemanden, dass auch das nächste Spiel missglückte. 6:1 gegen Real España zu verlieren, war eine Schande. Auch das Privatleben von Trainer Jiménez geriet unter Beschuss. Er verkehre im Kreis von Marihuana-Süchtigen, kolportierte ein Lokalredakteur. Der Angeschuldigte setzte sich zur Wehr.
Seine Replik, die in der Presse genüsslich verbreitet wurde, trug den Titel Auf dem Schleudersitz. Vergraule er die Spieler durch zuviel Zucht, gab er bekannt, falle man über ihn her, aber ebenso, wenn er einmal die Zügel schleifen lasse. Er stellte klar, dass ihm bei seinem Engagement ein doppelt so hohes Budget versprochen worden war, als er effektiv zur Verfügung hatte. Nur deshalb scheiterte seiner Meinung nach die Einstellung eines Uruguayers, der eine massive Verstärkung für Olimpia bedeutet hätte. Auch das Verletzungspech verpfusche diese Saison. Hätte er, Jiménez, denn mit Pablo Moyas Beinbruch rechnen müssen? Juan Ramos verfolgte die Kontroverse in La Prensa. Als er den Artikel von Jiménez las, platzte ihm der Kragen. Er diktierte seiner Sekretärin einen Leserbrief, der unverzüglich erschien. Der wichtigste Passus lautete: »Herr Jiménez versteht die fundamentalen Gesetze nicht. Jeder Trainer muss mit einem Bruchteil der zugestandenen Mittel auskommen und damit Erfolg haben. Bringt er das nicht fertig, hat er seinen Beruf verfehlt. Das Auftauchen eines Jungstars wie Pablo Moya war ein Geschenk, das Herr Jiménez nicht zu nutzen wusste. Es gehört zu den Pflichten des Ausbilders, die Verletzungsanfälligkeit von Schlüsselspielern durch geeignete Maßnahmen im Training zu reduzieren.« Gründe genug, um Adalberto Jiménez zu entlassen. Die Klubgewaltigen, bei denen Juan mitmischte, machten sich auf die Suche nach einem Nachfolger. Sie wurden in Brasilien fündig. Sophokles, der bei Flamengo gespielt und Belo Horizonte trainiert hatte, war der neue Mann. In Tegucigalpa genoss er Vorschusslorbeeren in Hülle und Fülle. »Mein Name erinnert an den Tragödien-Dichter und nicht an den Philosophen Sokrates«, ließ Sophokles bei seiner Ankunft wissen und deklamierte die Namen der Stürmer Brasiliens, die 1970 in Mexiko das Finale der Weltmeisterschaften gegen
Italien 4:1 gewonnen hatten. »Pelé, Tostáo, Jairzinho« – das klang wie Sambamusik, die man nicht nur in LaCeiba zu würdigen wusste. Bevor er den Künstlernamen Sophokles angenommen hatte – in Anlehnung an eine Größe des brasilianischen Fußballs, eben doch an Sokrates, den Kinderarzt von Sáo Paulo –, war er ein Turm in der blaugelben Verteidigung gewesen. Seit Sophokles das Szepter schwang, ging es wieder bergauf. Olimpia kehrte zum Erfolg zurück. Auswärts wurde Marathón mit 3:0 abgefertigt, Universidad mit 2:1. Dank einer Kette von Siegen kletterte die Mannschaft die Tabelle hoch, kam aber nicht über den dritten Rang hinaus. Der Punkterückstand auf Vida und Real España war einfach zu groß gewesen. »In der nächsten Saison werden wir Meister«, prophezeite Sophokles.
Wegen der Unterschenkelfraktur war Pablo einer Operation unterzogen worden. Der in Philadelphia ausgebildete Chirurg hatte die Frakturenden mit einer Platte fixiert. Der Eingriff war ohne Komplikationen verlaufen. Seither waren vier Monate verflossen, aus Pablos Sicht eine Unendlichkeit. Noch rechnete der Chirurg mit zwei oder drei Monaten, bis er daran denken konnte, das Training wieder aufzunehmen. Um in die erste Mannschaft zurückzukehren, musste er dann den dornenvollen Weg über die Reserve einschlagen. Selbst diese Prognose war mit Unsicherheiten belastet. Konkurrenten, die ihm den kometenhaften Aufstieg missgönnten, verbreiteten die Fama, eine Invalidität sei keineswegs auszuschließen. Um Beispiele waren sie nicht verlegen: Einem bekannten Mittelfeldspieler waren nach einer vergleichbaren Operation die Knochen falsch zusammengewachsen. Trotz weiterer Eingriffe blieb das Bein krumm. Mit 22 Jahren wurde er vom Spitzensport ausgemustert. »Ich bin ja erst neunzehn«, dachte Pablo, aber
die Geschichte setzte ihm zu. Sophokles hingegen ermutigte ihn, wo er nur konnte. Bei einem der regelmäßigen Besuche scherzte er väterlich: »Du Faultier, ich habe Spieler erlebt, die Tore mit dem Gipsbein geschossen haben.« Oder er zerstörte Pablos Bedenken, indem er versicherte: »Dich hat ein Starchirurg behandelt. Spätkomplikationen kannst du vergessen. Und du bist robust.« »Vergiss nicht, was dir Sophokles gesagt hat«, schlug Ada in dieselbe Kerbe. Um Pablos depressive Stimmung zu vertreiben, kochte sie ihm Leibspeisen wie Schweinshaxen oder Garnelen. Die Tortillas kaufte sie nicht im Laden, sondern klopfte sie selbst. Zum Nachtisch verwöhnte sie ihn mit Meringues und Schlagobers und suggerierte ihm, wenn er Meringues esse, finde er rascher den Weg zurück zu Los Merengues. Sie war nicht davon abzubringen, dass der Unfall seinen Aufstieg zum Star vielleicht verzögern, aber niemals aufhalten konnte. Am meisten trug Ofélia dazu bei, Pablo aufzumuntern und dadurch seine Genesung zu fördern. Nach der Schule kam sie dahergerannt. Mit oder ohne Ruben, der nach Abschluss des Gymnasiums bei der Bank Credomatic die praktischen Probleme der Finanzwelt kennen lernte. Verbohrte sich Pablo in sein Missgeschick und sah den Ausgang des Tunnels nicht, streckte Ofé neckisch die Zunge oder schmatzte ihm einen Kuss auf die Wange. Seit er mit einem Gehgips herumhumpelte, konnte Pablo wenigstens als Zaungast am Training teilnehmen. »So bekommst du meine Auffassung von Taktik mit. Bevor du wieder aktiv eingreifen kannst, saugst du an meinem Schnuller«, frotzelte Sophokles. Höchst willkommen war Pablo, dass er auf diese Weise Kontakt zu den neu verpflichteten Spielern hatte. Der Verteidiger Finí war mit Sophokles aus Rio de Janeiro gekommen. Er war eine Verstärkung für Olimpia. Durch untrügliches Positionsgefühl verlieh er der Abwehr Stabilität.
Seine Kopfstöße bei Eckbällen waren gefürchtet. Naxquitl wurde unter dem neuen Trainer zusehends reifer. Inzwischen war er nicht nur Regisseur von Olimpia, sondern auch der Nationalmannschaft. Dass er Isabels schönen Augen wenig Beachtung schenkte, führte Pablo darauf zurück, dass er dem Fußball absolute Priorität einräumte und von Mädchen ohnehin nur so umschwärmt wurde. Nach einem Spiel gegen Motagua, das mit 2:2 geendet hatte – Sophokles erlitt einen cholerischen Anfall –, lud Juan Ramos die Moyas, Ofélia und Ruben zum Essen in eine Pupuserla ein. Sie setzten sich an einen Rundtisch. Pupusas waren Tortillas, die mit Käse und Chicharrones gefüllt wurden und vorzüglich schmeckten. Eine Spezialität, die im nahen Mexiko kaum bekannt war und ursprünglich aus El Salvador stammte. Dazu bestellten sie SalvaVida. Nur Isabel und Ofélia verlangten Coca Cola. Juan korrigierte sie: »Pepsi, meine Lieben.« »Weshalb?« »Weil Pepsi der Hauptsponsor von Olimpia ist und es hier keine Coca gibt.« »Was für ein Flop«, sagte Ada in Bezug auf das Spiel und Ruben doppelte nach: »Gegen Motagua hätten wir gewinnen müssen. Pech für Naxquitl, dass er nur den Pfosten getroffen hat.« »Sogar Finí war von den Göttern verlassen.« »Und den Bodenroller, der zum zweiten Gegentor führte, hätte Enrique halten müssen.« Die letzte Kritik ging Pablo zu weit. Er verteidigte seinen Freund: »Der Ball war tückisch, der wurde durch eine Unebenheit abgefälscht. Nichts zu machen für Enrique.« Nachdem er mehr Bier getrunken hatte, als ihm bekam, kaprizierte sich Juan darauf, den Fußball mit der Weltkugel zu vergleichen. Er polterte mit der Faust auf den Tisch und
belehrte die Anwesenden: »Magellan hat als Erster die Fußballform der Erde erraten. Auf seine Vision vertrauend ist er aus dem Kanal, der seinen Namen trägt, blind in den Pazifik hinausgestochen, um den endgültigen Beweis zu liefern.« »Wie kommst du jetzt auf dieses Thema?«, wunderte sich Ada. Die Jungen passten nicht auf, was ihr Gönner erzählte. Ihr Gespräch drehte sich darum, wer auf wen stehe. Der Name Naxquitl fiel wiederholt.
10
Gut ein Jahr später ging es Spitz auf Knopf. Olimpia benötigte aus dem letzten Spiel drei Punkte, um den Meistertitel zu gewinnen. Doch die Aufgabe war schwierig. Das Team hatte in San Pedro Sula gegen Real España anzutreten. Wenn die Erzrivalen siegten oder auch nur ein Unentschieden erzwangen, waren sie Meister. San Pedro verfügte über einen Flughafen, dessen Pisten für Jumbojets geeignet waren. Durch das Sula-Tal war einst der Haudegen und Eroberer Pedro de Alvarado galoppiert. Er hatte Pfaffen zu Fuß und mit hocherhobenem Kreuz im Schlepptau. Jetzt war hier ein Zentrum für den Bananenexport entstanden, dominiert von der American Fruit Company, die riesige Plantagen besaß und über Hintertüren die Politik der Regierung beeinflusste. Konzerne wie Toyota und Nestlé errichteten ihre Landeszentrale. Im Gegensatz zum Gewirr in Tegucigalpa waren hier die Straßen, typisch für eine Kolonialstadt, im Schachbrettmuster angeordnet. Nur im Süden der Stadt spukte es nachts. Die eingeschworene FanGemeinde von Real España stammte von dort. In den Slums mit Unterkünften aus Brettern und Blech wurde auch ihr Anführer geboren. Weil sein Vater nichts vom eigenen Spross wissen wollte, wuchs er bei der Mutter auf. Früh trat er einer Gang von Straßenjungen bei, die in vornehmen Quartieren auf Beutezug ging. Er war knochig und hoch gewachsen, nicht besonders kräftig, dafür aber wendig, clever und durchtrieben. Im Verlauf der Jahre stieg er zum Bandenchef auf. Man munkelte, dass er seinen Vorgänger zu einem Duell mit Schlagstöcken herausgefordert hatte und dieser dabei ums
Leben gekommen war. Die brandschwarzen Haare standen ihm igelartig vom Kopf ab, die Kohlenaugen konnten das Gegenüber fixieren wie Klapperschlangen ihr Opfer. Er erhielt den Namen Lempira. So hatte ein Kazike geheißen, der sich gegen die spanischen Eroberer derart erfolgreich gewehrt hatte, dass ein Städtchen zu seinen Ehren Gracias Lempira getauft und sogar die Landeswährung nach ihm benannt worden war. Brot bezahlte man in Lempiras. Das Geschrei der LempiraBande, ihre Trommel- und Paukenwirbel waren legendär und von Olimpia gefürchtet, weil sie die ermüdeten Spieler von Real aufpeitschten und zu Leistungen anspornten, die Minuten vorher noch undenkbar schienen. Doch diesmal fühlte sich Olimpia gewappnet, Trainer Sophokles hatte sein Team zu einer Einheit zusammengeschweißt. Die Internatsfreunde Pablo Moya, der zu seiner alten Form zurückgefunden hatte, und Enrique Pavón gehörten zur Standardaufstellung. Pablo spielte auf der linken Außenbahn und Enrique hütete das Tor. Oft schwankte Sophokles, ob er Luna als Stürmer nominieren oder als Verteidiger mit der Aufgabe betrauen solle, in den Angriff vorzustoßen, sobald sich eine günstige Gelegenheit bot. Meist wählte er eine Zwischenlösung und stellte ihn im vorgeschobenen Mittelfeld auf. Versuchte der Trainer, Pablo mit rein defensiven Aufgaben zu betrauen, so maulte der umgehend: »Könntest du dir Zico als Verteidiger vorstellen?« Nicht nur Finí, der trotz eines lukrativen Angebots aus Costa Rica in Tegucigalpa blieb, sondern brasilianische Cracks ganz allgemein waren Idole für die Honduraner. Niemand wagte deren Qualitäten anzuzweifeln. Besonders wenn sie für Vereine jenseits des Atlantiks spielten. Real Madrid und Barcelona waren Adressen mit Prestige, auch Juventus Turin, AC Milan, Manchester United, Ajax Amsterdam und Bayern München. Doch Spitzenkönner aus Mittelamerika, schon gar aus Honduras, wurden selten von europäischen Klubs
verpflichtet und wenn doch, dann von weniger bekannten. Von Bochum, Auxerre, Aberdeen oder Cagliari. Juan Ramos hatte Pablo den Floh einer Auslandskarriere ins Ohr gesetzt. Seither träumte Luna von Ruhm und Fantasiegehältern, die jenseits des Atlantiks zu verdienen waren. Vor dem entscheidenden Meisterschaftsspiel kursierten Gerüchte, dass Spielervermittler anreisen würden, um Ausschau nach Talenten zu halten. Unter ihnen war angeblich einer, der Spieler für den AC Milan anwarb. Für Pablo gab es einen zusätzlichen Grund, sein Können ins Rampenlicht zu rücken. Wie in den Kabinen herumerzählt wurde, hatte die Vereinsleitung Livia Yacamán erlaubt, heute anstatt auf die Ehrentribüne neben Sophokles zu sitzen. Allerdings hielt es diesen nur selten auf der Trainerbank. Meist tigerte er an der Seitenlinie entlang und schrie Anweisungen durch die zu einem Rohr geformten Hände. Livia war die Madrina, die Ikone des Klubs. Sie war nicht nur charmant und einfühlsam, wie eine Kultfigur sein musste, sondern hatte auch Schwindel erregende Kurven. Erst kürzlich hatte sie im Klubcafé mit Luna geflirtet und ihm eine brillante Laufbahn vorhergesagt. »Du wirst noch Tore bei der Weltmeisterschaft schießen«, säuselte sie mit üppig rotem Mund und streifte ihn mit dem Busen. Ihre verführerischen Visionen ließen Pablo nicht kalt. Für Honduras bei einer WM zu spielen, war sein Wunschtraum, seit die Frakturen ausgeheilt waren und seine Fähigkeiten wieder höheren Ansprüchen genügten. Doch dem Traum stand eine nüchterne Tatsache entgegen: Erst ein einziges Mal hatte sich das Land für die Endrunde qualifiziert, 1982 in Spanien. Vorher nicht und seither nicht mehr. Entsprechend hoch lag die Hürde. Warum es Pablo momentan mehr reizte, mit Livia als mit Ofélia auszugehen, wusste er selbst nicht. Weil die Ikone drei Jahre älter und reifer war als er oder weil sie sich eben mit dem Vizepräsidenten des Klubs
überworfen hatte? Das Ende der Affäre füllte die Klatschspalten der Presse und wurde klubintern heiß diskutiert. Noch dauerte es eine Stunde bis zum Anstoß im Estadio Olímpico, das eine Kopie des Nacional von Tegucigalpa war und ebenfalls vierzigtausend Zuschauer fasste. Längst füllten die Real-Fans den Sektor hinter einem Tor und probten Sprechchöre und Schlachtgesänge unter der Regie von Lempira, dessen Haarstacheln noch aggressiver abstanden als sonst. Vor dem Einlaufen ins Stadion predigte Sophokles den Merengues: »Ihr wisst, um was es geht. Wir müssen gewinnen. Ich dulde kein Wenn und Aber. Unser Konzept: Hinten zumachen, die Schwarzgelben eng markieren und auf Kontermöglichkeiten lauern. Sobald wir den Ball haben, schalten wir von der Verteidigung auf Angriff um. Blitzschnell. Aber ohne in die Abseitsfalle zu tappen, klar? Naxquitl, du hängst zurück und schlägst deine Millimeterpässe. Pablo, du gehst auf die Ersatzbank als Edeljoker. Du, Finí, deckst den Spielmacher von Real so, dass er keine Chance kriegt und du, Enrique, hältst, was zu halten ist.« Dass er nicht wie in den letzten Spielen in der Startformation figurierte, sondern auf der Ersatzbank Platz zu nehmen hatte, verstand Pablo überhaupt nicht. Edeljoker? Was sollte das denn heißen? Als gewiefter Psychologe gewahrte Sophokles seine Enttäuschung. Er rief ihn zu sich und präzisierte: »Je nach Verlauf des Spiels wirst du eingewechselt. Früher oder später. Dann bist du frisch, überläufst die Verteidiger auf ihrer löcherigen Seite und machst das Siegestor. Oder verwertest einen genialen Pass von Naxquitl. Du bist der Schlüsselspieler, der dem Gegner den K.o.-Schlag versetzt, wenn seine Kräfte schwinden, kapiert?« »Ja nu«, murrte Pablo wenig überzeugt und schickte sich ins Unvermeidliche. Schon musste er von der Bank aus mit ansehen, wie Real in schwarzgelben Trikots das Tor von
Olimpia berannte. Im Strafraum brannte es lichterloh. Einmal rettete Finí, einmal Ortega auf der Torlinie, dann hechtete Hüter Pavón in die tiefe Ecke und lenkte einen Boliden ins Aus. Die Fans von Real tobten: »Rein mit dem Ding! Zeigt es diesen Scheißkerlen aus Tegucigalpa!« Die Rivalität zwischen den beiden Städten feierte Urstände. In der neunzehnten Minute traf ein, was in der Luft lag. Unter dem Triumphgeheul von Lempira und Spießgesellen donnerte Reals Mittelläufer den Ball in die rechte tiefe Torecke. »Bereite dich auf einen Einsatz vor!«, bestimmte Sophokles nur Minuten später. Das kam für Pablo unerwartet. Er hatte sich nicht einmal warm gelaufen. Außer bei Verletzungen erfolgten die Auswechslungen später. Und wenn, dann wurden sie durch den Trainer rechtzeitig angekündigt. »Luna, pass auf, du bleibst im Mittelfeld, entziehst dich der Bewachung und verstärkst Naxquitl links der Zentralachse«, wies ihn Sophokles an, »kommt eine Chance, gehst du auf Teufel komm raus in den Angriff. Dann lauf sofort wieder zurück. Die Kondition dazu hast du.« Schon bevor Pablo dem Linienrichter die Stollen zeigte und für Verteidiger Ortega eintrat, der für den 1:0-Rückstand mitverantwortlich war, entwickelte Olimpia mehr Druck. Der Gegentreffer hatte die Löwen aufgerüttelt. Jetzt mussten zwei Tore her, zu Ausgleich und Sieg. Doch die Fehlpässe häuften sich. Pablo wirkte ungelenk und verpasste selbst ideale Zuspiele. Irgendwie war er gehemmt. In der Pause heizte Sophokles seinen Spielern ein: »Wir müssen die Wende schaffen! Wir sind 1:0 im Rückstand. Pablo, du kannst mehr, als du zeigst!« Schuldbewusst legte sich Pablo auf eine Pritsche, ließ sich vom Masseur die Muskeln lockern und die Narben am Unterschenkel mit Salbe bestreichen. Es roch nach Kampfer. Trotz der Gardinenpredigt gestand sich der Trainer ein, dass
seine Strategie nicht stimmte. Er hatte wohl ein zu defensives Konzept ausgeheckt. Seine Spieler waren angriffsorientiert. Deshalb gab er jetzt die Anweisung, in Wellen nach vorne zu stürmen. Ohne das Absichern hinten zu vernachlässigen. Auf den Rängen palaverten die Zuschauer über das Geschehen auf dem Platz, soffen und rauchten. Eingeweihte erstanden frische Eier von Wasserschildkröten, die ein Junge im Plastikbeutel herumtrug und auf den Tribünen verkaufte. Die Mär war nicht auszurotten, dass diese Gaben der Karibik die Potenz ungemein steigerten. Lecker waren auch Bratspieße mit Beefwürfeln oder Würstchen. Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit lancierte Naxquitl Luna mit einem präzisen Steilpass. Der Jungstar machte kurzen Prozess, überlief die Verteidiger, ließ den Torwart durch Körpertäuschung ins Leere langen und traf. Die Olimpia-Anhänger, die in Buskolonnen aus Tegucigalpa gekommen waren, gerieten aus dem Häuschen. »Luna, Luna Jaguar, Luna!«, brüllten sie, hüpften und tanzten. Auf dem Rasen wurde Pablo von den Mitspielern beinahe erdrückt und glaubte im Rausch des Erfolgs zu sehen, dass Livia Yacamán ihm Kusshändchen schickte. Noch fehlte das Siegestor. Doch es war Real España, das haarscharf einen Erfolg verpasste. Sophokles packte das pure Entsetzen, als ein Stürmer des Gegners allein aufs Tor zustürmte, fest entschlossen, die Meisterhoffnungen der Merengues zur Farce zu machen. Doch Enrique rannte aus dem Tor und wischte dem Angreifer den Ball von den Füssen. Trainer brauchen Nerven wie Drahtseile. Das Spiel entartete. Man zerrte, mähte und drosch. Hüben und drüben verteilte der Spielleiter gelbe Karten. Doch je mehr der Uhrzeiger vorrückte, desto kaltblütiger wurde Olimpia. Das erkannte auch Sophokles, der die Verwarnungen seiner Leute als persönliche Beleidigung empfand. Eigentlich hätte er erwarten müssen, die Spieler würden wegen der
zusammenschnurrenden Zeit nervös. Aber sie agierten plötzlich so abgebrüht, als hätte eine Zaubermixtur sie gestählt. Lempira und die Real-Fans fuchtelten vor Aufregung in der Luft herum und bauten dadurch die weißen Löwen noch mehr auf. Die Heimmannschaft und ihr Publikum hatten sichtlich Angst vor dem K. o. durch ein zweites Olimpia-Tor. Noch fünfzehn Minuten. Wieder hatte Olimpia einen Sturmlauf von Real abgewehrt, als Pablo – erneut von Naxquitl mit einem Steilpass angespielt – Ball am Fuß davonlief und von einem Verteidiger mit einer Grätsche gefällt wurde. Den fälligen Freistoß aus 25 Metern übernahm Enrique Pavón. In Tegucigalpa trug er neuerdings den Übernamen Chilavert. Seit der Kapitän der Nationalmannschaft von Paraguay ihm bei einem Turnier beigebracht hatte, dass der Torwart aktiv am Feldspiel teilnehmen kann und soll, eiferte Enrique seinem Vorbild nach. Sorgfältig legte er den Ball zurecht und knallte ihn mit Drall über die Leibermauer hinweg präzis ins linke Lattenkreuz. »Chilavert, Chilavert!«, schrien die Fanatiker aus Tegucigalpa. Jauchzend entledigte sich Pablo des Trikots und winkte Livia mit entblößtem Oberkörper. Der Schiedsrichter konnte nicht anders, als auch ihm die gelbe Karte zu zeigen – wegen übertriebenen Torjubels lautete das Verdikt. »Rot, rojo, rot!«, verlangten die Fans von Real, was Sophokles in Rage brachte. Er rastete aus, übersprang die Balustrade mit einer Flanke, rannte mit erhobenen Armen auf den Rasen und reklamierte. Der Referee kannte keine Gnade. Zusammen mit Linienrichter und Polizei verwies er den sich sträubenden Trainer in die Kabinen. Real España setzte zu einer Schlussoffensive an. Lempiras Fanbande fand zur gewohnten Form zurück und feuerte die Gelbschwarzen frenetisch an. Aber Chilavert ließ sich nicht bezwingen. Bei Ecken holte er die hohen Bälle elegant herunter oder faustete sie aus der Gefahrenzone. Scharfschüsse
fing er mit Panthersprüngen. Auch Pablo half hinten aus und verteidigte wie ein Routinier. Abwechselnd beförderten er, Finí oder Naxquitl den Ball in die Kulissen. »Deckt die Angreifer, verdammt nochmal, und die vorprellenden Verteidiger! Macht hinten die Räume eng!«, schrie der Hilfstrainer, der anstelle von Sophokles an der Seitenlinie mitfieberte. Endlich erlöste sie der Schlusspfiff. Es war geschafft. Begeistert sangen die Olimpia-Fans die Nationalhymne. »Wir sind Meister!«, brüllten sie, wie es sich für eine Löwenfamilie mit frisch geschlagener Beute gebührte, während die Gelbschwarzen auf dem Rasen lagen und sich nicht vom Fleck rührten. Die Weißen schwelgten im Glück des siegreichen Kollektivs und absolvierten eine Ehrenrunde. Sophokles tauchte aus den Katakomben auf, wurde mit Ovationen bedacht und auf den Schultern rund um den Platz getragen. Wurfgeschosse flogen in die Arena. Vor der Fankurve von Real España entfuhr Pablo ein Schrei. Etwas Hartes hatte ihn an der Stirn getroffen. Eine Münze, ein Stein oder eine Blechbüchse? Der Riss in der Kopfschwarte blutete heftig. Rot und warm lief es Luna übers Gesicht. Der Klubarzt lief mit dem Köfferchen herbei und drückte einen Tupfer auf die Wunde. Sophokles stützte Pablo unter den Achseln und sagte durch die Zähne: »Lempira«. Ein Verdacht, der wahrscheinlich falsch war. Jedenfalls war es unmöglich, den oder die Übeltäter auszumachen. Auch vor dem Stadion hatte die Polizei alle Mühe, die Streithähne der feindlichen Lager voneinander zu trennen. Sie setzte Wasserwerfer ein. Während die Spieler von Olimpia auf dem Podest einer nach dem andern den Meisterpokal hochstemmten und schluckweise Schaumwein tranken, desinfizierte der Arzt in der Kabine Pablos Wunde. Er betäubte sie an der Stirn lokal, versorgte sie mit fünf Stichen, gab Tetanusserum und ein schmerzstillendes Medikament. Um den Kopf wickelte er so viele Binden, dass
Uneingeweihte einen Schädelbruch vermuteten. Darauf wurde Luna auf die Hintersitze von Sophokles Limousine gebettet und nach Tegucigalpa in die Klinik gefahren. Als Ada am Bett ihres Sohns eintraf, der munter um sich blickte und nicht verstand, was mit ihm vorging, lag bereits ein Röntgenbild vor. Eine Schädelfraktur war auszuschließen. »Zum Glück eine Bagatelle«, beruhigten sie die Ärzte. Ada durfte Pablo zu sich nach Hause nehmen. In jener Nacht ging es hoch her. Obwohl die Busse von Mannschaft und Betreuern erst um zwei Uhr nachts in Tegucigalpa ankamen, erwartete sie eine lärmende Menge. Der Triumph musste gefeiert werden. Los Merengues verfielen dem Titelrausch. Alle, die sich im Klublokal zur Krippe drängten, durften aus dem versilberten Pokal trinken. Auch der Stadtpräsident nahm drei Schlucke und ließ sich nicht lumpen, Mannschaft und Prominente gegen Morgen noch in seine Villa einzuladen. In absentia wurde Pablo zum Held des Tages ernannt. Der Schnaps floss in Strömen, zwei Verteidiger fochten mit Stuhlbeinen, Enrique und Finí rutschten um die Wette auf einem wertvollen Perserteppich. Mitglieder des Bonilla-Balletts, darunter Isabel, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, tanzten zu folkloristischer Musik. Sie drehten Pirouetten auf einem Salontisch, wurden von den Spielern in die Luft geschleudert und wieder aufgefangen. Als Isabel auf Naxquitls Schultern landete, blinzelte und seinen Hals umklammerte, funkte es bei ihm. Schon früher hatte er sie kennen gelernt – wo war das nur gewesen? –, nett und adrett gefunden. Wie attraktiv die Balletttänzerin war, fiel ihm aber erst in dieser denkwürdigen Nacht auf. Naxquitl hatte ohnehin ein Problem. Sophokles lag ihm in den Ohren, ihm täte eine Frau gut. Mit seinen Dreiundzwanzig sei eine Liaison überfällig. In Fußballerkreisen war man der Ansicht, dass Profispieler früh zu heiraten hatten. In festen
Händen waren sie eher bereit, auf flüchtige Abenteuer zu verzichten und ein geregeltes Leben zu führen. Das förderte die Leistungskonstanz enorm und damit die Karriere. Die elektrisierende Siegesfeier hatte zur Folge, dass Naxquitl diesen Rat erstmals näher in Betracht zog. Elsa, die das Spiel am Fernsehschirm mitverfolgt hatte, studierte in der Sonntagsfrüh touristische Informationen und trank einen stark gezuckerten Kaffee. Sie war gerade aus Roatán zurück. Nach dem Lehrabschluss hatte sie den Arbeitsplatz gewechselt und war nun bei einem anderen Reisebüro für die Karibikküste zuständig. Das Korallenriff der Bay-Inseln entpuppte sich mehr und mehr als Magnet für wohlhabende Gäste aus Nordamerika. Um die Hotelinfrastruktur vor Ort kennen zu lernen, hatte sie der neue Chef für eine Woche in bezahlte Ferien geschickt. Sie hatte die Gelegenheit benutzt und auf der Insel einen Tauchkurs genommen. Traumhaft war es gewesen, über Korallengärten mit blaugestreiften, kanariengelben und granatroten Fischschwärmen zu Schnorcheln, über Seesternen, Seepferdchen und Anemonen. Nun wusste sie aus eigener Erfahrung, wie sie Ferien in der Karibik anpreisen konnte. Dass Elsa keinen festen Freund hatte, war vorläufig mehr Mutter Adas als der Tochter Sorge. Seit Mitte des Vormittags hatten Ada und Elsa keine ruhige Minute mehr, Großmutter Sara zog sich kopfschüttelnd zurück. Entweder läutete das Telefon, die Türklingel oder beides zusammen. Journalisten priesen Pablos Begabung, die ihnen angeblich schon im Juniorenalter aufgefallen war, erkundigten sich nach seinem Befinden und wollten ihn gleich interviewen. Frauen fragten besorgt, ob es ihm besser gehe, Fans gratulierten, Politiker luden ihn in feudale Lokale ein, um seine Berühmtheit für ihre Propaganda zu nutzen. Doch Pablo machte in der Kammer einen tiefen Gesundheitsschlaf und wurde von Ada
abgeschirmt. Nur Ofélia bat sie, später nochmals anzurufen oder einfach vorbeizukommen. Pablo hätte es ihr nicht verziehen, wenn sie die Freundin abgewiesen hätte. Ratlos war sie nur, als sich eine gewisse Livia Yacamán meldete und darauf bestand, noch heute mit Luna ein Rendezvous zu vereinbaren. »Ein neuer Schwarm?«, rätselte Ada, »Pablo hat doch nicht etwa mit Ofélia gebrochen?« Zu guter Letzt meldete sich ein Herr mit sonorem Bass und wünschte, Herrn Moya zu sprechen. Er habe ein Angebot, das ihn aus den Socken reißen werde. Worum es sich denn handle, wollte die Mutter wissen. »Um das Angebot, als Star in einem europäischen Superteam zu spielen und eine Menge Geld zu verdienen. Seit gestern ist sein Marktwert enorm gestiegen.« Ada notierte die Nummer und versprach, er werde zurückrufen, sobald er sich erholt habe. Als Pablo endlich mit quarkverklebten Wimpern und einem Turban aus Tüllbinden erschien, aber nur noch unter leichtem Kopfbrummen litt, rief eine Fernsehmoderatorin an. Er vertröstete die Dame, ohne sie zu brüskieren. Auch die Nachfrage des Nationaltrainers überraschte ihn kaum. Bisher hatte man ihn nur zu einem unwichtigen Länderspiel gegen Panama aufgeboten. Jetzt aber galt er als Matchwinner im wichtigsten Meisterschaftsspiel. Das erste Tor hatte er selbst erzielt, dazu den Freistoß provoziert, der zu Enriques umjubeltem Siegestor führte. Adas Bericht, ein Spielervermittler habe am Telefon gerühmt, sein Marktwert bei europäischen Klubs sei enorm gestiegen, wagte Pablo zu bezweifeln: »Marktwert? Kann denn jemand einen Marktwert haben?« Trotzdem rief er zurück. Eine andere Reaktion hätte Juan Ramos, dem er so viel verdankte, wohl kaum verstanden. Deshalb vereinbarte er für den übernächsten Tag ein Treffen im Hotel Honduras Maya, für den Fall, dass Juan mit dabei sein konnte.
Da kam Ruben Fuentes. Er hatte als Zuschauer in San Pedro Sula mitgezittert und war erleichtert, dass Pablos Verwundung nicht schlimm war. »Super, Pablo, wie du gespielt hast!«, rief er und setzte sich an den Küchentisch. »Was für ein perfider Schachzug von Sophokles, dich zuerst auf die Bank zu verknurren! Deshalb habt ihr gewonnen!« »Wir Fans haben gewonnen, wir Fans von Olimpia, nicht ihr Spieler allein«, korrigierte ihn Elsa, »Ada, Ruben und ich sind mit euch Landesmeister geworden.« Nach einem weiteren Anruf sagte Pablo zu Ruben: »Späher sind hinter mir her.« »Späher? Du willst nicht etwa nach Europa?« »Hm, eigentlich nicht. Juan meint zwar, ich wäre dumm, gute Offerten in den Wind zu schlagen.« Bei diesen Worten guckte Ofélia durch einen Spalt der Küchentür. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Offensichtlich war sie erfreut, Pablo wohlauf zu finden. »Offerte? Europa? Hab ich das richtig verstanden?« Sie trat ein, strich Pablo sanft über den Stirnverband, küsste ihn und Ruben auf die Wange. Beide empfingen sie mit einem Abrazo, ohne auf ihre Frage einzugehen. Sie drückte Pablo ein Paket in die Hände. Pablo sagte: »Du siehst noch viel hübscher aus als sonst.« Ofélia, die wegen einer Schulverpflichtung nicht in San Pedro gewesen war, trug ein dünenfarbenes Hirtenhemd und Pluderhosen, was zu ihrer frischen Natürlichkeit passte. Unter Gelächter und Gekreisch zog Pablo ein Paar topmodischer Boxershorts aus dem blauen Paket, das in Seidenpapier gehüllt und mit Silberband verschnürt war. Ofélia errötete bis hinter die Ohren. Auf die linke Hinterbacke der Unterhose war der Löwe von Olimpia gestickt, auf die rechte ein rotes Herz mit dem Namen Ofélia. War sie der Meinung, er müsse die Shorts
zu wichtigen Spielen anziehen? Damit er gegen Tritte oder Wurfgeschosse gefeit war und Glück beim Torschuss hatte? Ohne zu klingeln platzte in diesem Moment Livia Yacamán ins Haus und rief: »Da ist er ja, mein Luna!« Hinter ihr kam Isabel herein, blass und irgendwie mitgenommen, und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Livia steckte in einer violetten Jacke und in hautengen weißen Jeans, hatte Ohrringe wie Pflugräder an und eine Tasche aus Krokodilleder unter dem Arm. Die Moyas, Ofélia und Ruben verstanden die Welt nicht mehr. Alle erinnerten sich, die Frau schon gesehen zu haben. Es musste Olimpias Madrina sein, die Maskotte des Klubs. Die, die im Fernsehen auftrat und sich bei den Spielen ins Rampenlicht setzte. Hatte sie es auf Pablo abgesehen? Offenbar, denn sie fiel ihm um den Hals. Ihr Parfüm roch nach Moschus und verbreitete sich im Nu im ganzen Raum. Ruben fasste sich zuerst und hielt Livia provokativ die Shorts vors Gesicht. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. »Wie rührend, sind die von dir, Schätzchen?«, sagte Livia und lächelte Ofélia mitleidig an. »Weißt du, ich habe etwas Wichtiges mit deinem Freund zu besprechen.« So einfach ließ sich Ofélia nicht fortschicken. Ruben stand ihr bei: »Lass Ofé in Ruhe! Von dir lassen wir uns nicht herumkommandieren. Seit der Schulzeit ist Ofélia eine Freundin von Pablo und mir. Bilde dir ja nicht ein, du könnest dir alles erlauben, nur weil du das weibliche Aushängeschild unseres Klubs bist!« Livia, in deren Gesicht etwas Dämonisches aufschien, zog Pablo zur Seite und flötete ihm ins Ohr: »Luna, du weißt doch, dass dir Scouts nachstellen? Den Einflussreichsten habe ich eingeseift. Er wird dir eine Stelle mit Traumgage vermitteln, einen Luxus anbieten, den du dir nicht vorstellen kannst. Bald fliegen wir zusammen nach Europa, nur du und ich allein!«
11
In Begleitung von Juan Ramos stieg Pablo vor dem Hotel Honduras Maya aus dem Taxi. Vom Concierge erfuhren sie, dass zwei Herren in der Bar auf sie warteten. »Grendelmeier«, stellte sich der eine vor. Bei der Aussprache des Namens wurde sofort klar, dass er kein Spanisch konnte. Der andere hieß Ponce und erklärte, er sei Fußballexperte, Fan von Olimpia und Dolmetscher der Agentur aus Deutschland. Am Tisch, der eine Rundsicht über die Stadt, den Cerro Buenos Aires und das Nationalstadion bot, eröffnete Ponce, dass ihr renommierter Scoutdienst Interesse habe, Pablo Moya unter die Fittiche zu nehmen. Juan entzündete eine Zigarette, Pablo guckte zum Fenster hinaus. »Unser lukratives Angebot auszuschlagen, wäre bescheuert«, gurrte Ponce, »exklusiv und auf international noch wenig bekannte Spieler zugeschnitten. Herr Moya hat uns durch seine jüngsten Leistungen überzeugt.« Juan inhalierte, blies ein Rauchwölklein zur Seite und fragte: »Darf ich zuerst wissen, wer uns die Ehre gibt?« Nach einem Wortwechsel zwischen Ponce und Grendelmeier, der eine käsige Gesichtsfarbe und einen Schmiss auf der Wange hatte, legte der Deutsche seine Visitenkarte auf den Tisch: »Karsten Drechsler, Stuttgart, Agentur für Spielervermittlung, Martin Grendelmeier und Kurt Quast, Prokuristen«. Ponce präzisierte, ihre Agentur sei Spitze. Sie betreue Spieler wie Brehme, Gullit, van Basten und Sammer. »Wer ist denn das nun wieder?«, dachten Juan und Pablo. Sie hegten den Verdacht, bei den genannten Spielern handle es sich um Provinzgrößen.
Als das Ponce realisierte, trumpfte er auf, für sie sei der Fußball in Europa offenbar ein Buch mit sieben Siegeln, und fragte, welche Cracks ihnen denn geläufig seien. »Maradona, Romano und Bebeto«, entwischte es Pablo. »Argentinier und Brasilianer. Wir reden von Europa, der Wiege des Fußballs, wo alle Spieler von Weltformat tätig sind. Bei uns rollt das große Geld. Auch für zahlreiche Lateinamerikaner. Maradona spielt ja bei Neapel. Darf ich fragen, welche Länder Sie besonders interessieren, Herr Moya?« »Italien und Spanien.« Juan nickte zustimmend und paffte eine zweite Zigarette. Die Antwort Grendelmeiers übersetzte Ponce: »Ungünstig für einen Star, der noch keinen internationalen Namen hat. Nur falls sich Honduras für die WM in den USA 1994 qualifiziert, würden sich Ihre Chancen in jenen Ländern erhöhen. Für dieses Jahr, für die WM in Italien, ist der Zug längst abgefahren. Sie müssen auch berücksichtigen, dass bei den exklusiven Klubs in Europa sogar Superspieler auf der Ersatzbank schmoren oder in die Reserve versetzt werden. Manchmal aus undurchsichtigen Motiven. Sie sollten Deutschland nicht vergessen, den Weltmeister von Bern und München, Mitfavorit für den Titel in den Vereinigten Staaten. Sind Ihnen denn Beckenbauer, Matthäus und Klinsmann kein Begriff?« »Beckenbauer, München, Bayern München?«, radebrechte Pablo. »Aha!«, rief Ponce erleichtert, »sehen Sie, wir verstehen uns. Wollen Sie, dass wir Sie unter Vertrag nehmen?« »Was würde das bedeuten?«, fragte Juan. »Nicht mehr und nicht weniger, als dass wir Herrn Moyas Daten aufnehmen und den richtigen Klub für ihn suchen. Ob wir Erfolg haben, wird sich weisen.«
»Nur ein Spitzenklub käme in Frage«, plusterte Juan sich auf, »Bayern München wäre durchaus eine Option.« »Wir werden Ihre Interessen professionell vertreten und ein Maximum herausholen.« Da die Herren Grendelmeier und Ramos entdeckten, dass sie sich auf Englisch unterhalten konnten, bestellten sie Bier und betrieben Smalltalk, während Ponce und Moya die Eckdaten fixierten. Pablo musste herausrücken, wann er geboren war. Er sagte: »Am 27. Februar 1970, ein halbes Jahr nach dem Fußballkrieg.« »Da sind Sie jetzt zwanzig«, konstatierte Ponce befriedigt, »das Idealalter für den Transfer eines Talents.« »Talent?«, fragte Juan, der mit einem Ohr zugehört hatte. »Rising Star müssen sie sagen.« Pablo hatte Größe und Gewicht anzugeben. 1,78 Meter und 69 Kilogramm. Auch welcher Fuß der stärkere sei. Unter Hochziehen der Brauen notierte Ponce die Linksfüßigkeit. Ein wichtiges Kriterium sei auch die Anzahl Tore, die er während der vergangenen Saison für Olimpia erzielt habe. Es waren 21. Die Antwort auf die Schlussfrage des Interviewers, wie er seinen Transferwert selbst einschätze, blieb er schuldig. »Transferwert?«, stotterte er. Selbst Juan Ramos geriet in Verlegenheit. Er bemerkte, die in Deutschland üblichen Konditionen für Goalgetter wären eine Diskussionsbasis. Die Gage bei Olimpia sei überhaupt nicht maßgebend. Auf dem Heimweg belehrte er Pablo: »Den Transferwert kann dir nur Klubpräsident Vilas nennen. Er kennt dein Können und die Lohnsummen in Europa.« »Wird Vilas nicht böse, wenn er hört, dass ich den Klub verlassen will? In den nächsten Jahren zählt er fest auf mich, hat er neulich gesagt.«
»Um ein Gespräch mit ihm kommst du so oder so nicht herum, wenn du einen Transfer ernsthaft in Erwägung ziehst.« Auf Pablos Bedenken hin versprach ihm Juan, dass er sich selbst an Präsident Vilas wenden werde. In dieser heiklen Angelegenheit war das vielleicht vorteilhaft.
Nach Pablos Rückkehr stellte ihm Ada ein Glas Limonade hin. »Das magst du doch?«, fragte sie, als Pablo schwieg und schlürfte. »Gehst du wirklich nach Europa?« »Es könnte klappen«, kaschierte er die eigenen Vorbehalte, »noch ist aber nichts entschieden.« »Komm mit uns nach Copán in die Sommerfrische! Das würde dir gut tun. Juan wird dabei sein. Er will zum ersten Mal in der Hacienda San Lucas Ferien machen.« Pablo lehnte ab, obwohl ihn auch die gebrechlich gewordene Großmutter Sara mit ihrer Fistelstimme dazu aufforderte. Wo er die trainingsfreie Zeit nach der offiziellen Meisterfeier verbringen wollte, um sich auszuruhen, sei es für die nächste Saison in Honduras oder für das mit Gold gepflasterte Europa, wusste er noch nicht. Vielleicht hatte Elsa ein Angebot für ihn und seine Freundin. Aber welche Freundin? Es würde nahe liegen, mit Ofélia zu fahren. Oder mit Livia? Ofélia war ihm vertraut und lieb, Livia zog ihn an, weil sie erfahrener war als er und einen Touch Glamour ausstrahlte. Wenn es keiner der beiden passte, dachte er an eine Reise mit Ruben. Wohl kaum mit Schwester Isabel, die auf Tanztournee ging. Ihre Truppe hatte kürzlich eine Einladung nach Santa Barbara in Kalifornien erhalten. Wichtig schien es ihm, für Kontakte mit den Scouts erreichbar zu bleiben. Grendelmeier und Ponce hatten ihn belehrt, ein Engagement in Europa würde voraussetzen, dass er ein Probetraining vor Ort bestritt und den Klub von seinen Fähigkeiten überzeugte.
Während der nächsten Nacht träumte Pablo. Er ritt auf einem un-gesattelten Araberhengst, der vorbei an der Hieroglyphentreppe von Copán zum Ballspielplatz trabte, sich unter den steinernen Papageienschnäbeln aufbäumte und ihn im Bogen abwarf. Mitten im Sturz erwachte er und griff sich benommen an die Stirn. Da öffnete sich mit leisem Girren die Zimmertür. Ada trat ein, denn er hatte unwillkürlich einen Schrei ausgestoßen. Die Mutter fuhr ihm durchs struppige Haar wie in Bubentagen, wenn er krank gewesen war, und murmelte »Pablito«. Er sinnierte über seine Situation. War er im Begriff, sich von Mutter, Großmutter und Schwestern zu lösen? Seinem Alter nach wäre es an der Zeit. Lange genug war er Knabe geblieben, eingebunden in Rückhalt und Kitt der Familie. Er fragte sich, ob er nun der Fürsorge entwachsen und für ein Leben in eigener Regie reif war. Zwar drängte es ihn, seine Gaben zu entfalten, doch traute er sich nur halbwegs zu, die Zukunft allein zu meistern, ohne dabei zu entgleisen. Schon gar auf einem anderen Kontinent. Es tat wohl, dass Ada ihn koste. Bisher hatte er die Hilfe von Juan Ramos als selbstverständlich empfunden. Durfte er sich denn auch weiter auf ihn wie auf einen Vater verlassen? Juan war Adas Geliebter, tüchtig und erfahren. Auch uneigennützig, was die Moyas anbetraf. Wobei er den eigenen Familienklan in der Casa grande an der Calle los Dolores und das Völkchen am Picacho-Hang streng voneinander trennte. Der Name Casa chica blieb der Wohnung nahe der Avenida Morazán vorbehalten, wo er Ada allein zu treffen pflegte. Er balancierte virtuos auf dem Seil zwischen diesen drei Welten. Ähnliches galt für seinen Beruf. Wie er das Amt eines Handelsbeauftragten der Regierung, eines Vorstandsmitglieds von Olimpia und die Aufgaben eines Bananen-Exporteurs
unter einen Hut brachte, war erstaunlich. Gerade war er daran, zusätzlich in den Garnelenhandel der Golfküste einzusteigen.
Am nächsten Tag berichtete Juan seinem Schützling über das Gespräch mit dem Olimpia-Präsidenten. Vilas war aufgebracht. Aus verständlichen Gründen. Seit Jahren förderte der Klub Pablo systematisch. Dank Olimpias Fürsorge hatte sich der Gassenjunge aus Comayagúela zu einem Spieler der Topklasse entwickelt. Kaum wuchs er zu einem Leistungsträger der Mannschaft heran, dachte er ans große Geld und wollte abhauen, ohne Rücksicht auf den Stammklub zu nehmen. Der Präsident verlangte ein Gespräch mit Pablo persönlich. Juan blieb keine andere Wahl, als mit der Sekretärin einen Termin zu vereinbaren, wobei Pablo ein Privileg genoss, denn am nächsten Tag flog Vilas für drei Wochen nach Madrid und Barcelona. Als Pablo pünktlich das Büro des Präsidenten betrat, streifte Vilas die Lackschuhe ab, streckte die Füße auf den Schreibtisch und las ihm die Leviten. Die Socken rochen nach Schweiß. »Noch grün hinter den Ohren stinkst du schon vor Renommier- und Geldsucht. Sonst wäre dir ein Transfer nie in den Sinn gekommen. In Anerkennung deiner Leistungen ist Olimpia durchaus zu einer angemessenen Gehaltserhöhung bereit. Aber die Freigabe für einen europäischen Klub kommt überhaupt nicht in Frage. Es sei denn, dass die Ablösesumme astronomisch hoch liegt und für uns echt lukrativ ist.« Was er genau darunter verstand, behielt er für sich. Pablo wagte nicht zu fragen und machte eine Miene, als habe er ungesüßtes Rhabarbermus auf den Zähnen. Während er das Büro verließ, feixte Vilas Sekretärin über das ganze Gesicht. Pablos Frage, ob er mit Ofélia oder mit Livia in den Urlaub
fahren wollte, erübrigte sich. Die kapriziöse Klubmaskotte war abgereist. Angeblich kreuzte sie auf einer Segeljacht vor Guadeloupe. Wen sie sich dafür wieder angelacht hatte, war Gegenstand von Spekulationen.
12
In der Drittstockwohnung von Comayagúela geriet Barbara Garcia in Panik. Das Bett ihrer Tochter Ofélia war zerwühlt. Auf dem Kopfkissen ringelten sich rot gefärbte Haare. Daneben lag ein zerknitterter Zettel mit dem Text: »Sucht mich nicht. Ich schwänze die letzte Schulwoche vor dem Urlaub und fliege mit Pablo nach LaCeiba. Wenn ich zurück bin, will ich nicht mehr bei euch wohnen. Liebe Grüße von Ofélia.« »Was ist bloß in die gefahren?! So frech war sie bisher nie. Muss früh aufgestanden sein, die Göre«, schimpfte Barbara im Selbstgespräch, »etwas gar jung, um mit dem Freund abzuhauen. Auch wenn es Pablo ist. Aber sie hat ihm ja mit drei Jahren schon schöne Augen gemacht.« »Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie sich. Wenigstens erreichte sie ihren Mann in Valle de Angeles, wo er weiterhin sein Kunsthandwerk betrieb und Möbel fertigte. Arturo nahm es gelassen: »Warum regst du dich so auf? Damit mussten wir rechnen. Ofélia und Pablo sind seit Kindheit befreundet. Und wir mögen ihn. Warum ihn nicht als Schwiegersohn willkommen heißen? Übrigens, was kannst du dagegen tun? Rein gar nichts! Oder willst du etwa die Polizei alarmieren?« »Nein, natürlich nicht. Aber das blutjunge Ding hat keine Ahnung, was es tut. Am Ende wird sie uns noch vorzeitig zu Großeltern machen.« »Na und? Ich habe dich damals doch auch entführt – auf deinen heißen Wunsch hin. Du warst nicht älter als Ofélia.« Die Beschwichtigungen ihres Gatten leuchteten Barbara wenig ein. Sie war immerhin zwanzig gewesen, in der geistigen und
körperlichen Entwicklung viel weiter als Ofélia mit ihren achtzehn Jahren. Ihre Tochter besuchte die vorletzte Klasse der Handelsschule. Die konnte sie doch nicht einfach abbrechen, ohne mutwillig ihre Zukunft zu gefährden. Oder wollte sie weiter fernen, während sie mit Pablo zusammenlebte? Wenigstens gab es keine finanziellen Probleme. Der Jungstar verdiente bei Olimpia einige Happen mehr als Zwanzigjährige sonst. »Aber trotzdem, aber trotzdem«, quälte sich Barbara, »meint es Pablo auch wirklich ernst oder verführt er meine Tochter nur, um sie gleich wieder fallen zu lassen?« Eigentlich hätte sie als Mutter längst merken müssen, was vorging, schalt sie sich. Ofé war mit Kleidern nach Hause gekommen, für die ihr Taschengeld nie ausgereicht hätte. Ein Trampersack, ein Strohhut mit roten Bändern, ein Büstenhalter mit roten Herzchen, Klamotten mit Zebrastreifen, Insignien von Olimpia und ein Set von Lippenstiften hatten herumgelegen. Warum war ihr auch entgangen, dass Ofélia das Zeugs angeschafft hatte, um mit Pablo zu verduften?
Nur Elsa war in Ofélias und Pablos Pläne eingeweiht. Im Reisebüro hatte sie für das Paar zwei Wochen in Cuero y Salado gebucht, einem Naturschutzgebiet an der Karibikküste unweit von LaCeiba. Naturgemäß nahm Ada es leichter als Barbara. Sie hatte mit einem Abenteuer ihres Sohns gerechnet. Als sie von der Reise der beiden hörte, schmunzelte sie, setzte sich an den Küchentisch und aß einen Schnitz Melone. Ofélia und Pablo kannten und liebten sich schon lange. Unklar für sie war nur, wie Ofélia mit Ruben stand. In den letzten Jahren hatte es den Anschein gemacht, als seien die zwei am engsten liiert. Wegen Pablos chronischem Zeitmangel? Wie dem auch war, seine Wahl verdiente Adas volle Unterstützung. Eine wie Livia
Yacamán hätte ihn zu Unfug verführen können, diese Glücksfee von Olimpia, der sie aufs Tiefste misstraute. Ofélia hingegen schätzte sie. Die Tochter von Barbara und Arturo gab eine zuverlässige Partnerin ab. Sicher wollte sie Pablo ebenfalls betören, aber auch günstig beeinflussen. Ada würde es begrüßen, wenn sie bald die Ringe tauschten. Durch eine frühe Ehe erhielte Pablo den festen Kiel, den er für seine Profikarriere brauchte. Darin bestärkte sie Juan Ramos, der wie Trainer Sophokles fand, dass geregelte Verhältnisse ein solides Fundament für einen Topspieler bilden. Von Flittchen zu Flittchen zu gaukeln, war ein Stolperstein, der schon manchem zum Verhängnis wurde. Selbst für Verheiratete war der Spitzensport noch Vabanquespiel genug.
Von all diesen elterlichen Gedanken ahnten Pablo und Ofélia wenig. Die Ferien des jungen Paars an der Karibikküste sprühten vor Romantik. Das Glück war greifbar. Tagelang schaukelten sie sich in Hängematten vor dem Bungalow mit dürrem Blätterdach, erfrischten sich mit Eistee oder Salva Vida, fächelten und kühlten sich gegenseitig mit Palmwedeln, schwammen im warmen Meer und ließen sich von subtropischen Gewittern mit Donner, Blitz und Regengüssen überraschen. Oder sie aalten sich im ockerfarbenen Sand unter Palmen oder Sonnenschirmen, ohne auf das Verrinnen der Stunden zu achten. Das Meer rauschte und gleißte so unwirklich hell, dass sich Pablo auf einer Trauminsel glaubte. Umso erfreuter war er, wenn Ofélia ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. Schmollte sie, und das tat sie gern und oft, vertieften sich die Schalkgrübchen in den Wangen. Pablo liebte die bronzefarbene Haut seiner Verlobten und ihr rot gefärbtes Haar, das ihr in Wellen auf die Schultern fiel. Wie eine Freundin Ofé geraten hatte, eigentlich entgegen ihrer
Natur, kaprizierte sie sich, blaue Kontaktlinsen einzusetzen. »Karibikfarbe«, spaßte sie. Nachts entfernte sie die Linsen und bezauberte Pablo mit ihren natürlich dunkeln Kirschenaugen. Im Morgen- und Abendgrauen landete jeweils ein Pfau auf dem Dach der Hütte und krächzte aus vollem Hals, was die Liebenden weckte und zugleich belustigte. Während der Vogel lamentierte und die Schwingen zum Flattern brachte, küsste Ofélia Pablo die Lider wieder zu und kuschelte sich an ihn. Oft paddelten sie auf der nahen Brackwasserlagune mit halb Süßund halb Salzwasser, wo sie Manatis beobachteten, die Rundschwanz-Seekühe, die sich von Wasserlilien ernähren. Die archaischen Monster schnaubten, als lebten sie im Zeitalter der Dinosaurier. In der Bar neben den Bungalows tuckerte ein Stromgenerator, der Laternen, Fernseher und Kühlschrank versorgte. So mussten sie nicht darauf verzichten, die Weltmeisterschaften im Fußball life mitzuverfolgen. Die Spiele wurden zeitverschoben aus Italien übertragen. Schweißtropfen von der Stirne wischend und Coca Cola mit Eis schlürfend starrten sie in der Mittagshitze mit anderen Gästen auf den Schirm. Die Vorrunde, Achtel- und Viertelfinale waren längst gespielt. Aus Mittelamerika hatte sich Costa Rica für die Endrunde qualifiziert. Pablo fand es blamabel, dass Honduras nicht dabei war und schon in der Vorqualifikation gegen die Dominikanische Republik ausgeschieden war. Wegen der Folgen des Beinbruchs hatte er damals die Ersatzbank gedrückt und fassungslos mitangesehen, wie ihr Torwart, nicht etwa Enrique, einen Ball mit Drall unter sich ins Netz rollen ließ. Costa Rica hatte in der Vorrunde der WM gegen Brasilien, Schottland und Schweden gespielt. Überraschend verlor es gegen Brasilien nur 0:1, gewann mit demselben Resultat gegen Schottland und mit 2:1 gegen Schweden. So schieden die weit höher eingestuften Europäer aus. Costa Rica kam als Vertreter
von Mittelamerika ins Achtelfinale, in dem es gegen die Tschechoslowakei 4:1 verlor. Während ihres Aufenthalts in Cuero y Salado wickelte sich in Italien die Endphase der WM ab. Beide Halbfinalspiele wurden durch die Lotterie des Elfmeterschießens entschieden. Nicht Brasilien oder Italien kamen ins Finale, sondern Deutschland, das sich im Endspiel gegen Argentinien durchsetzte und zum dritten Mal Weltmeister wurde. Wiederum dank eines Elfmeters. Pablo, der als Lateinamerikaner Argentinien favorisierte, war der Ansicht, der deutsche Stürmer sei im Strafraum gar nicht gefoult worden, sondern ohne Schuld des Verteidigers gestolpert. Aber der Schiedsrichter aus Mexiko entschied auf Elfmeter. Und das fünf Minuten vor Schluss. Andreas Brehme, ein Bulle mit Nerven, versenkte den Strafstoß mit einer flachen Bombe. Für Pablo nahm der Stellenwert des deutschen Fußballs mächtig zu. Die Mannen waren voller Disziplin und Energie, kaltschnäuzig, und pflegten ein Zusammenspiel aus einem Guss. Es musste doch nicht so übel sein, in Deutschland zu spielen.
Parallel zum Urlaub von Ofélia und Pablo logierten Isabel und Naxquitl in Anthonys Key Lodge, einem exklusiven Resort auf der Bay-Insel Roatán. Anstatt mit der Tanztruppe auf Tournee zu gehen, hatte Isabel es vorgezogen, mit ihrem neuen Freund ans Meer zu fahren. Nur Ada dachte, sie sei in Kalifornien. Ineinander verknallt, wie sie waren, kamen ihnen die Tage so bunt vor, als rotierten sie in einem Kaleidoskop. Sie gerieten in einen Strudel der Sinnesfreude. Während der ersten Inseltage verließen sie kaum ihren Bungalow. Essen und Getränke wurden ihnen ans Doppelbett gebracht. Hinter den geschlossenen Gardinen war das Licht auch über die
Mittagsstunden gedämpft. Der Propeller des Ventilators drehte sich über ihnen und erfrischte sie. Gegen Ende der Woche erst frönten sie dem Baden und Tauchen, die Abende zerrannen bei Softdrinks und Tanz. Naxquitl, der wendige Dribbelkünstler, kam sich bei Tango und Samba neben Isabel leicht hölzern vor. Immer aufs Neue bezirzte sie ihn mit Phantasiefiguren. Auch bei ihnen kam der Fußball zum Zug. Wie Salvatore Schillaci im Spiel um den dritten Platz den Ball aus der Drehung heraus in die tiefe Ecke böllerte, begeisterte sie, ebenso Diego Maradonas Zickzacklauf durch die Phalanx der Verteidiger, die er zu Slalomstangen degradierte. Dass Isabel und Naxquitl auch nach Rückkehr von der Karibikinsel zusammenlebten, erregte Aufsehen auf nationaler Ebene. Die schöne Tänzerin und Olimpias MittelfeldRegisseur bildeten ein Paar, auf das die Medien scharf waren. In Roatán hatte ein Paparazzo aus dem Hinterhalt eine Szene aufgenommen, wie sie mit Tauchmasken und -rüsseln aus dem Meer stiegen, sich gegenseitig mit Badetüchern trocken rieben und schließlich eng verschlungen in einer Hängematte pendelten. Der Streifen wurde im Programm des ersten nationalen Fernsehens ausgestrahlt. Während Elsa sich über die kitschige Aufmachung mokierte und keine Spur von Eifersucht empfand, fiel Ada aus allen Wolken. Die Liaison ihrer Tochter so frivol an die Öffentlichkeit zu zerren, hielt sie für eine flagrante Verletzung der Privatsphäre. Ruben interessierte mehr, wohin Ofélia und Pablo verschwunden waren. Bei einem Anruf erfuhr er von Barbara die Wahrheit, die zwiespältige Gefühle in ihm hervorrief. Er hatte Ofélia selbst Avancen gemacht, war aber wie schon früher abgewiesen worden. Mit einem Fußballstar zu konkurrieren war schwierig. Gegenwärtig bildete er sich bei Credomatic in den Ressorts Börse, Kredite und Private Banking fort. Seine
rasche Auffassungsgabe und sein Fleiß waren sprichwörtlich. Überstunden machte er kaum je geltend. Durch promptes Erledigen der Aufgaben, die er von den Vorgesetzten zugewiesen erhielt oder von sich aus anpackte, gewann er das Vertrauen der Geschäftsleitung. Bereits war vorgesehen, ihn zum Prokuristen zu befördern. Er war auf dem besten Weg, das Berufsziel eines Bankdirektors im Schnellzugtempo zu erreichen. Sein sozialer Aufstieg schien unaufhaltsam. Ablenkung von der Arbeit fand Ruben in regelmäßigen Matchbesuchen. Er war ein Fan, wie ihn die Vereine schätzten. Selten Versäumte er ein Spiel von Bedeutung. Einladungen oder Abmachungen, die nicht in den Matchkalender von Olimpia passten, lehnte er ab oder widerrief sie. Dadurch verärgerte er jede Freundin. Ein Match einem Geburtstagsfest vorzuziehen, weckte keine weiblichen Sympathien. Wie weit von Tegucigalpa entfernt die Spiele ausgetragen wurden, war Ruben egal. Er gehörte zum harten Kern der Supporter und hatte seinen Stammplatz im Fanbus. Kaum unterwegs vergaß er den Alltag und die Zahlenwelt. Die während der Woche angestaute Energie entlud er, indem er »olééé« brüllte, stampfte, sich in Dispute verstrickte, Feuerwerk abbrannte, »Oo-liim-pia« oder »Mee-reen-gees« skandierte, klatschte, bis die Hände schmerzten. Auf den Rängen der Fan-Kurve war es gestattet, ja Sitte, sich unkritisch und parteiisch zu benehmen. Beim geringsten Verdacht auf eine falsche Auslegung der Regeln schwärzte er den Schiedsrichter an, er begünstige den Gegner, und fluchte über Fehlentscheide, die oft nur in seinem Kopf existierten. In der Jackentasche steckte eine Dauerkarte, die ihm eine Art Zuversicht verlieh. Wann immer er wollte, durfte er mit dabei sein. T-Shirt und Schildmütze mit dem Olimpia-Löwen sowie einen Schal in den Klubfarben besaß er in dreifacher Ausführung. So kam er nie in Verlegenheit, wenn ein Set von Fan-Artikeln in der Wäscherei war. Seit Pablo in
der ersten Mannschaft spielte, wurde er häufig auf die Ehrentribüne eingeladen. Auch weil er den Verein finanziell beriet, ohne ein Honorar zu verlangen. Auf reservierten Plätzen und in der VIP-Lounge, wo bei besonderen Ereignissen der Schaumwein floss, Räucherlachs und gebratene Entenflügel offeriert wurden, knüpfte er Kontakte zur Klubdirektion und lernte Damen kennen. Nur waren die attraktiveren leider meist unter der Haube oder fanden den Fußball nur aus sozialen Gründen spannend. An einem trüben Morgen beriet Ruben einen Kunden, als die Sekretärin mitten in der Diskussion über einen Hypothekarvertrag meldete, eine Frau mit Namen Isabel wolle ihn dringend sprechen. »Ich rufe zurück«, sagte er, war aber nicht mehr in der Lage, die Einzelheiten des Vertrags zu formulieren. Er vertagte die Besprechung. Was wollte Isabel nur von ihm? Und dann auch noch »dringend«? Kaum hatte er die Verbindung hergestellt, teilte ihm die Freundin aufgekratzt mit, gerade habe sie eine Lebensentscheidung getroffen. Sie werde Naxquitl heiraten. »Da taucht ihr erst vor laufenden Kameras in der Karibik und kaum heimgekehrt soll es gleich ernst gelten«, meckerte Ruben. »Pass auf, es kommt noch besser«, fuhr Isabel fort, »auch Ofélia und Pablo meinen es ernst. Es gibt eine Doppelhochzeit.« Ruben schnappte nach Luft, umso mehr, als ihn Isabel fragte, ob er nicht doppelter Trauzeuge werden wolle. »Wann denn?« »In vierzehn Tagen.« Verdattert bat er um Bedenkzeit. Für ihn lag Sprengstoff in dem Vorschlag. Ausgerechnet er, der noch immer in Ofélia vernarrt war, sollte Trauzeuge sein? Zudem verriet Isabel: »Ein Umzug nach Europa liegt in der Luft. Naxquitl ist mit zwei Vereinen in Verhandlung.«
»Ihr seid doch zusammengezogen, du und Naxquitl?«, fragte Ruben, nachdem sie die in Frage kommenden Klubs nicht hatte nennen wollen. »Kannst du mir eure Adresse und Telefonnummer angeben?« Olimpia hatte ihnen eine Wohnung in der Colonia La Joya gemietet, weit genug von Comayagúela weg. Im selben Komplex wohnten Ofélia und Pablo. Wie Ofé ihrer Mutter Barbara angekündigt hatte, war sie nach dem Urlaub an der Karibikküste nicht mehr zu ihren Eltern zurückgekehrt. Noch am gleichen Tag bestätigte Ruben, die Rolle des Trauzeugen übernehme er gerne, für beide Paare. Seine Partnerinnen waren Elsa Moya und die Schwester von Naxquitl, die er nicht persönlich kannte. Sich der Aufgabe zu entziehen, hätte gegen ihre alte Freundschaft verstoßen. Es war nicht seine Sache, aus fadenscheinigen Gründen abzusagen. Eigentlich war es auch aus seiner Sicht erfreulich, dass die vier heiraten wollten. Die Doppelhochzeit wurde zum Ereignis der Woche. Schon lange vor Beginn der Trauung umzingelten Zaungäste in Massen die Kathedrale aus rosarotem Sandstein. Die Statue des Erzengels Michael, des Patrons der Tegucigalpas, blickte ungerührt von der Barockfassade auf das Gewühl hinab. Unter Ellbogeneinsatz bahnte sich ein Fernsehteam den Weg bis zum Portal der Kirche, wo dem Regisseur ein Taubenschiss auf die Glatze pladderte. Die Kosmetikerin im Team, die dem arroganten Patron das Missgeschick gönnte, witzelte und bequemte sich gnädig, den Kopf mit einem Wattebausch zu säubern. Im Innern wurden die nicht reservierten Plätze im Nu belegt. Von andächtiger Stille war keine Rede. Lärm, Geschwätz und Schwüle erfüllten das Kirchenschiff. Immer mehr Leute zwängten sich durchs Portal, lehnten sich an die Seitenwände, besetzten die Gänge und verkeilten sich im Vorraum wie im Autobus zur Stoßzeit. Nur der Mittelgang
wurde von Polizisten in Galauniform freigehalten. Reich und Arm waren vertreten, vereint in Schaulust und Neugier. Es roch nach einem Gemisch aus Weihrauch und Schweiß. Ein Begeisterungssturm brach im Sakralraum aus, als die verschiedenen Teams von Olimpia eintrafen, zuvorderst die Junioren, die mit ausgedienten Torpfosten vor dem Portal einen Tunnel bildeten, durch den die erste Mannschaft in corpore, die Reservisten und Senioren und am Schluss die Offiziellen schritten. Die Honoratioren der Stadt, Vereinspräsident Vilas und Trainer Sophokles nahmen mit ihren Gattinnen die Plätze in den ersten Reihen ein, die für die Ehrengäste bestimmt waren. Sie waren tadellos schwarz gekleidet und tuschelten respektvoll. Die Altarfront war aus purem Gold. Eine Silbermonstranz deutete auf die zentrale Marienfigur mit Jesuskind, die verklärt in einer Nische thronte und milde lächelte. Der Goldaltar und die Seitenkapellen waren über und über mit weißen und roten Lilien geschmückt.
Vor der Hochzeit hatte Ofélia ihre Eltern bestürmt, sie in eine Boutique an der Avenida Morazán zu begleiten. Sie wollte ihnen helfen, sich für die Feier einzukleiden. Erst als das Datum in nächste Nähe rückte, ließen sie sich überreden. Barbara und Arturo García fanden die Verkäuferinnen im Modegeschäft entsetzlich geschniegelt. Sie hatten alle Mühe, sich für einen Anzug zu entscheiden. Nachdem sie endlich ausstaffiert waren, erschraken sie vor dem Spiegel, weil sie sich kaum wiedererkannten. »Viel zu nobel für mich«, sagte Barbara, »und sieh dir mal Vater an!« Zu Ofélias Erleichterung stimmten sie nach langem Hin und Her dem Kauf zu. Als Barbara und Arturo García mit Ofélia im Brautkleid vor der Kirche aus der Limousine stiegen, glichen sie Aristokraten, die sich linkisch benahmen. Polizisten öffneten ihnen den Weg
und salutierten. Barbara ging voraus und Ofélia hängte sich bei Arturo ein. Im weißen Schleier und Hochzeitsgewand sah sie wunderschön aus. Gemessen stiegen Vater und Tochter über den ausgerollten roten Teppich die Stufen zum Portal empor. Mädchen mit Bougainvillea-Kränzen trugen die Seidenschleppe. An Isabels Seite wandelte Ada zur Kathedrale. Ein hochgeschlossenes gelbes Modellkleid betonte ihre schlanke Figur. Seit sie mit Juan liiert war, hatte sie sich an schlichte Eleganz gewöhnt. Isabel betrat das Schiff im schwebenden Schritt der Tänzerin. Ihre Schleppe war noch länger als die von Ofélia, ihre Haube kunstvoll gestickt. Sie duftete dezent nach einem exklusiven Parfüm von Paloma Picasso. Eine Prinzessin aus 1001 Nacht. Ein mächtiges Raunen ging durch das Kirchenschiff, als sich die Bräute dem Altar näherten, wo Naxquitl und Pablo im Frack, der Bischof in Talar und Mitra auf sie warteten. Die Trauzeugen flankierten sie in schwarzen Anzügen. Einzig Elsa fiel mit kremfarbener Jacke und gebauschtem Rock aus dem Rahmen. Neben ihr stand Ruben in Gedanken versunken. Ein Kirchendiener wies Ada, Barbara und Arturo einen Platz auf der vordersten Bank an. Sie schlugen das Kreuz und musterten die Traupaare. Orgelmusik von Händel erklang, was in Honduras als speziell vornehm galt. Der Bischof sprach ein Gebet, ließ Weihrauch versprengen und segnete die Paare, die vor ihm niederknieten. Während sie den Treueschwur leisteten und sich die Trauringe gegenseitig an die Finger steckten, entlud sich ein Blitzlichtgewitter der Fotografen. Unter Missachtung der kirchlichen Sitten schmiss ein vorwitziger Junior einen Fußball nach vorn. Im Bogen platschte er vor dem Altar auf den Boden. Der Vorfall löste ein Hurra aus, als hätten Naxquitl und Pablo gemeinsam ein Tor erzielt, als gälten in Stadion und Kathedrale ähnliche Gebräuche.
Nach Wiederaufnahme des Trainings für die neue Saison erhielt Pablo aus Stuttgart das Angebot, ein Probetraining bei Alemannia Aachen zu absolvieren. Doch eine weitere Standpauke von Präsident Vilas und die Aussicht, nur bei einer Mannschaft der zweiten Deutschen Liga zu spielen, ließen ihn zögern. Hinzu kam, dass das angebotene Gehalt nur doppelt so hoch war wie bei Olimpia. Juan kommentierte, die Lebenshaltung in Europa koste mindestens das Doppelte, sodass er auch finanziell kaum profitieren würde. Deutschlands Renommee als neuer Weltmeister konnte dieses Manko nicht wettmachen. Pablo sagte ab und blieb in Honduras. Den Grund für den unbefriedigenden Vorschlag sah Juan darin, dass die Europäer nicht einmal wussten, wo sich Honduras genau befand, keine Ahnung davon hatten, wie gut man in der Bananenrepublik Fußball spielte. Brasilianer oder Argentinier waren drüben gefragt, vielleicht noch Stars aus Kolumbien, Peru, Chile oder Uruguay. Was Pablo über den geplatzten Transfer hinwegtröstete, waren die relativ großzügigen Bedingungen bei Olimpia. Zwar mochte ihn Vereinsboss Vilas nicht besonders, doch war jetzt Motagua hinter ihm her. Laut Meinung von Vilas lag ein Transfer nach Deutschland noch eher drin als ein Wechsel zum Stadtrivalen, der mit allen Mitteln zu verhindern war. Beim nächsten Klubfest spielte der Präsident den Großmütigen, tat, als hätte er die Absprunggedanken längst verdaut, rühmte Pablos Treue zum Klub und seine Goalgetter-Qualitäten. Ofélia flüsterte: »Was für ein Heuchler!«
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Im neuen Heim von Pablo und Ofélia klingelte das Telefon. »Sophokles«, meldete sich der Trainer von Olimpia, »spreche ich mit Ofélia Moya?« »Ja, wo brennt’s?« »Ganz einfach: Wir kommen nicht weiter. Seit Pablo die Grippe hatte, ist er stinkfaul im Training, weicht jeder Anstrengung aus und ist miserabel gelaunt.« »Bei mir nicht.« »Eben. Du nimmst ihn so in Beschlag, dass er niemals zu einem Superprofi wird.« »Nein, nein! An mir kann’s nicht liegen. Er will ja nicht einmal ausgehen.« »Wirklich?« »Jetzt aber – « »Ja jetzt, wenn er so weiter macht, pflanze ich ihn auf die Ersatzbank und kürze ihm das Gehalt.« Das ging Ofélia nun entschieden zu weit. Aufgebracht hängte sie den Hörer auf, bereute es aber augenblicklich. Nein, schaden wollte sie Pablo nicht, nur das nicht. Es wäre ihre Pflicht, dem Trainer den gebührenden Respekt zu zollen. Aber sie hatte ihn brüskiert. Wie konnte sie den Fehler wieder gutmachen? Sie hatte keine Ahnung, woher Sophokles angerufen hatte oder wie er zu erreichen war. Was blieb ihr anderes übrig, als auf Pablo zu warten? Da kam ihr die Idee, Isabel um Rat zu fragen. Als Frau von Naxquitl hatte sie vielleicht schon ähnliche Probleme gelöst. Doch Pablos Schwester nahm nicht ab, auch Ada nicht. Eher unerwartet erreichte sie dafür Juan Ramos, der sie unumwunden fragte, ob
Pablo nicht Amphetamine genommen habe. Ofélia erzählte ihm den Sachverhalt: Vor dem Spiel gegen Motagua hatte Pablo über Kopfweh und Gliederschmerzen gejammert. Als er Sophokles berichtete, er sei nicht einsatzfähig, rief dieser den Klubarzt, der Rheumatismus diagnostizierte und ein Rheumamittel spritzte. Flugs waren die Schmerzen weg. Trotzdem fühlte sich Luna nicht fit. Ein Mitspieler empfahl ihm, eine Stuka-Pille zu nehmen. Damit hätten sich die deutschen Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg aufgeputscht. Wenn er selbst unpässlich oder übermüdet sei, pulvere er die sauren Beine mit einer kleinen Weißen auf und erbringe eine Topleistung. Mit dem Finger auf dem Mund steckte er ihm eine Tablette in die Brusttasche. Pablo schluckte sie auf der Toilette und fühlte sich bald bombig in Form. Trällernd trat er zum Spiel an und gab die entscheidenden Pässe zu Olimpias Sieg. Erst unter der Dusche ließ die Wirkung des Medikamentes nach. Er fröstelte und ließ sich nach Hause bringen. Der Arzt revidierte nun seine Diagnose und stellte fest, dass Pablo eine Grippe hatte. Während Tagen schnupfte und hustete er, war blass und trank nur Lindenblütentee. Essen mochte er nicht. Sophokles fragte nach, wann er wieder zum Training komme. Beim nächsten Spiel brauche er ihn dringend. Pablo antwortete ausweichend, zuerst müsse er wieder zu Kräften kommen. Als der Trainer insistierte, kehrte er ins Team zurück, bevor er wirklich einsatzfähig war, denn kneifen wollte er nicht. Zu wichtig war ihm eine Karriere, die seinem Talent entsprach. »Ist die Stuka-Pille oder die verschleppte Grippe schuld, dass ich mich so langsam erhole?«, fragte er sich. Beim Samstagsmatch – er wurde tatsächlich eingesetzt – stimmten Ballannahme, Zuspiele und Laufvermögen überhaupt nicht. Die meisten Zweikämpfe verlor er. Zu allem Überfluss machte er einen ungenauen Rückpass zum Torwart, ohne dass er bedrängt wurde. Ein
gegnerischer Stürmer erlief den Ball und erwischte Enrique auf dem falschen Fuß. Bereits nach vierzig Minuten wurde er ausgewechselt und blies Trübsal auf der Ersatzbank. So weit der Bericht von Ofélia an Pablos Mentor. Juan, der ihr geduldig zugehört hatte, sagte: »Wir müssen ihn aus dem Tief holen. Ich werde ihn zur Rede stellen. Amphetamine sind Gift für ihn.« Wie meist kam die Formbaisse zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Sophokles saß in der Klemme. Vor kurzem hatte er veranlasst, dass die Firma Toyota, die Pepsi Cola als Hauptsponsor von Olimpia abgelöst hatte, Pablo einen fabrikneuen Wagen schenkte. Auch war sein kürzlich bezogenes Heim für einen jungen Spieler recht luxuriös, was Präsident Vilas und Mitarbeiter für übertrieben hielten. Ofélia, er und eine Haushaltshilfe, eine Criada, wohnten jetzt in einer Kleinvilla an den Hängen des Picacho, wenig oberhalb des Hauses von Ada, Sara und Elsa. Die Sicht auf die Stadt war herrlich. All das müsste Pablo mit guten Leistungen danken, nicht mit Flops wie am letzten Samstag, fand der Trainer.
Auf Anordnung von Sophokles suchte Pablo wieder den Vertrauensarzt des Klubs auf. Eine Aufbaudiät sei angezeigt, eröffnete ihm der Mediziner, mit viel Vitaminen, Spurenelementen, leicht verdaulichen Eiweißen und Kohlehydraten. Unterstützend erhielt er Infusionen zur Förderung der Kraft. »Schön ruhig bleiben, bis die Flüssigkeit in deinen Adern drin ist«, ermahnte ihn die Krankenschwester, nachdem sie die Tropfinfusion angelegt hatte, »wird dich erquicken. In den nächsten Tagen fahren wir so fort. Pünktlich um fünf Uhr abends.« Pablo lag auf dem Schragen und betrachtete den Tropfenzähler, der ihm wie eine Sanduhr vorkam. Als der Flüssigkeitsspiegel im Zähler absank, erlöste
ihn die Schwester. Verstört schlich er aus der Praxis und irrte ziellos durch die Stadt. In Gedanken versunken betrat er die Kirche La Merced, wo es noch intensiver und geheimnisvoller von Gold glänzte als in der Kathedrale. Er bekreuzigte sich und blieb beim Eingang stehen, bis er sich ans Dämmerlicht gewöhnt hatte. »Kniet dort nicht Ada vor der Muttergottes?«, blitzte es in ihm auf. Mit zögernden Schritten ging er im Seitengang nach vorn. Sie war es tatsächlich. Sie betete. Stumm kniete er sich neben sie und faltete die Hände. Mit flüchtigem Blick erkannte Ada ihren Sohn und versuchte weiter zu beten. Beide wunderten sich gleichermaßen, was den anderen wohl dazu bewegte, Fürbitte zu leisten. Nach einer Weile erhoben sie sich gleichzeitig und verließen versonnen die Kirche. »Kommst du mit mir auf eine Tasse Kaffee?«, fragte Ada und umarmte Pablo. Er nickte. »Bei Pachita gibt es Kaffee aus Copán.« In der Gaststube zogen sie sich in den hinteren Teil zurück. Vorne, wo es heller war, spielten Männer Karten und hämmerten Trümpfe auf den Holztisch. Mit Genuss sogen Mutter und Sohn den Kaffeeduft ein und hüstelten, wenn Rauch von billigen Zigaretten bis zu ihnen drang. Zunächst fehlten ihnen die Worte, um auszudrücken, was sie bewegte. Dann brach Ada das Schweigen und sagte: »Dich hätte ich nicht in der Kirche erwartet. Du siehst schlecht aus.« »Das sagt auch Ofélia.« »Zu Recht«, doppelte Ada nach. Pablo vermutete ein Frauenkomplott. Er fragte: »Und du, was treibt dich denn zum Beten ins Gotteshaus?« »Ich bin eine Sünderin.« Pablos Stirn umwölkte sich. Er bestellte einen zweiten Kaffee und bohrte: »Du und eine Sünderin?« Ada antwortete, sie müsse Buße dafür tun, dass sie die Geliebte von Juan Ramos sei. Ihr Verhältnis tue Mutter Maria
weh. Sie durfte Juan in seiner Villa nur besuchen, wenn Ehefrau Rosalba ausgeflogen war. Selbst dann achtete er peinlich darauf, dass Spuren, die ihre Anwesenheit hätten verraten können, radikal beseitigt wurden. Während Wochen gab es für Ada nur die Casa chica. Wo sie auch erschien, tuschelten die Dienstmädchen. Pablo tröstete die Mutter: »Du kannst doch nichts dafür, dass du als Witwe noch immer eine attraktive Frau bist. Und dass du ohne Liebe nicht leben kannst. Du hängst veralteten Moralvorstellungen nach. Eine außereheliche Beziehung ist heute nichts Besonderes mehr.« Die Worte des Sohnes fruchteten bei Ada nichts. Um ihre Gewissensbisse wenigstens teilweise zu erklären, erwähnte sie, dass sie kürzlich einem Soldaten begegnet war, der den Fußballkrieg überlebt hatte. Er war dabei gewesen, als ihr Mann umkam. »Über den Verlust komme ich noch immer nicht hinweg, seit zwanzig Jahren nicht«, klagte Ada. »Wenn ich mit Juan schlafe, habe ich oft das Gefühl, dass ich Carlos untreu bin.« »Mutter«, wiederholte Pablo, »du lebst heute und nicht damals.« »Du magst das so sehen. Ich habe Mühe damit. Jetzt gesteh mir, warum du gebetet hast.« Er grübelte. War es die Formbaisse, die ihn nervte und in depressive Stimmung versetzte? Nagten Zweifel an ihm, ob er seine Ziele nicht allzu hoch gesteckt hatte? Vielleicht schämte er sich auch für den Wohlstand der Familie, der ihm noch immer unverhältnismäßig schien. »Ich fühle mich nicht wohl«, sagte er. »Was meint Ofélia dazu?« »Sie sagt nichts und hilft mir.« »Hast du nicht kürzlich angedeutet, du wollest nach Europa?« »Ja vielleicht, sofern ich ein gutes Angebot bekomme. Aber in meiner jetzigen Form bin ich weg vom Fenster.«
»Millionen zu verdienen, bringt kein Glück. Auch bei voller Gesundheit nicht.« »Komm mir nicht damit! Sieh doch endlich ein, dass ich ein Topspieler werden will. Deshalb will ich nach Europa, nicht des Geldes wegen.« »Was redest du dir auch ein!«, schalt ihn Ada. »Du denkst eben doch an den Lohn.« »Ich will an mir arbeiten, um die Gaben zu verwirklichen, die in mir stecken. Von dir und von Vater geerbt. Ist es denn nur des Geldes wegen, dass du dich mit Juan verbunden hast?« Darauf war Ada nicht gefasst. Doch Pablo ließ nicht locker, bis sie bekannte: »Der Reichtum ist es nicht. Ich liebe Juan.« »So ist es ein Geschenk des Zufalls, dass du Juan getroffen hast und die Armut für dich und für uns überwunden hast?« In Ada kochte es. »Geh nicht nach Europa, Pablo! Bitte!«, schrie sie unerwartet und so schrill, dass sich die Gäste nach ihr umdrehten. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Sie hatte sich doch vorgenommen, ihre Bedenken für sich zu behalten. Einmal herausgerutscht gestand sie aber jetzt mit gesenktem Blick, seine Absicht, nach Europa zu gehen, komme ihr vor, als wolle er in den Fußballkrieg ziehen. »Hast du denn nichts von diesen Schlägertypen gehört«, versuchte sie ihre Angst zu untermauern, »von diesen – « »Hooligans.« »- ja die, die Fenster einschlagen, Fahrzeuge demolieren und Leute verprügeln. Nicht nur in England. Bei uns gab es das nur im Fußballkrieg.« »Wenn es in Europa Hooligans gibt, gibt es bei uns Pistoleros«, entgegnete Pablo trocken, »vielleicht sogar Hooligan-Pistoleros. Ist dir Lempira kein Begriff?«
Zuhause kicherte Ofélia: »Wieder einmal die Schule geschwänzt.« Als Barbara davon erfuhr, rüffelte sie die Tochter, es brauche gar nicht mehr viel, bis sie von der Leitung geschasst werde. Knapp vor den Schlussprüfungen, die sie wegen der Heirat schon einmal verpasst hatte. Der mütterliche Tadel war der Tochter schnuppe. Sie schwelgte im Luxus, genoss es, auf Bedienstete und einen vollen Geldbeutel zu zählen. Möglichst oft begleitete sie Pablo zu Auswärtsspielen. Nur bei Partys hatte sie Mühe, ihn zur Teilnahme zu bewegen. »Saufgelage und Tanzereien«, pflegte er abzuwehren, »sind nicht meine Sache. Nikotin, Alkohol und wenig Schlaf untergraben die Kondition. Jetzt bin ich außer Form, ohne je über die Schnur gehauen zu haben.« »Eben«, sagte Ofélia. Pablo wäre rascher wieder der Alte, fand sie, wenn er sich zerstreuen, wenigstens einmal pro Woche mit ihr ausgehen würde. Stundenlang hockten sie abends vor dem Fernseher und knabberten Chips. Manchmal tauchte Ruben auf. Mit ihm wurden die Diskussionen stets spannend, sie betrafen reizvolle Themen, die sie zu zweit nie aufgriffen. Kam Enrique Pavón auf Besuch, sprachen sie häufig über die Zukunft von Olimpia. Er informierte Pablo, was im Klub vorging. Zudem richtete er ihn auf, wenn er Trübsal blies und seine Karriere in Gefahr sah. Willkommen war auch Isabel. Zwar tanzte sie weiter im Teatro Bonilla, verzichtete aber, seit sie mit Naxquitl verheiratet war, auf Tourneen im Ausland. Noch mehr als Ofélia war es ihr wichtig, an den Aktivitäten ihres Mannes teilzunehmen. Eines Abends erwähnte Pablo gegenüber Ofélia, er sei Ada in der Kirche begegnet. Nach Europa zu gehen halte sie für ebenso schlimm, wie in den Fußballkrieg zu ziehen. Er selbst sah das anders, auch Juan. Dass er sich des Wohlstands schämte, hätte indessen sogar Juan schlecht verstanden.
»Wegen unseres Gelds plagt dich das Gewissen?«, staunte Ofé, »wir haben den Wohlstand verdient, du bist ein Star!« »Ich tue nur, was mir Spaß macht. Ist denn das ein Verdienst? Was wir uns erträumt haben, ist jetzt im Überfluss vorhanden. In Comayagúela und in den Slums gibt’s Arme zuhauf. Wir selbst haben zu ihnen gehört!« »Arme wird es immer geben, das kann niemand ändern, auch du nicht. Wir haben’s geschafft, den Dreck von uns abzuschütteln«, warf Ofélia schnoddrig hin, »warum machst du dir Vorwürfe für nichts und wieder nichts?« »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt – « Den Bibelspruch bekam Ofélia nur halb mit, denn sie holte eine Flasche SalvaVida aus dem Kühlschrank. »Wir sollten anfangen, Fahrstunden zu nehmen«, sagte sie, als sie zwei Gläser füllte, bis der Schaum über die Ränder lief, »der Toyota soll bald geliefert werden.« Doch Pablo wollte vorderhand nicht an Fahrstunden denken. Er legte sich auf den Diwan, lauschte dem Jazzkonzert eines Saxophonisten und genoss die Sicht auf die Stadt. Kaum hatte er sein Bier fertig geschlürft – weit bekömmlicher als Infusionen, dachte er –, polterte Ruben an die Tür. Noch im Flur rief er: »Ofé, wo steckt Pablo, deine bleiche Halbleiche? Wenn er so weiter macht, lässt ihn Sophokles noch einbalsamieren.« Ofélia lachte frech, küsste Ruben und sagte: »Du übertreibst. Wie immer. Es geht ihm besser, denn er trinkt ein Bier. Das tut er nur, wenn er wieder in Form kommt. Willst du auch eins?« Das brauchte sie Ruben nicht zweimal zu fragen. Bevor er sich setzte, platzte er heraus: »Habt ihr’s schon gehört? Naxquitls Vertrag ist unter Dach und Fach. Er geht nach Stuttgart.« »Stuttgart?« »Ja, Estocarda.«
»Aber er war doch mit Juventus Turin in Verhandlung.« »Das hat sich zerschlagen. Außerdem hat man ihm eingeredet, bei Stuttgart sei die Chance viel größer als in Turin, in die Stammelf zu gelangen.«
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Die Krise von Olimpia war auf mehrere Faktoren zurückzuführen, sie war »multifaktoriell«, wie Sophokles sich ausdrückte. Am wenigsten fiel ins Gewicht, dass nach Gewinn des Meistertitels der stärkste Erfolgshunger gestillt war. Stärker wog der Verlust von Naxquitl. Der Schlüsselspieler hatte den Verein verlassen und spielte jetzt beim VfB Stuttgart. Pablo, der vorgesehen war, die Regie im Mittelfeld zu übernehmen, konnte seinen Schwager nicht ersetzen. Seine ramponierte Verfassung hielt an. Um das Maß voll zu machen, erlitt der Brasilianer Finí, der ruhende Pol der Verteidigung, im Training einen Kreuzbandriss. Nach operativer Korrektur musste er sich einer Monate lang dauernden Rehabilitation unterziehen. Trotzdem schoben Uneinsichtige Sophokles die Verantwortung für das schlechte Abschneiden zu. Doch besonnene Köpfe behielten die Oberhand und forderten einen Neuaufbau der Mannschaft, für den genügend Zeit einzuräumen war. Gemäß ihrer Analyse hatte Sophokles in der vorhergehenden Saison die Zitrone der Ressourcen so stark ausgepresst, dass ein Meistertitel herausschaute. Darauf folgte der Kollaps. Widrige Umstände schwächten das Teamskelett zusätzlich. Olimpia glich derzeit einer wirbellosen Molluske. Pablo und Ofélia bliesen Trübsal. Alle Maßnahmen, die darauf abzielten, Pablos Form wiederherzustellen, scheiterten. Ofélia setzte sich mit Ada und Barbara an einen Tisch, um die Situation aus Frauensicht zu besprechen und einen Ausweg zu finden. Bei Zitronen-Eis riet Barbara, einen Psychologen beizuziehen, Ada zur Behandlung durch einen Masseur mit Zauberhänden, Ofé erinnerte an die Boxershorts mit magischen
Eigenschaften, die in einer Schublade vermotteten. Wie war Pablos Glaube an seine Fähigkeiten am besten zu stärken, lautete die Kernfrage. Sein Wille war krank, nicht seine Beine. Plötzlich schlug Barbara eine Lösung vor, die auf positives Echo stieß: »Warum lässt er sich nicht tätowieren? Vielleicht gibt ihm ein Fabelwesen neuen Elan.« »Gute Idee«, pflichtete Ofélia ihr bei, »vielleicht eine Sphinx, die ihn beflügelt?« Aufgrund der begeisterten Reaktionen von Ada und Barbara zauderte sie nicht und bat um einen Termin bei einem renommierten Tätowiermeister. Der Magier hockte mit überkreuzten Beinen in seiner Bude, die durch Gerümpel überladen war. Mit Bollaugen, Narbengesicht und wulstigen Lippen flößte er Respekt ein. Die Arme hatte er mit Henna gefärbt. Bei arabischer Musik stichelte er zuerst Ofélia einen Ara auf den Rücken, dann Pablo einen geflügelten Löwen mit Frauenkopf. Auf die Brust tätowierte er beiden ein Miniaturkreuz. Momentan stand ein Engagement in Übersee nicht zur Diskussion. Das Interesse der Scouts war erloschen. Umso nachdenklicher stimmte die Familie ein Brief von Isabel, die über ihre Erlebnisse berichtete: »Deutsch zu sprechen ist fürchterlich schwierig, Stuttgart ein Labyrinth, in dem man sich kaum orientieren kann. Missverständnisse und Reinfälle beim Einkauf sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.« Dann aber schwärmte sie: »Naxquitl hat bereits zweimal Teileinsätze in der ersten Mannschaft des VfB bestritten und wurde in der Presse gelobt. Und der Verdienst stimmt. Nach den Hotelwochen ziehen wir nun in eine Villa mit Balkon und sechs Zimmern ein. Der Balkon ist fast so groß wie ein Trainingsplatz, die Räume geschmackvoll renoviert und wunderbar eingerichtet. Eine Spanierin mit Deutschkenntnissen wird mir den Haushalt schmeißen. Ab
übermorgen kann ich die Sprachschule besuchen, und stellt euch vor, mir ist der Beitritt zum Ballett versprochen worden! Selbstverständlich steht uns ein Wagen zur Verfügung. Von den Deutschen kennen wir bisher nur die Betreuer und Teamkollegen näher, ansonsten einige Lateinamerikaner. Wie ihr wisst, spielt in der Mannschaft ein argentinischer Verteidiger, mit dem wir uns angefreundet haben, dazu ein Brasilianer, er ist zweiter Torhüter und spricht leidlich Spanisch. Sehr hilfsbereit ist auch ein Mexikaner, der seit langem hier lebt. Er kennt Land und Sitten. Denn die Deutschen sind schon komisch. Haben nichts Gescheiteres im Kopf, als Schweinshaxen, Bratwürste und Brezeln zu essen und enorme Bierhumpen zu stemmen. Männer mit Aktentaschen und Frauen mit Einkaufskörben eilen so eifrig durch die Gassen, als hätten sie einen Termin im Paradies, im Eldorado. Straßenjungen gibt es keine. Alles ist hier so ordentlich, ja ich sage euch, ordentlich. Hängst du draußen Wäsche auf, nennen sie dich gleich ‘Neapolitanerin’. Und wenn ihr erst sehen könntet, wie die Gartenzwerge mit ihrem Schneewittchen flirten!«
Endlich, nach einem weiteren Vierteljahr, zeigte Pablos Formkurve wieder nach oben. Aus Mangel an Alternativen, wie sich Sophokles schnippisch ausdrückte, wurde er in die Stammelf zurückgeholt. Als Olimpia erneut gegen Marathón unterlag, nahm ihn Ofélia ins Verhör: »Du hast sicher vergessen, deine Wundershorts anzuziehen. Sonst hättet ihr nie und nimmer verloren.« »Sie sind im Wäschekorb«, gestand Pablo kleinlaut. Ofélia wurde wütend. Das Mädchen, das ihr im Haushalt half, hatte Anweisung, unverzüglich nach jedem Match die Shorts zu waschen, damit sie beim nächsten Spiel frisch dufteten. Sie
beschloss, ein Doppel anzufertigen und ebenfalls mit Löwe und rotem Ofélia-Herz zu besticken. Auch war sie überzeugt, dass die Sphinx-Tätowierung nun Wirkung zu zeigen begann und dabei war, Pablo zu beflügeln, ihr Schicksal in die erhofften Bahnen zu lenken. Denn was Isabel geschrieben hatte, ließ Ofélia keine ‘ Ruhe. Die Anzeichen, dass Pablos Sonderklasse zurückkehrte, mehrten sich aber wirklich. Auf Anweisung des Trainers wechselte er nun häufig von der linken Außenbahn ins vorgerückte Zentrum, um die Rolle des Spielgestalters zu übernehmen. Sporadisch preschte er in die Sturmspitze vor und begann, die sich bietenden Torchancen wieder kaltblütig zu verwerten. Von Bedeutung war außerdem, dass Sophokles zwei Talente aus der Juniorenmannschaft in die Equipe integrierte. Sie brachten Zug mit und brannten darauf, mit Pablo Doppelpässe zu üben und von seiner Erfahrung zu profitieren. Auch bedeutete die Verpflichtung eines Peruaners die ersehnte Verstärkung der Abwehr. Und Finís Genesung machte rasante Fortschritte. Jedermann freute sich auf seine Rückkehr in die Stammelf. Bei Olimpia kündigte sich ein neues Hoch an. Im volkstümlichen Lokal Terraza de Don Pepe predigte Juan bei einem Nachtessen mit den Moyas, der Unterschied zwischen einem guten und einem mittelmäßigen Stürmer sei der Prozentsatz genutzter oder verpasster Torchancen. »Was für ein Gemeinplatz«, dachte Ofélia. Für viel wichtiger hielt sie, dass Shorts, Sphinx und Kreuz ihre Pflicht taten. Denn Tore hatten mit Magie zu tun.
Pablo wurde in die Nationalmannschaft berufen, wo er wieder die Rolle eines linken Außenbahnspielers übernahm. Im Spiel gegen Costa Rica führte Naxquitl Regie. Pablo und Ofélia holten ihn am Flughafen von San José ab und bestürmten ihn
mit Fragen, wie es ihm und Isabel in Stuttgart gehe. »Super«, rühmte Naxquitl, »Isabel wollte nicht mitkommen, weil sie angefangen hat, wieder Ballett zu tanzen. Demnächst tritt sie mit dem Ensemble des Stadttheaters auf. Vorher hat sie sich grauenhaft gelangweilt, wenn ich beim Training war. War sauer wie das Kraut, das man in Deutschland so gerne isst. Jetzt aber strahlt sie.« »Dauern denn die Trainings so lange, dass sich die Frauen vernachlässigt fühlen?« »In Deutschland ist das so. Kondition wird da gebüffelt, das könnt ihr euch kaum vorstellen. Drei Trainer schlauchen und drillen uns am Vor- und am Nachmittag, stundenlang. Bis du die Sterne flimmern siehst. Wie stark ich mich verbessert habe, werdet ihr übermorgen sehen.« »Hast du gehört?«, alberte Ofélia und kniff ihren Mann in den Oberarm, »und ich soll zu Hause sitzen und auf dich warten? In Europa könnte ich die Handelsschule sofort abschließen.« Pablo überhörte Ofélias Worte geflissentlich. Hätte sie gewollt, hätte sie längst das Diplom in der Tasche. »Bist du jetzt Stammspieler bei Stuttgart?«, fragte er Naxquitl. »Bin ich, seit fünf Monaten. Beim letzten Match habe ich mit Vollspann das Siegestor gegen Schalke 04 erzielt. Wie ist die Stimmung bei den Spielern des Nationalkaders? Die kennst du jetzt besser als ich.« »Schwer zu beurteilen. Du weißt ja, dass ich erst seit kurzem zurück in der Auswahl bin. Aber bei Antic nehmen die sattsam bekannten Probleme zu. Langsam reicht es uns.« Antic war der jugoslawische Trainer der Nationalelf und bei seinen Spielern nicht sonderlich beliebt. »Ich halte es für überfällig, Antic durch Sophokles zu ersetzen«, bemerkte Naxquitl.
»Solange ich bei Olimpia spiele, will ich Sophokles nicht hergeben. Klar wäre es gut, wenn uns die Qualifikation für die WM in den USA gelingen würde.« »Voraussetzung dafür ist ein Sieg übermorgen gegen Costa Rica.« Nach einer Pause stellte Naxquitl Pablo die Frage: »Würdest du es schätzen, wenn ich mal in Deutschland die Fühler für dich ausstrecke?« Ofélia kam Pablos Antwort zuvor: »Ja, tu das! Ich will nach München, dann spielen wir in der Meisterschaft gegen Stuttgart, gegen dich Naxquitl!« Pablo war erstaunt, wie positiv Ofélia sich zu einem Wechsel äußerte und dass sie gleich von München sprach. Woher war ihr diese Stadt überhaupt ein Begriff? Er kannte einzig den Klubnamen Bayern München. »Diesmal lässt du mir keine faulen Mangos passieren«, mahnte Naxquitl, als sie Enrique Pavón, den Torhüter von Olimpia und der Nationalelf trafen, und klopfte ihm auf die Schulter. »Hast du etwa schlechte Erfahrungen gemacht?«, tat Enrique beleidigt. Pablo unterstützte ihn und sagte, sein letztes haltbares Tor sei vergessen, liege mehr als ein Halbjahr zurück. Einen besseren Hüter als ihn gebe es in Honduras nicht. Auch Ofélia half Enrique: »Naxquitl, gleich wirst du ihn erleben. Enrique springt im Fünfmeterraum wie eine Forelle aus dem Wasser und schnappt die verrücktesten Bälle.« Da klingelte Ofélias Handy. Mutter Barbara war dran und sagte, Vater Arturo gehe es sehr schlecht. Sie bat ihre Tochter, den nächsten Flug nach Tegucigalpa zu nehmen.
Pablo nächtigte allein im Hotel, denn Kamerad Naxquitl bekam als Kapitän ein geräumiges Doppelzimmer zugeteilt.
Beide hielten sich vorbildlich an die Bettruhe und schliefen nach ein paar Fernsehsequenzen ein. Der folgende Tag war einer Taktiksitzung, einem leichten Training, der Ruhe und dem Essen gewidmet. »Um die Energiespeicher aufzuladen«, dozierte Antic. Ein Telefongespräch mit Ofélia brachte gute Neuigkeiten, Vater Arturo erholte sich im Spital von der Herzattacke besser als erwartet. Als Pablo um zehn Uhr das Zimmer aufsuchte, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. An der Decke baumelten bunte Ballone und auf den Nachttischen lagen Schokoladeherzen. Zu sehen war niemand. Aber es duftete nach Rosenessenzen. Pablo duschte sich, putzte die Zähne länger als gewöhnlich, schlüpfte in den Pyjama, legte sich hin und schloss die Lider. Bald tänzelte eine schlanke Frauengestalt in kanariengelbem Seidengewand und mit nackten Füssen vom Balkon herein. Über ihr Gesicht ringelten sich malvenfarbene Locken, dazwischen glühten faszinierende Augen. Wortlos pflückte sie ein Schokoladeherz und packte es aus, dann setzte sie sich auf den Bettrand und steckte die eine Hälfte in Pablos und die andere in den eigenen Mund. Pablo war wie verhext. Das Spiel gegen Costa Rica lief nicht so, wie es sich die Zebras vorgestellt hatten. Das war nicht Enriques Schuld. Zweimal parierte er Schüsse, die an der Grenze des Haltbaren lagen, dann drosch er den Ball vom Fuß eines Stürmers über das Tribünendach. Bei einem Eckball jedoch ließen die Verteidiger Enrique im Stich. Unmöglich für ihn, die Bogenflanke herunterzuholen. Der Ball senkte sich zum Hinterpfosten, wo ein Gegner heranbrauste, unbedrängt hochsprang und einköpfte. Das 2:0 fiel durch einen Freistoß aus dreißig Metern. Trotz Enriques lautstarken und gestenreichen Anweisungen war die Abwehrmauer schlecht
postiert. Der Ball zischte mit Effet an den Leibern vorbei ins tiefe Eck. Keine Chance für Goalie Enrique. Beim Resultat von 2:0 sollte es bleiben. Beide, Naxquitl und Pablo, hatten nicht ihren besten Tag. Irgendwie war das Ensemble schlecht eingestellt. Naxquitls Stuttgarter Kondition kam nicht zur Geltung, der Spielwitz fehlte. Anstatt ein verschworenes Team zu bilden, benahmen sich die Spieler als Individualisten. Jeder wollte sich auf eigene Faust profilieren. Um ihr Versagen zu kaschieren, schoben sie die Schuld dem Trainer in die Schuhe. »Ich habe ja gesagt, dass Sophokles her muss«, insistierte Naxquitl, »sonst bleiben wir stets in der Qualifikation hängen. Für eine Teilnahme an der WM in den USA haben wir nur noch theoretische Chancen.« »Zu blöd, meiner Schwüre zum Trotz habe ich eine faule Mango passieren lassen. Trotz der falsch postierten Mauer hätte ich den Freistoß halten müssen«, klagte Enrique. Seine Selbstkritik ließen die Freunde nicht zu: »Hätten alle gespielt wie du, vor allem ich«, sagte Pablo, »hätten wir gewonnen oder unentschieden gespielt. Wunder bringst auch du nicht fertig.« Naxquitl musste mit dem nächsten Kursflug zurück nach Europa. In Stuttgart stand ein Heimspiel an. Beim Abschied versprach er, sich für einen Transfer von Pablo und Enrique einzusetzen. Zurück in Tegucigalpa besuchte Pablo den Schwiegervater, der in der Klinik bereits wieder vom Geschäft in Valle de Angeles sprach. Nach dem Herzanfall hatte sein kritischer Zustand nur Stunden gedauert. Er war auf dem Weg der Besserung. Was das Spiel in Costa Rica anbetraf, vertrat Ofélia eine dezidierte Meinung: »Trainer Antic hat euch verschaukelt, nicht richtig aufeinander abgestimmt. Das ging aus der Fernsehübertragung eindeutig hervor. Ihr wart wie ein Hühnerhaufen.« Die Journalisten vertraten eine andere
Meinung. Für sie beruhte die Niederlage nicht auf falscher Taktik, sondern auf den individuellen Fehlern der Spieler. Mit lahmen Enten und hinkenden Gockeln sei die Hoffnung auf eine WM-Teilnahme illusorisch, hieß es.
Im weiteren Verlauf der Meisterschaft erreichte Pablo eine Formkonstanz, die dazu beitrug, dass Olimpia Vizemeister des Landes wurde. Die anschließende Saison begann erneut optimal. Die Mannschaft erzielte drei Siege in Folge, Pablo in jedem Match einen Treffer. Sophokles ging davon aus, dieses Jahr mit Olimpia wieder Meister und nicht nur Vizemeister zu werden. Auch die Moyas und Juan Ramos schwammen auf einer Euphorie-Welle, empfanden Leben und Spiel gleichermaßen leicht und beschwingt. In der Vorweihnachtszeit meldete sich die Agentur Karsten Drechsler aus Stuttgart. »Ist das nicht dieselbe, mit der wir schon einmal verhandelt haben?«, überlegte Pablo. In Deutschland, so lautete die Faxnachricht, gebe es im Augenblick keine passende Möglichkeit für ein Engagement, wohl aber in der Schweiz, beim Grasshopper-Club in Zürich. Die Mannschaft sei Rekordmeister des Landes. »Die Grasshoppers? Schweiz?«, zerbrach sich Pablo den Kopf beim Nachtessen, das eine Köchin servierte, »das Land liegt doch ganz oben im Norden, wo es fürchterlich kalt ist?« Auch Ofélia war überfordert: »Schweiz? Schweden? Wo ist da der Unterschied?« Pablo rief Elsa an, die noch immer bei Ada und Sara wohnte: »Sag mir mal, wo die Schweiz und Zürich liegen.« Bei ihr war er an der richtigen Adresse. Im Reisebüro hatte sie für reiche Kunden schon Urlaub in den Alpen gebucht und wusste, dass es im zentraleuropäischen Land Berge, Uhren, Käse und Medikamente gab. Dass man Alphorn blies, Deutsch,
Französisch und Italienisch sprach, nicht aber Spanisch oder Englisch. Mit Angaben über Fußballvereine konnte sie allerdings nicht aufwarten. Da erschien Ruben, sah sich um und fragte: »Was ist los?« »In der Schweiz, spielt man dort Fußball?«, fragte Pablo. Ruben hielt sich den Bauch vor Lachen: »Meine Güte, dort spielt man um Geld und mit Geld. Aber wer soll dort Tore machen?« Er setzte sich zu ihnen – die Fische und Tortillas erkalteten auf den Tellern –, erhielt sein SalvaVida und kramte aus, was er über den Kleinstaat in Zentraleuropa wusste. Bei Credomatic hatte er jede Woche mit Zürich zu tun, denn Reiche aus der ganzen Welt, auch Honduraner, horteten oder wuschen dort ihre Vermögen. Panzerschränke für Wertsachen gab es jede Menge. »Wenn Betuchte ihre Schätze überprüfen wollen, fliegen sie über Miami in die Schweiz und bringen Schokolade vom Feinsten zurück. Champagner-Pralinen gibt es in Zürich, kugelrunde süße kleine Fußbälle«, informierte sie Ruben und ergänzte nach einem kräftigen Schluck: »Etwas müsstest du als Spieler allerdings wissen, Pablo. Zürich ist Hauptsitz der Fifa, der International Football Association, Boss ist der Brasilianer João Havelange und Sekretär der Schweizer Josef Blatter. João und Josef organisieren die Fußball-Weltmeisterschaften.« Elsas und Rubens Informationen gaben Pablo zu denken. Wenigstens die Stadt des Fifa-Sitzes hätte er kennen müssen. Ofélia ihrerseits fand, bei Schokolade, die man von so weit her importiere, müsse an dem Land was dran sein.
15
Trotz der Winterpause kochte es im Vorstand des Grasshopper-Clubs Zürich. Die erste Saisonhälfte war zu Ende, doch belegte die Mannschaft nur den fünften Platz der Rangliste. Das Ziel, Schweizer Meister zu werden und sich für die Champions League zu qualifizieren, war gefährdet. Vor einem Jahr hatte die Niederlage gegen einen Klub am Tabellenende den Titel gekostet. Das durfte sich nicht wiederholen bei einem Verein, der traditionell zur Landeselite gehörte. Die Transferperiode dauerte nur noch vierzehn Tage, die Zeit drängte, Verstärkungen für Angriff und Verteidigung zu verpflichten. Kürzlich hatte Trainer Karl Haubold dem Vereinspräsidenten Urs Pfister erklärt: »Unsere Mannschaft ist wie ein Emmentaler Käse, der mehr Löcher hat als Substanz. Zuzüge sind ein Muss, wenn wir an der Spitze mitmischen wollen.« »Mitmischen? Den Titel gewinnen müssen wir! Vom fünften auf den ersten Rang vorstoßen. Guckt euch mal um«, befahl Pfister seinem Stab, »die Neuen müssen erstklassig sein, dürfen aber keinesfalls unser Budget sprengen.« »Immer dieselbe Quadratur des Kreises, gut und günstig sollen sie sein, beides zugleich«, dachten Haubold und der Sportchef, ohne dass sie es wagten, dies laut auszusprechen. Auf dem Flug von San Pedro Sula nach Miami und Zürich saßen Juan Ramos, Ofélia und Pablo in einer Dreierreihe der Boeing 767, hinter ihnen Elsa, Ruben und Enrique Pavón. Mit Ausnahme von Juan trugen die Herren T-Shirts mit dem Olimpia-Löwen auf der Brust, die Frauen Blusen mit dem blauweißen Landeswappen und den fünf Sternen im Zentrum.
Zunächst schwiegen sie. Wirre Vorstellungen darüber, was in Europa auf sie zukommen könnte, geisterten durch ihre Köpfe. In Miami stiegen sie von Iberia zu Swissair um. Flugzeugtyp und Sitzanordnung blieben gleich, nur verstand das Kabinenpersonal nun kein Spanisch mehr. Erst als sich die Küste des amerikanischen Kontinents im Dunst auflöste, legte sich ihre Befangenheit. Juan, dem Europa von früheren Reisen her vertraut war, nicht aber die Schweiz, zupfte Pablo am Ärmel: »Hör mal, bist du dir eigentlich bewusst, was du vorhast?« »Ich will prüfen, ob es eine kluge Idee ist, bei den Grasshoppers zu spielen.« »Na komm, das musst du anders sehen. Du bist nicht der Prüfende, sondern der Prüfling, der durchfallen kann. Natürlich bist du gut, aber die dort haben keine Ahnung davon. Die Klubverantwortlichen werden dich nach Strich und Faden testen, ob du ihrem Konzept entsprichst, ob sie eine Chance sehen, dass du für sie zur Teamstütze wirst.« »Ich bin doch tüchtig.« »Ja, davon gehen wir ja aus. Aber Honduras hat drüben einen geringen Stellenwert. Dass die Schweiz und Honduras in puncto Einwohnerzahl kaum verschieden sind, spielt keine Rolle. Natürlich wäre es attraktiver, wenn dich ein Klub aus Italien, Spanien oder Deutschland umwerben würde.« »Die Grasshoppers haben noch nie einen Europa-Pokal gewonnen«, knurrte Pablo. »Sei doch vernünftig«, wies ihn Juan zurecht, »wenn du dich in der Schweiz bewährst und zeigst, wie gut du bist, wird sich dein Transfer in eine Hochburg des Fußballs von selbst ergeben.« Zum Abendessen gab es Beef, Bratkartoffeln und Salat. Ofélia wählte spanischen Rotwein, die Herren tranken Bier, Elsa Mineralwasser. Sie lachte wegen jeder Kleinigkeit und war glücklich, dass es nach Europa ging.
Enrique sprach von einem Abenteuer, das sie bravourös zu bestehen hätten. Vorsichtig erkundigte er sich bei Ruben, was er über die Schweiz wisse. Er sprach von Bergen, Gletschern, Seen, Raddampfern und Trachtenmädchen, die er in Prospekten gesehen hatte. Nur den Abbildungen von Alphornbläsern inmitten von weidenden Kühen schenkte er keinen Glauben, eher der Zahl der Banken, die seiner Quelle nach diejenige der Kühe übertraf. »Ich freue mich, euch bald als Schweizer-Stars zu bewundern«, beendete Ruben seine Ausführungen, dann forderte ihn das Stichwort Banken nochmals heraus: »Grün wie Laubfrösche seid ihr hinter den Ohren! In Zürich gibt es Tausende von Tresoren vollgepackt mit Dollar-, Rubel-, Pfund- und Yenscheinen. Alle Währungen der Welt sind dort vertreten, ich schwöre euch, sogar Lempiras. Ihr werdet in Franken bezahlt. Die wachsen auf der Zürcher Bahnhofstraße wie Pilze. Dafür lohnt es sich schon, ein bisschen zu rennen und zu kämpfen, Tore zu schießen und zu vereiteln.« Pablo dachte für sich: »Spaß machen müsste es aber schon, sonst nützen auch Frankenberge wenig.« Je näher sie Europa kamen, schwante ihm, dass ihm und Enrique – da hatte Juan sicher recht – eine knallharte Prüfung bevorstand. Sich in einem total fremden Umfeld zu bewähren, war kein Pappenstiel. Juan ahnte seine Gedanken und bestärkte ihn: »Du bist so still. Kapierst du, um was es geht? Dein Können werden sie auf die Goldwaage legen.« Darauf reagierte Ofélia mit geschürzten Lippen: »Juan, bist du nicht ebenso sicher wie ich, dass Pablo die Probe glänzend bestehen wird?« »Doch natürlich«, bekräftigte der Mentor, »sicher«, echoten die andern. Enrique nahm an, die Überzeugung, was Pablos Können anbetraf, gelte auch für ihn. Von sich aus wäre er nie auf die
Idee gekommen, sich im Ausland zu bewerben. Auf Empfehlung von Naxquitl hatten ihm Späher den Kontakt zu den Berner Young Boys vermittelt. Noch so ein Schweizer Klub, von dem in Honduras niemand wusste, was er taugte. Aber er brauchte einen Torhüter. Während der verkürzten Nacht schliefen sie wenig. Ofélia und Elsa verfolgten mit Unterbrechungen einen Liebesfilm, Juan trank Whisky oder schnarchte, die beiden Spieler dösten unruhig vor sich hin und schreckten mehrmals auf, ohne dass ein äußerlicher Grund zu erkennen war. Ruben nahm die Reise gelassener als die übrigen. Wenn alles gut lief, ein lukrativer Vertrag mit den Grasshoppers zustande kam, wollte er Pablo und Ofélia vorschlagen, sie nach Zürich zu begleiten. Er spielte mit dem Gedanken, dort als ihr Agent zu wirken und zugleich bei einer Bank zu arbeiten. Das junge Paar brauchte jemanden, der die organisatorischen und finanziellen Belange regelte. In der Phantasie bauschte sich das Vermögen, das er anhäufen wollte, zu einer Kumuluswolke. Als Angestellter einer Großbank wollte er saftige Honorare für die Beratung von Mittelamerikanern kassieren. Unnatürlich schnell wurde es hell. Nach den Angaben des Kabinenpersonals stellten sie die Uhren vor. Noch flogen sie über dem Atlantik, den eine Wolkenschicht bedeckte. Dann meldete der Kapitän, sie hätten das Festland über Frankreich erreicht. Als ihnen das Frühstück serviert wurde, rief Elsa, die auf einem Fensterplatz saß: »Jetzt schaut euch das mal an!« Weit vorn ragte eine mächtige Schneekuppe aus den Wolken. »Der Mont Blanc«, orientierte sie die Stewardess. Wenig später begann der Sinkflug in Richtung Zürich. Vor dem Guckloch erschienen die Fels- und Eisriesen Finsteraarhorn, Schreckhorn, Jungfrau, Mönch und Eiger.
Nach glatter Landung gingen sie durch die Passkontrolle und zogen ihr Gepäck vom Förderband. Ihre Koffer waren klein, nur mit dem Nötigsten bestückt. Beim Ausgang wartete eine Hostess, die Schilder mit den Namen »Moya« und »Pavón« hochhielt. Daneben standen Trainer Karl Haubold in Krawatte und tadellos gebügeltem Anzug und ein Spieler im Grasshopper-Dress. »Olé!«, rief Ofélia beim Anblick des Grasshopper-Trikots, »unsere Landesfarben!« »Ach so«, wunderte sich der Grasshopper-Spieler, der sie umarmte und auf Spanisch begrüßte: »Mein Name ist José Moreno. Ich bin Innenverteidiger und spiele seit zwei Jahren beim Grasshopper-Club. Vorher war ich bei Boca Juniors in Buenos Aires.« Eine freudige Überraschung. Trainer Haubold musterte Ofélia und schüttelte dann allen sechs formell die Hand. Torhüter Enrique wurde von einem Young BoysOffiziellen in Empfang genommen und verabschiedete sich von seinen Landsleuten. Auf der Autobahn nach Bern überkam ihn im Wagenfond ein leises Flennen. Er fühlte sich mutterseelenallein, vor allem wenn er an Pablos Eskorte dachte, die ihn unglaublich komfortabel dünkte. Im grauen Mercedes – Ofélia lehnte sich behaglich in die weichen Polster – wurden die fünf ins Hotel zum Storchen chauffiert, wo der Assistenzcoach und ein weiterer Spieler Sekt offerierten. José Moreno fungierte als Dolmetscher. Die beiden Trainer unterhielten sich mit Juan und Ruben auf Englisch und gaben den Zeitplan bekannt. Am ersten Tag war ein leichtes Einlaufen vorgesehen, am zweiten eine sportärztliche Untersuchung, am dritten das eigentliche Probetraining und die anschließende Besprechung. Juan Ramos, Elsa und Ruben bezogen Einzelzimmer, Ofélia und Pablo einen Raum mit französischem Doppelbett und Blick auf die Limmat. Auf dem Tischchen lagen Informationen zur Stadt, die Ofélia interessierten, Pablo schon weniger. Auf
Juans Anweisung schluckte er an diesem Abend eine Schlaftablette. So ruhte er sich genügend aus und vermied die schlimmsten Auswirkungen des Jetlag. Schließlich musste er spätestens übermorgen topfit sein. Nach dem Frühstück – die Nachtruhe war ungestört – wurden Pablo, Ofélia und Juan abgeholt und zu den Trainingsplätzen auf dem Förrlibuck geführt. Die Rasenflächen mit verschiebbaren Toren schlossen direkt an das HardturmStadion an, wo die Grasshoppers ihre Spiele bestritten. Im Hintergrund rollte ein Güterzug über eine Brücke auf Betonträgern. Eine Großmolkerei mit Kamin bildete die weitere Kulisse. Grasshopper-Präsident Pfister begrüßte die Lateinamerikaner und stellte ihnen die Spieler der ersten Mannschaft vor. Pablo war erstaunt, dass neben José Moreno, den er bereits kannte, ein Brasilianer und ein Senegalese zum Kader gehörten. Noch besser passte ihm, dass der Schweizer Alberto Casas spanischer Muttersprache war. Der Sohn iberischer Einwanderer war Mitglied des Schweizer Nationalteams. Das ließ sich gut an. Ofélia und Juan klatschten, als Pablo im blauweißen GC-Trikot und weißen Hosen aus der Kabine kam. Er wurde auf den gefrorenen Boden aufmerksam gemacht und drehte mit Assistenztrainer und Mannschaft Runden um den Platz. Das Tempo hielt er problemlos mit. Nach den folgenden Dehnübungen war sein Programm für den Tag zu Ende. Als sie wieder im Hotel anlangten, waren Elsa und Ruben fort. Obwohl es neblig und empfindlich kalt war, flanierten die beiden gerade durch die Stadt. Ruben zog es an den Paradeplatz, wo er einen Kollegen des Crédit Suisse aufsuchen wollte, mit dem er von Tegucigalpa aus korrespondiert hatte. Bei ihm wollte er sich erkundigen, was ein Profifußballer beim Grasshopper-Club in etwa verdiente. Sie wurden in einem nüchtern, aber zweckmäßig eingerichteten Büro empfangen
und erfuhren von einem Angestellten, 200 000 Dollar pro Jahr müssten drin sein, als Minimallohn für einen Spitzenspieler. Bei arrivierten Koryphäen gehe es bis zu einer halben Million. Zwar rate er ihnen nicht, allzu hoch zu pokern, aber ebenso wenig sollten sie ihr Licht unter den Scheffel stellen. Als Ruben eine Anstellung als Mitarbeiter für Lateinamerika antippte, wurde er vertröstet, dafür sei die Geschäftsleitung zuständig. Um eine Empfehlung brauche er sich nicht zu sorgen. Ihre Abteilung schätze Leute, die neue Verbindungen anbahnten, gerade auch mit Zentralamerika. Kaum hatten sie die Bank verlassen, drückte sich Elsa an den Vitrinen der Konditorei Sprüngli die Nase platt. Sie kaufte eine Schachtel mit einer knusprigen Spezialität, die man Luxemburger nannte, verführerisch duftete und Schokolade- oder Vanille-Kreme enthielt. Elsa war nicht zu bremsen, bis die Schachtel alle war. »Vom Feinsten«, lobte sie, »aber schlecht für die Linie.« Dabei strich sie sich schuldbewusst über den Bauch, der sich mehr vorwölbte, als ihr lieb war. Auf der anderen Seite des Platzes blieb sie am Schaufenster eines Silbergeschäfts hängen. »Wow! Schau dir diese Schalen und Becher an. Ich behaupte jetzt mal, das Silber stammt aus den Gruben oberhalb von Tegucigalpa.« Auch die Uhren und der Schmuck hatten ihr es angetan. »Lauter Brillanten rund ums Zifferblatt, kannst du die Marke lesen?« »Omega«, buchstabierte Ruben, »daneben eine Vacherin Constantin.« »Und der Smaragd da, was kostet wohl der?«, fragte sie beim nächsten Laden. Die blauen Tramwagen, die beim Einbiegen aus der Bahnhofstraße in den Paradeplatz laut quietschten, amüsierten die Honduraner, ebenso die Kontraste zwischen den Geschäftsleuten in tadellosen Anzügen und den Drogensüchtigen, die mit Schäferhunden umherlungerten und
an Bierflaschen nuckelten. Doch Elsa wandte sich den Schaufenstern bei Glieder zu. Beim Betrachten der Winterkollektion glänzten ihre Augen, ebenso vor Ballys eleganten Stöckelschuhen, obwohl sie die im Grunde genommen hasste. Die Sonne schien nun matt aus dem milchigen Himmel und tat, als müsse sie den Fremden das kalte Klima schmackhaft machen. Ruben hatte Mühe, Elsa von den Läden wegzukriegen und sie zur Rückkehr ins Hotel zu bewegen. Dort saßen José, Juan und Pablo bereits in der Bar. Da Juan seinen Schützling missbilligend anblickte, als er mit einem zweiten Becher Bier liebäugelte, hielt sich dieser an alkoholfreie Getränke. Dann kam die Nagelprobe. Haubold belastete der doppelte Druck von Saisonstart und Ende der Transferperiode. Er konnte seine Neugier kaum zähmen. Persönlich überwachte er Pablos Untersuchung vor dem Probetraining in der Klinik Hirslanden. Zwei Sportärzte prüften ihn auf Herz und Nieren. Nach der klinischen Untersuchung maßen sie seine Leistungsfähigkeit auf dem Fahrrad. Automatisch wurden Pulsfrequenz und Elektrokardiogramm aufgezeichnet. Nach jeder Belastung, die in Stufen erhöht wurde, entnahm eine Assistentin Blut aus der Fingerkuppe, um die Laktate zu bestimmen. Dadurch ließ sich testen, welche Anforderung zu einer Übersäuerung der Muskeln und zu einer Leistungseinbuße führte. Am Ende der Untersuchung lautete das Verdikt: »Die Leistungsfähigkeit ist noch stark verbesserungsfähig.« Haubold runzelte die Stirn und schalt den Kandidaten: »Da müssten wir schön die Schrauben anziehen, das Training intensivieren, bis Sie dem Niveau der Kollegen nur nahe kommen.« Als die Kommentare für Pablo übersetzt wurden – er hatte an den Mienen abgelesen, dass etwas nicht stimmte –, glaubte er, er sei durchgefallen. Noch schien aber nicht alles
verloren, denn der Trainer ergänzte: »Mal sehen, was Sie morgen technisch drauf haben.« Beim Abendessen redeten Ruben und Ofélia Pablo zu: »In puncto Ballbehandlung bist du unschlagbar. Leistungsfähigkeit auf dem komischen Fahrrad und Laktat-Werte hin oder her.« Die Praxis musste zeigen, wie extrem gewandt er war. Dass ein Trainingsrückstand vorlag, glaubten die Honduraner ohnehin nicht. Auch würde er es dank seines Willens problemlos schaffen, ein eventuelles Manko aufzuholen. Juan zog wiederum eine Schlaftablette aus der Westentasche und schickte ihn um neun Uhr ins Bett. Widerspruch duldete er nicht. Im Zimmer schaltete Pablo den Fernsehapparat ein. Es kam ein Film mit Tieren, die ihm unbekannt waren. Gämsen und Steinböcke tummelten sich auf Felsvorsprüngen. Doch das Medikament bewirkte, dass er bald unscharf sah. Ohne den Apparat abzustellen sank er traumlos in die Kissen. Ofélia hörte er nicht, als sie vor Mitternacht ins Zimmer schlich. Das Probetraining auf dem Förrlibuck begann um zehn Uhr. Haubold stellte den Gästen eine Limousine zur Verfügung. Bevor sich Pablo in den Umkleideraum begab, flüsterte ihm Ofélia zu: »Denen zeigst du es, ich drücke dir den Daumen.« Mit Energie geladen trabte er im blauweißen Dress aufs Feld. Von den ¡Spielern war bis jetzt nur José Moreno da. »Hola, Pablo, hast du gut geschlafen?«, rief er ihm zu und begann locker um das Feld zu kreisen. Pablo folgte ihm. Im Laufen tauschten sie Belanglosigkeiten aus. Bei jedem Atemzug und Zuruf bildete sich eine Wolke vor ihrem Mund, da es wieder recht frisch war. Zum Glück lag kein Schnee, wie es für die Jahreszeit typisch gewesen wäre. Der Rasen war aber weiterhin gefroren. Nach und nach tröpfelten die übrigen Spieler ein und bildeten einen lang gezogenen Cordon. In der Platzmitte vertrat sich Haubold die Füße, der Assistenztrainer begleitete die Spieler. Nach dem Lauftraining standen
Stretching und Sprintübungen auf dem Programm. Plötzlich sagte Haubold: »Wir wollen mal sehen, wie schnell Sie sind.« Die Strecke für den Hundertmeterlauf war markiert, die Trainer hantierten mit Stoppuhren. Pablo rannte, angefeuert durch Ofélia, Elsa und Ruben. »11,8 Sekunden, gut, aber verbesserungsfähig«, lautete Haubolds Kommentar. Juan mochte das Wort verbesserungsfähig, mejorable, gar nicht hören und war stolz auf Pablos Leistung, die er ihm nicht zugetraut hätte. Während ein Spezialtrainer den Torwart mit Boliden prüfte und rekonvaleszente Spieler auf dem Nebenfeld umherhumpelten, war Pablos nächste Aufgabe, sich um eine Kette von roten Marken zu schlängeln. Zu Josés Genugtuung tat sich Pablo durch Eleganz hervor. Weniger Gewandte schauten drein, als witterten sie unwillkommene Konkurrenz. Mit dem Ball unterliefen Pablo zunächst mehr Fehlpässe als üblich, dann steigerte er sich, vor allem im Trainingsmatch. Seine Akrobatikeinlagen hatten zur Folge, dass Haubold und Präsident Pfister, der eben aufgetaucht war, beifällig tuschelten. José achtete darauf, Pablo perfekte Bälle zu servieren. Ihm lag daran, dass der Kamerad überzeugen und das Kontingent von Lateinamerikanern bei den Grasshoppers verstärken konnte. Nach der Dusche führte Alberto Casas Pablo und Juan zu einem Büro im Stadion, wo sie Präsident und Trainer willkommen hießen. Die Fragen an Pablo liefen über Alberto, das Gespräch mit Juan wurde direkt auf Englisch geführt. Quintessenz aus der Sicht der Grasshopper-Leute war, dass der Lohn 200 000 Franken betragen könnte, sollte die Entscheidung über den möglichen Transfer positiv ausfallen. Juan forderte als Anfangsgehalt diese Summe in Dollar, nicht in Franken. Die Klubverantwortlichen wichen Präzisierungen aus und kündigten an, im Laufe der nächsten Woche definitiv
zu entscheiden. Da in vierzehn Tagen die zweite Hälfte der Saison begann, war im Fall des Vertragsabschlusses ein sofortiger Arbeitsbeginn Voraussetzung. Noch aber standen Verhandlungen mit anderen Kandidaten an. Der Abschied von den Klubgewaltigen war weder herzlich noch unfreundlich. Alberto bedachte sie am Stadionausgang mit einem Abrazo, ebenso José, der sich mit Ruben, Ofélia und Elsa unterhalten hatte.
16
Eines Tages wurde der Fußball übermütig. Er wollte den Spielern Schnippchen schlagen. »Heute handle ich nach meinem und nicht nach ihrem Kopf, pfeife auf ihre Absichten und zaubere. Wenn ich schon ständig mit Füssen getreten werde, hart auf Pfosten und Latte prallen muss und nur selten ins Netz fliegen darf, wo mich die Maschen sanft auffangen, so will ich mir Kapriolen leisten und den Spielern Streiche spielen. Schieds- und Linienrichter sind sowieso blöd. Ihnen und den Spielern will ich zeigen, dass sie ohne mich niemals auskommen. Was wären denn zwei Mannschaften und ein Referee ohne Streitobjekt? Auch wenn ich heute aus Plastik anstatt aus Leder bin, bleibe ich doch eine Kugel mit Charisma.« Um seine Ideen umzusetzen, wählte der Ball das Spiel der Grasshoppers gegen den FC Zürich. Von der Tradition her war der Ausgang eine klare Sache. Unter zwanzig Derbys der Stadtrivalen verloren die Grasshoppers höchstens deren zwei, behaupteten die Blauweißen. »Anstatt dass die Spieler mir Drall verpassen, gebe ich mir selbst den Drall, der mir gerade passt«, dachte der Ball, als er von Pablos Schuh getreten auf das Tor des FC Zürich zuflog, »jetzt beweise ich mein artistisches Geschick.« Zunächst folgte er der Bahn, die Pablo ihm gegeben hatte. Der Hüter berechnete den Bahnverlauf, lief aus dem Tor und setzte zu einem Sprung an, um ihn zu fangen. Doch der Ball begann zu zwirbeln und wirbelte so perfid durch die Luft, dass der Hüter daneben langte. Der Ball flatterte ins Lattendreieck und suhlte sich wohlig im Netz. Von dort aus grinste er hervor,
sah, wie sich Pablo in der Rolle des Torschützen sonnte, von den Mitspielern umarmt und beinahe zu Mus zerquetscht wurde. »Schon wieder ein Lapsus des Torwarts«, stöhnte der Trainer des FC Zürich. Auf der Zürich-Tribüne wimmerten die Fans, im Grasshopper-Sektor triumphierten sie. »Wie kann unser Zerberus nur so ins Leere greifen«, jammerte der ergraute Präsident des FC Zürich. Quatsch in den Augen des Balls. Die Fahrt, die ihm Pablo mit dem Außenrist gegeben hatte, hätte allein nie genügt, um den Torwart zu täuschen. Der Honduraner hatte ihn auf eine Bahn geschickt, die der Hüter richtig voraussah. Doch sieben Meter vor seinen fangbereiten Händen machte der Ball Kapriolen. Ballistik, war die wirklich bindend? Nicht für den Ball. Er schwirrte und strafte die Parabel und ihre Gesetze Lügen. Da musste der Hüter ja patzen. Ihn traf überhaupt keine Schuld, dass er ein Stück Luft fing. Nur deswegen kam Pablo zu seinem Wundertreffer. Später gefiel sich der Ball, wie ein Kaninchen zu hopsen. In ausgleichender Gerechtigkeit hüpfte er dem GrasshopperKeeper über die Handschuhe und kollerte ins Netz. Nun waren es die blauweißen Fans, die lamentierten und den Treffer ihrem Hüter ankreideten. »Wie lachhaft, dass jener Spieler des FC Zürich, der mich zuletzt berührt hat«, fand der Ball, »jetzt jubelt. Wie vorher Pablo bildet er sich ein, er sei der Urheber des Goals.« Der Ball war nicht mehr zu bremsen. Er wollte Hokuspokus treiben, es nicht beim Stand von 1:1 bewenden lassen. Welcher Elf sollte er bloß den Sieg schenken? Dadurch, dass die Fans des FC Zürich im Takt »FCZ!« schrien, Leuchtkugeln zündeten, Transparente schwenkten, kurz eine Choreographie von Klasse boten, betörten sie den Ball und gewannen seine Gunst. »Die sorgen für Spektakel, machen Krawall um den Ball, die will ich unterstützen«, entschied er. Von einem Mittelfeldspieler getreten flitzte er über alle Akteure hinweg, traf präzis an die Lattenunterkante und prallte
senkrecht auf die Torlinie. Der Schiedsrichter pfiff 2:1 für den FC Zürich. Die Grasshoppers protestierten, der Ball sei auf und nicht hinter der Torlinie gelandet. Doch der Referee blieb bei seiner Entscheidung. Den Frechmäulern, die ihn beleidigten, gab er eine gelbe und eine rote Karte. »Ich weiß Schicksal zu spielen«, brüstete sich der Ball, der das Verdikt des Schiedsrichters wohlwollend zur Kenntnis nahm. Jetzt aber überschätzte er sich. »Ich entschwinde ins All«, sagte der Ball, »ich verwandle mich in einen Kometen.« Dass es ein Nachtspiel war, begünstigte sein Vorhaben. Ein Verteidiger schlug ihn aus dem Scheinwerferlicht ins Halbdunkel hinauf, wo der Mond rund und voll am Himmel hing. »Auch ich bin ein Ball!«, rief Ixbalanqué dem Fußball zu, »ein Silberball.« »Morgen bist du’s schon nicht mehr«, berichtigte der Ball, »nur ich bleibe kugelrund. Du musst, kaum bist du voll, zu einer traurigen Sichel schrumpfen.« Das erboste den Mond. Leer und zu einer Sichel zu werden, hielt Ixbalanqué für eine Schande, die Bruder Hunahpú ihm auferlegte. »Glücksritter«, verhöhnte er den Ball, »dafür bist du flatterhaft. Manchmal willst du rein ins Netz, obwohl es nicht sein dürfte, manchmal willst du nicht rein, obwohl es sein müsste. Du willst das Zünglein an der Waage spielen. Ich aber umrunde die Erde zuverlässig und konstant und leuchte den Liebespaaren.« »Nur wenn du voll bist«, wollte der Ball erwidern. Doch er verlor die Sprache, denn er hatte den Scheitelpunkt der Parabel überschritten. Der Schwerkraft folgend sank er zurück ins hell erleuchtete Stadion, schlug auf dem Rasen auf und kugelte ins Aus. Dort hob ihn ein Balljunge auf und kontrollierte ihn. Auf Meisterschaftsniveau nicht mehr einsatztauglich, befand er und warf einen Ersatzball ins Spiel. Dem Ausrangierten wollte er mit einem Stilett zu Leibe rücken, doch der Platzwart hielt ihn
davon ab und sagte: »Der ist noch fürs Juniorentraining gut.« Von den A-Junioren kam der Ball zu den C-Junioren und schließlich zu den Schulbuben, die in einer Sackgasse kickten. Von ihnen lernte er Kapriolen, die ihm innovativ erschienen und ihm Ehrfurcht vor der Jugend einflößten. Er scharwenzelte und tanzte. Häufig visierte er die Schultornister an, die das Tor markierten. Flog er direkt über einen der improvisierten Pfosten, entbrannte unter den Bubenparteien ein Streit, ob nun ein Tor oder ein Holztreffer vorlag. Noch aber trauerte er der obersten Liga nach, in der er hatte Schicksal spielen dürfen. Als er einmal über den Asphalt einer Gasse rollte, da ihn ein Knabe nur halb getroffen hatte, kam ein Cabriolet um die Ecke. Die Schüler schrien auf und sprangen zur Seite, der Ball geriet unter die Räder. Ein Knall? Doch nein, der Ball, etwas verstört nur, kullerte unversehrt zwischen den Reifen hervor und trudelte um seine Achse.
17
Was der Ball vorweggenommen hatte, wurde Wirklichkeit. Pablos Transfer von Olimpia zu den Grasshoppers kam zustande. Zurück vom Probetraining traf in Tegucigalpa die Faxnachricht ein, der Vertrag sei zur Unterschrift bereit. Der Abschluss müsse in den nächsten Tagen erfolgen. Sobald Herr Moya genügend akklimatisiert und in Form sei, komme er zum Einsatz in der Schweizer Meisterschaft. Diesmal hatten Präsident Vilas und Mutter Ada keine Chance, seinen Transfer zu hintertreiben. Natürlich gäbe es verlockendere Aufgaben, als beim Grasshopper-Club zu spielen, streute Pablo in seiner Umgebung, doch Zürich sei ein ideales Sprungbrett. Vilas offerierte ihm mit gezwungenem Lächeln, dass die Türe bei Olimpia für ihn offen blieb, sollte ihm der Job bei den Grasshoppers nicht zusagen. Nicht immer lief es ja so glatt wie bei Naxquitl im VfB Stuttgart. Die Transfersumme, die er gerade aushandelte und Pablo vorenthielt, lag an der unteren Grenze der Erwartungen. Sie stimmte aber insofern, als sie fast den Betrag erreichte, den er seinerzeit für Naxquitl erhalten hatte. Jedenfalls genügte das Geld, um Spitzenkräfte von anderen Vereinen abzuwerben. Ada hüllte sich in Schweigen. Nur einmal, als sie ihrem Sohn allein begegnete, sagte sie traurig: »Erinnerst du dich an unsere Gebete in der Kirche? Und ans Gespräch beim Kaffee?« Ofélia hingegen war aufgekratzt. Im Kreis ihrer Freundinnen baute sie Luftschlösser, die sie mit Abenteuern und Luxus bevölkerte. Von Uhren, Schmuck und Mode redete sie, von Einkäufen auf der Zürcher Bahnhofstraße, von Badefreuden im
See, flitzenden Sportwagen, Tanzabenden in Nobellokalen, Festen nach Kantersiegen. Als Ruben von der Entscheidung hörte, suchte er das junge Paar auf und sagte: »Ich weiß nicht recht, ob ich schon andeutungsweise gefragt habe. Wie wäre es, wenn ich euch begleiten würde?« Ofélia brauchte keine Sekunde Bedenkzeit: »Super, Ruben! In Zürich wirst du am Platz mit den Tramwagen und der Schokolade arbeiten. In dem Renommierwürfel mit den langen Fensterreihen. Und uns berätst du mit diesen – « » – Franken.« »Eine Stelle bei der CS-Holding oder der Union Bank of Switzerland würde mir schon behagen. Wenn die mich nehmen«, sagte Ruben und hielt die Handflächen nach oben, »euch behilflich zu sein, macht mir Freude. Halb GrasshopperFan bin ich auch schon.« Pablo brauchte etwas länger, um Rubens Vorschlag gutzuheißen. Doch bald sah auch er nur Vorteile, wenn der Freund mitkam. Sie brauchten einen Agenten, dem sie vertrauen konnten, der sie persönlich und finanziell beriet. Vor der Unterschrift waren die endgültigen Verträge zu prüfen, nachher eine Flut von Problemen zu lösen: Wohnungsmiete, Einrichtung, Auto, Bankkonto, Lebensmittel, Haushaltshilfen und manch Unerwartetes. Zwar kannte Ruben Europa ebenfalls nur vom gemeinsamen Kurzaufenthalt, doch Intelligenz und Ausbildung prädestinierten ihn, sich im Nu zurechtzufinden. Sein Beistand versprach, den Start in Zürich wesentlich zu erleichtern, den Rahmen zu schaffen, um sich als Topspieler zu bewähren. Im Bund mit Ofélia würde ihm Ruben den Rücken frei halten. Auch die Sprache spielte eine große Rolle. Für sich selbst sah er kaum Möglichkeiten, in nützlicher Frist Deutsch zu lernen, wohl aber für Ruben, dem auch sein Englisch zustatten kam. Bei den Grasshoppers war es hilfreich, dass es
Spieler mit spanischer Muttersprache gab, die ihm die Anweisungen und taktischen Konzepte des Trainers übersetzten. Ofélia erhielt – wie vorbesprochen und im Vertragsentwurf vermerkt – die Gelegenheit, ein Handelsdiplom zu erwerben. In der Öffentlichkeit wurde Pablos Abschied kritisch kommentiert. Nachdem Naxquitl abgesprungen war, kam sein Transfer für viele einem Verrat gleich. Hinzu kam, dass Enrique Pavón ebenfalls nach Europa wechselte. Bei Olimpia wurde wieder ein Neuaufbau nötig, Real España gedachte das kalt auszunützen. Was die Ergänzung des Kaders durch Neuverpflichtungen anbetraf, sah Vilas keine Probleme. In der Kasse klingelte es. Aber aus den Neuen und Alten ein schlagkräftiges Team zu formen, war eine Herausforderung. Vor der Abreise rief Trainer Antic Pablo an und versicherte ihm, wie Naxquitl gehöre er selbstverständlich weiterhin zum Kader der Nationalelf, als Hoffnungsträger für die Zukunft. Aufgrund eines international gültigen Gesetzes hatten die Arbeitgeber in Übersee die Spieler für Ländermatches freizustellen. Bebeto spielte sowohl bei La Coruña in Spanien als auch in der brasilianischen Nationalmannschaft. Mit dem Protest der Fans hatten Ofélia und Pablo nicht gerechnet. Eines Abends erschien eine Rotte vor ihrem Haus und machte ein fürchterliches Geschrei: »Luna, Judas, Luna, Judas! Du musst bei uns bleiben, Judas Luna! Drüben wirst du noch in einem Gletscherspalt erfrieren! Mach deine Tore für Olimpia! Gegen Motagua und Marathón! Luna, wir mögen dich sehr! Luna bleib hier in Tegucigalpa, Judas, Luna, Judas!« Ofélia versuchte, die Situation zu entschärfen. Sie winkte den Anhängern ihres Mannes vom oberen Stock aus und schickte ihnen Kusshände. Als sie trotzdem nicht abziehen wollten, offerierte sie ihnen Gebäck, SalvaVida und Sprudelwasser, bis der Kühlschrank leer war. Die Aufwartung beruhigte die Fans.
Sie fraternisierten mit den Moyas und nahmen ihnen das Versprechen ab, bald nach Honduras heimzukehren, spätestens für die Spiele um die nächste WM-Qualifikation. Kaum war der Rummel abgeflaut, meldete sich Isabel aus Stuttgart: »So gut, Pablo, dass ich dich erwische! Unzählige Male hab ich’s versucht, deine Leitung läuft heiß. Bruderherz, ich bin schon ganz aufgeregt, euch in Zürich zu besuchen. Einfach super, dass sie dich nehmen! Grasshopper ist gar nicht so übel. – Aha? Bei uns ist es Morgen. Schon etwas regnerisch und kühl. Naxquitl ist voll ins Team integriert, und denk dir, ich durfte im Opernhaus auftreten! In einem modernen Ballett. Lass uns Telefonnummer und Adresse wissen, sobald ihr ankommt! Freut sich Ofé?« Erfreuliche Nachrichten kamen von Enrique. Nicht nur war er als zweiter Torhüter mit der Option, in Kürze zum Stammkeeper zu avancieren, bei den Berner Young Boys untergekommen, sondern er hatte auch eine Frau gefunden und wollte heiraten. »Wie heißt die Glückliche?«, fragte Ofélia. »Estela«, antwortete Enrique. »Hübsch und klug«, schmeichelte ihm Ofélia, welche die Braut oberflächlich kannte. Sie erkundigte sich, wann die Vermählung stattfinden sollte. »In zehn Tagen. Glaubst du, dass ihr dabei sein könnt?« »Au, da sind wir bereits in Zürich! Die Abreise können wir unmöglich verschieben. Die Grasshoppers sind ungeduldig und wollen, dass Pablo gleich zu Beginn der Rückrunde loslegt. Hast du eine Ahnung, wie weit Bern und Zürich voneinander entfernt sind?« »Wenn ich mich nicht irre, weniger weit als Tegucigalpa von San Pedro Sula«, beruhigte sie Enrique, »und vierzehn Tage nach euch sind wir auch in der Schweiz!«
Ruben fand bei Credomatic zunächst kein Verständnis, als er fristlos kündigte. Der Direktor rief ihn zu sich und gab ihm zu verstehen, mit einem Wiedereinstieg könne er nie mehr rechnen. »Ich bitte Sie um Verständnis, Herr Direktor. Die Gelegenheit ist einmalig«, erklärte Ruben. »Mein Freund Pablo Moya, der Fußballstar, braucht Unterstützung. Ich erhalte einen Anteil von seinem Gehalt. Zudem habe ich bei den Großbanken in Zürich vorsondiert und hoffe auf eine Stelle. Im positiven Fall könnte ich Kontakte für sie einfädeln.« Diese Argumente stimmten den Boss milder. Er änderte den Tonfall und fragte, wie er sich eine Zusammenarbeit denn vorstelle. »Kontoeröffnungen und Überweisungen fallen leichter, wenn ein Mann des Vertrauens vor Ort tätig ist. Was gewisse Honduraner alles in Zürich hörten, wissen Sie ja. Vielleicht kann ich auch mit Informationen dienen, an die Außenstehende nicht herankommen. Ich denke an Entwicklungstrends von Börsen- und Devisenkursen.« Dem Direktor war nun klar, welche Möglichkeiten sich für Credomatic eröffneten. Beziehungen zu Banken in der Schweiz zu knüpfen, das versprach Erfolg. Per Handschlag akzeptierte er Rubens Vorschlag, in Zukunft einen vertraulichen Kontakt zu pflegen.
Weil Ada ihrem Sohn das Engagement bei den Grasshoppers nicht ausreden konnte, packte sie eine Art Torschlusspanik. Sie fuhr nach Valle de Angeles, um in der Werkstatt von Ofélias Vater Arturo nach Schnitzwerken zu suchen. Der ältere Herr empfing sie nicht sehr freundlich, gab er ihr doch eine Mitschuld daran, dass seine Tochter auswanderte. Nur unter Murren ließ er Ada mitnehmen, was ihr gefiel, obwohl sie ihn
großzügig entschädigte. Früher war Arturo eine Stütze ihres Geschäfts gewesen, heute war es umgekehrt. Adas Laden an der Avenida Morazán florierte und verschaffte der Kunstschreinerei Garcia manchen Auftrag. Ada kehrte mit Tragtaschen voll Schnitzereien in ihr Heim zurück und begann unverzüglich, die geschnitzten Affen, Fische und Aras eigenhändig zu kolorieren. Auf Juans Rat hin hatte sie einen Malkurs besucht, Staffelei, Farben und Pinsel gekauft. Jetzt wollte sie Ofélia und Pablo die schönsten Stücke mitgeben, um ihre Wohnung in Zürich zu schmücken. Weitere Schnitzwerke waren nachzusenden mit der Bitte, einen geeigneten Laden dafür ausfindig zu machen. Ihr schwebte ein Export der Produkte vor. Ursprünglich kam die Idee von Juan, der immer mehr vom Bananen- zum Krevettenhandel überging. Ada und Ofélia tätigten gemeinsame Einkäufe, trugen den Inhalt des Fluggepäcks zusammen und füllten zwei Überseekisten. Ofé amüsierte der Übereifer, der Ada beseelte. Eine Küchenuhr zu besorgen, war wirklich nicht nötig, wenn die Reise in die Schweiz ging. Kleider mit honduranischen Motiven oder T-Shirts aus Copán schon eher, auch Packungen mit Gewürzen, frischen Kakao- und Kaffeebohnen. Da Ofélia von den Schaufenstern der Modeboutiquen in Zürich entzückt war, wollte sie mit dem Kleiderkauf zuwarten. Während die Frauen packten – Ofés Mutter Barbara half ebenfalls mit –, trainierte Pablo noch intensiver als sonst. Präsident Vilas hatte ihm gestattet, die Einrichtungen von Olimpia weiter zu benutzen. Noch wurmte es Luna, dass er auf dem Fahrrad nur eine mittelmäßige Leistung vollbracht hatte. Über eine Spitzenkondition zu verfügen, schien ihm entscheidend. Auch feilte er stundenlang an der Technik. Elsa besorgte die Reiseunterlagen. Ihr Ziel war, ein eigenes Büro zu gründen. Längst war sie nicht mehr allein für die Region Karibik zuständig, sondern organisierte auch Handels-
und Vergnügungsreisen in die Vereinigten Staaten und nach Europa. Ruben holte bei ihr die Reisedokumente ab. »Was treibt denn dich nach Zürich?«, fragte Elsa. »Ich bin Impresario oder Manager des Stars Pablo Moya«, grinste Ruben, »Koryphäen mit Megaverdienst brauchen Leute wie mich.« Was den Lohn anbetraf, war bisher nur ein Rahmen abgesteckt. Ruben versprach Pablo, so viel wie möglich für ihn herauszuholen, eine Leistungskomponente zu vereinbaren und auf eine hohe Versicherung bei anfälligen Verletzungen zu pochen. Da Elsa gerne fotografierte, wollte sie Ofélia und Pablo eine Vergrößerung mitgeben. Das Motiv bereitete ihr Kopfzerbrechen, bis ihr die Christusstatue auf dem Picacho in den Sinn kam. Mit Kamera, Stativ und Fadenauslöser ging sie nachts zum Hotel Honduras Maya und nahm das Lichtermeer am gegenüberliegenden Steilhang auf. Darüber segnete der monumentale Christus im grellen Neonlicht die Stadt. Die Spanne der verwendeten Belichtungszeiten und Blenden garantierte Elsa, dass eine der Aufnahmen gelang und sich problemlos vergrößern ließ. Der Abschied auf dem Flughafen von San Pedro Sula war kurz, aber intensiv. Vor der Passkontrolle weinten Ada, Ofélia und Pablo, während Juan abseits stand und sich bemühte, die Rührung zu unterdrücken. Er hatte einen Tag frei genommen und die Moyas in seiner Limousine selbst hergefahren. Als Ada ihren Sohn umarmte, stand ihr das Schicksal von Carlos wieder vor Augen.
18
Anders als in Honduras fiel das Echo auf den Transfer von Pablo Moya an den Stammtischen in Zürich aus. »Mal sehen, wie sich der Mittelamerikaner macht, ob er einen Stammplatz im Grasshopper-Team schafft«, lautete der Tenor. Beim Aussprechen von »Tegucigalpa« gerieten die Lokalproleten ins Stottern. Mit dieser Hauptstadt waren sie ebenso wenig vertraut wie mit Duschanbe in Tadschikistan. Was sie nicht daran hinderte, auf das Wohl der Grasshoppers und auf Lunas Potential anzustoßen und ein gepfeffertes Saisonende zu verlangen.
Vom Hotel zum Storchen aus, wo die Moyas wie beim Probetraining einquartiert wurden, war es recht weit bis zu den Trainingsfeldern auf dem Förrlibuck neben dem HardturmStadion. Pablo nahm ein Taxi und kam zwanzig Minuten zu spät gemütlich zum ersten Training angezottelt. Anstatt ihn zu begrüßen, schnauzte ihn Trainer Karl Haubold an: »Hier beginnen wir pünktlich!« Nur Alberto Casas und José Moreno riefen herzlich: »Hola Pablo, bienvenido!« Später raunten sie ihm zu, er müsse mindestens eine halbe Stunde vor Anfang des Trainings auf dem Förrlibuck erscheinen, damit er genügend Zeit habe, um sich umzuziehen und mit den Kameraden ein paar Worte zu wechseln. Besonders gefalle es Haubold, wenn die Spieler bei seinem Erscheinen schon ein paar Runden in den Beinen hätten. Alberto übersetzte Haubolds Anweisung, Pablo solle sich noch einlaufen, bevor er an den Ballübungen teilnehme.
Gehorsam rannte er um den Platz, bis er ordentlich ins Schnaufen kam. In Form fühlte er sich gar nicht. »Habe ich den Klimawechsel und die Zeitverschiebung noch nicht überwunden?«, fragte er sich, schließlich waren sie erst drei Tage in der Schweiz, »oder hat der Umzug meine Nerven zu sehr strapaziert?« Jedenfalls verstolperte er später die simpelsten Pässe. Auch beim Trainingsspiel auf dem Feld, das auf ein Viertel verkleinert wurde, um Körperkontakte zu provozieren, war er ungeschickt. Ein hünenhafter Mulatte, der aus Nordbrasilien stammte und Lala genannt wurde, imponierte Pablo. Er war nicht nur ein hervorragender Stürmer, sondern sprach auch leidlich Spanisch, da er einige Jahre in Uruguay gelebt hatte. Er pflegte die Augen zu rollen. Der Kapitän der Mannschaft, Herbert Kauer, verhielt sich Pablo gegenüber zurückhaltend, behandelte ihn aber mit Respekt. Er spielte in der Abwehr und strahlte Ruhe und Übersicht aus. Nach einer weiteren sportärztlichen Untersuchung, die passable Resultate ergab, wurde Pablo offiziell von Urs Pfister empfangen. »Herzlich willkommen bei den Grasshoppers, Herr Moya«, brummelte der Präsident, putzte die Hornbrille mit dem Taschentuch, erhob sich aus dem Ledersessel und schüttelte ihm die Hand, »wir freuen uns auf eine Zusammenarbeit der Superlative. Dank namhafter Verstärkungen, unter anderem durch Sie, werden wir vom fünften auf den ersten Tabellenplatz vorrücken und noch den Meistertitel holen.« Eingehend erkundigte er sich nach seinem Befinden und den Eindrücken von der Stadt, ob er sich mit dem Betreuer verstehe und ob sich seine Frau wohl fühle. Nach erfolgter Übersetzung nickte Pablo oder bejahte mit einem eifrigem »si, Señor«. Auch Ruben war gefordert. Die Crédit Suisse lehnte seine Bewerbung um eine Anstellung ab. Darauf meldete er sich bei
der Union Bank of Switzerland, der UBS, wo ihm Interesse signalisiert wurde. Allerdings haperte es mit der definitiven Antwort. Im Grunde genommen war er dafür dankbar. Seine Aufgabe als Spieleragent nahm mehr Zeit in Anspruch als erwartet. Die Lohnverhandlungen für Pablo zogen sich in die Länge. Über Erfolgshonorar und Versicherung des Unfallrisikos wurde bald Einigkeit erzielt, nicht aber über das Basisgehalt. Ruben beharrte auf den 200 000 Franken Jahreslohn, die in den Vorgesprächen als Richtgröße gedient hatten, doch Urs Pfister offerierte nur noch 150 000, was die Honduraner diskriminierend fanden. Hartnäckig wies Ruben auf die Kosten für die Lebenshaltung hin. Zürich war ein teures Pflaster. Die Einigung lag schließlich nahe bei den Forderungen des Spielers und entsprach den tiefstmöglichen Konditionen des Vorvertrags. Etwas versüßt wurde die Vereinbarung durch einen sofort verfügbaren Anschaffungskredit. Die Anmeldung bei den Behörden der Stadt Zürich war ebenfalls mühsam. Eine Beamtin der Kantonsverwaltung, die weder Spanisch noch Englisch konnte, erklärte mit Hilfe eines Übersetzers, das bewilligte Kontingent für außereuropäische Immigranten sei ausgeschöpft. Sie bedauere aufrichtig, dass sie wie andere illegal Eingereiste in ihr Heimatland zurückreisen müssten. Diese Verfügung rief den Spielerbetreuer der Grasshoppers auf den Plan. Mit dicken Adern an den Schläfen bewies Franz Schmid anhand von Dokumenten, dass die Aufenthaltserlaubnisse für Pablo Moya, Frau Ofélia García de Moya und Impresario Ruben Fuentes bereits vorlagen und amtlich beglaubigt waren. Damit gab sich die Beamtin jedoch nicht geschlagen. Sie zog die Echtheit der Unterlagen in Zweifel. Erst nach Intervention des Beauftragten für Public Relations, der mit einer Pressekampagne drohte, löste sich der
Knoten. Die Bewilligung wurde mit dem Nachsatz erteilt: »Zu erneuern innerhalb von Jahresfrist.« Ofélia beeindruckten die Blüten des Amtsschimmels wenig. Sie blieb fröhlich und unbeschwert. »Eure Empfindlichkeit ist geradezu mimosenhaft«, warf sie Pablo und Ruben vor, »ein Europäer in Tegucigalpa wäre noch lange nicht so weit.« Mit schlafwandlerischer Sicherheit vertraute sie auf die Fähigkeit des Klubs, die Probleme innerhalb nützlicher Frist zu lösen. Die Grasshoppers wollten Pablo haben. Ihrer Meinung nach ging es nicht um die Aufenthaltserlaubnis, das musste ja klappen, sondern darum, dass Luna dank seiner spektakulären Auftritte rasch ins Rampenlicht des Sportgeschehens rückte. Was sie auch zuversichtlich stimmte, war die prompte Auszahlung des Sonderkredits für die Einrichtung der Wohnung. Weil der letzte Lohn von Olimpia noch immer unbezahlt blieb, wie Pablo von Ada am Telefon erfahren hatte, wusste Ofé das besonders zu schätzen. Mit Isabel in Stuttgart stand sie täglich in Kontakt, nun auch mit Estela, der frisch angetrauten Frau von Enrique. Drei Tage nach der Heirat waren die Pavóns wohlbehalten in Bern angekommen und freundlich empfangen worden. Schon planten sie ein Treffen mit den Moyas. Wie bereits beim ersten Kurzaufenthalt fand Ofélia die Läden der Stadt äußerst attraktiv. Ein duftiges Seidenkleid von Lagerfeld lag schon einmal drin, am Tag darauf eine tomatenrote Bluse und karierte Stretchhosen von Gucci. Sie genoss es, mit ihrer Kreditkarte Vorschuss zu beanspruchen. An Sprünglis Champagnertrüffeln hatte sie sich schon am zweiten Tag überessen. Nur ihr Mann konnte nicht genug davon kriegen.
Der Aufenthalt im Hotel zum Storchen neigte sich dem Ende zu. Franz Schmid erschien und sagte: »Pablo und Ofélia, ich habe eine Wohnung für euch gefunden. Wollt ihr sie anschauen?« Ofélia, die etwa so viel Englisch wie Schmid Spanisch sprach, antwortete: »Yes and what about Ruben?« Schon am nächsten Tag zeigte ihnen Betreuer Schmid zwei benachbarte Terrassenhäuser am Hönggerberg. Die Aussicht umfasste Stadt, See und die Schneeberge im Hintergrund. Nachdem sich die Honduraner von der Qualität des Angebots überzeugt und festgestellt hatten, dass das Hardturm-Stadion mit dem Wagen in nur fünf Minuten zu erreichen war, stimmten sie zu. Während Pablo mit frischem Eifer trainierte, kauften Ofélia und Ruben mit dem Betreuer Möbel und Haushaltartikel ein, die in größeren oder kleineren Portionen antransportiert wurden. Über das Doppelbett hängte Ofélia Schnitzfiguren aus Adas Spezialsendung. Eines Abends überraschte sie ihren Mann dabei, wie er einen großen Haken in die Wand des Wohnraums trieb. »Was machst du da?«, fragte sie. »Das wirst du gleich sehen,« grinste er, montierte gegenüber einen zweiten Haken, holte eine Hängematte aus dem Koffer, spannte sie auf und wiegte sich darin. »Bringst du mir eine heiße Schokolade?«, bat er dann und schmatzte zufrieden, als er das Gewünschte erhielt. Über dem Sofa erinnerte das Bild mit Picacho und Christusstatue, das ihnen Elsa geschenkt hatte, an Tegucigalpa by night. Als die Wohnungen fürs erste eingerichtet waren, weihten sie zuerst die eine, dann die andere ein. Zwar schmeckte das helvetische Bier lange nicht so gut wie das honduranische, immerhin aber so gut, dass sie sich gerne einen Schlummertrunk genehmigten, wenigstens bis die Kisten SalvaVida per Flugfracht eingetroffen waren. »Call me Franz«, sagte Betreuer Schmid beim nächsten Besuch und eröffnete ihnen, übermorgen treffe
ihr Audi ein. Er sei in den Grasshopper-Farben blauweiß bemalt, sofern sie das nicht störe. »Ein Zebra«, spaßte Ofélia. Pablo nahm den Faden auf: »Ich spiele doch bei beiden, bei den Heuschrecken und den Zebras.« Die Führerscheine, die sie mitgebracht hatten – auch Pablo war dabei, sich zu einem Autofreak zu entwickeln –, waren international gültig. Ohnehin schien es einfacher als in Honduras, hier einen Wagen zu lenken. Weniger Chaos, eindeutigere Verkehrsschilder, seltener Hupkonzerte. Auf Voranmeldung stand ihnen sogar ein Chauffeur zur Verfügung. Dann kam Franz auf die Küche zu sprechen. Er gab ihnen die Adresse eines mexikanischen Ladens, der Tortillas und Chili anbot. Unerwartet ging er näher auf den Speisezettel ein. Bis zwei Stunden vor dem Training und erst recht vor Ernsteinsätzen musste Pablo reichlich Kohlehydrate zu sich nehmen. Gerichte mit dunklem Brot, Vollkornnudeln oder Reis waren ideal, Traubenzucker verpönt, besonders vor Matchbeginn, da dieser im Körper zu rasch abgebaut wurde, sodass gegen Spielende die Leistung abfiel. Er empfahl auch Hülsenfrüchte und fragte: »So etwas isst man doch in Honduras?« »Ja, Frijoles!«, rief Ofélia begeistert, denn sie liebte den Bohnenbrei über alles. Was die Eiweiße anbetraf, waren Fisch, Geflügel und rotes Fleisch vorzuziehen, Käse und andere Milchprodukte zwar nicht verboten, aber mit Zurückhaltung zu genießen. Unter den Fetten rühmte Franz die kaltgepressten Öle, vor allem Olivenund Sesamöl. Auch die Getränke erwähnte er. Isostar ersetze ideal jeden Flüssigkeitsverlust durch Schwitzen, Coca Cola und Pepsi seien ungeeignet. Der Schluss des Sermons lautete so: »Ihr bekommt eine Köchin aus Mexiko. Sie heißt Graciela und kocht die Abendmahlzeit. Für Frühstück und Mittagessen müsst ihr
selbst sorgen. Ein dringender Rat noch: Schnäpse wie Tequila sind strikt verboten, ein Glas Bier oder Wein ist nur an spielfreien Tagen erlaubt.« »Und Schokolade?« »Ist ungesund. Auf Süßigkeiten verzichtet ihr besser.« »Schluss mit den Champagnertrüffeln, hast du’s gehört, Pablo?«, konnte Ofélia ihre Schadenfreude nicht verbergen. Als Franz Schmid aus dem Haus war, wählte Pablo die Nummer von Ada. Er erzählte ihr von Training, Wohnung und Überprüfung der Fitness, von Ofélia und Ruben, von Tortillas, Chili und Frijoles. Bei Olimpia habe niemand Essvorschriften erlassen. Der Kontakt zwischen Haubold und Pablo bereitete Schwierigkeiten. Auf dem Förrlibuck versuchte der Trainer, ihm über Dolmetscher zu erklären, er habe die Rolle eines Außenbahnspielers zu erfüllen. Diese Position war jetzt modern, die Zange der Brasilianer Cafu und Roberto Carlos wurde gerade berühmt. Von hinten her gingen sie längs der Seitenlinien in die Offensive und rissen die gegnerische Abwehr auseinander. Pablos Funktion bei den Grasshoppers wich nur wenig von der bei Olimpia ab. Doch in Tegucigalpa hatte ihn Sophokles in der vorderen Außenbahn eingesetzt, hier sah das Konzept vor, dass er die gesamte Bahn auszunützen hatte. Weil er das nicht begriff, blieb er nach Flügellauf und Flanke in der Platzmitte stehen, anstatt zurückzulaufen. Haubold konnte an der Seitenlinie fuchteln, so viel er wollte. »Fehlt dir die Kondition, um nach jedem Angriff zurückzuspurten?«, verdächtigte er Pablo und ließ die LaktatBestimmungen nach Belastung wiederholen. Obwohl die Werte gut ausfielen, kanzelte er ihn ab: »Hilfstrainer Fritz wird dir ein Programm zur Ergänzung aufbrummen, dass dir Hören und Sehen vergehen.« Solche Sprüche beleidigten Pablo und
verzögerten seine Integration ins Team. Sah denn Haubold nicht ein, dass sein Verhalten auf Missverständnissen und nicht auf mangelnder Ausdauer beruhte? Wegen des zusätzlichen Fitnesstrainings musste Luna das Individuelle drosseln. Immerhin: Fritz übertrieb nicht. Als es den beiden eines Abends stank, Runden zu drehen und um die Stangen des Parcours zu kurven, gingen sie zu Ofélia, die sie mit einer topmodischen Seidenbluse verblüffte. Der Kühlschrank überbordete jetzt von SalvaVida-Bier, das dem Assistenztrainer ebenfalls mundete. Dazu servierte Graciela leckere Häppchen. Sie hatte ihre Aufgaben als Köchin bereits fest im Griff. Ihre Rundungen kaschierte sie geschickt unter Rock und Schürze. Während Ofélia und Pablo an einem trainingsfreien Montag auf Estela und Enrique warteten, die mit dem Zug aus Bern kommen sollten, lernten sie erstmals das Leben in einem Großbahnhof kennen. In Honduras wurde nur aufs Auto gesetzt. Das antiquierte Modell der letzten Eisenbahn des Landes verrottete auf einer Trasse, die San Pedro Sula mit dem Karibikhafen Tela verband. Kreuz und quer hasteten Menschen durch die Halle, peilten Bahnsteige und Kartenschalter an oder ließen die Blicke suchend durch die Menge schweifen. Leute drängten sich an den Kiosken und schmökerten in Zeitschriften. An strategischen Punkten bildeten sich Gruppen, die auf Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Italienisch, Kroatisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch oder Türkisch drauflos schwatzten. Seltener kamen Afrikaner in Turbanen und wallenden Gewändern. Ihre Begleiterinnen stolzierten erhobenen Haupts durch die Halle und spielten mit neu erworbenen Halsketten und Armspangen. Invalide fuhren in Rollstühlen, die mit Elektromotoren ausgerüstet waren, zu den Bahnsteigen, eine Bagwoman zog ihren Hausrat in Zwilchsäcken auf einem Rollwagen hinter sich her. Die
Honduraner staunten über das Leben im Sackbahnhof, über die angegliederten Geschäfte und die Plastik einer dicken Frau, die rot und dick von der Hallendecke baumelte und das Treiben unter ihren Füßen zu verspotten schien. Besonders beachteten sie die große Anzeigetafel, die auf Reiseziele, Gleisnummern und Abfahrtszeiten hinwies. In Leuchtschrift erschienen die Namen Milano, Stuttgart, München und Paris, Namen, die den Puls von Fußballspielern beschleunigten. »Milano«, musste Pablo nicht zweimal überlegen, »bedeutet AC Milan oder Inter.« Stuttgart wurde erst wichtig, wenn man »VfB« oder München, wenn man »Bayern« voranstellte, Paris, wenn man »Saint Germain« anhängte. Was für Möglichkeiten auszuschwärmen! Zürich war für Ofélia und Pablo ein Aufenthaltsort auf Zeit, an dem die Weichen für ihre Zukunft gestellt wurden. Wohin würden sie dereinst abfahren, auf welchen Geleisen? Da zerstreuten vertraute Gesichter ihre Gedanken. Estela und Enrique schälten sich aus der Menge, die aus einem Bahnsteig quoll. Beim Treffpunkt fielen sich die Paare um den Hals, klopften sich auf die Rücken, riefen »Hola«, »Hombre« und »Mujer« und gingen unverzüglich in die Cafeteria des Bahnhofs, wo der Kaffee schrecklich fade schmeckte. Enrique beschwerte sich lauthals, wie martialisch ihm der Torhütertrainer zusetzte. Oft kam er sich zwischen den Pfosten vor wie eine Schießbudenfigur. Aber Enrique hatte bereits den ersten Einsatz in der Meisterschaft hinter sich. Sein Vorgänger war des Flutlichts überdrüssig geworden, kampfmüde mit seinen 35 Jahren. Beim ersten Spiel war es Enrique gelungen, das Tor rein zu halten. Young Boys hatte 1:0 gewonnen. Derartige Erfolge konnte Pablo nicht vorweisen. Bisher hatte er nicht einmal die Ersatzbank gedrückt, sondern von der Tribüne aus miterleben müssen, wie die Grasshoppers gegen Servette Genf ein 1:1 Unentschieden erkrampften. Bei heißen
Szenen hatte es ihn mächtig in den Zehen gezuckt. Hier hätte er den Ball mit dem Außenrist weitergeleitet, dort eine Finte versucht, nicht lange gefackelt und Vollspann losgeknallt. Enrique machte ihm Mut. Für Feldspieler sei es schwieriger als für Torhüter, meinte er, sich in einer neuen Mannschaft zu bewähren. Auf dem Rasen entschied das blinde Verständnis zwischen den einzelnen Akteuren, im Tor war die Rolle des Keepers weltweit identisch, wenn man von der Abstimmung mit der Verteidigung absah. Pablos Handy piepste. »Isabel!«, freute er sich. »Wir sitzen gerade mit Estela und Enrique zusammen. Super, wenn ihr bald kommt! Oder wir besuchen euch in Stuttgart. Ich rufe dich zurück.« Estela schlug ein Treffen der drei Paare in Bern vor, Ofélia in Stuttgart. Die süddeutsche Metropole schien ihr spannender. »Ich habe gehört, dass Bern schon etwas verschlafen ist«, frotzelte sie. Dass drei honduranische Spitzenspieler und Freunde im deutschsprachigen Raum wirkten, war aufregend. Gegenüber seinen Kameraden hatte Naxquitl einiges an Erfahrung voraus. Wie er ihre Zukunftschancen beurteilte, interessierte Pablo und Enrique brennend. Als sie später auf der autofreien Bahnhofstraße spazierten und links und rechts auf die Schaufenster schielten, kam Estela auf Ofélias Bemerkung zurück: »Ein bisschen verschlafen ist dieses Bern tatsächlich. Die Tiere im Bärengraben sind dick und satt. Aber gemütlich ist es bei uns, viel weniger hektisch als hier in Zürich.« Vis-à-vis schlenderte Ruben über den Gehsteig. Er kam von einem Einstellungsgespräch bei der UBS und wich in Gedanken versunken einer Gruppe japanischer Touristen aus, die gegenseitig ihre neu gekauften Uhren bewunderten. Pablo überquerte eilig die Fahrbahn, ohne das verrückte Klingeln eines Tramwagens zu beachten.
»Na, hat’s bei UBS geklappt?«, rief er dem Freund von weitem her zu. »Es hat«, antwortete dieser und ergänzte das Quartett zu einem Quintett.
Pablo fiel es schwer, sich bei den Grasshoppers durchzusetzen. Es gab Tage, an denen er das ABC des Fußballs verlernt zu haben schien. Einen Ball korrekt zu stoppen, wurde dann zu einem Ding der Unmöglichkeit, das Tor zu treffen erst recht. Sämtliche Schüsse gingen über oder neben den Kasten, zwar oft nur um Zentimeter. Einen Zweikampf nach dem andern verlor er, die einfachsten Pässe kamen nicht an. Ofélia und Ruben versuchten, ihn an seine Qualitäten zu erinnern, an seine stupende Technik und sein Spielverständnis, ernteten aber nur unwirsches Dackelknurren. Dabei war er weder verletzt noch krank. Es war zum Verzweifeln in dieser Stadt, in der es so viele Abfallkörbe und putzige Tramwagen gab. Pablos Probleme stachen auch Haubold in die Augen. Da er mit Transfers aus Übersee Erfahrung hatte, verlor er nicht gleich die Nerven. Er wusste, wie viel Zeit die Akklimatisierung in Anspruch nehmen konnte. Trotz seiner Bedenken entschloss er sich Anfang März, das Experiment zu wagen und Pablo in der Startaufstellung zu berücksichtigen. »Den schmeißen wir mal ins kalte Wasser«, sagte er zu Hilfstrainer Fritz. Der Gegner hieß ausgerechnet Young Boys Bern. Und das Wetter war abscheulich. Es regnete, aber die Meteorologen prophezeiten Schnee. Verunsichert fragte Pablo, ob denn auf Schnee überhaupt gespielt werden könne. »Natürlich«, erklärte ihm Fritz, »das Zeug wird durch Maschinen platt gewalzt. Damit man den Ball besser sieht, ist er orangefarben. Die Stollen an den Schuhen werden dem
Boden angepasst, sie müssen nur genügend lang sein.« Haubold hatte eine Videoaufzeichnung des Spiels Young Boys gegen Basel viermal abspulen lassen und auf Organisationsfehler in der Berner Verteidigung aufmerksam gemacht. Pablo bekam mit, dass es auf der linken Abwehrseite des Gegners eine Schwachstelle gab. »Hüter Pavón – der kommt doch aus Chile? - ist zwar Klasse, kennt aber unsere Verhältnisse nicht, hat keine Ahnung von Schnee«, sagte der Trainer, »die rechte Innenverteidigung ist solid. Respekt verdient ihr Mittelstürmer. Schon bevor der in Ballbesitz gelangt, müssen ihn zwei bis drei Mann attackieren. Seht euch das mal an! Er hat die Gewohnheit, nach links auszuweichen, und trifft selbst aus spitzem Winkel.« Als sie vor dem Wankdorf-Stadion in Bern aus dem Bus stiegen, schneite es wie auf der ganzen Hinfahrt. Pablo legte den Kopf in den Nacken, sperrte den Mund auf und ließ einzelne Flocken auf der Zunge zergehen. Auf dem Terrain lag gepresster Schneematsch. Wie angekündigt wurden die Schuhe mit Spezialstollen ausgerüstet. Pablo fror und erhielt die Erlaubnis, unter den kurzen Hosen lange Unterhosen zu tragen. Aber er fühlte sich nicht in seinem Element. Bei einem Gleittackling verfehlte er den Ball und rutschte wie auf Kufen über die nasse Schneeschicht. Es roch nach Gras und Erde. Pablo hatte den Eindruck, seine Stollen seien zwar lang, aber noch immer viel zu kurz. Wollte er den Ball stoppen oder zu einem Dribbling ansetzen, glitschte er aus. Bei einem Eckball für die Grasshoppers flog der Ball zur Mitte des Strafraums. Enrique und Pablo sprangen gleichzeitig hoch. Enrique faustete, Luna köpfte, wobei sie mit den Schädeln so zusammenprallten, dass auf der Tribüne ein dumpfer Schlag zu hören war. Beide stürzten zu Boden und blieben benommen liegen. Weil die Eisbeutel auf der Stirn sie nicht wecken konnten, wurden sie von Sanitätern mit der
Bahre vom Spielfeld getragen. An der Seitenlinie kam Enrique zu sich und dräute mit dem Zeigfinger in Richtung Pablo. Nach einer Weile spielte er weiter. Luna jedoch erwachte erst in der Kabine, schaute verwirrt um sich und murmelte »Ada«. Haubold ballte die Fäuste und schickte einen Ersatzspieler aufs Feld. Gänsehaut lief ihm über den Rücken, als der Mittelstürmer der Young Boys im Schneematsch des Fünfmeterraums ausrutschte, dabei den Ball so traf, dass er gegen die Torecke rollte. Kauer spurtete mit letztem Einsatz herbei und befreite. Auf oder hinter der ominösen Linie? Nach Konsultation des Linienrichters erkannte der Referee auf Tor. Obwohl die Zürcher auf bedingungslose Offensive umstellten, schafften sie es nicht, den 1:0-Rückstand wettzumachen. Schlicht zum Kotzen war diese Niederlage. Die Grasshoppers kamen und kamen nicht vom Fleck. Anstatt auf dem ersten oder zweiten lag der Klub weiterhin auf dem fünften Platz der Tabelle. Und es war März, zwei Monate vor Saisonende. Ultimativ forderten Pfister und Haubold einen Schlussspurt mit Siegen in Serie. Damit des Ärgers nicht genug. Der Arzt diagnostizierte eine Gehirnerschütterung und verordnete Pablo eine Ruhepause, die er auf zwei Wochen veranschlagte. Liegen, liegen und nochmals liegen, hieß die Parole. Schon nach zwei Tagen hielt es Luna zu Hause nicht mehr aus. Als Franz und Fritz ihn besuchen wollten, war die Türe verschlossen. Ofélia war im Deutschunterricht und Pablo beim Essen im mexikanischen Lokal Trés Kilos. Nachdem er die falsche Tramnummer erwischt hatte und zuerst beim Museum Rietberg gelandet war, genoss er Carne asada, Frijoles und Tortillas. Der Kellnerin, die aus der Azteken-Metropole stammte, klagte er, ihm sei schwindlig. Wenn es so weiter gehe, müsse er zurück nach Honduras.
»Hijito Pablito, bitte lass das«, ermahnte ihn die Mexikanerin, »bald bist du wieder fit und machst die Tore, die du den Grasshoppers versprochen hast. Von nun an ist der Schnee kein Problem mehr. Soll ich dir nachschöpfen? Oder magst du ein Corona?« Pablos nächster Einsatz verzögerte sich weiter. Wegen eines Länderspiels der Schweizer Nationalmannschaft zur Vorbereitung der Weltmeisterschaft in den USA entstand eine Lücke im Matchkalender. Kurt Haubold nutzte die Gelegenheit zu einem Trainingslager. Nur die Spieler, die am Länderspiel teilnahmen, Herbert Kauer und Alberto Casas, waren abwesend. In Feusisberg logierte das GC-Team in einem Wellness-Hotel mit Baikonen über dem Zürichsee. Pablo teilte den Raum mit Lala. Seit der Niederlage in Bern und der Gehirnerschütterung hatte er erstmals den Eindruck, dass er die Form wiederfand. Jeden Morgen erwachte er mit unbändiger Lust am Fußballspielen. Haubold, der sein Engagement bereits als Fehlinvestition taxiert und ihn seit dem Young Boys-Spiel konsequent geschnitten hatte, schniefte anerkennend. Bei einem Trainingsspiel sagte er zu Fritz: »Hm, Luna hat einen untrüglichen Instinkt für Torchancen. Im Doppelpassspiel und mit Flügelläufen brilliert er.«
Daheim auf dem Hönggerberg lag Ofélia auf dem Sofa und guckte Fernsehen. Der Film des spanischen Regisseurs Pedro Almodovar, in Honduras wenig bekannt, war nicht übel. Graciela verwöhnte sie mit Pampelmusen-Cocktail und einem Schuss Tequila. Sie schlürfte aus dem Strohhalm. Aber Pablo war schon etwas lange fort. Am späteren Nachmittag kam Ruben und fragte: »Stör ich dich?«
Ofélia rührte sich nicht vom Fleck und fragte: »Warum auch? Hast du frei?« »Ja, heute ist doch Sechseläuten!« »Was ist denn das?« »Ein alter Zürcher Brauch. Wo ist Pablo?« »Bis am Dienstag im Trainingslager. Er hat angerufen und erzählt, dass er endlich wieder in Form kommt.« »Wäre an der Zeit«, sagte Ruben. »Sechseläuten, sollen wir da hingehen?« Ruben wusste nicht recht, was er antworten sollte. Ein Kollege hatte gewarnt, das Fest sei ein alter Zopf, verstaubt bis in die Falten der mittelalterlichen Zunftgewänder. Denn es war ein Fest der Zünfte, der Schneider, Bäcker, Metzger, Schreiner, Handelsund Schiffsleute. Eine sympathische Sekretärin der UBS war allerdings gegenteiliger Meinung und hatte ihm geraten, dass er dieses Spektakel ja nicht verpassen durfte. Höhepunkt war die Verbrennung des Böögg, ein Erlebnis für sich. Mit der Puppe eines Schneemanns wurde symbolisch der Winter verbrannt und der Beginn des Frühlings verkündet. Ofélia und Ruben packte die Neugier. Sie nahmen die blaue Straßenbahn, mit deren Geholper sie inzwischen vertraut waren. Im Stadtzentrum säumten dichte Zuschauerspaliere die Hauptstraßen. Noch schien die Sonne, doch an den schneeverkleisterten Bergspitzen ballten sich Wolken. Ofélia fiel auf, dass viele Leute Regenschirme bei sich trugen. Von Ausnahmen abgesehen fand sie das Wetter in Zürich garstig. Oft vergaß sie, sich klimagerecht auszurüsten, und musste dafür mit nassen Haaren und Kleidern büßen. Der Festumzug bewegte sich auf das Bellevue, den Platz des Sechseläutens zu. Eben marschierte die Kämbelzunft, die Zunft der Gärtner und Ölhändler, in Beduinengewändern über die Brücke, welche die Limmat an ihrem Ursprung im See überspannte. Kostümierte
Diener führten Kamele aus dem Zoo am Halfter. Eine Blasmusik spielte den Zofinger-Marsch und gab den Takt der Schritte vor. Die Bäckerzunft folgte und warf Semmeln in die Zuschauerspaliere, als es plötzlich zu donnern und zu blitzen begann. Und schon goss es. Ofélia suchte Schutz in einem Hauseingang. Mit verklebten Haaren und bübisch lachend kauerte sich Ruben neben ihr nieder. Sie sahen sich in die Augen – das Schwarz von Ofés Pupillen, das Ruben immer an Obsidian erinnerte, war verführerisch – und tauschten einen scheuen Kuss. Die Verbrennung des Böögg bekamen sie nicht mit. Von ferne nur hörten sie das Knallen der Patronen, die im Leib der Puppe steckten und durch das Feuer entzündet wurden.
Wenige Tage nach dem Sechseläuten und dem Ende des Grasshopper-Lagers kam Elsa auf Besuch. Im Auftrag ihres Reisebüros begleitete sie einen reichen Honduraner, der das Matterhorn sehen wollte. Als sie mit Pablo allein in der Wohnung am Hönggerberg saß – Ofélia war in der Stadt und Elsas Kunde schlief die Zeitverschiebung aus –, entspann sich ein lapidares Gespräch zwischen den Geschwistern. »Willst du dich nie mit einem Partner liieren?«, leitete Pablo ohne Umschweife den Dialog ein. »Vielleicht.« »Vielleicht?« Elsa gab nüchtern zu bedenken: »Wenn ich einen Partner finde, der mir entspricht, dann vielleicht schon.« »Oder gibst du anderen Plänen den Vorzug, willst du ein eigenes Reisebüro gründen?« Wieder antwortete Elsa mit »vielleicht«. »Vielleicht?« »Ja, wenn du mir mit einem Startkapital hilfst.« Ohne die Wimpern zu bewegen und eine Antwort abzuwarten, drehte sie
den Spieß um und fragte: »Aber sag jetzt du mir, wirst du morgen ein Tor schießen?« Nun wurde Pablo verlegen: »Vielleicht.« »Vielleicht?« »Wenn ich gegen Basel aufgestellt werde und mir das Glück hold ist, ja dann vielleicht.«
19
»Schieß! Luna, schieß endlich!«, kreischten Isabel und Ofélia mit geröteten Wangen. Doch Pablo zögerte im Strafraum, wechselte den Ball auf den stärkeren linken Fuß und musste mit ansehen, wie der Schuss vom Bein eines Verteidigers abgelenkt wurde. »Uh, uh, uh«, scholl Affengebrüll aus der Fankurve. Es ging in der Meisterschaft gegen Neuchâtel Xamax. Die Spielerfrauen saßen auf der Haupttribüne in einem speziell für sie reservierten Abteil der Ehrenloge. Isabel war aus Stuttgart auf Besuch, da Naxquitl ein Spiel in Hamburg bestritt und sie lieber nach Zürich als in den Norden reiste. Leandra, ihre kleine Tochter, die ein gutes Jahr alt war, wurde von einer Freundin gehütet. Pablo spielte inzwischen bereits die zweite Saison mit den Grasshoppers und gehörte zu den Leistungsträgern. Weitere Rückschläge waren ihm erspart geblieben. »Ei, ei, ei, jetzt versenk doch das Ei im Kasten! Für uns, Luna, für uns!«, lärmedierte Isabel aufs Neue, denn sie war ins Hardturm-Stadion gekommen, um sich an Pablos Künsten zu ergötzen. Kein Geplänkel wollte sie sehen, sondern Glanztaten. Aus vollem Hals stimmte sie »Guantanamera« an. Der Funke sprang zuerst zu den übrigen Frauen, dann zur Fankurve über. »Grasshoppers, zaubert für uns!«, kam es aus dem Mund der Partnerin von Lala, einer Brasilianerin, die mit Melonenbrüsten wackelte. Nichts zu wollen. Heute spielte eine Elf, die dem Wappentier der Grasshoppers wenig Ehre machte. Sie hüpften nicht wie Heuschrecken, sondern plump wie Frösche. Ohne Raumgewinn lief der Ball im Mittelfeld von Mann zu Mann,
bis der unvermeidliche Fehlpass unterlief. Die Frauen gähnten, die Fans vergaßen, ihre Choreographie zu zelebrieren. Doch unverhofft kam eine Minute vor der Pause Bewegung in die Ränge. Lala war es, der die GC-Anhänger erlöste. Der Brasilianer bediente Pablo mit einem Heber, erhielt das Streitobjekt per Außenrist retour, tankte sich zwischen zwei Verteidigern durch und schmetterte den Ball ins Netz. Die Frauen lagen sich in den Armen, plünderten die Tabletts der Eis- und Limonadeverkäufer und fanden das Leben wunderschön. Zu ihrem Leidwesen erwies sich das Tor als Strohfeuer. Nach dem Wiederanpfiff häuften sich die Fouls. Der Schiedsrichter verteilte Ermahnungen, doch weder gelbe noch rote Karten, denn die Vergehen gehörten zur Dutzendware. Die Spielerfrauen zischten, die Akteure machten Leichenbittermienen. Schüsse hatten Seltenheitswert. Wenn überhaupt wurden sie aus dreißig Metern Distanz getreten, flogen neben oder über das Gehäuse. Das Spiel war eine Demonstration, dass Fußball an einem schlechten Tag geradeso langweilen kann wie der graue Alltag. »In Stuttgart geht es athletischer, spektakulärer und kunstfertiger zu«, sagte Isabel zu Ofélia und erhielt prompt zur Antwort: »Du hast dir aber auch das miserabelste Spiel der Saison ausgesucht.« Die Fans fingen an, die Mannschaften auszubuhen und verlangten die Einwechslung von Spielern der Ersatzbank. »Wir wollen keine Holzfäller, Akrobaten wollen wir! Haubold, bring endlich Fantulla!« Die Quittung für die magere Leistung der Grasshoppers sollte erst noch kommen, obschon sie als Heimteam und aktueller Schweizer Meister haushoher Favorit waren. Das einlullende Spiel setzte bei einem Neuenburger Verteidiger einen Energieschub frei. Ball am Fuß überquerte er die Mittellinie, ohne behelligt zu werden, überlistete den ersten Gegner, der
ihn abzudrängen suchte, mit einem Trick aus der Mottenkiste, ließ den zweiten leer laufen und drang in den Strafraum ein. Dort wurde er am Trikot gezupft, stürzte vornüber, zappelte und wand sich wie ein Fisch, der an Land gezogen wird. »Schwalbe! Simulant!«, schrie Ofélia. Der Unparteiische handelte, wie griechische Götter zu handeln pflegen, allmächtig, aber wenig weise. Wenigstens aus der Sicht des Grasshopper-Clubs. Mit Zorn und Hochmut im Gesicht pfiff er Elfmeter, ohne den Linienrichter zu konsultieren. Protestgeheul und Getrampel in der Betonschüssel. Kapitän Herbert Kauer beschwerte sich beim Schiedsrichter und erhielt für seine scharfzüngigen Worte die gelbe Karte. Zum Strafstoß trat der Xamax-Verteidiger selbst an. Er traf eiskalt in den Torhimmel. Aus gekränktem Stolz rappelte sich der Heimklub auf, doch fehlte seinen Aktionen jede Inspiration. Die Angriffe versandeten vor dem Elfmeterraum oder endeten in der Abseitsfalle. Den Fans zuliebe wechselte Haubold tatsächlich Fantulla ein, der aber kaum über die Rolle eines Statisten hinauswuchs. Es blieb beim gerechten Unentschieden. Die Grasshopper-Frauen schimpften wie die Rohrspatzen. Wieder war nur ein Punkt im Trockenen. Von der letzten Saison her waren sie Besseres gewöhnt. Durch eine Siegesserie im Spätfrühling war GC bis zur Sommerpause in Sprüngen vom fünften auf den ersten Tabellenplatz gelangt. Je länger die Saison gedauert hatte, desto treffsicherer wurden Pablo und Lala. Casas futterte sie mit idealen Zuspielen. Hintereinander führten die Lateinamerikaner die Rangliste der Torschützen an. Ihrer Brillanz, Regisseur Casas und der soliden Verteidigung war es zu verdanken, dass die Grasshoppers den Meistertitel gewannen. Sie durften in der laufenden Saison die Champions League bestreiten. Die neue Saison – Start war vor drei Wochen in hochsommerlicher Hitze gewesen – hatte jedoch
enttäuschend begonnen. Das erste Auswärtsspiel endete 0:0 gegen Luzern, das dem Abstieg knapp entronnen war. Ofélia erklärte Isabel, die Sommerpause sei einfach zu kurz gewesen, um die Kräfte zu regenerieren, obwohl Pablo und sie den Urlaub an der Costa Dorada verbracht hatten und nicht in Honduras, was zu anstrengend gewesen wäre. Abends verfolgten sie die Weltmeisterschaften im Fernsehen, mit der Schweiz als Teilnehmer. Zu ihrer Verblüffung überstanden Casas, Kauer und Kameraden in den USA die erste Runde. Das Aus kam erst im Achtelfinale gegen Spanien. Wen wunderte es deshalb, dass den WM-Spielern der Grasshoppers, deren Sommerpause extrem verkürzt war, der Antrieb fehlte. Sie waren ausgelaugt und seufzten bei jedem Wehwehchen. In Honduras hatte das Versagen bei der WM-Qualifikation für 1994 Konsequenzen. Trotz der Einwände von Olimpia, das seinen Erfolgstrainer nicht ziehen lassen wollte, war Sophokles zum Nationaltrainer ernannt und Antic mit mickriger Entschädigung entlassen worden.
Beim Verlassen des Stadions pflückte Isabel einen verblühten Löwenzahn und blies in die Federkrone. Die Fallschirmchen wiegten und schaukelten sich im Wind. Zu gern wollte sie an der nächsten Weltmeisterschaft dabei sein. Für das Turnier in Frankreich 1998 musste es Honduras doch einfach schaffen. Bis in vier Jahren waren Naxquitl, Pablo, Enrique und mehrere Kameraden auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angelangt, sollten dann Weltformat haben. Beim Stadionausgang trafen Isabel und Ofélia auf Ruben, der sie umarmte und rief: »Tegucigalpeñas in Zürich, das zuckert den Alltag. Nach einem so lausigen Spiel.«
»Dein Grasshopper-Shirt ist ja viel zu groß«, neckte ihn Isabel. »Ja, um volle drei Nummern. Es muss mir auch im Winter passen, wenn ich darunter zwei Pullover trage.« Ofélia hatte eine Idee. Heute war ja erst Mittwoch und ausgerechnet an diesem Wochenende fand in Zürich die Street Parade statt, an der sie teilnehmen wollte. Pablo spielte dann in Lugano. »Passt mal auf«, sagte sie, »wollen wir nicht zusammen auf die Street Parade?« Ruben brauchte sie nicht zweimal zu fragen, Isabel schon, da sie sich nach ihrer Tochter Leandra sehnte. Auch war ihr der Anlass kein Begriff. Als sie aber hörte, man könne sich auf Love Mobiles den Frust aus dem Leibe tanzen, wurde sie hellhörig. »Love Mobiles sind geschmückte Lastwagen, die sich im Zeitlupentempo durch die Stadt bewegen«, erklärte ihr Ofé, »es werden fünfzigtausend Kostümierte und fünfmal so viele Zaungäste erwartet.« Ofélia rief Naxquitl auf dem Handy an und überzeugte ihn, dass Isabel als Tänzerin dieses Fest unmöglich verpassen konnte. Halb Europa strömte nach Zürich. Da musste er zurück vom Match in Hamburg ein paar Tage ohne Frau auskommen. Isabel übernahm, schmatzte ihrem Mann einen drahtlosen Kuss hin und ermahnte ihn, gut auf Leandra aufzupassen. Ruben fuhr Isabel und Ofélia im Wagen auf den Hönggerberg, wo sie Cocktails tranken, Pläne schmiedeten und Sambamusik hörten. Als Pablo gegen Mitternacht heimkam, tanzten sie ausgelassen auf der Terrasse. In der Ferne spiegelte sich der Halbmond im See, der Föhn blies lau. Isabel begrüßte ihren Bruder mit einem Abrazo und sagte: »Du Lausbub, Ofé behauptet, du spielst nur in meiner Präsenz so mies. Von dir hätte ich mindestens ein Tor durch Fallrückzieher erwartet. Tanz mit mir!« Als Pablo dazu keine Lust verspürte, rief Isabel: »Jetzt machst du auch noch abends schlapp!«
Aber wie hätte Pablo besser gelaunt sein können? Trainer Haubold hatte die Spieler nach der Dusche mit Schmähworten überschüttet, ihnen Alkoholexzesse und andere Ausschweifungen vorgeworfen. Im Hinblick auf das Spiel in Lugano vom Samstag waren Bier und Schnaps gerade so tabu wie Kokain. Gegen die Tessiner zu spielen, war alles andere als ein Pappenstiel. Aber ein Auswärtssieg musste her, koste es, was es wolle. »Kommt mit ins Tessin!«, versuchte Pablo die drei zu ködern, »im Süden geht’s lustig zu. Wir werden es den Luganesen zeigen. Nach unserm 3:0 Sieg geht’s hoch her. Das verspreche ich euch. Ein Riesenfest wird steigen, mit viel Spaghetti und Rotwein.« Doch die Frauen dachten naserümpfend an die Leistung auf dem Hardturm und ließen sich nicht umstimmen. Mit Ruben schwelgten sie in der Vorfreude auf die Street Parade. In Gedanken entwarfen sie gewagte Kostüme, die sie für das Happening selber nähen und basteln wollten. Der dafür notwendige Einkaufsbummel durchs Niederdorf, wo es Trödelläden in vielen Variationen gab, wenn auch weniger fantasievolle als an der Avenida Barahona, inspirierte Ofélia und Isabel. Beladen mit Plastiktüten in allen Farben erholten sie sich im Café Schober, wo es ihnen schwer fiel, aus dem Angebot von Keksen, Marzipanfiguren, Kremschnitten, Mohrenköpfen, Hefekranz und Torten ihre Wahl zu treffen. Auf Empfehlung hin probierten sie ein Stück Kirschtorte und waren entzückt vom Geruch, der ihnen fein prickelnd von der Zunge in die Nase stieg. Bei Kaffee und einem zweiten Stück kamen sie auf das Thema Kinder zu sprechen. Ofélia erkundigte sich nach Leandra. »Süß und verspielt kann sie sein oder bitter wie eine unreife Pampelmuse, je nach Laune«, lachte Isabel, »Naxquitl vergöttert sie.« Wenn Leandra wegen Kleinigkeiten zeterte, herunterzerrte, was sie erreichen konnte und nervte bis zum Gehtnichtmehr, brachte Isabel sie in eine
Krippe. Wollten sie ausgehen, wurde die Kleine von einem Kindermädchen gehütet. Momentan war ihre Tochter ein süßes Monster, das dauernde Überwachung benötigte. Was die stolze Mutter nicht hinderte, Ofélia ins Gewissen zu reden. Aufgabe der Frau eines Profifußballers sei es, moralisierte sie, zuhause für eine stabile Atmosphäre zu sorgen. Dazu gehörten Kinder. Sie trug sich mit dem Gedanken, bald wieder schwanger zu werden. Durch Säugling oder Kleinkind wurde auch Naxqitl absorbiert. Er hatte beim Füttern und Wickeln zu helfen und kam weniger in Versuchung, sich auswärts zu vergnügen. »Wie steht’s denn bei euch mit dem Nachwuchs?«, wollte Isabel wissen. Ofélia rückte heraus, bisher habe es nicht geklappt. »Der Gynäkologe findet bei mir alles in Ordnung und hat uns allerhand Rezepte verraten, wie wir es anstellen müssen. Trotz allem bin ich bisher nicht schwanger geworden. Ohne Kinder zu sein, hat aber auch Vorteile.« »Neben Pablo habe ich Ruben«, fuhr Ofé nach einer Pause fort, »der geht gern aus und führt mich ins Kino oder in die Diskothek.« »Bekommt Pablo das nicht in den falschen Hals?« »Ach nein, der vertraut seinem Freund. Auch findet er Ruben mit seinen grünen Augen und den ewigen Pickeln zu unattraktiv, um eifersüchtig zu sein.« »Praktisch für dich. So hast du zwei Männer, den einen für Bett und Fußball, den andern fürs Vergnügen. Ruben ist wirklich ein interessanter Gesprächspartner.« »Oh ja«, bestätigte Ofélia, »in der Finanzwelt kennt er sich aus wie wenige. Er spekuliert an der Börse, konsultiert in der Frühe die Kurse von Tokio, am Abend die von Wallstreet. Aber das Schöne ist, dass man mit ihm genau so gut über Filme, Theater und Politik reden kann.«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs gab Isabel ihr den Rat, die Kinder trotzdem nicht zu vergessen. Pablo war auf Dauer nur durch eigenen Nachwuchs anzubinden, davon war sie überzeugt. Falls es weiterhin nicht klappen sollte, gab es Spezialisten, die Ofélia mit Rat und Tat beistehen konnten. In Zürich, Stuttgart oder wenn es sein musste in Boston. Insgeheim bezweifelte Isabel, dass Ruben so wenig attraktiv war. Er hatte einen intellektuellen Charme, den auch sie anziehend fand. Unter bewölktem Himmel, aber bei angenehmer Sommertemperatur bewegte sich eine Kolonne von dekorierten Lastwagen über die Kaibrücke. Wie eine Prozession bunter Riesenschnecken krochen die Love Mobiles daher. Auf den Ladeflächen und zwischen den Fahrzeugen wippten extravagant gekleidete Menschen zu Technosound. Die Musik, von Diskjockeys mit ihren Lautsprechern bis jenseits der Schmerzgrenze verstärkt, versetzte die Tanzenden mit unablässigem Hämmern und Pauken in Trance, in den Rhythmus von Maschinen. Überall Hüte, Federn, Blumen, Tüll und farbige Haut. Vor, auf und hinter der Brücke stauten sich die Schaulustigen, bildeten sardinengepackte Spaliere, drängten und stießen sich, stets fröhlich und ohne den geringsten Misston. Man sang, scherzte und lachte sich scheckig. Ohne dass die sonst pingelige Polizei eingriff, kletterten ein paar Halbstarke in die Baumwipfel am BürkliPlatz und auf die Masten von Straßenlaternen. Die Leute lärmten und schrien sich zu, es herrschte ein Sprachensalat sondergleichen. Honduranisches Spanisch fiel überhaupt nicht auf. Fahnen flatterten im Uferwind, Segler, Motor-, Ruder- und Paddelboote schaukelten auf dem Wasser des unteren Seebeckens, Dampf- und Motorschiffe hupten, über der
Innenstadt klapperten Hubschrauber. Tack, tack, tack, zuckten Jugendliche und jung Gebliebene schweißgebadet auf den Love Mobiles, vom Technosound mitgerissen, und bewarfen die Zuschauer mit Konfetti. Wie Schleppen folgten Tanzgruppen den dröhnenden Ungetümen, sparsam bekleidet, mit Tattoos, Federbüschen, gepiercten Lippen, Nasen und Nabeln. »Zu dumm, dass Luna jetzt dem Ball nachjagt. Nicht im Tessin, hier sollte er sein!«, waren sich Ofélia und Isabel einig, »was für ein Glück, dass wir Ruben haben!« Die Honduranerinnen steckten in knallgelben Satinroben, die ihren vorteilhaften Rundungen schmeichelten. Auf den Köpfen hatten sie rote Wuschelperücken, auf den Wangen aufgepinselte Herzen, die von Amor-Pfeilen durchbohrt waren. In Schnürsandalen und präzis im Hammertakt folgten sie einem Gefährt, von dem es paukte und trompetete. Auf der Ladebühne schlenkerten Maskierte ihre Beine und sprühten Duftfahnen in die Menge. Auch Ruben ließ sich nicht lumpen. Er präsentierte sich als Mayafürst. Abende hatte er damit verbracht, die Schwanzfedern eines Hahns in märchenhaft schillernde Quetzal-Federn zu verwandeln und daraus einen Kopfschmuck zu basteln. »Ich bin 18-Kaninchen, der Fürst von Copán, der nach dem verlorenem Ballspiel geköpft wurde«, rühmte er sich und schwang einen Zeremonienstab mit versilbertem Knauf, den er bei einem Kostümverleih geborgt hatte. Sein Mayahemd und seine Hosen waren weiß, mit Maiskolben, Papageien und Schädeln geschmückt, die er aus Stoffresten geschnitten und aufgenäht hatte. Er tanzte seltener als die Frauen, bestieg einen Wagen und spritzte mit einer Pistole Wassergarben in die Reihen der Zuschauer. So oft sich die drei Honduraner im Gewühl verloren, so oft fanden sie sich wieder, herzten und küssten sich. Da Isabels
Tanzkünste besonders auffielen, hoben sie starke Arme auf das Podium eines Love Mobiles, wo sie unter Jubel gekrönt wurde, im Technosound stampfte und mit Bauch und Hüften wackelte. Ruben warf ihr eine Limonadenflasche zu, die sie im Strahl in den Mund leerte. Ofélia blieb unten, hatte Kinderballone an die Locken ihrer Perücke gebunden und die Fingernägel grün gefärbt. Sie duftete orientalisch und schäkerte mit allen möglichen Partnern. Gegen Abend schaute die Sonne neugierig zwischen den Wolken hervor und entfaltete einen Fächer aus Lichtbündeln. Auch Ruben, Isabel und Ofélia wischten sich Schweiß von der Stirn und schleckten Eis. Waren sie nicht groggy? Kein bisschen. Sie tanzten weiter. Auch sonst gab es kaum Müde, nur solche, die Joints inhalierten, Ecstasy schluckten und unbeirrt weiterfegten. Hatte jemand ein Problem, wurde er von Sanitätern diskret in einer Ambulanz verstaut. Als es dämmerte und der Umzug sich aufzulösen begann, verzehrten sie Bratwürste vom Grill, die sie hier kennen gelernt hatten und lecker fanden, und tranken Bier vom Fass. »Was machen wir jetzt?«, fragte Ofélia noch immer tatendurstig. »Wir gehen in ein Lokal und tanzen weiter, bis wir umsinken«, schlug Ruben vor. Sie bummelten durch die Altstadt, bis sie von weitem Sambamusik vernahmen, die sie unwiderstehlich anzog. Dem Technosound untreu geworden verfielen sie ihrem Element, den lateinamerikanischen Rhythmen. Im Lokal, das einem Schuppen glich und mit einem Wald von Wimpeln dekoriert war, tanzte Ruben meist mit Ofélia, Isabel mit wechselnden Verehrern. Was sie speziell verführte, war der exquisite Tequila, den die pausbäckige Wirtin generös ausschenkte. Obwohl die Honduraner den gebrannten Agavesaft mit Mineralwasser verdünnten, tat er seine Wirkung. Um fünf Uhr früh konnten auch sie nicht mehr, torkelten zum Taxi, das an
der Ecke auf Kunden wartete, und fuhren heim zum Hönggerberg. In der Wohnung klatschte sich Isabel einen kaltnassen Waschlappen ins Gesicht, Ofélia hielt den Kopf unter den Wasserhahn in der Küche. Aus dem Bad, wo Ruben verschwunden war, rauschte es. Er duschte in der Badewanne. Bald streckte er den Kopf aus der Tür, ließ einen Schwall von Dampf in den Flur entweichen und kicherte: »Kommt ihr auch?« Ohne zu zögern schlüpfte Isabel im Evakostüm in die Dampfwolke. Ofélia folgte mit einer Flasche Champagner, die ihnen Spielerbetreuer Franz geschenkt hatte, ließ das Bad einlaufen und den Korken knallen. Die halbe Flasche schüttete sie ins heiße Wasser, das nun schäumte und duftete. Mit dem Rest tranken sie sich zu. Ruben und Isabel stiegen ins Wasser und bespritzten sich. »Wie hieß noch die Mätresse des französischen Königs?«, blödelte Isabel. »Pom – « »Pompadour!«, lallte Ruben und planschte im ChampagnerBad. »Hab ich auch noch Platz?«, fragte Ofélia.
Als Pablo am Sonntag Nachmittag aus Lugano zurückkehrte, traf er auf chaotische Zustände. Der Spültrog in der Küche war voll schmutzigem Geschirr, Kleider lagen zerknüllt auf dem Parkett und aus dem Bad drangen Gerüche von Seife und Aftershave-Lotion. Im Schlafzimmer waren die Läden halb geschlossen. Ofélia und Isabel lagen schlafend auf dem Doppelbett, unbekleidet und nur dürftig unter dem Leintuch verborgen. Er weckte sie mit Püffen. Auffahrend bedeckte sich Isabel in einem Anflug von Scham mit dem Nachthemd und stammelte: »Du?«
»Wer denn sonst?«, knurrte Pablo und kommandierte: »Nun marsch, zieht euch an und trinkt einen starken Kaffee!« Ofélia war mit einem Satz auf den Füssen und schlüpfte blitzschnell in Bluse und Jeans. Bald summte die Kaffeemaschine. Nur schon der Duft der Spezialmischung aus Copán belebte die Frauen. Pablo hielt sich an warme Schokolade. Verlegen fragte Ofélia: »Habt ihr gewonnen?« »Ja klar, nicht 0:3, aber wenigstens 0:2.« »Hast du getroffen?« »Nein, diesmal waren die Verteidiger erfolgreich, Kauer und Känzig, beide Male nach Eckbällen. Und ihr? Die Street Parade war offenbar anstrengender als unser Match.« »Wir haben bis in den Morgen hinein getanzt«, gestand Isabel, »Brüderchen, verstehst du das denn nicht?« Er blieb die Antwort schuldig. Aber auch ihm schien es verlockend, sich wieder einmal auszutoben, einmal zu saufen wie Paul Gascoigne, der unverwüstliche Mittelfeldmotor der britischen Nationalmannschaft. Im Grunde genommen, gestand er sich ein, lebte er kaum freier als damals in der Klosterschule.
20
Ruben saß im Fanbus neben einer korpulenten Frau, die Emma hieß und in einem fort gackerte: »Hopp GC, hopp Luna! Luna zeig, was du kannst! Hopp GC!« »Luna ist uns zwei Tore schuldig!«, kam das Echo aus dem Fond, »hopp GC!« Der Bus fuhr auf der Autobahn nach Sankt Gallen zum Spiel des Stadtklubs gegen die Grasshoppers. Ein Minibus überholte sie, voll von Anhängern der Blauweißen, die Schlachtgesänge übten und trotz des kühlen Herbstwetters aus offenen Fenstern winkten. Im Hintergrund tauchte der Säntisgipfel auf mit Betonblock und gigantischer Fernsehantenne. Er war frisch verschneit. Ruben trank Bier aus einer Alubüchse. »Du weißt doch, wer Luna ist?«, fragte ihn Sitznachbarin Emma, deren verschwitztes T-Shirt sein Geruchsempfinden störte. Er verzögerte die Antwort und sagte dann verächtlich: »Was ist denn an Luna so Besonderes? Ich bin Fan von Lala, Alberto und Herbert.« »Komm mir nicht mit Lala! Und schon gar nicht mit Herbert. Luna ist cool, der guckt so finster drein wie Clint Eastwood im Westernfilm, bevor er den Gangsterboss erledigt. Hopp Luna, hopp GC!« Wie Ruben von früheren Auswärtsspielen her hätte wissen müssen, war mit Emma nichts zu wollen. Weil der Chauffeur die Heizung aufdrehte, begann auch er zu schwitzen. Er schlüpfte aus dem Wollpullover, einem Geschenk von Ofélia, die mit den Spielerfrauen im Spezialbus zum Match reiste, und behielt nur das GC-Trikot an.
»Tropenklima«, lautete Emmas Kommentar. Ruben vertiefte sich ostentativ in den Playboy, den er vor der Abfahrt erstanden hatte. Durch Bilder von Nackedeien ließ sich Emma jedoch nicht abschütteln. »Was für eine Schlampe!«, rief sie, als er ein Topmodel mit oben ohne aufschlug, »du fährst nicht etwa auf die ab?« Nun reichte es Ruben. Er ging zur Bustoilette. Darauf setzte er sich zu einem Kameraden, den er von anderen Auswärtsspielen her kannte. Sie diskutierten die Tabellensituation der Grasshoppers und kamen zum Schluss, dass der Meistertitel durchaus noch drin lag, wenn es bei den nächsten Spielen besser lief als gegen Neuchâtel Xamax. Ruben unterhielt sich auch mit dem Mexikaner Pedro, dem Koch der Speisewirtschaft Trés Kilos. Nicht die Grasshoppers waren ihr Thema, sondern die Auslosung zu den nord- und zentralamerikanischen Vorausscheidungen für die WM 1998 in Frankreich. Im kommenden Januar wollte die Fifa die Gruppeneinteilung vornehmen und im Frühsommer die ersten Spiele ansetzen. Rubens und Pedros Wunsch war, dass Mexiko und Honduras nicht gegeneinander antreten mussten. Gegen Teams aus der Karibik oder gegen Panama und Nicaragua war es leichter, sich zu qualifizieren. Honduras schien beachtliche Fortschritte zu machen, seit Sophokles das Ruder übernommen hatte. Bei einem Freundschaftsspiel in Toronto hatte das Team kürzlich Kanada bezwungen, das sogar ohne Naxquitl und Pablo. In Sankt Gallen angekommen mussten sich die GC-Fans an einem Nebeneingang des Stadions einer Leibesvisitation unterziehen. Ein Sicherheitsbeamter tastete sie nach Waffen oder Wurfgeschossen ab. Von den Sektoren, die für sie reserviert waren, wählten Ruben und Pedro den geräumigsten. Sie lehnten sich an eine Mauer und verfolgten den Matchbeginn. Nach zwanzig Minuten Geplänkel im Mittelfeld gerieten zwei Hitzköpfe aneinander. Wer wem das Bein
gestellt, wer wen zuerst mit Ellbogen und Flüchen traktiert hatte, war unersichtlich. Was den Schiedsrichter nicht hinderte, den Verteidiger der Grasshoppers vom Platz zu stellen und den Sankt Galler Angreifer nicht einmal zu verwarnen. »Oh Gipfel der Ungerechtigkeit!«, riefen die GC-Fans. Eine Gruppe von Hooligans, schwarz gekleidet und mit blauweißen Schärpen um den Hals, kletterte affengewandt über die hohen Drahtgitter, die den Fansektor umzäunten und in einen Käfig verwandelten. Wutentbrannt stürzten sie sich auf biedere Sankt Galler Zuschauer, die entgeistert auf den Schalen saßen und ihren Kopf mit den Armen schützten. Die Ordnungshüter griffen ein. Mit Stockhieben vertrieben sie die Missetäter und sprühten ihnen Tränengas ins Gesicht, was sie zwang, fluchtartig über die Gitter in den Fan-Zwinger zurückzukraxeln. Auch Ruben und Pedro rieben sich die Augen, schnupften und niesten. Mund und Nase bedeckten sie mit Taschentüchern. Neben ihnen verbarg eine junge Frau ihren Wuschelkopf an der Brust des Angebeteten. Im Gegensatz zu ihrem Partner, der »Sauerei, Sauerei« schrie und die Fäuste ballte, interessierte sie sich kaum für das Geschehen auf dem Rasen. Diesmal kam es für die Grasshoppers besser als erhofft. Die verbleibenden zehn Mann verdoppelten ihren Einsatz und setzten den FC Sankt Gallen unter Druck. Aus einer Standardsituation heraus gelang ihnen ein Coup. Pablo nahm Anlauf zu einem Freistoß aus 22 Metern, täuschte einen Schuss vor, passte aber zu Lala, der den Ball über die Leibermauer und die ausgestreckten Finger des Hüters hinweg ins Tor schlenzte. In der Pause sangen und feierten die GC-Fans auf den Rängen und in den Gitterkäfigen, als sei der Sieg mit zehn Mann bereits Tatsache. Der Regel widersprechend, dass Hochmut vor dem Fall kommt, retteten die Grasshoppers den Vorsprung bis zum Abpfiff. Nach einer Abwehrschlacht
sondergleichen, aber auch nach brandgefährlichen Kontern, die beinahe zum zweiten Treffer geführt hätten, endete das Spiel 0:1 für GC.
Am Hönggerberg hatte sich die Situation insofern verändert, als sie jetzt zu dritt im Terrassenhaus der Moyas lebten. Auf Ofélias Betreiben war Ruben zu ihnen umgezogen und hatte die eigene Wohnung geräumt. Pablo war vor ein Fait accompli gestellt worden. »Du hast doch nichts dagegen?«, sondierte Ofélia im Nachhinein, am späten Abend nach dem Match in Sankt Gallen. Ruben runzelte verlegen die Stirn und schnitt Grimassen, Ofélia küsste Pablo und flüsterte ihm süße Worte ins Ohr. Ablenkungsmanöver, dachte Pablo, ohne sich offen zum Thema zu äußern. Ruben war jetzt einfach da. Sparsam ließ er Möbel und persönliche Effekten im Hinterzimmer platzieren, wo er seine Klause bezog und die Nacht verbrachte. Das Ehepaar schlief weiterhin im großen Zimmer mit Sicht auf Stadt und See. Was sich in seiner Abwesenheit abspielte, wollte Pablo nicht wissen. Wie Vogel Strauß steckte er den Kopf in den Sand. Seit der Street Parade und seiner Rückkehr aus Lugano war ihm klar, dass sich ein Dreiecksverhältnis anbahnte. Die Umstände, die er damals angetroffen hatte, sprachen für sich. Verblümt und in Dosen weihte ihn Ofélia in brisante Details der damaligen Ereignisse ein. Dass er nachsichtig auf ihre Geständnisse reagierte und nie resolut eingriff, war ihm selbst ein Rätsel. Im Grunde war er nicht bereit, seine Frau mit Ruben zu teilen. Schmerzhaft wurde er sich in diesem Zusammenhang bewusst, dass ihr gemeinsamer Kinderwunsch bisher unerfüllt geblieben war. Ofélia neigte von jeher zu Extravaganzen, das wusste Pablo, aber er schrieb
sie jetzt den fehlenden Mutterpflichten zu. Sie war jung, hübsch und tatendurstig und kam sich oft vor wie eine Nonne, die bei seiner Belastung als Profispieler vereinsamte, sich von den Lebensquellen abgeschnitten fühlte. Daran änderte ihr Besuch der Handelsschule wenig. Weil die Mitschülerinnen wesentlich jünger waren als sie, kam sie sich dort vor wie die erwachsene Schwester von Teenagern. Filmdiven oder Rocksänger zu vergöttern, war ihr fremd. Dank ihrer Vorbildung standen in einem halben Jahr schon die Diplomprüfungen an. Aufgrund der Leistungen und Zeugnisse durfte sie mit einem positiven Resultat rechnen. Deutsch konnte sie bereits fließend. Zwar unterliefen ihr haufenweise Fehler, doch wirkten diese so drollig, dass sie mehr belustigten als störten. Informatik war ihr Lieblingsfach. Neben den Kinound Diskobesuchen mit Ruben verbrachte sie Stunden vor dem Computer. Sie surfte im Internet und nahm an Chat-Runden teil, in denen sie mit Spielerfrauen aus Spanien und Deutschland Kontakt aufnahm. Auch über Honduras hielt sie sich auf dem Laufenden. Ihre Kenntnisse des internationalen Handels verblüfften Ruben immer wieder. Ausnahmsweise war Pablo einverstanden, Ofélia und Ruben in einen exklusiven Privatklub zu begleiten. Er gehörte einem GC-Mäzen und war in der Dachetage eines Zunfthauses untergebracht. Da das nächste Grasshopper-Spiel erst in einer Woche stattfand, hatte Pablo keinen Grund, sich zu kasteien. Magnet war ein argentinisches Orchester. Ofélia liebte Tango über alles. Weil ihre Männer den metrischen Takt nur mangelhaft beherrschten oder nicht beherrschen wollten, wie sie behauptete, hoffte sie auf einen weiteren Kavalier. Nur für die Tänze natürlich. Aber dort war auch Yolanda Pizzamiglio, die im Schweizer Jargon eine Seconda genannt wurde. Ihre Eltern waren aus Neapel eingewandert, wo sie eine Handlung für Gemischtwaren betrieben hatten, bis die Camorra sie mit
Drohungen erpresst und in die Emigration getrieben hatte. Yolanda selbst war in Zürich aufgewachsen und machte eine Lehre als Dekorateurin. Sie sprach Schweizerdeutsch und Italienisch. Mit siebzehn lernte sie ihren ersten Freund kennen. Nun war sie einundzwanzig und hatte sich gerade von ihm getrennt. Von kurzen Flirts hielt sie wenig, umso mehr von einer festen Beziehung mit einem Mann, der sie mit Sportwagen und Brillanten verwöhnen konnte. Yolanda hatte das Spiel in Sankt Gallen im Fernsehen verfolgt. Pablos Auftritt verdrehte ihr den Kopf. Sie bewunderte seine Dribbelkünste, seine butterweichen Pässe, auch die Art, wie er sein linkes Auge zukniff, die Gegner einschüchterte und mit Absatztricks zum Narren hielt. »Wie bringe ich es nur fertig, ihn zu umgarnen?«, fragte sie sich täglich. Zuerst versuchte sie, ihn beim Training kennen zu lernen. Auf dem Förrlibuck war er leiblich präsent und wirkte noch begehrenswerter als auf dem Bildschirm. Vor ihrer Nase spurtete er mit dem Ball am Fuß, schlug Flanken, trat Freistöße, sprang bei Eckbällen hoch und köpfte aufs Tor. Nach Ende des Trainings ergriff sie die Chance, ihn anzusprechen. Doch er war zerstreut. Sichtlich nicht bei Laune fragte er: »Ein Autogramm?« Als sie ihre Schildmütze hinhielt, kritzelte er »Luna« drauf, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Für sie war es unbegreiflich, dass er nicht bemerkte, wie attraktiv sie war. Schließlich arbeitete sie nicht mehr als Dekorateurin, sondern als Model für schweizerische, manchmal sogar für italienische Modehäuser. Am liebsten für Giorgio Armani. Und die Männer standen auf sie, stellten ihr nach, vor allem seit sie mit ihrem Freund gebrochen hatte. Bei einem Kaffee erzählte man ihr bei Feldpausch zufällig von den Partys im Zunfthausklub, wo GC-Koryphäen ein- und ausgingen. Models wie sie waren dort offenbar gefragt.
Bei Yolandas ersten Besuchen im Klub war Pablo nicht unter den Gästen gewesen. Heute aber nahm sie blitzschnell wahr, dass er mit einem Freund an der Theke lehnte. Im Minirock und auf Bleistiftabsätzen wiegte sie sich im Tangotakt auf die beiden zu. Ihr Trick bestand darin, nicht Luna, sondern Ruben ins Visier zu nehmen. An ihn richtete sie einen betörenden Augenaufschlag und flötete ihm zu: »Bist du ein GC-Mäzen?« Ruben, geschmeichelt und beeindruckt, offerierte ihr ein Glas Ramazotti. Sie machte ihm Komplimente und Avancen, strich ihm gar zärtlich übers Haar. Als das Orchester zur Abwechslung einen Foxtrott intonierte, entführte sie ihn zur Tanzfläche. Ihr Parfüm duftete himmlisch. Pablo setzte sich auf einen Barhocker und dachte: »Wäre schon ein Segen, wenn Ruben sich endlich eine Freundin anlachen und uns in Ruhe lassen würde.« Ofélia, die mehrere Tangos mit einem Mulatten getanzt hatte, der den Rhythmus im Blut hatte, mochte den Foxtrott nicht, kam heißgetanzt von der Bühne, schmiegte sich an Lunas Rücken und flüsterte: »Guck mal Ruben!« »Oh ja, eine Schöne will es wissen, tut alles, um ihn zu verführen.« Bei der Auslosung für die Champions League hatte eine Fernseh-Moderatorin die Partie VfB Stuttgart gegen den Grasshopper-Club gezogen. Naxquitl und Pablo hatten bisher noch nie gegeneinander gespielt. Das Treffen wurde auf den Samstag vor dem ersten Advent angesetzt. Isabel holte Ofélia am Vorabend vom Bahnhof in Stuttgart ab. »Möchtest du mit mir zum Weihnachtsmarkt kommen?«, fragte sie, »unsere Männer sind ja ohnehin bei ihren Mannschaften.« Damit rannte sie offene Türen ein. Kaum hatten sie Ofélias Gepäck im Hotel von Bad Cannstadt, einem mit der Stadt verschmolzenen Vorort, deponiert und sich zurechtgemacht, kehrten sie ins Stadtzentrum zurück. Auf dem
Marktplatz mengten sie sich unter die vielen Besucher. Von den Satteldächern der Holzbuden grüßten Gartenzwerge, Posaunenengel, Eichhörnchen, Glückskäfer, Raben, die mit ihren Schnäbeln in rote Äpfel pickten, Hirsche mit wackelndem Geweih und Mickymaus, die eine Sonnenblume pflückte. Ofélia konnte nicht widerstehen, eine Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald zu kaufen, Isabel hielt sich an grün glasierte Keramikschalen, in denen sie künftig den Nachtisch servieren wollte, und an Lederhandschuhe mit Pelzbordüren. Fröstelnd machten sie beim Birkeneder Glühweinbrunnen Halt und bestellten Punsch, Leberkäse und Kartoffelpuffer. »Ui«, entfuhr es Ofélia, »so was hätten wir in Tegucigalpa verschmäht.« »Ist doch lecker«, entgegnete Isabel, »zum Nachtisch gibt’s Pfannkuchen.« Allein der Gedanke daran, in der Champions League aufzutreten, machte Pablo kribbelig. Gegen den VfB Stuttgart ins Gottlieb-Daimler-Stadion einzulaufen, war eine Ehre. Nur Grauköpfe auf den Rängen wussten noch, verdrängten es aber geflissentlich, dass das Stadion einst Adolf-Hitler-Kampfbahn getauft worden war. In den Kabinen glänzten die Spiegel, war das Holz auf Hochglanz poliert, die Dusche großzügiger konzipiert als auf dem Hardturm. Haubold teilte Pablo in einem Einzelgespräch mit, wie er sich zu verhalten habe. »Naxquitl spielt nicht wie du auf der linken Außenbahn, sondern im zentralen Mittelfeld. Ihm musst du konsequent ausweichen, schon aus psychologischen Gründen. Denk an dein Repertoire von Kabinettstücken und Finten. Sei noch disziplinierter als sonst, steige beinhart ein. Eine Karte zu kriegen, ist besser als halber Einsatz, eine gelbe mein ich natürlich, nicht die rote.« Vor der gesamten Mannschaft wiederholte er sein taktisches Konzept: Mauern, das Spiel verzögern, den Ball in den eigenen Reihen halten, Pressing vor
der Mittellinie betreiben, überfallmäßig kontern und das Führungstor schießen. Mit 40 000 Zuschauern war das Stadion ausverkauft. Die roten Sitzschalen auf den Tribünen waren rundum überdacht. Wie Heringe zwängten sich die Fans in die Gitterbezirke der Kurven. Acht Tartanbahnen umgürteten das Spielfeld, ein Relikt aus der Zeit, in der die Stadien nicht nur dem Fußball, sondern auch der Leichtathletik zu dienen hatten. Der Sprecher kündigte die Mannschaftsaufstellung des VfB an, mit einer Lautstärke und Betonung, als käme das Team vom Olymp herabgeflogen. Die einzelnen Fan-Gruppen putschten sich gegenseitig auf und verlangten, dass die Spieler endlich den Rasen betraten. Jetzt war es soweit: Die Gladiatoren klapperten auf ihren Stollen aus dem Tunnelgang. Pablo folgte Herbert Kauer, Alberto und José, und gab dem zugeteilten Schüler im Juniorendress zaghaft die Hand. Das Flutlicht blendete ihn. Er war unfähig, die Beine auch nur einen Augenblick ruhig zu halten. Bei der Begrüßung der Mannschaften ließ er seinen Blick durchs Oval schweifen und berauschte sich an den übereinander aufgebauten Publikumsrängen, die lebendigen Wänden gleich zu den Dachstreben emporstiegen, an den Chören, Paukenschlägen und Petarden. Irgendwo auf den Tribünen musste Juan Ramos sitzen. Er hatte in Europa geschäftlich zu tun und nutzte die Gelegenheit zum Matchbesuch. Pablo hatte er bei einem Anruf gesagt, er wolle seine Fortschritte miterleben und genießen. Als hätte Pablo ein Zauberstab berührt, verflog sein Lampenfieber bei Lalas Anspiel im Mittelkreis. Der Hexenkessel mit den VfB-Chören und dem kleinen Sektor der GC-Anhänger, die blauweiße Fahnen schwenkten, verschwamm vor seinen Augen zu einer imaginären Kulisse, im Fokus stand nur noch der Ball oder der Gegenspieler, der ihm das Streitobjekt abluchsen wollte. Haubold hatte seine Sternstunde. Das Szenario, das er entworfen hatte, war der
Wirklichkeit gewachsen. Nach stürmischen Angriffen des VfB, der in Weiß mit roten Querstreifen auf der Brust spielte, setzte GC zur ersten Attacke an. Wieselflink lief Pablo die Seitenlinie entlang, hypnotisierte seine Gegner mit Eastwood-Blicken und holte einen Eckball heraus, den er selbst ausführte. Der Ball flog mit Effet zum entfernten Torpfosten, wo Max, ein Junior mit Schweizer Nationalität, dem Haubold wegen Verletzung des Titulars das Vertrauen schenkte, ungedeckt war und wie ein abgebrühter Routinier einnickte. Max und Pablo gerieten außer sich, Lala, Alberto, José und Herbert umarmten die beiden stürmisch. Buhrufe klangen von den Rängen der VfBFans. An der Outlinie gestikulierte Haubold und bedeutete Pablo, nun müsse er sich mehr nach hinten orientieren. Das war nötig. Welle um Welle rollten die VfB-Angriffe auf das GC-Tor. Aber die Verteidigung hielt dicht. Sofern nötig wehrte sie sich mit Befreiungsschlägen oder Rückpässen auf den Torwart. Kam ein Stürmer trotzdem zum Schuss, überbot sich Mark Huber mit Glanzparaden, pflückte die Flankenbälle wie reife Birnen. Als sich ein Stuttgarter Stürmer anschickte, die Abwehrkette zu durchbrechen, fällte ihn Pablo von hinten. Knapp außerhalb des Elfmeterraums. Die rote Karte zu zücken, wäre vertretbar gewesen. Zum Glück ließ der dänische Schiedsrichter Gnade walten und gab ihm nur die gelbe. Bis zur neunzigsten Minute währte der Sturmlauf auf den Kasten der Grasshoppers. Da schlug Naxquitl aus der Distanz von dreißig Metern so kräftig auf den Ball, dass er scharf in den Strafraum sauste und von einem Verteidigerbein abgefälscht wurde. Torwart Huber war die Sicht verdeckt. Er warf sich in die rechte Ecke, der Ball aber flog in die linke. Die VfB-Fans brüllten: »Endlich ihr Quatschköpfe, fünf Minuten vor Schluss!« In der Nachspielzeit änderte sich nichts mehr am Resultat. Das Spiel endete 1:1, was für die Grasshoppers ein Grund zur Freude war. Ofélia klatschte, bis ihr die
Handflächen weh taten. Die Spielerfrauen herzten sie wegen Pablos Vorarbeit zum Torerfolg, als hätte sie ein Prachtkind geboren. Auswärts gegen den VfB Stuttgart unentschieden zu spielen, verdiene Respekt, urteilte GC-Präsident Urs Pfister mit geschwellter Brust. »Ein schäbiges 1:1 gegen diese Sennenknaben, was für eine Schmach!«, hieß es dagegen in Stuttgart.
Während des Spiels rauchte Yolanda Pizzamiglio in Zürich eine Gauloise nach der anderen und vernebelte die Zimmerluft. Sie saß allein in einem Fauteuil vor dem Fernsehschirm. Jede Ballberührung, jede Geste, jeden Flügellauf, jeden Pass, jede Körpertäuschung, jedes Dribbling und erst recht jeden Schuss von Pablo applaudierte sie, brach beim Führungstor in ein Triumphgeheul aus und stöhnte beim Ausgleich. Nach dem Schlusspfiff weinte sie vor Rührung, legte die Zigaretten weg und schaufelte sich gekühlten Vanillepudding in den Mund.
21
»Was ist das für ein Paket?«, fragte Ofélia Pablo, »darf ich’s aufmachen?« »Natürlich.« »Offenbar aus Tegucigalpa.« Sie griff zur Schere und schälte ein mit grober Watte gepolstertes Töpfchen aus dem Packpapier. Als sie den Drehverschluss öffnete, rief sie: »Au, riech mal!« Es duftete nach Wald, nach frisch geschlagenen Bäumen. »La Tigra«, versuchte Luna zu erraten. »Oder Valle de Angeles«, meinte Ofé und entdeckte einen Zettel, auf dem »un besito de Livia« stand. »Ich dachte, dieses Luder hätte dich längst vergessen!« Vorsichtig tauchte Pablo seinen Finger in die zähe Masse, die den würzigen Duft verströmte und befand: »Ich wette, das ist Föhrenharz.« Nachdem sie den heimatlichen Wohlgeruch eingeatmet hatten, entbrannte ein Streit über die Absenderin. Pablo war nicht davon abzubringen, dass Livia ihm zwar nachgestellt, er sie aber hartnäckig abgewiesen hatte, auch im Rahmen der Länderspiele für Honduras. Das kam Ofélia unglaubwürdig vor. Sie kannte die Gepflogenheit der Madrina, nach Matchende in die Kabine zu stürmen und den Spielern unter der Dusche SalvaVida anzubieten. Die nackten Männerkörper animierten Livia, anstatt sie zu genieren. Die Auseinandersetzung löste Pablo die Zunge. Er sagte: »Weißt du, so leicht fällt es mir nicht, mit dir und Ruben im Dreieck zu leben.« »Er ist doch der beste Freund von uns beiden.«
»Ja, aber wir sind zwei Männer und eine Frau. Ein Mann ist zu viel. Willst du, dass ich ausziehe?« Ofélia erschrak zutiefst. Das entsprach nun gar nicht ihrer Absicht. Um Ausflüchte war sie nicht verlegen. Sie rechtfertigte sich: »Natürlich bist du mit mir verheiratet, aber ebenso mit dem Fußball. Deshalb brauche ich Spielraum. Wenn ich zwischen dir und Ruben wählen müsste, würde ich mich immer für dich entscheiden. Bist du dir aber bewusst, wie viel wir beide Ruben verdanken? Nicht nur als Impresario. Ohne Ruben wäre unser Alltag fürchterlich öde. Es gibt Kamele, die in der Wüste der Monogamie verdursten und nicht einmal auf die Idee kommen, nach Oasen zu suchen.« Pablo, der den Vergleich mit Kamelen und Oasen nicht kapierte, wollte gerade Ofé fragen, was sie damit meine, als Ruben mit Yolanda im Schlepptau die Wohnung betrat. »Ihr kennt euch doch«, sagte er flüchtig und ließ sich, nachdem er ihren Regenmantel an die Garderobe gehängt hatte, aufs Sofa plumpsen. »Yolanda haben wir kürzlich im Klub getroffen. Sie ist Model.« »Aha«, staunte Ofé, weniger darüber, dass sie die Frau nicht auf Anhieb wieder erkannt hatte, als über die eng anliegenden Glitzerklamotten und das Shirt, unter dem sich pralle Brüste ohne Büstenhalter abzeichneten. Dass Ruben Yolanda auf seine Knie pflanzte und ihre Oberschenkel tätschelte, irritierte sie erst recht. Das Model wandte sich an Pablo und schwärmte: »Super, was ihr in Stuttgart geboten habt. Du ganz besonders, Luna. Beim Retourmatch in Zürich erteilt ihr dem VfB eine denkwürdige Abfuhr und kommt in die nächste Runde der Champions League.« »Findest du denn Fußball so spannend, Yolanda?«, fragte Ofélia schnippisch.
»Du nicht?«, stellte sie die Gegenfrage, verzog den Mund, betupfte die kokette Warze über dem Schmollwinkel, die an Cindy Crawford erinnerte, und strich sich durch das blond gefärbte Haar. »Ich schon, vor allem wenn Luna spielt.« Um Ofélia mit Verachtung zu strafen, kehrte Yolanda ihr den Rücken zu und hauchte Ruben einen Kuss auf die Nasenspitze. Sie nannte ihn »mein Schatz« und bat ihn, sich schnell umzuziehen. Ein exquisites Abendessen erwartete sie im Hotel Baur au Lac. Ruben schmunzelte bübisch und gehorchte, Yolanda suchte die Toilette auf und verriegelte die Türe, bis der Banker in Anzug und Krawatte dezent bei ihr anklopfte und sie herauslockte. Ihr Lippenviolett war jetzt knallig, das Haar zu einem Turm hochgesteckt. Sie säuselte: »Es gibt Velouté von Blattpetersilie mit Schnecken-Ravioli, magst du das, Ruben? Oder ziehst du ein Langustinen-Carpaccio mit Melonenkreme vor?«
Als Ofélia bei einem Theaterabend ihrer Schule war, öffnete Ruben eine Flasche Tequila und setzte sich zu Pablo aufs Sofa: »Komm, wir trinken einen.« »Kein Tropfen. Ich mag und darf nicht«, wehrte Pablo ab und blieb beim Italo-Western, der am Fernsehen lief, »bald lass ich mir die Haare abrasieren wie Charles Bronson.« »Du meinst, ein Glatzkopf senkt den Luftwiderstand beim Laufen? Aber Kopfbälle mit nacktem Schädel, tut das nicht weh?« Ruben rümpfte die Nase und schenkte zwei hohe Gläser voll ein. Lunas Standhaftigkeit bröckelte, als ihm der TequilaGeruch in die Nase stieg. Mit schlechtem Gewissen nahm er einen Schluck. Nach einem zweiten zögerte er und appellierte an seine Moral, doch beachtete er schon nicht mehr, wie der
Cowboy mit Gurt und Colt auf einem Apfelschimmel durchs Monument Valley ritt. »Bei deinen Fähigkeiten wäre jetzt ein Transfer fällig, eingefädelt durch die Offerte eines Superagenten«, schlug Ruben einen geschäftlichen Ton an, »ich muss mich umhorchen.« »Nach Mailand fahren direkte Schnellzüge. Steht im Bahnhof an der Leuchttafel.« Beim nächsten Glas plusterte sich Ruben mit seinen Börsengeschäften auf: »Wenn ich früh aufwache, bin ich oft lange vor den Konkurrenten im Büro und spekuliere auf Kursgewinne während des Tages. Meist stimmt mein Riecher und beschert mir sagenhafte Gewinne. So kann ich mir Abende mit Yolanda im Baur au Lac gönnen. Nach dem Essen im Nobelrestaurant beziehen wir eine Suite für die Nacht.« Seit Wochen hatte sich Scheu aufgestaut, ihre brisante Beziehungskiste offen zu besprechen. Als aber die TequilaFlasche halb leer war und der Pegel rasch weiter sank, schwand sie zusehends. »Yolanda ist wirklich entzückend«, rühmte Ruben seinen Schwarm. »Willst du sie etwa zu uns holen?«, argwöhnte Pablo in einem Anflug von Hellsichtigkeit, verschluckte Luft und rülpste. »Warum nicht? Das Haus ist groß genug.« »Jetzt reicht’s mir aber«, geriet Pablo in Fahrt, der dämpfenden und beseligenden Wirkung des Tequila zum Trotz, »bist du bescheuert!? Zuerst sprengst du unsere Zweisamkeit, bildest mit Ofé und mir ein Dreieck, und jetzt willst du uns noch diesen Paradiesvogel ins Nest schmuggeln. Ein Model von – « »Glieder, Feldpausch und einmal sogar Armani. Warum lehnst du die Idee rundweg ab? Bist du etwa eifersüchtig?«
»Tollheiten im Haus sind schlecht. Die ziehen mir den Boden unter den Füßen weg. Das müsste dir klar sein. Hast du Ofélia gefragt, was sie darüber denkt?« »Nein. Fairerweise wollte ich zuerst mit dir sprechen.« »Fairness? Geht’s dir noch gut?«, lallte Pablo, der nach weiteren Gläsern vollends verdrängte, dass er am folgenden Tag ein Spiel hatte, »nein, so nicht, nicht so – « Obwohl Ruben ebenfalls angeheitert war, begriff er, dass er zu weit gegangen war. »Wenn du es vorziehst«, schlug er vor, »ziehe ich aus, nehme wie früher eine eigene Wohnung.« Anstelle einer Antwort rief Luna schadenfreudig: »He, glaub mir, Yolanda hat sich verknallt, aber in mich, haha, nicht in dich!« Der Hieb saß. Doch die Gegenattacke ließ nicht auf sich warten. Gefährlich leise sagte Ruben: »Und Ofé? Die hat mich lieber als dich.« Zurück vom Nachmittagsspiel entspannte sich Luna in der Hängematte. Nach der Konfrontation mit Ruben und der Überdosis Schnaps hatte er miserabel gespielt. Hätten Kauer und Känzig nicht einen Glanztag erwischt und ein perfektes Stellungsspiel in der Abwehr demonstriert, wäre eine Niederlage kaum zu vermeiden gewesen. Hätte, wäre. Zum Glück gab es beim Fußball auch positive und nicht nur negative Konjunktive wie »hätte ich doch das Tor und nicht die Latte getroffen!« oder »wäre mir doch der Fallrückzieher geglückt!« Da klingelte es an der Haustür. Köchin Graciela, die gerade Kugeln aus Maisteig zu Tortillas klopfte, öffnete einen Spalt weit und wusste nicht, ob sie eine Dame namens Yolanda einlassen sollte. Sie erhielt keine Chance nachzufragen, denn Yolanda stieß sie beiseite, trat ein, gab der Hängematte einen Schubs und versetzte Pablo in ein sanftes Schaukeln. Dann kramte sie in ihrer Tragtasche und zog eine Thermoskanne
hervor. »Warme Schokolade, wie du’s magst. Das baut auf. Damit du beim nächsten Match besser spielst als heute.« »Hast du’s mitbekommen?«, fragte Pablo verblüfft. »Wie verkatert du warst? Natürlich, ich saß mit Ruben auf der Tribüne.« Sie füllte einen weiteren Becher mit Schokolade, denn der erste war alle, öffnete eine Konditoreischachtel und offerierte ihm Meringues mit Schlagobers. »Los Merengues«, sagte Pablo erfreut, löffelte und schleckte. Dass laut Trainer Süßigkeiten die Form verderben, wenn auch wesentlich weniger als Tequila, war ihm jetzt nicht bewusst. Yolanda gab sich mit einer Spatzenportion zufrieden. »Ruben möchte, dass ich zu euch ziehe«, sagte Yolanda, »hast du etwas dagegen?« »Dass du hier wohnst? Mit uns dreien?« »Ja genau. Aber sag ehrlich, was du denkst. Es ist durchaus möglich, dass meine Anwesenheit dich von deinen Zielen ablenkt. Denk an das Rückspiel gegen den VfB Stuttgart. Dann darfst du nicht so schlecht spielen wie heute.« »Glaubst du wirklich, deine Gegenwart könnte mich schwächen?«, fragte Pablo. »Nicht auszuschließen«, antwortete sie im Flötenton und schob ihm ein mit Schokolade getränktes Meringuestück in den Mund. Lunas Bedenken schmolzen gänzlich, als sich Yolanda zu ihm in die Hängematte legte und anfing, ihn mit ihren langen Fingern zu kosen.
»Wir wurden zu einem Viererwesen verzaubert«, klärte Pablo Isabel auf, als sie eine Woche später anrief, »wir lieben in alle Himmelsrichtungen.«
Den Sinn dieser Worte verstand die Schwester nicht. Er musste deutlicher werden: »Seit ein paar Tagen leben wir im Konkubinat zu viert. Wir haben vier Köpfe und vier Bäuche.« Dafür hatte Isabel gar kein Verständnis. Sie ermahnte den Bruder, mit seinen Kräften haushälterischer umzugehen und nicht leichtfertig Form und Karriere zu verscherzen. »Überlange und zu häufige Liebesnächte sind schädlich. Naxquitl ist da klüger. Er schätzt eine stabile Familie und verzichtet auf Affären.« In der Küche hantierend bekam Ofélia eines Abends mit, was Yolanda, die zwischen Pablo und Ruben auf dem Sofa saß, unerwartet von Stapel ließ: »Luna, du bist besser mit Fuß und Schwanz als mit dem Kopf, du Ruben besser mit dem Kopf als mit Fuß und Schwanz. Wir Frauen haben die Qual der Wahl.« Die Bemerkung dünkte Ofélia reichlich frivol. Sie kam aus der Küche, schwang eine Kelle und versetzte Yolanda einen Schlag auf den Haarschopf, nicht allzu behutsam, auch nicht allzu rabiat. Es schepperte ein bisschen und Yolanda zeterte, nicht zu laut und nicht zu leise.
Herbert Kauer, der Verteidiger und Kapitän der Grasshoppers, und seine Frau Lilly luden Pablo und Ofélia zu einem FondueEssen ein. Auf Lunas Anfrage, ob Ruben und Yolanda ebenfalls willkommen seien, sagten sie »kein Problem«. Der Zeitpunkt war gut gewählt, da die Frist bis zum Rückspiel in der Champions League noch einige Tage dauerte. Die Honduraner ließen sich von einem Chauffeur nach Küsnacht bringen, wo die Kauers in einem Chalet wohnten, das jeden Komfort bot. Nur der Blick auf See und Berge war durch einen massigen Block versperrt. Lilly und Herbert waren beide in der Region Zürich aufgewachsen, Spielerbetreuer Franz und Frau Marlies Schmid, die ebenfalls geladen waren, kamen aus einem Bergkanton. Die Lateinamerikaner hatten
bisher wenig Kontakt zu Schweizern gehabt und brannten vor Neugier. Was ein Käsefondue war, ließen sie sich gerne erklären. Trotz der frühen Stunde von 18 Uhr 30 waren sie nur zwanzig Minuten verspätet, ein großer Fortschritt. Zum Aperitif gab es Zitronenlimonade. Lilly erklärte, für Fußballer schicke sich ein alkoholfreies Getränk, schon weil Fondue ohne Weißwein zubereitet überhaupt nicht schmecke. »Oh ja«, fiel Ofélia ein im Bewusstsein, dass ein zweites Duell zwischen Naxquitl und Luna bevorstand. Herbert lenkte das Gespräch auf die Vorqualifikation zur Fußball-Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich. Nur Pablo hatte Mühe, der Diskussion auf Deutsch zu folgen. Ofélia und Ruben übersetzten ihm das Wichtigste. Nach dem Essen wollten sie gemeinsam die Fernseh-Sendung über die Gruppeneinteilung in Europa sehen. Die Einteilung in Mittelamerika war bereits vollzogen. In der Vorrunde hatte Honduras gegen Jamaika, Trinidad-Tobago, Panama und Costa Rica anzutreten. Wer den ersten oder zweiten Platz der Rangliste belegte, kam in die Hauptrunde der Vorausscheidung. Favoriten waren die Mannschaften aus Mittelamerika, vor allem Costa Rica und Honduras, Außenseiter diejenigen aus der Karibik. Die Zubereitung des Fondues, das Herbert im Topf brodelnd auf ein Rechaud stellte, und der Käse- und Weinduft muteten die Lateinamerikaner recht exotisch an. »Ein Gemisch aus Freiburger Vacherin und Gruyère, Weißwein vom Genfersee, Senf, Muskatnuss, Pfeffer und Kirsch. Der Schaum kommt von einer Prise Natron«, verriet Herbert mit Stolz. Gemäss alter Tradition war es die Aufgabe des Mannes und nicht der Frau, das Fondue zu kochen. Ofélia lernte auf der Stelle, die Brotstücke auf die lange Gabel zu stecken und in den Käse zu tunken, Ruben und Pablo waren ungeschickter. Man durfte keinen Brocken in der Masse
verlieren, sonst hatte man dem erfolgreichen Fischer einen Kuss zu geben. Es dauerte nicht lange, bis Yolanda ihr Brotstück von der Gabel gleiten und untertauchen ließ. Pablo stocherte und spießte es prompt auf. Zum Gaudi von Lilly und Herbert, weniger von Franz, errötete er beim Kuss mit Yolanda. Der Spielerbetreuer hatte kürzlich den Viererhaushalt entdeckt und das Problem mit Haubold besprochen. Gerade leistungsfördernd waren solche Sitten nicht. Aber auch der Trainer wusste kein Rezept, wie das Problem zu lösen oder wenigstens zu entschärfen wäre. Die Käsekruste oder Croûte, die am Schluss des Mahls auf dem Boden des Fondue-Topfs brutzelte, löste Herbert fachkundig von der Unterlage und servierte jedem ein Stück. »Schmeckt nach Wiederholung«, lobte Ofélia, »noch nie hab ich so köstlichen Käse gegessen.« Ruben und Pablo schwiegen, kauten aber an der Kruste mit einem Wohlbehagen, das man ihren Augen ansah. Wahrscheinlich hätten sie den Schweizer Weißwein nicht nur am Käse, sondern auch als Getränk dem Schwarztee vorgezogen. Zum Abschluss gab es luftgetrocknetes Bindenfleisch und anschließend ein Stück Schokoladekuchen. Die Auslosung zu den Qualifikationsrunden der Europäer erregte Herbert und Franz erheblich. Die Schweiz traf auf Italien, Holland, Jugoslawien und die Färöer-Inseln. Nur die Auswahl aus letzterem Land war leicht zu bezwingen, wenigstens auf dem Papier.
Zum Rückspiel der Grasshoppers gegen den VfB Stuttgart reiste Isabel mit den Spielerfrauen nach Zürich. Sie war wieder schwanger, fühlte sich aber ausgezeichnet, wenn sie vom morgendlichen Erbrechen einmal absah. Wie von früheren Besuchen her gewohnt fuhr sie per Taxi an den Hönggerberg, wo ihr immer ein Bett zur Verfügung stand. Pablo hatte sie
zwar ins Wichtigste eingeweiht, ihr aber zu eröffnen vergessen, dass das Gastzimmer nun belegt war. Als Isabel, die in Ofélias Abwesenheit von Graciela herzlich empfangen wurde, ins Zimmer trat, las Yolanda gerade in einem Modejournal. »Was machen denn Sie hier?«, entfuhr es Isabel, die Yolanda nur vom Hörensagen kannte, aber instinktiv erriet, mit wem sie es zu tun hatte. »Ich – «, stotterte diese überrascht, »ich – bin hinter Pablo Moya her.« »Da bist du in guter Gesellschaft«, entgegnete Isabel giftig und dachte: »Unverfroren, wie die sich benimmt!« Ofélia, die fürs Schlussexamen Handelsrecht büffelte, kam wenig später nach Hause und vernahm Stimmen. Wegen der explosiven Stimmung, die sie vorfand, bat sie Isabel zu sich ins Schlafzimmer. »Was hat denn diese freche Göre bei euch zu suchen?«, fragte Isabel. Ofélia konnte nicht anders, als das Viererverhältnis aus ihrer Sicht zuzugeben. Sie schilderte die Umstände, die zu der verfahrenen Situation geführt hatten. Unverblümt und naiv zugleich fragte Isabel: »Geht ihr denn zu viert ins Bett – macht ihr Gruppensex?« »Ja«, gestand Ofélia, der die Frage äußerst peinlich war, denn Isabel wusste, dass die Schwägerin mit Ruben angebändelt und das Dreiecksverhältnis begründet hatte. Bald trafen auch Naxquitl und Luna ein, Naxquitl nur auf einen Sprung, denn er hatte zum Abendessen beim Team zu sein. »Luna«, sagte Naxquitl, »auf dich setzen wir morgen eine Messerklinge von einem Verteidiger an, einen Manndecker wie zu Großvaters Zeiten.«
»Nicht nötig«, murmelte Yolanda, »Luna ist im Stadium des Leerund nicht des Vollmonds. Die Umstände machen ihn groggy. Er ist soft wie eine Butterbirne.« »Zwei Vollblutfrauen zu befriedigen und darauf im Spiel zu überzeugen, ist schon eine schwierige Aufgabe. Dieser Doppelrolle ist sogar Pablo nicht gewachsen«; quasselte Isabel, der die Situation absurd vorkam, »wir Frauen müssen monogam sein und Orgien streng vermeiden, besonders vor Spielen mit Tragweite. Schreibt euch das hinter die Ohren, Ofélia und Yolanda!« Im Spiel der Champions League auf dem Hardturm erlitten die Grasshoppers eine Schlappe. Bereits nach sechs Minuten lagen sie mit 1:0 im Rückstand. Und kurz vor der Pause folgte das 2:0. Was nützte es da, dass Haubold sich fast die Seele aus dem Leib schrie, Präsident Pfister und Frau sich die Haare rauften? Pablo war ein Schatten seiner selbst. Er verlor jeden zweiten Ball. Die linke Außenbahn war ein Totalausfall. »Du bist ausgebrannt, musst in den Urlaub«, spöttelte Naxquitl in der Pause, als er Pablo im Gang begegnete, »ich hab’s mitbekommen, wie viel du eingesteckt hast. Schon verzwackt, sich mit Manndeckern zu balgen, harte Burschen, die rempeln und zupfen. Ich hab dich ja gewarnt.« Die zweite Hälfte verlief ähnlich einseitig wie die erste. Stuttgart erzielte einen dritten Treffer. »Was für ein Reinfall!«, empörte sich Yolanda, die wieder Ruben begleitet hatte. Da war es ein schlechter Trost, dass Lala den Ball aus einem Strafraum-Getümmel heraus ins Tor des VfB beförderte. Trotz des Ehrentreffers war der Traum von GC ausgeträumt, den Bundesliga-Verein aus der Konkurrenz zu werfen und eine Runde weiter zu kommen. Karl Haubold beauftragte Franz Schmid, alle Möglichkeiten zu prüfen, um die Ruhe am Hönggerberg wiederherzustellen. »Ein Spieler wie Pablo darf nicht verludern«, murrte er, »seine
Vorstellung im Spiel gegen Stuttgart spottet jeder Kritik.« Mit gemischten Gefühlen nahm Franz die Aufgabe entgegen. Bildlich gesprochen musste er sich einen Imkerkorb über den Kopf stülpen, um sich dem Wespennest am Hönggerberg zu nähern. Er mutmaßte, am ehesten sei wohl etwas über die Frauen zu erreichen. Zu seiner Erleichterung erklärten sich Frau Marlies und Lilly Kauer bereit, Kontakt mit Ofélia aufzunehmen. Nach einer Reihe von Telefonaten trafen sie sich zu dritt im Café Ernst. Vom ersten Stock aus war das Treiben auf der Bahnhofstraße zu überblicken. Geschäftsleute mit Krawatten und Aktenmappen, Sekretärinnen, Teenager, Touristen mit und ohne Schlitzaugen, Hemdärmlige in Texanerhüten und hundsgewöhnliche Bürgerinnen und Bürger bevölkerten Gehsteige und Fahrbahn, wo sie nur ab und zu einem Tramwagen auszuweichen hatten. Eine Drehorgel leierte. Von einem Stand duftete es nach frisch gerösteten Maroni. Lilly, die drei Kinder hatte, redete um den heißen Brei herum, vom Einkaufen, vom Wetter. Ähnlich unverbindlich erzählte die kinderlose Marlies, dass sie zweimal pro Woche die Buben ihrer Schwester zu bändigen hatte. Trotz dieser unverfänglichen Themen ahnte Ofélia bald, auf was die beiden Frauen hinaus wollten. Krampfhaft überlegte sie, wie sie sich aus der Schlinge ziehen könnte. Sie entschuldigte sich, ging auf die Toilette, rief Yolanda an und bat sie, sie auf dem Mobiltelefon zurückzurufen. Kaum war Ofélia wieder am Tisch, gab sich Lilly einen Ruck und wollte zur Sache kommen: »Fühlt ihr euch in der Wohnung auch wohl? Habt ihr – « Da dudelte Ofélias Handy. »Nein, das darf nicht wahr sein!«, rief die Honduranerin in den Hörer, »da muss ich mich aber beeilen!«
Hastig schützte sie vor, zuhause sei eine Wasserleitung geplatzt, es herrsche Chaos. Mit einem »tschüss miteinander!« brach sie das Gespräch abrupt ab. Den Schmids und Kauers blieb keine andere Wahl, als einen neuen Anschlag auszuhecken. Marlies erkundigte sich, wann Pablo beim Training, Yolanda bei Modeaufnahmen und Ofélia nicht in der Schule, sondern allein zuhause war. Nach mehreren vergeblichen Versuchen parkte Lilly erneut vor der Terrassenwohnung. Resolut klappte sie die Wagentüre zu und betätigte die Hausglocke. Als Ofélias Stimme in der Gegensprechanlage ertönte, atmete sie auf. Ofé öffnete und bat Lilly in den Korridor. »Darf ich nicht ins Wohnzimmer kommen?«, fragte Lilly, da Ofélia sie kurz abfertigen wollte, »ich hätte etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.« Ofélia konnte nicht anders, als ihr einen Sessel anzubieten und Kaffee zu brauen. Gleich wurde Lilly deutlich: »Mein Mann Herbert ist, wie du weißt, GC-Kapitän und besorgt um Pablos Wohlergehen. Pablo steckt in einer Formkrise. Niemand zweifelt an seinem Können, doch das kann er momentan nicht umsetzen. Auf dem Spielfeld ist er mental und körperlich blockiert. Kennst du die Ursachen?« Wieder versuchte Ofélia, den Fragen auszuweichen, doch Lilly blieb hart und klopfte ihre Gegenwehr allmählich weich. »Quetsch mich doch nicht so aus!«, beklagte sich Ofélia, als sie das Viererverhältnis gestanden hatte und die Sprache darauf kam, wie sich die Situation bereinigen ließe. Aus der Perspektive von Lilly ging es nicht in erster Linie um ein Geständnis, sondern darum, Pablos Lebensstil zu hinterfragen und in ruhigere Bahnen zu lenken. Wollte er ein Topspieler bleiben, so durfte er sich nicht übernehmen, auch was die Intimsphäre anbetraf. Ultimativ forderte Lilly, Ruben und Yolanda hätten die Wohnung zu räumen. Nur in trauter Zweisamkeit wüchsen die Chancen, dass Pablos sportliche
Zukunft wieder seinem Können entspreche. Ofélia reagierte sauer. Sie gab Lilly zu verstehen, Einmischungen in ihre Privatsphäre dulde sie nicht. »Halt, halt!«, explodierte da Lilly Kauer, dämpfte aber sofort wieder die Stimme, »ich spreche vom Gruppensex, der Pablo offensichtlich schlaucht. Ihr beide tragt Mitverantwortung für die Grasshoppers und ihren Erfolg, auch als Privatleute. Oder wollt ihr künftig auf die Gage verzichten?« »Krass, so krass, was die von sich gibt«, dachte Ofélia, »nun könnte sie endlich abhauen.« Innerlich kochte sie. Lilly insistierte umsonst. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich tatsächlich zu verabschieden. Pablo fiel in eine depressive Verstimmung, nachdem ihn Ofélia über das Gespräch mit Lilly informiert hatte. An einem trainingsfreien Novembertag erwachte er am frühen Morgen mit Kopfweh und Beklemmung. Ofélia und Yolanda schliefen neben ihm im riesigen Doppelbett, Ruben war bereits zur Bank aufgebrochen. Von den Frauen unbemerkt ging Pablo in Sandalen und Trainingsanzug auf die Terrasse und schöpfte frische Luft. Der Föhn hatte die Berge frei gefegt. Als Fallwind reinigte er die Atmosphäre so intensiv, dass der Eindruck entstand, die Gipfel würden immer näher rücken, sich auf See und Stadt hinzubewegen. Die Gletscherkuppe zuoberst auf dem Tödi rötete sich zart im Morgenlicht. »Was soll ich nur tun?«, fragte sich Pablo. Er erinnerte sich an sein Gelübde, alles der Laufbahn eines Profifußballers unterzuordnen, ohne Zaudern die notwendigen Opfer zu bringen. Fußballer auf Spitzenniveau wollte er sein und bleiben. Kompromisse schmeckten für ihn wie Brot ohne Salz. Auch wusste er keine Alternativen. In der Küche trank er vom Kakao, den ihm Graciela unter der Haube warm gestellt hatte, schluckte eine Kopfwehpille und legte sich in die Hängematte. Vielleicht war es an der Zeit zu
beichten. Aber war eine Beichte in Zürich überhaupt möglich? Seit er hier spielte, hatte er kein Gotteshaus betreten, geschweige denn mit einem Priester gesprochen. Bei Olimpia war es üblich, dass Geistliche stets in Reichweite waren und bei Bedarf ihre Dienste anboten. In feierlicher Zeremonie hatte einmal der Bischof von Tegucigalpa Matchbälle geweiht. In Zürich schien das unvorstellbar. Allmählich versurrten die Kopfschmerzen. Pablo kam eine Idee: »Ich fahre in die Stadt, bevor Ofélia und Yolanda aufwachen.« Weil ihm die Zwillingstürme auffielen, suchte er zunächst das Großmünster auf. Die Turmuhr schlug achtmal, als er vor den Holzportalen anlangte. Im Mittelschiff umfing ihn eine nüchterne Kühle, die ihn frösteln ließ. Schmerzlich vermisste er Statuen der Muttergottes und der Heiligen, Monstranzen, Wandbilder und Weihwasserbecken. Noch seltsamer mutete es ihn an, dass jeder Goldschmuck fehlte. Wegen mangelnder Deutschkenntnisse konnte er den Gründen der kalten Atmosphäre nicht nachgehen. Umso mehr war er erfreut, dass eine Broschüre in spanischer Übersetzung auflag. Er setzte sich auf eine Bank, blätterte und las. Dabei stieß er auf den Namen des Reformators Huldrych Zwingli, der die gläubigen Katholiken aus dem Gotteshaus vertrieben und einen Bildersturm entfacht hatte. Enttäuscht verließ er die Kirche, überquerte die Limmat-Brücke, unter der sich Schwäne, Blässhühner und Enten tummelten. Bald kam er zum Fraumünster, wo erste Touristen hinter einer Fremdenführerin hertrotteten. Er schloss sich ihnen an. Wiederum bedrückte ihn die protestantische Strenge des Sakralraums, bis er in einem Nebenchor wie angewurzelt stehen blieb. Die Glasgemälde in fünf hohen gotischen Fenstern fesselten ihn. Die schräge Morgensonne ließ die Szenen aus dem alten und neuen Testament in warmen Farben aufleuchten. Es schien, als würde die Bilderfolge eine direkte Verbindung zum Himmel schaffen.
Ergriffen faltete Pablo die Hände. Warum hatten die Zwinglianer diese Werke nicht ebenfalls entfernt? Aus den Erklärungen der Fremdenführerin hörte er ein Wort heraus, das wie »Chagall« klang. Gab es vielleicht einen Mann mit diesem Namen, der Zwingli am Zerstörungswerk gehindert hatte? Pablo dachte an Mutter Ada und an die Kirche La Merced. »Führe mich nicht in Versuchung«, betete er auf der Bank und fasste den Entschluss, am Hönggerberg mit dem Besen zu kehren und die ursprüngliche Zweierbeziehung mit Ofélia wieder herzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste er Ruben und Ofélia überzeugen, kein einfaches Unterfangen. Yolanda klammerte er im Augenblick aus. Irgendwie war sie für ihn eine Fremde geblieben, obwohl sie ihn täglich aufs Neue betörte. Pablos Blick blieb an einer Darstellung von Ritter Georg haften, die besonders gut im Licht war. Ihm hatte er nachzueifern und gegen den Drachen der Verführung zu kämpfen. Wieder draußen auf der Straße stieß er auf ein Verkehrsbüro. Eine ältere Dame erklärte ihm in leidlichem Spanisch, wo sich die katholische Liebfrauenkirche befand. Er folgte dem Lauf der Limmat und stieg hinter dem Zentral über eine Treppenflucht zur Kirche empor. Ehrfürchtig betrat er sie, betupfte die Stirn mit Weihwasser und bekreuzigte sich. Ein Küster schlurfte vorbei, eine Frau fegte den Steinboden. Über den von Säulen gestützten Rundbogen lief ein Fries mit Fresken, am Hochaltar glänzte Gold, das freilich lange nicht so reichlich war wie in der Kathedrale von Tegucigalpa. Ein Kirchendiener brachte ihm geduldig bei, in zwei Stunden komme zufällig ein spanischer Pfarrer, der ihm die Beichte abnehmen könne. Er werde ihn gerne voranmelden. Pablo vertrieb sich die Wartezeit, indem er kreuz und quer durch die Stadt bummelte. In einer Boutique am Limmatquai kaufte er für Ofélia einen Schal aus Vikunjawolle.
Als die zwei Stunden um waren, kehrte er in die Liebfrauenkirche zurück und fand den spanischen Priester, der eine Stola trug und ihn in einen Hinterraum führte. »Wollen wir uns hier über Ihre Probleme unterhalten?« fragte er leise, »eine formelle Beichte ist vielleicht nicht die richtige Form, um Ihre Sünden zu bekennen.« »In Honduras wäre das anders«, meinte Pablo und schaute auf das Kruzifix, das an der Wand hing. Nachdem er die erste Scheu überwunden hatte, setzten sie sich an einen Holztisch und rückten die Stühle zurecht. »Hier können wir freier sprechen als im Beichtstuhl und sind nicht an strikte Regeln gebunden«, leitete der Pfarrer das Gespräch ein. Pablo bekannte: »Herr Pfarrer, mein Gewissen ist zentnerschwer. Ich bringe es fast nicht über die Zunge, aber der Vater im Himmel weiß es: Ich bin ein Ehebrecher.« »Eine schwere Sünde, mein Sohn.« »Ich will mich bessern.« »Gut so«, murmelte der Pfarrer, »aber darf ich Sie fragen, wen Sie verführt haben?« »Sie hat mich verführt.« »Wer denn?« »Sie heißt Yolanda. Zuerst hat sie sich an meinen Freund Ruben herangemacht. Doch von Anfang an wollte sie nur mich. Vielleicht, weil ich bei den Grasshoppers Fußball spiele und gut verdiene. Dabei bin ich mit Ofélia verheiratet.« »Ist Ihre Frau hübsch?« »Oh ja und nett dazu. Wir kennen uns seit unserer Kindheit in Honduras.« »Und Yolanda?« »Sie ist mindestens so hübsch und arbeitet als Model.« »Ach so. Lieben Sie ihre Frau?« »Oh ja!«
»Dann sollte es Ihnen nicht allzu schwer fallen, mit Yolanda zu brechen.« »Gerade das fällt uns vieren so schwer. Ruben und Ofélia hängen an dem Quartett.« »Wie soll ich das nun verstehen?« »Meine Frau Ofélia hat mit Ruben angebändelt, weil ich als Fußballprofi nur selten ausgehen darf und um zehn Uhr abends ins Bett muss.« »Verstehe ich das recht, Ofélia will zwei Männer und Yolanda nur einen, nämlich Sie?« »Ja, irgend so etwas«, stotterte Pablo. »Da müssen Sie die Initiative ergreifen und Ordnung schaffen.« »Das möchte ich schon, Herr Pfarrer, aber wie?« »Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Mit Hilfe der Heiligen Maria werden Sie ihn finden, denn sonst verscherzen Sie ihre Gnade. Die Ehe ist von Gott eingesetzt.« »Ich bereue meine Sünden, ehrlich.« »Und wollen Sie sich bessern?« »Ich verspreche, es zu versuchen.« »Dann spreche ich Sie los von ihren Sünden, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« »Schönen Dank, Herr Pfarrer«, sagte Pablo und überlegte, wie er die Vorsätze am besten in die Tat umsetzen konnte.
22
Inzwischen war gut ein Jahr vergangen. Am Hönggerberg lebten sie weiterhin zu viert. Trotz des Gelübdes wollte Pablo eine Rückkehr zur monogamen Ehe nicht gelingen. In stillschweigendem Einvernehmen hintertrieben Yolanda, Ofélia und Ruben sein Bestreben. Und wenn er ehrlich war, genoss er das Viererverhältnis ebenfalls. Aufgelockert wurde die enge Beziehung allerdings dadurch, dass Yolanda zunehmend im Ausland engagiert war, vorwiegend in Italien bei Armani und Versace. Kürzlich hatte sie sogar einen Auftritt in London. Sie war tage- oder wochenlang fort. Günstig wirkte sich auch aus, dass das Viererverhältnis, seit es zur Routine geworden war, Pablo immer weniger belastete. In der laufenden Meisterschaft war er beinahe so erfolgreich wie früher, was Pfister und Haubold zu schätzen wussten. Nur die Konstanz ließ noch zu wünschen übrig. Zu Aussetzern kam es vor allem dann, wenn Yolanda nach längerer Abwesenheit zurück in Zürich war und am Hönggerberg Turbulenzen entfachte. Immerhin gehörte er mit wenigen Ausnahmen zur ersten Wahl in der Standardformation. Nur Haubold konnte es nicht lassen, ihn bärbeißig und oft zu mahnen: »Deine Bewährungsprobe steht noch bevor. Eine Saison lang hast du bei jedem zweiten Spiel getroffen.« Die Winterpause war vorüber. Weihnachten und Jahreswechsel hatten Ofélia und Pablo in Tegucigalpa und Copán verbracht. Die Eltern Ada, Barbara und Arturo waren überglücklich, ihre Kinder wieder bei sich zu haben, Juan Ramos empfing die Familie in seiner Villa, obwohl seine Angetraute anwesend war. Dabei stießen sie auf Ofélias Zürcher Handelsdiplom an, das sie vor einem
halben Jahr mit erfreulichen Noten erworben hatte. Luna pflegte auch den Kontakt zu Olimpia und zu Sophokles, während die Frauen einschließlich Elsa nach Copán fuhren und die Atmosphäre in der Hacienda San Lucas genossen. Pablo folgte nach und streifte wie einst als Junge durch die MayaRuinen. Kaum zurück in der Schweiz begann der Trainingsbetrieb zum Auftakt der zweiten Meisterschaftshälfte und wurde in Stufen intensiviert. Für zehn Tage übergab Haubold das Szepter an Hilfstrainer Fritz, da er mit Grippe das Bett hüten musste. Retour auf dem Förrlibuck gab er die Anweisungen ungewohnt leise und krächzend. Zwar war das Fieber vorbei, doch plagten ihn noch Schnupfen und Heiserkeit, für Pablo eine bequeme Entschuldigung, wenn er nichts verstand. Noch immer haperte es mit seinen Deutschkenntnissen. Yolanda, die an Weihnachten mit Ruben bei den Großeltern in Neapel gewesen war und CDs mit Volksliedern mitgebracht hatte, verbrachte auch das Jahresende mit ihrem Freund. Ruben half, die Bilanz der Bank in seinem Sektor zu bereinigen und abzuschließen, was ihn mehr in Anspruch nahm, als ihm lieb war. Auch wählten Geschäftsleute aus Honduras die Zeit der Festtage gerne, um Konten zu eröffnen und zu überprüfen. Ruben war bemüht, seine Landsleute gut zu beraten und ihnen den Aufenthalt in Zürich möglichst angenehm zu gestalten. Nach Tegucigalpa zu fliegen und Yolanda seiner Familie vorzustellen, lag nicht drin. Von ihrer Model-Agentur wurde Yolanda zu einem Casting bei Glieder angemeldet. Davor war sie drei Stunden lang bei einem Hair-Artisten, der ihren Stuhl umtänzelte, an den Haarenden schnippelte, einen Scheitel in Kopfmitte machte und die Ansätze glatt kämmte. Darauf wickelte er eine Strähne nach der anderen um den Lockenstab und legte sie mit dem Kreppeisen in Wellen. Obschon ein dunkler Typ gefragt war – sie hatte auf eine Blondfärbung
ihres Schwarzschopfs verzichtet –, wurde ihr ein Westschweizer Model vorgezogen. Auch zerschlug sich die letzte Einladung zu Armani in Mailand. Dafür reüssierte sie bei Feldpausch, einem führenden Zürcher Modehaus. Vor dem Fotoshooting für die Herbst-Winter-Kollektion behandelte sie eine Make-up-Artistin. Sie trug ihr eine Gesichtsmaske mit Kräuterextrakten auf, formte die Brauen mit feiner Schere zu einer perfekt auslaufenden Linie, pinselte die Wimpern und hob das Wärzchen im Schmollwinkel diskret hellviolett hervor. Ein Tropfen Belladonna erweiterte die Pupillen. Yolandas Erscheinung war bezaubernd. Im Licht der Studiolampen präsentierte sie ein exklusives Abendkleid, das Brüste und Hüften betonte, tief ausgeschnitten und seitlich bis über die Knie geschlitzt war. Vor den Aufnahmen strich die Stilistin Stofffalten zurecht und zupfte an den Zipfeln. »Bewege deinen rechten Fuß etwas nach vorn, winkle ihn ab, etwas weniger bitte, und lass deine Augen sextoll glänzen«, ermahnte sie der Fotograf. Als es klappte, die Aufnahmeserie hervorragende Bilder versprach, klatschte die FeldpauschChefin entzückt in die Hände. Bevor Yolanda das Atelier verließ, durchstöberte sie die aktuell verfügbare Kollektion. Sie wollte Pablo verblüffen. In Abendrobe konnte sie ja nicht am Hönggerberg erscheinen. Sie wählte einen Schlauchrock und eine passende Bluse aus duftigem Crêpe. Als sie die Bahnhofstraße entlang schlenderte und bewundernde Blicke erntete, kokettierte sie: »Zugegeben, die italienischen Modeschöpfer sind gar nicht so übel.« Denn ihr Kostüm war von Dolce und Gabbana. Es machte ihr Spaß zu beobachten, wie sie auf die Passanten wirkte. Am Hauptbahnhof nahm sie ein Taxi zum Zürichberg, wo sie einen Intensivkurs bei ihrer Spanischlehrerin absolvierte. Sie war erfreut, wie rasch sie Fortschritte machte. Da ihre zweite Muttersprache Italienisch war, kannte sie die Wurzeln der
meisten Wörter. Aus Pane Pan zu machen, aus Sole Sol, war einfach. Schon schwieriger wurde es bei Cucchiaio und Cuchara, dem Löffel, oder bei Coltello und Cuchillo, dem Messer, erst recht aber bei Worten, die arabischen Ursprungs waren. Dass Almohada für Kissen dem Wort Cuscino entsprach – die Ausdrücke hatten bei einer Kissenschlacht im Schlafzimmer zu Konfusionen geführt –, leuchtete italienischen Zungen nur wenig ein. Schon lange war Yolanda imstande, einfache Gespräche zu führen, jetzt auch komplexere, was ihr den Kontakt zu Pablo ungemein erleichterte. Mit Ofélia und Ruben unterhielt sie sich meist auf Deutsch. Als sie zu Hause ankam und beim Eintreten die eben gelernte Wendung »que bueno« anwandte, fand sie Ofélia in Tränen aufgelöst. Mutter Barbara hatte angerufen, dass Vater Arturo schwer erkrankt war. Der Arzt hatte etwas von Thrombose und Embolie gesagt. Jedenfalls war es bei seinem Zustand ungewiss, ob das Zünglein an der Waage nach oben oder nach unten zeigte. Genau wie damals beim Länderspiel in San José de Costa Rica, erinnerte sich Ofélia und packte den Reisekoffer. Pablo fuhr sie mit dem Audi zum Flughafen. Mit der letzten Kursmaschine flog sie nach Madrid und am folgenden Morgen weiter nach San Pedro und Tegucigalpa. Luna verabschiedete seine Frau mit einem festen Abrazo, wünschte ihr gute Reise und dem Schwiegervater rasche Genesung. Unter diesen Umständen kam Yolanda das Modellkleid zu hoch gegriffen vor. Sie zog sich erneut um und schlüpfte in einen Wollkragenpullover. Auf dem Minirock einer ArmaniKollektion waren gelbe Schmetterlinge aufgedruckt, die zu flattern schienen. Dazu trug sie schwarze Strümpfe und Pantoffeln aus Plüsch. Flink band sie sich eine Schürze um und bereitete Spaghetti Napoli zu, wie sie es der Großmutter abgeguckt hatte. Köchin Graciela hatte ihren freien Tag, was
Yolanda diesmal in den Kram passte. Im Topf für den Sugo dampften frisch geschälte Tomaten. Als Zugabe spülte sie in Salz eingelegte Kapern im kalten Wasser, gab sie auf ein Sieb und ließ sie abtropfen. Während das Wasser für die Teigwaren zu summen begann, erschien Ruben mit einem »Hallo«, wenig später Pablo vom Flughafen. Ruben holte ein Bier aus dem Kühlschrank, Pablo einen Fruchtsaft. Nachdem sie die Tagesneuigkeiten ausgetauscht hatten, sagte Ruben zu Pablo, ohne dass es Yolanda in der Küche hören konnte: »Da haben wir die Bescherung. Jetzt sind wir wieder zu dritt, diesmal zwei Männer und eine Frau.« Daran hatte Luna beim Abschied von Ofélia nicht einmal gedacht. Seit Ruben mit ihnen zusammenlebte, gab es im überdimensionalen Doppelbett jede Woche ein Dreier-Happening. Die Nächte zu Dritt waren selten allzu anstrengend gewesen, wohl aber der Sex im Quartett. Meist schlief Yolanda zuerst mit Pablo und Ruben mit Ofélia. Dann pausierten sie, duschten sich und wechselten die Partner. Nach der zweiten, häufig schon nach der ersten Runde waren Ruben und Ofélia erschöpft und drehten sich zur Seite. Ruben schnarchte und Ofélia döste. Es konnte auch sein, dass sie in den Morgenmantel schlüpften, zur Bar gingen und eine Flasche Wein entkorkten. Ihre Gespräche drehten sich um Filme, Theaterstücke oder Popkonzerte. Yolanda hingegen provozierte Pablo, indem sie ihm zuflötete: »Luna, du magst doch noch?« Dann lutschte sie an seinen Ohrläppchen und bestand darauf, auf ihm zu reiten. Sie war einfach unersättlich. Und so hinreißend, dass Luna ihr nicht zu widerstehen vermochte. »Wie soll das jetzt werden, nach Ofélias Abreise? In einer Phase, in der ich mich einmal mehr zu bewähren habe? Da darf es nicht sein, dass die Liebe mir alle Energie aus dem Körper saugt«, sinnierte Pablo im Stillen. Trotz Yolandas Aufmachung und dem Teller köstlicher Spaghetti wollte beim Essen keine Stimmung aufkommen.
Pablo war bedrückt über die Nachricht aus Tegucigalpa und über Ofélias Abreise. Nach dem Abräumen verschwand er und schloss die Türe des Schlafzimmers. Er war müde. Hinter sich hatte er einen anstrengenden Tag und einen ebenso anstrengenden vor sich. Haubold hatte am Vor- und am Nachmittag ein Training angesetzt. Hinzu kam das Mittagessen des Teams, das der Trainer jeweils zu Mitteilungen und Anweisungen missbrauchte. Yolanda realisierte, dass der Moment ungünstig war, um mit Pablo über eine Zukunft zu zweit zu sprechen. Sie musste sich in Geduld üben und eine günstigere Gelegenheit abwarten. Der Stunden allein mit Ruben, zuerst in Neapel und dann in Zürich, war sie überdrüssig, sie war scharf auf Pablo. Die Tage zerrannen. Von Ofélia traf die Mitteilung ein, Vater Arturo scheine sich zu erholen. Unter Blutverdünnung atmete er wesentlich besser. Die Lungenembolie hatte sich nach Ansicht der Ärzte teilweise aufgelöst. Das Startspiel bei Wiederaufnahme der Meisterschaft gewannen die Grasshoppers knapp. Pablo war voll im Einsatz und erhielt in der Presse eine passable Kritik. Seine Formkurve wies weiter nach oben. Nur fehlte ihm noch jene Kaltblütigkeit vor dem Tor, die Voraussetzung zu neuen Höhenflügen war. Als Yolanda an einem Nachmittag mitten in der Woche – der Himmel war von Zirren durchzogen, Ruben saß wie so oft in einem Meeting – Pablo in der Wohnung antraf, hielt sie den Augenblick für gekommen. Kurz entschlossen knöpfte sie sein Hemd auf, schaute ihn liebestoll an und zog ratsch am Reißverschluss seiner Hose. »Luna, ich vergehe fast vor Lust auf dich!« Sie rollte die Augen, strich mit den Fingern über sein Haar und schob ihm einen Kirschstängel in den Mund. Im gewürfelten T-Shirt wirkte sie so umwerfend, dass Pablos Widerstand schmolz wie Schnee in der Frühlingssonne. Schon gar, als ihn der Duft ihres Jasmin-Parfüms betäubte und er ihren biegsamen Körper auf
der Brust spürte. Yolanda löste sich spielerisch aus seinen Armen, blickte über die Schultern und zog die orangefarbenen Vorhänge zu. Minuten später lagen sie tief atmend nebeneinander. Luna reckte sich, umfasste Yolanda erneut und murmelte: »Oh, bist du entzückend!« »Willst du mich nicht allein für dich haben?«, flüsterte sie. Den Sinn dieses Satzes erfasste Pablo nicht. Erst als Yolanda den Vorschlag konkreter ausmalte und einen Wohnungswechsel zu zweit vorschlug, wurde er sich des Dilemmas bewusst, in dem er sich verfangen hatte. Es fiel ihm schwer, nüchtern zu denken und die Konsequenzen abzuwägen. Eigentlich wollte er sich schon lange von Yolanda trennen. Aber jetzt? Sollte er wirklich auf sie verzichten, ihrem Zauber entsagen? »Ich dich – für mich – wir?«, stammelte er nach einer geraumen Weile. »Ich für dich, du für mich allein«, wiederholte Yolanda und herzte ihn stürmisch. Ruben kam spät nach Hause. Er war miserabel gelaunt, weil er einen herben Verlust erlitten hatte. Heute waren die Aktienund Devisenkurse nicht seinem Riecher gefolgt und angestiegen, sondern empfindlich gefallen. Als Graciela ihm Apfelstrudel auftischte – mutig wagte sich die Mexikanerin an mitteleuropäische Speisen –, legte Ruben nach wenigen Bissen die Gabel zur Seite, setzte sich in den Lehnstuhl und studierte die Wirtschaftsmagazine Cash und Financial Times. »Wie irrational die Börse doch reagiert und Gerüchten auf den Leim geht«, verdross es ihn, »die Fundamentaldaten sprachen für meine Thesen, die Ampeln für eine Rallye standen auf Grün.« Um sich abzulenken, las er in einem Krimi von Patricia Highsmith und lauschte den Liedern von Joan Baez mit dem Walkman: Don’t cry for me Argentina und Rainbow Road. Yolanda und Pablo würdigte er keines Blicks. Auf die Frage,
weshalb er denn so frustriert sei, murmelte er etwas Unverständliches. Um halb zehn verzog er sich aufs Zimmer. Yolanda und Pablo winkte wieder die Gunst der Stunde. Sie trieben noch intensivere Liebesspiele als am Nachmittag. Gegen Mitternacht klappte Yolanda die Bettdecke zurück und lockte Pablo im Morgenrock auf die Veranda. Es war Vollmond, klar und kühl. Über dem See bauschten sich Wolken in mattsilbernem Licht. »Luna«, hauchte Yolanda und schmiegte sich eng an seine Seite. In Anbetracht der intensiven Nächte hätte Pablo eine erneute Formbaisse wenig erstaunt. Zu seiner Genugtuung trat das Gegenteil ein. Er eroberte definitiv einen Stammplatz in der Mannschaft zurück, was ihn euphorisch stimmte und zu Glanzleistungen beflügelte. »Ich spiele für Yolanda«, dachte er beim Einlaufen ins Stadion, bevor er am Wochenende einen klassischen Hattrick erzielte. Akrobatisch hechtete er nach einer Flanke von José und traf, »Kopftor des Monats« titelte der Tagesanzeiger. Beim zweiten Goal zirkelte er einen Freistoss aus 28 Metern mit Effet ins Lattenkreuz und beim dritten war er mit einem tückischen Bodenroller aus dem Fünfmeterraum erfolgreich. »Lunas MegaHattrick« lautete die Headline im Boulevardblatt Blick. Trainer Haubold schwoll der Kamm. Vor dem GC-Vorstand rühmte er sich im Heugümper-Lokal, er allein habe Pablos Talent früh erkannt. Nur habe ihm damals niemand Glauben geschenkt. Auf dem Hönggerberg liefen nach dem Hattrick die Drähte heiß. Enrique, von dem Luna eine ganze Weile lang nichts mehr gehört hatte, gratulierte ihm. Was er geboten habe, sei Sonderklasse, präzis zur rechten Zeit. Beim anstehenden Match von Honduras gegen Trinidad und Tobago müsse er ebenso auftrumpfen. Dann rücke die Qualifikation für das WM-Turnier in Frankreich in Reichweite. Es half nichts, dass Pablo beteuerte: »So weit sind wir noch lange nicht.« Das
Telefon klingelte und klingelte. GC-Fans rühmten seine Treffer, Journalisten baten ihn um ein ganzseitiges Interview. Was Ruben speziell imponierte, waren Angebote zu Sponsorenverträgen, die er sich nicht lukrativer hätte vorstellen können. Zu stupenden Gagen war Pablo eingeladen, Reklame für Rasierapparate und Zahnpasta zu machen. Als ihnen die Zahl der Anrufe zu bunt wurde, aktivierte Ruben den Anrufbeantworter. Am Tag, bevor Ofélia aus Honduras zurückerwartet wurde, erzielte Ruben endlich wieder Gewinne an der Börse und freute sich auf eine vergnügliche Nacht mit Yolanda. Als sie ihn abwies und höhnisch sagte: »Luna ist jetzt mein einziger Liebhaber«, stellte Ruben Pablo sofort zur Rede: »Willst du mir Yolanda ausspannen?!« »Ausspannen? In unserer Beziehungskiste?«, wiegelte Pablo ab. »Yolanda verweigert sich mir. Ich habe sie hergebracht, nicht du.« »Weg mit den Scheuklappen! Wenn Yolanda nur mich will, musst du’s akzeptieren.« »Schon Ofé hast du mir abspenstig gemacht! Damals in Tegucigalpa. Nun willst du mir auch noch Yolanda klauen!« »Nicht so hitzig, mein Lieber. Ofé haben wir geteilt. Entgegen meinem Willen – verstehst du? –, aber in alter Freundschaft und Verbundenheit.« »Geteilt?«, erwiderte Ruben, »ich erlöse sie vom Einerlei deiner Kickerei, vermittle ihr Kultur, während du verbissen und stur hinter dem Ball herrennst.« »Du bist doch Fußball-Fan?« »Kein so fanatischer mehr wie in Tegucigalpa.« »Vielleicht ist es Zeit, dass wir zu Einzelpaaren zurückkehren.« »Willst du mir Ofélia anstelle von Yolanda überlassen?!«
Pablo, der bisher ruhig geblieben war, erbleichte unter einem Adrenalinschub und verstummte. Aber Ruben setzte ihn weiter unter Druck: »Jetzt musst du dir’s gründlich überlegen. Als Impresario polstere ich dein Nest. Ohne mich wärst du niemand. Ich könnte mich gezwungen sehen, dich im Stich zu lassen und deine Konten zu sperren. Dann ist es aus mit der Dolce Vita!« Als Ofélia wieder eine Woche zurück in Zürich war, flog Pablo über den Atlantik. Neben ihm saß Enrique Pavón. Sophokles hatte ihn mit Naxquitl und Luna in den Nationalkader berufen. Gegen Trinidad und Tobago. »Die sollten zu knacken sein«, meinte Enrique trocken. Auch Pablo war siegesgewiss. Nachdem das Thema Länderspiel erschöpft war, Abendessen und Wein an Bord die Zungen gelöst hatten, schilderte er Enrique, was ihn bedrückte. Dabei versuchte er nicht, die Faszination zu verheimlichen, die Yolanda auf ihn ausübte. Enrique, der stolzer Vater eines kleinen Mädchens war und mit Estela eine glückliche Ehe führte, kamen Dreier- oder gar Viererbeziehungen reichlich frivol vor, unpassend für einen Elitespieler. »Ihr kommt mir vor wie siamesische Vierlinge«, urteilte Enrique. »Hast du mit Isabel und Naxquitl über die Probleme diskutiert?« »Isabel will ich nicht damit belästigen«, antwortete Pablo und wurde sich bewusst, dass er sogar einer Aussprache mit Ofélia bisher ausgewichen war. Über dem Atlantik wälzten sie die Probleme hin und her. Zu Beginn des Sinkflugs auf Miami bekannte Enrique: »Ich kann es drehen und wenden, wie ich will. Was du auch tust, ist falsch. Du hast einfach zu lange die Zügel schleifen lassen. Trotzdem finde ich, dass du Ofélia wieder treu werden musst.«
»Das ist es ja, was ich will und dann doch nicht schaffe. Soviel ich weiß, geht es Ofélia ähnlich. Sie will Ruben fortschicken und dann doch wieder nicht.« Die Maschine vibrierte in einer Böe.
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Nicht immer benehmen sich Fans wie Chauvinisten. Beim Match Honduras gegen Trinidad und Tobago tat Lempira, der Einpeitscher aus San Pedro Sula, als könnte er kein Wässerchen trüben. Sogar sein nervöses Augenzwinkern fiel nur Eingeweihten auf. Dem Karibikstaat war er gewogen, weil er dort eine nette Tante hatte. Auch fand er, die Unterstützung der Zebras durch ihre Fans sei unnötig. Denn im Vergleich zu den Honduranern waren die Kariben Feld-, Wald- und Wiesenkicker. So pfiff Lempira auf die üblichen Gepflogenheiten der Fanbande und beschloss, Trinidad und Tobago zu unterstützen. Auf Transparenten, die in der Südkurve des Estadio Nacional entrollt wurden, war zu lesen: Bienvenidos Amigos Caribeños und Trinidad y Tobago, que equipo simpático! Die Fans brannten Feuerwerk ab und vernebelten die Ränge mit Rauch in den Nationalfarben der Insulaner, rot, weiß und schwarz. Während des Spiels bejubelten sie jede halbwegs gelungene Aktion des Gästeteams, das fast nur aus Afrikanern bestand. Kaum gelangten die Insulaner in Ballbesitz, spornte sie eine Steelband aus LaCeiba noch zusätzlich an. Lempira hatte Recht. Trotz der lautstarken Anfeuerung der Gegner, die eine fröhlich ausgelassene Atmosphäre schuf, wie sie in Stadien höchst selten anzutreffen ist, kam es, wie es kommen musste: Honduras siegte 5:1. Sogar Torwart Enrique reihte sich unter die Schützen ein, indem er einen Elfmeter souverän verwandelte. Nach dem Spiel lud Sophokles die Nationalelf ins Lokal des Stadions ein. Mit dabei waren die Söldner aus dem Ausland,
darunter auch Marcio, der aus Trujillo stammte und neuerdings mit Brescia in der zweiten italienischen Liga spielte. Während eine Runde SalvaVida ausgeschenkt wurde, dozierte der Trainer seinem Team: »Unser Ziel ist die WM in Frankreich. Heute war’s ein Spaziergang. Die erste Phase der Vorqualifikation ist überstanden, doch in der zweiten Phase stehen harte Prüfungen an. Wir treffen auf Gegner von ganz anderem Kaliber als Trinidad und Tobago. Vielleicht auf Mexiko und die USA, oder auf El Salvador, Costa Rica und Kanada. Schenkt den Trainern in Europa keinen Glauben. Aus Eigennutz werden sie euch raten, bei Einsätzen für Honduras den Körperkontakten auszuweichen und hartes Einsteigen zu meiden. Fehlendes Engagement, merkt euch das, werde ich auf keinen Fall dulden. Ich verlange totalen Einsatz!« Auf die Gardinenpredigt folgte der gemütliche Teil. Bier- und Lärmpegel stiegen. Erst recht als Livia Yacamán eintrudelte. Sie kam in Begleitung von Freundinnen, die in extravaganten Monturen den Spielern vor der Nase herum scharwenzelten, mit grellen Fächern wedelten und Nachtklub-Stimmung verbreiteten. Auch Elsa tauchte auf. In Bluejeans, Ledergürtel und gestreifter Zebrabluse kam sie sich deplatziert vor. Pablo umarmte sie. »Aber du kommst noch bei uns vorbei?«, fragte Elsa. »Ada und Juan möchten dich unbedingt sehen.« »Sicher«, gab Pablo zur Antwort, »nur ist meine Zeit sehr beschränkt. Morgen fliege ich zurück nach Zürich.« »Schon morgen?« »In Europa laufen die Landesmeisterschaften auf Hochtouren. Unser Trainer ist stocksauer, wenn ich ein Aufgebot für die Nationalmannschaft erhalte. Zu viel Stress sei schlecht für mich, sagt er. Er meint damit das ständige Pendeln über den Atlantik. Außerdem behauptet er, die Mühe sei umsonst, Honduras könne sich sowieso nicht für die WM qualifizieren.« Da pirschte sich Livia heran, drängte Elsa
verächtlich zur Seite und wollte Pablo zu einem Tanz entführen. Doch er wies sie ab: »Versteh mich bitte, Livia, ich habe Dringendes mit meiner Schwester zu besprechen.« Resolut durchbrach Pablo den Kordon von Spielern, Offiziellen und Journalisten, die Sophokles umringten. Der Trainer zeigte Verständnis für sein Anliegen, unverzüglich abzuhauen, um die Familie zu besuchen, und entließ ihn mit herzhaftem Abrazo. Livia blieb nicht der Hauch einer Chance. Elsa chauffierte ihn zum Abhang des Picacho, über dem wie immer die Christusstatue leuchtete. Im Haus wurden sie von Ada und Juan mit Hallo empfangen. Sie gratulierten Pablo zum fünften und letzten Tor des Tages. »Keiner Erwähnung wert, dass ich gegen diese Lämmer auch noch getroffen habe«, relativierte Pablo seine Leistung, »das Goal war lediglich Garnitur des Endresultats. Aber wartet, bis es gegen El Salvador geht!« Ein Match gegen den Erzrivalen stand momentan nicht auf dem Programm, geisterte aber durch Pablos Wunschvorstellungen. Wollte er seinen Vater durch Tore rächen? Ada wenigstens dachte an diese Möglichkeit. Sie war mächtig stolz auf ihren Sohn und setzte ihm Pupusas vor, eine seiner Leibspeisen. Auch Pablo hatte an seine Mutter gedacht und zog Pakete mit Sprüngli-Pralinen aus einer Plastiktüte. Damit nicht genug. Juan, der Ada gleich etwas von der Schokolade stibitzte, erhielt eine Swatch in Fantasiefarben. Sofort zog er sie an und präsentierte den Arm. »Was sagst du dazu, Adita?«, fragte er. Ihren Anflug von Neid besänftigte Pablo, indem er ihr eine Damenuhr von Omega ans Handgelenk zauberte. Elsa schenkte er einen Alpkäse. »Der ist zum Essen«, spaßte er, als seine Schwester nicht recht wusste, was sie mit dem Laib anfangen sollte. Als letzte Gabe entrollte er ein Poster und kommentierte: »Eine Luftaufnahme von
Sankt Moritz und den Seen im Engadin, vielleicht etwas für dein eigenes Reisebüro, Elsa?« »Oh wie schön!« »Ich könnte dir bei der Gründung helfen.« Wäre nicht übel, dachte Elsa, die es nicht gewagt hatte, Juan und Ada um finanzielle Unterstützung zu bitten. Die hatten genug für die Familie getan. Neben Pablo dachte sie schon eher an Isabel, die vor kurzem in Stuttgart einen kräftig brüllenden Sohn geboren und ihm den Namen von Großvater Carlos gegeben hatte. Mit blühender Phantasie weissagte Naxquitl schon jetzt, dass sein Sohn einmal die Torschützenliste von Real Madrid anführen werde. »Wo ist denn Großmutter?«, fragte Pablo. Ada und er gingen zusammen in ihr Zimmer im oberen Stock. »Es geht ihr schlecht, sie hat Mühe mit Atmen«, erklärte die Mutter. Sara lag mit erhobenem Oberkörper auf dem Kopfkissen und keuchte vor sich hin. Als sie ihren Enkel erkannte, huschte ein müdes, aber glückliches Lächeln über ihr Gesicht. »Armes Großmütterchen«, sagte Pablo und strich ihr zärtlich über den schütteren Haarschopf. Da platzte unten die Nachbarin herein und rief schon in der Türe: »Habt ihr das gehört!? In Guatemala hat sich ein schreckliches Unglück ereignet. Statt 45 000 haben sich 60 000 Zuschauer ins Stadion gezwängt, um bei einem wichtigen Spiel dabei zu sein. Eine Betrügerbande hat 15 000 Karten gefälscht und zusätzlich verkauft. Darum sind viel zu viele Leute eingelassen, Hunderte zu Tode getrampelt oder zerquetscht worden. Könnt ihr euch so etwas vorstellen!?« Die Hiobsbotschaft machte alle todtraurig. Ada und Elsa schlugen das Kreuz, Juan verschränkte die Arme. Es dauerte Minuten, bis wieder Farbe in ihre Gesichter zurückkehrte. Nur Pablo bekam vorläufig nichts mit. Er saß oben bei der Großmutter und hielt ihr die Hand.
Noch während der Nacht fuhren Enrique, Pablo und Naxquitl im Expressbus nach San Pedro Sula und flogen am Tag darauf nach Europa zurück.
Kaum war Luna retour am Hönggerberg, rief ihm Yolanda zu: »Übermorgen Abend erwartet dich Starmodel Yolanda auf dem Steg.« »Und ich spiele gegen Basel.« »Wann?« »Anpfiff ist um vier Uhr. Vielleicht reicht es mir knapp, um bei deinem Auftritt dabei zu sein.« »Wenn dich Haubold überhaupt aufstellt. Du siehst nach Jetlag aus.« »Zu einem Teileinsatz komme ich garantiert. Alles hängt vom Verlauf des Spiels und der Laune des Bosses ab.« »Bis halb neun sollte es dir reichen. Die Modeschau findet im Dolder statt. Hast du einen schicken Anzug?« »Glaubst du, ich muss mich vornehm anziehen?« »Statt Blauweiß trägst du Schwarzweiß mit Krawatte oder Propeller.« Pablo musste gestehen, dass er keinen einzigen Galaanzug besaß. »Dann musst du eben einen kaufen. Ich begleite dich zu Armani«, bestimmte Yolanda dezidiert. Pablo sah ein, dass Gegenwehr zwecklos war. Bei Armani beriet ihn die Filialleiterin unter den kritischen Augen von Yolanda. Er wurde tiptop eingekleidet. Als Ofélia und Ruben ihn auf dem Hönggerberg im schwarzen Zweireiher erblickten, kugelten ihnen beinahe die Augen aus den Höhlen. Das Gewand saß perfekt, betonte seine breiten Schultern und schmalen Hüften, der Schlips mit blauweißen Streifen, die halb auf GC- und halb auf Zebra-Art angeordnet waren, wippte
kokett. Selbst für Ofélia war Luna kaum mehr zu erkennen. Bisher hatte er sich über Galaanzüge nur lustig gemacht. Unter Yolandas Einfluss schien er jetzt seine Haltung zu ändern. War das Modegewand ein Fanal zu seinem Einzug in die Welt des Glamours? Ein Paar, sie Topmodel und er Fußballstar, hatte durchaus Platz in der High Society. Ofélia hatte die Schreckensvision, die Modeschau könnte Yolandas weiblicher Absatztrick sein, um ihr den Ehemann auszuspannen und sie im Regen stehen zu lassen. Fragen über die Art der Show, die im Grand Hotel Dolder stattfinden sollte, wich Yolanda aus. Sie verriet partout nicht, um was für eine Kollektion es sich handelte. »Eine Vorführung von schulter- und rückenfreien Ballroben?«, fragte sich Ofé und zog gereizt die Augenbrauen hoch. Wie hin- und hergerissen auch Ruben war, hatte Ofélia während der Abwesenheit ihres Mannes erfahren. Im Terzett zeigte Ruben kein Interesse, mit beiden Frauen im selben Bett zu schlafen. Einmal bevorzugte er Yolanda, bei anderer Laune Ofélia. Eine Wahlmöglichkeit, die ihm reizvoll schien, für Ofélia aber problematisch war. Sie erwog allen Ernstes, ob es nicht besser wäre, Yolanda aus der Wohnung zu weisen. Die naturalisierte Italienerin konnte sich ja an Ruben halten. Doch bei dieser Überlegung wurde sie sich wieder bewusst, wie sehr sie an ihrem alten Schulfreund hing. Ruben könnte es einfallen, Yolanda zu begleiten. Ohne Ruben fehlte ihr die kulturelle Welt. Sie war nicht weniger ambivalent als die beiden Männer. Kürzlich hatte ihr Ruben das Kunsthaus und die Sammlung von Alberto Giacometti gezeigt. Die überschlanken Skulpturen des Künstlers, die das Schreiten von Menschen ins Mystische und Mythische erhoben, hatten sie begeistert. Eine Trennung von Ruben würde wohl außerdem bedeuten, dass er als Impresario nicht mehr zur Verfügung stand. Während Pablos Abwesenheit war es zu einer Szene
gekommen. Als Ofélia eines Abends anlehnungsbedürftig war, Schnulzen im Radio gehört und das Lied Cielito lindo gesungen hatte, wollte Ruben nichts von ihr wissen und zog Yolanda vor. Er kaprizierte sich, mit ihr Tango zu üben, obwohl er mehr hopste als glitt. Ofélia ließ nicht locker und versuchte, Ruben mit einem Buch über Joan Miró aufs Sofa zu locken, worauf Yolanda heftig reagierte. Sie biss Ofé so in die linke Schulter, dass die Zahnabdrucke eine Woche lang sichtbar blieben. Die Honduranerin revanchierte sich und gab dem Model eine Ohrfeige. Darauf fauchten sich die Frauen an wie zwei Wildkatzen und gingen mit roten Köpfen auf ihre Zimmer. Diesmal hatte Ruben das Nachsehen. Tango nada, nada Tango.
Die Show von Feldpausch hatte längst begonnen. Im Licht der Scheinwerfer und zu Popmusik stelzte ein Model nach dem andern auf Highheels über den Laufsteg, wiegte und drehte sich. Da glitzerte der Silberbrokat, dort wurden die Falten einer Samtrobe zu einem Fluidum, da schmückte ein Vogelnest einen Hut mit geschwungener Krempe. Ofélias und Rubens Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Gespannt warteten sie in der vordersten Reihe auf Yolandas Auftritt. Als die Hälfte der Show vorbei war, stahl sich Pablo in den Saal. Er hielt sich im Hintergrund. Die Grasshoppers hatten den Erzrivalen Basel im Hardturm 1:0 geschlagen. Er war der Torschütze gewesen, in der dritten Minute der Nachspielzeit. Lalas scharfe Flanke hatte er direkt abgenommen und den Ball ins Netz gedonnert. Wie zurecht vermutet hatte er zuerst die Ersatzbank gedrückt. Erst in der Mitte der zweiten Hälfte kam er zum Einsatz, mit Haubolds Anweisungen versehen, einem Rest Jetlag in den Knochen, aber Torhunger. Präsident Urs Pfister beglückwünschte ihn unter der Dusche und verkündete,
heute Abend lade er die Mannschaft zu einem feinen Nachtessen ein. Pablo genierte sich, ihm abzusagen. Die Klubleitung grollte den Spielern, die aus persönlichen Gründen kniffen, besonders wenn es sich um den Schützen des entscheidenden Tores handelte. »Wenn du schon zur Show musst, was ich überhaupt nicht begreife, so kommst du wenigstens zum Aperitif«, hatte ihn Haubold angeherrscht. Wohl oder übel musste er gehorchen, mit Vorstand, Presseleuten und Kollegen im Klubcafe anstoßen. Im letztmöglichen Augenblick und in der Hoffnung, er habe Yolandas Auftritt nicht längst verpasst, stürzte er sich in ein Taxi und ließ sich zum Hönggerberg fahren. Dort ließ er den Wagen vor der Türe warten, stürmte ins Badzimmer, rasierte sich hastig und betupfte Wangen und Kinn mit Aftershavelotion, bis der Duft ihn zum Niesen reizte. In den neuen Anzug schlüpfte er flugs, aber mit Bedacht. Graciela band ihm den Schlips um, zupfte ihn zurecht und strich das Jackett glatt. Den Taxifahrer verleitete er dazu, die Kurven zum Dolder-Grandhotel hinauf enger zu nehmen, als es ratsam war. Im Saal wurde die Geduld der Zuschauer weiter strapaziert. Jetzt fand sogar Pablo, Yolanda könnte nun endlich kommen. »Noch so ein Glamourgirl«, dachte er, »mit der Ausstrahlung einer Schaufensterpuppe.« Da erschien sie, in einem knöchellangen Schlabberkleid, dessen schneeweißer Faltenwurf in der Hüfte gebündelt war, mit einem Dekolleté, das zugleich verhüllte und enthüllte. Aus dem herzförmigen Ausschnitt im Körperzentrum lugten sonngebräunte Haut und ein Brillant, der im Rampenlicht aufblitzte. Eine flachsblond gefärbte Haarsträhne, an der ein Amethyst funkelte, zog auslaufend über die linke Augenbraue. Es war eine Hochzeitsrobe, denn sie trug ein Krönlein mit Edelsteinen. Pablo riss die Arme in die Luft, klatschte über dem Kopf, klapperte mit der Sohle und rief »Brava!«, eines der
wenigen italienischen Worte, die er von der Neapolitanerin gelernt hatte. Einmal mehr wurde Ofélia inne, wie attraktiv ihre Rivalin war. Auch Ruben schnellte vom Sitz und krähte »Bravissima!« Zuvorderst auf dem Laufsteg drehte sich Yolanda tanzend um die Achse, stoppte brüsk wie eine Eiskunstläuferin, verneigte sich zum Publikum und winkte mit karminfarbenen Rosen, die ihr Verehrer zugeworfen hatten. »Was soll das jetzt?«, durchfuhr es Pablo, als sich das Model der hochhackigen Schuhe entledigte, vom Podium barfüßig aufs Parkett hüpfte und sich einen Weg durch die applaudierende Menge bahnte. Dass er Yolandas Ziel war, begriff Pablo erst kurz bevor sie ihm eine duftende Rose in die Brusttasche steckte. Aus einem Kratzer am Zeigfinger, den ihr ein Dorn zugefügt hatte, quoll ein Blutstropfen. Sie schleckte ihn weg und schlang ihre Arme um Lunas Hals.
24
Im achten Jahrhundert nach Christus, zur Blütezeit der Mayakultur, herrschte in Copán Fürst Rauch-Schale. Eben erst war er vom Feldzug in den subtropischen Dschungel zurückgekehrt, wo er die Stadt Quiligua überfallen hatte. Im Kampfgetümmel nahm er einen feindlichen Würdenträger und einen Trupp Krieger gefangen und verschleppte sie nach Copán. Der Angriff war Rache dafür, dass sein Urahne im Amt, 18-Kaninchen, der Pyramiden und Stelen von hohem künstlerischen Rang hinterlassen hatte, einst auf dem Ballspielplatz von Quiligua geopfert worden war. Um ein bedeutsames Ballspiel vorzubereiten, so war Rauch-Schale fest überzeugt, brauchte es eine Periode der Einstimmung, eine Abfolge von Ritualen, die Stufe um Stufe das dramatische Finale einläuteten, ein Crescendo. Frauen durchbohrten sich die Zunge mit Dornenzweigen, Edelleute ritzten sich den Penis. Menschenblut zu spenden war notwendig, um die Götter zu nähren und den Lauf des Kosmos zu sichern. Das Ballspiel kulminierte in der Enthauptung eines Spielers, entweder des Verlierers oder sogar des Siegers. Ein Priester vollzog das Opfer mit dem Obsidianmesser. Durch das Blut, das aus den Halsschlagadern pulste, wurde das Rad der Zeit angetrieben und in Schwung gehalten. Die Opfergaben sicherten den Dynastien und Völkern ihr Fortbestehen, vermieden, dass der Dschungel die Maya-Städte überwucherte und Baumriesen mit ihren Wurzeln die Fundamente von Häusern und Pyramiden sprengten. Fürst Rauch-Schale sprach zu seinem Volk: »In Copán wird es Zeit für ein Ballspiel. Um die große Treppe, auf der die
glorreichen Werke unserer Vorfahren aufgezeichnet sind, gebührend einzuweihen, wollen wir ein Fest feiern und meines Urahnen 18-Kaninchen gedenken. Trauert nicht länger um ihn. Heute sind wir stärker denn je. Der tote Fürst mit dem Symbol des Schmetterlings auf der Brust grüßt vom Firmament. Von oben leuchtet er uns als Leitstern und verhilft uns zu Siegen. Ihm zu Ehren üben wir Rache an den Feinden. Ein Fürst von Quiligua ist in unserer Gewalt. Geht hin und ritzt die Rinde des kräftigsten Gummibaums, den ihr finden könnt, härtet den klebrigen weißen Saft und formt daraus einen Ball. Helm, Hüftschutz, Ellbogen- und Knieschoner müsst ihr den Spielern so anpassen, dass sie sitzen wie angegossen. Ihre Helme mit Quetzal- und Ara-Federn sollen glänzen wie Mond und Sterne. Frauen, schmückt euch mit Jade-Ketten, verwandelt den Zeremonienplatz in ein Blumenmeer und räuchert Kopal, bis es weit herum duftet. Dann blast die Flöten, und Männer, schlagt die Trommeln.« Alle verneigten sich vor dem Herrscher und arbeiteten auf den Festtag hin, alle wollten ihren Beitrag leisten, damit die Welt nicht unterging, damit sie sich dank des Ballspiels und der Blutopfer bewegen und erneuern konnte.
25
Wieder waren anderthalb Jahre verflossen. Nach Einbruch der Dämmerung rauchte Juan Ramos Alvarado in seinem Büro eine kubanische Zigarre. Um ihn herum Sessel und ein Tisch im Kolonialstil, Kristallleuchter, Regale mit Lederbänden und, wie ein Fremdkörper, eine Minibar. An den hell tapezierten Wänden hingen Aufnahmen der Teams von Olimpia und der Zebras sowie ein Porträt des Landespräsidenten Carlos Flores. Auf dem Pult stapelten sich Aktenberge. Dazwischen versteckten sich glasgefasste Fotos von Ada und Pablo. Juan las im Sportteil von La Prensa ein Interview mit Sophokles. Für das Qualifikationsspiel, das über die Teilnahme an der Weltmeisterschaft entschied, forderte der Trainer ein frühes Einrücken der Spieler aus Europa. Reisemüdigkeit könne er nicht tolerieren. Auch sei genügend Zeit einzuplanen, um die »Ausländer« in die Mannschaft zu integrieren. Dank eklatanter Erfolge gegen die USA und Costa Rica nahm Honduras hinter Mexiko vorläufig den zweiten Tabellenrang ein, der zur WMTeilnahme in Frankreich berechtigte. Wie heute jeder Erstklässler wusste und Luna einmal geahnt hatte, hieß der letzte Gegner ausgerechnet El Salvador. Schon mit einem Unentschieden konnten die Nachbarn Honduras überholen und sich an seiner Stelle qualifizieren. Unter den Spielern zählte Sophokles besonders auf Naxquitl, Luna, Enrique, Marcio und Luis Martinez, der bei Atalanta Bergamo verteidigte und zur Stammformation gehörte. Alle fünf waren auf dem Zenith ihres Könnens angelangt und ideal befähigt, den Zebras ein stabiles Gerüst zu verleihen, altbewährte Stützen wie Alonso zu Sonderleistungen zu
motivieren und junge Talente mitzureißen. Die Auswahl des Kaders sei getroffen, betonte Sophokles im Interview. Nun gelte es, die Selektion zu einer verschworenen Einheit zusammenzuschweißen. Wie damals vor dem Fußballkrieg entbrannten Streitgespräche zwischen den beiden Staaten. »Den Salvadorianern werden wir’s zeigen. Schließlich haben wir Naxquitl, Enrique und Luna. Wen haben sie denn gegen uns aufzubieten? Lauter Weicheier!«, war in La Prensa zu lesen. »Unsere Armee ist mobilisiert, bis auf die Zähne bewaffnet und mit Raketen ausgerüstet, Reichweite El Salvador und darüber hinaus.« Juan sammelte Zeitungsausschnitte, die das bevorstehende Spiel betrafen. Journalisten und Publikum verfielen einer Hysterie, die nur historisch zu verstehen war. Obwohl inzwischen 28 Jahre vergangen waren, saßen die Schrecken des Fußballkriegs nicht nur Ada und Juan, sondern der gesamten älteren Generation noch in den Knochen. Hüben und drüben wurden die Jungen angesteckt. »Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage«, titelte ein Chefredakteur aus San Pedro. In El Salvador rühmte ein Kollege: »Schon 1969 haben wir die Zebras aus der Konkurrenz geworfen, mit dem denkwürdigen Sieg in Mexico City, den wir nun in Tegucigalpa wiederholen werden.« Weiter unten war zu lesen: »Im Fußballkrieg waren wir daran, die Honduraner zu zermalmen wie Zuckerrohr. Nur die Weltmächte konnten uns an der Invasion hindern.« Diesen Darstellungen widersprach die honduranische Presse und erinnerte daran, dass die feindliche Luftwaffe schon kurz nach Kriegsbeginn vernichtet wurde. Großmütig hatte Honduras den Frieden angeboten. Die rhetorischen Scharmützel schürten das Feuer. Wenige konnten zwischen Fußbällen und Kanonenkugeln unterscheiden. Ein beliebtes Thema in den Spelunken von Tegucigalpa war auch Pablos Können. In La Prensa erschienen Bilder, die
zeigten, wie er dribbelte, köpfte, hechtete und schoss. Der Grasshopper-Klub Zürich war hier zu Berühmtheit gelangt, wurde öfter erwähnt als Manchester United oder Botafogo. Man wusste, dass Pablos Verein in der Kapitale des Kapitals und der Fifa zu Hause und Rekordmeister des Landes war. Lunas Glanztaten wegen waren die Grasshoppers nur noch eine Daumenlänge davon entfernt, erneut den Meistertitel zu holen und in der Champions League für Furore zu sorgen. Juan war erleichtert, dass wenigstens die Politiker in beiden Lagern nüchtern blieben und auf Kriegsfanfaren verzichteten. Obwohl die Beziehungen zwischen den beiden Ländern unter Dauerfrost litten, war ein Waffengang praktisch ausgeschlossen. Was die honduranische Regierung hingegen befürchtete, waren Krawalle oder eine Katastrophe wie die in Guatemala. Um Fälschungen auszuschließen, versah man die Eintrittskarten mit Wasserzeichen. Aus Sicherheitsgründen verlegte die Armeeleitung Bataillone der regulären Streitkräfte nach Tegucigalpa. Soldaten verstärkten die Staatspolizei, die ebenfalls in der Hauptstadt konzentriert wurde. In anderen Regionen des Landes wie LaCeiba oder Gracias Lempira war die Präsenz der Ordnungshüter so ausgedünnt, dass die Diebe arrogant wurden. Ihr Handwerk blühte. Nachdem Juan zwei Zeitungsartikel herausgetrennt hatte, griff er zum Hörer: »Ada, Carísima, kommst du heute zum Abendessen?« »Sehr gern. Um sieben Uhr bei dir?« »Okay. Weißt du schon, wann unsere Europäer ankommen?« »Soviel ich weiß, stehen in Zürich und Stuttgart die Abflugtermine noch nicht fest. Die Trainer wollen ihre Spielmacher möglichst spät frei geben. Wenigstens ist keiner verletzt.«
»Das würde gerade noch fehlen«, schimpfte Juan, erhob sich aus dem Sessel, sagte: »Also auf bald«, und nahm den Spazierstock zur Hand. Zur gegebenen Zeit machte sich Ada zur Calle los Dolores auf, wo Juan wie eh und je in seiner Villa residierte. Elsa war ebenfalls willkommen und begleitete sie. Im Gegensatz zu früher hatte Juans Ehefrau Rosalba nichts mehr dagegen, wenn Ada auftauchte. Seit sie in der Menopause war, hatte sie die Eifersucht besser im Griff. Sie fand, ihr Mann hätte eine schlimmere Konkubine wählen können. Ada war der Schritt von der Marktfrau der Avenida Barahona zur BoutiqueBesitzerin an der Avenida Morazán gelungen. Rasch hatte sie gelernt, sich ungezwungen in der Oberschicht zu bewegen. Etikettenfehler parierte sie mit Geschick. Mit fünfzig Jahren war sie gertenschlank geblieben, hatte außer ein paar Falten im Gesicht und auf dem Handrücken eine glatte und weiche Haut. Um ihre Mundwinkel spielte ein jugendlicher Schalk. Dank ihres kaufmännischen Geschicks kam sie jetzt ohne Zuwendungen des Freundes aus. Geschenke aber nahm sie gerne an. Der Geschmack, den sie beim Handel mit Holzschnitzereien entwickelt hatte, übertrug sich auf die Garderobe. Wenn man von ihrer Vorliebe für breitkrempige Hüte und bunte Bänder absah, war sie stets unauffällig, aber stilvoll angezogen. Sie schminkte sich dezent. Mit Hilfe des Startkapitals von Isabel und Pablo führte Elsa seit kurzem ihr eigenes Reisebüro, das der Boutique ihrer Mutter gegenüberlag. Pablos Schwester hoffte sehr, dass sich Honduras für die WM qualifizierte. Das würde den Appetit auf Europareisen mächtig ankurbeln. Auch mit geborgtem Geld ließ sich eine Reise nach Frankreich buchen. Kürzlich hatte Lempira sie aufgesucht. Der Fanboss, der die Supporter von Real España und der Nationalelf anführte, kam lausig daher, zwinkerte zwanghaft mit den Augenlidern, strahlte aber eine
hintergründige Faszination aus. »Das Spektakel im Estadio Nacional darfst du nicht verpassen«, redete er Elsa ein. »Ich bin daran, eine einmalige Choreographie zu komponieren. Unsere Fankulisse wird El Salvador in die Knie zwingen. Wir schreiben Transparente, stellen Konfetti, Fahnen, Schärpen, Raketen und Knallfrösche bereit. Denn bevor ich meine Funktion an einen Nachfolger übergebe, will ich mit den Fans nach Frankreich fliegen und die Zebras zu Supertaten entflammen.« Rosalbas Dienstmädchen mit der geblümten Schürze, die nun ergraut war und Wangen wie ein geschrumpfter Apfel hatte, empfing Ada auf der Schwelle der Villa und nahm ihr den Hut mit Arafedern ab. Von hinten aus dem Flur klangen ein sonores »Bienvenidos!« und ein dünnes »Como están?« Im Salon kredenzte Juan Chardonnay aus Chile, und Rosalba bot eine Auswahl von Walnüssen an. Ada stellte einen Früchtekorb neben die würdig tickende Standuhr aus Extremadura, woher die Konquistadoren Hernán Cortés und Pedro de Alvarado stammten. »Heute gibt’s ein Krevettenfestival«, verkündete der Hausherr, »Produkte aus meinen Farmen. Der Export läuft prächtig. Gerade ist ein Frachter mit Tiefkühltruhen von Puerto Cortés ausgelaufen, Bestimmungsort Cherbourg.« Dann neckte er Elsa: »Hättest du was dagegen, wenn Honduras die Ausscheidungen überstehen würde? Dann müsstest du dein Reisebüro sprunghaft vergrößern.« Elsa kam der Optimismus ihrer Landsleute vermessen, ja sogar unheimlich vor. Das hatte seine Gründe. Lempira strahlte eine Zuversicht aus, die weit über das Spiel gegen El Salvador hinausging. Über eine englische Agentur hatte er gewettet, Honduras werde Weltmeister. Sollte sich der Traum verwirklichen, würde der Gewinn das 1001-fache des Einsatzes betragen. Da er fünftausend Dollar gesetzt hatte, die,
wie später durchsickerte, auf Umwegen aus dem Drogenhandel kamen, könnte er fünf Millionen kassieren. Gut gelaunt und von solchen Gedanken unbelastet sprach Juan dem Chardonnay zu und küsste abwechselnd Ada und Rosalba. Weshalb er so fröhlich war, konnte er sich selbst nicht erklären. Er hielt es für selbstverständlich, dass seine Arbeit als Handelsattaché der Regierung, Garnelenzüchter und Bananenexporteur florierte. Den Präsidenten der Republik kannte er persönlich, Ada liebte er weiterhin, auch nachdem er die Sechzig überschritten hatte und immer noch dickere Hornbrillen brauchte. Mit Stolz erfüllte ihn, dass sich Schützling Pablo vom Internatsschüler zu einem Star gemausert hatte und auf der Schwelle zu internationalem Ruhm stand. Als sie an der zweiten Portion Krevetten an Meerrettichsauce waren, klingelte Adas Handy. »Pablo!«, schrie sie. »Pablo, bist du in San Pedro oder noch in Zürich?« Adas Gesicht verfinsterte sich, hellte sich aber gleich wieder auf, als sie hörte, der Flug über den Atlantik sei für den nächsten Tag gebucht. Elsa sprang vom Stuhl, entriss Ada den Hörer und rief: »Bruderherz, kommt Isabel mit? Und Ofé? Super, gute Reise!« Nun hatte die Hochstimmung Elsa angesteckt. Auch Ada, die mit Tanzschritten in die Küche ging, eine frische Ananas schälte und schnitt. Auf der größten Platte des Haushalts arrangierte sie Mangostücke um Ananas- und Bananenscheiben und träufelte Schnaps darüber. Ein »Ah« empfing sie im Salon, wo sie die Früchte mit dem Silberlöffel auf Glasschalen verteilte. Beim Nachtisch, zu dem Tequila gereicht wurde, geriet Ada voll in Fahrt und rief: »Wir werden gewinnen!« »Zur Hölle mit den Kriegshetzern von El Salvador!«, bestärkte sie Elsa, deren Bedenken über den Spielausgang sichtlich schwanden. Juan paffte an einer Fidel Castro-Zigarre.
Präsident Carlos Flores war darauf bedacht, dass sich das Spiel reibungslos abwickelte. Wochenlang hatte er Morgen für Morgen Generale und Berater ins Office befohlen, um Maßnahmen zur Sicherheit auszuarbeiten. Jetzt galt es, diese zu etablieren und zu koordinieren. Todernst beugten sich die würdigen Herren über den Stadtplan, auf dem die Zugangswege zur Arena rot markiert waren. Einzelne Hauptadern und Brücken waren zu sperren und für Fußgänger zu reservieren. Die Zufahrt für den motorisierten Verkehr hatte über den Boulevard Morazán zu erfolgen. Stets wurden die Einsatzpläne für Militär und Polizei dem neuesten Stand der Vorbereitungen angepasst. Als die Spieler aus Europa in San Pedro Sula landeten, waren sie erstaunt, wie streng sie von der Umwelt abgeschirmt wurden. Bereits beim Verlassen des Flugzeugs umringten sie Polizisten, die Presseleute und Zuschauer auf Distanz hielten. Im Flughafen selbst wurden sie von Soldaten beschützt. Sophokles hatte angeordnet, die Europäer, wie er sie nannte, sofort ins Trainingslager zu bringen. Mit Ausnahme eines Anrufs verbot er ihnen Kontakte zu den Angehörigen. Die Mütter Barbara und Ada fanden das völlig übertrieben. Die Auswahlspieler waren in der Hacienda eines ehemaligen Großgrundbesitzers untergebracht. Sie war frisch renoviert, lag zwanzig Kilometer von Tegucigalpa entfernt und wurde durch Eliteeinheiten der Polizei bewacht. Der Trainer schlauchte die Spieler geistig und körperlich. Ausflüchte wie »der Jetlag setzt mir zu«, »ich habe scheußliche Kopfschmerzen« oder »ich muss meinen Schatz besuchen«, fanden keine Gnade. »Missverständnisse zwischen euch werden wir ausmerzen«, verkündete Sophokles. »Noch bleiben uns zwei Tage, um zu einer Einheit zu wachsen, Doppelpässe, Zuspiele in die Tiefe, Seitenwechsel, Freistöße und Eckbälle zu üben. Merkt euch die einstudierten, für andere überraschenden Varianten bei
Standardsituationen. Eine Superkondition setze ich voraus.« Auf die Trainingseinheiten folgten taktische Besprechungen. Die Aufstellung der Mannschaft beruhte auf dem bewährten 4/4/2-System, das aus vier Verteidigern, vier Mittelfeldspielern und zwei Stürmern bestand. Flexibilität war ein Hauptthema von Sophokles Vorträgen. Während Druckphasen des Gegners mussten die Stürmer die Verteidigung verstärken, die Verteidiger, vor allem hochgewachsene und kopfballstarke wie Alonso und Luis, bei Eckbällen in den gegnerischen Strafraum vorrücken. Naxquitl betraute er mit der Rolle eines Mittelfeldregisseurs. Er musste die Drähte ziehen, das Spiel unter Ausnützung der ganzen Feldbreite überraschend verlagern und Steilpässe hinter die Verteidigung schlagen. Gewicht legte der Trainer auch auf die Überzahlbildung in Ballnähe. Er wurde nicht müde, Aufzeichnungen der letzten Spiele von El Salvador zu projizieren und zu kommentieren. Verspürte ein Spieler das leiseste Zucken in Oberschenkel oder Wade, wurde er vom Team-Arzt untersucht und unverzüglich behandelt. Die Masseure hatten sich nicht über Mangel an Arbeit zu beklagen. Mit Akribie kneteten sie auch die Muskeln der rundum Gesunden. Unter Beachtung des Alkoholverbots wurde der Teamgeist gepflegt. Ein beliebter Zeitvertrieb waren Diskussionen zwischen den Europäern und den Spielern, die im Land verblieben waren. Zusammen hörten sie Popmusik, sangen die Hits mit, hebelten an Fußballautomaten, ergötzten sich an Fernsehfilmen und Videogames. Auch Kartenspiele dienten der Zerstreuung. Mit dem selben Flugzeug wie Naxquitl, Enrique und Pablo waren auch Isabel und Ofélia angekommen. Ofélia wohnte bei ihren Eltern, die Comayagúela ebenfalls verlassen hatten und jetzt in der Colonia Palmira lebten, Isabel daheim bei Ada und Elsa. Das von Sophokles verhängte Besuchsverbot empörte auch sie. Trotzdem konnten sie sich nicht über Langeweile
beklagen. Ofélia chauffierte ihren Vater nach Valle de Angeles, wo der etwas klapprige Arturo noch immer seine Schreinerei betrieb. Die neueste Kreation waren Spielzeugdörfer und Haciendas im Kolonialstil. Maschinell schnitt er Holzklötze zu und schnitzte daraus Häuser. Wie früher lieferte er Ada seine Produkte zum Verkauf, wobei es ihn schon auf die Palmen jagte, wenn sie nur die besten Stücke auswählte und sagte: »Diesen Quetzal will ich. Nein, jenen dort nicht, diesen hier.« Als Ofélia jedoch durchblicken ließ, sie habe vor, einen Laden in der Zürcher Altstadt zu mieten und Kunsthandwerk zu verkaufen, war ihr Vater Feuer und Flamme. Die halbautomatische Herstellung der Holzdörfer versprach einen höheren Gewinn als rein manuelle Arbeit. »Könntest du mir drei Überseekisten füllen? Zwei mit Schnitzfiguren und eine mit Dörfern im Kolonialstil?«, fragte Ofélia. Gemeinsam durchkämmten sie das Sortiment und wählten Werke aus, die sie auf dem Fenstersims näher begutachteten. Für Arturo bedeutete der Auftrag der Tochter, zwei Monate lang in Valle de Angeles zu hausen, den ganzen Tag zu sägen und zu schnitzen. Barbara kam das nicht ungelegen. Neben der luxuriösen Wohnung in der Colonia Palmira besaßen sie ein Landhaus unweit des Ateliers. Die Luft der Pinienwälder erquickte sie, stärkte die Nerven und machte widerstandsfähiger gegen Erkältungen. Selten genug fuhr ein Reisebus vor und spuckte eine Hand voll Touristen aus, die sich für kolorierte Paradiesvögel interessierten. Nach dem Besuch der Werkstatt, wo zwei Gesellen hämmerten und wo es nach Leim und Sägemehl roch, verließ Ofélia ihren Vater und bummelte durchs Dorf. Vor einem Laden hingen Hängematten in allen Regenbogenfarben. Nach längerem Feilschen wurde sie mit der Besitzerin einig, von ihr eine größere Menge zu beziehen.
Zur selben Zeit besuchte Isabel das Ballett des Teatro Bonilla. Sie staunte, wie wenige Kameradinnen aus ihrer Zeit noch aktiv waren. Mit Ausnahme der Leiterin und einer Vortänzerin kannte sie niemanden mehr, schon gar nicht die kichernden Elevinnen. »Wie blutjung die doch sind«, wunderte sie sich, »und wie ehrgeizig.« Mit dem Blick der Geübten erkannte sie die Talentiertesten unter ihnen. Seltsam kam ihr vor, dass bei Fußballern und Tänzerinnen ähnliche Gesetze galten. Nur die Begabtesten hatten unter glücklichen Umständen eine Chance, ins Rampenlicht zu rücken oder gar Primaballerina zu werden. Isabel wurde sich auch bewusst, dass sie selbst total weg vom Fenster war, obwohl sie vor den Geburten auch in Stuttgart Ballett getanzt hatte. Die Choreographie hatte sich fortentwickelt. Wie Fußballtechnik und -taktik wandelten sich Mimik, Ausdruck und Schritte ständig. Der Tanz wurde immer artistischer, der Unterschied zwischen Ballett und Akrobatik nahm laufend ab. Zum ersten Mal seit der Geburt von Sohn Carlos begleitete Isabel ihren Ehemann zu einem Spiel. Die Attraktion des Heimatlandes war diesmal stärker gewesen als ihr schlechtes Gewissen, die Kinder allein zurückzulassen. Der Bub konnte jetzt gehen und erwischte, was nicht niet- und nagelfest war. Behänd kletterte er auf Stühle und Bänke, stürzte zu Boden und brüllte wie ein Affe, wenn er auf dem Bauch landete. Naxquitl schien es wichtig, dass Isabel Abstand zu ihren Pflichten gewann. Während ihrer Abwesenheit übernahmen es zwei Spanisch sprechende Spielerfrauen des VfB Stuttgart, abwechslungsweise die Kinder zu hüten. Wenigstens war Leandra bereits ein halbwegs vernünftiges Mädchen. Am nächsten Tag spazierten Isabel und Ofélia die Avenida Morazán entlang und besuchten Adas und Elsas Geschäft. Ofé überreichte Elsa ein Poster, auf dem das Matterhorn hinter dem Zürichsee den Himmel kitzelte. Natürlich wusste sie, dass das
helvetische Statussymbol von der Limmatstadt aus gar nicht zu sehen war. Aber was tat das zur Sache? Ohne zu zögern befestigte Elsa das Plakat an der Wand ihres Reisebüros, wo bereits Pablos Bild von Sankt Moritz und dem Engadin hing, und orakelte: »Bald muss ich auch den Eiffelturm aufhängen.« »Frankreich? Ach ja, Frankreich!«, dämmerte es Ofélia, und Isabel sagte: »Wenn es nur klappt.«
Das Estadio Nacional war seit Wochen ausverkauft. Dichte Kolonnen pilgerten zur Arena, als seien sie auf dem Weg zum Schrein des Heiligen Jakob in Santiago de Compostela. Die Betonschüssel mit den hohen Außenmauern schuf im Inneren eine Atmosphäre der Erwartung. Geschrei, Gejohle und Gebrüll der Fans, der Kampf um den Ball, das Schießen auf die Tore konnten nur im Oval des Stadions ihre Wirkung entfalten, einen Nebel von Irrationalität erzeugen. Juan verglich die Stimmung gerne mit Roms Kolosseum, wo Kaiser, Adel und Pöbel vereint auf den Marmorstufen gesessen hatten. Die Maßnahmen des Präsidenten bewährten sich. Im Zuschauerstrom, der sich über die verkehrsfreien Brücken ergoss, scharrte es von zehntausend Sohlen, es roch nach Haut und Schweiß. Vor dem Engpass des Puente Juan Ramón Molina stauten sich die Matchbesucher aus Comayagúela weit zurück in die Calle 9. Darunter waren viele Buben. Wie Pablo und Ruben bei ihrem ersten Arena-Besuch verschwanden sie im Wald der Beine. Unter der erbarmungslos brennenden Sonne wurden die Schlachtenbummler aus El Salvador zur Isla-Brücke kanalisiert und von Polizei eskortiert. Ihre Busse erreichten die Arena über die Avenida Morazán. Die Zugänge für Mitbürger bewachten Armeeangehörige, denn die Anzahl der Polizisten reichte nur für die Gäste, die man nicht durch Soldaten in Uniform provozieren wollte. An den
Stadionportalen wurden Waffen, alkoholische Getränke und Knallkörper beschlagnahmt. Die Salvadorianer kamen in Sektoren mit dreimal mannshohen Gittern, ebenso die Fans von Lempira. Als die automatische Zählung der Schaulustigen eine Summe ergab, die sich den maximal zulässigen 40 000 näherte, wurden die Pforten durch Ordnungshüter gesperrt. Auf Anordnung des Kommandos, das sich in den Katakomben des Stadions generalstabsmäßig eingerichtet hatte, wurde Tausenden der Zutritt verweigert. Offenbar war es nur teilweise gelungen, den Kartenfälschern das Handwerk zu legen. Die Wut der Zurückgewiesenen artete in Schlägereien aus. Augenblicklich wurde das Polizeikorps durch ArmeeEinheiten verstärkt, die die Gewalt im Keim erstickten. Über Lautsprecher wurde verkündet, dass Abgewiesene das Spiel auf Breitleinwand verfolgen durften. Dafür waren die Trainingsplätze von Olimpia und Motagua vorgesehen. Beim Schrein der Virgen de Suyapa stand ein zusätzliches Feld mit geeigneten Installationen zur Verfügung. Im Chaos vor den Portalen traf das Malheur auch Ofélia und Isabel, die im Gegensatz zu Ada und Juan den Fehler begangen hatten, anstatt schon drei erst zwei Stunden vor Matchbeginn zu erscheinen. Sie blieben in der Vorkontrolle stecken. Die VIPTickets nützten ihnen wenig. Im Salat der Argumente, wer trotz der polizeilichen Sperre noch einzulassen sei, waren die Ausweise von Spielerfrauen wenig wert. Wie sollte auch ein Soldat aus dem ländlichen Santa Barbara glauben, dass gerade diese beiden Frauen mit Luna und Naxquitl verheiratet waren? Die strenge Order lautete, mit Ausnahme von begleiteten Offiziellen niemanden mehr passieren zu lassen. Dass es Ofélia und Isabel wenigstens schafften, nach Suyapa und damit vor eine Breitleinwand zu gelangen, war alles andere als selbstverständlich. Auf dem Weg zum Trainingsplatz von Olimpia sahen sie ein, dass auch dort der
Zugang hoffnungslos verstopft war. Da erkannte sie ein älterer Herr, der sie in einer Fernseh-Reportage mit ihren Ehemännern gesehen hatte. Er führte sie aus dem Getümmel hinaus ins leere Stadtzentrum, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Über die Avenida La Paz und den Rio Chiquito erreichten sie von Norden her einen Parkplatz und mit einem Spaziergang von fünfzehn Minuten die Wallfahrtskirche von Suyapa. Vor der Breitleinwand des Fußballfelds lagerten um die tausend Zuschauer auf dem Rasen, fütterten und zähmten ihre Kinder. Hier gab es keine Salvadorianer. Den Platz säumten Plakate der Sponsoren: Schnittige Chrysler, rassige Sportwagen von Toyota und Ford, Nestlé-Kaffee mit Duftwolke; Microsoft und seine Programme angepriesen durch das enigmatische Lächeln von Bill Gates; die Pillen von Pfizer versprachen, auch nur den Anflug eines Schnupfens zu kupieren. Eben flimmerte der Einzug der Gladiatoren ins Stadion über den Schirm. Noch blieben ihnen Minuten, um sich aufzuwärmen und einzuspielen. Ein Pfeifkonzert für das Gastteam schepperte aus den Lautsprechern und schwoll noch an, als der Reporter den Trainer der Gäste erwähnte. Bei den Teamaufstellungen zuckte es auf dem Bildschirm. Schwarze Nacht, ein Aufstöhnen der Enttäuschung. Wenigstens funktionierte die Tonübertragung noch einwandfrei. Kurz vor Spielbeginn griff die Heilige von Suyapa mildtätig ein. Es knackte hinter der Leinwand. Wie durch ein Wunder kehrte das Farbbild zurück, scharf und in guter Qualität. Der Sprecher gab die definitiven Aufstellungen bekannt. Nicht nur Isabel und Ofélia kreischten bei den Namen Luna, Marcio und Naxquitl und bei der Ansage, Enrique werde mit seinen Zauberfingern selbst Gewehrkugeln abwehren. Ein Antreiber übernahm das Kommando auf dem Sportplatz von Suyapa und übte mit Einzelgruppen Olé-Rufe. Wer stellte denn in Zweifel, dass die Fernsehbilder der Realität entsprachen,
dass die Mannschaften über die Großleinwand ebenso anzufeuern waren wie aus den Kurven der Arena? Der Ball rollte. Honduras-Rufe fegten über den Platz. »Que vayan los Zebras! Mierda para los Salvadoreños!« Beim ersten Foul der Gegner intonierte ein Sprechchor: »Raus mit dem!« Doch das war nur der Anfang. Die Salvadorianer hatten es auf Naxquitl abgesehen, der die Bälle magistral verteilte. Gnadenlos mähten sie ihn um, von vorn oder von der Seite, nur nicht von hinten, um nicht die rote Karte zu riskieren. Sie rupften ihn am Trikot und versetzten ihm Püffe. An der Schulter getroffen, ließ er sich an der Seitenlinie die schmerzhaften Stellen besprayen. »Rot, du Idiot, dieser Gorilla hätte schon dreimal Rot verdient!«, brüllten Isabel und Ofélia. Ihre Seelen vor dem Breitschirm brodelten. »Rot dem Scheißkerl!«, rief eine Indianerin mit einem Säugling im Arm, »3:0 forfait für die Zebras!«, schrie ein Glatzkopf. Der Schiedsrichter kam aus Mexiko und mimte den Unparteiischen. Vielleicht war er es auch, obschon ihn die Honduraner »furchtbar ungerecht« nannten, bis er Freistoß für die Zebras pfiff. Naxquitl nahm Anlauf aus 25 Metern Distanz, überließ aber die Ausführung Luna. Mit dem Innenrist getreten, sauste der Ball mit Drall auf den linken Pfosten zu – »Tor!«, entfuhr es Ofélia und vielen andern –, doch er streifte nur das Holz und verfing sich im Seitennetz. Der Torwart wäre machtlos gewesen. Wieder zuckte es auf der Breitleinwand. Das Bild verblasste. Ein »He!« brandete über den Platz. Diesmal betraf die Panne auch die Übertragung des Tons. Die Zuschauer schimpften und scharten sich um Leute mit einem Radio. Wie ärgerlich, als der Sprecher sagte, dass sich die Sturmspitze der Gegner durchtankte, wie erleichternd, als er hinzufügte, er habe die hundertprozentige Chance kläglich vergeben. Dann eilte nach Ansicht der Zuhörer die Virgen de Suyapa Enrique zu Hilfe. Der Hüter faustete einen Flankenball,
der sich ins Lattenkreuz zu senken drohte, über die Latte. »Was ist nur mit Luna und Naxquitl los? Wo bleiben ihre Tore?«, fragten sich die beiden Frauen. Noch war nicht Halbzeit, als sich Ofélia und Isabel auf den Heimweg machten. Nur zu hören und nichts zu sehen, frustrierte sie. Der freundliche Herr, der sie hergebracht hatte und jetzt zurückführte, besaß kein Autoradio. In Unkenntnis des Spielverlaufs platzten sie fast vor Neugier. Als sie vor einer Ampel anhalten mussten, schraubte Isabel das Seitenfenster herunter und fragte einen Passanten mit dem Radio am Ohr: »Wie steht’s?« »0:0, die Salvadorianer mauern. Vor zehn Minuten hat die zweite Hälfte begonnen.« »Gehen wir heim zu meinen Eltern«, schlug Ofélia vor, »die Colonia Palmira ist ein Katzensprung von hier aus. Ich müsste mich gewaltig irren, wenn Barbara und Arturo nicht vor dem Kasten säßen.« Sie baten ihren Chauffeur, sie beim Hotel Honduras Maya abzusetzen, dankten ihm und legten die letzte Strecke zu Fuß zurück. Es war wie vermutet. Die Alten glotzten auf den Fernseher und ließen die Ohren hängen: »0:0, immer noch 0:0! Und nur noch zwanzig Minuten zu spielen.« Acht Minuten vor Spielende fischte Torwart Enrique einem Angreifer den Ball vom Fuß und schlug ihn im Bogen nach vorn. Naxquitl hatte den weiten Abschlag erahnt, ebenso die Position der Abwehrspieler. Wie ein Pfeil spurtete er in den freien Raum, wo ihm der Ball vor die Schuhe purzelte. »Abseits!«, schrien die Verteidiger dem Schiedsrichter zu, doch der Pfiff blieb aus, die Fahne des Linienrichters unten. Entschlossen rannte Naxquitl aufs gegnerische Tor zu, Ball am Fuß. Der Keeper lief aus dem Kasten, um den Schusswinkel zu verkürzen. Naxquitl durchbohrte ihn mit dem Blick, wandte
sich blitzschnell um, täuschte an, nach links zu stürmen, umlief aber die Polypenarme nach rechts, zögerte Bruchteile einer Sekunde – ewig lang – und schob ein.
26
Der Montag in Zürich war blau, blau, weil er trainingsfrei war, das Wetter aber grau und frostig. Der Novembernebel berührte die Dächer der Stadt, die Kirchtürme stachen in die graue Soße, ihre Spitzen verdämmerten. Am Hönggerberg waren die Umrisse der Nachbarhäuser nur schemenhaft auszumachen, aus Bäumen wurden Fratzen. Betreuer Franz Schmid rief an und schlug Ofélia vor, Pablo zu einem Ausflug zu verführen, denn über dem Nebelmeer strahle die Sonne. »Sonne?«, fragte Ofélia ungläubig, »und Nebelmeer, was ist jetzt das wieder?« Um ihr auf die Sprünge zu helfen, erläuterte Franz die meteorologische Situation: »Wir befinden uns unterhalb der Nebelgrenze oder stecken mitten im Nebel drin. Hier ist es kalt, darüber jedoch sonnig und warm. Man nennt das auch Inversion der Temperaturen. Leider kann ich euch nicht begleiten.« Spontan beschloss Ofélia, der Empfehlung von Franz zu folgen. Doch Pablo zauderte und suchte nach Ausflüchten. Bei heißem Kakao gelang es seiner Frau schließlich, ihn zu überzeugen. Das Argument, den neuen Porsche auszuprobieren, leuchtete ihm am meisten ein. Weil das Thermometer vor dem Fenster minus eins anzeigte, kleideten sie sich wie die Spielerfrauen bei winterlichen Matchbesuchen, schlüpften in lange Unterhosen, Pullover, Wollmütze und Anorak. Pablo setzte sich ans Steuer des Porsche, den sie nach Rückkehr aus Tegucigalpa angeschafft und »Zebra« getauft hatten, Farbe blauweiß. Daneben stand der Audi verwaist in der Garage und kam ihnen schon wie ein Oldtimer vor. Ruben war in der Bank, Yolanda im Ausland. Als Ausflugsziel hatte ihnen Franz den Pfannenstil genannt,
den Hügelzug zwischen Zürich- und Greifensee. Als Ofélia den Namen auf der Landkarte entdeckt hatte, starteten sie und durchquerten die Stadt. Beim Wechsel der Lichtanlagen von Rot auf Grün drückte Luna aufs Gaspedal, bis der Motor aufheulte. »Was für ein rassiger Hengst, dieser Porsche«, sagte Ofélia anerkennend, Pablo räusperte sich. Außerhalb des Stadtkerns rollten sie auf der Seestraße in Richtung Rapperswil und hatten das Gefühl, die Stadt nehme kein Ende. Ohne Zahl standen Einfamilien- und Terrassenhäuser rund um den wurstförmigen See und wandten ihre Fenster dem Wasser zu. Seesicht schien der entscheidende Wohnkomfort. Aufs Geratewohl zweigten sie von der Seestraße ab. Das war insofern richtig, als die Straße in Serpentinen bergauf führte, was zu den Angaben von Franz passte. Anstatt sich zu lichten, wurde der Nebel noch dichter und mehliger. Die Sicht reichte höchstens zehn Meter weit. Pablo schaltete die Scheinwerfer ein. Die Lichtkegel zerrieselten im Grau und machten aus der Fahrt einen gespenstischen Tauchgang in trübem Wasser. Auf einmal drangen Strahlen durch die Schwaden und färbten die Nebelfransen golden. Wie von der Wünschelrute berührt wurde die Decke weggezogen, blieb unter ihnen zurück. Über ihnen wölbte sich der Himmel azurblau und duftig, die Sonne leuchtete. Sie parkten am Straßenrand, öffneten die Türen und dehnten die Glieder. Bevor sie weiterfuhren, entledigten sie sich der Anoraks. Sie schwitzten, teils der höheren Temperatur, teils der Emotion wegen. Solange es geht aufwärts fahren, hatte Franz Ofélia eingeschärft. Auf einem asphaltierten Sträßchen kurvten sie durch einen Wald, dessen Bäume mit Reif behangen waren. Es glitzerte und funkelte. »Ein Wald voll von Diamanten!«, rief Ofé. »Schenkst du mir eine Kette?« »Ja, wenn wir Weltmeister werden, sogar wenn wir nur bis ins Viertelfinale kommen.«
»Nur dann?« Auf dem Parkplatz neben der Bergwirtschaft stiegen sie aus dem Wagen. Der Alpenkranz mit Spitzen, Wänden und Graten nahm den südlichen Horizont ein und dehnte sich als offener Kranz nach Osten und Westen aus. Im Süden wallte das Nebelmeer bis zu den Füßen der Schneeberge, im Norden ins Unermessliche. Wie bei einer dicht aneinander gedrängten Schafherde reihte sich Buckel an Buckel. Ofélia und Pablo gingen über eine hauchdünne Schneeschicht. Es knirschte unter ihren Sohlen, bevor sie die Wirtschaft betraten. In der Gaststube wählten sie einen Fensterplatz. Neben ihnen saß ein Paar, das sich am Naturschauspiel nicht satt sehen konnte. Nach verlegenem Hüsteln versuchte der Mann, der mit hoher Stirn und Brille professorenhaft aussah, der gepflegten und viel jüngeren Begleiterin zu imponieren: »Wasserscheide der Alpen, Wetterbarriere, Grenze der Kulturen. Hannibal ist samt Heer, Waffen und Elefanten über die hohen Pässe marschiert. Um das Reich der Römer zu erobern, wo Orangen, Mandeln und Zitronen blühen. Wäre doch super, die Alpen mal im Ballon zu überqueren und hinüber zur Poebene zu schweben. Kommst du mit?« Außer Ballon hatte Pablo kein Wort verstanden, Ofélia schon. Sie fragte: »Kannst du dir vorstellen, was sich hinter diesen Bergen da verbirgt?« Als er den Kopf schüttelte, sagte sie: »Milano.« »AC Milan? Spielt der hinter den weißen Zacken?« Sie tranken Mineralwasser und schwiegen. Pablo schloss die Augen, geblendet von der Aussicht, und versank in Gedanken. Aus dem Runzelnspiel auf seiner Stirn glaubte Ofélia abzulesen, was ihn bewegte. Noch war sein Traumziel nicht erfüllt. Er wollte einer Mannschaft auf Weltniveau angehören, Oliver Kahns wutverzerrtes Gesicht erleben, wenn er den Ball aus dem Netz zu fischen hatte, er wollte Maldini und Costacurta schwindlig dribbeln. Jenen Schnellzug wollte er
nehmen, der im Zürcher Hauptbahnhof mit »Milano Centrale« angezeigt wurde. Heute oder morgen, nicht übermorgen. Von den Grasshoppers war kaum zu erwarten, dass sie je die zweite Runde der Champions League überstanden. Diesmal hatte Ofélia beim Gedankenlesen versagt, denn Pablo lenkte das Gespräch in eine andere Richtung: »Unser Verhältnis zu viert geht weiter. Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht?« Die Frage traf Ofélia unvorbereitet, wenigstens in diesem Augenblick, dem etwas Feierliches anhaftete. »Vielleicht hat Pablo Recht«, grübelte sie, »gerade jetzt die Karten offen zu legen.« Doch sie hatte Mühe, ihre Scheu zu überwinden. Wieder wurde sie sich bewusst, dass sie die ersten Schritte zum intimen Dreiblatt getan, Ruben in die Zweisamkeit eingebunden hatte. Andererseits kam ihr gerade das vor wie das Normalste der Welt: Seit früher Jugend war sie mit beiden wie mit Brüdern vertraut, Hand in Hand mit beiden von der Schule heimspaziert, mit beiden ausgegangen, am linken Arm Ruben, am rechten Arm Pablo. Schon während sie heranwuchsen, wurden sie zu einem unzertrennlichen Kleeblatt. Jetzt saß Pablo ihr allein gegenüber. Adlernase, Schlitzaugen, pechschwarzes Haar und Dreitagebart verliehen seiner kräftigen Statur, an die sie sich so gerne schmiegte, das Aussehen eines Korsaren. Er war attraktiv, impulsiv und von akrobatischer Beweglichkeit, tollpatschig nur in geistigen Belangen. Ruben dagegen hatte Pickel und machte schlackernde Gesten, war differenziert, mathematisch begabt und hungrig auf Kultur. Er gab ihr Rückhalt auf mentaler Ebene. Bisher schien es ihr, sie selbst liege dazwischen und sei dazu berufen, die Gegenpole zu vernetzen, die Frau von Dioskuren zu sein. Nun hatte Yolanda das Terzett in ein Quartett verwandelt, in dem die Harmonie zuweilen in Disharmonie umschlug. Seit Anbeginn hatte Ofélia Yolanda als Rivalin empfunden, oft sogar als dreiste Diebin ihres
Glücks. Das Model hatte versucht und versuchte weiter, ihr Pablo zu entfremden, ihn für sich allein zu gewinnen. Trotz ihrer Raffinesse hatte sie es bisher nicht geschafft. Oder nur in Teilaspekten. Pablo hing weiterhin an ihr, an Ofé, erlag aber, was sie schon zur Verzweiflung treiben konnte, dem Charme von Yolanda immer aufs Neue. »Ich habe dich etwas gefragt, Ofé.« »Ja sicher, unser Verhältnis ist mit Dynamit geladen.« Diese Antwort hatte nun Pablo nicht erwartet. Ihm ging es um einen Vorschlag, wie er es anstellen konnte, von Yolanda los zu kommen. Bisher war er damit gescheitert, trotz dezidierter Anläufe. Er fragte: »Wie meinst du das?« »Yolanda will unseren Dreierbund aus der Schulzeit sprengen. Mir scheint es nur allzu offensichtlich, dass sie dich will. Sie missbraucht Ruben nur als Mittel zum Zweck. Anders gesagt: Sie will dich für sich allein haben, dich Ruben und mir wegnehmen. Und ich hänge an euch beiden. An dir, aber auch an Ruben.« »Könntest du dir denn vorstellen, wieder mit mir allein zu leben? Wie in Tegucigalpa? Ohne Ruben. Zum Beispiel in Mailand?« Man sah es Ofélia an, wie schwer ihr die Antwort fiel. Sie bezahlte für die Getränke und erhob sich. Pablo seinerseits verzichtete darauf, sie weiter zu bedrängen. Er nahm an, dass sie im Fall einer Trennung zu ihm halten würde. Auch für ihn wäre ein Abschied von Ruben schmerzlich, aber ebenso eine Trennung von Yolanda. Die Situation war unglaublich verzwickt. Schweigsam steuerte Pablo den fabrikneuen Porsche nach Norden. Sie tauchten wieder in die Nebelsuppe ein. Über eine Schleife fuhren sie auf die Autobahn. Pablo beschleunigte. Ofélia zerbrach sich den Kopf, wohin er jetzt wollte, fragte aber nicht, sondern lehnte sich bequem ins Polster zurück. Pablo wechselte auf die Überholspur und gab Gas. Der Zeiger
des Tachometers vibrierte und kletterte auf 160 Kilometer pro Stunde. Damit nicht genug. Der GC-Star drückte das Pedal voll durch, trieb den Zeiger auf 180, dann auf 190. Als Ofé sein tempotolles Gesicht sah, entfuhr ihr ein Schrei, der mehr hingerissen als beängstigt klang. War die Raserei seine Art der Entscheidungsfindung? Wenn lahme Enten – so wirkten die anderen Fahrzeuge – die Überholspur versperrten, hupte Pablo in Salven, bis der Fahrer resigniert die Bahn räumte. Ein Heck tauchte vor ihnen auf, die Bremsen quietschten, vor ihnen zwei Rücklichter wie Krötenaugen, ein noch gellenderes Quietschen. Rasch wieder aufs Gas, nur die Geschwindigkeit nicht drosseln! Willfährig folgte der Motor Lunas Druck aufs Pedal. Mit 200 Kilometern pro Stunde sausten sie über die Piste. Ausfahrt Winterthur auf einer Tafel, kein Grund, das. Tempo zu reduzieren, wie Irrwische fielen die Autos hinter ihnen zurück, die Lenker blinkten mit der Lichthupe. Da schreckten sie auf, Sirene und Blaulicht. Ein ultraschneller Streifenwagen nahte. »Die Polizei!«, schrie Ofé, »sie winken dich auf den Pannenstreifen.« Jäh erwachte Pablo aus dem Temporausch und nahm gehorsam den Fuß vom Gaspedal. Nach einer Bremsstrecke, die nicht enden wollte, kam der Porsche zum Stehen. Kaum hatte Pablo die Türe geöffnet, wurde er mit Beschimpfungen im Schweizerdialekt überschüttet: »Was fällt auch Ihnen ein? 200 zu fahren bei einer erlaubten Geschwindigkeit von 120!? Das gibt Buße, Entzug des Führerscheins und Strafanzeige.« Ein Polizist übernahm das Steuer des Sportwagens und führte sie auf den Polizeiposten, wo Pablo einem Alkoholtest unterzogen wurde. Beim Verhör tat Ofélia, als kapiere sie kein Wort Deutsch. Soweit sie mitbekam, hatte das Vergehen wie angedroht gerichtliche Folgen. Übertretung von Vorschriften,
Raserei und fahrlässige Gefährdung des Verkehrs waren die Anklagepunkte. Unter den Milderungsgründen wurde angeführt, dass Pablo auf einen Fluchtversuch verzichtet hatte, nüchtern war und sich reumütig zeigte.
Zurück am Hönggerberg legte Pablo sich apathisch in die Hängematte, Ofélia war hellwach. Schon auf der Türschwelle vernahm sie das Klimpern der Tastatur. Sie warf die Schuhe in eine Ecke, legte die Jacke über eine Stuhllehne, schlich auf Zehenspitzen in Rubens Zimmer und hielt ihm von hinten die Augen zu. Auf dem Computerschirm las sie, was er eben getippt hatte: »Pablo Moya ist die ideale Verstärkung für jeden Klub von Weltklasse. Bei Verhandlungen ist höchste Eile geboten. Viele Agenten sind hinter ihm her. Wie Ihnen die beiliegende Dokumentation beweist, ist er einer der besten linksfüßigen Spieler überhaupt. Die sind rar und teuer. Im angemessenen Rahmen lässt sich über das Gehalt diskutieren, auch über die Ablösesumme für den Grasshopper-Klub. Gezeichnet: Ruben Fuentes, Spieleragent.« »Hast du ein Angebot?«, fragte Ofélia ungeduldig. »Ja, rate von wem.« »AC Milan? Juventus?« »Nein, von Inter Mailand!« »Ernsthaft?« »Ja sicher! Die haben mehrere verletzte Spieler und suchen nach gleichwertigem Ersatz. Heute früh kam die Faxanfrage. Ich habe nicht gezögert, unser Interesse zu bekunden. Jetzt stelle ich die Unterlagen zusammen. Falls eine Offerte eintrifft, werde ich sie mit dir und mit Luna besprechen. Wo steckt er?« »Liegt drüben in der Hängematte. Vielleicht muss er noch ins Kittchen.«
»In den Knast? Was ist passiert?«, fragte Ruben. Ofélia erzählte ihm vom Ausflug und von Pablos Tempoexzess auf der Autobahn. Kittchen war vermutlich übertrieben, wahrscheinlich blieb es bei einer gesalzenen Geldbuße und dem Führerscheinentzug. »Ließ er sich nicht zur Vernunft bringen?« »Ich war so belämmert, dass ich nichts gesagt habe.« »Wie? Hast du die verrückte Fahrt etwa auch genossen?«
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Für die Auguren in Tegucigalpa war eines klar: »Alles ist möglich.« Ernsthaft glaubten zwar nur Lempira und einige Anhänger seines Fanzirkels, Honduras werde in Frankreich Weltmeister. Viele vertraten aber einen bescheideneren Optimismus, denn über so viele Klassespieler wie die Zebras im Jahr 1998 hatte noch selten ein Kleinstaat verfügt. Großartig war zudem der brasilianische Trainer, der die Taktik raffiniert den eigenen Mitteln und dem Gegner anpasste. In Mittelamerika war Sophokles schon legendär. Nur die Snobs in Europa hatten noch keinen Begriff von seinen Fähigkeiten. Eine kleine Sensation lag in der Luft. Insgesamt waren 32 Mannschaften berechtigt, an der Weltmeisterschaft in Frankreich teilzunehmen. Um die Zusammensetzung der acht Vierergruppen für die Vorrunde zu ermitteln, bildete die Fifa vier Stärkekategorien. Honduras kam in den vierten schwächsten Korb. Bei der Auslosung, die in Paris stattfand und weltweit im Fernsehen ausgestrahlt wurde, zog eine Fee im Dekolleté farbige Kugeln aus einem rotierenden Glasbehälter. João Havelange, Josef Blatter und Michel Platini markierten im Hintergrund Präsenz. Die roten Kugeln enthielten Zettel mit den Ländernamen der stärksten Klasse. Die Farben der übrigen Kategorien waren gelb, grün und blau. Als es um die Zuteilung der letzten Mannschaft zur Gruppe England, Österreich und Marokko ging, fischte die Fee eine der verbleibenden blauen Kugeln aus dem Topf und entnahm ihr den Zettel mit Honduras. Die Zusammensetzung der Gruppe nährte zusätzliche Hoffnungen. Wie ein Sportredakteur
von La Prensa darlegte, war die Fußballszene Österreichs berüchtigt. Er überschrieb den Artikel mit »Operetten-Liga«. Nach Melodien von Strauß Walzer zu tanzen oder SchubertLieder zu singen, seien Stärken der Wiener, auch SacherTorten und Schlagobers zu vertilgen, weniger der Tempofußball oder die Filigrantechnik. Der Ausnahmekönner Sindelar war der aktiven Generation nicht mehr geläufig, schon gar nicht derjenigen in Tegucigalpa. Mehr Respekt als das einstige Kaiserreich flößte das Mutterland des Fußballs ein. Die Briten waren auf Draht, dafür aber aus historischen Gründen verhasst. In ganz Lateinamerika war nicht vergessen, dass die Flotte der Königin die FalklandInseln den Argentiniern wieder entrissen hatte. Gegen England zu verlieren, konnten sich die Zebras leisten, falls sie Österreich und Marokko schlugen. Dann kämen sie ins Achtelfinale. Nebst Honduras hatten sich aus Nord- und Mittelamerika nur Mexiko und die USA für das Turnier qualifiziert. Rosige Chancen witterten auch die Sterndeuter. Eine einmalige Konstellation der Planeten Mars und Venus begünstige die Zebras, ließen sie verlauten. Vor dem Spiel gegen El Salvador hatte eine Hexe aus Comayagúela die Handfalten der Spieler untersucht und Kreuzungsphänomene entdeckt, die auf eine Siegesserie hinwiesen. »Luna wird Tore schießen. Der Verlauf der Linien in seiner linken Hand beweist das klar«, wahrsagte die Magierin, »er hat starke Füße und einen kühlen Kopf.« Trainer Sophokles nahm Zuflucht zu Zweckpessimismus, nicht dem Team, sondern der Öffentlichkeit gegenüber. Besonders die mentale Verfassung der Spieler müsse verbessert werden, sagte er auf einer Pressekonferenz. Nach brasilianischem Vorbild wollte er einen Psychologen anstellen, um der Elf Kaltblütigkeit und
Siegeswillen einzuimpfen. Er wurde in Mexiko fündig. Der Guru oder Mentaltrainer hieß Morales. Präsident Carlos Flores griff tief in die Schatullen des Landes und stellte für das Team Mittel bereit, die er nie genau bezifferte. Es kursierten abenteuerliche Gerüchte. Am unverfänglichsten war die Meinung, anonyme Gönner hätten die Gelder gespendet. Dubioser klang, der Magistrat wolle Erträge aus dem Kokainhandel reinwaschen. In Tegucigalpa begannen Storys über den englischen Star David Beckham zu zirkulieren. Er war mit dem Spicegirl Victoria verlobt und stand auf Frisuren. Manchmal trat er mit bürstenartigem Stirnvorhang auf oder dressierte die Haare zu einer Art Dornenhecke. Mit solchen Mähnen wollte er seine Gegenspieler einschüchtern, im Fernsehen brillieren und die Gagen maximieren. Natürlich wusste er auch, wie man den Ball behandelte, kombinierte und Pässe schlug, aber das waren in der Sicht der Honduraner eher sekundäre Tugenden. Über Toni Polster wurden ebenfalls Mären verbreitet. Diesen zufolge war der Österreicher ein Schaumschläger. Indem er im Strafraum Witze erzählte und nur auf dem Aktionsradius eines Bierdeckels agierte, schläferte er die Gegner ein, bis er, vom Schiedsrichter unbemerkt, urplötzlich seinen Bewacher umriss, den Ball schnappte und ins Tor spitzelte. Über Marokko war man in Honduras schlecht informiert. Außer dass das Land durch einen König regiert wurde, der einen Harem hatte und in Saus und Braus lebte, und dass sich die Mannschaft vor dem Anpfiff gen Mekka verneigte, war nichts zu erfahren. Hochkonjunktur herrschte in den Läden, die Bälle, Fernsehapparate oder Zebra-Trikots mit Spielernamen und Rückennummern verkauften, auch bei Elsa, die Gruppenreisen anbot. Auf der Türe ihrer Agentur stand in Riesenlettern: »Wir fliegen nach Frankreich!« Sie hatte zwei zusätzliche Mitarbeiter eingestellt. Einer der beiden war als Globetrotter
um die Welt gegondelt und kannte viele Reiseziele aus eigener Erfahrung. Er war Olimpia-Fan. Einer Konkurrenzfirma warb sie Pilar ab, die gerade ihre Lehre abgeschlossen hatte. Sie war jung und gegenüber frechen Kunden noch naiv, doch integer und einsatzfreudig. Es war Mai und Zeit der Niederschläge. An einem Nachmittag regnete es Bindfaden. Lempira klappte vor Elsas Laden den Schirm zu, stieß die Tür mit dem Fuß auf und schüchterte Pilar ein, indem er ihr Wasser auf Gesicht und Kleider spritzte. Er trug eine Pelerine aus wasserdichtem Stoff und sagte unverblümt: »Ich nehme schon an, dass mir Elsa eine Gratisreise zur WM spendiert.« Weil er sie anstarrte, als wollte er sie gleich verschlucken, stotterte Pilar: »Gratis?« »Elsa weiß, um was es geht«, pokerte er unverfroren, »ich dirigiere die Fans.« Nun rief Pilar die Chefin zu Hilfe, die im Hinterzimmer vor dem Computer saß. »Lempira, was verschafft mir die Ehre?«, fragte Elsa. »Ich stelle die Fangemeinde zusammen, um die Zebras in Frankreich zu Siegen anzupeitschen. Dank megaphonverstärktem Gebrüll werden wir die Österreicher verarschen.« »Du weißt aber, dass Megaphone in den Stadien verboten sind? Pilar, kopier bitte mal die Regeln der Fifa für Lempira.« »Lass deine Belehrungen! Wann gibst du mir endlich das Gratisticket für den Flug nach Paris?« »So weit sind wir noch nicht. Bring mir die Liste und Adressen der Teilnehmer, von jedem Einzelnen unterschrieben, dann können wir uns über Anzahlung und Bonus unterhalten. An den Spielorten habe ich Zeltplätze reserviert. Das kostet.« Elsas Bemerkungen lösten bei Lempira ein hämisches Lachen aus. Mit der Klinke in der Hand warf er hin: »Bei dieser WM werde ich fünf Millionen Dollar gewinnen!« Die Tür fiel ins Schloss. »Vor dem hab ich
Angst«, sagte Pilar, worauf Elsa bekannte: »Etwas Bestechendes hat er aber schon. Wenigstens für mich.« Am Zürcher Hönggerberg starrte das Quartett auf den Flimmerkasten: Stockholm, Schweden gegen Brasilien. Ein Freundschaftsspiel, das die Brasilianer zur Akklimatisierung in Europa und die Schweden als Ersatz für die verpasste WMTeilnahme bestritten. Pablo flippte aus, als er sah, wie Cafu und Roberto Carlos ihre Zange interpretierten. Als Außenverteidiger nominiert setzten sie zu Flügelläufen an, düpierten, wer ihnen auch den Weg abschneiden wollte, und servierten Bananenflanken. Vor dem Strafraum lauerten Ronaldo und Rivaldo und überlisteten die hintersten Verteidiger. Nach diesem Rezept zappelte der Ball zweimal im Netz der Nordländer. Stürmte hingegen Schweden, standen Roberto Carlos und Cafu hinten, als wären sie nie nach vorne geeilt, und erstickten den Angriff im Keim. Perfekt harmonierten sie mit Dunga, dem Regisseur und Abwehrfelsen in einem. Taffarel im Tor vertrieb sich die Zeit, indem er sein Affenmaskottchen streichelte. Nur einmal erhielt er Gelegenheit, seine Klasse zu beweisen, und parierte einen präzis platzierten Flachschuss. »Die werden den Weltmeistertitel erfolgreich verteidigen«, prophezeite Ruben, »jeder Spieler ist jeder Rolle gewachsen. So viel Können steckt in keinem anderen Team.« Ofélia war damit nicht einverstanden und fragte: »Sind die denn besser als Honduras mit Pablo und Naxquitl?« Solche Vorschusslorbeeren gefielen Pablo gar nicht. Er wies seine Frau zurecht und gab zu bedenken, das Problem der Zebras sei die Ersatzbank. Bei Brasilien saßen dort lauter annähernd gleichwertige Spieler. Wenn die zweite Garnitur auftrat, war kaum ein Unterschied zu bemerken, bei Honduras aber ein riesiger. In Sao Paulo und Rio gab es Könner, die Ronaldo beinahe ebenbürtig waren, in
Tegucigalpa aber keinen halbwegs so fähigen Regisseur wie Naxquitl, keinen zweiten Torwart wie Enrique.
Noch fehlten zehn Tage bis zum Eröffnungsmatch der Weltmeisterschaften in Saint Denis, wo Brasilien gegen Schottland antrat. Die Zebras waren in Gruppe F eingeteilt und mussten sich vier Tage länger gedulden, bis sie ins Stade Vélodrome von Marseille einlaufen und sich mit Österreich messen durften. Nach Ende der Meisterschaften in Deutschland und der Schweiz rückten Naxquitl, Luna und Enrique direkt ins Trainingslager des Nationalteams ein, das in Meeresnähe zwischen Marseille und Toulon stattfand. Sophokles stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als alle Spieler der Selektion wohlbehalten eintrafen. Nur der schwarze Hüne Alonso, der Innenverteidiger aus Tela, kurierte gerade eine Muskelzerrung aus. Bei Drehbewegungen verspürte er Schmerzen im rechten Oberschenkel. Der Teamarzt war aber zuversichtlich, ihn bis zum ersten Spiel wieder fit zu kriegen. Anfang Juni war es in Südfrankreich frühsommerlich warm. Insgeheim wünschte sich der Trainer, auf den ersten Spieltag hin möge eine Hitzewelle ausbrechen, die den weniger wärmeresistenten Österreichern den Schweiß aus den Poren treiben würde. Zwei Experten wurden angeheuert, um die Taktik und Ressourcen der Gegner auszuspionieren. Die Zebras übernachteten in den Doppelzimmern eines VierSterne-Hotels, das ihnen voll zur Verfügung stand und von Gendarmen bewacht wurde. Pablo teilte das Zimmer mit Enrique, Naxquitl mit Marcio, Luis mit Miguel. Alonso wurde vorerst allein einquartiert, damit der Masseur ihm in aller Herrgottsfrühe nach Kampfer riechendes Öl einreihen und die Muskeln kneten konnte. Um neun Uhr war das Training auf dem Platz eines Lokalklubs angesetzt. Auf dem leicht
holprigen Rasen wurden die Spieler technisch und taktisch geschult. Wie früher legte Sophokles Wert darauf, dass Naxquitl im Mittelfeld die Drähte zog. Aber er bereitete das Team auch darauf vor, dass er den Regisseur auswechseln oder mit andern Aufgaben betrauen musste. Eine solche Anordnung konnte sich bei Verletzungen oder Sondersituationen aufdrängen. Pablo gab er die Rolle eines Außenbahnmotors. Ein Rollentausch mit Naxquitl wurde intensiv geübt. In anderen Trainingseinheiten probten sie Angriff und Verteidigung, das Ballhalten innerhalb der Mannschaft, das Verhalten bei Freistößen. Lektionen waren auch dem Zusammenwirken zwischen Torwart und Mannschaft gewidmet. An Enriques Torhüterreflexen feilte ein Spezialtrainer. Im Seminarraum führte Sophokles mehrere Spiele der Österreicher vor und machte auf ihre Stärken und Schwächen aufmerksam. Toni Polster war auch in diesem Rahmen ein Thema. Der Mentaltrainer kam zu regelmäßigen Einsätzen. Er lobte Pablo, wenn er die Augen wie Clint Eastwood zukniff, um den Verteidigern den Schneid abzukaufen. »Das Durchsetzungsvermögen steigern«, war eine seiner Lieblingsformulierungen. »Die andern kochen mit Wasser, ihr mit SalvaVida«, pflegte er zu spotten. Er verteilte Amulette der Virgen de Suyapa, der Nationalheiligen, und ermahnte die Spieler, zu ihren Ehren das Kreuz zu schlagen. Ihr Porträt hing im Speisesaal neben dem von Präsident Flores. Kein geringerer als der Brasilianer Jairzinho sei nach jedem Tor auf die Knie gesunken, predigte Morales, und habe der Madonna gedankt. Nach einer Woche intensiver Vorbereitung bewilligte Sophokles in Absprache mit dem Psychologen und dem Präsidenten des honduranischen Fußballverbands den Spielern einen freien Tag. An diesem und nur an diesem Tag waren
Frauen- und Familienbesuche erlaubt. Sogleich tauchten Ofélia, Yolanda und Ruben auf, die sich in einer Hotelsuite von Marseille eingemietet hatten. Gemeinsam entführten sie Pablo in die Stadt und sahen einen alten Westernfilm. So abgebrüht wie Gary Cooper muss ich sein, sollte mir Toni Polster zusetzen, nahm sich Luna vor, so kaltschnäuzig, wie er einen Gauner umlegt, muss ich Andreas Herzog austricksen. Nach einem Bar-Besuch, bei dem Pablo das Alkoholverbot auch nicht ansatzweise übertrat, befriedigten sie ihre amourösen Gelüste. Die Kissen flogen.
Drei Tage später um 17 Uhr 30 begann das Spiel gegen Österreich. Der Schiedsrichter stammte aus Kamerun. Sophokles beschwor seine Spieler, dem Afrikaner Respekt zu zollen und auf Proteste zu verzichten. Sonst könnten sie den Unparteiischen dazu reizen, gelbe oder rote Karten zu verteilen. Am Vormittag probierte Pablo nochmals die drei Paar Schuhe, die für den Ernsteinsatz in Frage kamen. Akribisch inspizierte er Passform, Stollen und Lederwerk. Im Einverständnis mit dem Assistenztrainer entschied er sich für die altgedienten Stiefel, mit denen er schon Tore geschossen hatte. Zum x-ten Mal wurden die Schienbeinschoner überprüft und angepasst. Das Mittagessen bestand aus Teigwaren, geschnetzeltem Rindfleisch und grünem Salat. Siesta und Massage folgten. Der Nervenkitzel war greifbar. Ein gepanzertes Fahrzeug geleitete den Teambus auf der Fahrt zum Stadion. In der Umkleidekabine wiederholte Sophokles die taktischen Richtlinien, dann berieselte sie der Mentaltrainer: »Bisher habe ich euch eingebläut, dass ihr unbezwingbar seid. Das seid ihr wirklich. Nur dürft ihr nicht in Hochmut verfallen. Ihr müsst kämpfen wie die Löwen von Olimpia. Den Walzertänzern seid ihr gewachsen, weit überlegen, meine ich.
Aber bleibt auf der Hut und denkt daran, wie schlitzohrig die sind.« Vor dem Anpfiff das übliche Ritual: Hinter Schiedsund Linienrichtern her aufs Feld marschieren, Aufstellen vor der Haupttribüne, Nationalhymnen, Hände schütteln, Schlachtrufe der Fans. Wiener, Grazer und Salzburger Zuschauer gab es zuhauf, in der Gegenkurve ein klägliches Häuflein Honduraner unter Leitung von Lempira. Die Kapitäne überreichten sich Wimpel in den Landesfarben, der Schiedsrichter warf die Münze hoch, Seitenwahl und los ging’s. Abtasten, Mittelfeldgeplänkel, Zweikämpfe. Die Vorstöße beider Mannschaften versandeten weit vor dem Elfmeterraum, bis Naxquitl mit einem Zuspiel aus dreißig Metern Marcio lancierte, der vom Flügel her einwärts kurvte. Der Doppelpass mit Pablo misslang, weil dieser Tausendsassa von Herzog dazwischen fuhr und den Ball nach vorn zu Polster schlug, der zwar startete, aber abseits zurückgepfiffen wurde. Aufregenderes passierte in der ersten Hälfte nicht. Während der Pause kritisierte der österreichische FernsehKommentator: »Toni Polster würde besser schießen anstatt Witze erzählen, laufen anstatt salopp herumstehen. Die Honduraner sind untere Mittelklasse, aber so knacken wir ihre Verteidigung nicht. Wir müssen über die Flügel spielen, variantenreicher angreifen.« Zufriedener äußerte sich Sophokles: »0:0 ist fürs Erste gut. Aber wir müssen gewinnen. Gegen Österreich und Marokko. Nur dann können wir uns eine Niederlage gegen England leisten und kommen trotzdem eine Runde weiter. Luna, gehe deinen Part offensiver an. Sollte die Situation sich ändern, geb ich dir ein Zeichen.« Gleich nach Wiederbeginn setzte Pablo zu einem Flügellauf an, täuschte zwei Gegner und flankte in den Strafraum. Marcio sprang hoch, doch köpfte er daneben. Zum ersten Mal verschafften Lempira und die honduranischen
Schlachtenbummler sich mit ihrem »Olé, Olé, Olé!« Gehör. Die Offensive der Zebras hielt an. Naxquitl schoss aus vierzig Metern. Zuletzt von einem Österreicher berührt flog der Ball über die Grundlinie. Luna trat den Eckball. Ohne dass ein Spieler nur den Hauch einer Chance hatte, die Kugel zu berühren, touchierte sie die Latte und fiel Naxquitl vor die Füße, nein, Polster, der hinten aushalf, befreite und freundlich lächelte. Sophokles hatte bereits Tor gebrüllt und ließ enttäuscht die Unterlippe hängen. Nun entwickelte sich ein offener Schlagabtausch. Die glorreichen Abkömmlinge des kaiserlich-königlichen Reichs attackierten, doch Alonso im Abwehrzentrum war allgegenwärtig. Offensichtlich war seine Zerrung ausgeheilt. Oder hatte ihm der Arzt eine schmerzstillende Spritze verabreicht? Unterstützt durch Luis nahm er sich Polster vor, der ihn jetzt aber versetzte, in den Strafraum eindrang, strauchelte und mit Grimassen den Gefoulten mimte. Der Schiedsrichter verhielt sich tadellos und ließ die Pfeife baumeln. Wenige Minuten später säbelte Miguel denselben Akteur in Notwehr um. Exakt außerhalb des Elfmeterraums. Der verhängte Strafstoss sauste knapp über die Köpfe der Leibermauer, aber auch über die Latte. Enrique blies erleichtert die Backen auf. Pablo stieß rechts vor, was die Österreicher verwirrte, und spielte Naxquitl in die Tiefe an, doch Konsel pflückte ihm den Ball von den Schuhen. Die 83. Minute brach an. Österreichs Zerberus warf zu Herzog, der in die Tiefe weiterleitete. Feiersinger stoppte den Ball und liftete ihn in den Strafraum. Alonso sprang hoch und wollte das Leder aus der Gefahrenzone köpfen, doch Polster riss ihn blitzartig zu Boden. »Foul!«, schrie Sophokles an der Seitenlinie und rang die Hände. Doch dem Referee war die Sicht verdeckt. Einen Augenblick lang lag das Streitobjekt herrenlos da. Polster reagierte am schnellsten, bemächtigte sich des Leders und erwischte Enrique auf dem falschen Fuß. Die
Zebras waren außer sich und bedrängten den Schiedsrichter. Anstatt das Tor zu annullieren, zeigte er zwei Spielern wegen Reklamierens die gelbe Karte. Der Schlusspfiff ging in einem Monsterlärm unter. Jubel der Österreicher, grenzenlose Enttäuschung der Zebras. Mit angezogenen Knien und gesenkten Köpfen hockten sie auf dem Boden. Pablo hatte Tränen in den Augen. Als er sich dazu aufraffen konnte, Richtung Ausgang zu trotten, warf ihm Polster sein Trikot zu. Luna wollte den Tausch ablehnen und schrie auf Spanisch: »Du fieser Saukerl!« Doch ratsch zog ihm Toni das Trikot über den Kopf und winkte mit der Trophäe den »Austria – Austria!« schreienden Fans zu.
28
Am selben Abend flogen die Honduraner nach Lyon, wo sechs Tage später das Spiel gegen Marokko auf dem Programm stand. Alle waren in einem Albtraum befangen, niemand sprach ein Wort. Sogar Psychologe Morales blieb stumm und blätterte in Fachzeitschriften. Sophokles murmelte vor sich hin: »Ich habe Dornen im Herzen.« Um sich abzulenken und positiv aufzuladen, steckte er sich Walkman-Stöpsel in die Ohren und lauschte Sambarhythmen. Der Assistenztrainer packte den Reporter, der die Spieler mit aufsässigen Fragen belästigte, am Arm und verbannte ihn auf eine leere Sitzreihe. Kaltgestellt zog er einen Laptop aus der Ledermappe und malträtierte die Tasten so heftig, dass er wiederum unangenehm auffiel. Die Spielerfrauen waren insofern zufrieden, als sie die Mannschaft auf dem Flug begleiten durften. So konnten sie ihre Liebsten trösten und aufrichten. Ofélia koste Pablo, der am Kabinenfenster ins Dunkle starrte, Isabel hätschelte Naxquitl, der eine Sauerampfer-Miene zur Schau trug, und Estela den vergrämten Enrique, der ständig repetierte: »Das wäre Chilavert nicht passiert.« »Dir war wirklich die Sicht verdeckt, gegen den Treffer warst du machtlos«, antwortete Estela mit Engelsgeduld, »was kannst denn du dafür, dass der Referee das Foul dieses – wie heißt er schon? – übersehen hat oder übersehen wollte?« Nur die Unbeweibten bliesen allein oder mit Kollegen Trübsal. Ohne sein Dazutun geriet der hartgesottene Alonso unter frauliche Obhut. Mit einem Lächeln, das die verstockteste Seele erweicht hätte, fragte Livia Yacamán, ob der Platz neben
ihm frei sei. Mit einer Filmdiva aus San Pedro Sula war sie zur Madrina des Nationalteams aufgerückt. Leise summte sie Alonso ins Ohr: »La cucaracha, la cucaracha, ya no puede caminar.« Ihre Sopranstimme wurde lauter, mehr und mehr Frauen fielen ein und erheiterten Spieler und Betreuer. Yolanda und Ruben nahmen den TGV, den train à grande vitesse. Für Ruben war die Fahrt durchaus eine Erfahrung. Die nächste Umgebung flitzte an ihnen vorbei, als säßen sie in einem Formel-1-Boliden. So was gab es in Amerika nicht. Nach einer halben Stunde, als sie durch eine leere Station rasten, löste sich der Knoten, der ihnen seit Matchende die Sprache genommen hatte. Sie interpretierten die Niederlage gegen Österreich als Betrug des Schiedsrichters. »Warum beruft die Fifa Afrikaner aus dem Busch, um solche Spiele zu leiten«, quengelte Yolanda, »wenn es einen Collina gibt?« Ruben entgegnete: »Dein Glatzkopf-Italiener muss Spiele zwischen renommierten Ländern pfeifen. Partien mit Brasilien, Deutschland, Frankreich oder England.« »Gespannt bin ich auf das morgige Spiel«, sagte Yolanda und Ruben spann den Faden weiter: »Auch für uns entscheidend. Wir stehen schon mit dem Rücken zur Wand. Zwar sollte England Marokko schlagen, aber die Nordafrikaner sind stets für eine Überraschung gut. Ohne dass wir gegen sie gewinnen und gegen England punkten, sind unsere Chancen weiterzukommen gleich null.« Elsas Reisegruppe nahm einen gewöhnlichen Schnellzug. In Ermangelung effizienter Stoßdämpfer ratterten die Räder über die Weichen, dass es rüttelte und schüttelte. Lempira versprühte Funken: »Dieser Hornochse von einem Spieler!« »Hornochse!«, echote es aus dem Abteil und Lempira insistierte: »Dieses Arschloch mit dem fiesen Grinsen und den
hinterhältigen Fouls, und dieser Schiedsrichter mit den gezinkten Karten!« Er setzte die gehässigen Tiraden fort, in denen er sich seit Match-Ende erging, und brüllte: »Schiebung, man will uns Kleine rausschmeißen!« Schließlich borgte er sich bei einer Nachbarin eine Nagelschere und schnitt Elsa, die ihn widerstandslos gewähren ließ, einen Haarwisch aus dem Schopf und steckte ihn in den Geldbeutel. Wollte Lempira einen Fetisch, ausgerechnet von ihr, von Elsa? Sie schaute perplex und gebannt in seine dunkeln, tief liegenden Augen, die wegen des unaufhörlichen Zwinkerns nur für Momente sichtbar wurden.
Bei den Spielern war in Lyon zunächst Siesta und Pflegen der Blessuren angesagt. Es gab kaum einen, der nicht einen Bluterguss oder eine Quetschung zu beklagen hatte, aber Zuversicht verbreitete, gegen Marokko voll einsatzfähig zu sein. Nicht mitzutun, hätte jeder als Schande empfunden. »Noch ist nichts verloren«, war der Tenor. Ärzte und Masseure des Teams waren überbeschäftigt, um die Stammelf fit zu kriegen. Eine Delegation der Spielerfrauen bat Sophokles um ein Gespräch. Die Frauen wollten durchsetzen, dass sie im Mannschaftshotel bei ihren Männern übernachten durften. Isabel führte die Gruppe an. Noch vor dem Österreich-Spiel hatte sie sich die Haare blau färben lassen und trug ein T-Shirt mit blauweiß gestreiften Zebras und fünf Glimmersternen. Herausfordernd sagte sie dem Trainer, als Brasilianer müsste er die Sitten seiner Landsleute kennen. Eine Spielerfrau aus Sao Paulo habe nur mitleidig gelächelt, als sie hörte, dass die Honduranerinnen von Bett und Tisch ihrer Männer verstoßen waren.
»Bei den Brasilianern geht es natürlicher zu«, doppelte Ofélia nach, »ohne Sex schießt Rivaldo über das Tor und Ronaldo dem Keeper in die Arme.« »Alonso hat den Zweikampf gegen Polster verloren und Lunas Ball nur die Latte gestreift«, stimmte Sophokles scherzhaft ins Jammerlied ein, »alles in Ermangelung der Frauen, was für ein Frust.« »Sag ja, Sophokles, bitte!«, tat sich Isabel hervor, »Naxquitl muss gegen Marokko in Bombenform sein!« Unter dem Hurrah der Spielerfrauen erfüllte der Coach ihren Wunsch. Allerdings knüpfte er das Ja an Ermahnungen: »Keine Ausschweifungen! Gruppensex dulde ich auf keinen Fall! Und dass ihr euch bis zum ersten Hahnschrei vergnügt, ist Tabu. Ohne Schlaf machen sogar Superspieler schlapp.« Auch setzte er die Einschränkung durch, dass am Vorabend der Spiele strikte Nachtruhe einzuhalten war und zwar ohne Frauen.
Am Abend, eine halbe Stunde vor dem Matchbeginn England gegen Marokko, versammelten sich Spieler, Betreuer und Frauen vor der Breitleinwand des Hotels. »Die Marokkaner haben den Ruf, beinhart einzusteigen«, mahnte Sophokles. In der Tat fielen Saber und Naybat durch rüde Attacken gegen Shearer und Sheringham auf. Der Schiedsrichter schritt jedoch energisch ein und verwarnte sie. David Beckham zauberte, wie die Honduraner erwartet hatten. Mit zentimetergenauem Pass lancierte er Gary Neville, der den Ball perfekt annahm und schnörkellos versenkte. Das 2:0 fiel auf Elfmeter. Verteidiger Campbell war bei einem Eckball nach vorne gerückt und auf der Fünfmeterlinie umgemäht worden. Teenies-Idol Beckham mit Hahnenkamm-Frisur nahm Anlauf zum Penalty und
verwandelte souverän. Sogleich wurde Spicegirl Victoria eingeblendet, die sich auf der Tribüne präsentierte und wie ein Fohlen wieherte. Nach dem 2:1 durch Ouakili kam nochmals Spannung auf. Doch Alan Shearer erlöste die Engländer. Er verlängerte Sheringhams Einwurf, der von der Seitenlinie bis in den Strafraum flog, zum Schlussresultat von 3:1. Victoria sang »Not such an innocent girl«. Das Spiel der Zebras gegen Marokko warf bei den Fans der beiden Länder hohe Wellen, nicht aber bei neutralen Beobachtern. »Außenseiter mit je einer Niederlage begegnen sich«, war im Daily Telegraph zu lesen. »Wer als Sieger hervorgehen wird, ist höchst ungewiss. Ohnehin kommt keiner von beiden eine Runde weiter. In Gruppe F sind England und Österreich haushohe Favoriten für den Einzug ins Achtelfinale.« Lempira war da anderer Meinung. Bei jeder Gelegenheit sagte er zu Elsa: »Nun horch mal, von deinem Bruder erwarte ich mehr, als er bisher gezeigt hat. Von ihm hängt es ab, ob ich gewinne oder verliere.« Er teilte nun das Zelt mit Elsa, die als Reiseorganisatorin in Lyon einen Sektor des Campingplatzes gemietet hatte. Im Schlafsack kam ihm die Idee, einer ZebraAnhängerin mit üppigen Formen ein Megaphon unter den Gürtel zu klemmen und es so ins Stadion zu schmuggeln. Bei der Leibesvisite blieb es unentdeckt und befähigte die hartgesottenen Supporter, ihre Idole mit einem Phonpegel anzufeuern, der das Geschrei der Nordafrikaner bei weitem übertönte. Im Stadion brüllte Elsa Kopf an Kopf mit Lempira ins Megaphon, sobald die Honduraner in Ballbesitz kamen. Der Fanboss und Zeitgenosse donnerte mit seiner Bassstimme: »Ahora si, mañana no!«
Diesmal wurden die Zebras vom Glück begünstigt. In der sechsten Minute enteilte Luna den knochigen Verteidigern aus Nordafrika. Naxquitl lief mit, stoppte Lunas Ball mit dem rechten Innenrist und retournierte ihn mit dem linken Außenrist. Luna umdribbelte Saber, dessen Fußtritt das Zielschienbein verfehlte, und schoss am herauslaufenden Hüter vorbei in die entfernte Ecke. Lempira brach in ein Geheul aus, das einer Indianerhorde Ehre gemacht hätte, Sophokles und die Spielerfrauen vollführten Freudentänze. Es kam noch besser. Die Zebras narrten nun die Wüstensöhne nach Belieben. Die Matchuhr zeigte auf Minute 23, als Naxquitl nach Rechtsaußen auswich und eine präzise Flanke in den Strafraum schlug, wo Marcio lauerte, zu einem Fallrückzieher ansetzte und volley traf. Der Ball zappelte im Netz. Ein Traumtor, das schönste Tor der Vorrunde. In der zweiten Hälfte blieb es beim verdienten 2:0. Trotz des Siegs verhieß die Tabelle der Vorrundengruppe F für Honduras wenig Gutes. Mathematisch Begabte wie Ruben loteten sämtliche Eventualitäten aus. In ihren Analysen feierte der Konjunktiv Urstände. Am selben Tag hatten die Engländer Österreich 2:1 besiegt und bereits sechs Punkte im Trockenen. Ein Unentschieden gegen Honduras würde ihnen genügen, um sicher eine Runde weiter zu kommen, ein Sieg ohnehin. Wahrscheinlich war, dass Österreich Marokko schlug und sich damit ebenfalls qualifizierte. Gewänne Honduras jedoch gegen England, was einem Eklat gleichkäme, so hätten drei Mannschaften sechs Punkte. Bei Punktegleichstand zählte das Resultat der direkten Begegnung. Da dann jede Mannschaft gegen eine andere gewonnen hätte, käme die Regel aber nicht zum Zug. Dann würde weiterkommen, wer die meisten Tore geschossen oder die beste Differenz zwischen der Anzahl erzielter und erhaltener Tore aufwies. Kompliziert würde es auch, wenn Honduras gegen England und Österreich gegen
Marokko verlieren würden. Dann gäbe es drei Mannschaften mit drei Punkten. Bei Parität in allen Kriterien müsste das Los entscheiden. Endeten beide letzten Vorrundenspiele mit einem Unentschieden, so wäre Österreich im Achtelfinale, der Regel der gewonnenen Direktbegegnung wegen. Gegen England unentschieden zu spielen, nützte Honduras nur, falls Österreich gegen Marokko den Kürzeren zog. Ruben konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Nach seinem und dem Urteil anderer Zahlenjongleure war für Honduras Hopfen und Malz verloren. Nur Lempira glaubte weiter an eine Sensation.
29
Die Zebras und ganz Honduras fieberten dem Match gegen England entgegen. Im ganzen Land waren die Fernsehgeräte ausverkauft. Ada und Juan wollten die Live-Reportage miteinander verfolgen und erleben, wie Pablo und Naxquitl die Briten vorführten. Ausnahmsweise trafen sie sich bei Ada, die sich in Elsas Gegenwart noch immer genierte, Juan in ihrem Heim zu empfangen. Für ein Stelldichein bevorzugten sie die Wohnung in der Colonia Palmira. Ein Schäferstündchen war ja nie auszuschließen. Nun aber weilte Elsa mit ihrer Reisegruppe in Frankreich. Und Großmutter Sara war nach Copán zu ihren Verwandten zurückgekehrt, um sich zu Hause in eine Erdfalte zu legen, wie sie sich ausgedrückt hatte, als es ihr vorübergehend besser ging. Auf beiden Seiten des Atlantiks war Pessimismus verpönt. »Wir werden ins Achtelfinale vorstoßen«, predigte Sophokles den Spielern in Toulouse, während sich die Zebra-Fans über Beckham und sein Spicegirl lustig machten. Weil das Spiel an einem Werktag stattfand – Anstoß war Mittwoch um 21 Uhr mitteleuropäischer und um 14 Uhr mittelamerikanischer Zeit –, kamen die Fabriken und Geschäfte nicht darum herum, ihre Pforten um ein Uhr zu schließen. Glotzen war angesagt, nicht Arbeiten. Die Regierung bildete einen Krisenstab, der die Aufgabe hatte, wichtige Funktionen des Staats auch während des Spiels aufrecht zu erhalten. Besondere Achtsamkeit erforderten die öffentliche Sicherheit und der Sanitätsdienst. Mit Randalierenden war jederzeit zu rechnen. Und bei Übertragungen von Länderspielen waren Herzinfarkte gang und gäbe.
Der Verkehrsminister hatte zu entscheiden, auf welche Verbindungen temporär zu verzichten war und auf welche nicht. Wegen des Sportereignisses den Fährenkurs nach Belize zu streichen, der ehemals englischen Kronkolonie, hielt er für unangebracht. Die Schiffsroute verband die Karibikhäfen Puerto Cortés und Placencia und führte an den Laughing Bird Keys vorüber, einer Gruppe von Koralleninseln. Fährenkapitän Muñoz und Crew waren schlechter Laune. Von ihnen wurde erwartet, dass sie ihrer Pflicht nachkamen, navigierten und nicht auf den Fernseher gafften, was den Seebär nicht daran hinderte, eine zusätzliche Videoanlage an Bord zu installieren. War den Matrosen denn zu verargen, dass auch sie das Spiel sehen wollten? Zudem musste er für genügend Radioempfänger sorgen, damit die simultane Reportage des Matchs Österreich gegen Marokko mitzuhören war. Nicht das Resultat der eigenen Elf allein entschied über Ausscheiden oder Weiterkommen, sondern ebenso die Leistung der Nordafrikaner. Auch der Sicherheit schenkte der Kapitän Beachtung. In Belize zierte weiterhin Königin Elisabeth von England die Briefmarken. Die Möglichkeit bestand, dass sich die Bürger des Commonwealth mit England identifizierten und feindliche Gefühle gegen Honduras entwickelten. Auf der Fähre war die Qualität der Fernseh-Übertragung erstaunlich gut. Zunächst entrang sich den Honduranern ein kollektiver Seufzer der Erleichterung, dass die Zebras in stärkster Besetzung einliefen. Die Blessuren waren offenbar auskuriert. Da rannten sie schon, die Helden in Blauweiß, per Satellit über den Atlantik herbeigezaubert! Kaum war angespielt, schnappte Alonso Alan Shearer den Ball weg und bediente Naxquitl, der im Zweikampf Beckham rempelte. Pfiff. Die beiden fuchtelten aufeinander los, bis sie der Schiedsrichter trennte. »Rote Karte!«, verlangten die
Schiffsoffiziere im falschen Glauben, Beckham habe Naxquitl eine Ohrfeige verpasst. Mit Ausnahme des Steuermanns war die gesamte Crew vor der Glotze versammelt. Protestgebrüll brach aus, als Luis hart einstieg und der Schiedsrichter auf Elfmeter zugunsten von England erkannte. Der Lärm der Matrosen und noch mehr das Frohlocken von einzelnen Commonwealth-Bürgern irritierte den Steuermann, der kurz entschlossen das Lenkrad einem Schiffsjungen übergab. So durfte er mit den andern aufatmen, als Enrique eine Glanztat vollbrachte und den zu wenig platzierten Strafstoß mit Hechtsprung parierte. Vorderhand blieb es beim 0:0. Der Halbwüchsige am Steuer wurde Lasso gerufen, weil er es vorzüglich verstand, das Seil zu schwingen und Jungstiere einzufangen. Nun aber hatte er Angst. An seinen Händen, die das Rad umklammert hielten, perlte der Schweiß. Immer wieder äugte er über die Schulter, in der Hoffnung, sein Vorgesetzter würde sich zurückmelden oder Kapitän Muñoz selbst das Kommando übernehmen. Je mehr sich das Schiff den Laughing Bird Keys näherte, desto mulmiger wurde es Lasso zumute. Wo dort Korallenriffe in den Untiefen lauerten, war ihm unbekannt. Nur die Offiziere wussten, wie die tückischen Stellen zu umschiffen waren. Noch aus ziemlicher Ferne sah der Junge das verrostete Gerippe eines Wracks, das an einem Felszacken aufgespießt war. Im Schiffsbauch kümmerte das niemanden. Mierda-mierda-Gebrüll ertönte. Was konnte das in Lassos Ohren anderes heißen, als dass England 1:0 in Führung gegangen war? Die in Europa vorhergesagte Elimination der Zebras schien in vollem Gang. Ein Aufstöhnen war schwerer zu deuten. Entweder musste Enrique den Ball zum zweiten Mal aus dem Tor fischen oder Österreich hatte gegen Marokko getroffen. Die harmloseste Erklärung war, dass ein Zebra-Star eine so genannte todsichere Chance verkorkst hatte.
Während der Matchpause in Toulouse betrat Kapitän Muñoz die Kommandobrücke und erteilte Lasso Anweisungen: »In zwanzig Minuten musst du, dann läuft die zweite Halbzeit, verdammt nochmal, wir sind 1:0 im Rückstand und die Österreicher führen ebenfalls 1:0, also in zwanzig Minuten musst du zwischen dem Felsen mit dem Wrack und einem Korallenriff hindurch manövrieren. Du weißt ja, nahe am Riff vorbei, aber nicht zu nahe.« Als Lasso schüchtern fragen wollte, ob ihm nicht ein Offizier helfen könnte, war der Kapitän schon wieder weg. Der Schiffsjunge spähte nach vorn. Die Motoren tuckerten unerbittlich und die Klippen mit dem Wrack rückten näher. Nun kommt es bald drauf an, dachte Lasso und zitterte. Da kam ein Riesenhallo aus dem Fernsehraum. Wie aus einem Mund schrien die Honduraner: »Luna, Luna!«, die Bürger von Belize hingegen, die England favorisierten: »Too bad, just too bad!« Der Ausgleich musste gefallen sein. Inzwischen waren sie auf der Höhe der Laughing Bird Keys angelangt, mitten in der kritischen Zone. Urplötzlich krachte es im Gebälk, dröhnte es aus dem Maschinenraum. Lasso erschrak zu Tode und klammerte sich ans Steuerrad, der Fährenrumpf bebte. Kiel und Planken schienen zu bersten, ein Passagier rief: »Titanic!« Das Schiff schlingerte und geriet in Schieflage. Panik brach aus. Ein Schwall von Worten, Befehlen und Gekreisch. Ketten rasselten, erste Wogen schwappten über das Deck, das sich dem Meeresspiegel zuneigte. Lasso flüchtete von der Kommandobrücke und sprang ins Wasser. Bevor er zu schwimmen begann, streifte er die Sandalen von den Füßen und schlüpfte aus dem Hemd. Er hoffte, dass ihn ein Beiboot aus den Fluten retten würde oder dass er es schaffte, bis zu einem nahen Inselchen zu kraulen. Als er zurückblickte, sah er, dass die Fähre vollends zu kentern drohte. Rettungsboote schaukelten auf dem Meer. An Bord
waren nur noch wenige verzweifelte Passagiere. Einige wagten ebenfalls den Sprung ins Nass. »Wer ist nun am Unglück schuld, ich oder das Fußballspiel?«, fragte sich Lasso und heulte im Schaukeln der Wellen.
Am folgenden Tag titelte der Figaro in Paris: »Honduras: Weiter trotz Schiffbruch«. Im Text war zu lesen: »Bei einem Fährendesaster nahe den Laughing Bird Keys vor Belize lachten die Möwen wirklich. Während des Spiels gegen England kollidierte ein honduranisches Fährschiff mit einem Korallenriff, weil Kapitän und Offiziere die Fernsehübertragung verfolgten. Das Schiff sank mit einem Riesenleck im Rumpf. Es ist von Glück zu reden, dass das Unglück keine Todesopfer gefordert hat. Ebenso außergewöhnlich war das Glück der Honduraner beim Spiel selber. Sie erreichten ein 1:1-Unentschieden. Die britischen Supporter, die in der Kurve »one nation, one soul, one beer, one goal« sangen, hätten besser ihre Spieler animiert, nicht so viele Torchancen zu vergeben. Auch begünstigte der englische Coach die Mittelamerikaner, indem er Shearer und Beckham nach dem 1:0 vom Feld nahm und sie für das Achtelfinale schonte. Campbell und Sheringham wurden gar nicht erst eingesetzt. Auch Österreich ging gegen Marokko 1:0 in Führung, doch hatte es der Schiedsrichter auf Polster abgesehen und gab ihm die gelbe und darauf die rote Karte. Die Wiener Offiziellen jammerten über eine unerhörte Fehlentscheidung. Dabei beriefen sie sich auf neutrale Zuschauer, welche die Fouls ihres Stürmerstars als Dutzendvergehen beurteilten, niemals einer roten Karte würdig. Während der Schock die Austria-Spieler lähmte, glichen die Marokkaner aus. Torhüter Konsel verfehlte einen harmlosen Bogenball. Minuten später kombinierten sich die
aufgeputschten Nordafrikaner flüssig nach vorn. Verteidiger Herzog wollte intervenieren, rutschte aber auf dem nassen Terrain aus. Der marokkanische Mittelstürmer hatte freie Bahn und ließ sich nicht zweimal bitten. So verlor Österreich 2:1 und kommt wie Marokko auf drei Punkte, Honduras aber auf deren vier. Das Unentschieden gegen England, das mit komfortablen sieben Punkten Erster der Gruppe F wurde, reicht Honduras zum Weiterkommen.« Sophokles widersprach der Figaro-Darstellung in wesentlichen Punkten. Dass sich die französischen Journalisten bemüßigt fühlten, von Glück zu sprechen, erboste ihn. In einem Interview mit La Prensa führte er aus: »Wir haben gegen England unser bisher bestes Spiel geliefert, verdient den entscheidenden Punkt erkämpft, Naxquitl, Luna, Marcio, Alonso und Enrique sind schlicht Weltklasse. Ganz besonders Luna. Er hat die Engländer nach Herzenslust genarrt und ein superbes Tor erzielt. Dass die Engländer nicht in Bestbesetzung angetreten sind, darf man nicht uns ankreiden.« Ebenso dezidiert war Sophokles, was die Niederlage der Österreicher anbetraf. Den Feldverweis von Toni Polster hielt er für zwingend. Hätte zudem Enrique so gepatzt wie Torhüter Konsel und nicht den Elfmeter abgewehrt, ergänzte er, wäre eben Honduras anstelle von Österreich ausgeschieden. Eigentlich waren retrospektive Analysen und Schuldzuweisungen nicht die Art des Zebra-Trainers. Für ihn war ein Spiel mit dem Schlusspfiff erledigt. Umso mehr stand das nächste im Brennpunkt. Nun ging es gegen den zweimaligen Weltmeister Italien. Das Achtelfinale wurde in Bordeaux ausgetragen. Eine Herausforderung erster Güte.
30
Die Rampen und Plattformen des Ballspielplatzes füllten sich mit Schaulustigen des Mayavolks von Copán. Ein Raunen und Flüstern ging durch die Menge, als erste Würdenträger ihre Plätze einnahmen. Bald musste es so weit sein, dass die Majestät selbst erschien. Die Blicke der Zuschauer richteten sich auf die obersten Stufen der Zeremonial-Treppe. Neben ihr liefen auf einem Fries 2500 Schriftzeichen, welche die ruhmvolle Geschichte der Stadt überlieferten. Nach gebührender Wartezeit tauchte Fürst Rauch-Schale tatsächlich auf. Jubel und Fanfarenklänge begrüßten und begleiteten ihn, während er gemessen über die 72 Stufen zu seinen Untertanen hinabstieg. Unter Flötentrillern, Pauken- und Trommelwirbeln wurde er zum Ehrensitz auf der Plattform über dem dunkelrot bemalten Ballspielplatz eskortiert. Flachreliefs auf dem Fries, der unter den Plätzen der Ehrengäste verlief, stellten Schildkröten, Frösche und Krokodile dar. Die allegorischen Tiere symbolisierten die Fähigkeit, wahlweise die Elemente Land und Wasser zu bewohnen, mitabgebildete Schmetterlinge die Metamorphose. Dem Verpuppen oder Untergang folgten Reinkarnation oder Wiederaufgang. Rauch-Schales Haupt schmückten Quetzal- und Ara-Federn, die Stirn zierte ein Medaillon der Gefiederten Schlange. An seinen Ohren baumelten Goldreifen und am Hals eine Kette aus Jaguarzähnen. Sein Gebiss war mit Plomben aus Jade und Obsidian inkrustiert und die Nase von einer Silbernadel durchbohrt. Den Körper umhüllte ein knöchellanger Mantel in Schwarz und Rot. Auf den Schultern trug er ein Jaguarfell, in der Hand schwang er ein Blitzsymbol aus Holz. Die Priester
seiner Umgebung waren beinahe so festlich gekleidet wie Rauch-Schale selbst. Dienerinnen, deren Gewänder nach Vanille dufteten, kredenzten Saft aus den Früchten des Breiapfelbaums. Fanfarenstöße und Einmarsch der Gladiatoren. Flötisten bahnten ihnen den Weg und führten sie zum Spielfeld in doppelter T-Form. Der Schiedsrichter setzte sich im Schneidersitz über die Mittellinie, die beide Platzhälften voneinander trennte, Rauch-Schale salutierte mit erhobenem Arm, Frauen in Festkleidern räucherten Kopal. Aus Tausenden von Kehlen scholl ein erwartungsvolles Hurrah. Das heilige Ballspiel konnte beginnen, die Konfrontation zwischen Tag und Nacht, Himmel und Erde, Wasser und Land, Gut und Böse, Freund und Feind, Untergang und Aufgang. Die Ballspieler gehörten zur Oberklasse. Sie bildeten Mannschaften zu je drei Spielern. Bevor sie sich in den beiden Feldhälften gegeneinander aufstellten, versuchten sie, sich die Position der Ara-Skulpturen zu merken, die sechs an der Zahl hoch oben aus den Seitenwänden ragten. Helme und Yugos, die jochartigen Hüftgürtel, schützten sie vor der Wucht des schweren schwarzen Hartgummiballs. Demselben Zweck dienten Unterarm- und Kniebandagen. Zur Rechten kämpften die Spieler aus Copán, zur Linken Adlige aus Quiriguá. Die Spieler durften weder Hände noch Füße benutzen, um den Ball zu schlagen, noch durfte dieser den Boden berühren. Gelang es, den Ball mit Hüfte oder Ellbogen ins gegnerische Feld zu befördern, erteilte der Schiedsrichter Einzelpunkte, traf ein Spieler eine Ara-Skulptur, erhielt die erfolgreiche Mannschaft eine ganze Anzahl von Punkten zugesprochen. Ohs und Ahs hallten über den Platz, wenn die Kugel knapp an den Guacamayas vorbeisauste, Triumphgeheul ertönte, wenn ein Superschlag glückte, die Kugel vom Schnabel eines Vogelkopfs zurückprallte. Rauch-Schale nickte majestätisch
und die Menge tobte, als ein Ball der Heimmannschaft zum zweiten Mal einen Papagei touchierte. Am Ende des Spiels vermischte sich der Zuschauerjubel wiederum mit Fanfarenstößen. Während Priester und Gehilfen das Kampffeld betraten, verneigten sich die Triumphatoren vor Fürst Rauch-Schale, winkten ihm und den Schaulustigen zu. Die Verlierer aus Quiriguá senkten die Köpfe. Gefasst kniete der Vornehmste vor dem Oberpriester nieder. Gehilfen fesselten ihn an Armen und Beinen, der Priester ergriff ein rabenschwarzes, scharf geschliffenes Obsidianmesser. Mit sattem Hieb trennte er dem Edelmann den Kopf vom Rumpf. Wie Schlangen spritzten rote Fontänen aus seinen Halsschlagadern. Das Blut sollte die Götter speisen und besänftigen, dazu verhelfen, den Maya-Kosmos lebendig zu erhalten, Unheil und Untergang zu verhindern. Auf dem großen Platz von Copán tanzten Jungfrauen um die Stelen der Herrscherdynastie, besonders um die monumentale Gestalt von 18-Kaninchen, schwangen farbige Bänder und schwenkten Orchideen.
31
Es gab neun Personen, die Pablo in die Arme schließen wollten. Drei Männer und sechs Frauen. Für drei unter ihnen war es einfach, mit dem vielumworbenen Torschützen in Kontakt zu kommen. Am Abend nach Ankunft der Zebras in Bordeaux stieg ein Fest. Im Überschwang des Erfolgs hatte Sophokles alle Bedenken über Bord geworfen und französischen Champagner bestellt. Dazu wurde isländischer Räucherlachs auf Toast serviert. Isabel legte einen Arm um ihren Bruder und den andern um ihren Mann und jauchzte: »Ihr seid Weltspitze!« Ofélia herzte Pablo fast ebenso innig wie einst an der karibischen See. Enrique und Estela lasen auf dem Etikett der Flasche »By appointment to her Majesty, Queen Elizabeth II«. Weil sie damit nicht klar kamen, belehrte sie ein Kellner: »Die Engländer, gegen die ihr gespielt habt, werden von einer Königin mit Vorliebe für Champagner regiert.« Isabel hatte das aufgeschnappt und rief: »Euch Europäern haben wir viel Unsinn abgeguckt, wenigstens setzen wir Honduraner den Präsidenten keine Krone aufs Haupt.« Nun war auch Sophokles so weit, Pablo auf die Schultern zu klopfen und ein Kompliment zu machen, das er äußerst sparsam verwendete: »Lieber Pablo, dein Tor war Sonderklasse!« Kaum hatten sie zusammen angestoßen, piepste das Handy des Trainers trotz der Anweisung, man möge ihm Anrufe nur im Notfall durchstellen. Diesmal blieb ihm die Spucke weg. Ohne sich voranmelden zu lassen, war Staatschef Carlos Flores selbst am Apparat. Er gratulierte ihm und der Mannschaft zum Erreichen des Achtelfinales. »Das ganze Land ist aus dem Häuschen. Super, was ihr geboten
habt!«, lobte der Magistrat und sagte näselnd: »Purer Neid und Boshaftigkeit, dass die Welt über das Fährenunglück am Korallenriff lacht. Alles ist ja glimpflich abgelaufen.« Dann wünschte er Sophokles Glück für das Italienspiel und fragte, ob er mit Luna sprechen dürfe. »Sicher, Herr Präsident«, antwortete der Trainer, »wenn es Sie nicht stört, dass er angesäuselt ist. Wir sind am Feiern.« Pablo warnte er: »Pass auf, Präsident Flores ist am Telefon.« Luna packte das Handy mit Glanzaugen und faselte ohne Umschweife: »So gut, Herr Präsident, dass sie Flores heißen. Blumen passen zu unserer Stimmung!« Der Magistrat schmunzelte und brummelte väterlich: »Nur weiter so, Pablo! Beim Spielen, nicht beim Saufen! Wenn du noch einmal so groß aufspielst, wirst du zum Nationalhelden. Gegen Italien machst du zwei Tore für uns, versprochen?« »An meinem Wollen wird es bestimmt nicht fehlen«, stammelte Luna. Die Verbindung brach ab. Pablo leerte weitere ChampagnerKelche, bis ihn ein gehöriger Drehschwindel befiel. Er fühlte sich wie auf einem Karussell, das immerfort drehte und leierte. Naxquitl, Isabel und Ofélia, die beim Sprudelwein zurückhaltender gewesen waren, sorgten dafür, dass er ins Zimmer und unter die Bettdecke kam. Natürlich gehörten Ada und Juan Ramos zu den neun, die sich nach einem Abrazo von Pablo sehnten. Die stolze Mutter wähnte sich im siebten Himmel. Wenn sich ihre Blicke in der Abenddämmerung am Firmament verloren, glaubte sie, dass Carlos mit Wohlgefallen auf die Tore seines Sohns hinuntersah. Stundenlang kniete sie vor dem Goldaltar der Kirche La Merced und dankte der Madonna für die weise Führung ihrer Familie. Nach dem Verlust ihres Mannes und der bitteren Armut, die sie und ihre Kinder zu erdulden hatten, richteten sie gütige Fügungen auf. Sie lernte Juan kennen und
durfte miterleben, wie Elsa und Isabel sich zu tüchtigen Frauen entwickelten. Hätte sie geahnt, dass Pablo Tage vorher in der romanischen Basilika Saint-Sernin von Toulouse gebetet und die Heilige Madonna angefleht hatte, sie möge ihn für das England-Spiel stärken und beschützen, wäre sie erst recht gerührt und aufgewühlt gewesen. Auch Juan hatte Gründe für einen positiven Rückblick. Pablos Wunsch, als Bub zum ersten Mal ein Fußball-Spiel zu besuchen, hatte zu seiner Liaison mit Ada und ihrer Familie geführt. Ohne eigene Nachkommen übernahm er gerne die Rolle eines Adoptivvaters für die Moya-Kinder. Pablo war zu einem Ballartisten, Isabel zu einer Tänzerin und Spielerfrau geworden, Elsa leitete eine Reiseagentur. Er nahm es nicht für selbstverständlich, dass Ada ihm bot, was ihm die angetraute Frau nicht zu bieten vermochte. Seit Jahren blieb ihm Ada treu und war von einer Sinnlichkeit erfüllt, die im Religiösen und Übersinnlichen wurzelte. Da er in der nüchternen und oft brutalen Geschäftswelt lebte, eher der Physik als der Metaphysik zuneigte, wusste er ihr Naturell besonders zu schätzen, auch ihren Lebensmut, der es ihr ermöglicht hatte, die Zeit der Armut unbeschadet zu überstehen. Juan setzte alle Hebel in Bewegung, um ein Flugticket für Ada und sich zu ergattern. Beim Achtelfinale in Frankreich wollten sie dabei sein. Doch sämtliche Flüge waren ausgebucht. So wandte er sich an eine Sekretärin des Präsidialamts, die ihm schon verschiedentlich aus der Patsche geholfen hatte und der er das Leben ab und zu mit Zuwendungen versüßte. Sie ließ ihre Beziehungen spielen und brachte am selben Abend triumphierend die Flugscheine. Zwei Eintrittskarten für das Spiel steckten in einem separaten Kuvert. In seiner Nähe werde Präsident Flores auf der Ehrentribüne sitzen, berichtete sie hinter vorgehaltener Hand. Gerade habe er sich entschieden, mit seiner Gattin ebenfalls nach Frankreich zu reisen. Das Flugzeug von Ada und Juan
startete in zwei Tagen, Destination Paris und Bordeaux, der Präsident der Republik flog mit dem Privatjet. Die Entourage, die er mitführte, war einem Staatsoberhaupt angemessen. »Eigentlich hätte ich dazugehört«, meinte Juan, als er von der Zusammensetzung der Begleiter erfuhr. Er fasste noch einen Entschluss. Bei einer Veranstaltung von Olimpia war er zwei Junioren begegnet, die ihn an Pablo und Ruben erinnerten. Sie hießen Jorge und Manuel und waren begabt. Den beiden schenkte er Flugkarten, die ihm die Sekretärin am Vorabend der Reise aushändigte. Matchtickets habe sie allerdings keine mehr bekommen, sagte sie. »Jetzt ist ein Bakschisch fällig«, begriff Juan die Situation.
Einleuchtend war auch das Verlangen von Yolanda, Elsa und Ruben, den Torschützen Luna zu beglückwünschen. Yolanda hegte besondere Ambitionen. Wie damals, als sie Luna zum ersten Mal auf dem Bildschirm gesehen hatte, war sie vom einzigen Gedanken besessen, seinen Körper auf ihrer nackten Haut zu spüren. Damit bis zum Ende der Weltmeisterschaft zu warten, schien ihr unzumutbar. Sie wog ab, wie dieses Ziel am besten zu erreichen wäre, fand aber keine praktikable Lösung. Denn Sophokles kapselte die Mannschaft von der Außenwelt ab. Schon bereute er, dass er Frauen und Freundinnen den Zugang zu den Spielern erleichtert hatte. Etwas Askese, so war er überzeugt, könnte sich in der momentanen Situation nur günstig auswirken. Die neunte Person, die Pablo an die Brust drücken wollte, war Livia Yacamán. Sie hatte weit bessere Chancen als Yolanda, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Als Maskotte des Teams wohnte sie im Hotel, das für die Mannschaft und ihre engsten Angehörigen reserviert war. Livia durfte sich frei bewegen. Und Sophokles war sich des Risikos, das von ihr ausging, nicht einmal bewusst.
Unerwartet bewegten Krawalle die Gemüter der Öffentlichkeit. In Lens griffen deutsche Hooligans mit Pflastersteinen und Knallkörpern französische Polizisten an, die sich mit Schlagstöcken und Tränengas zur Wehr setzten. Ein Ordnungshüter wurde klinikreif geprügelt. Sein Leben lang werde er ein Krüppel bleiben, lautete die Prognose der behandelnden Ärzte. Zudem hatten englische Rowdys an mehreren Orten Barrikaden errichtet, Fensterscheiben zertrümmert und Autoreifen aufgeschlitzt. In Toulouse waren alle Biersorten, und nicht nur das Ale, total ausverkauft. Das Hooliganwesen habe seine Wurzeln in England, einigten sich die Teilnehmer einer Talkshow. Allerdings ergab eine Untersuchung der aktuellen Ereignisse, dass die Raufbolde nicht nur aus England oder Deutschland stammten. Nur ein kleiner Prozentsatz war vom Fußball angefressen. Ihr Hauptmotiv lag darin, überschüssige Energien loszuwerden. Sie scheuten sich nicht, ja genossen es geradezu, öffentliches Ärgernis zu erregen. Am unangenehmsten fielen die Rechtsextremen auf, die vor jeder Aktion die Arme zum Hitlergruss erhoben. Ruben setzte sich mit dem Problem der Hooligans zu Hause auseinander. Er war für zwei Tage nach Zürich geflogen, um dringende Geschäfte zu erledigen. Nebenbei informierte er sich über die WM-Spiele in den anderen Gruppen der Vorrunde. Iran hatte die USA geschlagen, wobei das Spiel trotz der politischen Spannungen gewaltlos verlief. Josef Blatter, erst vor kurzem als Nachfolger von João Havelange zum Präsidenten der Fifa gewählt, nutzte die Gelegenheit, um den ethischen Wert des Fußballs hervorzuheben. Das Spiel verbinde die Völker, sagte er sendungsbewusst, es umspanne den Globus und wirke Friede stiftend. Die großen Nationen hatten alle die Vorrundenspiele überstanden, namentlich Brasilien, Argentinien, Frankreich, Deutschland, England, Holland, Mexiko und Italien. Neben
den Lateinamerikanern und Europäern waren die Nigerianer, die durch Gewandtheit und Ballkunst überzeugten, weiterhin mit dabei. Honduras rühmte sich, das einzige Land unter den letzten 16 zu sein, das nur sechs Millionen Einwohner hatte. Auch freute es die Zebras, dass der Riese USA bereits ausgeschieden war. Den anrüchigen Stempel einer Bananenrepublik hatte Honduras nur erhalten, weil nordamerikanische Konzerne, allen voran die United Fruit Company, sein Agrarpotenzial ausgebeutet und übernutzt hatten. Die Firmen gingen skrupellos vor, nahmen keine Rücksicht auf die Bedürfnisse des Landes und fühlten sich nur dem eigenen Profit verpflichtet. Yolanda nahm in Bordeaux an einer Stadtrundfahrt teil, die mit einem Besuch des Château Pontet-Canet verbunden war, auf dessen Weingut ein Grand Cru Classé reifte. Sie war nicht bei der Sache. Rebstöcke und Eichenfässer waren ihr schnuppe, weil sie realisierte, dass eine Nacht mit Pablo allein kaum drin lag. Deshalb erwog sie ein Happening zu dritt. Ob Ofélia damit einverstanden war? Zur selben Zeit waren die Zebras beim Training. Sophokles dozierte den Spielern, die Taktik der Italiener sei, rasch ein Tor zu schießen und dann hinten zuzumachen. Costacurta und Bergomi seien Schurken, vor denen man sich in Acht nehmen müsse, wolle man nicht mit der Bahre vom Platz getragen werden. Baggio und Del Piero seien brandgefährlich und so wirblig, dass man glauben könnte, sie hätten die Gelenke mit Olivenöl aus Sizilien geschmiert. Zurück vom Sightseeing rief Yolanda Ofélia an und lud sie zu Abendbummel und Kaffee ein. Als die beiden Frauen am Ufer der Garonne spazierten, pfiffen ihnen junge Italiener mit rot-weißgrünen Fahnen zu und wollten partout anbändeln. Yolanda tat, als verstände sie kein Wort, Ofélia wies auf ihre blauweiße Schärpe mit den Sternen hin und streckte die Zunge.
Die Frauen setzten sich auf eine Uferbank, was die Verehrer erst recht ermutigte, sie mit Avancen zu belästigen. Es brauchte einiges, bis die Burschen einsahen, dass wirklich nichts zu wollen war. Mit Blick aufs Wassers gestand Yolanda: »Von Haus aus bin ich eigentlich ein Fan von Maldini und Baggio.« »Verräterin!«, empörte sich Ofélia. »Wenn du zu uns gehören willst, musst du die Zebras unterstützen!« »Hm – «, machte Yolanda nachdenklich. »Ist das so schwierig? Du bist doch Schweizerin und gar keine Neapolitanerin mehr, oder?« »Trotzdem. Aber ich tu euch den Gefallen, Pablo zuliebe.« Ofélia verkniff sich einen scharfen Kommentar. Die Frauen schauten auf die trägen Fluten der Flussmündung, die einem Fjord glich. »Denkbar ungünstig, jetzt Ofé eine Nacht zu dritt vorzuschlagen«, seufzte Yolanda in sich hinein. Der Kaffee in der Konditorei, die sie nun aufsuchten, schmeckte fad, ihr Gespräch drehte sich um Banalitäten. Die Stunde des Achtelfinales nahte. Ada und Juan Ramos waren am Tag vor dem Match in Bordeaux eingetroffen und konnten dank Vermittlung von Elsa, die auch hier mit Lempira im Zelt hauste, ein Zimmer in einem Außenquartier beziehen. Für Manuel und Jorge einen Zeltplatz zu finden, bereitete Elsa keine Mühe, wohl aber, Eintrittskarten fürs Stadion aufzutreiben. Da kam ihr eine Idee. Sie versuchte ihr Glück mit einem Anruf bei der Fifa und fragte, ob noch Tickets für Invalide erhältlich seien. »Sind die Invaliden Italiener oder Honduraner?«, fragte eine freundliche Dame. Das Kontingent war bei den Italienern, nicht aber bei den Honduranern ausgeschöpft. »Welcher Art ist denn ihre Behinderung?«, erkundigte sich die Frau, worauf Elsa flunkerte: »Geistiger Natur, aber sie sind lieb und verrückt auf Fußball.«
»Aha, verstehe«, sagte die Frau beflissen. So kam Elsa gratis zu zwei von der Fifa gesponserten Karten auf der Haupttribüne. Gleich ließ sie sich zum Hotel von Ada und Juan fahren. »Eltern«, rief sie, so nannte sie die beiden seit einiger Zeit, »was für ein Dusel, Juan, deine Supertalente haben Plätze für mental Invalide!« Das amüsierte Juan königlich. Er ahmte einen Debilen nach und lallte Jubellaute. Ada scherzte: »Willst du anstelle von Manuel auf einen Invalidensitz?«
Drei Stunden vor Matchbeginn trottelten Manuel und Jorge bühnenreif ins Stadion und wurden von einer Betreuerin in Empfang genommen. Auch sie hatten das Verhalten von Debilen geübt, bis ihnen die Bäuche vor Lachen schmerzten. Jorge geiferte, überbiss die Zähne und wackelte unablässig mit dem Kopf, Manuel tupfte mit den Zeigfingern auf die Schläfen, grölte und stolperte beim Gang zu den Plastikschalen, wo beide brüllten wie die Löwen von Olimpia. Neben ihnen wurden zwei Knaben im Rollstuhl und ein Mädchen mit Zuckungen platziert. Wie befürchtet hatte Yolanda den Sicherheits-Cordon um Lunas Hotelzimmer nicht zu durchbrechen vermocht. Für das Spiel hatte sie mit Ruben, der wieder aus Zürich angereist war, Karten auf der Gegentribüne. Ada und Juan wurden von ausnehmend hübschen Französinnen zu den Polstersesseln der Ehrenloge geführt. Um acht Uhr abends schien die Sonne schräg über den Platz. Die Tänzerinnen, die über den Rasen wirbelten, warfen groteske Schatten. Es war Ende Juni und Sommerzeit. Die Fifa hatte einen Südkoreaner zum Schiedsrichter bestimmt. »Ein Nachteil für uns«, bemerkte
Ruben zu Yolanda. »Der will sich international profilieren. Und das kann er nur, indem er die Italiener begünstigt.« Juan hatte ein anderes Problem. Als er sich umdrehte, sah er etliche Meter hinter sich ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Der untersetzte Mann trug einen violettweißen Schal. Das waren doch die Nationalfarben von El Salvador? »Ja natürlich«, kam ihm in den Sinn, »es muss der Regierungsbeamte sein, mit dem ich mich vor 29 Jahren verbal duelliert habe. Nach dem Fußballkrieg.« Der Streit zwischen ihnen war entbrannt, weil Honduras Reparationen für die Zerstörungen rund um Santa Rosa de Copán verlangt, aber nie erhalten hatte. Dass sich der Herr, wegen dem er beim damaligen Präsidenten fast in Ungnade gefallen wäre, unter die italienischen Fans mischte und mit ihnen »Forza Italia!« rief, schien ihm typisch. Sicher wünschte er den Zebras eine Schlappe, die aufgrund der Papierstärke der beiden Teams durchaus zu erwarten war. Die französische und italienische Presse waren sich darin einig, dass nur die Höhe des Resultats zur Diskussion stand, nicht aber ein Sieg von Italien. Lempira und Elsa waren sich in der Honduras-Kurve bewusst, dass ihre Fanbande in puncto Lautstärke ‘ den Italienern hoffnungslos unterlegen war. Ihr Versuch, einen Lautsprecher durch die Sicherheitskontrollen zu schleusen, war diesmal misslungen. »Merde alors!«, entfuhr es Elsa, die ein paar Worte Französisch konnte. Lempira erklomm eine Balustrade, an der die Drahtgitter verankert waren, und klammerte sich mühsam daran fest. Von oben her intonierte er die Schlachtrufe »Vamonos, los Zebras! Olé Honduras, olé! Vaffanculo Italiani!« Obwohl er schrie, so laut er konnte, ging seine Bassstimme im Orkangetöse der abertausend Stiefelbewohner unter. Bereits in der fünften Spielminute wurde es dramatisch. Die italienischen Fans erblassten und verstummten schlagartig.
Naxquitl hatte – wie war das möglich? – Costacurta und Bergomi düpiert und zog allein aufs Tor los. Im letzten Moment brauste Nesta heran und säbelte ihn um. Der Schiedsrichter mit den Schlitzaugen gab Elfmeter, Kapitän Maldinis Reklamationen waren umsonst. Wie vereinbart übernahm Torwart Enrique die Ausführung. Er rückte den Ball auf dem ominösen Punkt zurecht, hob ihn nochmals an, setzte ihn neu, lispelte »Chilavert«, nahm Anlauf und knallte in die Wolken. Gianluca Pagliuca, der italienische Zerberus, hob die Hand und lächelte schadenfroh. Das Aufstöhnen der LempiraBande ging im Hohngeschrei unter. »Forza Italia! Forza Italia!«, brandete es über den Platz. Endlich machten die Azzurri Dampf und kombinierten wie am Schnürchen. Verteidiger Maldini enteilte am Flügel und flankte zur Mitte, Roberto Baggio nahm den Ball direkt ab und knallte ihn mit akrobatischer Drehung ins Netz. Enrique war machtlos. Doch jetzt war die Hölle los. Der Unparteiische pfiff nicht Tor, sondern Abseits. »Keine Spur von Abseits!«, verwahrte sich Maldini, »Betrug, du Strichjunge!«, schrie Vieri, der mit einer Gelben bestraft worden wäre, hätte ihn der Schiedsrichter nur verstanden. »Rot!«, brüllte Lempira, der die Bedeutung des Ausdrucks ahnte. »Rot ist die gerechte Sanktion für solche Schimpfwörter!« In den Augen der Europäer war der Papst mit der Pfeife unerträglich parteiisch, wollte sie um die Früchte ihres Könnens betrügen. Im allgemeinen Tohuwabohu hatte niemand gesehen, was der Linienrichter anzeigte. »Goldrichtig«, würdigte Juan den Entscheid des Referees. Als er hinter sich schaute, hörte er den Salvadorianer rufen: »Scheiße, zum Himmel schreiende Willkür!« Die Aberkennung des Tors verunsicherte nicht etwa die Italiener, sondern die Honduraner, deren Hinterleute nun Fehler über Fehler begingen. Anstatt den Ball sauber anzunehmen, ließ ihn José abprallen. Direkt vor die Füße von Juventus-Star Del
Piero, der das Geschenk annahm, Alonso aussteigen ließ und den Ball im Bogen über den aus dem Kasten eilenden Enrique liftete. Das Leder flog und flog und flog – auch über die Latte. »Was für ein Pech!«, jammerten die Fans der Squadra Azzurra. Aber Italien drückte weiter. Pessotto schaltete sich in den Angriff ein, tankte sich durch und legte Vieri mustergültig vor. Diesmal klappte es. Aber nicht, weil der Schuss dem Ruf von Vieri Ehre gemacht hätte. Enrique unterlief ein Missgeschick, mit dem schon Oliver Kahn gehadert hatte. Wohl wehrte er den scharfen und unplatzierten Ball im Fallen ab, ließ ihn aber unter seinem Körper hindurch ins Tor rollen. »Was ist nur mit Pavón los?«, entsetzte sich Ruben, denn diesmal sah der Schiedsrichter keinen Grund, den Treffer zu annullieren. Vieri legte den Zeigfinger auf die Lippen, um den frenetisch applaudierenden Landsleuten zu sagen: »Behaltet es für euch, doch ihr wisst, dass ich’s war.« Pagliuca und Costacurta küssten ihre Eheringe, Del Piero vollführte einen Doppelsalto. Der Verlauf der Partie schlug den Zebras aufs Gemüt. In der Pause – beinahe hätte noch Vieri mit einem Kabinettstück einen zweiten Treffer erzielt – kamen sie sich wie Pudel vor, denen man eine Wurst vor die Schnauze hält, aber im letzten Augenblick wieder wegzieht. Zuerst der vergebene Elfmeter, dann das dumme Gegentor. Auch die Fehlpässe am laufenden Meter. Sophokles verzichtete auf eine Standpauke. Sanft, aber eindringlich redete er den Spielern zu: »Jetzt rappelt euch aber auf, schafft die Wende, reißt unsere Fans von den Sitzen! Diese Maldini und Nesta sind zu packen. Schon weil sie uns unterschätzen, Provinzkicker schimpfen. Luna, du gehst links außen in die Offensive wie Roberto Carlos, Marcio, du rechts außen wie Cafu. Naxquitl, du riegelst im vorderen, du José im hinteren Zentrum ab. Die Stürmer füttert ihr mit langen Bällen.
Bei Ecken gehen Alonso und Luis mit nach vorn. Ich will Tore sehen!« Die Zebras kamen wie verwandelt aus der Kabine. Naxquitl antizipierte wieder, wohin der Ball flog und wo die Mitspieler standen. Lanciert durch Luis versetzte er Bergomi mit Absatztrick und eröffnete Marcio freie Bahn. Dessen Bolide aus spitzem Winkel klatschte an den linken Pfosten und prallte ins Feld zurück. Maldini verfehlte, aber Luna stand goldrichtig und verwandelte im Flug. Pagliucas Panthersprung kam zu spät. »Que bravo!«, schrien Juan und Ruben. Ada, Ofélia und Yolanda wurden nicht müde, Pablo Kusshändchen zuzuwerfen, Isabel und Livia tanzten, als gehörten sie zum Ensemble der Folies Bergères. Das 1:1 weckte die Azzurri. Von Wut ergriffen preschte Nesta nach vorn und setzte Baggio ein, den Alonso nur bremsen konnte, indem er ihn am Trikot zupfte und zu Boden zerrte. Den fälligen Freistoß aus zwanzig Metern Distanz zirkelte Del Piero mit Effet über die Leibermauer hinweg ins Lattenkreuz. Enriques Hechtsprung war umsonst. Doch wieder aberkannte der Südkoreaner den Treffer. »Skandal! Schiebung!«, schallte und widerhallte es in der Arena. Die Rufe »Stürmerfoul, Behinderung des Torhüters!« erstickten im Tumult, einzig Lempiras Urschrei drang durch. Grenzenlos enttäuscht rückten die Italiener dem Schiedsrichter auf den Leib, Costacurta brannten die Sicherungen durch. Er versetzte dem Unparteiischen einen Boxhieb. Wollte dieser nicht den Rest an Autorität verlieren, musste er die rote Karte zücken. Rasende Tifosi versuchten, die Absperrungen zu überklettern. Gelassener ging’s auf der Bank der Invaliden zu. Manuel zeigte auf den Himmel und rief: »Die Virgen de Suyapa reitet auf der Schäfchenwolke da, siehst du? Sie kommt direkt aus Tegucigalpa und schützt uns vor Toren.« Obwohl die Betreuer kein Spanisch verstanden, schöpften sie Verdacht, ihre
Schützlinge könnten sich verstellen, seien vielleicht verrückt, aber nicht debil. Die Burschen erkannten die Gefahr. Jorge jaulte und vibrierte mit dem Unterkiefer, Manuel knirschte mit den Zähnen und blökte. Als das Spiel wieder aufgenommen wurde, fiel Enriques Abstoß besonders energisch aus. Erst vor der Strafraumgrenze senkte sich der Ball aufs Feld. Luna gewann das Kopfballduell gegen Bérgomi und legte sich vor, scheinbar zu steil. Doch Zentimeter bevor das Leder die Grundlinie überschritt, stoppte er es mit der Fußspitze und gab zur Mitte. Marcio täuschte einen Schussversuch vor, ließ aber den Ball für Naxquitl durch, der in seinem Rücken lauerte. »Richtig, richtig!«, brüllte Juan. Naxquitl tat zwei Schritte und knallte den Ball präzis in die entfernte Torecke. Pagliuca weigerte sich, den Ball aus dem Netz zu holen, ballte die Fäuste und beanstandete ein doppeltes Abseits. Schieds- und Linienrichter waren anderer Meinung, erst recht die Anhänger von Honduras. Wie die Analyse mit Replay der Fernsehsequenzen nachträglich bewies, war das Tor regulär. Wiederum ging es um Zentimeter, aber Marcio und Naxquitl standen nicht im Abseits, urteilte der zuständige Experte der Fifa. Für Collina hingegen, den italienischen Star-Referee und Glatzkopf auf der Tribüne, war die Offside-Position von Naxquitl eindeutig, von Marcio zweifelhaft. Bis zum Spielende fehlten noch zehn Minuten plus Nachspielzeit. Beide Trainer wechselten aus. Sophokles holte den erschöpften Luna vom Feld. Er sah aus wie ein verkochter grüner Spargel und trocknete sich die von Schweiß verklebten Haare mit dem Handtuch. Carmelo ersetzte ihn. Trainer Cesare Maldini, der Vater des Verteidigers Paolo, brachte Albertini für Pessotto. Kaum auf dem Feld rannte der Italiener wie eine Furie über den halben Platz, fällte ungestraft zwei Verteidiger, kurvte in die Mitte und ließ sich den Ball erst vom herauslaufenden Enrique wegschnappen. Dabei traf er ihn mit
der Schuhspitze. Enrique sank zu Boden und krümmte sich. »Zeitschinderei!«, brüllten die Azzurri-Fans, »Absicht! Rote Karte!«, die Zebra-Fanatiker. Wohl zu Recht sah der Schiedsrichter weder noch. Immerhin hielt sich Enrique die Rippen, musste vom Platz geführt und gepflegt werden. Ersatzhüter Rojas ging zwischen die Pfosten. Während der letzten Minuten der regulären Spielzeit entstand ein Gerangel nach dem andern im Strafraum von Honduras. Einmal jagte Alonso den Ball in die Zuschauer, einmal pflückte ihn Rojas dem hochspringenden Del Piero vom Kopf, einmal spritzte er José im Strafraum an den Arm – »Handelfmeter!«, forderten die Italiener, ohne erhört zu werden, »Angeschossen!«, brüllten die Honduraner –, einmal kugelte er zum Eckball über die Grundlinie. In der Nachspielzeit brachten es die Zebras fertig, den Ball in den eigenen Reihen zu halten. Auf einen Pass nach vorn folgten Seiten- oder Rückpässe, sogar zu Hüter Rojas, ohne dass die Europäer das Streitobjekt erobern und zu weiteren Attacken ansetzen konnten. Es blieb beim 1:2. Das kleine Honduras hatte das große Italien ausgeschaltet. Luna, der die letzten Minuten auf der Bank verbracht hatte, galoppierte übermütig aufs Feld und wollte mit Roberto Baggio die Trikots tauschen. Achselzuckend stimmte Roberto zu. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich auch bei schmerzhaftesten Niederlagen gentlemanlike zu benehmen, vermutlich seit er vier Jahre zuvor im WM-Finale gegen Brasilien den ausschlaggebenden Elfmeter verschossen hatte. Auf der Bank der Handicapierten waren Jorge und Manuel nicht mehr zu halten und riefen: »Mirakel! Es lebe die Virgen von Suyapa! Sie hat Luna denkende Füße geschenkt, den Italienern die Beine gelähmt und dem Schiedsrichter das Hirn!«
Nun war es für die Betreuer eindeutig, dass die Burschen keine Debilen waren. Die beiden fürchteten Ungutes, piepsten »Wunderheilung!« und erweichten damit auch die verstocktesten Herzen.
32
Im Hotelfoyer ging Präsident Flores auf Gratulationstour. Zur Feier des Tages hatte er eine Schärpe in den Landesfarben umgehängt, verteilte Abrazos und wechselte mit jedem Akteur ein paar Worte. Anschließend spendierte der honduranische Verband ein üppiges Mahl mit Steaks und Bordeaux-Wein. Vor dem Nachtisch mit Mousse au Chocolat ergriff Sophokles das Wort und sprach von einem historischen Sieg. Dann holte er tief Luft und ging abrupt zu trockenen Mitteilungen über. Die Lust der Spieler, ihren Erfolg ausgiebig zu feiern, wollte er dämpfen. Ein Fest wäre der Form abträglich. Was längst durchgesickert war, bestätigte er nun offiziell, nämlich dass ihr Gegner im Viertelfinale Deutschland hieß. Des Trainers Quintessenz lautete: »Italien, den Weltmeister von 1982, haben wir aus der Konkurrenz geworfen. Jetzt nehmen wir uns den Weltmeister von 1990 vor. In Paris schmeißen wir auch die Deutschen raus und stoßen ins Halbfinale vor. Dass mir keiner um Mitternacht noch an der Bar rumhängt!« Im Gedränge nach dem Italienspiel war Yolanda spurlos verduftet. Ruben hatte sie aus den Augen verloren und vergeblich vor den Stadioneingängen gesucht. Lunas brillante Auftritte, die weltweit Erstaunen erregten, wirkten auf Yolanda wie ein Aphrodisiakum. »Ich will Pablo lieben«, hämmerte es in ihrem Kopf noch stärker als die Tage zuvor. Per Taxi fuhr sie zum Hotel des Nationalteams und versteckte sich im Dunkel des Fernsehraums, wo sie mitbekam, wie Experten einzelne WM-Spiele analysierten. Pablos Zimmernummer bekam sie heraus, indem sie dem Portier schöne Augen machte. So war der nächste Schritt nicht allzu schwierig.
Gegen elf Uhr nachts verabschiedeten sich Ofélia und Luna vom Team und begaben sich aufs Zimmer. Darauf hatte das Model gewartet und klopfte an die Tür. Pablo öffnete, machte einen Luftsprung und ließ sie ein. Er fühlte sich durchaus zu amourösen Taten aufgelegt. Eine Liebesnacht zu dritt lag nahe, hätte nur Ofélia mitgespielt: »Pablo, du weißt genau, dass ganz Honduras im Fußballtaumel ist, weitere Glanztaten von dir erwartet.« Nichtsdestotrotz fing Yolanda mit einem Striptease an, was Ofélia aufs Äußerste reizte. Da sie mit ihrer Meinung nicht zurückhielt, entspann sich eine hitzige Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen. Sie artete in einer handfesten Rauferei aus. Pablo stand unschlüssig daneben und konnte sich nicht entschließen, zu wessen Gunsten er einschreiten sollte. Erst als Ofé zu unterliegen drohte, Yolanda sich in ihren Haaren festkrallte, trennte er die beiden. Das erregte die Italoschweizerin bis in die letzte Nervenfaser. Sie stürzte sich erneut auf Ofé, die gestärkt durch Lunas Intervention geschickt auswich, die Oberhand gewann und die Rivalin kreischend aus dem Zimmer jagte. Bevor die Tür zuklappte, rief Yolanda: »Mich wirst du nie mehr Wiedersehen, Pablo Moya!« Wie Honduras Italien hatte Deutschland am selben Tag Mexiko ausgeschaltet. Nicht ohne Probleme. Zu Beginn der zweiten Halbzeit erlebte Trainer Berti Vogts Horrorsekunden. Beim Stand von 1:0 für die Mexikaner endete eine Rettungsaktion von Lothar Matthäus beinahe fatal. Einen Ball des anstürmenden Arellano fälschte er an den eigenen Pfosten ab. Den Rebound setzte Martinez neben Köpkes Tor und versiebte damit eine erstklassige Gelegenheit, auf 2:0 zu erhöhen. Erst jetzt besannen sich die Deutschen auf ihre traditionellen Tugenden. Mit unbändiger Energie stemmten sie sich gegen die drohende Niederlage und mobilisierten einen Kampfgeist, der auf Kraft, Ordnung, Fleiß und Disziplin
beruhte. Technisch auf der Höhe waren sie ja auch, selbst wenn sie steifere Hüften hatten als die Lateinamerikaner, wie gewisse Kommentatoren behaupteten. Mit zackigen Zurufen rüttelte Vogts die Spieler von der Seitenlinie her auf, den Gegner durch bedingungslosen Einsatz zu zermürben. Klinsmann und Bierhoff wuchsen über sich hinaus, Hamann verdoppelte sein Laufpensum. Das Blatt wendete sich. Jürgen Klinsmann scorte mit dem Fuß, Oliver Bierhoff Minuten vor Schluss mit dem Kopf. Der Traum aller Schwiegermütter wurde nach dem Abpfiff von Mitspielern auf die Schultern gehievt und zur Ehrenrunde um den Platz getragen. Genugtuung herrschte bei den Deutschen auch deshalb, weil sie im Parc des Princes nicht gegen den Angstgegner Italien, sondern gegen Honduras antreten mussten. Die Mittelamerikaner stuften sie als wesentlich schwächer ein. Wenige trauten den Zebras eine weitere Ausnahmeleistung zu. Nach den Vorfällen im Italienspiel hofften die Deutschen zudem, dass die Fifa jetzt einen Schiedsrichter berief, der ihnen gewogen war. Zu Unrecht aberkannte Tore konnten einen Turnierverlauf bös verfälschen. Zusammen mit anderen Trainern sprach Berti Vogts bei der Schiedsrichterkommission der Fifa vor und pochte auf den Einsatz unparteiischer und international erfahrener Referees. Präsident Josef Blatter schaltete sich ein und versicherte diplomatisch, das sei auch für ihn ein Anliegen von erster Priorität. Fehler bei Tatsachenentscheiden seien allerdings nie ganz zu vermeiden, zudem würden auch richtige Urteile von den Medien falsch dargestellt oder aufgebauscht. Als Beispiel nannte er die Reaktion der Gazzetta dello Sport, die an Ehrenrührigkeit grenzte. Die Redakteure vertraten die Meinung, Italien sei unter Mithilfe der Fifa ausgebootet worden aus Rache dafür, dass der Vertreter Italiens bei der Präsidentenwahl nicht für Blatter, sondern für den Schweden Johansson gestimmt habe.
Am nächsten Morgen dislozierten die Zebras nach Paris. Sie wurden im Vorort Ozoir einquartiert, wo gesichtslose Miethäuser und Wassertürme die Szene dominierten. Dort stand ihnen der Trainingsplatz Stade des Trois-Sapins zur Verfügung. Juan und Ada zogen es vor, in der Innenstadt zu logieren. Für Ada war Paris das Nonplusultra von allem, was sie je gesehen hatte. Schon im Hotel an der Place de l’Opéra kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Jugendstil mit den hohen Räumen, Spiegeln und Kronleuchtern begeisterte sie, auch das Café de la Paix schräg gegenüber. Den Arc de Triomphe und den Eiffelturm wollte sie sehen, Montmartre und den Invalidendom, wo sie Napoleons Sarkophag bestaunte. Einen Morgen lang begleitete eine Hostess sie und Juan durch das Labyrinth der Metro. Nachdem sie sich im Faubourg Saint-Honoré die Nase an den Vitrinen der Modeboutiquen plattgedrückt hatte, kaufte sie bei Saint Laurent ein Kostüm, das eher für jüngere Frauen gedacht war. Es enthüllte mehr als es verhüllte und war knallrot. »Willst du gleich in Paris bleiben?«, hänselte sie Juan, den ihre Extravaganz der Stunde amüsierte. »Gefällt dir denn mein Kleid nicht?«, entgegnete Ada beleidigt und drehte sich wohlgefällig vor dem Spiegel ihres Zimmers. Die Spieler waren in Klausur. Weiterhin genossen nur Ehefrauen und Lebensgefährtinnen die Gnade von Sophokles. Sorgen bereitete Torwart Enrique. Röntgenbilder bestätigten, dass er zwei Rippen gebrochen hatte und definitiv gegen Deutschland ausfiel. Ersatzkeeper Rojas wurde einem Intensivtraining unterzogen. Ruben suchte das Mannschaftshotel auf und wollte dringend mit Pablo sprechen. Um überhaupt vorgelassen zu werden, hatte er sich als Betreuer auszuweisen. Ein Funktionär von Inter Mailand hatte ihm per Fax mitgeteilt, der Vertrag für den Transfer sei reif zur Unterschrift. »Plötzlich pressiert es«, dachte Ruben
ungehalten, »nach Lunas Tor in Toulouse und jetzt in Bordeaux.« Am Telefon hatte er dem Interessenten mitgeteilt: »Pablo Moyas Marktwert ist enorm gestiegen. Der Vertrag, der vor der Weltmeisterschaft entworfen wurde, ist zu überarbeiten. Andere Vereine bieten weit bessere Konditionen.« Das stimmte nur insofern, als Ruben mit Anfragen überhäuft wurde. Auch Agenten, die den AC Barcelona und die AS Roma vertraten, machten ihm den Hof. Da durfte er sich ruhig Zeit lassen und Konditionen aushandeln, die vor der WM nicht halb so lukrativ gewesen wären. Pablo und Ofélia waren Feuer und Flamme, als ihnen Ruben von seinem kometenhaft gestiegenen Renommee und den Transfermöglichkeiten erzählte. Der Lohn bei Inter Mailand lag drei- bis viermal höher als bei den Grasshoppers in Zürich, und das ohne die Spezialverträge mit Sponsoren, die zusätzlich in Aussicht standen. Das Angebot verleitete Ofélia, Mutter Barbara anzurufen und ihr die Zukunft in rosigen Farben auszumalen. Auch Pablo konnte nicht den Mund halten und berichtete Sophokles brühwarm über die Offerten. Anstatt ihm zuzuhören, wies ihn der Coach zurecht: »Alles hat seine Zeit. In vier Tagen findet das wichtigste Spiel statt, das Honduras je bestritten hat. Bis dahin sind individuelle Wünsche zurückzustellen. Das gilt auch für dich.« Sophokles musste sich selbst zwingen, dem Ansturm der Scouts zu widerstehen. Man bot ihm das Amt des Trainers bei Borussia Mönchengladbach und bei Liverpool an, andere Möglichkeiten bahnten sich an. Er änderte das Thema und fragte Pablo: »Kennst du überhaupt die deutschen Recken, mit denen du es zu tun bekommst?« »Keine Ahnung«, musste Luna gestehen, »gegen den VfB Stuttgart hab ich zwar schon gespielt, der ist gar nicht so übel, auch Bayern München oder Dortmund kenne ich. Die
Nationalelf sah ich jedoch nur am Fernsehen. Deutlich schwächer als die Italiener oder gar die Brasilianer oder Argentinier.« Darauf reagierte der Trainer ungehalten: »Geh mal hin und erkundige dich bei deinem Schwager Naxquitl über die Spieler, aber bitte in allen Einzelheiten!« Umgehend ließ er den Kader zusammentrommeln und einen Film mit Köpke, Matthäus, Köhler, Möller, Klinsmann und Bierhoff in voller Aktion vorführen. Es waren Szenen aus Länderspielen gegen Spanien und England. Zu Sophokles Unmut zeigten sich die Zebras wenig beeindruckt vom Können und den Gepflogenheiten der deutschen Mannschaft. »Dieser Lothar ist ja ein Großvater«, spöttelte Luna und Alonso höhnte: »Nach Ausflügen über die Mittellinie braucht der ein Taxi, um in den Strafraum zurückzufahren.« »Mit seinen 37 Jahren schon ein bisschen langsam«, sagte darauf Sophokles und nieste, »aber guckt einmal auf sein Stellungsspiel. Matthäus spürt instinktiv, wo der freie Mann steht, lässt sich durch keine Finte austricksen. Auch beim Einleiten von Gegenangriffen und mit seinem Kampfgeist ist er ein Vorbild.« Sophokles setzte alle rhetorischen Fähigkeiten ein, um die Spieler von den Vorzügen der Deutschen zu überzeugen und ihnen geeignete Gegenmaßnahmen einzutrichtern. Dabei unterstützte ihn Morales mit einem Sermon, den der Mentaltrainer »Verteilung moralischer Weckamine« nannte. Auch befahl er der Mannschaft, sich an den Schultern zu halten, einen magischen Kreis zu bilden und Schlachtgesänge von Lempira zu brüllen. Der Trainer ordnete an, dass die Spieler die Nacht vor dem Viertelfinale allein zu verbringen hatten. Kein Problem für Pablo. Er träumte von einem weiteren Großerfolg. Umso mehr wunderte er sich, als er das Zimmer betrat. Es duftete nach Rosen, die Lampen auf den Nachttischen verbreiteten schummeriges Licht. Aus dem Bad drang Spülgeräusch, dann
ein Rauschen der Dusche. Dampf und Schampongeruch stiegen aus der lose angelehnten Tür. Yolanda? Instinktiv zögerte er nachzusehen, wer es war. Ofélias Gegenwart schloss er aus, zu ernst nahm sie die Anweisungen des Trainers. Auf keinen Fall wollte sie Pablos Form schaden. Da trat eine Gestalt auf ihn zu, die er nur allzu gut kannte. Sie schürzte die Lenden mit einem Badetuch und hatte einen blauweißen Schal um den Hals geschlungen. Lange pechschwarze Haare fielen ihr über die Schultern. Oberkörper und Brüste waren nackt und rochen exquisit nach karibischen Essenzen, auf den Oberarm war ein Olimpia-Löwe tätowiert. Livia Yacamán legte dem Verdutzten die Arme auf die Schultern und sagte: »Endlich hab ich dich! Nur diesmal ohne Ballone.« »Bist du verrückt?« Pablo spannte die Muskeln und stieß sie von sich. »Verschwinde! Sonst rufe ich Sophokles.« »Der schickt mich ja gerade«, flötete Livia, »ich soll dir Power einflößen. Für das morgige Spiel.« Verlegen schaute Luna zu Boden. Ihre Zehennägel waren blau lackiert, ihre Schenkel glatt und elegant. »Ja, aber – «, stotterte er. Da ließ sie das Badetuch fallen und drückte sich an ihn, presste die Zungenspitze zwischen seine Lippen und drängte so lange, bis sich seine Zahnreihen öffneten. Powered by Emotion war das Spiel schon. Nicht nur Präsident Carlos Flores saß unter den Ehrengästen im Parc des Princes, sondern auch Bundeskanzler Helmut Kohl, der in einem Spezialsessel thronte. Neben ihm nahmen Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß Platz und orientierten den Landesvater im Duett über die letzten Entwicklungen in der deutschen Elf, ein bisschen auch über die Honduraner. Die Blessuren von Markus Babbel waren auskuriert und Jürgen Kohler hatte den Auftrag, als Manndecker Pablo Moya zu bewachen. Durch Pressing und Überzahlbildung in Ballnähe wollte Trainer Berti Vogts die Angriffe der Zebras im Keim
ersticken. Andreas Köpke hatte zu halten, was trotzdem aufs Tor kam. Bierhoff und Klinsmann waren ohnehin eine Klasse für sich, stets für Tore gut. Kohl hörte den Exnationalspielern und Managern von Bayern München aufmerksam zu. Wie seine Äußerungen verrieten, war er ein gebildeter Laie. »Wenn ich mich recht erinnere«, nuschelte er, »ist unsere Elf traditionsgemäß eine Turniermannschaft. Nach verhaltener Initialphase steigert sie ihre Leistung von Spiel zu Spiel.« Deutschland startete furios. Hässler lancierte Klinsmann in die Tiefe, der versetzte Alonso mit einem Absatztrick, schoss flach und platziert. Den Boliden lenkte Ersatztorhüter Rojas mit den Fingerspitzen spektakulär zur Ecke. Wieder und wieder rollten Angriffe auf das Tor der Honduraner. Naxquitl und Pablo verstärkten die Abwehr. Sie erhielten kaum Chancen, über die Mittellinie vorzustoßen. Erst allmählich glich sich das Geschehen aus. Meist nach Abschlägen von Rojas sprinteten Marcio oder Pablo an den Seitenlinien entlang nach vorn. Doch die Prognosen bewahrheiteten sich. Matthäus antizipierte meisterhaft und Köhler stand wie ein Fels. Vor taktischen Fouls schreckten sie schon gar nicht zurück, was Sophokles mit Schimpftiraden quittierte. Aber die Zebras waren ebenso wenig zimperlich. Luis legte Bierhoff in aussichtsreicher Position, Klinsmann verzog den fälligen Freistoß. Zur Genugtuung der Zebras wuchs Rojas über sich hinaus und wischte die Schüsse der Deutschen, darunter einen Boliden von Dietmar Hamann, wie lästige Fliegen beiseite. »Super!«, trompetete die Lempira-Bande, deren Lärm wie gegen England und Italien im Geschrei der viel zahlreicheren DeutschlandSupporter unterging. »Haltet den Kasten rein, bis sie an ihrem Können zweifeln«, kreischten Ofélia und Livia, die getrennt, aber auf derselben Bank die Zebras anfeuerten.
Plötzlich wurden die Deutschland-Fans von Unruhe gepackt, Helmut Kohl japste und krächzte: »Nein!«, Beckenbauer und Hoeneß fuhren entgeistert vom Sitz, denn Luna war daran, einen Geniestreich zu vollführen. Er übernahm den Ball, den ihm Naxquitl serviert hatte, mit der Brust, spielte ihn flach zu Marcio, der ihn blitzschnell retournierte. Matthäus bemerkte die Gefahr und eilte herbei, doch kam er um einen Wimpernschlag zu spät, denn Luna verblüffte Babbel mit einer Körpertäuschung und lief auf den Strafraum zu. Der Ball klebte wie angepappt an seinem Fuß. Vom rechten wechselte er auf den starken linken Fuß, stoppte und zirkelte den Ball zwischen Köpkes gespreizten Beinen ins Tor. »Hurrah!«, brüllte Livia und flüsterte bei verebbendem Beifall mit verschleiertem Blick: »Der Zauber wirkt.« Lempira badete im Glück und dachte an den baldigen Dollarregen. Ruben, der von der Gegentribüne aus zuschaute, goss sich eine ganze Flasche Bier in den Rachen. Aus Freude für Pablo und weil es ihm wohl tat, den Ärger hinunterzuschwemmen. Denn Yolanda war verschwunden, in Paris gar nicht aufgetaucht. Sie war abgereist, ohne ein Wort zu verlieren, ohne eine Notiz zu hinterlassen. Was war nur in sie gefahren? Nach dem Pausenpfiff des russischen Schiedsrichters wurde Kohl ungeduldig und fragte: »Wo ist auch meine Schwarzwälder Kirschtorte?« Auf diese Frage war die Entourage wohl vorbereitet. Alle kannten des Kanzlers Vorlieben, wenn ihn Verdruss plagte. Entgegen den Analysen der Experten, entgegen jeder Vernunft lag Deutschland bei Halbzeit 1:0 im Rückstand. Auf Porzellanteller und mit Silberbesteck wurde dem Kanzler sorgsam ein stattliches Stück Torte serviert. Er genierte sich nicht, vor Behagen zu schmatzen und die Mundwinkel nach deftigen Bissen mit der Serviette zu putzen, nach Genuss ein zweites »bitte kleineres« Stück zu verlangen. Beckenbauer und Hoeneß waren selbst schuld, dass sie den
süßen Trost verschmähten und gebannt auf den Miniaturfernseher auf ihren Knien schauten. Dort wurde Berti Vogts von einem Interviewer in die Enge getrieben. Auf die Frage, warum Deutschland so miserabel spiele, reagierte der Trainer mit Rage in der Visage. »Herr Kommentator«, sagte Vogts beleidigt, »Sie müssen ein anderes Spiel gesehen haben als ich. Meine Mannschaft hat hervorragend gespielt, einzig das nötige Quäntchen Glück hat noch gefehlt, noch betone ich.« In Präsenz des Kanzlers wagten es Beckenbauer und Hoeneß nicht, lauthals ihren Unmut zu äußern. Aber in ihnen kochte es. Schon dicke Post, was die Schwarzweißen boten. Nur wenig fehlte, und es wäre für Deutschland noch schlimmer gekommen. Kurz nach Wiederbeginn des Spiels war es Naxquitl, der zu einer Virtuosennummer ansetzte. Er dribbelte die Verteidigung schwindlig und ließ einen Scharfschuss vom Stapel, der die Latte erschütterte. Köpke war entgeistert, fürchtete ein Abstaubertor des gut postierten Marcio, doch da stand Matthäus und beförderte den zurückspringenden Ball per Spagat ins Aus. Wie von einer unsichtbaren Macht angeordnet kippte das Spiel. Auf einmal wirkten die Zebras, als wären sie vom Pfeilgift Kurare gelähmt. Sie hatten Mühe mit der Ballkontrolle, konnten kaum mehr ins Geschehen eingreifen, geschweige denn das Spiel bestimmen. Die Deutschen erhöhten das Tempo, walzten übers Feld, dass den ZebraAnhängern die Spucke wegblieb. Zuerst verhinderte Rojas einen Erfolg der Europäer, fing, hechtete und boxte, wie man es von einem Ersatztorwart nie erwartet hätte. Machtlos war er erst, als Bierhoff bei einem Eckball am höchsten stieg und im Bogen einköpfte. Nun gerieten die Zebras ins Inferno, in ein Inferno aus Lärm und heißem Atem. Die Deutschen waren nach dem Ausgleich entfesselt, fühlten sich stark wie die Nibelungen im Teutoburger Wald und bombardierten das Tor der Honduraner. »Deutschland, Deutschland«-Rufe peitschten
über den Platz. Sophokles fand kein Gegenrezept. Atemlos lief er an der Seitenlinie auf und ab und signalisierte den Spielern, die Verteidigung zu massieren. Nach einem Entlastungsangriff, der schon weit vor dem deutschen Strafraum versandete, war es so weit. Matthäus bediente Köhler, Köhler Matthäus, Matthäus Hamann, Hamann Hässler, Hässler Bierhoff und Bierhoff Klinsmann, der trotz Alonsos Abseitsprotest wie eine Schnellzuglokomotive auf Rojas zusteuerte. Luna pfeilte quer über den Platz und holte dank seiner Schnelligkeit Klinsmann in dem Augenblick ein, als er zum Torschuss ansetzte. Mit letztem Einsatz schlug er ihm den Ball vom Fuß und lenkte ihn – die Zebra-Anhänger heulten auf vor Entsetzen – in die tiefe rechte Ecke, unhaltbar für Rojas. Ein klassisches Eigentor. Die deutschen Fans erzeugten einen Orkan von Schadenfreude, Lempira schrie: »Luna, Mörder, Totengräber!« Blau vor Wut packte Lempira Elsa mit den Fäusten, hob sie an den Wangen hoch und schüttelte sie. Die daneben Stehenden verhinderten das Schlimmste und schützten sie vor dem Rasenden, der sich laut fluchend und unter Ellbogeneinsatz durch die Reihen zwängte und brüllte: »Auf unsere Flagge hat er gepisst, die Virgen de Suyapa geschändet! Alle meine Millionen sind futsch!« Grölend wankte er die Treppen hinab und tauchte in der Menge unter. Oben fiel Elsa in einen Schockzustand, kauerte auf der Stehrampe zwischen den Hosenbeinen und schluchzte. Auf der Haupttribüne spielte sich ein weiteres Drama ab. Juan Ramos stöhnte auf, als Lunas Ball in die eigenen Maschen fuhr, griff sich an die Brust und sackte in sich zusammen. Vergebens versuchte Ada ihn aufzurichten. Er röchelte und verlor das Bewusstsein. Auf ihre Handzeichen hin waren die Sanitäter rasch zur Stelle und trugen den korpulenten Mann auf der Bahre in eine Ambulanz, die vor
dem Stadion bereit stand. Ada sah auf der Fahrt fassungslos zu, wie der Notfallarzt den Brustkorb des regungslosen Patienten in fixem Rhythmus eindrückte und losließ.
Inzwischen ging das Spiel weiter. Pablo wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er agierte in Trance, sah Dämonen, die ihn quälten und blendeten. Verstört rannte er umher und beging panische Fehler. Klinsmann flankte den Ball zur Mitte, wo Pablo ihn reflexartig mit der Hand aus der Luft fischte, knapp außerhalb des Elfmeterraums. Gelbe Karte! Der verhängte Strafstoß wurde zwar durch die Mauer aus Zebraspielern abgelenkt, doch Luis befreite unkontrolliert zu Hamann, der einen Weitschuss aus dreißig Metern riskierte und Rojas überraschte. Dem Hüter war die Sicht verdeckt. Beim Stand von 1:3 blieb Sophokles keine andere Wahl, als Pablo aus dem Spiel zu nehmen. Unbeholfen humpelte er vom Platz, nicht weil er unter Schmerzen litt, sondern weil er todmüde und verwirrt war. Den eintretenden Ersatzspieler würdigte er keines Blicks. Wenig später fiel ein viertes Tor für Deutschland. Bierhoff traf nochmals mit dem Kopf. Die Zebras entgingen nur deshalb einer Kanterniederlage, weil das Viertelfinale kurz nach dem Wiederanspiel zu Ende war. Der Schlusspfiff des Schiedsrichters weckte Elsa aus der Lethargie, in die sie nach den Ereignissen auf dem Rasen und nach Lempiras Misshandlung geraten war. Sie bekam mit, wie die deutsche Elf jubelnd um den Platz trabte. Die Zebras und Sophokles schlichen mit Dackelohren in die Katakomben. Für sie selbst überraschend fand Elsa zu ihrer Energie zurück, setzte die Platzwache unter Druck und erreichte, dass ihr der streng verbotene Zutritt zu den Spielerkabinen erlaubt wurde. Die Spieler standen unter der Dusche. Rojas, der an der Niederlage unschuldig war, gehalten hatte, was zu halten war,
versuchte Pablo zu trösten: »Was für ein Pech! Deine Absicht, den Ball in die Tribünen zu jagen, war goldrichtig.« »Ja, ja«, fielen andere Kameraden ein, »wir sind unter unserem Wert geschlagen worden. Luna, wo hattest du bloß deine Hand?« »Jetzt lasst mir Pablo in Ruhe!«, verteidigte Naxquitl seinen Schwager. Doch der hatte bereits fluchtartig die Dusche verlassen, rieb sich im Vorraum trocken und schlüpfte in den Trainingsanzug. Als Elsa im Türspalt erschien und ihm zuwinkte, wirkte sie für ihn wie die Retterin Maria in Person. Gerade hatte sie von einem Funktionär erfahren, dass Juan zusammengebrochen war und mit der Ambulanz abtransportiert werden musste. »Hast du gehört, was Juan passiert ist?«, fragte Elsa den vom Missgeschick gezeichneten Bruder. »Wir müssen schnell in die Klinik, schon um der Mutter willen!« Die Geschwister verließen das Stadion, Elsa im verschwitzten T-Shirt und Pablo im Trainingsanzug der Nationalelf. Wie ein Schlafwandler hing er am Arm seiner Schwester, die ihre strapazierten Nerven weit besser unter Kontrolle hatte als er. Im Taxi, das sie zum Spital brachte, saß Pablo zusammengekauert im Wagenfonds. Als er einmal die Augen öffnete, fragte er: »Warum hast du denn so geschwollene Wangen?« »Lempira«, sagte Elsa.
In der Notfallstation der Klinik fand der Zusammenbruch von Juan Ramos bald eine Erklärung. Als Folge eines Infarkts hatte er einen Herzstillstand erlitten. Dank äußerer Herzmassage hatte er überlebt, doch sein Zustand blieb weiterhin kritisch. Mehrmals trat ein Herzkammerflimmern auf, das den Einsatz des Defibrillators erforderte. Schließlich aber pumpte sein
Herz wieder regelmäßig. Juan blickte um sich, erkannte Ada und reichte ihr zaghaft die Hand. Während der folgenden Stunde trafen die übrigen Familienmitglieder in der Klinik ein. Nur Ruben war in Unkenntnis von Juans akuter Erkrankung auf dem Weg zum Flughafen, um sofort nach Zürich zurückzufliegen. Er wollte Yolanda, die er in der Wohnung auf dem Hönggerberg vermutete, zur Rede stellen. Ofélia und Isabel kamen zuerst. Sie umarmten Ada und traten scheu und in gebührendem Abstand an Juans Bett. Seine Lider waren wieder zugefallen. Über ihm liefen die Zacken des Elektrokardiogramms kontinuierlich über den Monitor. Der Puls war als regelmäßiges oder stolperndes Piepsen zu hören. Als Elsa und Pablo erschienen, mussten sie sich gedulden, da die Krankenschwestern die Tropfinfusion erneuerten. Nach einer Weile im Wartezimmer, wo sie wortlos vor sich hinstierten und sich die Hände hielten, durften sie zu Juan. »Aber nur ganz kurz«, sagte die Schwester. Wieder schlug der Patient die Augen auf. Als Juan Pablo erkannte, flüsterte er: »Du, Luna?«, und nach einer Weile: »Ich höre Flügel rauschen. Ob wir uns auf Erden je wieder sehen werden?«
33
Kurz nach der 4:1 Niederlage im Viertelfinale flog die Nationalmannschaft zurück nach San Pedro Sula. Die in Europa engagierten Spieler waren mit dabei. Dass Pablo direkt nach Zürich und Naxquitl nach Stuttgart zurückkehrten, war undenkbar. Zuerst wollte man alle Helden zu Hause feiern. Wenige hatten auf Pablos Eigentor so unwirsch reagiert wie Lempira, die allerwenigsten einen Herzinfarkt erlitten wie Juan Ramos. Der allgemeine Tenor war, die Elf habe sich in Frankreich tapfer, ja großartig geschlagen und Ehre für Honduras eingelegt. Die Bürger der Nachbarstaaten, besonders von El Salvador, so war man sich in Tegucigalpa und San Pedro einig, barsten schier vor Neid. Die verwegensten Auguren hätten nicht erwartet, dass die Zebras bis ins Viertelfinale vorstoßen und bei Halbzeit gegen Deutschland 1:0 führen würden. Die Vereinigten Staaten und Mexiko waren früher ausgeschieden, die Nordamerikaner in der Vorrunde, die Mexikaner im Achtelfinale. Luna war die Niederlage nicht anzulasten, hieß es unisono, ohne ihn wäre Honduras gar nicht erst so weit gekommen. Auch die Experten in Europa anerkannten, dass seine drei Tore bei der Weltmeisterschaft Spitzenklasse waren. Nicht von ungefähr offerierten ihm Klubs wie Barcelona, Roma und allen voran Inter Mailand Verträge, die traumhaft dotiert waren. Nur Pablo selbst konnte sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren. Hätten die Zebras wohl Chancen gehabt, das Deutschland-Spiel zu gewinnen und ins Halbfinale vorzustoßen, wenn er Livia abgewiesen und nicht am nächsten Tag ins eigene Netz getroffen hätte? In San Pedro Sula wurden
Spieler und Trainer von einer enthusiastischen Menge empfangen. Neben Luna genossen auch Naxquitl, Marcio, Alonso und Enrique die besondere Wertschätzung der Fans. Der Torwart hatte Märtyrerstatus und musste beim Fest auf dem Hauptplatz immer wieder den Klebverband zeigen, der wegen der erlittenen Rippenfrakturen seinen Brustkorb stützte. Unter Pauken- und Trompetenklängen wurde die gesamte Mannschaft auf die Schultern gehoben und im Triumphzug durch die Straßen der Innenstadt getragen. An einer Kreuzung wurden sie mit SalvaVida bespritzt, an einer anderen mit Blumen übersät und von Teenys abgeküsst. Zurück auf dem Hauptplatz hielt der Bürgermeister eine Ansprache und pries die Gladiatoren von Frankreich. Das folgende Feuerwerk war denkwürdig. Farbige Sterne, fast so viele wie in der Milchstraße, Garben von Leuchtkugeln sausten in den Nachthimmel, beschrieben fantastische Kurven und verglühten über Plätzen und Straßen. Anschließend begaben sich Mannschaft, Angehörige und Offizielle in die Zona Viva, wo sie in einem exklusiven Nachtklub von Polonaise zu Polonaise und von Bier zu Bier taumelten. Die Spieler ließen Sophokles hochleben. »Brasil, Brasil!«, schrien sie und pokulierten im Hinblick darauf, dass die Südamerikaner den Weltmeistertitel in Frankreich erfolgreich verteidigen würden. Ofélia jodelte in der Art von Schweizer Sennerinnen, was Lachsalven auslöste. Nur Isabel war nicht dabei. Sie war von Paris direkt nach Stuttgart geflogen, um endlich wieder bei ihren Kindern zu sein. Zwei Tage später wollten auch Pablo, Naxquitl und Enrique nach Europa zurückkehren. Gegen vier Uhr früh hielt das Taxi von Ofélia und Pablo vor dem Gran Hotel Sula an. Beide waren todmüde. Die Strapazen des Turniers, der zwölfstündige Flug von Paris hierher und die Festnacht hatten ihnen zugesetzt. Ofélia stieg auf der Seite des Gehsteigs aus dem Wagen, Pablo klappte die Tür auf der
Straßenseite auf. Noch während er sich erhob, packten ihn drei maskierte Männer in Schwarz mit ihren Fäusten, versetzten ihm Schläge in die Magengegend, fesselten ihn mit Handschellen, schubsten ihn in ein bereitstehendes Auto und stoben davon. Ofé entfuhr ein Schrei, der Nachtportier eilte herbei, sah aber nur noch rote Schlusslichter. Wie angewurzelt blieb Ofélia auf dem Trottoir stehen und starrte auf den Punkt, an dem der Wagen von der Hauptader abgebogen und verschwunden war. Der Portier alarmierte die Polizei, die unter Sirenengeheul anrückte, am Ort der Entführung Spuren sicherte, Verstärkung anforderte, auf Ausfallstraßen Sperren errichtete, verdächtige Quartiere abriegelte und durchkämmte. Währenddessen kümmerte sich der Concierge um Ofélia und führte die Verzweifelte auf ihr Zimmer. »Noch dürfen wir hoffen. Sie müssen sich ausruhen. Momentan können Sie ohnehin nichts anderes tun als zu warten«, versuchte er, sie zu beruhigen. Ohne die Kleider abzulegen warf sich Ofélia aufs Bett, sprang aber sofort wieder auf. Von Horrorgedanken heimgesucht ging sie auf und ab, nahm ein Bündel Zeitungsausschnitte aus dem Koffer, auf denen Pablos WMTore und andere Glanzlichter abgebildet waren, setzte sich auf den Bettrand, versuchte Barbara in Tegucigalpa anzurufen, Ada und Isabel in Europa, ohne irgend jemanden zu erreichen. Mehrmals verwählte sie sich, stand auf, trank einen Becher Orangensaft und fing an, hemmungslos ins Kissen zu schluchzen. Wo sich Enrique und Naxquitl aufhielten, wusste sie nicht. Jedenfalls logierten sie in einem andern Hotel. Kaum war sie im Morgengrauen eingenickt, läutete das Telefon. »Die Kriminalpolizei wartet unten auf Sie«, sagte der Portier. Die Gendarmen fuhren sie auf die Wache, wo sie nähere Angaben über ihren Mann machen, dann warten und nochmals warten
musste. »Bald sollten wir Näheres wissen«, vertröstete sie ein Beamter, ein anderer: »Niemand kann doch Luna ernsthaft etwas anhaben.« Zwei Stunden nach ihrem Eintreffen auf der Wache erschien der Kommandant und bat sie in sein Zimmer. In schonenden Worten eröffnete er ihr, dass ihr Mann nicht mehr lebte. Man habe ihn tot aufgefunden. Sie reagierte erstaunlich gefasst. Von Anfang an hatte sie mit dem Schlimmsten gerechnet. Die grausigen Umstände, unter denen die Leiche entdeckt worden war, wurden ihr zunächst vorenthalten. In einem Slumquartier am Stadtrand lag der tote Pablo im Winkel einer von Unrat übersäten Schotterstraße, auf der verwahrloste Hunde streunten. An der linken Schläfe hatte er drei Schusswunden. Ofélia musste ihren Mann in einer Kapelle identifizieren, wo er hinter verriegelter Pforte aufgebahrt lag. Mit Hilfe der Polizei konnte sie Naxquitl verständigen, der noch im Hotel schlief. In weniger als zwanzig Minuten meldete er sich mit Enrique auf dem Posten und wurde in die Kapelle geführt. Ofélia fand er mit gefalteten Händen vor der Bahre, er schlug das Kreuz und umarmte sie. Dasselbe tat Enrique. Dann setzten sie sich zu dritt auf eine Bank und rückten eng zusammen, Ofélia nahmen sie in die Mitte. Naxquitl sagte tonlos: »Das darf doch nicht wahr sein.« Er wiederholte diese Worte immer wieder, Enrique murmelte: »Unfassbar.« Der Küster kam mit weißen Kerzen in Silberständern, stellte sie rund um die Bahre auf und entzündete sie. So wurde der Chor des Sakralraums in warmes Licht getaucht. Ein Priester im Ornat erschien, segnete den wächsernen Luna und besprengte ihn mit Weihwasser. Zur Mittagsstunde stellte das Radio auf Trauermusik um und meldete viertelstündlich, Pablo Moya sei in einem Slum von San Pedro Sula tot aufgefunden worden. Zuerst wurde die Nachricht allgemein bezweifelt, so unglaubwürdig wirkte sie. Doch als ein Sprecher der Regierung sie im Fernsehen
bestätigte, kamen Unverständnis und Ratlosigkeit auf. Nach Bekanntgabe der näheren Umstände dampfte es in der Gerüchteküche. Den Verletzungen nach zu schließen war der allen ans Herz gewachsene Star durch Kopfschüsse getötet worden. Das Kriminalamt ging von einem Mord aus. Weshalb die Untat verübt worden war und wer sie begangen haben könnte, war das Gesprächsthema. Ganz Honduras rätselte. Aufgrund der Umstände war nur einigermaßen gesichert, dass die Mörder aus den Slums von San Pedro stammen mussten. Dort aber gab es eine Auswahl an gewalttätigen Banden. Entsprechend komplex waren die polizeilichen Ermittlungen, denen die Slumbewohner mit Argwohn begegneten. Bei der Beliebtheit des Toten standen die Behörden unter enormem Druck, den Mördern auf die Spur zu kommen. Präsident Flores schaltete sich ein. Er rief den Justizminister zu sich, forderte ihn zu zügigem Handeln und zum Einsatz aller verfügbaren Mittel auf. Darauf zitierte er Sophokles in seine Privatgemächer und beriet sich mit ihm. Gemeinsam forschten sie nach möglichen Tatmotiven. Der Brasilianer schloss kategorisch aus, das Eigentor könnte Grund für den Mord gewesen sein. Für ihn war eine Verknüpfung der beiden Taten undenkbar. Dieser Auffassung widersprach indessen der Direktor des archäologischen Instituts, der mit dem Präsidenten befreundet war. Er gab zu bedenken, dass das Ballspiel in Honduras seit drei Jahrtausenden ein Spiel auf Leben und Tod war. In der Maya-Tradition blieb der Opfergedanke lebendig. Nach der Unterredung mit Sophokles flog Präsident Flores – auch er war erst seit einem Tag aus Paris zurück – mit dem Hubschrauber nach San Pedro Sula. In der Kapelle kondolierte er Ofélia und beteiligte sich symbolisch an der Totenwache. Die Überführung des Leichnams in die Hauptstadt und die Obduktion im Institut für Gerichtsmedizin waren für den
folgenden Tag vorgesehen. Das Begräbnis wurde auf höchster Regierungsebene organisiert. Flores versprach der jungen Witwe, alles zu unternehmen, um die Hintergründe des Mordes aufzuklären. Wenn sie in irgendeiner Weise Hilfe brauche, seien er selbst und seine Leute für sie da.
Naxquitl hatte längst Isabel in Stuttgart angerufen und sie über Pablos Tod informiert. Die Schwester war zunächst wie gelähmt. Als sie sich fürs Erste gefasst hatte, wählte sie die Nummer von Adas Handy und überbrachte der Mutter die furchtbare Nachricht. Dann packte sie die Koffer, um mit den Kindern zur Beerdigung über den Atlantik zu fliegen. In Paris erholte sich Juan in kleinen Schritten von seinem Herzinfarkt und konnte von der Intensivstation in ein Einzelzimmer verlegt werden. Ada wachte weiter an seinem Krankenlager. Sie war hin und her gerissen, ob sie die nächste Maschine besteigen oder beim Kranken bleiben sollte, bis er transportfähig war. Sie entschied sich für den Lebenden und grämte sich einsame Nächte lang in ihrem Hotelzimmer. Auf Anraten einer Krankenschwester fand sie etwas Trost in der Sainte Chapelle. Immer wieder warf sie sich vor, sie habe nicht genug getan, um Pablo von der fatalen Karriere in Europa abzuhalten. Dass sein tragisches Schicksal nicht mit dem Engagement in Zürich, sondern mit den Ereignissen bei der Weltmeisterschaft zusammenhing, war für sie bedeutungslos. Sie wollte Buße tun und bat die Heilige Maria um Gnade. Ihr Gesicht hellte sich ein klein wenig auf, als sie die Glasfenster betrachtete und sich an die Andacht mit Pablo in La Merced erinnerte. Sie trocknete die Augen, betete für ihren Sohn und für Juan. Zwischendurch kümmerte sie sich um Elsa. Auch deren Rückreise verzögerte sich. Nur während der ersten Stunden
nach dem Spiel gegen Deutschland war sie fähig gewesen, Pablo zu unterstützen und ihn zu Juan ins Krankenhaus zu bringen. In derselben Nacht fiel sie in eine Depression und brauchte psychiatrische Hilfe. Sie wurde in einer Privatklinik behandelt. Bei den Besuchen fand Ada ihre Tochter stumm und weltentrückt. Sie konnte nicht unterscheiden, ob Elsa Pablos Schicksal nur am Rande berührte oder so sehr, dass sie nicht mehr sprechen konnte. In Wirklichkeit war Elsa wie betäubt vor Entsetzen und Verzweiflung. Ihre Trauer über Pablos Tod wurde noch von der Scham überschattet, die sie empfand, wenn sie an ihre Beziehung zu Lempira dachte. Erst nach Pablos Eigentor, als er im Stadion entgleiste, erkannte sie den wahren Charakter ihres dämonischen Freunds. Ihr wurde eiskalt bei dem Gedanken, Lempira könnte hinter Pablos Ermordung stecken.
34
Wie jedes Jahr duftete es auf dem Friedhof von Tegucigalpa an Allerseelen nach Kopal. Ada saß vor der Grabplatte von Carlos und entzündete im Dämmerlicht eine Petroleumlaterne. Ihr von Silberfaden durchzogenes Haar wurde durch ein Kopftuch zusammengehalten, die Schultern umhüllte ein gewobener Schal. Trotzdem fröstelte sie. Sie war überzeugt, dass die weißen Haarfaden in jener Nacht entstanden waren, in der ihr Sohn entseelt wurde. Seit ihn die Behörden zur Beerdigung freigegeben hatten, ruhte Pablo neben seinem Vater Carlos. Großmutter Sara war kurz nach dem Tod ihres Enkels in Copán bestattet worden. Ada wollte in Erinnerungen tauchen, mit den beiden Männern Zwiesprache halten. Auch in dieser Geisterstunde erwartete sie, dass die Verstorbenen reden würden, vielleicht bis in den werdenden Morgen hinein. Im Laternenschein bedeckte sie das Grab mit einem weißen Tuch und tischte Speisen und Getränke auf. Aus Adas indianischer Sicht lagen nun Vater und Sohn, die sich im Leben nicht gekannt hatten, zusammen in der Erde und leuchteten miteinander am Firmament. Beide hatten ihr Leben im Kampf verloren. Täglich flehte Ada die Virgen de Suyapa an, sie möge ihr einen Wink geben, warum beide dasselbe grausame Schicksal ereilt hatte. Sie glaubte fest, dafür müsse es einen Grund geben.
Ada horchte auf. Eine Limousine fuhr vor. Elsa und Isabel stützten Juan Ramos, der violette Lippen hatte, Naxquitl folgte mit den Kindern. Vor drei Monaten hatte Juan die Klinik in
Paris verlassen, litt aber weiterhin an Kurzatmigkeit. Schrittweise übergab er den Bananen- und Garnelenhandel sowie die Aufgaben im Ministerium in jüngere Hände. Naxquitl und Familie waren endgültig nach Honduras zurückgekehrt. Trotz eines verlockenden Angebots hatte der Mittelfeldregisseur darauf verzichtet, den Vertrag mit dem VfB Stuttgart zu verlängern. Wenn seine Verfassung es erlaubte, konnte er im Alter von 32 noch zwei bis drei Jahre bei Olimpia anhängen. Isabel, die sich ohnehin nur schwer an die europäischen Sitten gewöhnt hatte, war darüber erfreut. In Tegucigalpa fühlte sie sich rasch wieder heimisch. Dank ihrer eigenen Familie traf sie der Verlust des Bruders weniger stark als Mutter und Schwester. Elsa war eben daran, einen neuen Schub ihrer Depression zu überwinden. Mit Kerzenlaternen bewegte sich die Gruppe auf das Grab zu, wo Adas Gesicht mehr zu erraten als zu erkennen war. Schon parkte der nächste Wagen vor dem Friedhoftor. Es waren Ofélia und Ruben, die nach Pablos Tod die Wohnung in Zürich geräumt und die Schweiz verlassen hatten. Yolanda hatten sie zum letzten Mal getroffen, als diese ihre Habseligkeiten mit einem Lieferwagen abholte. Sie gab keine Erklärungen ab und ließ ihren Bestimmungsort offen. Ruben arbeitete wieder bei Credomatic, jetzt in leitender Funktion, während Ofélia Ada in der Boutique half. Die Aufgabe lenkte sie von den allertrübsten Gedanken ab. Und Ofélias Einsatz ermöglichte es Ada, ab und zu ihre Enkel Leandra und Carlos zu hüten. Kaum hatten die Familienangehörigen sich mit feierlichem Abrazo begrüßt, die Kerzen ums Grab arrangiert und ein paar Worte ausgetauscht, fuhr ein Bus mit der ersten Mannschaft von Olimpia vor, unter ihnen Sophokles. Das Amt des Nationaltrainers hatte er an den Nagel gehängt. Nachdem er mit den Zebras bis ins WM-Viertelfinale vorgedrungen war, sah er kein Ziel mehr, das seinen Einsatz weiterhin lohnen
würde. Wenn er die Ressourcen des Landes in Betracht zog, waren in naher Zukunft kaum Erfolge wie jene in Frankreich zu erwarten. Nun umwarb ihn der mexikanische Verband und trug ihm die Rolle des Nationaltrainers an. Wenig später trafen die Elitejunioren ein. Aus dem Busanhänger hoben sie ein Monstrum, das in braune Planen gehüllt war. Manuel und Jorge, die geistig Invaliden von Bordeaux, und ihre Kameraden schleppten den Packen zum Grab. Die anderen Teenager entzündeten Kerzen und weiteten Adas Lichterkranz zu einem Lichtermeer aus. Jorge gab Juan die Hand. »Willst du noch immer Stürmerstar werden?«, fragte sein Gönner. »Warum? Meinst du, ich sollte etwa nicht?«, reagierte Jorge verblüfft. »Wenn du an Lunas Schicksal denkst, könntest du deine Absicht geändert haben.« »Wegen Luna bin ich traurig, sehr traurig sogar. Aber kann ich denn zu seinen Ehren etwas anderes tun, als ein guter Fußballer zu werden?« Ada hatte mitgehorcht und legte den Arm um Juan, der schwer atmete. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Junioren schickten sich an, den Packen zu öffnen und entfalteten eine Ballonhülle. Jorge warf einen Fußball in den Nachthimmel, fing ihn wieder auf und erklärte, das sei genau das Leder, mit dem Luna in Paris zwei Tore erzielt habe, je eines für und eines gegen Honduras. Die Jungen schlossen den Ballon an eine Gasbombe an und füllten ihn. Während sich der schlappe Sack aufblähte, zischte es lauter und leiser. Vorne auf dem Ballonbauch wurden im Lampen- und Kerzenschein Olimpia-Löwen sichtbar, auf der Hinterseite dünne Längsstreifen und dicke Querstreifen, beide in Blauweiß, den Klubfarben und Trikots der Zebras und der Grasshoppers entsprechend. Allmählich straffte sich das Netz um den
Flugkörper. Anstelle einer Gondel befestigten die Junioren einen Korb, in den Jorge den Fußball legte. Der Ballon schwappte hin und her, noch gehalten von den Jungen, die riefen: »Wie wird sich Luna freuen! Wir schicken ihm seinen Ball ins All!« Sie reichten sich die Hände und bildeten einen Kreis, Jorge löste die Verankerung. Der Ballon ruckelte und hob vom Boden ab. Langsam und dann rascher stieg er und entschwand in den Nachthimmel. Ada hatte jetzt ihren Enkel Carlos auf dem rechten Arm, mit dem linken richtete sie ein Fernrohr aufs Firmament und fragte: »Seht ihr die Milchstraße?« »Ja, dort leuchtet jetzt auch Luna für uns«, sprach Ofélia Adas Gedanken aus. »Als er hinauf zu Vater Carlos schwebte, hat er Mond Ixbalanqué und Sonne Hunahpú gegrüßt. Eigentlich schade, dass wir Frauen nicht als Sterne aufgehen dürfen.« »Wir Maya-Frauen«, sagte Ada, »werden auch an den Himmel entrückt. So wie die Männer, die den Tod im Krieg finden. Aber nur, wenn wir im Kindbett sterben.« »Ich bin schwanger«, flüsterte Ofélia. »Ich weiß«, antwortete Ada. Sie nahm eine Kerze, schützte das flackernde Flämmchen mit der Hand vor dem Wind und ergänzte bestimmt: »Aber ihr bleibt bei uns, du, Ruben und das Kind. Ihr habt zu tun. Hier unten auf der Erde.«