Inferno Band 1 Die Erde frißt sie alle Er wußte, daß die Städte entlang dem Andreas-Graben sterben würden. Irgendwann, ...
16 downloads
280 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Inferno Band 1 Die Erde frißt sie alle Er wußte, daß die Städte entlang dem Andreas-Graben sterben würden. Irgendwann, wenn die Spannungen zu groß wurden und wenn die Erde aufriß. Als Erdbebenwissenschaftler wußte Cliff Brett, daß die Katastrophe jederzeit eintreten konnte. Und darum fuhr er zusammen, als der Alarm kam. Er eilte hinab zu seinem Kollegen Hopkins im Seismo-Raum. Dreizehn Meter tief im gewachsenen Fels. Der tiefste Punkt des Institutes für geologische Strukturverschiebungen in Monterey am Pazifik. Im Nebenraum war Hopkins’ Assistent Allan Doe aufgesprungen und schaute entsetzt herüber. Nur eine dicke Glasscheibe trennte sie. Mit angehaltenem Atem starrten Cliff Brett und Hopkins den Seismographen an. »Mein Gott…!« stieß Brett aus, als der schwingende Arm die Position 6 überschritt. Ein schweres Erdbeben im Andreas-Graben! Irgendwo in dem langgestreckten Schlauch, nur wenige Kilometer von der Pazifikküste entfernt. »Stärke sieben − acht! Hopkins! Großer Himmel, was tut sich da?« Der schreibende Pendel des Seismographen flog ununterbrochen hin und her, aber er überschritt jetzt nicht mehr Stärke sechs. Er blieb darunter, und dann… dann war alles so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. »Ein Beben von nur einundzwanzig Sekunden«, versuchte Hopkins den Vorfall herunterzuspielen. »Von unendlichen langen und schrecklichen einundzwanzig Sekunden. Hoffentlich nicht in bewohnter Gegend.« Cliff Brett hielt schon den Hörer in der Hand und verlangte die Erdbebenwarte in San Francisco. »Die Bebenauswertung!« präzisierte er. Er dachte sofort an Monique, die Stadt von knapp 10 000 Einwohnern vor der Santa Lucia Range, an deren oberem Rand er
und siebzehn andere Familien ihre Bungalows errichtet hatten und hoch über der Stadt wohnten. Wenn Monique von diesem Beben getroffen worden war, dann… Er wagte kaum weiterzudenken. Da war der verdammte Staudamm im Patton-Tal. Diese Talsperre, die allen Warnungen verantwortlicher Geologen zum Trotz gebaut worden war. Die Namen Frejus und Longarone schossen ihm durch den Kopf. Stätte unbeschreiblicher Katastrophen. Orte, unter den Wassermassen entfesselter Stauseen begraben, deren Dämme gebrochen waren. Herrgott, warum bekam er keine Verbindung mit der Bebenauswertung? Was war mit Fancy geschehen, die um diese Zeit meistens schon das Abendessen vorbereitete? »Hier Bebenauswertung…«, klang es durch den Draht. Er meldete sich. Der Kollege am anderen Ende der Leitung war ihm unbekannt, aber das spielte jetzt keine Rolle. »Ja, wir haben auch von zwei weiteren Stationen Positionsangaben vorliegen. Ich sage sie Ihnen durch. Haben Sie Ihren Adapter eingeschaltet?« Cliff hatte, und der Adapter übertrug jedes Wort auf ein Band. Bert Hopkins winkte seinen Assistenten Allan Doe herbei. Ihn hatte Bretts Nervosität angesteckt. Zu dritt werteten sie die hereingegebenen Daten aus. Zu dritt versuchten sie den Ort des Bebens zu lokalisieren. Allan Doe schob Cliff die Karte zu, und hantierte hastig mit Winkelmesser und Dreiecken. »Hier… hier hat es stattgefunden! Am Ende dieser verdammten pazifischen Schollenzunge. Das Ding hat uns schon genug Kummer gemacht…« Das Schrillen des Telefons unterbrach ihn. Er hob ab. Die Stadtverwaltung von Monterey war in der Leitung. Deren Katastrophenstelle. Sie wollte wissen, wo im Andreas-Graben das Beben stattgefunden hatte. »Woher wissen Sie davon?« fragte Brett besorgt. »Das Fernsprechamt hat uns benachrichtigt. Im Graben ist wieder ein Kabel zu Bruch gegangen.« Der Mann schwätzte ihm zu viel. »Rufen Sie das Institut in einer Stunde wieder an«, sagte Cliff. »Ich fliege sofort mit unserem Helikopter los und schaue mich um.«
»Dann ist ja doch etwas passiert j…« »Himmel noch mal, ja, aber kein Mensch weiß, was. Darum fliege ich jetzt los. Ende!« Cliff knallte den Hörer auf die Gabel und verließ eilig den Seismo-Raum. Entgeistert sah Allan Doe ihm nach. »Hat der ein Tempo drauf.« Hopkins nickte. »Haben Sie Brett beobachtet und gesehen, welch ein Stein ihm vom Herzen fiel, als sich herausstellte, daß das Beben nicht im Patton-Tal gelegen hat?« »Wohnt er da nicht, Bert?« »Ja, in Monique. Ganz oben auf einer etwas höher liegenden Plattform. Da gibt’s eine kleine Kolonie aus fünfzehn oder achtzehn Häusern. Ein Verein für sich. Ich war mal da.« * Cliff Brett glaubte, der Lift würde schleichen. Dabei hatte er Glück gehabt und ihn sofort zur Seismo-Abteilung herunterrufen können. Jetzt stoppte er, die Tür öffnete sich. Die beiden letzten Stockwerke bis zum Flachdach, das als Hubschrauberlandeplatz diente, legte er notgedrungen über die Treppe zurück. Die Baupolizei hatte wegen der Erdbebengefahr nicht erlaubt, den Lift bis zum Dach auszubauen. Aber daß man im Patton-Tal den verdammten Staudamm errichten konnte, das ließ man zu, dachte er, während er immer zwei Stufen auf einmal nahm, die Tür aufstieß und dann Grant in der Plastikglas-Kanzel des Hubschraubers hinter dem Steuer sitzen sah. Grant startete die Motoren, während Cliff einstieg. »AndreasGraben, El Drisco… Kennen Sie das Nest?« Grant warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Welches Nest im Graben kenne ich nicht, Mr. Brett?« Der Hubschrauber hob ab, stieg steil in die Höhe, ließ das Häusermeer von Monterey unter und die Pazifikküste hinter sich. Grant hatte seinen Knattervogel auf Kurs genommen und flog den Andreas-Graben entlang, diese Nahtstelle zweier kontinentgroßer Schollen, die auf dem glutflüssigen Magma der Erde schwammen und sich im Graben berührten. Diese Berührungskontakte hatten schon das schwere Erdbeben von Frisco 1906 ausgelöst. Regen klatschte plötzlich gegen die Kanzel. Die Santa Lucia
Range verschwand, auch der Salinas River. »Ein beschissener Sommer«, rief Grant dem Seismologen zu. Er flog gern mit Cliff. Seiner Meinung nach war der der einzige normale Eierkopf im Institut. Alle anderen hatten einen mehr oder weniger prächtigen Tick. Er folgte der Straße, die sich wie ein Bandwurm durch den Graben zog. Die vielen kleinen und größeren Ortschaften übersprang er. »Wir müssen gleich da…« Das letzte Wort kam nicht mehr. Unter ihnen gab es den ersten, quer durch das Tal laufenden Erdriß, der die Straße unpassierbar gemacht hatte. Dicht dahinter lag die Zweibogenbrücke im Bach. Ein Verrückter schien alle Masten zu beiden Seiten der Straße niedergemäht zu haben. Teilweise geknickt, lagen sie kreuz und quer über der Straße. Dazwischen entdeckten sie einen zerbeulten Personenwagen. »Sieht nicht gut aus«, nörgelte Grant düster. »Aber gut, daß es regnet.« Cliff Brett deutete nach links. Da lagen Häuser in Trümmer, und aus diesen Trümmern stiegen dicke, schwarze Rauchwolken. »Der Regen wird die Brände löschen.« Grant begann zu kreisen. El Drisco war nur noch ein Trümmerhaufen! Verzweifelte Menschen, die auf den verqualmten Straßen standen, winkten zu ihnen empor. Cliff Brett schaltete die MammutLautsprecheranlage des Helikopters ein. Er drückte den Kontakt am Stielmikrophon. »Wir fordern sofort über Funk Hilfe an. In spätestens 30 Minuten sind die Rettungshubschrauber hier.« Grant hatte die Frau mit den beiden kleinen Kindern auf dem Arm gesehen. Er machte Brett darauf aufmerksam. »Ihr Gesicht ist blutverschmiert. Auch die Kinder scheinen verletzt zu sein, Mr. Brett.« »Runter mit dem Vogel. Wir nehmen sie mit.« Hatte die Frau begriffen, was über ihr in der durchsichtigen Kanzel entschieden worden war? Sie blieb stehen, preßte ihre kleinen Kinder an sich und blickte herauf, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Zwischen Schutthaufen landete Grant seinen Vogel. Cliff Brett stürzte ins Freie, ließ sich von den peitschenden Böen der rotierenden Blätter nicht aufhalten, rannte auf die Frau zu und rief: »Die Kinder! Geben Sie mir erst mal die Kinder…!« Was war mit ihr los? Das Blut auf ihrem Gesicht ließ ihn kaum
etwas erkennen. Dann erst sah er, daß sie keine Augen mehr besaß. Sie war blind. Sie hatte sich nur nach den Geräuschen gerichtet. Und ihre beiden Kinder, die sie an sich gepreßt hielt, sie waren tot! Cliff Brett griff zu spät nach ihr. Der ununterbrochene Peitschenschlag der Rotoren ließ ihn den Aufschrei der blinden Frau nicht hören. Tot brach sie mit ihren toten Kindern im Arm vor ihm nieder. Die Erschütterung wühlte noch in ihm, als er sich angestoßen fühlte. Ein halbwüchsiger Junge stand hinter ihm, das nackte Entsetzen in seinem Gesicht, und an jeder Hand ein blutendes, wimmerndes Kind in zerfetzten Kleidern. »Die Mädchen von unserem Nachbarn… alle anderen tot… alle sind tot…« Cliff brachte sie zum Hubschrauber. Während Grant startete, griff Cliff zum großen Verbandskasten und begann, die Wunden der weinenden Mädchen zu verbinden. »Mr. Brett, ich habe Hilfe angefordert«, rief Grant ihm zu. Er nickte nur. Der Junge starrte blicklos zu Boden und murmelte ununterbrochen: »Alle sind tot! Alle tot…« Das vollkommen verwüstete El Drisco blieb hinter ihnen zurück. Sie hatten ein Drittel der Strecke hinter sich gebracht, als ihnen die alarmierten Rettungshubschrauber entgegenkamen. * Fancy Brett hob den Kopf und lauschte, als sie glaubte, den Wagen ihres Mannes kommen zu hören. Schnell warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Um diese Zeit kam Cliff doch sonst nie aus Monterey! Das Institut schloß erst eine Stunde später. Und von Monterey hatte er noch gut und gern dreißig Minuten zu fahren, wenn ihm die Rushhour keinen Streich spielte und ihn festhielt. Aber da bog schon sein Ford um die letzte Kurve und kam langsam heran. Als er ausstieg und sie einen Blick in sein Gesicht geworfen hatte, wußte sie, daß er mit einer bösen Nachricht kam. »Hallo, Honey!« begrüßte Cliff seine Frau, aber es klang nicht
übermäßig begeistert. »Cliff!« In ihrer Antwort lag alles drin, Begrüßung, Erwartung und auch die Frage »Na, was gibt’s denn, mein Lieber?«. Cliff Brett sah mit seinen neunundzwanzig Jahren gut aus. Zu gut, meinte Fancy manchmal, aber weil er früher auch schon dieses Etwas ausgestrahlt hatte, darum war sie auf ihn aufmerksam geworden. Seine dunklen Augen paßten zu seinem dunklen, etwas krausen Haar. Sein Teint war von Natur aus leicht gebräunt. Darum trug er gern beigefarbene Anzüge mit knalligen Krawatten. Er wußte genau, wie er auf Frauen wirkte, und zu ihrem stillen Leidwesen wußte Fancy, daß ihr Mann in diesem Punkt noch nie ein Spielverderber gewesen war. An Cliff Brett war ein erstklassiger Steinbrucharbeiter verloren gegangen. Ohne jede Einleitung, ohne die kleinste Vorbereitung sagte er: »Fancy, ich habe unseren Bungalow verkauft!« Als er auch noch den Umschlag aus dickem, braunem Papier aus der Jackettasche zog und ihn ihr in den Schoß warf, wußte sie, was darin steckte: der Verkaufsvertrag. Ihre kleine Stadt Monique und die Mini-Siedlung darüber aus achtzehn Bungalows. Mehr Häuser würde es hier die nächsten zehn bis zwanzig Jahre nicht mehr geben, es sei denn, Mr. Jack C. Bunthley, dem alles Land auf dem Plateau gehörte, starb wider Erwarten. Er hatte geschworen, hier keinen Quadratfuß zu verkaufen. Am liebsten hätte er verhindert, daß über Monique überhaupt gebaut wurde, aber leider hatten ihm diese achtzehn Parzellen nicht gehört. Cliff steckte sich eine Zigarette an, und Fancy verzweifelte immer mehr. Wenn doch nicht dieser unbeugsame Trotz in Cliffs Augen gewesen wäre. Ein bitterböser Trotz. »Cliff, warum… warum hast du denn verkauft? Verkauft…? Mein Gott, sag mal, hast du heute morgen schon vorgehabt zu verkaufen?« Ihr schlankes, etwas engelhaft wirkendes Gesicht hatte sich erstaunlich verändert. Cliff warf die Zigarette fort zwischen ihre Hyazinthen. Der weiße Qualm stieg in den windstillen Nachmittag. »El Drisco ist heute zerstört worden, eine kleine, ärmliche Siedlung im Graben. Über hundert Tote. Ich war dort. Danach habe ich in Monterey unseren Bungalow verkauft. An einen Mr. Dorwyler und Familie. Ich habe ihm nicht gesagt, daß auch Monique zum Erdbebengebiet gehört«, sagte Cliff und starrte in den Gar-
ten. »Nein!« stieß sie aus. »Doch!« widersprach er fest. »Von Rechts wegen habe ich Dorwyler betrogen, weil ich ihm verschwieg, daß das gesamte Patton-Tal bis hinter den Stausee auf einer Zunge liegt, die zur kontinentalen Pazifikplatte gehört. Heute oder morgen kommt es hier zur Katastrophe, Honey, und wenn dazu auch noch der Damm des Stausees bricht, dann ist es für uns alle hier aus.« »Das sagst du nur, um mir den Abschied von unserem Haus leichter zu machen. Wie konntest du überhaupt so schnell verkaufen, und ohne daß er das Haus besichtigte?« »Wenn’s ihm nicht gefällt, kann er zurücktreten. Wir nicht. Und wie ich auf ihn gekommen bin? Aus der Zeitung. Ich fand darin seine Suchanzeige. Ich rief ihn an, wir trafen uns, wir wurden uns über den Preis einig, und wir gingen zum Notar.« Sie begriff das alles nicht. Wieso konnte ein kleines Beben, wie es im Graben fast jeden Tag vorkam, ihn zu solch einer Handlung verleiten? Sie fragte ihn in scharfem Ton. Er blieb ruhig. »Warum hier auch nicht das leiseste Beben zu spüren ist, liegt nur zum Teil an den Erdschichten unter uns. Sie sind anders zusammengesetzt wie im Andreas-Graben. Trotzdem gehören wir zu ihm. Monique liegt am Ende eines unterirdischen ErdbebenFjordes. Alles, was wir ringsum sehen, ist nicht mehr erdbebengefährdet. Aber wir. Wir liegen mittendrin. Wir liegen auf Erdschichten, die sich nach oben hin immer mehr wölben und bald die Position erreicht haben, in der sie brechen müssen. Müssen! habe ich gesagt, Fancy. Und diese Spannung, die sich im Laufe der Jahre, seit dem großen Beben in Frisco, immer mehr vergrößerte, verhindert, daß wir hier was spüren.« Sie wollte nicht glauben, was er ihr erzählte. Sie versuchte, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. »Hast du mir nicht immer weisgemacht, geologische Veränderungen in der Erde benötigten Jahrhunderte, meistens Jahrtausende? Hier soll das alles noch keine sieben Jahrzehnte seit dem Beben von Frisco gebraucht haben?« Er durchschaute sie und verstand sie. Er war ihr über den Versuch, ihn mit seinen Waffen zu schlagen, nicht einmal böse. »Honey, in San Francisco bebte 1906 die Erde und zerstörte über 25
000 Häuser. Hier, in diesem Tal, riß die Erde nicht auf. Aber die Erdschichten in den Tiefen wurden durch das Frisco-Beben unwahrscheinlich gespannt. Damit wurde innerhalb weniger Minuten das erreicht, wozu sonst die geologische Entwicklung Jahrhunderte benötigt hätte.« Auf einmal hatte er den Eindruck, daß sie ihm gar nicht zugehört hatte. Abrupt erhob sie sich und zeigte nun erst, als sie stand, welch eine klassische Figur sie besaß. Daß ihr Busen etwas zu üppig war, tat ihrem faszinierenden Aussehen keinen Abbruch. »Wann haben wir das Haus zu räumen, Cliff?« Sie war ihm böse, und ihre Augen zeigten es deutlich. »Bis zum Herbst. Bis zum Einbruch des Winters. So genau haben Dorwyler und ich uns nicht festgelegt. Er will erst noch sein Haus in Monterey verkaufen. Er muß es verkaufen. Denn um das hier bezahlen zu können, hat er einen Bankkredit aufnehmen müssen.« »Wo wohnt Dorwyler?« fragte sie völlig desinteressiert. Er lachte nach kurzem Überlegen verärgert auf. »Honey, seine Adresse steht im Kaufvertrag.« Er wohnte Hudson Street 253. * In der Nacht schlief Fancy schlecht. Sie konnte und wollte nicht wahrhaben, daß Cliff ihr Haus verkauft hatte, bloß weil im Graben wieder die Erde gebebt hatte. Von dem kurzen und heftigen Erdstoß, der in dieser Nacht die Häuser von Monterey schüttelte, an drei Stellen Straßen aufriß und acht Hauptwasserleitungen zerstörte, bemerkte sie in Monique nichts. Am anderen Morgen erfuhr Fancy erst durch einen Anruf ihrer Freundin Ellen Banks davon. »Hier war nichts, Ellen.« »Ja«, kam es seufzend durch den Draht, »wie ich dich und Cliff in eurem Monique beneide. Fancy, ich belüge Frank immer wieder, wenn ich ihm auf seine besorgten Fragen sage, daß mir diese kleinen Beben gar nichts mehr ausmachen würden. Du, am liebsten würde ich auf der Stelle davonlaufen.« Fancy unterbrach ihre Freundin. »Cliff hat gestern unser Haus verkauft. Bis Ende des Jahres müssen wir ausgezogen sein und
wir…« Schluchzen. Ellen Banks war ratlos, weil sie nicht wußte, wie sie ihre Freundin trösten sollte. Sie begriff Cliff Brett nicht, der den Bungalow verkauft hatte. * Cliff Brett stand in seinem Büro vor der Karte, die die geologische Struktur des Andreas-Grabens wiedergab, und brachte sie auf den neuesten Stand. Deutlich zeichneten sich darauf die Stoßstellen der beiden großen Schollen ab, die bei ihrem ununterbrochenen Auf- und Abschwingen gewaltige Energien im Erdinnern frei werden ließen. Eine Zahl auf der Karte sprach eine grausam deutliche Sprache. Der Boden im Bereich von Monique hatte sich seit der letzten Messung um 5,31 Zentimeter gehoben. Die letzte Messung war vor siebzehn Tagen erfolgt. Was mochte sich jetzt, zwanzig Kilometer unter Monique, in der Erdrinde abspielen? Was erst würde geschehen, wenn an dieser Stelle des Spannungsbogens in zwanzig Kilometer Tiefe die Pazifikzunge auseinanderbrach? Brett wurde gestört. June Craddock, eine aufreizend hübsche Kollegin, die für ihr Leben gern Super-Mini-Röcke trug, stellte sich neben ihn. »Lassen Sie sich nicht stören, Cliff. Machen Sie erst Ihre Arbeit. Ich habe Zeit.« Zur selben Zeit sagte Mark Kelly zu seinen beiden Kindern: »Heute abend, wenn das Wetter sich nicht verschlechtert, zeigen Mutter und ich euch die leuchtenden Fischschwärme in der kleinen Bucht. Was sagt das Radio?« »Das ist kaputt«, erwiderte der sechzehnjährige Bob. »Mary hat den Transistor fallen lassen.« Mark Kelly regte sich deswegen nicht auf. »Dann verbringen wir den Rest des Urlaubes ohne Radio und auch ohne Wetterberichte. Mutter und ich gehen noch ein Stündchen am Strand spazieren.« Damit verließen sie die Fischerhütte, die sie für ein paar Dollar hatten mieten können. Sie war primitiv eingerichtet, und sie lag dicht über der Hochflutgrenze, aber sie lag auch elf Kilometer vom nächsten Fischerdorf entfernt. Mark Kelly und seine Frau konnten sich an der sich brechenden Brandung nicht satt sehen und sich am Tosen und Brausen der
gischtenden Wasser nicht satt hören. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und sagte zufrieden: »Du, Mark, ich freue mich schon auf heute abend.« »Ich auch…«, erwiderte er, und sie wanderten weiter. Zu diesem Zeitpunkt hatte Cliff Brett die letzte Eintragung auf seiner Karte vorgenommen. »So, June, jetzt habe ich Zeit für Sie…« Die Alarmglocke schrillte. Der Alarm kam aus dem SeismoRaum. In Bretts Büro quäkte die Rufanlage. Professor Eric Sound, Chef des Institutes für geologische Strukturverschiebung, wollte ihn sprechen. »Brett, wir haben eben ein Seebeben von Stärke 8,3 bis 8,5 aufgezeichnet. Was das Böse daran ist, es liegt nur hundert Seemeilen von uns entfernt südwestlich im Pazifik. Alle Küstenwachstationen sind schon unterrichtet. Alle Schiffe in diesem Bereich werden gerade gewarnt. Unsere Aufzeichnungen lassen den Schluß zu, daß im Stoßbereich ein Stück von der Pazifikscholle abgebrochen ist und im Magma absinkt…. Äh, was ich noch sagen wollte, Brett, ich habe heute abend eine unaufschiebbare Verpflichtung. Könnten Sie mich hier vertreten, bis diese Seebebengeschichte abgelaufen ist?« Brett sagte sofort zu. Er bemerkte kaum, daß June Craddock gegangen war. Die Sprechverbindung mit dem Seismo-Raum im Felsen unter dem Institut stand ununterbrochen. Dem Seebeben folgten jetzt schwache Beben im Graben. Auf der Seenotwelle liefen die ersten alarmierenden Nachrichten ein. Die Funkverbindung zu vier kleinen Fischerbooten war mitten im Spruch abgerissen. Ein 15 000-Tonner kämpfte mit zertrümmertem Ruder gegen eine rasende See an und meldete, daß er von einer achtzehn Meter hohen Wellenfront überrannt worden war. Schwache Seebeben näherten sich der Küste. Je später der Abend wurde, um so zahlreicher schienen sie zu werden. An der gesamten Küstenfront von Piedras Biancas bis hinunter nach Luis Obispo war der Teufel los. * Nur die Familie Kelly ahnte nichts von dem heranbrausenden Unheil, bloß weil Tochter Mary das Transistor-Radio hatte fallen lassen, das seitdem defekt war.
Mark Kelly war mit Frau und den beiden Kindern zur kleinen Bucht unterwegs, um ihnen die leuchtenden Fischschwärme im ruhigen und klaren Wasser zu zeigen. Wie diese Leuchtfische hießen, wußte er auch nicht. Und er konnte sie ihnen zeigen. Zu viert knieten sie auf dem blankgeschliffenen, braunschwarzen Quader, der aus dem Strand herausragte und tief in die niedrige Bucht reichte. Sie sahen das schwache, irisierende Leuchten des Wassers am Ufer, aber dann sahen sie auch den leuchtenden Schwarm im Wasser. Bob begeisterte sich noch mehr als seine Schwester Mary dafür. Dann war die ganze Pracht urplötzlich verschwunden. Winzig kleine Wellen waren über die Wasserfläche der Bucht gelaufen. Mark Kelly zeigte auf den wieder sichtbaren leuchtenden Fischschwarm, der es auf einmal eilig hatte, das offene Wasser zu erreichen. Die Fische schienen geradezu von Panik befallen zu sein. »Du, Mark«, sagte seine Frau, »mir ist auf einmal so unheimlich.« Vater und Sohn lachten sie aus, aber als sie in der Ferne ein noch nie gehörtes Rauschen vernahmen, lachten sie nicht mehr. Unwillkürlich hielten sie den Atem an. Sie verstanden nicht, was dieses immer lauter werdende Rauschen zu bedeuten hatte, und sie konnten sich auch nicht erklären, was von der offenen See hereinkam. Sie hatten zur Zeit Ebbe − also ablaufendes Wasser. Da war das Rauschen schon zum brüllenden Toben geworden. Trotzdem war das entsetzliche Geschrei aufgescheuchter Vogelschwärme zu hören, die in der Dunkelheit aufgestiegen waren und nun buchstäblich hilflos in der Luft herumflogen. »Daddy, was ist das?« schrie Mary und klammerte sich an ihren Vater. An der anderen Seite hielt sich seine Frau an ihm fest. Sie fühlte, wie der Junge sich an sie klammerte. »Das ist Wasser… Wasser! Das Meer kommt… Das Meer!« schrie das Mädchen gellend auf und hatte in unerklärlicher Hellsichtigkeit erkannt, was vom Pazifik auf sie zukam. Das Wasser meldete sich mit einer grausam zuschlagenden Luftdruckwelle an. Sie wirbelte vier Menschen von einem glattgeschliffenen Stein in den Sand des Pazifikstrandes. Dann war diese unbeschreiblich grollende, aufbrüllende Wasserwand da. Sie nahm von vier Menschen, halb wahnsinnig vor Angst, keine Notiz, sie riß die alte Fischerhütte fort, lief weiter
den Strand hinauf, bis sie gegen die steil aufragende Felsküste anprallte und daran zerbrach. Aber das wahnwitzige Meer gab nicht auf. Eine Welle nach der anderen schickte es der ersten nach, und der Pazifik brüllte und raste und tobte, und in dem Orkan, den er dazu entfesselt hatte, stürzten angstvoll herumflatternde Vögel zu Tausenden kreischend in die brodelnde See. Die Wasser des Stillen Ozeans waren unersättlich. * Es war kurz vor Mitternacht, als Cliff Brett daran dachte, seiner Frau Bescheid zu sagen, warum er nicht nach Hause gekommen war. Die Verbindung mit Monique und seinem Anschluß erhielt er sofort. »Cliff, als ich in den Nachrichten vom Seebeben hörte, habe ich mir das schon zusammengereimt. Aber daß du mal wieder deinen Professor vertreten würdest… Cliff, Cliff, wann endlich durchschaust du diesen Schaumschläger, der es so gut versteht, immer andere für sich arbeiten zu lassen. Danke, daß du überhaupt an mich gedacht hast. Oder ist etwas mit unserer Stadt?« »Nein, mit Monique ist noch nichts, aber am Fuß der Range hat es gegen 23 Uhr ein schwaches Beben gegeben. Es macht mir mehr Sorgen, als du denkst.« Er sagte ihr nicht, daß er mit Fancy so schnell wie möglich ihr Haus in Monique verlassen wollte. Er sagte ihr auch nicht, daß sich in den letzten siebzehn Tagen der Boden, auf dem ihre Stadt stand, um 5,31 Zentimeter angehoben hatte. Er ahnte, daß er sie nicht überzeugen konnte, darum mußte ihm seine Kollegin Hilfestellung leisten, June Craddock. * Zwei Tage später brachte er sie mit. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, June«, sagte Fancy Brett und dachte, während sie den superkurzen Minirock musterte: Das Biest trägt gekonnt und weiß auch, daß es schöne Beine hat! Aber sie war und blieb neidlos, auch als June Craddock mit Engelszungen zu reden begann und die gefährliche Lage von Moni-
que darstellte. »Ist es nicht überall im Andreas-Graben gefährlich zu leben?« fragte sie, als June Craddock ihr Pulver verschossen hatte. »Aber vor Frühjahr müssen wir aus diesem Haus nicht raus. Mrs. Dorwyler wird Großmutter, und sie hat ihren Mann überzeugen können, daß es besser sei, bis zur Geburt des Enkels in Monterey wohnen zu bleiben.« Fancy war also bei Dorwylers gewesen. Cliff konnte es nicht mehr rückgängig machen. June Craddocks Einsatz war also ohne Resultat geblieben. Sie aß bei ihnen zu Abend, dann fuhr Cliff sie nach Monterey zurück. Auf halbem Weg nahmen sie einen Mann mit, dessen Wagen mit einem Defekt im Graben lag. Weder Brett noch seine Kollegin kannten den Makler James Hodow. Daß er ihr Fachgespräch, das sich um die gefährliche Situation von Monique drehte, mit Hilfe eines Recorders aufnahm, ahnten beide nicht. Vor der ersten Werkstatt in Monterey setzten sie ihren Anhalter ab. »Ein unsympathischer Knilch«, sagte June, als der Fremde außer Hörweite war. Cliff nickte, er mochte solche Typen auch nicht. Dabei hätte er nicht einmal sagen können, warum er diesen Mann nicht mochte. Vor ihrem Appartement hielt er an und lud sie aus. »Sie kommen ja doch nicht auf eine Tasse Kaffee zu mir hoch«, sagte sie. Er hätte jetzt ihre Einladung angenommen, aber da brachte es der Zufall mit sich, daß Powell vorbeikam und sie nicht nur grüßte, sondern auch June Craddock sofort in ein Gespräch verwickelte. Powell war als Quatschkopf im Institut bekannt. Darum trank Cliff Brett bei June keinen Kaffee. * Über Nacht war in der kleinen Bungalow-Siedlung oberhalb von Monique der Teufel los. Fancy Brett bekam es von der ewig keifenden, unausstehlichen Mrs. Harris aus erster Hand, aber weil sie allem Anschein nach ihren schlechten Tag hatte, bemerkte sie zuerst nicht, welches Spiel zwischen den Bungalows gespielt wurde. Cliff, gerade nach Hause gekommen und im Bad, um sich frisch
zu machen, hörte das Klingeln des Telefons nicht. Fancy nahm ab. Dann erstaunte es sie, was Mrs. Harris alles wußte. Sie war tatsächlich bestens informiert. »Ja, Mrs. Harris, das stimmt auch. Und wir haben schon verkauft und ziehen im Frühjahr fort, aber…« Sie verstummte, weil Mrs. Harris sie nicht weiterreden ließ. Dann bemerkte sie Cliff neben sich. Sie wollte ihn mithören lassen, als Mrs. Harris auflegte. Auffallend blaß sah Fancy ihren Mann an und erzählte dann, was Mrs. Harris ihr auf den Weg mitgegeben hatte. »Sie nannte es eine Gemeinheit, von uns nicht gewarnt worden zu sein, wie lebensgefährlich es sei, im Patton-Tal zu leben. Und daß sich innerhalb von siebzehn Tagen der Boden hier um 5,31 Zentimeter gehoben habe. Sie habe deine Stimme auf dem Band, das ihr ein Makler Hodow vorgespielt habe, einwandfrei wiedererkannt, und da drauf sei auch ein Frauenzimmer zu hören gewesen, das habe auch von geologischem Krimskrams gesprochen…« Cliff stöhnte und hielt sich den Kopf fest. Für ihn hatte sich das Rätsel gerade gelöst. Er hatte den Mann schon fast vergessen gehabt, der neben seinem defekten Wagen gestanden und von ihm und June Craddock nach Monterey mitgenommen worden war. »Und du hast dieser Hexe auch noch bestätigt, daß wir schon verkauft hätten? Ich bin gespannt, wer uns morgen hier noch grüßt. Dieser Makler macht hier mit der Angst seiner Mitmenschen ein Bombengeschäft.« Anderntags schon bekamen sie das Wirken des Maklers zu spüren. Man behandelte sie wie Aussätzige. Mrs. Angel von nebenan hatte wortlos aufgelegt, als Fancy sie zum Kaffee bat. Und Mrs. und Mr. Cirk waren grußlos an ihr vorbeigerauscht, aber Mrs. Cirk hatte gezischt: »Schlangenbrut!« In der Bungalow-Siedlung von Monique wollte kein Mensch mit ihnen noch etwas zu tun haben. Es war ein Wunder, daß die Masse der Menschen in der Stadt unten im Patton-Tal sich über die Tatsache, der Boden habe sich innerhalb weniger Tage um 5,31 Zentimeter gehoben, überhaupt keine Gedanken machten. Die von Cliff und Fancy Brett befürchtete Massenflucht blieb aus. Nur in ihrer Siedlung oben begann der hektische Ausverkauf! *
June Craddock schaffte es, ihren Kollegen Cliff sprachlos zu machen. Nachdem der sich von seinem Schock erholt hatte, sagte er mit unbeschreiblicher Offenheit: »June, Sie haben einen Vogel!« »Nein«, widersprach sie, »hab’ ich nicht!« Sie saß ihm gegenüber und zeigte viel Bein. »Ich habe den Bungalow neben dem schrulligen Doc gekauft… von dieser Miß Plose. Ich habe ihr tausend mehr gezahlt, als ihr der Makler geben wollte. Mit allen Möbeln. Zum Wochenende ziehe ich ein. Die paar Sachen aus meinem Appartement krieg’ ich allein rübergeschafft!« Sie ging, er sah ihr kopfschüttelnd nach. »Verrückt!« sagte er, aber sein Geld war es ja nicht. Doch die Vorstellung, daß June nun zu ihren Nachbarn zählte, war gut. Nur Fancys Reaktion hatte er sich doch etwas anders vorgestellt. Ihre Gesichtszüge froren über seiner Nachricht ein. Und dann ihre Bemerkung: »June hat gekauft, die mir ausreden sollte, hier noch einen Tag länger zu bleiben? Interessant.« Daß sie ihn nicht direkt fragte, ob er etwas mit ihr hätte, enttäuschte ihn. Verärgert setzte er sich ins andere Zimmer, nahm sich nach langer Zeit mal wieder die Whiskyflasche vor und vergaß darüber den Ärger mit seiner eifersüchtigen Frau. Daß inzwischen schon der elfte hier an den Makler verkauft hatte, war ihm egal. Aber daß dieses giftige Ehepaar Harris noch nicht das Weite gesucht hatte, wunderte ihn doch. Er hatte ihnen als ersten die Flucht aus dem Patton-Tal zugetraut. Cliff Brett soff sich an diesem Abend einen prachtvollen Affen an. * Am 13. November fuhr Cliff nicht ins Institut. Er blieb zu Hause und wartete auf drei Trupps, die heute unter seiner Leitung im Patton-Tal bis hinauf zum Staudamm zu tun hatten. Gegen neun stoppten sechs Kombiwagen, und an der Brücke über den Patton-Creek standen auf Tiefladern drei Spezialbagger, die sonst nur bei der Telefon-Gesellschaft eingesetzt waren, um Gräben für die Leitungen auszuwerfen. Cliff Brett verließ sein Haus und stieg zu Harry Essex, dem Kol-
legen, der den ersten Trupp leitete, in den Kombi. »Der Fertigbeton mit dem Schnellbinder ist schon unterwegs, Cliff. Wir müssen Dampf ablassen.« »Lassen wir ab, denn ich möchte auch endlich wissen, wo dran wir hier sind.« Cliff sah nicht mehr den alten Doc Tarr vor seiner Haustür stehen und am Klingelzug ziehen. »Fein, Doc, Sie so früh schon zu sehen«, empfing ihn Fancy freudestrahlend. Der gute Doc Tarr war in den beiden letzten Jahren, nach dem Tode seiner Frau, etwas schrullig geworden, aber mit seinem siebzigsten Lebensjahr wollte er trotzdem noch nicht zum alten Eisen zählen. Er drehte in seinem Swimmingpool jeden Tag seine dreißig Runden. Nur Witze konnte er nicht erzählen, ihre Pointen gab er stets zu früh preis. Dafür machte er aus dem Mundstück jeder Zigarre einen prachtvollen Rasierpinsel, und wo er saß oder stand, überall lagen diese breitgekauten Zigarrenstummel herum. Aber wer konnte ihm deswegen böse sein? Fancy hatte ihn tief in ihr Herz geschlossen und sie verwöhnte den stillen Mann so gern, der jedesmal ihren Kaffee über den grünen Klee lobte. Er folgte Fancy schlurfend und blieb an der Küchentür stehen. »Wir werden sie noch länger ertragen müssen, unsere liebsten Freunde, Mrs. und Mr. Harris. Ich hörte sie vorhin keifen, und er, dieser Waschlappen, ließ sich sagen, daß sie niemals daran dächte, von hier fortzuziehen oder zu verkaufen. Schade, nicht wahr?« Fancy nickte. * Cliff Bretts Hand lag auf einem Haarriß in der Staumauer des Patton-Dammes. Er konnte vollkommen bedeutungslos sein und seine Entstehung ganz normale Ursachen haben, die zum Beispiel in der Spannung im Beton lagen. Aber er konnte auch das Resultat einer extremen Bodenspannung sein. Harry Essex sprach es aus. »Mit anderen Worten, eine Staumauer kurz vor dem Bruch?« »Das will ich herausfinden, und darum will ich hier die BetonTest-Streifen in den Boden bringen. Ist die Zementbirne unterwegs?« Diese Frage galt dem Mann mit dem Walkie-Talkie. »Ist in zehn Minuten hier, Mr. Brett.«
Der nickte. Wieder blickte er an der geschwungenen Staumauer empor und sah oben auf der Krone zwei Leute aus ihrem Trupp Messungen vornehmen. Dicht neben ihm zogen die Löffelbagger parallel zur Staumauer einen dreißig Meter langen und fast einen Meter tiefen Graben. Drei weitere Gräben warteten nur noch auf ihre Betonfüllung. Keine hundert Meter weiter fraßen sich zwei Bohrgestänge tiefer ins Gestein. In diese Bohrlöcher sollten Meßsonden abgelassen werden, Lauscher, die jedes Knistern der Erdrinde auffangen und weiterleiten sollten. Der schwere Lastwagen mit der sich langsam drehenden Birne, die Fertigbeton enthielt, tauchte auf, stoppte neben dem ersten Graben und füllte ihn mit schnellbindendem Beton aus. Eine knappe Stunde später waren alle vier Gräben gefüllt, die Sonden durch das Bohrloch in die Tiefe abgelassen und deren Leitungen mit einem wasserdicht verpackten, automatisch arbeitenden Meßgerät verbunden. Über Funk kam die Meldung, daß die beiden anderen Trupps ihre Gräben auch gefüllt hatten und mit den Messungen fertig waren. Brett hatte Essex zum Essen eingeladen. Als sie mit dem Kombi vor Cliffs Bungalow stoppten und eintraten, ging der schrullige Doc grußlos. Fancy und Harry Essex hatten sich mal auf einer Party kennengelernt. »Fein, daß Sie uns auch mal besuchen«, sagte Fancy. »Ich lege noch ein Gedeck…« Weiter kam sie nicht. Der Boden bebte. Die Lampe unter der Decke pendelte. Das Porzellan im Schrank klirrte. Die Platten auf der Terrasse wölbten sich hoch und zersprangen. Ein Flügel der Glastür bog sich durch und ging zu Bruch. Dann war alles schon wieder zu Ende. Brett und Essex jagten zu ihrem Kombi und rasten das PattonTal hinauf zum Staudamm. Unterwegs erkundigten sie sich per Funk beim Institut in Monterey, was der Seismograph aufgezeigt habe. Bert Hopkins hatte Dienst. »Ein Einsturzbeben in knapp drei Kilometer Tiefe. Hat mit unseren Schollen über dem Magma nichts zu tun.« Sie zweifelten an dieser Behauptung. Sie überprüften eine Betonmauer im Boden nach der anderen. Sie fanden an keiner einzigen eine Verformung oder einen Bruch. In diesem Bereich
schien das Beben sich nicht ausgewirkt zu haben, und dieser Ansicht war dann auch Harry Essex. »So ein Mist, uns das gute Mittagessen zu verderben!« Cliff Brett ging dieses Beben nicht aus dem Kopf, das sich genau unter Monique ereignet hatte. War unter der Stadt in rund drei Kilometern Tiefe wirklich bloß ein gigantischer Hohlraum zusammengestürzt? War da wirklich nichts anderes im Spiel? * June Craddock war umgezogen und hatte am ersten Wochenende das halbe Institut zur Party eingeladen. Der vornehmste Winkel von Monique hatte es bis fünf Uhr in der Frühe zu hören bekommen. June, die kurz vor Mittag wach wurde und glaubte, mit einem Dampfhammer Bekanntschaft gemacht zu haben, ahnte nicht, daß sie beobachtet wurde, als sie unter der Dusche stand und sich zähneklappernd den Alkohol aus dem Körper trieb. Nachmittags machte sie bei Cliff und seiner Frau einen Besuch. Dem Doc war sie vorher begegnet und hatte sich ihm vorgestellt und sich kurz mit ihm unterhalten. Noch schneller war ihr Gespräch mit Fancy Brett zu Ende. Mein Gott, June, sagte sie sich, sieh zu, daß du Land gewinnst! Die liebe Fancy kocht ja vor Eifersucht. Ein Segen, daß Cliff bei mir nie auf einen Sprung zu einer Tasse Kaffee hochgekommen ist, als ich noch in Monterey wohnte. Sie bekam nicht mehr Cliffs verwunderte Frage an seine Frau mit: »Nanu, war June nicht hier? Ich habe doch eben ihre Stimme gehört. Was für ein Gesicht machst du denn? Ist was?« Fancy schwieg beharrlich. Am Abend sagte Cliff viel unfreundlicher, als er es beabsichtigt hatte: »Ich fahr’ mal den Patton hoch. Bis dann.« Er sagte ihr nicht einmal, warum er durchs Patton-Tal fahren wollte. Es wurde schon dunkel. Die Scheinwerfer fraßen sich durch die immer kräftiger werdende Dämmerung, dann kam die Nacht. Kurz vor dem Damm hielt Cliff seinen Ford an, nahm die Stablampe aus dem Fach und verließ die Straße. Sein Ziel galt der Basis des Dammes und den vier Betonmauern, die davor in den
Boden eingelassen waren. Als der grelle Lichtkegel den fingerbreiten Riß in der Betonmauer dicht vor dem Damm beleuchtete und auch den Höhenunterschied zwischen den beiden Bruchstellen sichtbar machte, fühlte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Dann leuchtete er mit seiner Stablampe den Riß aus. Der war breiter geworden. Um das Dreifache, oder sogar um das Fünffache. So genau konnte er es nicht sagen. Er rannte zu seinem Wagen, drehte und jagte in lebensgefährlichem Tempo nach Monique zurück. Er kam nicht auf die Idee, von seiner Wohnung aus mit der Feuerwehr zu sprechen. Er fuhr bei der Wache vor und verlangte den Chef zu sprechen. »Der schläft. Was soll der hier? Der macht doch keinen Dienst um die Uhr.« Die drei Männer grinsten. Der Damm sollte brechen? Aber wieso denn? In Monique und um Monique herum war doch nichts passiert, was so etwas hätte auslösen können. Das kleine Beben vor ein paar Tagen? Dieses bißchen Schaukeln? Cliff schaffte es dennoch, mit dem Chef der Feuerwehr in dessen Schlafzimmer zu sprechen. Der Mann hatte Grippe und Fieber. »Ach, Sie sind der Mann, der die Leute im Bungalow-Winkel mit der Behauptung verrückt gemacht hat, ganz Monique läge auf einem Pulverfaß? Und jetzt soll auch noch der Staudamm brechen? Wissen Sie das ganz genau, Mr. Brett?« Cliff nahm auf das hohe Fieber des anderen keine Rücksicht. »Fordern Sie von der Wasserbehörde Experten an, die noch in dieser Nacht den Damm untersuchen.« »Mann, wie stellen Sie sich das vor? Das kann ich jetzt nicht. Aber ich schicke zwei meiner Leute zum Damm. Sie können ja mitfahren, wenn Sie wollen, und wenn die meinen, der Damm würde brechen…« Was er dann zu unternehmen gedachte, sagte der Mann nicht. Enttäuscht fuhr Cliff zurück. Bei June brannte noch Licht. Mit ihr konnte er über seine Sorgen sprechen. Vor ihrem Bungalow stoppte er seinen Wagen und läutete. Daß Fancy den Wagen an seinem Motorengeräusch erkannt hatte und ihn nun vor dem Haus von June parken sah, ahnte er nicht. Er hätte auch nichts drum gegeben. Er dachte an den Damm und die Gefahr. Nicht an Fancys Eifersucht.
June hatte inzwischen die Folgen ihrer Einweihungs-Party überstanden. Den Rest besorgte Cliff, als er von dem Riß sprach. »Der Staudamm läuft Gefahr zu brechen, Cliff?« fragte sie vorsorglich. Er blieb dabei. Sie hob den Hörer ab und wählte. »Wen rufst du an?« »Einen Bekannten, der davon etwas versteht. Hoffentlich erwische ich ihn.« Sie bekam ihn an ihre Telefonangel. »Clark, und wenn du mich nachher ausschimpfst, weil es falscher Alarm war… du mußt sofort rauskommen und nachsehen, ob im Patton-Tal der Staudamm drauf und dran ist, zu brechen. Bring alles mit, was man zu solch einer Kontrolle braucht.« Durch den Draht klang die Antwort: »Dazu benötigt man wenigstens zwei Tage Untersuchungszeit, aber ich komme trotzdem.« Gegen Mitternacht traf er aus Monterey ein. In Bretts Wagen jagten sie durch das nächtliche Tal. Kein einziger Wagen kam ihnen entgegen, keinen einzigen überholten sie. Cliff wollte an der Damm-Basis stoppen. Aber Clark Geary wollte zur Dammkrone. Bis dort hinauf konnten sie fahren. Er schleppte allein seinen großen Koffer mit den Meßinstrumenten und Batterien. Brett und June spielten abwechselnd den Beleuchter. Sonst hatten sie nichts zu tun. Dieser Clark Geary schien keine Müdigkeit zu kennen, aber er gab auch nicht preis, ob er etwas entdeckt hatte. Wie ein gigantischer Rachen starrte sie die nachtschwarze Oberfläche des Stausees an. Bedrückend, furchterregend die unheimliche Stille dazu. Millionen Kubikmeter waren hier gestaut. Diese Wassermassen würden Monique bis auf das letzte Haus hinwegfegen, wenn der Damm brach. Langarone und Frejus würden dagegen ein unbedeutendes Ereignis gewesen sein. Cliff Brett bekam die magische Macht, die von der nachtschwarzen Oberfläche ausging, voll zu spüren. Sie schlug ihn so stark in Bann, daß er June Craddocks Anruf überhörte. Sie mußte ihn anstoßen. »Ja«, sagte er geistesabwesend. »Es ist nichts, Cliff, Gott sei Dank! Falscher Alarm.« »Aber der Riß unten…?«
Clark Geary mischte sich ein, während er seine Geräte einpackte. »Ein Reißen der Dammkonstruktion ist auf der Dammkrone leichter und exakter festzustellen als in der Nähe des Fundamentes. Dort gibt es zu viele Störfaktoren. Mr. Brett, dieser Damm ist in einwandfreier Verfassung.« Viel langsamer und viel ruhiger fuhr er sich und die beiden nach Monique zurück. Dort stieg Geary sofort in seinen Wagen um und nahm Kurs auf Monterey. June sagte Brett gute Nacht und ging die paar Schritte zu Fuß. Er ließ den Wagen vor dem Haus stehen, zog sich im Wohnzimmer leise aus und schlich sich ins Schlafzimmer. Dort machte er kein Licht, kroch unter die Decke, glaubte, Fancy würde tief schlafen, und schlief selbst mit dem herrlichen Gedanken ein, daß dem Staudamm oben im Tal nichts an seiner Festigkeit fehlte. * June Craddock hatte sich einen Tag freigenommen. Sie hatte Weihnachtsvorbereitungen zu treffen. Draußen hielt ein Wagen. Sie sah auf. Cliff Bretts Untersatz stand vor ihrem Haus. Sie drückte schon den Knopf des Öffners. Aber warum kam er denn nicht herein, er kannte doch den Weg zu ihrem Wohnzimmer? »Was machst du denn so lange, Cliff?« rief sie. »Guten Abend, Miß Craddock«, sagte eine Stimme, die ihr fremd war. Sie zuckte zusammen und starrte den Mann in der Tür an. Sie glaubte zu träumen, denn war dieser Besucher nicht…? Sie hörte ganz schnell auf, so weiterzudenken, weil sie Angst hatte, einen Dachschaden zu haben. Mr. Harris, dieser moralmiefende Erzspießer, bei ihr im Haus? Sollte er sich in der Haustür geirrt haben? Aber er hatte sie mit ihrem Namen begrüßt. Warum grinste er bloß so schmierig? »Guten Abend, Mr. Harris, ist Ihr Eintritt nicht ein Irrtum?« »Sie glauben gar nicht, wie es mich jedesmal durchflutet und durchbraust, wenn sich unsere Blicke kreuzen, Miß June. Wenn ich Sie im Bad sehe, wenn…« Im gleichen Moment wurde sie bis in die letzte Haarwurzel wach. Sie holte aus und knallte ihm die Hand ins Gesicht.
Sein Kopf machte eine Blitzdrehung von neunzig Grad, gerade die richtige Stellung für den Schlag mit ihrer anderen Hand. Sie überlegte gar nicht, denn dazu reichte die Zeit nicht. Sie sagte nach der zweiten Ohrfeige nur einmal: »Raus!« Mr. Harris startete zum blitzschnellen Rückzug. Sie wollte ihm nach, als sie die Haustür ins Schloß fallen hörte. Dann sah sie ihn durch den langsam aufkommenden Abend die Straße entlanglaufen, aber nicht in Richtung seines Bungalows. Daß sein Ford noch vor ihrem Haus stand, hatte der Lustmolch wohl vergessen. »Was hat der Kerl gesagt?« fragte June sich und fühlte, wie ihre Handflächen immer stärker zu brennen begannen. »Im Bad? War’s das nicht?« Sie schaute im Bad nach, wieso sie dieser Spießer hatte sehen können. »Grüne Neune!« stieß sie aus. »Der Spiegel in der Ecke!« Fünf Minuten später hing er nicht mehr da. Drei Stunden später horchte sie auf. Vor ihrem Haus wurde ein Motor gestartet, dann krachte es, als ein Gang eingelegt wurde. Der saubere Mr. Harris war zurückgekommen, um seinen Wagen zu holen. Daß er sich mit den zweimal fünf Fingern im Gesicht zu Hause nicht sehen lassen durfte, war June Craddock klar. Von ihr aus konnte er die ganze Nacht damit verwenden, die vielsagenden Spuren aus seinem Gesicht durch kühlende Verpackung zu beseitigen. Sie war müde. Sie ging jetzt zu Bett. Und sie lag kaum fünf Minuten darin, als sie auch schon schlief. Von Mr. Harris träumte sie nicht. * Fancy Brett kam sich als die betrogenste Frau der Welt vor. Cliff war nicht, wie gewohnt, nach Hause gekommen, aber wohl nach Monique. Sein Wagen stand vor June Craddocks Bungalow. Fancy konnte ihn von der Terrassentür aus deutlich sehen. Es war sein Ford. Und er war bei June Craddock. Wie eine gefangene Löwin, die nicht mehr zu ihren Jungen kann, rannte sie im großen Kaminzimmer hin und her. Schon drei Stunden war er bei ihr, bei dieser Schlange!
Jetzt flammten die Scheinwerfer an seinem Wagen auf. Nun die Rückfahrscheinwerfer. Dann schob sich Junes Bungalow dazwischen, dann der flache Hang, und dann waren nur noch die Scheinwerferkegel in der Dunkelheit zu sehen. Die Kreuzung kam, und damit verschwand das Licht auch. Ein paar Minuten darauf quietschten vor dem Haus die Bremsen eines Wagens. Cliff hielt sonst nie so an. Wütend kam er hereingestampft. Nicht einmal guten Abend wünschte er. Sein schlechtes Gewissen, sagte sich Fancy, die ihn nicht aus den Augen ließ. »Dieser Vollidiot! Wenn ich nicht voll auf die Bremse gestiegen wäre, steckte er jetzt in meinem Kofferraum«, knurrte er. Sonst regte er sich nicht so auf, wenn jemand zusammen mit ihm und seinem Wagen partout einen Unfall bauen wollte. Sie würdigte ihn keines Wortes. Von ihr bekam er heute abend kein Essen vorgesetzt. Wenn sein Liebchen ihn nicht versorgte, sie war doch nicht seine billige Köchin! Sie warf die Tür hinter sich zu, daß es durchs Haus knallte. Dann stand sie neben seinem Wagen und legte die Hand auf die Motorhaube. Aber das durfte doch nicht wahr sein! Das konnte einfach nicht wahr sein! Bei der Fahrt von June Craddocks Bungalow zu ihnen, auf einer Strecke von dreihundert Yards, konnte der Motor doch nicht so heiß werden, daß auch die Motorhaube warm wurde? Sollte vielleicht…? Konnte sie sich…? War es vielleicht gar nicht sein Wagen gewesen, den sie vor Junes Haus hatte stehen sehen? Und die Bremsen waren auch heiß, die Felgen dazu. Im Kühler hörte sie das heiße Wasser brodeln. Lautlos wie ein Schatten verschwand sie vom Wagen und wieder ins Haus. Als sie in der Küche hastig den Kühlschrank öffnete, um ihm einen appetitanregenden kleinen Imbiß vorweg zu machen, hörte sie ihn im Kaminzimmer immer noch über das Institut und seinen dämlichen Boß schimpfen. »Krankmelden werde ich mich… Ich werde bis über Neujahr krankfeiern! Saftladen, verfluchter…« *
Er brachte es nicht über sich, seine finsteren Vorsätze zu verwirklichen. Er feierte nicht krank, auch am Weihnachtsfest nicht. Natürlich war er auch Silvestermittag noch im Institut. Er und June Craddock. Fancy hatte schon zweimal angerufen, wann sie kämen. Sie wollte mit dem Kochen rechtzeitig fertig sein, aber auch nicht stundenlang zu früh. Bei Fancys drittem Anruf meldete sich zu ihrem Erstaunen der Seismologe Harry Essex. Daß er auch noch arbeitete, davon hatte ihr Cliff nichts gesagt. »Sorry, Fancy«, sagte Essex verdächtig freundlich, »wir haben da noch eine Sache… Na ja, Cliff, June und ich, wir hätten gern Klarheit darüber. Es kann aber noch eine gute Stunde dauern, bis wir mit dem Problem fertig sind.« Innerlich bereitete sie sich auf ein paar Stunden Wartezeit vor. Sie sah den geplanten Silvesterabend schon als geplatzt an, als draußen schließlich doch drei Wagen hielten. Sie waren da: ihr Mann, Harry Essex und June Craddock. Schrecklich der knallrote Minirock, der zu dem braunen und mal wieder zu engen Pullover überhaupt nicht paßte. Die drei sahen nicht nach Menschen aus, die Silvester einen draufmachen wollten. Cliff winkte ab, nachdem er Fancy einen flüchtigen Kuß gegeben hatte. »Essen? Nur jetzt nicht, Honey. Komm, setz dich zu mir. Erzählen soll dir Harry oder June… Was zu trinken?« June und Harry nickten. Fancy wehrte ab. Drei Whiskys pur wurden gekippt. Ohne Eis. So ganz nackt. Harry Essex stellte sein Glas ab. Er ließ es nicht los. Er drehte es hin und her. Er begann Fancy mit diesem Drehen aufzuregen. Die Spannung in ihr war fast unerträglich. »Ja«, sagte Harry Essex, und sie fühlte, wie Cliffs Arm, der um ihre Schultern lag, sie fester hielt. »Ja, Fancy, es dürfte so weit sein. Die letzten Stunden laufen an…« »Nein!« stieß sie aus. Ihr Körper versteifte sich. »Doch«, widersprach er mit sanfter Stimme. »Den 15. Januar erlebt diese Stadt nicht mehr. Die pazifische Zunge kann jeden Moment brechen.« »Woher wollen Sie das - wissen, Harry? In den letzten Tagen hat sich kein einziger Meßtrupp im Patton-Tal sehen lassen.« Fancy wollte nicht wahrhaben, was er ihr gesagt hatte. Für ihr Paradies gab es keine Gefahr und schon gar kein Ende.
Er schüttelte nachsichtig den Kopf. »Wir benötigen weder hier noch oben im Tal einen Meßtrupp. Wir haben bei der letzten Aktion Funksonden in den Boden gesteckt. So tief, wie wir bei unseren Schnellbohrungen kamen… Fancy; oben im Tal ist der Teufel los. Vier angelegte Betonmauern sind geplatzt und haben sich bis auf neun Zentimeter Höhendifferenz gegeneinander verschoben! Die gesamte Schichtung scheint sich in einem einzigen Abwärtsgleiten zu befinden. Für Erdschichten ein Vorgang, der sich mit rasender Schnelligkeit abspielt.« Er erhob sich, und nach ihm standen auch Cliff auf und June Craddock. »Wir müssen hier weg, Fancy. Packen Sie zusammen, was Sie für den nächsten Monat benötigen. Verstauen Sie es schon in den Kofferraum von Cliffs Wagen. Wir gehen herum und sagen den Leuten Bescheid.« »Tue es, Honey!« sagte ihr Mann. Es war 20.15 Uhr, als sie nach draußen in den frühen, dunklen Abend gingen. Fancy war über sich selbst erstaunt, wie ruhig sie auf einmal geworden war. Sie hatte endlich begriffen, daß es bald kein paradiesisches Monique mehr geben würde. Sie ging ins Schlafzimmer und holte aus dem Wandschrank die beiden größten Lederkoffer hervor. Und dann begann sie zu packen. Cliff Bretts Haus lag als einziges auf der rechten Seite des Patton Creek. Gemeinsam passierten Brett, Essex und June die Brücke und stutzten, als sie die vielen Wagen vor Harris’ Bungalow stehen sahen. »Silvester!« stieß Cliff Brett aus. Das hatte er tatsächlich vergessen. Es gab keine Familie, die das Haus nicht bis unters Dach voll Besuch hatte. Bei Harris knallte man ihnen die Tür vor der Nase zu. »Scheren Sie sich mit Ihrem Blödsinn zum Teufel. Wir lassen uns auch nicht von Ihnen Silvester kaputtmachen! Los, haut ab!« schrie Harris drinnen noch. Sie gingen weiter. Zwischen ihnen fiel kein Wort mehr. Als sie Junes Bungalow erreichten, sagte sie: »Ich packe ganz schnell. In zwanzig Minuten kann mich einer von euch beiden abholen.« Damit verschwand sie in ihrem Haus. Die Männer gingen auf den Patton Creek und die Brücke zu. Halb Monterey hatte sich hier oben ein Stelldichein gegeben. Je-
des Haus hatte Besuch. Man wollte in der sonst so stillen Siedlung ein Silvester feiern, von dem man noch nach Jahren sprechen sollte. »Und wenn es in dieser Nacht passiert, Cliff?« Greekaufwärts näherte sich eine Lichterkette. Noch mehr Gäste für Monique! Harry Essex wiederholte seine Frage, weil Brett darauf nicht eingegangen war. »Ich bete darum, daß es noch recht lange dauert«, sagte Cliff Brett barsch. »Warum ausgerechnet in dieser Nacht, in der allein hier oben fünfhundert Menschen mehr als sonst sind?« »Da kommen noch mehr«, stellte Essex lakonisch fest. Aus der einen Lichterkette waren inzwischen drei langgezogene Ketten geworden. Die vierte bog gerade um die große Kurve vor der niedrigen Staustufe. »Wie Motten, die auf das Licht fliegen«, meinte Harry Essex. Bretts Feuerzeug flammte auf. Seine Zigarette brannte, er inhalierte tief. »Geben Sie mir auch eine«, sagte Essex. Auf der Brücke blieben sie stehen. Jeder hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Die ersten Wagen rollten aus der Stadt heran. Die Lichtkegel erfaßten sie. Leicht geblendet schlossen sie halb die Augen. Cliff Brett zählte die Wagen. Als die vierte Kette vorbei war, hatte er einunddreißig Autos gezählt. »In jedem Schlitten nur zwei Personen, macht zweiundsechzig…« »Macht fast hundert, wenn drei in jedem Wagen saßen«, sagte Essex. Sie gingen zu Bretts Bungalow. Fancy hatte gepackt, beide Koffer in seinem Wagen verstaut und ihren Stadtwagen auch schon aus der Garage geholt. »Können wir?« fragte sie zu Cliffs maßloser Überraschung ganz ruhig. »Ich bin fertig.« Sie wollten sich nur noch einen Whisky genehmigen. Zum Abschied. Cliff streckte die Hand zur Bartür aus, als der Boden unter seinen Füßen zu tanzen begann. Im nächsten Augenblick erlosch das Licht. Scheiben zersprangen, Glas zersplitterte auf dem Boden. Krachend schlug die neunflammige Leuchte auf. »Raus!« schrie Cliff Brett mit überkippender Stimme.
»Raus…!« Und dann: »Fancy, wo bist du?« Sie war schon draußen. Die Panik hatte sie beim ersten Erdstoß nach draußen laufen lassen. Hier kam sie zur Besinnung, wollte wieder ins Haus, als sie Cliff rufen hörte. Hier bin ich, draußen! wollte sie schreiend antworten, als die Tiefen der Erde zu brüllen begannen. Die Erde schrie! Die umliegenden Berge schrien. Der Patton schrie… Und Menschen in Monique, von den entfesselten Erdstößen nach draußen in den frühen Abend gejagt, brüllten ihre Angst, ihr Entsetzen in die Nacht hinaus. Der Boden schwang auf und ab. Immer stärker, immer schneller. Er brüllte dazu immer lauter aus tiefsten Tiefen. Fancy lag plötzlich neben ihrem Mann auf der Terrasse. Wo Harry Essex abgeblieben war, wußten beide nicht. Sie dachten auch nur einen Moment an ihn. Die Angst um ihr Leben beherrschte sie. Unter Fancy riß die Terrasse auf. Sie fühlte, wie sie in den Spalt glitt. Abbröckelndes Erdreich riß sie mit. »Cliff…!« Seine Hand packte zu, riß sie zur Seite und in Sicherheit. Ein Erdstoß schleuderte sie über die niedrige Böschung der Terrasse, und hart wurden sie von einem umgestürzten Wagen gestoppt. Die Straße sprang ihr ins Gesicht. Dumpf polternd stürzte der Bungalow in sich zusammen. Der Patton stieg brüllend aus seinem Bett, und eine brutale Faust aus Wasser versuchte sie hinwegzuspülen. Brachen die Berge ein? Kamen sie zu ihnen herunter? Hatte das Beben auch die Sterne vom Himmel geholt? Nur noch Nacht war um sie. Und die brüllenden Tiefen. Diese Erde, die aufriß und dabei so gräßlich schrie. Sie glaubte sich von unsichtbaren Fäusten ergriffen. Einmal krachte sie gegen ein Wagendach, wurde zurückgeschleudert, glaubte auf den zersprungenen Platten ihrer Terrasse gelandet zu sein, und fand sich in einem stinkenden Riß wieder. Voll unbeschreiblichem Grauen war ihre Angst, gleich von dem sich wieder schließenden Spalt, zerquetscht zu werden. Blindlings faßte sie zu. Ihre Finger krallten sich um die scharfe Kante eines Steinbrockens. Als Fancy wieder klar denken konnte, lag sie auf dem Bauch
und hörte die entfesselten Wasser des Patton Creek gefährlich laut gurgeln. Aber noch dachte sie sich nichts dabei. Das gellende Schreien vor Angst halb wahnsinniger Menschen nahm ihr die Kraft zum eigenen Denken. »Fancy, wo sind Sie? Cliff? Fancy?« Das war Harry Essex. Er hatte die Katastrophe überstanden. Aber warum meldete sich ihr Mann nicht? »Cliff! Cliff?« Fancys Schrei gellte durch die Nacht. Jemand neben ihr spuckte. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Die Erde brüllte erneut in den Tiefen und schüttelte sich wieder, aber längst nicht mehr so stark wie in der ersten Bebenwelle. Dann vernahm sie: »Verdammter Dreck!« Und wieder spuckte ihr Mann. Sie schrie Harry Essex zu: »Hier sind wir, Harry, hier…!« Sie fanden sich. Was hatte den Patton Creek dazu gebracht, so gefährlich fremdartig zu gurgeln? Berge schrien und Felswände brachen zusammen. Die Erde wurde von aber Tonnen schweren Gesteinsquadern gemartert, die dumpfdröhnend aufschlugen. In Monique stürzten die Häuser ein. Menschen schrien wieder gellend. Absolut war die Finsternis, in der nicht einmal die Hand vor Augen zu sehen war. Der Himmel besaß keine Sterne mehr. Das Patton-Tal schien zur gigantischen Höhle geworden zu sein. Das Tanzen des Bodens ließ mehr und mehr nach, auch die unbeschreiblichen Schreie aus der Stadt unten. Um so lauter wurden die Hilferufe aus der Siedlung hier oben. »Großer Himmel, die Wagen…«, schrie Cliff Brett und löste sich von den beiden anderen. Sie begriffen nicht, was er gemeint hatte, und er begriff nicht, warum er nicht schon früher darauf gekommen war. Er tastete sich durch die ägyptische Finsternis. Er glaubte, um sein Haus herum jeden Fußbreit Boden zu kennen, und mußte sich eines Besseren belehren lassen. War das die Böschung zur Terrasse, die er abtastete, oder war es eine Bodenwelle, die durch das Beben entstanden war? Als er mit der Stirn gegen eine Türscheibe krachte und das kühle Metall fühlte, wußte er, bei den Wagen angekommen zu sein. Seiner lag auf der Seite. Es störte ihn nicht. Er hockte sich auf
den hinteren Kotflügel, riß die Tür auf, hielt sie fest und tastete mit der anderen Hand nach dem Lichtschalter am Armaturenbrett. Der Schalter kippte in eine andere Position. Im gleichen Moment flammte ein Scheinwerfer auf. Der andere war beim Umstürzen zu Bruch gegangen. Grell stach der Lichtfinger in die Finsternis. »Licht… Licht…! Wir haben Licht…«, gellte es von der anderen Seite des Creeks herüber. Cliff saß immer noch auf dem hinteren Kotflügel seines Wagens und begriff die Welt nicht mehr. Der Lichtkegel prallte gegen eine senkrecht aufragende Felswand. Nacktes, zerrissenes Gestein, rot, braun und grau, grinste ihn schweigend an. Eine Felswand? Wieso? Woher? Hier gab es doch nur Hügel, aber nirgendwo eine Felswand, die so schmutzig und so brutal nackt aussah. Schritte näherten sich. »Ich glaube, mein Wagen ist okay«, hörte er seine Frau sagen. Gleich darauf fiel eine Wagentür ins Schloß. Einen Augenblick später startete ein Motor, sprang an, und zwei weitere Autoscheinwerfer flammten auf. Cliff konnte die Energie seiner Wagenbatterie vorläufig sparen. Fancys Rückscheinwerfer flammten auf. Es krachte wieder einmal in ihrem Getriebe, als sie den Rückwärtsgang einlegte. »Stop! Stop!« schrie Harry Essex gellend. »Nicht zurückfahren! Hinter Ihnen geht es senkrecht in die Tiefe!« Bremsen quietschten. Eine Handbremse wurde geräuschvoll angezogen. In Fancys Stadtwagen flammte plötzlich ihre PannenBlinklampe auf, die sie auf Scheinwerferbetrieb schaltete. Mit dieser Lichtquelle in der Hand stieg sie wieder aus. Der Strahl reichte fünf Schritt weit, aber das reichte, um sie sehen zu lassen, daß ihr Bungalow ein einziger Trümmerhaufen war. »Wir sollten versuchen, über den Creek…« Die zweite Katastrophe brach über den schäbigen Rest herein, der von Monique und seinen Menschen übrig geblieben war. Fancy glaubte zu fliegen, Cliff krachte zu Boden und verlor die Besinnung, Harry Essex brüllte verzweifelt und halb wahnsinnig vor Angst auf, als er fühlte, wie ihn titanische Kräfte einklemmten. Sein Brustkorb bekam keinen Platz mehr, atmen zu können. Als die Erde wieder zu brüllen begann, wurde er bewußtlos.
Fancy Brett verstand nicht, warum sie immer noch flog. Sie saß doch nicht in einem Flugzeug. Sie hatte sich gerade noch in Monique im Patton-Tal aufgehalten. Aber sie flog doch. Nur war es ein komisches Fliegen. Als dann blitzartig das Licht ausging, war es auch mit dem Fliegen vorbei. Gas… dachte sie noch. Mich betäubt Gas. Sie hörte nicht das Gas unter lautem Zischen aus einer Erdspalte strömen. Keiner der noch Überlebenden hörte es. Ununterbrochen schüttelte sich die Erde. Die Berge ringsherum rissen auf und brachen zusammen. Innerhalb weniger Sekunden veränderte sich die Landschaft in diesem Teil des Patton-Tales abermals. Das Paradies, in dem einmal die Stadt Monique gelegen hatte, gab es schon nach dem ersten Erdstoß nicht mehr. Das zweite Beben war kürzer als das erste. Es dauerte nur zwei Minuten und achtzehn Sekunden. Zwanzig Minuten darauf waren auch die Nachwehen verklungen. Wohl krachte in der Dunkelheit noch hier und da Gestein zu Boden, aber es brachen nicht mehr komplette Felswände zusammen. Das eigenartige Gurgeln und Tosen des Patton Creek war verstummt. Es schien so, als ob es diesen Bach im Patton-Tal nie gegeben habe. Unheimlich war danach die Stille, die dem Brüllen der Höllentiefen folgte. Das Zischen des Erdgases war verklungen. Darum klang es doppelt gräßlich, als ein Mensch gellend schrie. »Hilfe…! Hilfe…!« Sein Schreien nahm kein Ende, aber die Stimme des Rufers verlor schnell an Kraft. Bald war der Schrei nicht mehr zu verstehen. Auch das Krächzen wurde immer lahmer, verstummte, und abermals wurde es unheimlich still. Finsternis und Grauen, die über den Trümmern von Monique und seinem Patton-Tal lagen, deckten alles zu. * Dreizehn Meter tief im gewachsenen Fels heulte der BebenAlarm. Der absolut erschütterungsfrei montierte Seismograph schrieb in erschreckender Lebhaftigkeit die Zuckungen der Erde
auf. Zwei Männer standen neben der Glasglocke, unter der sich der Seismograph befand, und starrten den Schreiber an, der eine Kurve nach der anderen auf die Papierrolle übertrug. Das konnte doch nicht nur ein Beben sein! Das waren zwei, drei oder sogar vier Beben zur gleichen Zeit, aber an verschiedenen Plätzen. »Großer Himmel!« stöhnte Bert Hopkins. »Wir müssen den Professor benachrichtigen.« Es gab so etwas wie einen heißen Draht und ein rotes Telefon. Hopkins hatte schon abgehoben und lauschte auf das Rufzeichen. Ein paar Sekunden später wurde er blaß und legte den Hörer auf den Apparat zurück. »Tot…«, sagte er zu seinem Assistenten Doe. »Der Draht zum Professor ist gerissen.« Die Beben tobten immer noch. Der Schreiber des Seismogerätes schlug immer noch erschreckend weit aus. Ein Zeichen, wie stark die sich hier überlagernden Beben waren. »Wir müssen die Positionen haben, Allan«, stieß Hopkins aus. »Wir müssen wissen, wo die Beben stattfinden. Hoffentlich nicht in bewohnten Bereichen.« Dabei wußte er, daß er sich belog. Seine Angst sagte ihm doch, daß sich jedes dieser Beben in Wohngebieten abspielte. Zu Silvester! Am frühen Abend des Silvester! Eines der drei Telefone auf Does Schreibtisch rasselte. Er hob ab und meldete sich. »Ja… Ich notiere… Ja… Hallo…? Hallo, melden Sie sich doch…! Hallo!?« Die Leitung war tot. »Die Erde bebt schon drei Minuten lang…«, rief Hopkins, der nicht mitbekommen hatte, daß Doe seinem Gesprächspartner durchrief, sich zu melden. Wie ein Kaninchen, das von dem Blick einer Viper hypnotisiert ist, starrte er den hin- und herzuckenden Schreiber des Seismographen an, dessen Ausschläge an Stärke nachließen. Klangen die Beben ab? Er kam nicht dazu, sich seine Frage selbst zu beantworten. Allan Doe hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. »Bert, die telefonische Verbindung mit dem Dorf Todos ist mitten im Gespräch zusammengebrochen!« Wie aus tiefem Schlaf aufgeschreckt blickte Hopkins seinen Mitarbeiter an. »Todos, das Nest zwischen Küste und Graben?«
»Ja, dieses Todos.« »Wir haben doch den Funk, Allan. Was sagt die Telefonzentrale in…?« Über die interne Gegensprechanlage meldete sich ihr Funk. »Erdbebenwarte Frisco möchte Sie sprechen, Sir.« »Hereingeben!« ordnete der Seismologe an. Die Erdbebenwarte Frisco sprach von drei, wenn nicht von vier starken Beben im Andreas-Graben. Alle hatten sich im Süden ereignet. Alle waren nach Meinung der Experten in San Francisco örtlich sehr begrenzt gewesen. »So weit sind wir mit unseren Bestimmungen noch nicht«, gab Hopkins widerwillig zu. »Hopkins, wir haben schon die ersten Daten von zwei Stationen vorliegen. Schreiben Sie mit oder lassen Sie das Band laufen. Wir geben durch.« Das Tonband im Seismo-Raum lief schon. »Und nun die Angaben über das vierte Beben, bloß sind wir uns nicht sicher, ob das auch tatsächlich stattgefunden hat. Das müßte der Karte nach in einem Seitental des Salinas River stattgefunden haben. Patton heißt der Creek, der durch dieses Tal fließt.« Bert Hopkins war über ein Wochenende schon mal im Patton-Tal gewesen. Es sollte sehr romantisch sein. Aber außer einem schauderhaften Dauerregen und einem Bach, der schmutziges Wasser führte, hatte er nichts zu sehen bekommen. Und einen Tag später hatte er sich im Institut dieses Patton-Tal auf einer ihrer Bebenkarten angesehen. Das Tal mit der Stadt Monique lag doch außerhalb des Grabens. Daran erinnerte er sich. Es gehörte doch zum erdbebensicheren Bereich der Santa Lucia Range. Bert Hopkins erinnerte sich dessen ganz genau, darum unterbrach er den freundlichen und hilfsbereiten Kollegen in Frisco: »Im Patton-Tal hat bestimmt kein Beben stattgefunden, und wenn man sich die Karte genau betrachtet, weiß man auch, warum. Die Lucia-Berge sind bebensicher…« Allan Doe hatte ihn angestoßen. Der Funk seines Institutes wollte ihn sprechen. Hastig verabschiedete Hopkins sich von seinem Kollegen in Frisco. »Was ist?« fragte er über die Gegensprechanlage nach oben. Unter dem Antennenwald auf dem Flachdach des Institutes befand sich die Funkzentrale.
»Polizei, Feuerwehren und die Homeguard bis hinunter nach Piedras Biancas werden gerade in Katastropheneinsatz geschickt. Drei Funkamateure berichten übereinstimmend von unvorstellbaren Katastrophen.« »Versuchen Sie über die Polizei den Professor zu benachrichtigen.« »Der ist nicht zu erreichen«, sagte der Mann oben im Funk. »Als ich heute abend meinen Dienst antrat, hörte ich an der Pforte sagen, daß der Professor zu einer Neujahrs-Party nach Sacramento geflogen sei. Zu wem? Nicht bekannt.« »Verpflichtungen…«, murmelte Bert Hopkins, und es klang wie ein Kettenfluch. »Und was gibt’s sonst noch?« Von einer Ahnung getrieben, drehte Hopkins sich nach dem Seismographen um und erstarrte. Unheimlich weit schwang der Schreiber wieder aus. Die Erde im Bereich des Andreas-Grabens schüttelte sich abermals. Als es zu Ende war, hatten beide Männer im Seismo-Raum blasse Lippen. »Zwei Minuten und achtzehn Sekunden Dauer«, sagte Allan Doe. »Welches Haus das erste Beben überstand, wurde jetzt zum Einsturz gebracht. Welches Wetter haben wir inzwischen? Fragen Sie nach, Allan.« Die kleine Wetterstation an der Küste gab bereitwillig Auskunft. »Es muß jeden Moment zu regnen beginnen. Das Tief steht schon seit Stunden über der Küste. Wir rechnen mit einem Dauerregen von sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden, wenn daraus kein Schneefall wird.« »Werden denn die Temperaturen so tief sinken?« bellte Allan Doe in die Muschel seines Telefons. »In Lagen über zwölfhundert Fuß. Wir rechnen damit.« Innerhalb des Stadtbezirks von Monterey war alles so geblieben, wie es vor einer Stunde noch gewesen war. Nur sämtliche Telefonverbindungen nach Süden im Bereich des Grabens waren unterbrochen. »Versuchen Sie Brett oder den Minirock zu erreichen, Allan! Sie haben doch deren Telefonnummern.« »Im Register, Bert.« Das nützte nichts.
»Die Verbindung nach Monique ist auch unterbrochen, Bert«, sagte Allan Doe und hatte wieder aufgelegt. Der dachte sich immer noch nichts dabei. »Die Stadt wird wohl am gleichen Strang hängen, der zerstört worden ist. Da kann man nichts machen.« * Erst nach und nach begriff Cliff Brett, daß ihm Regen das Gesicht peitschte. Das ununterbrochen stark klingende Rauschen war nichts anderes als ein Wolkenbruch, der sich über ihn ergoß. Über ihn…? Wieso lag er im Regen? Blitzartig traf ihn die Erkenntnis. Das Erdbeben…! Die pazifische Schollenzunge in der Tiefe war gebrochen. Der Bruch hatte das furchtbare Erdbeben ausgelöst, von dem Monique und das Patton-Tal getroffen worden waren. Nur ein Beben? Nicht zwei…? Cliff Brett achtete nicht mehr auf den Regen, der ihm ins Gesicht schlug. Unter Stöhnen richtete er sich auf, wollte sich mit der linken Hand aufstützen und faßte in der Finsternis in ein Gesicht. Ein Kopf mit langen Haaren… Fancys Kopf? Dann kniete er schon neben ihr. Seine nassen Hände tasteten ihr Gesicht ab, als wollten sie es vor dieser Sintflut aus den Wolken schützen. »Fancy… Honey…!« Sie hörte sein Rufen nicht. Neben dem Rauschen der Wassermassen vom Himmel war ein anderes Rauschen lauter geworden. Innerhalb der letzten Minuten. Es hörte sich so an, als ob gewaltige Wassermassen eines Flusses sich über einen Stau in die Tiefe stürzten. Über einen Stau? Neben ihrem Bungalow? Großer Himmel, langsam begann Brett alles zu verstehen. Er erinnerte sich auch, zu Beginn des zweiten Bebens bewußtlos geworden zu sein. Die Wasser, die er rauschen und tosen hörte, das waren die immer höher steigenden Wassermassen des sonst so friedlichen Patton Creek. Das Inferno Erdbeben war hoffentlich vorbei. Wahrscheinlich. Jetzt kam das Inferno Wasser! Wasser, dem man nachsagte, es
sei hundertmal schlimmer als Feuer. Der Staudamm war gebrochen, und der Stausee lief aus! Das war das Ende für sie alle! »Fancy! Fancy…!« Er schüttelte sie. Er verfluchte die Dunkelheit, die ihn die Hand vor Augen nicht sehen ließ. »Fancy, wach auf! Wach doch auf!« Plötzlich kniete er im Wasser; aber rechts von ihm brüllten und tosten keine Wassermassen mehr. Wieso rechts von ihm? Dann mußte er ja in Richtung Creek aufwärts knien. Das Wasser stieg immer höher, und seine Frau lag immer tiefer darin. Er überlegte nicht. Seine Hände schoben sich unter ihren Rücken. Er riß sie hoch, warf sie über die Schulter und schrie dann in den rauschenden Regen hinein: »Wir müssen hier weg, Harry, oder wir ersaufen wie junge Katzen!« Mit der schweren Last auf dem Rücken krachte er gegen eine umgestürzte Mauer. Fancy rutschte von seiner Schulter. Der brutale Aufprall riß sie aus ihrem Dahindämmern. Gellend drang ihr Schrei durch die lichtlose, grauenhafte Nacht. Wieder kniete Cliff neben ihr, suchte mit tastenden Händen ihr Gesicht, fand es, barg es darin und sagte ununterbrochen: »Oh, Honey, Honey… Oh, Honey…« Wieso kniete er schon wieder im Wasser, und wieso war es rechts von ihm? Und rechts von ihm floß es an ihm vorbei, also stadtabwärts. Aber rechts von ihrem Bungalow hatte es doch noch nie den Patton Creek gegeben. Der war immer links daran vorbeigeflossen. Etwas hinter seiner Stirn riß in einem grellen Blitzesleuchten auseinander. Das Erdbeben mußte dem Patton Creek einen anderen Lauf gegeben haben! Anders konnte es nicht sein. »Cliff, hören Sie mich?« Harry Essex rief. Er war keine drei Schritt entfernt, aber im lichtlosen Dunkel war ein Fuß Entfernung schon eine Ewigkeit weit. Fancy wollte nicht mehr gestützt werden, nachdem Harry zu ihnen gefunden hatte. »Wir dürfen den Kontakt miteinander nicht mehr verlieren«, rief Essex. Der rauschende Regen zwang ihn dazu. »Wir nehmen Fancy in die Mitte. Wo ist Ihre Hand?« Rechts hielt sie ihr Mann fest, links der Seismologe. Mit der freien Hand tasteten die Männer sich weiter. Ziemlich spät erkannte
Brett, daß sie sich an der äußersten Kante der Terrasse entlang bewegten. Er wunderte sich nicht, daß es die Böschung, nicht mehr gab. »Wo ist eigentlich meine Blinkleuchte geblieben, Cliff?« wollte Fancy wissen. »Lag sie nicht neben mir?« Harry Essex verzichtete darauf, ihr zu sagen, daß er sogar in drei Autos vergeblich gesucht hatte; der bebende Boden mußte sie verschlungen haben. Bloß warum sie nicht? Und warum war er nicht zerquetscht worden? Sie hielten sich fest. Sie bildeten eine kleine Kette. Niemand dachte an das alte Flußbett des Patton Creek. Als sie die steile Böschung hinunterfielen, schrie Fancy gellend auf, die sich den linken Fuß umgeschlagen hatte. Trotz der Finsternis sah sie Sonnen und Kometen über den nachtschwarzen Himmel rasen und daran wie Feuerwerkskörper zerplatzen. Neben den beiden stöhnenden Männern kam sie zu liegen. Harry Essex war als erster wieder auf den Beinen und krachte mit dem rechten Knie gegen einen kantenlosen Steinbrocken. Er glaubte felsenfest, sich die Kniescheibe in tausend Splitter zerfetzt zu haben. »Cliff, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr«, wimmerte Fancy vor wilden Schmerzen. Sie fühlte, wie ihr linker Knöchel anschwoll, obwohl der Unfall gerade erst passiert war. Er war ahnungslos und fauchte sie an, kaum daß er auf den Beinen stand. »Was ist denn jetzt schon wieder?« Der Schock über den Sturz die Böschung hinunter steckte ihm noch in den Gliedern. Harry Essex war in diesem Moment froh, daß es stockdunkel war und niemand seine Tränen sah, die ihm der Schmerz aus den Augen trieb. Auch er konnte nicht mehr. Er glaubte verrückt zu werden, wenn er nur den Versuch unternahm, sein Bein im Kniegelenk zu bewegen. »Fancy, du mußt aus eigener Kraft gehen. Du mußt! Wie soll ich dich bei dieser Dunkelheit tragen? Wenn ich stürze, läufst du Gefahr, dir den Hals zu brechen. Verdammt noch mal, reiß dich zusammen!« Es kam ihm gar nicht zu Bewußtsein, wie grob er mit seiner Frau umsprang, aber selbst wenn er es bemerkt hätte, es wäre ihm gleichgültig gewesen. Er fühlte instinktiv, daß sie alle sich in einer unbeschreiblich großen Gefahr befanden und daß die Katastrophe, die über sie hereingebrochen war, mit dem Ende der
beiden Beben längst noch nicht ihr Ende gefunden hatte. Der Wolkenbruch peitschte ihr Gesicht. Die Schmerzen machten Fancy und Harry das Leben zur Hölle. Zwei Menschen bissen sich die Lippen blutig, aber sie schafften es, aus eigener Kraft zu gehen. Zu humpeln… Wohin schleppte sie Cliff? In dieser Dunkelheit gab es für ihn doch ebensowenig ein Ziel wie für seine Frau und für den Seismologen. »Wohin wohl?« bellte er wie ein Dorfköter. »Zu den anderen! Wir müssen sie finden, oder wir können auf der Stelle unser Testament machen. Allein schaffen wir es nie zu überleben. Nie…« Sie schleppten sich durch das ehemalige Flußbett des Patton Creek. Einer von ihnen lag immer auf der Nase. Durch Zurufe verloren sie zueinander nicht den Kontakt. Als sie die Flußböschung nach Tasten erkannten, wußten sie nicht, ob sie die Böschung des anderen Ufers erreicht hatten, oder vor der standen, über die sie herabgestürzt waren. Cliff fühlte glatten Beton. Sie hielten sich im Bereich der ehemaligen Brücke auf. Darum war an dieser Stelle das Ufer so steil. Aber das Brückenfundament verriet ihnen, wo sie sich befanden. Ein guter Anhaltspunkt in dieser verdammten Finsternis. Harry Essex kam die Pfütze unheimlich vor, in der er stand. Ihr Wasser stieg immer höher, und dazu auch noch unheimlich schnell. Inzwischen hatte es seine Waden erreicht. »Cliff, stehen Sie auch im Wasser?« rief er dem anderen zu. Der fühlte an seinen Beinen, wie es stieg, aber bevor er von seiner Beobachtung etwas sagen konnte, rief Fancy schon, die glücklich darüber war, daß ihr geschundener Knöchel im kalten Wasser steckte: »Ich meine, das Wasser käme von rechts.« Rechts, das war doch bachabwärts! Cliff Brett plagte sich in dieser Inferno-Nacht mit Ahnungen. Eine neue Ahnung hatte ihn überfallen, und er wollte wissen, ob seine fürchterliche Ahnung stimmte. »Bewegt euch nicht von der Stelle, ich mache nur einen kleinen Versuch. Harry, machen Sie ununterbrochen Lalalalalala…! Ich brauche es als Peilzeichen, als Heulboje.« Es gab deswegen nichts zu lachen. Harry Essex machte »Lalalalalalala«.
Cliff war von der Seite seiner Frau verschwunden. Eine Minute nach der anderen verstrich. Essex stand schon bis an den Schenkeln im Wasser. Das ewige Lalalala zehrte an seinen Kräften und an seinen Stimmbändern. Unheimlich das grausige Rauschen des sintflutartigen Regens. »Okay, Harry…« Cliff war wieder zurück. Essex tastete sich zu ihm heran. Wo er stehenbleiben mußte, reichte ihm das Wasser bloß bis an die Knie. »Na, und was sollte mein Lalalala, Cliff?« »Die Beben scheinen dem Creek unterhalb der Stadt den Ablauf versperrt zu haben. Was oberhalb von uns los ist…? Ich weiß es nicht. Sollte der Staudamm doch ganz geblieben sein?« Alle dachten an die enge Passage unterhalb der Stadt, gerade so breit, um den Bach und die Straße durchzulassen. Wenn da nun alles übereinandergestürzt war, dann liefen sie Gefahr zu ertrinken. Wie lange würde es bei diesem Regen dauern? Weder Fancy noch Essex wagten danach zu fragen. Und an June Craddock dachte nur Harry Essex allein. Dann sprach Cliff aus, was alle betraf. »Dann braucht es nur vierundzwanzig Stunden in dieser Stärke weiterzuregnen, und wo Monique lag, gibt es einen hübschen See.« Von ihrem Ertrinken sprach er nicht. »Cliff, sind Sie sich Ihrer Sache sicher?« fragte Essex. »Absolut! Wir sollten uns nichts vormachen. Die Hauptwassermassen sind noch nach hier unterwegs. Im Moment jagen sie noch oberhalb die Hänge herunter, sammeln sich im Bachlauf. Sie haben unterwegs noch manches mit sich zu reißen. Das alles hält die Wasser auf, aber wenn sie erst einmal hier sind, dann geht’s schnell. Ganz schnell. Und genauso schnell werden wir dann ersaufen, sollten wir bis dahin dagegen nichts getan haben. Versteht ihr, warum wir die anderen finden müssen? Darum müssen wir aus diesem ausgelaufenen Bachbett heraus. Versuchen wir es ein Stück weiter oben. In die Stadt hinein ist Selbstmord. Ob da noch ein einziges Haus steht und ein Mensch lebt? Ich bezweifle es…« Die Dunkelheit nahm ihnen die Möglichkeit, abzuschätzen, wie weit sie sich von der zusammengestürzten Brücke entfernt hatten. Als Fancy fühlte, daß sie den nächsten Schritt nicht mehr tun konnte, sagte Harry: »Hier müßten wir raufkönnen.«
Und dazu diese Finsternis. Fancy schaffte es nicht. Sie benötigte die Hilfe der Männer. Als sie oben neben ihrem Mann stand, brach sie zusammen. Erst als seine Hände ins Leere griffen, erkannte er, was passiert war. »Mein linker Knöchel…! Mein linker Knöchel…!« wimmerte sie. Er tastete ihren Knöchel ab. Mit solch einer Verstauchung konnte Fancy keinen Schritt mehr tun. Der Wolkenbruch nahm und nahm kein Ende. Das Rauschen aus den Wolken schien in der letzten halben Stunde noch an Stärke zugenommen zu haben. Cliff Brett warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Scheiße!« stieß er aus. Es war Mitternacht. Punkt vierundzwanzig Uhr. Aber Millionen Menschen prosteten sich andernorts jetzt zu, küßten sich und wünschten sich für das neue Jahr alles, alles Gute. Hier hatten sie den Tod vor den Augen. Sie hatten die besten Chancen zu ertrinken. Wirklich, das neue Jahr fing gut an. * June Craddock war wieder bei vollem Bewußtsein, aber das machte die Wirklichkeit nur noch schlimmer. Ihr zusammengestürzter Bungalow hatte sie unter sich begraben und zwischen zwei Bruchstücken einer Wand lag sie eingeklemmt. Sie kam nicht vor und zurück. Sie konnte die ausgestreckten Hände nicht anziehen und die angezogenen Beine nicht strecken. Sie hatte gerade so viel Platz, um atmen zu können. Aber auch nicht besonders tief, denn das ließen die Wandteile nicht zu. Wie sie lag, ob mit dem Kopf nach unten oder nach oben, sie wußte es nicht. Nur daß sie im Nassen lag, wußte und fühlte sie. Ununterbrochen rann Wasser unter ihr vorbei. Längst hatte sie keinen trockenen Faden mehr am Leib. Irgendwo schien ein Wasserhahn aufgedreht worden zu sein, denn das laute Rauschen des Wassers nahm kein Ende. Ob aus diesem aufgedrehten Hahn das Wasser herrührte, das über ihre umgestürzte Wand lief? Sie mußte sich ablenken. Sie durfte nicht ununterbrochen an ihre hoffnungslose Lage denken. Sie hatte die beiden Beben nicht
vergessen. Sie konnte sich vorstellen, was von der kleinen Bungalow-Siedlung übriggeblieben war. Und von der großen Stadt unten. Nichts… oder nicht viel. Bestimmt stand kein einziges Haus mehr. Beben von einer Stärke, wie sie im Patton-Tal wirksam geworden waren, hielt kein Haus aus, ohne dabei zusammenzubrechen. Sie hatte zehn Sekunden zu spät versucht, ihr Haus zu verlassen. Das vergessene Geldmäppchen mit fast zehntausend Dollar war ihr zum Verhängnis geworden. Sie hatte schon die Haustür erreicht gehabt, als sie wieder umgekehrt war, um den Mammon zu holen. Auf dem Weg dorthin hatte der furchtbare Erdstoß ihren Bungalow zusammenstürzen lassen. »Mein Gott, das ist doch wohl kein Regen? Kein Wolkenbruch…? Ein Wolkenbruch nach dem Beben…?« Etwas Schlimmeres konnte nicht passieren. Die Phantasie ging nicht mit ihr durch, als sie sich ausmalte, wie verzweifelt sich die Rettungsmannschaften vorwärtskämpfen mußten, um das Katastrophengebiet zu erreichen. Aufgerissene Straßen, tiefe Spalten, haushohe Erdverschiebungen, ganze Hänge, die als Erdlawine heruntergekommen waren, um alles unter sich zu begraben. Und über diesem Tohuwabohu der wolkenbruchartige Regen. Darüber wurde Erde zu Schlamm, zu fließendem Schlamm. Er floß in die letzten Löcher und Ecken, und wo sich Menschen und Tiere darin versteckt hielten, erstickte der Schlamm sie. Der Schlamm brachte sie um, Mensch wie Tier. Der Schlamm war schon immer gnadenlos gewesen! Im gleichen Moment begann sie zu frieren. Sie überdachte ihre Lage und sah den Schlamm in ihr Gefängnis hereinfließen. Lautlos würde er kommen. Auf samtenen Pfoten. Und langsam. Schlamm ließ sich Zeit. »Nein!« stieß sie aus. »Nicht mehr daran denken…« Im nächsten Moment lauschte sie. Durch das monotone Rauschen klang das kümmerliche Winseln eines Hundes. Ein Hund, so verzweifelt wie sie. Ein Leidensgefährte? Jetzt war er für sie kein Tier, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut und ein Wesen mit Ängsten und Hoffnungen, Etwas Lebendiges. Sie spürte ihre trockenen Lippen nicht, nicht den trockenen
Mund. Sie formte ihre Lippen und stieß aus: »Ja, wo bist du denn? Warum kommst du denn nicht?… Nun komm…! Komm doch…« Das Winseln ging in herzzerreißendes Jaulen über, in Bellen. In freudiges Bellen? June konnte es nicht sagen. Der Umgang mit Hunden war ihr neu. Sie hatte für diese Vierbeiner nie etwas übriggehabt, aber stets Angst vor ihnen. Doch jetzt nicht mehr. Sie rief ihn abermals. »Komm doch…! Komm her, mein Kleiner…! Komm…!« Kroch da nicht etwas schnaufend, keuchend, erregt und kratzend zugleich in ihr Gefängnis? Eine nasse Hundenase stieß gegen ihr Gesicht. Freudiges Winseln drang an ihr Ohr. Nasses Fell zog sich an ihrer Nase entlang. Sie roch Hund, und es war ihr nicht ekelhaft. Irgendwie fühlte sie sich erlöst und nicht mehr so allein. »Kleiner… mein lieber Kleiner«, sagte sie zärtlich und bedauerte es, daß sie ihn nicht streicheln konnte. Er jaulte lauter, freudiger. Sie konnte es nicht verhindern, daß seine rauhe Zunge ihr Gesicht leckte, und wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre, jetzt hätte sie ihn nicht fortgestoßen. Eine barsche Stimme in der Nähe ließ June Craddock zusammenfahren. »Gulliver?« rief sie, und noch einmal und lauter und noch barscher: »Gulliver!« Der Hund zwischen den beiden Bruchstücken einer umgestürzten Wand rührte sich nicht. »Gulliver!« Ein Schrei voller Jähem Zorn, unbeherrschter Wut. Die Stimme kannte sie doch. Mr. Harris’ Stimme: sie gehörte dem Ohrfeigengesicht! »Bleib hier!« flüsterte June dem Hund zu, aber in diesem Moment stieß er ein jämmerliches Heulen aus, als wolle er den Mond hinter den regenträchtigen Wolken um Hilfe und Schutz vor seinem Herrn anflehen. Miß Craddock begann um Hilfe zu rufen. »Mr. Harris, Ihr Hund hat mich gefunden! Er liegt neben mir. Versuchen Sie mich herauszuholen. Ich bin unverletzt. Ich bin nur eingeklemmt…« Stille draußen, abgesehen von dem lauten, monotonen Rauschen. Dann die barsche Frage: »Wer sind Sie?« Innerlich stutzte June Craddock. In solch einer Lage konnte man
sich noch nach dem Namen des anderen erkundigen, der hilflos war? »June Craddock, ich…« »Das Flittchen von Cliff Brett? Gulliver, komm raus, oder ich schlage dir das Kreuz kaputt, wenn ich dich erwische!« Der Hund neben ihr zitterte am ganzen Leib und rührte sich nicht. Ununterbrochen flüsterte June Craddock ihm zu: »Mein Kleiner, mein Lieber. Bleib, Gulliver, bleib…« Und ganz zart fuhr seine rauhe Zunge über ihr Gesicht. Von dem Mann mit der barschen Stimme war nichts mehr zu hören. Unter einer eingestürzten Wand lagen eine Frau und ein fremder Hund. * Cliff Brett hörte als erster die Stimmen. »Still!« rief er Fancy und Harry Essex zu. »Hört ihr nicht?« Sie hörten Menschen, die sich gegenseitig anschrien, Menschen in Angst und Verzweiflung. »Fancy, Honey, stütze dich bei mir auf. So wirst du gehen können.« Sie machte das Unmögliche möglich, aber erst als Harry ihr unter den Arm griff, mußte sie nicht mehr stöhnen. »Stop, wartet auf uns!« schrie Cliff Brett durch den Regen den Stimmen nach, die sich eindeutig entfernten. »Wartet doch!« Widerwillig klang das fragende »Ja«. Aber so schnell kamen die drei mit den anderen nicht zusammen. Zwischen ihnen hatte die Erde sich aufgeworfen, und sie mußten an dem Hindernis erst einmal vorbei. »Wir können nicht so schnell. Hier geht’s nicht weiter…«, informierte Cliff die Leute. »Wer seid ihr denn?« fragte eine barsch klingende Stimme. »Cliff Brett mit Frau und einem Freund…« Mr. Harris’ widerliches Lachen klang durch den wüsten Regen, ein Lachen, noch wüster, als es dieser Wolkenbruch war. »Die Bretts? Auf euch haben wir gerade gewartet. Das Flittchen, diese Biene, liegt unter ihrem Bungalow und…« Dann kamen nur noch Wortfetzen zu ihnen, die keiner verstand. Fancy Brett war zusammengezuckt, als von dem Flittchen die
Rede war. Also doch! dachte sie. Cliff hat wohl etwas mit ihr. Der Verdacht stimmte! Weiter kam sie in ihrer Eifersucht nicht. Neben ihr fluchte Harry Essex. »Ist so etwas möglich? Da geht es um unser aller Leben… Nein, mir fehlen die Worte…« »Mir nicht«, sagte Cliff Brett eiskalt. »Ich habe den sauberen Harris an seiner Stimme erkannt. Ich schlage ihm sämtliche Zähne ein, wenn er mir vor die Fäuste kommt.« »Das wirst du nicht tun, Cliff!« stieß Fancy aus. Stille. Nur der Wolkenbruch ließ sein unverändert stark klingendes Rauschen hören. Harry räusperte sich. »Cliff, ob wir es in dieser Finsternis fertigbringen, Junes Bungalow zu finden?« »Wenn wir es schaffen, bis zur Brücke zu kommen, oder zum Rest der Brücke. Die Stelle muß ich schon als Ausgangspunkt haben. Tut mir leid, Fancy, aber den Umweg mußt du schon mitmachen.« Plötzlich waren die Dunkelheit und die Nacht mit dumpfem Donnern und grollendem Poltern erfüllt. Der Boden bebte schwach, aber dieses Beben war nicht der Beginn einer neuen Katastrophe aus der Tiefe der Erde, sondern es rührte von einigen tausend Tonnen Gestein her, die gerade aus einer Wand gebrochen und in die Tiefe gestürzt waren. »Aber es gibt hier doch gar keine steilen Felswände«, sagte Harry Essex. »Und die nackte Felswand, die wir sahen, als wir Licht machen konnten… vor dem zweiten Beben, Harry?« Ungeheuerlich mußten die landschaftlichen Veränderungen im Bereich der Stadt gewesen sein, wo es doch bis auf das Felsentor zweihundert Meter hinter dem Ortsende nirgendwo Steilhänge gab. Sie nahmen Fancy wieder in die Mitte, und sie humpelte, so gut sie konnte. Hin und wieder mußte sie stöhnen. Die Schmerzen im Knöchel wurden unerträglich. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis die Stelle gefunden war, an der vor den Beben eine Brücke über den Patton Creek geführt hatte. Es gab im Bachbett den Creek nicht mehr, und im Bachbett lag die zerbrochene Brücke aus Stahlbeton. Cliff blieb stehen. »Ich fürchte, ich werde ihren Bungalow nicht
finden, oder kann sich einer von euch erinnern, daß wir vorhin über eine Straße gegangen sind? Erst kurz vor dem Brückenfundament zeigte sie sich wieder. Ich glaube, wir sind quer durch verwüstete Gärten gegangen.« Er kam nicht weiter. In der Dunkelheit wurden Schreie laut. Der gellende Aufschrei einer Menschenmenge. Fancy, Cliff und Harry Essex lauschten. Verstanden sie richtig? Wasser sollte kommen? »Das Wasser kommt…! Das Wasser kommt…!« Jetzt erst waren die Wasser aus dem Stausee angekommen. Der Damm war also doch gebrochen. Nahm das alles denn nie ein Ende? Das Schreien näherte sich. Es mußte von einer großen Menschenmenge herrühren. Jetzt war es deutlich zu verstehen. »Das Wasser kommt…! Das Wasser steigt so schnell…!« Harry Essex stieß seinen Kollegen an. »Sollen wir uns bemerkbar machen?« »Und dann ähnlich schmutzige Bemerkungen hören, wie sie Harris uns an den Kopf warf, Harry? Nein, wir schließen uns ihnen ohne Anmeldung an. Mich wundert nur, daß bei den vielen Autos, die es vor dem Beben hier gab, kein einziges als Lichtquelle dient. Alle können doch bei den Beben nicht zerstört worden sein. Ein paar…« Es gab Licht, nur der Regenvorhang hatte es nicht bis zu ihnen dringen lassen. Verschwommen, schemenhaft kam es heran. Und die Lichtquelle wurde immer heller und zeichnete sich gegenüber der Finsternis immer schärfer ab. Sieben, acht, neun Lampen zählten die drei Menschen. »Nicht so schnell, die Akkus sind gerade kein Leichtgewicht…«, hörten sie eine Männerstimme sagen. Strom aus Autobatterien. Das sah schlecht aus. Warum ging man mit der kostbaren Energie so verschwenderisch um? Drei Lampen hätten auch genügt. Die anderen sechs mit den Akkus als Reserve zu haben, schuf ein gutes Gefühl in dieser mißlichen Lage. Wie aus dem Boden gewachsen standen zwei Männer vor ihnen und leuchteten ihnen mit ihren aufflammenden Taschenlampen ins Gesicht. »Hallo, das ist ja unser Mr. Brett, dem wir alle unrecht getan haben… Oh, und was ist mit Ihnen, Mrs. Brett?« Mr. Guy Grisons
zeigte sich von der nettesten Seite und hatte sich gerade zu einer halben Entschuldigung durchgerungen. Der gute Doc Tarr kniete neben Fancy und untersuchte ihren geschwollenen Knöchel. »Mrs. Brett, damit dürfen Sie keinen Schritt mehr tun. Sie gehörten sofort ins Bett und haben Umschläge mit Alkohol… Mein Gott, das alles haben wir ja gar nicht mehr.« Verwirrt blickte der alte Kauz sie an, schüttelte seinen weißhaarigen Kopf und stammelte: »Verzeihen Sie einem alten Esel, Mrs. Brett, aber versuchen Sie so wenig wie möglich zu gehen.« Die große Menschenmenge mit der üppigen Lichtflut war heran. Cliff Brett kam sich nicht hartherzig vor, als er sich von seiner Frau abwandte und auf den nächsten mit einer Lichtquelle in der Hand zuging. »Entschuldigung.« Er blinzelte ins grelle Licht, »wir hörten Sie rufen, das Wasser käme. Wir haben im ausgelaufenen Bachbett auch steigendes Wasser beobachtet. Wissen Sie mehr? Weiß jemand von Ihnen, wieso es plötzlich bei uns steigendes Wasser gibt?« Eine über hundert Kopf starke Menschenmenge staute sich hinter den Lampenträgern. Es ging von Mund zu Mund, wer der Mann war, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Nicht einmal jene Menschen, die in Monique ständig lebten, hatten Cliff Brett vom Ansehen her gekannt, geschweige jemals ein Wort mit ihm gewechselt. »Ja«, sagte der Mann, der den Sockel einer Biluxbirne festhielt, »ein paar Mann hofften in Richtung Monterey weiterzukommen, aber schon weit vor der Stelle, wo die Berge so dicht zusammenstehen, gab es kein Weiterkommen mehr. Die Berge sind übereinander zusammengestürzt. Jemand, der es gesehen haben will, behauptet, die Sperre aus Stein und Erde sei mehr als hundert Meter hoch.« Unwillkürlich duckte sich Cliff Brett in Nacht und Regen. Wenn das stimmte − und es stimmte, denn er fühlte es −, dann ertranken die Ruinen von Monique. Dann stand bald Wasser hoch über der Stelle, die einmal die Stadt Monique ausgemacht hatte. Gellten nicht abermals Schreie durch den Wolkenbruch? Auch sie kamen aus Richtung der Sperre. »Das Wasser steigt immer schneller…! Immer schneller…! Es läuft uns nach…!« Wollten die Menschen nicht wissen, daß der Staudamm doch
gebrochen war, aber warum überfielen die entfesselten Fluten sie nicht viel schneller, mörderischer? Ohne um Erlaubnis zu bitten, nahm Cliff Brett dem Mann die grell leuchtende Biluxbirne aus der Hand, ließ den Lichtschein im Kreis wandern und sah zu seinem Erstaunen überwiegend Frauen und Kinder. Sie hatten sich bisher überhaupt nicht bemerkbar gemacht. Sie schienen gefaßter zu sein als die Männer, die erregt niemanden zu Wort kommen ließen. »Mal herhören!« überschrie Cliff Brett das Geschnatter. »Die Frauen und Kinder müssen aus der Gefahrenzone. Eine Gruppe von Männern, die sich dazu sofort melden soll, schafft sie aus dem Stauwasserbereich. Wir haben damit zu rechnen, daß bei diesem sintflutartigen Regen das Tal bald überschwemmt sein wird. Aber diese Gruppe muß sich vorher um Licht bemühen. Wir können keine einzige Lichtquelle missen. Im Augenblick genügen auch drei − die übrigen sechs ausschalten und Strom sparen.« Zu seiner Verwunderung erloschen sechs Biluxbirnen. Nirgendwo war Widerspruch zu hören. Niemand drängte sich danach, die Leitung ihrer Rettung zu übernehmen, und Cliff Brett konnte sich selbst nicht sagen, wie er dazu gekommen war, sich so energisch in den Vordergrund zu schieben. »Wir Männer haben zehn oder zwölf Gruppen zu bilden. Jede Gruppe muß sich mit einer Lichtquelle versorgen. Und dann heißt es, in den Trümmern nach Überlebenden und Verletzten zu suchen. Aber das muß schnell geschehen, denn das Wasser wartet nicht. Oder hat jemand andere und bessere Vorschläge zu machen?« Der Wolkenbruch rauschte aus dem nächtlichen Himmel. In der letzten halben Stunde war es auffallend kalt geworden. Ein paar Kinder begannen nun doch zu weinen. »Also wer von uns Männern bringt die Frauen, die Kinder und die Leichtverletzten fort? Wer ist als Sanitäter, Krankenpfleger oder sogar als Arzt ausgebildet?« Drei Mann meldeten sich, die Arzt waren, darunter ihr Nachbar Doc Jack Tarr. Zwei Frauen, die vor ihrer Heirat als Krankenschwestern tätig gewesen waren, und vier Männer hatten Kurse in der Ersten Hilfe mitgemacht. »Wagen nach Verbandskästen durchsuchen und alle an einen regengeschützten, trockenen Platz schaffen! Die Docs allein bestimmen, wie ihr Inhalt verwendet werden soll… Wie bitte?«
Fünf Mann hatten sich freiwillig gemeldet, Frauen und Kinder aus dem Gefahrenbereich zu schaffen. Ein halbes Dutzend junger Burschen, die sich den Übergang zum neuen Jahr auch anders vorgestellt hatten, wollten in den nun nutzlos gewordenen Autos Batterien und Lampen ausbauen und dazu die erforderlichen Kabel. »Meine Garage steht noch…«, sagte Mr. Hastings. »Okay, diese Garage wird der Verbandsplatz, nur werden wir keine lange Freude daran haben.« Plötzlich gefiel Brett der Vorschlag nicht mehr. Über die Köpfe der anderen hinweg rief er fordernd: »Die Personen herkommen, die eben gemeldet haben, daß ihnen das Wasser buchstäblich nachlaufe!« Zwei ältere Männer schoben sich durch die Menge. Einen kannte Brett. Er war kein Schwätzer. Er erzählte, wie er im kümmerlichen Licht seines brennenden Feuerzeuges das beängstigend schnelle Steigen des Wassers an einem Steinbrocken verfolgt habe. »Ich möchte behaupten, daß es in jeder Minute um einen halben Zoll steigt!« Cliff Brett besaß genügend Phantasie, um sich vorstellen zu können, was dieses schnelle Steigen des Wasserspiegels für die Menschen unter den Trümmern zu bedeuten hatte. Fünf Minuten später hatten sich Frauen und Kinder von den Männern getrennt. Von einer Fünfer-Gruppe nervenstarker Männer geführt, verschwanden sie, nur mit zwei Batterien und den dazu gehörenden Biluxlampen ausgerüstet, in Nacht und Regen. Auch Fancy. Auf zwei starke Frauen gestützt, humpelte sie mit der Gruppe davon. Kurz, aber herzlich war der Abschied von ihrem Mann gewesen. »Cliff, gib obacht auf dich!« hatte sie ihm gesagt und ihm dabei das regennasse Gesicht gestreichelt. Eine Rettungsgruppe nach der anderen bildete sich. Die Boys, die aus den demolierten und umgekippten Wagen die Batterien bargen, arbeiteten wie die Berserker. Die Akkus und die Lampen dazu wurden ihnen von den Bergungstrupps aus den Händen gerissen. Keine zehn Minuten später kam der erste Ruf nach einem Arzt. Einer der drei Docs hastete durch Nacht und Wolkenbruch. Es war unheimlich, daß die Flut aus dem Himmel kein Ende fand. Nach wie vor goß es wie aus Kübeln. Von Brett waren zwei Männer abgestellt worden, die das Steigen des Wasser zu beobachten hatten.
Jede Veränderung sollten sie melden. Gleichgültig, ob positiv oder negativ. Harry Essex war mit der Gruppe verschwunden, die June Caddock unter den Trümmern ihres Bungalows herausholen wollte. Cliff Brett wanderte im kümmerlichen Licht einer Drei-WattKugelbirne im stehengebliebenen Kellerteil von Mr. Antwerps Bungalow herum. Das Haus lag von allen Bauten am höchsten. Daß es auch am Ende des Ortes lag, mußten die Rettungs- und Suchtrupps mit in Kauf nehmen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Fast zwei Uhr bis auf ein paar Minuten. Unersetzliche Zeit war verlorengegangen, bis überhaupt etwas Positives getan worden war. Vor knapp einer Stunde hatten die Frauen und Kinder unter dem Schutz von fünf Männern den Katastrophenort verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Cliff vernahm Schritte, dann tauchte Licht aus der Regenwand auf. Doktor Tarr kam zurück. Er keuchte unter der Last der schweren Batterie, die er fluchend absetzte. »Wieder umsonst, Mr. Brett. Dreiundzwanzigmal schon durfte ich den Tod bestätigen. Ich frage mich, warum man mich jedesmal wieder zu Toten hinausruft…« »Weil die Männer der Suchtrupps noch voller Hoffnung sind, Lebende unter den Trümmern zu finden. Ich flehe den Himmel an, daß sie diese Hoffnung noch recht lange behalten.« Lautlos wie ein Gespenst war Harry Essex aufgetaucht. Neben ihm stand ein triefender Foxterrier, dessen dunkle Augen im Licht der kleinen Lampe lustig funkelten. Harry grinste breit. »Cliff, unser Supermini hat keinen Kratzer abbekommen…« »Hallo«, klang es hinter Harry Essex’ breitem Rücken, und mit dem zerzausten Kopf einer Furie beschenkt, schob sich June Craddock in den Keller herein und versucht zu lachen. Aber daraus wurde ein gottserbärmliches Weinen und Schluchzen. »Gulliver…«, heulte sie, und als der Foxterrier sich an sie schmiegte, kniete sie neben ihm, umarmte ihn und weinte in sein Fell hinein. Ihre Nerven sagten ihr den Dienst auf. Hilflos stand der Doc herum und hätte ein Königreich für eine Beruhigungsspritze gegeben. Der Doc, Essex und Brett sahen den Mann an, der gerade in den Keller kam. Er gehörte zu denjenigen, die die Frauen und Mädchen zu begleiten hatten.
Er wischte sich mit nasser Hand den Regen aus dem Gesicht. Wo er stand, bildete sich eine Lache, die schnell größer wurde. Sein Gesicht war verkniffen und alt. »Wir stecken alle in einer Falle. Solange es dunkel ist, haben wir keine Chance, die Frauen und Kinder in Sicherheit zu schaffen. Wir sind ringsherum von Felswänden eingeschlossen. Steile, senkrecht aufragende Wände. Bloß da, wo die Wasser des Patton Creek in die Falle strömen, da gibt es einen Spalt, aber der ist unpassierbar, weil die gesamte Breite des Spaltes von den Wassermassen eingenommen wird.« Starr blickte er Cliff Brett an, als habe er sich für diese furchtbaren Tatsachen zu entschuldigen. »Brett, ich bin bis dicht ans Wasser gekrochen. Ich wollte wenigstens ein bißchen zu sehen bekommen, aber bei dem Wasserstaub reichte das Licht keinen Meter weit. Ich lag da… ich glaubte in einer Pfütze zu liegen. Verdammt, ich habe in der letzten Stunde manches geglaubt, was sich hinterher als nicht richtig herausstellte, aber das da… am brüllenden Creek… plötzlich war ich drauf und dran zu ersaufen! Unvorstellbar, wie wahnsinnig schnell das Wasser des wildgewordenen Baches auf einmal stieg… Als ob der gesamte, ausgelaufene Stausee nun dahinter stünde und nicht durchkäme!« Cliff Brett starrte ihn an. Bevor er etwas erwidern konnte, stürzte eine Frau in den Keller auf Doc Tarr zu. »Kommen Sie, Doc, bei Mrs. Bewain haben die Wehen eingesetzt…« »Auch das noch.« Cliff Brett blickte Doc und Frau nach, die in Regen und Dunkelheit verschwanden. Er nahm auf einer Holzkiste Platz, hatte unmenschliche Sehnsucht nach einer Zigarette, besaß aber keine mehr. Die Nässe hatte seinen gesamten Vorrat aufgelöst. Als er den jungen Mann eintreten sah, der stolzer Besitzer einer Stablampe war, ahnte er neues Unheil! »Mr. Brett, seit zehn Minuten steigt das Wasser doppelt so schnell.« * Zwischen Sterbenden, Schreienden und Wimmernden hatte Doktor Tarr seine Bestecktasche abgestellt. Auf einer nassen Luftmatratze lag eine junge Frau, die sich in Wehen krümmte. Als der Doc ihre Stirn berührte, glaubte er in eine Flamme zu greifen, so heiß war diese Stirn. Er nahm seine Hand nicht fort. Er beugte
sich zu ihr herab und sagte ihr durch das Weinen und Stöhnen der Sterbenden: »Mrs. Bewain, ich bin bei Ihnen. Ich bin hier, um zu helfen.« Er hatte noch nie so gern gelogen wie in dieser Minute. Er konnte nur mit seinem Wissen helfen, mit seinen Händen. Bis auf ein paar Instrumente war seine Tasche leer. Er besaß keine einzige Ampulle mehr. »Lassen Sie mich einmal, Mrs. Bewain«, sagte er leise und tastete unter der feuchten Decke ihren Leib ab, dabei fühlte er den Blick der Krankenschwester auf sich ruhen, die auf der anderen Seite der Luftmatratze kniete und die kleine Kugelbirne hochhielt. In den besorgten Blick dieser Frau hinein lächelte er, während er seine Hände zurückzog. »Es ist alles normal…« Und zu der werdenden Mutter gewandt sagte er laut, sicher und fest: »Mrs. Bewain, wollen wir wetten, daß es ein Junge wird?« Die in den Wehen liegende Frau sah ihn zum ersten Mal an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Aber wir haben uns ein Mädchen gewünscht, wir haben schon zwei Jungen.« Doc Tarr lachte noch breiter: »Dann will ich gern die Wette verlieren und…« Da bemerkte er die Anzeichen einer sich einleitenden Geburt. »So«, sagte er und nahm von der jungen Frau die feuchte Decke fort, »und jetzt helfen Sie mir auch ein bißchen und tun genau das, was Sie schon zweimal im Kreißsaal haben tun müssen… Jaaaa, so ist es richtig! Ich sehe es Ihnen an, Sie sind eine tapfere Frau… Nicht nachlassen…! Nicht nachlassen. Jaaa, so ist es gut…« Die danebenkniende Frau mit der kleinen Kugelbirne in der Hand, selbst Mutter von zwei Kindern, starrte den alten Doc Tarr an, als habe sie einen Zauberer vor sich, denn noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas von jener geheimnisvollen Macht gespürt, die manche Menschen auf andere abstrahlen können, wenn diese in Not sind und Hilfe benötigen. Aber Doc Tarr war solch ein Zauberer. Sie traute ihren Augen nicht. Die Geburt war schon viel weiter, als sie es jemals erlebt hatte. Wie sicher der Arzt den Kopf hielt. Mit der anderen Hand half er durch leichten Druck nach, als ob seine Hand eine austreibende Kraft besäße. Nach zehn Minuten kam schon der erste helle Schrei und der frohe Ausruf des Docs: »Mrs. Bewain, ich habe meine Wette ver-
loren. Sie haben Ihr Mädchen!« Er zeigte es ihr, und für Mrs. Bewain war es das schönste Baby der Welt. Glücklich fühlte sich auch Doktor Jack Tarr. Er hatte für ein paar Minuten alles Elend und alles Sterben um sich herum vergessen. Er hielt junges, gesundes Leben in der Hand… Leben, das dem Inferno des Raubtieres Erde trotzen wollte. Draußen regnete es, und um ihn herum starben sie, und das Wasser stieg unaufhörlich. * Es gab für sie keine Rettung mehr. Der Kessel wurde für sie alle zum Grab. Cliff glaubte längst nicht mehr an die rettende Wirkung des Tageslichtes. Ringsherum waren sie von nackten, senkrecht aufragenden Felswänden umgeben. An den Stein- und Erddamm kam kein Mensch mehr heran. Das Wasser machte es unmöglich. Und allein dieser Damm war der einzige Weg, aus dieser Falle zu fliehen. Unter den Trümmern der zerstörten Stadt konnte niemand mehr leben, denn die letzten Keller waren inzwischen voll Wasser gelaufen. Wasser oben, unten − Wasser überall. Und dazu weinende Kinder, schluchzende Frauen und fluchende Männer. Langsam machte sich überall die Verzweiflung breit. Die letzten Hoffnungsfunken erloschen wie Ölfunzeln, die keinen Brennstoff mehr besitzen. »Und wenn wir Flöße bauen, um mit ihnen bis an den Steindamm heranzukommen, Brett?« Cliff Brett hatte das Thema mit anderen durchgesprochen, und er war froh gewesen, daß die Optimisten die Oberhand behalten hatten. »Wir bauen Flöße. − Mit ihnen kommen wir zum Damm. Der Damm ist nicht steil. Frauen und Kinder können ihn leicht erklettern. Dahinter liegt die Rettung.« Aber Monique lag unter Wasser. Wovon ein Floß bauen, das zwanzig und mehr Menschen tragen konnte? Und ein Floß reichte nicht aus, alle Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, bevor das Wasser auch den letzten Fußbreit Boden überschwemmte. Zehn Flöße mußten her, oder wenigstens fünf. Im Schein der Autolampen – drei Wagen brachten mit laufen-
dem Motor Licht in die Regennacht hinein − schleppten Trupps aus allen Richtungen Holz heran. Arme voll! Mehr nicht. Drei Balken hatte man gefunden, ansonsten nur Stangen und Latten. Um fünf Uhr morgens war ein Floß fertig. Mehr als sechs Erwachsene konnte es nicht tragen. Drei Männer wagten es, zum Damm hinüberzufahren, und stakten es in Regen und Nacht hinein. Eine schweigende, verzweifelte Menschenmenge sah die leuchtende Autobirne in der Regenwand verschwinden. Das lange Warten begann. Binnen einer halben Stunde wollten die drei auf ihrem Floß wieder zurück sein. »Und wenn sie sich im Kreise bewegen?« Diese Frage lief von Mund zu Mund, denn irgendwer hatte auch darauf aufmerksam gemacht, daß sie keinen Kompaß besaßen. Und die Nacht war nur voller Finsternis und Regen. Es gab keinen einzigen Stern am Himmel, der ihnen einen Anhaltspunkt hätte geben können. Nach fünfzig Minuten erst kamen sie aus der Dunkelheit und Nässe wieder zurück. Sie hatten den sperrenden Damm nicht gefunden! Sie hatten sich ununterbrochen im Kreis bewegt und es nicht einmal bemerkt. Der Zufall hatte sie wieder zum Ausgangspunkt ihrer Floßfahrt zurückfinden lassen. Die letzte Hoffnung der Überlebenden starb. Und das Wasser stieg weiter, und sein Steigen wurde immer schneller. Aus den Wolken schüttete es nach wie vor in gleicher Stärke. Vor Kälte und Nässe zitternde Kinder weinten sich im Schutz ihrer Mütter in den Schlaf. Das Schluchzen von Frauen verstummte ringsherum. Zwei Frauen und vier Männer, die die Verletzten betreuten, gingen schweigend zwischen den primitiven Lagern hin und her. Mit ihren leeren Händen konnten sie nicht mehr tun als einen Schluck Wasser zu reichen und hier und da eine verstaubte Decke, die unter Trümmern herausgezerrt worden war, zurechtzuziehen. Der Tod holte unter den Verletzten ununterbrochen seine Opfer. Die meisten starben lautlos, und den Ärzten war ihre Hilflosigkeit noch nie so brutal vor Augen geführt worden wie in dieser Nacht. Kurz nach sechs Uhr mußte der erste Verbandsplatz, einer von dreien, geräumt werden. Das Wasser hatte ihn eingeholt.
* Nur noch ein Automotor lief. Seine Lichtmaschine spendete Licht. Die beiden anderen Fahrzeuge lagen bereits unter Wasser. Cliff hatte Fancy wiedergefunden. Es war ein Wunder gewesen, daß sie sich getroffen hatten. Widerstrebend, manchmal wütend und verbissen, hatte man ihm in der dicht zusammenstehenden Menge Platz gemacht, als er nach ihr suchte. »Das ist der Bursche, der mit dem geriebenen Makler hier seine Geschäfte gemacht hat. Und jetzt säuft er zusammen mit uns ab!« hatte jemand hinter Cliff gesagt. Er hatte nicht einmal den Versuch gemacht, sich zu rechtfertigen. Nun, nachdem sein Einsatz ihnen allen keinen Erfolg gebracht hatte, zahlten sie ihm seinen Wagemut mit Gemeinheit und Tücke zurück und konnten damit für kurze Zeit ihre feige Angst zum Schweigen bringen. Alle hatten Angst, auch Cliff Brett hatte sie und seine Frau Fancy auch. Es war kurz vor halb acht gewesen, als er sie in seine Arme schloß. Sie stand auf einem Bein. Sie konnte nicht umfallen, sie war von vier Frauen eingekeilt. Mrs. Harris spie ihn mit ihren giftigen Blicken buchstäblich an. Diese Schlange hatte zu den ersten Personen in Monique gehört, die über ihn hergezogen hatten. »Und so etwas überlebt das Erdbeben!« zischte sie und trat so gekonnt aus, daß Fancy gellend aufschrie. Mrs. Harris’ Fußtritt hatte genau ihren geschwollenen Knöchel getroffen. »Meine Liebe«, fragte die Schlange zuckersüß, »ist Ihnen was?« Im Lichtkegel von Cliff Bretts Taschenlampe leuchteten ihre Augen tückisch. Die blassen, kaum sichtbaren Lippen waren nach innen gezogen und gaben ihrem Mund ein noch häßlicheres Aussehen, als er es sonst schon zeigte. Ob Cliff wollte oder nicht, er mußte diese Schlange anschauen, und er hatte sich dessen zu erinnern, was ihr Mann seiner in den Trümmern eingeklemmten Kollegin June Craddock zugerufen hatte. Dieses Gespann hatte sich gesucht und gefunden und paßte herrlich zusammen. Der Rückweg mit seiner Frau, die bei jedem humpelnden Schritt laut stöhnte, war das reinste Spießrutenlaufen für Cliff. Wütender
als zuvor rief man hinter ihnen her. Aus erster Hand erfuhren sie, wie verhaßt sie in der letzten Zeit gewesen waren. Daß man ihnen nicht die Schuld an den beiden Beben vorwarf, fehlte noch in der Sammlung der schmähenden Vorhaltungen und Verleumdungen. Als sie die halbentwurzelte, schrägstehende Kiefer erreichten und Cliff seine Frau nötigte, auf dem halbrunden Stein davor Platz zu nehmen, begann endlich die Nacht dem grauen Morgen zu weichen. Doch nach wie vor goß es wie aus Kübeln. Ringsherum stand eine undurchsichtige Regenwand, die verhinderte, einen Überblick über die Falle zu gewinnen, in der mehr als vierhundert verzweifelte Menschen steckten. Vierhundert, die von zehntausend überlebt hatten. Doktor Tarr sah sich Fancys geschwollenen Knöchel wieder an. »Kühlen und den Fuß nicht belasten… Ja, ich weiß, Mrs. Brett, ich kann gut reden und Ratschläge geben«, murmelte der alte Kauz. Cliff hatte sein Taschentuch in eine Pfütze getaucht und legte das nasse Tuch um die Schwellung. Fancy dankte ihm mit einem liebevollen Blick. »Das mache ich nachher selbst, Cliff«, sagte sie und dann warf auch sie den Kopf in den Nacken und blickte zum grauschwarzen Regenhimmel hinauf. Über ihnen war gerade eine Sturmböe hinweggezogen. Zornig und laut hatte sie geheult. Die Herzen der verzweifelten Menschen begannen schneller zu schlagen. War diese Bö der Anfang zu einem Sturm, und würde der Sturm nicht endlich die Regenwolken zerreißen und davontreiben? Und mußte mit Ende des sintflutartigen Regens nicht auch das Wasser in ihrem Kessel wieder fallen? Kam mit dem Sturm nicht ihre Rettung? Ein paar Minuten später heulte die zwei Bö hoch über sie hinweg, aber an keiner Stelle war die Wolkendecke zerrissen worden. Im Gegenteil, sie schien noch dunkler geworden zu sein. Cliff Brett konnte das Gefühl nicht loswerden, die Wolken hingen plötzlich viel tiefer als in all den Nachtstunden. Dann zeigte seine Uhr halb neun. Über ihnen heulte ein Orkan. Es wollte und wollte nicht richtig Tag werden, aber man konnte sich wenigstens ein Bild von den Verwüstungen machen, die die beiden Beben angerichtet hatten. Im wahrsten Sinne des Wortes
war Monique unter Wasser verschwunden. Die Landschaft im Bungalow-Viertel war nicht wiederzuerkennen. Zerrissene Straßenstücke lagen über geborstenen Hauswänden oder sie steckten im aufgewühlten Boden wie Speckstücke im Rücken eines Rehes. Die großen, dunklen Tannen waren entwurzelt und geknickt, als seien sie Streichhölzer. Stellenweise lagen Autos in drei Schichten übereinander. Andere steckten unter Geröllhalden, die der Boden ausgespuckt haben mußte. Bei diesem Bild des Grauens war es ein Wunder, daß hier oben bei ihnen nicht mehr als zweiundvierzig Menschen bei den Beben und ihren Folgen umgekommen waren. Dreiundzwanzig schwebten noch in größter Lebensgefahr. Wenn nicht bald Hilfe aus Monterey kam, starben sie, bevor sie vom Wasser geholt wurden. Das Heulen des Orkans nahm kein Ende. Er kam vom Pazifik und aus der gleichen Richtung wie der Sintflut-Regen. Er schien noch mehr Regen heranzubringen. Harry Essex und acht weitere Männer kamen und blieben vor Fancy und Cliff stehen. »Verdammter Mist, Cliff! Wo ist June?« Essex sah sich um. Cliff wußte es nicht. Als er mit Fancy zur halbentwurzelten Kiefer zurückgekommen war, fehlten sie und der Foxterrier. Er hatte sich darüber weiter keine Gedanken gemacht und zuckte mit den Schultern. »Ist sie schon lange weg, Cliff?« fragte Essex mit leichter Erregung in der Stimme. »Als ich Fancy suchen ging, saß sie vor dem Strauch da auf dem Stein und hatte den Hund auf dem Schoß. Ich kann nicht sagen, wohin sie gegangen ist.« »Wer geht hier schon fort, wenn er nicht muß?« knurrte Harry Essex. »Na, spurlos verschwinden kann sie nicht, wir sitzen in der schönsten Falle, die man sich nur ausmalen kann. Cliff, wir haben keine einzige Stelle entdeckt, an der man hochsteigen könnte. Wir sind zu dritt, zu viert hochgeklettert und haben dabei Kopf und Kragen riskiert. Wir kamen nie höher als acht, zehn Meter. Dann gab es kein Weiterkommen.« Der Sturm heulte noch über ihnen. Der Regen kam rauschend herunter, aber plötzlich war ein neues Geräusch da. Es knirschte, schrie, brüllte und krachte. Es klang dumpf und trocken. Alle starrten in die Richtung, aus der die unheimlichen Geräusche zu ihnen kamen. Plötzlich waren sie verstummt. Un-
heimlich, dieser überraschende Abschluß. Etwas Fürchterliches barg er in sich. Der Schrei aus hundert und mehr Kehlen stieg in den grauen Tag. Menschen in wahnwitziger Angst brüllten. Cliff Brett raste in das Morgengrauen und in die Regenwand hinein. Er kam nicht weit. Brausendes Rauschen stoppte ihn und jagte ihn zurück, den kleinen, aber verhältnismäßig steilen Hang hinauf. Kaum hatte er seinen höchsten Punkt erreicht, als das Brausen in einer meterhohen Welle aus der Regenmauer herausschoß und sich am kurzen Hang brach. Bretts Augen hatten sich vor Entsetzen geweitet. Vier, fünf Menschen sah er im Wasser treiben, von der zerfetzten Welle mitgerissen. Er handelte instinktiv, sprang den Hang hinab, warf sich ins zurücklaufende Wasser und bekam eine junge Frau und ihr Baby zu fassen. Wie von tausend Teufeln getrieben zerrte er sie hinter sich her auf den rettenden Hang. Er gönnte sich keine Pause, schleppte sie höher, hörte abermals Brausen heranrasen, drehte sich herum und sah eine zweite Welle aus der Regenmauer herausschießen. Nur war sie gut um die Hälfte niedriger als die erste. Sie leckte gierig nach der bewußtlosen Frau und dem kleinen Kind, doch sie konnte ihnen nichts mehr anhaben. Cliff Brett hatte begriffen, was geschehen war. Aber daß er Mrs. Bewain und ihr Neugeborenes gerettet hatte, erfuhr er erst später. Ganz in der Nähe mußte der große Teil einer Felswand abgebrochen und ins gestaute Wasser gestürzt sein. Die Felsmassen hatten dann diese hohe Welle ausgelöst. Als er so weit in seinen Überlegungen gekommen war, packte ihn das Grauen. Vor seinen geistigen Augen sah er, wie viele Menschen von der hohen Welle mitgerissen worden waren und im tieferen Wasser ertränkt wurden. Verzweifelt schaute er sich um. War er denn wieder einmal der einzige gewesen, der richtig reagiert hatte, als nach den sich unheimlich anhörenden Geräuschen der wilde Schrei verzweifelter Menschen aufgeklungen war? Er verstand auch seinen Kollegen Harry Essex nicht, der langsam herankam. Doc Tarr war entsetzt, als er Mrs. Bewain und ihr Neugeborenes am Hang liegen sah, und stürzte darauf zu, kniete
neben ihnen und beugte sich über beide. »Wir müssen nachsehen, wieviel Menschen von der Welle mit ins Wasser gerissen worden sind. Steht doch nicht herum. Tut doch was!« fauchte Cliff sie an. Ein paar Männer hoben die Hände und ließen sie wieder fallen. »Was sollen wir denn noch tun, Brett?« fragte einer. »Wer tot ist, braucht vor dem Sterben keine Angst mehr zu haben.« Frauen, die von Entsetzen gepeitscht wurden, kamen schreiend heran. Die nackte Angst hatte sie alt werden lassen. Keine von ihnen wollte in diesem Inferno sterben. »Schafft uns hier raus…! Schafft uns hier raus…! Wir wollen hier nicht krepieren! Habt ihr gehört…?« Es wurde gefährlich. Die Frauen in der vordersten Reihe hatten Steine in den Händen. In ihren Augen stand panische Angst. In dieser seelischen Verfassung waren sie in der Lage, die Handvoll Männer vor ihnen zu steinigen. Cliff Brett hatte begriffen, daß ihr Leben keinen Dime mehr wert war. Darum setzte er alles auf eine Karte und spielte einen verzweifelten Bluff aus. Er warf den Kopf in den Nacken, blickte in den Regen hinein, streckte den Arm aus, deutete nach oben und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Hört ihr denn nicht das Knattern der Hubschrauber…!« Es war gemein, was er den verzweifelten Frauen antat, aber es war der einzige Weg, der sie vor der Steinigung retten konnte. Und nun zeigten sich die anderen Männer geistesgegenwärtig. Im Chor brüllten sie: »Hubschrauber…! Hubschrauber…!« Und auch der Doc deutete in den Regenhimmel hinein. Die Frauen blickten nach oben. Die ersten Steine entglitten den Fingern. Das Wort Hubschrauber ging von Mund zu Mund. Ein Wort, das nicht nur magischen Klang, sondern auch magische Macht über sie hatte. Und sie hörten tatsächlich das Knattern der Rotoren durch Regen und Orkan. Sie wollten es hören. Eine jede. Denn jede wollte gerettet werden. Der Orkan heulte, und nur ab und zu bekamen sie ihn im Kessel zu spüren. Der Regen rauschte und das Wasser stieg. Die ersten Frauen begannen vor Enttäuschung zu weinen. »Die Hunde, sie sehen uns nicht. Sie können uns bei diesem Regen
nicht sehen. Hört ihr sie noch? Ich höre sie nicht mehr.« * June Craddock sah den Foxterrier Gulliver zwischen den verzweifelten Menschen verschwinden und begriff den Hund nicht mehr, der doch zuletzt so brav zwischen ihren Beinen gelegen hatte. Sie sprang auf, verließ ihren relativ sicheren Platz, selbst auf die Gefahr hin, nachher mit einem viel gefährlicheren vorlieb nehmen zu müssen, und boxte sich mit aller Energie durch die verzweifelte, frierende, hoffnungslose Masse. Mancher Fluch, manche Verwünschung wurde ihr nachgerufen. Sie achtete nicht darauf. Sie wollte bloß ihren Gulliver zurückhaben, und sie stellte überrascht fest, wie sehr sie an dem Foxterrier schon hing. Da sah sie ihn, und im nächsten Augenblick schon wieder nicht mehr. Er jagte durch den peitschenden Regen. June mußte einer Gruppe schreiender Kinder ausweichen, die laut nach Vater und Mutter riefen. Ein Bild unbeschreiblichen Elendes und Jammers. Gulliver jagte auf das Wasser zu. June hatte ihn wieder entdeckt. Der Hund jaulte freudig erregt. Er sprang an einer Frau hoch, die June den Rücken zukehrte. Diese Frau trat nach dem Hund, ohne sich nach ihm umzudrehen. Da sah June auch die drei Männer, nein, es waren vier und − das Floß! Harris war einer der Männer. Harris, der seine Frau mit Faustschlägen davon abhalten wollte, durch das Wasser zu waten, um das Floß zu erreichen. Niemand sah zu der kleinen, sich prügelnden Gruppe herüber. Auch das schmerzhafte Jaulen eines Hundes, der gerade wieder gemein von der Frau getreten wurde, konnte keinen Menschen mehr aus seiner dumpfen Hoffnungslosigkeit herausreißen. Gulliver! wollte June Craddock rufen und brachte keinen Ton über die Lippen. Harris, einen dicken Stein in der Hand, drang auf seine Frau ein. Gellend schallte ihr Schrei durch die Luft. Noch lauter sein grauenhafter Fluch. June Craddock verstand »Verdammtes Satansweib!« Dann schlug Harris wieder zu. Wie ein gefällter Baum stürzte die Frau und fiel ins Wasser. Har-
ris watete zum Floß, setzte sich darauf und griff nach der Stange. Gulliver heulte in den rauschenden Regen hinein, und in die graue Regenwand hinein verschwand ein Floß mit vier Männern darauf. Einer davon hatte gerade seine Frau erschlagen, die ihm sein Eheleben zur Hölle hatte werden lassen. »Komm, Gulliver«, sagte June Craddock mit müder Stimme. Ihre Hand griff in sein nasses Fell. Der Rücken der erschlagenen Mrs. Harris ragte aus dem Wasser. Es war kein schöner Anblick, und June Craddock sah schnell weg. Sie bückte sich nach dem Lederriemen, der herrenlos zwischen den Trümmern lag. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie Cliff Brett vor sich stehen. Er hatte das Floß schon vermißt. Sie deutete auf die tote Mrs. Harris. »Er verwünschte sie in dem Augenblick, als er sie erschlug, Cliff, und dieser Kerl hat ein paar Tage vor Weihnachten versucht, mich anzufassen. Ich habe ihm ein paar runtergehauen…« »Hoffentlich schaffen diese feigen Coyoten wenigstens schnell Hilfe herbei!« »Das erwartest du von Harris, Cliff?« Dann fragte sie in einer burschikosen Art, die er an ihr nicht kannte: »Wann dürfte Schluß mit uns sein? Heute nachmittag?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Zwischen zwölf und ein Uhr leben wohl nur noch die Menschen, die sich auf den drei höchsten Plätzen aufhalten und die wenigen, denen es gelungen ist, irgendwo in einer Felswand einen sicheren Fleck zu finden, bis Hunger oder Durst oder auch das Wasser sie zu fassen bekommt.« »Keine Hilfe aus Monterey?« fragte sie. Es spielte keine Rolle mehr, daß ihnen ein halbes Hundert Menschen zuhörte. Es gab nichts mehr zu verschweigen. »Besteht Monterey noch? Und bei dem Orkan und bei dem Regen?« fragte Cliff zurück. Harry Essex tauchte auf, nickte June zu und sagte zu Cliff: »Wir sollten zu Ihrer Frau zurückkehren. Wenn wir noch länger warten, kommen wir nicht mehr durch.« Er hatte seine Warnung buchstäblich im letzten Moment gemacht. An vier Stellen ließ man sie nicht mehr durch, und sie mußten bis an die Brust durchs eiskalte Wasser waten. Fünf Leichen sahen sie darin, um die sich niemand mehr kümmerte. Warum sie auch aus dem Wasser holen? An Land war kaum noch
Platz für die Lebenden. Der kurze und steile Hang, der noch vollkommen leer gewesen war, als Cliff der abfließenden Welle Frau und Baby entrissen hatte, war nun bis auf eine schmale Gasse besetzt. Ein Mann, den Cliff nicht kannte, sagte: »Ihre Frau hat sich hinter den Busch neben den drei entwurzelten Buchen zurückgezogen. Sie wollte dort einen Platz für Sie und Ihre Freunde freihalten. Ob sie das geschafft hat?« Cliff Brett fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als er um die Strauchgruppe bog und Fancy auf einem der Buchenstämme sitzen sah. Der Stamm hinter ihrem Rücken war frei. Dahinter gab es nur noch die senkrecht aufragende Felswand mit ihrem nackten Gestein. Fancy, seine friedliebende Fancy, sein Honey, hielt sich mit einem Colt die Menschen vom Leib. Sie senkte die Waffe auch nicht, als sie ihren Mann entdeckte, der sich durch die wütende Menschenmauer schob. Wortlos nahm er neben Fancy auf dem dritten Buchenstamm Platz. Sie saßen kaum, als Fancy die Waffe zu Boden warf. Als sich jemand danach bückte, verzog sie nicht einmal das Gesicht. Es blieb auch ausdruckslos, als der Mann nach hastiger Kontrolle die Waffe wegwarf und dabei wüst fluchte. Er hatte entdeckt, daß sie nicht geladen war. Die Minuten schlichen dahin. Es goß und goß aus den Wolken. Der Orkan peitschte immer öfter mit seinen Böen in den Kessel hinein. Und das Wasser stieg. In rauschenden Kaskaden stürzte es aus der Höhe am nackten Felsen entlang zu Boden. So war es überall im Kessel. Nur an der einen Stelle nicht, wo durch den breiten Spalt die brüllenden Wasser des ausgelaufenen Stausees gurgelten und rauschten. Cliff Brett ließ seinen Blick in die Runde gehen. Unmerklich schob sich die Menschenmauer zu ihnen heran. Der Druck wurde immer stärker. Und ununterbrochen stieg das Wasser und verkleinerte den kümmerlichen Lebensraum verzweifelter Menschen. Wann kam der Augenblick, in dem die Panik ausbrach und nur der Stärkere Aussicht hatte, die nächsten Stunden noch zu leben? Es war ein grauenhaftes Bild, diese zusammenklebenden, durchnäßten Menschen zu sehen, von Angst gepeitscht, vom
Schrecken der Beben und der furchtbaren Nacht geschwächt. Die kleinen Kinder, die nicht mehr weinen konnten, die Halbwüchsigen, die das Leben erst noch vor sich hatten, und die Alten. Niemand wollte sterben. Alle wollten überleben, aber niemand glaubte mehr ans Überleben. Der Orkan vom Pazifik machte jeden Rettungsversuch von draußen unmöglich; der Regen und das so schnell steigende Wasser ließen sie bald wie junge Katzen ersaufen. Harry Essex stieß seinen Kollegen Brett an. »Schau mal in die Wand!« rief er ihm zu. Im Regenschleier gerade noch zu erkennen, kletterte zwischen zwei Kaskaden ein junger Mann herum. Einer, der verrückt geworden war? Er schaute zu ihnen herunter, und Cliff Brett glaubte, ihn zu kennen. Das war der junge Elmshorn, der Geologie studieren wollte, wenn er die Schule hinter sich gebracht hatte. Ike Elmshorn hatte ihn auch gesehen und winkte ihm zu. Was hatte das zu bedeuten? Fragend blickte Cliff seine Frau an, aber Fancy hatte auch keine Erklärung bereit. June und Harry schüttelten den Kopf. Ike Elmshorn kletterte aus der nackten, nassen Felswand und kam heran. Er beugte sich zu Cliff Brett herab. »Ich war am Spalt. Ich wollte abhauen, aber es gibt keinen Weg aus dieser Falle. Über eine Stunde habe ich am Spalt gesucht. Den Weg ins Freie habe ich nicht gefunden, aber was anderes habe ich entdeckt, Mr. Brett.« Er machte eine Pause, und diese Pause veranlaßte Cliff Brett, ihm in die Augen zu blicken. Er schaute in die Augen eines jungen Menschen, der den letzten Abgrund des Lebens bereits kannte! »Vor dem Spalt, durch den das Wasser zu uns hereinschießt, habe ich einen zweiten Stausee festgestellt. Das Wasser dieses Sees drückt mit unheimlicher Gewalt gegen den Spalt. Und der ist an unserer Seite nicht besonders dick und stabil. Er hat schon ein halbes Dutzend faustbreite Risse, durch die das Wasser schießt, und er bebt und zittert auf unserer Seite ununterbrochen…« Erregt fiel Cliff Brett ihm ins Wort: »Du meinst, der Spalt auf dieser Seite würde unter dem Wasserdruck des zweiten Stausees zusammenbrechen und der Spalt sich dadurch erweitern?« Der Junge biß sich auf die Lippen, um nicht zu zeigen, wie sehr
ihn die Angst peitschte. »Mr. Brett, ich gebe dem Spalt keine Stunde mehr, dann bricht er auf. Für uns hier ist es dann aus. Wär’ das ’ne Wohltat, jetzt noch ’ne Zigarette zu haben.« Cliff Brett hätte auch gerne geraucht. Also eine Stunde noch, wenn Ike Elmshorns Angaben stimmten. * Die Radiostation Mont-1 unterbrach ihr Programm zu Mittag. Sie hatte eine zweite Sturmwarnung durchzugeben. »Der Orkan, der seit heute früh über dem gesamten Küstengebiet tobt, hat seine Richtung geändert und stößt nun frontal gegen die Küste. Es ist damit zu rechnen, daß er innerhalb der nächsten Stunden an Stärke gewinnt und seine Verwüstungen noch größer werden. Es ist zwecklos, die Küstenwacht anzufordern oder andere Stellen wie Feuerwehr oder Polizei um Hilfe anzurufen. Alle Rettungs- und Hilfs-Trupps befinden sich seit dem zweiten Beben im ununterbrochenen Einsatz. Zu den Beben in der letzten Nacht erreicht uns soeben folgende Meldung: Das PattonTal scheint auch davon betroffen worden zu sein, denn vor gut einer Stunde wurde die Beobachtung gemacht, daß der Mündungsarm des Patton Creek, der zwei Meilen südlich der kleinen Ortschaft Shift den Saunas River erreicht, vollkommen trocken liegt. Irgendwo im Patton-Tal scheint der Bach durch eine Erdverschiebung gestaut worden zu sein. Auf unsere Anfrage hin erfuhren wir vom Katastrophenstab, daß man sich sofort darum kümmern werde, wenn die Rettungsarbeiten im Andreas-Graben ihrem Ende zu gingen. Damit wäre frühestens morgen zu rechnen. Wir setzen nun unser Programm fort…« * Die zusammengepferchten, hoffnungslosen Menschen auf drei vom eiskalten Wasser umgebenen Inseln schrien nicht einmal mehr auf, als die Erde abermals bebte. Der Boden begann wieder unter ihren Füßen zu tanzen, hob und senkte sich und brüllte aus der Tiefe zu ihnen hinauf. Im Seismo-Raum des Institutes in Monterey hatte man im selben Moment an der Skala Stärke 8 abgelesen. Als sich Knirschen und Krachen mit dumpfem Grollen mischten,
wußten nur die Menschen um Cliff Brett, was jetzt am Spalt geschah. Er brach auf! Er stürzte in sich zusammen. Dieses Beben hatte ihm den Todesstoß versetzt. Jetzt kamen die Wasser des Stausees in einer Springflut zu ihnen! Es würde keine Minute mehr dauern. Cliff und Fancy sahen sich an. Der dicke Ast zwischen ihnen war ihr einziger Halt. Jeder näherte sich dem Gesicht des anderen. Ich liebe dich, sagten ihre Augen. Ich liebe dich! Das war ihr Abschied. Sie sahen nicht, wie June Craddock und Harry Essex sich an der Hand hielten. Da brüllte und rauschte es, während die Erde ihr Beben eingestellt hatte. Der letzte begriff, daß das Wasser kam, um sie zu holen. Aber vor dem Wasser schlug ihnen komprimierte Luft wie eine Faust ins Gesicht. Die Luft, die von der haushoch hereinstürzenden Wasserwand vor sich hergestoßen wurde! Gulliver, der Foxterrier, winselte verzweifelt und verstummte auch nicht, als June ihre freie Hand auf seinen Kopf legte. Der Regen riß als undurchsichtige Mauer auf. Und das machte das Unbeschreibliche sichtbar. In Richtung des ausgerissenen Spaltes raste eine Wasserwand heran, die über fünf Meter hoch war. Ihre Front war eine einzige gischtende Schicht, die sich unter satanischem Donnern und Brausen in die Tiefe stürzte. Ein Sturz im rasenden Vorwärtsjagen. Der Schrei der letzten Verzweifelten ging im Tosen, Brausen und Wüten dieser entfesselten Naturkräfte unter. »Festhalten, Fancy…! Festhalten!« schrie Cliff Brett seine Frau an. Er handelte instinktiv und rasend schnell. »Deinen Gürtel, Fancy!« Das Wasser war in zehn Sekunden bei ihnen. Es schickte sich an, die erste Insel mit ihren schreienden Menschen darauf zu verschlingen. Cliff band seine Frau und sich an den schenkeldicken Ast ihrer entwurzelten Buche. Er zog den Knoten derart fest, daß Fancy aufschrie. Das Wasser brauste. Es raste. Es donnerte. Ein Wasserfall, der kein Ende zu nehmen schien, schoß auf sie zu, um alle zu ver-
schlingen. Sie waren die letzten. Die drei Inseln gab es nicht mehr. Auch die Menschen darauf waren verschwunden. Und die noch im Wasser trieben und verzweifelte Schwimmbewegungen machten, hatten Angst, die Oberfläche nicht mehr zu erreichen. Die stürzende Wasserwand traf sie wie ein Sandsack! Im nächsten Augenblick gab es für sie kein oben und unten mehr. Cliff Brett hatte seine Arme um den dicken Ast geschlungen, fühlte, wie das eiskalte Wasser tausend Nadelstiche in seinen Leib jagte, und wunderte sich, auf einmal keine Angst mehr vor dem Sterben zu haben. Fancy, dachte er, Fancy, hoffentlich sterben wir ganz schnell! Zusammen mit dem Baum wurden sie im Wasser herumgewirbelt. Ein Wunder, daß sie nicht mit voller Kraft gegen die Felswand geschleudert wurden. Immer noch hielt Cliff Brett den Atem an, obwohl es sinnlos war. Es zog das Sterben nur hinaus. Ihr entwurzelter Baum krachte gegen ein hartes Hindernis, prallte zurück. Oder stieg er hoch? Brett wußte es nicht. Plötzlich klatschte ihm der Regen voll ins Gesicht. Neben sich hörte er Fancy schreien. Narrte ihn die Phantasie? Hier gab es keinen Hund mehr, und darum konnte er kein Hundebellen hören. Aber er hörte es. Ihre entwurzelte Buche tanzte auf dem gurgelnden Wasser, dessen Wellen meterhoch waren. Am schenkeldicken Ast angebunden hing Fancy, aber sie rührte sich nicht. Im nahen Geäst hielt Harry Essex zwei Äste und June Craddock umschlungen, und sie hielt Gulliver am Nackenfell fest. Gulliver bellte. Sie wurden auf der kochenden Wasseroberfläche wie Korken hin- und hergeschleudert. Ihr Baum begann sich zu drehen, und sie tauchten ins Wasser. Fancy erstickt! dachte Brett. Fancy ist bewußtlos, und jetzt wird sie ertrinken! Er war nicht mehr in der Lage, die Luft anzuhalten. Er mußte atmen, und wenn es tausendmal Wasser war, das er in die Lungen holte. Er mußte… Da brach sein Kopf wieder durch die Wasserfläche, und der Regen peitschte erneut sein Gesicht. Die Hölle war um sie herum. Die gegen die Felswände geprallten Wassermassen kamen zurück und stießen irgendwo im Kessel
zusammen. Springflutartig stießen die Wellen in die Höhe, fielen klatschend in ihr Element zurück und machten aus dem Ganzen eine brodelnde, kochende Wasserhölle, die eiskalt war. Cliff Brett glaubte zu träumen, als Fancys Blick ihn traf. Sie lebte. Sie war nicht ertrunken. Aber mit dem Lebenmüssen war auch die Panik wieder in ihr wach geworden. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Dicht hinter ihnen war die nackte, zerrissene Felswand. Die Felswand brach ab. Von ganz oben her. Wie eine umstürzende Hausmauer kam sie ihnen entgegen geflogen. Aus… Das war ihr Ende. Darunter wurden sie in die Tiefe gerissen und begraben… Aber die mächtige Krone ihrer entwurzelten Buche bekam nicht einmal etwas ab. Die Mauer knickte in halber Höhe zusammen, brach völlig auseinander. Tausende Quader bis zu Zimmergröße stürzten, eine neue Springflut auslösend, ins braune, brodelnde Wasser. Die Hölle brach wieder über sie her. Cliff Brett war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Auf und ab… runter ins Wasser und wieder raus aus dem Wasser. Mal drehte sich ihre Buche tückisch langsam, dann wieder schnell. Mal drehte sie sich ganz um ihre Achse, dann wieder nur zum Teil, um langsam in ihre alte Lage zurückzuschwingen. Fancy war noch da, und auch noch Harry Essex. Aber wo waren June Craddock und der Hund geblieben? Cliff glaubte, dicht vor dem Wahnsinn zu stehen. June schwamm. June erreichte die ersten Astspitzen der Baumkrone. »June, bist du ganz des Teufels?!« schrie Cliff, aber es war doch bloß Kraftvergeudung, denn bei diesem Brüllen der Wasser und Wellen konnte sie ihn nicht hören. June Craddock hatte den Hund gerettet. Irgendwann in den letzten Minuten mußte ihr der Hund abhanden gekommen sein. Sie hatte ihr Leben eingesetzt und den Wahnsinn riskiert, ihn zurückzuholen. Harry Essex tobte. Cliff konnte es ihm nachfühlen. Da fühlte er Fancys eiskalte Hand auf seiner. Was wollte sie? Warum starrte sie zur Felswand hinüber. Brach die schon wieder in sich zusammen? Was Cliff sah, begriff er nicht.
Sie trieben an der Felswand vorbei, und das sehr schnell. Wo etwas trieb, gab es Strömung. Das war Cliff Brett klar. Unheimlich, wie schnell sie weitertrieben. Das Rauschen hatte er schon eine Weile gehört, doch es mit dem Verstand nicht aufgenommen. Zum Teufel, was rauschte da? Und warum drehte sich ihre Buche im Wasser nicht mehr? Sollte das diese Strömung bewirkt haben, deren Ursprung er sich nicht erklären konnte? Leichen trieben mit ihnen in die gleiche Richtung. Leichen von Kindern, Frauen und Männern. Ein furchtbares Bild, und es erinnerte die vier auf dem Buchenstamm, daß ihnen dieses Schicksal noch bevorstand. Harry Essex war es, der entdeckte, was sich hinter dem Rauschen und der Strömung verbarg. »Der Damm hinter der Stadt muß geborsten sein… Bestimmt ist er beim letzten Beben aufgerissen. Bestimmt…!« June Craddock und ihr Hund hatten sich durch das Astgewirr wieder herangearbeitet. Kaltblütig stieß June mit dem Fuß eine Leiche tiefer ins Wasser, die sich im Geäst verfangen hatte. Leichen… Leichen… Sie kamen aus der Tiefe herauf. Immer mehr. Die Strömung spülte sie hoch. Das nasse Grab wollte seine Opfer nicht mehr haben. Furchtbar und grausam zugleich der Anblick der starren Gesichter mit den großen, unnatürlich weiten Augen und mit der panischen Angst darin. Ein entwurzelter Strauch überholte sie, ein dichter, großer Strauch. Cliffs Blick wurde starr, als er den alten Mann im Geäst erkannte und dann die junge Frau. Er glaubte trotz aller wahnsinnigen Schrecken zu träumen. Doc Tarr trieb an ihnen vorbei. Und Mrs. Bewain, die vor Stunden erst ein Mädchen geboren hatte. Cliff schrie nicht. Die Blicke der hilflosen Menschen holten ihn zu sich. Er begriff nicht, wie schnell er den Gürtel um seinen Leib gelöst hatte. Bevor Fancy erkannte, worum es überhaupt ging, stürzte er sich schon ins brodelnde Wasser. Er jagte hinter dem Strauch her. Er schrie Tarr und der Frau zu: »Festhalten! Ich komme! Ich hole euch raus…« Der Wahnsinn tobte sich vor seinen Augen noch einmal aus. Warum mußte gerade jetzt Doc Tarr den Strauch loslassen? Warum warf der Alte ihm noch einmal einen Blick zu? Zur Hölle mit dem Lächeln, das er ihm schenkte! Er wollte den Doc retten.
Er wollte ihn nicht vor seinen Händen ertrinken sehen! Doc Tarr tauchte unter. Cliff stieß sich durch das brodelnde, eiskalte, schmutzige Wasser. Er bekam den Strauch zu fassen. Er bekam die Frau zu fassen, Mrs. Bewain. Es dauerte Sekunden, bis Cliff begriff, daß Mrs. Bewain tot war. Ihr starrer Blick sagte ihm alles. Aber zwischen der starken Astgabelung war Leben. Leben in einer Plastiktüte! Mrs. Bewains Mädchen lebte. Aus seinen großen Augen in dem runzeligen Gesicht sah es in die Schrecken einer Welt, die es vor ein paar Stunden erst betreten hatte. Cliff Brett wußte nicht, wie er zu ihrer Buche zurückgefunden hatte. »Cliff, ein Mädchen, ein Baby Cliff, der Damm… der Damm! Cliff, Cliff…« Schreie aus dem Geäst von allen Seiten. In Fancys Armen das Baby, das zu weinen begonnen hatte. Der sperrende Damm war auseinandergerissen. Das letzte Beben mußte ihn zerfetzt haben, und durch diese immer breiter werdende Bruchstelle rasten die Wasser talwärts. Sie mit ihrer Buche kamen nicht durch. Das Wurzelgestrüpp verfing sich unter Wasser zwischen Felsbrocken. Die Baumkrone trieb gegen den linken Dammteil. Cliff Brett und Harry Essex handelten sofort. Fancy und June wußten nicht, wie ihnen geschah. Durch das Astwerk zerrten die Männer die Frauen zum rettenden Dammrest. Sie mußten ihn erreichen, bevor die Strömung ihre Buche wieder losriß und sie den Patton Creek hinuntertrieb. Die Fahrt zum Salinas River konnte nur noch ihre Todesfahrt werden. Cliff erreichte als erster festen Boden. Mit beiden Händen riß er Fancy und das Baby zu sich und brüllte: »Schnell nach oben!« Sie humpelte los, die Plastiktüte mit dem Baby im Arm. June Craddock und Gulliver waren die nächsten. Harry kam zuletzt. Zitternd, zerschunden und mit klappernden Zähnen standen sie dann auf der wüsten Dammkrone und starrten in die Tiefe, wo schmutzigbraune Wassermassen durch den Spalt rasten und ihre Toten mit sich nahmen. Die Toten aus der Stadt Monique. Es gab dieses Paradies nicht mehr.
Es würde es nie mehr geben. Fancy hatte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes gelegt und weinte sich in ihr neues Leben hinein. Das Baby weinte auch. Harry hielt June umschlungen, die Gulliver mit beiden Armen an sich drückte. Keiner von ihnen verstand, warum gerade sie diesem Inferno entkommen waren, warum sie nicht von der Erde gefressen oder vom Wasser ertränkt worden waren. ENDE In vier Wochen erhalten Sie den packenden Inferno-Roman Nr. 2: Kreuzfahrt in die Hölle Alles, was gut und schön und teuer war, fand sich an Bord der »Kolumbus«. Der Jet Set stellte die Passagiere. Es war eine Kreuzfahrt durch die schönsten Meere und zu den hübschesten Inseln. Bis zu dem Tag, als das stolze Schiff das tödliche Sargasso-Meer kreuzte. Erst fiel der Kompaß aus, dann gab es im Maschinenraum eine Explosion. Das ausbrechende Feuer griff auf das Schiff über. Die Reichsten der Reichen, die sich eben noch vergnügt hatten, gerieten in Panik. Vergessen Erziehung, Stand und Würde. Sie prügelten sich um die Plätze in den Booten und trampelten rücksichtslos alle nieder, die gestürzt waren. Sie erlebten die Hölle, die sie nacheinander verschluckte. Versäumen Sie nicht diesen packenden, erregenden InfernoRoman. Ihr Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhändler hält ihn für Sie bereit.