denise
Band 303 (21.März.90 6 1)
Tessa Kay
IM LUFTBALLON
ZU DEN STERNEN
Ebook Version 1.0
Oktober 2002
Scan, Kor...
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denise
Band 303 (21.März.90 6 1)
Tessa Kay
IM LUFTBALLON
ZU DEN STERNEN
Ebook Version 1.0
Oktober 2002
Scan, Korrektur und Layout
by
Barbarella
Beschreibung: Da Abbys Eltern in Schottland nach einem Haus suchen, bleibt ihr und ihrer Schwester Helen nichts anderes übrig, als den Frühling bei ihrer Großmutter in Compton-by-Sea zu verbringen. Einem öden Dorf, in dem es außer Grey Cooper nichts Interessantes gibt. Der allerdings sorgt dann richtig für Aufregung. Denn während Abby Tag und Nacht nur an ihn denkt, scheint Grey sich in ihre Schwester verknallt zu haben. Abby ist ganz krank. Um sich abzulenken, stürzt sie sich in die Vorbereitungen zu einem Künstlernachwuchs-Wettkampf. Doch ob's hilft? Zwar will sie Sängerin werden wie früher ihre Großmutter - aber noch lieber Grey ganz große Liebe...
IMPRESSUM DENISE erscheint 14täglich in der CORA VERLAG GmbH, Berlin Geschäftsführung und Produktionsredaktion: Kochstraße 50, 1000 Berlin 61 Telefon: (030) 2591 3875, Telex: 01 84 257 axsp d, Telefax: (030) 251 4077
Textredaktion und Verlagsabteilungen: ~~Kaiser-Wilhelm-Straße 6, 2000 Hamburg 36, Telefon: (040) 347 (1), Telex: 02 12 151 cora d, Telefax: (040) 354 266 Geschäftsführung: Hans Sommer Redaktionsleitung: Claus Weckelmann (verantwortlich für den Inhalt), Ilse Bröhl (Stellvertretung) Lektorat/Textredaktion: Ilse Bröhl (Leitung), Christine Boness Produktionsredaktion: Peter Knabe (Leitung), Tania Krätschmar, Ruth Schmitt, Nicola Bohne (Ass.) Grafik: Udo Künitz (Leitung), Ada Lückemann, Beate Nowak Herstellung: Stephan Swiersy Vertrieb: KORALLE VERLAG GmbH & Co. Vertriebs-KG, Hamburg Vertriebsleitung:
Günter Batzlaff, Fritz Wulf (Stellv.)
Anzeigen: tsv "top special" Verlag GmbH, Hamburg Anzeigenleitung: Norbert Büttner
Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste C 1989 by Tasse Krailing
Unter dem Originaltitel: „Confessions of Abby Winslade" erschienen bei: Crosswinds, N.Y.
in der Reihe: KEEPSAKE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES B.V., Amsterdam C Deutsche
Erstausgabe in der Reihe DENISE Band 303 (6'), 1990 by CORA VERLAG GmbH, Berlin
Übersetzung: Daisy Remus-Tilley Foto: WEPEGE C CORA VERLAG
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdruckes in jeglicher
Form, sind vorbehalten. DENISE-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen
Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung
des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine
Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Satz: S / R / T, Hamburg Druck: Elsnerdruck, Berlin Printed in Western Germany
Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Weitere Roman-Reihen im CORA VERLAG:
JULIA, ROMANA, BIANCA, TIFFANY, BACCARA, LOVE AFFAIR, NATALIE,
MYSTERY, SECRET, MY LADY TESSA, BINI, HISTORICAL, NATALIE STARLIGHT
1. KAPITEL Ich fand das Buch an einem verregneten Sonntagnachmittag auf dem Boden einer Kiste, die bei meiner Großmutter auf dem Dachboden stand. Es war ein abgegriffener blauer Lederband, auf dem auf der Vorderseite die Initialen E.S. in Goldbuchstaben gestanzt waren. Ich hockte mich auf den Boden und schlug das Buch auf. „Eleanor Sweets Beichtheft" „He, guckt mal, was ich hier gefunden hab", rief ich aufgeregt. „Ein Buch, in dem jemand seine Sünden beichtet. Das könnte ein echter Knüller sein." Aber Rita - so heißt meine Großmutter - und meine ältere Schwester Helen waren so damit beschäftigt, eine alte Kiste auszumisten, daß sie mir gar nicht zuhörten. „Der hat mal meiner Mutter gehört", sagte Rita und hielt einen bunten Seidenschal in die Höhe. „Leg ihn doch mal um, Helen. Ja, bei deiner blassen Haut steht dir etwas Buntes richtig gut. Du siehst sehr hübsch damit aus. Möchtest du den Schal haben?" „Gern, der ist wirklich schön. Vielen Dank, Rita." Ich fragte mich inzwischen, wer diese Eleanor Sweet wohl war. Auf jeden Fall mußte sie schon vor einiger Zeit gelebt haben, denn auf dem Bucheinband stand die Jahreszahl 1914. Bei genauerem Hinsehen sah das Beichtheft allerdings nicht mehr so knüllermäßig aus, auf jeden Fall nicht nach der Sorte aufregender Bekenntnisse, wie ich sie aus der Schmökerserie „Wahre Liebe" kannte. Es bestand einfach aus einer Serie von gedruckten Fragen, die jemand sorgfältig handschriftlich beantwortet hatte. Wann wurdest du geboren? 1900.
Eleanor Sweet war also im ersten Jahr des Jahrhunderts geboren worden und hatte das Heft ausgefüllt, als sie vierzehn war, also genauso alt wie ich jetzt. Wo wurdest du geboren? In West Wind, Compton-by-Sea, Sussex. Sie war in diesem Haus geboren worden! „Den Schal könntest du zu der Spitzenbluse tragen, die ich dir gestern gekauft habe", sagte Rita gerade zu Helen. „Ja, das ist eine Idee." Meine Schwester klang nachdenklich. Sie hatte eine totale Schwäche für Klamotten. Deshalb verstand sie sich auch so gut mit unserer Großmutter. Rita war eine unheimlich elegante Frau. Sie war zwar schon dreiundsechzig, aber alle fanden, daß sie überhaupt nicht danach aussah. Ihr Haar war immer noch blond, auch wenn die Farbe jetzt aus der Flasche kam, und sie hatte für ihr Alter eine Superfigur. Außerdem war sie eine echt starke Tänzerin und hatte mit ihrem Partner, Mr. Lockhart, schon viele Wettbewerbe für moderne und lateinamerikanische Tänze gewonnen. Welchen Politiker schätzt du am meisten? Lloyd George. Bist du für das Frauenwahlrecht? Ja, ja, ja! „Mann, das solltet ihr euch wirklich mal anschauen", sagte ich. „Das ist echt historisch." „Was ist historisch?" fragte Helen, während sie versuchte, sich in einem fleckigen Spiegel zu bewundern; der gegen die Wand gelehnt stand. „Das Buch hier. Das geht zurück bis zur Jahrhundertwende. Na, fast jedenfalls. Weißt du vielleicht, wer Eleanor Sweet war, Rita?" Meine Großmutter hockte sich neben die Kiste. „Du hast mich gerade auf eine tolle Idee gebracht, Abby. In der Spitzenbluse und dem Schal würde Helen genau wie ein Mädchen aus dieser Zeit aussehen, besonders, wenn sie ihren
langen schwarzen Rock dazu anzieht. Was haltet ihr davon, wenn wir ein Kostümfest veranstalten? Jeder Gast soll in einem historisch passenden Kostüm kommen, und dann spielen wir Klavier und singen alte Lieder." Helen guckte einigermaßen interessiert. Ich fand die Idee einfach ätzend, aber ich sagte nichts, weil mir klar war, daß Rita sich alle Mühe gab, uns zu unterhalten. Sie war ja schließlich nicht blöd, ganz im Gegenteil. Sie wußte genau, daß wir überhaupt keine Lust gehabt hatten, unsere ganzen Osterferien in Compton zu verbringen, und ihr war auch klar, daß es für uns nicht besonders witzig war, Urlaub bei zwei alten Damen zu machen. Oder jedenfalls einer alten Dame. Unsere Urgroßmutter war ja wirklich nicht mehr die Jüngste. Aber uns war gar nichts anderes übrig geblieben. Mein Vater war nach Schottland gefahren, um eine neue Stelle anzutreten. Meine Mutter war mitgefahren, um eine neue Bleibe für uns zu suchen, und deshalb hatten sie Helen und mich während der Ferien zu Rita geschickt. Rita fuhr unbeirrt fort. „Wen laden wir denn am besten ein? Die Familie Lennox auf jeden Fall. Und dann natürlich Cynthia und Mr. Lockhart." Cynthia war eine Nachbarin, die immer kam und meiner Urgroßmutter Gesellschaft leistete, wenn Rita mit Mr. Lockhart tanzen ging. Das Ehepaar Lennox wohnte ein paar Häuser weiter und war mit Rita befreundet. Rita runzelte die Stirn. „Ich muß mal überlegen, ob mir nicht noch ein paar junge Leute einfallen, die ich einladen könnte. So, und jetzt wollen wir mal nachsehen, ob wir hier nicht für Abby auch noch was zum Anziehen finden." Sie wühlte wieder in ihrer Kiste herum. Mir war klar, daß es keinen Sinn hatte, zu protestieren. Rita war unheimlich hartnäckig und setzte ihren Willen sowieso immer durch. Sie durchsuchte die Kiste weitere zehn Minuten.
Schließlich gab sie auf und sah mich an. „Keine Angst, Abby, wir besorgen dir schon etwas, und wenn ich es selbst nähen müßte. So, und jetzt laßt uns wieder nach unten gehen." „Kann ich das Buch mitnehmen?" fragte ich. „Welches Buch denn?" „Na, das Beichtheft. Ich hab euch doch erzählt. . ." „Ja, nimm es ruhig mit." Als ich mit dem Buch aufstand und zur Tür ging, flatterte plötzlich etwas auf den Boden. Ich hob es auf und sah, daß es sich um ein blasses, vergilbtes Foto handelte, auf dem eine Familie zu sehen war. Der Vater mit steifem Hemdkragen, die Mutter mit dickem Haarknoten, und vor den beiden waren ihre drei Kinder gruppiert: zwei Jungen in kurzen Hosen und in der Mitte ein Mädchen mit langem Haar. Sie war die einzige, die auf dem Bild lächelte. Ob das wohl Eleanor Sweet war? Rita und Helen waren schon auf dem Weg nach unten. Ich rannte schnell hinterher, das Album noch unter dem Arm. Als wir nach unten kamen, war Rita mit den Gedanken so voll bei ihrer Party, daß sie sogar meine Urgroßmutter aufweckte, um ihr davon zu erzählen. ,Das wird dir bestimmt gefallen, Mutter", sagte sie. „Wir werden viele Lieder aus der alten Zeit singen, da kannst du im Chor mitsingen." „Im Chor?" fragte meine Urgroßmutter verdattert. „Ich war aber nie im Chor." „Das sagt man doch nur so, Mutter. Mehrere Leute singen eben im Chor." „Aber ich bin wirklich nie im Chor gewesen", wiederholte meine Urgroßmutter hartnäckig. Dann verkündete sie stolz: „Ich war ein Star."
Rita seufzte. „Ja, Mutter, das wissen wir." Sie wandte sich wieder Helen und mir zu. „Es hat gar keinen Sinn, ihr vorher etwas davon zu erzählen. Das ist alles ein bißchen viel für sie. Na ja, macht nichts. Ich rufe jetzt erst mal die Familie Lennox an und lade sie ein. Sagen wir für nächsten Samstag, ja?" „Ja, das wär super", murmelte Helen gedankenverloren und starrte dabei zum Fenster hinaus in den Regen. Rita war kaum aus dem Zimmer, da schlief meine Urgroßmutter schon wieder. Wahrscheinlich blieb einem auch nicht viel anderes als Schlafen, wenn man Ende Achtzig war und kaum allein gehen konnte. Ich setzte mich an den Tisch und schlug noch einmal das Buch auf. Was hast du dir für dein Leben vorgenommen? Unfälle und das Armenhaus zu vermeiden. Bist du deiner Ansicht nach ein nützliches Mitglied der Gesellschaft oder eher eine Zierde? Nützlich natürlich. Ich mußte unwillkürlich lächeln. Diese Eleanor schien ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack zu sein. Ich hielt mich auch eher für ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, während Helen mehr eine Zierde war. Ich sah mir das Foto noch einmal an und kam zu dem Schluß, daß Eleanor mir sogar ein bißchen ähnlich sah. Sie war klein, dunkelhaarig und fröhlich, und man sah ihr an, daß sie es kaum erwarten konnte, bis das blöde Foto endlich im Kasten war und sie endlich wieder nach draußen durfte, um Rad zu fahren, Drachen steigen zu lassen oder was immer Mädchen damals sonst so zum Zeitvertreib taten. Was ist Ihr Lieblingsbuch? Katys Abenteuer. „Das ist ja ein Hammer!" rief ich. Helen blickte auf. „Was?"
„Daß jemand, der 1914 gelebt hat, dasselbe Lieblingsbuch hat wie ich. Ich hab Katys Abenteuer in den letzten zwei Jahren mindestens sechsmal gelesen. Ist das nicht ein Ding?" „Ja, irre." Helen lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. „Ich wünschte, dieser elende Regen würde endlich aufhören." Ja, ich auch", sagte ich und setzte dann leise hinzu: „Die Idee mit der Party macht mich überhaupt nicht an, Helen. Meinst du, wir können uns davor noch irgendwie drücken?" „Glaub ich kaum. Rita scheint ja unheimlich heiß drauf zu sein." Von der Diele her konnten wir unsere Großmutter eifrig mit Mrs. Lennox telefonieren hören. „Na ja, wenigstens geht so die Zeit schneller vorbei", meinte Helen. Ich stöhnte auf. „Jetzt sind wir erst drei Tage hier, aber mir kommt es schon ewig vor. Im Sommer ist es in Compton ja okay, aber um diese Jahreszeit ist es echt das letzte Kaff. Wie sollen wir das bloß noch drei Wochen aushalten?" Helen blieb stumm. „Vielleicht brauchen wir ja nicht die ganzen Ferien zu bleiben", sagte ich hoffnungsvoll. „Wenn Mom doch bloß bald eine Wohnung finden würde! Von mir aus könnte es das letzte Loch sein, Hauptsache, wir ziehen dann sofort nach Aberdeen. Das wäre immer noch besser, als hier festzusitzen." „Pssst!" Helen machte eine warnende Kopfbewegung in Richtung Urgroßmutter. „Sie schläft. Und selbst wenn nicht, das würde sie sowieso nicht verstehen. Irgendwie ist sie viel wirrer im Kopf als das letzte Mal, als wir hier waren. Ist dir das nicht auch aufgefallen?" „Doch." Helen stand plötzlich auf. „Komm, laß uns rausgehen." „Aber es regnet doch!"
„Das bißchen Wasser wird uns schon nicht umbringen. Ich muß unbedingt mal an die Luft." Das konnte ich ihr nachfühlen. „Na schön, ich komm mit." Während wir durch die Diele gingen, um unsere Regenjacken zu holen, signalisierten wir Rita in Zeichensprache, daß wir spazierengehen wollten. Sie nickte, legte dann kurz die Hand auf die Telefonmuschel und flüsterte uns zu: „Gute Nachrichten! Mrs. Lennox bringt ihren Neffen Rory zu unserer Party mit. Er ist fünfzehn." Als wir draußen vor der Tür standen, zog sich Helen ihre Kapuze über den Kopf und sagte: „Diesen Rory kannst du dir einsalzen. Ich steh nicht auf Bubis." „Vielen Dank", antwortete ich spöttisch. „Wetten, daß er genauso dick ist wie seine Tante und Akne im Endstadium hat?" „Die Wette hast du schon gewonnen. Komm, laß uns rüber zur Strandpromenade gehen." An diesem verregneten Nachmittag war natürlich auf der Strandpromenade in Compton total tote Hose angesagt. Außer uns beiden und ein paar gelangweilt herumfliegenden Möwen war weit und breit niemand zu sehen. Es nieselte unaufhörlich, und die Brandung klatschte in eintönigem Rhythmus gegen den Pier. Die meisten Hotels waren noch geschlossen, und selbst die Eisbude war noch vernagelt. Alles sah kalt, grau und trübe aus. „Das macht echt unheimlichen Spaß", grummelte ich, während wir nebeneinander hergingen. „Ich bin schon patschnaß." „Wenigstens bewegen wir uns mal ein bißchen, das ist gesund." „Aber nicht, wenn ich mir dabei eine Lungenentzündung hole." ,Jetzt hör doch endlich auf zu nölen, Abby. Du bist unmöglich." Helen ging plötzlich schneller, so daß ich fast rennen mußte, um mit ihr Schritt zu halten.
„Stellen wir uns doch irgendwo unter", jammerte ich nach einer Weile. „Wenigstens für ein paar Minuten." „Wo denn?" „Wie wär's denn mit da drüben?" Helen sah in die Richtung, in die ich zeigte. Die Geschäfte auf der Strandpromenade waren zwar geschlossen, aber nach der bunten Leuchtreklame zu urteilen, war wenigstens die große Spielhalle auf dem Pier geöffnet. „Das ist doch eine ganz finstere Bude", meinte Helen mißbilligend. „Da können wir nicht reingehen." „Wieso denn nicht? Da ist es wenigstens trocken." „Weil da drinnen lauter unmögliche Typen herumhängen." „Jungen, meinst du?" Helen rümpfte verächtlich die Nase. „Ja, aber von der übelsten Sorte." Meine Schwester konnte manchmal ein richtig unheimlicher Snob sein. Sie mochte tatsächlich nur Jungen, die ordentlich und gepflegt aussahen, mit kurzem Haar und ohne Ohrringe. Sie konnte es sich allerdings leisten, wählerisch zu sein, denn so, wie sie aussah, verknallten sich die Jungs gleich reihenweise in sie. Wenn meine Schwester irgendwo hinkam, machten sämtliche Jungen sofort Stielaugen. „Heute ist es doch da bestimmt total leer. Komm, wir spielen eine Runde Krieg der Sterne." Ich marschierte entschlossen in Richtung Pier, und schließlich folgte Helen mir widerwillig. In der Spielhalle herrschte ohrenbetäubender Lärm. Die Musik war voll aufgedreht, und ringsum ertönten die elektronischen Signale der Spielautomaten. Leute waren kaum zu sehen, abgesehen von einer mittelalterlichen Dame, die verbissen an einem Automaten spielte, und ein paar Jungen
alle von der „üblen Sorte" - die um ein Tischfußballspiel herumstanden. Als sie Helen entdeckten, pfiffen sie begeistert durch die Zähne, aber sie warf ihnen einen so vernichtenden Blick zu, daß sie sich kleinlaut umdrehten und sich wieder ihrem Spiel widmeten. Wir spielten einmal Krieg der Sterne, und ich gewann. Danach setzten wir uns an einen Rennsimulator, an dem man so tun mußte, als steuerte man einen Wagen über eine Rennstrecke. Mir lag das Spiel, weil ich ziemlich reaktionsschnell bin, aber Helen stellte sich unmöglich an. Sie kam andauernd von der Strecke ab, und dabei gab der Automat jedesmal einen lauten Signalton von sich. Dann griff plötzlich von hinten jemand über Helens Schulter, packte das Steuerrad und lenkte für sie. Es war ein unheimlich gutaussehender Typ mit blonden Locken und tollen blauen Augen. Helen konnte ihn natürlich nicht sehen, weil er direkt hinter ihr stand. „Was fällt dir denn ein!" fauchte sie wütend und versuchte dabei, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. „Laß sofort los!" Schließlich ließ der Junge los, und Helen fuhr herum. Als sie sah, daß er gut aussah, ordentlich angezogen war und noch dazu kurzes Haar hatte, beruhigte sie sich gleich ein bißchen. „Tut mir leid", sagte er. „Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß du nicht gerade eine Traumrunde gefahren bist." „Kann schon sein, aber deshalb brauch ich trotzdem keine Hilfe", meinte meine Schwester frostig. „Ich mach das lieber allein." Sie drehte sich wieder nach vorn, obwohl das Spiel inzwischen zu Ende war. Der Junge guckte ziemlich verdattert. Mir fiel auf, daß er nicht den typischen Anmacherblick draufhatte, wie andere Jungs, wenn sie Mädchen anquatschen wollten. Er wirkte einfach nur nett, auch wenn es reichlich frech von ihm gewesen war, Helen einfach ins Lenkrad zu greifen. Es tat mir richtig
leid, daß ich nicht am Automaten gespielt hatte, obwohl er sich dann wahrscheinlich gar nicht eingemischt hätte. Immerhin war ich zwei Jahre jünger als Helen und sah längst nicht so gut aus wie sie. Manchmal war das Leben echt hart zu einem. Ich merkte, daß der Junge weitergehen wollte, und so sagte ich schnell: „Bist du hier aus Compton?" Er sah mir zum erstenmal direkt ins Gesicht. Seine Augen waren echt unheimlich toll, fast himmelblau. Ich glaub, ich hab mich verknallt, dachte ich. „Ja. Ihr auch?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind nur zu Besuch." „Ach, deswegen hab ich euch hier noch nie gesehen." Der Junge sah hinüber zu Helen. „Wie heißt ihr denn?" „Abby Winslade. Das ist meine Schwester Helen." Helen zischte mir unwillig eine Warnung zu, aber ich hörte gar nicht hin. „Und du?" „Graham Cooper. Meine Freunde nennen mich Gray." Er war einfach süß! Seine sanfte Stimme verursachte mir ein Kribbeln auf der Haut. Er war so anders als die anderen Jungen in der Spielhalle, daß ich unwillkürlich fragte: „Kommst du oft in die Spielhalle?" „Nein, ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr hier. Aber bei dem miesen Wetter heute ist mir einfach nichts Besseres eingefallen." „Bei uns war es so ähnlich", sagte ich. „Wir haben uns hier nur ein bißchen untergestellt." Graham lächelte. „Hättet ihr nicht Lust, einen Kaffee trinken zu gehen? Gleich hier um die Ecke ist ein kleines Cafe, das auch sonntags offen hat." „Okay", stimmte ich zu. „Abby!" stöhnte Helen auf, ohne sich herumzudrehen. „Das geht nicht." „Wieso denn nicht?"
„Er will uns doch nur anmachen. Rita wäre unheimlich sauer auf uns." „Das braucht sie doch gar nicht zu wissen." Ich wandte mich wieder Gray zu. „Meine Schwester legt Wert auf Anstand", erklärte ich. „Sie geht nur mit Jungen weg, die ihr ordnungsgemäß vorgestellt worden sind." Gray grinste. „Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich ein paar Empfehlungsschreiben mitgebracht. Aber ich kann euch versichern, daß ich wohlerzogen und tierlieb bin und mir jeden Tag die Ohren wasche. Außerdem bedeutet eine gemeinsame Tasse Kaffee ja nicht gleich den Bund fürs Leben." Ich gab Helen einen Schubs. „Jetzt komm schon. Ich könnte wirklich etwas zu trinken vertragen." „Also gut", willigte Helen unvermittelt ein. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß es für sie einfach dazugehörte, sich erst mal zu zieren. Sie stand auf und ging zum Ausgang, ohne Gray dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. „Diese Bude nervt mich sowieso." Die Fensterscheiben des Cafes waren total beschlagen, und bis auf einen Penner in der Ecke war es völlig leer. Gray bestand darauf, uns den Kaffee zu spendieren. Ich fand das sehr nobel von ihm, aber Helen schien fest davon überzeugt zu sein, daß er nichts Gutes im Sinn hatte. „Also ehrlich, Abby", meinte sie, während Gray den Kaffee von der Theke holte, „wir kennen den Typen doch überhaupt nicht. Ich möchte nicht wissen, was Mom und Dad dazu sagen würden, wenn sie wüßten, daß wir hier wildfremde Typen aufgabeln." „Ach, der ist schon in Ordnung", beruhigte ich sie. „Schließlich bin ich ein guter Menschenkenner. Bei sowas irre ich mich nie. Außerdem sieht er gut aus." „Ja, das stimmt", gab Helen zu und musterte Gray dabei verstohlen durch ihre Augenwimpern. Sie hatte unheimlich
lange Wimpern, die sie ziemlich wirkungsvoll einsetzen konnte. „Aber wir wissen doch gar nichts von ihm." „Ich wette, er kommt aus gutem Haus. Sein Vater ist bestimmt Bankdirektor oder sowas. Außerdem ist Compton doch nicht groß. Vielleicht kennt Rita seine Familie ja." „Ja, aber. . ." Helen brach plötzlich ab. „Achtung, er kommt zurück." Gray stellte ein Tablett auf den Tisch. „Dreimal Kaffee, wie bestellt." Er rutschte neben mir auf die Bank, so daß er Helen gegenübersaß. „So, und jetzt erzählt mir mal was über euch." Das fand ich dann doch ein bißchen aalglatt. So leicht wollte ich es ihm nicht machen. „Nein, erzähl du zuerst. Was ist denn dein Vater?" Gray sah mich überrascht an. „Er ist Buchhalter. Wieso willst du das denn wissen?" „Nur so. Helen wollte gern sichergehen, daß du aus einer anständigen Familie kommst." „Sehr vernünftig." Er lächelte ihr zu. „Dann sag ich euch am besten auch gleich, daß meine Mutter vor ihrer Heirat Kranken schwester war und daß ich zwei Schwestern habe, die auch Krankenschwestern werden wollen. Wir wohnen in einem Haus mit fünf Zimmern, zwei Garagen und einem Stall mit drei Pferden. Mein Vater spielt sonntags Golf, und meine Mutter strickt für wohltätige Zwecke. Sonst noch was?" „Alle Achtung", sagte ich beeindruckt. „Du mußt zugeben, daß wir da keinen schlechten Fang gemacht haben, Helen. Schließlich ist Golfspielen und Stricken um einiges gesitteter als Turniertanzen." „Wieso denn Tanzen?" fragte Gray verständnislos. Helen warf ihr Haar in den Nacken. „Hör nicht auf Abby. Die sagt immer, was ihr gerade einfällt. Das ist manchmal echt peinlich." ,Das kann ich mir vorstellen." Gray musterte mich
amüsiert. Ich hatte das Gefühl, daß er mich witzig fand. Blöderweise schien meine einzige Begabung darin zu bestehen, daß ich Leute zum Lachen bringen konnte. Mein Vater meinte auch immer, ich sei der geborene Clown. Jetzt seid ihr an der Reihe", sagte Gray. „Was macht ihr denn in Compton, wenn ihr nicht gerade in der Spielhalle seid?" „Wir wohnen bei unserer Großmutter", antwortete Helen. „Sie heißt Rita Winslade", erläuterte ich, „und sie ist Turniertänzerin. Sie geht zweimal in der Woche mit Mr. Lockhart, ihrem Partner, zum Tanzen." „Ist das der Mr. Lockhart, dem die Eisenwarenhandlung in der Hauptstraße gehört?" „Ja. Kennst du ihn?" „Nur vom Sehen." Gray wandte sich Helen zu. „Sind eure Eltern auch hier?" „Nein, die sind in Schottland." „Wir können es kaum erwarten, zu ihnen zu fahren", sagte ich. „Obwohl Rita unheimlich nett ist und sich auch alle Mühe gibt, uns zu unterhalten. Nächsten Samstag veranstaltet sie sogar ein Kostümfest im Stil der Jahrhundertwende für uns." Mir kam plötzlich eine Idee. „Sag mal, hättest du nicht Lust, zu kommen?" „Abby!" Helen war ganz rot geworden. „Rita hat doch gesagt, daß sie gern ein paar junge Leute einladen würde, nur kennt sie natürlich keine - bis auf Mrs. Lennox' Neffen. Sie würde sich bestimmt freuen, wenn du kommst. Der Haken ist nur, daß du für die Party ein Kostüm haben müßtest." „Das ist kein Problem. Meine Tante ist nämlich Kostümbildnerin bei der Laientheatergruppe. Die kann mir bestimmt etwas organisieren."
„Na, super, dann kommst du also. Unser Haus heißt West Winds und liegt gleich hinter dem Hotel Royal. Am besten kommst du so gegen acht, bis dahin ist dann vielleicht schon etwas los." „Okay." Graham warf einen Blick über den Tisch. „Vorausgesetzt, Helen hat nichts dagegen." ,;Mich brauchst du nicht zu fragen." Helen trank ihren Kaffee in einem Zug aus und stand auf. „Mir ist das egal." Damit rauschte sie in Richtung Tür. Graham machte ein ziemlich enttäuschtes Gesicht, deshalb sagte ich schnell: „Keine Sorge, in Wirklichkeit möchte sie auch, daß du kommst. Aber ich geh jetzt besser, sonst hol ich sie nicht mehr ein." Graham stand auf und trat beiseite, damit ich aufstehen konnte. „Und du bist sicher, daß es deiner Großmutter recht ist, wenn ich komme?" „Klar doch. Also, vergiß nicht: West Winds, acht Uhr." Ich drehte mich um und rannte hinter Helen her. Komischerweise war sie gar nicht so sauer, wie ich erwartet hatte. Sie sagte nur: „Na, dann sieh mal zu, wie du Rita das beibringst. Fragt sich bloß, ob du ihr erzählen willst, wo wir ihn kennengelernt haben." „Ich werd ihr einfach sagen, daß wir im Cafe miteinander ins Gespräch gekommen sind. Das hört sich besser an als in der Spielhalle." Helen zuckte die Achseln. „Wenn du meinst." Als wir nach Hause kamen, hatte Rita ihre sämtlichen Kochbücher auf dem Küchentisch ausgebreitet und suchte nach passenden historischen Rezepten für die Party. Ich sah, daß sie Eleanor Sweets Beichtheft auf einen Stuhl gelegt hatte, und nahm es sicherheitshalber an mich.
„Du, Rita, wir haben da einen Jungen namens Graham Cooper kennengelernt, und wir dachten uns, daß er vielleicht auch auf die Party nächsten Samstag kommen könnte. Natürlich nur, wenn es dir recht ist." Meine Großmutter war so mit ihren Rezepten beschäftigt, daß sie gar nicht lange fragte, wo wir Graham getroffen hatten. „Cooper", murmelte sie nachdenklich. „Ich glaube nicht, daß ich die Familie kenne. Wohnt er hier?" „Ich glaub schon. Sein Vater ist Buchhalter, seine Mutter strickt, und sie haben drei Pferde." Rita zog die Augenbrauen in die Höhe. „Und das soll genügen, um ihn einzuladen? Wie alt ist denn dieser Junge?" „Siebzehn, schätze ich", antwortete ich und fügte dann schnell hinzu: „Er kennt Mr. Lockhart." „Aha." Rita sah erst mich durchdringend an, dann Helen, die bis dahin kein Wort gesagt hatte. „Vielleicht sollte er tatsächlich am Samstag kommen, damit ich ihn kennenlernen kann. Also schön, wenn ihr wollt, könnt ihr ihn einladen." Vorsichtshalber sagte ich nicht, daß ich das bereits getan hatte. Ich drückte mein Buch an mich und sah verstohlen zu Helen hinüber, aber die träumte schon wieder in die Gegend. Schließlich ließ ich mich in einen Stuhl gegenüber von meiner Urgroßmutter fallen, die noch immer schlief, und blätterte wieder in dem Beichtheft herum. „Rita, wer war denn Eleanor Sweet?" Rita schrieb gerade eine Liste mit den Zutaten für eine Früchtebowle. Als sie fertig war, antwortete sie: „Na, deine Urgroßmutter natürlich." Ich war total geplättet. „Ich hatte keine Ahnung, daß sie Eleanor heißt."
„Als sie noch jung war, wurde sie meistens Nell genannt." Rita seufzte. „Das ist das Traurige am Älterwerden, kein Mensch nennt einen mehr beim Namen. Deshalb wollte ich ja auch immer, daß ihr Rita zu mir sagt." Ich warf einen Blick hinüber zu meiner Urgroßmutter. Ihr Mund stand offen, und sie schnarchte leise. Ihre knochigen und mit Altersflecken bedeckten Hände hatte sie auf dem Schoß gefaltet, und ihre schmalen Füße ragten unter der Steppdecke hervor. Irgendwie konnte ich gar nicht fassen, daß sie Eleanor Sweet sein sollte. Ich sah mir noch mal das Foto an, konnte aber keinerlei Ähnlichkeit entdecken. „Wenn sie aufwacht, werd ich ihr sagen, daß ich ihr Beichtheft gefunden habe." „Das macht sie am Ende noch traurig", meinte Rita warnend. „Wenn sie an früher denkt, wird sie oft trübsinnig." Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Rita recht hatte. Ich war sicher, daß meine Urgroßmutter sich freuen würde, wenn sie noch einmal lesen konnte, was sie mit vierzehn in ihr Album geschrieben hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich achtundachtzig wäre und an mein Leben zurückdenken würde. Irgendwie mußte das sein, als würde man verkehrt herum durch ein Fernglas gucken. Ich fragte mich, wie ich später wohl unsere Begegnung mit Gray Cooper sehen würde. Ob sie sich dann auch noch als so bedeutungsvoll erweisen würde, wie sie mir jetzt vorkam? Ich beschloß, mir gleich am nächsten Tag ein Heft zu besorgen, um in Zukunft auch ein „Beichtheft" zu führen.
2. KAPITEL Das Heft, das ich mir kaufte, war ein einfaches Schulheft, aber es war ziemlich dick und hatte einen blauen Einband, so daß es fast genauso aussah wie Eleanor Sweets. Das Komische war, daß sie für mich immer noch ein ganz eigenständiger Mensch war, der nichts mit meiner Urgroßmutter zu tun hatte. Das lag wahrscheinlich daran, daß meine Urgroßmutter das Album gar nicht wiedererkannt hatte, als ich es ihr gezeigt hatte. Allerdings sah sie selbst mit Brille unheimlich schlecht, weil sie an beiden Augen grauen Star hatte, den sich kein Arzt zu operieren traute. Vielleicht war es aber auch so, wie Rita gesagt hatte, und ich hatte sie einfach an einem schlechten Tag erwischt. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß sie überhaupt nicht raffte, wovon ich redete, als ich ihr das Heft zeigte. Bei dem Foto regte sich allerdings etwas bei ihr. Sie sah es lange Zeit an und tippte dann plötzlich mit ihrem knöchrigen Zeigefinger auf den älteren der beiden Jungen. „Das ist Billy", sagte sie. „Der arme Junge." Dabei rollte ihr eine dickte Träne über die Wange. „Ich hab dich ja gewarnt", sagte Rita. „Billy war ihr älterer Bruder. Er ist im Ersten Weltkrieg gefallen." Inzwischen tat es mir schon leid, daß ich meiner Urgroßmutter das Bild überhaupt gezeigt hatte. Als sie schließlich wieder eingeschlafen war, nahm ich ihr das Heft und das Foto vom Schoß und ging damit nach oben in unser Zimmer. Ein paar der Fragen, die ich in mein Heft geschrieben hatte, waren dieselben wie in Eleanors, manche wieder ganz anders, zum Beispiel über meine Lieblingsband, meine Lieblingssendung im Fernsehen und so weiter. Ich zeigte
Helen, was ich bisher geschrieben hatte und schlug ihr dann vor, auch eine Seite vollzuschreiben. „Nein, das geht nicht", antwortete sie. „Das ist doch dein Heft und nicht meines." „Das macht nichts. Eleanor hat auch alle möglichen Freunde und Bekannten in ihr Album schreiben lassen. Lies mal, was ihr Vater bei der Frage ,Bist du für das Frauenwahlrecht?` hingeschrieben hat: ,Nur, wenn sie es sinnvoll nutzen.` Das muß ja ein ganz schöner Macho-Typ gewesen sein." Ich schob Helen das Heft hin. „Jetzt mach schon. Wovor hast du am meisten Angst?" Spinnen schrieb Helen. Ich hatte geschrieben: Vor dem Alter. „Sehr schön. Und jetzt weiter. Was ist dein größter Ehrgeiz?" „Keine Ahnung. Was hast du denn geschrieben?" Helen blätterte ein paar Seiten zurück. „G.C. heiraten. Wer, zum Henker, ist denn G.C.?" Ich spürte, wie ich knallrot wurde. „Weißt du das nicht?" „Nein, keine Ahnung. Ist es ein Junge aus der Schule?" Aber mehr wollte ich dazu nicht sagen. Glücklicherweise hatte ich Graham Coopers Name nicht voll ausgeschrieben. Trotzdem war ich erstaunt, daß Helen nicht selbst darauf gekommen war. Ich hatte seit Sonntag so viel an ihn gedacht, daß ich einfach nicht begreifen konnte, daß sie nicht wußte, wen ich meinte. „Wahrscheinlich ist es irgendein beknackter Rocksänger", sagte Helen und trug dann ihre eigene Antwort in das Heft ein. „Etwas Sinnvolles zu leisten", las ich über ihre Schulter hinweg. „Das ist aber reichlich vage. Weißt du denn nicht genau, was du willst?" „Nein, eigentlich nicht." Helen stand auf und ging hinüber zum Fenster. „Wenn wir erstmal in Schottland wohnen, wird
sowieso alles anders. Irgendwie kann ich mir gar nicht vorstellen, wie es dann weitergeht." Mir wurde plötzlich klar, daß ich Gray Cooper gar nicht mehr sehen würde, wenn wir nach Schottland zogen. Schließlich wohnten wir dann so ziemlich am entgegengesetzten Ende des Landes. Vielleicht war es wirklich ein bißchen voreilig von mir gewesen, ihn gleich heiraten zu wollen. Irgendwie war das Vorhaben nicht so leicht in die Tat umzusetzen. „Eleanors Lebensziel damals war, nicht ins Armenhaus zu kommen", sagte ich. „Wenn man sowas liest, wird einem erst klar, wie sich die Zeiten geändert haben. Heute hat kein Mensch mehr Angst vor dem Armenhaus." „Dafür haben die Leute heute aber vor anderen Sachen Angst, meinte Helen. „Heute würden sie wahrscheinlich statt Armenhaus Altersheim schreiben." Mir fiel plötzlich wieder ein, daß Eleanor ja in Wirklichkeit meine Urgroßmutter war, und ich fröstelte. „Rita würde ihre Mutter doch nie in ein Altersheim stecken." „Wenn sie irgendwann Mr. Lockhart heiraten will, vielleicht schon." Ich war von diesem Gedanken so geschockt, daß ich Helen fassungslos anstarrte. Aber noch ehe ich etwas sagen konnte, klopfte es plötzlich an der Tür. „Kann ich reinkommen?" Rita steckte den Kopf zur Tür herein. „Was meint ihr wohl, was Cynthia für uns aufgetrieben hat? Originalkostüme der Jahrhundertwende! Die Sachen haben einer ihrer alten Tanten gehört, die gerade gestorben ist. Cynthia hat ihren Haushalt aufgelöst. Die alte Dame konnte sich offenbar von nichts trennen. Eigentlich wollte Cynthia die Sachen einem Museum übergeben, aber ich hab sie dazu überredet, daß wir uns vorher etwas davon aussuchen können." Sie warf ein großes Bündel Kleider auf das Bett. Ich beäugte sie lustlos. Helen wandte sich vom Fenster ab.
,Ich dachte mir, ich könnte vielleicht das hier anziehen." Rita hielt sich ein schwarzes Kleid an. „Ich hab es anprobiert, und es paßt mir tatsächlich. Die Damen haben ja früher unter ihren Kleidern enge Korsetts getragen, deshalb freut mich das natürlich besonders. Abby, wie wär's denn mit diesem Kleid für dich?" Sie zog ein weißes, spitzenbesetztes Kleidungsstück aus dem Bündel. „Was ist das denn?" fragte ich mißtrauisch. „Eine Kleiderschürze. Sowas haben die jungen Mädchen früher alle getragen. Probier sie doch mal an." Ich stand auf, und Rita zog mir die Schürze über den Kopf. „Zu deinen Jeans paßt sie natürlich nicht, aber am Samstag kannst du ja Rock und Bluse darunter anziehen." „Seh ich damit nicht sehr jung aus?" fragte ich, während Rita die Rüschen zurechtzupfte. ,Überhaupt nicht. Schau dich doch mal im Spiegel an." Ich ging zum Spiegel und sah hinein. Bei meinem Anblick bekam ich einen unheimlichen Schreck. Ich hatte plötzlich das Gefühl, Eleanor gegenüberzustehen. Mir wurde klar, daß sie auf dem Foto etwas ganz Ähnliches getragen hatte. Außerdem hatte sie die gleichen dunklen Locken wie ich. „Du siehst wirklich süß aus", meinte Rita. „Findest du nicht auch, Helen?" „Ja, echt", pflichtete Helen ihr bei. „Ist für mich auch was Passendes dabei?" „Bei den Sachen sicher nicht. Die Spitzenbluse und der Rock vom Dachboden stehen dir so gut, daß wir bestimmt nichts Besseres finden." Rita musterte sie prüfend. „Vor allen Dingen, wenn wir dir die Haare hochstecken und dir ein Paar hübsche Ohrringe besorgen. Komm doch mal mit und such dir etwas aus meinem Schmuckkästchen aus."
Helens Miene hellte sich auf. Für sie gab es nichts Schöneres, als in Ritas Schmuckkiste herumzukramen und alles anzuprobieren. Mich ließ Schmuck komischerweise total kalt. Die Kette, die mir meine Eltern zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatten, gefiel mir zwar gut, aber ich hätte nie stundenlang vor einem Schaufenster stehen und mir Schmuck ansehen können, den ich mir ohnehin nicht leisten konnte. Ich ließ Helen deshalb allein gehen und blieb vor dem Spiegel stehen. Irgendwie war es richtig unheimlich, fast, als wäre die Zeit plötzlich stehengeblieben. „Hallo, Eleanor", sagte ich leise. „Irgendwie werd ich dir immer ähnlicher. Zuererst das Beichtheft, und jetzt tragen wir sogar das gleiche. Vielleicht bin ich ja auch durch die Zeit gereist. Wenn ich die Augen zumache und mich fest konzentriere, wache ich vielleicht im Jahre 1914 auf." Aber das funktionierte nicht. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich noch immer in der Gegenwart, und Helen und Rita wühlten nebenan noch immer in der Schmuckkiste. Trotz allem fand ich, daß mich die Schürze viel zu jung machte. Wenn Gray Cooper mich so sah, würde er mich wahrscheinlich endgültig abschreiben. Ich hatte es auch so schon schwer genug, gegen Helen anzukommen, da konnte ich mir nicht noch durch ein Kostüm die letzten Chancen verderben lassen. Am Samstagabend war Helen lange vor mir fertig angezogen, saß auf dem Bett und lackierte sich die Fingernägel. Sie sah plötzlich viel älter aus als sechzehn. Rita hatte ihr das Haar so hochgesteckt wie bei der Frau auf dem alten Foto - unserer Ururgroßmutter - und ihr eine antike Brosche von Urgroßmutter zum Anstecken geliehen. Mit ihrer eleganten Frisur und ihrem edlen Ohrgehänge sah Helen einfach toll aus, und ich beneidete sie glühend.
„Diese Strümpfe sind total ätzend", sagte ich und streckte die Beine aus. „Ich weiß gar nicht, was du hast", meinte Helen. „Ich finde schwarze Strümpfe unheimlich sexy." „Die hier aber bestimmt nicht. Dazu sind sie zu dick und faltig." „Aber sie passen gut zu der Kleiderschürze." Ich sah sie finster an. „Mußt du dir denn unbedingt die Nägel lackieren? Ich glaube kaum, daß das damals üblich war." „Ist doch egal." Helen schraubte die Nagellackflasche wieder zu und wedelte dann mit ihren Fingern in der Luft, um den Lack trocknen zulassen. „Ob der Typ wohl kommen wird?" „Welcher Typ?" fragte ich unschuldsvoll. „Der Junge, den du eingeladen hast. Ich weiß nicht mehr, wie er heißt." Das konnte sie mir nun wirklich nicht weismachen! „Wenn er kommt, dann laß aber die Finger von ihm. Ich hab ihn eingeladen, also gehört er heute abend mir. Du kannst von mir aus Lennox Junior haben." „Du spinnst wohl, der ist doch erst fünfzehn." „Das ist mir egal. Meinetwegen kannst du dich auch an Mr. Lockhart halten, obwohl der ja leider schon Rita gehört." Ich bekam plötzlich wieder ein flaues Gefühl im Magen. „Sag mal, Helen, hast du das eigentlich ernst gemeint, daß Rita vielleicht Mr. Lockhart heiratet? Hat sie das gesagt?" „Nein, das nicht." Helen pustete ihre Nägel trocken. „Aber sie hat mir mal gesagt, daß sie nicht allein alt werden will. Und Mr. Lockhart ist der einzige männliche Freund, den sie hat."
„Aber er ist doch nur ihr Tanzpartner. Außerdem trägt er bestimmt ein Korsett. Er geht immer unheimlich steif und aufrecht." „Das liegt daran, daß er sich letztes Jahr beim Paso Doble einen Bandscheibenvorfall zugezogen hat. Seitdem muß er einen Stützverband tragen." Helen stand auf und zog sich ihr Seidentuch um die Schultern. „Es ist schon fast acht. Ich geh jetzt nach unten." „Wart auf mich." Ich schlüpfte schnell in meine schwarzen Ballerinas. Mit den dicken Strümpfen an den Füßen drückten sie ein bißchen. Ich musterte mich noch mal im Spiegel und verzog das Gesicht. „Mann, in dem Aufzug seh ich ja aus wie Mary Poppins." Als wir nach unten kamen, waren Mr. Lockhart und Cynthia schon da. Cynthias Kostümierung war total daneben, sie sah eher aus wie eine Zigeunerin. Sie war in Ritas Alter, aber längst nicht so gut in Form. Vielleicht hatte ihr deshalb keines der alten Kleider gepaßt. Jedenfalls trug sie einen langen Rock, dazu eine weite Bluse und jede Menge Perlenketten. Irgendwie wirkte es aber doch ganz typisch, denn sie legte gern Karten und las aus dem Kaffeesatz. Mr. Lockhart dagegen hatte sich unheimlich Mühe gegeben. Er war ein großer, aufrechter Mann mit rotem Gesicht und Soldatenhaarschnitt, und so standen ihm Gehrock und Stehkragen echt gut. Ertrug sogar ein Monokel. „Alle Achtung", sagte er, als Helen und ich hereinkamen, „was für ein schöner Anblick! Da fühlt man sich an die gute, alte Zeit erinnert." Das fand ich nun doch etwas übertrieben. Schließlich war er noch nicht einmal sechzig, fünf Jahre jünger als Rita. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und ging dann hinüber zu meiner Urgroßmutter.
Die alte Dame war von dem Ganzen ein bißchen verwirrt. Ich nahm ihre Hand und sagte: „Hallo, Grannie. Wie findest du denn meine Schürze?" Meine Urgroßmutter starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen. „Ich bin es - Abby", sagte ich. „Findest du nicht, daß ich ein bißchen aussehe wie du auf dem Foto?" „Abby", wiederholte meine Urgroßmutter. Dann lächelte sie. „So eine Schürze habe ich auch immer getragen." „Ja, ich weiß." Ich setzte mich neben sie auf einen Hocker. „Erzähl mir doch mal was von früher. So ohne Straßenverkehr muß es doch unheimlich ruhig und friedlich gewesen sein, oder?" „Autos hatten wir damals auch. Allerdings konnten sich so etwas nur reiche Leute leisten. Aber damals fuhren die Autos noch nicht besonders schnell. Es lief meistens sogar ein Mann mit einer roten Fahne in der Hand vor dem Auto her, um die Fußgänger zu warnen." Es war erstaunlich, wie lebendig meine Urgroßmutter plötzlich geworden war. Ihre Augen funkelten, ihre Stimme war fest und es war fast, als hätte ich plötzlich Eleanor vor mir. Ich hörte ihr fasziniert zu. „Und Fahrräder gab es damals auch. Ich hatte eines, und Billy und Frank auch." Ihre Miene verfinsterte sich plötzlich. „Das war natürlich vor dem Krieg." Offensichtlich hatte sie das wieder an Billy erinnert. Eleanor verblaßte, und zurück blieb eine verwirrte alte Dame. „Ich weiß gar nicht, was Rita sich dabei gedacht hat, diese ganzen Leute einzuladen", sagte sie unwillig. „Und wieso sind die alle so komisch angezogen?"
„Wir veranstalten ein Kostümfest. Alle müssen in Kostümen aus der Zeit der Jahrhundertwende kommen, und Rita hat sogar Essen nach Rezepten von damals gekocht." Meine Urgroßmutter rümpfte verächtlich die Nase. „Sowas Albernes. Kostümfeste konnte ich noch nie was abgewinnen." Kurz darauf tat sich draußen in der Diele etwas, und Rita führte Mr. und Mrs. Lennox und ihren Neffen herein. Der Grund für ihren geräuschvollen Auftritt lag wahrscheinlich darin, daß das Ehepaar Lennox reichlich vollschlank war, und zu allem Überfluß trug Mrs. Lennox auch noch einen so weiten Krinolienrock, daß sie damit kaum durch die Tür kam. „Ich konnte leider kein stilgerechtes Kostüm auftreiben", erklärte sie, ,;und da hab ich mir gedacht, ich zieh etwas aus dem neunzehnten Jahrhundert an. Tut mir leid, daß wir uns verspätet haben, Rita, aber wir mußten auf Rory warten. Er hat bis zur letzten Minute Squash gespielt." Im Gegensatz zu seiner Tante und seinem Onkel war Rory Lennox gertenschlank und hatte glattes, schwarzes Haar und lebhafte grüne Augen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu verkleiden, sondern trug einfach Jeans und ein Micky Maus T-Shirt. Das macht ja nichts. Es war nett von ihm, zu kommen", sagte Rita liebenswürdig. Daß Rory nicht verkleidet war, erwähnte sie mit keinem Wort. „Rory, komm, ich stell dich mal meinen Enkelinnen vor. Das ist Helen. . ." Rory starrte Helen mit offenem Mund an, ohne etwas zu sagen. „Und das ist Abby." Rita zog mich nach vorn, aber Rory konnte seinen Blick nicht von Helen losreißen. „Nachdem jetzt alle da sind, könnten wir eigentlich essen. Ich schlage vor, wir gehen gleich hinüber ins Eßzimmer."
Ich hätte gern gesagt, daß noch nicht alle da waren, aber mir war klar, daß das keinen Sinn hatte. Außer mir hatte sowieso niemand damit gerechnet, daß Gray Cooper kommen würde. Ich sah den anderen mißmutig hinterher, bis nur noch meine Urgroßmutter und ich im Zimmer waren. „Die anderen sind alle ins Eßzimmer gegangen", sagte ich zu ihr. „Soll ich dir aufhelfen?" Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bleib hier. Ich hab nicht gern so viele Menschen um mich." „Soll ich dir was bringen?" „Ja, Würstchen im Blätterteig, die esse ich am liebsten." Ich wußte nicht, ob Würstchen im Blätterteig so unbedingt eine Spezialität der Jahrhundertwende waren, aber glücklicherweise hatte sich Rita nicht allzu genau an die damalige Küche gehalten. Neben Krabben in Aspik und einer Kalbspastete gab es auch ganz normale Sachen wie Käsehäppchen und Salate. Ich füllte zwei Teller und ließ mir dann von Mr. Lockhart zwei Gläser Punsch einschenken. Ich wollte gerade wieder zurück ins Wohnzimmer, als Helen mich am Ärmel festhielt. „Wo willst du denn hin?" „Urgroßmutter Gesellschaft leisten." Ich warf einen Blick über Helens Schulter und sah, daß Rory dicht hinter Helen war. „Ich glaube, du hast einen Treffer gelandet", flüsterte ich Helen zu. „Lennox Junior kann sich gar nicht von deinem Anblick losreißen." Helen lächelte. „Er sieht eigentlich ganz gut aus. Schade, daß er so jung ist." „Na, wenn es Rita nichts ausmacht, daß Mr. Lockhart fünf Jahre jünger ist als sie, weiß ich echt nicht, warum du dich wegen eines Jahres so anstellst." „Was ist mit mir?" fragte Rita, die im Vorbeigehen ihren Namen aufgeschnappt haben mußte.
„Nichts", murmelte ich hastig und machte dann, daß ich zurück ins Wohnzimmer kam. Ich hatte kaum zwei Minuten im Wohnzimmer gesessen, als es an der Tür klingelte. Ich stellte meinen Teller ab und rannte zur Tür. „Ich mach schon auf!" rief ich dabei, aber das hätte ich mir sparen können. Die anderen machten so einen Lärm, daß sie das Klingeln wahrscheinlich gar nicht gehört hatten. Ich öffnete die Tür, und vor mir stand Gray Cooper in seiner ganzen Pracht - silbergrauer Gehrock, weißer Stehkragen, bestickte Weste und seidengefütterter Umhang. Mannomann", sagte ich baff. Gray lächelte. Ich war mir nicht sicher, ob ich das richtige Haus erwischt hatte, aber jetzt ist ja alles klar. Hallo, Abby." „Hallo." Ich ließ ihn hereinkommen und sagte dann: „Komm, ich nehm dir den Umhang ab." „Danke. Hoffentlich bin ich nicht zu spät dran. Ich konnte mich einfach nicht daran erinnern, welche Uhrzeit du gesagt hattest, deshalb hab ich mal auf halb neun getippt." Das war nur knapp daneben. Komm rein." Als wir ins Eßzimmer kamen, brach die Unterhaltung abrupt ab. „Das ist Graham Cooper, Rita, der Typ, von dem ich dir erzählte." Guten Abend." Rita beäugte Gray von oben bis unten. „Du bist ja toll kostümiert." Gray erklärte ihr, daß seine Tante Kostümbildnerin sei. Danach stellte Rita ihn den anderen vor. Ich merkte ihr an, daß sie von Gray schwer beeindruckt war. Eigentlich waren das alle, einschließlich Helen, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Nur Rory Lennox schien nicht allzu begeistert zu sein, denn Grays Auftauchen bedeutete, daß er nun nicht mehr der einzige männliche Gast unter fünfzig war.
Zu meiner Schande mußte ich zugeben, daß ich meine Urgroßmutter total vergessen hatte. Ich holte zwei saubere Teller, einen für Gray und einen für mich. Ich wollte mir gerade noch einmal von den Käsehappen nehmen, als ich plötzlich merkte, daß Rory mich beobachtete. „Du hast doch eben schon zwei Teller geholt", sagte er. Ich hab eben Hunger." Rory machte eine Kopfbewegung in Grays Richtung. „Ist das dein Freund oder ihrer?" Meiner." Rory blickte skeptisch drein. „Dann scheint er ja auf kleine Mädchen zu stehen." Ich schnappte empört nach Luft. „Für wie alt hältst du mich denn?" Rory musterte mich von Kopf bis Fuß. „So zehn, vielleicht elf?" Wenn es dich interessiert - ich bin fast fünfzehn", sagte ich frostig und wandte mich dann ab, um Gray seinen Teller zu geben. „Hier, ich hab dir von allem ein bißchen gegeben, damit du dich durchprobieren kannst." ,Danke, Abby." Gray begutachtete seinen Teller anerkennend. „Ich finde diese Fete echt gelungen. Eben hab ich schon zu Helen gesagt, daß die Leute damals unheimlich elegant angezogen waren. In diesen Sachen sieht jeder wie ein Filmstar aus." „Nur ich nicht', entgegnete ich mißmutig. „Ich finde, du siehst sehr witzig aus." Gray tätschelte mir gedankenverloren die Schulter und wandte sich dann wieder Helen zu. „Das ist eine tolle Brosche, die du da trägst." Die gehört meiner Urgroßmutter", antwortete Helen. „Sie ist echt antik." „Wirklich hübsch."
Ich brauchte mir nichts mehr vorzumachen. Ganz gleich, wie witzig ich in meiner Schürze aussah, Gray interessierte sich offensichtlich überhaupt nicht für mich. Genau wie Rory hatte er nur Augen für Helen. Ich war nicht richtig eifersüchtig, aber ... Wenn ich ganz ehrlich war, mußte ich zugeben, daß ich doch eifersüchtig war. Ich wußte, daß ich äußerlich einfach nicht mit Helen mithalten konnte, und das hieß, daß ich bei Jungen nichts zu melden hatte, solange sie in der Nähe war. Wahrscheinlich würde ich warten müssen, bis sie erwachsen und verheiratet war, ehe ich eine Chance hatte. Die Aussicht war nicht gerade begeisternd. Nach dem Essen gingen wir zurück ins Wohnzimmer. „So, und jetzt machen wir ein bißchen Musik!" rief Rita und setzte sich ans Klavier. „Ich habe aus der Notensammlung meiner Mutter ein paar schöne Stücke ausgesucht. Wenn ihr euch alle um mich herum aufstellt, kann sicher jeder die Noten lesen. Am besten fangen wir mit diesem irischen Volkslied an." „Das darf doch nicht wahr sein", stöhnte Rory hinter mir leise. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Ganz offensichtlich war er gegen seinen Willen auf die Party mitgeschleppt worden. Man merkte es an seinem ganzen Gehabe. Er schien sich total überlegen zu fühlen und sich überhaupt für den einzig Normalen im Raum zu halten. „Es ist aber wahr", fauchte ich ihn an, „und du kannst von Glück sagen, daß du überhaupt hier sein darfst. Meine Urgroßmutter war früher nämlich mal ein großer Musical-Star. Also zieh gefälligst nicht so ein genervtes Gesicht und versuch zur Abwechslung vielleicht mal, ein bißchen nett zu sein." Ich wartete Rorys Reaktion auf meinen Ausbruch erst gar nicht ab, sondern ging wieder rüber zu meiner Urgroßmutter, die nach dem Essen eingenickt war.
„Wach auf", rief ich leise und rüttelte sie sanft. „Wir machen jetzt Musik." Meine Urgroßmutter fuhr plötzlich hoch. „Will Rita am Ende Klavier spielen?" fragte sie. „Es wäre mir lieber, sie würde das lassen." Zugegeben, Rita war nicht gerade eine begnadete Pianistin. Sie machte jede Menge Fehler und verlor oft den Faden, so daß es schwierig war, zu ihrer Begleitung zu singen. Schließlich sagte Mrs. Lennox: „Laß doch Rory mal ans Klavier, Rita. Er kann alles vom Blatt spielen." Rita musterte Rory zweifelnd. Er verzog das Gesicht und starrte hinunter auf seine Schuhe. „Aber vielleicht hat er ja gar keine Lust." „Natürlich hat er das." Mrs. Lennox stupste ihren Neffen an. „Los, Rory, zeig mal, was du kannst." Ich mußte zugeben, daß erwirklich gut spielte. Mit seiner Begleitung sangen alle gleich doppelt so gut. Mir fiel auf, daß er ganz verändert war, als er am Klavier saß. Irgendwie wirkte er viel lockerer und selbstsicherer. Meine Laune besserte sich schlagartig. Ich sang unheimlich gern. Ich störte mich nicht einmal mehr daran, daß Gray den Arm um Helens Taille gelegt hatte, umso weniger, als er dann plötzlich sagte: „Abby hat eine gute Stimme. Wie wär's, wenn sie mal ein Solo singt?" „Ja, gute Idee." Rita strahlte mich an. „Suchen wir doch gleich mal was für sie aus." „Wie wär's denn hiermit?" Rory zog ein Notenblatt hoch und hielt es mir hin. Das Lied hieß „Pretty Baby". Ich war sicher, daß das als Anspielung gedacht war, und warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Als er aber dann zu spielen anfing, merkte ich, daß ich das Lied kannte, und kurz darauf war mein ganzer Ärger vergessen.
Ich raffte meine Schürze zusammen und tanzte beim Singen im Zimmer auf und ab. Alles lachte, und als ich fertig war, klatschten sie und forderten eine Zugabe, also sang ich das Lied gleich noch mal. Mir machte es einen unheimlichen Spaß, vor Publikum zu singen. An diesem Abend sang ich aber hauptsächlich für meine Urgroßmutter, denn ich merkte, daß sie auch Spaß daran hatte. Ihre Augen sprühten wieder vor Leben, wie vorhin, als sie von früher erzählt hatte. Als das Lied zu Ende war und alle applaudierten, winkte sie mich zu sich herüber. „Das Lied hab ich früher auch gesungen", sagte sie gedankenverloren. „Damit bin ich sogar mal in London aufgetreten." Sie zog mich an sich und flüsterte mir ins Ohr: „Du bist ein echtes Show-Talent. Du solltest zum Theater gehen." Ich strahlte sie an. „Danke, Grannie, das mach ich vielleicht." Danach zog ich noch eine Riesenschau ab, und als Rita später alle zum Tanzen aufforderte, schnappte ich mir Gray und walzte mit ihm davon, ehe er mir eine Korb geben konnte. Glücklicherweise schien es ihm nicht allzuviel auszumachen, daß ich ihn von Helen losgerissen hatte. „Du bist eine echte Begabung, Abby", sagte er, als der Tanz zu Ende war und wir beide verschnauften. „Es ist wirklich schade, daß ihr nicht in Compton wohnt. Unsere Laientheatergruppe würde dich sofort nehmen." Nach dieser Bemerkung nahm ich es Gray nicht einmal mehr übel, daß er kurz darauf zu Helen zurückging. Später führten Rita und Mr. Lockhart einen Tango vor, und Cynthia holte ihre Tarot-Karten heraus, aber ich wollte mir nicht die Karten legen lassen. „Sehr vernünftig", meinte Rory Lennox. „Das ist sowieso alles Quatsch."
Ich fuhr herum. „Woher willst du das denn so genau wissen? Gehörst du vielleicht zu den Leuten, die an nichts glauben?" „Nein. An mich glaube ich zum Beispiel." Rory sah mich nachdenklich an. „Weißt du eigentlich, daß Ostern hier ein Talentwettbewerb stattfindet? Da solltest du mitmachen." „Und was soll ich da tun?" „Singen, natürlich. Am besten was Witziges, wie heute abend." „Spinn doch nicht, die Leute würden sich ja kaputtlachen." „Das ist ja auch der Sinn der Sache. Weißt du eigentlich, daß du urkomisch bist?" „Danke für die Blumen. Sag mal, wenn ich bei dem Wettbewerb mitmachen würde, würdest du mich dann auf dem Klavier begleiten?" Rory zögerte. „Das würde bedeuten, daß wir üben müßten. Im Augenblick hab ich ziemlich viel zu tun." Er sah hinüber zu Helen, die Rita gerade dabei half, Kaffee auszuschenken. „Aber wenn du es wirklich möchtest, kann ich es sicher einrichten." Ich war sicher, daß er nur eingewilligt hatte, weil er dann regelmäßig kommen und Helen sehen konnte. Ich biß die Zähne zusammen. „Ich möchte überhaupt nicht, es war doch deine Idee." Rory zuckte die Achseln. „Na, wenn du es dir anders überlegst, dann laß es mich wissen." Der Typ konnte einen wahnsinnig machen. Verglichen mit Gray sah er in seinen Jeans und seinem albernen T-Shirt einfach unmöglich aus, aber das schien er gar nicht zu merken. Zugegeben, er war ein guter Klavierspieler, aber sonst hatte er eigentlich keine Pluspunkte. Gray dagegen sah gut aus und hatte Charme und Ausstrahlung.
3. KAPITEL „Dein Graham hat wirklich toll mitgemacht", sagte Rita, als alle Gäste gegangen waren. „Das hat mir gut gefallen." „Das hab ich mir gleich gedacht." „Du hast mir noch gar nicht erzählt, woher du ihn kennst." „Nicht?" Ich drehte mich hilfesuchend nach Helen um, aber die stand nur gedankenverloren da und träumte vor sich hin, während sie mit der Hand an ihrem Kragen herumfingerte. „Aus einem Cafe", sagte ich schließlich. „Soll das heißen, du hast ihn einfach angesprochen?" Rita zog die Augenbrauen hoch. „In diesem Fall hast du ja Glück gehabt. Graham scheint wirklich ein netter Junge zu sein. Aber ich hoffe doch, daß du daraus keine Gewohnheit machst." „Bestimmt nicht', versicherte ich. „Oder, Helen?" Helen schüttelte stumm den Kopf. „Das war knapp, aber ich glaube, Rita hat es mir abgenommen", flüsterte ich Helen zu, als wir nach oben gingen. „Er hat ihr offenbar gefallen." Helen sagte noch immer nichts. Erst, als wir in unserem Zimmer waren und die Tür hinter uns zugemacht hatten, drehte sie sich zu mir herum und sah mich todtraurig an. „Abby, es ist etwas Furchtbares passiert. Ich hab Urgroßmutters Brosche verloren." Sie nahm die Hand von ihrem Hals, und ich sah, daß die Brosche tatsächlich nicht mehr da war. „Was soll ich denn jetzt bloß Rita sagen?" „Sie ist dir bestimmt nur runtergefallen", sagte ich. „Wahrscheinlich hat sie sich beim Tanzen gelöst. Hast du schon auf dem Boden nachgesehen?" Ja, ich hab schon überall gesucht."
„Wann hast du denn gemerkt, daß die Brosche weg ist?" „Erst, als wir draußen in der Diele alle verabschiedet haben. Ich wollte danach greifen, und da hab ich plötzlich gemerkt, daß sie nicht da ist. Danach bin ich gleich ins Wohnzimmer gegangen und hab angefangen zu suchen." „Dann weiß Urgroßmutter also, daß du die Brosche verloren hast. Sie war doch sicher noch da, als du den Boden abgesucht hast." Helen schüttelte den Kopf. „Sie hat geschlafen." Ich bin ein logisch denkender Mensch, und für mich war klar, daß die Brosche noch im Haus sein mußte, wenn Helen sie zu Anfang der Party noch getragen hatte und den ganzen Abend nicht aus dem Haus gegangen war. „Jetzt machen wir uns erst mal zum Schlafengehen fertig", sagte ich. „Und wenn Rita dann schläft, gehen wir nach unten und suchen noch mal." „Wozu denn?"jammerte Helen. „Ich hab dir doch gesagt, daß sie nicht da ist." „Sei doch nicht albern, das Ding muß doch da sein." Eine halbe Stunde später schlichen wir mit einer Taschenlampe nach unten. Die Treppe knarrte natürlich ein bißchen, das Haus war ja schon ziemlich alt, aber Rita mußte sich bei der Party völlig verausgabt haben, denn sie machte keinen Mucks. Als wir ins Wohnzimmer kamen, machte ich das Licht an, aber Helen schaltete es gleich wieder aus. „Das sieht man doch!" zischte sie. Ich fand, daß sie reichlich übertrieb. Immerhin hatten wir sonst bloß unsere kleine Taschenlampe, und die gab nur ein schwaches Licht. Wir suchten gemeinsam den Boden ab und schoben vorsichtig die Möbel herum, für den Fall, daß die Brosche unter einen Stuhl gefallen war, obwohl wir natürlich wußten, daß Broschen normalerweise nicht herumkullern. Wir suchten unter dem Klavier und unter den Sofapolstern.
Nichts. Laß uns mal das Eßzimmer absuchen", flüsterte ich. Wieder nichts. Als wir schließlich wieder zurück in unser Zimmer gingen, war Helen total verzweifelt. „Morgen früh muß ich es Rita sagen." „Wieso denn? Sie wird sie doch bestimmt nicht gleich zurückverlangen, oder? Wenn du Glück hast, schenkt sie sie dir sogar." „Das glaub ich kaum. Schließlich gehört die Brosche immer noch Urgroßmutter, da kann Rita sie ja schlecht verschenken. Außerdem hat sie mich ein paarmal darauf aufmerksam gemacht, wie wertvoll die Brosche ist." Ich hockte mich auf mein Bett und sah Helen prüfend an. Ich kannte meine Schwester gut genug" um zu wissen" dass ihr noch etwas auf der Seele lag. „So" und jetzt sag mir mal" was du sonst noch hast." „Ich glaube" dass mir die Brosche tatsächlich runtergefallen ist"" meinte sie zögernd. „Der Verschluss war ein bisschen komisch" und vielleicht hatte ich sie nicht richtig festgemacht. Allmählich frage ich mich, ob sie nicht jemand aufgehoben hat." „Aber dann hätte derjenige doch sicher etwas gesagt." „Wenn dieser jemand wusste" wie wertvoll die Brosche war" vielleicht nicht." „Anders kann ich mir das nicht erklären"" antwortete Helen unglücklich. „Aber das ist doch unmöglich. Von den Leuten" die auf der Party waren" würde keiner sowas tun. Es waren doch alles gute Bekannte von Rita." Ich merkte, dass Helen mir nicht in die Augen sah. „Bis auf Gray Cooper. Hast du ihn etwa im Verdacht?" „Wir wissen nichts von ihm" Abby. Im Grunde haben wir keine Ahnung" was er überhaupt für ein Mensch ist."
„Doch" das haben wir. Er hat ja selbst Rita gefallen. Er ist nicht der Typ Junge, der Leute beklauen würde." „Die Brosche hat ihm aber gefallen"" wandte Helen ein. „Das hater ein paarmal betont." „Er mag eben schöne Sachen." Ich war wild entschlossen" mir meinen Gray nicht von Helens Verdächtigungen miesmachen zu lassen. „Ausserdem war er nicht der einzige Fremde auf der Party. Was ist denn mit Rory Lennox?" „Der ist doch kein Fremder. Er ist ein Verwandter von Mrs. Lennox." „Das ist noch lange keine Garantie dafür" dass er ehrlich ist. Wenn irgend jemand die Brosche aufgehoben und eingesteckt hat" dann bestimmt er." Helen blieb stumm. „Ich dachte" du fändest Gray nett"" sagte ich. „Auf jeden Fall sah es so aus" als würdet ihr euch gut verstehen." Zu gut für meinen Geschmack" aber das verkniff ich mir. „Er ist ganz nett"" gab Helen zu. „Aber er hat so etwas ... ich weiss nicht" irgendwie trau ich ihm nicht über den Weg." „Hat er gesagt" dass er sich noch mal mit uns treffen will?" „Nicht direkt." Helen zögerte. „Er hat mich nur gefragt, ob ich gern schwimme, und als ich sagte" dass wir beide gern schwimmen" schlug er vor" dass wir hier mal ins Schwimmbad im Sportzentrum gehen. Er hat so eine Andeutung gemacht" dass er morgen früh da sein würde." „Gut" dann weiss ich" was wir machen. Rory geht nämlich auch oft ins Sportzentrum. Seine Tante hat vorhin erzählt" dass er da heute Squash gespielt hat. Das heisst" dass wir unsere beiden Verdächtigen an einem Ort erwischen und die Wahrheit feststellen können." „Wie denn?"
„Überlass das nur mir" ich werd mir was einfallen lassen." Ich schlüpfte unter die Bettdecke. „Jetzt mach dir keine Sorgen und schlaf erst mal." "Ich werd's versuchen"" seufzte Helen. Eigentlich hatte ich keine Ahnung" wie ich die Wahrheit aus Gray und Rory herauskriegen sollte" aber irgendwie gefiel mir der Gedanke, Detektiv zu spielen. Ausserdem bot sich mir damit die ideale Gelegenheit" Gray wiederzusehen. Ich war fest davon überzeugt" dass er die Brosche nicht genommen hatte und wild entschlossen" seine Unschuld zu beweisen. Beim Frühstück am nächsten Morgen sah Helen bleich und müde aus, aber glücklicherweise war Rita so damit beschäftigt über die Party zu reden dass es ihr gar nicht auffiel. „Ich glaube Mutter hat es richtig Spass gemacht." sagte sie. „Vor allem, als du eines von ihren alten Liedern gesungen hast, Abby. Sie hat mir gesagt, das hätte sie an früher erinnert." „Das macht sie doch sonst immer traurig." „Nur, wenn sie an ihre Familie denkt. An ihre Zeit auf der Bühne erinnert sie sich sehr gern zurück. Als ich sie gestern abend ins Bett brachte, war sie richtig nostalgisch." Rita goss sich noch eine Tasse Tee ein. „Was mach ich denn heute mit euch beiden Hübschen?" „Wir wollten eigentlich schwimmen gehen." sagte ich. „Um diese Jahreszeit?" Meine Tante starrte uns entsetzt an. „Da holt ihr euch ja den Tod." „Doch nicht im Meer. Wir wollen ins Schwimmbad." „Das ist natürlich etwas anderes." Rita sah Helen durchdringend an. „Du hast wohl nicht zufällig eine Verabredung im Schwimmbad, oder?" Helen wurde puterrot. „Also, ehrlich gesagt. . ." „Schon gut" ich will dich nicht ausfragen." Rita lächelte sie an. „Du hast auf jeden Fall meinen Segen. Dieser Graham
Cooper scheint ja ein wirklich netter Junge zu sein, auch wenn . . ." Sie brach ab und fragte plötzlich: „Was war sein Vater doch gleich von Beruf?" „Buchhalter", sagte ich. ,So kann man das natürlich auch nennen", meinte Rita lachend. Mr. Lockhart hat ihn gestern abend erkannt. Er hat mir erzählt, daß Grahams Vater das Wettbüro in der Hauptstraße leitet, gleich gegen über von seiner Eisenwarenhandlung. Mit anderen Worten: er ist ein Wettbuchhalter." Hefen sah aus, als hätten sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Das muß noch lange nicht heißen, daß er nichts taugt", sagte ich schnell. „Schließlich hat er ja nicht gelogen." „Das hab ich ja auch nicht behauptet. Mir ist es völlig egal, ob sein Vater ein Wettbüro hat oder nicht. Wenigstens erklärt das, warum er Pferde mag." Rita sah hinüber zu Helen. „Aber sei bitte trotzdem vorsichtig." Ich hielt Ritas Warnung für völlig überflüssig. Helen war sowieso immer vorsichtig. Eher sogar übervorsichtig. Den ganzen Weg zum Schwimmbad über fragte sie sich, ob wir überhaupt reingehen sollten. „Kein Wunder, daß er Mr. Lockhart vom Sehen kennt", sagte sie. „Und wenn er uns bei sowas schon in die Irre geführt hat, dann kann er uns auch sonst belogen haben. Ich hab dir ja gleich gesagt, daß ich ihm nicht traue." „Ich weiß echt nicht, warum du so ein Theater machst", erwiderte ich genervt. „Schließlich sind wir zum Schwimmen hier und nicht zum Duell in der Sonne. Außerdem haben wir ja nichts zu verlieren, oder?" Darauf wußte Helen keine Antwort. Das Sportzentrum lag in einem nagelneuen Gebäude mit allen möglichen Sporteinrichtungen, einem Cafe und zwei
Restaurants. Helen und ich zogen unsere Badesachen an Helen einen türkisfarbenen Bikini und ich einen rosa Einteiler und gingen dann gleich ins Wasser. Ich stehe nicht besonders auf Hallenbäder. Für mich ist es da immerzu warm und stickig, außerdem kann ich den Geruch von dem Zeug nicht leiden, das sie da ins Wasser kippen. Trotzdem mußte ich zugeben, daß das Schwimmbad in Compton wirklich nicht übel war. Es hatte sogar zwei Schwimmbecken, ein großes für die Erwachsenen und ein Kinderbecken. Ich entdeckte Gray sofort. Er saß am Beckenrand, ließ die Beine ins Becken baumeln und unterhielt sich mit ein paar Mädchen. Als er Helen und mich entdeckte, stand er sofort auf und winkte. Dann hechtete er zu uns ins Becken. „Hallo", rief er, als er aus dem Wasser auftauchte. „Toll, daß ihr gekommen seid." Und dabei sah er nicht nur Helen an, sondern auch mich! Ich beschloß, die Sache mit der Brosche vorerst mal zu vergessen. Schließlich konnte man sich im Schwimmbecken sowieso nicht unterhalten. Ringsum planschten Leute im Wasser herum, und jedes Geräusch wurde verzerrt. Außerdem sah Gray in seiner schwarzen Badehose so super aus, daß ich an gar nichts anderes denken konnte. Ich forderte ihn zu einem Wettschwimmen heraus. Natürlich schlug er mich um Längen, aber das freute mich richtig. Wenn er mich hätte gewinnen lassen, wäre ich bestimmt mißtrauisch geworden. Als wir aus dem Wasser stiegen, sagte Helen: „Ich geh mich umziehen." Irgendwie fühlte sie sich im Bikini nicht wohl. Das hatte ich schon daran gemerkt, daß sie andauernd ihr knappes Höschen zurechtzupfte. Gray schien das auch nicht entgangen zu sein, denn er lächelte und sagte: „Okay, dann treffen wir uns nachher im Cafe."
„Das hat doch alles keinen Sinn, Abby", sagte Helen, als wir uns in der Umkleidekabine abtrockneten. „Er wird es nie zugeben. Ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit." „Niemand ist schuldig, bis seine Schuld bewiesen ist", sagte ich. Dann wurde mir klar, daß das irgendwie komisch klang, und so fügte ich hinzu: „Außerdem hab ich nicht die Absicht, ihn direkt nach der Brosche zu fragen. Ich werde versuchen, an das Gute in ihm zu appellieren." „Vorausgesetzt, es steckt etwas Gutes in ihm." „Klar doch." Ich zwängte mich in meine Jeans. „Komm mit, dann werde ich es dir beweisen." Wir gingen zusammen nach oben in die Cafeteria über dem Pool. Gray hatte schon einen Tisch organisiert und drei Tassen Kaffee geholt. Plagte ihn etwa sein schlechtes Gewissen? Oder machte er nur wieder auf Gentleman? Ich war natürlich bereit, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden, aber Hefen schien immer noch mißtrauisch zu sein. Wenn Gray das aufgefallen war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken und machte locker Konversation, bis das Gespräch auf die Party kam. „Die Fete hat wirklich Spaß gemacht", sagte er. ;,Eure Großmutter ist für ihr Alter echt noch super in Form. Wie sie mit dem alten Lockhart einen Tango aufs Parkett gelegt hat, das war irre." ,Ja, finde ich auch", pflichtete ich ihm bei. „Übrigens, ist ja ein witziger Zufall, daß dein Vater direkt gegenüber von Mr. Lockharts Laden arbeitet, was?" Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, daß Helen nervös mit einem Teelöffel herumspielte. Gray dagegen verzog keine Miene. „Deswegen kenne ich ihn ja", sagte er. „Allerdings nicht besonders gut. Mein Vater hat seinen Laden erst
anderthalb Jahre." „Und was hat er vorher gemacht?" fragte ich. „Er ist viel gereist und hat die großen Rennplätze abgeklappert. Wenn er Zeit hat, macht er das heute noch manchmal." ,Haltet ihr deshalb Pferde?" „Wir haben keine Rennpferde, nur Ponys. Sie gehören meiner Schwester. Reitet ihr gern?" Diese Frage hatte er vor allem an Helen gerichtet. „Ich hab es noch nie versucht", antwortete sie zögernd. „Dann wird es aber höchste Zeit. Komm doch mal zu uns, dann geb ich dir eine Reitstunde." „Nein, vielen Dank." Gray sah sie verdutzt an. „Helen ist heute nicht so gut drauf", sagte ich schnell. „Wieso denn nicht?" fragte er besorgt. „Sie hat gestern abend was verloren. Kannst du dich noch an die Brosche erinnern, die sie trug?" „Die von eurer Urgroßmutter? Klar." „Die Brosche ist seit der Party verschwunden." Ich beobachtete Gray genau, während ich sprach. „Du hast wohl nicht zufällig eine Ahnung, wo sie hingekommen sein könnte?" Seine Miene blieb unbewegt. „Leider nein. Aber ich bin sicher, daß Helen die Brosche noch trug, als wir getanzt haben." Er wandte sich Helen zu. „Ist sie dir vielleicht runtergefallen?" Ich antwortete an ihrer Stelle. „Wir haben den ganzen Boden abgesucht. Sie ist nicht da." „Vielleicht ist sie in dem Schultertuch hängengeblieben, das Helen umhatte. Habt ihr da mal nachgesehen?" Helen und ich sahen uns an. „Nein", sagte ich zögernd. „Nein, das haben wir nicht."
Gray lächelte. „Na, dann ist sie sicher in dem Tuch. Noch einen Kaffee?" Helen lehnte ab, aber ich sagte ja, weil ich Gray gern für einen Augenblick loswerden wollte. Als er vom Tisch aufgestanden war, zischte ich Helen leise zu: „Glaubst du, er könnte recht haben?" Helen zuckte die Achseln. „Schon möglich, obwohl ich das doch bestimmt gemerkt hätte, als ich das Tuch gestern abend abgelegt habe. Schließlich war die Brosche ziemlich schwer." „Wenn wir nach Hause kommen, sehen wir gleich mal nach", sagte ich. „Aber jedenfalls bin ich jetzt sicher, daß Gray die Brosche nicht genommen haben kann. Er hat kein bißchen schuldbewußt ausgesehen." Als Gray mit dem Kaffee zurückkam, sagte ich: „Wir haben uns gedacht, daß Rory Lennox vielleicht heute hier Squash spielt. Hast du ihn gesehen?" „Nein", antwortete Gray. „Aber die Tür da drüben führt zur Zuschauertribüne über den Squashplätzen. Geh doch mal rauf und sieh nach. Deinen Kaffee kannst du ja mitnehmen." „Okay." Gern ließ ich Helen natürlich nicht mit Gray allein. Ich hoffte fast, daß Rory nicht da sein würde, damit ich gleich zurückkommen konnte. Aber auf Platz Nummer drei entdeckte ich ihn tatsächlich. Ich setzte mich auf eine Bank, sah eine Zeit lang zu und trank meinen Kaffee. Obwohl Rory eher ein schmächtiger Typ war, wirkte er unheimlich flink auf den Beinen. Er pfefferte den kleinen, schwarzen Ball mit kräftigen Schlägen aus dem Handgelenk zurück. Sein Gesicht schien zwar nicht besonders verschwitzt, aber mir fiel auf, daß ihm das Hemd am Körper klebte und seine Arme schweißnaß glänzten. Als das Spiel vorbei war, trocknete er sich mit einem Handtuch ab und sah dabei hinauf zur Zuschauertribüne.
„Hallo!" rief er mir zu. „Hast du es dir jetzt doch anders überlegt?" Ich hatte keine Ahnung, wie er das meinte, deshalb rief ich einfach zurück: „Wir sind in der Cafeteria. Komm doch nachher vorbei." „Okay. Ich bin in zehn Minuten da." Damit verschwand er aus meinem Blickfeld. „Ich hab ihn gefunden", sagte ich, als ich wieder bei Helen und Gray war. „Er kommt rüber, sobald er sich umgezogen hat." Gray warf einen Blick auf die Uhr. „Ich kann leider nicht länger bleiben. Ich hab mir den Wagen von meiner Mutter geborgt und ihr versprochen, daß ich ihn ihr pünktlich zurückbringe, weil sie eine Verabredung zum Mittagessen hat. Aber wenn ihr beiden Lust zum Reiten habt, dann kommt doch morgen mal bei uns vorbei. Wir wohnen in Grebe House in der Old Compton Lane. Das schafft ihr leicht zu Fuß." „Danke, das machen wir vielleicht." Als Gray gegangen war, drehte ich mich zu Helen um. „Hat er irgendwas Interessantes gesagt, als ihr allein wart?" „Er hat gefragt, ob ich mal mit ihm weggehe." Eigentlich hätte ich mir das denken können. Trotzdem bekam ich ein ganz blödes Gefühl im Magen. Ich gab mir alle Mühe, meine Eifersucht zu unterdrücken und fragte: „Und?" „Ich hab gesagt, ich würde es mir überlegen." Helen warf mir durch ihre dichten Wimpern wieder mal einen ihrer unergründlichen Blicke zu. „Ich wollte erst mal nachsehen, ob die Brosche wirklich in dem Tuch ist." „Vielleicht hat Rory Lennox sie ja auch genommen." Helen stöhnte. „Mann, Abby, mit Fragen kannst du doch sowieso nichts beweisen. Ich glaub nicht, daß wir irgendwas rauskriegen werden." „Aber wir können es immerhin mal versuchen."
Rory kam ungefähr fünf Minuten später. Er trug wieder Jeans, und sein Haar war noch naß vom Duschen und sah noch dunkler und glatter aus als sonst. Irgendwie hatte er ein komisches Gesicht, mit hohen Wangenknochen und Katzenaugen. Mir kam er jedenfalls viel verdächtiger vor als Gray Cooper. „Hallo, Rory." Helen begrüßte Rory viel freundlicher als Gray. „Komm, setz dich zu uns." Er hatte ein Glas Milch mitgebracht. „Ihr wart wohl schwimmen, was?" sagte er mit einem Blick auf Helens feuchtes Haar. „Ja." Helen lächelte ihm zu. „Wie ist dein Match gelaufen?" „Gut", antwortete Rory und fügte dann beiläufig hinzu: „Ich hab gewonnen." „Gratuliere." Ich fragte mich, was Helen vorhatte. Ein paar Tage zuvor hatte sie mir noch erzählt, sie würde nicht auf „Bubis" stehen, und jetzt klapperte sie Rory mit ihren Wimpern an, als wäre er das Größte seit der Erfindung von Tiefkühlpizza. Und Rory fand das natürlich toll. Er saß da und gaffte Helen bewundernd an. Ich räusperte mich. „Wir wollten mit dir reden." „Ach, ja." Rory wühlte in seiner Hosentasche. „Hier ist es. Ich hab den Zettel vom Schwarzen Brett. Es steht alles drauf." Ich nahm den zerknitterten Zettel, den er mir entgegenhielt und strich ihn glatt. Es war ein Handzettel über den Talentwettbewerb, der Ostern im großen Strandpavillon stattfinden sollte. Mir fiel wieder ein, daß Rory auf der Party davon gesprochen hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich gar nicht mehr daran gedacht. „Das ist ja schon nächsten Samstag", sagte ich. „Das ist aber zu früh."
„Zu früh? Wieso denn?" „So schnell kann ich mich darauf nicht vorbereiten. Außerdem will ich gar nicht mitmachen." „Warum denn nicht?" Allmählich ging mir seine Fragerei auf den Keks. „Weil ich nicht will, darum." „Der erste Preis sind fünfundzwanzig Pfund und eine Fahrt im Heißluftballon." Das stimmte. Das Kleingedruckte auf dem Handzettel hatte ich gar nicht gelesen. Wenn es etwas gab, das ich wirklich unbedingt mal erleben wollte, war das eine Ballonfahrt. Ich begann schwach zu werden. „Aber was soll ich denn da vorführen?" „Na, das Lied, das du gestern abend gesungen hast." „Das ist doch viel zu altmodisch, da lachen mich die Leute ja aus." „Nicht, wenn du das Lied so witzig bringst wie gestern. Das wäre wenigstens mal was anderes. Die anderen werden todsicher alle nur Breakdance-Zeug und Madonna-Imitationen vorführen. Die schlägst du alle mit links." „Du würdest bestimmt super abschneiden, Abby", versuchte Helen mich zu überreden. „Du weißt doch, daß du eine tolle Stimme hast." „Da müßte ich aber noch üben." „Das macht doch nichts", sagte Rory. „Wenn du willst, komm ich heute nachmittag vorbei und wir proben." Irgendwie fühlte ich mich in die Enge getrieben. „Na schön, versuchen können wir es ja mal. Aber wenn ich nicht zufrieden bin, mach ich nicht mit." „Bis wann müssen wir dich denn angemeldet haben?" Rory nahm mir den Zettel wieder aus der Hand und überflog ihn. „Bis Donnerstag, steht hier. Dann hast du also noch fünf Tage Zeit, dich zu entscheiden."
„Na gut." Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, und mir wurde plötzlich klar, daß Rory es irgendwie geschafft hatte, mich umzustimmen. Trotzdem nervte mich etwas an seiner Art. Irgendwie war er so unheimlich selbstsicher. Das war Gray zwar auch, aber bei ihm ging es einem nicht so auf den Sender. Ich konnte einfach nicht begreifen, wieso Helen Rory anscheinend lieber mochte als Gray. Ich beugte mich wieder nach vorn. „Das war aber nicht das Thema, worüber wir mit dir reden wollten. Es geht um gestern abend." „Jetzt hör doch auf damit, Abby", stöhnte Helen. Ich beachtete sie gar nicht. „Helen hat ihre Brosche verloren", fuhr ich fort und sah Rory dabei durchdringend an. „Du weißt wohl nicht zufällig, wo sie geblieben sein könnte?" „Nein, tut mir leid. Wie sollte ich?" Seine grünen Augen erwiderten meinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich dachte nur, das heißt, wir dachten, daß die Brosche vielleicht runtergefallen ist und jemand sie aufgehoben hat." Ich spürte plötzlich, wie ich rot wurde. „Und dann behalten hat?" fragte Rory. „Ist sie denn wertvoll?" Ich sah hinüber zu Helen. „Ja, ziemlich", antwortete Helen leise. „Sie gehört meiner Urgroßmutter." „Ach so." Rory sah sie mitfühlend an. „Tut mir echt leid, daß ich euch nicht helfen kann." Er grinste mich an. „Broschenklauen ist nicht mein Fach." Meine Gesichtsfarbe wechselte von rosa zu dunkelrot. „Das hab ich auch nicht behauptet." „Ach, nein?" Rory trank seine Milch aus. „Ich muß jetzt los. Also, bis heute nachmittag dann." Er schob seinen Stuhl zurück und ging davon.
„Was hast du dir denn dabei bloß gedacht, Abby?" fragte Helen total geschockt. „Wir mußten es doch irgendwie rauskriegen, oder nicht?" „Aber du hast ihn ja mehr oder weniger direkt beschuldigt." „Nein, hab ich nicht. Er hat es nur so aufgefaßt." Ich fügte trotzig hinzu: „Auf jeden Fall scheint es ihm nichts ausgemacht zu haben, sonst würde er ja wohl heute nachmittag nicht kommen." „Da hast du recht", pflichtete Helen mir bei. „Und das beweist, daß er unschuldig ist, sonst würde er uns sicher aus dem Weg gehen." Ich musterte sie prüfend. „Sag mal, Helen, du bist doch wohl nicht in ihn verknallt, oder?" „So ein Quatsch, natürlich nicht." „Warum bist du denn dann zu ihm so nett und so ekelhaft zu Gray?" „Ich bin nicht ekelhaft zu Gray." Helen wich meinem Blick aus. „Er ist mir nur einfach zu aalglatt. Bei Jungen wie ihm bin ich lieber vorsichtig." Daß Gray ein Typ ohne Ecken und Kanten war, mußte ich zugeben, aber ich mochte ihn einfach und hatte das Gefühl, ich konnte ihm trauen. Und das lag nicht nur daran, daß er gut aussah. Wenigstens versuchte ich, mir das einzureden. „Komm, laß uns auch gehen." Als wir zurück nach West Winds kamen, gingen wir sofort nach oben auf unser Zimmer. Helen holte das Tuch aus der Schublade, in die sie es am Abend gelegt hatte, und untersuchte es sorgfältig. Die Brosche war nicht da. Sie seufzte. „Jetzt muß ich es Rita sagen." „Warte doch noch. Vielleicht taucht sie ja noch auf." „Wie denn?" Helen hockte sich auf ihr Bett und ließ traurig die Schultern hängen.
„Laß uns doch unten noch mal bei Tageslicht suchen. Gestern abend können wir die Brosche leicht übersehen haben." „Na gut, wenn du meinst", erwiderte Helen müde. „Aber ich glaube nicht, daß das was bringt." Glücklicherweise hatte Rita in der Küche zu tun. Nur Urgroßmutter war im Wohnzimmer, aber sie schlief. Helen konzentrierte sich auf die Möbel, während ich den Boden absuchte. Ich kroch gerade auf den Knien um den Sessel herum, in dem meine Urgroßmutter ihr Nickerchen machte, als sie plötzlich die Augen öffnete und sagte: „Hallo, ihr beiden. Seid ihr beim Spielen?" „Ja, so kann man es nennen. Wir spielen Suchen." „Das haben wir früher auch oft gespielt." Urgroßmutter zog die Decke zurecht, die ihr von den Knien gerutscht war. „Wo hat er es denn versteckt?" „Das möchte ich auch gern wissen", sagte ich. Erst dann wurde mir bewußt, was meine Urgroßmutter gesagt hatte, und ich fragte: „Wer hat was versteckt?" „Billy natürlich. Er ist sehr gut im Verstecken." Offenbar war die alte Dame mal wieder leicht verwirrt. Ich sagte sanft: „Wir wissen nicht, wo er es versteckt hat, aber wir werden es bestimmt bald finden. Hast du was dagegen, wenn ich mal unter deinem Sessel nachsehe?" „Nein, such ruhig, wo du willst." Bis ich alles abgesucht hatte, war sie schon wieder eingeschlafen. Inzwischen bereute ich wirklich, daß ich sie überhaupt an Billy erinnert hatte. Und das alles nur, weil ich unbedingt das Foto zeigen mußte. Ich beschloß, weder das Foto noch das Album in ihrer Gegenwart noch einmal zu erwähnen. „Das hat doch keinen Sinn." Helen war aufgestanden. Sie hatte Tränen in den Augen.
„Sag doch sowas nicht." Ich ging zu ihr und legte den Arm um sie. „Wir werden die Brosche schon finden, das verspreche ich dir." Insgeheim fing ich allerdings allmählich an, ernsthaft daran zu zweifeln, daß wir die Brosche noch finden würden.
4. KAPITEL Als Rory am Nachmittag kam, sagte ich ihm, wir könnten nicht üben, weil meine Urgroßmutter sich noch ausruhte. „Tut sie eigentlich auch noch was anderes als sich auszuruhen?" fragte er. „Sie macht eben ihren Mittagsschlaf", gab ich verärgert zurück. „Rita besteht darauf, daß sie sich nachmittags hinlegt." Ich brachte Rory ins Wohnzimmer. Als er feststellte, daß niemand mehr im Zimmer war, fragte er gleich: „Wo ist denn deine Schwester?" Ich hatte also doch recht behalten. Er war nur gekommen, weil er gehofft hatte, Helen zu sehen. „Die ist mit Rita einkaufen gegangen", antwortete ich und beobachtete dabei genüßlich, wie Rorys Gesicht immer länger wurde. „Die beiden sind ganz verrückt nach Klamotten. Manchmal stöbert sie stundenlang in einem einzigen Kaufhaus rum, ohne was zu kaufen. Ich finde Einkaufen ja absolut tödlich." „Das ändert sich vielleicht noch, wenn du erst erwachsen bist", sagte Rory gleichmütig, und noch ehe ich darauf etwas Passendes antworten konnte, hatte er sich schon ans Klavier gesetzt und klimperte mit einem Finger auf den Tasten herum. „Pssst!" zischte ich. „Du weckst meine Urgroßmutter auf." „Na und? Vielleicht freut sie sich ja darüber." Rory blätterte ein paar Notenhefte durch. Sind das die Sachen, die sie früher gesungen hat?" „Ja. Das Zeug ist reichlich antik. Ein paar Lieder stammen sogar noch aus den zwanziger Jahren." „Die Melodien sind aber nicht schlecht." Er suchte sich ein Lied aus und summte es leise.
Du singst nicht übel." Rory schüttelte den Kopf. „Ich hab leider keine schöne Stimme. Aber dafür bin ich sehr musikalisch." Komischerweise klang diese Bemerkung gar nicht hochmütig, Rory stellte einfach eine Tatsache fest. ,Willst du später mal was mit Musik machen, wenn du mit der Schule fertig bist?" „Ja, ich würde gern Klavier studieren." Rory sah mißmutig auf die Tastatur. „Aber mein Onkel ist dagegen. Er möchte, daß ich was mit mehr Zukunftsaussichten mache, zum Beispiel Computerwissenschaften." „Das finde ich aber nicht okay. Wenn dir soviel an der Musik liegt, kann er dich doch nicht dazu zwingen, was mit Computern zu machen. Das würde dir doch überhaupt keinen Spaß bringen." „Doch, das schon. Ich hab sogar sehr gern mit Computern zu tun." Rory lächelte mich an. „Aber das Klavier ist mir eben lieber." Daß Rorys Onkel so einfach über seine Zukunft bestimmte, fand ich reichlich komisch. „Was ist denn mit deinen Eltern?" fragte ich. „Haben die dazu gar. nichts zu sagen?" ,Meine Eltern sind tot. Sie sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Hast du das nicht gewußt?" „Nein." Ich fühlte mich plötzlich schrecklich. „Das tut mir echt leid, Rory." „Ach, das ist schon lang her, über fünf Jahre. Ich lebe seitdem bei meinem Onkel und meiner Tante hier in Compton. Sie sind echt nett zu mir, bloß. . ." Er verstummte plötzlich. „Bloß was?" „Wir haben halt wenig gemeinsam. Sie haben nicht mal ein Klavier im Haus. Mein Onkel ist der Bruder meines Vaters, und ich komme mehr nach meiner Mutter. Sie war auch sehr
musikalisch. Deshalb würde ich auch lieber bei meiner anderen Tante leben, der Schwester meiner Mutter." „Und warum geht das nicht?" ,Sie ist alleinstehend." Er seufzte. „Sie ist Musiklehrerin und lebt in Edinburgh." „In Schottland!" rief ich. „Da ziehen wir demnächst auch hin." Ich erzählte Rory, daß unsere Eltern gerade in Aberdeen waren, weil mein Vater einen neuen Job hatte und sie dort eine Wohnung für uns suchten. Rory guckte fast neidisch. Irgendwie tat er mir beinahe leid. Er mußte hier bei seiner schwergewichtigen Verwandtschaft leben, obwohl er doch viel lieber bei seiner musikalischen Tante gewohnt hätte. Vielleicht erklärte das, warum er bei der Party so ätzend gewesen war. „Du hattest gestern abend überhaupt keine Lust, auf die Party zu kommen, stimmt's?" fragte ich. „Ehrlich gesagt, nein." „Das kann ich dir nicht mal verdenken. Helen und ich waren auch nicht gerade begeistert von der Idee, aber uns war klar, daß Rita das Ganze nur unseretwegen veranstaltet hat. Sie hat Angst, daß wir uns langweilen. " „Ich finde deine Großmutter echt nett", sagte Rory. „Sie ist die einzige Freundin meiner Tante, die ich ertragen kann, und für Tante Monica ist sie fast eine Heilige." „Eine Heilige?" So lieb Rita auch war, das schien mir nun doch ein bißchen übertrieben. „Weil sie sich so rührend um ihre Mutter kümmert. Das ist sicher nicht leicht für sie." „Ja, das stimmt." Bei Rorys Bemerkung bekam ich das gleiche ungute Gefühl, das ich gehabt hatte, als Helen davon gesprochen hatte, daß Rita und Mr. Lockhart vielleicht heiraten wollten. Mir wurde klar, daß andere Leute offenbar ähnlich
dachten. Meine arme Urgroßmutter - sie konnte ja schließlich nichts dafür, daß sie so lange lebte. Als Rory wieder anfing, gedankenverloren auf dem Klavier herumzuklimpern, fauchte ich ihn an: „Hör auf damit! Ich hab dir doch gesagt, daß du meine Urgroßmutter aufweckst." Und tatsächlich hörte ich kurz darauf die kleine Klingel läuten, die Rita meiner Urgroßmutter für alle Fälle auf den Nachttisch gestellt hatte. „Ich hab's dir ja gleich gesagt! Jetzt muß ich gehen und fragen, was sie braucht." Meine Urgroßmutter hatte ihr Zimmer im Erdgeschoß, damit sie keine Treppen zu steigen brauchte. Als ich in ihr Zimmer kam, saß sie aufrecht im Bett. „Wer spielt denn da Klavier?" fragte sie. „Das hört sich nicht nach Rita an." „Es ist auch nicht Rita." In manchen Dingen ließ sich die alte Dame wirklich nichts vormachen. „Es ist Rory, der Junge, der auf der Party auch gespielt hat. Er will mit mir mein Lied einstudieren." „Welches Lied? Das, das du gestern abend gesungen hast?" „Ja, genau. Ich möchte damit bei einem Talentwettbewerb mitmachen, der demnächst auf der Strandpromenade stattfindet." Vorsichtshalber fügte ich hinzu: „Aber nur, wenn ich es richtig gut kann, sonst laß ich es lieber." »Ich möchte gern zuhören." Meine Urgroßmutter warf ihre Bettdecke zurück. „Komm, hilf mir mal auf." Glücklicherweise war sie schon angezogen. Ich half ihr nur noch in die Hausschuhe und legte dann meinen Arm um sie, um sie beim Gehen zu stützen. Sie war unheimlich dünn, und ich spürte ihr Gewicht kaum. Wir wackelten zusammen aus ihrem Zimmer und hinüber ins Wohnzimmer.
„Meine Urgroßmutter möchte uns gern beim Üben zuhören", erklärte ich Rory. „Sie hörte dich spielen und hat das Lied gleich erkannt." „Ich hab dir ja gleich gesagt, daß ihr das gefallen würde." Rory fing an, das Lied richtig zu spielen und legte sich schwer in die Tasten, während ich meiner Urgroßmutter in ihren Sessel half. ,,Nur zu, hau ruhig in die Tasten", ermunterte die alte Dame Rory lächelnd. „Die Leute auf den Rängen sollen doch auch was hören." „Wahrscheinlich glaubt sie, sie wäre im Theater", sagte ich, als ich schließlich hinüber zu Rory ging. „Manchmal ist sie ein bißchen durcheinander." „Ich bin ganz und gar nicht durcheinander", hörte ich Urgroßmutter plötzlich mit kräftiger Stimme sagen. „Ich wollte damit nur sagen, daß es wichtig ist, gehört zu werden, sonst wird das Publikum unruhig. Zu meiner Zeit gab es natürlich noch keine Mikrofone. Damals kam es auf die Lungen an." Rory grinste. „Abby hat kräftige Lungen." „Das weiß ich. Also los, dann laß mal was hören." Ich begann ziemlich halbherzig. Irgendwie machte mich die Tatsache nervös, daß meine Urgroßmutter wie eine Preisrichterin vor mir saß. Nach den ersten paar Takten ließ sie mich aufhören und von vorn anfangen. „So, und jetzt sing das Ganze mal ein bißchen lebhafter", sagte sie. „Und vergiß das Lächeln nicht." Ich versuchte es noch mal, und diesmal ging ich beim Singen herum. Das machte es einfacher, aber trotzdem fiel es mir längst nicht so leicht wie am Abend zuvor, als ich das Lied im Kostüm vorgeführt hatte. Anscheinend war die Verkleidung doch wichtiger, als ich gedacht hatte. „So ist es schon besser", lobte Urgroßmutter. „Du mußt immer darauf bedacht sein, deinen Zuhörern das Gefühl zu
geben, daß du nur für sie singst. Sowas liebt das Publikum. Mich haben sie früher, die freche Nell' genannt, weil ich meinen Auftritt immer mit einem Augenzwinkern beendet habe." Ich gab mir alle Mühe, nicht loszukichern, doch dann sah ich Rory an, und wir prusteten beide los. Aber es war nicht schlimm, denn meine Urgroßmutter lachte mit. Wir kringelten uns immer noch, als Rita und Helen zurückkamen. ,Du liebe Güte, was ist denn hier los?" fragte Rita. Ich erklärte es ihr, und danach wollten natürlich alle, daß ich meinen Auftritt wiederholte, diesmal mit einem Zwinkern, aber ich redete mich damit raus, daß ich noch nicht reif für einen Auftritt vor Publikum war. Rita sah ziemlich enttäuscht aus, aber meine Urgroßmutter gab mir recht. „Wir müssen noch mehr proben." Daß sie „wir" sagte, gefiel mir irgendwie. Es hörte sich an, als wären wir beide Profis mit hohen Qualitätsansprüchen. „Ihr könnt gern so oft proben, wie ihr möchtet", sagte Rita zu Rory und mir. „Es grenzt ja an ein Wunder, wie ihr Mutter zum Leben erweckt habt." Das fand ich allerdings auch. Es fiel richtig auf, daß Urgroßmutters Augen seit Ende unserer Probe schon wieder an Glanz verloren hatten und ihr Kopf müde zur Seite hing. Genauso auffallend war allerdings, daß Rory total von der Rolle war, seit Helen sich im Zimmer befand. Er saß auf dem Klavierhocker und starrte sie an, als hätte sie sich gerade in Superwoman verwandelt. Das machte mich echt wütend, denn bis zu diesem Moment hatten wir uns bestens verstanden, und er hatte mich fast dazu gebracht, ihn gernzuhaben. Jetzt begann sich das schlagartig wieder zu ändern.
„Helen und ich waren ausgesprochen erfolgreich auf unserem Einkaufsbummel", verkündete Rita. „Wollt ihr mal sehen, was wir gekauft haben?" „Ja, gern", sagte ich, weil ich nicht unhöflich sein wollte. „Ein Paar Schuhe für mich", sagte Rita und hielt uns einen offenen Schuhkarton entgegen. „Und ein Kleid für Helen. Nimm es doch mal aus der Tüte, Helen, und halt es dir an, damit sie es sich ansehen können." Das Kleid war aus einem seidigen blauen Stoff. Es hatte einen weiten, fließend geschnittenen Rock und einen hohen Kragen. Anscheinend schwammen Rita und Helen noch immer ein bißchen auf der nostalgischen Welle. „Sehr schön", sagte ich müde. Echt Wahnsinn", schwärmte Rory. Meine Urgroßmutter sagte gar nichts. Sie war wieder eingenickt. „Weißt du, was wunderbar zu dem Kleid passen würde, Helen?" rief Rita. „Die Brosche, die ich dir geliehen hab." Es wurde plötzlich mucksmäuschenstill. Helen wurde knallrot. Rory starrte auf die Tastatur, und ich betrachtete angestrengt meine Fingernägel. „Findet ihr nicht?" Ritas Stimme klang gekränkt. „Na, vielleicht habt ihr recht. Wahrscheinlich ist es ein bißchen zuviel." Ich atmete erleichtert auf. Helen drückte ihr Kleid an sich und sagte: „Ich bring es gleich mal nach oben und häng es auf." „Gute Idee." Rita lächelte Rory an. „Hättest du nicht Lust, zum Abendessen zu bleiben? Deine Tante hat sicher nichts dagegen." Rory war natürlich sofort Feuer und Flamme. Er verbrachte den gesamten Abend damit, Helen über den Tisch hinweg bewundernde Blicke zuzuwerfen. Es konnte einem fast den Appetit verderben. Allerdings nur fast, denn Ritas Filet
Wellington war einfach einsame Spitze. Sie war eine Superköchin. Mein Großvater und sie hatten über dreißig Jahre lang ein kleines Hotel geleitet, aber als mein Opa starb, hatte Rita es verkauft, weil sie es nicht allein weiterführen wollte. Jetzt bekochte sie nur noch Urgroßmutter und uns natürlich. Ich fragte mich, ob sie sich wohl insgeheim manchmal wünschte, auch für Mr. Lockhart kochen zu dürfen. Helen war während des Essens unheimlich schweigsam und verschwand danach gleich nach oben. Als sie gegangen war, erklärte Rory, er müsse nach Hause, und so brachte ich ihn zur Tür. Das mit der Brosche tut mir wirklich leid", sagte er im Gehen. „Ihr habt sie noch nicht gefunden, oder?" „Nein, bis jetzt noch nicht." „Und ihr glaubt immer noch, daß jemand sie nach der Party mitgenommen hat?" „Es ist immerhin möglich." „Warum fragst du dann nicht mal Graham Cooper? Dem würde ich gerade so weit trauen, wie ich ihn treten kann." Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Dann musterte ich Rory's mickrige Gestalt von oben bis unten. „Das möchte ich sehen!" „Ich bin stärker, als ich aussehe. Soll ich morgen nachmittag um dieselbe Zeit kommen?" „Wenn du möchtest", erwiderte ich schroff. „Okay. Also tschüs dann!" Ich warf die Tür hinter ihm ins Schloß. Dabei redete ich mir ein, daß es mir vollkommen schnurz war, ob er am nächsten Tag kommen würde oder nicht. Der Talentwettbewerb interessierte mich auch nicht mehr besonders, meine Aussichten zu gewinnen, schienen sowieso ziemlich trübe. Das einzige Gute daran war, daß Urgroßmutter soviel Interesse
dafür zeigte. Aber vielleicht lohnte es sich ja schon deshalb, doch mitzumachen. Am nächsten Morgen überraschte mich Helen damit, daß sie aus heiterem Himmel fragte: „Wollen wir heute reiten gehen?" Ich kroch unter meiner Decke hervor und sah sie benebelt an. „Mit Gray, meinst du?" „Natürlich mit Gray." Helen saß auf der Bettkante und bürstete sich das Haar. „Wen kennen wir denn sonst noch, der Pferde hat?" An Helens plötzlichen Sinneswandel konnte ich mich einfach nicht gewöhnen. Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden?" Sie zuckte die Achseln. „Immer noch besser, als gar nichts zu tun." Dagegen war nichts .einzuwenden. Das wollte ich auch gar nicht. Schließlich war mir nichts lieber, als Gray wiederzusehen. Ich krabbelte aus dem Bett und wühlte fieberhaft in meinem Schrank herum. „Was sollen wir denn anziehen? Am besten wahrscheinlich Jeans. Aber unsere Jacken sind bestimmt zu dick. Vielleicht lieber eine Bluse und einen dicken Pulli." Helen sagte nichts. Sie bürstete stumm weiter. Beim Frühstück erzählten wir Rita, was wir vorhatten, und sie erklärte uns den Weg zur Old Compton Lane. „Das ist eine ziemlich feine Gegend", sagte sie. „Aber wenn Grays Vater ein Wettbüro hat, kann er es sich wohl leisten, da zu wohnen." „Bestimmt", sagte ich zuversichtlich. „Ich kann es kaum erwarten, das Haus und den Stall zu sehen. Und du, Helen?" „Mmmmh", murmelte Helen geistesabwesend. Aber auf halbem Weg bekam sie plötzlich Fracksausen.
„Vielleicht hätten wir doch vorher anrufen sollen", sagte sie. „Was, wenn Gray gar nicht da ist? Oder wenn wir zu früh dran sind und überhaupt noch niemand auf ist?" „Es ist doch schon halb elf. Außerdem hat er uns ja für heute morgen eingeladen. Das hätte er bestimmt nicht getan, wenn er nicht da ist." „Nein, wahrscheinlich nicht." Helen klang noch immer unsicher. Rita behielt recht. Die Gegend war wirklich ziemlich vornehm. Überall standen Häuser in gepflegten Gärten. Obwohl die Häuser ziemlich neu wirkten, waren sie im Tudorstil gebaut, mit vielen Giebeln und Holzbalken. Selbst die Garagen sahen irgendwie historisch aus. „Total kitschig", murmelte Helen mißbilligend. „Aber sehr eindrucksvoll", wandte ich ein. Grebe House lag am Ende der Straße hinter einem großen schmiedeeisernen Tor, das laut quietschte, als wir es öffneten. Wir gingen über die Einfahrt bis zur Tür und klingelten. Wir mußten lange warten, ehe Gray zur Tür kam und aufmachte. Er hatte einen gestreiften Seidenpyjama an. „Ach du Schande, wir sind doch zu früh dran. Helen hat schon sowas geahnt." „Nein, es ist nicht zu früh", sagte Gray. „Ich bin schon seit Stunden auf. Ich hatte bloß keine Lust, mich anzuziehen. Kommt doch rein und unterhaltet euch ein bißchen mit meiner Mutter. Ich geh solange nach oben und zieh mir schnell was an." Gray führte uns in einen großen Raum mit weißem Teppichboden und dicken Samtvorhängen. Eine Frau im Bademantel lag auf dem Sofa und drückte sich Wattepads auf die Augen. Als Gray uns vorstellte, winkte sie uns schwach zu und sagte leise: „Ich kann leider nicht aufstehen. Ich hab heute morgen schreckliche Kopfschmerzen, und das Licht tut meinen Augen weh."
Helen und ich versicherten höflich, das würde uns nichts ausmachen. Als Gray verschwunden war, hockten wir uns jeder auf eine Stuhlkante und sahen uns Mrs. Cooper an. Irgendwie schien sie mir ganz und gar nicht der Typ Frau zu sein, der für eine Wohltätigkeitsveranstaltung strickte. „Schade, daß ich euch nicht sehen kann", sagte Mrs. Cooper plötzlich. „Gray hat mir erzählt, daß ihr sehr hübsch seid. Stimmt das?" „Helen schon", sagte ich. „Ich seh ganz normal aus." „Du mußt Abby sein." „Ja, stimmt." ,Und ihr wohnt bei eurer Großmutter am Strand?" So, wie sie das sagte, klang es, als würden wir im Sand kampieren. „Ja." Ich schnitt Helen eine Grimasse. Sie sah sich gerade um und blickte dabei so verächtlich, als hätte Gray mal wieder ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllt. „Schade, daß ich euch nicht sehen kann", sagte Mrs. Cooper noch einmal. Ich an ihrer Stelle hätte ruhig mal die Augenpads gehoben, um einen Blick auf uns zu riskieren. Als Gray in Jeans und Sweatshirt zurückkam, sprangen Helen und ich beide eilig auf. Wir verabschiedeten uns von Mrs. Cooper und folgten Gray dann nach draußen. „Ihr braucht noch Reitkappen", sagte er. „In der Garage müßten noch ein paar von meinen Schwestern sein." Die „Pferdekoppel" war nichtganz das, was ich mirvorgestellt hatte. Es war keine satte grüne Wiese, sondern ein Stück stoppeliges Feld. Zwei der Ponys kamen uns entgegen, ein braunes und ein schwarzes. Gray legte beiden Zaumzeug um. Das dritte Pony, hellbraun und mit langer Mahne, blieb am anderen Ende der Koppel stehen und scharrte mit den Hufen.
„Das ist Cobber", sagte Gray. „Auf ihm reitet es sich am besten, auch wenn er manchmal ganz schön heimtückisch sein kann." „Denk bitte dran, daß wir noch nie geritten sind", meinte Helen ängstlich. „Du läßt uns doch wohl nicht über Gräben springen oder sowas?" „Keine Angst." Gray lächelte ihr zu. „Für den Anfang werde ich euch gar nicht von der Koppel lassen, jedenfalls nicht in der ersten Stunde. Du nimmst am besten Duchess, Helen, sie ist ein ganz sanftes Tier." Gray drehte sich zu mir herum. „Hol mir doch mal bitte den Sattel, Abby. Den linken, der da am Tor hängt." Mann, war das Ding schwer! Ich schleppte den Sattel rüber zu Gray. „Danke. Mit Blacky wirst du bestimmt zurechtkommen, Abby. Versuch doch gleich mal, ihm den anderen Sattel aufzulegen." Blacky war zwar klein, machte aber einen ziemlich munteren Eindruck. Als ich mit dem Sattel auf ihn zukam, rollte er mit den Augen und wollte mir ausweichen. Pack ihn am Zaumzeug", rief Gray mir zu. Zum erstenmal bedauerte ich es, daß die Natur einen nicht mit drei Armen ausstattete. Einen Extraarm hätte ich in diesem Augenblick echt gebrauchen können. Aber schließlich gelang es mir irgendwie, Blacky den Sattel überzuwerfen. Dann bückte ich mich, um den Sattelgurt unter seinem Bauch festzuzurren. „Achte darauf, daß der Sattelgurt auch wirklich fest sitzt", ermahnte mich Gray. Ich zog den Gurt so straff wie ich konnte und machte ihn dann fest. „Geschafft!" verkündete ich triumphierend. „Gut gemacht. Jetzt steig mit einem Fuß in den Steigbügel und sitz auf."
Nachdem ich fünf Minuten lang mit einem Fuß im Steigbügel und dem anderen auf dem Boden herumgehüpft war, gab ich es schließlich auf und führte Blacky hinüber zum Tor. Er stand ganz friedlich da, als ich auf seinen Rücken kletterte, aber sobald er mich im Sattel spürte, wurde er unruhig. „Nimm die Zügel in die Hand und laß ihn durch die Koppel gehen." Helen schien das bessere Los erwischt zu haben. Duchess war ein niedliches Pony mit sanftmütigen braunen Augen und blieb geduldig stehen, während Gray sie sattelte. Dannach half er Helen in den Sattel und führte das Pony langsam herum. Dabei gab er Helen immer wieder mal eine hilfreiche Anweisung, wie zum Beispiel: „Drück sie ein bißchen mit den Knien. So ist es gut. Und halt die Hände schön tief. Sehr gut. Das machst du super." Für mich hatte er kein aufmunterndes Wort übrig. Ich mußte mir das Reiten wohl oder übel selbst beibringen. Ich folgte den beiden über die Koppel und machte einfach alles nach, was Gray Helen sagte. „Und beim Trab geh hoch im Sattel. Bei jedem zweiten Schritt. Rauf, runter, rauf, runter - spitze, Helen. Das machst du echt gut!" Aber ich machte meine Sache auch nicht schlecht. Inzwischen brachte es mir direkt Spaß. Nach einer Weile wurde es mir zu langweilig, Helen und Gray hinterherzureiten, und so ritt ich in die entgegengesetzte Richtung davon. Dann trat ich Blacky leicht in die Seite, um ihn ein bißchen anzutreiben. Er ging in einen leichten Galopp über, den ich einfacher fand als den Trab, und Cobber, der uns bis dahin gar nicht beachtet hatte, fing an, neben uns herzulaufen. Blacky beschloß plötzlich, aus der Sache ein Wettrennen zu machen und legte einen Zahn zu, so daß ich mich richtig an ihm festklammern
mußte. Schließlich ging er total mit mir durch, und im nächsten Augenblick glitt mein linker Fuß aus dem Steigbügel, und die Zügel rutschten mir durch die Finger. Zu allem Überfluß tauchte vor uns plötzlich ein Zaun auf. Im ersten Augenblick dachte ich schon, Blacky wollte ihn überspringen, aber dann überlegte er sich es wohl anders und blieb unvermittelt stehen, so daß ich kopfüber auf den Boden segelte. „Ist dir was passiert, Abby?" Gray, der Duchess immer noch am Zügel führte, stand plötzlich neben mir. Helen war kalkweiß im Gesicht. „Nein, alles okay." Ich rappelte mich vorsichtig auf und klopfte mir das Gras von der Jeans. „Gut, daß du den Reithelm aufgehabt hast." Gray lächelte mich sichtlich erleichtert an. „Und dabei hast du bis jetzt alles ganz toll gemacht. Ich würde sagen, du bist ein Naturtalent." „Echt?" Nachdem ich erfreut festgestellt hatte, daß meine Knochen noch heil waren, tat es mir gut, mich in seiner Bewunderung zu sonnen. „Aber jetzt mußt du gleich wieder in den Sattel steigen. Das ist eine Grundregel beim Reiten. Nach einem Sturz muß man sofort wieder aufs Pferd. Warte, ich helf dir rauf." Gray schob seine Hand unter meinen Fuß und hievte mich zurück auf Blackys Rücken. „An deiner Stelle würde ich mich aber den Rest der Stunde auf Schritt beschränken. So, Helen, wollen wir jetzt noch mal Trab versuchen?" Ich fand es komisch, daß Gray Helen so viel Zeit widmete, obwohl er doch gemerkt haben mußte, daß sie ihn nicht besonders mochte. Vielleicht war er aber auch einfach nur der Meinung, daß sie mehr Hilfe brauchte als ich, da ich ja schließlich ein Naturtalent war. Mißtrauisch wie ich war, entging mir allerdings auch nicht, daß Helen sich reichlich komisch benahm.
Obwohl sie Gray nicht leiden konnte, tat sie brav alles, was er ihr sagte und tat, als wäre sie ein bißchen schwer von Begriff, obwohl sie sonst genauso schnell lernte wie ich. Ich nahm ihr auch nicht ab, daß sie wirklich so nervös war, wie sie tat. Ich verstand die Welt nicht mehr. Kurze Zeit später meinte Gray, wir hätten für die erste Stunde genug gelernt. Wir sattelten ab und räumten die Sättel und das Zaumzeug wieder zurück in die Garage. „Das war super", sagte ich. „Mir hat es unheimlichen Spaß gemacht, auch wenn ich runtergefallen bin." „Gut. Heißt das, daß ihr morgen wiederkommt?" „Morgen nicht", antwortete Helen. „Da haben wir schon was vor." Ich starrte sie erstaunt an. „Aber nur am Nachmittag", sagte ich, weil ich dachte, sie meinte meine Probe mit Rory. „Wir können doch morgens kommen." „Nein, das geht nicht." Helen warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Da geh ich mit Rita einkaufen." „Schon wieder?" Helen antwortete nicht, sondern ging davon. „Und wie ist es mit übermorgen?" rief Gray ihr hinterher. „Da können wir", sagte ich schnell. „So um dieselbe Zeit?" „Ja." Gray legte den Arm um meine Schultern. „Du hast dich heute echt gut gehalten, Abby. Ich glaub, daß du das nächste Mal schon die Koppel verlassen und richtig ausreiten kannst." Nach dieser Bemerkung schwebte ich während des ganzen Heimwegs ungefähr einen halben Meter über dem Boden. Auf halbem Weg nach Hause hatte ich Helen eingeholt. „Was ist denn mit dir los?" fuhr ich sie an. „Wieso wolltest du morgen nicht kommen?" „Ich wollte eben nicht." „Ich dachte, es hätte dir gefallen?"
„Na ja, es war ganz nett." „Dann muß es etwas mit Gray zu tun haben. Hat er dich irgendwie schwach angeredet, als er dich auf dem Pferd herumführte?" Sie beantwortete meine Frage nicht direkt, sondern sagte: „Er ist so furchtbar eingebildet, Abby. Wahrscheinlich hält er sich für den Größten und glaubt, daß wir uns darum reißen, mit ihm wegzugehen. In dem Glauben will ich ihn nicht auch noch bestärken." „Du willst also nicht, daß er glaubt, du wärst in ihn verknallt?" fragte ich. Helen antwortete nicht, sondern ging einfach nur schneller. Ich lief ihr hinterher. „Jetzt mal ehrlich, Helen, du machst dir echt viel zuviel Gedanken. Warum soll er uns denn nicht das Reiten beibringen? Schließlich sind wir doch sowieso nur drei Wochen hier. Und wie Gray selbst gesagt hat, verpflichten wir uns damit ja nicht zu einer lebenslangen Freundschaft." „Als du in dein Beichtheft geschrieben hast, daß du ihn heiraten willst, hast du das aber sicher nicht gedacht", fauchte Helen mich an. Sie hatte also doch gewußt, wen ich gemeint hatte. „Das war ja bloß ein Witz", antwortete ich, obwohl ich puterrot geworden war. „Nimm doch nicht immer gleich alles so ernst." Helen seufzte. „Das kannst du einfach nicht verstehen, Abby. Du bist noch so jung." Diese Bemerkung fand ich so ätzend, daß ich eine geschlagene Stunde lang kein Wort mehr mit Helen redete.
5. KAPITEL Am Nachmittag probten Urgroßmutter, Rory und ich wieder zusammen, und danach blieb Rory ohne besondere Einladung zum Abendessen. Beim Essen sagte er plötzlich: „Heute abend läuft ein guter Horrorfilm im Kino. Es geht um einen Typen, der eines Tages plötzlich in seinem Keller ein Unkraut entdeckt, das alles überwuchert, und irgendwann wächst es einfach über ihn drüber. Wollen wir uns den nicht anschauen?" Bei dieser Frage sah er Helen an. „Okay, wir kommen mit", antwortete Helen. „Das geht nicht", sagte ich. „Heute abend geht Rita doch tanzen. Wir haben ihr versprochen, hierzubleiben und uns um Urgroßmutter zu kümmern." „Macht euch deshalb keine Sorgen." Rita kam gerade mit dem Nachtisch herein. „Ich kann doch Cynthia herüberbitten. Das mache ich sonst ja auch." Ich sah hinüber zu Rory. Er hielt förmlich die Luft an und sah aus wie ein kleiner Junge, der gespannt darauf wartete, daß jemand ihm eine Belohnung gab. „Nicht nötig", sagte ich. „Ich bleibe hier bei Urgroßmutter, und Helen kann mit Rory ins Kino gehen." Rory sah Helen hoffnungsvoll an. „Also, wenn es Abby nichts ausmacht. . ." sagte sie. „Natürlich macht es mir nichts aus", antwortete ich schroff. „Ich steh sowieso nicht auf Horrorfilme." Nach dem Essen ging ich ins Wohnzimmer, um Urgroßmutter Gesellschaft zu leisten, die vor dem Fernseher ein Nickerchen machte. Es kamen gerade Nachrichten, und Bilder von einem blutigen Aufstand flimmerten über die Mattscheibe, aber davon ließ meine Urgroßmutter sich in ihrem
Schlaf nicht stören. Kurz darauf machten sich Helen und Rory auf den Weg ins Kino. Als ich die Tür ins Schloß fallen hörte, war ich irgendwie total deprimiert. Dabei war es meine eigene Schuld. Schließlich hätte ich ja mitgehen können, wenn ich gewollt hätte. Aber irgendwie war ich es leid, immer das fünfte Rad am Wagen zu sein, während meine Schwester von Verehrern umschwirrt wurde. Es war schon schlimm genug gewesen, morgens hinter Gray und ihr herzutrotten. Ich hatte beschlossen, den ungleichen Kampf aufzugeben. Wenn Rory wirklich so vernarrt in Helen war, dann konnte er sie von mir aus jetzt endgültig ganz für sich allein haben. Eine halbe Stunde später holte Mr. Lockhart Rita ab. „Und es macht dir wirklich nichts aus hierzubleiben?" fragte Rita, bevor sie ging. Sie gingen an diesem Abend nur zu einer Übungsparty, und so trug Rita nicht ihr tolles Pailettenkostüm, sondern nur einen schwarzen Bodystocking mit einem weiten Baumwollrock darüber. Ich fand, daß sie für ihre dreiundsechzig Jahre einfach super aussah, und fragte mich, ob Mr. Lockhart wohl derselben Ansicht war. „Nein, das macht mir gar nichts", versicherte ich ihr. „Wenn du Hilfe brauchst, dann ruf Cynthia rüber. Sie ist manchmal zwar ein bißchen beschränkt, aber im Notfall kann sie eine echte Stütze sein." Als die beiden gegangen waren, sah ich nervös zu Urgroßmutter hinüber. Dabei fragte ich mich, wie Rita das mit dem Notfall wohl gemeint hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich meiner Urgroßmutter bei einem Herzanfall helfen konnte, und zu Cynthia hatte ich nicht viel Zutrauen. Die würde wahrscheinlich erst die Karten legen, ehe sie was unternahm.
Ich suchte mir vorsichtshalber die Telefonnummern von Ritas Arzt aus dem Telefonbuch heraus und schrieb sie auf einen Block, ehe ich mir mein Buch von oben holte. Es war ein ziemlich heißer Liebesroman, den ich in Ritas Gegenwart nie gelesen hätte, aber ich dachte mir, daß meine Urgroßmutter es bestimmt nicht mitkriegen würde. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, saß sie aufrecht im Sessel und hatte den Fernseher ausgeschaltet. „Die Nachrichten sind zu Ende", sagte sie. „Jetzt kommt wieder diese fürchterliche Popsendung. Die kann ich nicht ausstehen. Lauter Leute, die nur ins Mikrofon schreien. Zu meiner Zeit hätte es sowas nicht gegeben." Ich merkte, daß sie in Plauderstimmung war, und so schob ich mein Buch in die Sesselritze und hockte mich neben ihr auf den Boden. „Erzähl doch mal, Grannie. Wie alt warst du denn, als du zum Theater gegangen bist?" „Siebzehn. Das heißt, mit siebzehn bin ich Profi geworden. Vor Publikum gesungen hab ich schon mit zwölf." „Waren deine Eltern denn damit einverstanden?" fragte ich. Ich konnte mir vorstellen, daß es damals für ein siebzehnjähriges Mädchen nicht gerade üblich war, zum Theater zu gehen. „Am Anfang nicht. Aber damals herrschte noch Krieg, da war natürlich einiges anders. Alle Bestimmungen und Regeln wurden plötzlich über Bord geworfen. Der Krieg war übrigens der Grund, warum ich zum Theater gegangen bin. Ich wollte für die Soldaten singen." „Und, hast du das gemacht?" „Ja. Allerdings hab ich mein richtiges Alter verschwiegen. Ich hab mich einer Konzerttruppe angeschlossen, die auf dem Weg nach Frankreich war. Damals hab ich ‚Mademoiselle d'Armentieres' gesungen, kennst du das?"
„Nein", antwortete ich fasziniert. „Kannst du es mir nicht mal vorsingen?" Obwohl die Stimme meiner Urgroßmutter mit dem Alter etwas dünn und zittrig geworden war, konnte man noch hören, daß sie mal eine gute Sängerin gewesen sein mußte. Als das Lied zu Ende war, meinte sie mit einem Seufzen: „Komisch, nicht? So ein albernes Lied kann ich mir merken, aber manchmal weiß ich meinen eigenen Namen nicht mehr." Eleanor Sweet", erinnerte ich sie. „Wenigstens hast du damals so geheißen." „Das stimmt. Nelly Sweet. ,Die süße Nell' haben sie immer auf meine Plakate geschrieben." Am Tag zuvor war es noch „die freche Nell" gewesen, aber ich wollte ihr nicht widersprechen. „Da mußt du ja ganz schön mutig gewesen sein", sagte ich. „Hast du denn auch was von den Kämpfen mitgekriegt?" „Nein, aber ich habe einige der Verwundeten gesehen. Es war schrecklich. Sie hatten furchtbare Verletzungen. Das hat mich immer an Billy erinnert." Ich hätte mich dafür ohrfeigen können, daß ich das Thema überhaupt angeschnitten hatte. Aber jetzt war es zu spät. Ich konnte ihren Augen ansehen, daß sie mit ihren Gedanken schon wieder in der Vergangenheit war. „Ich wollte dorthin, wo er gestorben ist“, fuhr sie fort. „Das war der wahre Grund dafür, daß ich nach Frankreich gegangen bin. Nicht nur, um für die Soldaten zu singen. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort vor sich ging." Die alte Dame verzog plötzlich schmerzvoll das Gesicht. „Die Hölle auf Erden hatte er es genannt. Die Hölle auf Erden!" Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich dachte an all die Bilder vom ersten Weltkrieg, die ich bis dahin gesehen hatte. Ich wußte, daß damals acht Millionen Menschen
umgekommen und zwanzig Millionen verletzt worden waren. Auf einmal kam es mir fast vor, als wäre ich zusammen mit Nelly Sweet dort gewesen und hätte es mit eigenen Augen gesehen. Ich griff nach ihrer Hand. „Bitte versuch, nicht mehr dran zu denken." „Rita sagt auch immer, ich soll es vergessen", antwortete Urgroßmutter unwillig. „Wo steckt sie überhaupt?" „Sie ist ausgegangen. Es ist ihr Tanzabend." „Dummes Kind. Immer diese Tanzerei." Als Urgroßmutter Rita ein dummes Kind nannte, mußte ich unwillkürlich lächeln. Aber dann sah sie mich auf einmal ganz komisch an, fast, als hätte sie Angst vor mir. „Wer bist du?" fragte sie. „Abby", sagte ich, und als die alte Dame noch immer verständnislos dreinblickte, fügte ich beruhigend hinzu: „Deine Urenkelin. Wir sind für die Osterferien zu Besuch bei euch." Ich stellte erleichtert fest, daß sich Urgroßmutters Miene erhellte. „Ja, natürlich. Wo hab ich denn bloß meine Gedanken? Du liebe Güte, allmählich verkalke ich wirklich. Es wird höchste Zeit, daß ich gehe." „Aber du mußt doch nirgendwo hingehen", sagte ich verwirrt. „Du bist doch hierzu Hause." „So hab ich das auch nicht gemeint." Urgroßmuter lächelte mich amüsiert an. „Ich meine damit, daß es höchste Zeit wird, daß ich ganz verschwinde. Achtundachtzig ist einfach zu alt. Ich hätte nie erwartet, daß ich so lange lebe." Sie seufzte. „Die arme Rita wohl auch nicht." „Aber Rita freut sich doch darüber", sagte ich hastig. „Sie wäre sehr traurig, wenn du nicht mehr da wärst." „Glaubst du? Ich hab da so meine Zweifel." Meine Urgroßmutter schaltete den Fernseher per Fernbedienung ein.
„Laß uns doch mal nachsehen, ob inzwischen etwas Vernünftiges läuft." Da immer noch die Popsendung über den Bildschirm flimmerte, probierte sie alle Programme durch, bis sie schließlich eine Quizsendung gefunden hatte. „Na also. Da kann ich wenigstens meinen Verstand ein bißchen trainieren." Zwei Minuten später schlief sie schon wieder. Ich machte es mir mit meinem Schmöker im Sessel gemütlich, aber irgendwie konnte ich mich nicht konzentrieren. Die Liebe machte es einem wirklich nicht leicht. Rita konnte ihren Mr. Lockhart nicht heiraten, und Rory schwärmte von seinem Kinoplatz aus Helen an. Und das mit Gray Cooper und mir war wohl auch ein hoffnungsloser Fall. Rita kam als erste zurück. Sie lud Mr. Lockhart auf eine Tasse heißen Kakao ein und bat ihn, sich mit mir zu unterhalten, während sie die Urgroßmutter ins Bett brachte. Mr. Lockhart wirkte ein bißchen verlegen, wie er so mit seiner Tasse Kakao im Sessel saß. Mir fiel auf, daß er unheimlich große Hände hatte und nicht zu wissen schien, was er damit anfangen sollte. Wir redeten über das Wetter, seine Eisenwarenhandlung und unseren Umzug nach Schottland, aber über keines dieser Themen besonders lange. Dabei versuchte ich mir die ganze Zeit vorzustellen, wie es wäre, wenn Mr. Lockhart und Rita verheiratet wären. Als Tanzpartner paßte er ja ganz gut zu ihr, aber als Ehemann? Verglichen mit unserem Großvater, der ein unheimlich lebhafter, eleganter und witziger Mann gewesen war, erschien mir Mr. Lockhart reichlich fad, und ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, daß Rita sich mit ihm als Nachfolger für meinen Großvater begnügen würde.
Vielleicht ahnte Mr. Lockhart, was ich dachte, denn er schien echt erleichtert zu sein, als Rita schließlich zurückkam. Ich war allerdings mindestens genauso erleichtert und verdrückte mich ins Bett. Ich hatte es so eilig, aus dem Zimmer zu kommen, daß ich mein Buch liegenließ und zurückgehen mußte, um es zu holen. „Ach, dein Buch ist das?" fragte Rita und sah mich dabei ganz komisch an. „Ich dachte, es wäre Helens." Ich murmelte etwas davon, daß Helen nichts für Romane übrig hatte, klemmte mir das Buch unter den Arm und machte, daß ich rauskam. Wahrscheinlich hatte Rita gehofft, das Buch gehörte Helen, weil sie älter war als ich und Ritas Meinung nach aufgeklärter. Aber da täuschte sie sich. Ich war von Natur aus neugierig und hatte schon immer gern gelesen, daher wußte ich über alles Bescheid - wenn auch nur in der Theorie. Es war schon nach elf, als Helen nach Hause kam. Ich saß im Bett und las, aber als sie ins Zimmer kam, legte ich mein Buch aus der Hand und fragte: „Na, wie war's?" „Furchtbar." „Wieso denn? Hat er sich an dich rangemacht?" „Ich meinte doch den Film, du Dussel." Helen zog ihr Kleid aus und hängte es auf einen Bügel. Wie immer tat sie alles langsam und mechanisch, aber an diesem Abend nervte mich ihre Art irgendwie. Dieses eine Mal hätte ich gern eine klare Antwort auf meine Frage gehabt. „Also, hat er sich nun an dich rangemacht oder nicht?" „Ja, irgendwie schon." „Und, was hast du gemacht?" „Ich hab ihm gesagt, er soll sich nicht aufführen wie ein dummer kleiner Junge." „Da war er bestimmt total begeistert."
„Nein, so würde ich das nicht nennen." Helen zog sich ihr Nachthemd über den Kopf und blieb einen Moment lang unsichtbar. „Er schmollte während des ganzen restlichen Abends und sprach kein Wort mehr mit mir." Ich konnte mir richtig gut vorstellen, wie Rory schmollte. „Daran warst du aber nicht ganz unschuldig", sagte ich. „Du hättest ihn nicht ermutigen sollen." „Das hab ich nicht." „Doch, hast du. Du warst so unheimlich nett zu ihm, daß er das wahrscheinlich mißverstanden hat." „Das wollte ich aber nicht." Helen begann damit, sich energisch das Haar zu bürsten. „Also echt, manchmal sind Jungen sowas von behämmert." „Schade, daß wir keinen Bruder haben, dann hätten wir bei Jungen vielleicht den besseren Durchblick." „Durchblicken tu ich schon", sagte Helen lässig. „Sogar bei Gray Cooper?" „Besonders bei dem." Sie warf ihre Bürste aufs Bett und schnappte sich ein Handtuch. „Ich geh mich jetzt waschen." Als sie aus dem Zimmer gegangen war, packte ich mein Buch weg, schlüpfte unter die Bettdecke und dachte darüber nach, wie blöd es für Rory gewesen sein mußte, als Helen ihn einen dummen kleinen Jungen genannt hatte. Das stimmte auch gar nicht. Er nervte zwar manchmal ein bißchen, aber er war weder dumm noch besonders klein. Ich fand ihn für sein Alter sogar ausgesprochen erwachsen. Das lag wahrscheinlich daran, daß er früh zum Waisenkind geworden war und schon deshalb selbständig werden mußte. Als Vormund mochten sein Onkel und seine Tante ja okay sein, aber ein Ersatz für seine richtigen Eltern waren sie nicht gerade. Ich stellte mir vor, wie schreck lich es wäre, wenn Mom und Dad oben in Schottland etwas passierte und Helen und ich allein zurückblieben. Die Vorstellung allein er schreckte mich dermaßen, daß ich einen
fürchterlichen Alptraum hatte, als ich endlich eingeschlafen war. Am nächsten Morgen kam zu meiner großen Erleichterung ein Brief aus Schottland. „Wir haben ein Haus gefunden, das wir für sehr geeignet halten", schrieb meine Mutter. „Es ist eine alte Pfarrei mit zwei Dachzimmern, die euch bestimmt gefallen werden. Der Preis ist noch etwas hoch, aber euer Vater wird versuchen, den Verkäufer herunterzuhandeln." „Eine alte Pfarrei?" sagte ich. „Ist ja toll! Das klingt nach vielen Zimmern." „Und vielen zugigen Ecken", stöhnte Helen. „Wahrscheinlich frieren wir uns da im Winter einen ab." Manchmal konnte sie einem echt auf den Senkel gehen. Nach dem, was Helen zu Rory gesagt hatte, rechnete ich nicht ernsthaft damit, daß er am Nachmittag zur Probe kommen würde. Ich war deshalb ziemlich überrascht, als es nachmittags an der Haustür klingelte und Rita kurz darauf rief: „Abby, Rory ist da! Ich hab ihn ins Wohnzimmer gebracht. Wir werden euch auch nicht stören." „Urgroßmutter brauchen wir aber", rief ich von oben. „Die muß uns doch helfen." „Keine Sorge. Sie wartet schon seit dem Mittagessen darauf, daß es endlich losgeht. Ich konnte sie nicht einmal dazu bewegen, ihren Mittagsschlaf zu halten." Ein paar Minuten später rief Rita: „Abby, wo bleibst du denn?" „Ich zieh mir nur schnell mein Kostüm an." „Ach so. Das ist ja sehr professionell." Als ich meine Schürze und meine schwarzen Strümpfe angezogen hatte, ging ich nach unten ins Wohnzimmer. Meine Urgroßmutter saß topfit in ihrem Sessel, und Rory klimperte auf dem Klavier herum. Ich musterte ihn durchdringend,
konnte an ihm aber keine äußeren Zeichen von Liebeskummer entdecken. Wenn Helen hereingekommen wäre, wäre das wahrscheinlich anders gewesen, aber sie war allein irgendwo hingegangen, wahrscheinlich, um Rory nicht zu begegnen. „Hallo", sagte Rory und musterte mich dabei von oben bis unten. „Willst du das etwa anziehen?" „Ja. Gefällt es dir nicht?" Begeistert schien er nicht gerade. „Na ja, es geht." „Ich finde, daß es irgendwie zu dem Lied paßt." Ich raffte die Schürze und sang die ersten paar Takte von „Pretty Baby". „Neulich abend habt ihr alle darüber gelacht." „Ja, ich weiß. Aber in dem Aufzug siehst du irgendwie wie ein altkluges Kind aus. Ich fände es besser, wenn du das Lied einfach in ganz normalen Sachen singst." „Das finde ich auch", pflichtete meine Urgroßmutter ihm bei. „Aber ich brauche unbedingt ein Kostüm", sagte ich voller Panik. „Ich kann sowas doch nicht in einem ganz normalen Kleid singen." „Ich hab früher immer Rosa getragen", erzählte meine Urgroßmutter. „Ich hatte ein rosa Kleid mit Biesen und einen rosa Schirm dazu. Das Publikum hat damals Blumen auf die Bühne geworfen." Ich konnte mir echt nicht vorstellen, daß jemand nach meinem Auftritt Blumen auf die Bühne werfen würde. Wahrscheinlich eher Kohlköpfe oder überreife Tomaten. Ich mußte allerdings zugeben, daß mir die Vorstellung, ein echtes Kostüm aus der damaligen Zeit anzuziehen, unheimlich gut gefiel. Die Schürze war ja nicht übel, aber die schwarzen Strümpfe kratzten fürchterlich. „Aber wo soll ich denn ein anderes Kostüm herkriegen?" fragte ich. „Helens langen Rock kann ich nicht anziehen, da würde ich ja dauernd auf den Saum treten."
„Rita wird schon was für dich finden", sagte Urgroßmutter. „Aber jetzt laß uns endlich richtig anfangen." Nach der Probe blieb Rory wieder zum Essen, aber wenn er gehofft hatte, Helen zu sehen zu kriegen, hatte er Pech, denn sie kam nicht zum Essen. Rita war deswegen ganz unruhig. „Hoffentlich ist ihr nichts passiert", sagte sie mindestens dreimal. „Wahrscheinlich sitzt sie irgendwo auf einer Parkbank und träumt vor sich hin", beruhigte ich sie. „Du weißt doch, wie sie ist." Insgeheim mußte ich Rita jedoch recht geben. Es war wirklich komisch, daß Helen so lange wegblieb. Draußen war es eigentlich nicht warm genug, um lange auf einer Parkbank herumzusitzen, und so verträumt Helen auch manchmal war, zu den Mahlzeiten kam sie für gewöhnlich immer pünktlich. Rory war schon weg, als sie dann endlich kam. Irgendwie sah sie aus, als wäre sie sehr zufrieden mit sich selbst. Als Rita sie fragte, wo sie so lange gesteckt hatte, sagte sie nur: „Ich hab jemanden getroffen." „Wen denn?" fragte ich neugierig. „Gray Cooper. Er hat mich zu sich nach Hause eingeladen." „Na, dann ist ja gut", meinte Rita erleichtert. „Aber das nächste Mal ruf mich bitte an und sag mir Bescheid. Ich war vor lauter Sorge schon kurz vor einem Nervenzusammenbruch." „Tut mir leid", sagte Helen kläglich. Ich verkniff mir mühsam jeden Kommentar, bis wir schließlich wieder allein auf unserem Zimmer waren. Dann sagte ich Helen erst mal richtig die Meinung. „Du bist ja wohl die allerletzte Heuchlerin! Erst tust du so, als könntest du Gray nicht leiden, und dann nutzt du die erstbeste Gelegenheit, um ihn heimlich allein zu Hause zu besuchen. Wie kannst du nur so fies sein!"
„Ich hatte meine Gründe." „Und die wären?" „Ich wollte ihn nach der Brosche fragen." „Aber das haben wir doch schon neulich im Sportzentrum getan." „Ja, ich weiß. Aber ich wollte ihn trotzdem noch mal fragen." Helen wandte den Kopf ab und sah zum Fenster hinaus. „Und jetzt glaubst du ihm?" „Ich denk schon." „Ganz sicher scheinst du dir aber immer noch nicht zu sein." Helen lehnte sich gegen den Fenstersims und seufzte schwer. „Bei wem kann man schon sicher sein? Aber ich möchte ihm wirklich gern glauben." Ich sah sie erstaunt an. „Wieso sagst du das? Magst du ihn vielleicht doch?" ,Kann schon sein." Ich wurde plötzlich mißtrauisch. „Was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht?" fragte ich. „Hat er dir noch eine Reitstunde gegeben?" Helen schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben Kassetten gehört." „War seine Mutter auch da?" „Nein, die war nicht zu Hause?" „Dann wart ihr also allein im Haus?" „Die meiste Zeit schon. Mr. Cooper ist so gegen fünf Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen." Die beiden waren also stundenlang allein miteinander gewesen. „Hat er dich geküßt?" „Mr. Cooper?" „Quatsch, Gray natürlich." „Ach so." Helen ging vom Fenster hinüber zur Kommode und nahm sich ihre Bürste. „Keine Sorge, Abby. Ich hab nicht die Absicht, mich in Gray zu verknallen. Wenn du ihn wirklich willst, kannst du ihn gern haben.
Wenn es nur so einfach wäre, dachte ich voller Frust. Außerdem hatte Helen meine Frage nicht beantwortet, und das hieß für mich, daß Gray sie tatsächlich geküßt hatte, sie aber nicht darüber reden wollte. Ich hatte das Gefühl, daß Helen und mich in diesem Augenblick Welten trennten, und nicht nur zwei läppische Jahre. „Übrigens will er uns morgen vormittag wieder eine Reitstunde geben", sagte Helen plötzlich. „Ich hab gesagt, daß wir kommen. Ich dachte mir, daß du bestimmt hingehen willst." Ich zuckte die Achseln. „Du willst doch hingehen, oder?" bohrte Helen nach. „Das erste Mal hat es dir doch soviel Spaß gemacht." „Na ja, es war ganz nett", gab ich widerstrebend zu. „Aber eigentlich ist es mir egal, ob wir hingehen oder nicht." Helen sah mich genervt an. „Jetzt hab ich aber schon fest zugesagt, also müssen wir auch hin." Sie ging zur Tür. „Ich geh nach unten und unterhalte mich ein bißchen mit Rita. Irgendwie muß ich mal mit einem Erwachsenen reden." Als Helen aus dem Zimmer gegangen war, holte ich mein Beichtheft aus der Schublade und las es durch. Wenn- ich doch nur nicht geschrieben hätte, daß ich G.C. heiraten wollte! Wie hatte ich bloß so blöd sein können? Ich hatte ihn doch gerade erst kennengelernt und gar nicht wissen können, wie sich das alles entwickeln würde. Wenn ich es wenigstens mit Bleistift geschrieben hätte! Ich hätte natürlich die ganze Seite einfach rausreißen können, aber das hätte man gesehen. Zur Not hätte ich auch die Buchstaben in andere umändern können, doch das hätte ich bestimmt nicht sauber hingekriegt.
Vielleicht konnte ich es einfach so lassen und hoffen, daß mir in Schottland jemand mit den gleichen Initialen begegnen würde, den ich dann wirklich heiraten wollte. Schließlich ging ich mit dem Heft nach unten und fragte Rita, ob sie einen Tintenkiller hätte. Sie war in der Küche und machte gerade Milch heiß. Helen saß auf dem Küchentisch und ließ die Beine herunterbaumeln. Als ich hereinkam, brach sie mitten im Satz ab. Ich sah sie gar nicht an, sondern fragte Rita gleich nach dem Stift. „Tintenkiller hab ich nicht", antwortete sie. „Reicht dir auch TippEx?" „Ich denk schon", sagte ich, obwohl ich gar nicht so recht wußte, was sie damit meinte. „Wenn du einen Augenblick auf die Milch aufpaßt, hol ich es dir. Ich mache gerade Mutters Kakao." Während Rita weg war, baumelte Helen weiter mit den Beinen, und ich paßte auf die Milch auf. Keine von uns beiden sagte ein Wort. „Hier, bitte." Rita war zurückgekommen und gab mir ein kleines Fläschchen mit einer weißen Flüssigkeit. „Damit kannst du den Fehler abdecken." Ich setzte mich an den Tisch, schlug mein Beichtheft auf und strich meinen Fehler aus. Mehr war G.C. nicht mehr für mich nur ein Fehler. Rita goß die kochende Milch in einen Becher und rührte das Kakaopulver ein. „Bring das doch mal zu Mutter rein, Helen, ja? Aber falls sie schon eingeschlafen ist, weck sie nicht extra." Helen sprang vom Tisch und ging mit dem Becher aus der Küche, während Rita zu mir herüberkam und mir über die Schulter sah. „Das ist trocken genug", sagte sie, nachdem sie mit dem Zeigefinger die weiße Stelle betupft hatte.
„Was ist dein Lebensziel?" las sie dann laut. „Das ist aber eine schwerwiegende Frage. Was schreibst du denn da als Antwort?" Ich dachte ganz kurz nach. Dann schrieb ich: Musical-Star zu werden. „Musical-Star?" fragte Rita. „Ich weiß gar nicht, ob es sowas heute noch gibt." „Ich möchte singen und die Leute zum Lachen bringen, und das kann man nur im Musical." „Na ja, vielleicht kommt es ja wieder in Mode." „Was ist denn dein Lebensziel, Rita?" Rita lachte. „ln meinem Alter ist es für große Ziele ein bißchen spät." „Aber es gibt doch bestimmt etwas, das du gern tun würdest?" „Ja, das schon", antwortete Rita nachdenklich. „Ich würde gern Reisen machen." Das war nicht ganz die Antwort, die ich erwartet hatte. Aber daß sie Mr. Lockhart heiraten wollte, konnte sie wohl schlecht so offen sagen. „Wohin denn?" fragte ich. „Ach, überallhin. Vor allen Dingen nach Brasilien. Da würde ich wirklich gern mal hinfahren. Da kommt nämlich die Samba her." Ich stellte mir insgeheim vor, wie Rita und Mr. Lockhart mit Blumen zwischen den Zähnen in Brasilien Samba tanzten. „Wenn du dich nicht um Urgroßmutter kümmern müßtest, könntest du das sicher machen." „Ja, schon, aber man kann eben nicht immer so, wie man will. So ist das Leben." Irgendwie schien ich einen wunden Punkt berührt zu haben, denn Rita war ziemlich kurz angebunden. Aber bevor ich sie noch etwas fragen konnte, kam Helen zurück. „Urgroßmutter ist wach", sagte sie. „Sie hat nach Abby gefragt." Als ich in das Zimmer meiner Urgroßmutter kam, saß
sie in ihrem rosa Bettjäckchen über dem Nachthemd aufrecht im Bett. „Ich hab noch mal nachgedacht", sagte sie, als sie mich sah. ,,Du brauchst unbedingt einen Hut. Einen Hut mit breiter Krempe und einer Straußenfeder. Ein Hut kann wahre Wunder für das Aussehen einer Frau bewirken." „Das klingt gut", stimmte ich zu, während ich mich auf ihrer Bettkante niederließ. „Aber wo soll ich den denn herkriegen?" „Frag doch mal Rita, ob sie dir dabei hilft. Sie kann vielleicht mit dir zu einem Kostümverleih gehen." Mir fiel plötzlich ein, daß Grays Tante als Kostümbildnerin für die Laientheatergruppe arbeitete. Wenn sie Gray für die Party ein so tolles Kostüm besorgen konnte, konnte sie vielleicht auch einen Hut organisieren. Ich nahm mir vor, Gray gleich morgen zu fragen, wenn wir zu unserer Reitstunde gingen. Es war erstaunlich, wie mich dieser Gedanke aufmunterte. „Laß mich nur machen", sagte ich zu meiner Urgroßmutter. „Mir ist da gerade etwas eingefallen." Schließlich konnte ich mir die Bekanntschaft mit Gray wenigstens zunutze machen, wenn ich schon den Gedanken fallenlassen mußte, ihn zu heiraten.
6. KAPITEL Dieses Mal ließ Gray uns mit den Ponys von der Koppel und hinaus ins freie Gelände. Wir ritten über einen schmalen Weg an einem Waldstück entlang, bis wir zu einem alten Bahngleis auf einer steilen Böschung kamen. Gray versicherte uns, daß das Bahngleis schon jahrelang nicht mehr benutzt worden sei, aber ich hielt sicherheitshalber trotzdem Augen und Ohren offen. Gray ritt Cobber, das hellbraune Pony, von dem er gesagt hatte, es könne ziemlich wild werden. Helens Pony Duchess hielt er an einer Leine, damit er sie dicht neben sich halten konnte. Blacky und mir blieb nichts anderes übrig, als hinterherzureiten. Viel Spaß machte mir das allerdings nicht. Zwischen Gray und Helen lag irgend etwas in der Luft. Nicht, daß sie was Besonderes gesagt hätten. Mir machte viel mehr zu schaffen, was die beiden nicht sagten. Eigentlich sprachen sie beide kaum ein Wort. Und wenn ich etwas sagte, schien mir ohnehin keiner zuzuhören. Schließlich ließ ich es ganz bleiben, und wir ritten schweigend weiter. Dann sagte Helen plötzlich: „Können wir nicht mal einen Moment absteigen? Ich möchte Rita ein paar Blumen pflücken." „Okay." Gray stieg ab und half Helen dann von ihrem Pony. „Willst du auch Blumen pflücken, Abby?" Dazu hatte ich zwar überhaupt keine Lust, aber es schien mir nichts anderes übrigzubleiben. Seufzend stieg ich ab und schlang mir dann Blackys Zügel um den Arm. „Blumen gibt's ja hier jede Menge", sagte ich. „Da drüben an der Böschung wachsen die schönsten."
„Mal sehen, wer den größten Strauß zusammenkriegt", rief Gray, und dieser Herausforderung konnte ich natürlich nicht widerstehen. Ich pflückte und pflückte und kam dabei immer weiter vom Weg ab. Blacky schien das nichts auszumachen. Er trottete geduldig hinter mir her und futterte Gras, während ich nach den größten und prächtigsten Blumen suchte, die ich finden konnte. Schließlich wollte ich nicht nur den größten, sondern auch den schönsten Blumenstrauß haben. Schon bald hatte ich einen Superstrauß zusammen. „Abby!" Helens Stimme klang fast schrill. „Bist du endlich fertig?" Ich hatte sie und Gray schon eine ganze Weile aus den Augen verloren. „Ja, ich glaub schon", rief ich zurück. Dann komm zurück, aber mach schnell." Ich führte Blacky die steile Böschung hinunter zurück zum Weg. Helen war puterrot im Gesicht, und ihr Haar war ganz zerzaust. Gray sah zwar aus wie immer, aber er machte ein unheimlich finsteres Gesicht. Sieh mal einer an, dachte ich. „Dein Strauß ist aber nicht besonders groß", sagte ich mit Unschuldsmiene zu Helen. „Wieso hast du denn dafür so lange gebraucht?" „Hier unten wächst nicht soviel", antwortete sie sauer. ,Du hättest mit mir kommen sollen." Ich brachte Blacky neben Gray zum Stehen. „Hilfst du mir rauf?" „Klar." Gray warf mir ein strahlendes Lächeln zu, daß ich glatt darauf reingefallen wäre, wenn er mich in besserer Stimmung erwischt hätte. ,Du reitest wie ein Profi, Abby", sagte er, während er mir in den Sattel half. Ich glaube, daß du auf dem Rückweg ruhig mal einen schnellen Galopp versuchen kannst."
„Super", sagte ich, und diesmal war meine Freude echt. „Aber mit den Blumen in der Hand werd ich es kaum schaffen." „Dann gib sie doch Helen, sie hat ja kaum welche." Helen warf mir einen bitterbösen Blick zu und schwang sich dann mühelos auf ihr Pony. ,Mach doch bitte diese blöde Leine ab", sagte sie dann von oben herab. „Ich kann jetzt sehr gut allein reiten." Achselzuckend gehorchte Gray. Helen drückte ihrem Pferd hart die Fersen in die Seiten, und das Tier machte einen so erschrockenen Satz nach vorne, daß Helen fast runterfiel. Aber sie fing sich schnell und trabte dann mit hocherhobenem Kopf vor uns her. Gray stieg auf Cobber und ritt neben mir. Auf dem Rückweg war er unheimlich nett zu mir und bot mir sogar an, meine Blumen zu halten, während ich den Galopp versuchte. Anfangs hüpfte ich ganz schön im Sattel herum, aber Gray meinte, das sei beim ersten Versuch ganz normal. „Das nächste Mal geh ich mit dir runter zum Strand", versprach er mir. Es gibt einfach nichts Schöneres, als am Strand zu reiten." Das klang wirklich toll. Inzwischen hatte sich meine Stimmung schon erheblich gebessert, obwohl mir natürlich klar war, daß der Grund dafür nicht ganz einwandfrei war. Eifersucht war schließlich keine Tugend, und ich hatte mir alle Mühe gegeben, damit fertigzuwerden. Aber jetzt hatte sich plötzlich das Blatt gewendet: Gray kümmerte sich auf einmal nur noch um mich und ließ Helen links liegen. Und wenn ich ganz ehrlich war, mußte ich zugeben, daß ich das so richtig genoß. Als wir wieder auf der Koppel waren, sagte ich zu Gray: „ich möchte dich noch um einen Gefallen bitten. Du hast doch eine
Tante, die als Kostümbildnerin bei der Theatergruppe arbeitet?" „Ja, meine Tante Joyce." Meinst du, sie könnte mir ein historisches Kostüm besorgen, etwas richtig Fetziges? Ich brauche es für den Talentwettbewerb nächsten Samstag." „Machst du da mit?" fragte er interessiert. „Meine Kusine Marina auch. Sie führt mit ihrer Freundin Jilly eine akrobatische Tanznummer vor." „Ist deine Tante Joyce Marinas Mutter?" fragte ich, und als Gray nickte, fügte ich hinzu: „Dann wird sie mir ja wohl kaum helfen. Sie hat sicher alle Hände voll zu tun, ihre eigene Tochter auszustatten." „Ach, woher. Klar hilft sie dir. Ich ruf sie gleich mal an." Als Helen von ihrem Pony stieg, fragte er nur kurz: „Alles klar?" „Ja, danke." „Gut, dann wartet hier. Ich geh mal schnell meine Tante anrufen." Damit verschwand Gray ins Haus. Helen hievte ihren Sattel von Duchess - um meinen und seinen eigenen hatte Gray sich schon gekümmert - und hängte ihn auf das Tor. Dabei sah sie aus, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. „Was war denn los?" fragte ich. „Habt ihr euch gestritten?" Helen wandte sich ab und streichelte ihr Pferd. „Mehr oderweniger." „Weswegen denn?" „Na ja, du weißt schon." Ich wußte, was Helen meinte. Schließlich hatten wir uns schon oft darüber unterhalten, daß Jungen immer nur eines im Sinn hatten. Jedenfalls, was Helen anging. Ich hatte dieses Problem bis jetzt noch nie gehabt, was die Sache in meinen Augen eher schlimmer machte.
„Bei Jungen wie Gray ist es immer dasselbe", sagte Helen. „Wenn sie nicht kriegen, was sie wollen, dann sind sie beleidigt und wollen einem ein schlechtes Gewissen einreden." „Ich dachte, du magst Gray?" „Ja, das dachte ich auch." Helen vergrub ihr Gesicht am Hals von Duchess. „Warum müssen Jungen immer alles verderben?" Ich wußte nicht recht, was ich darauf sagen sollte. Schließlich murmelte ich verlegen: „Rory mag dich doch immer noch gern." „Ach, Rory." Helen zuckte die Achseln. „Er sieht doch gut aus, das hast du selbst gesagt." „Er ist ja noch ein Junge." Helen führte ihr Pony in die Koppel und machte dann das Tor zu. Als sie zurückkam, hob sie ihren kümmerlichen Blumenstrauß auf, der schon am Verwelken war, und musterte ihn traurig. „Hier", sagte ich spontan, „nimm meine Blumen noch dazu, dann gibt es einen schönen Strauß. Den kannst du Rita geben, wenn wir nach Hause kommen." „Danke." Helen nahm den Strauß, starrte aber dann weiter trübsinnig zu Boden. „Alles paletti", verkündete Gray, als er zurückkam. „Ich hab meiner Tante gesagt, daß ich heute abend mal mit dir bei ihr vorbeikomme, Abby. Sie hat ein ganzes Zimmer voll mit Kostümen. Ist es dir recht, wenn ich dich um halb acht abhole?" „Ja, prima. Kann Helen auch mitkommen?" „Wenn sie möchte." Er sah sie fragend an. Helen zuckte die Achseln. „Ich möchte, daß sie mitkommt", sagte ich schnell. „Sie hat einen Blick für Klamotten und kann mich bestimmt beraten." „Okay, dann hol ich euch heute abend beide ab." Was Gray davon hielt, konnte man ihm nicht ansehen. Auf dem Heimweg fragte ich mich, was bloß in mich gefahren war. Jetzt hatte ich
zum erstenmal die Gelegenheit gehabt, mit Gray allein zu sein, und was hatte ich getan? Ich hatte mir alles verdorben, indem ich darauf bestand, daß Helen mitkam. Ich mußte wirklich einen Sockenschuß haben. Aber in Wahrheit konnte ich es einfach nicht ertragen, meine Schwester mit so einer Trauermiene herumlaufen zu sehen. Lieber half ich ihr, sich wieder mit Gray zu vertragen, damit wir dann als ebenbürtige Rivalinnen von vorn anfangen konnten. Wenn Gray mich erst mal in meinem Kostüm sah, würde er hoffentlich sowieso endlich merken, was ihm an mir entgangen war! Rita war ganz begeistert über ihren Strauß und freute sich auch, daß Grays Tante Joyce mir helfen wollte, ein passendes Kostüm für meinen Auftritt zu finden. „Dann muß sie Joyce Jones sein", sagte sie. „Ich hatte keine Ahnung, daß sie Graham Coopers Tante ist. Joyce ist eine tolle Schneiderin. Sie hat mir mal ein Tanzkleid mit Pailletten genäht." „Pailletten sind nicht das Richtige für Abby", sagte meine Urgroßmutter, die nur den letzten Satz aufgeschnappt hatte. „Sie muß etwas mit Federn haben. Einen rosa Hut mit einer schönen Straußenfeder, das hab ich ihr schon gesagt." „Ja, das hast du." Ich kniete mich neben meine Urgroßmutter auf den Boden. „Und daran halte ich mich auch - bis auf die Farbe. Ich hab noch nie Rosa getragen, und ich glaub nicht, daß es mir stehen würde. Das ist mehr eine Farbe für Helen." Rita sah hinüber zu Helen, die lustlos aus dem Fenster starrte. „Hast du etwas, meine Kleine?"fragte sie, aber Helen schüttelte den Kopf. „Sie ist verliebt." Urgroßmutter kicherte. „In ihrem Alter sind Mädchen immer verliebt. Es wäre ja auch unnatürlich, wenn es nicht so wäre." Sie zwickte mich in die Wange. „Ich schätze, daß Abby die '' nächste sein wird."
Nein, bestimmt nicht",sagte ich schnell. „Ich will Karriere machen. Ich werde viel zu sehr mit Singen beschäftigt sein, um mich zu verlieben." Urgroßmutter lächelte mich an. „Für die Liebe wirst du immer Zeit haben",sagte sie. „Hab ich dir je von meinem ersten Verehrer erzählt? Jeden Abend kam er zum Theater und wartete am Bühnenausgang auf mich. Er war der Sohn eines Lords und hieß Frederick Beckwith. Er führte mich in ein sehr teures Restaurant namens Trocadero aus und spendierte mir Champagner. Und du hättest die Geschenke sehen sollen, die er mir gemacht hat!" Helen drehte sich vom Fenster wieder zu uns, um zuzuhören. „Also Mutter, ich weiß nicht recht, ob das Thema so passend ist", meinte Rita verlegen. „Ach, Unsinn, es war doch nichts dabei. Ich habe seine Geschenke natürlich nicht angenommen, sondern alle zurückgeschickt. Wir waren damals sehr anständige Mädchen." Die alte Dame rümpfte die Nase. „Nicht so wie die Mädchen heute. Was man da so alles im Fernsehen sieht!" Rita zwinkerte mir zu. Helen drehte sich wieder zum Fenster. „Allerdings war er wirklich ein sehr gutaussehender Mann, dieser Frederick", fuhr Urgroßmutter verträumt fort. „Irgendwie ähnelte er äußerlich ein wenig dem Jungen, der neulich abend bei uns zu Besuch war. Als ich ihn sah, mußte ich gleich an Freddie denken." Ich sah Helen zusammenzucken und wußte, was sie dachte. Offenbar hatten die Zeiten sich doch nicht geänd ert. Genau wie Gray hatte der gute Frederick nur eines im Sinn gehabt, und genau wie Helen hatte Urgroßmutter sicher alle Mühe gehabt, ihn sich vom Leibe zu halten. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Es war Rory, der zur Probe gekommen war. Rita schlug Helen vor, einkaufen zu gehen, und meine Schwester stimmte zu, wenn
auch mit wenig Begeisterung. Rory würdigte sie kaum eines Blickes, sondern ging schnurstracks zum Klavier und schlug den Deckel auf. „Heute ist der große Tag", sagte er. „Heute mußt du dich entscheiden." Ich sah ihn verständnislos an. ,Ob du bei dem Wettbewerb mitmachen willst oder nicht', erklärte er. „Morgen ist Anmeldeschluß." „Natürlich macht sie mit", sagte Urgroßmutter. „Was glaubst du denn, wofür wir so hart gearbeitet haben?" Ich fühlte mich irgendwie in die Enge getrieben. „Meinst du wirklich, daß ich gut genug bin?" fragte ich Rory. „Glaubst du, daß ich mit den anderen mithalten kann?" „Woher soll denn ich das wissen? Ich finde dich gut, aber ich weiß ja nicht, was die anderen bringen." „Von zweien hab ich schon gehört. Sie führen eine akrobatische Tanznummer vor." „Na ja, dann wird dein Auftritt wenigstens mal was anderes." „Natürlich wird ihr Auftritt etwas ganz Besonderes", sagte meine Urgroßmutter. „Und heute abend besorgt sie sich ihr Kostüm." „Dann gehen wir am besten morgen runter zur Strandpromenade und melden uns offiziell an." Irgendwie klang die Geschichte nicht mehr ganz so schlimm, als er „uns" sagte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich immer als Solonummer gesehen, aber jetzt wurde mir klar, daß Rory ja schließlich auch beteiligt war. Genau wie Grays Kusine Marina und ihre Freundin Jilly waren wir ein Duo. Das machte mir wieder Mut. „Okay, dann laß uns mal anfangen." Wir probten den ganzen Nachmittag lang und studierten sicherheitshalber noch zwei weitere Lieder ein, für den Fall, daß das Publikum eine Zugabe verlangte. Das eine war
„Mademoiselle d'Armentieres" und das andere eine witzige Nummer mit dem Titel „Nehmen Sie Ihr Herz zurück, ich hatte Leber bestellt", die laut Urgroßmutter 1919 ein großer Renner gewesen war. Dieses Lied gefiel Rory besonders gut. Er war wirklich ein spitzenmäßiger Klavierspieler. Wie er so einfach alles ohne zu üben vom Blatt spielen konnte, fand ich total toll. Das machte ihm so leicht keiner nach. Als Rita und Helen vom Einkaufen zurückkamen, führten wir ihnen unser ganzes Repertoire vor, und sie fanden es beide gut. „Damit gewinnst du bestimmt, Abby", meinte Helen. „Natürlich gewinnt sie", sagte Urgroßmutter. „Schließlich ist sie von einem Profi vorbereitet worden. Die anderen sind ja reine Amateure." Sie guckte so stolz, daß wir alle lachen mußten. Nach einer Weile lachte auch meine Urgroßmutter mit, aber ich wußte, sie hatte das nicht im Scherz gesagt, sondern wirklich ernst gemeint. Später, als wir gegessen hatten und Rory nach Hause gegangen war, sagte Rita zu mir: „Weißt du, du hast bei Urgroßmutter wirklich wahre Wunder bewirkt. Du hast sie richtig wieder zum Leben erweckt." Wir waren gerade beim Abwaschen. Helen war oben und machte sich fertig, während Urgroßmutter im Wohnzimmer schlief. Ritas Bemerkung machte mich ziemlich verlegen. „Ich war das doch gar nicht. Ich hab ja eigentlich nichts getan. Es hat sich einfach so ergeben." „Das ist ja das Gute." Rita trocknete ihre Hände, legte dann den Kopf leicht schräg und musterte mich nachdenklich. „Es ist wirklich erstaunlich, wie ähnlich du meiner Mutter siehst. Hast du mal ein Foto von ihr gesehen, als sie jung war?"
„Nur das eine, das aus dem Album gefallen ist. Aber das ist so vergilbt, daß man das Gesicht nicht richtig sehen kann." „Warte mal, dann zeig ich dir was." Ich wartete. Ein paar Minuten später kam Rita mit einem Foto zurück, daß Urgroßmutter in ihrem Bühnenkostüm zeigte. Das Foto war mit der Hand eingefärbt worden. Das Kleid war rosa, und dazu trug sie den Hut, von dem sie mir erzählt hatte. Sie hielt einen Sonnenschirm in der Hand, stand leicht vorgebeugt und lächelte in die Kamera. „Sie war sehr hübsch", sagte ich. Ich fühlte mich ziemlich geschmeichelt, daß Rita mich mit dem Mädchen auf dem Bild verglichen hatte. Ich konnte eigentlich keine große Ähnlichkeit feststellen. Wir hatten nur beide dunkles Haar und dunkle Augen. „Ihr beide habt einen unheimlich ähnlichen Gesichtsausdruck", sagte Rita. „Manchmal siehst du genauso aus wie Mutter, wenn ihr der Schalk im Nacken sitzt. Jetzt kommt das ja leider nicht mehr sehr oft vor. Aber ich glaube, daß sie sich in dir wiedererkennt, besonders, wenn du singst." Ich gab Rita das Foto zurück. „Hoffentlich gewinne ich den Wettbewerb, sonst hätte ich echt das Gefühl, sie enttäuscht zu haben." „Das ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, daß du ihr etwas gegeben hast, auf das sie sich freuen kann und das sie von der Vergangenheit ablenkt. Sie hat schon seit Tagen nicht mehr von ihrem Bruder gesprochen." Rita hatte gut reden. Für sie war es vielleicht nicht wichtig, aber auf mir lastete die Verantwortung schon tonnenschwer. Kurz nach halb acht klingelte es, und Gray stand vor der Tür. Gerade, als ich ihm aufmachte, kam Helen in dem blauen Kleid die Treppe herunter, das ihr Rita ein paar Tage zuvor gekauft hatte. Es sah einfach irre aus, aber ich fand es ein bißchen zu aufgedonnert für einen kurzen Besuch bei Grays Tante. Ich
trug noch immer meine Jeans, weil ich sie zum Anprobieren am praktischsten fand. „Hallo", begrüßte ich Gray. „Wir sind fertig." „Das sehe ich." Gray starrte an mir vorbei zu Helen. Mir fiel auf, daß er ganz schöne Stilaugen bekommen hatte. „Ich hab den Wagen draußen. Meine Mutter hat ihn mir für heute abend geliehen." Mir war sofort klar, wer auf der Fahrt hinten sitzen würde. Allein, natürlich. Wir waren ungefähr fünf Minuten unterwegs, und während der Fahrt sagte keiner etwas. Als wir ankamen, stellte ich erleichtert fest, daß Grays Tante nicht auch in einer Prachtvilla wohnte, sondern in einem kleinen Haus am Stadtrand. Sie öffnete uns die Tür in einem bestickten Seidenkaftan. Ihr schwarzes Haar hatte sie hochgesteckt wie eine Geisha. „Kommt rein", sagte sie. „Ich hoffe, ihr hab nichts gegen Katzen." Ich versicherte ihr, daß ich Katzen sehr gern mochte, auch wenn ich noch nie so viele auf einmal gesehen hatte. Sie waren einfach überall. Ein paar hockten auf den Stühlen wir kleine Statuen, die anderen streiften um unsere Beine, als wir nach oben in das Zimmer gingen, wo die Kostüme aufbewahrt wurden. „Früher hingen die Sachen in der Theatergarderobe", erzählte Joyce. „Aber nachdem Einbrecher uns mal zwei Polizeiuniformen gestohlen haben, beschlossen wir, daß es sicherer ist, wenn ich die Sachen hier lagere. Wie ihr seht, ist es inzwischen eine ganz schöne Sammlung. Was sucht ihr denn eigentlich genau?" Ich erklärte ihr, was ich mir vorgestellt hatte. Sie öffnete einen Schrank, der dicht mit Kleidern vollgehängt war. ,Die Theatergruppe hat vor kurzem erst ,Die
lustige Witwe` aufgeführt. Unter den Kostümen müßte eigentlich etwas Passendes sein." „Rot finde ich zu laut", meinte Joyce, während sie mich mit fachmännischem Blick betrachtete. „Pastellfarben stehen dir bestimmt besser. Geht ihr beiden doch mal runter und spielt mit den Katzen, während Abby ein paar Sachen anprobiert." „Ich bleibe hier und helfe Abby beim Aussuchen", sagte Helen. „Dazu ist es hier zu eng", wandte Gray ein. „Es ist besser, du kommst mit nach unten." Natürlich ging sie mit. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, daß sie lange mit den Katzen spielen würden. Das grüne Kleid war zu groß, und das gelbe sah an mir reichlich komisch aus. Das Problem war, daß ich im Geist irgendwie immer meine Urgroßmutter vor mir sah und sie eigentlich nicht kopieren wollte. Als Joyce schließlich ein rosa Kleid mit rüschenbesetztem Oberteil und bauschigem Unterrock hervorholte, probierte ich es nur widerwillig an. Aber es saß wie angegossen. „Und jetzt setz den Hut dazu auf." Der Hut hatte eine breite Krempe und war mit Rosen besetzt. „Der ist wirklich schön, aber es ist keine Feder dran." Eine Feder ist auch nicht nötig. Aber wenn du unbedingt Federn haben willst, dann warte mal." Joyce zog eine lange, flauschige Federboa hervor und drapierte sie mir um die Schultern. Ich fühlte mich damit unheimlich elegant und war sicher, daß es toll aussehen würde, wenn ich beim Singen mit der Boa wedelte. Ich sang ein paar Takte von „Pretty Baby" und probierte es gleich mal aus. „Hervorragend", lobte Joyce. „Und jetzt geh runter und zeig dich mal deiner Schwester." Ich hob vorsichtig meinen Rocksaum, um beim Gehen nicht aus Versehen auf eine der vielen Katzen zu treten. Unten klopfte ich vorsichtshalber erst, ehe ich ins Wohnzimmer ging.
Aber das Klopfen hätte ich mir sparen können. Helen saß brav auf einem Stuhl, während Gray zwischen zwei fremden Mädchen auf dem Sofa hockte. Beide Mädchen waren gertenschlank und hatten glänzende Gymnastikbodies an. Ich kam zu dem Schluß, daß es sich nur um Grays Kusine Marina und ihre Freundin Jilly handeln konnte. „Mann", rief Gray, als er mich sah. „Wenn Abby so gut singt, wie sie aussieht, dann werdet ihr beiden euch aber schwer am Riemen reißen müssen." Die beiden Mädchen starrten mich ungläubig an. Die eine war blond und hatte eine Stupsnase, die andere hatte eine schwarze Lockenmähne. Wenn sie nach ihrer Mutter kam, konnte das nur Marina sein. Aber was soll denn das sein?" fragte sie. „Eine Varietesängerin aus der guten, alten Zeit", antwortete Joyce für mich. Die Blonde gähnte. Dann streckte sie eines ihrer schimmernden türkisfarbenen Beine in die Luft und musterte es bewundernd. „Wird das nicht ein bißchen warm werden mit den ganzen Klamotten?" Na ja, verglichen mit den beiden hatte ich wohl tatsächlich ein bißchen viel an. Auf einmal überfielen mich unheimliche Zweifel, ob ich mir wirklich das Richtige ausgesucht hatte. Vielleicht war die Idee mit der Varietesängerin wirklich altmodisch und albern. Und alles nur, weil ich unbedingt meiner Urgroßmutter nacheifern mußte! „Ich finde, sie sieht toll aus", sagte Helen plötzlich. „Richtig erwachsen." „Das finde ich auch", pflichtete Gray ihr bei. „In dem Aufzug könnte ich mich glatt in dich verlieben, Abby." Die Blonde kicherte. Dann senkte sie ihr Bein, bis es auf Grays Knie zu liegen kam, so daß er nicht aufstehen konnte.
Wenn sie Jilly war, wie ich annahm, dann war es nicht zu übersehen, daß sie selbst ein Auge auf Gray geworfen hatte. „Dann sind wir uns also einig", sagte Joyce. „Du kannst das Kleid heute abend mitnehmen und es mir dann nach dem Wettbewerb zurückgeben, Abby." "Vielen Dank. Ich werde gut darauf aufpassen", versprach ich. „So, und jetzt geh dich umziehen. Dann fahr ich euch beide nach Hause." Gray klang, als könnte er es kaum erwarten, uns loszuwerden. Ich sah, daß er das türkise Bein auf seinen Knien verstohlen kitzelte, während er mir zulächelte. Bevor ich aus dem Zimmer ging, sah ich kurz hinüber zu Helen. Ihre Miene war wie versteinert. Als ich mit Kleid und Hut in Tüten verpackt wieder nach unten kam, sprang Gray sofort auf. „Okay, gehen wir." Auf der Rückfahrt herrschte wieder absolute Stille im Wagen. Als wir vor unserem Haus hielten, lehnte sich Gray hinüber zu Helen, um die Tür für sie zu öffnen. „Sehen wir uns morgen?" fragte er dabei beiläufig. „Ich fürchte, morgen haben wir schon was vor", antwortete Helen würdevoll. „Stimmt doch, Abby, oder?" „Ja, ein paar Sachen haben wir schon zu erledigen", antwortete ich vorsichtig, um nicht gleich alle Türen zuzuschlagen. „Morgens muß ich mit Rory zur Strandpromenade, um uns für den Wettbewerb anzumelden. Und am Nachmittag proben wir sicherlich." „Ja, das ist klar." Gray hatte seine Hand noch immer an der Tür, so daß Helen von seinem Arm genauso der Weg versperrt war wie Gray vorher von dem türkisfarbenen Bein. Er drehte den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. „Abby hat also keine Zeit. Aber wie ist es mit dir?"
Helen machte ein paarmal den Mund auf und zu, aber schließlich brachte sie nur heraus: „Ich weiß nicht. Rita hat gesagt. .." „Dann komm morgen nachmittag zu mir, und wir hören uns ein paar Kassetten an. Außerdem hab ich ein Video zu Hause, das dir bestimmt gefallen wird." „Das klingt nicht schlecht", meinte Helen. Sie hätte ja wenigstens fragen können, was das für ein Video ist, dachte ich. So hätte sie Gray noch ein bißchen zappeln lassen können. Aber nein, sie hatte mal wieder eine ihrer nervenden Kehrtwendungen gemacht und ohne große Gegenwehr einfach nachgegeben. Ich war so sauer auf sie, daß ich, als sie mich endlich aussteigen ließ - der Wagen hatte nur zwei Türen - sofort zum Haus stapfte, ohne mich bei Gray für seine Hilfe zu bedanken. Als ich die Haustür aufschloß, hörte ich ihn mit Vollgas davonfahren, wahrscheinlich auf dem kürzesten Weg zurück zum Haus seiner Tante und den türkisen Beinen. „Na, hast du nichts gefunden?" fragte Rita, als ich hereinkam. Sie hatte meine finstere Miene wohl mißverstanden. Ich riß mich zusammen und lächelte. „Doch, du wirst staunen. Grays Tante hat mir ein Superkleid geliehen. Und noch dazu in Rosa, da wird Urgroßmutter sich freuen." „Im Augenblick schläft sie." Rita warf einen Blick in meine Tüte. „Ich kann es gar nicht erwarten, dich in dem Kleid zu sehen. Wie wär's denn, wenn du morgen Nachmittag eine Kostümprobe veranstaltest?" „Morgen geht es nicht", ertönte Helens Stimme hinter mir. „Morgen bin ich nicht da. Wartet damit bis Freitag, damit ich auch dabeisein kann." Während Helen Rita erklärte, warum sie am nächsten Tag nicht da sein würde, ging ich nach oben und hängte mein Kleid
auf. Dabei fragte ich mich, wieso ich eigentlich so sauer war. Weil Helen so schnell nachgegeben hatte, oder weil Gray sich wieder mit ihr und nicht mit mir verabredet hatte? Oder weil einfach zu viele Mädchen hinter Gray her waren und ich nicht wollte, daß Helen und ich für ihn nur ein Teil der Meute waren. Ich wußte es selbst nicht, ich war ganz durcheinander. Als Helen später nach oben kam, tat ich, als würde ich schon schlafen. Sie summte leise vor sich hin, während sie sich auszog, aber ich machte die Augen nicht auf, bis sie irgendwann hinüber ins Bad ging, um zu duschen. Mein Blick fiel auf das rosa Kleid, das auf seinem Bügel an der Tür hing. Bei dem Anblick fühlte ich mich gleich besser. Ich sagte mir, daß es für mich erst mal das Wichtigste war, den Wettbewerb für Urgroßmutter zu gewinnen. Ich nahm mir vor, mich zunächst voll darauf zu konzentrieren und alles andere einfach so zu nehmen, wie es kam.
7. KAPITEL Als Rory und ich zum Strandpavillon kamen, um uns für den Talentwettbewerb anzumelden, stand bereits eine ziemlich lange Schlange vor dem Büro des stellvertretenden Geschäftsführers. Ich sah mir die anderen Teilnehmer genau an. Zwei waren schon etwas älter, eine großgewachsene Frau mit langer Nase und reichlich Lidschatten, und ein dicker Mann, der aussah wie ein Alleinunterhalter. Aber die meisten waren junge Leute. Marina und Jilly konnte ich allerdings nirgendwo entdecken. Die Teilnehmer wurden nacheinander ins Zimmer gerufen, und jeder mußte Name und Adresse angeben und kurz beschreiben, was er vorführen wollte. Während Rory mit dem Mann hinter dem Schreibtisch sprach, sah ich mich im Zimmer um. Dabei entdeckte ich an der Wand ein Plakat, auf dem für Ostermontag eine Heißluftballon-Wettfahrt vom Sportzentrum aus angekündigt wurde. Auf dem Plakat war ein großer Ballon vor dem Hintergrund eines tiefblauen Himmels zu sehen. Es sah einfach irre aus. Ich bekam plötzlich ein unheimliches Gefühl der Sehnsucht, fast, als wäre ich verliebt. „Ist das die Ballonfahrt, die es zu gewinnen gibt?" fragte ich den Mann am Schreibtisch. „Das Wettrennen am Ostermontag?" Ja, genau." Der Mann lächelte Rory an, den er gut zu kennen schien. „Die Ballonfahrt scheint es der jungen Dame aber angetan zu haben, was?" Sie macht nur deswegen mit", antwortete Rory. Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich widersprach ihm nicht. „Ich wollte schon immer mal Ballon fahren", sagte ich statt dessen. „Das muß doch toll sein, so durch die Luft zu schweben."
„Na, für mich wär das nichts", sagte der Mann. „Aber ich bin auch nicht schwindelfrei. Dir ist doch hoffentlich klar, daß nur der Sieger bei der Ballonfahrt mitmachen darf?" ,Ja, natürlich." Aber der Sieger darf immerhin eine Begleitperson mitnehmen, also gibt es da ja auch noch eine Möglichkeit." Er wandte sich wieder Rory zu. „So, jetzt wißt ihr ja Bescheid, wie alles abläuft. Am Samstagnachmittag kommt ihr zur Vorentscheidung, bei der wir die Spreu vom Weizen trennen. Die Teilnehmer, die wir aussuchen, dürfen dann am Abend bei der Endausscheidung mitmachen und vor Publikum und Jury auftreten. Alles klar?" „Ja, alles klar." Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich konnte mich einfach nicht von dem Plakat losreißen. Im Geiste sah ich mich schon mit meinem Begleiter in den Himmel schweben, und dieser Begleiter war Gray. Mir war klar, daß das nicht richtig war. Gray war so ziemlich der letzte, den ich mir als Begleiter aussuchen sollte. Aber ich konnte einfach nicht anders. Im Traum schwebte ich mit ihm davon und ließ Helen und seine sämtlichen anderen weiblichen Fans auf der Erde zurück. Als wir aus dem Büro kamen, entdeckten wir draußen in der Schlange Marina und Jilly. „Hallo, Rory", sagte Jilly und reckte dabei frech die Nase in die Höhe. „Du machst wohl auch mit, was?" „Ja." Rory war ziemlich kurz angebunden und es schien fast, als wollte er sich mit den beiden nicht unterhalten. „Wir machen dieses Jahr mal was anderes. Unsere Nummer ist echt fetzig, nicht, Marina?" Marina kicherte albern. „Da werden sich dir die Haarspitzen kringeln, Rory."
„So fetzig kann es gar nicht sein, daß mein Haar sich kringelt." Rory zog grinsend an seinem glatten Haar. Dann packte er mich am Arm und lotste mich an den beiden vorbei zum Ausgang. „Komm, Abby, jetzt spendier ich dir ein Eis." Die Eisdiele, in die Rory mich führte, war auf exotische Eisbecher mit riesigen Sahnehauben spezialisiert. Wir bestellten uns beide etwas, das sich „intergalaktische ErdbeerÜberraschung" nannte und setzten uns dann auf große Hocker an der Theke. „Kennst du sie gut?" fragte ich. „Marina und Jilly, meinst du?" Rory leckte sich etwas rosa Eiskrem von den Lippen. „Wir gehen auf dieselbe Schule." „In dieselbe Klasse?" „Nein. Ich bin in einem anderen Zweig, weil ich ziemlich gut bin." Er sagte es in demselben Ton, in dem er mir erzählt hatte, daß er sehr musikalisch war. „Sag mal, unter Anfällen von Bescheidenheit leidest du aber nicht gerade, was?" „Mit Bescheidenheit kommt man nicht weit. Hier bemerken dich die Leute nur, wenn du ordentlich auf den Putz haust." Irgendwie klang das ziemlich bitter. „Meinst du damit deinen Onkel und deine Tante? Beachten die dich denn nicht?" „Mich beachten sie schon", antwortete Rory mit einem Achselzucken. „Aber für meine Wünsche interessieren sie sich nicht." „Weil sie dich nicht bei deiner Tante in Schottland leben und Klavier studieren lassen?" „Ja, das auch." „Sie müssen dich aber sehr gern haben", sagte ich, um ihn zu trösten, „sonst wären sie bestimmt nicht so wild darauf, dich hierzubehalten."
„Mögen tun sie mich schon. Sie haben sich immer einen Sohn gewünscht." Rory fischte nach einer Erdbeere und sah sie mißmutig an, bevor er sie aß. „Aber sie sind viel zu alt, um richtige Eltern zu sein, und außerdem haben wir nichts gemeinsam. Bei meiner Tante würde es mir bestimmt viel besser gefallen. Sie würde mich auch gern bei sich aufnehmen, das hat sie mir selbst gesagt." Ich dachte an den dicken Mr. Lennox und seine schwergewichtige Frau. Sie waren sicher nette Leute, aber ich verstand Rory trotzdem. Er paßte einfach überhaupt nicht zu den beiden. Er war wie ein Kuckucksei in ihrem Nest. „Außerdem könnten wir uns manchmal sehen, wenn ich in Schottland wohnen würde", fuhr Rory fort. „Aber Edinburgh ist ganz schön weit weg von Aberdeen", sagte ich. Dann ging mir endlich ein Licht auf. „Du, Rory, es tut mir echt leid, aber es hat wirklich keinen Zweck. Helen findet, daß du zu jung für sie bist." „Innerlich bin ich aber sehr erwachsen." „Das weiß ich. Aber Helen hat sich für dein Innenleben noch nicht interessiert. Dazu war sie viel zu beschäftigt." Ich hielt es für das Beste, Rory die Wahrheit ganz brutal ins Gesicht zu sagen. „Sie ist in Gray Cooper verknallt." Rory murmelte leise etwas, das ich nicht verstand. Ich schnappte nur das Wort „Mistkerl" auf. „Du hast ja recht",sagte ich, „er ist wirklich ein Mistkerl. Helen weiß das genauso gut wie ich, aber das hat sie nicht davon abgehalten, sich in ihn zu verlieben. Mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Irgendwie bin ich nämlich auch in ihn verknallt." Rory warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Und ich dachte, du wärst intelligent."
„Keine Sorge, es hat mich nicht unheilbar erwischt, ich komm schon darüber weg. Wenn wir erst in Schottland sind, hab ich Gray bestimmt schnell vergessen." Ich wurde plötzlich ernst. „Bei Helen bin ich mir da allerdings nicht so sicher." „Die muß man wirklich vor sich selbst schützen", sagte Rory finster. „Du hast gut reden. Heute nachmittag geht sie zum Beispiel zu ihm nach Hause, um sich ein Video anzuschauen. Wahrscheinlich wird sie wieder mit ihm allein sein, weil seine Mutter meistens weg ist und sein Vater erst so gegen fünf von der Arbeit kommt. Da könnte alles mögliche passieren." Rory machte ein besorgtes Gesicht. „Kannst du sie nicht davon abbringen?" „Wie denn? Im Augenblick fährt sie bei Gray voll auf Angriff, vor allem, weil ihr Marinas Freundin Jilly schwer Konkurrenz macht. Auf mich hört sie nicht." „Dann mußt du eben mitgehen." „Aber ich hab Gray und ihr schon gesagt, daß ich heute nachmittag keine Zeit hab. Ich dachte, wir würden proben." „Wir müssen es ja nicht übertreiben. Wenn wir morgen noch einmal proben, reicht das auf jeden Fall. Du kannst also gehen." „Aber die beiden werden mich bestimmt nicht dabeihaben wollen", wandte ich zögernd ein. „Ich wäre irgendwie das fünfte Rad am Wagen." ,Aber nicht, wenn ich auch mitkomme. Dann sind wir zu viert." Ich sah Rory erstaunt an. Er mußte sich wirklich viel aus Helen machen, wenn er so wild entschlossen war, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Das Blöde war nur, daß Helen vielleicht gar nicht bewahrt werden wollte, und Gray würde ausranken vor Wut.
„Dir ist doch wohl hoffentlich klar, daß wir dasitzen werden wie zwei Anstandswauwaus?" Rory zuckte die Achseln. „Irgendwann wird Helen uns dafür sicher dankbar sein." Ich war mir da nicht so sicher. Ich wußte auch nicht genau, warum ich selber dabei mitmachte. Vielleicht half ich Rory ja nur, um meine eigenen Chancen bei Gray zu verbessern. Und warum tat Rory das alles? „Als du im Kino versucht hast, Helen zu küssen, hast du dir aber nicht so viele Gedanken um ihre Ehre gemacht", sagte ich. Zum erstenmal war es mir gelungen, Rory in Verlegenheit zu bringen. „Das hat sie dir erzählt?" „Klar. Sie erzählt mir immer alles." Mir wurde plötzlich bewußt, daß das in den letzten Tagen nicht mehr so gewesen war, und ich fügte schnell hinzu: „Normalerweise wenigstens." Rory hatte sich schnell wieder gefangen. „Ich dachte einfach, daß sie das von mir erwartete. Das tun doch die meisten Mädchen." „Du sprichst natürlich aus jahrelanger Erfahrung, oder?" „Natürlich." Rory grinste mich an. Ich angelte meine letzte Erdbeere aus dem Glas. „Na schön, dann starten wir also die Aktion Anstandswauwau. Aber eines kann ich dir jetzt schon sagen - beliebt werden wir uns damit bestimmt nicht machen." Das sollte sich als die Untertreibung des Jahres erweisen. Als ich Helen sagte, daß Rory und ich am Nachmittag mit zu Gray kommen wollten, sah sie mich ganz entsetzt an. „Aber wieso denn das? Ich dachte, ihr wolltet proben." „Das haben wir verschoben. Rory wollte sich lieber das Video anschauen." „Der hat vielleicht Nerven. Er war doch gar nicht eingeladen." „Gray macht das bestimmt nichts aus. Es ist doch viel witziger, wenn mehr Leute kommen."
Rita hörte uns zu und sah dabei von einem zum anderen. Wir saßen alle um den Eßtisch herum und aßen unser Mittagessen. „Ihr wißt doch gar nicht, was für ein Video Gray hat", fauchte Helen. „Wieso wollt ihr es dann so unbedingt sehen?" „Du weißt doch auch nicht, was es ist", konterte ich. „Und du scheinst ja unheimlich wild darauf zu sein, es zu sehen zu kriegen." Darauf sagte Helen nichts mehr, aber ich konnte ihr ansehen, daß sie innerlich kochte. „Aber wenn Gray und du euch nur ein Video anschauen wolltet, habt ihr doch sicher nichts dagegen, daß Abby mitkommt?" fragte Rita unschuldig. „Es ist einfach ungerecht", stieß Helen wütend hervor. „Ich kann mich nicht einmal mit jemandem verabreden, ohne daß meine kleine Schwester sich an meinen Rockzipfel hängt." „Ich hänge nicht an deinem Rockzipfel. Schließlich bringe ich meinen eigenen Freund mit." „Seit wann ist Rory denn dein Freund?" „Schon länger. Schließlich lernt man sich gut kennen, wenn man gemeinsam etwas einstudiert. Rory und ich sind . . ." Ich machte eine Kunstpause, um die Spannung zu steigern. Erst dann sagte ich den Satz zu Ende. „. . . sehr gute Freunde." „Pah!" meinte Helen verächtlich. „Ihr beiden streitet euch doch sonst nicht", stellte Rita kopfschüttelnd fest. „Normalerweise versteht ihr euch so gut." „Das heißt aber noch lange nicht, daß wir andauernd aufeinanderhocken müssen." Helen schob ihren nur zur Hälfte leergegessenen Teller beiseite und stand auf. „Ich geh jetzt nach oben und mache mich fertig, und es wäre mir sehr lieb, wenn ich dabei mal eine Zeitlang ungestört bleiben könnte." Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Rita:
„Du bist ein kluges Kind, Abby. Wenn du dabeigewesen wärst, als Rotkäppchen sich mit ihrem Korb auf den Weg gemacht hat, hätte der böse Wolf einpacken können." „Ich dachte, du magst Gray?° „Ja, er hat sehr viel Charme. Das Dumme ist, daß man bei charmanten Männern nie so recht weiß, ob man ihnen trauen kann." „Der Meinung ist Rory auch. Es war seine Idee, daß wir heute nachmittag mitgehen." Rita lächelte. „Der Junge wird mir immer sympathischer. Ich weiß wirklich nicht, wieso Monica ihn immer als schwierig bezeichnet." „Weil sie ihn nicht versteht. Er ist einfach zu musikalisch für sie. Deshalb möchte er ja auch gern bei seiner Tante in Schottland leben. Die ist Klavierlehrerin." „Ehrlich? Das ist ja sehr interessant." Rita war sehr nachdenklich geworden. Als ich Urgroßmutter sagte, daß wir am Nachmittag nicht proben würden, machte sie ein ziemlich enttäuschtes Gesicht, meinte dann aber auch, daß es eine richtige Entscheidung wäre. Wahre Profis hätten ein Gefühl für das richtige Pensum, sagte sie. Ich versprach ihr, daß wir am nächsten Tag eine Kostümprobe veranstalten würden, damit sie mein Kleid anschauen konnte. Welche Farbe es hatte, verriet ich ihr allerdings nicht, das sollte eine Überraschung für sie werden. Helen redete kein Wort mit Rory, als er kam. Auf dem Weg zu Grays Haus ging sie voran und ließ uns hinterherzuckeln. „Ich komme mir richtig dämlich vor", flüsterte ich Rory zu, als wir auf die Haustür zugingen. „Wenn Gray uns sieht, kriegt er einen zuviel und schickt uns womöglich wieder nach Hause." „Umso besser."
Eines mußte man Gray allerdings lassen - er blieb völlig cool, als er die Tür öffnete und uns drei vor sich sah. „Hallo", sagte er zu Helen. „Du hast ja den Nachwuchs doch mitgebracht." „Meine Idee war das nicht." Helen rauschte an Gray vorbei ins Haus. „Sie wollten unbedingt mitkommen, um das Video zu sehen." Gray musterte mich durchdringend, und ich lächelte ihn unschuldig an. „Na, hoffentlich findet ihr es nicht zu gruselig. Für eure Altersstufe ist es eigentlich nicht gedacht." „Keine Sorge", versicherte ich ihm. „Ich hab keine schwachen Nerven." Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hätte schwören können, daß er das als Herausforderung auffaßte. „Na schön, dann laßt uns mal ins Wohnzimmer gehen." Rory marschierte schnurstracks zum Sofa und setzte sich genau in die Mitte, so daß links und rechts von ihm noch genau ein Platzfrei war. Ich schnappte mir einen der Sessel, und Helen ließ sich in den anderen fallen. „So geht das aber nicht", sagte Gray, als er hereinkam und die Sitzordnung sah. Rück doch mal ein Stück, Rory, dann passen wir alle vier aufs Sofa. Wenn wir die Mädchen zwischen uns nehmen, können wir sie beruhigen, wenn sie vor Angst schreien." Schließlich saßen wir dicht zusammengedrängt auf dem Sofa - Rory, ich, Helen und Gray. Bevor er sich setzte, zog Gray noch die Vorhänge zu, angeblich, damit die richtige Kinostimmung aufkam. Dann nahm er die Kassette aus der Hülle. „Die wird euch bestimmt gefallen. Sie ist gerade erst auf den Markt gekommen."
Der Vorspann hatte kaum angefangen, als Rory sagte: „Den Film kennen Helen und ich schon. Den haben wir uns letzten Montag im Kino angeschaut." Gray hatte sich gerade erst gesetzt und den Arm auf die Sofalehne hinter Hefen gelegt. „Stimmt das?" fragte er sie. „Ja", antwortete sie zögernd, „aber es macht mir nichts aus, ihn noch mal zu sehen." „Den Film wird Abby bestimmt nicht sehen wollen", meinte Rory. „Sie kann Horrorfilme nicht ausstehen." „Warum ist sie dann überhaupt gekommen?" fragte Gray leicht säuerlich. „Weil sie nicht wußte, was du für ein Video hast. Aber irgendwie wäre es doch sowieso blöd, hier rumzusitzen und einen Film anzuschauen, den wir fast alle schon kennen. Hast du denn nicht noch ein anderes Video? Am besten was mit Musik. Abby steht auf Musicals." Gray stand wortlos auf, machte das Licht an und nahm die Kassette aus dem Rekorder. „Ich hab hier noch einen Film mit Judy Garland", sagte er dann und nahm eine Kassette aus dem Regal. „Das ist der Lieblingsfilm meiner Mutter. ‚Der Osterspaziergang` heißt das Ding." „Super!" rief ich begeistert. „Das ist doch mit Fred Astaire, oder?" „Keine Ahnung, aber das werden wir ja gleich sehen." Gray schob die Kassette ein. Ich hatte recht, der Film war wirklich mit Fred Astaire. Ich lehnte mich zufrieden zurück und genoß den Auftritt der beiden Stars. Judy Garland war so etwas wie mein Vorbild. Ich hätte alles dafür gegeben, so singen zu können wir sie. Rory gefiel der Film auch, das merkte ich. Er legte seinen Arm auf die Lehne hinter meinen Kopf, aber irgendwie war es
mehr eine freundschaftliche Geste. Uns verband einfach die Begeisterung für Musik und Showtalent. Ich war so versunken in den Film, daß ich eine Zeitlang ganz vergaß, weshalb wir gekommen waren. Dann aber merkte ich plötzlich, daß Helen nicht mehr neben mir saß. Ich fuhr herum und sah gerade noch, wie Helen und Gray aus dem Zimmer schleichen wollten. „Wo wollt ihr denn hin?" fragte ich. „In die Küche", antwortete Gray. „Helen hat Hunger." „Sie kann keinen Hunger haben, wir haben doch gerade erst gegessen." „Ich hab aber kaum was gegessen", sagte Helen. Da mußte ich ihr recht geben, sie hatte ja fast alles stehenlassen. „Ehrlich gesagt, ich hab auch ganz schönen Kohldampf." Rory war aufgestanden. „Ich könnte echt was zu futtern vertragen." Grays genervter Gesichtsausdruck war einfach zu schön anzusehen. Komischerweise machte die Cooper'sche Küche irgendwie einen unbenutzten Eindruck. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, daß jemand zwischen all den blitzenden Chromgegenständen ein tolles Essen auf die Beine stellte. Das Brot, das Gray aus dem Schrank holte, war typisches Supermarkt-Schnittenbrot, das Rita nie in ihrem Haushalt geduldet hätte. Er bestrich es mit Diätmargarine und belegte es dann mit quadratischen Käsescheibletten. Helen aß ihr Brot pflichtschuldig halb auf und versuchte dabei, wenigstens ein bißchen begeistert auszusehen. Sogar Rory hatte Mühe, so zu tun, als würde es ihm schmecken. „Wenn es euch beiden zu langweilig ist, den alten Film anzuschauen, warum geht ihr dann nicht ein bißchen reiten?" fragte Gray plötzlich. „Abby weiß ja, wie man den Sattel auflegt. Sie ist inzwischen eine gute Reiterin."
Die Schmeicheleien kannst du dir sparen, dachte ich im stillen, aber laut sagte ich: „Ich kann heute unmöglich reiten, ich hab mir den Knöchel verletzt." Gray sah mich erstaunt an. ,;Wann ist denn das passiert?" „Heute, auf dem Weg hierher." „Das hab ich gar nicht mitgekriegt", meinte Helen. „Das konntest du auch nicht. Du bist ja vor uns gegangen und hast mich nicht stolpern sehen." „Sie ist ganz plötzlich umgeknickt", sagte Rory. „Wahrscheinlich hat sie sich den Knöchel verstaucht." „Laß mal sehen", meinte Gray. Ich trug einen Rock und Sandalen, deshalb waren meine Knöchel blöderweise deutlich zu sehen. Der linke Knöchel sieht ziemlich geschwollen aus." Ich sah überrascht nach unten. „Echt?" „Ein bißchen schon. Am besten schonst du ihn erst mal. Komm, stütz dich auf." Gray legte den Arm um mich und führte mich ins Wohnzimmer. Mir war klar, daß das wahrscheinlich das erste und einzige Mal sein würde, daß Gray den Arm um mich legte, und so kostete ich es richtig aus, humpelte kräftig und knickte so zusammen, daß er mich fast tragen mußte. Er half mir auf das Sofa und hob dann meine Beine auf die Lehne, so daß ich dalag, als wäre ich invalid. „So, und jetzt bleib ganz ruhig liegen. Ich weiß ein gutes Hausmittel für Verstauchungen." Er verschwand und kam kurz darauf mit einem Geschirrhandtuch voller Eiswürfel zurück. „Ein kalter Umschlag wirkt bei sowas wahre Wunder", sagte er und wickelte mir das Tuch um den Knöchel. Ich mußte mir alle Mühe geben, nicht aufzuschreien. „Vielen Dank", sagte ich gepreßt. „Das tut richtig gut."
Gray lächelte. „Ja, ich weiß. Und jetzt bleib schön liegen und sieh dir das Video zu Ende an. Rory leistet dir Gesellschaft." Ich fuhr erschrocken hoch. „Und was macht ihr?" „Wir gehen reiten. Helen findet das Wetter zu schön, um drinnen herumzuhocken." Gray tätschelte mir den Arm. „Du bist wirklich ein nettes Mädchen, Abby, aber es gibt Zeiten, da wollen Erwachsene auch mal allein sein. Das wirst du schon noch verstehen." Dieser Mistkerl. Als die beiden gegangen waren, kam Rory zurück ins Wohnzimmer. Er hatte zwei Dosen Cola in der Hand und gab mir eine. „Die hab ich im Kühlschrank gefunden." „Warum bist du denn nicht mit den beiden mitgegangen? Es sind doch drei Pferde da." „Spinnst du? Ich hab noch nie im Leben auf einem Pferd gesessen. Ich würde bestimmt runterfallen." Ich sah ihn erstaunt an. „Daß du ein Feigling bist, hätte ich eigentlich nicht gedacht." „Ich bin nicht feige, sondern nur vorsichtig. Bei so einem Sturz könnte ich mir sehr leicht das Handgelenk verletzen, und das wäre so ziemlich das letzte, was ich vor dem Talentwettbewerb gebrauchen könnte. Ich würde es bestimmt nie riskieren, mir eine Verletzung an den Händen zu holen." Mir wurde plötzlich klar, daß Rory fast fanatisch war, was sein Klavierspielen anging. Irgendwie flößte mir seine Einstellung Respekt ein. Das war sicher das, was meine Urgroßmutter unter Professionalität verstand. Inzwischen hatte das Eis in dem Geschirrhandtuch zu schmelzen begonnen. Ich nahm es ab und ließ es auf den Boden fallen. „Na ja, es wird schon gutgehen. Solange sie reiten, kann ja nicht viel passieren."
Rory ließ sich in einen Sessel fallen und starrte auf den Fernseher. ,Dir kann das doch sowieso egal sein. Schließlich bist du ja nicht für deine Schwester verantwortlich. Helen ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen." Das sind ja ganz neue Töne, dachte ich, und bei dem Thema Töne fiel mir gleich wieder das Video ein. Fred und Judy sangen gerade mein Lieblingslied, und so zerbrach ich mir nicht länger den Kopf über Helen, sondern genoß statt dessen den Film. So etwas könnten Rory und ich auch singen, dachte ich dabei. Wir würden ein echt komisches Duo abgeben. Wenn er wirklich nach Schottland zieht, können wir es ja mal probieren. Um halb fünf kam Mrs. Cooper nach Hause. Der Film war gerade zu Ende. Jetzt, wo Mrs. Cooper keine Wattepads auf den Lidern hatte, konnte man sehen, daß sie dieselben leuchtendblauen Augen hatte wie Gray, nur daß sie sie mit langen, falschen Wimpern betonte. Sie war nicht eben begeistert, als sie die kleine Eiswasserpfütze auf ihrem Teppichboden entdeckte. Ich versuchte, ihr alles zu erklären, aber sie zeigte nicht besonders viel Mitgefühl, obwohl ich unheimlich humpelte, als sie uns zur Tür brachte. Sicherheitshalber hinkte ich die ganze Einfahrt hinunter, für den Fall, daß Mrs. Cooper uns nachsah, aber sobald wir außer Sichtweite waren, rannten Rory und ich los. Bis wir zu Hause ankamen, war die ganze gute Laune verflogen, die ich nach dem Film gehabt hatte, und ich fühlte mich plötzlich richtig mies. Meine Stimmung verschlechterte sich noch, als Helen nicht zum Abendessen kam. Sie rief an und sagte, daß sie bei den Coopers zum Essen eingeladen sei, und so fragte Rita Rory, ob er nicht zum Essen bleiben wolle. Natürlich blieb er. Glücklicherweise fiel niemandem meine düstere Stimmung auf, denn Rita fragte Rory über seine Klavierkünste aus, und er gab ihr auf alles ausführlich Auskunft. Ich hörte nur mit einem Ohr hin. Mit dem anderen
lauschte ich pausenlos in Richtung Tür, ob Helen nicht endlich kam. Aber sie kam erst lange, nachdem Rory gegangen war. Gray hatte sie im Wagen seiner Mutter nach Hause gefahren und brachte sie zur Tür. Als Rita ihn auf eine Tasse Kaffee hereinbat, sagte er sofort zu. Irgendwie lag zwischen ihm und Helen eine eigenartige Stimmung in der Luft. Helen sagte kaum etwas und hielt die Augen gesenkt. Trotzdem wirkte sie nicht irgendwie traurig oder verärgert, sondern eher verträumt. Gray dagegen war fast zu gut gelaunt. „Freut mich, daß es deinem Knöchel schon besser geht, Abby", sagte er, nachdem ich gedankenverloren in die Küche marschiert war, um etwas Milch zu holen. „Die Schwellung scheint ja völlig abgeklungen zu sein." „Ja." Ich lächelte süßlich. „Das verdanke ich deinem kalten Umschlag. Der hat wirklich wahre Wunder gewirkt." Meinst du, daß du morgen schon wieder ausreiten kannst? Morgen früh ist Ebbe. Das wäre ideal für den Galopp am Strand, den ich dir j versprochen hab." Ich zögerte. Wenn ich so professionell gewesen wäre wie Rory, hätte ich sicher ablehnen müssen, um nicht zu riskieren, daß ich mich verletzte und deshalb die Teilnahme am Talentwettbewerb absagen mußte. Aber die Versuchung war groß. Ich sah unsicher zu Helen hinüber. „Ich komme nicht mit", sagte sie. Dabei sah sie Gray direkt in die Augen. Die Luft am Tisch war plötzlich zum Schneiden dick. „Geht ruhig allein. Ich bin noch nicht gut genug, ich würde euch nur aufhalten." „Also, kommst du mit, Abby?" “Ja, gern."
Gray lächelte mich wohlwollend an. „Gut. Komm so gegen halb elf vorbei. Ich verspreche dir, daß ich bis dahin angezogen bin." Als er seinen Kaffee getrunken hatte, brachte ich ihn zur Tür, und nicht Helen. Er tippte mir kurz mit dem Finger auf die Nase. „Du bist wirklich ein tolles Mädchen, Abby. Aber das hab ich dir ja schon gesagt." „Ja, hast du", erwiderte ich trocken. „Ich würde das Kompliment ja auch gern erwidern, aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, was ich von dir halten soll." Grays Lächeln erstarb plötzlich. „Manchmal weiß ich das selber nicht. Gute Nacht." Wenn ich gehofft hatte, Helen würde mir alles erzählen, wenn ich nach oben kam, hatte ich mich getäuscht. Sie hatte sichtlich keine Lust, mir irgend etwas zu erzählen. Sie schmollte zwar nicht direkt und schien mir auch nicht übelzunehmen, was sich tagsüber abgespielt hatte, aber irgendwie war sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Und obwohl ich unheimlich gern gewußt hätte, was passiert war, brachte ich es zum erstenmal in meinem Leben nicht fertig, einfach zu fragen. Vielleicht lag es auch daran, daß ich einfach Angst davor hatte, die Antwort zu hören.
8. KAPITEL Bei Ebbe lief das Wasser in Compton weit ab und legte einen breiten Streifen Sand am Strand frei. Viele Leute fanden den Strand langweilig, weil es dort weder Felsen noch Klippen gab, aber die waren eben noch nie auf einem Pony über den Sand galoppiert. Als wir schließlich anhielten, drehte Gray sich zu mir herum und fragte mich strahlend: „Na, wie war das?" „Einfach super!" „Komm, wir reiten am Wasser entlang zurück." „Aber da werden die Pferde doch ganz naß." „Das macht nichts. Salzwasser ist gut für sie, es kräftigt ihre Fesseln. Fertig?" „Ja!" „Okay, dann reiten wir um die Wette. Los!" Natürlich gewann er. Cobber war viel schneller als Blackie. Aber Blackie war ein kräftiges kleines Pony und scheute nie, nicht einmal, als ihm jemand einen Ball direkt vor die Nase warf, während wir die Pferde vom Strand zurück auf die Promenade führten. „Ob Helen uns wohl zuschaut?" fragte ich. „Vom Schlafzimmerfenster aus könnte sie uns sehen, wenn sie wollte." „Vielleicht will sie nicht", meinte Gray. ,,Ich fuhr herum. „Warum sagst du das?" „Deine Schwester ist ziemlich durcheinander. Manchmal scheint sie selbst nicht zu wissen, was sie will." Anscheinend hatte sie es ihm doch nicht so leicht gemacht. Ich lächelte erfreut. „Du meinst wohl eher, daß du nicht fassen kannst, daß sie dich nicht will."
Gray grinste ungerührt zurück. „Wollen tut sie mich schon. Aber sie hat Angst, es zuzugeben. Sie will es einfach nicht wahrhaben." Ich blieb weiterhin freundlich. „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, daß du der eingebildetste Typ bist, den die Welt je gesehen hat? Ich würde dich wirklich gern mal so richtig auflaufen sehen." „Ach ja?" Grays Augen funkelten. „Und ich dachte, du magst mich." „Ich finde dich ganz nett. Eine Zeitlang fand ich dich sogar sehr nett, aber das war, bevor ich dich besser kennengelernt habe. Jetzt mach ich mir da keine Illusionen mehr." Gray zog die Augenbrauen hoch. „Verletzte Eitelkeit?" Am liebsten hätte ich ihm eine gelangt, aber mir war klar, daß das nichts bringen würde. Statt dessen antwortete ich so cool wie möglich: „Nein, ich hab nur jemanden gefunden, der besser zu mir paßt." „Du meinst doch wohl nicht diesen Spargeltarzan Rory?" Ich biß die Zähne zusammen. „Dieser Spargeltarzan, wie du ihn nennst, hat mehr Begabung in seinem kleinen Finger als du in deinem ganzen muskelbepackten Körper. Und auf die Dauer zählt Talent hundertmal mehr als gutes Aussehen. Wie jemand aussieht, ist mir völlig schnurz." Gray lachte. „Das glaube ich dir nicht." „Von mir aus kannst du glauben, was du willst." „Ich weiß Bescheid." Gray führte Cobber näher zu Blackie, so daß er sich zu mir herüberbeugen und mir ins Ohr flüstern konnte. „Ich weiß, was du in dein Buch geschrieben hast. In das sogenannte Beichtheft. Mann, das würde ich wirklich zu gern
in die Finger kriegen! Die Bekenntnisse der Abby Winslade das wäre bestimmt eine hochinteressante Lektüre." Ich starrte ihn fassungslos an und konnte kaum glauben, was er da gerade gesagt hatte. „Helen hat dir davon erzählt?" „Natürlich." „Und hat sie dir auch gesagt, daß ich das, was ich geschrieben hatte, wieder ausradiert und etwas anderes dafür hingeschrieben hab?" Gray grinste. „Das war doch nur zum Schein. Was du zuerst geschrieben hast, zählt." Ich war so sauer, daß ich kaum noch ein Wort herausbrachte. Schließlich meinte ich nur: „Rory hat recht gehabt, als er dich einen Mistkerl genannt hat. Du bist wirklich das letzte." Wir waren inzwischen an einer belebteren Stelle der Promenade angekommen, so daß wir eine Weile hintereinander reiten mußten. Die Pferde suchten sich vorsichtig einen Weg durch die Osterspaziergänger, die die wenigen Sonnenstrahlen genießen wollten. Als ich wieder neben Gray ritt, sagte er: „Das meinst du doch nicht ernst, Abby." „Doch, das meine ich ernst. Jedes Wort." Ich sah, daß er eine lange Lederleine auseinanderwickelte, die bis dahin um Cobbers Hals gehangen hatte. Als er sich zu mir herüberbeugte und das eine Ende der Leine an Blackies Zügel festmachte, fragte ich wütend: „Was machst du denn da?" „Ich nehme dich an die Leine. Wir müssen auf dem Weg nach Hause durch den Verkehr reiten." „Das ist nicht nötig. Du hast doch selbst gesagt, daß ich inzwischen gut reite." „Du bist aber noch unerfahren." Er richtete sich wieder auf und grinste mich an. „In jeder Hinsicht. Du mußt noch viel lernen, Abby." Wenn Blicke töten könnten, dann hätte ich Gray
mit einem einzigen Blick gekillt. Mit Gray Cooper zu reden, hatte ja sowieso keinen Sinn. Seine Selbstgefälligkeit war wie eine kugelsichere Weste. Ich hätte alles dafür gegeben, ihn nur ein einziges Mal aus der Fassung zu bringen, aber mir war klar, daß mir das nicht gelingen würde. Helen konnte es vielleicht schaffen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie auch willensstark genug dafür war. Als wir zurück zum Haus kamen, sattelten wir die Pferde ab und brachten sie dann auf die Koppel. Cobber galoppierte übermütig herum und schlug ein paarmal aus, während Blackie sofort zu Duchess trabte und sie mit einem sanften Nasenstüber begrüßte. Irgendwie hatten Pferde genauso eine Persönlichkeit wie Menschen. Cobber war wie Gray, ein richtiger Showtyp. „Du bist auf einmal so still, Abby", sagte Gray, als er mich zum Tor brachte. „Das paßt gar nicht zu dir." „Das beweist mal wieder, wie wenig du mich kennst", fauchte ich ihn an. „Ich bin keine Quasselstrippe. Ich denke oft nach. Und du wärst sicher überrascht, wenn du wüßtest, worüber ich nachdenke." „Schon möglich", stimmte er mir zu. Am Tor blieb er stehen. „Danke, daß du mitgekommen bist. Es hat mir wirklich Spaß gemacht." „Mir auch", gab ich widerwillig zu. „Das Reiten wenigstens." „Die gute, alte Abby - ehrlich bis zum bitteren Ende. Richte doch Helen bitte was von mir aus. Sag ihr, daß ich heute nachmittag in dem Cafe auf sie warte, in dem wir uns das erstemal getroffen haben. So gegen drei Uhr." „Sie wird aber nicht kommen. Rory und ich veranstalten eine Kostümprobe, und die will sie sich ansehen." „Richte es ihr trotzdem aus." Gray schloß das Tor hinter mir. „Also dann, tschüs, Abby." Auf dem Heimweg kämpfte ich schwer mit meinem Gewissen. Wenn ich einfach „vergaß", Helen auszurichten, was
Gray mir aufgetragen hatte, würde sie nicht zu der Verabredung kommen und Gray würde denken, sie hätte ihn versetzt. Aber wenn Gray dahinterkam, daß ich seine Nachricht unterschlagen hatte, würde er bestimmt denken, ich hätte es aus verletzter Eitelkeit getan. Für meine Pläne war es am besten, wenn ich Helen Grays Nachricht weitergab und sie dann selbst beschloß, nicht hinzugehen. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich ihr soviel Willenskraft zutrauen konnte. Im Grunde war ich nicht einmal sicher, ob ich ihr überhaupt noch trauen konnte. Gleich, als ich nach Hause kam, knöpfte ich sie mir vor. „Du hast Gray von meinem Beichtheft erzählt! Wenn man anderer Leute Geheimnisse verrät, ist das ein Vertrauensbruch." „Wenn es so geheim war, dann hättest du es nicht aufschreiben sollen", erklärte Helen. Wir waren allein im Wohnzimmer. Rita bereitete das Mittagessen vor, und Urgroßmutter hatte sich hingelegt. Ich warf Helen einen wütenden Blick zu. „Es ist doch schließlich der Sinn eines solchen Beichthefts, daß man darin seine geheimsten Gedanken aufschreibt. Das heißt aber noch lange nicht, daß jeder davon erfahren darf." Helen zuckte die Achseln. „Na, dann tut es mir leid. Ich hab gedacht, es würde dir nichts ausmachen." „Wahrscheinlich habt ihr beiden euch darüber kaputtgelacht - die dumme kleine Abby und ihre kindliche Schwärmerei?" Wenigstens hatte Helen Anstand genug, um verlegen zu werden. „Nein, ehrlich, so war das nicht. Außerdem hätte Gray es dir nicht sagen sollen. Das war taktlos von ihm."
„Ja, das war es. Aber das ist typisch Gray, den kümmert es keinen Pfifferling, ob er jemandem weh tut. Er ist ungefähr so feinfühlig wie eine Ladung Zement." Helen warf mir verstohlen einen Blick zu. „Das hört sich an, als würdest du ihn plötzlich nicht mehr mögen." „Tu ich auch nicht, jedenfalls nicht mehr so wie am Anfang. Mir ist endlich ein Licht aufgegangen." Und das stimmte wirklich. Als ich Gray gesagt hatte, daß Rory viel mehr wert sei als er, hatte ich das ernst gemeint. Ich fand Gray zwar immer noch attraktiv, aber Rory war eigentlich viel eher mein Typ. Helen sah mich lange an. „Das scheinst du wirklich ernst zu meinen." „Ja, das tu ich." Ich musterte sie ernst. „Nur schade, daß du nicht genauso denkst." Helen senkte den Blick. „Keine Sorge, ich hab nicht die Absicht, mich noch mal mit ihm zu treffen." „Das ist gut. Er hat mir nämlich aufgetragen, dir etwas auszurichten. Er möchte sich um drei Uhr mit dir im Cafe treffen. Ich hab ihm gesagt, daß du keine Zeit hättest, weil du dir unsere Probe ansehen willst, aber das hat er mir wohl nicht abgenommen. Er ist so eingebildet, daß er glaubt, er bräuchte nur seinen kleinen Finger zu krümmen, und jedes Mädchen rennt ihm hinterher." Helen hob trotzig den Kopf. „Ich bin aber nicht jedes Mädchen." „Das wird er schon kapieren, wenn du ihn versetzt." „Um welche Zeit probt ihr denn?" „So gegen halb drei. Hilfst du mir beim Anziehen?" „Klar." Nach dem Mittagessen gingen wir auf unser Zimmer, und Helen half mir in mein Kostüm. Ich konnte wirklich von Glück sagen, daß ich sie dabei hatte, denn das Kleid hatte keinen
Reißverschluß, sondern wurde hinten mit einer langen Reihe kleiner Knöpfe geschlossen. Danach schminkte Helen mich und machte mir dieselbe Frisur, die Rita ihr für die Party gemacht hatte. Zum Schluß setzte ich den Hut auf, legte mir die Federboa um die Schultern und drehte mich zu ihr herum. „Na, wie findest du mich?" „Einfach umwerfend. Du siehst aus, als wärst du mindestens siebzehn." „Ich kann es kaum erwarten, bis Urgroßmutter mich sieht. Komm, laß uns runtergehen." Wir gingen nach unten. In der Diele kam uns Rita entgegen. „Abby! In dem Aufzug siehst du Nelly Sweet so ähnlich, daß es schon fast unheimlich ist. Da fehlt nur noch eines, um das Bild abzurunden." „Was denn?" fragte ich. „Mutters Brosche. Geh sie doch mal holen, Helen." Das traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Helen und ich hatten beide schon seit Tagen nicht mehr an die Brosche gedacht, und jetzt tauchte das Thema plötzlich wieder aus der Versenkung a uf, Wir erstarrten förmlich vor Schreck. „Na los, mach schon", drängte Rita. Helen wurde bleich. „Ich kann nicht." „Was soll das heißen - du kannst nicht? Du hast sie doch noch, oder?" „Nein." Helen schluckte schwer. „Ich ... ich hab sie auf der Party verloren. Der Verschluß muß mir beim Tanzen aufgegangen sein." „Wir haben schon überall gesucht", sagte ich. „Aber es ist, als hätte sich die Brosche in Luft aufgelöst." „Das gibt's doch gar nicht." Rita zog die Stirn kraus. „Warum hast du mir das denn nicht gesagt, Helen?" „Sie hatte Angst. Außerdem haben wir immer gehofft, daß sie wieder auftaucht."
„Wie hätte sie denn wieder auftauchen sollen? Broschen spazieren doch nicht einfach davon." „Diese schon." „Sei doch nicht albern, Abby." Rita klang richtig verärgert. Aber dann erhellte sich ihre Miene plötzlich, und sie sagte: „Na ja, darüber müssen wir uns ja nicht unbedingt jetzt den Kopf zerbrechen. Rory sitzt schon am Klavier, und Mutter kann es kaum erwarten, bis du anfängst. Das mit der Brosche muß warten bis später." Ich war erleichtert, aber ich konnte Helen ansehen, daß ihr das kein Trost war. Schließlich hatte Rita ihr die Brosche anvertraut. Als wir ins Wohnzimmer kamen, setzte sie sich allein ans Fenster, während Rita es sich auf dem Sofa gemütlich machte. Als ich mich umdrehte, starrten Rory und Urgroßmutter mich entgeistert an. Rory pfiff durch die Zähne. „Mannomann!" „Alle Achtung", meinte Urgroßmutter. „Gefällt es euch?" Ich sonnte mich in der allgemeinen Bewunderung, bis ich merkte, daß ich mich fast so eitel aufführte wie Gray Cooper. „Findet ihr, daß es mir steht?" „Es ist ein Knüller!" „Und es ist rosa." „Ja, ich weiß." Ich wedelte meiner Urgroßmutter mit der Boa vor der Nase herum. „Und Federn hab ich auch. Zwar nicht auf dem Hut, aber so ist es doch auch nicht schlecht." „Eine Federboa hatte ich auch mal", erzählte Urgroßmutter. „Sowas ist sehr nützlich. Mit einer Federboa kann man wunderbar flirten." „Echt?" Ich versuchte es gleich mal, hielt mir die Boa vor das Gesicht und machte Rory schöne Augen. „So, meinst du?" Rory wurde ziemlich rot und drehte sich herum zum Klavier. „Wollen wir nicht endlich anfangen?"
Es war komisch, aber jetzt, wo ich als Erwachsene verkleidet war, wirkte das Lied völlig anders. Rory hatte recht gehabt, als er mir davon abgeraten hatte, die Schürze anzuziehen, in der hatte ich mich wirklich wie ein Kind gefühlt. In dem rosa Kleid brachte ich das Lied völlig anders, und schließlich beendete ich meinen Auftritt ganz unwillkürlich mit einem frechen Zwinkern. „So ist es richtig!" rief Urgroßmutter triumphierend. „Und jetzt das Ganze noch mal von vorn, damit du es dir auch richtig einprägst." . Ich sang das Lied ein zweites Mal, probte dann meine beiden anderen Lieder und sang zum Schluß noch einmal „Pretty Baby". Irgendwann merkte ich, daß Helen nicht mehr im Zimmer war, und mein Blick wanderte unwillkürlich zur Uhr auf dem Kaminsims. Es war fünf vor drei. War sie doch zu Gray gegangen? Oder nahm sie sich das mit der Brosche so zu Herzen, daß sie einfach nicht den Nerv hatte, mir beim Singen zuzuhören? Mir wäre es natürlich am liebsten gewesen, wenn die Brosche der Grund für Helens Verschwinden war, aber insgeheim hatte ich da so meine Zweifel. Ich konnte plötzlich einfach nicht mehr weitersingen. „Vielleicht hörst du jetzt besser auf", meinte Tante Rita. „Du sollst dich ja schließlich nicht verausgaben." „Das finde ich auch", pflichtete Urgroßmutter ihr bei. „Schon dich lieber für morgen. So, und jetzt sagt mir mal, wie das morgen abläuft." Ich erklärte ihr, daß am Nachmittag eine Vorentscheidung stattfinden würde. „Wenn wir die überstehen, dann findet der Hauptwettbewerb ab Viertel vor acht statt."
„Dann ruh dich aber zwischendurch aus", sagte Urgroßmutter streng. „Und iß nicht zuviel. Auf leeren Magen singt es sich besser." Sie wandte sich Rita zu. „Wenn wir hier so gegen Viertel nach sieben aufbrechen, müßte das eigentlich reichen." Rita starrte sie entgeistert an. „Soll das heißen, daß du mitkommst?" » Natürlich komme ich mit. Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen." „Aber hältst du das wirklich für richtig, Mutter? Du bist doch schon seit fast zwei Jahren nicht mehr aus dem Haus gegangen." „Ich hatte ja auch keinen Grund, irgendwo hinzugehen. Aber jetzt hab ich einen." Sie zwinkerte mir nach guter, alter Nelly Sweet Manier zu. „Außerdem ist es ja nicht weit. Bis zur Strandpromenade sind es nur ein paar hundert Meter." „Ein paar hundert Meter sind schon zuviel, besonders, wenn es draußen kühl ist. Ich werde Mr. Lockhart bitten, daß er uns in seinem Wagen hinbringt." „Ja, das wäre nett." Urgroßmutter nickte würdevoll. „So, und jetzt geh nach oben und zieh dich um, Abby. Und sei vorsichtig, damit das Kleid nicht verknittert." "Keine Sorge, ich paß schon darauf auf", versprach ich. Als ich am Klavier vorbeikam, sagte ich: „Vielen Dank, Rory, ohne dich hätte ich das nie geschafft." Zu meiner großen Überraschung wurde er richtig verlegen. Er starrte auf die Tasten und murmelte leise etwas, das ich nicht verstand. Rita folgte mir nach draußen. „Es ist wirklich ein Wunder", sagte sie. "Ich hätte nie gedacht, daß wir Mutter noch einmal
dazu bringen, aus dem Haus zu gehen. Wo steckt eigentlich Helen?" Oben, schätze ich." „Oh je, meinst du, sie hat sich das mit der Brosche so zu Herzen genommen?" Rita machte ein besorgtes Gesicht. „Vielleicht hätte ich nicht so böse werden sollen. Sag ihr doch bitte, daß das mit der Brosche nicht so schlimm ist. Mutter wird sie wahrscheinlich gar nicht vermissen. So fit, wie sie seit neuestem ist, möchte ich darauf allerdings auch keinen Eid mehr schwören." Ich hob meinen Rocksaum und begann, vorsichtig nach oben zu gehen. ,Ich werd Helen sagen, daß du nicht mehr böse bist." „Ja, tu das. Und, Abby ... " Ich blieb stehen. Rita lächelte. ,,Du warst wirklich großartig." Schon bevor ich die Tür zu unserem Zimmer aufmachte, war mir klar, daß Helen nicht da sein würde. Als ich es endlich geschafft hatte, die ganzen Knöpfe an meinem Kleid allein aufzumachen und wieder Jeans und Sweatshirt trug, setzte ich mich auf mein Bett, um nachzudenken. Ich war total durcheinander. Ich war sauer auf Helen und traurig wegen der Brosche, aber gleichzeitig freute ich mich über Urgroßmutters gute Verfassung. Rita hatte es als Wunder bezeichnet. Für mich lebte Eleanor Sweet einfach noch immer, und sie war noch dasselbe Mädchen, das damals das Beichtheft geschrieben hatte. Ich machte meinen Nachttisch auf, nahm den blauen Lederband heraus und blätterte nachdenklich darin herum. Ob jetzt wohl der geeignete Moment war, ihn Urgroßmutter noch mal zu zeigen? Oder würde die Erinnerung an die Vergangenheit wieder alles verderben?
Vorsichtshalber entfernte ich das Foto von ihr und ihren Brüdern und legte es in die Schublade. Dann ging ich mit dem Heft nach unten. Rory spielte noch immer Klavier, und Rita und Urgroßmutter hörten gespannt zu, aber als ich ins Zimmer kam, nahm er die Hände von den Tasten. „Spiel ruhig weiter, das klingt gut." „Es ist wunderschön", sagte Rita. „Ich hab Rory schon gesagt, daß er hierher kommen und spielen kann, so oft er Lust hat. Es ist doch eine Schande, daß er kein Klavier zum. Üben hat." Rita sah mich neugierig an. „Ist mit Helen alles in Ordnung?" „Ich weiß nicht. Sie ... sie ist spazierengegangen." „Ach so." Rita klang alles andere als beunruhigt. „Ich glaube, ich geh mal auf einen Sprung rüber zu Cynthia. Ich hab ihr versprochen, heute nachmittag mal reinzuschauen. Bleibst du zum Abendessen, Rory?" „Nein, vielen Dank." Rory schloß den Klavierdeckel. „ich hab meinem Onkel versprochen, daß ich dabei helfe, ein Bett ins Gästezimmer zu tragen. Wir kriegen am Wochenende Besuch." „Dann paß aber gut auf deine Hände auf", witzelte ich, doch Rory lächelte nicht. „Keine Sorge, das werde ich." Als Rory sich verabschiedet hatte und Rita hinüber zu Cynthia gegangen war, zeigte ich meiner Urgroßmutter noch einmal das Beichteheft. „Weißt du, was das ist?" fragte ich vorsichtig. „Ich hab es vor ein paar Tagen auf dem Dachboden gefunden. Es muß von dir stammen, als du so alt warst wie ich." Urgroßmutter starrte auf den blauen Einband. „Das ist mein Beichtheft."
„Ja, stimmt!" Es freute mich unheimlich, daß sie es diesmal erkannt hatte. „Das hab ich schon seit Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Na sowas!" Meine Urgroßmutter begann aufgeregt, in dem Beichtheft herumzublättern. „Sieh mal, mein Vater hat was reingeschrieben, und meine Mutter auch. Und sogar Billy und Frank." Das sagte sie ganz ruhig und ohne jede Spur von Traurigkeit. „Du hast damals in dein Heft geschrieben, es wäre dein Lebensziel, dich von Unfällen und vom Armenhaus fernzuhalten", sagte ich. „Und du hast dich als nützlichen Menschen bezeichnet und nicht als Zierde." „Hab ich das? Na, ich bin mir nicht sicher, ob ich das ernst gemeint habe. Schließlich hab ich sehr hart daran gearbeitet, eine Zierde zu werden." Sie blätterte zurück zur ersten Seite. „Wann hab ich denn das geschrieben?" „1914." „Das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg angefangen hat." Sie schüttelte den Kopf. "Wir waren damals so ahnunglos, und so glücklich! Für uns war immer Sommer. Damals war es in Compton völlig anders. Auf der Strandpromenade gingen elegant gekleidete Leute spazieren, und im Pavillon spielte eine Blaskappelle. Schade, daß du das nie gesehen hast, Abby." ,Ja, das finde ich auch." „Damals hat mein Bruder Billy noch gelebt. Der arme Billy." Die Miene meiner Urgroßmutter verdunkelte sich, und ich hielt gespannt den Atem an. ,Er ist in Frankreich gefallen. Damals sind so viele junge Männer umgekommen. Es war ein schrecklicher Verlust für das Land. Glücklicherweise war Frank zu jung, um einberufen
zu werden. Er ist nach dem Krieg nach Australien gegangen, um dort als Schafzüchter zu arbeiten. Wir haben dann jahrelang nichts mehr von ihm gehört - er war nie ein großer Briefeschreiber -, aber vor einiger Zeit hat Rita einen Brief von seinem Sohn bekommen. Offenbar ist Frank als wohlhabender Mann gestorben. Das hat mich wirklich sehr überrascht, denn als junger Mann hatte er kaum einen Pfennig in der Tasche. Er hat sich andauernd Geld von mir geborgt." Sie lachte. „Da sieht man mal wieder - man kann nie wissen, wie sich jemand im Leben entwickelt." Ich atmete langsam wieder aus. Sie hatte von Billy gesprochen, und es hatte ihr nichts ausgemacht. Ich hatte sie nicht wieder traurig gestimmt. „Ich führe jetzt auch ein Beichtheft", berichtete ich. „Allerdings kein so schönes wie du. Meins ist nur ein Schulheft." Meine Urgroßmutter klappte das Buch zu und strich mit ihrem verkrümmten Fingern über den Ledereinband. „Es freut mich wirklich, daß du es gefunden hast. Ich werde es mit ins Bett nehmen und später lesen." Damit klemmte sie sich das Buch unter den Arm und zog sich die Decke von den Knien. ,;Am besten gehe ich jetzt gleich ins Bett. Ich bin ziemlich müde." Ich brachte sie in ihr Zimmer und half ihr ins Bett. Das Album hielt sie dabei immer unter den Arm geklemmt. Dann lächelte sie zufrieden. „Morgen ist unser großer Tag", sagte sie. „Bist du schon nervös?" „Ein bißchen." „Das ist gut. Nervosität gehört dazu. Das wird deinem Auftritt das gewisse Etwas geben." Meiner Urgroßmutter fielen die Augen zu. „Ich glaube, ich schlafe jetzt lieber ein bißchen."
Ich sah sie noch einen Moment lang an. Wie sie so mit geschlossenen Augen dalag, sah sie unheimlich zerbrechlich aus und sehr, sehr alt. „Gute Nacht, Urgroßmutter", sagte ich und fügte dann leise hinzu: „Und schlaf gut, Eleanor Sweet." Aber ich glaube nicht, daß sie mich hörte. Sie war schon eingeschlafen, das Buch noch immer unter dem Arm. Ich schloß leise die Tür und ging dann nach oben, um auf Helen zu warten. Sie kam kurz vor dem Abendessen zurück, und ihre Augen waren rot und verquollen. „Du hast dich doch mit ihm getroffen", sagte ich vorwurfsvoll zu Helen. „Und dabei hattest du mir versprochen, daß du nicht hingehen würdest." Helen begann, sich das Haar zu bürsten. „Ich habe gar nichts versprochen." Vielleicht stimmte sogar, was Helen sagte, ich wußte es nicht mehr genau. „Wärst du auch gegangen, wenn Rita dich nicht wegen der Brosche angeschnauzt hätte?" „Wahrscheinlich nicht." „Hast du jemanden gebraucht, bei dem du dich ausweinen konntest?" fragte ich, und als Helen nicht antwortete, fügte ich giftig hinzu: „Mann, das ist Gray sicher runtergegangen wie Honig! Für ihn gibt es bestimmt nichts Schöneres als ein hilfloses weibliches Wesen, das ihm sein Herz ausschüttet. Das würde seiner männlichen Eitelkeit so richtig schmeicheln." Helen gab ein komisches Geräusch von sich, das halb wie ein Schluckauf und halb wie ein Lachen klang. „Rita ist dir sowieso nicht mehr böse", sagte ich schnell. „Sie wollte, daß ich dir sage, daß das mit der Brosche nicht so tragisch ist. Es tut ihr leid, daß sie dich so angefegt hat."
Die Bürste verfing sich in Helens Haar, und sie zog ungeduldig daran. „Gray dachte, ich wollte ihn schon wieder verdächtigen. Er hat gesagt, er hätte noch nie erlebt, daß jemand wegen einer blöden kleinen Brosche so ein Getue macht." „Das ist wieder mal typisch Gray. Mitgefühl ist auch nicht gerade seine Stärke." Helen befreite die Bürste aus ihrem Haar und warf sie auf die Kommode. „Dann haben wir uns gestritten. Ich hab ihm gesagt, daß ich ihn nie wieder sehen will." „Gut. Hoffentlich meinst du es diesmal ernst." „Natürlich." Helen musterte sich im Spiegel. „Ich kann ihn nicht ausstehen." „Ich auch nicht." Ich lächelte Helen aufmunternd zu. „Komm, laß uns runtergehen zum Abendessen." „Ich glaub, ich laß das Essen heute ausfallen. Sag Rita, daß ich keinen Hunger hab." „Dann glaubt sie bestimmt, du bist beleidigt." „Nicht, wenn du es ihr richtig erklärst. Ich kann einfach nichts essen, und ich hab echt keine Lust, unten herumzusitzen und mir irgendeinen beknackten Film im Fernsehen anzuschauen. Ich muß einfach mal allein sein." Na, wunderbar, dachte ich. Ich war in Gray mindestens genauso verknallt gewesen wie sie, und meine Schwärmerei war noch dazu total einseitig, was noch viel schwerer zu ertragen war als ein alberner Streit über eine Brosche. Trotzdem spielte Helen jetzt die große Leidende, während ich nach unten gehen und so tun mußte, als wäre alles in bester Ordnung, damit Rita nichts merkte. Erst später, als ich im Bett lag und hörte, wie Helen in ihr Kissen heulte, fragte ich mich, ob ich nicht doch besser dran war als sie. Ich hätte nicht mit ihr tauschen mögen.
Früh am nächsten Morgen klopfte Rita an unsere Tür. Sie sah sehr blaß und angespannt aus. ,Ich hab eine traurige Nachricht für euch", sagte sie. „Mutter ist letzte Nacht im Schlaf gestorben. Der Doktor meint, sie müsse einen Schlaganfall gehabt haben, aber wahrscheinlich hat sie gar nichts mehr davon gespürt. Am besten zieht ihr euch jetzt gleich an und kommt nach unten."
9. KAPITEL ,Das kann ich nicht", sagte ich. „Ich kann doch unmöglich singen und tanzen, nachdem Urgroßmutter heute morgen gestorben ist. Das wäre einfach nicht richtig." „Es wäre nicht richtig, wenn du es nicht tätest", meinte Rita. „Mutter hat sich soviel Mühe damit gegeben, dich auf den Wettbewerb vorzubereiten. Was glaubst du, wie ihr zumute wäre, wenn sie wüßte, daß sie sich die Mühe umsonst gemacht hat?" Irgendwie hatte ich noch immer nicht verdaut, was passiert war. Es war ein fürchterlicher Morgen gewesen, und die Besucher hatten sich förmlich die Klinke in die Hand gegeben. Ich konnte einfach nicht begreifen, daß es Urgroßmutter auf einmal nicht mehr gab. Ich erwartete dauernd, ihr Klingelzeichen oder ihre Stimme zu hören. Statt dessen herrschte in ihrem Zimmer eine schreckliche Leere. „Ich glaube, du weißt gar nicht, wie wichtig diese Proben für Mutter waren, Abby", fuhr Rita leise fort. „Bevor du gekommen bist, war sie eine traurige alte Dame, die sich krampfhaft an ihre Vergangenheit geklammert hat, weil sie keine Zukunft mehr hatte. Aber du hast ihr etwas gegeben, worauf sie sich freuen konnte. Zum erstenmal seit zwei Jahren wollte sie sogar ausgehen." „Aber gestorben ist sie trotzdem." „Ja, aber sie ist glücklich gestorben, und das ist das Wichtigste." Das stimmte. So hatte ich es noch nicht gesehen. Ich dachte daran, wie ich sie am Abend vorher ins Bett gebracht hatte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, daß sie mit glücklichem Lächeln gesagt hatte: Morgen ist unser großer Tag." „Also gut, ich mach's", sagte ich. „Ich hoffe nur, daß mich die Leute nicht für herzlos halten."
„Wer sollte denn sowas denken? Cynthia oder Mr. Lockhart bestimmt nicht." Aber die Familie Lennox vielleicht." ,Ach, die." Rita winkte ab. Auf deren Urteil geb ich inzwischen nicht mehr viel. Die scheinen in vieler Hinsicht etwas merkwürdige Ansichten zu haben." Ich nahm an, daß sie dabei an Rory dachte. „Schließlich wollte Mutter immer, daß du dich wie ein Profi benimmst", fuhr Rita fort. „Und bei Profis geht die Show weiter, ganz gleich, was im Privatleben passiert." ,Ja, das stimmt." Ich war fest entschlossen, den Wettbewerb zu gewinnen. Ich wollte für meine Urgroßmutter siegen. Jetzt muß ich erstmal euren Eltern Bescheid sagen." Rita nahm den Telefonhörer in die Hand. Hol doch mal Helen runter, ja? Eure Eltern wollen sicher mit euch beiden sprechen." Als ich nach oben kam, saß Helen am Fenster. Ihre Wangen waren tränennaß. Urgroßmutters Tod hatte sie schwer getroffen. Nach ihrem Kummer wegen Gray war dieser zweite Schlag einfach zuviel für sie. Ich hatte komischerweise kaum geweint, seit Rita uns die Nachricht überbracht hatte. Das bedrückte mich richtig, denn eigentlich hatte ich Urgroßmutter viel näher gestanden als Helen. Irgendwie hatte ich es wohl einfach noch nicht richtig begriffen. Rita ruft gerade Mom und Dad an", sagte ich. „Sie möchte, daß wir runterkommen und mit ihnen reden." Helen drehte sich zu mir um. Abby, mir ist hundeelend zumute. Gestern abend hab ich mich wegen Gray richtig in etwas reingesteigert, und jetzt ist mir plötzlich klar geworden, wie unwichtig das alles eigentlich war. Wie konnte ich nur so blöd sein?"
Gestern abend war es wahrscheinlich noch wichtig für dich", tröstete ich sie. ,,Du konntest ja nicht wissen, was passieren würde." » Das ist aber keine Entschuldigung." Helen zerrupfte ein Papiertaschentuch zwischen den Fingern und fügte leise hinzu: "Manchmal kann ich mich selbst nicht ausstehen." "Ich mag mich im Augenblick auch nicht besonders", gab ich zu. „Rita hat mich dazu überredet, trotz allem bei dem Wettbewerb mitzumachen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das richtig ist. Was meinst du denn dazu?" Helen sah mich zweifelnd an. „Mir kommt das auch ein bißchen früh vor. Einige Leute könnten sich vor den Kopf gestoßen fühlen." Rita meint, das sei egal. Sie glaubt, daß Urgroßmutter es so gewollt hätte. Glaubst du das auch?" "Ja, eigentlich schon." Allzu überzeugend klang Helen nicht. Dann aber wiederholte sie entschlossen: Ja, das glaube ich. Es ist Heuchelei, wenn man sich um das Gerede der Leute kümmert. Wichtig ist, was man selber denkt. Wenn du das Gefühl hast, daß du das Richtige tust, dann solltest du dich nicht davon abbringen lassen." Danke, Helen. Aber jetzt komm schnell mit nach unten, bevor Rita den Hörer einhängt." Unsere Eltern klangen unheimlich weit entfernt, und es knackte so laut in der Leitung, daß man sie nur schwer verstehen konnte. Aber Rita erzählte uns später, daß sie am nächsten Tag zurückkommen würden, damit sie rechtzeitig zum Begräbnis am Dienstag bei uns waren. "Das bedeutet, daß ihr dann alle zusammen nach Schottland fahren könnt", sagte sie. "Eure Eltern haben eine Wohnung gefunden, in der ihr bleiben werdet, bis euer Haus bezugsfertig ist."
Irgendwie freute ich mich darauf, auch wenn ich mir alle Mühe gab, es mir nicht anmerken zu lassen. Sogar Helen wirkte jetzt etwas fröhlicher. Als ich am Nachmittag zur Vorausscheidung in den Strandpavillion ging, nahm ich mein Kostüm mit, aber der stellvertretende Geschäftsführer meinte, ich bräuchte mich nicht umzuziehen. ,,Wir wollen nur mal sehen, was du kannst", sagte er. „Da brauchst du noch nicht alle Register zu ziehen." Das schien mir irgendwie nicht logisch. Ohne mein Kostüm war meine Nummer doch nichts wert. Das sagte ich auch zu Rory, als wir auf unseren Auftritt warteten. Keine Sorge", meinte er beruhigend. „Du schaffst das locker. In der Vorentscheidung sollen nur die wirklich Schlechten aussortiert werden. Außerdem wollen sie sichergehen, daß kein Auftritt zu lange dauert." Ich hatte Rory noch nichts von Urgroßmutters Tod gesagt. Irgendwie brachte ich es einfach nicht über die Lippen. Außerdem war es wirklich nicht die richtige Kulisse dafür. Alles war grell beleuchtet, überall standen Verstärker herum, und es roch nach Puder und Schweiß. Marina und Jilly hatten ihre Gymnastikanzüge unter den Klamotten an und waren ganz offensichtlich jederzeit startklar. Ich sah ihnen zu, während sie sich zu der Musik aus „Cats" geschickt akrobatisch bewegten. Insgeheim beneidete ich die beiden um ihre Beweglichkeit. Super", rief der stellvertretende Geschäftsführer, als sie fertig waren. Ihr könnt heute abend wiederkommen." Kichernd zogen die beiden ab. Als nächstes kam die Frau mit der großen Nase und dem dicken Augen-Make-up. Sie sang mit lauter, tragender Stimme eine Opernarie, die auch ohne Mikrofon bis in die letzte Reihe zu hören war. „Vielen Dank, Joanie. Schön, daß Sie dieses Jahr wieder dabei sind."
Die ist schon ein alter Hase", flüsterte Rory mir zu. „Sie macht jedes Jahr mit, hat aber noch nie gewonnen. Ihre Art zu singen ist aus der Mode gekommen. Jetzt sind wir dran." Ich fand meine Nummer auch nicht gerade modern und wünschte fast, wir wären gar nicht erst gekommen. Aber Rory war schon zum Klavier gegangen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mitzumachen. Nervös begann ich mit „Pretty Baby", aber irgendwie hatte mein Auftritt überhaupt keinen Pep. Ob es daran lag, daß ich mein Kostüm nicht anhatte, oder daran, daß ich nicht in der richtigen Stimmung war, wußte ich selbst nicht. Jedenfalls kam das Lied überhaupt nicht rüber. Wenn Rory nicht ein paar Extratriller eingebaut hätte, um meine Schwachstellen zu überbrücken, wäre der ganze Auftritt ein Riesenreinfall geworden. „Das genügt", sagte der Geschäftsführer. „Der nächste, bitte." „Haben wir es geschafft?" fragte ich Rory, wärend wir uns wieder in den Zuschauerraum setzten, um den anderen zuzusehen. „Ja." „Aber ich war doch hundsmiserabel!" „Keine Sorge, heute abend bist du bestimmt besser." Wir saßen im Dunkeln und sahen einem Jungen zu, der als Bauchredner auftrat. Kurz bevor seine Nummer zu Ende war, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte: „Daß ich heute nicht gut war, hat übrigens seinen Grund. Urgroßmutter ist letzte Nacht. . ." „Der nächste, bitte! Wo ist Rory Lennox?" „Hier!" Rory sprang auf und ging auf die Bühne. Zuerst dachte ich, das Ganze wäre ein Irrtum. Einen Augenblick lang glaubte ich sogar, sie wollten uns noch mal hören, um festzustellen, ob ich wirklich so schlecht war. Um ein Haar wäre ich sogar mit Rory aufgestanden, aber
glücklicherweise tat ich es nicht, denn er ging auf die Bühne und spielte ein Solo. Sehr gut", sagte der Direktor, als Rory sein Stück beendet hatte. „Vielen Dank. Bis heute abend." Als er zurück auf seinen Platz kam, flüsterte ich ihm zu: „Wieso hast du mir denn nicht gesagt, daß du selbst auch am Wettbewerb teilnimmst?" „Du hast mich ja nicht gefragt." „Der Gedanke ist mir einfach nicht gekommen." In diesem Augenblick erinnerte ich mich daran, daß der Direktor sich schon bei der Anmeldung zum Wettbewerb mit Rory unterhalten hatte, als würde er ihn schon länger kennen. ,,Du hast schon mal mitgemacht, stimmt's?« fragte ich mißtrauisch. „Schon zweimal. Wenn ich dieses Jahr gewinne, wäre es das dritte Mal." Sein Gesicht nahm plötzlich einen entschlossenen Ausdruck an. Wenn sie das nicht überzeugt, dann weiß ich wirklich nicht, was ich noch tun soll." Ich dachte, ich hätte mich verhört. Das war ja wohl das Letzte! Da hatte Rory nun jeden Nachmittag treu und brav mit mir geprobt und dabei mit keinem Wort erwähnt, daß er vorhatte, gegen mich anzutreten - und das, nachdem er noch dazu schon zweimal in Folge gewonnen hatte. „Meine Urgroßmutter ist gestern nacht gestorben", sagte ich ohne jede Vorrede. Es dauerte eine Weile, bis Rory begriff, was ich gesagt hatte. Dann sah er mich richtig geschockt an und meinte verlegen: Das tut mir leid." ,Deshalb muß ich den Wettbewerb gewinnen", sagte ich. Ich muß es für meine Urgroßmutter tun." Rory preßte kurz die Lippen zusammen. „Und ich muß es für mich tun."
Danach sagte ich lieber gar nichts mehr. Statt dessen schnappte ich mir die Tute mit meinem Kostüm und machte, daß ich wegkam. Rita reagierte längst nicht so mitfühlend, wie ich erwartet hatte. Sie hatte schon seit Freitagnachmittag von Rorys Soloauftritt gewußt. Er hatte ihr und Urgroßmutter seinen Beitrag vorgespielt, als ich oben in meinem Zimmer war, um mich nach der Probe umzuziehen. „Er hat eine Art Abmachung mit seinem Onkel getroffen", erzählte Rita. Wenn er den Wettbewerb zum drittenmal gewinnt, will ihm Captain Lennox erlauben, sein Klavierspiel in Zukunft ernsthaft zu betreiben. Sie haben sogar jemanden über das Wochenende eingeladen, damit er sich Rory mal anhört. Es ist ein Bekannter, der in der Musikbranche arbeitet. Deshalb ist Rory der Sieg auch so wichtig." „Warum hat er mich dann überhaupt dazu ermutigt, daß ich bei dem Wettbewerb mitmache?" fragte ich wütend. Wahrscheinlich hat er das nur gemacht, weil er glaubt, ich wäre sowieso keine Konkurrenz für ihn." ,Das glaube ich nicht. Wenn er dich nicht für gut hielte, hätte er dich sicher nicht zur Teilnahme am Wettbewerb überredet, zumal er sich ja bereit erklärt hat, dich zu begleiten. Wenn man es recht überlegt, war das eigentlich unheimlich großzügig von ihm." „Wahrscheinlich hat er das nur getan, damit er gleich zweimal glänzen kann", sagte ich skeptisch. „Einmal als mein Begleiter und dann bei seinem eigenen Auftritt." Rita warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. ,,Sowas darfst du aber nicht sagen, Abby. Rory ist nicht so." Ich dachte daran zurück, wie Rory am Nachmittag extra lauter gespielt hatte, um meine Fehler zu übertönen, und schämte mich auf einmal richtig.
„Ich wünschte, ich würde nicht mitmachen", sagte ich leise. „Am liebsten wäre mir, ich würde plötzlich meine Stimme verlieren oder sowas." „Was ist denn das für eine Einstellung? Ich dachte, du willst ein Profi sein?" » Profi!" schnaubte ich verächtlich. „Was hab ich denn schon für Aussichten, jemals Profi zu werden?" „Jede Menge, würde ich sagen. Deine Zeit wird schon noch kommen. Heute abend ist vielleicht die letzte Gelegenheit für Rory, seinen Onkel davon zu überzeugen, daß er recht hat. Deshalb ist es auch so wichtig für ihn, zu gewinnen." „Für mich ist es aber auch wichtig!" Rita musterte mich durchdringend. „Aus einem besonderen Grund?" Ich wurde rot. „Das weißt du doch." „Mutter wollte nur, daß du dein Bestes gibst", sagte Rita leise. „Sie hat nie verlangt, daß du gewinnst. Für sie war das Wichtigste, daß man einen guten Auftritt liefert." Damit war das Thema für Rita beendet, und sie fragte unvermittelt: „So, was möchtest du denn zum Abendessen?" » Nichts, vielen Dank. Urgroßmutter hat doch gesagt, daß es sich auf leeren Magen besser singt." „Wenn ich mich recht erinnere, hat sie geraten, nur eine Kleinigkeit zu essen. Wie wär's denn mit einem Joghurt und einem Apfel? Schließlich soll dir bei deinem Auftritt ja nicht der Magen knurren." „Also gut." „Übrigens - ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich heute abend nicht mitkomme. Helen wird natürlich da sein, aber ich würde ganz gern zu Hause bleiben. Ich muß einfach mal eine Weile allein sein." ,Das versteh ich." Ich bekam auf einmal ein richtig schlechtes Gewissen. Erst jetzt fiel mir auf, wie müde Rita
aussah, und mir wurde klar, was das Ganze für eine Belastung für sie sein mußte. Es würde ihr sicher guttun, mal eine Zeitlang allein zu sein, wenn sie nur von wohlmeinenden Freunden und Nachbarn verschont bliebe. Cynthia und Mrs. Lennox waren den ganzen Tag über aus und ein gegangen. Mr. Lockhart war nur kurz gekommen, um sein Beileid auszusprechen. Vielleicht tat ich ihm ja unrecht, aber ich fragte mich insgeheim, ob er wirklich traurig über Urgroßmutters Tod war oder eher erleichtert, weil jetzt einer Heirat mit Rita nichts mehr im Wege stand. Helen kam mit mir hinter die Bühne, um mir beim Anziehen zu helfen. Im Umkleideraum herrschte ein fürchterliches Gedränge, vor allem deshalb, weil ein Dutzend Schüler aus der örtlichen Tanzschule da waren, die eine Steptanznummer vorführen wollten. Ich quetschte mich in eine Ecke und kämpfte mich dort mit Helens Hilfe in mein Kostüm. Gleich neben uns standen Marina und Jilly, die erst ziemlich spät gekommen waren und jetzt damit beschäftigt waren, sich Katzengesichter zu schminken. „Gray ist hier", rief Marina mir zu und lächelte dabei süßlich. „Er ist gekommen, um sich unseren Auftritt anzusehen. Wir werden ihn sicher von der Bühne aus sehen können, er sitzt nämlich in der zweiten Reihe." Helen, die gerade dabei war, mich zu frisieren, ließ eine Haarnadel fallen und fluchte leise. „Gray hat zu mir gesagt, er hätte schon immer eine Schwäche für Katzen gehabt", meinte Jilly mit einem Kichern. Ich hab ihm gesagt, daß ich ihn jederzeit in mein Körbchen lassen würde." In diesem Augenblick tauchte plötzlich der Direktor auf. „Seid ihr soweit, Kinder? Wir fangen gleich an."
Helen drehte sich zu mir herum, um mir den Hut noch einmal geradezurücken. „Alles klar, Abby?" Ich nickte stumm. „Ich geh jetzt raus in den Saal, aber ich drück dir von da aus ganz fest die Daumen. Viel Glück." „Viel Glück darfst du ihr nicht wünschen", rief Jilly. » Das ist das schlimmste, was du auf der Bühne tun kannst. Du mußt ihr Hals- und Beinbruch wünschen." Helen warf ihr einen finsteren Blick zu und ging dann. Ich hätte in diesem Augenblick tatsächlich nichts dagegen gehabt, mir ein Bein zu brechen. Ich hätte so ziemlich alles in Kauf genommen, nur um nicht auf die Bühne zu müssen. Schließlich drehte ich mich um und warf einen Blick in den Spiegel. Da stand sie vor mir wie zu Lebzeiten: Eleanor Sweet, genannt die freche Nell', ganz in Rosa und mit großem Hut. Ich warf mir die Boa um den Hals und machte mich auf die Suche nach Rory. Er wartete schon neben der Bühne auf mich. Als er mich kommen sah, wurde er irgendwie nervös. Anscheinend dachte er, ich wäre noch immer sauer auf ihn. Ich lächelte ihm aufmunternd zu. Schön ruhig bleiben", sagte ich. Den Wettbewerb haben wir schon so gut wie in der Tasche." ,,Du bist ja unheimlich optimistisch. Ich hatte eigentlich erwartet, daß du tierisch Lampenfieber hast." „Nein, überhaupt nicht. Ich freu mich jetzt sogar richtig auf den Wettbewerb." Ich glaube zwar nicht an übernatürliche Erscheinungen und habe auch noch nie im Leben einen Geist gesehen, aber in diesem Augenblick bekam ich echt das Gefühl, ich hätte plötzlich den Geist von Eleanor Sweet in mir. Sie war es, die schließlich auf die Bühne ging und die Leute mit „Pretty Baby"
von den Stühlen riß, und sie war es auch, die, als der tosende Applaus sich ein wenig gelegt hatte, Rory das Zeichen gab, eine Strophe von Mademoiselle d'Armentieres" als Zugabe zu spielen. Und ganz sicher war sie es auch, die am Ende des Auftritts ihren Rocksaum anhob und dem Publikum ein freches Augenzwinkern zuwarf, ehe sie unter donnerndem Applaus glücklich von der Bühne ging. Es mußte einfach Eleanor gewesen sein, die da gesungen hatte, denn ich hätte nie so eine Schau abziehen können. Rory kam erst kurz vor Schluß dran. Seine Nummer war einfach super. Er spielte eine eigene Komposition namens „Etüde in G-Dur". Ich hatte ihm eigentlich vorher beim Spielen noch nie richtig zugehört, zumindest nicht, wenn er allein spielte, aber diesmal blieb ich hinter der Bühne stehen und lauschte ihm fast andächtig. Ich mußte ehrlich zugeben, daß er wirklich um Klassen besser war als wir anderen. Das Stück, das er spielte, war erstaunlich romantisch und hatte viele verspielte Passagen und komplizierte Läufe. Als er fertig war, applaudierte das Publikum zuerst verhalten, dann aber klatschten die Leute immer lauter und viel, viel länger als bei allen anderen. Rory lächelte verlegen, als er von der Bühne kam, und bevor ich mich versah, war ich auf ihn zugelaufen und hatte ihn umarmt. ,Du warst einsame Spitze. Jetzt muß dein Onkel einfach nachgeben." Rory sagte nichts, aber während wir auf das Urteil der Preisrichter warteten, hielt er meine Hand ganz fest, bis schließlich die Preisträger bekanntgegeben wurden. Rory war Erster, ich Zweite und die Steptänzer Dritte. Rory nahm den Hauptpreis entgegen. Ich bekam einen Scheck über zehn Pfund und ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Compton". Den Steptänzern wurden ebenfalls T-Shirts und
ein Scheck über fünf Pfund überreicht, was ich für zwölf Personen eigentlich reichlich mickrig fand. Aber sie schienen sich trotzdem unheimlich darüber zu freuen. Es stellte sich heraus, daß sie in erster Linie zu Ehren ihrer Schule aufgetreten waren. „Herzlichen Glückwunsch, Abby." Helen stand plötzlich neben mir. Vielen Dank." Als ich mich zu ihr herumdrehte, entdeckte ich hinter ihr Gray, der den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Helens Gesicht war leicht gerötet, aber man konnte ihr nicht ansehen, was sie dachte. "Hallo, Abby." Gray strahlte mich an. „Wir haben dir von der zweiten Reihe aus zugesehen. Ich finde, du hättest gewinnen müssen. Du warst viel besser als dieser Lennox." ,Das beweist nur, daß du keine Ahnung hast", sagte ich kühl. "Rory war bei weitem der Beste. Er hat verdient gewonnen." Grays Grinsen wurde noch breiter, als Marina und Jilly kamen und die Arme um ihn schlangen. ,Na, wie geht's denn meinen beiden schnuckeligen Kätzchen? Schade, daß ihr keinen Preis gekriegt habt. Wenn ich in der Jury gewesen wäre, hättet ihr bestimmt gewonnen." Mir wurde klar, was von Grays Komplimenten zu halten war, und ich wandte mich angewidert ab. Dabei sah ich Rory mit seiner Tante und seinem Onkel bei einem schnauzbärtigen Mann stehen, den ich nicht kannte. Captain Lennox strahlte, was ich als gutes Zeichen deutete. Ich ging unauffällig ein paar Schritte näher zu ihnen, um mitzukriegen, was der Schnauzbart zu sagen hatte. ,,. . . in ein paar Jahren werde ich dir soviel Auftritte verschaffen können, wie du willst, mein Junge. Partys, Hochzeiten, Taufen - Hauptsache, du konzentrierst dich auf die leichte Musik. Wenn die Leute in Feierlaune sind, wollen sie nichts Ernstes hören. Aber dein Onkel hat mir gesagt, daß du sowieso alles spielst, auch Jazz und Rock."
In diesem Moment fiel sein Blick auf mich, und er strahlte wieder. „Dasselbe gilt für die junge Dame hier. Was sie macht, kommt bei alten Leuten immer unheimlich gut an. Ist das dein eigenes Kostüm?" Ich schüttelte den Kopf. Nein, es ist nur geliehen." ,Na, wenn du dir erst was dazuverdienst, kannst du dir ja selbst was Passendes kaufen. Wie alt bist du denn?" „Vierzehn." Tatsächlich?" Der Schnauzbart hing plötzlich traurig nach unten. Ich hatte dich älter geschätzt. Na, dann kann ich jetzt noch nichts für dich tun. Hier hast du meine Karte. Vielleicht rufst du mich in ein paar Jahren mal an." ,Wir ziehen nächste Woche rauf nach Schottland", sagte ich. Schade. Das gehört leider nicht zu meinem Bezirk." Der Mann steckte seine Karte zurück in die Brieftasche und wandte sich wieder Rory zu. Jetzt laß mich dir einen Rat geben, mein Junge. Das Musikgeschäft ist sehr hart. Es ist nicht leicht, mit Musik sein Geld zu verdienen. Das Beste ist du konzentrierst dich zuerst mal auf deinen Schulabschluß, wie dein Onkel es dir geraten hat. Mach erstmal deinen Abschluß, dann hast du immer etwas, worauf du zurückkommen kannst. Wenn du das alles geschafft hast, dann komm zu mir nach London, und ich versuche, dir ein paar Auftritte zu beschaffen. Mal sehen, wie es läuft." Rory sah blaß und unglücklich aus. Er ging gar nicht auf das ein, was der Mann sagte, sondern meinte nur leise: „Wir gehen uns jetzt besser umziehen." "Gut, dann unterhalten wir uns später weiter, wenn du nach Hause kommst." Damit wandte sich der Schnauzbart wieder Rorys Onkel und Tante zu, die sichtlich zufrieden dreinblickten. Kurz darauf gingen die drei zusammen weg.
Rory packte mich am Arm. Ich brauche unbedingt frische Luft", sagte er. "Komm, laß uns rausgehen." „Jetzt gleich? Ich dachte, wir wollten uns umziehen?" "Das kann warten. Im Augenblick ist der Umkleideraum sicher ohnehin gesteckt voll." Da mußte ich ihm recht geben, und so gingen wir zusammen nach draußen auf die Strandpromenade. Die Luft draußen war erfrischend kühl. Der Himmel war klar und voller Sterne, und die Lichter vom Compton spiegelten sich in der See. Nur das leise Plätschern des Wassers war zu hören, als wir uns auf dem Geländer aufstützten und hinaus aufs Meer sahen. ,Was war denn los?" fragte ich. Rory seufzte. Mein Onkel hat mir gesagt, der Mann sei eine echte Autorität, was Musik angeht. Ich hatte gehofft, er würde mir helfen und meinen Onkel und meine Tante endlich überzeugen." Aber er hat doch versucht, dir zu helfen. Dein Auftritt hat ihm offensichtlich gefallen." ,Und wenn schon", meinte Rory verächtlich. „Der Typ kann doch einen Notenschlüssel nicht von einem Hausschlüssel unterscheiden. Wenn er sagt, daß er im Musikgeschäft ist, meint er damit, daß er Manager von ein paar kleinen Rockbands ist, denen er ebenso kleine Auftritte besorgt. Das nützt mir überhaupt nichts." "Aber du hast doch den Wettbewerb gewonnen. Dein Onkel hat versprochen, dein Klavierspielen ernstzunehmen, wenn du zum drittenmal gewinnst." Rory ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf das Geländer. ,Kapierst du denn nicht? Genau das versteht er ja unter ,ernstnehmen'. Er glaubt allen Ernstes, er würde mir damit helfen, und dabei macht er alles nur schlimmer."
Rory klang so verbittert, daß ich gar nicht wußte, was ich sagen sollte. Schließlich murmelte ich nur leise: Wenn ich dir bloß helfen könnte!" "Das kannst du aber nicht", erwiderte er müde. Keiner kann das." "Außer deiner Tante Fiona." „Aber zu der werden sie mich nie ziehen lassen. Mein Onkel meint, sie wäre nur eine alleinstehende Frau und käme mit einem schwierigen Jungen wie mir nie zurecht. Er begreift einfach nicht, daß ich überhaupt nicht schwierig wäre, wenn ich bei ihr leben dürfte." Mit einem kleinen Lächeln fügte er hinzu: ,,Na ja, jedenfalls nicht sehr schwierig." Ich lächlte auch. Große Künstler dürfen ruhig etwas launisch sein, hat Urgroßmutter immer gesagt." „Echt?" Rory drehte sich zu mir herum. Ich hab noch gar nicht gesagt, wie leid es mir tut, daß sie gestorben ist. Sie war wirklich eine tolle alte Dame. Ich wünschte nur, sie hätte heute abend dabeisein können, wie sie es gewollt hat." Sie war doch hier, hätte ich beinahe gesagt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß Rory das verstehen würde. „Du hast in deinem Kostüm wirklich super ausgesehen", fuhr Rory fort. Und dein Auftritt war auch toll. Es ist wirklich schade, daß wir nicht beide gewinnen konnten. Aber mach dir nichts draus, du kommst trotztdem zu deiner Ballonfahrt, das verspreche ich dir." Das mit der Ballonfahrt hatte ich völlig vergessen. Bist du sicher, daß du nicht lieber Helen mitnehmen würdest?" fragte ich. Er sah mich überrascht an. „Wieso sollte ich?" „Ach, ich dachte nur." Mir fiel wieder ein, daß ich Helen zuletzt zusammen mit Gray Cooper gesehen hatte, und ich machte ein finsteres Gesicht. „Vielleicht würde sie dann wieder zur Vernunft kommen. Sie ist nämlich nicht schwindelfrei."
„Ich nehme aber lieber dich mit." „Aber nur, wenn es meine Eltern erlauben. Sie kommen morgen aus Schottland herunter. Vielleicht haben sie ja was dagegen, daß ich so kurz vor der Beerdigung noch bei sowas mitmache." Rory ließ enttäuscht den Kopf hängen . „Na ja, aber fragen kannst du sie ja immerhin mal. Und jetzt geh dich umziehen, dann bring ich dich nach Hause." Als wir zurück zu dem Umkleideraum kamen, waren die anderen Wettbewerbsteilnehmer schon gegangen, aber zu meiner Überraschung wartete dort Helen auf mich. „Ich dachte, du wärst mit Gray weg?" sagte ich. „Er wollte auch, daß ich mit ihm komme, aber ich hab ihm gesagt, ich müßte dir dabei helfen, aus dem Kleid zu kommen." Sie begann damit, mein Kleid hinten aufzuknöpfen. „Er ist dann statt dessen mit Marina und Jilly abgezogen." Ich konnte Helens Gesicht im Spiegel sehen. Sie sah blaß aus, war aber gefaßt. „Ich bin froh, daß du ihn hast abblitzen lassen", sagte ich. Heißt das, daß du jetzt endlich geheilt bist?" » Helen zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. „Ja, ich hoffe." Sie nahm mir das Kleid ab, legte es zusammen und packte es wieder in die Tüte. Schließlich brachte Rory uns beide nach Hause. Aber die Hand, die er dabei hielt, war meine.
10. KAPITEL Unsere Eltern kamen am Sonntag spätabends an. Irgendwie war es ein komisches Wiedersehen, eine Mischung aus Trauer und Glück. Mein Vater war natürlich sehr traurig, weil Urgroßmutter ja seine Großmutter gewesen war, aber er ließ es sich nicht anmerken. Nach außen hin spielte er eigentlich immer den starken Mann und machte ein fröhliches Gesicht, ganz gleich, was wirklich in ihm vorging, aber innerlich war er alles andere als ruhig. Mom zog sich mit Rita zu einem langen Gespräch zurück, während Dad Helen und mir von dem neuen Haus erzählte und uns beschrieb, wie unser Leben in Schottland aussehen würde. „Ich fürchte, die Wohnung wird euch ziemlich beengt vorkommen", sagte er. ,,Aber da wohnen wir ja nur so lange, bis die Handwerker mit den Extraarbeiten an unserem Haus fertig sind. Vor allen Dingen muß eine Extradusche für mich eingebaut werden, damit ich nicht immer warten muß, bis ihr drei Frauen im Bad endlich fertig seid." „Hat das Haus auch einen Garten?" fragte ich. „Im Augenblick ist es eher ein Dschungel. Aber das wird eure Mutter sicher hinkriegen." Meine Mutter verstand echt was von Gartenpflege. Im Geiste sah ich uns schon in einem großen Landhaus, umgeben von sattgrünem, gepflegtem Rasen und üppigen Rosenbeeten. Aber dann sagte mein Vater: Eines muß ich euch allerdings noch sagen - das Haus liegt nicht sehr windgeschützt. Es liegt voll im Nordwind, der von der Antarktis her kommt. Da oben werdet ihr immer warme Sachen anziehen müssen, auch im Sommer." Ich merkte, daß Helen ziemlich traurig guckte und fragte mich, ob ihr der Gedanke an den eisigen Nordwind die Laune verdorben hatte, oder die Tatsache, daß sie oben in Schottland
durch Hunderte von Meilen von Gray getrennt sein würde. Ihre düstere Stimmung hielt den ganzen Abend lang an, und deshalb überraschte es mich auch nicht, als meine Mutter mich irgendwann beiseite nahm und fragte: „Sag mal, hat Helen irgendwas? Sie gefällt mir gar nicht." Ich versuchte, mich um eine direkte Antwort zu drücken und murmelte nur etwas davon, daß Urgroßmutters Tod Helen getroffen hatte und daß es ihr in Compton nicht besonders gefiel, aber damit ließ sich meine Mutter nicht abspeisen. „Rita hat mir da etwas von einem Jungen erzählt", fuhr sie fort. „Ein gewisser Graham Cooper." „Ja, den haben wir hier kennengelernt." „Jetzt laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Abby! Du sagst mir doch sonst immer gleich die Wahrheit. Ich nehme an, Helen hat sich in ihn verliebt?" „Ja, sie ist total verknallt in ihn", gab ich zu. „Und er? Liebt er sie auch?" „Ich glaube, der liebt nur sich selbst. Ehrlich gesagt, Mom, er ist ein echter Fiesling." „Wenn das so ist, dann sollten wir Helen so schnell wie möglich nach Schottland bringen. Und wie ist es mit dir, Abby? Rita hat mir erzählt, du hättest dich mit einem netten Jungen angefreundet, der Klavier spielt." Irgendwie klang das gar nicht wie Rory. Ich verkniff mir ein Lächeln und sagte: „Ja, das stimmt. Übrigens möchte er gern, daß ich ihn morgen auf einer Ballonfahrt begleite. Das war der erste Preis im Talentwettbewerb, und der Gewinner darf eine Begleitperson mitnehmen. Meinst du, ich kann mitfahren?" Meine Mutter machte ein skeptisches Gesicht. „Da frag lieber mal deinen Vater." Mein Vater hätte es mir bestimmt nicht erlaubt, wenn Rita nicht genau im richtigen Augenblick hereingekommen wäre
und gesagt hätte, Urgroßmutter wäre mit Sicherheit dagegen gewesen, daß ich ihretwegen die Chance meines Lebens verpaßte. So sagte er schließlich ja, bestand aber darauf, daß er und Mom mitkamen, um „nach dem Rechten zu sehen". Ich fragte mich, ob er vorhatte, den Ballon höchstpersönlich auf Mottenfraß zu untersuchen oder mich aufzufangen, falls ich aus dem Korb fallen sollte. „Ich muß euch übrigens noch etwas sagen", meinte Rita etwas später. „Ich hab vorhin Mutters Zimmer aufgeräumt, und was glaubt ihr, was ich da gefunden hab?" Wir sahen sie erwartungsvoll an. Sie öffnete ihre Hand. Auf ihrer Handfläche lag die antike Brosche, die sie Helen für die Party geliehen hatte. „Ich hab sie in Mutters Schmuckkästchen gefunden", sagte sie. Helen wurde rot. „Aber wie ist sie denn da hingekommen?" „Ich nehme an, daß sie dir runtergefallen ist und Mutter sie gefunden und aufgehoben hat. Schließlich war es ja ihre Brosche. Sie hat wahrscheinlich vergessen, daß sie sie mir zur Aufbewahrung gegeben hatte." „Ich hätte es ihr sagen sollen", meinte ich. „Sie sah mich unter ihrem Stuhl herumsuchen, aber als sie mich fragte, was ich tue, hab ich ihr gesagt, wir würden spielen. Wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte, hätte sie mir bestimmt erzählt, daß sie die Brosche gefunden hat. Aber das war ganz zu Anfang unseres Besuches, da kannte ich sie einfach noch nicht richtig. Ich dachte, sie würde mich nicht verstehen." „Zu dem Zeitpunkt hätte sie das wahrscheinlich auch nicht." Rita legte die Brosche in Helens Hand. „Jetzt kannst du sie behalten. Ich glaube, das ist in Mutters Sinn." Helen brach plötzlich in Tränen aus und lief nach oben. Rita seufzte. „O je, ich fürchte, sie macht im Augenblick eine schwere Zeit durch."
Meine Mutter stand wortlos auf und ging Helen hinterher. Rita wandte sich meinem Vater zu. „Das ist alles meine Schuld", sagte sie geknickt. „Du hast mir deine Töchter anvertraut, und ich hab alles falsch gemacht. Die eine ist unglücklich verliebt, und die andere macht eine Ballonfahrt mit. Jetzt wirst du nie wieder erlauben, daß sie mich besuchen." „Mach dir deshalb mal keine Sorgen, Mutter. Helen ist in einem Alter, in dem man andauernd verliebt ist. Und was Abby angeht - die hab ich selbst noch nie von etwas abhalten können, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte." Dad zwinkerte mir zu und fuhr dann etwas ernster fort. „Ich weiß, es ist noch ein bißchen früh, so etwas zu fragen, Mutter, aber hast du dir schon überlegt, was du jetzt machen willst?" „Auf jeden Fall werde ich das Haus hier verkaufen. Du weißt ja, daß ich mein Herz nicht an Dinge aus Stein und Mörtel hänge. Ich hab das Haus nur Mutter zuliebe so lange behalten. Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, besteht für mich kein Grund, noch länger hierzubleiben." „Aber wo willst du denn hin?" fragte Dad besorgt. „Ich hab mich noch nicht definitiv entschieden." „Du weißt ja, daß du jederzeit bei uns wohnen kannst. In unserem Haus ist jede Menge Platz." ,Jetzt mach aber mal einen Punkt! Du willst doch nicht, daß deine Mutter in euer neues Haus einzieht. Außerdem gehöre ich ja noch nicht zum alten Eisen. In mir steckt noch eine Menge Leben." Dad grinste. „Das kann man wohl sagen!" Er stand auf. „Ich mache vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang am Strand. Mit ein bißchen frischer Luft in den Lungen werde ich bestimmt besser schlafen. Kommst du mit, Abby?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, lieber nicht, Dad. Ich bin unheimlich müde. Ich glaube, ich gehe gleich ins Be tt." Das war glatt gelogen. Ich wollte zu Hause bleiben, um mit Rita zu reden. Als mein Vater gegangen war, holte ich tief Luft und fragte: „Heißt das, daß du Mr. Lockhart heiraten wirst?" Rita sah mich entsetzt an. „Wie kommst du denn bloß auf sowas?" „Ich dachte, das wolltest du." „Ich wüßte nicht, warum. Er ist doch nur mein Tanzpartner. Für einen Paso doble ist er ja ganz nett, aber er ist bestimmt nicht der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Dafür ist er viel zu verknöchert. Du liebe Güte, der würde mich in einem halben Jahr um den Verstand bringen." Ich fühlte mich auf einmal unheimlich erleichtert. „Und was willst du statt dessen machen? Fährst du nach Brasilien?" „Vielleicht." Rita legte nachdenklich den Kopf schräg. „Ja, das mach ich vielleicht. Oder nach Australien, zu meinen Verwandten. Auf jeden Fall aber fahre ich nach Schottland, um euch zu besuchen." ,Warum kommst du nicht gleich am Wochenende mit uns?" „Das ist zu früh. Ich brauche noch ein bißchen Zeit, bis ich auf Reisen gehen kann. Hier gibt es noch eine Menge zu erledigen." Sie stand auf. „Ich möchte, daß du auch etwas von Mutter bekommst, Abby. Komm mit und sag mir, was du gern hättest." Wir gingen in Urgroßmutters Zimmer. Ihr Bett war sorgfältig gemacht und mit einer rosa Tagesdecke bedeckt. Auf das Kopfkissen hatte Rita ein Foto von Eleanor Sweet mit ihrem rosa Schirm gelegt. Sie fand, daß jeder Mensch seinen Mitmenschen so in Erinnerung bleiben sollte, wie sie ihn am liebsten mochten. Mir war natürlich klar, was ich behalten wollte.
„Ich hätte gern das Beichtheft", sagte ich. „Daran hänge ich am meisten." Rita sah mich überrascht an. „Wenn du meinst. Hab ich dir eigentlich gesagt, daß ich es auf dem Nachttisch gefunden habe? Mutter muß vor dem Einschlafen noch darin gelesen haben. Hier ist es, ich hab es nur in die Schublade gesteckt." Ich nahm den blauen Lederband und drückte ihn an mich. „Bist du sicher, daß das alles ist, was du möchtest?" fragte Rita. „Wie wäre es denn mit einem Schmuckstück?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank." Als ich nach oben ging, kam mir meine Mutter entgegen. „Helen hat sich wieder etwas beruhigt, aber ich weiß noch immer nicht, was sie eigentlich so aufgeregt hat. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß sie das selbst nicht weiß. Sie scheint sehr durcheinander zu sein." „Wahrscheinlich liegt das an ihrem Alter", sagte ich. „Schließlich ist es nicht leicht, erwachsen zu werden." Meine Mutter lächelte. „Manchmal hab ich das Gefühl, daß du einen sehr erwachsenen Kopf auf deinen jungen Schultern trägst." Sie gab mir einen Kuß. „Gute Nacht." „Nacht, Mom." Helen tat, als schliefe sie, als ich hereinkam, und so tat ich, als nähme ich ihr das ab. Ich setzte mich mit dem Beichtheft auf mein Bett und steckte das Foto von Billy und dem Rest der Familie wieder hinein, das ich ein paar Tage zuvor herausgenommen hatte. Dabei stellte ich mir vor, daß sie jetzt alle wieder vereint waren und genauso glücklich, wie sie auf dem Foto aussahen. Eleanor wirkte noch immer unruhig, als könnte sie es kaum erwarten, davonzulaufen und ihren Drachen steigen zu lassen. Oder vielleicht in einem Ballon zu fahren, wie ich.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, sah ich als erstes zum Fenster hinaus. Das Meer funkelte in der Sonne, und der Himmel war fast wolkenlos. Das Wetter war absolut ideal für eine Ballonfahrt. Ich zog mir meine Jeans und einen warmen Pulli an, weil es hoch oben in der Luft bestimmt ganz schön kalt werden würde. So gegen zehn tauchte dann Rory auf. Er wirkte noch immer ziemlich niedergeschlagen, und als Rita ihn fragte, was mit ihm los sei, erzählte er ihr alles. „Das tut mir wirklich leid, Rory", meinte sie mitfühlend. „Hat denn dein Onkel gar keinen Verstand?" „Nicht viel", antwortete Rory finster. „Auf jeden Fall hat er keinen Funken Musikverstand." „Hast du ihn gebeten, dir ein Klavier zu kaufen, wie ich es dir geraten habe?" „Ja, aber er meint, dafür wäre kein Platz." „Und was ist mit deiner Tante in Edinburgh? Hast du sie gebeten, ihn anzurufen, wie ich vorgeschlagen hatte?" Offenbar hatte Rita mehr getan, als ich vermutet hatte. Es freute mich, daß sie sich mit Rory verbündet hatte, denn wenn irgend jemand Einfluß auf Mr. Lennox ausüben konnte, dann war sie es. Er und seine Frau bewunderten sie sehr, und wenn sie ihnen vorschlug, daß Rory bei seiner Tante in Schottland besser aufgehoben war, würden sie vielleicht auf sie hören. „Sie hat mir versprochen, einen Brief zu schreiben", sagte Rory. „Sie hat Angst, daß sie am Telefon vielleicht die Beherrschung verlieren könnte." Rita lächelte. „Ich glaube, deine Tante Fiona wäre mir sympathisch. Sag ihr doch, daß sie jederzeit hier wohnen kann, wenn sie nach Compton kommen möchte, um deinen Onkel persönlich zu überreden."
„Vielen Dank." Rory reagierte zwar nicht gerade überschwenglich, wie Gray das getan hätte, aber man konnte ihm trotzdem ansehen, daß er sich freute. Ich stellte ihn meinen Eltern vor, und dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Startplatz. Sogar Helen kam mit. Sie trug wieder ihr neues Kleid, was mich mißtrauisch machte. Hatte sie vielleicht doch noch vor, sich wieder mit Gray zu vertragen? Der Startplatz lag am Stadtrand, gleich neben dem Freizeitzentrum. Da es Ostermontag war, hatte sich schon eine ziemlich große Menge von Zuschauern versammelt, als wir ankamen, obwohl wir eine Stunde vor der Startzeit da waren. Ringsum waren Buden aufgebaut worden, an denen man vom Hamburger bis zum Fachbuch übers Ballonfahren so ziemlich alles kaufen konnte, und so schlug mein Vater vor, zuerst mal ein Eis zu essen. „Nein, vielen Dank, für mich nicht, Dad." „Für mich auch nicht", sagte Rory. „Aber ich hätte gern ein Eis", sagte Helen. Dabei sah sie sich um, als hielte sie nach jemandem Ausschau. Ich hatte das blöde Gefühl, daß sie nur deshalb ein Eis wollte, weil sich auf der Suche nach einer Eisbude vielleicht die Gelegenheit ergab, zufällig Gray zu begegnen. Während meine Eltern und Helen sich auf den Weg zum Eisstand machten, packte Rory mich plötzlich am Arm. „Komm, wir schauen uns mal die Ballons an." „Au ja. Welches ist denn unserer?" ,Ich weiß nicht genau." Rory zog einen Zettel aus der Tasche. „Wir sollen uns bei einem Typen namens Joe Lichfield melden. Er ist der Pilot für den Flug, den wir gewonnen haben."
Es gefiel mir, daß Rory „wir" sagte, als wären wir noch immer ein Duo. „Das klingt ja, als würden wir mit einem Flugzeug fliegen." „Inzwischen wäre mir das fast lieber." Entlang der Wiese parkten eine Menge Autos, und neben einer kleinen Baumgruppe luden die Ballonfahrer ihre Ausrüstung ab. Einige packten große Stoffbündel aus, die wohl die Ballonhüllen sein mußten, obwohl sie auf mich eher wie zerknüllte Bettlaken wirkten. Rory fragte einen Ballonfahrer, wo wir Joe Lichfield finden könnten. Er zeigte auf einen Mann, der gerade einen leuchtendgelben Ballon auf dem Gras ausbreitete. Joe Lichfield war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und sah aus wie eine Figur aus einem ScienceFiction-Film, war aber trotz seines furchterregenden Äußeren ein sehr netter Mann. „Du bist also der Junge, der die Ballonfahrt gewonnen hat." sagte er, als Rory ihm seinen Zettel gab. „Bist du schon mal in einer Gondel mitgeflogen?" Als Rory ihn verständnislos ansah, erklärte er: „Gondel nennen wir den Ballonkorb." „Ach so. Nein, noch nie, Mr. Lichfield." „Nenn mich einfach Joe. Freust du dich schon auf die Fahrt?" „Ja, Joe." Rory zog mich nach vorne. „Das ist Abby. Sie kommt mit." „Hallo, Abby. Willkommen an Bord." Joe Lichfield gab mir die Hand, aber ich starrte entgeistert auf den Korb. ,Was ist denn los?" fragte er. ,Der ... die Gondel ist so klein. Da passe ich doch unmöglich mit rein." Joe grinste. ,,Da ist sogar Platz für vier. Darf ich vorstellen: das ist Megan, meine Mannschaft."
Megan war ein junges Mädchen, klein, aber ziemlich dick. Mir wurde plötzlich mulmig zumute, und ich fragte mich, ob ich wirklich so wild auf eine Ballonfahrt war. Der Ballon selbst sah auch reichlich windig aus, und das Material kam mir kaum stärker vor als ein Hemdenstoff. Wie sollte der denn das Gewicht von vier Leuten tragen? Mir machte die ganze Sache keinen Spaß mehr. „Ich möchte so schnell wie möglich starten, um die leichte Brise zu nutzen", sagte Joe. „Der Wind kommt genau aus der richtigen Richtung für einen guten Start. Es müßte ein prima Flug werden." Ich schluckte schwer. Das war eine einmalige Gelegenheit. Ich konnte jetzt unmöglich einen Rückzieher machen, schon gar nicht vor Rory. Der würde mich ja für total beknackt halten. „So, jetzt wird es Zeit, daß wir uns vorbereiten und alles überprüfen", verkündete Joe und zog sich ein Paar schwarze Lederhandschuhe an. „Rory, du kannst der Bodenmannschaft helfen. Überprüf die Gasbehälter und den Brenner. Und dann vergewissere dich, daß keine Löcher in den Schläuchen sind." Inzwischen hatten sich die Zuschauer ringsum versammelt, um sich die Vorbereitungen anzusehen. „Mit Abby an Bord brauchen die doch gar keinen Brenner", hörte ich jemanden hinter mir sagen. „Die braucht ja nur in den Ballon zu blasen, dann haben sie soviel Luft, wie sie benötigen." Die selbstgefällige, eingebildete Stimme hätte ich überall herausgehört. Vielleicht lag es an meiner angespannten Stimmung, daß ich nach dieser Bemerkung so ausrankte. Vielleicht hatte ich Gray Cooper inzwischen aber auch so über, daß ich ihm einfach mal die Meinung sagen wollte. Ich fuhr herum und rief: „Warum steuerst du denn nicht ein bißchen Öl bei, Gray? Schmierig genug bist du ja."
Nach dieser Bemerkung hörte ich mühsam unterdrücktes Ge lächter. Rechts und links von Gray standen Marina und Jilly, beide in knallengen Jeans und T-Shirts mit Katzenaufdruck auf ihren flachen Oberkörpern. Helen hat wenigstens einen Busen, dachte ich triumphierend, und ansonsten ist sie den beiden sowieso in jeder Hinsicht überlegen. Gray grinste unerschütterlich weiter. „Aber, aber", meinte er tadelnd. „Wer wird denn gleich so giftig sein? Denk dran, was ich über verletzte Eitelkeit gesagt habe." „Von wegen verletzte Eitelkeit!" fauchte ich ihn an. „Mir sind bloß endlich die Augen aufgegangen. Ich seh dich jetzt, wie du wirklich bist - als ganz miesen Typen." Daraufhin lächelte Gray noch breiter. „Helen findet mich ganz und gar nicht mies." „Doch, das tut sie. Sie ist nur zu höflich, um es dir ins Gesicht zu sagen." „Weißt du eigentlich, was mit Leuten passiert, die Lügen verbreiten, Abby? Denen wächst eine lange Nase." „Dann sieh dir meine gut an, dann wirst du merken, daß sie keinen Millimeter gewachsen ist." Irgend jemand lachte. In diesem Augenblick merkte ich, daß wir inzwischen einige Zuhörer hatten. Ich war froh, daß Rory voll damit beschäftigt war, der Bodenmannschaft zu helfen. Wenn er sich auch noch eingemischt hätte, wäre das Ganze am Ende in eine Prügelei ausgeartet. Ich konnte mich nur mit Worten gegen Gray durchsetzen. „Irgendwann wirst du mal so richtig auf die Nase fallen, Gray. Nur schade, daß ich nicht dabeisein kann, wenn es passiert." Aber Gray ließ sich durch nichts erschüttern. „Weißt du eigentlich, daß du sehr hübsch bist, wenn du wütend wirst,
Abby? Wenn du ein paar Jahre älter wärst, würde ich mich glatt mal mit dir verabreden." „Darauf kann ich verzichten." ,Das glaube ich kaum. Aber ich will mich schließlich nicht am Nachwuchs vergreifen. Ich steh mehr auf reifere Frauen." Er legte einen Arm um Marina und den anderen um Jilly, und beide himmelten ihn förmlich an. „Die nennst du reif, diese beiden Bohnenstangen? Das sind doch nicht mal halbe Portionen." Wieder lachte jemand. Ich bekam das komische Prickeln auf der Haut, das sich bei mir immer einstellte, wenn ich Publikum hatte. „Es ist ja sehr interessant, daß dir zwei Mädchen lieber sind als eins", fuhr ich fort. „Wahrscheinlich willst du auf Nummer Sicher gehen. Vor einer allein hast du wahrscheinlich Angst." „Jetzt hat sie es dir aber gegeben!" rief jemand aus der Menge. Gray zuckte die Achseln. "Sie ist bloß eifersüchtig." „Nicht meinetwegen", sagte ich. „Mich ärgert nur, wie du meine Schwester behandelt hast." „Deine Schwester hat nur bekommen, was sie verdient." Jetzt sah ich rot. „Sie ist tausendmal mehr wert als du!" „Sie nervt." Grays Stimme klang verächtlich. „Ich kann Mädchen nicht ausstehen, die nicht wissen, was sie wollen. Für alberne Spielchen ist das Leben zu kurz." Ich hörte in meinem Rücken jemand nach Luft schnappen. Als ich mich umdrehte, sah ich hinter mir Helen stehen, ihre Eiswaffel in der Hand, und daneben unsere Eltern, die alles andere als erfreut wirkten. Gray sah sie auch. Er starrte Helen entgeistert an, und einen Augenblick waren wir alle wie erstarrt, fast wie ein Standbild im Fernsehen. Dann hörte ich plötzlich Joe Lichfields Stimme. „Alles klar, wir sind fertig. Alle Mann an Bord!" Rory packte mich am Arm. „Komm, Abby, mach schnell."
Ich ließ mich von ihm mitziehen. Als wir auf die Gondel zurannten, drehte Joe den Brenner kurz auf, und eine große Flamme schoß nach oben. In Sekundenschnelle verwandelte sich der Ballon wie durch Zauberei, wuchs und erhob sich schließlich vom Boden wie ein lebendiges, atmendes Wesen. Die Bodenmannschaft hielt den Korb fest, und jemand half mir hinein. Beim Einsteigen drehte ich mich noch einmal in Helens Richtung um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie Gray ihr Eis ins Gesicht drückte. Es mußte ein ziemlich klebriges Softeis gewesen sein, denn es lief ihm einfach überall hin - in die Augen, in die Nase, in den Mund und sogar ins Haar. „Super!" rief ich begeistert. „Achtung!" rief Joe den Zuschauern zu. „Bitte treten Sie zurück!" „Hast du das gesehen?" fragte ich Rory. „Hast du gesehen, was Helen gemacht hat?" „Halt dich lieber fest, ich glaube, wir heben gleich ab." „Es war so eng im Korb, daß ich kaum wußte, wo ich stehen sollte. Schließlich befanden sich nicht nur vier Leute im Korb, sondern auch jede Menge Ausrüstungsgegenstände, wie zum Beispiel Gasflaschen und Schlauchrollen. Über unseren Köpfen blähte sich der Ballon noch weiter auf, bis er sich schließlich wölbte wie die Kuppel einer Kathedrale. „So, jetzt noch die letzten Anweisungen. Faßt keine Kontrollgeräte an, solange ich es nicht ausdrücklich sage, haltet euch nicht am Treibstoffhahn fest, und wenn wir landen, steigt erst aus der Gondel, wenn ich es sage. Alles klar?" „Ja, alles klar", sagte Rory. Mir fiel auf, daß sein Gesicht eine leicht gelbliche Farbe angenommen hatte, aber vielleicht lag das ja auch nur an dem bunten Ballon über uns. „Okay, loslassen!" Als die Bodenmannschaft losließ, glitt der Korb zunächst ein paar Meter über den Boden, ehe er abhob. Komischerweise
spürte man gar nicht, wie er sich bewegte. Es war fast, als würde der Boden sich von uns entfernen, und nicht umgekehrt. Ich hielt mich am Rand der Gondel fest, um einen letzten Blick nach unten auf Helen und Gray zu werfen. Die beiden standen sich noch immer gegenüber, aber schließlich drehte sich Helen um und ging zurück zu Mom und Dad, und dann winkten uns alle drei zu. Ich winkte zurück und gab Helen dann mit erhobenem Daumen ein Zeichen, das sie hoffentlich verstand. Wir waren inzwischen schon über den Bäumen und stiegen schnell höher. Joe hatte den Brenner fast pausenlos aufgedreht, so daß eine große Flamme unter dem Ballon züngelte. Ich fragte mich, ob es schon vorgekommen war, daß ein Ballon Feuer gefangen hatte, und sah besorgt hinüber zu Joe. Der lächelte mir beruhigend zu. „Wir müssen schnell an Höhe gewinnen", sagte er. „Wenn wir erst oben sind, ist es hier drinnen gemütlicher als in einem Flugzeug." Er drehte den Brenner erneut auf und pumpte heiße Luft in den Ballon. Als wir höher stiegen, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen, so, wie es mir manchmal im Fahrstuhl passierte. Ich klammerte mich noch fester an den Gondelrand. Megan mußte gemerkt haben, daß ich Angst hatte, denn sie sagte leise: „Joe ist ein guter Pilot, der Beste sogar. Deshalb hat man ihn auch gebeten, euch mitzunehmen." Sie drehte sich zu Rory herum. „Womit hast du eigentlich den Wettbewerb gewonnen?" Ich hab Klavier gespielt." Seine Stimme klang gepreßt, und mir wurde klar, daß er genauso viel Angst hatte wie ich, auch wenn er es nicht zeigen wollte. Megan riet uns, uns in jeder Brennerpause zu unterhalten, und schließlich pendelte sich das in einem gleichmäßigen Rhythmus ein. Fünf Sekunden Brenner, dann wieder zwanzig Sekunden stiller Flug.
Dann waren wir schließlich oben. Tief unter uns lag Compton mit seinen Spielzeughäusern, den geraden Straßen und den Kirchtürmen, und daneben der Pier, der wie ein dünner Arm hinaus ins Meer ragte. Ich konnte den Strand und die Promenade sehen und fragte mich, ob Rita wohl gerade aus dem Fenster sah. Meine Angst war plötzlich total weg. Ich sah hinüber zu Rory und stellte fest, daß er auch viel entspannter wirkte. „Toll, was?" fragte ich. Er nickte. Über uns wölbte sich der riesige gelbe Ballon in den Himmel, und unter uns konnte ich seinen Schatten über Felder und Hecken gleiten sehen. Trotzdem spürte man überhaupt keine Geschwindigkeit, es war einfach nur friedlich und schön. Plötzlich wünschte ich... Ich wünschte, meine Urgroßmutter hätte bei uns sein können. Normalerweise weinte ich nur selten. Seit Urgroßmutter gestorben war, hatte ich kaum geweint, aber in diesem Augenblick spürte ich plötzlich Tränen aufsteigen. Nur, daß ich jetzt nicht aus Trauer weinte. Ich war einfach glücklich. Weil ich in einem Ballon flog, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte. Weil es einfach toll war. Weil Rory meine Hand hielt. Und weil Urgroßmutter doch bei mir war, das spürte ich ganz genau. Das klingt vielleicht albern, aber es war wirklich so. Allerdings würde ich das natürlich nicht jedem anvertrauen. - ENDE