Barbara Branch
Man nannte sie
die Mörderbraut
Irrlicht Band 164
Plötzlich gingen alle Lichter auf einen Schlag ...
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Barbara Branch
Man nannte sie
die Mörderbraut
Irrlicht Band 164
Plötzlich gingen alle Lichter auf einen Schlag aus. Zwei, drei Sekunden später brannten sie wieder. Ein Kurzschluß, dachte Camilla und wollte ins Zimmer zurückgehen. Da wurde es drüben wieder dunkel, unmittelbar darauf hell. Das Ganze wiederholte sich mehrfach. Endlich blieb alles dunkel. Fast im selben Moment, als die Lampen erloschen waren, drang ein markerschütternder Schrei durch die Nacht. Camilla hielt sich am Fensterkreuz fest. Angstschauer jagten ihr über den Rücken. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie etwas unternehmen müßte. Aber sie war wie gelähmt…
Weit außerhalb des kleinen Dorfes Farlington lagen noch drei Häuser am Waldrand. In der düsteren Beleuchtung des regnerischen Tages sahen sie fast unheimlich und völlig verlassen aus. Erst beim Näherkommen merkte Camilla Weiller, daß an den Fenstern des Fachwerkhauses Gardinen hingen und ein paar Blumentöpfe auf dem Balkon standen. Also mußte das wohl das Haus von Mrs. Beaton sein. Camilla parkte ihren kleinen Wagen auf dem holprigen Waldweg und öffnete die Gartenpforte. Seltsamerweise hatte sie plötzlich Angst. Dabei ging es doch nur darum, ein Haus zu kaufen, das in einer Zeitungsanzeige als »romantisch« angepriesen worden war. Eine schwarze Katze kam ihr entgegen und machte einen Buckel. Grüne Augen funkelten die junge Frau giftig an. Sekunden später war die Katze im dichten Gebüsch verschwunden. Camilla klingelte mehrfach, bis ihr endlich geöffnet wurde. »Wer sind Sie?« fragte eine Frau mit mürrischem Gesichtsausdruck. Sie war groß, hager und sicher sechzig Jahre oder gar älter. Allerdings wirkte sie gepflegt und hellwach. »Ich bin Camilla Weiller«, stellte sich die Besucherin vor. »Wir haben schon am Telefon miteinander gesprochen. Darf ich mir das Haus ansehen?« »Ja, sicher. Bitte, kommen Sie herein.« Camilla wurde in ein behagliches, freilich altmodisch eingerichtetes Zimmer geführt. Die Katze – oder eine sehr ähnliche – lag auf dem mit grünem Plüsch bezogenen Sofa und nahm keine Notiz von dem Gast. Mrs. Beaton bot Sherry und kleine Salzstangen an. Sie wirkte sachlich. Nur der lauernde Gesichtsausdruck störte Camilla.
Nach ein paar Minuten wußte sie, wie groß das Haus war, wie die Heizung funktionierte und wo die nächste Einkaufsmöglichkeit im Dorf war. »Warum wollen Sie eigentlich hier draußen leben?« fragte Mrs. Beaton neugierig. »Wir sind ziemlich weit weg von allem, was für junge Leute heute als interessant gilt. Oder möchten Sie gar nicht selbst in mein Haus ziehen?« »Doch. Ich suche Ruhe und…« Sie strich das lange, dunkle Haar mit einer bewußten Geste aus dem Gesicht. Vor dem rechten Ohr war eine häßliche, entstellende Narbe zu sehen. »So möchte ich mich im Augenblick nicht unter Menschen sehen lassen«, sagte sie zögernd. »Das heilt doch wieder.« »Sicher. Aber es ist nicht schön, dauernd gefragt zu werden: Wie geht es dir? Hast du den Unfall gut überstanden? Es geht nicht nur um diese Verletzung, sondern auch um eine große Enttäuschung. Aber das wird Sie kaum interessieren.« »Wollen Sie allein hier leben?« »Ja. Ich habe die Absicht, ein Buch zu schreiben und brauche Zeit und Ruhe, um mich zu konzentrieren. Es handelt sich um einen bestimmten Götterkult der Inkas.« »Was haben die Inkas mit Cornwall zu tun?« »Nichts. Wollen wir nicht lieber über die Einzelheiten des Verkaufs sprechen? Vor allem möchte ich jetzt definitiv wissen, welchen Preis Sie verlangen.« »Hunderttausend Pfund«, sagte Mrs. Beaton gelassen. Camilla mußte schlucken. »Dafür bekomme ich ja ein Haus in der Stadt oder eine Villa in einem Kurort. Nein, tut mir leid, das kann und will ich nicht bezahlen.« Seltsamerweise wurde Mrs. Beaton von diesem Augenblick an sehr viel freundlicher.
»Ja, Sie haben natürlich recht«, stimmte sie zu. »Der Preis ist zu hoch. Aber ich habe bestimmte Gründe, warum ich ihn verlangen muß. Sind Sie ganz sicher, daß Sie ihn nicht akzeptieren wollen?« »Absolut sicher. Selbst wenn mir dieses Haus so gut gefiele, daß ich es unbedingt haben möchte, könnte ich das gar nicht bezahlen. Das übersteigt meine Möglichkeiten bei weitem. Fünfzigtausend ist schon sehr viel für mich.« »Dann kommen wir nicht zusammen. – Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen? Ich habe selten Gäste und freue mich immer, wenn ich mal jemanden bewirten kann.« Camilla hätte sich lieber verabschiedet, aber sie wollte nicht unfreundlich sein. So blieb sie. Wie sich herausstellte, besaß Mrs. Beaton sogar drei Katzen, alle überwiegend schwarz. Auch die Tiere bekamen Kuchen und zu Camillas Erstaunen Tee – jede in einem kleinen Schüsselchen für sich. »Mögen denn Katzen nicht lieber Milch?« fragte sie unsicher. »Sie sollen nicht zuviel Milch bekommen. Und meine Mutter hatte sie an Tee gewöhnt. Wissen Sie, ich habe das Haus nämlich erst vor gut zwei Jahren von meiner Mutter geerbt. Mama war körperlich behindert und konnte nicht mehr allein zum Einkaufen gehen. Vielleicht hat sie den Katzen deswegen Tee gegeben. Das war für sie einfacher als immer Milch zu besorgen.« »Haben Sie damals nicht hier gelebt?« fragte Camilla, um das Gespräch weiterzuführen. Im Grunde war es für sie völlig uninteressant. Aber was soll man mit jemandem reden, den man praktisch gar nicht kennt? »Ich habe mehr als dreißig Jahre in London gewohnt. Auch nach dem Tod meines Mannes. Als Mama kränklich wurde, habe ich gelegentlich daran gedacht, wieder hierher
zurückzukommen. Aber es war mir zu einsam. In London habe ich viele Freunde.« »Ach so, Sie wollen das Haus verkaufen, weil Sie nicht dauernd auf dem Lande leben möchten.« »Jetzt bleibe ich hier!« sagte Mrs. Beaton in einem fast aggressiven Ton. »Ich bin hier und bleibe hier«, bestätigte sie noch einmal. »Verzeihen Sie… Sie wollten das Haus doch verkaufen…« »Nein, das will ich nicht.« »Die Anzeige in der Zeitung? Habe ich das mißverstanden? Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, daß Sie nicht an einem Verkauf interessiert sind? Wenn ich nun Ihren Preis akzeptiert hätte?« Camilla zweifelte allmählich an Mrs. Beatons Verstand. »Dann hätte ich die Polizei angerufen«, erklärte Mrs. Beaton mit dem Funkeln ihrer grünen Augen, das sie den Katzen noch ähnlicher machte. »Warum Polizei?« »Das kann ich Ihnen nicht erklären«, Mrs. Beaton starrte zu einer Tür, die offenbar in ein anderes Zimmer führte. Sie wirkte völlig geistesabwesend. »Ich fürchte, ich muß mich jetzt verabschieden«, sagte Camilla. »Mir ist noch ein anderes Haus angeboten worden. Wenn ich es noch bei Tageslicht besichtigen will, muß ich gehen.« »Ja, ja, ich verstehe.« Mrs. Beatons Gesichtsausdruck wurde wieder freundlich. »Viel Glück bei der Suche. Ich wünsche Ihnen, daß Sie etwas Passendes finden. Und ich sollte Ihnen wohl doch sagen, warum ich jetzt hierbleiben will: Mein Sohn ist vor zwei Jahren hier in diesem Haus ermordet worden. Dort nebenan im damaligen Schlafzimmer seiner Großmutter.« Camilla erschrak.
»Ihr Sohn und Ihre Mutter sind ermordet worden?« »Mama nicht. Sie lag um diese Zeit im Krankenhaus. Allerdings ist sie fast zur selben Zeit gestorben wie mein unglücklicher Timothy. Jedenfalls, wenn man den Ärzten glauben will. Ich habe meinen Jungen hier tot gefunden, als ich wegen der Beisetzung meiner Mutter hergekommen bin.« »Das tut mir sehr leid.« Camilla stand auf. Sie wollte weg, möglichst rasch dieses unheimliche Haus und diese seltsame Frau verlassen. Mrs. Beaton begleitete sie bis zur Tür und winkte ihr sogar freundlich nach. Es gab in dieser Gegend kein weiteres Haus, das Camilla ansehen wollte. Die Umgebung gefiel ihr, sie wäre gern geblieben. Aber auf gut Glück zu suchen, hatte ja auch keinen Sinn. Als sie unten im Dorf tankte, wurde sie von einem älteren, sehr netten Mann bedient und kam mit ihm ins Gespräch. »Wer wohnt eigentlich in den Häusern oben am Berg?« fragte sie. »Ich weiß, daß das Fachwerkhaus einer Mrs. Beaton gehört. Aber die beiden anderen wirken völlig verlassen.« »Das eine ist auch eine bessere Ruine, sieht nur von außen noch ganz gut aus. Das Tannenhaus gehört einer Familie Jennings in Plymouth. Aber von denen wohnt schon lange niemand mehr hier.« »Ist das Haus zu verkaufen? Warum nennen Sie es übrigens Tannenhaus? Ist es aus Holz gebaut?« »Nein, nein, ist ein gutes, solides Steinhaus. Aber jeder sagt hier das Tannenhaus, weil ringsum die Tannen stehen, nur Tannen und Gebüsch.« Der Tankwart hatte inzwischen auch noch den Ölstand geprüft und sah fragend auf Camilla. »Wollen Sie etwa hier ein Haus kaufen?«
»Ja. Deswegen bin ich in Farlington. Mrs. Beaton hatte ihr Haus in einer großen Londoner Zeitung angeboten. Ich war eben bei ihr, aber sie hat einen Phantasiepreis genannt.« »Die hat sowieso nur Stroh im Kopf«, sagte der alte Mann verächtlich. »Seit ihre Mutter und ihr Sohn am selben Tag gestorben sind, spinnt sie. Na ja, die alte Frau war sehr krank, aber der Timothy, der war noch jung und kerngesund. Ein netter Bursche. Alle hier mochten ihn gern. Im Gegensatz zu der Beaton ist er auch oft zu der alten Großmutter zu Besuch gekommen. Er wollte wohl etwas für seine Großmutter aus dem Haus oben holen und ist dabei verunglückt.« »Mrs. Beaton behauptet, ihr Sohn wäre ermordet worden.« »So ein Quatsch! Ja, ich weiß, daß sie das faselt. Man hat den jungen Beaton mit einer bösen Kopfwunde im Schlafzimmer seiner Großmutter gefunden, daneben einen umgekippten Stuhl und ein paar Kleidungsstücke von der alten Frau. Auf dem Fußboden lag ein leerer Koffer. Clementine Beaton hat damals behauptet, man hätte ihren Sohn ermordet. Die Polizei meint, er wäre auf einen Stuhl gestiegen, um den Koffer vom Kleiderschrank zu nehmen und dabei so unglücklich gestürzt, daß er mit dem Kopf auf die scharfe Kante des Marmorplatte von einem Tisch gefallen ist.« »Das war sicher ein böser Schock für Mrs. Beaton«, meinte Camilla nachdenklich. »Aber weswegen bleibt sie dann ausgerechnet in einem Haus, das für sie so viele traurige Erinnerungen birgt? Sie hat mir erzählt, daß sie viel lieber in London leben würde.« »Sage ich doch: Sie spinnt! Erst hat sie allen leid getan. Jeder wollte ihr helfen. Sie hat die Leute vor den Kopf gestoßen. Jetzt geht man ihr aus dem Wege.«
»Ich würde gern in Farlington leben. Ich suche ein kleines, möglichst preiswertes Haus.« »Na ja, lassen Sie mich mal nachdenken. Schade, daß mein Sohn heute nicht hier ist. Der wüßte, wie man die JenningsLeute erreichen kann. – Ach, da fällt mir ein, sie müssen ja im Telefonbuch von Plymouth stehen. Arthur Jennings – Bananen oder so ähnlich.« »Bananen?« »Ja, sie handeln mit Obst aus Übersee, vor allem mit Bananen. Früher, als sie noch manchmal hergekommen sind mit ihren Kindern, haben sie immer für alle Bananen mitgebracht. Mein Sohn war damals auch noch ein kleiner Bursche, der Timothy Beaton auch. Wenn die das Jenningsauto gesehen haben, sind sie gleich raufgelaufen zum Tannenhaus und mit einem Bündel Bananen zurückgekommen.« »Danke, daß Sie mir das gesagt haben.«
*
Abends daheim in ihrer eigenen Wohnung suchte Camilla die Telefonnummer eines Arthur Jennings, der mit Bananen handelte. Eine halbe Stunde später hatte sie eine Vereinbarung zur Besichtigung des Tannenhauses getroffen. Ausschlaggebend war vor allem, daß Mister Jennings lediglich zwanzigtausend Pfund verlangte. Fast unmittelbar nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, klingelte das Telefon. Wollte Mister Jennings noch etwas mit ihr besprechen? »Na, endlich!« sagte eine dunkle, sympathische Männerstimme, die Camilla nur zu gut kannte. Der Hörer
zitterte in ihrer Hand. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, Millie? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, es könnte dir etwas passiert sein. Ich versuche seit Tagen, dich zu erreichen.« »Gib dir keine Mühe, Gordon«, wehrte sie eisig ab. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Und es ist völlig überflüssig, daß du dir Sorgen um mich machst.« »Aber Millie…« »Bitte, laß das!« unterbrach sie ihn. »Für dich bin ich nicht mehr Millie, sondern allenfalls Camilla.« »Wir müssen uns unbedingt sprechen! Es ist so wichtig. Auch für dich.« »Nein. Mit deinen krummen Touren möchte ich nichts zu tun haben. Du hast mich belogen und betrogen. Vielleicht hätte ich dir das verzeihen können oder wenigstens eine Entschuldigung gefunden. Aber daß du auch noch Vaters Lebenswerk zerstören willst, vergebe ich dir nie.« Sie legte auf. Nur Sekunden später klingelte das Telefon wieder. Diesmal nahm sie den Hörer nicht mehr ab. Ihre Gedanken wanderten im Kreis. Sie sah Gordon, den sie so geliebt hatte. Sie dachte an ihren Vater, den versponnenen Wissenschaftler. Und sie erinnerte sich plötzlich wieder an die kleinsten Einzelheiten der Ausgrabungen in Peru. Vaters Begräbnis… Gordon und die bildhübsche Sheyla… Mit unsicheren Fingern tastete sie nach der Narbe in ihrem Gesicht. Plötzlich und völlig unvermittelt begann sie zu weinen. Irgendwann flammte das Licht in dem altmodischen Kronleuchter auf, und Camilla kam wieder in die Wirklichkeit zurück. Hatte sie geträumt? Was war geschehen? Sie blinzelte ihrer Freundin Marion zu, die an der Tür stand.
»Bist du schon zu Hause?« fragte sie töricht. »Schon ist gut«, Marion setzte sich in einen Sessel und streifte die hochhackigen Pumps ab. »Es ist gleich elf. Ich wollte mir nur rasch noch eine Zeitung holen und finde dich hier in dem Sessel sitzen. Was ist los?« »Ich war heute in Farlington, Marion. Diese Mrs. Beaton will einen Phantasiepreis für ihr Haus. Aber ich habe dort ein anderes in Aussicht und werde es mir morgen ansehen. Wenn alles klappt, kann ich schon nächste Woche einziehen.« »Willst du dich wirklich in der Einsamkeit vergraben, Camilla? Bleib doch lieber in Plymouth, wo du hingehörst.« »Nein. Ich habe keine Lust, Gordon noch einmal zu begegnen. Und ich habe die albernen, scheinheiligen Fragen satt. Außerdem muß ich die Wohnung hier ja ohnehin bis zum Jahresende räumen. Du weißt so genau wie ich, daß es sich um eine Art Dienstwohnung der Universität handelt. Seit Vaters Tod habe ich kein Recht mehr darauf, hier zu wohnen. Und ich brauche einfach Ruhe zu der Arbeit, die ich vorhabe. Ich muß seinen Ruf und seine Ehre retten.« »Nimmst du dir da nicht zuviel vor? Sicher hast du ihm oft bei seinen Ausgrabungen und wissenschaftlichen Arbeiten geholfen. Du verstehst wahrscheinlich mehr von der Inka-Kultur als promovierte Historiker. Und trotzdem würde ich eher annehmen, daß Gordon Thomson recht hat.« »Glaubst du jetzt auch noch, daß Vater ein Betrüger und Nichtskönner war?« ereiferte sich Camilla. »Kannst du mir vielleicht erklären, warum Gordon dann Vaters Manuskripte gestohlen hat? Ja, ich sage bewußt: gestohlen! Gordon sollte nur die Korrektur lesen. Jetzt ist das Manuskript verschwunden. Ich wette, das Buch erscheint eines Tages unter
Gordons Namen, und mein Vater kann sich nicht mehr dagegen wehren. Aber Gordon ist ein gemachter Mann.« »Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt«, gab Marion bedrückt zu. »Ich halte deinen Vater für einen grundanständigen Mann und kenntnisreichen Wissenschaftler. Aber ich habe auch Gordon Thomson bisher für untadelig gehalten. Genau wie du auch. Und dein Vater hat es genauso gesehen.« »Gordon hat ihn betrogen.« Camilla kaufte das Tannenhaus und zog schon drei Tage später ein. Ein kleiner Transporter brachte die Einrichtung des Zimmers, das sie bisher in ihrem Elternhaus bewohnt hatte. Dazu ein paar Küchenmöbel, Geschirr und Wäsche. Leider hatte Marion ausgerechnet an diesem Tag keine Zeit. So war Camilla zuerst mit den beiden Möbelpackern und später dann nur noch mit einem alten Handwerker aus dem Dorf allein. Mister Morell besah sich brummend das Haus, und Camilla folgte ihm etwas beklommen. Der Schreiner schüttelte immer öfter den Kopf und nahm dem jungen Mädchen die ganze Freude. »Müßte alles ‘rausgerissen werden«, bemerkte er. Oder: »Diese Fenster sind undicht.« »Ich will keine Luxuswohnung, sondern ein einfaches Haus, in dem ich leben kann«, sagte Camilla energisch. »Renovieren Sie die untere Etage. Die obere brauche ich im Augenblick sowieso nicht. Das kann man später machen.« Er maß noch einmal umständlich die Fensterbreite aus, dann ging er endlich. Camilla räumte etwas Geschirr aus einer Kiste und setzte dann Teewasser auf.
»Bis es kocht, können wir uns unser neues Heim ansehen, Pussy«, sagte sie zu dem kleinen Hund, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. Er war ihr noch genauso fremd wie das Haus. Marion hatte ihn am Abend zuvor völlig unerwartet mitgebracht und der Freundin zum Einzug als »Wachhund« geschenkt. Camilla suchte unter ihren mitgebrachten Vorräten nach dem Hackfleisch, füllte eine flache Schüssel damit und stellte sie dem Hund hin. Er wedelte kurz mit dem Schwanz, dann begann er an der Schüssel zu schnuppern. Plötzlich sträubte sich sein Fell, und er begann, drohend zu knurren. Tapsig lief er zur Küchentür. Camilla hatte gar nicht gehört, daß jemand gekommen war. Sie erschrak, als jemand in die Küche kam. Es war eine Frau, mehr konnte sie nicht erkennen, da die Fensterläden wegen der fehlenden Gardinen geschlossen waren. Die schirmlose Glühlampe in der Ecke ließ die Tür im Halbdunkel. »So ist das also«, sagte eine barsche, ja bösartige Stimme. »Mein Haus war Ihnen angeblich zu teuer. Da sind Sie hier eingezogen. So können Sie ja auch an Ihre Beute kommen. Ich hätte Lust, sofort die Polizei zu rufen.« »Mrs. Beaton?« stellte Camilla verblüfft fest, als die Nachbarin näher an die Lampe herankam. »Verzeihen Sie, ich verstehe nicht, was Sie meinen. Wieso stört es Sie, daß ich jetzt hier wohne?« »Das wissen Sie so gut wie ich.« »Nein. Es muß sich da um ein Mißverständnis handeln. Ich…« Der Wasserkessel pfiff schrill, und Camilla nahm ihn rasch vom Herd. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder Kaffee anbieten, Mrs. Beaton? Ich hoffe, wir werden gute Nachbarschaft halten.« »Ich verkehre nicht mit Mördern oder Mörderliebchen.«
Camilla war so geschockt, daß ihr keine Antwort einfiel. Der kleine Hund zeigte sein Mißfallen dagegen deutlich. Er knurrte die Besucherin art und zerrte mit seinen spitzen Kinderzähnen an ihrem weiten Rock. »Laß das, Pussy!« wies ihn Camilla zurecht. »Das ist Besuch. Freunde von Frauchen darf man nicht beißen.« Mrs. Beaton fuhr herum wie von der Tarantel gestochen. »Wo ist meine Pussy? Haben Sie die auch schon hergelockt?« »Ich meinte meinen Hund. Er heißt Pussy.« Mrs. Beaton lachte so schrill und nervös, daß Camilla Angst bekam und sich ein paar Schritt zurückzog. »Seit wann heißen Hunde Pussy?« erkundigte sich die Nachbarin höhnisch. »Pussy ist ein Katzenname. Sie nennen Ihren Hund nur so, damit Sie Ihre Bosheiten verschleiern können. Ich gehe jetzt zur Polizei«, verkündete Mrs. Beaton und verschwand aus der Küche. Die Tür fiel donnernd hinter ihr ins Schloß. Aus dem Verputz fielen ein paar kleine weiße Stückchen auf die Erde. »Was hat sie denn nur?« Camilla nahm den kleinen Hund auf den Schoß, den sie von nun an Nappy nennen wollte, um Mrs. Beaton zu besänftigen. Sie trank ihren Tee, aber er schmeckte ihr nicht. Dann besichtigte sie endlich in Ruhe ihr neues Reich, und Nappy tapste hinterher. Im unteren Stockwerk gab es außer der Küche zwei große und einen sehr kleinen Raum. Das hübschere Zimmer mit der Aussicht auf die Straße und weit über die angrenzenden Wiesen ins Tal war sehr verwohnt. Das mußte als erstes renoviert werden. Camilla wollte hier ihr Wohnzimmer einrichten.
Das kleine Kämmerchen nebenan genügte als Arbeitsraum. Der Schreibtisch und ein paar Bücherregale hatten gerade genug Platz. Eigentlich hatte Camilla daran gedacht, das dritte Zimmer als Schlafzimmer einzurichten. Aber es kam ihr sehr düster vor. Bis unmittelbar ans Fenster reichten die hohen, dunklen Tannen. Wenn sie schlief, konnte sie kaum das Fenster offen lassen, es wäre allzu einladend für einen Einbrecher gewesen. Als es klingelte, schrak sie zusammen. War das wieder Mrs. Beaton? Vor der Haustür stand ein Mann mittleren Alters mit einem sympathischen Gesicht. »Sie sind sicher Miss Weiller? Ich heiße Miller und bin der Bürgermeister von Farlington.« Mister Miller wirkte unsicher, als ihm Camilla eine Flasche Bier und einen Schnaps anbot. Sie hatte vorher die Möbelmänner auch so bewirtet. »Leider ist mein Besuch… hm… wie soll ich es ausdrücken? Ich bin nämlich auch die örtliche Polizeigewalt, wie man es so nennt. Man hat sich über Sie beschwert, Miss Weiller. Ich weiß, daß diese Anschuldigungen unsinnig sind. Aber es ist nun leider mal meine Pflicht, der Sache nachzugehen.« »Mrs. Beaton? Was wirft sie mir denn vor?« »Wirres Zeug im Grunde. Es paßt ihr einfach nicht, daß Sie hier wohnen. Sie hat etwas gefaselt von einem unterirdischen Gang, den Sie anlegen wollen, und daß Sie ihre Katzen vergiften wollten.« »Sie ist… etwas… übernervös?« »Nennen Sie’s ruhig verrückt. Alle sagen das. Aber sie ist nicht gemeingefährlich, deswegen kann man nichts machen. Es läßt sich meistens auch mit ihr auskommen. Nur ihren toten
Sohn darf man niemals erwähnen. Sie bildet sich ein, er wäre ermordet worden, und sucht überall den Mörder.« »Ist der junge Mann verunglückt, oder kann tatsächlich ein Verbrechen vorgelegen haben?« »Alles spricht gegen äußere Gewaltanwendung. Der junge Beaton hatte eine böse Kopfwunde, die genauso von einem Schlag mit einem Stein wie von dem Sturz auf die Marmorplatte herrühren konnte. Nur gab es in dem Haus, das damals noch seiner Großmutter gehört hat, absolut nichts zu stehlen. Die alte Frau hatte gerade genug zum leben. Auch Clementine Beaton hat niemals behauptet, daß irgend etwas fehlt. Wer sollte also Timothy Beaton erschlagen haben? Sein Tod hat niemandem Vorteile gebracht. Soviel ich weiß, war er Angestellter einer Versandfirma und allgemein beliebt.« »Was hat das alles mit mir zu tun?« fragte Camilla bedrückt. »Clementine Beaton wartet auf den Mörder ihres Sohnes. Das erzählt sie jedem, ob der es hören will oder nicht. Sie hat die fixe Idee, daß Mörder an den Ort ihrer Untat zurückkehren. Deswegen wohnt sie jetzt auch hier, obwohl sie mindestens dreißig Jahre lang in London gelebt und sich kaum um ihre alte Mutter gekümmert hat.« »Hält sie mich etwa für eine Mörderin?« »Vielleicht für eine Komplizin des Mörders. Ich weiß es nicht und nehme die Sache nicht ernst. Ich muß trotzdem jeder Anzeige nachgehen, so verrückt sie auch klingt. Aber ich bin vor allem hergekommen, um Sie zu warnen.« »Wovor?« Camilla schauderte es plötzlich. »Wovor?« wiederholte der Bürgermeister nachdenklich. »Ja, wenn ich das selbst wüßte! Wie gesagt, Clementine Beaton ist nicht gemeingefährlich. Viele Leute hier haben sie als nettes und charmantes junges Mädchen in Erinnerung. Dann war sie lange weg, alle Verbindungen sind abgerissen. Sie hat sie auch
nach ihrer Rückkehr nicht wieder aufgenommen, obwohl es einige versucht haben. Einladungen lehnt sie grundsätzlich ab.« »Ich danke Ihnen. Aber was soll ich tun? Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich vermutlich niemals in dieses Haus gezogen.«
*
Camilla sah und hörte nichts mehr von ihrer merkwürdigen Nachbarin. Die Tannen im Garten verdeckten die Sicht zu dem anderen Haus. Auch wenn sie mit Nappy spazierenging, wurde Camilla nicht belästigt. Montag kamen nicht nur die Handwerker, sondern auch zwei Arbeiter von der Post, die den Telefonanschluß legen wollten. Für das Telefonkabel mußte ein Stück vom Garten aufgegraben werden. Der Anschluß zum Hauptkabel lag zwei oder drei Meter auf dem Grundstück von Mrs. Beaton. Plötzlich – Camilla war gerade einmal draußen – tauchte die Nachbarin wie ein wütender Racheengel auf. Sie fuchtelte und gestikulierte wild herum. Es dauerte eine Weile, bis der ältere der beiden Postbeamten ihr klarmachen konnte, um was es ging. Sie schien es trotzdem nicht zu begreifen. »Das wird doch ein unterirdischer Gang!« wetterte sie. »Ein Gang zu meinem Haus! Diese Mörderbraut da will an das Geld. An das Geld, für das mein Junge sterben mußte.« »Haben Sie denn soviel Geld, Madam?« fragte der Postler ironisch. »Unterirdische Gänge sind sehr teuer.« »Es sind über drei Millionen.«
»Alle Achtung! Und warum bringen Sie die nicht auf eine Bank?« »Sie lagen doch auf der Bank.« So plötzlich wie sie gekommen war, verschwand Mrs. Beaton wieder. Die Postbeamten lebten nicht in Farlington und ahnten nicht, um was es eigentlich ging. Camilla erklärte es ihnen, soweit sie es selbst wußte. Von den drei Millionen hatte sie allerdings auch noch nie etwas gehört. »Es wird ziemlichen Ärger geben, wenn Sie auch noch Mrs. Beatons Grundstück aufgraben«, sorgte sie sich. »Das läßt sie bestimmt nicht zu. Sie haßt mich.« »Sie muß dulden, daß wir an den Anschluß gehen. Als man seinerzeit den anderen Anschluß gelegt hat, gab es Schwierigkeiten wegen der Verteilerstelle. Die Vorbesitzerin hat ausdrücklich unterschrieben, daß sie eine Verlegung des Kabels hier duldet. Da kann die Verrückte, gar nichts machen.« Camilla flüchtete ins Haus, um möglichen weiteren Auseinandersetzungen mit ihrer Nachbarin zu entgehen. Zu ihrer Verblüffung – fast zu ihrem Entsetzen – spielte der kleine Nappy in der Küche mit einer schwarzen Katze. Fenster und Türen waren zu. Wie kam die Katze hierher? War etwas Mrs. Beaton im Haus gewesen? Camilla dachte an schreckliche und geheimnisvolle Dinge. Schließlich war es doch auch ungewöhnlich, daß Hund und Katze auf Anhieb Freunde waren. »Mach, daß du wegkommst«, Camilla öffnete die Tür und wollte das kleine schwarze Ungeheuer hinausjagen. Nappy bezog das wohl auf sich und entwischte auch. Bei Camilla brannte eine Sicherung durch. Sie rief und schrie, daß der Maler von oben kam und sie besorgt ansah. »Was ist denn los, Miss Weiller?«
»Waren Sie eben in der Küche?« »Nee, wenn wir Wasser brauchen, nehmen wir uns das oben im Bad.« »Ich muß rasch ein paar Besorgungen im Dorf machen«, wich Camilla weiteren Erörterungen aus. »Soll ich für Sie etwas mitbringen?« »Ach ja. Können Sie mir einen kleinen Kanister Benzin mitbringen? Im Hinterzimmer ist eine Farbe, die man so nicht lösen kann. Ich will’s mal mit Benzin versuchen.« »Aus der Apotheke?« »Genügt Autobenzin. Ich geb’ Ihnen ‘nen leeren Kanister mit. Sie fahren ja sowieso bei Lynch vorbei.« »Wer ist Lynch?« »Die Tankstelle. Am besten gehen Sie in die Werkstatt, da füllt man Ihnen das schon ein, und Sie müssen sich nicht die Hände schmutzig machen.« Nappy kam sofort, als Camilla ihn rief und die Wagentür aufmachte. Er fuhr leidenschaftlich gern Auto. Die Katze war verschwunden. Sie kaufte im einzigen Supermarkt des Ortes einen Kasten Bier für die Handwerker und ein paar Lebensmittel für sich selbst. Dann fuhr sie auf dem Rückweg zur Tankstelle. Da war weit und breit niemand zu sehen. Aber sie merkte, daß dahinter eine größere Werkstatt war, die durch ein paar Bäume fast verdeckt wurde. Ein großer, eleganter Reisebus und zwei Taxis standen auf dem freien Platz. Während sich Camilla noch suchend umsah, kam ein junger Mann in hellen Hosen und einer modernen Wildlederjacke auf sie zu. »Möchten Sie in die Werkstatt?« fragte er freundlich. »Nein, ich brauche nur ein bißchen Benzin.« Sie hielt den Kanister hoch.
»Haben Sie eine Panne?« »Ich habe die Maler im Haus. Mister Morell hat mir den Kanister mitgegeben. Wo finde ich jemanden, der ihn mir füllen kann?« »Das mache ich gern für Sie.« »Sind Sie denn der Tankwart?« fragte sie zweifelnd. An diesem Tag kam ihr alles verdächtig vor. Er lachte. Sein offenes, sympathisches Gesicht gefiel ihr. »Ja und nein. Ich bin Randolph Lynch. Meinem Vater gehört die Tankstelle und mir das Auto-Haus. Aber so streng trennen wir das nicht. Vater ist gerade beim Essen.« Er nahm ihr den Kanister ab. »Sie sind sicher Miss Weiller?« »Woher können Sie das wissen?« »Wenn jemand in solch einen kleinen Ort zieht, spricht sich das schnell herum. Die bildschöne junge Dame, die das Tannenhaus gekauft hat – wer sollte das sonst sein?« Camilla wurde verlegen. Das versteckte Kompliment tat ihr gut. Nach den häßlichen Vorfällen des Vormittags war es schön, einmal etwas Nettes zu hören. »Die Hexe Beaton ist sicher garstig zu Ihnen?« fragte Randolph Lynch, während er das Benzin einfüllte. »Nehmen Sie das nicht zu ernst. Das richtet sich nicht gegen Sie persönlich.« »Kennen Sie Mrs. Beaton denn näher?« »Jeder hier in Farlington weiß, was er von ihr zu halten hat. Vor allem habe ich ihren Sohn sehr gut gekannt. Timothy und ich waren dicke Freunde. Er war oft bei seiner Großmutter und hat fast immer seine Ferien hier verbracht. Mrs. Beaton hat Ihnen wahrscheinlich erzählt, daß man ihren Sohn ermordet hat?« fragte der junge Mann gelassen. »Das ist der größte Quatsch, den ich je gehört habe.«
»Sie hält mich für eine Komplizin des Mörders«, gab Camilla bedrückt zu. »Warum ausgerechnet Sie?« Camilla war froh, einmal ihrem Herzen Luft machen zu können. Der junge Mann war ihr sympathisch. Er hörte ihr voller Verständnis zu. Sie erzählte ihm alles – bis hin zum Eindringen der schwarzen Katze in ihre Küche. Randolph Lynch legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Mrs. Beaton verfügt bestimmt nicht über übersinnliche Fähigkeiten. Wer weiß, wie die Katze ins Haus gekommen ist. Und selbst wenn Mrs. Beaton sie hingebracht hätte, was kann Ihnen eine kleine Katze tun?« »Sie ist so schwarz.«
*
Am Abend ging Camilla noch einmal durchs Haus und sah nach, ob alle Fenster geschlossen waren. Diesmal war weniger Angst vor etwas Unbekanntem dabei als die Furcht vor einem Gewitter, das sich ankündigte. Der Himmel war schwefelgelb. In der Ferne zuckten die ersten Blitze. Man hörte leichtes Donnergrollen. Als Camilla in die Küche zurückkam, erstarrte sie vor Schreck. Auf dem Stuhl saß Mrs. Beaton und streichelte Nappy, der sich das sichtlich gern gefallen ließ. »Guten… Abend!« Irgend etwas würgte in Camillas Kehle. »Guten Abend«, sagte Mrs. Beaton, als wären sie die besten Freunde. »Entschuldigen Sie, daß ich hier so eingedrungen bin. Die Tür war offen, und es regnet draußen.«
»So…?« Camilla mußte sich setzen. Dann nahm sie sich zusammen. »Es geht sicher um die Telefonleitung in Ihrem Garten?« »Ach was!« Die wegwerfende Handbewegung der Besucherin deutete an, daß das uninteressant war. »Das ist nicht wichtig. Ich wollte Ihnen einfach nur mal guten Tag sagen. Wir beiden Frauen sind ja hier draußen ganz allein und sollten gute Nachbarschaft halten. Ich habe Ihnen auch eine Kleinigkeit mitgebracht.« Erst jetzt bemerkte Camilla den großen Napfkuchen, der auf der Anrichte stand. »Vielen Dank«, stammelte sie verwirrt. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder einen Sherry anbieten?« »Sherry wäre mir lieber und macht weniger Umstände.« Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, vor allem über die Einkaufsmöglichkeiten in Farlington, die Umgebung und sogar über Kochrezepte. »Sie schreiben ein Buch?« fragte Mrs. Beaton irgendwann. »Ich habe es vor. Im Moment beschäftigen mich noch die Handwerker. Ehe ich nicht richtig eingerichtet bin, kann ich kaum in Ruhe arbeiten. Meine Arbeit hat auch Zeit.« »Sie sind offenbar sehr reich, daß Sie sich um Geld keine Sorgen machen müssen?« Täuschte Camilla sich, oder lag etwas Lauerndes in der Stimme ihrer Nachbarin? »Mein Vater ist kürzlich gestorben und hat mir genügend hinterlassen, daß ich mir dieses Haus kaufen und eine Weile von dem Erbe leben kann.« »War Ihr Vater bei einer Bank beschäftigt? Ich habe gehört, er sei Direktor der Central-Bank in London gewesen?« »Du liebe Güte, wer hat Ihnen denn das erzählt?« Camilla mußte lachen. »Wenn es je einen Menschen gegeben hat, der nicht mit Geld umgehen konnte, dann meinen Vater. Er war
ein versponnener Wissenschaftler. Er hätte Ihnen alles über jeden Inka-Kaiser erzählen können. Aber ich nehme an, er hatte keine Ahnung, was zum Beispiel eine Aktie ist.« »Trotzdem hatte er offenbar viel Geld?« beharrte Mrs. Beaton auf ihren Vorstellungen. »Er hat einiges geerbt und zwei Bücher geschrieben, von denen eins auch bei Laien ein Riesenerfolg geworden ist. Unser Einkommen hat erst meine Mutter verwaltet und später ich.« »Haben Sie noch Geschwister?« »Nein. Mein einziger Bruder ist vor einiger Zeit bei einem Verkehrsunfall umgekommen.« »Vor zwei Jahren ungefähr? Bei einer Schießerei mit der Polizei in London?« Camilla schüttelte den Kopf und zweifelte wieder am Verstand ihrer Nachbarin. »Nein, es war ein Flugzeugabsturz einer Linienmaschine nach Schottland.« »Das ist sehr interessant. Das ist wirklich interessant.« Mrs. Beaton trank ihren Sherry aus, dann stand sie unvermittelt auf und verabschiedete sich eilig. Camilla verstand das nicht. Nachdem Mrs. Beaton das Haus verlassen hatte, verschloß und verriegelte Camilla ihre Haustür. Sie hätte geschworen, daß sie das schon einmal nach dem Weggang der Handwerker getan hatte…
*
Randolph Lynch erschien völlig unerwartet am Freitag gegen
Abend, obwohl Camilla sich erst für Sonntag zu einem kleinen
Ausflug mit ihm verabredet hatte. Er brachte ihr einen herrlichen Blumenstrauß mit und fragte: »Wo steht denn Ihr Wagen?« »In der Garage. Aber warum wollen Sie das wissen?« »Weil ich ihn mir mal ansehen wollte. Morell hat vorhin bei uns getankt und angedeutet, daß Sie Schwierigkeiten mit Ihrem Morris haben. Er springt nicht an, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Da wollte ich Ihnen meine Hilfe anbieten.« »Mein Wagen ist völlig in Ordnung. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß ich mit Mister Morell darüber gesprochen habe.« »Soll ich das so falsch verstanden haben? Na gut, daß alles in Ordnung ist.« Sie standen noch immer in der kleinen Diele. Randolph Lynch schien zu zögern. »Darf ich Sie wenigstens zu einem Glas Wein oder Bier einladen, nachdem Sie schon einmal hier sind?« fragte Camilla. Merkwürdigerweise verspürte sie dabei ein leichtes Herzklopfen. »Sehr gern.« Er lachte offen. »Ich hatte sogar gehofft, daß Sie mir das anbieten, wenn ich den Wagen repariert habe.« »Kommen Sie doch bitte mit hinauf. Außer der Küche habe ich bisher nur ein einziges Zimmer notdürftig eingerichtet. Aber oben stehen wenigstens bequeme Sessel.« Er sah sich anerkennend in dem Raum um, in den sie ihn führte. Camilla war froh, daß sie diesmal das Bettzeug von der Couch geräumt hatte, was sie aus Bequemlichkeit nicht immer tat. So wirkte das Zimmer behaglicher. Die drei kleinen Sesselchen hatten den gleichen Bezug wie die Couch und die große Regalwand war von Mister Morell inzwischen fest montiert worden. Außer Büchern standen da viele Kleinigkeiten, die Camilla liebte.
Nappy sprang aus seinem Körbchen, als der Fremde kam. Er beschnupperte ihn ausgiebig, Randolph Lynch streckte ihm die Hand entgegen, ließ dem Hund Zeit und streichelte ihn dann. »Ein netter Bursche. Fünf, sechs Monate, schätze ich. An dem werden Sie später einmal einen guten Wachhund haben. Er muß nur etwas dressiert werden. Trauen Sie sich das zu?« »Ich versuche, meinen Willen durchzusetzen«, seufzte Camilla. »Manchmal fällt es mir allerdings schwer. Wenn er so drollig bettelt oder ein schlechtes Gewissen hat, kann ich ihm einfach nicht böse sein.« »Er braucht eine strenge Hand, jedenfalls muß er spüren, wer der Herr im Hause ist. Ich kenne mich da einigermaßen aus, weil ich selbst auch Hunde habe. Darf ich Ihnen gelegentlich ein paar gute Ratschläge geben?« »Da wäre ich Ihnen sogar sehr dankbar.« Sie kamen schnell ins Gespräch. Camilla fühlte sich wohl wie lange nicht und hatte das Gefühl, in Farlington einen ersten Freund gefunden zu haben. Randolph Lynch machte keine gewagten Komplimente, er drängte sich nicht auf. Trotzdem spürte sie, daß er sie bewunderte und gern mit ihr plauderte. Natürlich sprachen sie auch über das Haus, die Handwerker und die Nachbarschaft. Camilla erzählte wieder von dem seltsamen Verhalten ihrer Nachbarin. »Ich werde einfach nicht schlau aus dieser Frau«, meinte sie nachdenklich. »Daß sie mich aus einem mir unbekannten Grund haßt, kann ich zur Not noch verstehen. Aber dann tut sie mir gegenüber wieder so freundlich, als wären wir immer ein Herz und eine Seele gewesen. Sie hat mir vor ein paar Tagen sogar einen selbstgebackenen Kuchen gebracht.« »Haben Sie den etwa gegessen?« »Natürlich, warum nickt? Er hat sehr gut geschmeckt.«
»Dann war er jedenfalls nicht vergiftet. Oder haben Sie ihn heute erst angeschnitten?« Camilla wurde blaß vor Angst. »Sie meinen, Sie denken doch nicht, daß Mrs. Beaton mich aus dem Weg räumen will?« »Der Gedanke lag nahe. Einer Verrückten ist alles zuzutrauen. Ich bitte Sie herzlich, seien Sie vorsichtig.« Seine Stimme klang so besorgt, daß ihn Camilla überrascht ansah. »Haben Sie Angst um mich?« fragte sie lächelnd. »Ja.« Er hatte nach ihrer Hand gefaßt, hielt sie einen Augenblick in seiner und zog dann seinen Arm rasch zurück. »Verzeihen Sie, Miss Weiller. Ich habe natürlich kein Recht, mich in ihr Leben einzumischen. Man macht sich nur so seine Gedanken, besonders wenn es um gute Freunde geht.« »Freunde?« wiederholte Camilla kaum hörbar. »Ich hoffe sehr, daß wir Freunde werden. Im Grunde bin ich in Farlington fast so einsam wie Sie.« »Haben Sie denn nicht immer hier gelebt?« »Ein paar Jahre war ich in einem Internat. Vater hatte sich eingebildet, ich hätte das Zeug zu einem guten Arzt oder Anwalt. Ich sollte etwas ganz Besonderes werden und mir nicht die Hände an der Tankstelle oder bei der Reparatur landwirtschaftlicher Maschinen schmutzig machen. Aber meine Liebe gehört nun mal der Technik, den Motoren. Auch das Kaufmännische macht mir Freude. Ich kann sehr zufrieden sein mit dem, was ich erreicht habe. Inzwischen habe ich die Werksvertretungen einer Autofirma und eines Traktorenwerkes. Die Reparaturwerkstatt ist voll ausgelastet. Unter meinem Namen fahren zwei moderne Reisebusse und drei Taxis. Ohne falschen Stolz kann ich sagen, daß es mir sehr gut geht.« »Und deswegen sind Sie einsam?« zweifelte Camilla.
»Ja. Man neidet es mir, daß ich es so weit gebracht habe. Allerdings weiß auch jeder hier, daß es nicht allein mein Verdienst ist. Ich hatte das unglaubliche Glück, einen erheblichen Lottogewinn zu machen, als meine hochfliegenden Träume fast an finanziellen Schwierigkeiten geplatzt wären.« Es machte ihn in Camillas Augen sympathisch, daß er dieses unverhoffte Glück zugab und sich nicht mit falschen Federn schmückte. Randolph Lynch sprach noch eine Weile über seine Firma. Dann kam er wieder auf Mrs. Beaton zurück. »Schließen Sie ruhig Freundschaft mit ihr, soweit das möglich ist. Aber bleiben Sie trotzdem immer mißtrauisch.« »Ich weiß überhaupt nicht, was sie gegen mich hat. Denn wenn ich ihren Sohn ermordet hätte – was völlig absurd ist – wäre ich doch nicht ausgerechnet hierher gekommen.« Randolph Lynch sah nachdenklich auf seine Füße. Wie in tiefen Gedanken kraulte er Nappy, der neben ihm lag. »Mrs. Beaton bildet sich offenbar ein, eine sehr reiche Frau zu sein«, sagte Camilla, als ihr Gast schwieg. »Gestern hat sie davon gesprochen, sie hätte drei Millionen Pfund im Haus. Glaubt sie denn, ich wollte ihr Geld stehlen?« Der junge Mann hob ruckartig den Kopf. »Sie spricht immer noch von den Millionen?« fragte er nervös. »Hatte sie denn jemals soviel Geld? Der Bürgermeister meinte, sie lebte in eher bescheidenen Verhältnissen.« Randolph Lynch stand auf, trat ans Fenster und sah eine Weile hinaus auf die stille Straße. Dort war nichts zu sehen, außer seinem eigenen Wagen, den er vor dem Tor geparkt hatte.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen, Miss Weiller, was bitte unter uns bleiben muß. Kein Mensch in Farlington ahnt etwas davon.« »Warum erzählen Sie es dann gerade mir?« Camilla wurde wieder unsicher. »Ich möchte nichts mit düsteren Geheimnissen zu tun haben. Ich bereue es sogar schon, daß ich dieses Haus hier gekauft habe. Aber ich werde es auch kaum zu einem vernünftigen Preis wieder loswerden können.« »Es geht um die Millionen, die Mrs. Beaton Ihnen gegenüber erwähnt hat. Sonst hätte ich nichts gesagt. Aber Sie müssen wohl Bescheid wissen.« »Mich interessieren die Vermögensverhältnisse meiner Nachbarn nicht.« »Mrs. Beaton ist mit Sicherheit keine Millionärin. Ich muß etwas weiter ausholen, damit Sie alles richtig verstehen. Timothy Beaton war einer meiner besten Freunde. Wir waren meistens nur in den Ferien zusammen, aber da haben wir eine Menge Streiche miteinander ausgeheckt. Ein paar Tage vor seinem Tod habe ich ihn zufällig in Plymouth getroffen. Seine Großmutter lag dort im Krankenhaus, und er hat mir angedeutet, daß er in den nächsten Tagen nach Farlington kommen wollte, um für die alte Frau einige persönliche Dinge zu holen, die sie gern haben wollte.« Da er schwieg, sah ihn Camilla verständnislos an. »Tim kam nicht, und ich habe mir nichts dabei gedacht. Dann habe ich erfahren, daß er tot war. Seine Mutter hatte ihn in dem Haus der alten Dame gefunden. Natürlich bin ich sofort zu ihr gefahren und wollte ihr meine Hilfe anbieten. Sie war vollkommen außer sich.« »Das ist ja zu verstehen. Sein Tod muß ein schwerer Schock für die Mutter gewesen sein.«
»Ja, natürlich. Aber sie hatte offenbar den Verstand verloren. Sie hat behauptet, Tim und zwei Komplizen hätten eine Bank in London ausgeraubt und eine Beute von ein paar Millionen gemacht. Um kein Aufsehen zu erregen, hätten sie das Geld im Haus der Großmutter versteckt und erst später teilen wollen. Irgendwie müsse es dann zu einem Streit gekommen sein, und einer der Kerle hätte Tim erschlagen.« »So ähnlich wurde mir die Geschichte auch erzählt«, sagte Camilla. »Ich war so außer mir, daß ich in der Wahl meiner Worte ganz bestimmt nicht vorsichtig war. Ich weiß nicht mehr, was ich Mrs. Beaton alles an den Kopf geworfen habe. Ausgerechnet Tim! Der brave, zuverlässige und etwas schüchterne Tim sollte ein Verbrecher sein! Natürlich habe ich niemandem etwas von diesem Gespräch erzählt. Es wäre mir wie eine Beleidigung meines toten Freundes vorgekommen. Bis heute habe ich angenommen, Mrs. Beaton hätte die Sache auch vergessen oder sich bei nüchterner Überlegung gesagt, daß Tim so etwas niemals getan hätte! Hat sie Ihnen gesagt, wo das Geld sein soll?« »Genau genommen hat sie gar nicht mit mir darüber gesprochen, sondern mit den Telefonarbeitern, die ein paar Meter in ihrem Garten aufgraben mußten. Sie hat von einem unterirdischen Gang gesprochen, und das ist ja nun wirklich absoluter Unsinn.« »Aber sie hat deutlich von Millionen gesprochen?« »Ja.« »Ich habe mich damals natürlich informiert, weil mir alles gar so absurd vorgekommen ist. Die nächstliegende Erklärung ist, daß Mrs. Beaton etwas von einem Bankraub in London gelesen hatte, über den damals in allen Zeitungen geschrieben wurde. In ihrem Kummer, ihrer verständlichen Verzweiflung
hat sie dann alles durcheinander gebracht. Denn es gab ja tatsächlich keinen Grund, warum jemand den harmlosen Tim ermorden sollte.« »War es denn kein Unfall?« »Das ist nie mit absoluter Sicherheit geklärt worden. Man hat die Untersuchungen vor allem deshalb eingestellt, weil es für ein Verbrechen nicht die geringsten Anhaltspunkte gab. Denn zu einem Mord gehört auch ein Motiv. Dieses Motiv hat sich dann Mrs. Beaton offenbar selbst zusammengebastelt.« »Hat sie das auch der Polizei gegenüber erwähnt?« Randolph Lynch zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe jedenfalls niemals etwas davon gehört, und es hätte sich sicher herumgesprochen.« »Sie tut mir im Grunde leid. Mein Gott, was muß diese Frau durchgemacht haben! Den eigenen Sohn tot in einem verlassenen Haus zu finden! Soviel ich weiß, war ihre Mutter auch gerade gestorben.« »Mir hat sie auch leid getan, und ich wollte ihr helfen. Schon Tim zuliebe. Aber seit ich ihr bei meinem ersten Besuch so deutlich die Meinung gesagt habe, hat sie mich geschnitten. Sie geht mir aus dem Wege. Meinem Vater hat sie erklärt, sie wolle mich nicht mehr sehen, weil ich sie immer an Tim erinnere. Drei- oder viermal habe ich noch den Versuch gemacht, mit ihr zu sprechen. Sie läßt mich einfach stehen.« »Ich begreife nur nicht, was das alles mit mir zu tun hat.« »Das ist mir auch ein Rätsel.« Sie tranken schweigend ihre Gläser aus. Die Stille im Raum war bedrückend. Plötzlich fragte Camilla: »Haben Sie eine Ahnung, welche Bank man damals überfallen hat?« »Ich wußte es mal, aber im Moment kann ich mich nicht erinnern. Hat es irgendeine Bedeutung?«
»Es ist ein ziemlich verrückter Gedanke. Mrs. Beaton hat mich neulich gefragt, ob mein Vater Direktor der Central-Bank in London gewesen sei.« »War er das?« fragte Randolph Lynch erregt. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder, weil Sie den Namen erwähnt haben. Der Überfall hat auf die Central-Bank stattgefunden.« »Mein Vater war Wissenschaftler, Professor für alte Geschichte und Spezialist für Inka-Kulturen.« Randolph Lynch atmete hörbar auf. »Das ist gut, dann sind Sie nicht in Gefahr, wie ich einen Augenblick befürchtet habe.« »War denn der Direktor in den Raub verstrickt?« »Nein, nein, jedenfalls stand nichts davon in den Zeitungen. Aber bei den wirren Ideen der Mrs. Beaton ist alles möglich.« »Sie machen mir ja Mut«, sagte Camilla etwas kläglich. »Nächstens wird sie noch etwas dabei finden, wenn ich ihr von Vaters Ausgrabungen in Peru erzähle.« Randolph Lynch lachte etwas gezwungen.
*
So unauffällig wie möglich erkundigte sich Camilla über den toten Timothy Beaton und über den höchst lebendigen Randolph Lynch. Gelegentliche Gespräche mit den Handwerkern und den Geschäftsleuten im Ort gaben ihr die Möglichkeit dazu. Über beide sprach man nur Gutes. Daß sie Freunde gewesen waren, schien jeder zu wissen. Tim galt als etwas schüchtern und sehr zuverlässig. Man rechnete es ihm vor allem hoch an,
daß er sich stets um seine kränkliche Großmutter gekümmert hatte. Die Auskünfte über Randolph Lynch schwankten. Einige bewunderten seine enorme Tüchtigkeit, mit der er den Vater weit überflügelt hatte. Bei anderen klang leiser Neid heraus, wenn sie erwähnten, daß er es schließlich nur mit Hilfe des Lotto-Gewinns geschafft hatte. »Der ist gerade zur rechten Zeit gekommen«, sagte der bedächtige Mister Morell. »Der junge Lynch hatte eine Menge Flausen im Kopf. Wenn’s schiefgelaufen wäre, hätte der alte Lynch auch noch sein Haus und die Tankstelle verlieren können. Aber alles was recht ist, der junge Bursche weiß, was er will.« »Ja, manchmal braucht man eben auch etwas Glück«, sagte Camilla. »Wieso ist er eigentlich noch nicht verheiratet, wenn es ihm so gut geht?« »Er soll mal verlobt gewesen sein. Mit einer aus der Stadt, der es hier nicht gefallen hat. Aber was Genaues weiß niemand. Es heißt, er sucht ‘ne ganz besondere Frau. Aber welche will denn immer in Farlington wohnen, so am Ende der Welt? Und der junge Lynch, der will absolut hierbleiben. Sein Vater hat’s mir selber erzählt. Er hat seinem Sohn nämlich geraten, doch ein Geschäft in Plymouth aufzumachen, weil da mehr Leute wohnen. Aber das will der junge Lynch eben nicht.« »Es ist doch schön, wenn jemand so an seiner Heimat hängt.« »Na ja, mich geht’s nichts an.« Camilla traf sich noch zweimal mit Randolph Lynch. Einmal fuhren sie zusammen an die Küste, das andere Mal aßen sie im einzigen eleganten Hotel von Farlington. Camilla registrierte genau, daß man sie beobachtete und fühlte sich sehr befangen, obwohl sie nichts zu verbergen hatte.
Am nächsten Morgen tauchte Mrs. Beaton wieder bei ihr auf, die sie seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. »Ich will Sie nur warnen«, sagte die Nachbarin ohne jede Einleitung. »Vor wem?« Camilla war froh, daß die Handwerker noch im Haus waren. Es war einer der letzten Tage, bevor sie fertig wurden. »Vor Randolph Lynch.« Mrs. Beaton ging in die Küche, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. »Hat Mister Lynch etwas zu verbergen?« fragte Camilla, während sie eine Tasse Tee auf den Tisch stellte. »Der sucht eine reiche Frau, eine ganz reiche. Er hat nämlich Schulden. Hat sein Geschäft viel zu groß aufgezogen. Ich bin nur froh, daß Timothy damals nicht mitgemacht hat.« »War Ihr Sohn auch Kraftfahrzeugmechaniker?« »Nein, der hatte eine gute Stelle in einem Versandhaus, wo er prima verdient hat. Aber Timothy hatte Kaufmann gelernt. Randolph wollte ihn überreden, daß sie in London zusammen eine Autohandlung aufmachten. Mein Junge sollte seine Großmutter überreden, das Haus hier zu verkaufen. Aber das hätte Timothy natürlich nie getan. Er wußte, wie Mutter an ihrem Haus hing.« »Soviel ich weiß, steht Mister Lynch heute sehr glänzend da. Und wenn es anders wäre, ginge mich das nichts an.« »Wirklich nicht? Ich dachte, Sie wollen ihn heiraten.« Camilla lachte gezwungen. »Ich kenne Mister Lynch kaum.« »Warum sind Sie dann eigentlich nach Farlington gekommen? Ich dachte, Sie kennen ihn von früher.« »Sie wissen doch genau, warum ich hergekommen bin«, antwortete Camilla verärgert. »Weil ich Ihre Anzeige gelesen habe.«
»Aber Sie haben mein Haus nicht gekauft sondern dieses hier.« »Ihres war mir zu teuer, wie ich Ihnen sagte. Und dann hörte ich zufällig von diesem hier.« »Nein, nein, irgendwas muß es zu bedeuten haben, daß Sie unbedingt hier wohnen wollen«, murmelte Mrs. Beaton wie im Selbstgespräch. »Ein junges, hübsches Mädchen aus der Großstadt vergräbt sich nicht in der Einsamkeit.« »Ich hatte meine Gründe dafür.« Mrs. Beaton sah Camilla an. Ihre Augen flackerten wie im Haß. Ihre Hände zitterten, obwohl sie es offenbar verhindern wollte. »Ich bekomme schon noch mein Recht!« schrie sie plötzlich. »Einmal erwische ich die Mörder meines Sohnes. Es kann lange dauern, aber ich werde mich rächen.« Ehe Camilla noch etwas dazu sagen konnte, war die Besucherin aufgesprungen, warf dabei den Stuhl um und rannte aus der Küche. Um sich zu beruhigen und abzulenken, ging Camilla in den Garten. Ein Mann aus dem Dorf arbeitete dort und sollte ein paar von den dunklen Tannen fällen. »Ist wirklich gut, daß die Bäume am Haus wegkommen«, sagte er, als Camilla zu ihm trat. »Da kann wenigstens kein Einbrecher mehr ins Haus.« »Was haben Einbrecher mit meinen Bäumen zu tun?« »Na, kommen Sie mal her, dann werde ich es Ihnen zeigen.« Er führte sie zu den beiden Tannen, die am nächsten zur Hausmauer standen. »Gucken Sie sich mal die Äste genau an. Ein paar sind abgebrochen oder zurechtgebogen. Das kommt nicht vom Wind. Da ist jemand ‘raufgeklettert, der bei Ihnen einsteigen wollte.«
Camilla sah entsetzt auf die bezeichneten Zweige, Zwei waren mit einem Strick zusammengebunden, was nach ihrer Ansicht keinen Sinn ergab, wenn man sie nicht als Stütze brauchte. »Bei mir gibt es doch nichts zu stehlen«, murmelte sie. »Vielleicht war’s die Verrückte von drüben.« Das junge Mädchen nickte benommen. Etwas Unheimliches ging hier vor sich. Aber es war auch schwer vorstellbar, daß Mrs. Beaton heimlich auf Bäume stieg und durch ein geschlossenes Fenster in einen völlig leeren Raum sah. An diesem Abend kam Mrs. Beaton noch ein zweites Mal. Sie war ganz aufgeregt und eher ängstlich als rachsüchtig. »War er auch hier bei Ihnen?« fragte sie schon in der Diele. »Wer? Meinen Sie Mister Miller?« »Nein, den Mann vom Elektrizitätswerk. Er wollte die Zähler ablesen, hat er gesagt. Sonst kommt immer der alte Rainway. Der heute wollte unbedingt in den Keller, obwohl mein Zähler doch gar nicht im Keller ist.« »Bei mir war niemand. – Wenn Sie Bedenken hatten, hätten Sie sich doch den Ausweis zeigen lassen können.« »Wollte ich ja. Der Mann hat gesagt, er hätte ihn vergessen und ich sollte kein Theater machen.« »Das klingt allerdings sonderbar.« »Ja, und das schlimmste ist, daß er die goldene Uhr angesehen hat.« Camilla fand es nicht verwunderlich, daß jemand nach einer Uhr schaute. Mochte es nun eine kostbare oder wertlose sein. Sie verstand sowieso nicht, warum sich Mrs. Beaton deswegen so aufregte. »Wahrscheinlich wollte der Mann nur wissen, wie spät es ist«, gab sie freundlich zu bedenken.
»Die goldene Uhr geht doch gar nicht. Ich habe sie niemals aufgezogen. Sie hängt über dem kleinen Sekretär neben Timothys Bild. Einmal wird jemand kommen, der sie erkennt.« »Die Uhr Ihres Sohnes?« Mrs. Beaton senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, obwohl außer ihr und Camilla niemand im Hause war. »Die Uhr gehört doch gar nicht Timothy, sie gehört seinem Mörder.« Camilla spürte eine feuchte Kälte ihren Rücken heraufkriechen. Sie hatte Angst. Nicht nur vor der offensichtlich verwirrten Frau, sondern auch noch vor dem Geheimnisvollen und Unerklärlichen, das sie deutlich spürte. »Der Mörder muß sie verloren haben, als er meinen armen Jungen erschlagen hat«, wisperte Mrs. Beaton. »Ich habe sie erst gefunden, als alle schon weg waren. Niemand hat darauf geachtet, sie dachten wohl, daß sie Mama oder Timothy gehört. Aber ich weiß, daß es nicht so ist.« »So einfach verliert man doch keine Armbanduhr.« »Es ist ja auch eine ganz altmodische Taschenuhr. Erst habe ich sie weggeschlossen. Aber dann habe ich sie aufgehängt. Direkt neben Timothys Bild. Der Mörder wird erschrecken, wenn er sie sieht. Dann hat er sich verraten.« »Ist der Mann vom Elektrizitätswerk erschrocken?« fragte Camilla unwillkürlich. »Er hat sich jedenfalls nichts anmerken lassen. Aber er hat gesagt, die Uhr ist ein ganz seltenes Stück. Sein Großvater hätte auch so eine gehabt. Ob ich sie ihm nicht verkaufen wollte? Finden Sie das nicht merkwürdig?«
*
Camilla hatte nun doch auch die oberen Räume renovieren lassen. Sie wollte endlich zu einer »vernünftigen« Arbeit kommen, die ihr nicht soviel Zeit für müßige Grübeleien ließ. Dabei dachte sie an das Buch, in dem sie auf die ihr verbliebenen Unterlagen der Forschungsarbeiten ihres Vaters zurückgreifen wollte. Außerdem wollte sie in einer gemütlich eingerichteten Wohnung und nicht in einem Provisorium leben. Sie fuhr nach Plymouth, blieb ein paar Tage dort und ließ ihre Möbel verladen. Auch Marion zog aus. Da sie nur die Einrichtung für ein einziges Zimmer besaß, schenkte Camilla ihrer Freundin eine ganze Menge Hausrat. Zum Dank dafür – und auch aus echter Hilfsbereitschaft – kam Marion für ein paar Tage mit nach Farlington. Die Möbelpacker waren schon vor ihnen eingetroffen. »Haben bei Ihnen eigentlich die Vandalen gehaust?« fragte einer, während ihm Camilla ein Bier anbot. »Was meinen Sie damit?« »Na, oben in dem Zimmer, das schon eingerichtet war, sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld.« Die beiden jungen Mädchen liefen hinauf. Camilla mußte sich an die Tür lehnen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie auf das Chaos blickte. Nichts war mehr an seinem Platz. Auf dem Fußboden lagen Bücher, Papiere und Kleider. Jedes Kissen war aufgeschlitzt worden. Sogar das Bettzeug aus Nappys Körbchen war überall sinnlos verstreut. »Hier hat jemand was gesucht«, stellte Marion nüchtern fest.
»Glauben denn Einbrecher, ich verberge mein Vermögen in einem Kopfkissen?« Camilla liefen nun die hellen Tränen über die Wangen. »Nein, ein Vermögen sicher nicht.« Marion war zwar auch entsetzt, aber nicht so unmittelbar berührt. Deswegen konnte sie auch noch logischer denken. »Man scheint Papiere gesucht zu haben. Was hat denn zum Beispiel diese Zeichnung hier zu bedeuten?« Sie hielt der Freundin eine Zeichnung hin, eine Art Grundriß. »Das ist der Plan einer Ruinenanlage in den Anden.« »Und das?« »Der Grundriß dieses Hauses hier. Es steht doch drauf.« »Hm…« Marion suchte sich einen Platz auf der Couch, deren Polster auch aufgetrennt waren. »Hattest du das alles zusammen in einer Mappe?« »Natürlich nicht. Was sollen Vaters Unterlagen mit dem Hausgrundriß zu tun haben?« »Eben. Das dachte ich mir auch. Aber es lag alles auf einem Stapel. Mit anderen Zeichnungen zusammen, die auch wie Grundrisse aussehen. Fehlt da was?« »Das kann ich dir wirklich nicht so schnell sagen. Worauf willst du hinaus?« »Ich zähle nur zwei und zwei zusammen. Laß mich mal einen Augenblick in Ruhe nachdenken.« Camilla nahm mit zitternden Händen ein paar kleine Figürchen vom Boden. Winzige Kostbarkeiten aus Peru. Eine kleine Statue war zerbrochen. Sonst schien alles heil zu sein. Nappy bellte wie ein Irrer und schnüffelte überall herum. Er schien es als persönliche Beleidigung zu empfinden, daß sein Körbchen nicht in Ordnung war. »Sei endlich still, du dummer Hund!« fuhr ihn Marion an. »Ich muß überlegen. Du hast erzählt, daß nach Ansicht seiner
Mutter der junge Mann aus der Nachbarschaft damals eine Bank überfallen, reiche Beute gemacht und sie hier irgendwo versteckt hat.« »Randolph Lynch hält das für Unsinn.« »Deine Nachbarin offenbar nicht. Sie redet doch von drei Millionen. Wenn sie die inzwischen gefunden hätte, wäre sie sicher nicht mehr hier. Sie hat dich verdächtigt, daß du mit in der Sache drinsteckst. Und offenbar ist ihr jetzt der Gedanke gekommen, daß das Geld gar nicht in ihrem Haus sein muß, sondern auch hier bei dir versteckt sein könnte.« »Wenn ich’s hätte, wäre ich doch kaum nach Farlington zurückgekommen, noch dazu mit dem ganzen Geld. Und wenn es hier im Haus versteckt gewesen wäre, hätte ich doch einfach damit verschwinden können. Du bist genauso verdreht wie Mrs. Beaton.« »Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte Marion. »Außerdem hätte Mrs. Beaton in den vergangenen Jahren längst dieses Haus durchsuchen können. Es war schon lange unbewohnt.« »Der Gedanke kann ihr ja erst gekommen sein, als du hier eingezogen bist. Sie hat dich doch verdächtigt, eine Mörderbraut zu sein.« »Nun langt es aber, Marion! Hilf mir lieber beim Aufräumen.« »Ich würde vorschlagen, du rufst erst mal die Polizei an. Auch wenn nichts gestohlen ist, solltest du es wenigstens melden.« Der Bürgermeister kam selbst, allerdings nicht allein. Er stellte seinen Begleiter als Kommissar Webster vor. »Es sieht zwar aus, als hätte man etwas hier gesucht«, meinte der Beamte bedächtig. »Aber Sie vermissen offenbar nichts.«
»Bisher nicht. Wenn etwas gestohlen ist, könnte es sich nur um etwas völlig Unwichtiges handeln. Mein Schmuck ist nicht kostbar, aber vollständig vorhanden. Ich habe nie eine größere Summe Bargeld im Haus. Auch mein Sparbuch und die Unterlagen für mein Bankkonto liegen noch in der Schublade, wo sie hingehören.« »Geben Sie uns auf jeden Fall Bescheid, wenn Ihnen etwas fehlt.« »Die wollten doch nur die drei Millionen haben«, platzte Marion heraus. »Was meinen Sie damit?« fragte diesmal der Bürgermeister. »Ach, das ist Unsinn«, Camilla war ärgerlich. »Ich habe meiner Freundin erzählt, daß Mrs. Beaton von Millionen faselt, die sie angeblich besitzt.« »Vor Jahren habe ich mal was gehört in dieser Richtung. Sie hat behauptet, man habe ihren Sohn wegen des Geldes erschlagen. Aber das muß ein Irrtum sein. Außerdem hat Mrs. Beaton damals meinem Vorgänger erklärt, es sei hier nichts gestohlen worden.« »Bei mir offenbar auch nicht«, meinte Camilla nachdenklich. »Allerdings ist hier unzweifelhaft eingebrochen worden.« »Mysteriös«, stellte Marion spöttisch fest. »In Farlington scheint es Gespenster zu geben, die nur so zum Spaß in fremde Häuser eindringen.« »Nehmen Sie diese Spukgeschichten doch nicht ernst«, entgegnete der Bürgermeister heftig. »Außer Mrs. Beaton und dem alten, vertrottelten Charly hat niemand die Lichter gesehen.« »Welche Lichter?« »Ich dachte, Sie spielen darauf an, daß drüben in dem verlassenen Haus gelegentlich Licht brennen soll.«
Camilla zitterte. Wären nicht die beiden Männer und Marion bei ihr gewesen, hätte sie sich zu Tode gefürchtet. Sie nahm sich allerdings zusammen, bedankte sich freundlich und zeigte später den Möbelpackern, wo die Möbel aufgestellt werden sollten. Erst als sie mit Marion allein war, begann sie plötzlich hilflos zu weinen. »Was ist denn los?« fragte Marion bestürzt. »Ich möchte hier wieder weg. Hätte ich doch nur nie dieses Haus gekauft! Es ist alles so unheimlich.« »Das hättest du entscheiden sollen, ehe du deinen Umzug vorbereitet hast. Soll ich ein paar Tage bei dir bleiben?«
*
Aber die Zeit mit der Freundin ging schnell vorbei. Am Abend nach Marions Abreise verschloß und verriegelte Camilla alle Fenster und verbarrikadierte sogar die Kellertür. Ihr Schlafzimmer hatte sie nun doch im oberen Stockwerk eingerichtet. Sie hatte Angst, unten könnte trotz aller Vorsichtsmaßnahmen jemand einsteigen. Der Raum enthielt jetzt das ehemalige Arbeitszimmer ihres Vaters mit dem wuchtigen Schreibtisch und dem gewaltigen Bücherschrank. Die schwarzen Eichenmöbel wirkten düster. In Plymouth war ihr das nie so aufgefallen. Camilla sah hinaus in den Garten. Seit die Bäume in der Nähe des Hauses gefällt worden waren, konnte man die Lichter von Mrs. Beatons Haus erkennen. Das junge Mädchen wunderte sich, warum eine alleinstehende Frau in fast jedem Zimmer und offenbar auch im Keller Licht hatte.
Plötzlich gingen alle Lichter auf einen Schlag aus. Zwei, drei Sekunden später brannten sie wieder. Ein Kurzschluß, dachte Camilla und wollte ins Zimmer zurückgehen. Da wurde es drüben wieder dunkel, unmittelbar darauf hell. Das Ganze wiederholte sich mehrfach. Endlich blieb alles dunkel. Fast im selben Moment, als die Lampen erloschen waren, drang ein markerschütternder Schrei durch die Nacht. Camilla hielt sich am Fensterkreuz fest. Angstschauer jagten ihr über den Rücken. Sie fror und schwitzte gleichzeitig. Auch Nappy schien etwas bemerkt zu haben. Camilla wußte nicht, wo der Hund war, jedenfalls nicht bei ihr im Zimmer. Aber er bellte irgendwo draußen so aufgeregt und klagend wie noch nie. Sie versuchte, im Dunkel des Gartens und des jetzt nur noch als Silhouette erkennbaren Nachbarhauses irgend etwas zu erkennen. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie etwas unternehmen, den Bürgermeister anrufen mußte. Aber sie war wie gelähmt. Dann sah sie eine schattenhafte Gestalt durch ihren Garten huschen. Einen Mann mit einem dunklen, weiten Umhang. Das Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Der Fremde hielt kurz inne, als er in den Lichtschein von Camillas Fenster kam. Dann drehte er sich abrupt um und war wieder unter den Bäumen verschwunden. Camilla stand noch immer regungslos da und war unfähig, auch nur einen einzigen Schritt zu machen. Nappys Bellen war in ein heiseres Winseln übergegangen. Es klang schaurig. Wieviel Zeit so verging, hätte Camilla später nie mehr sagen können. Sie schreckte wie beim Posaunenstoß des Jüngsten Gerichts zusammen, als es an der Haustür klingelte. »Ich bin nicht da«, flüsterte sie mit bleichen Lippen.
Das Telefon stand im oberen Stockwerk. Der Weg bis dorthin erschien ihr endlos weit. Es klingelte noch einmal. Nappy bellte. »Dummer Hund, du verrätst uns ja«, hauchte Camilla voller Angst. Camille tastete sich zur Tür und lief dann wie gehetzt die Treppe hinauf. Mit einem raschen Blick bemerkte sie noch, daß Nappy schwanzwedelnd hinter der verschlossenen Haustür stand. Auch oben in dem Zimmer zur Straße hin brannte Licht. Camilla konnte sich nicht erinnern, daß sie es eingeschaltet hatte. Aber es war beruhigend. Sie griff zum Telefon und wußte nicht, wen sie eigentlich anrufen wollte. Das Telefonbuch war auch nicht zur Hand. Camilla sah sich suchend um und warf einen scheuen Blick aus dem Fenster. Dabei war es doch unwahrscheinlich, daß der Kapuzenmann dort unten seelenruhig spazierenging. Auf der Straße stand ein Auto. Wieso und warum um diese Zeit ein Auto? schoß es ihr durch den Kopf. Dann erkannte sie den Mann, der von ihrem eigenen Haus her auf die Straße zuging und offenbar zu dem geparkten Wagen wollte. Camilla riß das Fenster auf. »Mister Lynch!« schrie sie. Der junge Mann hob den Kopf. Camilla konnte sehen, daß er lächelte. »Guten Abend, Miss Weiller. Ich hatte geklingelt, aber Sie haben es offenbar nicht gehört.« »Doch, doch, ich hatte Angst… Ich war…« Sie brach verwirrt ab. »Bitte, warten Sie einen Augenblick.«
Sie schlug das Fenster zu und lief die Treppe hinunter. Nappy stand noch immer vor der verschlossenen Tür. Als Camilla endlich öffnete, begrüßte er seinen »Freund« Randolph Lynch mit einem Freudentaumel. »Ist hier etwas passiert?« fragte der junge Mann, als er Camillas verstörtes Gesicht bemerkte. »Wie gut, daß Sie da sind«, sagte sie nur. Sie nahm nicht einmal die Blumen, die ihr Besucher mitgebracht hatte. Erst als sie in dem neu eingerichteten Wohnzimmer saßen, kam die junge Frau wieder einigermaßen zu sich. Sie erzählte stockend, was sie beobachtet hatte. »Deswegen haben Sie mir also nicht aufgemacht?« Er legte seine Hand beruhigend auf ihren Arm. »Es tut mir leid, daß ich Sie noch zusätzlich erschreckt habe. Aber ich nehme an, daß Einbrecher nicht an der Haustür klingeln.« »Ja. Da haben Sie natürlich recht.« Es war so tröstlich, während er sie vorsichtig zu streicheln bekann. »Haben Sie sein Gesicht gesehen?« »Nein. Ich überlege gerade, warum ich vermute, daß es ein Mann gewesen sein muß. Ich konnte ja so gut wie nichts erkennen.« Dann schauderte sie wieder zusammen. »Der Bürgermeister hat neulich von einem Gespenst gesprochen.« Randolph Lynch schüttelte den Kopf. »Nein, er hat natürlich nichts von einem Gespenst gesagt«, berichtigte sich Camilla. »Meine Freundin hatte irgend so eine dumme Bemerkung gemacht über Spukgeschichten. Da erwähnte Mister Miller, daß jemand Licht in dem verlassenen Haus gesehen haben will.« »Ja, das scheint zu stimmen, hat aber nichts mit Gespenstern zu tun. Mister Miller hätte Ihnen auch sagen sollen, daß man ein paar Tage später einen Landstreicher aufgegriffen hat, der
in einer Feldscheune kampierte und offenbar auch ein paar Nächte in dem verlassenen Haus verbracht hat.« »Was war aber wohl heute bei Mrs. Beaton los?« »Rufen Sie doch einfach mal an und erkundigen Sie sich! Ich würde es gern für Sie übernehmen. Aber ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie nichts mit mir zu tun haben will.« »Wird sie mich nicht aufdringlich finden?« »Ich nehme eher an, daß sie Ihnen dankbar ist, daß Sie sich um sie kümmern.« Camilla hatte sich inzwischen soweit beruhigt, daß sie ihrem Gast ein Glas Wein anbieten konnte. Dann ging sie hinauf in ihr Zimmer, wo der Telefonapparat stand. Randolph Lynch bot zwar seine Begleitung an, aber sie lehnte es lächelnd ab. »Es genügt, daß Sie hier im Haus sind, danke.« Trotzdem ließ sie alle Türen offen. Mrs. Beaton meldete sich erst, als Camilla fast wieder aufgelegt hätte. Aus dem Tonfall der Nachbarin konnte man hören, wie aufgeregt sie war. Camilla brauchte kaum etwas zu sagen, nur eine Andeutung zu machen, dann sprudelten Mrs. Beatons Worte wie ein Wasserfall. Danach hatte sie merkwürdige Geräusche aus dem Keller ihres Hauses gehört und überall Licht gemacht. Wieso die Lampen ausgegangen waren, wußte sie nicht. Sie hatte den Sicherungsautomaten eingedrückt und das mehrfach wiederholen müssen. Dann war der schwarzgekleidete, vermummte Mann die Kellertreppe heraufgekommen, hatte sie mit einer Pistole bedroht und war in der Nacht verschwunden. »Er hat Ihnen aber nichts getan?« vergewisserte sich Camilla. »Nein. Er wollte das Geld, die Millionen. Daß er damals meinen Jungen erschlagen hat, war sicher nicht eingeplant.« »Er…?«
»Heute bin ich dem Mörder meines Sohnes begegnet«, sagte Mrs. Beaton so ruhig, als spräche sie vom Wetter. Sie schien jetzt völlig gefaßt zu sein. »Ich weiß es, ich habe es gefühlt. Und ich weiß, daß er wiederkommen wird.« »Warum bringen Sie dann das Geld nicht lieber auf die Bank?« fragte Camilla beklommen. »Oder warum verreisen Sie nicht einfach für eine Weile?« »Ich muß hier warten, bis er kommt.« »Aber deswegen können Sie doch wenigstens das Geld wegbringen.« »Nein, das muß auch hierbleiben. Damit locke ich ihn ja in die Falle. Er wird es holen, er hat schon lange gewartet und gehofft, daß ich wegfahre. Diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Und wenn ich bis an mein Lebensende hierbleiben muß, warte ich.« »Soll ich einmal zu Ihnen kommen?« bot Camilla nur halbherzig an. Sie hatte nicht die geringste Lust, mit Mrs. Beaton den Abend zu verbringen. »Sie sollten jetzt nicht allein durch den Garten gehen. Vielleicht glaubt er, daß ich Ihnen das Geld gegeben habe.« »Warum denn mir?« Eine Weile war es still am Apparat. Camilla dachte schon, ihre Gesprächspartnerin hätte aufgelegt. »Ich habe allen im Dorf erzählt, daß wir befreundet sind«, kam schließlich eine leise Antwort. »Das ist Ihnen sicher nicht recht, aber ich wußte mir keinen anderen Rat mehr.« »Also dann gute Nacht«, Camilla hatte nicht die Kraft, dieses Gespräch weiterzuführen, ohne sich ihre Empörung anmerken zu lassen. »Diese verrückte Frau bringt Sie auch noch in Gefahr!« grollte später Randolph Lynch, als sie ihm alles berichtete.
»Am Ende erzählt sie noch überall herum, Sie hätten diese nicht existierenden Millionen in Aufbewahrung.« »Jeder weiß doch, daß sie verrückt ist.« »Was sie eigentlich erreichen will, weiß ich auch nicht«, überlegte der junge Mann. »Aber sie hat ein ganz bestimmtes Ziel. Vielleicht hatte Tim doch etwas Geld. Wenn ich es mir richtig überlege, könnte das sogar sehr gut möglich sein. Wir haben einige Zeit unsere Tipscheine gemeinsam abgegeben. Hat er dieselben Zahlen beibehalten wie ich, müßte er damals auch gewonnen haben.« »War das kurz vor seinem Tod?« »Ja.« »Wäre ich nur nie hierhergekommen!« stöhnte Camilla. »Welcher Teufel hat mich denn geritten, daß ich gerade dieses Haus gekauft habe?« »Bitte, bleiben Sie doch«, sagte Randolph Lynch sehr leise und legte den Arm schützend um ihre Schultern. »Ich freue mich so, daß Sie da sind und werde Sie beschützen.« Sie sah ihn an und las in seinen Augen Besorgnis und Zärtlichkeit. »Wie wollen Sie mir denn helfen?« flüsterte sie. Statt einer Antwort beugte er sich zu ihr. Seine Lippen suchten ihren Mund. Camilla schlang die Arme um seinen Hals und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder geborgen. Alles andere war vergessen.
*
Es war, als hätte diese aufkeimende Liebe alle Schatten vertrieben. Camilla war oft mit Randolph zusammen und genoß das Glück, nicht mehr allein zu sein. Auch Mrs. Beaton war wie verwandelt. Sie war freundlich, benahm sich wie eine völlig normale Frau und lud das junge Mädchen gelegentlich in ihr Haus ein. Sie weigerte sich nur standhaft, jemals länger als höchstens eine Stunde bei Camilla zu bleiben. »Er könnte kommen, wenn ich nicht da bin«, erklärte sie geheimnisvoll. »Ich verlasse mein Haus nie für längere Zeit.« An einem schönen, sonnigen Spätsommertag pflanzte Camilla ein paar Stauden in ihrem Vorgarten. Nappy sprang um sie herum und suchte dann nach Pussy, mit der er immer noch gern spielte. Die beiden anderen Katzen fauchte er dagegen wütend an. Ein silbergrauer Wagen kam die Straße herauf, drehte oben am Waldrand und fuhr langsam wieder zurück. Da hat sich einer verfahren, dachte Camilla, ohne besonders auf das Auto zu achten. »Hallo!« rief ihr da eine vertraute und nie vergessene Stimme. »Bist du zur fleißigen Gärtnerin geworden?« »Gordon!« Sie wäre nicht verwirrter gewesen, wenn sie ein leibhaftiges Gespenst gesehen hätte. »Was willst du denn hier?« »Dich besuchen.« Er hatte schon die niedrige Gartentür geöffnet und kam auf sie zu. In einer Hand hatte er einen verpackten Blumenstrauß, in der anderen ein kleines Köfferchen. »Willst du etwa auch noch über Nacht bleiben?« fragte sie tonlos mit einem Blick auf den Koffer. »Uns verbindet nichts mehr, Gordon.«
»Vielleicht doch. Bitte, laß mich wenigstens erst mal ins Haus. Wir können das nicht alles auf der Straße besprechen.« »Darf ich dich daran erinnern, daß wir nicht mehr verlobt sind?« fragte sie eisig. Dabei hämmerte ihr Herz so, daß es weh tat. Vor Freude, vor Enttäuschung? Sie war glücklich, daß Gordon gekommen war, daß sie ihn wiedersah. Aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. Gordon hatte sie belogen und betrogen. Er hatte diese Sheyla geküßt und die Manuskripte ihres Vaters gestohlen. »Es ist mir klar, daß du mich für einen Schuft hältst«, antwortete Gordon Thomson ernst. »Trotzdem muß ich dir etwas zeigen. Danach wirst du deine Meinung hoffentlich ändern. Ich wünsche mir nichts mehr als dein Vertrauen und deine Liebe.« »Meine Liebe!« Es sollte höhnisch klingen, war aber eher ein Verzweiflungsausbruch. »Nun komm schon«, bat er und wollte den Arm um sie legen. Camilla brauchte sich gar nicht zu wahren. Nappy fuhr wie ein Blitz auf den jungen Mann zu und bellte ihn wütend an. »Napoleon weiß, wen ich hasse«, erklärte Camilla. Gordon hatte sich keine Spur verändert. Er sah noch immer so phantastisch aus wie in ihren Wunschträumen. Groß, breite Schultern, ein elastischer Gang und ein offenes Gesicht. Konnte hinter diesen grauen Augen die Falschheit lauern? Bei Camillas bösen Worten preßte er die Lippen fest zusammen, zwei Falten bildeten sich an den Mundwinkeln. Sie öffnete schweigend die Tür und führte den ehemaligen Verlobten ins Haus. In dem behaglich eingerichteten Wohnzimmer sah er sich anerkennend um. »Fast wie bei euch daheim in Plymouth. Es kommt mir alles so vertraut vor, auch wenn dieser Raum hier größer und die
Aussicht schöner ist. Du hast Geschick, eine Wohnung gemütlich zu machen.« »Darüber wollen wir uns jetzt nicht unterhalten. Was willst du von mir?« »Dich vor allem wiedersehen, Millie. Geht es dir gut? Ich habe das Gefühl, du bist schmal geworden. Hast du Sorgen?« »Geht dich das noch etwas an?« fragte sie patzig. Er zögerte. »Warum bist du gekommen?« fragte Camilla noch einmal. Sie dachte gar nicht daran, Gordon etwas anzubieten. Seine Blumen hatte sie achtlos auf einen Seitentisch gelegt. »Ich wollte dir etwas bringen. Hoffentlich freust du dich wenigstens darüber, wenn dir mein Besuch schon nicht gefällt.« Er öffnete den kleinen Koffer und nahm ein Buch heraus. Dann legte er einen Ordner mit vielen Papieren dazu. Camillas Atem stockte. Von dem farbigen Schutzumschlag lächelte ihr das Bild ihres Vaters entgegen. Es war eine Aufnahme, die erst wenige Wochen vor seinem Tode von einem berühmten Porträtfotografen gemacht worden war. Ein Abzug davon hing oben in ihrem Zimmer. »Reise in die Vergangenheit«, las sie zögernd, jedes Wort einzeln betonend. Dann blätterte sie hastig die Seiten durch, hielt einmal an, betrachtete ein Bild oder eine Zeichnung und sah dann auf das eingeheftete Titelblatt. »Professor Edward Weiller.« Die folgenden kleingedruckten Zeilen las sie nicht mehr laut vor: Mitarbeit: Gordon Thomson, Sheyla Winter. »Bist du zufrieden?« fragte Gordon, als Camilla nichts sagte, sondern wie aus Versehen mit beiden Händen über das Buch fuhr, als wollte sie damit eine Erinnerung heraufbeschwören. »Du hast es doch herausgebracht?« fragte sie. »Unter Vaters Namen?«
»Natürlich, das habe ich ihm damals doch versprochen. Er hat es geahnt, daß es nicht mehr zu seinen Lebzeiten erscheinen würde. Sheyla und ich haben alles noch einmal überarbeitet. Dies hier ist eins der ersten Exemplare. In den nächsten Tagen werden wohl die Besprechungen erscheinen. Im Institut werden sie gesammelt. Ich schicke dir gern Fotokopien, wenn du willst.« » Sheyla und du…?« »Sie war eine der besten Mitarbeiterinnen deines Vaters, das weißt du doch selbst. Es ist völlig unsinnig, daß du mich damals verdächtigt hast, ich hätte ein Verhältnis mit ihr. Wir haben zusammengearbeitet und tun das auch jetzt noch.« »Sheyla hat also ihre Meinung geändert?« »Spielst du damit auf das Auftauchen der Gesichtsurne in den Anden an?« »Sie wollte beweisen, daß Vater sich geirrt hat, daß er auf einen Betrug hereingefallen ist«, sagte Camilla aufgebracht. Ihr Zorn galt nicht so sehr dieser Behauptung, die zwar von wissenschaftlicher Bedeutung war, aber Camilla unter normalen Umständen nie aufgeregt hätte. Sheyla… die bildschöne Sheyla, die der Vater wie eine Tochter geliebt hatte und die ihm dann Gordon weggenommen hatte. »Das Kapitel über die Verbindung der Anden-Bewohner und der Inkas in der Küstenregion haben wir nicht veröffentlicht«, sagte Gordon. Seine Stimme klang gepreßt. »Sheyla mußte ihre Meinung nicht revidieren. Man hatte deinen Vater bewußt betrogen. Ich habe es dir damals schon gesagt, daß sein Ruf…« »Schweig! Halte endlich den Mund!« schrie ihn Camilla an. Sie hatte Tränen in den Augen. »Du kommst hierher, bringst mir ein Buch, das angeblich mein Vater geschrieben hat und in Wirklichkeit nur Sheyla zum Ruhm verhelfen soll. Warum habt ihr es dann nicht gleich unter ihrem Namen
herausgegeben? Macht ihr euch über meinen Vater lustig, zieht ihr seinen Namen in den Dreck? Der alte Professor Weiller war ja schon so vertrottelt, daß er nicht mehr zwei und zwei zusammenzählen konnte.« »Nun halte aber mal die Luft an!« brauste Gordon auf. »Wenn du dir einbildest, Sheyla und ich hätten nichts anderes zu tun, als nachträglich einem Mann zu schaden, den wir beide sehr verehrt haben, bist du schief gewickelt. Das Auffinden der Gesichtsurne in Tuscala wird überhaupt nicht erwähnt.« »Es war aber das wichtigste Kapitel. Vater konnte damit endlich beweisen, daß die Stämme untereinander Verbindung hatten. Die Gesichtsurne wurde in dieser Form nur von den Inkas an der Küste hergestellt. Die Ketschna hatten eine vollkommen andere Krugform, wie du sehr wohl wissen müßtest.« »Das weiß ich ganz genau, wahrscheinlich besser als du. Nur war die Urne, die dein Vater in Tuscala ausgegraben hat, eine Fälschung. Nein, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt: Sie war an sich kein Falsifikat. Es handelte sich um die Bruchstücke einer echten, alten, aber nicht besonders wertvollen Urne von der Küste, wie man sie dort mit einigem Geschick immer noch auftreiben kann. Burger hat sie einem Schwarzhändler abgekauft und in Tuscala geschickt in eine der Ausgrabungsstätten geschmuggelt. Du warst damals ja selbst in Tuscala. Erinnerst du dich nicht, daß Burger etwas entdeckt haben wollte und dann deinem Vater großzügig den Vortritt gelassen hat?« »Verdächtigst du jetzt auch noch Burger?« »Ich kann meine Behauptungen beweisen. Nach dem Tod deines Vaters hat Burger damit hemmgeprahlt, wie er den alten Mann an der Nase herumgeführt hatte. Sheyla war alles von Anfang an verdächtig vorgekommen. Ich habe mich von ihr
überzeugen lassen. Aber wir hatten beide nicht mehr den Mut, deinem Vater die Wahrheit zu sagen. Er war damals ja schon recht krank. Als ich dir dann nach seinem Tode alles erzählt habe, bist du so ausfallend geworden, daß… nun ja, daß wir uns trennen mußten.« »Du hast mir doch das Manuskript abgeluchst und nicht mehr zurückgeben wollen.« »Weil ich um jeden Preis verhindern mußte, daß der Name deines Vaters in eine üble Sache hineingezogen wurde. Was Burger eigentlich wollte, weiß ich bis heute noch nicht genau. Auf jeden Fall hatte er die Absicht, deinem Vater zu schaden.« »Sie hatten einen bösen Streit«, sagte Camilla tonlos. »Wegen eines Artikels, den Burger für eine ausländische Zeitung geschrieben hatte.« »Offenbar sollte es also eine Art Rache sein. – Aber diese Rache hat nicht mehr deinen Vater getroffen, Millie, sondern uns beide.« Sie sah ihn lange an, forschte in seinen Augen und spürte auf einmal wieder all die verdrängte Zuneigung, die ganz große Liebe – obwohl sie sich in den letzten Wochen und Monaten immer wieder eingeredet hatte, er sei ein Schuft und Betrüger. Es war schwer, wieder auf festen Boden zurückzufinden. »Ich wollte ein Buch über das Auffinden der Gesichtsurne in Tuscala schreiben«, gab sie leise zu. »Zum Andenken an Vater. Keine wissenschaftliche Arbeit, sondern mehr ein Erinnerungsbuch. Trotzdem wollte ich Vaters Theorie von den Handelsbeziehungen der verschiedenen Stämme ausführlich darlegen.« »Laß das lieber. Du würdest damit nur Schaden anrichten.« Er war aufgestanden und kam auf sie zu. »Dieses Buch hier ist die beste Erinnerung an deinen Vater, Millie. Da spricht er selbst. Sheyla und ich…«
»Wissen alles besser!« unterbrach sie ihn zornig. »Fast hätte ich dir eben geglaubt, daß es dir wirklich nur um Vaters Andenken ging. Aber vermutlich habt ihr alles verdreht, die Sache mit Burger erfunden. Ich weiß doch, daß du Burger nie gemocht hast. Ölig und glatt, hast du ihn einmal genannt. Er ist inzwischen Professor geworden, nehme ich an.« »Nein, er hat Plymouth endgültig verlassen.« »Dann habt ihr es ja noch einfacher, ihm eine Schuld in die Schuhe zu schieben. Du bist schäbig und gemein, Gordon! Du steckst mit Sheyla unter einer Decke. Die will ja nur ihren Ehrgeiz befriedigen und aller Welt beweisen, daß auch eine schöne, elegante Frau eine gute Wissenschaftlerin sein kann.« Gordon hatte die Finger ineinander verschlungen und preßte die Hände auf die Tischkante. Camilla kannte diese Geste. Es war ein Zeichen, daß er maßlos aufgeregt war. Auf einmal schämte sie sich. Er war hergekommen, um ihr das Buch zu bringen. Vaters Arbeit war nun doch noch veröffentlicht worden, und auf dem Umschlag war sein ausdrucksvolles Gesicht zu sehen. »Entschuldige«, flüsterte sie leise. Dann lauter: »Möchtest du eine Tasse Kaffee trinken?« »Ist es dir denn überhaupt recht, daß ich hierbleibe?« »Es ist schön, daß du gekommen bist.« Sie waren sich fremd geworden, fühlten sich beide gefangen. Dabei war es erst ein paar Monate her, daß sie geglaubt hatten, für immer und ewig zusammenzugehören. Beim Kaffee erzählten sie sich, wie es ihnen inzwischen ergangen war. Man unterhielt sich – aber im gedämpften Ton, in dem nicht alles erwähnt wurde. Gordon vermied es bei seinen Berichten über die Arbeit und das Institut, den Namen Sheyla Winter zu erwähnen. Wenn es doch einmal unbewußt geschah, sprach er nervös weiter und
versuchte den Eindruck einer besonderen Verbundenheit mit der jungen Wissenschaftlerin zu verwischen. Camilla mochte nicht zugeben, wie einsam sie hier war. Sie malte das Leben in Farlington und in ihrem eigenen Haus in den rosigsten Farben. Mrs. Beaton wurde zur kauzigen aber freundlichen Nachbarin. Die nagende Angst, das Gefühl einer unheimlichen Bedrohung kam in den Gesprächen gar nicht zum Ausdruck. Allerdings spürten beide, daß der andere etwas verschwieg. Gordon faßte es schließlich in Worte: »Wir waren zu lange getrennt, Millie. Und es ist viel geschehen inzwischen.« »Ja, wir haben uns beide verändert.« Nach dem Kaffee tranken sie noch einen Cognac. Es war fast dunkel, als sich Gordon endlich verabschiedete. Sie wollten gerade das Haus verlassen, als es klingelte. Da sie praktisch an der Haustür waren, öffnete Camilla sofort. Zwei Männer sahen sich forschend an. Das junge Mädchen wurde tödlich verlegen. Warum kam Randolph auch gerade in diesem ungünstigen Augenblick? Sie stellte die beiden einander vor. »Ich störe offensichtlich«, bemerkte Randolph, der wieder einen großen Blumenstrauß mitgebracht hatte. »Nein, ich wollte gerade gehen«, antwortete Gordon kühl. »Bitte, Millie, bemühe dich nicht weiter. Adieu.« Er ging hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloß. »Ein Bekannter aus Plymouth?« fragte Randolph. »Ja. Ein früherer enger Mitarbeiter meines Vaters. Er hat mir gerade das neueste Buch von Vater gebracht, das in diesen Tagen erschienen ist.« »Ich dachte, dein Vater lebt nicht mehr.« »Gordon hat das Buch fertiggestellt.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo noch das Kaffeegeschirr und die benutzten Gläser standen. Und so merkwürdig es war, auch Randolph kam Camilla auf einmal so fremd vor, als hätte sie ihn lange nicht gesehen. In Gedanken verglich sie ihn mit Gordon. Einige kleine Angewohnheiten irritierten sie. In ihrem Kopf ging alles durcheinander. »Mir scheint, du brauchst mal etwas Urlaub«, stellte Randolph fest, als sie eine völlig sinnlose Antwort gegeben hatte. »Urlaub?« Camilla versuchte, sich auf ihren Gast zu konzentrieren. »Ich habe hier doch die herrlichste Urlaubslandschaft.« »Aber du hast dich mit dem Umzug der Einrichtung und all dem Durcheinander der Handwerker übernommen. Außerdem geht dir die Sache mit Mrs. Beaton nahe. Hat sie sich wieder unmöglich benommen?« »In letzter Zeit ist sie sogar sehr nett zu mir.« »Dann sei besonders vorsichtig. Vielleicht führt sie was im Schilde. Mit Verrückten ist nicht zu spaßen.« »Mach mir bitte nicht wieder Angst. Ich habe das Gefühl, daß sie mir endlich vertraut.« »Am Ende hat sie dir sogar erzählt, wo sie ihre Millionen versteckt hat!« Randolph lachte. »Wo sind sie denn? Im Keller oder im Rauchfang?« »Rede doch bitte keinen Unsinn. Mrs. Beaton hat ebensoviel Angst wie ich. Ich nehme nicht einmal an, daß sie wirklich an diese sagenhaften Millionen glaubt. Dagegen ist sie fest überzeugt, daß ihr Sohn ermordet worden ist und jemand auch ihr nach dem Leben trachtet.« »Wieso ihr?«
»Du weißt doch, daß neulich diese Geschichte mit dem Kapuzenmann gewesen ist. Der war keine Erfindung von ihr, ich habe ihn ja auch gesehen. Er muß tatsächlich drüben im Haus gewesen sein. Mrs. Beaton hat am nächsten Tag festgestellt, daß zwei Innentüren in ihrem Keller aufgebrochen waren.« »Oder hat es sich nur eingebildet«, bemerkte Randolph lässig. »Ihr seid offenbar beide urlaubsreif, wenn die Beaton nicht eben doch verrückt ist. Macht doch wenigstens mal einen netten Ausflug zusammen.« »Den würde ich lieber mit dir machen.« »Im Augenblick habe ich wahnsinnig viel Arbeit. Ich bin heute auch gekommen, um mich für Sonntag zu entschuldigen. Es klappt beim besten Willen nicht.« »Ach, wie schade! Ich dachte, du hättest die Karten für die Freiluftaufführung schon besorgt?« »Ja, das habe ich auch.« Er legte zwei Eintrittskarten auf den Tisch. »Nach allem, was man so hört, soll die Tausendjahrfeier in Gailwood ein wirkliches Ereignis sein. Die beiden Aufführungen des Festspiels sind ausverkauft. Wir sollten die Karten auf keinen Fall verfallen lassen. Hast du nicht jemanden, der mit dir hinfährt?« »Wen denn?« Aber sie wollte auch nicht zugeben, daß sie recht einsam war. »Doch, ich wüßte schon jemanden, der gern mitkommen würde. Außerdem hast du recht, ich sollte mich mal um Mrs. Beaton kümmern. Hast du etwas dagegen, wenn ich sie mitnehme?« »Bitte, das ist deine Sache. Aber fahrt besser in deinem Wagen. Ihren Fahrkünsten traue ich nicht.«
*
Mrs. Beaton reagierte merkwürdig, als Camilla ihr den Besuch des Festspiels vorschlug. »Warum soll ich mitfahren?« fragte sie in einem so aggressiven Ton, wie ihn Camilla in letzter Zeit nicht mehr gehört hatte. »Ich dachte, es macht Ihnen Freude. In letzter Zeit war ich so oft bei Ihnen zu Gast, daß ich mich gern einmal revanchieren wollte.« »Sie wissen doch genau, daß ich mein Haus niemals so lange verlassen. Wenn ich fort bin, werden sie kommen.« »Wer? Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich fürchte, Sie machen sich das Leben selbst schwer. Wer soll denn ausgerechnet bei Ihnen einbrechen wollen? Sie haben mir doch selbst gesagt, daß bei Ihnen nicht viel zu stehlen ist.« »Sie suchen das Versteck.« Camilla nippte an dem Tee, den ihr Mrs. Beaton angeboten hatte. »Warum haben Sie die Eintrittskarte für mich gekauft?« verlangte Mrs. Beaton in herrischem Ton zu wissen. »Sie wollten mich aus dem Haus locken, nicht wahr? Sonst hätten Sie mich ja mindestens vorher gefragt, ob ich überhaupt Lust zu einem Theaterbesuch habe. Aber ich sage Ihnen klipp und klar: Mich kann man nicht mehr betrügen und täuschen. Sie spielen die nette, unschuldige Nachbarin und wollen mich in Wirklichkeit nur aushorchen.« »Wenn Sie das wirklich glauben, tun Sie mir leid.« Camilla war nun auch erregt. »Ich will Ihnen wenigstens sagen, wie ich zu den Karten gekommen bin. Dann mögen Sie denken, was Sie wollen. Randolph Lynch und ich wollten zusammen das Fest besuchen. Er hat die Karten besorgt, kann aber jetzt nicht
mitkommen, weil er im Geschäft zuviel Arbeit hat. Allein mag ich nicht hingehen. Das ist alles.« »Hat er vorgeschlagen, daß Sie mir die zweite Karte schenken sollen?« »Nein«, behauptete Camilla. »Er nimmt wohl an, daß meine Freundin Marion über das Wochenende kommen wird.« »Dann…« Mrs. Beaton drehte die Fransen der altmodischen Tischdecke zu einem Zopf. »Dann bitte ich sie um Entschuldigung.« »Sie kommen also doch mit? Das ist schön.« Camilla war von der Idee gar nicht mehr begeistert, aber jetzt gab es auch kein Zurück mehr für sie. »Verraten Sie es auch niemandem, daß wir zusammen wegfahren?« fragte Mrs. Beaton im Verschwörerton. »Ich glaube nicht, daß sich jemand dafür interessiert oder mich gar danach fragt.« »Der Mörder.« Camilla wollte aufstehen und sich verabschieden. Mrs. Beaton hielt sie zurück. »Warten Sie bitte noch einen Augenblick. Ich will Ihnen alles erzählen. Dann urteilen sie selbst. Ich bin keineswegs verrückt, wie alle hier denken. Ich weiß, daß sie mich für eine Irre halten, auch wenn das niemand offen ausspricht.« Camilla mochte nichts dazu sagen. Sie wollte weder lügen noch ihrer Nachbarin widersprechen. Mrs. Beaton schenkte selbstgebrauten Brombeerwein in große Gläser. »Mein Tim war ein braver Junge, sehr schüchtern und sehr weich. Leider. Meine Mutter hat ihn immer zu sehr verwöhnt. Alles was er daheim nicht erreichen konnte, hat er bei ihr durchgesetzt. Aber mein Mann war viele Jahre leidend, ich mußte mich um ihn kümmern und war froh, wenn Tim eine
Weile bei Mama sein konnte. Dann zog er nach Plymouth in eine eigene Wohnung, die ihm meine Mutter besorgt hatte. Irgendwann muß er falsche Freunde kennengelernt haben. Sie haben ihn überredet, an einem Bankraub teilzunehmen. Eine Art Mutprobe.« Camilla sah auf ihre im Schoß verschränkten Hände. »Sie glauben mir nicht«, stellte Mrs. Beaton ganz sachlich fest und wirkte durchaus nicht erregt. »Ich habe es damals auch nicht geglaubt. Tim rief mich an und hat es mir erzählt. So naiv war er, daß er über so etwas am Telefon sprach. Nur die Namen seiner Freunde wollte er nicht nennen. Am übernächsten Tag habe ich von dem Überfall auf die CentralBank gelesen. Ich fuhr sofort nach Plymouth und habe Tim nicht in seiner Wohnung gefunden. Als ich ins Krankenhaus zu Mama kam, lag sie bereits im Sterben.« Camilla lauschte atemlos, obwohl sie die Zusammenhänge noch nicht ganz begriff. »Da habe ich den Unsinn mit dem Banküberfall vergessen, den ich trotz allem nicht wirklich mit meinem Jungen in Verbindung gebracht habe«, sprach Mrs. Beaton weiter. »Ich kam hierher – und fand Timothy. Tot, erschlagen. Man hat ihn ermordet, das weiß ich ganz genau.« »Aber…« Camilla wußte nicht, was sie sagen sollte. Sprach die Frau ihr gegenüber etwa doch die Wahrheit? »Ich habe die Nerven verloren und alle Spuren beseitigt, die auf die Anwesenheit von Fremden in Mutters Haus hingewiesen hätten. Auch die Uhr habe ich zuerst versteckt.« Sie sah zu der goldenen Taschenuhr, die neben dem gerahmten Foto eines blassen jungen Mannes an der Wand hing. »Hier muß ein Kampf stattgefunden haben«, fuhr sie sehr viel leiser fort. »Jemand war im Keller und hatte dort sogar in den Kohlen herumgewühlt und die Marmeladengläser auf den
Fußboden geworfen. Das Geld aus dem Raubüberfall ist nie aufgetaucht, jedenfalls die Scheine nicht, die fortlaufend numeriert waren. Ich nehme an, man hat sie hier im Haus versteckt oder verstecken wollen.« »Warum… warum sollte man dann aber Ihren Sohn erschlagen haben?« stammelte Camilla. »Er war naiv und gutgläubig. Andererseits war er ein anständiger Mensch. Er wird begriffen haben, daß er etwas falsch gemacht hatte. Vielleicht hat er seinen Kumpanen gedroht, alles aufzudecken. Möglicherweise wollte er auch das Geld nicht herausgeben, das er hier versteckt hatte.« »Glauben Sie das wirklich?« Camilla überlegte. Es klang einigermaßen logisch, was Mrs. Beaton sagte. »Ich weiß, daß das Geld hier im Hause war und noch ist«, sagte die ältere Frau. »Timothy hat es mir indirekt angedeutet, obwohl ich es damals nicht verstanden habe. Die Gelegenheit war ja auch günstig, weil meine Mutter im Krankenhaus lag. Es konnte niemandem auffallen, daß Tim hierherkam.« »Deswegen muß das Geld aber nicht mehr hier sein.« »Doch. Ich habe kurz nach Tims Tod drei anonyme Anrufe bekommen. Erst bot man mir fünfzigtausend Mark, dann sogar eine halbe Million, wenn ich die Beute herausgäbe. Der dritte Anruf enthielt nur noch abscheuliche Drohungen.« »Haben Sie das der Polizei gesagt?« »Hätten sie es an meiner Stelle getan?« fragte Mrs. Beaton zurück. »Hätten Sie zugegeben, daß ihr einziges Kind zum Verbrecher geworden ist? In meiner Aufregung habe ich damals Randolph Lynch einiges erzählt. Erst hat er gelacht, dann hat er mich wüst beschimpft und seinen Freund Timothy verteidigt. Er hatte ja auch recht. Niemand würde mir glauben, daß Tim so etwas getan hat. Heute betrachte ich es als Glück, daß Randolph die Geschichte nicht weitererzählt hat. Ich
schäme mich jedesmal, wenn ich ihn sehe und gehe ihm aus dem Wege. Dabei würde ich gern mit ihm über Tim sprechen.« »Soll ich Randolph bitten, Sie einmal zu besuchen?« »Auf gar keinen Fall! Ich will nicht, daß alles wieder aufgewühlt wird.« »Warum haben Sie es mir erzählt?« stellte Camilla eine Frage, die sie schon eine Weile beschäftigte. »Es könnte möglich sein, daß Sie indirekt in die Sache verwickelt sind. Das Tannenhaus stand damals ja auch leer, das andere Haus hier ist seit Jahren unbewohnt. Muß Tim das Geld unbedingt in dem Haus seiner Großmutter versteckt haben?« Camilla beherrschte sich nur mühsam. »Warum wenden Sie sich nicht heute noch an die Polizei? Wollen Sie sich denn auch ermorden lassen? Was nützt Ihnen Geld, über das Sie gar nicht verfügen können?« »Darum geht es doch nicht! Ich will keinen Pfennig davon und würde es natürlich der Bank zurückgeben. Ich warte auf Tims Mörder. Eines Tages wird er kommen, das weiß ich genau.« »Warum sollte er herkommen?« »Um sein Geld zu holen, natürlich«, antwortete Mrs. Beaton erstaunt. »Dann werde ich ihn töten, wie er meinen Tim getötet hat.« »Sie können auch in Gefahr kommen.« »Sicher.« Mrs. Beaton nickte. »Wenn er mich nicht umbringt, werde ich ohnehin auch sterben. Das habe ich alles längst vorbereitet. Ich will nicht ins Zuchthaus, ich will nur meine Rache.« Camilla suchte nach einem Grund, um sich zu verabschieden. Sie hatte Angst, ganz erbärmliche Angst.
»Die Polizei könnte den Mörder eher überführen als Sie«, sagte sie bedrückt. »Nein. Sie haben ja auch die Bankräuber nicht entdeckt. Seit ungefähr einem halben Jahr biete ich mein Haus in verschiedenen Zeitungen zum Kauf an. Eines Tages kommt jemand, der mir auch einen irrsinnigen Preis dafür zahlt. Dann weiß ich, was er will.« »Haben Sie… mein Gott… dachten Sie etwa, auch ich…?« »Ja. Aber Sie sind nicht auf meine Forderung eingegangen. Außer Ihnen war nur noch ein älteres Ehepaar hier, das meine Forderung unverschämt gefunden hat. Vielleicht hat der Mörder die Anzeige noch nicht gelesen.« Hoffentlich kommt er nie, dachte Camilla. Zufällig bellte draußen Nappy. Das war endlich ein plausibler Grund, um sich zu verabschieden. »Mein Hund wartet auf sein Futter«, sagte sie mit verkrampftem Lächeln. »Ich muß gehen. Sie kommen doch am Sonntag mit?«
*
Camilla mußte mit jemandem reden, der sie verstand und ihre Furcht begriff. Am nächsten Morgen fuhr sie zu der Werkstatt von Randolph Lynch. Den Monteuren würde sie irgendein Klappergeräusch nennen, weswegen sie hergekommen war. Doch das war nicht nötig. Randolph kam sofort aus dem Büro, als er ihren Wagen sah. »Besuchst du mich auch einmal?« fragte er herzlich. »Wenn ich dich nicht störe.«
»Ich freue mich. Leider kann ich nicht weg, aber wir können in meinem Büro einen Kaffee trinken. Ich muß nur erreichbar sein.« Das Büro war größer und eleganter als Camilla erwartet hatte. Es erinnerte eher an das Allerheiligste eines Generaldirektors als an den Raum eines Werkstattbesitzers. Ein Mahagonischreibtisch stand so vor den beiden Fenstern, daß man vom Schreibtischsessel aus den ganzen Werkstatthof überblicken konnte. Der Boden war mit einem beigen Velourteppich ausgelegt. Unter der Sitzgruppe aus hellem Nappaleder lag ein roter Perserteppich. An der Wand hingen drei große, goldgerahmte Porträts. Ein Mann mit einem derben Gesicht und einem altmodischen weißen Kragen. Ein anderer Mann mit schlohweißem Haar, der seine Hand nach Art von Napoleon in die Weste geschoben hatte. Auf dem beachtlichen Bauch glänzte eine goldene, verschnörkelte Uhr. Den Mann auf dem dritten Bild erkannte Camilla: Das war der gegenwärtige Tankstellenbesitzer, Randolphs Vater. Das Bild war sehr geschmeichelt. »Sind das deine Vorfahren?« fragte Camilla, weil ihr die Bilder an diesem Platz und in den pompösen Rahmen völlig unangebracht erschienen. Sie hätten besser in eine herrschaftliche Ahnengalerie gepaßt. »Ja, mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater. Außer Vaters Bild mußte ich die Porträts nach Fotos malen lassen. Aber sie sind gut gelungen. Ich wollte an die Familientradition anknüpfen. Früher waren die Lynchs einmal eine der angesehensten Familien der Stadt. Leider hat dann mein Vater die Fabrik aufgegeben und sich mit der Tankstelle begnügt. Ich schaffe es, endlich wieder nach oben zu kommen, hoffe ich.«
»Wenn man dein Büro sieht, mußt du wohl schon ganz oben sein.« Randolph war sichtlich stolz. Er bot Camilla einen Sessel an, ging dann zu dem Telefonapparat mit den vielen farbigen Knöpfen auf seinem Schreibtisch und bestellte Kaffee. »Hat dein Besuch einen besonderen Grund?« fragte er. »Oder kommst du nur einfach mal so vorbei?« »Mrs. Beaton hat mir gestern alles erzählt, was sie anscheinend auch dir gesagt hat. Von dem Bankraub.« Ein sehr hübsches junges Mädchen kam mit dem Kaffee. Erst als sie wieder verschwunden war, sagte Randolph erregt: »Sie gehört in eine Irrenanstalt. Wie kann sie nur von ihrem eigenen Sohn behaupten, daß er ein Tunichtgut war? Ich versichere dir, Tim war der netteste und anständigste Bursche, den man sich denken kann. Da kannst du jeden fragen.« Sie unterhielten sich noch eine Weile, aber es kam nichts Neues dabei heraus. Immerhin gelang es Randolph einigermaßen, Camilla zu beruhigen. »Fährst du am Sonntag mit ihr zu den Festspielen?« fragte er zum Schluß. »Fast möchte ich dir jetzt davon abraten.« »Ich habe es ihr angeboten und muß jetzt dazu stehen. Es wird schon schiefgehen.« »Spätestens Mittwoch sind die Geschäfte unter Dach und Fach, die mir jetzt soviel Arbeit machen. Dann können wir was Nettes zusammen unternehmen. Was hältst du davon, wenn wir ein paar Tage verreisen?« »Wir sprechen noch darüber«, antwortete Camilla vage. Verrückterweise dachte sie an Gordon, der das sicher mißbilligen würde.
*
In Gedanken beschäftigte sich Camilla wieder häufig mit dem ehemaligen Freund. Sein Besuch hatte sie aufgewühlt. Wenn sie das Buch ihres Vaters las, wurde alles wieder lebendig, als sei es gerade gestern geschehen. An den meisten. Forschungsarbeiten war ja auch Gordon beteiligt gewesen, obwohl es in dem Buch so gut wie nie erwähnt wurde. Sheyla Winters Name kam nur ein einziges Mal ganz am Rande vor. Die beiden hatten also nicht versucht, für sich irgendwelche Vorteile zu konstruieren. Hatte sie Gordon unrecht getan? War Sheyla nur eine Mitarbeiterin, wie er behauptete? Aber Camilla erinnerte sich auch in aller Deutlichkeit an den Abend unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters. Da hatte sie Gordon im Institut abholen wollen. Er war Arm in Arm mit Sheyla aus dem großen Tor gekommen und hatte die Assistentin zum Abschied geküßt. Hatte er sie wirklich geküßt? grübelte Camilla immer wieder. Konnte sie selbst nicht auch eine zufällige Begegnung mißverstanden haben? Sie war wie gehetzt davongelaufen. Es war ja damals so vieles zusammengekommen. Der Schock über den nicht unerwarteten und doch so plötzlichen Tod des Vaters. Sheylas Behauptungen wegen der Urnen… »Unsinn!« sagte sie laut und klappte das Buch zu. »Ich werde Marion bitten, daß sie am Sonntag kommt. Dann kann ich vielleicht die Fahrt mit Mrs. Beaton absagen und sehe endlich mal wieder ein lachendes Gesicht.« Marion hatte schon eine andere Verabredung. Camilla vertrödelte das Wochenende in miserabler Laune. Am Sonntagmittag suchte sie ein Kleid aus, das passend für eine Freilichtaufführung war. Es sollte elegant sein, nicht zu
auffallend und doch warm. Abends wurde es schon oft recht kühl. Sie hatte sich gerade für ein dunkelgrünes Chanelkostüm mit einer hellen Seidenbluse entschieden, als das Telefon klingelte. »Es tut mir so leid, daß ich nicht mitkommen kann«, entschuldigte sich Mrs. Beaton. »Ich muß etwas Unrechtes gegessen haben. Mir ist ziemlich übel. Sind sie mir sehr böse, wenn ich mich lieber hinlege?« »Soll ich nach drüben kommen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Camilla war erleichtert über die Absage, konnte es aber natürlich nicht merken lassen. »Ich brauche nur Ruhe. Gerade habe ich mir einen Kamillentee gekocht und möchte nur noch ins Bett. Lassen sie sich den Spaß dadurch nicht verderben.« »Ja, dann muß ich wohl allein fahren. Vielleicht finde ich noch jemanden, der sich über die Karte freut. Mrs. Miller hat neulich bedauert, daß man sie so schwer bekommt.« Camilla dachte gar nicht daran, etwa allein zu fahren. Sie überlegte sich, noch einmal Randolph anzurufen, ließ es dann aber. Sie wollte sich nicht aufdrängen. Mit einem guten Glas Wein zog sie sich auf ihre Couch zurück. Erst las sie, dann träumte sie nur so vor sich hin. Sie wollte kein Licht machen. Mrs. Beaton hätte es sehen können und dann vielleicht wieder Fragen gestellt. Nappy war mit der Entwicklung der Dinge gar nicht zufrieden. Er lief immer wieder zur Tür und gab zu verstehen, daß er gern einen Spaziergang gemacht hätte. »Warum eigentlich nicht?« sagte Camilla. »Das würde uns beiden gut tun. Mrs. Beaton wird uns kaum begegnen. Und wenn sie uns sieht, ist’s auch kein Unglück. Dann erzähle ich ihr eben, daß ich nicht allein fahren wollte.«
Draußen war es dämmrig. Camilla kannte sich in der Umgebung inzwischen gut aus. Sie wählte einen kleinen Weg zum Wald, der nicht an Mrs. Beatons Haus vorbeiführte. Unter den hohen Bäumen war es sehr viel dunkler. Camilla beschlich ein unheimliches Gefühl. Außerdem war Nappy verschwunden. War er etwa zu seiner Freundin Pussy entwischt? Diesmal ging Camilla auf das niedrige Gebüsch zu, das um das Grundstück’ ihrer Nachbarin herum wucherte. Plötzlich blieb sie erschrocken stehen. Sie glaubte ein Flüstern, ein unterdrücktes Keuchen zu hören. War Mrs. Beaton im Garten? Im Gebüsch raschelte es. Eine dunkle Gestalt bewegte sich und blieb dann stehen. Camilla stand regungslos, gelähmt vor Angst. Sie wagte nicht zu rufen oder sich bemerkbar zu machen. Wo war nur Nappy? Sie wollte gerade pfeifen, als sie einen neuen, furchtbaren Schrecken bekam. Der Mann in dem dunklen Kapuzenmantel! Für einen Moment hatte sie ihn ganz deutlich gesehen. Das mußte doch ein Alptraum sein! Nur weg, nur weg, war Camillas einziger Gedanke. Sie hastete auf den Wald zu und vergaß jede Vorsicht. Plötzlich schnürte ihr etwas die Kehle zu. Ein Strick oder ein Schal wurde von hinten um ihren Hals gezerrt. Sie wollte sich wehren, griff mit beiden Händen nach ihrer Kehle… Dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Sie merkte noch, daß sie den Halt verlor und stürzte. Einen winzigen Augenblick sah sie tausend bunte Sternchen und Lichter. Als Nappy wenig später angehetzt kam, fand er sein Frauchen leblos auf dem schmalen Weg liegen und bellte sich heiser.
*
Marion hatte Gordon Thomson in der Stadt getroffen und ihm von Camillas Anruf erzählt. »Irgendwas stimmt nicht mit ihr«, sagte sie besorgt. »Sie wollte unbedingt, daß ich zum Wochenende rauskomme. Es klang fast, als hätte sie Angst. Aber ich kann beim besten Willen nicht. Meine Tante würde es mir tödlich übel nehmen, wenn ich nicht zu ihrer Silberhochzeit erscheine.« »Warum erzählst du mir das?« »Weil ich dachte, Camilla bedeutet dir noch was. Kannst du nicht mal zu ihr fahren?« »Ich bin nicht sicher, daß sie mich noch sehen möchte. Sie scheint draußen einen anderen Freund gefunden zu haben.« »Du hast ihr doch das Buch gebracht? Glaubt sie immer noch, daß du ihren Vater betrügen wolltest?« »Es gibt da ein paar Einzelheiten, die sie irritieren. Es würde zu weit führen, wenn ich es dir erkläre.« »Na ja, da kann man nichts machen. Ich nehme an, du willst diese Sheyla heiraten. Alles Gute. Aber eine Frau wie Camilla bekommst du nie wieder.« »Das weiß ich. Außerdem bin ich privat absolut nicht an Sheyla Winter interessiert. Sie wird übrigens demnächst mit ihrem zukünftigen Mann nach Amerika gehen.« »Weiß das Camilla?« »Warum hätte es ihr jemand erzählen sollen? Das ist doch völlig unwichtig.« »Für Millie nicht!« sagte Marion aufgebracht. »Mein Gott, Gordon! Du bist doch verbohrt wie ein störrischer Maulesel.
Camilla ist entsetzlich eifersüchtig. Die ganze Geschichte mit dem Buch ihres Vaters hätte sie nicht so aufgeregt, wenn sie sich nicht von dir betrogen gefühlt hätte. Sie liebt dich doch. Wenn irgendein anderer Mitarbeiter ihres Vaters in die Sache verwickelt gewesen wäre, hätte sie es sicher mit einem Achselzucken oder einem bösen Kommentar hingenommen. Daß du die Manuskripte an dich genommen hast, war ein Treuebruch. Und daß Sheyla Winters Name auch noch in dem Buch steht, war einfach zuviel für sie.« »Das hat sie ja damals gar nicht gewußt!« stellte er richtig. »Aber jetzt weiß sie es. Deswegen mißtraut sie dir. Sie ist enttäuscht von dir, Gordon. Was hat sie denn eigentlich gesagt, als du bei ihr in Farlington gewesen bist?« »Nichts, jedenfalls nichts Wichtiges. Aber sie hat keinen Versuch gemacht, mich zurückzuhalten. Als ich ging, erschien gerade ihr neuester Verehrer. Sie ist ihm beinahe um den Hals gefallen.« Gordon wußte selbst, daß er übertrieb. Aber er hatte inzwischen immer wieder an die kleine Szene im Hausflur gedacht. Der Mann mit den roten Rosen… Gordon war felsenfest davon überzeugt, daß der Besucher rote Rosen mitgebracht hatte, obwohl der Strauß in Papier verpackt gewesen war. Und Millie war nicht einmal mit bis auf die Straße oder an die Gartentür gekommen. Sie hatte den Fremden ins Wohnzimmer geführt. »Millie wollte dich eifersüchtig machen und dir beweisen, daß sie nicht auf dich angewiesen ist«, behauptete Marion auf gut Glück. »Ich weiß, daß sie da draußen verdammt einsam ist und es schon tausendmal bereut hat, daß sie das Tannenhaus gekauft hat.« »Wie soll ich das ändern?« fragte Gordon bockig. »Besuch sie doch einfach mal.«
»Sie könnte mich ja auch einladen.« »Soll sie sich dir an den Hals werfen? Männer!« Marion stöhnte, schüttelte den Kopf und lachte plötzlich. »Oh, Gordon, ich glaube, ihr seid beide ganz große Dummköpfe.« »Bitte, Marion!« sagte er eisig und bereute, daß er sich auf dieses Gespräch eingelassen hatte. Es war nicht seine Art, über Privatangelegenheiten zu diskutieren. Er litt unter der Trennung von Camilla, aber das ging Marion nichts… an. »Fahr doch zum Wochenende einmal hinaus«, schlug Marion vor. Dann verabschiedete sie sich. Gordon suchte nach einem Vorwand, um Camilla zu besuchen. So einfach uneingeladen einen Besuch machen? Nein, das war nicht seine Art. Schließlich konnte er ungelegen kommen. Zuviel war inzwischen geschehen. Zufällig entdeckte er in der Wochenendausgabe einer Zeitung einen Artikel: »Auch Experten kann man täuschen.« Er bezog sich nicht auf die Arbeiten von Camillas Vater, nicht einmal auf Ausgrabungen antiker Stätten. Es ging um gefälschte Bilder und in einem Fluß angeblich gefundene Skulpturen. Nur in einem Nebensatz wurde erwähnt, daß bei Forschungsarbeiten in Peru Unregelmäßigkeiten vorgekommen waren. Das konnte sich auf die Gesichtsurnen beziehen, konnte aber auch eine völlig andere Bedeutung haben. Gordon las den Artikel mehrfach. Dann legte er die Zeitung beiseite. Am Sonntag entschloß er sich endlich, nach Farlington zu fahren. Er konnte ja behaupten, daß er mehr wußte, als in dem Bericht stand, den er Camilla brachte. Fast wäre aus der geplanten Fahrt dann doch nichts geworden. Gordon hatte unterwegs eine Autopanne. Es war eigentlich viel zu spät, um noch einen Besuch zu machen. Aber da er nun schon mal in der Nähe von Farlington war, wollte er
wenigstens kurz zu Camilla hineinschauen und ihr die Zeitung geben. Zu seiner Enttäuschung lag das Haus im Dunkeln. Nirgends schien Licht zu brennen. Dafür standen mehrere Wagen vor dem Nachbarhaus, das hell erleuchtet war. Vielleicht war da eine Party im Gange und Camilla war auch dort eingeladen. Trotzdem stieg Gordon aus und klingelte. Er war noch unentschlossen, ob er die Zeitung mit einem kurzen Gruß einfach in den Briefkasten werfen sollte. Erst einmal ging er zu seinem Auto zurück. Ein derber Mann rief ihm etwas zu, als Gordon einsteigen wollte. »Bitte?« fragte er erstaunt. »Was tun Sie hier?« würde er barsch angefahren. »Ich wollte eine Bekannte besuchen. Wer sind Sie denn?« »Der Bürgermeister von Farlington. Es tut mir leid, wir müssen Ihre Personalien überprüfen.« »Warum? Ist es verboten, Freunde zu besuchen?« »Zu wem wollten Sie?« »Zu Miss Camilla Weiller. Aber sie scheint nicht zu Hause zu sein. Ich komme aus Plymouth.« »Miss Weiller ist zu einem Fest an der Küste gefahren. Wußten Sie das nicht?« Gordon war ärgerlich und kam sich wie ein ertappter Verbrecher vor. »Natürlich wußte ich es nicht«, antwortete er recht laut. »Sonst wäre ich nicht hergekommen. Allerdings steht Camillas Wagen im Hof, soviel ich sehe.« »Sie kann ja mit Freunden gefahren sein. Bitte, steigen Sie aus, und zeigen Sie uns Ihre Papiere.« »Ich denke gar nicht daran. Seit wann haben Bürgermeister das Recht, Ausweise zu kontrollieren?«
Zwei andere Männer kamen aus dem erleuchteten Haus, einer davon in Polizeiuniform. Gordon setzte sich in seinen Wagen, während sich die drei Männer unterhielten. Dann kam der uniformierte Beamte zu ihm. »Hier hat man gerade einen Raubüberfall versucht«, erklärte er ruhiger und sehr viel freundlicher als der Bürgermeister. »Sie verstehen, daß wir Sie kontrollieren müssen.« »Bitte.« Gordon nahm seine Ausweise aus der Brieftasche. »Hier draußen?« Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß es eine sehr einsame Gegend war. »Sind Sie ganz sicher, daß Miss Weiller nicht zu Hause ist? Es könnte ihr doch auch etwas passiert sein.« »Die: Nachbarin weiß, daß Miss Weiller wegfahren wollte.« »Mit wem?« fragte Gordon erregt. »Haben Sie denn noch nie gehört, daß Verbrecher Geiseln nehmen oder so etwas? Oder haben Sie die Räuber schon dingfest gemacht?« »Nein, leider nicht.« Die drei Männer warfen sich Blicke zu, die Gordon nicht deuten konnte. »Kennen Sie Miss Weiller näher?« fragte er unvermittelt. »Ja, wir sind verlobt.« Gordon wußte nicht, wie er zu dieser Behauptung kam. Die Verlobung bestand ja nicht mehr. »Ach so… Ja, dann müßten Sie eigentlich etwas mehr wissen. Können Sie uns einige Fragen beantworten?« »Gern, aber erst möchte ich wissen, ob Miss Weiller wirklich nicht zu Hause oder gar in Gefahr ist. Können Sie denn nicht einfach die Türen aufbrechen lassen? Es ist doch ein Notfall.« Während die Männer noch diskutierten, kam ein kleiner Hund mit zerzaustem, blutbefleckten Fell aus dem Garten. Er sprang winselnd an Gordon hoch und zerrte an dessen Hosenbeinen.
»Was willst du denn?« wehrte er ab. »Ich habe jetzt keine Zeit für dich.« Plötzlich durchzuckte ihn ein schrecklicher Gedanke. »Du bist doch Camillas Hund?« fragte er. »Und Blut…?« »Ja, das ist tatsächlich Miss Weillers Hund«, betätigte der Bürgermeister überrascht. »Jedenfalls sieht er genauso aus. Wo kommt der denn her? Sperrt sie ihn nicht ein, wenn sie ihn nicht mitnehmen kann?« »Camilla muß etwas passiert sein«, sagte Gordon tonlos. »Ich glaube, er hat mich erkannt und will mich um Hilfe bitten.« »Wenn man nur wüßte…« »Komm, Nappy!« Gordon wußte, was er zu tun hatte. »Du führst mich jetzt zu deinem Frauchen. Zu Frauchen, hast du das verstanden?« Der Hund zerrte wieder an Gordons Hosen, dann setzte er sich in Trab, direkt auf den Wald zu. Manchmal blieb er stehen, sah sich um und lief weiter. Der eine Beamte lief neben Gordon her. Vielleicht wollte er beim Suchen helfen, möglicherweise den Fremden nicht aus den Augen lassen. »Im Wald?« zweifelte Gordon, als Nappy zielstrebig durch dichtes Gebüsch auf den Hochwald zulief. Auf einmal war der kleine Hund verschwunden. Die beiden Männer hörten nur noch ein verzweifeltes, klagendes Winseln. »Vorsicht!« Der Beamte hatte plötzlich eine Waffe in der Hand. »Ach was! Wenn hier ein Verbrecher war, hat er uns längst gehört und ist verschwunden.« Gordon kämpfte sich durch eine dornige Hecke und merkte nicht, daß seine Jacke zerriß. Dann blieb er für Sekundenbruchteile erschüttert stehen, beugte sich über die zusammengekauerte Gestalt auf der Erde. »Camilla! Mein Gott, Camilla! Was ist denn geschehen?«
Sie schlug mühsam die Augen auf und griff stöhnend nach Gordons Händen. Der Beamte beleuchtete mit einem Handscheinwerfer die traurige Szene. »Der Mann… der Mann in der schwarzen Kapuze… Er hat…« Sie griff nach ihrem Hals und verlor wieder das Bewußtsein. Gordon kauerte sich auf die Erde und nahm ihren Kopf in seine Arme. Flüsternd sprach er auf sie ein, aber sie reagierte nicht. Das durchdringende schrille Pfeifen ließ ihn zusammenzucken. »Sind Sie verrückt geworden?« schrie er den Beamten an, der jetzt mit seiner Taschenlampe die Umgebung absuchte. »Wir brauchen Hilfe«, antwortete der mit nüchterner Ruhe. »Ja, vor allem einen Arzt.« Gordon wies auf die blauen Striemen an Camillas Hals. Die Haut war dick geschwollen. »Mein Kleines«, flüsterte er, als der Beamte außer Sichtweite war. »Meine arme kleine Millie, was haben sie nur mit dir gemacht?« Den Hund hatte er ganz vergessen. Er erinnerte sich nur wieder an das treue Tier, als Nappy die Hände seines Frauchens abzulecken begann. »Du bist ein ganz braver, guter Hund«, lobte Gordon mit erstickter Stimme. »Später bekommst du eine Belohnung.« Nappy streckte sich zufrieden aus, als hätte er alles verstanden. Gordon wiegte seine ehemalige Braut wie ein kleines Kind im Arm. Sie hatte eine klaffende Kopfwunde, das Haar war blutverschmiert. Ihr leises Stöhnen tat ihm fast körperlich weh. »Gordon…?« Sie hatte die Augen noch immer geschlossen. »Gordon, bist du bei mir?« glaubte er zu verstehen.
»Ja, ich bin bei dir und lasse dich nicht mehr allein. Gleich kommt ein Arzt. Dann legen wir dich in ein schönes weiches Bett. Frierst du sehr?« »Es ist doch so heiß…« Auf einmal war sehr viel Betrieb um sie herum. Man legte Camilla auf eine Trage, andere Männer redeten aufgeregt. Einer davon mußte wohl ein Arzt sein. Nappy kläffte wie ein Besessener und wollte nach den Menschen schnappen, die sein Frauchen anfaßten. »Sie meinen es doch gut«, redete Gordon dem kleinen Hund zu. »Komm, ich bringe dich nach Hause.« Aber so einfach war das nicht. Schließlich nahm Gordon seinen Gürtel ab, zog ihn durch Nappys Halsband und führte den widerstrebenden Hund nach Hause. Offenbar hatte man inzwischen Camillas Haustür aufgebrochen. Oder man hatte einen Schlüssel bei ihr gefunden. Als Gordon in das hellerleuchtete Wohnzimmer kam, lag Camilla auf der Couch. Der Arzt bemühte sich um sie. »Was ist mit ihr?« fragte der junge Mann besorgt und hielt Nappy noch immer krampfhaft fest. »Soweit ich im Moment sehe, hat man sie gewürgt. Entweder hat man ihr vorher einen Schlag auf den Kopf versetzt, oder sie hat sich bei beim Sturz verletzt. Es ist nicht gefährlich, nur die Wunde muß genäht werden.« »Hier?« »Das ist besser als ein Transport in diesem Zustand.« »Tun Sie, was Sie für richtig halten.« Gordon wurde sich plötzlich bewußt, daß er kein Recht zu irgendeiner Entscheidung hatte. Er verließ leise das Zimmer und setzte sich in der Küche auf einen Stuhl. Auf der Anrichte stand eine
halbvolle Kanne mit kaltem Tee. Er nahm ihn sich und schüttete auch dem Hund Wasser in einen Napf. Während er nervös mehrere Zigaretten nacheinander rauchte, versuchte er, sich ein Bild der Vorgänge zu machen. Aber alles drehte sich sinnlos im Kreise. Er wußte nur, daß Camilla angeblich Angst gehabt hatte vor diesem Wochenende. Das erzählte er später auch den Männern, die ihn verhörten. »Merkwürdig, daß der Hund erst aufgetaucht ist, als Sie gekommen sind«, meinte einer. »Wir waren mindestens schon eine halbe Stunde da.« »Nappy kennt mich. Zu mir hatte er Vertrauen, zu Ihnen offenbar nicht. Wir wissen ja nicht, was er erlebt hat. Vermutlich war er dabei, als Miss Weiller überfallen wurde.« »Was wollte man wohl von ihr?« »Keine Ahnung, das müßten Sie besser wissen«, antwortete Gordon ärgerlich. »Was ist denn überhaupt passiert? Würde mir das endlich mal jemand erklären?« »Im Haus von Mrs. Beaton waren Einbrecher. Sie sind durch die Waschküchentür eingedrungen und haben dort einiges durchwühlt. Offenbar haben sie angenommen, daß Mrs. Beaton heute nicht zu Hause sein würde.« »Was suchen Einbrecher im Keller?« Die Männer warfen sich Blicke zu, die Gordon seltsam fand. »Mrs. Beaton hatte den Einbruch erwartet«, fuhr einer ruhig fort. Alle schienen Gordon genau zu fixieren. »Sie verläßt ihr Haus so gut wie nie. Heute hat sie vorgegeben, mit Miss Weiller zu einer Veranstaltung an der Küste zu fahren, hat dann aber später abgesagt. Es ist höchst sonderbar, daß die Einbrecher offenbar von der geplanten Fahrt gewußt haben.« Gordon spürte den versteckten Vorwurf.
»Sie meinen also, ich hätte das Haus ausplündern wollen?« fragte er böse. »Dann müßte ich aber seltsam dumm sein, daß ich noch einmal zurückgekommen bin.« »Niemand hat Sie beschuldigt.« »Wahrscheinlich wollte ich auch meine Braut erschlagen.« »Eine Vorsichtsmaßnahme. Nach Aussage des Arztes ist Miss Weiller nicht viel passiert. Sie wußten ja auch genau, wo sie zu finden ist. Sie haben eine halbe Stunde gewartet, dann sind Sie als scheinbar harmloser Besucher zurückgekommen und haben sich von dem Hund in den Wald führen lassen.« »Wenn man es nicht als Beamtenbeleidigung auslegen könnte, würde ich Ihnen jetzt einiges sehr deutlich sagen. So halte ich lieber meinen Mund. Sie werden kein Wort mehr von mir hören, bis ich mit meinem Anwalt gesprochen habe.« »Fühlen Sie sich denn als Beschuldigter?« Gordon preßte die Lippen fest zusammen. Niemand hinderte ihn daran, als er später ins Wohnzimmer ging, um nach Camilla zu sehen. Sie lag mit weit offenen Augen auf der Couch. Ihr Gesicht war sehr blaß. Auf der rechten Seite hatte man ihr schönes langes Haar abgeschnitten. Ein großes Pflaster bedeckte einen Teil des Hinterkopfes. »Du bist wirklich hier?« fragte sie mit einem scheuen Lächeln, als Gordon zu ihr trat. »Ich dachte, ich hätte es nur geträumt.« »Wie geht es dir?« »Kopfschmerzen, aber sie lassen sich ertragen. Irgendwie ist mir, als hätte ich zuviel getrunken. Habe ich denn getrunken, Gordon? Ich kann mich an nichts erinnern.« »Der Arzt wird dir ein Beruhigungsmittel gegeben haben. Was du vor deinem Spaziergang gemacht hast, weißt ich nicht. Da war ich ja noch nicht hier.«
Sie überlegte offenbar angestrengt. »Ich wollte mit Mrs. Beaton wegfahren. Ihr war nicht gut. Und dann… Es war so dunkel im Wald, Gordon! Ich glaube… nein, ich weiß es nicht mehr genau. Der Mann mit der Kapuze. War das heute… oder gestern?« »Hat man dir gesagt, daß im Nachbarhaus eingebrochen worden ist? Sie soll es angeblich vorausgeahnt haben.« »Der Mörder!« Camilla hatte sich ganz plötzlich aufgerichtet, preßte stöhnend beide Hände an den Kopf und ließ sich ganz vorsichtig wieder in die Kissen zurückgleiten. »Soviel ich weiß, ist deine Nachbarin nicht ermordet worden«, beruhigte Gordon. »Hat sie ihn erschossen?« »Wen, den Einbrecher? Warum nennst du ihn einen Mörder?« »Das ist eine lange, böse Geschichte. Ich habe immer daran gezweifelt, daß sie wahr ist. Vielleicht hat Mrs. Beaton doch die Wahrheit gesagt. Sonst wäre der Mörder ja nicht zurückgekommen.« »Beruhige dich«, bat Gordon und strich ihr über die heiße Stirn. »Du hast Fieber. Schlaf dich aus. Morgen sieht alles ganz anders aus. Da scheint auch die Sonne wieder.« »Morgen bin ich wieder allein.« »Soll ich hierbleiben?« »Nimm mich mit nach Plymouth! Bitte, bitte, nimm mich mit! Hier werde ich verrückt.« »Heute können wir nicht wegfahren. Du hast eine leichte Gehirnerschütterung und sollst ruhig liegen, verlangt der Arzt.« »Er kommt wieder, er kommt ganz bestimmt wieder«, flüsterte Camilla ängstlich. »Mrs. Beaton hat immer gesagt, daß er wiederkommt und ihr Haus kaufen will.«
Gordon verstand nicht die Hälfte von dem, was sie sagte. Er kannte ja die Zusammenhänge nicht. Bei seinem ersten und bisher einzigen Besuch in Farlington hatte ihm Camilla nur von einer etwas sonderbaren Nachbarin erzählt. »Ich beschütze dich«, erklärte er mit fester Stimme. »Jetzt hole ich ein Glas Wein oder Bier für uns. Das trinken wir zusammen. Danach schläfst du besser.« »Bleibst du bei mir?« »Ja, du kannst ganz unbesorgt sein. Niemand wird dir etwas zuleide tun.« Er ging in die Küche und suchte im Kühlschrank nach einem alkoholischen Getränk. Die fremden Männer waren verschwunden. Gordon hätte gern den Arzt gefragt, ob Bier für Camilla schädlich sein könnte. Sehr sonderbar, daß sie alle gegangen waren, ohne sich zu verabschieden. Gordon ging zur Haustür und merkte, daß auf der Straße außer seinem eigenen nur noch ein einziger Wagen stand. Er verschloß die Tür, holte Bier und zwei Gläser aus der Küche. Nappy kam tierangetrabt, als er das Schließen der Kühlschranktür hörte. »Dich hätte ich ja fast vergessen.« Gordon streichelte über das blutverkrustete Fell. »Bist du auch verletzt, oder ist das Blut von Frauchen? Auf jeden Fall hast du eine Belohnung verdient.« Er öffnete den Kühlschrank wieder, fand ein großes Stück Fleisch und gab es dem kleinen Hund. Nappy wedelte vor Begeisterung mit dem Schwanz, verdrückte sich aber schnell mit dieser wunderbaren Beute. »Du hast einen prächtigen Hund«, sagte Gordon, als, er zu Camilla ins Wohnzimmer zurückkam. »Habe ich einen Hund?« Ihre Augen wirkten glasig. War das eine Folge ihres Unfalls, die Wirkung eines Medikaments? Gordon zog sich einen Sessel neben die Couch,
faßte nach Camillas Händen und wußte nicht, was er tun sollte. Er hätte gern einen Arzt gerufen. Aber er war fremd hier und wollte kein Aufsehen erregen. Außerdem hatte der Polizeiarzt – oder wer immer das gewesen sein mochte – Camilla ja schon untersucht. »Schlaf gut, Liebes«, er küßte sie behutsam auf den Mund. Sie reagierte nicht. Diese Nacht wurde die längste, schlimmste und einsamste in Gordons Leben, obwohl er doch gar nicht allein war…
*
Es war noch sehr früh am Morgen, als Nappy hinaus wollte. Jedenfalls faßte Gordon das Winseln des Hundes an der Haustür so auf. Da er sich selbst wie zerschlagen fühlte von der im Sitzen verbrachten Nacht, ging er ein paar Schritte in den Garten und atmete dankbar die frische, kühle Luft ein. Nappy schnupperte an einem weißen Gegenstand herum, der unter dem kleinen Bogen zwischen Haus und Garage lag. »Was hast du denn da gefunden?« Gordon bückte sich und nahm irritiert einen Totenkranz in die Hand, wie man ihn zu Beerdigungen auf das Grab legt. Auch ein Umschlag mit schwarzem Trauerrand deutete darauf hin. Miss Camilla Weiler, Weiller ist nur mit einem l geschrieben, registrierte Gordon automatisch. Er hatte keine Skrupel, den Umschlag zu öffnen. Halte den Mund, sonst liegt der Kranz auf deinem Sarg. Keine Anrede, keine Unterschrift, aber das war wohl bei dieser Drohung kaum zu erwarten.
Gordon merkte, daß die Buchstaben aus einer Zeitung oder einem Buch ausgeschnitten sein mußten. Eine genaue Prüfung des Umschlags ergab, daß auch die Adresse so zusammengesetzt war. Sein Hauptgedanke war in diesem Augenblick, daß Camilla weder den Brief noch den Kranz sehen durfte. Seine eigene Angst vergaß er dabei völlig. Den Brief zu verbrennen und die Asche zu verstreuen, war nicht schwierig. Aber der Kranz? Er war relativ klein, jedoch viel zu groß, um ihn einfach im Mülleimer oder zwischen anderen Abfällen verschwinden zu lassen. Gordon zog seine Jacke aus, bedeckte damit den Kranz und ging mit gewollt langsamen Schritten auf den Wald zu. Wenn Camilla ihn etwa vom Fenster aus beobachtete, sollte sie denken, er ginge Nappys wegen spazieren. Als er zurückkam, stand Camilla in der Küche und kochte Kaffee. »Schon auf?« fragte Gordon unsicher. »Ich war mit dem Hund etwas an der frischen Luft.« Sie sah immer noch blaß und irgendwie verstört aus. Trotzdem lächelte sie ihm zu. »Habe ich dir Sorgen gemacht? Du bist meinetwegen hiergeblieben, nicht wahr?« »Ja, es ging dir gar nicht gut gestern. Erinnerst du dich?« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ich glaube, ich kenne den schwarzen Mann«, sagte sie plötzlich und setzte sich auf einen Stuhl, als wäre ihr übel geworden. »Gerade eben ist es mir eingefallen.« »Wer war es denn?« fragte Gordon eifrig. »Das weiß ich eben leider nicht. Nur war da etwas… eine Bewegung, eine Geste, irgendein Eindruck… Wenn ich mich nur genau erinnern könnte.«
»Laß dir Zeit. Es wäre gut, wenn du erst einmal duschen und dich umziehen würdest. Dann trinken wir einen guten starken Kaffee und überlegen, wie es weitergehen soll. Ich fürchte ohnehin, daß heute noch einmal die Polizei auftaucht und hundert Fragen hat.« Erst beim Frühstück erzählte Camilla ihrem Freund in allen Einzelheiten, was sie über Mrs. Beaton wußte. »Ich bin jetzt ganz sicher, daß sie absichtlich nicht mit mir weggefahren ist«, überlegte sie laut. »Sie wollte dem Mörder eine Falle stellen, und das ist ihr ja auch gelungen.« »Dann müßte dieser angebliche Mörder aber hier ganz in der Nähe wohnen, oder sie kennt ihn«, gab Gordon zu bedenken. »Es kann natürlich sein, daß sie jemanden angerufen und von dem geplanten Theaterbesuch erzählt hat. Wahrscheinlicher ist es, daß man im Ort etwas von euren Plänen wußte.« »Sie spricht doch praktisch mit niemandem.« »Wem hast du von eurem geplanten Ausflug erzählt?« »Soviel ich mich erinnere, nur Marion. Und natürlich wußte Randolph Lynch, daß…« Sie unterbrach sich mitten im Satz und starrte Gordon angstvoll an. »Was ist denn?« fragte sie freundlich und wollte ihre Hand nehmen. Sie wich ihm hektisch aus. »Wieso bist du gestern gekommen, Gordon, wieso? Warum? Du bist nur ein einziges Mal hiergewesen. Und gerade gestern…« Zuerst verstand er gar nicht, was sie meinte. »Marion hat davon gesprochen, daß du dich einsam fühlst. Da dachte ich, es ist eine gute Gelegenheit, dir einmal guten Tag zu sagen.« »Abends noch? Du fährst den weiten Weg nach Farlington, um mir mal, eben guten Tag zu sagen, wie du es nennst?«
»Ich hatte eine Panne unterwegs.« Plötzlich bemerkte er das angstvolle Flackern ihrer Augen. »Millie, was um des Himmels willen, bildest du dir ein?« »Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen«, gab sie mit einem kläglichen Lächeln zu bedenken. »Bei mir dreht sich alles. Eines Tages werde ich so verrückt sein wie Mrs. Beaton.« »Haben dir die Kriminalbeamten diesen Unsinn eingeredet?« »Was meinst du denn nun schon wieder?« Die Antwort blieb Gordon erspart, weil es klingelte. Da Camilla noch recht wacklig auf den Beinen war, öffnete Gordon die Haustür. »Ich habe draußen schon Ihren Wagen gesehen«, sagte Randolph Lynch. »Sie sind also doch hiergeblieben und haben gewartet?« »Woher kennen Sie meinen Wagen?« Randolph ging einfach ins Wohnzimmer, als hätte Gordon gar nicht mit ihm gesprochen. Der Besucher begrüßte Camilla überschwenglich und brachte ihr diesmal tatsächlich rote Rosen mit. »Du Armes«, er strich leicht über ihr Haar. »Was mußt du gestern mitgemacht haben, und ich war nicht in der Nähe, um dir zu helfen. Hätte ich nur diese dumme Konferenz sausen lassen und wäre mit dir weggefahren.« »Zum Glück ist mir ja nicht viel passiert. Hast du gehört, wie es Mrs. Beaton geht?« »Gut. Sie spielt sich offenbar als Heldin auf und behauptet steif und fest, sie hätte gewußt, daß die Verbrecher kommen.« »Waren es mehrere? Ich habe nur einen gesehen.« »Du hast ihn gesehen?« Randolph war sichtlich erschrocken. »Wann und wo? Warum bist du hinausgegangen? Wolltest du Mrs. Beaton helfen? Du hättest besser die Polizei angerufen.«
»Ich war doch im Wald. Hat man dir nicht gesagt, daß ich im Wald zusammengeschlagen worden bin?« »So ganz genau habe ich es nicht begriffen. Ich war viel zu geschockt, als ich vorhin gehört habe, daß dir etwas passiert ist. Man hat davon gesprochen, daß du halb erwürgt worden bist.« »So ungefähr.« Camilla deutete auf ihren verschwollenen und blauschimmernden Hals. »Zum Glück hat Nappy Hilfe geholt. Sonst läge ich vielleicht jetzt noch dort draußen.« »Mister Thomson als Lebensretter!« Das klang etwas spöttisch. Gordon ärgerte sich, schwieg jedoch. »Es gibt schon sonderbare Zufälle«, fuhr Randolph fort und tätschelte Nappy, der ihn wie immer stürmisch begrüßt hatte. »Ich muß dich zufällig einmal allein lassen. Mrs. Beaton will ebenso zufällig zum ersten Mal nach Jahren wegfahren. Und Mister Thomson kommt zufällig an diesem Nachmittag nach Farlington.« »Sie haben sich zufällig geirrt«, ergänzte Gordon sarkastisch. »Ich bin erst abends hergekommen. Was soll die Betonung dieser vielen angeblichen Zufälle?« »Wenn Ihnen das lieber ist, nenne ich es eben sonderbar. Sie scheinen allerdings vergessen zu haben, daß wir uns gestern am frühen Nachmittag schon einmal gesehen haben.« »Wo bin ich Ihnen denn angeblich begegnet?« »Sie haben doch bei uns getankt«, antwortete Randolph erstaunt. »Jetzt behaupten Sie nur noch, daß wir nicht miteinander gesprochen haben. Ich wußte, daß Sie vermutlich zu Camilla wollten und habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß sie nicht zu Hause ist und Sie sich diesen Weg sparen können.« »Dann muß ich einen Doppelgänger haben.«
Camilla sah abwechselnd von einem der jungen Männer zum anderen. Sie duckte sich, als hätte sie Angst. »Der ein dunkelgrünes Lodencape mit Hirschhornknöpfen besitzt – genau wie Sie?« »Wovon reden Sie eigentlich? Verdammt noch mal, was wollen Sie mit Ihren Bemerkungen andeuten?« »Nichts, gar nichts. Man macht sich nur so seine Gedanken. Natürlich weiß ich, daß Sie nie daran gedacht haben, Camilla ernsthaft weh zu tun. Ich bin Ihnen auch sehr dankbar, daß Sie sich später um Sie gekümmert haben.« »Sie verfluchter, verdammter Idiot!« Gordon hatte völlig die Beherrschung verloren, obwohl er sonst ein ruhiger und gelassener Mann war. Er sah aus, als wollte er sich auf seinen Gegner stürzen. Dann kam er wieder zu sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich in einen Sessel. Camilla war totenblaß und zitterte. »Hatte der Mann im Wald einen Lodenmantel mit Hirschhornknöpfen an?« fragte Gordon sie direkt. »Es soll ja wohl darauf hinaus, daß ich dich überfallen habe, wenn ich deinen neuen Freund richtig verstehe.« »Es war doch so dunkel«, sagte sie stockend. »Und er kam von hinten.« »Also müssen wir die Polizei oder Mrs. Beaton fragen«, sagte Gordon entschlossen. Dann schüttelte er den Kopf. »Wahnsinn muß ansteckend sein. Warum rege ich mich eigentlich so auf? Ich habe noch nie im Leben einen Lodenmantel besessen.« »Ein Lodencape«, berichtigte Randolph. »Es lag gestern auf dem Rücksitz Ihres Wagens. Ich dachte mir fast, Sie sind Hobbyjäger. Andere Menschen tragen doch kaum so etwas.« Gordon goß sich den Rest des Frühstückskaffees in seine Tasse. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Seine Finger zitterten so, daß er das Feuerzeug mehrmals betätigen mußte.
»Millie, glaubst du, daß ich dich überfallen habe? Nimmst du an, daß ich in das Haus deiner Nachbarin eingebrochen bin? Hältst du mich gar für den Mörder ihres Sohnes?« Camilla setzte mehrfach zum Sprechen an, stammelte aber nur ein paar unverständliche Worte. Dann begann sie plötzlich haltlos zu weinen. Ihr Körper bebte wie in einem Kampf. Randolph legte den Arm um ihre Schultern. »Bitte, beruhige dich doch, Camilla. Es ist ja nichts. Es war alles nur ein Mißverständnis.« »Sie sollten Ihre Räuberpistole der Polizei oder wenigstens dem eifrigen Bürgermeister erzählen«, sagte Gordon eisig. »Adieu, Millie. Ich muß mich jetzt leider verabschieden. Wenn du mich wiedersehen möchtest, weißt du, wo ich zu finden bin.«
*
Camilla war nur noch ein Nervenbündel. Randolph Lynch kam jeden Tag für kurze oder auch längere Zeit. Er lud sie zu Spaziergängen ein und war rührend um sie besorgt. Aber seine Aufmerksamkeiten ließen sie gleichgültig. Sie dachte nur noch an Gordon. Vieles war so merkwürdig und unerklärbar. Es ergab keinen Sinn. Wieso war Gordon so aus der Haut gefahren, als Randolph von der zufälligen Begegnung am Nachmittag gesprochen hatte? Wieso war Gordon überhaupt an diesem Tag nach Farlington gekommen? Und er war wortlos gegangen, als Randolph Lynch ihn beleidigt hatte. Eines Tages bekam sie mit der Post einen in Plymouth abgestempelten Brief. Er enthielt ein anonymes Schreiben.
Wenn Du redest, stirbst Du. Sie mußte die wenigen Zeilen dreimal lesen, ehe sie begriff, was damit gemeint sein konnte. Der Mann im Kapuzenmantel… Nur sie hatte ihn ja gesehen. Inzwischen wußte sie, daß Mrs. Beaton auf ein verdächtiges Geräusch hin in den Keller gegangen war und geschossen hatte. Aber sie hatte niemanden gesehen. Das erzählte jedenfalls der Bürgermeister. Mrs. Beaton ließ sich von Camilla nicht mehr sprechen. Sie hängte jedesmal auf, wenn das junge Mädchen am Telefon ihren Namen nannte. Besuche waren ohnehin vergeblich. Camilla hatte zweimal vor der verschlossenen Haustür gestanden und genau gewußt, daß die Nachbarin zu Hause war. Sogar die schwarze Katze Pussy durfte nicht mehr in den Garten kommen und mit. Nappy spielen. Die amtliche Suche nach dem Einbrecher wurde eingestellt. Es war ja auch nichts gestohlen worden, wie Mrs. Beaton selbst zugab. Um ihre Ruhe zu haben, behauptete Camilla, sich an überhaupt nichts mehr erinnern zu können, was im Walde vorgefallen war. Dabei wußte sie genau, daß irgend etwas ihren Verdacht erregt hatte. Was nur? Tag und Nacht zermarterte sie sich den Kopf. Sie traute sich nicht einmal mehr ans Telefon. Es klingelte in letzter Zeit oft. Aber meistens hörte sie nur ein rauhes, böses Lachen, wenn sie den Hörer in die Hand nahm. An einem regnerischen, düsteren Abend kam Randolph Lynch und fragte schon an der Haustür: »Hast du draußen einen Karton abgestellt, der in den Müll soll? Oder hat dir da jemand etwas gebracht?«
»Ich stelle doch keine Pakete vor die Tür. Aber es könnte sein, daß man mir den Karton mit dem Hundefutter gebracht hat, den ich in diesen Tagen abholen sollte.« »Ich hol’ ihn dir. Vermutlich ist er schwer.« Um nicht naß zu werden, wartete Camilla im Flur. »Das Paket ist leicht, jedenfalls im Verhältnis zur Größe. Sind das irgendwelche Futterflocken?« »Es müßten Dosen sein.« Camilla betrachtete den Karton, der ihre Anschrift trug. Hinter ihrem Namen war ein Kreuz. »Was soll das bedeuten?« »Keine Ahnung, sieh doch mal nach. Oder soll ich ihn in die Küche tragen?« Sie bückte sich und riß das Klebeband auf. Randolph blickte ihr dabei über die Schultern. Er war es auch, der eins der beiden Holzkreuze aus dem Karton nahm und es dann ratlos hin und her drehte. Camilla schob die Hände in den Bund ihres weiten Rockes, um das Zittern zu verbergen. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Randolph. »Sieht aus wie Grabkreuze. – Nein – das kann doch nicht sein. Hier steht ja dein Name, Camilla. Was willst du denn mit diesen Kreuzen?« »Ich habe sie nicht bestellt.« »Gordon Thomson«, las Randolph von dem zweiten Kreuz ab, das er nun auch aufgehoben hatte. »Ist das ein übler Scherz? Ist das eine Art Rache? Erkläre mir doch endlich, was das alles zu bedeuten hat!« »Terror! Ich vermute, Mrs. Beaton steckt dahinter. Im Dorf hat man mir erzählt, daß sie gegen mich hetzt. Sie scheint sich einzubilden, daß ich sie damals aus dem Haus locken wollte, damit Gordon freie Bahn hätte, um ihr Haus zu durchsuchen. Nur gut, daß sie nicht auch noch behauptet, er hätte ihren Sohn
ermordet. Aber ich bin so gut wie sicher, daß sie das annimmt.« »Verbrenn’ das Zeug hier. Ich bringe es nachher in den Keller und zerhacke es. Laß dich doch nicht von dieser verrückten Frau terrorisieren. Ich habe dir neulich schon vorgeschlagen: Mach mal eine nette Reise und lenke dich ab.« »Soll ich das Haus allein lassen? Wer kümmert sich um Nappy?« »Ich, wenn du willst. Bisher habe ich dir nichts davon erzählt, weil ich dich nicht zusätzlich beunruhigen wollte. Aber ich wußte es längst, daß die alte Beaton die schauerlichsten Geschichten über dich erzählt. Sie will auch Beweise dafür haben, daß der neue Einbruch mit dem Tod ihres Sohnes zusammenhängt.« »Ja, das kann ich mir denken. Sie behauptet, die angeblichen Mörder würden eines Tages ihr Geld abholen wollen.« »Nicht nur das Geld. Sie sollen damals etwas verloren haben, was sie verraten kann.« »Auch das weiß ich.« »Warum hast du mir das nie erzählt?« fragte Randolph ziemlich aufgeregt. »Was ist es denn? Vermutlich irrt sie sich. Timothy hatte sich in der letzten Zeit in Plymouth einige recht interessante Sachen gekauft. Er hatte immer eine Vorliebe für alte Taschenuhren und hat mir bei unserem letzten Treffen noch ein wunderbares altes Stück gezeigt.« »Das müßte man Mrs. Beaton sagen.« »Es handelt sich also um eine Uhr?« »Sie hängt neben dem Bild ihres Sohnes, und sie hofft, daß sie damit den Mörder entlarvt.« »Arme alte Spinnerin. – Nun ja, was geht es eigentlich uns an! Jetzt handelt es sich um deine Gesundheit, Camilla. Du wirst hier noch krank. Fahre ein paar Tage weg. Ich weiß da
eine sehr hübsche, stille Pension direkt am Wasser. Auf deinen Nappy passe ich schon auf. Oder du nimmst ihn einfach mit.« »Das muß ich mir erst noch gründlich überlegen. Komm’ endlich mit ins Zimmer, warum stehen wir denn eigentlich immer noch im Flur?« »Weil ich erst diese verdammten Grabkreuze in den Keller bringen Wollte. Warte bitte einen Augenblick, es dauert nur ein paar Minuten. Hast du ein Beil, dann schlage ich sie dir gleich zusammen und du verfeuerst sie in der Küche.« Randolph packte die Kreuze wieder in den Karton und ging die Kellertreppe hinunter. Camilla holte Wein und ein paar Salzstangen aus der Küche. Sie stellte gerade die Gläser auf den Wohnzimmertisch, als Randolph herein kam. »Bei dir ist eingebrochen worden«, sagte er rauh. »Wann, wieso?« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Nur nehme ich nicht an, daß du alle deine Koffer offen herumstehen läßt und alte Zeitungen durch die Gegend verstreust. Ich nehme an, da hat man etwas gesucht.« »Geld?« Er nickte und stützte dann den Kopf in die Hände. »Camilla, du mußt weg, du mußt unbedingt von hier verschwinden. Sonst habe ich keine ruhige Minute mehr. Wie die Beaton darauf kommt, daß das Geld hier sein kann, begreife ich nicht. Aber sie vermutet es anscheinend.« »Sie doch nicht!« Randolph schwieg. »Ja, es ist wohl wirklich besser, wenn ich für eine Weile wegfahre«, gab Camilla zu. »Ich werde nachher Marion anrufen und fragen, ob sie ein paar Tage mitkommen will. Oder hättest du Zeit?«
»Vielleicht kann ich es einrichten. Ich müßte noch einmal alle meine Termine überprüfen. Morgen kann ich dir Bescheid sagen. Ich komme abends vorbei.« »Das brauchst du nicht. Mein Auspuff ist nicht ganz in Ordnung. Läßt du ihn mir mal nachsehen? Wann paßt es am besten?« »Du kannst jederzeit kommen. Für dich bin ich immer da und lege notfalls selbst Hand an, wenn gerade kein Monteur frei ist.« Daß ausgerechnet ein defekter Auspuff über Leben und Tod entscheiden konnte, wäre Camilla nie in den Sinn gekommen…
*
Sie fuhr am nächsten Morgen schon recht früh zum Autohaus Lynch. Diesmal ging sie gleich zum Büro. »Ach, Camilla, wie schön!« begrüßte sie Randolph. »Hast du es sehr eilig?« »Nein, gar nicht. Ich wollte sowieso noch ein paar Besorgungen machen. Kann ich den Wagen in einer Stunde abholen?« »Ich sehe mir die Sachen selbst mal an. Im Moment ist viel zu tun. Setz dich doch bitte. Hier sind Zeitungen. Meine Sekretärin kann dir einen Kaffee bringen, wenn du magst.« »Jetzt nicht, danke.« Sie sah sich eher gelangweilt im Büro um, als Randolph gegangen war. Dann fielen ihr wieder die Ölbilder auf, die sie etwas deplaziert fand. Es sah ein bißchen
nach Angeberei aus. Randolph spielte sowieso gern den Mann »aus großem Hause«, der er sicher nicht war. Die goldene Uhr seines Großvaters leuchtete auffällig von dem gemalten schwarzen Anzug. Eine sehr eigenartige Uhr mit einem verschnörkelten Monogramm – oder anderem Zeichen – Brillanten und einer Schlange aus Gold, die den Aufhänger bildete. Auf einmal hielt Camilla den Atem an, kleine Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihre Hände waren eiskalt. Die Uhr! Diese Uhr? Wurde sie von Trugbildern genarrt oder war es genau die gleiche Uhr wie die neben dem Bild des toten Timothy Beaton? Zufällig kam gerade der alte Mister Lynch ins Büro. Er wirkte in dieser Umgebung fehl am Platze, bescheiden und unaufdringlich. Sein blauer Arbeitsanzug stand im krassen Gegensatz zu der eleganten, maßgeschneiderten Garderobe, die sein Sohn bevorzugte. »Ich warte auf Randolph und habe mir gerade die Bilder angesehen«, sagte Camilla mit brüchiger Stimme. »Sie sind sehr gut getroffen, Mister Lynch.« »Meinen Sie das wirklich? Ich find’ eher, ich sehe aus wie ein Fabrikdirektor. Aber dem Jungen hat’s gefallen, und es ist sein Zimmer.« »Ihre Familie hatte doch wohl mal eine Fabrik?« »Wenn man’s so nennen will, ja. Sie könnten auch sagen, daß mein Vater Schmied war. Ich hab’s auch noch gelernt, aber wer braucht denn heute noch einen Schmied?« »Ist der Herr mit der goldenen Uhr ihr Vater?« Camillas Stimme zitterte verdächtig. Sie war aufgeregt, als müßte sich ihr Schicksal in diesen Minuten entscheiden. »Ja, Randolph hat darauf bestanden, daß mein Vater mit dieser Uhr gemalt wurde, die er nur an ganz hohen Feiertagen
getragen hat. War nämlich ein Geschenk von Lord Carstairs, echtes Gold. Vater hat sie bekommen, weil er mal ein Rennpferd von Lord Carstairs, das krank war, mit einem ganz besonderen Hufeisen kuriert hat. Danach konnte Hunter wieder laufen wie der Teufel und hat noch ein paar Preise gewonnen.« »Diese Uhr nimmt sicher einen Ehrenplatz in Ihrem Haus ein?« »Randolph hat sie bekommen, als mein Vater gestorben ist. Aber er trägt sie auch nicht mehr. Er sagt, Taschenuhren sind altmodisch. Heute hat man Armbanduhren.« »Da hat er wahrscheinlich recht.« Camilla brauchte alle Kraft, um ein harmloses, unverfängliches Gespräch zu führen. Als Randolph endlich kam, sprach sie mit dem alten Lynch gerade über die Öl- und Benzinpreise. »Entschuldige, daß es etwas länger gedauert hat«, sagte der junge Mann. »Dein Wagen ist schon in Arbeit. Aber es kann trotzdem zwei Stunden dauern.« »Das macht nichts. Dann habe ich genügend Zeit, um mir endlich mal ein neues Kleid für meine Reise zu kaufen. Anprobieren ist eine so langweilige Angelegenheit.« Sie dachte gar nicht daran, in ein Modegeschäft zu gehen, sondern suchte eine Telefonzelle. Mit unsicheren Händen wählte sie die Nummer des Archäologischen Instituts in Plymouth. »Ach, Miss Weiller!« sagte die Sekretärin, als Camilla kaum ihren Namen genannt hatte. »Wie schön, einmal wieder von Ihnen zu hören. Geht es Ihnen gut?« »Ja, es gefällt mir hier ausgezeichnet.« Auch diesmal kam Camilla nicht dazu, nach Gordon zu fragen. Miss Stone redete wie ein Wasserfall und hatte gleich eine Menge Neuigkeiten auf Lager, die Camilla in diesem Augenblick völlig gleichgültig waren. Sie stutzte allerdings,
als die Sekretärin berichtete: »Gerade gestern haben wir von Ihnen gesprochen, heute morgen auch. Das muß Gedankenübertragung sein, daß Sie anrufen.« »Gibt es einen besonderen Anlaß, daß Sie an mich denken?« »Ja. Dr. Burger hat den Betrug noch einmal versucht, mit dem er seinerzeit in Peru Ihren Vater hereinlegen wollte. Zum Glück haben Ihr Herr Vater und Miss Winter es damals ja rechtzeitig gemerkt, und es ist kein Schaden entstanden. Jetzt gab Dr. Burger einem Professor in Edinburgh eine römische Götterstatue als griechische Arbeit aus… Ja, genau, weiß ich über die Einzelheiten auch nicht Bescheid. Jedenfalls ist es so, daß der alte Herr – der Professor – irgendein Gutachten abgegeben hat. Da ist plötzlich Burger aufgetaucht und hat den alten Herrn in übelster Weise diffamiert. Es muß eine peinliche Sache gewesen sein.« »Was wollte denn Dr. Burger damit erreichen?« Für einen Moment hatte Camilla ihre drängenden Sorgen vergessen. Sie dachte nur daran, was sie Gordon alles an den Kopf geworfen hatte. Dabei waren Gordon und Sheyla vermutlich im Recht gewesen. »Professor Sandersfield, der Nachfolger von Ihrem Herrn Vater, hält es für übertriebenen Ehrgeiz von Dr. Burger. Nach seiner Ansicht will er sich selbst ins rechte Licht rücken und beweisen, daß er ein viel zuverlässigerer Experte ist als die alten Herren. Er soll sogar wörtlich zu jemandem gesagt haben, die wichtigsten Posten hätten doch nur noch Greise inne, die nicht mehr klar denken können. Ist das nicht gemein.« »Hoffentlich ist damit seine eigene Karriere am Ende.« »Ziemlich sicher. Das meinen alle hier. Haben Sie deswegen angerufen? Sicher hatten sie schon davon gehört?«
»Nein, ich wollte gern Dr. Thomson sprechen. Ist er im Haus?« »Ja, ich verbinde Sie gern mit ihm.« Als sie Gordons Stimme hörte, wußte Camilla plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte. Vorher war es ihr so einfach erschienen, ihn um Hilfe zu bitten. Er war der einzige Mensch, der ihr raten konnte. Nun dachte sie daran, wie tief sie ihn mit ihren haltlosen Verdächtigungen gekränkt haben mußte. »Hier ist Camilla«, sagte sie sehr leise. »Ich weiß. Miss Stone hatte mir gesagt, wer mich sprechen will. Was gibt es denn? Bist du in Plymouth?« »Nein, noch immer in Farlington. Und ich habe eben eine Entdeckung gemacht…« Sie mußte schlucken. Am Telefon konnte sie keinesfalls auch nur andeuten, worum es ging. »Bitte, Gordon, ich weiß, daß es sehr viel verlangt ist: Könntest du nicht einmal herkommen?« »Zu dir?« »Ja.« »Im Moment haben wir sehr viel zu tun. Wir bereiten einen Kongreß vor. Das weißt du ja sicher.« »Ich verstehe…« Camilla schnüffelte. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie enttäuscht sie war. »Entschuldige, daß ich dich gestört habe.« Er hatte ihre Erregung offensichtlich gespürt. »Ist es sehr wichtig für dich?« fragte er freundlicher. »Ich habe Angst«, gab sie kläglich zu. »Vor wem? Ist wieder etwas bei der Verrückten passiert?« »Wahrscheinlich weiß ich jetzt, wer der Mörder von Timothy war. Und es kann sein, daß er es erfährt.« »Dann solltest du sofort Farlington verlassen«, erregte sich Gordon. »Ich nehme zwar immer noch an, daß du nur Gespenster siehst. Aber du mußt doch nicht dort bleiben.
Komm nach Plymouth zurück, dann können wir uns darüber unterhalten.« »Ich… So einfach kann ich doch nicht weg.« »Vielleicht kann ich es einrichten, daß ich dich besuche. Sei vorsichtig, ja?« »Danke, Gordon. Ich habe es wohl nicht verdient, daß du mir noch vertraust. Aber es war schon gut, einmal mit dir zu sprechen. Irgendwie werde ich zurechtkommen.« Als sie in das Büro von Randolph Lynch zurückkehrte, stand der junge Mann vor der Wand mit den Bildern. Er wirkte recht betroffen, als Camilla von seiner Sekretärin hereingeführt wurde. »Du bist schon zurück? Hoffentlich ist dein Wagen fertig. Hast du ein hübsches Kleid gefunden?« »Der Pullover hat mir besser gefallen.« Camilla wies auf die Tragetasche eines Modegeschäfts. Sie hatte den erstbesten Pullover gekauft, um nicht ganz mit leeren Händen zurückzukommen. Sie kam sich vor wie jemand, der ängstlich auf sein Alibi bedacht sein muß. »Willst du dich setzen? Oder soll ich rasch erst mal nachsehen, wie weit dein Wagen ist?« Er machte freilich keine Anstalten, in den Werkstatthof zu gehen, sondern setzte sich und bot Camilla einen Platz an, von dem aus sie die Bilder nicht sehen konnte. »Du hast vorhin mit Vater über sein Porträt gesprochen?« stellte er eine Frage, die sie erschreckte. »Ich weiß, daß es ihm nie sonderlich gefallen hat. Du scheinst ihn in dieser Meinung bestätigt zu haben.« »So etwas hätte ich nie gesagt. Aber es ist wohl mit Bildern ähnlich wie mit Fotos. Sie sagen oft sehr wenig über den wirklichen Menschen aus.«
»Ja, allmählich neige ich auch zu dieser Ansicht. Ich habe mir vorhin gerade überlegt, ob ich die Porträts nicht wegnehmen lasse und dafür eine schöne Landschaft aufhänge.« »Oder etwas, das mehr Beziehungen zu Autos hat«, bemühte sich Camilla eifrig um ein Thema, bei dem die verräterische Uhr nicht erwähnt werden mußte. »Oldtimer-Fotos sind doch heute in und würden sehr gut hierher passen.« »Ich werde es mir überlegen. Magst du noch eine Zigarette? Sonst können wir hinausgehen und deinen Wagen holen.« Camilla hatte Angst, ganz unheimliche Angst und fühlte sich den ganzen Tag bedroht. Jeden Augenblick erwartete sie etwas Schreckliches. Als es dunkel wurde, bereute sie bitter, daß sie nicht einfach weggefahren war. Dann sagte sie sich wieder, daß sie sich selbst in eine düstere Stimmung hineinsteigerte, für die es keinen Grund gab. Sie wußte ja nicht einmal so genau, wie die Uhr neben Timothy Beatons Bild aussah. Es war nur eine dunkle Erinnerung an eine Schlange, die den Aufhänger bildete. Gegen acht klingelte es. Camilla zuckte zusammen, als wäre das jüngste Gericht eingeläutet worden. Erst wollte sie gar nicht öffnen. Dann sagte sie sich, daß man das Licht im Wohnzimmer von draußen sah. Es war Randolph Lynch, den Nappy sofort mit einem freudigen Jaulen begrüßte. Die beiden jungen Leute konnten zunächst kein Wort wechseln. Randolph trug diesmal im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit einen dunklen Anzug mit weißem Seidenhemd und silbergrauer Krawatte. Der Strauß, den er mitgebracht hatte, bestand aus mindestens fünfzig ausgesucht schönen, langstieligen roten Rosen.
»Das sieht ja fast nach einem ganz offiziellen Besuch aus«, Camilla deutet auf den feierlichen Anzug. Er nickte. »Ja, so ist es auch gemeint. Ich weiß, daß du hier wegmöchtest und zumindest verreisen willst. Grundsätzlich halte ich das für eine gute Idee. Aber ich wünsche mir sehr, daß du wieder zurückkommst – für immer.« »Das hatte ich auch vor.« »Ich meine es etwas anders, Camilla.« Er faßte nach ihrer Hand und hielt sie trotz Camillas leichtem Widerstand fest. »Daß ich dich liebe und du mir sehr viel bedeutest, mußt du ja gespürt haben. Willst du mich heiraten?« »Heiraten…?« Sie war so überrascht, daß sie kaum die richtigen Worte fand. »Du meinst, ich soll deine Frau werden?« Er lächelte und strich ihr leicht über das Haar. »Ja, so meine ich es. Camilla, wir beide verstehen uns doch sehr gut und haben viel gemeinsam. Glaubst du nicht, wir könnten eine sehr glückliche Ehe führen? Ich möchte dich verwöhnen und beschützen. Du würdest nie wieder allein sein.« »Ja.« Sie nahm sich zusammen und überlegte fieberhaft. Hatte dieser unerwartete Antrag eine besondere Bedeutung? Noch vor ein paar Tagen hatte Randolph über einen Freund eine spöttische Bemerkung gemacht, der sich »ins Ehejoch begeben hatte« und dabei erwähnt, wieviele Vorteile das Junggesellenleben bot. »Es kommt sehr überraschend für mich«, sagte sie nachdenklich. »Bist du ganz sicher, daß du mich liebst?« »Absolut sicher, kleine Camilla.« Er beugte sich zu ihr und wollte sie küssen.
Camilla stand wie zufällig auf und rief Nappy zur Ordnung, weil er ein Kissen von der Couch zu zerren versuchte. »Es wäre wunderbar zu wissen, wohin man gehört«, sagte Camilla entschlossen. Wenn eine Gefahr für sie von Randolph ausging, dann mußte sie dem zuvorkommen. Er durfte nicht einmal ahnen, daß sie Angst vor ihm hatte. »Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt«, erklärte er etwas übertrieben. Dann zog er ein kleines Etui aus der Tasche und steckte einen glitzernden Brillantring an Camillas zitternden Finger. »Mein Liebes, du sollst diesen Entschluß nie bereuen.« Diesmal mußte sie sich von ihm küssen lassen. Zum Glück schien Nappy dieses enge Beieinander übel zu nehmen und warf sich dazwischen. Camilla lachte. »Er ist eifersüchtig. Bisher war er der alleinige Herr hier im Haus.« »Dann werden wir ihm beibringen müssen, daß ich in Zukunft auch gewisse Rechte an seinem Frauchen habe. Soll ich ihn in die Küche bringen?« »Nicht heute. Er muß sich erst an die neue Situation gewöhnen. Und heute bin ich so glücklich, daß alle anderen auch fröhlich sein sollen.« Randolph blieb nicht sehr lange. Es gelang Camilla, ihm klarzumachen, daß sie sich nicht wohl fühlte. Er nahm das mit einer für einen glücklichen Bräutigam erstaunlichen Ruhe auf und verabschiedete sich bald. Sofort nachdem er gegangen war, rief Camilla bei Marion an. »Kannst du herkommen?« bat sie aufgeregt. »Möglichst gleich? Ich brauche dich dringend.« »Bist du krank?« »Nein, ich habe mich eben verlobt.« Eine Weile blieb es still im Apparat.
»Mit wem?« kam dann eine Frage wie aus weiter Ferne. »Hast du dich mit Gordon versöhnt? Und was soll ich denn bei euch Turteltauben?« »Ich habe mich mit einem Mörder verlobt«, sagte Camilla mit völlig ruhiger Stimme. »Und ich fürchte, daß er mich auch umbringen will. Du sollst das verhindern.«
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Marion kam am nächsten Morgen in aller Frühe. »Bist du plötzlich wahnsinnig geworden?« war ihre erste Frage, als sie die Freundin flüchtig begrüßt hatte. »Du erzählst mir was von der Verlobung mit einem Mörder und hängst dann einfach auf. Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank?« »Du weißt doch, daß Mrs. Beatons Sohn in einen Bankraub verwickelt war, angeblich die Beute im Haus seiner Großmutter versteckt hat und dann von einem Komplizen erschlagen worden ist.« »Das kann stimmen oder nicht. Sie ist doch nicht ganz klar im Kopf, hast du mir selbst erzählt.« »Mrs. Beaton bewahrt in ihrem Haus eine Uhr auf, die der Mörder dort angeblich verloren hat. Ich weiß jetzt, wem die Uhr gehört.« »Und mit dem hast du dich verlobt?« »Ja, mit Randolph Lynch. Er war Timothy Beatons bester Freund. Vielleicht weiß Mrs. Beaton mehr über die Sache, als sie zugeben will. Sie kann es nicht beweisen, aber sie weigert sich seit damals, mit Randolph Lynch auch nur ein einziges Wort zu reden.«
»Das erklärt immer noch nicht, warum du dich mit einem Mann verlobt hast, den du für einen Mörder hältst.« »Weil das die einzige Möglichkeit für mich war, mich wenigstens einigermaßen zu schützen. Er wird denken, daß ich als seine Braut den Mund halten muß.« »Weiß er denn, was du vermutest?« »Ich fürchte es.« »Das mußt du mir erst mal genauer erklären. Entweder bist du völlig übergeschnappt oder…« Camilla erzählte alles, was sie wußte oder auch nur vermutete. Es tat ihr gut, endlich mit jemandem offen sprechen zu können, dem sie voll vertraute. »Hm…« war zunächst Marions einziger Kommentar. »Du glaubst mir nicht?« fragte Camilla verzweifelt. »Ich bin ja auch erst nach und nach dahintergekommen. Randolph verfügt seit der Zeit des Überfalls über ein recht beachtliches Vermögen, das er angeblich im Lotto gewonnen hat. Er hat Timothy Beaton immer als untadeligen Menschen hingestellt. Natürlich mußte er das, wenn er nicht selbst in Verdacht geraten wollte. Und dann hat er mich neulich im Wald überfallen.« »Woher weißt du das so plötzlich? Ich denke, du hast den Mann nicht erkannt?« »Die ganze Zeit habe ich darüber nachgegrübelt, warum mich der Kapuzenmann an jemanden erinnerte. Gestern wurde es mir schlagartig klar. Es war das Rasierwasser, ein kaum wahrnehmbarer Duft von einem Rasierwasser, das Randolph benutzt.« »Und wahrscheinlich hundert oder tausend andere Männer auch«, ergänzte Marion. »Es wird kaum eine Sonderanfertigung sein.«
»Aber nur Randolph wußte, daß Mrs. Beaton an dem fraglichen Abend zum ersten Mal für längere Zeit nicht zu Hause sein würde. Er hatte fest damit gerechnet, daß sie mit mir zusammen nach Gailwood wollte. Er hat ja die Karten selbst besorgt und mir dann zugeredet, Mrs. Beaton mitzunehmen.« »Camilla! Die Sache liegt mehr als zwei Jahre zurück. Ich meine den angeblichen Mord an dem jungen Beaton. In dieser Zeit hätte Lynch doch massenhaft Zeit gehabt, etwas zu unternehmen.« »Eben nicht. Mrs. Beaton war praktisch immer zu Hause.« »Und warum verlobt er sich jetzt mit dir? Das gibt doch keinen Sinn. Er kann – selbst wenn er der Täter wäre – doch nicht glauben, daß du etwas mit der Sache zu tun hast.« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich war zumindest einige Zeit mit Mrs. Beaton befreundet und bin gelegentlich in ihr Haus gekommen. Vielleicht hat er geglaubt, er könnte so etwas über das Versteck des Geldes erfahren.« »Du phantasierst, Millie. Tut mir leid, aber ich kann dir nicht folgen. Du hast dich von den Verrücktheiten deiner Nachbarin anstecken lassen und nimmst alles für bare Münze.« »Auch du kannst nicht bestreiten, daß neulich bei ihr eingebrochen worden ist und mich jemand überfallen hat.« »Dann rufe die Polizei.« »Man würde mich auslachen.« »Eben. Es gibt keine Anhaltspunkte, die deine Vermutungen beweisen. Ob du diesen Lynch heiraten willst oder nicht, mußt du selbst entscheiden. Nur würde ich mich niemals an einen Mann binden, dem ich nicht voll vertraue.« »Ich werde ihn ganz bestimmt nicht heiraten. Im Moment muß ich allerdings die glückliche Braut spielen, damit er keinen Verdacht schöpft. Ich habe dich gebeten herzukommen,
weil er in deiner Gegenwart nicht zudringlich werden kann. Laß mich bitte niemals mit ihm allein.« »Verrücktheit fängt meistens im Kopf an«, bemerkte Marion sarkastisch. »Gut, ich bleibe ein paar Tage hier. Du brauchst wirklich jemanden, der auf dich aufpaßt Ir dieser Zeit packen wir deine Sachen zusammen, und dann machst du eine nette Reise. Irgendwo im Süden scheint bestimmt auch in dieser Jahreszeit die Sonne. Ruh dich da aus, und werde endlich wieder normal.« »Du glaubst mir immer noch nicht?« »Tut mir leid, nein. Und diese Verlobung ist das Irrsinnigste, was ich jemals gehört habe.« »Ich weiß nicht, ob das Porträt von Randolphs Großvater noch in seinem Büro hängt. Wahrscheinlich hat er es inzwischen weggenommen. Aber ich kann dir die Uhr beschreiben, die auf dem Bild zu sehen ist. Dann geh’ hinüber zu Mrs. Beaton und sieh dir die Uhr an, die neben Timothys Bild hängt.« »Was sollte das helfen?« »Ich möchte selbst ganz sicher sein, daß es sich wirklich um dieselbe Uhr handelt.« »Es könnte auch nur eine ähnliche sein. Auch damals war nicht alles reine Handarbeit. Vielleicht hat ein Geschäft in Farlington solche Uhren zu Dutzenden verkauft.« »Du willst mir nicht helfen«, sagte Camilla bitter. »Immerhin bin ich dir dankbar, daß du wenigstens gekommen bist.«
*
Am späten Nachmittag kam Gordon Thomson. Marion empfing ihn sichtlich erstaunt. »Was willst du denn hier? Camilla hat sich gerade etwas hingelegt. Sie hat mir kein Wort davon gesagt, daß sie dich erwartet.« »Das ist allerdings merkwürdig. Sie hatte so sehr darum gebeten, daß ich herkomme. Gestern am Telefon war sie ganz aufgeregt.« »Sie ist übergeschnappt«, stellte Marion trocken fest. »Mich hat sie auch hierher beordert und mir dann verkündet, sie hätte sich mit einem Mörder verlobt.« »Wen verdächtigt sie denn nun schon wieder?« Marion legte den Zeigefinger auf die Lippen und zog ihn ins Wohnzimmer. Dann schloß sie ganz vorsichtig die Tür. »Es ist ganz gut, daß wir uns erst einmal allein unterhalten können. Ich weiß nicht, ob Camilla einen Psychiater braucht. Was kann man denn nur tun?« »Mit wem hat sie sich angeblich verlobt? Mit diesem Lynch wahrscheinlich?« »Ja. Kennst du ihn?« »Flüchtig. Nur begreife ich nicht, warum er plötzlich ein Mörder sein soll. Neulich ist mir diese Rolle zugefallen.« »Dir?« Marion holte erst einmal die Whiskyflasche aus dem Schrank und schenkte zwei Gläser reichlich voll. Es wurde eine lange Unterhaltung, bei der sowohl Marion wie Gordon mehrfach den Kopf schüttelten. »So geht es nicht weiter«, entschied der junge Mann schließlich. »Wenn Camilla noch nicht durchgedreht ist, wird sie ohnehin bald nur noch ein Nervenbündel sein. Ich gehe jetzt hinüber zu dieser Mrs. Beaton und versuche, mit ihr zu reden.« »Sie soll gemeingefährlich sein«, warnte Marion besorgt.
»Was soll mir denn eine alte Frau tun? Du könntest Camilla dazu veranlassen, daß sie mit dir wegfährt. Denke dir irgendeine Geschichte aus, die einigermaßen glaubhaft klingt.« Er ließ sich nicht zurückhalten, sondern ging tatsächlich zu dem Nachbarhaus. Auf sein Klingeln wurde ihm sofort geöffnet. Der erste Eindruck von Mrs. Beaton überraschte ihn. Sie wirkte gepflegt und hatte eine ruhige, klare Stimme. »Kommen Sie wegen meiner Anzeige? Ich hatte Sie erst morgen erwartet.« »Leider mußte ich meine Pläne ändern«, ging er sofort darauf ein. »Aber Sie verwechseln mich offenbar, ich hatte mich nicht angemeldet.« »Sie sind aber an meinem Haus interessiert?« »Darf ich es mir erst einmal ansehen?« Während sie ihn ins Zimmer führte, überlegte er fieberhaft, ob er das Spiel als angeblicher Hausinteressant weiterführen sollte. Dann sah er die goldene Uhr, die in Camillas Alpträumen eine so große Rolle spielte. »Nein, ich komme nicht wegen des Hauses, sondern wegen der Uhr«, sagte er ruhig. »Ein wunderbares Stück. Ich möchte sie kaufen.« »Die Uhr ist nicht verkäuflich.« »Auch nicht für einen sehr guten Preis? Ich sammel alte Uhren – genau wie damals Ihr Sohn.« Plötzlich hatte Mrs. Beaton eine Pistole in der Hand. Gordon war so verblüfft, daß er unwillkürlich die Hände hob. »Sie sind das also«, sagte Mrs. Beaton. »Ich habe lange auf Sie gewartet. Aber ich wußte immer, daß Sie eines Tages kommen.«
»Nein, Sie irren sich. Ich habe nichts mit dem Mord an Ihrem Sohn zu tun, den ich nach wie vor für einen Unfall halte. Aber ich weiß, wem diese Uhr früher gehört hat.« »Setzen Sie sich«, forderte sie ihn barsch auf, behielt aber die Waffe in der Hand. »Was wollen Sie von mir? Warum bedrohen Sie mich?« Gordon mußte sich Mühe geben, daß seine Stimme einigermaßen gelassen klang. »Ich bin ein harmloser Bürger. Wenn es darauf ankommt, kann ich sogar beweisen, daß ich zur Zeit des Unfalls von Ihrem Sohn in Peru war.« »Warum sind Sie dann hergekommen?« »Ich war mit Camilla Weiller verlobt und fühle mich heute noch für sie verantwortlich. Sie ist völlig durcheinander und hat sich aus Verzweiflung gestern mit dem Mann verlobt, dem diese goldene Uhr einmal gehört hat.« »Was geht mich das an?« »Sie haben Camilla doch den Floh ins Ohr gesetzt, daß hier ein Verbrechen geschehen ist. Nun will sie den Mörder entdeckt haben, fürchtet sich vor ihm und seiner Rache und wußte keinen anderen Ausweg als seinen Antrag anzunehmen. Ihre Privatangelegenheiten interessieren mich nicht, Mrs. Beaton, das möchte ich ausdrücklich betonen. Aber lassen Sie Camilla in Ruhe.« »Mit wem hat sie sich angeblich verlobt?« »Mit einem jungen Mann aus Farlington, einem Mister Lynch.« »Also doch…« Mrs. Beaton legte die Pistole auf den Tisch. Gordon hätte sie dort ohne weiteres wegnehmen können. Aber er sah keine Gefahr mehr. Die Frau ihm gegenüber wirkte plötzlich alt und müde. »Sie wußten es?« fragte er.
»Ich habe es geahnt. Er war mit Tim eng befreundet, war immer der Stärkere der beiden. Ich bin sicher, der Plan zu dem Banküberfall war eine Idee von Randolph Lynch.« »Hat es diesen Überfall wirklich gegeben? Ich meine, sind Sie denn sicher, daß Ihr Sohn daran teilgenommen hat?« »Leider weiß ich es genau. Und ich habe auch geahnt, daß er die Beute hier verstecken wollte. Ich habe noch einen zweiten Anruf von ihm bekommen, von dem niemand etwas weiß. Ich wollte ihn warnen, wollte ihn veranlassen, das Geld zurückzugeben und sich freiwillig zu stellen. Es war zu spät.« »Warum haben Sie das nie der Polizei gesagt?« »Hätte man mich denn ernst genommen? Kann ich Telefongespräche beweisen? Und der andere wäre straffrei ausgegangen. Randolph war sehr geschickt.« »Die Uhr ist doch Beweis genug.« »Wirklich? Er hätte vermutlich behauptet, er hätte sie meinem Sohn geschenkt.« »Und nun? Er läuft noch immer frei herum, ist ein angesehener, reicher Mann und bedroht unschuldige Menschen. Camilla hätte sterben können, wenn ich sie in jener Nacht nicht gefunden hätte.« »Vielleicht steckt sie mich ihm unter einer Decke. Warum hat sie das Tannenhaus gekauft? Weshalb wollte sie mich aus dem Hause locken, damit man hier alles durchsuchen konnte?« »Ich verbürge mich für Camilla, aber das wird Ihnen wohl nicht genügen.« Mrs. Beaton Starrte zu dem Bild ihres Sohnes hinüber. Dann stand sie auf und nahm die goldene Uhr von der Wand. »Ich kann nichts mehr für dich tun, Timmy!« flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Randolph ist gewarnt worden und wird lieber das Geld verschimmeln lassen, als noch mehr zu riskieren.«
»Ist das Geld wirklich noch hier im Haus?« fragte Gordon aufgeregt. »Das weiß ich selbst nicht genau. Wenn es jemals hier war, muß es Tim sehr gut versteckt haben. Vermutlich so gut, daß es damals auch Randolph nicht gefunden hat.« »Man könnte ihm sagen, daß es noch hier ist.« »Warum?« »Damit er herkommt und es sucht. Vorher müßte natürlich die Polizei informiert werden.« »Er soll sich selbst verraten?« »Wenn er ein Mörder ist, gehört er hinter Schloß und Riegel. War er wirklich der Freund Ihres Sohnes und hat ein gutes Gewissen, lockt ihn auch das viele Geld nicht.« »Warum wollen Sie mir helfen?« fragte Mrs. Beaton mißtrauisch. Sie griff wieder nach ihrer Waffe, legte sie dann jedoch zurück. »Weil ich Lynch hasse!« knurrte Gordon.
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Inzwischen war drüben im Tannenhaus Randolph Lynch zu Besuch gekommen. Marion wollte ihn wegschicken. Aber leider kam Camilla gerade die Treppe herunter. »Ach, Randolph, du?« fragte sie eher müde als erfreut. »Du hast Besuch, wie ich sehe. Aber wir können unsere Reisepläne ja auch in Gegenwart deiner Freundin und von Mister Thomson besprechen. Ich habe gerade einen sehr interessanten Prospekt über die Kanarischen Inseln bekommen.« »Gordon ist doch nicht hier«, wunderte sich Camilla.
»Ist das draußen nicht sein Wagen?« »Doch, das ist Dr. Thomsons Auto«, griff Marion ein. »Er ist vor einer halben Stunde gekommen, Millie. Wir wollten dich nicht wecken.« »Wo ist denn Gordon?« »Bei Mrs. Beaton«, antwortete Marion ehrlich. Sie sah keinen Grund, das zu verschweigen. Camillas Ängste und die Furcht vor Mördern waren für sie Hirngespinste. »Was tut denn Gordon dort drüben?« schrie Camilla aufgeregt. »Um Gottes willen, sie bringt ihn um! Sie ist doch so mißtrauisch und manchmal unzurechnungsfähig, daß man ihr alles zutrauen muß.« »Ja, wirklich, was hat Mister Thomson bei Mrs. Beaton verloren?« erkundigte sich nun auch Randolph. Marion merkte genau, daß er sehr erregt war und bekam nun doch Bedenken. »Ich weiß es nicht.« Sie suchte nach einer unverbindlichen Erklärung. »Es hängt irgendwie mit Nappy zusammen. Der war doch mal wieder ausgebüchst, und ich dachte, er könnte weggelaufen sein.« »Was hat denn der Hund mit Mrs. Beaton zu tun?« fragte Randolph scharf. »Außerdem ist er doch im Garten.« »Ist er wieder da?« Wie auf ein Stichwort bellte Nappy draußen, gleich darauf klingelte es. Gordon Thomson kam ins Zimmer geschlendert und tat völlig unbefangen. »Guten Tag, Mister Lynch, – Hast du gut geschlagen, Camilla? Ich wollte dich vorhin nicht stören und habe noch einen kleinen Spaziergang gemacht.« »Ausgerechnet zu Mrs. Beaton?« fragte Randolph eisig.
Gordon warf Marion einen raschen Blick zu, sie zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Ja, ich kenne Mrs. Beaton nämlich von früher«, behauptete Gordon. »Nur wußte ich das bisher nicht. Ich habe sie bisher nicht mit der Freundin meiner Tante Ellen in Verbindung gebracht. Es wurde mir erst klar, als ich neulich mit meiner Tante über Farlington sprach und sie dabei erwähnte, daß ihre Freundin hier lebt.« »Und nun sind Sie schnell einmal nach drüben gegangen und haben herzliche Grüße von der lieben Tante ausgerichtet«, höhnte Randolph. »Genauso war es. Sie hat sich sehr über meinen Besuch gefreut. Übrigens wirst du sie bald los sein, Camilla. Dann kannst du endlich wieder ruhig schlafen. Sie hat ihr Haus verkauft.« »An wen?« fragte Randolph. »Keine Ahnung, darüber haben wir nicht gesprochen. Sie packt schon ihre Sachen zusammen. Frauen sind ja schrecklich umständlich. Sie sagt, sie kann das nicht den Möbelpackern überlassen. Und an welch verrückten Dingen das Herz von manchen Leuten hängt! Sie will allen Ernstes einen alten Eisschrank mitnehmen, der mal ihrer Mutter gehört hat. Ja, wirklich einen Eisschrank, in den man noch Eisblöcke packen muß. Als gäbe es heute keine modernen Kühlschränke!« »Hat sie ihn noch in Gebrauch? Das wäre ihr zuzutrauen.« »Nein, das Ding steht im Keller. Wir waren sogar zusammen unten, weil sie einen Rat von mir haben wollte.« Camilla war unfähig, ein Wort herauszubringen. Marion wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Das Gespräch wurde ausschließlich zwischen den beiden jungen Männern geführt.
»Wofür brauchte die Beaton Ihren Rat?« erkundigte sich Randolph. »Haben Sie Erfahrungen mit Umzügen?« »Keine Spur. Sie muß wirklich verrückt sein, da haben Sie recht. Sie wollte wissen, ob man die Kupferrohre von der Wasserleitung abmontieren kann. Irgend jemand muß ihr eingeredet haben, daß Kupfer sehr wertvoll ist.« »Was geht’s uns an?« mischte sich Marion zum ersten Mal ein. »Soll ich nicht erst mal Kaffee kochen?« »Ja, tu das bitte, bat Camilla. Ich glaube, es ist auch noch Kuchen da.« »Hoffentlich klemmt euer Kühlschrank nicht wie der Eisschrank von Mrs. Beaton«, sagte Gordon lachend. »Sie hat mir erzählt, er wäre einfach nicht zu öffnen, aber es müßte noch etwas Wertvolles darin sein. Was kann denn da noch drin sein? Höchstens verschimmelte Butter oder ein verdorbenes Brathuhn.« Randolph sah auf seine Uhr, stand dann unvermittelt auf. »Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, Camilla. Eben fällt mir ein, daß ich einen wichtigen Termin vergessen habe. Die Reiseprospekte lasse ich hier. Sieh sie dir in Ruhe an. Wenn es irgendwie möglich ist, komme ich später noch einmal vorbei.« Vor Gordon deutete er eine sehr knappe Verbeugung an. Von Marion verabschiedete er sich gar nicht. »Du bist mit ihm verlobt?« fragte Gordon mit einer völlig anderen Stimme, als er mit Camilla allein war. »Eigentlich sollte ich dir wohl gratulieren. Nur hat Marion angedeutet, daß du gar nicht sehr glücklich bist.« »Gordon…« Sie zerrte das Seidentuch, das sie um ihren immer noch verschwollenen Hals trug, zu einem Knoten. »Hast du wirklich Angst vor ihm?« Sie nickte.
»Mit der Uhr hattest du recht. Nach Marions Beschreibungen handelt es sich um eine ganz ähnliche Uhr. Aber es ist durchaus nicht bewiesen, daß es dieselbe ist wie auf dem Porträt. Außerdem könnte Mr. Lynch sie auch seinem Freund geschenkt haben. Wenn es darauf ankommt, behauptet der das sicher.« »Bist du deswegen bei Mrs. Beaton gewesen?« »Ja, das könnte man sagen. Ich mußte etwas tun, um dich zu beruhigen. Deine Nachbarin war sehr freundlich. Nach meiner Ansicht ist sie geistig voll zurechnungsfähig. Sie verfolgt nur eine Spur. Ob sie damit recht hat oder nicht, werden wir in ein paar Tagen wissen.« »Was meinst du damit?« Sie berührte seinen Arm, zog ihre Hand aber rasch wieder zurück. »Gordon, ich möchte nicht, daß du dich in Gefahr bringst.« »Liegt dir denn noch etwas an mir?« Camilla drehte den Kopf zur Seite. In ihren Augen standen Tränen. »Es wird alles gut«, der junge Mann zog ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuß darauf. »Camilla, was immer auch geschieht, du mußt mir vertrauen.« »Ich habe dir weh getan«, flüsterte sie. »Und jetzt denkst du noch, daß ich einen anderen liebe.« »Deine Verlobung gibt mir Rätsel auf.« »Ich hätte Randolph natürlich zurückweisen müssen«, ihre Stimme war kaum noch zu verstehen. »Aber ich hatte so schreckliche Angst. Ich habe gemerkt, daß er…« Sie brach in haltloses Weinen aus. Gordon zog ihren Kopf an seine Schulter. »Armes kleines Schäfchen. Vielleicht lachst du morgen schon wieder.« »Was hast du vor?«
»Das möchte ich dir im Augenblick nicht sagen. Sonst verdächtigst du mich wieder, daß ich ein Mörder sein könnte.« »Wirklich, Gordon! Das habe ich nie gedacht. Nie, niemals!« »Aber du hast mir nicht mehr vertraut?« Plötzlich stürzte Marion ganz aufgeregt ins Zimmer. »Drüben brennt es! Aus dem Haus von Mrs. Beaton schlagen Flammen. Ich hab’s ganz deutlich gesehen. Wir müssen sofort die Feuerwehr alarmieren.« Gordon wurde kreidebleich. »Sie ist doch wahnsinnig«, murmelte er. »Verdammt! So hatte ich mir das nicht gedacht.« Er lief aus dem Zimmer und stieß Camilla dabei zurück. Sie hatte versucht, sich an ihn zu klammern. »Gordon!« Verzweifelt lief sie ihm nach. »Gordon, das ist bestimmt wieder so ein bösartiger Trick!« Marion wählte den Notruf und keuchte in den Apparat: »Bei Mrs. Beaton brennt es. Bitte, kommen Sie schnell.« Dann rannte sie auch hinaus. Sie fand Camilla vor der verschlossenen Tür des Nachbarhauses. »Gordon ist weg«, schluchzte Camilla. »Gordon ist verschwunden. Wo kann er denn nur sein? Er kann doch nicht mit bloßen Händen ein Feuer löschen wollen?« »Nein, wir können nichts tun.« Marion sah hinauf zu den Fenstern, aus denen beißender Qualm kam. Das Fachwerkhaus war dem Feuer nicht gewachsen. Das Holzwerk war alt und brannte wie Zunder. Dann hörten sie einen lauten Knall, dem unmittelbar darauf ein zweiter folgte. Jemand schrie. »Gibt es einen Hintereingang?« rief Marion aufgeregt. »Das müßtest du doch wissen. Du bist doch schon hiergewesen.«
»Ich kenne mich nicht aus.« Camilla stand wie eine Statue. »Gordon… lieber, lieber Gordon…«, flüsterte sie immer wieder. »Bitte, Gordon, komm doch.« Marion lief ums Haus herum. Wieviel Zeit verging, wußte Camilla nicht mehr. Sie hatte jedes Gefühl verloren und betete nur noch um Gordons Leben. Sirenen heulten auf, Bremsen kreischten. Auf einmal waren viele Männer da. Schläuche wurden ausgerollt, Wasser prasselte in die Flammenglut. In all dem Durcheinander taumelte Gordon plötzlich auf Camilla zu. Sie hätte ihn fast nicht erkannt. Er sah zum Fürchten aus. Sein Gesicht war rußverschmiert, sein Anzug zerrissen. »Wo bist du gewesen?« Sie fiel ihm schluchzend um den Hals. »Gordon, ich hatte so schreckliche Angst um dich.« »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit deinem Verlobten.« Camilla sah ihn ohne jedes Verstehen an. »Komm, wir gehen in deine Wohnung«, er nahm ihren Arm und wollte sie wegführen. Aber sie wehrte sich. In diesem Augenblick kamen zwei Männer mit einer Tragbahre. Ein blutender Mann lag darauf. »Wo ist Mrs. Beaton?« fragte Gordon. Der eine Träger deutete mit dem Daumen auf das brennende Haus. »Sie war nicht mehr zu retten. Der Kerl hatte ihr die Pistole abgenommen und hat sie kaltblütig erschossen. Wir sind zu spät gekommen.« »Randolph…?« Camilla hatte den Mann auf der Trage erkannt und wollte sich über ihn beugen. Er stieß sie zurück.
»Geh weg, geh weg, du Hure! Mir hast du schön getan und mit diesem Burschen hast du unter einer Decke gesteckt. Du hast ihm alles verraten.« »Was soll ich verraten haben?« »Daß die Uhr mir gehörte.« Er bäumte sich auf. »Bringen Sie ihn doch endlich in ein Krankenhaus«, bat Gordon die Männer. »Er ist verletzt.« Plötzlich sprang Randolph von der Trage. Es ging so blitzschnell, daß er sich auf Camilla stürzen konnte, ehe jemand eingriff. »Ich weiß, daß es mit mir zu Ende geht«, kreischte er. »Sie hat zuerst geschossen. Es war alles nur ein schmutziger Trick. Im Keller gibt es gar keinen Eisschrank. Ihr habt mir mein Geld gestohlen, das Geld, für das ich sogar meinen besten Freund geopfert habe.« Gordon und die Sanitäter zerrten den wütenden Mann beiseite. Camilla ließ sich erschöpft ins Gras fallen. Gordon beugte sich über sie und strich ihr immer wieder sinnlos über das Gesicht. »Nicht weinen, Kleines, nicht weinen.« Als sich Camilla endlich beruhigt hatte, waren die Sanitäter mit der Trage und Randolph längst verschwunden. Dafür stand Marion neben ihr. »Weiß sie es?« fragte sie flüsternd Gordon. »Sagt mir endlich, was passiert ist!« schrie Camilla unbeherrscht. »Wie kam Randolph hierher? Was hat er von einem Kühlschrank geredet? Wo ist Mrs. Beaton?« Marion nahm Camillas einen Arm, Gordon den anderen. Sie führten sie ins Haus, ohne auf ihren Widerstand zu achten. Erst als Camilla endlich auf der Couch lag, wischte Gordon sein Gesicht mit einem Küchentuch ab, das Marion gebracht hatte.
»Ich glaube, Mrs. Beaton ist tot.« Er setzte sich neben Camilla und drückte sie in die Kissen. »Die Geschichte mit dem Eisschrank war eine Lüge, die wir uns heute nachmittag zusammen ausgedacht haben. Randolph Lynch sollte denken, daß dort die Beute aus dem Überfall versteckt ist.« »Aber er war doch…« »Er war schneller, als wir vermutet haben. Mrs. Beaton und ich habe angenommen, daß er keinesfalls vor Dunkelheit auftaucht. Dann sollte ihn die Polizei erwarten.« »Wer hat das Haus angezündet? Es war doch kein zufälliger Brand? Oder doch?« »Randolph muß zum Äußersten entschlossen gewesen sein. Wahrscheinlich wollte er Mrs. Beaton ablenken und in dieser Zeit im Keller nach den verschwundenen Millionen suchen. Nur hatte er nicht damit gerechnet, daß sie auf ihn gewartet hat. Leider war die Polizei noch nicht da. Ich wollte verhindern, daß Mrs. Beaton Selbstjustiz verübt und ihr den Revolver abnehmen. Sie hat sich gewehrt wie eine Wilde, und ich mußte gleichzeitig gegen sie und Lynch kämpfen. Als ich ging, lag er kampfunfähig am Boden.« »Aber er hatte die Waffe erwischt«, ergänzte Marion. »Die Beamten haben noch gesehen, daß er auf sie geschossen hat.« »Daran bin ich schuld«, stöhnte Gordon. »Wieso?« Camilla nahm seine Hand und legte ihr Gesicht hinein. »Du kannst doch nichts dafür. Du wolltest ja nur helfen.« »Ich hätte an die Waffe denken müssen. Aber ich dachte wirklich, Lynch kann sich nicht mehr rühren.« »Quäle dich doch nicht«, bat Camilla besorgt. »Ich begreife nur noch nicht, wann du alles mit Mrs. Beaton verabredet hast. Kennst du sie wirklich von früher?«
»Nein, das war eine Lüge. Genau wie die Geschichte von dem Eisschrank und dem Verkauf des Hauses. Aber wir wollten doch den Verbrecher nicht im ganzen Haus herumsuchen lassen, sondern ihn zu einem bestimmten Platz locken. Der Eisschrank war eine Falle.« »In die er ja dann auch prompt getappt ist«, sagte Marion befriedigt. »Es war zu früh«, Gordon war aufgestanden und ging erregt im Zimmer hin und her. »Ich hätte natürlich nicht gleich etwas sagen dürfen. Nur schien die Gelegenheit so günstig zu sein. Mrs. Beaton hatte mir außerdem fest versprochen, daß sie sich nicht einmischt und alles der Polizei überläßt.« »Ich habe noch ein paar Worte mit ihr sprechen können.« Marion faltete die Hände wie zum Gebet. »Sie wußte, daß ich Camillas Freundin bin. Sie läßt euch grüßen, euch beide. Ich glaube, ich habe noch nie ein so zufriedenes Gesicht gesehen wie ihres, ehe sie gestorben ist.« »Sie hat mir einmal gesagt, sie wollte nur den Tod ihres Sohns rächen und dann ihrem Leben selbst ein Ende setzen«, ergänzte Camilla. »Gordon, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Was hatte sie denn noch zu erwarten? Sie hätte es nie überwunden, daß ihr geliebter Tim ein Verbrecher war.« »Trotzdem könnte sie noch leben, wenn ich nicht versagt hätte.« »Alle haben sie für verrückt gehalten. Ich zeitweise auch. Warum bist du nur zu ihr gegangen? Sie hätte dich auch erschießen können. Sie war so mißtrauisch.« »Ich habe es für dich getan, Millie.« Marion ging leise aus dem Zimmer. »Meinetwegen?« fragte Camilla. »Nachdem ich dich damals so gekränkt hatte? Kannst du mir das jemals verzeihen?«
»Es ist ja schon vergessen. Am Rande der Verzweiflung kann man nicht mehr klar denken. Und du warst völlig kaputt.« Camilla sah auf den Brillantring an ihrem Finger. Dann streifte sie ihn entschlossen ab. »Was wird nun geschehen?« fragte sie. »Muß der alte Mister Lynch alles erfahren?« »Das werden wir sehen. Ohne Strafe kommt der junge Lynch sicher nicht davon. Es könnte aber auch sein, daß die Sache schon erledigt ist.« »Du meinst… er könnte sterben?« »Liebst du ihn?« »Nein. Er schien ein netter, zuverlässiger Freund zu sein. Dann bin ich allmählich dahintergekommen, daß er ein Prahlhans war. Ich hätte ihn nie geheiratet. Ich habe mich nur mit ihm verlobt, weil ich Angst vor ihm hatte.« »Ein sonderbarer Grund. Schade, daß du vor mir keine Angst hast, möchte ich da fast sagen.« Camilla sah auf den Ring, der auf dem Tisch lag. Es war sehr still im Zimmer. Von draußen, von der Straße oder dem angrenzenden Grundstück her hörte man laute Rufe, Motorengeräusche und ein unklares Zischen. Es waren laute aus einer anderen Welt. »Wäre ich nur nie hierhergekommen«, sagte Camilla, als das Schweigen drückend wurde. »Warum kommst du nicht nach Plymouth zurück?« »Das würde zu viele Erinnerungen wecken.« »Wie stellst du dir dein Leben vor? Erst kannst du einmal verreisen. Aber irgendwann mußt du dich entscheiden, wie du nun leben willst.« »Vielleicht…« Sie sah wieder den Ring an. »Kannst du dir denn nicht mehr vorstellen, daß wir beide uns ein neues Leben aufbauen?« fragte Gordon gepreßt.
»Du und ich? Nach allem, was ich dir angetan habe?« »Ach, du dummes Kind. Das ist doch längst vorbei. Ich wünsche mir nur noch, daß du glücklich wirst. Mit mir – oder ohne mich. Aber es wäre mir tausendmal lieber, wenn du das Kapitel Farlington endgültig aus deinem Leben streichen könntest.« »Ich habe dich so lieb«, flüsterte Camilla. »Deswegen war ich auch so verletzt, als ich denken mußte, daß du…« Er preßte die Hand auf ihren Mund. Dann nahm er die Hand weg, beugte sich tief über sie. Seine Lippen suchten ihre. Die Welt versank, die Sorgen hatten keinen Zutritt mehr. Camilla schlang ihre Arme um den Nacken des geliebten Mannes. »Du… du…« Ein schrilles Klingeln unterbrach sie. Camilla richtete sich erschrocken auf. Gordon strich sein Haar glatt. »Entschuldigt«, sagte Marion, die sogar angeklopft hatte, ehe sie ins Zimmer kam. »Da ist ein Herr von der Polizei. Er wollte euch unbedingt sprechen.« »Ich habe da noch einige Fragen«, sagte er und schlug ein Notizbuch auf. »Sie haben den Brand entdeckt, Mister Thomson?« »Nein. Aber ich war als erster drüben im Haus und habe Mrs. Beaton und Mister Lynch in einem Handgemenge gefunden.« »Mrs. Beaton hatte uns davon verständigt, daß sie heute oder in unmittelbarer Zukunft einen Einbruch in ihr Haus erwartete. Wie konnte sie das wissen?« Gordon sah Camilla an. Er las eine Bitte in ihren Augen. »Fragen Sie doch besser Mister Lynch. Er wird erklären müssen, was er im Keller eines fremden Hauses gesucht hat.«
»Er ist tot.« »Tja, ich weiß auch nicht, was Mrs. Beaton gemeint haben kann. Bei ihr war ja schon einmal eingebrochen worden.« »Man könnte fast glauben, sie sei reich gewesen. Dabei hat sie in relativ bescheidenen Verhältnissen gelebt.« »Dann werden wir wohl nie erfahren, was da drüben geschehen ist. Entschuldigen Sie, müssen Sie Ihre Fragen unbedingt jetzt stellen? Meine Braut hat einen schweren Schock. Sie war sowohl mit Mrs. Beaton wie mit Mister Lynch befreundet.« »Vermutlich werden wir nie erfahren, was geschehen ist«, resignierte der Beamte. »In dem Haus da drüben hat es schon einmal einen ungeklärten Todesfall gegeben.« Er stand auf und verbeugte sich vor Camilla. »Wir melden uns gegebenenfalls noch einmal, aber es wird wohl kaum noch Fragen an Sie geben.« Marion brachte den Beamten hinaus. »Danke«, Camilla legte ihre Hand auf Gordons Arm. »Randolph hat es sicher nicht verdient, daß wir ihn schützen. Es tut mir nur um seinen Vater leid.« »Wußte er etwas von eurer Verlobung?« »Kaum. Und wenn es doch so wäre…« »Mußt du ihm nicht mehr begegnen«, unterbrach Gordon. »Komm mit nach Plymouth zurück. Ich werde dafür sorgen, daß du das alles hier vergißt.« »Fahren wir gleich?« Er lachte. »Fühlst du dich wirklich frisch genug für eine lange Fahrt? Sollten wir nicht wenigstens erst den Kaffee trinken, den Marion schon vor einer Stunde kochen wollte?«
»Und du müßtest dich erst waschen und umziehen«, neckte ihn Camilla. »Du siehst aus wie ein Straßenräuber. Vor dir muß man sich ja fürchten.« »Fürchtest du dich?« Er preßte sie so fest an sich, daß sie kaum atmen konnte. »Ich liebe dich«, flüsterte ihm Camilla ins Ohr, als sie endlich wieder Luft bekam. »Und ich danke dir für alles.«
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In der Küche klapperte Marion übertrieben laut mit dem Geschirr. Die beiden im Wohnzimmer brauchten ja nicht zu ahnen, daß sie eine Weile an der Tür gelauscht hatte. »Das hätte Camilla ja nun wirklich einfacher haben können«, vertraute sie Nappy an, der sich zufrieden mit einer großen Wurstscheibe beschäftigte. »Aber doppelt genäht hält besser. Diesmal wissen sie bestimmt genau, daß sie zusammengehören.«