Man hat es als junges Mädchen im Leben schon schwer genug, wenn man auf den Namen der griechischen Liebesgöttin ge tau...
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Man hat es als junges Mädchen im Leben schon schwer genug, wenn man auf den Namen der griechischen Liebesgöttin ge tauft, jedoch von geradezu abstoßender Häßlichkeit ist. So ist es durchaus nicht verwunderlich, daß sich die französische Studentin Aphrodite Bagarre schroff und schnoddrig gibt und den Kölner Polizeiin spektor Helmut Baller durch ihre Re spektlosigkeit bis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt, woran freilich Aphrodites ungewöhnliches Haustier auch nicht ganz schuldlos ist. Dabei sitzt die junge Französin ziemlich tief in der Patsche, steht sie doch in dem dringenden Verdacht, ihre Tante, Frei frau von und zu Hummerlang und Böller sinn, nebst deren blaublütigem Sekretär kaltschnäuzig umgebracht zu haben. Davon jedenfalls ist der ebenso dumme wie diensteifrige Inspektor felsenfest überzeugt, der sich, auch nachdem noch eine stattliche Anzahl weiterer Zierden des Adels gemeuchelt worden sind, nur widerwillig mit der Unschuld Aphrodites abfindet. Am Ende muß er sich jedoch den Argumenten und Beweisen des su perschlauen jungen Mädchens beugen, die es mit Hilfe einiger kleiner Ganoven wider Erwarten schafft, den wirklichen Mörder zu entlarven, was nicht nur für Hauptinspektor Baller eine Überraschung ist.
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Dieses eBook ist nicht für den Verkauf be stimmt.
Michael O. Güsten
Sage Sie bloß, die Bourbonen kommen wieder!
Eulenspiegel Verlag Berlin
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1971 Eulenspiegel Verlag, Berlin Lizenz-Nr.: 540/8/71 • ES 8 C Lektor: Horst Roatsch Einbandentwurf: Eberhard Binder-Staßfurt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
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„Sie sind ein Idiot, Inspektor“, sagte das junge Mädchen sanft. „Und was für einer! Sehe ich viel leicht wie eine Mörderin aus?“ „Soll ich ihr eine aufs Maul geben, Hauptinspek tor?“ fragte Obermeister Schmidtchen und rückte unternehmungslustig das Koppel zurecht. Hauptinspektor Helmut Baller winkte unwirsch ab. Gewöhnlich hatte er zwar nichts dagegen, daß Schmidtchen renitente Ganoven handgreiflich zum Reden aufmunterte, vorausgesetzt, es waren wei ter keine Zeugen dabei. Nein, er war wahrhaftig nicht pingelig, und die großen und kleinen Gau ner, die scharenweise Kölns Amüsierboulevard bevölkerten, der kurz „Der Ring“ hieß, hatten das mehr als einmal erfahren müssen. „Der Ring“ war nämlich Hauptinspektor Ballers bevorzugtes, wenngleich keineswegs einziges Jagdrevier. Aber im vorliegenden Fall hatte er das untrügliche Ge fühl, daß auch mit Gewalt bei der jungen Dame, die gelassen und Fingernägel beknabbernd vor ihm auf einem harten Stuhl hockte, nichts auszu richten sei. Immerhin hatten er und seine Leute sie schon mehr als neun Stunden lang nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht. Er gebnislos. Sollte sie am Ende doch unschuldig sein? Helmut Baller wies diesen überraschenden Gedanken sofort wieder weit von sich. Dieser Fall war sonnenklar. Genaugenommen brauchte er nicht einmal ihr Geständnis. Es war eitler Be rufsehrgeiz, wenn er dennoch versuchte, diesen 6
runden, schönen Abschluß des längst geklärten Mordfalls noch zu erreichen. Helmut Baller liebte keine halben Sachen, dafür war er schließlich be kannt. Und auch dieser phlegmatischen Göre wür de er es noch zeigen. Mit den Fingern der rechten Hand trommelte der Hauptinspektor den Bayrischen Defiliermarsch auf der Tischplatte. Das war bei ihm immer das Zeichen, daß er zum Generalangriff entschlossen war. Obermeister Schmidtchen horchte auf und setzte sich erwartungsvoll auf einen Hocker, der in einer Ecke des spärlich möblierten Zimmers stand. Helmut Baller überlegte, während er zum wievielten Male eigentlich das ungerührt finger knabbernde Wesen musterte, das ihm gegenüber sag. Es war nicht gerade ein genußvoller Anblick, der sich ihm bot. Die junge Dame hätte mit Si cherheit jeden Häßlichkeitswettbewerb mit erheb lichem Vorsprung vor der Konkurrenz gewonnen. Selbst entgegenkommend geschätzt, mußte sie gut eineinhalb Zentner wiegen. Entsprechend war ihre Oberweite mit 120 Zentimeter durchaus zu ihrem Vorteil verbucht, und beim Taillenumfang kam sie auch noch gut auf 100 Zentimeter. An zu kurz geratenen Beinen hingen große Füße, die in riesigen Schuhen steckten. Den Hals versteckte sie offenbar zwischen den Schultern, denn es war nichts von ihm zu entdecken. Ein nach allen Sei ten wucherndes Haar thronte auf einem runden Kopf. Und zu allem Überfluß hatte sie eine platte Nase und eine in Nickel eingefaßte Brille, die sie wahrscheinlich bei einem Trödler zum Vorzugs preis erstanden hatte. Sie trug schmierige blue 7
jeans und eine abgeschabte Lederjacke mit weiten Taschen, denen sie bisweilen ein blauweißes, handtuchgroßes Schnupftuch entnahm, um damit umständlich die Brillengläser zu putzen. Bei die sen Gelegenheiten konnte man ihre großen reh braunen und hellwachen Augen sehen, die einen mit Schalk und Heiterkeit trefflich ausgerüsteten Verstand verrieten und die mithin in völligem Kontrast zu der an sich unendlich traurigen Er scheinung standen. Es war Hauptinspektor Ballers allerdings verzeihlicher Fehler, daß er auf diese Augen keine Zeit verschwendete. Ihm wäre viel Ärger erspart geblieben. „Hören Sie“, knurrte er gereizt und fuhr sich mit der Hand über die Nato-Bürste, die er als einzig zeitgerechten Polizeihaarschnitt zu bezeichnen pflegte, „es ist mir völlig egal, ob Sie wie eine Mörderin aussehen oder nicht. Die wenigsten Mörder sehen wie Mörder aus, das können Sie mir glauben. Es ist schließlich mein Beruf, Mörder, die gar nicht so aussehen, als Mörder zu entlarven. Wo kämen wir sonst hin…“ „Wie interessant!“ sagte das junge Mädchen, und Helmut Baller war nicht sicher, ob es spöt tisch gemeint war. Vorsichtshalber fügte er des halb drohend hinzu: „Und mir ist noch keiner durch die Lappen gegangen, das können Sie schriftlich von mir haben. Sie werden es auch nicht schaffen.“ „Aber warum sollte ich Ihnen durch die… was war das noch?… Lappen, nicht wahr, gehen? Lap pen, was ist das?“ 8
Das junge Mädchen sprach ausgezeichnet Deutsch, jedoch mit leichtem, unverkennbar fran zösischem Akzent. Verzweifelt stützte der Hauptinspektor den Kopf auf beide Hände. Er war schließlich Polizeibeamter und nach einhelliger Meinung seiner Vorgesetzten ein überaus fähiger dazu, aber kein Germanist, der auf Anhieb Herkommen und Bedeutung deut scher Redensarten zu erklären wußte. Also ließ er sich erst gar nicht auf lange Erläuterungen ein, die ohnehin zu nichts führen konnten, weil er par tout nicht wußte, wie er der jungen Dame plausi bel machen sollte, was ein Lappen sei, womit obendrein auch noch nicht viel gewonnen wäre, sondern sagte schneidend: „Versuchen Sie bloß nicht abzulenken. Das nützt Ihnen auch nichts. Genausowenig wie weiteres Leugnen. Die Beweise gegen Sie sind erdrückend. Ich an Ihrer Stelle würde ein volles Geständnis ablegen. Dann kön nen Sie vielleicht auf mildernde Umstände rech nen.“ „Aber ich habe nichts zu gestehen, Inspektor“, sagte die junge Dame und blickte Helmut Baller über den Rand ihrer Nickelbrille freundlich an. Sie war einfach nicht aus der Fassung zu bringen. „Wie Sie wollen“, sagte der Inspektor wütend. „Dann fangen wir eben noch mal von vorn an. Sie heißen?“ Wenn der Hauptinspektor geglaubt hatte, daß die junge Dame auf diese Frage mit einem Tob suchtsanfall reagiere, so hatte er sich allerdings gründlich geirrt. Immerhin hatte sie schon ein halbes dutzendmal auf immer dieselben Fragen 9
geantwortet, und das war zweifellos ein Gedulds rekord. Schlitzer-Toni, den Baller im vorigen Jahr endlich erwischt hatte und der in seinen Kreisen als hartgesottenster Berufsmörder galt, war bei der fünften stereotypen Befragung wie eine Rake te hochgegangen. Der Erfolg war überwältigend: Inspektor Baller mußte sich zwar vom Beschaf fungsamt eine neue Zimmereinrichtung genehmi gen lassen, aber Schlitzer-Toni hatte sich so ver ausgabt, daß er schließlich aufsteckte und Helmut Baller eines der schönsten Geständnisse seiner Laufbahn bescherte. Die junge Dame freilich stell te Schlitzer-Toni glatt in den Schatten. Sie verzog sogar die Lippen zu einem entgegenkommenden Lächeln und antwortete geduldig: „Bagarre, Monsieur, Aphrodite Bagarre…“ Ganz bestimmt wäre der Hauptinspektor von bösen Vorahnungen heimgesucht worden, wenn er des Französischen mächtig gewesen wäre. Denn bagarre ist soviel wie Wirrwarr, und den sollte die junge Dame in der Tat noch reichlich stiften. So aber blieb Baller diese Überlegung er spart, während er sich noch einigermaßen an die griechische Liebesgöttin erinnerte, deren Namen das junge Mädchen unverständlicherweise trug. Aphrodite hatte er sich ganz anders vorgestellt. Er begnügte sich jedoch mit einem verächtlichen Schulterheben, denn momentan war es ihm total gleichgültig, daß diese neuzeitliche Ausgabe der antiken Göttin entgegen aller Überlieferung nicht dem Schönheitsideal entsprach. „Soso“, sagte er, „Aphrodite. Ein schöner Na me…“ 10
„Idiotisch“, unterbrach ihn die moderne Liebes göttin mit Betonung auf der letzten Silbe. „Sehe ich vielleicht wie Aphrodite aus? Aber wenn man einen langweiligen Provinzlehrer für Latein und Griechisch zum Vater hat, kann man sich einen solchen Namen schon einhandeln. Hätte er ge wußt, daß ich einmal so ein Ungetüm würde, er hätte es sich bestimmt überlegt. Er meinte es nämlich gut, mon papa, verstehen Sie?“ „Jaja“, sagte Helmut Baller ungeduldig. „Das gehört aber nicht hierher. Jedenfalls heißen Sie Aphrodite, das steht nun einmal fest. Laut Paß…“ „Ich kann es nicht leugnen“, sagte sie gutge launt. „Aphrodite, Clementina, Lucretia, der Voll ständigkeit halber…“ „So genau will ich es wiederum nicht wissen“, brummte der Hauptinspektor und warf dem blöde vor sich hin grinsenden Obermeister Schmidtchen einen strafenden Blick zu. „Wohnort?“ „Paris.“ „Straße?“ „23, Rue de Langoustes.“ „Beruf.“ „Studentin.“ „Was studieren Sie?“ „Entomologie.“ „Also Insektenkunde? Ist das richtig?“ „Hmmmm.“ „Wer finanziert Ihr Studium?“ „Warum fragen Sie?“ „Das müssen Sie schon mir überlassen. Antwor ten Sie gefälligst.“ 11
„Ich selber natürlich. Papa verdient nur ein paar Francs, und damit kann er gerade sich und Fou quette über Wasser halten…“ „Fouquette? Wer ist das?“ „Papas Hund, natürlich… Ein reizender – wie sagt man hier? – Rehpinscher.“ „Ach so. Und womit verdienen Sie Ihr Studi um?“ „Mit Striptease nicht, darauf können Sie mein Wort haben.“ „Lassen Sie die Scherze, Mademoiselle. Hier geht es schließlich um einen Doppelmord…“ „Verzeihung, das hätte ich beinahe vergessen…“ Hauptinspektor Baller war durchaus geneigt, ihr das zu glauben, und weil er einem Verdächtigen aus Prinzip nichts glaubte, war das ein untrügli ches Anzeichen für seinen langsam, indes unauf haltsam fortschreitenden Demoralisierungsprozeß. Tatsächlich wurde er immer fahriger. Er zuckte mit den Beinen, zwinkerte mit den Augen und kratzte sich an allen möglichen Stellen, ohne den geringsten Juckreiz zu spüren. Aphrodite Bagarre hingegen strahlte nach wie vor bleierne Ruhe aus. Helmut Baller nahm sich zusammen. „Ich habe Sie gefragt, womit Sie Ihr Studium finanzieren?“ „Womit schon? Babysitten, Taxifahren und der gleichen mehr. Manchmal mache ich auch den Fremdenführer.“ „Und davon können Sie leben?“ „Natürlich nicht. Aber ich kann mich nicht erin nern, daß Sie danach gefragt hätten. Sie wollten 12
wissen, womit ich mein Studium finanziere. Voi là.“ Baller schluckte den aufsteigenden Unmut hin unter. ,So ein verdammtes Biest’, dachte er. „Stellen Sie sich nicht so dumm“, sagte er un gehalten. „Sie sollen mir sagen, womit Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten, wenn Sie schon, wie Sie einräumen, durch Gelegenheitsarbeit bloß das Studium finanzieren können. Habe ich mich deut lich ausgedrückt?“ „Ich habe unverschämt große Ohren“, entgeg nete Aphrodite anzüglich. „Ich spreche zwar nicht gern darüber, aber wenn es schon sein muß. Also, wir sind irgendwie Kollegen…“ Hauptinspektor Baller riß verwundert die wäßri gen Augen auf, und auch Obermeister Schmidt chen versuchte seiner stumpfsinnigen Miene we nigstens einen Anschein von Interesse zu geben. „Ich höre wohl nicht richtig“, sagte Helmut Bal ler. „Kollegen? Was soll denn das wieder heißen? Wollen Sie behaupten, daß Sie bei der Polizei sind?“ Ein Kichern antwortete ihm: „Ich ein flic? Aber Monsieur, wo denken Sie hin. Nein, ich helfe nur gelegentlich in einem Detektivbüro aus. Zwei- bis dreimal wöchentlich, wie es sich gerade ergibt. Halbtags oder halbnachts, ganz wie Sie wollen. Und mit dem Geld, das ich dabei verdiene, kom me ich einigermaßen über die Runden…“ „Sie sind ja verdammt vielseitig“, murrte der Hauptinspektor nach einer Weile. Es sollte eine abfällige Bemerkung sein, aber auf Aphrodite hat te sie nicht die geringste Wirkung. 13
„Nicht wahr?“ strahlte sie. Sie nahm die Nickel brille ab, fischte das flaggengroße Taschentuch aus der Jacke und begann emsig die Gläser zu putzen. „Und wie heißt dieses Detektivbüro? Es hat doch wohl einen Namen, oder?“ „Mais oui, Monsieur. Agentur ‚Diskret’, Boule vard Saint Laurent, Paris. Sehr renommiert übri gens. Sie können sich getrost erkundigen, Inspek tor. Oder wenn Sie mal in Verlegenheit kommen. Wäre doch möglich, nicht wahr? ,Diskret’ steht immer zu Diensten. Wir haben einen ausgezeich net funktionierenden Auslandsservice…“ „Es wäre besser, wenn Sie einen Gedanken an sich selbst verschwenden würden“, sagte Baller sauer. „Sie stehen unter Mordverdacht, vergessen Sie das nicht.“ „Wie könnte ich“, sagte das junge Mädchen. „Sie erinnern mich ja dauernd daran. Nicht gerade charmant…“ Geschickt setzte sie die Brille wieder auf, was gar nicht so einfach war, weil die Nase kaum ei nen Halt bot und das Gestell fast gänzlich von den Ohren gehalten werden mußte. Mißbilligend schaute sie Baller über den Rand der Nickelbrille an. Der Hauptinspektor knöpfte den obersten Hem denknopf auf und zog den Krawattenknoten etwas hinunter. Er räusperte sich vernehmlich. „Welche Aufgaben hatten Sie für die Agentur zu erfüllen?“ „Kleinkram, Monsieur. Leider. Scheidungsange legenheiten in der Regel. Nicht der Rede wert. 14
Einmal habe ich mitgeholfen, eine Schmuggelban de auszuheben. Aber das war eher purer Zufall. Sie sehen, Inspektor, mit Ihrer Arbeit ist das wirk lich nicht zu vergleichen…“ „Das wäre auch noch schöner“, brummte Baller leise vor sich hin, aber Aphrodite hatte ihn doch verstanden. „Der eine fällt Bäume, und der andere sammelt Reisig“, sagte sie beziehungsvoll. „Der Unter schied liegt natürlich auf der Hand. Und doch ha ben beide notgedrungen mit Holz zu tun…“ Hauptinspektor Baller war keineswegs so dumm, daß er die Anspielung nicht verstand, aber er zog es vor, sie zu überhören. „Zur Sache, Mademoiselle“, sagte er. „Wir wer den Ihre Angaben überprüfen, obwohl sie für die Aufklärung dieses Falls unerheblich sein dürften. Oder hat Sie die Agentur ,Diskret’ vielleicht nach Köln geschickt?“ „Ich sagte schon, daß meine Reise rein privater Natur ist.“ „Stimmt. Aber Sie haben bisher auch Ihre Ar beit für die Agentur mit keinem Wort erwähnt.“ „Sie haben vergessen, mich danach zu fragen…“ „Schon gut.“ Der Inspektor winkte ab. „Und was sind das für private Gründe?“ „Ich wollte meine Tante besuchen…“ „… die hier in Köln lebt? Oder vielmehr lebte?“ „Sie sagen es, Inspektor…“ „Sehr nahe geht Ihnen der schreckliche Tod Ih rer Tante offenbar nicht?“ „Ich habe sie kaum gekannt…“ 15
„Und dann ist Ihnen auf einmal eingefallen, sie zu besuchen. Merkwürdig, nicht wahr?“ „Haben Sie noch nie plötzlich einen Entschluß gefaßt, Inspektor? Was ist daran so merkwürdig?“ „Der kleine Umstand, Mademoiselle“, sagte der Inspektor und bemühte sich um einen möglichst sarkastischen Unterton, „daß knapp zwei Stunden nach Ihrem Eintreffen in Köln Ihre Tante mausetot war. Erschossen. Und neben ihr lag ihr Privatse kretär. Ebenfalls erschossen. Kaltblütig und er barmungslos. Und wen findet die Polizei am Tat ort? Eine gewisse Aphrodite Bagarre, die noch die Stirn hat, gemütlich in einem Sessel zu sitzen und ihre Opfer zu betrachten. Was sagen Sie dazu?“ „Ich kann überhaupt nicht schießen“, sagte die junge Dame. Sie tat so, als wäre der Fall damit für sie erledigt. Helmut Baller stöhnte auf. „Das müssen Sie erst einmal beweisen“, sagte er aufgebracht. „Wie denn?“ Doch auf diese heikle Frage ließ sich der In spektor wohlweislich nicht ein. „Wo haben Sie die Mordwaffe versteckt?“ „Den Revolver?“ „Na endlich. Natürlich den Revolver. Eine Mau ser Kaliber 7,90 mm. Also wo haben Sie die Waffe gelassen?“ „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden. Warum sollte ich einen Revolver mit mir herum schleppen, wenn ich nicht schießen kann? Das ist doch absurd…“ 16
„Ihre Tante und ihr Sekretär wurden mit einer solchen Waffe ermordet…“ „Daran zweifele ich nicht. Aber nicht von mir. Ich besitze keinen Revolver. Überhaupt keine Waffe, wenn Sie nicht gerade eine Nagelschere dafür ansehen…“ „Fragen wir einmal anders: Weshalb sind Sie nicht in die Wohnung Ihrer Tante gegangen, son dern in ihr Büro, wenn Sie bloß einen Besuch ma chen wollten?“ „Stellen Sie sich vor: Gerade weil ich sie besu chen wollte. Ich hatte nämlich die Absicht, schon am gleichen Abend wieder nach Paris zurückzu fahren. Und ich traf sie in ihrer Wohnung nicht an. Die Haushälterin sagte mir jedoch, wo ich sie fin den könnte. Da bin ich eben ins Büro gegangen. Es ist ja gleich um die Ecke…“ „Ist das nicht auch seltsam, dag Sie bloß einen so kurzen Besuch planten? Praktisch nur eine Stippvisite. Und dafür haben Sie die Strapazen dieser Reise auf sich genommen?“ „Ach, Strapazen machen mir nicht viel aus“, sagte Aphrodite gut gelaunt. „Ich bin ziemlich zäh, müssen Sie wissen. Und was den kurzen Be such angeht: Ich wollte Tante Marguerite nur einmal sehen. Das ist alles…“ Hauptinspektor Baller glaubte ihr kein Wort. Sein Spürsinn sagte ihm, daß Aphrodite ihm et was verschwieg. Und es mußte so wichtig sein, daß sie ohne eine Miene zu verziehen seit Stun den gleichmütig auf dem Stuhl hockte und gedul dig auf alle Fragen antwortete. Mehr freilich tat 17
sie nicht. Sie ging nicht aus sich heraus. Sie „sang“ nicht. „Wem wollen Sie das weismachen?“ sagte Bal ler. „Ich bin jedenfalls überzeugt, daß Sie einen schwerwiegenden Grund hatten, um morgens von Paris abzureisen, rasch Ihre Tante in Köln zu be suchen und abends Hals über Kopf wieder abrei sen zu wollen. Welcher normale Mensch macht das schon?“ „Jeder Industriemanager“, sagte Aphrodite la konisch. „Oder sind diese Herrschaften in Ihren Augen etwa nicht normal?“ Auch diesen Einwurf überhörte der Hauptin spektor geflissentlich. „Es gibt nur eine plausible Erklärung für Ihr Verhalten“, sagte er störrisch. „Sie sind von vorn herein mit der Absicht nach Köln gekommen, Ihre Tante zu ermorden…“ „Und der Sekretär?“ fragte Aphrodite unbetei ligt. „Den haben Sie natürlich als unliebsamen Zeu gen ebenfalls beiseite geräumt“, sagte der In spektor. „Sie sind wirklich ein Idiot, Inspektor“, sagte das junge Mädchen und seufzte mitleidig auf. Helmut Baller sprang vom Stuhl auf: „Ich ver bitte mir ganz energisch…“ „Schon gut. Regen Sie sich nicht auf. Ich hab’s nicht so gemeint. Obwohl man verzweifeln könn te, wenn man sieht, was für logische Kunstsprün ge Sie machen…“
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„Dann rücken Sie mal mit Ihrer Version her aus“, sagte der Hauptinspektor böse. „Ich bin sehr gespannt.“ Ergeben setzte er sich wieder. „Ich habe keine Version“, sagte Aphrodite prompt. „Ich hatte einen Besuch bei meiner Tante vor, und das ist alles. Daß man sie vorher ermor den würde, konnte ich doch nicht ahnen. Und warum eigentlich sollte ich sie umbringen? Sie hat mir nichts getan. Ich habe sie kaum gekannt. Ich habe viel von ihr gehört, das ist richtig. Sie war eine exzentrische alte Dame. Sie war bestimmt auch nicht ganz richtig im Kopf. Warum also zum Teufel sollte ich sie ermorden wollen?“ „Das ist es ja gerade“, sagte Baller triumphie rend. „Vielleicht haben Sie persönlich wirklich nichts gegen Ihre Tante gehabt. Aber wie sieht es beispielsweise politisch aus?“ „Peu à peu machen Sie mir Laune“, sagte Aphrodite. „Ich kümmere mich nicht um Politik. Ich habe gar keine Zeit dazu. Und ich verstehe auch nichts davon.“ „Was Sie nicht sagen?“ Inspektor Baller gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen. „Sie sind doch Studentin, und Sie wären wahrhaftig das erste Exemplar dieser Gattung, das sich heut zutage und hierzulande nicht mit Politik befaßt.“ „Blödsinn“, sagte Aphrodite mit Überzeugung. „Ich verstehe mehr vom Paarungsgebaren der Borkenkäfer als von Politik.“ „Das nehme ich Ihnen nicht ab“, sagte Baller und warf Obermeister Schmidtchen, der sich bei den letzten Sätzen wachsam auf seinem Stuhl aufgerichtet hatte, einen verständnisinnigen Blick 19
zu. „Wir haben so unsere Erfahrungen. Aber bitte, gehen wir der Sache auf den Grund. Welche Zei tung lesen Sie? Haben Sie eine Tageszeitung abonniert? Und welche?“ „Abonniert habe ich das ‚Journal d’entomologie’. Das ist alles. Ich muß Sie enttäuschen…“ „Sie lesen überhaupt keine Zeitungen?“ „Selten. Ich habe wirklich wenig Zeit…“ „Sind Sie Mitglied einer Partei?“ „Nein.“ „Sympathisieren Sie mit einer Partei?“ „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ „Haben Sie an den Mai-Demonstrationen 1968 teilgenommen?“ „Natürlich…“ „Aha, da haben wir’s. Sie haben eben noch be hauptet, daß Sie sich für Politik nicht interessie ren. Aber Sie gehen auf die Straße. Halten Sie das für selbstverständlich?“ „Aber sicher. Soll ich vielleicht Däumchen dre hen, wenn es unter anderem auch um meine ei genen Interessen geht? Sehen Sie…“ „Das genügt“, unterbrach sie der Hauptinspek tor. „Sie können sich getrost jede weitere Erklä rung ersparen…“ „Aber…“ „Kein aber… Ich stelle fest, daß Sie nach eige nen Angaben an dem versuchten Mai-Umsturz in Paris teilgenommen haben. Das läßt Ihre Einlas sung, wonach Sie politisch desinteressiert seien, in äußerst zweifelhaftem Licht erscheinen, Made moiselle.“ 20
„Sie können natürlich glauben, was Sie wollen, Inspektor“, sagte Aphrodite freundlich. „Und Schlußfolgerungen zu ziehen, bleibt Ihr Geschäft. Auch wenn sie falsch sind. Aber gesetzt den Fall, daß Sie recht haben, so sehe ich immer noch kei nen Zusammenhang mit dem Doppelmord in der Sternengasse.“ „Sie verteidigen sich nicht ungeschickt“, sagte Baller. „Zugegeben. Aber es wird Ihnen nicht viel nützen. Ich helfe Ihnen selbstverständlich gern auf die Sprünge. Damit Sie endlich einsehen, wie hoffnungslos Ihre Lage ist. Sie wissen doch wohl, welcher Beschäftigung Ihre Tante nachging?“ „Ja, ungefähr. Sie war Präsidentin irgendeines Klubs oder eines Vereins. Eine ziemlich kuriose Sache, wenn ich mich nicht täusche…“ „Stimmt. Ihre Tante, Freifrau von und zu Hum merlang und Böllersinn, war Präsidentin der ‚Eu ropäischen Bewegung für die Monarchie’, kurz E. B. M. genannt. Sagt Ihnen das etwas?“ „Na ja, ein Hobby muß schließlich jeder haben. Und ich sagte wohl schon, daß Tante Marguerite ziemlich gesponnen hat…“ „Das ist keine Antwort. Wissen Sie etwas über die Ziele dieser Bewegung?“ „Mit solchen Dingen befasse ich mich nicht…“ „Weichen Sie nicht aus. Sie lehnen diese Bewe gung ab?“ „Soviel ich weiß, sind die Tage der Monarchie gezählt.“ „Da war Ihre Tante aber ganz anderer Meinung. Die Bewegung, der sie als Präsidentin vorstand, ist ein eifriger Förderer des monarchistischen Ge 21
dankens. Und sie genoß die Sympathie fast aller europäischen Fürstenhäuser, was die umfängliche Korrespondenz mit den Abkömmlingen beispiels weise der Häuser Bourbon, Habsburg, Hohenzol lern und Romanow beweist, die wir im Sekretariat sichergestellt haben. Was meinen Sie dazu?“ Aphrodite zuckte die Schultern. Ihr war der ehr furchtsvolle Unterton in der Stimme des Inspek tors bei der Aufzählung dieser illustren Namen nicht entgangen. „Mir ist das alles egal“, sagte sie kurz angebun den. „Ich kenne solche honorigen Personen ledig lich aus einschlägigen Illustrierten. Höchst fade und langweilig. Mir sind Buschtermiten lieber. Au ßerdem interessanter.“ „Das habe ich erwartet“, sagte Baller und rieb sich die Hände. „Sie geben also zu, daß Sie für die Ziele und Absichten Ihrer Tante kein Verständnis aufbringen. Und hier haben Sie wie in der Nuß das Motiv für Ihre Tat…“ Aphrodite tippte sich an die Stirn. „Sie sind begabt, Inspektor“, sagte sie. „Sie sollten wahrhaftig Märchen schreiben.“ Helmut Baller war so richtig im Zug und ließ sich durch nichts beirren. „Immerhin waren die Bemühungen Ihrer Tante recht erfolgreich, wie ich von einem Vorstands mitglied besagter Bewegung erfahren konnte. Sie gewann mehr und mehr Anhänger für ihre Ideen, und ganz besonders in Frankreich. Die Bewegung rechnete damit, daß in absehbarer Zeit die Bour bonen vom Volk zurückgerufen würden. Aber auch 22
in anderen Ländern zeichnete sich bereits ein Ge sinnungswandel zugunsten der Monarchie ab…“ Der Hauptinspektor schwieg unvermittelt. Das junge Mädchen kicherte unaufhörlich vor sich hin. „Was gibt’s da zu lachen?“ fuhr Baller sie unwil lig an. Aphrodite prustete los. „Nein“, sagte sie, „es ist zum Totlachen. Sagen Sie bloß, Inspektor, daß die Bourbonen wieder kommen! Nein, das gibt’s doch nicht… Das ist der beste Witz, den ich seit langem gehört habe…“ Inspektor Baller wartete mit gerunzelter Stirn, bis sich Aphrodite einigermaßen beruhigt hatte. Er nutzte die erzwungene Redepause, um den ober sten Hemdenknopf wieder zu schließen und die Krawatte, wie es sich gehörte, an ihren Platz zu schieben. Dann sagte er streng: „Sie sollten wenigstens Respekt vor den Anschauungen einer Toten ha ben, Mademoiselle. Einer Frau, der ich jedenfalls höchste Achtung zolle, wenn ich mit ihr auch durchaus nicht übereinstimme. Sie hat jedoch ihr Leben für ihre Sache hingegeben. Und Sie haben es ihr genommen. Sie haben sie in blindem und fanatischem Haß ermordet. Und nicht genug da mit, haben Sie sich anschließend noch an Ihren Opfern geweidet. Sie sollten zumindest nachträg lich Reue empfinden…“ Helmut Baller war bei diesen Worten aufge standen, gewissermaßen von der Wucht seiner eigenen Worte mitgerissen. Auch Obermeister Schmidtchen war aufgesprungen, aber es war nicht recht ersichtlich, ob er es aus Ehrfurcht für 23
die erhabenen Ziele tat, die Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn verkündet hatte und für die sie offensichtlich gestorben war, oder ob er nur nicht wagte sitzenzubleiben, wenn sein Vorge setzter stand. Auf Aphrodite allerdings machte diese irgendwie ans Feierliche grenzende Szene nicht den geringsten Eindruck. Kaltsinnig sagte sie: „Nehmen Sie lieber wieder Platz, Inspektor. Im Sitzen redet man leichter.“ Der Hauptinspektor sank langsam wieder auf seinen Stuhl, und Obermeister Schmidtchen folgte sofort seinem Beispiel, was vermuten läßt, daß ihm wohl doch die hehren Motive der dahinge schiedenen Freifrau weniger imponierten als eine Rüge seines Chefs. „Mit Ihnen verglichen, sind Berufskiller gerade zu sentimental“, sagte Baller böse. „Haben Sie denn gar keine Gefühle?“ „Und ob“, sagte Aphrodite. „Mir geht Tantes Tod sogar sehr nahe, wenn sie meiner Meinung nach auch verrückt war. Die Bourbonen? Oder die Hohenzollern? Was für eine Idee! Aber Papa sagt, daß sie schon als blutjunges Mädchen einen Adelstick hatte. Sie war nämlich früher Soubrette, müssen Sie wissen, und weiß der Himmel kein Kind von Traurigkeit. Sie verstehen. Aber in ihr Bett kam nur blaues Blut. Darin war sie eigen. Und als der vertrottelte Freiherr auftauchte und ihr die Ehe anbot, griff sie mit beiden Händen zu. Sie hatte endlich ihr Ziel erreicht: Das Mädchen aus der finstersten Provinz war zur Freifrau avan ciert. Tja, sie war schon eine Nummer…“ 24
„Sie hat Frankreich mit dem Freiherrn verlas sen?“ „Hm, schon bald nach der Heirat. Und die Büh ne selbstverständlich auch. So etwas schickt sich für eine Dame der Gesellschaft natürlich nicht…“ „Aber Sie haben doch von ihr gehört? Standen Sie miteinander in Briefwechsel?“ „Sehr spärlich. Es ist ihr sicherlich peinlich ge wesen, daß sie aus so kümmerlichen Verhältnis sen stammte.“ „Ich verstehe“, sagte Baller. „Aber um so merkwürdiger ist es doch, daß Sie sich so mir nichts, dir nichts entschlossen haben, Ihre Tante zu besuchen. Unter den von Ihnen erwähnten Umständen waren Sie ihr doch schwerlich will kommen…“ „Ich weiß es nicht“, sagte Aphrodite. „Sie war schon tot, als ich ins Büro kam. Und warum ich sie mit einmal besuchen wollte? Ich war neugie rig, Inspektor, das ist alles…“ „So unverhofft?“ Baller ließ nicht locker. „Wer sagt das? Nein, ich bin schon seit meinem fünften Lebensjahr auf Tante Marguerite neugie rig. Aber es hat sich nie Gelegenheit geboten, meine Neugier zu befriedigen. Bis ich letzte Wo che eine kleine Summe beim Pferderennen ge wann…“ „Ach, Sie haben beim Rennen gewonnen? Was für ein Zufall!“ Hauptinspektor Ballers Ironie war nicht zu überhören. „Gar kein Zufall“, sagte Aphrodite. „Ich bin hin gegangen, um zu gewinnen. Ich kenne nämlich in 25
Longchamps einen Jockey, dem ich einen kleinen Dienst erweisen konnte. Ich habe ihm einen Scheidungsgrund verschafft, quoi. Er hat sich re vanchiert und mir einen todsicheren Tip gegeben. Und mit dem gewonnenen Geld konnte ich endlich nach Köln reisen…“ „Und das soll ich Ihnen abnehmen?“ fragte Helmut Baller höhnisch. „Meinetwegen können Sie es auch bleibenlas sen“, antwortete Aphrodite. Sie zuckte nicht mit der Wimper. „Das werde ich auch“, sagte der Inspektor grimmig. „Wenn Sie mich hinters Licht führen wollen, müssen Sie es schon anders und vor allem geschickter anfangen.“ Aphrodite seufzte vernehmlich: „Ich sehe schon, Inspektor“, sagte sie, „daß ich Sie von Ih rer vorgefaßten und übrigens falschen Meinung nicht abbringen kann. Aber es wird Ihnen noch einmal leid tun, verlassen Sie sich darauf. Ich ha be mit dem Doppelmord nichts zu tun. Nicht das geringste…“ „Das Urteil überlassen Sie lieber mir“, sagte Helmut Baller. „Ich will nur noch eines von Ihnen wissen: Warum sind Sie nicht sofort nach der Tat geflohen?“ „Weil ich sie nicht begangen habe.“ „Nein, weil Sie nicht wissen konnten, daß inzwi schen schon die Polizei alarmiert war. Sie fühlten sich völlig sicher. Deshalb haben Sie sich nach dem Mord erst einmal eine Ruhepause gegönnt. Oder wollen Sie das leugnen?“ 26
„Ruhepause? Wo denken Sie hin, Inspektor. Sie sind ganz auf dem Holzweg. Am liebsten wäre ich sofort wieder davongelaufen, als ich die beiden Leichen entdeckte. Aber ich konnte doch nicht…“ „Was? Wieso konnten Sie nicht? Wer hat Sie daran gehindert?“ „Augustus natürlich, Inspektor… Wer sonst?“ „Augustus? Wer ist das? Ein Komplize? Natür lich. Daß ich daran nicht gleich gedacht habe…“ Helmut Baller schlug sich an die Stirn. „Unsinn, Inspektor. Mit Ihnen geht die Phanta sie durch!“ „Machen Sie keine Ausflüchte. Ich warne Sie. Heraus mit der Sprache. Wer ist Ihr Mittäter? Name und Adresse, wenn ich bitten darf. Na…?“ „Aber Augustus ist doch kein Mensch, Inspek tor. Augustus ist nur ein Skorpion.“ Aphrodite zuckte bedauernd mit den Schultern. „Was sagen Sie?“ Der Inspektor verschluckte sich beinahe. „Ein Skorpion? Wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen…“ „Ich denke nicht daran. Sehen Sie, Augustus ist mein ständiger Begleiter. Ich habe ihn immer bei mir. In einer kleinen Schachtel. Ich habe ihn großgezogen. Er ist an mich gewöhnt. Aber als ich in das Büro kam und die beiden Toten entdeckte, habe ich mich so erschrocken, daß ich die Schach tel fallen ließ, die ich unter dem Arm trug. Und so ist Augustus entwischt…“ „Und auf… hm… also auf Augustus haben Sie gewartet?“
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„Was blieb mir anderes übrig? Das ist so seine Art. Er läuft bisweilen davon, aber nie für lange Zeit. Augustus ist nämlich sehr anhänglich…“ „Und es ist noch nie etwas passiert? Skorpione sind doch giftig, soviel ich weiß.“ Der Inspektor schüttelte sich. „Natürlich, Inspektor“, sagte Aphrodite mit Be tonung, „Skorpione sind giftig. Aber Augustus ist harmlos. Er wehrt sich zwar, wenn er gereizt wird…“ „Ihr Gemüt möchte ich haben“, stöhnte Helmut Baller. „Und wo ist das liebe Tierchen jetzt? Kön nen Sie mir das sagen?“ „Woher soll ich das wissen? Ihre Leute haben mich doch vom Fleck weg verhaftet. Wahrschein lich befindet er sich noch im Büro. Er wird schreckliche Sehnsucht nach mir haben…“ Hauptinspektor Baller sprang wild gestikulie rend auf. Er war völlig mit den Nerven fertig. „Gehen Sie zum Teufel“, brüllte er. „Und neh men Sie diesen Augustus gleich mit. Abführen, Schmidtchen. Schaffen Sie mir diese Person aus den Augen…“ „Aber, aber…“, sagte Aphrodite beleidigt, als sie, gefolgt vom martialisch dreinblickenden Obermeister Schmidtchen, hinausschritt. „Ich ver stehe überhaupt nicht, wie man sich so aufregen kann…“
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Hauptinspektor Helmut Baller war sicherlich ein sehr erfahrener Kriminalist. Aber das ungewöhnli che, ja abschreckende Äußere der jungen Franzö sin hatte ihm wahrscheinlich doch den Blick ge trübt. In Wahrheit war nämlich Aphrodite mitnichten so ruhig und gelassen, wie sie sich während der stundenlangen Vernehmung glaub würdig zu geben wußte, was beiläufig gesagt auf ein beachtliches schauspielerisches Talent und auf ungewöhnlich starke Nerven schließen läßt. Kaum hatte eine resolute, vollbusige Wächterin sie in einer Einzelzelle des Kölner Polizeigefängnisses allein gelassen, deren Komfort aus einer nackten Holzpritsche und einem ansehnlichen Kübel be stand, sank sie erschöpft auf die schmerzlich auf stöhnende Pritsche und fingerte nervös in einer Jackentasche nach Zigaretten. Zwei Stunden spä ter hatte sie so viel geraucht, daß die schwedi schen Gardinen gelb zu werden drohten, und ins geheim beglückwünschte sie sich, daß man ihr die sieben Päckchen „Gauloises“, die sie vorsorglich auf die Reise mitgenommen hatte, nebst ihrem Gasfeuerzeug gelassen hatte. Sie war gleicherma ßen froh, daß sie endlich allein war und somit Ge legenheit hatte, ihre Gedanken zu ordnen. Das Resultat hätte Inspektor Baller freilich in Erstau nen versetzt, denn in einer Beziehung irrte er durchaus nicht: Aphrodite hatte in der Tat ziem lich viel verschwiegen. 29
So hatte es begonnen: Aphrodite war nach Sens in der Champagne gefahren, wie sie es gele gentlich zu tun pflegte, wenn sie die Atmosphäre in der Metropole als bedrückend empfand. Hier besaß ihr Vater ein kleines, verträumtes Haus am Rand der nicht minder verträumten Stadt, wo er dem Knabengymnasium bereits seit Jahren vor stand und folglich den Honoratioren beigezählt wurde. Und wie üblich waren sie und ihr Vater bald in Streit geraten, der, dieweil die schlichten de Hand der im Kindbett gestorbenen Mutter fehl te, seit Aphrodites Pubertät hausgebräuchlich war, nachdem sie die Diskrepanz zwischen ihrem Aus sehen und dem verheißungsvollen Vornamen endgültig konstatieren mußte. Er pflegte sich mei stens an nebensächlichen und banalen Dingen zu entzünden, aber an jenem Nachmittag vor nun mehr vierzehn Tagen war es doch ein etwas aus dem Gewöhnlichen herausfallender Anlaß gewe sen… „Je m’en fou“, sagte Aphrodite unfein, „du kannst mir gestohlen bleiben. Ich rühre für diese Gespenstheuschrecke keinen Finger.“ Monsieur Gaston Bagarre war im Umgang mit seiner Tochter zwar reichlich an Kummer ge wöhnt, was jedoch keineswegs besagt, daß er sich im Lauf der Zeit auch nur entfernt mit ihrer gera den, ungeschminkten, burschikosen Art abgefun den hätte. In solchen Fällen hatte er immer einen strengen Verweis zur Hand. „Aphrodite!“ japste er auch prompt. „Was fällt dir eigentlich ein? Immerhin ist Marguerite meine Schwester und somit…“ 30
„Respektsperson, ich weiß…“, unterbrach ihn das junge Mädchen gelangweilt. „Jawohl“, sagte Monsieur Bagarre und versuch te seiner Stimme, einen energischen Zuschnitt zu geben, wobei er wie gewöhnlich seine Möglichkei ten sträflich überschätzte und kaum mehr als ein schrilles Piepsen zuwege brachte. „Es gehört sich einfach nicht…“ Aphrodite verbiß sich mühsam das Lachen. Es fiel ihr allerdings nicht leicht. Denn schon unter normalen Umständen bot Monsieur Bagarre, vor sichtig gesagt, einen erheiternden Anblick, was auch eine liebende Tochter unmöglich übersehen konnte. Er war ein kleines Männchen mit ständig feucht schimmernden Augen, plattgedrückter Na se, die er umgehend seiner Tochter vermacht hat te, einem melancholisch herabhängenden, dünnen Schnurrbart und ausgesprochen gutmütigen dik ken Stirnpolstern. Zu allem Überfluß hatte die Na tur gegen sämtliche Regeln des guten Ge schmacks an diesen dafür völlig unpassenden Kopf gewaltige Ohren angesetzt, die bei jeder Ge legenheit aufgeregt zuckten und die er ebenfalls seinem Sprößling vererbt hatte. Bündig ausge drückt: Monsieur Bagarre sah ungeheuer komisch aus. Warf er sich jedoch in die strenge und selbstgerechte Pose, so verwandelte er sich vol lends in einen drolligen Zwerg, denn auch das muß erwähnt werden: Monsieur Bagarre erreichte kaum die Höhe von 1,60 Meter, womit er gut fünf Spannen hinter Aphrodite zurückgeblieben war. Unter solchen Umständen ist es natürlich schwer, den gebieterisch auftrumpfenden Vater 31
herauszukehren, und wenn er es gleichwohl im mer wieder probierte, geschah das ohne jede Illu sion. So fauchte Monsieur Bagarre auch nach ei ner kleinen Weile: „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“ Er stampfte mit dem rechten Fuß so heftig auf den sandigen Boden, daß der Staub aufwirbelte. Aphrodite freilich lieg sich nicht stören. Sie hat te einen Gartenschlauch in den Händen und begoß hingebungsvoll die jungen, aufstrebenden Salat pflänzchen auf dem Beet vor sich. „Hast du nicht gehört?“ piepste er zurechtwei send, weil Aphrodite die vorige Bemerkung glatt überging. „Aber Papa, du bist hier doch nicht in .der Schule…“, sagte Aphrodite wie beiläufig und rich tete den Wasserstrahl demonstrativ auf eine Ko lonie gerade erst halbstarker Puffbohnen. Es ist schwer, die Erschütterung zu verstehen, die diese vergleichsweise harmlose Bemerkung in Monsieur Bagarres Gemüt hervorrief. Schließlich war es unbestreitbar, daß er sich momentan nicht in der Schule, sondern in dem kleinen, von niedri gen Baumhecken umgebenen Garten befand, der hinter seinem Haus lag, und was hatte seine Tochter plattwörtlich genommen anderes gesagt? Und doch lag für Monsieur Bagarre das Hinter gründige dieser Worte auf der Hand. Sie hatte damit gewissermaßen die empfindlichste Reizstel le seines ansonsten still und gleichmütig dahin fließenden Daseins getroffen. Denn Monsieur Ba garre litt unendlich darunter, daß er als Lehrer recht eigentlich nur einmal in seinem Leben ver 32
sagt hatte, und das war ausgemacht bei Aphrodite gewesen. Er hatte ganzen Kohorten rotznäsiger und frecher Lausbuben die Regeln des Griechi schen und Lateinischen in die seiner Meinung nach sperrigen Gehirne eingehämmert, und dies mit gehörigem Erfolg. Manchem hatte er auf diese Weise sogar für immer die Landschaften antiken Geistes erschlossen. Aber die größten Hoffnungen hatte er natürlich auf Aphrodite gesetzt, und er war gründlich, ja sogar schändlich enttäuscht worden. Sie hatte einfach keinen Sinn dafür. Noch heute schauderte Monsieur Bagarre, wenn er dar an dachte, wie lust- und lieblos Aphrodite griechi sche oder lateinische Vokabeln gepaukt hatte. Es war ihr herzlich gleichgültig, ob beispielsweise die Griechen nach Mondjahren gerechnet hatten oder nicht, eine Frage, bei der sich ihr Vater stunden lang aufhalten konnte. Und als sie das nötige Alter erreicht hatte, mokierte sie sich weidlich darüber, daß die Hellenen Götter verehrten, die eigentlich nichts anderes taten, als ständig das süße Leben zu proben, was Monsieur Bagarre in schreckliche Rage versetzen konnte. Auch die Römer fanden ziemlich wenig Gnade in ihren Augen, sofern man von Plinius einmal absehen will, dessen „Naturge schichte“ sie wenigstens etwas Interesse abge wann. Aber bei der Lektüre des Tacitus überkam sie das große Gähnen, Cicero tat sie mit der un gebührlichen Bemerkung ab, der Mann schwätze zuviel, und die Sittenstrenge des alten Cato nann te sie ausgesprochen albern und rückständig. Bei solchen und vielen ähnlichen Anlässen war Monsi eur Bagarre häufig einem Herzinfarkt nahe, und 33
das ist zweifellos bei einem Menschen nicht ver wunderlich, der seine heiligsten Güter sozusagen unausgesetzt im Nahkampf gegen einen wahrhaf tig profanen Verstand verteidigen muß. So wird man es ihm auch kaum verdenken, daß er zuwei len starke Worte fand, etwa wenn er Aphrodites schnippisch hingeworfene Urteile als im höchsten Grade banausenhaft verdammte. Gleichwohl blieb alles Mahnen, Schimpfen und Schelten vergeblich: Schon früh konnte eine in Aktion befindliche Jagd wanze Aphrodite in weitaus helleres Entzücken versetzen als dies alle in ihres Vaters Bibliothek stapelweise angehäuften Schätze antiker Weisheit vermochten. Kein Zweifel: Bei Aphrodite hatte Monsieur Bagarre als Pädagoge schmählich ver sagt, und insgeheim hatte er das nie verwunden… „Du träumst wohl, Papa?“ Monsieur Bagarre kam wieder zu sich. Aphrodi te legte den Schlauch auf den Boden und ging an ihm vorbei zum Hydranten, um das Wasser abzu stellen. „Ähem…“, Monsieur Bagarre räusperte sich ver legen. ,Mein häusliches Cannae’, dachte er bitter. Das wievielte eigentlich? Jedenfalls konnte er sich nicht entsinnen, jemals gegen Aphrodites kühle Respektlosigkeit aufgekommen zu sein. Und sie hatte einen so verdammt praktischen Sinn. Dage gen war schwer etwas zu machen. Und wie zur Bestätigung sagte Aphrodite: „Wollen wir nicht einmal vernünftig darüber sprechen, Papa?“ „Aber das versuche ich doch die ganze Zeit…“, protestierte Monsieur Bagarre. 34
„Na, ich weiß nicht“, sagte das junge Mädchen skeptisch. „Kaum bin ich hier, kommst du wie von einer Hungerwespe gestochen angerannt und er klärst mir kategorisch, daß ich unbedingt Tante Marguerite zu besuchen habe. Dero Gnaden habe nach mir geschickt. Erwartest du vielleicht, daß ich deswegen vor Rührung in Schweiß ausbreche? Solange ich denken kann, hat dieses nachge machte Edelfräulein von uns nichts wissen wollen, weil wir, versteht sich, für sie nicht fein genug sind. Meinetwegen. Aber dann soll sie uns gefäl ligst ganz in Ruhe lassen. Meinst du nicht auch? Aber nein. Mit einmal fällt es deiner entarteten Schwester ein, daß wir auch noch existieren. Und wenn ich mich gegen diese Zumutung wehre, schmeißt du dich in Positur und verpaßt mir ein paar hausbackene Anstandsregeln. Ich möchte wissen, was daran vernünftig ist…“ Monsieur Bagarre streckte flehend die Hände nach oben: „Aber Aphrodite“, sagte er, „es scheint wirklich ernst zu sein. Dieser Mann… ich meine Monsieur Hafermann… hat das alles doch nicht erfunden. Marguerite ist in Gefahr. Daran zweifele ich keinen Augenblick…“ „Möglich“, sagte Aphrodite gleichgültig. „Aber darf ich fragen, was uns das angeht?“ „Sie ist immerhin meine Schwester“, sagte Monsieur Bagarre still. Aphrodite blickte ihn prüfend an. Die Sache ging ihm offenbar näher, als sie angenommen hatte. „Schwer zu leugnen“, erwiderte sie. „Ihr seid beide leibliche Kinder des Bouillonfabrikanten und 35
Gewürzkrämers Pierre Bagarre. Aber das ist auch alles. Ich sehe mehr Gemeinsames nicht…“ „Schon wahr“, sagte Monsieur Bagarre. „Mar guerite und ich haben uns nie so recht verstan den. Wir sind zu verschieden. Und trotzdem…“ Er schwieg unvermittelt und unterstrich seine Resignation mit einer müden Handbewegung. Aphrodite gab nach. Er tat ihr irgendwie leid. „Schön“, sagte sie. „Ansehen kann ich mir die sen Monsieur Hafermann ja mal. Das kann schließlich nicht schaden. Versprechen kann und will ich jedoch nichts. Wer ist das übrigens? Und wo hast du dich mit ihm verabredet?“ Monsieur Bagarre atmete erleichtert auf… Jakob Hafermann, dem Aphrodite zwei Stunden später im Bistro „La Champagne“ gegenübersaß, war ein großer, schwergewichtiger Mann mit flie hender Stirn, roter Säufernase und einem völlig kahlen Schädel. Er mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein, wenn ihn auch ein struppiger, ungepfleg ter, eisgrauer Bart weit älter erscheinen ließ. Vom ersten Augenblick an gab er sich betont bieder und kontaktfreudig, was Aphrodite jedoch weniger als Charaktereigenschaft wertete als vielmehr dem Umstand zuschrieb, daß Jakob Hafermann offenbar sämtliche Destillen der kleinen Stadt auf ihren Warenbestand hin überprüft hatte. Monsieur Bagarre, der zur Abstinenz neigte, rettete sich je denfalls schleunigst aus Hafermanns Dunstkreis in die entfernteste Tischecke, von wo er, nicht ohne ständig angewidert die Nase zu rümpfen, den Ver lauf der Dinge bei einem Glas Mineralwasser beo bachtete. Auch Aphrodite blieb dem weinseligen 36
Teutonen gegenüber sehr reserviert. Sie überhör te glatt das gleich eingangs in rheinischem Sing sang vorgebrachte vertrauliche Angebot, ihn doch der Einfachheit halber Köbes zu nennen, wie es der Brauch unter seinen Freunden sei, und kam sofort zur Sache: „Ich höre, daß Sie mir etwas von meiner Tante auszurichten haben, Monsieur Hafermann. Also…“ „Jawohl“, brabbelte Hafermann und nickte ein dutzendmal gewichtig mit dem Kopf, bevor er fortfuhr: „Die jnädige Frau Freifrau… Quatsch… Unsere Jnädige… Ich meine die Jnädige meiner Frau… Verstehen Sie, Frollein?…“ „Nein“, sagte Aphrodite wahrheitsgemäß. Hafermann riß die Augen weit auf und glotzte das junge Mädchen ungläubig an. „Watt?“ gluckste er. „Und ich dachte…“ Was er jedoch dachte, erfuhr Aphrodite nie. Immer wieder verhaspelte sich Hafermann, redete ungereimtes und schwer verständliches Zeug, um gleich darauf wieder minutenlang in Schweigen zu versinken. Aphrodite brauchte eine gute Stunde, um aus ihm herauszubekommen, daß er, Jakob Hafermann, der Gatte – er sagte tatsächlich Gatte – der Armanda Hafermann sei, die wiederum seit rund zwanzig Jahren dem Haushalt der Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn vorstand und eigentlich mehr eine Freundin als eine Be dienstete sei. Armanda genieße jedenfalls das vol le Vertrauen ihrer Herrin, das, wie er sich schmei cheln dürfe, auch auf ihn abgeschminkt sei, weshalb ihn die Freifrau häufig mit heiklen Affären betraue, die er stets zur vollen Zufriedenheit erle 37
digt habe. An dieser Stelle huschte ein fettes Grinsen über das Gesicht Hafermanns, womit er wohl die Art dieser Geschäfte andeuten wollte. Diesmal freilich stehe dem Vernehmen nach viel auf dem Spiel, denn es gehe genaugenommen um die Existenz der Freifrau, die, was er, Köbes Ha fermann, geradezu als unerhört ansehe, seit sage und schreibe vier Wochen mit geharnischten Drohbriefen überschüttet werde, worin man ihr ein schmähliches Ende verspreche. Er habe zwar keinen Schimmer, was in diesen Briefen stehe, dieweil er noch keinen zu Gesicht bekommen ha be, und so entziehe sich ihm auch, weshalb man der gnädigen Freifrau drohe. Aber Armanda habe ihm mitgeteilt, diese Briefe seien ausnahmslos aus Frankreich gekommen und erstaunlich gut über die Vergangenheit der Gnädigen unterrichtet. Und irgendwas Politisches müsse da auch im Spiel sein. Aber worum es gehe, wisse er leider nicht. Und er wolle es auch nicht wissen. Er habe jedoch auf Zureden Armandas keinen Moment gezögert, den Auftrag der Freifrau anzunehmen und nach Frankreich zu ihren Verwandten zu reisen. Ein schönes Land, Frankreich. Und der Wein? Klasse. Er solle ausrichten, daß die gnädige Freifrau ihren Bruder oder ihre Nichte am 30. Mai des Jahres in Köln erwarte. Oder auch alle beide. Es wäre au ßerordentlich dringend, und damit keine unnöti gen Auslagen entstünden, schicke die Freifrau ei nen runden Tausender in blanken DM-Scheinen mit. Bei diesen Worten angelte Jakob Hafermann reichlich unsicher aus seiner Jackentasche ein 38
prall gefülltes Kuvert und legte es auf den Tisch. Aphrodite gönnte ihm keinen Blick. Zum Ausgleich giftete sie ihren Vater an, der förmlich in sich zu sammenkroch und den allerdings vergeblichen Versuch machte, hinter dem Glas Wasser in Dek kung zu gehen. „Sieh einmal an“, sagte Aphrodite gedehnt. „Die liebe Tante hat also gar nicht nach ihrer fettgepol sterten Nichte gerufen. Für sie bin ich nur eine der Möglichkeiten. Du solltest dich schämen, Papa… Oder willst du etwa behaupten, das hättest du nicht schon vorher gewußt?“ Jakob Hafermann gaffte mit glasigen Augen verständnislos von einem zum anderen. „Aphrodite!“ sagte Monsieur Bagarre kläglich. „Du weißt doch…“ „Und ob ich weiß“, sagte die junge Dame und stand resolut auf. „Gehen wir lieber, Papa. Von diesem besoffenen Vandalen erfahren wir ohne dies nichts mehr…“ Monsieur Bagarre stand gehorsam auf. Hafer mann hob den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, erklärte Aphrodite kategorisch: „Vielen Dank, Monsieur Hafermann. Ich werde Ihnen morgen früh Be scheid geben, ob einer von uns der Bitte meiner Tante nachkommen und nach Köln fahren wird. Gedulden Sie sich bis dahin. Ciao!“ Das Geld ließ sie achtlos auf dem Tisch liegen, und ohne Hafermann noch eines Blickes zu würdi gen oder ihm die Hand zum Abschied zu geben, verließ sie von ihrem Vater gefolgt das Bistro. 39
Monsieur Bagarre ließ wohlweislich eine ganze Weile verstreichen, bevor er auf dem Heimweg an Aphrodite die Frage zu richten wagte: „Aphrodi te… Ich meine… Was hältst du von der Sache?“ Das junge Mädchen lächelte. Sie liebte ihren Vater sehr, besonders wenn er so rührend hilflos und lebensfremd war. „Ich kann mir noch kein Bild machen“, sagte sie. „Jakob Hafermann ist ja nicht gerade eine er giebige Informationsquelle gewesen. Aber ich fürchte, daß er viel mehr, als ich aus ihm heraus quetschen konnte, auch nicht weiß. Ein kleiner Handlanger, quoi…“ „Und wirst du fahren?“ Aphrodite blickte ihn scharf von der Seite an, und das konnte weniger ängstliche Gemüter als Monsieur Bagarre schon in Schrecken versetzen. „Und warum fährst du nicht?“ „Oh, ich…“, stöhnte Monsieur Bagarre auf und hob flehend die Hände über den Kopf. „Beruhige dich bitte“, sagte Aphrodite. „Ich hab’s ja nicht ernst gemeint. Selbstverständlich werde ich fahren. Aber ich kann dir keine Garantie dafür geben, daß sich deine hochnäsige Schwester darüber sehr freuen wird…“ „Wieso?“ fragte Monsieur Bagarre verständnis los. „Wieso? Aber Papa, denk doch einmal nach. Warum eigentlich will sie uns sehen? Weil sie na türlich annimmt, daß wir die Drohbriefe geschrie ben haben. Verstehst du? Und das werde ich ihr verdammt noch mal gründlich heimzahlen, der alten Vettel….“ 40
Monsieur Bagarre verschlug es vor Staunen die Sprache… Aphrodite fuhr hoch. Unmerklich war sie bei ih rem Rückgriff in die jüngste Vergangenheit auf der Pritsche eingeschlafen, und so hatte sie völlig überhört, daß die Zellentür rasselnd aufgeschlos sen worden war. In ihrem Rahmen stand Ober meister Schmidtchen: „Auf, auf, schöne Dame“, feixte er. „Ihr Typ wird verlangt. Nu machen Sie schon. Beeilung wird bei uns groß geschrieben…“ „Was ist denn los?“ fragte Aphrodite und rieb sich die Augen. „Der Hauptinspektor hat Sehnsucht nach dir, Puppe“, sagte Schmidtchen. „Hopphopp… Einfach nicht zu fassen… Solche Nerven möcht’ ich ha ben… Schläft wie ‘n Klotz. Und das nach ‘nem wunderschönen Doppelmord… ‘raus jetzt…“ Aphrodite folgte dem Obermeister widerwillig, nicht jedoch ohne ihn vorher mit einem Fluch be dacht zu haben, der hier aus Gründen des An stands und der Sitte nicht übersetzt werden kann. Und Schmidtchen selbst verstand zum Glück kein Französisch.
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Auch Helmut Baller hatte in einem Nebengelaß des Polizeipräsidiums ein paar Stunden geschla fen, und danach fühlte er sich, wie er zu sagen beliebte, wie neu getauft und durchaus frisch ge nug, um den Doppelmord in der Sternengasse zu einem Abschluß zu bringen. Sozusagen zur eige nen Aufmunterung machte er einige fröhliche Kniebeugen. Dann ging er zum Telefon und beauf tragte Schmidtchen, unverzüglich die Untersu chungsgefangene Bagarre vorzuführen. Nach wie vor hatte er nicht den leisesten Zweifel, daß als Täter nur die so überraschend und offensichtlich lediglich zu diesem Zweck in die rheinische Metro pole gekommene junge Französin in Betracht kam. Zumindest wiesen alle erreichbaren Indizien überzeugend darauf hin. Und Inspektor Baller hoffte, die restlichen Beweismaterialien, wie bei spielsweise den bislang nicht aufgefundenen Re volver, in absehbarer Zeit heranschaffen zu kön nen. Was jedoch das Tatmotiv des jungen Mädchens anging, so tappte der Inspektor trotz nach außen hin zur Schau getragener Gewißheit völlig im dunkeln, wenn er auch dazu neigte, ei nen politischen Hintergrund zu wittern. Aber wie sah dieser Hintergrund aus, wenn es ihn über haupt gab? Er hatte keine Ahnung, war aber ent schlossen, auch in dieser Richtung weiterzukom men. Immerhin hatte er sich vom frostigen Phlegma der Verdächtigen so weit erholt, daß er sich zutraute, eine erschöpfende Antwort auf die 42
se Frage bei einem nochmaligen und, wie er sich insgeheim vorgenommen hatte, diesmal „knall harten“ Verhör zu bekommen. Aber diese rosaro ten Träume verflogen schnell. Zwar betrat er noch pfeifend und schwungvoll sein Arbeitszimmer und marschierte federnden Schrittes (so hatte er es in entsprechenden Romanen gelesen) zum Schreib tisch. Und ohne sich einen Stuhl heranzuziehen, nahm er den dort inzwischen vorliegenden Obduk tionsbericht auf und überflog ihn. Es dauerte frei lich nicht lange, und er wurde bleich wie Quark. Schließlich warf er ärgerlich das ansehnliche Bün del Papier auf den Schreibtisch zurück, öffnete eine Seitenlade und entnahm ihr eine Flasche Whisky, die er an den Mund setzte und einen kräf tigen Schluck nahm. Dann stützte er das Kinn in die rechte Hand und versuchte nachzudenken. Bevor er jedoch einen klaren Gedanken fassen konnte, geschweige denn daß er für die veränder te Situation schon ein brauchbares Rezept gefun den hätte, klopfte es heftig an die Tür. Sie wurde gleich darauf sperrangelweit aufgestoßen, und herein polterte Obermeister Schmidtchen, hinter dessen ausladendem Kreuz Aphrodite sichtbar wurde, die, beiläufig bemerkt, Schmidtchen an Größe kaum nachstand. Schmidtchen knallte die Hacken zusammen und brüllte mit Überzeugung: „Obermeister Schmidtchen mit Untersuchungs häftling Ba… Ba… Ähhh…“ Resolut sparte er den für ihn unaussprechlichen Namen schließlich aus und meldete zackig: „Obermeister Schmidtchen befehlsgemäß zur Stelle.“ 43
„Danke, Schmidtchen. Nehmen Sie Platz, Ma demoiselle“, sagte Helmut Baller matt und ließ sich selber in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen. Schmidtchen nahm breitbeinig neben der Tür Aufstellung. Aphrodite witterte die veränderte Situation, ließ sich jedoch nichts anmerken. Bedächtig hockte sie sich auf den mit ihrem Gewicht zweifellos total überbelasteten Stuhl. Sie versuchte sogar in ihren Blick so etwas wie Treuherzigkeit zu legen, was ihr freilich ziemlich mißlang. Eher kam dadurch in ihre Augen eine finstere Drohung. Inspektor Baller quittierte es mit tiefem Unbehagen. Er wußte auch nicht recht, wie er anfangen sollte, weshalb er sich gewissermaßen vorbeugend erst einmal räusperte: „Tja…“, sagte er bedeutungsvoll. „Ah oui…“, kam es trocken von Aphrodite zu rück. „Nun… Wie soll ich sagen…“ „So ist es…“, sagte Aphrodite ohne jeden Zu sammenhang. Helmut Baller wurde das Gefühl nicht los, daß ihn das junge Mädchen durchschau te und sich einen makaberen Scherz mit ihm er laubte. Er beschloß der peinlichen Situation ein Ende zu machen, wenn es ihm auch keineswegs leichtfiel, und das ist sicherlich verständlich. „Also“, sagte er säuerlich, „ich möchte hoffen, daß Sie sich die Sache inzwischen überlegt ha ben…“ ,Noch ein Versuch kann schließlich nicht scha den’, dachte er. „Ich habe allerdings überlegt…“ 44
„Erfreulich, erfreulich…“, brummte der Hauptin spektor. „Und zu welchem Ergebnis sind Sie ge kommen?“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Wollen Sie jetzt ein Geständnis ablegen?“ Aphrodite lachte hell auf. „Aber, Monsieur…“, sagte sie grob. „Sie glauben wohl, daß mein Verstand inzwischen ins Hinterteil gerutscht ist, was?“ „Ich denke, Sie haben nachgedacht?“ „Und wie. Über den Fall. Und über Ihre völlig hoffnungslose Situation, Inspektor…“, sagte Aphrodite lakonisch und freute sich über die sichtbare Wirkung ihres Bluffs. Helmut Baller warf sich in die joviale Pose. „Nun ja“, sagte er, „ich will nicht behaupten, daß Sie unrecht haben…“ „Sehen Sie…“ „… aber recht haben Sie auch nicht. Der Fall ist, leider, wie ich einräumen muß, noch längst nicht geklärt…“ „Dann wissen Sie also inzwischen, daß ich den Mord nicht begangen habe?“ Der Hauptinspektor wand sich sichtlich. „Es besteht nach wie vor der dringende Ver dacht… Aber er hat sich… wie soll ich es ausdrük ken?… Er hat sich etwas abgeschwächt…“ „Was Sie nicht sagen?“ sagte Aphrodite und grinste spöttisch. „Abgeschwächt? Darf ich viel leicht fragen, wieso Sie mit einmal nicht mehr so sicher sind, daß ich die Mörderin bin? Sie wissen doch jetzt, daß ich den Mord nicht begangen ha be. Oder?“ 45
Baller winkte beschwichtigend ab. „Ja, ich weiß, ich weiß…“ Aphrodite schob den weiträumigen Ärmel ihrer Lederjacke zurück und befragte ihre Armbanduhr. „Vor noch nicht ganz vier Stunden waren Sie aber anderer Meinung“, stellte sie sachlich fest. Der Hauptinspektor beschloß, den Dingen ihren ohnehin unvermeidlichen Lauf zu lassen. „Vor vier Stunden, mein liebes Fräulein Bagar re, lag auch das Ergebnis des Obduktionsbefunds noch nicht vor…“ „So?“ sagte Aphrodite scheinbar gleichgültig, während sie in Wahrheit gespannte Aufmerksam keit war. „Ein etwas überraschendes Ergebnis“, fuhr Helmut Baller fort. „Damit war wirklich nicht zu rechnen…“ „Vielleicht kommen Sie allmählich zur Sache“, sagte Aphrodite. „Ich bin nämlich sehr daran in teressiert, wie Sie sich denken können…“ „Geduld… Ich bin schon dabei“, sagte Baller mißvergnügt. „Es ist jedenfalls einwandfrei erwie sen, daß Ihre Frau Tante, die verehrte Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn, und ihr Sekretär, Edler Gans von Himmelreuth, nicht, wie wir ursprünglich angenommen haben, durch Re volverschüsse, sondern durch Gift umgebracht worden sind…“ Jetzt war die Reihe zu staunen an Aphrodite. „Gift?“ sagte sie. „Unglaublich. Dabei habe ich selbst doch die Schußwunden gesehen…“ „Darauf sind auch wir zunächst hereingefallen“, sagte Inspektor Baller. „Offenbar hat man jedoch 46
erst geschossen, als die beiden Opfer schon längst tot waren. Unverständlich, aber darüber gibt es kaum einen Zweifel. Die beiden Opfer sind näm lich schon in der Nacht vom 29. zum 30. Mai ge storben. Und zwar durch Gift. Wahrscheinlich Ar sen oder etwas Ähnliches. Sie waren mindestens schon gut zehn Stunden tot, als die Schüsse sie trafen…“ „Wie schön“, sagte Aphrodite pietätlos. „Dann komme ich also selbst für Sie als mutmaßliche Mörderin nicht mehr in Frage, oder?“ Hauptinspektor Baller wackelte nachdenklich mit dem Kopf. „Ich halte es nach wie vor nicht für ausge schlossen, daß Sie die Schüsse auf die beiden ab gegeben haben“, sagte er nach einer Weile. „Viel leicht dachten Sie…“ „… daß die beiden auf dem Teppich vor dem Kamin ein Schäferstündchen eingelegt hätten, wie?“ unterbrach ihn Aphrodite sarkastisch. „Was weiß ich…“, knurrte Helmut Baller ärger lich. „Theoretisch ist jedenfalls nicht auszuschlie ßen, daß Sie auf die beiden geschossen haben, und zwar in der Annahme, sie würden noch le ben…“ „Sie sollten gelegentlich mal bei Goethe nach schlagen“, sagte Aphrodite, „der immerhin Ihr größter Dichter war, wenn man mich recht unter richtet hat. Dort heißt es wohl irgendwo, daß alle Theorie grau sei…“ „Vielleicht lassen Sie mich ausreden…“, fuhr der Hauptinspektor sie irritiert an. Er konnte Anspie lungen auf seine mangelnde Bildung nicht leiden, 47
wenn es auch in diesem Fall kaum so gemeint war. „Ich sagte theoretisch… Aber selbst wenn Sie wirklich geschossen hätten, ist das jetzt belang los. Tote kann man schließlich nicht mehr ermor den…“ „Wie wäre es mit Körperverletzung“, höhnte Aphrodite. „Ich habe den Eindruck, daß Sie mich liebend gern hierbehalten möchten…“ „Weiß Gott“, entfuhr es dem Inspektor ganz wi der Willen. „Naßforsche Großmäuler wie Sie neh men wir hier besonders gern in Behandlung…“ „Kann ich mir lebhaft denken“, sagte Aphrodite und warf Obermeister Schmidtchen einen anspie lungsreichen Blick zu. „Aber Sie waren noch nicht fertig, Inspektor…“ Helmut Baller klopfte sich insgeheim selbst be ruhigend auf die Schulter. „Wie dem auch sei“, fuhr er erläuternd, aber mit einem leichten, empörten Beben in der Stim me fort, „Sie kommen als Täter auf alle Fälle nicht in Frage, weil Sie erst gegen zehn Uhr morgens am dreißigsten Mai in Köln eingetroffen sind. Das haben wir inzwischen nachgeprüft. Der Schlafwa genschaffner erinnert sich genau an Sie…“ ,Kein Wunder, bei dem Aussehen’, fügte Baller bei sich hinzu. ,Ein Glück, daß ich Schlafwagen genommen ha be’, dachte Aphrodite. Laut sagte sie: „Ich habe Ihnen ja gleich ge sagt, daß ich mit dem Mord nichts zu tun habe…“ „Das ist noch gar nicht sicher“, unterbrach sie Helmut Baller hämisch. „Es ist mit an Gewißheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen, daß Sie 48
selber die Tat nicht begangen haben. Aber das ist auch alles. Wer sagt mir beispielsweise, daß Sie nicht der Initiator des Mordes sind, der sich bloß nicht die Hände schmutzig machen wollte? Im merhin sind Sie unmittelbar nach dem Mord hier aufgetaucht. Vielleicht wollten Sie sich vergewis sern, ob auch alles geklappt hat. Wer weiß…“ Aphrodite klopfte anzüglich mit der geballten Faust an ihre Stirn. „Nom d’un chien“, sagte sie burschikos. „Sie glauben wohl, daß ich bloß Gelee im Kopf habe, wie? Ich müßte doch wirklich den Verstand eines Wassermolchs haben, wenn ich andere zum Gift mord anstiftete und wenig später persönlich am Tatort auftauchte, um mich zu vergewissern, daß die Sache gelaufen ist. Und gewissermaßen zum Spaß jage ich obendrein den beiden Leichen noch ein paar überflüssige Kugeln in den Leib. Wo bleibt da die Logik, Inspektor?“ Inspektor Baller war von dieser Rede nicht ge rade begeistert, zumal sie ohne äußerlich wahr nehmbare Gemütsbewegung gehalten wurde. Aber er wußte natürlich, daß er mit bloßen Mut maßungen nicht weiterkommen würde, weshalb er die aufsteigende Wut hinunterschluckte und schleunigst einlenkte: „Ich will darüber jetzt nicht streiten, meine Liebe. Mit Logik hat das alles na türlich nichts zu tun, zugegeben. Aber Logik in Mordsachen gibt’s auch nur in Kriminalromanen. Ich kann es Ihnen zwar nicht beweisen, aber ich wette mein Monatsgehalt gegen Ihre Nickelbrille, daß Sie mehr mit dieser Geschichte zu tun haben, 49
als Sie zugeben wollen. Das sagt mir mein Ge fühl…“ „Sie müssen eine traurige Kindheit gehabt ha ben, Inspektor“, erwiderte Aphrodite spöttisch, „wenn Ihre Gefühle derart verkümmern konnten. Doch selbst wenn es so wäre, wie Sie sagen, spielt das hier keine Rolle. Solange ich kein Verbrechen begehe, geht Sie das alles nichts an. Und das können Sie mir eben nicht nachweisen. Folglich müssen Sie mich freilassen. Oder haben Sie noch etwas Theoretisches gegen mich vorzu bringen?“ „Nein“, sagte Helmut Baller zähneknirschend, „nein, durchaus nicht. Sie können gehen… Ich muß Sie allerdings bitten, sich noch eine gewisse Zeit zu unserer Verfügung zu halten. Es ist mög lich, daß wir Sie aus Ermittlungsgründen noch einmal brauchen…“ „Ich habe ohnehin nicht die Absicht, Köln zu verlassen“, sagte Aphrodite. Der Hauptinspektor horchte auf. „Ganz was Neues“, sagte er neugierig. „Ich denke, Sie wollten eigentlich sofort wieder abrei sen. Das haben Sie jedenfalls vor noch nicht ganz vier Stunden ausgesagt…“ „Die Absicht hatte ich ursprünglich auch“, ant wortete Aphrodite kalt. „Sie haben nur eine Klei nigkeit vergessen. Inzwischen ist nämlich meine Tante ermordet worden. Und nach meinen Erfah rungen mit Ihnen, Inspektor, werden Sie den oder die Mörder nie finden. Das muß ich schon selber besorgen…“ 50
Helmut Baller hatte gerade eine spitze Bemer kung auf der Zunge, als das Telefon läutete. Er nahm den Hörer ab: „Baller“, meldete er sich. Leider konnte Aphrodite nicht verstehen, was eine aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung sagte. Es mußte jedoch um den Mord in der Sternengasse gehen, wie sie einem beredten Blick des Inspektors entnahm, der allmählich krebsrot im Gesicht wurde und seine Erregung kaum verbergen konnte. „Das gibt’s doch nicht…“, stammelte er schließ lich. „Ich komme sofort… Lassen Sie alles, wie es ist… Ende.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und wandte sich Aphrodite zu, die ihn unschuldig anschaute. „Wollen Sie immer noch behaupten“, schnauzte er das junge Mädchen an, „daß Sie mit dem Mord fall in der Sternengasse nichts zu tun haben?“ Aphrodite blieb gelassen. „Das haben Sie vor wenigen Minuten selbst festgestellt“, sagte sie trocken. „Und warum haben Sie dann den Ehemann der Haushälterin Ihrer Tante umgebracht?“ schleuder te ihr der Hauptinspektor triumphierend entge gen. „Was?“ entfuhr es Aphrodite. „Jakob Hafermann ist tot? Ermordet?“ „Aha, Sie kennen ihn also“, hakte der Inspektor sofort nach. „Vom Hörensagen…“, log Aphrodite geistesge genwärtig. „Sie können mir viel erzählen. Aber das wird Ihnen jetzt auch nichts mehr nützen. Jakob Ha 51
fermann ist vor einer halben Stunde tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Offensichtlich ebenfalls vergiftet…“ „Und was habe ich damit zu schaffen?“ fragte Aphrodite. „Soviel ich weiß, genieße ich jetzt schon bald vierzehn Stunden Ihre Gastfreund schaft.“ „Das ist richtig. Ich habe auch nicht behauptet, daß Sie selbst die Tat begangen haben.“ „Ei der Daus…“, spottete Aphrodite, die ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. „Wen habe ich denn jetzt als Mörder engagiert? Ich bin sehr gespannt.“ Hauptinspektor Baller richtete sich in voller Größe drohend hinter dem Schreibtisch auf. Der Zeigefinger seiner rechten Hand wies anklagend auf das junge Mädchen. „Sie fragen noch?“ brüllte er aufgebracht. „Ha ben Sie nicht selbst zugegeben, daß Sie mit einem Skorpion eingereist sind? Und daß er Ihnen an geblich im Büro Ihrer Tante entwischt ist?“ „Augustus…“, sagte Aphrodite aufrichtig er staunt. „Jakob Hafermann ist tot auf seinem Bett lie gend aufgefunden worden“, sagte Helmut Baller mit Grabesstimme. „Und auf seiner Brust sitzt ein Skorpion. Das dürfte wohl genügen. Die Sache ist klar…“ „Augustus…“, wiederholte Aphrodite und schüt telte den Kopf. „Ganz unmöglich. Ich meine, wie kommt er in die Wohnung der Haushälterin…“ „Das wissen Sie sicherlich besser als ich“, fauchte der Inspektor, den es maßlos ärgerte, daß 52
Aphrodite nach diesen schweren Anklagen immer noch nicht zusammengebrochen war. „Aber das werde ich an Ort und Stelle feststellen. Und Sie kommen mit…“ „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Aphrodite und stemmte sich vom Stuhl hoch. „Der arme Augustus… Muß er denn immer Unfug ma chen, wenn ich nicht bei ihm bin…“ Vor soviel Kaltschnäuzigkeit kapitulierte selbst Obermeister Schmidtchen, der vorsichtshalber zwei Schritte zurücktrat, als Aphrodite, gefolgt von Helmut Baller, an ihm vorbei durch die Tür watschelte. Wer konnte schließlich wissen, ob die phlegmatische junge Dame nicht noch ein giftiges Insekt irgendwo versteckt hatte?
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Aphrodite staunte allerdings nicht schlecht, als sie, eingekeilt zwischen dem Hauptinspektor und Obermeister Schmidtchen die Wohnung der ver blichenen Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn betrat, nicht ohne vorher im Treppen flur einen losen Kordon wachsam blickender Poli zisten in Uniform passiert zu haben. Draußen auf der Straße vor dem Eckhaus Hohestraße Sternengasse hatte sich eine Menge Neugieriger versammelt, die von den dort parkenden Einsatz wagen der Polizei und Feuerwehr nebst einem Sa nitätsauto angelockt worden waren. Offensichtlich vermochte ein entlaufener Skorpion ebenso viele Hüter der Ordnung und entsprechende Amtsper sonen auf den Plan zu rufen wie etwa eine aus dem Zoo entwischte Großfamilie sibirischer Tiger. Dieser Gedanke zauberte auf Aphrodites Gesicht jenes belustigte Lächeln, das Uneingeweihte in der Regel und zugegebenermaßen nicht ganz grundlos für ein wildes Zähnefletschen hielten. Nun hatte Helmut Baller keineswegs Großalarm ausgelöst, wie Aphrodite leichtfertig vermutete. Schließlich galt der Inspektor als besonnener Mann und hatte dem auch in überraschenden Fäl len Rechnung zu tragen. Da er nur ungefähre Vor stellungen von der Größe und Gefährlichkeit eines Skorpions hatte, war er freilich vor keine leichte Aufgabe gestellt gewesen. Er hatte von der Pike auf gedient und somit gewisse Erfahrungen bei der Jagd nach entflogenen Papageien und Kanari 54
envögeln und einmal sogar beim Fangen eines entsprungenen Breitschwanzaffen gemacht, wobei im letzteren Fall sage und schreibe zwei Löschzü ge der Feuerwehr und ein Streifenwagen der Poli zei zum Einsatz gekommen waren. Und er war schon zum Hauptinspektor avan ciert, als er den Auftrag erhielt, den weißen Wal zu fangen, der sich im Rhein verirrt hatte, ein Un ternehmen, das bekanntlich mit einem Fehlschlag endete. Mithin war Helmut Baller im Geschäft des Tierfangens wenn schon kein Experte, so doch nicht völlig unbeschlagen. Aber mit Skorpionen hatte er noch keinen Umgang gehabt, was man ihm durchaus nicht anzukreiden braucht. Wer kennt sich in hiesigen Breitengraden schon mit Gliederspinnen aus? Auch der Inspektor konnte sich partout nicht vorstellen, daß Skorpione, wie wohl sie weiß der Himmel nach landläufigen Be griffen nichts Niedliches an sich haben, Tiere wie alle anderen auch sind, und das ist ein weit ver streutes Vorurteil. Für ihn waren Skorpione nichts weiter als gigantisch geratene heimtückische und höchst giftige Insekten, die überall Schrecken und Entsetzen verbreiteten und die anzuschauen schon schaudern machte. Und bestätigte nicht der Mordfall Hafermann dieses Urteil in jeder Bezie hung, wo doch hier allem Anschein nach ein Skor pion als tödlicher Giftbringer verwendet worden war? Inspektor Baller mußte also entschlossen handeln, ohne jedoch die Sache über Gebühr auf zubauschen, um einer Blamage von vornherein vorzubeugen. Andererseits konnte man nie wis sen, was für eine Arbeit es machen würde, ein so 55
gefährliches Tier zur Strecke zu bringen. Alarm stufe II oder, wie es im Kölner Polizeijargon hieß, einen „mittelprächtigen“ Alarm auszulösen, schien deshalb Helmut Baller der Sache angemessen zu sein. Und nur eine aller Sachkenntnis bare junge Dame wie Aphrodite konnte einen solchen immer hin noch zurückhaltenden Polizeieinsatz mit einem Großalarm verwechseln. Seiner Verantwortung voll bewußt und gewis sermaßen getrieben von detektivischem Eifer, hielt sich der Hauptinspektor nicht lange mit Vor reden auf, als er an einem stramm grüßenden Po lizisten vorbei die Wohnung der verschiedenen Freifrau betrat. „Habt ihr das Biest?“ fragte er kurz angebunden einen Offizier der Feuerwehr, der im Korridor stand und sich nervös die Unterlippe zerbiß; die Antwort war ein stummes Kopf schütteln. „Kommen Sie!“ rief Baller Aphrodite und Ober meister Schmidtchen zu. Er eilte den Flur entlang, der auf eine geräumige Diele hinauslief, die voll gestopft war mit pompösen Büsten und gewalti gen Ölschinken der Familie des Freiherrn von und zu Hummerlang und Böllersinn. Hier drängte sich eine Menge Leute in Zivil und Uniform vor einer offenstehenden Tür, die ins Schlafzimmer des Hauswartsehepaars Hafermann führte. Keiner der Anwesenden hatte es jedoch gewagt, mehr als ein oder zwei zögernde Schritte ins Zimmer hinein zu tun, wo lang ausgestreckt auf dem Bett die Um risse einer männlichen Gestalt ausgemacht wer den konnten. Auf dem altertümlichen, goldbe schlagenen Armsessel in der Diele saß 56
zusammengesunken und mit in den Händen ver borgenem Gesicht eine ältliche, füllige und schon leicht ergraute Blondine, die Aphrodite sofort wie dererkannte: Es war die nunmehr verwitwete Ar manda Hafermann. Neben ihr stand hoch aufge richtet ein langer und ausgedörrter Hagestolz mit einem Clemenceau-Schnurrbart, der sich mit hochmütiger Miene auf einen zierlichen Spazier stock stützte. Ihn schien wenig zu kümmern, was um ihn herum vorging. Bisweilen beugte er sich jedoch zu Armanda Hafermann hinab und flüsterte ihr ein paar Worte zu, die mit einem dankbaren Schluchzen quittiert wurden. Hauptinspektor Baller gönnte diesem merkwür digen Paar nicht einmal einen Blick, sondern schob rücksichtslos die an der Tür stehenden Leu te beiseite und betrat von Aphrodite und dem sich sichtlich unbehaglich fühlenden Schmidtchen ge folgt den Schlafraum. Barsch fragte er einen ne ben ihm stehenden Polizisten, der, wie zwei oder drei seiner Zunftgenossen auch, vorsichtshalber die Dienstwaffe gezogen hatte: „Wo ist das Vieh?“ Stumm wies der Polizist mit der Pistole auf die reglos auf dem Bett liegende Gestalt. „Ich sehe nichts!“ fauchte der Inspektor. Er wischte sich hastig die Augen und versuchte es noch einmal mit intensivem Hinstarren. „Ich kann einfach nichts sehen“, wiederholte er. „Euch soll der Teufel holen, wenn ihr…“ Ein Polizeibeamter in Zivil kam ihm zuvor: „Das Tier muß noch im Zimmer sein“, sagte er be stimmt. „Es hockte auf der Brust des Toten, als 57
wir hereinkamen. Aber kaum daß wir uns mit aller gebotenen Vorsicht näherten, ist es geflüchtet…“ „Und wohin?“ „Wenn wir das wüßten…“, sagte der Zivilist hilf los. Helmut Baller fühlte förmlich die Bedeutung der Stunde. Mit einstudierter Feldherrengebärde scharte er seine Männer um sich und befahl: „Es ist keine Zeit zu verlieren, meine Herren. Wer weiß, was dieses Rieseninsekt ansonsten noch al les anstellt. Über die uns allen drohende Gefahr brauche ich wohl kein Wort zu verlieren. Sie ist jedenfalls unerhört groß. Also äußerste Vorsicht, wenn es uns nicht so ergehen soll, wie dem ar men Kerl dort auf dem Bett. Zwei Männer bleiben hier an der Tür. Zwei andere besetzen die Tür dort links, die, soviel ich weiß, ins Bad der Hafer manns führt. Der Rest bildet einen Halbkreis und geht in Schützenkette gegen das Bett vor. Und langsam, wenn ich bitten darf. Noch eins: Notfalls wird rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch gemacht. Verstanden?“ Kaum war das vielstimmige „Jawohl, Herr Hauptinspektor“ verklungen, gab Helmut Baller mit einem energischen Kinnanheben den Einsatz befehl. Er selbst kam jedoch keinen Schritt vom Fleck. Aphrodite hielt ihn unsanft zurück, wobei der Inspektor höchst mißvergnügt konstatieren mußte, daß das junge Mädchen über beachtliche Körperkräfte verfügte. Folglich sah auch die ge fechtsbereite Truppe keinen Anlaß, ohne ihren An führer vorzugehen, und das ist schließlich kein Wunder. So kam die kaum begonnene Aktion so 58
fort wieder ins Stocken. Man kann sich denken, daß der Hauptinspektor unter diesen Umständen nicht gerade hochgestimmt war. „Was fällt Ihnen ein!“ brüllte er und versuchte sich Aphrodites Griff zu entwinden. „Aber Inspektor“, sagte das junge Mädchen, ohne lockerzulassen. „Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, daß ich ruhig zusehe, wie Sie und Ihre Leute Augustus umbringen. Außerdem ist der ganze Aufwand unnötig…“ „Wenn Sie nicht augenblicklich loslassen“, sagte Baller wütend, „lasse ich Sie von meinen Leuten abführen. Sie können von Glück sagen, daß Sie eine Frau sind…“ „Ich will Ihnen doch nur helfen“, sagte Aphrodi te sanft und entließ Baller aus ihrer Umklamme rung. „Lassen Sie lieber mich Augustus suchen…“ ‚Widerliches Weibsbild’, dachte der Inspektor und schüttelte sich. Aber Aphrodites Angebot leuchtete ihm sofort ein. Warum sollte er sich und andere unnötig in Gefahr bringen? Er war schließ lich fein heraus, wenn die mutmaßliche Mörderin eigenhändig die freilich ungewöhnliche Mordwaffe suchte. Und so konnte er außerdem mögliche Ver luste vermeiden. Allerdings traute Helmut Baller dem Frieden nicht ganz. Vielleicht versuchte das Mädchen ihm eine Falle zu stellen? Wer konnte schon wissen, was sie mit diesem vertrackten Giftträger noch alles anstellen würde, sobald sie ihn gefunden hatte? Insgeheim fragte sich Baller, ob man Skorpione eigentlich dressieren könne. Er traute Aphrodite selbst diese Fähigkeit zu. Die Folgen wären nicht auszudenken. Wenn er sich 59
am Ende doch entschloß, das Angebot des jungen Mädchens anzunehmen, so aus der völlig richtigen Überlegung, daß das Risiko bei näherem Hinsehen gleich groß war. Es macht schließlich wenig Unter schied, ob man einem giftigen Insekt unversehens gegenübersteht oder ob es auf einen losgelassen wird. Denn sollte man gebissen oder gestochen werden, kam es auf das gleiche heraus. Helmut Baller strich sich nachdenklich über das Kinn. „Na schön“, sagte er endlich. „Ich gebe Ihnen eine Chance. Holen Sie sich Ihren Skorpion. Aber ich möchte Sie warnen: Keine Tricks. Es wird so fort geschossen… Sie haben mich hoffentlich ver standen?“ „Ihr Charme überzeugt wie immer ungemein“, antwortete Aphrodite spöttisch. „Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Ihnen schon gesagt, daß Augustus völlig harmlos ist. Ich übrigens auch. Ihr Mißtrauen ist also völlig grundlos. Hoffentlich kann ich Sie davon noch überzeugen…“ Der Inspektor hob die Oberlippe, um seiner Skepsis deutlich Ausdruck zu verleihen. „Geben Sie’s auf, mich von der Harmlosigkeit Ihres komischen Haustiers überzeugen zu wollen, Mademoiselle“, sagte er eisig. „Von Ihnen gar nicht zu reden. Der Tote da drüben reicht mir fürs erste…“ Aphrodite zuckte lässig die Schultern. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und wandte sich resolut dem Bett zu, während Hauptinspektor Bal ler sich beeilte, seine Mannen mit einer herrischen Handbewegung bis zur Tür zurückzuscheuchen, 60
worauf er selbst schleunigst ihrem Beispiel folgte. Jedoch ließ er keinen Augenblick das junge Mäd chen aus den Augen. Er wußte nicht recht, ob er sich über das, was er in den kommenden Minuten erlebte, freuen sollte oder nicht. Es beleidigte beispielsweise sei nen Korpsgeist, daß sich das junge Mädchen im Vergleich zu dem Dutzend bewaffneter Männer, die sich im Hafermannschen Schlafzimmer wie In dianer auf dem Kriegspfad bewegt hatten, gera dezu wohltuend normal benahm. Bedächtig trat sie an das Bett und nahm sich erst einmal genü gend Zeit, den Toten aufmerksam anzuschauen, zu welchem Zweck sie das Kopfkissen, das halb über Hafermanns Gesicht gelegen hatte, beiseite schob. Nachdem sie sich offenbar überzeugt hat te, daß hier wirklich nichts mehr zu retten war, besaß sie die Frechheit, die Kleidung des Toten – Hemd und Hose – gründlich zu untersuchen, und dem Inspektor verschlug es total die Sprache, als sie wenig später aus der rechten Hosentasche Ja kob Hafermanns behutsam und unausgesetzt lei se, kosende Worte murmelnd etwas hervorzog, was für die raunenden Zuschauer vorerst noch nicht erkennbar war. Erst als Aphrodite sich ihnen mit ausgestreckter rechter Hand zuwandte, war auf ihrer Handfläche hockend ein vielleicht dreißig Millimeter langes, vielgliedriges Tier zu sehen, das sich beinahe völlig unbeweglich verhielt. Hauptin spektor Baller versuchte vergeblich ein leichtes Zittern zu unterdrücken. „Der Skorpion!“ sagte hinter ihm jemand mit unterdrückter Stimme. 61
„Ja, Augustus“, bestätigte Aphrodite. „Der arme Kerl hatte Angst. Deshalb hat er sich verkrochen. Und seiner Natur entsprechend in die erstbeste Höhle, die er finden konnte. In diesem Fall war es die Hosentasche des Toten…“ „Bleiben Sie, wo Sie sind“, befahl Helmut Baller. „Sie werden jetzt genau tun, was ich Ihnen sage. Zunächst muß das Tier isoliert werden… Wir be sorgen einen Käfig… oder… hm… ein Aquarium… Irgend etwas… Und dann…“ „Bemühen Sie sich nicht, Inspektor“, sagte Aphrodite kalt. „Ich gebe Augustus nicht mehr heraus. Ich bin froh, daß ich ihn endlich wiederge funden habe, Nicht wahr, mein Kleiner?“ Behutsam streichelte sie mit dem Zeigefinger der linken Hand das nach wie vor regungslos ver harrende Tier. „Zwingen Sie mich nicht, Gewalt anzuwenden“, sagte der Inspektor drohend. „Versuchen Sie’s mal!“ forderte ihn Aphrodite heraus und streckte provokativ den rechten Arm noch etwas weiter vor. Sie grinste breit. Helmut Baller war völlig überrascht. Mit dieser Wendung der Dinge hatte er nicht gerechnet. Er zermarterte sich den Kopf nach einem Ausweg aus der verzwickten Lage, ohne vorerst einen brauchbaren Einfall zu haben. Deshalb sagte er ablenkend: „Ich bitte Sie, Mademoiselle. Ich tue doch nur meine Pflicht!“ „Niemand hindert Sie“, antwortete Aphrodite gemütlich. „Ich am allerwenigsten. Nur eines schlagen Sie sich aus dem Kopf: Augustus bleibt bei mir. Je eher Sie das begreifen, desto besser 62
für uns alle. Und übrigens auch für die Aufklärung dieses Falles…“ Es gibt Menschen, die das Gefühl der Machtlo sigkeit zu Wutausbrüchen reizt. Bei Hauptinspek tor Baller beförderte es die Neigung zu Kompro missen, was beiläufig gesagt seiner Karriere sehr zuträglich gewesen war. Blitzschnell hatte er die ihm verbliebenen Möglichkeiten durchgerechnet. Gewiß: Er konnte versuchen, Gewalt anzuwenden. In diesem Fall war es jedoch keineswegs sicher, ob das scheußliche Vieh nicht doch den einen oder anderen erwischte, selbst wenn man das Mädchen unter Kontrolle bekam. Wahrscheinlicher war noch, daß der Skorpion wieder entkam. Dann hät te man mit der Jagd von vorn beginnen müssen, und das war ein Gedanke, der sicherlich nicht nur dem Inspektor Bauchgrimmen verursachte. Denn eher war das heimliche Angstgefühl vor dieser Kreatur bei ihm noch angestiegen, nachdem er leibhaftig mit ihr konfrontiert wurde: Der Skorpion strahlte eine bösartige, ja nachgerade aggressive Ruhe aus. Es war mithin besser, sich vorerst mit der impertinenten Französin zu arrangieren. ‚Kommt Zeit, kommt Rat’, sagte sich der Inspek tor. Und ‚Noch ist nicht aller Tage Abend…’ „Können Sie garantieren, daß dieses widerliche Biest keinen Schaden mehr anrichtet?“ fragte er absichtlich derb, um sein Einlenken etwas zu ka schieren. „Augustus hat noch nie Schaden angerichtet“, erklärte Aphrodite lakonisch. „Weder hier noch anderswo. Wie oft soll ich Ihnen das noch sa gen…“ 63
Helmut Baller verkniff sich einen nochmaligen Hinweis auf den ermordeten Hafermann. Allmäh lich neigte er zu der Ansicht, daß das Mädchen nicht ganz richtig im Kopf sei. Und Verrückte soll man bekanntlich nicht unnötig reizen. „Schon gut, schon gut“, sagte er beschwichti gend und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Behalten Sie Augustus. So scharf bin ich nicht auf ihn, mein Wort. Aber sagen Sie, muß er im mer auf Ihrer Hand sitzen?“ „Was denken Sie“, sagte Aphrodite und lachte leise vor sich hin. „Er sitzt hin und wieder ganz gern dort und hält Siesta. Aber er fühlt sich ir gendwo anders genauso wohl. Beispielsweise hier…“ Mit diesen Worten steckte sie den Skorpion in die rechte Tasche ihrer Lederjacke. ,Sie geht mit ihm um wie mit einem Taschentuch’, fuhr es Bal ler durch den Kopf. „Wenn Sie nichts dagegen haben, Inspektor“, sagte das junge Mädchen nach einer Weile, „so möchte ich mich jetzt irgendwo hinsetzen, damit Sie mit Ihren Ermittlungen anfangen können. Viel leicht in der Diele… Oder in einem anderen Zim mer…“ Der Inspektor hatte einen Moment lang mit dem Gedanken gespielt, die Gelegenheit auszu nutzen und Aphrodite zu überrumpeln, als der Skorpion in der Tasche verschwunden war. Er war davon aber sehr schnell wieder abgekommen, weil der Erfolg doch sehr in Frage stand, und vor nehmlich, weil er keine Ahnung hatte, wie rasch ein Skorpion angriffslüstern aus einer Tasche her 64
vorzuschießen vermag. Insgeheim nahm er sich vor, sobald wie möglich einmal in Brehms Tierle ben nachzuschlagen, was für Eigenschaften und Fähigkeiten Skorpione eigentlich aufweisen. Diese Unkenntnis hatte sich im vorliegenden Fall als ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor erwiesen, und Helmut Baller war selbstkritisch genug, das einzu sehen. Um endlich in der Sache weiterzukommen, entsprach er unverzüglich Aphrodites Wunsch. Er wies ihr den zweiten goldbeschlagenen Armsessel an, der in der Ahnendiele stand, befahl Schmidt chen, linkerhand von der jungen Dame Posten zu beziehen, und versäumte es auch nicht, eine Wa che an den Ausgang des Korridors zu stellen. Die Mitglieder der Ermittlungskommission ausgenom men, ließ er das Hafermannsche Schlafzimmer und die Diele räumen, ein Unternehmen, das frei lich an Armanda Hafermann und dem stocksteifen Hagestolz scheiterte, die sich standhaft weigerten, ihren Platz zu verlassen. Hier nützte nicht einmal ein warnender Hinweis auf das gefährliche Insekt, das dem trauernden Paar etwa sieben Meter ge genüber in Aphrodites Tasche lauerte. Der Hage stolz erklärte in ziemlich verknautschtem Deutsch, daß Armanda Hafermann, immerhin die Vertraute der dahingegangenen Freifrau von und zu Hum merlang und Böllersinn und folglich selber mit ei nem Adelsschimmer versehen – daß also Arman da Hafermann nicht daran denke, die Totenwache vor dem Ort des schrecklichen Ereignisses aus was für Gründen auch immer abzubrechen. Und dieser Meinung schließe er, Vicomte de Basse cour, sich in vollem Umfang an. Wohl oder übel 65
mußte sich Helmut Baller darein schicken, wozu freilich nicht unerheblich das verzweifelte Weinen Armanda Hafermanns beigetragen hatte, das sich zum stillen und gewissermaßen unaufhörlichen Aufschrei steigerte, als Jakob Hafermann auf einer Bahre hinausgetragen wurde. „Darf ich fragen, Inspektor, was für eine Todes ursache der Arzt festgestellt hat?“ sagte Aphrodite gleichmütig. Helmut Baller fuhr herum, als habe ihn der vermaledeite Skorpion unversehens doch gesto chen. „Sie fragen noch?“ sagte er empört. „Wenn hier jemand weiß, wie und woran Jakob Hafermann gestorben ist, dann sind Sie es. Das bestätigt auch die erste Diagnose des Arztes: Hafermann ist vergiftet worden…“ „Sieh mal einer an…“, sagte Aphrodite und zün dete sich geruhsam eine schwarze „Gauloise“ an, die sie aus ihren blue jeans gefischt hatte. Hauptinspektor Baller japste nach Luft. „Sie sind das abgebrühteste, abgefeimteste, kaltschnäuzigste Geschöpf, das mir jemals über den Weg gelaufen ist“, sagte er schließlich schnaufend. „Haben Sie wirklich nicht mehr dazu zu sagen? Sie waren es doch, die den Skorpion…“ Aphrodite ließ ihn nicht ausreden. „Im Gegenteil!“ sagte sie und nahm einen tie fen Zug aus der Zigarette. „Ich hätte sogar sehr viel zu sagen…“ „Sie wollen doch nicht etwa ein Geständnis ab legen?“ sagte Hauptinspektor Baller zweifelnd. Er hatte inzwischen genügend Erfahrungen mit der 66
jungen Französin gesammelt, um daran selbst in seinen kühnsten Träumen nicht mehr zu glauben. Er irrte sich nicht. Aphrodite lachte hell auf und drohte ihm schel misch mit der Zigarette. Es sah aus, als bewege ein freundlicher See-Elefant unbeholfen die Vor derpfote. „Mon cher inspecteur“, sagte sie belustigt, „Sie können sich anscheinend nicht daran gewöhnen, daß ich unschuldig bin. Jeder irrt sich, solange er kann. Ich habe Zeit…“ „Ich auch“, sagte der Inspektor gedehnt. „Und Ihre Verzögerungstaktik wird Ihnen nicht das ge ringste nützen. So wahr ich Helmut Baller heiße…“ Er bekam von einer Seite Unterstützung, von der er es am wenigsten erwartet hätte. „Mörderin! Verdammte Mörderin!“ sagte Ar manda Hafermann schrill. Offensichtlich hatte der Haß ihre Tränen getrocknet und ihre Lebensgei ster wieder erweckt. Sie war aufgesprungen und funkelte mit geballten Fäusten den Inspektor un beherrscht an: „Warum tun Sie nichts“, tobte sie. „Sie reden und reden und reden, aber die Mörde rin meines Mannes sitzt bequem vor Ihnen auf dem Stuhl und verhöhnt nicht nur Sie, sondern auch noch ihre Opfer… Ich verlange, daß Sie…“ „Beruhigen Sie sich“, sagte Helmut Baller. „Bit te, glauben Sie mir, wir tun alles, um den Täter oder die Täterin der gerechten Strafe zuzuführen… Aber wir brauchen Beweise…“ „Wie recht Sie haben, Inspektor. Ausnahmswei se!“ warf Aphrodite ein. „Wie wäre es, wenn Sie sich ein wenig um diese Beweise kümmern wür 67
den, anstatt Ihre Zeit mit einer – was ich übrigens verstehe – ziemlich aufgeregten Witwe zu vertrö deln…“ „Sie… Sie… Unmensch…“, stöhnte Armanda Ha fermann auf, ließ sich jedoch willig von Helmut Baller zum Sessel zurückführen, wo sie wiederum ihr Gesicht in den Händen verbarg. Offensichtlich hatte sie die vorübergehend aufgeflackerte Ener gie wieder verloren. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben…“, sagte Baller streng, an Aphrodite gewandt. „Ich habe überhaupt nichts angerichtet“, ant wortete Aphrodite kühl. „Man hat etwas angerich tet. Zugegeben. Beispielsweise mit mir…“ „Was sind Sie bloß für ein Mensch!“ klagte der Hauptinspektor. „Sie sind selber ein völlig gefühl loses Insekt… Wie Ihr Augustus… Vielleicht noch schlimmer…“ „Was wissen Sie schon von Insekten“, konterte Aphrodite. „Von meinen Gefühlen ganz zu schwei gen…“ Helmut Baller winkte unmutig ab. Dieser Frau konnte man nur mit handfesten Beweisen und mit eiskaltem Verstand beikommen. Er war geschickt genug, den vorübergehend okkupierten morali schen Sockel schleunigst wieder zu verlassen. „Haben Sie vorhin nicht bemerkt, daß Sie viel zu sagen hätten? Also reden Sie…“ Baller gab sich amtlich, sachlich, überlegen. „Mit Vergnügen“, entgegnete Aphrodite. „Das hätten Sie längst haben können. Ich wollte näm lich nicht stören… Sie eignen sich vortrefflich als Witwentröster…“ 68
„Verschonen Sie mich mit Ihrem Zynismus…“ Baller war ganz kalte Zurechtweisung. „Es war gut gemeint, Inspektor… Aber kommen wir endlich zur Sache… Monsieur Hafermann ist also vergiftet worden?“ „Ich wiederhole mich nicht gern“, sagte der In spektor unwirsch. „Verständlich“, sagte Aphrodite. „Und Sie neh men immer noch an, daß mein Augustus der – sagen wir – Täter war?“ „Das liegt doch klar am Tag…“ „Gut. Gehen wir zunächst einmal ruhig von die ser Hypothese aus. Wie aber ist Augustus ins Schlafzimmer des Hauswartsehepaars gekom men?“ „Wie schon! Was hat das mit der Sache zu tun? Er war jedenfalls am Tatort, und damit basta…“ „Ich sagte Ihnen schon, Inspektor, daß mir Au gustus im Büro dieser sogenannten Europäischen Bewegung für die Monarchie entkommen ist. Mir ist es jedenfalls ein Rätsel, wieso er mit einmal hier auftauchen kann…“ „Sehr schlau“, sagte Helmut Baller anerken nend. „Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Sie können dieses… hm… Insekt schließlich nicht in das Schlafzimmer der Hafermanns gebracht ha ben, denn Sie waren ja in Haft. Das wollen Sie doch sagen?“ „Sie sind völlig im Irrtum, Inspektor“, korrigier te ihn Aphrodite. „Mich interessiert lediglich, wie Augustus vom Büro der E. B. M. in das Schlaf zimmer gekommen ist. Daß ich ihn nicht dorthin gebracht habe, weiß ich schließlich selber…“ 69
„Wie Sie meinen“, sagte Baller. Er glaubte sei ner Sache ziemlich sicher zu sein. „Sie hatten es doch gar nicht nötig, den Skorpion höchstpersön lich dem armen Hafermann auf die Brust zu set zen. Es gibt nämlich eine durchgehende Verbin dung zwischen den Räumen der Europäischen Bewegung für die Monarchie und der Privatwoh nung der verstorbenen Freifrau. So war es für sie bequemer… Kommen Sie mit?“ „Aber ja. Die Wohnung der Hafermanns war ein Teilstück des Apartments meiner Tante. Auf diese Weise konnte Augustus ungehindert vom Büro der E. B. M. ins Schlafzimmer der Hafermann spazie ren. Ist es so?“ „Wir verstehen uns allmählich“, sagte der Hauptinspektor. „Und für Sie war es ganz einfach, diese Sache zu arrangieren…“ „Haben Sie eine Ahnung von Skorpionen“, ant wortete Aphrodite wegwerfend. „Glauben Sie, das sind Wundertiere, die man beliebig abrichten kann? Das ist blanker Unsinn, wie Ihnen jeder Fachmann bestätigen wird. Gerade daß man sie an ein bestimmtes Milieu notdürftig gewöhnen kann, aber das ist auch alles. Und selbst dann müssen Sie verdammt viel von ihren Lebensum ständen kennen…“ „Was Sie nicht sagen? Ich werde mich erkundi gen, verlassen Sie sich darauf. Bis dahin werde ich bei meiner Theorie bleiben. Oder haben Sie eine plausible Erklärung, wieso Ihr Skorpion plötz lich in Jakob Hafermanns Schlafzimmer auftauch te?“ 70
„Natürlich“, sagte Aphrodite. „Neben Hafer manns Schlafzimmer befindet sich ein Bad, nicht wahr?“ „Ja, aber…“ „Und vorgestern war es ungewöhnlich heiß?“ „Stimmt…“ „Und Hafermanns Bad ist kühl, kühler jedenfalls als andere Räumlichkeiten?“ „Was weiß ich? Ich sehe offen gesagt keinen Zusammenhang mit…“ „Das kommt häufiger vor bei Ihnen, wie ich schon gelegentlich bemerkt habe, Inspektor. Gleichwohl sollten Sie sich um das Bad küm mern…“ „Aber weshalb denn zum Teufel…“ Helmut Baller schlug sich entrüstet an die Stirn. Aphrodite ließ sich indes nicht beirren. „Gliederspinnen, Inspektor“, sagte sie beleh rend, „haben die Angewohnheit, sich möglichst an feuchtkühlen Plätzen auszuruhen, wann immer es möglich ist. Eben weil sie tropische Insekten sind. Nun gehören Skorpione – und nicht nur sie – zu den Gliederspinnen. Ich könnte mir also sehr gut vorstellen, daß sich Augustus vom kühlen Hafer mannschen Bad unwiderstehlich angezogen fühl te. Und von dort war es schließlich nicht mehr weit bis zum Schlafzimmer. Verstehen Sie?“ „Und wie!“ Hauptinspektor Baller rieb sich er freut die Hände, kaum daß ihm die Bedeutung dieser Aussage Aphrodites einigermaßen aufge gangen war. Er konnte es noch gar nicht richtig fassen, daß ihm die kaltschnäuzige Mademoiselle 71
am Ende doch noch in die Falle gegangen sein sollte. „Und wie!“ wiederholte er hämisch. „Endlich haben Sie sich verraten…“ „Nanu!“ sagte Aphrodite verwundert. „Sie haben soeben klar und deutlich gesagt, daß jemand, der die Lebensgewohnheiten dieser giftigen Insekten genau kennt, sie ohne weiteres dorthin dirigieren kann, wohin er will. Das können Sie doch nicht bestreiten! Und nichts anderes ha ben Sie getan, mein Fräulein. Soviel ich sehe, kommt das einem Geständnis sehr nahe…“ „Wenn Sie sich nur nicht irren“, sagte Aphrodite ohne eine Miene zu verziehen. „In diesem Fall müßten Sie beispielsweise erst einmal beweisen, daß ich von der Existenz eines Bades neben dem Hafermannschen Schlafraum etwas wußte.“ „Nichts leichter als das“, warf Baller ein. Aphrodite nahm diesen Zwischenruf nicht zur Kenntnis, sondern fuhr trocken fort: „Und zwei tens wollte ich Sie lediglich darauf hinweisen, daß Augustus auch rein zufällig in das Schlafzimmer gekommen sein kann. Gerade weil er sich nach seinen Instinkten richtete.“ „Das kann ich – oder das Gericht – Ihnen glau ben oder auch nicht“, sagte Baller. „Genausogut könnte jedoch hinter der Kenntnis seiner Lebens gewohnheiten ein wirklich teuflischer Plan stek ken. Zum Beispiel dieses Insekt als Mordwaffe zu benutzen. Das werden Sie als Frau von Verstand wohl kaum bestreiten können…“ „Doch, das weise ich sogar entschieden zu rück“, sagte Aphrodite. Sie räkelte sich wohlig. 72
„Sie werden bestimmt nicht in Freudentränen ausbrechen, Inspektor, aber auf Ihren ohnehin lädierten Gemütszustand kann ich leider keine Rücksicht nehmen. Ich werde nämlich beweisen, daß Augustus unmöglich Hafermann gestochen und auf diese Weise umgebracht haben kann. Völ lig ausgeschlossen…“ „Beweisen? Machen Sie sich nicht lächerlich. Sagten Sie eben beweisen?“ Helmut Baller war auf der Hut. „Nichts leichter als das!“ Aphrodite legte ihr Ge sicht in entgegenkommende Falten, wodurch eine frappante Ähnlichkeit mit einer zur Fratze verzerr ten polynesischen Dämonenmaske zustande kam. Der Hauptinspektor wandte hastig den Blick von ihr ab. „Und wenn Augustus mit der Tat nichts zu tun hat, Monsieur“, fügte Aphrodite hinzu, „werden Sie zwangsläufig auch jeden Verdacht gegen mich fallenlassen müssen, mag es Ihnen noch so schwerfallen. Ist das so?“ Baller stimmte widerwillig mit einem Kopfnicken zu. „Ausgezeichnet!“ sagte das junge Mädchen und holte mit einem schnellen Griff Augustus aus ihrer Tasche. Obermeister Schmidtchen scherte gei stesgegenwärtig mit drei raschen Schritten nach links aus, eine Richtung, die ihm politisch anson sten äußerst unsympathisch war. Die beiden Po sten an der Schlafzimmertür und am Korridorende erstarrten. Helmut Baller selbst zog sich langsam und wie immer besonnen auf Hafermanns Schlaf zimmer zurück, und auch der Vicomte de Basse 73
cour, der bislang nichts von seiner steifleinenen Gravität verloren hatte, verriet mit einem aufge regten Zittern seines Clemenceau-Schnurrbartes aufkeimende innere Erregung. Allein Armanda Ha fermann schien nicht wahrzunehmen, was um sie herum vor sich ging. „Mademoiselle!“ stammelte Baller. „Ich bitte Sie… Sie haben doch versprochen…“ „Sie brauchen keine Angst zu haben, Inspek tor“, sagte Aphrodite, die sich mühsam das La chen verbiß. „Ich habe mein Wort gegeben, daß Augustus nichts anrichtet, und ich halte mich dar an. Übrigens konnte ich dieses Versprechen leicht geben. Denn sehen Sie, Monsieur, Augustus kann gar keinen Schaden verursachen…“ „Ich verstehe nicht…“, sagte Helmut Baller äu ßerst mißtrauisch und retirierte noch zwei Schritt weiter. „Nicht? Ich wiederhole also: Augustus ist völlig harmlos. Er kann beispielsweise einer Fliege, aber ansonsten niemand und schon gar keinem Men schen etwas antun… Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen.“ „Aber…“, sagte der Inspektor aus nunmehr halbwegs sicherer Entfernung. „Sie selber haben doch behauptet, daß Skorpione in hohem Grad giftig sind…“ „Schon. Aber wann jemals habe ich gesagt, daß Augustus giftig ist?“ Helmut Baller lief rot an, und das war nicht al lein ein Ausdruck freudiger Erleichterung. Er wies mit dem Kopf auf Augustus, der wie gewohnt auf 74
reizend still auf der Handfläche des jungen Mäd chens saß. „Er… ich meine… das Spinnentier da… ist nicht giftig?“ brachte er nach einer Weile heraus. „Nein. Pas du tout. Sehen Sie, er hat am Schwanzende weder eine Giftblase noch einen Stachel, sondern nur eine Art Faden, den soge nannten Caudalfaden. Wie sollte er damit stechen können, der Ärmste!“ Helmut Baller beäugte mißtrauisch besagten Faden, den Aphrodite ihm entgegenhielt, und auch Obermeister Schmidtchen wagte sich einen Schritt näher heran. „Wenn das so ist…“, sagte der Hauptinspektor und kratzte sich am Kopf. „Sie können mir viel erzählen. Wer sagt denn, daß ich Ihnen überhaupt glauben darf? Ich werde lieber Experten befragen. Außerdem haben Sie mich frech belogen, als Sie auf meine Frage antworteten, Skorpione seien gif tig…“ „Keineswegs“, antwortete Aphrodite und steck te Augustus wieder in die Tasche. „Skorpione sind wirklich giftig. Aber Augustus ist ein sogenannter Geißelskorpion. Oder wissenschaftlich ausge drückt, er gehört zu den Pedipalpen, deren erstes Paar Beine in lange und meistens acht, manchmal aber auch in vielgliedrige Tarsengeißeln auslau fen. Die Pedipalpen sind Raubtiere wie die Scor piones, Inspektor, indes vielleicht noch etwas lichtscheuer; manche von ihnen sind sogar ausge sprochene Höhlenbewohner. Nur eines sind sie nicht: für Menschen gefährlich. Sie haben, wie ge 75
sagt, keinen Giftstachel. Wollen Sie noch immer behaupten, daß ich Sie angelogen habe?“ „Das wird sich noch herausstellen“, sagte Hel mut Baller zumindest ebenso giftig wie ein leib haftiger Skorpion. „Und der Henker wird Sie ho len, wenn das wieder eine Ihrer elenden Ausreden sein sollte.“ Aphrodite kicherte unverschämt vor sich hin: „Prüfen Sie, Inspektorchen“, sagte sie nachgiebig. „Prüfen Sie getrost… Aber in der Zwischenzeit ha ben Sie wohl die Freundlichkeit und schreiben meinen Entlassungsschein aus, ja? Allmählich ge hen Sie mir nämlich auf die Nerven…“ „Haben Sie überhaupt Nerven…“, knurrte Hel mut Baller und marschierte wütend aus der Diele. Noch im Hinausgehen hörte man ihn verzweifelt memorieren: „Pedipap… Quatsch… Palpedi… Ver wünschte Viecher…“
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Ungefähr sechs Stunden später, es ging schon auf den Abend zu, war Aphrodite tatsächlich unter wegs in die Freiheit. Sie wartete darauf, daß die vollbusige und jetzt gelindes Wohlwollen aus strahlende Wärterin das letzte Tor der Schleuse des Kölner Polizeigefängnisses aufschloß, dabei ausgiebig kontrolliert von einem eigens hierfür bestallten Torwächter. In Aphrodites Tasche steckte ein mit nicht weniger als zwölf amtlichen Stempeln und drei Unterschriften versehener Ent lassungsschein, auf dem sich, dem ständigen, nervösen Rascheln nach zu urteilen, Augustus ge rade möglichst bequem einzurichten versuchte, was ihm bestimmt nicht leichtfiel. Schließlich be setzte er damit Neuland, denn wann jemals hat ein Geißelskorpion schon ein obrigkeitlich beglau bigtes und gesiegeltes Dokument als Ruhestätte zugewiesen bekommen? Hauptinspektor Baller hatte es allerdings gar nicht eilig mit Aphrodites Entlassung gehabt. Er wurde einfach das Gefühl nicht los, daß die junge Französin mehr mit den Mordfällen in der Ster nengasse zu tun hatte, als sie einräumen wollte. Aber das war eben eine Sache der Witterung und nicht des begründeten Verdachts, von überzeu genden Beweisen gar nicht zu reden. Er hegte freilich noch einige Zeit die Hoffnung, daß Aphro dite mit der Behauptung, ihr hauseigener Skorpi on sei gar kein Skorpion im eigentlichen Sinne und mithin ungiftig, lediglich Zeit habe gewinnen 77
wollen, und er gab das auch unumwunden zu, als es ihm Aphrodite auf den Kopf zusagte. Daß sie darauf mit lautem Lachen quittierte, ließ ihn frei lich den Verlust auch dieser Runde der Auseinan dersetzung ahnen. So berührte es ihn nicht mehr sonderlich, als ein schließlich herbeizitierter Ex perte, Dr. Ernestus Wiggehamm, die Angaben Aphrodites voll und ganz bestätigte. Er amüsierte sich königlich über die Ängste, die der Inspektor und seine Leute ausgestanden hatten, nahm Au gustus ohne weiteres in die Hand, nannte ihn ein bezauberndes Tierchen und beglückwünschte die Kollegin zu dieser Prachtausgabe eines Thelypho nus doriae. Und nach längerer Fachsimpelei über Gliederspinnen, wobei es Fremdwörter wie Mandi bel, Cephalothorax, Superciliarwulst, Abdomen segment und dergleichen mehr nur so regnete, verabschiedete sich Dr. Ernestus Wiggehamm mit einem gewagten Witz über die bei den Pedipalpen fehlende Genitalklappe, was ihn nicht nur als ge lehrtes, sondern auch als lustiges Haus auswies. Vorher jedoch ließ ihn Helmut Baller, der von dem Gespräch zu seinem Leidwesen nichts mitbekom men hatte, obwohl er bei Erwähnung der Genital klappe aufhorchte – vorher also ließ ihn der In spektor ein Schriftstück unterzeichnen, worin er bescheinigen mußte, daß Augustus eine für Men schen ungefährliche Gliederspinne, dieweil nicht den Scorpiones, sondern den Pedipalpi und hier dem Tribus Uropygi und der Familie der The lyphonidae zuzurechnen sei. Und schon in der Tür, empfahl der humorige Doktor dem Inspektor an gelegentlich, sich doch auch einen Geißelskorpion 78
als Hausgenossen anzuschaffen, damit er sich an diese Tiere gewöhne und künftig das Fürchten verlerne. Helmut Baller mußte das als einen sehr unpassenden Scherz aufgefaßt haben. Denn kaum war die Tür hinter dem Entomologen ins Schloß gefallen, griff er nach der erstbesten Akte auf sei nem Schreibtisch und knallte sie wütend auf den Fußboden. Es war zufällig die Akte über den jüng sten Bestechungsskandal in den Reihen der Kölner Polizei… Auf Aphrodite jedoch wartete vor dem Polizei gefängnis eine handfeste Überraschung: Hier stand auf den anscheinend unvermeidlichen Spa zierstock gestützt und bis obenhin mit Würde vollgestopft jenes kleine Männchen mit dem Clemenceau-Schnurrbart, das in der Ahnendiele der freifraulichen Wohnung Armanda Hafermann Ge sellschaft geleistet hatte. Aphrodite rückte ver drossen die Nickelbrille zurecht und versuchte ha stig an dem mageren Zwerg vorbeizukommen, aber das erwies sich als unmöglich. Denn kaum hatte er das junge Mädchen wahrgenommen, setzte er sich, den Spazierstock wie einen Degen handhabend, in Bewegung und vertrat ihr den Weg. Er schlug gekonnt die Hacken zusammen, senkte salutierend den Spazierstock und zog die graugrüne Melone vom Kopf, die übrigens in der Farbe akkurat zu dem altmodisch geschnittenen, neuerdings freilich fast schon wieder modern an mutenden Wams paßte, das er über ein an Är meln und Brust weit vorquellendes Spitzenhemd gestreift hatte. 79
„Pardon, Mademoiselle“, sagte er mit tiefer Baßstimme. „Monsieur?“ sagte Aphrodite zurückhaltend, während sie sich insgeheim wunderte, wo zum Teufel in diesem klapprigen Körper der Resonanz boden einer solchen Stimme sein möge. „Ich bitte um Vergebung, wenn ich Sie so form los anspreche“, sagte das Männchen halb vorge beugt. Es sah aus, als probe er ständig einen Kratzfuß. „Aber in der Wohnung Ihrer verehrten und leider so unverhofft von uns gegangenen Tante, unserer lieben Freifrau von und zu Hum merlang und Böllersinn, bot sich keine Gelegen heit dazu. Es war wohl auch nicht der schickliche Ort. Deshalb habe ich mich entschlossen, Sie hier zu erwarten, Mademoiselle. Soeben haben wir, will sagen die Damen und Herren des Vorstands der Europäischen Bewegung für die Monarchie, unserer geschätzten Freifrau das letzte Geleit ge geben… Ähem… Bedaure, daß besondere Umstän de Sie von der Teilnahme abhielten… Darf ich Ih nen, gnädiges Fräulein, meine tiefe Anteilnahme zu dem auch für Sie gewiß unersetzlichen Verlust noch nachträglich aussprechen? Und erlauben Sie mir, sogleich die Bitte hinzuzufügen, daß Sie, Ma demoiselle, heute unser Gast sein mögen. Der Vorstand unserer Bewegung würde es sich zur Eh re anrechnen, Sie in seiner Mitte begrüßen zu dür fen. Wir finden uns zu einem bescheidenen Mahl im Gedenken an Ihre verstorbene Tante im Hotel ,Zu den vier Haimonskindern’ zusammen… Ähem… Sie würden uns glücklich machen, gnädi ges Fräulein…“ 80
,Himmel!’ dachte Aphrodite entsetzt. ,Was der Kerl für ein Zeug zusammenredet! Und wie er sich spreizt!’ „Ich weiß nicht recht, Monsieur“, sagte sie laut. „Darf ich fragen…“ Das Männchen ließ sie nicht ausreden. Es setzte eine schuldbewußte Miene auf, schmetterte noch einmal überzeugend die Hacken zusammen und sagte knarrend: „Verzeihung, Mademoiselle, ich vergaß… Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Vicomte de Bassecour. Ich darf mir schmeicheln, einer der nächsten Freunde Ihrer hochverehrten Frau Tante zu sein… Pardon, ich war ihr Freund, wie man jetzt leider sagen muß… Ähem…“ „Wie angenehm“, flunkerte Aphrodite, „ich freue mich.“ „Merci“, sagte der Vicomte. „Darf ich hoffen, daß Sie meine Einladung annehmen?“ „Tja…“ Aphrodite rieb sich zögernd die Nase, während sie überlegte, was dieser übertrieben höfliche Gnom mit der Einladung eigentlich be zweckte. Sie kam jedoch zu keinem Schluß. „Das ist so eine Sache“, sagte sie hinhaltend. „Ich bin schließlich nicht von Adel, Monsieur le Vicomte. Und ich möchte sehr bezweifeln, daß ich in ein so feines Milieu passe… Noch dazu in meinem An zug…“ Bei diesen Worten drehte sie sich mit leicht ausgebreiteten Armen demonstrativ einmal um sich selbst. Erschreckt und laut schimpfend stob eine in der Nähe kampierende Spatzenkolonie auseinander. 81
Der Vicomte schien indessen nicht schreckhaft zu sein. Er winkte großzügig ab. „Ich bitte Sie, Mademoiselle“, sagte er. „Wenn es nur daran liegt… Wir sind doch nicht von ge stern…“ „So?“ sagte Aphrodite spitz. Sie gab sich wenig Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. „Sie dürfen mir getrost glauben“, versicherte der Vicomte treuherzig. „Auch wir gehen mit der Zeit…“ „Ich weiß“, sagte Aphrodite maliziös. „Wenn ich beispielsweise an die Bourbonen denke… Wirklich umwerfend modern…“ „Warum spotten Sie? Sie haben am allerwenig sten Grund dazu. Schließlich handeln und denken wir ganz im Sinne Ihrer Tante, die übrigens im mer große Stücke auf Sie gehalten hat und oft bedauerte, daß sie so wenig Kontakt mit Ihnen hatte…“ ,Der Hampelmann wird nicht einmal rot, wenn er lügt’, dachte das junge Mädchen grimmig. ,Als ob die alte Tanzfliege jemals etwas anderes als Verachtung für uns übrig gehabt hätte…’ „Ach ja, die liebe Tante…“, sagte sie heuchle risch. Der Vicomte nickte gravitätisch. „Ja“, sagte er, „die Freifrau war von wahrhaft edler Gesinnung. Und von grenzenloser Güte obendrein. Noch kurz vor ihrem tragischen Ende hat sie die Absicht geäußert, Sie, Mademoiselle, zu adoptieren…“ „Sagten Sie Adoption?“ Einen Augenblick lang war Aphrodite tatsächlich verblüfft. Sie wußte 82
nicht recht, ob sie mehr über diese Nachricht oder über den virtuos lügenden Hagestolz staunen soll te, der gönnerhaft lächelnd vor ihr stand. Daß es sich nur um eine faustdicke Lüge handeln konnte, stand für das junge Mädchen fest. Es war einfach absurd. Aber welchen Grund hatte der Vicomte, derart unverblümt zu schwindeln? Worauf sollte das hinaus? Sie sollte nicht lange im Ungewissen bleiben. „Ja, Adoption“, bekräftigte der Vicomte. „Sie sehen, Mademoiselle“, fuhr er schnell und eifrig fort, „daß Sie ohne Bedenken die Einladung zu unserem Bankett annehmen können. Als präsum tive Adoptivtochter unserer überaus verehrten Präsidentin der E. B. M. haben Sie nicht nur das Recht, sondern, wie ich meine, auch die Pflicht dazu… Ähem… Verzeihen Sie bitte, wenn ich auf diesen Aspekt so unverfroren verweise. Aber der Pflichtgedanke…“ „Ich verstehe“, unterbrach ihn Aphrodite, die keine Lust verspürte, ein Referat über Pflicht als Grundprinzip des Monarchismus anzuhören, zu dem der Vicomte offenbar ansetzte. Sie wußte, woran sie war. Der gräfliche Rumpelstilz hatte of fensichtlich ein vitales Interesse daran, daß sie an dem vorgesehenen Leichenmahl teilnahm. Das Vergnügen konnte er schließlich haben. Schaden konnte es keinesfalls, wenn sie sich einmal in die sem Milieu umsah, wo man, sofern sie dem Vi comte glauben konnte, es kaum erwarten konnte, sie zu begrüßen. „Wenn es so ist…“, sagte Aphrodite möglichst gleichgültig. „Pflichtvernachlässigung lasse ich mir 83
nicht gern nachsagen, Monsieur le Vicomte. Schön, ich nehme Ihre Einladung an.“ „Ähem…“, sagte der Vicomte enthusiasmiert. „Sie machen meinen Freunden und mir wirklich eine große Freude. Darf ich also bitten? Mein Wa gen wartet gleich hier um die Ecke.“ Aphrodite war das in den Mundwinkeln des Vi comte angedeutete hämische Lächeln keineswegs entgangen. Schweigend steckte sie die rechte Hand in die Tasche der Lederjacke und streichelte flüchtig Augustus, der auf dem Entlassungsschein von einer fetten Spinne träumte und sich bei die ser angenehmen Beschäftigung natürlich nicht stören ließ… Das Hotel „Zu den vier Haimonskindern“ war ein pompöser, mit Stuck und Steinzierat reichlich versehener Fin-de-siècle-Bau, dessen Eingang von einem grimmig dreinschauenden Portier bewacht wurde. Als er Aphrodite entdeckte, zog er entrü stet die buschigen Augenbrauen hoch, und sicher lich hätte das junge Mädchen das mit Samt und Plüsch und Leder ausgestattete Vestibül nie betre ten, wenn es nach dem Hotel-Zerberus gegangen wäre. Aber der Vicomte de Bassecour fegte mit einer herrischen Handbewegung den Portier förm lich zur Seite, und auch die mißbilligend vor sich hin brabbelnde Garderobenfrau brachte er mit ei nem einzigen Blick zum Schweigen. „Feudal, feu dal“, murmelte Aphrodite erstaunt vor sich hin, wobei so recht nicht ersichtlich war, ob sie das Hotel oder das Benehmen ihres Begleiters meinte. Und sie nickte spöttisch anerkennend mit dem Kopf, als sie sah, wie die Garderobiere ihr schäbi 84
ges Lederwams mit zwei Fingern entgegennahm, als fürchte sie, sich zu beschmutzen oder anzu stecken. Immerhin: Vom Gesicht des Vicomte war keine Bewegung und erst recht keine Mißbilligung abzu lesen, als er steif und würdevoll Aphrodite in den stimmungsvoll erleuchteten Fürstensaal führte, wo sich offensichtlich eine repräsentative Delega tion der ehemaligen Oberherrlichkeit des europäi schen Kontinents zusammengefunden hatte. Das junge Mädchen zupfte etwas verwirrt ihren Jum per zurecht, obwohl das rein gar nichts an ihrem in diesem Kreis völlig deplazierten Äußeren än dern konnte. Dem Vicomte war diese verlegene Geste nicht entgangen. Er lächelte zynisch. Das wiederum brachte Aphrodite in Harnisch, die sich den stillen Triumph des Vicomte lebhaft ausmalen konnte. Und wenn sie gerade noch krampfhaft überlegt hatte, wie zum Teufel man sich eigentlich in einem solchen Milieu benehmen müsse und da bei sogar hastig erwogen hatte, ob sie vielleicht in blue jeans einen Hofknicks riskieren sollte, ein Gedanke, den sie sofort wieder als absurd verwarf – wenn sie also eben noch unschlüssig und unsi cher gewesen war, so beschloß sie nunmehr, ih rem Naturell freien Lauf zu lassen, was soviel hieß, wie den kommenden Dingen gelassen, ja ein wenig phlegmatisch entgegenzusehen. Tatsächlich gelang es ihr zur grenzenlosen Verblüffung der versammelten illustren Herrschaften, die ein un bedarftes, schüchternes, wenngleich etwas tram peliges Mädchen erwartet hatten, die Vorstel lungsprozedur mit steinerner Ruhe zu überstehen. 85
Den bisweilen operettenhaft uniformierten oder befrackten Herren mit dem blasierten Aussehen phönizischer Gottheiten nickte sie huldvoll zu, was jedoch durchweg als hochnäsige Herablassung empfunden wurde. Die in der Regel nicht mehr taufrischen Damen mit den leeren Galerien in ih ren Korsetts bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, und es war den betreffenden Damen durchaus nicht zu verdenken, daß sie darin eine handfeste Drohung vermuteten. Aphrodites Lä cheln war schließlich von besonderer Art. Die ver schnörkelten und hochtrabenden Namen dieser überalterten Elite konnte sich Aphrodite freilich in der Eile nicht merken. Erst als sie neben dem Vi comte de Bassecour an der Tafel Platz genommen hatte und dem Beispiel der anderen folgend an dächtig vor sich hinblickte, während aus dem Hin tergrund gregorianischer Singsang ertönte, fand sie Muße, die Anwesenden nachträglich einzuord nen. An diesem Unternehmen wäre allerdings jeder kläglich gescheitert, falls er nicht wie Aphrodite sozusagen den Umgang mit diffizilen und häufig langschweifigen Namen und Bezeichnungen aus der Insektenkunde gewöhnt war. Und die Entomo logie war dem jungen Mädchen in der Tat bei der Klassifizierung der Tafelrunde von einigem Nut zen, wenngleich auch nur in einem entlegenen und übertragenen Sinn. So hatte beispielsweise links neben ihr ein Oberst in der Uniform der kai serlichen Gardefüsiliere Platz genommen, den sie wegen seines grobklotzigen und gleichermaßen betulichen Benehmens bei der Vorstellung 86
sogleich mit einem Hochzeitsgelbbock verglich. Und das half ihr nun, den rotwangigen und stän dig schnaufenden Oberst als Eduard Trutz von Hoffmannsau zu identifizieren, der, wie sich spä ter herausstellen sollte, über ein Dutzend Umwe ge mit den Wittelsbachern verwandt war. Die rundliche, pausbäckige Dame in einer schwarz weiß gestreiften Abendrobe und den Lilien an dem in dieser Runde ausnahmsweise nicht verblühten Busen hatte Aphrodite unwillkürlich für einen Kar toffelkäfer gehalten, wiewohl es sich in Wahrheit um die Duchesse Isabelle de Moumou handelte, deren Ahnherrin seinerzeit als Kammerkatze der Pompadour gedient hatte, von der sie gelegentlich auch dem König und anderen Herren des Hofes ausgeliehen wurde, worauf die Duchesse beiläufig gesagt nicht wenig stolz war. An ihrer Seite run zelte Monsignore Barlini, eingehüllt in einen grün lich schimmernden Seidentalar mit violettem Kra gensaum, fromm die Stirn, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Kohlraupe verlieh, die sich feierlich zum Fressen anschickt. Seine Nachbarin wiederum war Gerlinde von Schnepfenfuß, die sich nicht wenig darauf zugute tat, daß sie Stifts fräulein war und in dieser Eigenschaft dem Kron prinzen von Bayern vor zugegeben sehr vielen Jahren ein eigens verfaßtes Willkommensverslein hatte aufsagen dürfen. In diesem Falle freilich suchte Aphrodite vergeblich nach einem Pendant im Insektenreich, obwohl ein Vergleich mit einer Stabheuschrecke durchaus auf der Hand lag. Aber Stabheuschrecken pflegen bekanntlich kein Lor gnon zu benutzen, und es muß auch bezweifelt 87
werden, daß sie das jemals mit so perfekter Af fektiertheit tun könnten, wie sie das Stiftsfräulein vorführte. Daneben am äußersten Tischrand hock te in einem flanellgrauen Sackkleid Ehrentraut Maria Gräfin von Hasenthal. Aphrodite hatte sie bei der Vorstellung insgeheim als unansehnliche Motte abgetan, weil sie natürlich nicht wissen konnte, daß die derart betonte Schlichtheit der Gräfin auf das Gelübde zurückzuführen war, nie wieder Samt und Seide, geschweige denn den reichlich vorhandenen Familienschmuck anzule gen, bevor nicht das Königreich Hannover rech tens wiederhergestellt sei. Übrigens verhehlte die Gräfin ihren immer noch schwelenden Groll gegen die Preußen, die nach dem Krieg von 1866 das Königreich Hannover ausradierten, nicht im ge ringsten, wiewohl sie stets betonte, daß im Inter esse der Monarchie schlechthin und angesichts der Bedrohung durch den Kommunismus solche Zwistigkeiten vorläufig zurückgestellt werden müßten. Am Tischende thronte ihr Gatte in der gewiß aus einer sehr verstaubten Truhe hervor geholten Uniform des hannoverschen Garde du Corps, deren golden schimmernder Küraß aus ge gebenem Anlaß auf Hochglanz poliert war, und man kann es dem jungen Mädchen wahrhaftig nicht ankreiden, daß sie bei diesem Anblick un vermittelt an eine bestimmte Spezies des Mistkä fers dachte. Ihm gegenüber und mithin am ande ren Tischende hatte ein schnauzbärtiger Riese Platz gefunden, der sich offenbar vor Kummer nicht fassen konnte und unaufhörlich vor sich hin schluchzte. Seiner Größe, aber auch seines mar 88
tialischen Aussehens wegen hatte ihn Aphrodite prompt mit einem brasilianischen Hirschkäfer ver glichen. Später sollte sie erfahren, daß es sich um den Fürsten Tscherwenkow handelte, der einst dritter Adjutant des Zarewitsch gewesen war und heute noch Tränen der Rührung vergoß, wenn er erzählte, wie väterlich der kaiserliche Knabe ihn zu ohrfeigen pflegte. Unweit von ihm identifizierte Aphrodite den Baron Felipe Torre de Cienfuego y Mierdadios, den 1. Adjutanten des in Spanien re sidierenden letzten Sprosses der spanischen Bour bonen, der sich berechtigte Hoffnungen auf den Thron machen konnte. Entsprechend führte sich der Baron auf, dessen Leibesfülle eitel Optimis mus auszustrahlen schien. Und er hatte in der Tat allen Grund dazu, denn sein königlicher Herr hatte ihm neben der unumgänglichen Heirat mit seiner vorletzten Konkubine auch eine ansehnliche Hof pfründe versprochen, sobald er den Thron wieder bestiegen hatte. Weniger glücklich sah allerdings Benvenuto, Conde della Scala aus, der rechts ne ben dem Vicomte de Bassecour nervös die Finger ineinander verschränkte und wieder löste. Zwar konnte er füglich darauf verweisen, daß er in di rekter Linie von Can Grande della Scala, dem ge fürchteten Diktator Veronas am Beginn der Re naissance, abstammte, aber ein Leben in jahrhundertelanger, bei Spiel und Sport mithin allenfalls gesunder Untätigkeit hatte die gräfliche Familie doch arg zermürbt und mit vielerlei Gebrechen, wiewohl nicht mit Armut geschlagen. Und der Conde hatte so unrecht nicht, wenn er frühzeitige Impotenz und nachfolgende Epilepsie 89
dem aufwendigen Lebenswandel seiner Vorfahren zuschrieb, was ihm nach Aphrodites Meinung das grämliche Aussehen eines Borkenkäfers verlieh, der zwar wie gewohnt und nach allen Regeln der Kunst die Rammelkammer ausnagt, aber von vornherein weiß, daß sie leer bleiben wird. An dieser Stelle wurde Aphrodites nachträgli cher Klassifizierungsprozeß empfindlich gestört, wiewohl sie im ersten Moment den Grund dafür nicht hätte angeben können. Vielleicht hatte sie sich an die Monotonie des gregorianischen Ge sangs so gewöhnt, daß sie durch die allmählich anschwellende Lautstärke aufgeschreckt wurde. Jedenfalls nahm sie erstmals deutlich den Text wahr: „Absolve, Domine…“ Offensichtlich ging der Gesang dem Ende ent gegen, denn Fürst Tscherwenkow, der es natürlich wissen mußte, hörte unvermittelt zu schluchzen auf, was Aphrodite mehr irritierte als der immer lauter werdende Gesang: „… animas omnium fidelium defunctorum…“ Tscherwenkow rückte Besteck und Teller zu recht, und wie auf Geheiß taten es ihm die Anwe senden nach: „… ab omni vinculi dilectorum…“ Graf von Hasenthal klapperte etwas nach, weil er sich beim Ausziehen der weißen Stulpenhand schuhe zu lange aufgehalten hatte. Aber auch er war schließlich bereit, als das feierliche „Amen“ erklang. Auf dieses Amen schienen die livrierten Diener gewartet zu haben, die mit einmal gravitätisch 90
aus Spiegeltüren kommend den Salon bevölker ten, wobei man wohl darauf geachtet haben muß te, daß jedem Gast individuell aufgetragen wurde. Jedenfalls tauchte neben Aphrodite ein asthma tisch schnaufender, dicker Livree-Träger auf, der nach einer konventionellen Verbeugung Oliven mit dünnen Porreestreifen in Weinessig und Kümmel aufguß servierte, um sich alsdann mit einem „Bon appetit, Gnädigste“ zurückzuziehen, was darauf schließen ließ, daß er Aphrodite zumindest der Beschreibung nach kannte. Die Oliven waren der Auftakt zu einem Leichenschmaus, der alles, nur nicht die Bezeichnung bescheiden verdiente, die der Vicomte de Bassecour dafür aufgebracht hat te. Nach einem Wodka, der zwecks Konservierung des besonderen Aromas in Tongefäßen gereicht wurde, was dem Conde della Scala als notori schem Weintrinker ein bedenkliches Kopfschütteln abforderte, machte man sich an mit Pfeffer und Kohl gefüllte Pasteten heran, die verständlicher weise vom Fürsten Tscherwenkow mit Bären stimme noch einmal nachgefordert wurden. Ein daraufgesetztes Glas Rotwein sollte das eigentli che Mahl einleiten, wie der Vicomte auf eine ent sprechende Frage Aphrodites nachsichtig versi cherte, und er versäumte es auch nicht, darauf zu verweisen, daß man bei der Zusammenstellung der Gerichte einer Tradition des serbischen Kö nigshauses folge. Aphrodites Reaktion auf diese Mitteilung enttäuschte ihn freilich in hohem Maße. Sie stopfte den inzwischen vorgelegten gekochten Tintenfisch, der mit kleingeschnittenem Knoblauch aufgewürzt war, mit Behagen in sich hinein und 91
nickte hingerissen, wobei durchaus in Zweifel ge setzt werden darf, daß ihre Anerkennung dem serbischen Königshaus galt. Am Respekt vor der serbischen wie der Monarchie überhaupt konnte beim Vicomte de Bassecour nun wirklich nicht ge zweifelt werden; gleichwohl rührte er den Tinten fisch kaum an, ja er zog ein winziges Fläschchen Mundwasser aus der Tasche, um den widerlichen Knoblauchgeschmack loszuwerden, nachdem er wohl im Gedenken an die verblichene Freifrau so zusagen einen Ehrenhappen genommen hatte. Aphrodite hingegen entwickelte den Hunger einer Wanderheuschrecke, und mit unvermindertem Appetit machte sie sich auch an den nächsten Gang, eine Zahnbrasse in Butter, Weinessig und Knoblauch, heran. Als Beigericht hatte man dicke Linsen mit rotem Pfeffer und dünne Mehlfladen hinzugefügt, die ebenfalls den ungeteilten Beifall des jungen Mädchens fanden, wenn man nach der Menge urteilen wollte, die sie verzehrte. Dazu schüttete sie nicht weniger als sieben Gläser Weißwein hinunter, und nicht genug damit, räum te sie unnachsichtig eine zum Nachtisch hinge stellte Obstschüssel bis zur letzten Traube ab. Der Vicomte de Bassecour und Gerlinde von Schnep fenfuß, die sich selber äußerste Mäßigung beim Essen auferlegten, schlugen angesichts dieser Freßlust verstohlen ein Kreuz. Und ihrem Exempel folgte alsbald auch Ehrentraut Maria von Hasen thal, freilich bloß aus Entsetzen darüber, daß ihr Ehemann unvorsichtigerweise einen Löffel Linsen auf den blankgeputzten Küraß hatte fallen lassen. Was hingegen die anderen am Tisch betraf, so 92
standen sie an Eßvermögen der jungen Französin wenig nach, und offenbar hatten die meisten auch keine Befürchtungen, daß Alkoholgenuß mögli cherweise blaues Blut verdünnen könnte. Auf Aphrodite wirkte das irgendwie sehr beruhigend. Mit vollem Mund ist schlecht plaudern, und ent sprechend spärlich floß das Tischgespräch dahin, von dem Aphrodite gelegentlich Bruchstücke auf schnappte. Auf diese Weise erfuhr das junge Mäd chen, daß die Duchesse de Moumou auf eine Schlankheitspille namens „Figurette“ eingeschwo ren war, deren Wirkung freilich noch nicht einge setzt haben konnte. Gerlinde von Schnepfenfuß lauschte hingegeben auf die zwischen den einzel nen Gängen vorgebrachten Belehrungen von Mon signore Barlini, der es natürlich von Amts wegen mit dem Satan hatte, der wiederum heutzutage mehr als jemals zuvor den Menschen zu Völlerei, Unzucht und Ungehorsam verleite, Warnungen übrigens, die Monsignore mit einem diskreten, vornehmen Rülpsen zu unterstreichen liebte. Ba ron Felipe Torre de Cienfuego y Mierdadios wet terte über den Niedergang des adligen Standes bewußtseins, der doch wohl nicht zu verkennen sei, wenn in diesen Tagen sogar eine spanische Herzogin, die man indes nicht von ungefähr die rote Herzogin nenne, zerlumpte Bauern anführe, um einen amerikanischen Militärstützpunkt bei Cadiz zu besetzen. Und der Conde della Scala stimmte ihm vergrämt mit einer verallgemeinern den Bemerkung über die schlechten Zeiten zu, die er sogleich durch die Nachricht konkretisierte, daß er kürzlich eines seiner sieben Schlösser aus pu 93
rem Geldmangel habe verkaufen müssen. Alle an deren in der Runde hüllten sich fast gänzlich in Schweigen. Das Ehepaar von Hasenthal hatte sich allem Anschein nach längst nichts mehr zu sagen. Fürst Tscherwenkow machte sich nur durch be hagliches Schmatzen bemerkbar. Und Oberst Eduard Trutz von Hoffmannsau schien sein stän diges Geschnaufe für einen völlig ausreichenden Beitrag am Gespräch zu halten. Selbst der von Natur aus ziemlich schwatzhafte Vicomte de Bas secour begnügte sich mit einsilbigen Antworten auf gelegentliche Fragen, die man an ihn richtete. Er saß wie eine Feder gespannt auf seinem Stuhl, und Aphrodite wurde das Gefühl nicht los, daß er auf irgend etwas wartete. Jedenfalls ließ er den Eingang zum Saal nicht aus den Augen. Das junge Mädchen hatte sich nicht getäuscht. Kaum waren die Reste des opulenten Mahls abge räumt und auf dem nunmehr leeren Tisch eine armdicke Kerze entzündet worden, flog die Tür zum Fürstensaal auf, und herein stürmte ein mit telgroßer, vierschrötiger Mann im Cut, den der sofort aufspringende Vicomte de Bassecour mit überströmender Freundlichkeit begrüßte. Der Neuankömmling nahm neben dem in schimmern der Wehr prunkenden Grafen von Hasenthal an der Stirnseite des Tisches Platz, und so hatte Aphrodite genügend Muße, die taubenblaue Kra watte zu bewundern, die seine Brust zierte. Sie war in der Tat so fasziniert, daß ihr beinahe die Worte des Vicomte entgingen, der den neuen Gast als Stadtdirektor Dr. Nepomuk Krafft und Mitglied des Landesausschusses der CDU willkommen 94
hieß, was die Anwesenden mit höflichem Applaus quittierten. Der Vicomte fügte noch hinzu, daß Dr. Krafft es sich trotz vieler anderer dringender Ver pflichtungen nicht habe nehmen lassen, ein paar Worte des Gedenkens an die so unverhofft dahin gegangene Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn zu sprechen, und es sei ihm ein beson ders angenehmes Bedürfnis, dies im Kreis ihrer engsten Freunde und Gesinnungsgenossen zu tun. Der Stadtdirektor hielt wirklich eine überaus bewegende und vor allem auch sehr lange Rede. Er entwarf zunächst ein Lebensbild der Verstorbe nen, worin nicht einmal das Geburtsdatum stimm te. Sodann schilderte er in vollen Zügen den Cha rakter der Freifrau, die nachgerade ein Ausbund an Güte, Tugend, Mitgefühl, Edelmut und Hingabe für den Nächsten, kurzum ein Engel gewesen sein mußte, der sich vorübergehend auf die sündige Erde verirrt hatte. Ihre höchste Tugend jedoch, versicherte Dr. Krafft, wäre der in ihrer Person verkörperte strenge Sinn für die edlen Werte des Vergangenen gewesen, denen sie neue und zeit gemäße Geltung zu verschaffen gewußt habe, Werte übrigens, die mit den Begriffen Gott, König, Vaterland durchaus zutreffend veranschaulicht seien, vorausgesetzt, daß man sie dreieinig auf fasse. Eines nämlich bedinge logisch das andere, erläuterte der Vertreter des CDU-Landesausschusses kategorisch, wobei er logisch mit offenem o aussprach, so unauffällig darauf verweisend, daß er im Griechischen möglicherweise zu Hause war. Und er fuhr fort: Eben weil er Mitglied einer durch und durch demokratischen Partei sei, stehe er 95
nicht an, diese autoritären Werte voll und ganz zu bejahen, und das sei nur scheinbar ein Wider spruch. Schließlich handele es sich um christlich abendländische Werte, donnerte der Redner, die angesichts der weltweiten kommunistischen Be drohung auf keinen Fall zersetzt oder am Ende gar verlorengehen dürften, sondern in die Herzen und die Hirne eines jeden aufrechten Europäers unauslöschlich eingebrannt werden müßten. Das sei das innigste Anliegen der verehrten Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn gewesen, und eben zu diesem Behuf habe sie die Europäi sche Bewegung für die Monarchie ins Leben geru fen. An diesem Werk zeige sich ihre Größe und – hier zögerte Dr. Krafft einen Moment bedeutsam – ihre politische Weitsicht. Und nach längeren Aus führungen über das vielleicht höchste Verdienst der Freifrau, nämlich das Standesbewußtsein ra dikal dem zersetzenden, leider Gottes aber mehr und mehr um sich greifenden Klassendenken ent gegengesetzt zu haben, rief der Redner abschlie ßend pathetisch aus: „Sie starb mit dem Gelöbnis Europas auf ihren Lippen, und ich scheue mich nicht, sie deshalb eine Märtyrerin des abendländi schen Geistes zu nennen. Sie wird nie vergessen werden…“ Aphrodite, die halb eingeschlafen war, fuhr auf und klatschte dem Beispiel der anderen folgend ein paarmal in die Hände. Übrigens legte niemand viel Eifer an den Tag, was vielleicht nur dem Stadtdirektor entging, der sich mit einem Spitzen taschentuch die schweißnasse Stirn betupfte und sitzend nach allen Seiten hin lächelnd Kratzfüße 96
machte. Danach erhob sich der Vicomte de Basse cour und sprach einige nichtssagende Dankeswor te, die Dr. Krafft über seinen phänomenalen Schlips streichend geschmeichelt entgegennahm. Wenig später schlürfte man den inzwischen ser vierten Mokka, der sinnigerweise und anspie lungsreich zusammen mit einem Glas Bourbon auf den Tisch kam. Aphrodite wußte später nicht zu sagen, weshalb sie ausgemacht den CDUStadtdirektor und den neben ihm sitzenden Gra fen von Hasenthal im Auge behielt. Hatte es ihr die taubenblaue Halsschlinge immer noch ange tan? Oder amüsierte sie das am Tischende gebo tene Schaustück, wo soeben Dr. Krafft und der Graf von Hasenthal aufgestanden waren und sich mit abgehackten, zeremoniellen Bewegungen zu tranken? Doch wie dem immer sei: Auf diese Wei se entging ihr jedenfalls nicht, daß der gepanzerte Graf sich plötzlich mit der Hand an den Hals griff, Augen und Mund weit aufriß und heftig nach Luft schnappte, um schließlich schwer polternd über den Tisch zu fallen. „Sigismund!“ schrie Ehren traut Maria Gräfin von Hasenthal entsetzt auf, und Aphrodite war ihr irgendwie dankbar, weil sie auf diese zugegeben makabere Weise den Vornamen des Grafen erfuhr. Ansonsten jedoch herrschte lähmende Stille. „Er ist tot“, sagte der Vicomte de Bassecour, der als einziger die Nerven behalten hatte und dem Grafen zu Hilfe geeilt war. „Ich muß die An wesenden bitten, bis zum Eintreffen der Polizei den Saal nicht zu verlassen.“ 97
Aphrodite hatte bis zu diesem Augenblick die Ereignisse zwar interessiert, aber doch mit einem gewissen Gleichmut verfolgt. Die Erwähnung der Polizei freilich alarmierte sie sofort. Die Aussicht, Hauptinspektor Baller wieder zu begegnen, hatte begreiflicherweise nichts Verlockendes für sie. Sie hatte nicht vergessen, daß er sie nur zähneknir schend hatte laufenlassen. Und es gehörte unter diesen Umständen wahrhaftig kaum Phantasie da zu, sich die Freude Helmut Ballers bei einem sol chen Wiedersehen vorzustellen. Immerhin schie nen der jungen Französin die Leichen geradezu vor die Füße zu fallen, und nur ein vollendeter Trottel mochte das für einen Zufall halten. Aber ein Trottel war der Inspektor ganz und gar nicht, weshalb es über alle Maßen wahrscheinlich war, daß er Aphrodite vorsorglich erst einmal festneh men lassen würde, bevor er sich überhaupt mit den näheren Umständen des mysteriösen Todes bekannt machte. Bei dieser Überlegung ange kommen, hatte das junge Mädchen das dringende Bedürfnis, einen möglichst großen Bourbon zu trinken, und diesen Gedanken setzte sie sofort durch Heranwinken des Kellners in die Tat um. Irgendwie mußte die vorherrschende Erregung jedoch auch auf die ansonsten sich nachgerade perfekt bewegenden Kellner übergesprungen sein. Jedenfalls erwies sich der Aphrodite zugeordnete schwammige Kellner in diesem Fall als äußerst ungeschickt. Anstatt das Glas Bourbon vor das junge Mädchen auf den Tisch zu stellen, stolperte er, und das kostbare Feuerwasser ergoß sich in den Kragen und über die frisch aufgebügelte Pa 98
radeuniform des Obersten Eduard Trutz von Hoffmannsau, der daraufhin wutbrüllend auf sprang und dem Kellner eine schallende Ohrfeige versetzte. Nun war dieser Kellner erstaunlicher weise gar nicht unterwürfig, was man eigentlich in diesem Milieu hätte erwarten können. Er schlug vielmehr kräftig zurück, traf jedoch unglückli cherweise nicht den Obersten, sondern den Vi comte, der vermittelnd eingreifen wollte und sein lobenswertes philanthropisches Verhalten mit ei nem sozusagen klassischen Knockout bezahlte. Die dadurch entstandene Verwirrung wiederum benutzte der fette Kellner, um Aphrodite mit ei nem herrischen „Kommen Sie!“ resolut an der Hand zu nehmen, und Augenblicke später war er mit ihr durch eine der Spiegeltüren verschwun den. Auf diese allerdings unverhoffte Weise wurde Hauptinspektor Helmut Baller um das Vergnügen gebracht, Aphrodite nochmals neben einer Leiche aufzubringen. Es sollte übrigens nicht das letzte Vergnügen sein, das ihm versagt bleiben würde, aber das wußte er zum Glück noch nicht, als er eine halbe Stunde später ziemlich aufgelöst am Tatort eintraf.
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„Sie hat wohl ‘n Pferd getreten!“ fauchte Aphrodi te. „Für solche Scherze bin ich partout nicht zu haben.“ Auf den schwammigen Kellner machten diese Worte keinen Eindruck. Die Mündung der schwer kalibrigen Armeepistole war nach wie vor unange nehm genau auf das junge Mädchen gerichtet. „Bedaure, Gnädigste“, sagte er. „Ich scherze nicht. Ich habe Order, Sie hier gefangenzusetzen. Und ich werde ohne Nachsicht schießen, wenn Sie Widerstand leisten sollten.“ „Übernehmen Sie sich bloß nicht“, sagte das junge Mädchen geringschätzig, während sie sich im Zimmer umblickte. Sie deutete auf das wackli ge Eisenbett, das neben einem Holztisch, zwei Stühlen und einem geräumigen Spind die sparta nisch einfache Einrichtung des Zimmers ausmach te. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich set ze?“ fuhr Aphrodite fort. „Bei ernsten Dingen ma che ich es mir lieber bequem, und Ihnen scheint’s ja verteufelt ernst zu sein.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie sich auf das Bett fallen, was nicht ohne höllisches Gequiet sche abging. Der Kellner, oder was immer er sein mochte, verzog schmerzlich das Gesicht. Offen sichtlich fühlte er mit dem Bett mit. Aphrodite knüllte das Kopfkissen zusammen, schob es in den Rücken und lehnte sich entspannt am Kopfende des Bettes zurück. 100
„So läßt’s sich einigermaßen aushalten“, sagte sie zufrieden. „Obwohl in Europa schwerlich ein schlechteres Bett zu finden sein dürfte, wenn ich ehrlich sein soll. Ist das hier eigentlich Ihre Bude, Monsieur… Wie heißen Sie überhaupt? Oder ist das ein Geheimnis?“ „Ich heiße Valentin Kalbe“, sagte der Schwam mige. „Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Gnädigste, so würde ich sagen, daß Spott in Ihrer Situation nicht am Platz ist.“ „Ich spotte nicht“, entgegnete Aphrodite. „Das Bett ist wirklich miserabel, Monsieur Kalbe, mein Wort darauf. Und Ihre tiefsinnige Anspielung auf meine Situation habe ich nicht verstanden. Viel leicht klären Sie mich ein bißchen auf.“ Valentin Kalbe angelte sich mit der linken Hand einen der Stühle heran, ohne jedoch Aphrodite aus den Augen und aus der Schußlinie seiner Waf fe zu lassen. Das junge Mädchen schüttelte mitfühlend den Kopf. Es war eine ziemlich umständliche Prozedur, bevor der Schwammige endlich saß. Aphrodite wartete geduldig. „Sie haben also den Auftrag, mich zu entführen und hier gefangenzuhalten“, sagte sie nach einer Weile beharrlich. Schließlich mußte sie versuchen, wenigstens einigermaßen Klarheit über ihre Lage zu gewinnen. „Und warum, wenn ich fragen darf?“ „Das entzieht sich meiner Kenntnis“, antwortete Valentin Kalbe steif. „Ich führe nur einen Befehl aus, Gnädigste. Aber Sie werden den Grund si cherlich bald erfahren, wenn ich mir die Bemer kung erlauben darf.“ 101
„Sie dürfen“, sagte Aphrodite, die sich insge heim nicht wenig über diesen peinlich höflichen Entführer amüsierte. „Haben Sie das übrigens schon öfter gemacht?“ „Wie meinen, Gnädigste?“ „Haben Sie schon öfter jemand entführt?“ „Ich bitte Sie, Gnädigste!“ Valentin Kalbe war ganz entrüstet. „Für wen halten Sie uns. In Ihrem Fall handelt es sich um eine Ausnahme. Eine Notmaßnahme gewissermaßen. Wir sind doch kei ne Verbrecher.“ Aphrodite mußte laut auflachen. „Nein“, sagte sie, „Sie sind vielleicht ein putzi ger Entführer.“ „… und ich möchte Sie bitten, Gnädigste, unse re Aktion nicht Entführung zu nennen“, fuhr der Schwammige unbeirrt fort. „Sie Witzbold“, sagte das junge Mädchen bissig. „Reden Sie nur nicht um den heißen Brei herum. Halten Sie mich hier mit Gewalt fest oder nicht?“ „Gewiß, Gnädigste…“ Valentin Kalbe blieb gleichbleibend höflich und gemessen. „Und glauben Sie vielleicht, daß ich mit Ihnen gegangen wäre, wenn ich auch nur geahnt hätte, was Sie vorhaben?“ „Selbstverständlich nicht, Gnädigste… Obwohl ich mir denken könnte, daß Sie es vorziehen, hier unter meiner Obhut zu bleiben, anstatt der Polizei in die Hände zu fallen.“ „Das ist noch sehr die Frage“, konterte Aphrodi te, wiewohl sie nicht umhin konnte, diesem Kid napper mit Manieren in gewisser Weise recht zu 102
geben. „Es kommt ganz darauf an, was Sie mit mir vorhaben. Daß Sie diese Geschichte nicht in szeniert haben, um mit mir zu schlafen, kann ich mir lebhaft denken Ich bin nämlich nicht blöd.“ „Ich bitte Sie, Gnädigste…“ Vor Empörung ließ Kalbe für einen Moment sogar die Pistole sinken, korrigierte sich aber sofort. „Sehen Sie“, sagte Aphrodite triumphierend. „Nur keine Aufregung, mein Lieber, ich kreide es Ihnen nicht an. Ich weiß, daß ich nicht viel Ähn lichkeit mit einer Liebesgöttin habe. Sie sind übri gens auch nicht gerade ein Apollo. Na schön… Aber vielleicht bequemen Sie sich endlich und rücken mit der Wahrheit heraus. Warum haben Sie mich hierher verschleppt?“ Valentin Kalbe biß sich auf die Lippen. Offenbar war er mit sich selber uneins. „Ich bin nicht befugt. Gnädigste“, sagte er schließlich. „Ich hatte schon mehrmals Gelegen heit zu bemerken, daß ich nur einen Befehl aus führe. Außerdem kann es nicht mehr lange dau ern, bis mein Herr eintrifft.“ „Und wer ist Ihr Herr, verdammt noch mal“, sagte Aphrodite, die es einmal mit Grobheit ver suchen wollte. „Ich mach’ Ihnen ‘ne Menge Schwierigkeiten, wenn Sie nicht bald plaudern. Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Ihre altmodi sche Zimmerkanone mir imponiert. Also ‘raus mit der Sprache, Kalbe. Wie heißt der Halunke, der hinter dieser Geschichte steckt?“ „Lassen Sie Valentin in Ruhe. Ich stehe zur Ver fügung.“ 103
Aphrodite blickte überrascht zur Tür. In ihrem Rahmen stand Oberst Eduard Trutz von Hoff mannsau. „Himmel“, sagte Aphrodite, „der Hochzeitsgelb bock!“ Der Oberst überhörte diese anzügliche Bemer kung; er ließ die Tür offen und wandte sich an Kalbe: „Danke, Valentin“, sagte er schnaufend. „Du hast deine Sache gut gemacht. Warte drau ßen vor der Tür.“ „Befehl!“ schnarrte Kalbe, der beim Erscheinen seines Herrn aufgesprungen war und so gut, wie ihm das bei seiner Leibesfülle möglich war, Hal tung angenommen hatte, wobei er wohl eher aus Versehen die Pistole an die Hosennaht legte. „Wie Herr Oberst befehlen“, wiederholte er und marschierte, nicht ohne Aphrodite noch einen mißtrauischen Blick zugeworfen zu haben, stramm aus der Tür. Der Oberst wartete, bis die Tür hinter Kalbe zu gefallen war. Er hatte unterdessen die Uniform der kaiserlichen Gardefüsiliere mit einem zivilen Habit vertauscht, wodurch er, was Aphrodite, die ihn kritisch beäugte, respektlos konstatierte, wie ein altgewordener Ladenschwengel aussah. Für einen Mann, der soeben erst eine Entführung ins Werk gesetzt hatte, sah er überhaupt ziemlich harmlos und bieder aus. Allerdings zitterte er vor Erregung, sei es nun vor Wut oder weil er Angst vor der eigenen Courage bekommen hatte, was Aphrodite freilich im Augenblick nicht zu entschei den wagte. Es war ihr übrigens auch verhältnis mäßig gleichgültig. Sie hatte nämlich entdeckt, 104
daß über dem einen Arm des Obersten ihre Leder jacke hing. Ob Augustus wohl noch auf dem amt lichen Dokument in der Tasche schlief? Sie be schloß, das möglichst unauffällig ausfindig zu machen. Der Oberst klappte die Hacken zusammen und verbeugte sich leicht. „Ich bitte um Entschuldigung, Gnädigste“, sagte er. „Aber mir blieb keine andere Wahl. Ich muß Sie dringend sprechen.“ Aphrodite schielte ihn nachdenklich über den Rand ihrer Nickelbrille an. ,Aha’, dachte sie, ,daher hat der schwammige Kalbe das blöde «Gnädigste».’ „Verstehe“, sagte sie spitz. „Aber hätten wir das nicht beim Leichengelage erledigen können? Im merhin haben Sie bald drei Stunden neben mir gesessen. Freilich sehr stumm.“ „Das war leider unmöglich“, erwiderte der Oberst. „Wir waren schließlich nicht allein.“ „Ich höre wohl nicht richtig“, sagte Aphrodite und klapperte neckisch mit den Augenlidern. „Wie romantisch! Sie wollen mit mir allein sein und las sen mich deshalb entführen. Haben Sie sich das wirklich überlegt?“ „Sie haben keinen Grund, Gnädigste, Ihren Spott mit mir zu treiben“, sagte der Oberst glei chermaßen höflich, aber mit, wie Aphrodite schien, härterem Unterton. „Vergessen Sie bitte nicht, daß Sie von der Polizei gesucht werden.“ „Phüüüüü…“, machte Aphrodite und zeigte auf diese Weise, was sie von Helmut Baller und seiner Knüppelgarde hielt. 105
„… und ich hatte den Eindruck, daß man dort an Ihnen mehr interessiert ist, als Ihnen lieb sein kann“, fuhr der Oberst unbeirrt fort. „Jedenfalls ist, soviel ich weiß, ein Haftbefehl gegen Sie er lassen worden, und ich bin sicher, daß schon morgen Ihr Bild in allen Zeitungen stehen wird.“ „Auch schon was“, brummte Aphrodite abfällig. „Es hätte mich verdammt gewundert, wenn man mir nicht die Geschichte mit dem goldgepanzerten Grafen in die Schuhe zu schieben versuchte. Er ist doch sicherlich ermordet worden?“ „Sie sagen es. Gnädigste“, antwortete Eduard Trutz von Hoffmannsau ohne eine Miene zu ver ziehen. „Mit einem schnellwirkenden Gift…“, fügte er wenig später und der Genauigkeit halber hinzu. „Hätte ich mir denken können“, antwortete Aphrodite lakonisch. „Einfältiges Pack.“ „Wie bitte?… Ich verstehe nicht ganz…“, stotter te der Oberst. „Ist auch nicht nötig“, sagte das junge Mäd chen. „Ich wollte damit lediglich sagen, daß der oder die Mörder nicht gerade einfallsreich sind. Das läßt auf einen bestimmten, wahrscheinlich etwas verkümmerten Geisteszustand schließen… Aber was sehe ich, Oberst… Sie haben meine Jak ke mitgebracht…“ „In der Tat…“, sagte der Oberst, der ein wenig verwirrt zu sein schien. „Ich vergaß. Verzeihen Sie bitte.“ Beinahe behutsam legte er die Lederjacke auf das Bett. 106
„Hat man Ihnen die Jacke denn ohne weiteres ausgehändigt?“ fragte Aphrodite scheinbar ab sichtslos. „Gewiß, gewiß…“, versicherte der Oberst eilfer tig. „Die Polizei?“ „Wo denken Sie hin, Gnädigste… Soviel ich se he, hat die Polizei überhaupt nicht erfahren, daß Sie ein Kleidungsstück zurückließen, als Sie, wie so ein nervöser Inspektor fälschlich vermutete, die Flucht ergriffen.“ „Merkwürdig…“, sagte Aphrodite nachdenklich. „Sie sind doch sicherlich alle verhört worden…. Und niemand hat meine Jacke erwähnt… Nicht einmal der Vicomte de Bassecour…“ „Nicht daß ich wüßte…“, versicherte der Oberst. „Aber weshalb interessiert Sie das eigentlich?“ „Nicht so wichtig, Oberst“, sagte Aphrodite ausweichend. „Ich bin nur etwas erstaunt… Wie sind Sie denn in den Besitz der Jacke gekom men?“ Der Oberst räusperte sich verlegen. „Offen gestanden. Gnädigste, sie lag bereits in meinem Auto, noch bevor Sie mit Valentin auf und davon gingen…“ „Sieh einmal an…“ Das junge Mädchen pfiff an erkennend durch die Zähne. „Und wie haben Sie das gemacht?“ „Valentin kennt die Garderobiere“, erläuterte der Oberst nicht ohne Stolz. „Das heißt also“, fuhr die junge Französin fort, die immer nachdenklicher zu werden schien, „daß 107
Sie meine Entführung von vornherein geplant hat ten… Ist das so?“ „Jawohl, Gnädigste“, antwortete der Oberst. „Wie ich schon sagte: Mir blieb keine andere Wahl!“ ,Folglich dürfte Augustus sich noch in der Ta sche befinden’, überlegte Aphrodite. ,Wenn nicht…’ Sie formulierte ihren Gedanken sofort zur Frage um: „Natürlich haben Sie die Taschen der Jacke durchsucht, Oberst?“ Eduard Trutz von Hoffmannsau lief feuerrot an. Jeder Zoll an ihm sprühte förmlich vor Entrüstung. „Für wen halten Sie mich? Ich bin preußischer Offizier…“ „Na ja“, sagte Aphrodite einlenkend. „Ich glau be Ihnen ja… Obwohl ich nicht einsehe, warum ausgerechnet für preußische Offiziere die Taschen anderer weniger interessant sein sollten, als sa gen wir für eifersüchtige Liebhaber…“ ‚Wahrscheinlich wärst du vor Schreck grün ge worden, wenn du bei der Taschenwühlerei auf Au gustus gestoßen wärest’, dachte Aphrodite. „Darüber steht Ihnen kein Urteil zu“, sagte der Oberst abweisend. „Sie sind schließlich Auslände rin, und nichts ist im Ausland so verkannt worden wie der preußische Charakter…“ „Tschingderassasa…“, warf Aphrodite völlig re spektlos ein. Der Oberst faßte das als Bestätigung seiner Kri tik auf. „Sehen Sie…“, sagte er aufgebracht, um als dann in anklagendes Schweigen zu fallen. 108
„Wollen Sie sich nicht lieber setzen?“ sagte Aphrodite nach einer Weile. Sie wollte den Ober sten aus der Grübelei und natürlich weiter aus der Reserve locken. „Danke, Gnädigste. Ich ziehe es vor zu stehen.“ „Ich wollte Sie nicht beleidigen, Oberst“, sagte das junge Mädchen pikiert. „Ich bin nicht beleidigt“, erwiderte der Oberst. „Etwas bekümmert vielleicht… Zugegeben… Wenn man immer und immer wieder auf solche Vorur teile stößt…“ ,Erst läßt er mich ohne Skrupel entführen’, überlegte Aphrodite, ,und dann jammert er, wenn man seine moralischen Qualitäten in Zweifel setzt. Ein komischer Heiliger…’ „Ich muß in diesem besonderen Fall sogar ein räumen“, fuhr Eduard Trutz von Hoffmannsau fort, „daß ich tatsächlich vorübergehend mit dem Gedanken spielte, die Taschen Ihres… hm… Klei dungsstücks zu untersuchen…“ „Auch nicht gerade ein schöner Charakterzug für einen preußischen Offizier“, sagte Aphrodite fast wider Willen, denn sie hatte sich vorgenom men, den Oberst künftig nicht unnötig zu reizen. Sie konnte jedoch der Versuchung nicht widerste hen, rasch noch einen Seitenhieb auszuteilen. „Bei Fragen von Sein und Nichtsein ist selbst eine solche Maßnahme legitim“, rechtfertigte sich der Oberst steif. „Ich konnte jedoch darauf ver zichten, weil ich sicher war, daß ich Sie hier in der Unterkunft meines treuen Valentin vorfinden wür de und folglich eine Leibesvisitation immer noch möglich ist, falls wir uns nicht einigen sollten.“ 109
„Ganz was Neues“, sagte Aphrodite. „Sie wollen sich also mit mir einigen. Sie sind köstlich. Und unverschämt obendrein. Erst planen und realisie ren Sie meine Entführung…“ „In der Tat“, bestätigte der Oberst, „war das der einzige Beweggrund, der mich veranlaßte, dem Vorschlag des Vicomte de Bassecour zuzu stimmen. Sie zum Abendessen in unserem Kreis einzuladen…“ „… und draußen lauert, die hauseigene Artillerie im Anschlag, der ach so treue Valentin, um mich zur Räson zu bringen, wenn ich mich möglicher weise nicht einigen will“, fuhr Aphrodite ungerührt fort, wiewohl sie die Worte des Obersten sehr wohl aufmerksam registriert hatte. „Und das nen nen Sie Einigung? Ich spreche von Diktat. Oder von Vergewaltigung, ganz wie Sie wollen.“ „Ich kann Ihre Erregung verstehen, Gnädigste“, sagte Eduard Trutz von Hoffmannsau. „Und ich verpfände Ihnen mein Wort, daß Gewalt nur im äußersten Notfall angewendet wird. Ich bin jedoch überzeugt, daß wir zu einem für uns beide an nehmbaren Vergleich kommen werden. Ich will nichts weiter, als mit Ihnen ein Geschäft machen.“ Aphrodite zog das flaggengroße Taschentuch aus der Hosentasche und schneuzte sich ge räuschvoll. Wie aus Versehen steckte sie es in die Tasche ihrer Lederjacke zurück, bei welcher Gele genheit sie sich vergewisserte, daß Augustus nach wie vor auf dem Entlassungspapier hockte und sich offenbar recht wohl fühlte. Der Oberst merkte nichts. 110
„Ich höre“, sagte sie, „obwohl es Sie wahr scheinlich nicht verwundern wird, daß ich sehr mißtrauisch bin, wenn ich ausgemacht aus Ihrem Mund das Wort Geschäft höre.“ „Sie werden es bestimmt nicht bereuen“, sagte der Oberst, der offenbar selbst erleichtert war, daß die junge Französin auf sein Ansinnen so schnell einging. Mit einem „Gestatten, Gnädigste“ zog er sich nun doch einen Stuhl heran und setzte sich kerzengerade an den Stuhlrücken gelehnt. Möglicherweise wollte er mit dieser Geste andeu ten, daß nun nach vielerlei Vorgeplänkel die Phase des Verhandlungsgefechts begonnen habe. Das junge Mädchen schwieg. Sie hielt es für besser, dem Obersten weiterhin die Initiative zu lassen. „Sehen Sie, Gnädigste“, sagte Eduard Trutz von Hoffmannsau nach einer kleinen Pause, die er wahrscheinlich benutzt hatte, um nach geeigneten Worten zu fahnden, „ich weiß nicht, ob Sie tat sächlich eine Mörderin sind oder nicht. Es interes siert mich ehrlich gesagt auch nicht…“ „Mich schon“, unterbrach ihn Aphrodite prompt. „Glauben Sie vielleicht, es fördert das Wohlbeha gen, wenn alle Welt einen für einen Schwerver brecher hält?“ „Wollen Sie damit sagen, daß Sie weder Ihre Tante noch deren Sekretär noch den unglückli chen Hasenthal umgebracht haben, Gnädigste?“ „Sie haben es erfaßt, Oberst“, sagte Aphrodite sarkastisch. „Aber es kann doch kein Zufall sein, daß immer, wenn Sie in der Nähe waren, jemand vergiftet worden ist?“ 111
„Ich bin ganz Ihrer Meinung“, sagte Aphrodite. „Von Zufall kann hier wirklich keine Rede sein. Jemand hat mir mit Absicht die diversen blaublü tigen Leichen vor die Füße gelegt.“ „Ungeheuerlich“, sagte der Oberst, der offen sichtlich seine Verblüffung nicht heuchelte. „Wenn das stimmt… Aber wer sagt mir eigentlich, daß Sie nicht lügen?“ „Ich…“, sagte das junge Mädchen trocken. „Das muß Ihnen genügen. Abgesehen davon lege ich nicht den geringsten Wert darauf, ob Sie mir glauben oder nicht.“ „Möglich wäre es immerhin“, sagte der Oberst nachdenklich. „In unserem Fall ist es jedoch völlig ohne Belang. Tatsache bleibt, daß man Sie für die Mörderin hält, ob Sie es nun sind oder nicht, und daß Sie deswegen polizeilich gesucht werden. Ist das richtig?“ „Das haben Sie schön gesagt“, gab Aphrodite widerwillig zu. „Gut. Und nun mein Vorschlag: Ich biete Ihnen Schutz und Unterschlupf vor der Polizei an. Nie mand wird Sie hier suchen. Und sollten Sie wirk lich nichts mit den Mordfällen zu tun haben, wie Sie behaupten, so dürften Sie hier auch vor den Nachstellungen derjenigen sicher sein, die Ihnen gewissermaßen die Leichen vor die Füße legen. Habe ich mich verständlich gemacht. Gnädigste?“ „Respekt, Respekt“, sagte Aphrodite mißtrau isch. „Woher mit einmal soviel Edelmut?“ „Wenn Sie unschuldig sind“, sagte der Oberst und versuchte seiner Miene einen Hauch von Pfif figkeit zu geben, was ihm kläglich mißlang, „wenn 112
Sie also unschuldig sind, so bin ich in der glückli chen Lage, ein gutes Werk vollbracht zu haben.“ „Und wenn nicht…“, sagte Aphrodite und rückte herausfordernd ihre Nickelbrille zurecht. „Sie werden verstehen, daß ich in diesem Fall…. Wie soll ich es formulieren… Sagen wir also, vor sichtig, daß ich gewisse Garantien oder Gegenlei stungen verlangen muß.“ „Und die wären?“ fragte das junge Mädchen beiläufig und nicht besonders neugierig. Immer wieder sagte sie sich zwar, daß der Oberst ohne wirklich zwingende Gründe nicht das Risiko einer Entführung auf sich genommen hätte. Aber ande rerseits war sie einfach nicht imstande, den, wie sie ihn immer noch heimlich nannte, preußischen Hochzeitsgelbbock ganz ernst zu nehmen. Der nächste Satz des Obersten ließ sie jedoch aufhor chen. „Für Sie ist es sicherlich unerheblich“, sagte er. „Was mich betrifft, so hängt jedoch viel, wenn nicht alles davon ab. Mit einem Wort: Sie überge ben mir alle mich betreffenden Papiere, Doku mente, Fotografien und davon eventuell vorhan dene Kopien. Dafür gewähre ich Ihnen Unterschlupf vor der Polizei. Und ich bin auch be reit, Ihnen meinen Möglichkeiten entsprechend bei der Flucht ins Ausland zu helfen. Sagen Sie offen: Ist das ein Angebot?“ Einen Moment lang spielte Aphrodite mit dem Gedanken, daß sie es mit einem Verrückten zu tun habe, aber nach einem forschenden Blick auf ihren Gesprächspartner kam sie wieder davon ab. Eduard Trutz von Hoffmannsau war sicherlich ver 113
schroben und ein Mensch, der den Kehricht der Geschichte für die Wirklichkeit hielt, aber geistes gestört war er auf keinen Fall. „Natürlich ist das ein Angebot“, sagte sie ab wartend. „Sehen Sie nicht, wie begeistert ich bin? Da wäre nur noch eine Kleinigkeit: Von was für Papieren reden Sie eigentlich?“ Der Oberst schluckte indigniert. „Keine Ausflüchte, Gnädigste“, sagte er. „Es ist besser, wenn auch Sie mit offenem Visier verhan deln. Ich spreche von den Papieren, die im Besitz Ihrer Tante waren und die sie benutzt hat, um mich gelinde gesagt schmählich zu erpressen.“ Der Oberst lief bei diesen Worten diesmal vor Wut rot an. Andere Farbschattierungen schien sein Gesicht nicht zu dulden. „… jawohl, erpreßt“, fuhr er erregt fort. „Schamlos, gemein, rücksichtslos erpreßt. Und das schon seit Jahren. Und ich bin sicher, daß Sie besagte Papiere besitzen.“ Nun wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß Aphrodite diese gewiß nicht freundlichen Worte über ihre Tante Marguerite übelgenommen hätte. Der in den adligen Vorhimmel aufgestiegenen ehemaligen Soubrette traute sie so ziemlich alles zu. Aber sie war ebensoweit von jeder Gefühlsre gung für den empörten Obersten entfernt. Denn hier waren sich gleiche Brüder und Schwestern in die Haare gefahren, und das belustigte sie allen falls. Immerhin mußte es jedoch die Mühe lohnen, die Worte des Obersten auf ihren Wahrheits- oder doch Wahrscheinlichkeitsgehalt zu überprüfen, wenn dabei auch nicht mehr als ein gewisser An 114
haltspunkt, die mysteriösen Morde betreffend, he rauskommen sollte. Deshalb legte sie provokativ ihr Gesicht in frostige Falten und fuhr den Garde füsilier heftig an: „Hüten Sie gefälligst Ihre Zunge, Oberst. Ich lasse meine Tante nicht beleidigen. Erpressung! Sie sind völlig übergeschnappt…“ Der Oberst ging in die Falle. „Ich weiß nicht“, entgegnete er nicht minder heftig, „wieweit Sie, Gnädigste, in die Geschäfte Ihrer Tante eingeweiht sind. Ich will nichts be haupten, was ich nicht belegen kann. Aber ich kann Punkt für Punkt beweisen, daß die ach so edle Freifrau bloß eine hundsgemeine Erpresserin war…“ „So?“ fuhr ihm Aphrodite heuchlerisch in die Pa rade. „Das können Sie angeblich beweisen? Daß ich nicht lache…“ „Das Lachen wird Ihnen gleich vergehen“, sagte Eduard Trutz von Hoffmannsau. „Sie sollen ge trost die ganze Wahrheit hören. Und Valentin ist notfalls mein Zeuge… Es ist schließlich möglich, daß Sie sich mit dem Nachlaß Ihrer Tante noch nicht befaßt haben… Ich jedoch habe mich ein für allemal entschieden, die Sache aus der Welt zu schaffen. Und Sie werden mir dabei helfen, ob Sie wollen oder nicht. Und wenn ich Sie umbringen müßte…“ „Muten Sie sich nicht zuviel zu“, sagte Aphrodi te wegwerfend, obwohl ihr nicht wohl in der Haut war. Sie war momentan nicht mehr ganz sicher, ob der Oberst nicht doch geisteskrank war. „Ich habe kaum noch etwas zu verlieren“, sagte der Oberst, dessen wiedergewonnenes Gleichge 115
wicht finstere Entschlossenheit verriet. „Und Sie werden dieses Zimmer, wenn überhaupt, nur in Handschellen verlassen, Gnädigste, wenn wir un ser Geschäft nicht zu einem beide Seiten befriedi genden Abschluß bringen. Aber es ist eine Frage der Fairneß, daß ich Sie, wenn Sie nicht bloß die Unwissende spielen, vorher ins Bild setze. Ich werde Ihnen also eine Geschichte erzählen, die für Sie insofern interessant ist, weil es die Ge schichte einer Erpressung ist. Und die Erpresserin ist Ihre Tante gewesen.“ „Ich höre gerne Märchen“, sagte Aphrodite an züglich. Ihr Rezept, den Obersten herauszufor dern, bewährte sich bisher vorzüglich. „Es ist leider die triste Wahrheit“, sagte Eduard Trutz von Hoffmannsau. „Aber entscheiden Sie selbst. Sehen Sie, die Boulevardblätter sind gera de heute voll mit Nachrichten aus der Welt des Hochadels. Verlobungen, Hochzeiten, Kindtaufen, Amouren – das sind beliebte und begehrte Ge genstände. Selbstverständlich ist das gut. Auf die se Weise verliert die Menge uns nicht so schnell aus dem Gedächtnis.“ „Ich nenne das ganz im Gegenteil Verdum mung“, sagte Aphrodite. „Aber darin muß ich Ih nen recht geben: Noch nie hat eine vermoderte Gesellschaftsschicht eine so gute Presse gehabt wie hierzulande. Es ist – mit Verlaub – zum Kot zen.“ Der Oberst winkte ungeduldig ab. „Ich diskutiere mit Ihnen keine Weltanschau ung“, sagte er ungewöhnlich bissig. „Ich spreche von mir, und das ist alles. Also: Der Hochadel hat 116
seine Güter und seine meistens nicht unbeträcht lichen Vermögen irgendwie über die Zeiten geret tet, und das oft mit Mitteln, die meiner Ansicht nach anstößig sind, wie beispielsweise durch Be teiligung an der Industrie. Aber wenn man, wie ich, alles sozusagen auf einen Streich verloren hat, muß man so oder so auch Kompromisse schließen, wobei uns ja die klangvollsten Namen unseres Standes, wie ich andeutete, ohne Beden ken vorangegangen sind. Nun, die Hoffmannsau freilich waren noch nie besonders gut gestellt. Und nach dem zweiten Weltkrieg verloren sie auch noch das Wenige, das sie besaßen. So wurde mein Gut in Mecklenburg beispielsweise enteig net.“ „Sie Ärmster“, unterbrach ihn Aphrodite wieder, ohne ihre Ironie zu verbergen. „Sie haben doch nicht etwa arbeiten müssen…“ „Wieso?“ sagte der Oberst, der die Anspielung offenbar nicht verstanden hatte. „Selbstverständ lich habe ich eine entsprechende, wenngleich nä her betrachtet ziemlich armselige Entschädigung bekommen. Nicht von denen drüben, wenn Sie das etwa denken sollten…“ „Fällt mir nicht im Traum ein“, sagte Aphrodite amüsiert. „Kommunisten sind doch rücksichtslos. Das weiß schließlich alle Welt…“ „So ist es“, fuhr der Oberst fort. „Aber wie dem sei: Die magere Entschädigung reichte natürlich, wie man in diesem Land sagt, nicht hinten und nicht vorn. Und somit war ich gezwungen, eine vorteilhafte Heirat einzugehen.“ 117
„Nein, was Sie nicht sagen…“ Aphrodite spielte nachgerade vollendet Entsetzen. „Nicht wahr?“ sagte der Oberst. „Ich war es einfach meinem Haus schuldig. Kurzum, ich habe mich überwunden und sie geheiratet.“ Der Oberst legte erschöpft eine kleine Pause ein. „Wen?“ sagte Aphrodite, und das war eine Fra ge, die wahrscheinlich jede Frau gestellt hätte. „Die obendrein noch häßliche Tochter eines…“ Der Oberst zögerte. „Na?“ versuchte Aphrodite ihm nachzuhelfen, die mit sicherem Gespür herausgefunden hatte, wie peinlich diese Angelegenheit dem Obersten sein mußte. Es dauerte nach Aphrodites Meinung viel zu lange, bevor er den angefangenen Satz beendete: „Die Tochter eines Knochenhändlers aus Osnabrück, der sein Geschäft so gut verstand, daß er heute eine gutgehende Plastikfabrik be sitzt.“ „Ich weiß gar nicht, was Sie wollen“, sagte Aphrodite tröstend. „Auf diese Weise sind Sie doch sicherlich aus dem Schneider heraus…“ „Schon“, bestätigte der Oberst. „Jedenfalls in materieller Beziehung. Aber fragen Sie mich bloß nicht nach der Frau. Oder nach dem Geschäft, das mein Schwiegervater betreibt.“ Aphrodite hob die Schultern. „Was ist schon dabei? Sie brachten den Namen und Ihre Frau das Geld mit. Ist das in Ihren Krei sen so neu?“ „Aber nein…“ Der Oberst schüttelte den Kopf. 118
„Na also“, sagte Aphrodite. „Und ich gehe doch auch wohl in der Annahme nicht fehl, daß in Ihrer Ehe von abgöttischer Liebe keine Rede sein konn te… Gibt’s zur Regelung dieser Dinge nicht so et was wie einen Ehevertrag?“ „Alles richtig…“, stöhnte der Oberst. „Gleichwohl ist es entsetzlich… Und erniedrigend…“ „Ich verstehe kein Wort“, sagte das junge Mäd chen mitleidslos. „Wie sollten Sie auch…“ Eduard Trutz von Hoff mannsau entblößte angewidert die Zähne, bevor er hinzufügte: „Sie können sich schwerlich vor stellen, was es für einen Mann wie mich bedeutet, mit einer ständig zeternden und keifenden Frau verheiratet zu sein, die obendrein noch Bertha heißt… Wie unsere ehemalige Köchin… Bertha von Hoffmannsau: Man könnte auf die Bäume ge hen…“ „Das ist allerdings ein starkes Stück“, sagte Aphrodite ironisch. „Wie kann man nur Bertha heißen…“ „Nicht wahr?“ Der Oberst nahm die Bemerkung des jungen Mädchens anscheinend für bare Mün ze. „Und diese Familie!“ fuhr er unverzüglich fort. „Nichts weiter als ein Haufen unfeiner, völlig un gebildeter Leute, die nur eines im Sinn haben, nämlich wie sie den Umsatz der Fabrik steigern können. Und wissen Sie, was dort hergestellt wird? Schüsseln, Papierkörbe und Nachttöpfe. Man stelle sich das vor: Nachttöpfe!“ Aphrodite verbiß sich mühsam das Lachen. „Interessant“, sagte sie. „Und entsetzlich pro fan… Aber das Geschäft bringt doch hoffentlich 119
etwas ein… Ich meine, rentiert sich die Nachttopf herstellung?“ „So genau bin ich darüber nicht im Bilde“, ant wortete der Oberst hochnäsig. „Ich befasse mich nicht mit dem Geschäft.“ „Das hätte ich mir denken können“, sagte die junge Französin. „Lassen wir das Thema… Verra ten Sie mir etwas anderes: Warum eigentlich er zählen Sie mir das alles? Und was hat das mit meiner Tante zu tun?“ „Unmittelbar nichts“, räumte der Oberst ein. „Aber ich mußte Ihnen zuerst meine Lage ver deutlichen, damit Sie verstehen, daß ich es ein fach nicht mehr ertragen konnte…“ „Scheidung?“ fragte Aphrodite erstaunt. „Wo denken Sie hin…“, sagte der Oberst. „Ich habe Ihnen doch soeben erst erklärt…“ „Stimmt!“ Aphrodite schlug sich bedauernd an die Stirn. „Wie dumm von mir. Sie haben ja das Geld und nicht die Frau geheiratet…“ „… weil ich es meinem Haus und meinem Stand schuldig war“, ergänzte der Oberst, der auf diesen Umstand großen Wert zu legen schien. „Sehr ehrenwert“, murmelte die junge Franzö sin, und es war kaum zu überhören, daß sie das genaue Gegenteil meinte. „Ich mußte also wieder zu mir selber finden“, nahm der Oberst den Faden der Erzählung wieder auf. „Ich mußte endlich wieder erfahren, daß ich nicht nur ein Name war, den ein hergelaufener Geldsack für seine Tochter gekauft hatte. Ich mußte spüren, daß ich wirklich Eduard Trutz von Hoffmannsau war. Anderweitig, verstehen Sie?“ 120
„Natürlich…“, sagte Aphrodite, der allmählich ein Licht aufging. „Sie haben sich eine Geliebte zugelegt… Eine Ballettmaus oder sonst etwas in dieser Preislage… Deshalb brauchen Sie sich nicht so verlegen auszudrücken… Erstaunlich immer hin… Ich meine in Ihrem Alter…“ „Ich muß doch sehr bitten. Gnädigste…“ Was die Farbe betraf, so konnte das Gesicht des Ober sten durchaus mit einer Tomate konkurrieren. „Nicht?“ Aphrodite war ganz ungläubiges Stau nen. „Doch… schon…“, stammelte der Oberst hilflos. „Vielleicht entscheiden Sie sich bald… Haben Sie sich nun eine Geliebte angeschafft oder nicht?“ „Eine Freundin“, sagte der Oberst ausweichend und blickte keusch auf seine klobigen Füße. „Wie Sie es nennen, ist mir egal“, sagte das junge Mädchen schnippisch. „Nicht was Sie denken“, beteuerte der Oberst. „Nur eine verständnisvolle Freundin. Und selbst verständlich eine Dame aus meinen Kreisen.“ „Auch das noch“, sagte Aphrodite und faltete ergeben die Hände. „Sie brauchen gar nicht weiter zu sprechen, Oberst. Was jetzt kommt, weiß ich. Oder besser: Ich kann es mir zumindest vorstel len… Meine Tante, die edle Freifrau, ist Ihnen auf die Sprünge gekommen. Sie hat Sie und die be treffende Dame gewissermaßen beim verstohle nen Händchenhalten ertappt, nicht wahr?“ „Sie hat herausgefunden“, erläuterte der Oberst widerwillig, „daß wir uns hier in der Wohnung des guten Valentin zu treffen pflegten.“ 121
„Und sie hat gedroht, das schöne Idyll rück sichtslos auffliegen zu lassen, wenn Sie nicht eine einmalige Abfindung zahlen. Natürlich ist es bei dieser Abfindung nicht geblieben. Stimmt’s?“ „So ist es“, sagte der Oberst. „Wieviel?“ „12 000 DM. Jährlich…“ „Beachtlich! Und warum haben Sie überhaupt gezahlt?“ „Sie hatte mich doch in der Hand. Was sollte ich schließlich tun? Sie hat mich und die Dame foto grafiert. Sie hat, ich weiß heute noch nicht wie, Briefe in ihren Besitz gebracht, die ich der Dame geschrieben habe. Und sie hat obendrein von mir das schriftliche Eingeständnis verlangt, daß ich mit der Dame ein Verhältnis habe.“ „Darauf haben Sie sich eingelassen?“ „Anderenfalls hätte Ihre Tante die Fotografien und die Briefe an meine Frau geschickt und…“ „… das unter so vielen Opfern ergatterte Geld wäre zum Teufel gegangen“, sagte Aphrodite na serümpfend. „Sie sind mir vielleicht ein Held.“ „Das ist es nicht allein“, verteidigte sich der Oberst, der die Verachtung des jungen Mädchens ausnahmsweise heraushörte. „Ich konnte doch die Dame auf keinen Fall bloßstellen. Sie war… War um soll ich es verschweigen? Sie war nämlich verheiratet. Außerdem wurde sie ebenso schamlos erpreßt wie ich.“ „Recht munter, das liebe Tantchen“, kommen tierte Aphrodite die sich hier abzeichnende Adels tragödie. „Ist es übrigens sehr indiskret, wenn ich Sie nach dem Namen der Dame frage?“ 122
„Unter gewöhnlichen Umständen… Gewiß…“, sagte der Oberst. „Aber Sie werden es, wenn Sie mir nichts vorgemacht haben und ohnedies längst Bescheid wissen, zwangsläufig aus der Hinterlas senschaft der Freifrau erfahren… Es handelt sich um die Gräfin von Hasenthal…“ „Tststststs“, machte Aphrodite und wiegte nachdenklich den schweren Kopf, ohne jedoch ein Grinsen völlig unterdrücken zu können. Es war auch zu komisch, wenn sie sich Ehrentraut Maria und Eduard Trutz beim zärtlichen Rendezvous vorstellte. „Eine rührende Geschichte“, sagte sie laut. „Und natürlich auch eine schreckliche Geschichte“, fügte sie eilig hinzu, als sie den entgeisterten Blick des Obersten auffing. „Ich bin zwar nur eine schwache Frau, aber ich hätte meiner Tante schon heimgeleuchtet. Wenn sie mir so gekommen wä re. Ich glaube, ich hätte sie in der Luft zerrissen.“ „Das hätte ich vielleicht auch getan“, sagte der Oberst und legte sein Gesicht vorübergehend in martialische Falten. „Aber zu diesem Zweck hätte ich sie erst einmal zur Hand haben müssen. Aber leider…“ „Wieso?“ Aphrodite stutzte. „Soll das etwa hei ßen…?“ „Jawohl“, sagte der Oberst. „Ich habe Ihre Tan te nie in meinem Leben gesehen.“ „Das gibt’s doch nicht!“ Aphrodite rieb sich ver blüfft den Nacken. „Es ist aber Tatsache.“ „Sie sind also von jemand erpreßt worden, den Sie nie zu Gesicht bekommen haben?“ 123
„Ja. Es klingt unwahrscheinlich, aber es ist so.“ „Hat sie… Ich meine die Freifrau, also meine Tante… Hat sie Ihnen geschrieben?“ „Dazu war sie viel zu gerissen, wenn Sie den Ausdruck gestatten, Gnädigste. Sie hat ihre Krea turen vorgeschickt.“ „Kreaturen?“ „Ihren Sekretär beispielsweise. Edler Gans von Himmelreuth. Manchmal auch den Vicomte de Bassecour.“ „Der Vicomte war an dem Geschäft beteiligt?“ „Ich hatte anläßlich dieser Affäre drei Unterre dungen mit ihm, sofern in diesem Fall von Unter redung überhaupt gesprochen werden kann. Und er führte sie erklärtermaßen im Auftrag der Frei frau.“ „Das klingt plausibel. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß dieser windige Gnom ein ziemli ches Früchtchen ist.“ „Sie sagen es.“ „Und Sie haben meine Tante wirklich nie gese hen? Nicht einmal bei Vorstandssitzungen dieses Vereins… Wie heißt er denn noch…“ „… der Europäischen Bewegung für die Monar chie“, kam ihr der Oberst zu Hilfe. „Oui… Sie sind doch im Vorstand, oder nicht?“ „Gewiß. Aber die Freifrau ließ sich immer ver treten. Von ihrem Sekretär, der, dem Himmel sei Dank, endlich auch hat ins Gras beißen müssen. Oder von ihrem Stellvertreter, dem Vicomte. So war das, Gnädigste.“ „Seltsam“, murmelte Aphrodite. „Das kann doch nur bedeuten, daß auch die anderen Mitglie 124
der des Vorstands meine Tante persönlich nicht kannten. Ist das richtig?“ „Das weiß ich nicht. Ich kann nur von mir re den. Ich bin ihr jedenfalls nie begegnet. Weder bei Vorstandssitzungen noch bei anderer Gele genheit.“ „Und wie ist es mit der Gräfin von Hasenthal? Hat auch sie die Freifrau nie gesehen? Wissen Sie etwas darüber?“ „Natürlich weiß ich das“, sagte der Oberst. „Eh rentraut Maria… Will sagen die Gräfin hat Ihre Tante ebenfalls nie gesehen oder gesprochen.“ „Noch eines: Sie fanden diesen doch immerhin merkwürdigen Umstand anscheinend ganz in der Ordnung. Mich beispielsweise würde es ziemlich nervös und sehr mißtrauisch machen, wenn ich einem Vorstand angehörte, dessen Vorsitz von jemand wahrgenommen wird, den ich nur vom Hörensagen kenne. Und wie ist es mit Ihnen?“ „Es ist unglaublich… In der Tat…“ Der Oberst rieb sich verlegen die Hände. „Darauf bin ich nie gekommen. Ich fand nichts dabei. Außerdem wußte jeder, daß die Freifrau menschenscheu und sehr eigenwillig war.“ „So? Woher wußte jeder das?“ „Es war bekannt. Mehr weiß ich auch nicht.“ „Natürlich“, sagte Aphrodite, und dann fiel sie in tiefes Nachdenken. Sie schreckte erst nach ge raumer Zeit wieder hoch, als der Oberst, der ihr offenbar Gelegenheit zum Überlegen hatte geben wollen, schließlich doch sagte: „Wie ist es. Gnä digste? Ich habe Sie nun ins Bild gesetzt. Haben Sie sich meinen Vorschlag überlegt?“ 125
„Nein“, antwortete Aphrodite, die sich erst zu rechtfinden mußte, wahrheitsgemäß. „Es gibt auch nichts zu überlegen. Ich habe nämlich weder etwas von den Erpressungen gewußt noch bin ich im Besitz der von Ihnen gewünschten Papiere.“ „Aber Sie sind doch die Erbin der Freifrau“, warf der Oberst ein. „Sagt der Vicomte“, berichtigte ihn Aphrodite lakonisch. „Ich weiß davon überhaupt nichts.“ „Sind Sie denn nicht nach Köln gekommen, um die Erbschaft Ihrer Tante anzutreten?“ „Nein“, antwortete Aphrodite. „Ich habe nicht einmal gewußt, daß meine geschätzte Tante in zwischen das Zeitliche gesegnet hatte.“ „Sie wollen damit also sagen, daß Sie die mich und vornehmlich die Gräfin von Hasenthal diskri minierenden Papiere nicht besitzen…?“ „Ich sehe“, sagte Aphrodite, „daß trotz der wirklich schrecklichen Leiden, die Sie in den letz ten Jahren haben ausstehen müssen, wenigstens Ihr Verstand nicht zu sehr in Mitleidenschaft ge zogen wurde.“ Der Oberst war bei diesen Worten aufgesprun gen. Es war unverkennbar, daß er dem jungen Mädchen nicht glaubte. „Sie sind auch nicht besser als Ihre Tante“, sag te er mit vor Zorn bebender Stimme. „Aber Sie können mich nicht täuschen. Ich habe es Ehren traut Maria fest versprochen, und ich werde mein Wort halten. Ich mache der Geschichte ein Ende.“ „So gefallen Sie mir schon besser, Oberst“, sag te Aphrodite. „Allerdings verschwenden Sie Ihre reichlich spät entdeckte Entschlußkraft an den 126
völlig verkehrten Gegenstand. Wie oft soll ich noch wiederholen, daß ich mit den Geschäften meiner Tante nichts zu tun hatte oder habe. Und daß ich die Papierchen, die Sie gerne haben möchten, nicht besitze. Anderenfalls würde ich Sie Ihnen sofort aushändigen. Ich beabsichtige näm lich nicht, in die Fußtapfen der Freifrau zu treten.“ „Ich glaube Ihnen kein Wort“, brüllte Eduard Trutz von Hoffmannsau, der anscheinend seinem Familiennamen wenigstens einmal Ehre machen wollte. „Ich gebe Ihnen bis morgen früh Zeit, sich meinen Vorschlag zu überlegen. Sollten wir dann zu keinem Vergleich kommen, werde ich Sie gna denlos der Polizei übergeben. Aber vorher fahre ich noch gründlich mit Ihnen Schlitten.“ „Sie spinnen“, sagte Aphrodite schlicht. „Sie werden sich morgen früh brav mit einem Handkuß von mir verabschieden und mich meiner Wege gehen lassen.“ „Den Teufel werde ich tun“, tobte der völlig aus dem Konzept gebrachte Oberst. „Ich werde Sie der Polizei zum Fraß vorwerfen. Oder Sie umbrin gen.“ „Meinetwegen“, sagte Aphrodite kalt. „An Ihrer Stelle würde ich mir das alles freilich noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen. Was mei nen Sie eigentlich, wie die Polizei aufhorchen wird, wenn ich ihr erzähle, daß Ehrentraut Maria Gräfin von Hasenthal Ihre Geliebte war? Und es natürlich noch ist… Der arme Graf von Hasenthal… Bedau erlicherweise kann er die ihm aufgesetzten Hörner nicht mehr sehen. Sagten Sie nicht, daß er er mordet wurde? Und weiter: Sehe ich so aus, als 127
ob ich mich so mir nichts, dir nichts umbringen lassen würde? Gehen Sie, Oberst.“ Der Oberst glotzte Aphrodite entsetzt an. Er war so überrascht, daß er zwar nach Worten rang, aber keinen Laut über die Lippen brachte. Außer sich vor Wut stürzte er aus der Tür, begleitet vom Gekicher des jungen Mädchens, das sich auf dem Eisenbett ausstreckte und behaglich die Hände über dem Bauch verschränkte. Sie hörte noch, wie der Oberst dem vor der Tür ausharrenden Va lentin etwas Unverständliches zurief und wie der Schlüssel gleich zweimal im Schloß umgedreht wurde. Wenig später war sie fest eingeschlafen.
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Wenn es stimmt, daß ein ruhiges Gewissen ein sanftes Ruhekissen und wie ansonsten nichts in der Welt schlafbefördernd ist, hätte beim Anblick der wie eine Tote schlafenden Aphrodite eigentlich jeder Zweifel an ihrer Unschuld ausgeräumt sein müssen, denn nur ein gründlich voreingenomme nes Gemüt mochte die totale Hingabe des jungen Mädchens an Morpheus anders deuten. Mögli cherweise hätten die Dinge auch einen weniger dramatischen, sicherlich aber einen viel schnelle ren Verlauf genommen, wäre Valentin Kalbe nicht ausgemacht mit einem solchen Gemüt ausgestat tet gewesen. Denn sofern bereits etablierte Vor eingenommenheit strikt auf ein einziges Ziel aus gerichtet wird, steigert sie sich zwangsläufig ins Maßlose. Und das hatte Eduard Trutz von Hoff mannsau bei seinem Domestiken zweifellos er reicht, als er mit der wütend gezischten Anord nung „Laß das Weibsbild nicht aus den Augen“ aus dem Zimmer stürzte. Jedenfalls kam der Schwammige dieser Aufforderung beinahe wört lich nach: Ungefähr alle zehn Minuten öffnete er pflichtbewußt und geräuschvoll die Tür, durch de ren Spalt er zunächst drohend den Lauf der Ar meepistole und alsdann vorsichtig den Kopf steck te. Und jedesmal überzeugte er sich nicht allein davon, ob Aphrodite noch auf dem Bett lag und schlummerte; er überprüfte vielmehr Zoll für Zoll das ganze Zimmer auf Verdächtiges. Danach zog er in umgekehrter Reihenfolge zuerst schnell den 129
Kopf, dann langsam die unförmige Waffe zurück und schließlich die Tür wieder zu, die er umständ lich und sorgfältig verschloß. Valentin Kalbe war auf diese Weise sozusagen voll beschäftigt. Es ist zwar schon hinlänglich bekannt, aber an dieser Stelle muß gleichwohl noch einmal darauf verwiesen werden: Aphrodite war so schnell nicht aus der Ruhe und infolgedessen auch nicht aus dem Schlaf zu bringen. So war es für Valentin Kalbe verhältnismäßig leicht, eine gute Stunde lang unbemerkt die Nase ins Zimmer zu stecken. Er glaubte schon, darin nahezu perfekt zu sein, als ihm wider Erwarten doch ein übrigens sehr menschliches Mißgeschick passierte. Er mußte nämlich trotz heftiger Gegenwehr kräftig niesen, und das ausgemacht in dem Augenblick, als er ins Zimmer schnüffelte, und in der Verwirrung ließ er dabei die Armeepistole fallen, was ihrer Unförmig keit wegen nicht ohne ziemliches Gepolter abging. Aphrodite fuhr deswegen nicht aus dem Schlaf hoch, wovon sich Valentin Kalbe geistesgegenwär tig vergewisserte, bevor er sich wieder zurückzog. Trotzdem hatten die zusätzlichen und bislang un gewohnten Geräusche irgendwo in ihrem Inneren wie eine Glocke angeschlagen. Ihr Schlaf war fortan nicht mehr rund und prall und fest, sondern gewissermaßen in sich selbst bereits zerbrochen. Auf diese Weise begann allmählich Kalbes Über wachung ganz unbestimmt in ihr mitzuschwingen, um nach und nach immer deutlicher und lauter vernehmbar zu werden, bis sie schließlich seine Aktionen hellwach verfolgte, ohne jedoch die Au gen aufzuschlagen. Und daß Aphrodite hierbei 130
nicht gerade von freundlichen Gedanken heimge sucht wurde, dürfte wohl jeder verstehen, der, obwohl zum Umfallen müde, auf derart schnöde Weise jemals ins Erwachen befördert worden ist. Aphrodites Fluchtplan reifte mithin auf dem Grund nagender und sich steigernder Wut über die ständigen Störmanöver des Schwammigen heran; er resultierte geradewegs aus ihrem Schlafbedürfnis, was wiederum eigentlich nur als Beleg für ihr reines Gewissen ausgelegt werden muß. Wie dem sei: Sie hatte es jedenfalls gründ lich satt, daß dieser nachgerade peinlich betrieb same Aufpasser weiterhin durch die Nacht polterte und ihr die dringend benötigte Ruhe raubte. Was Wunder, daß das junge Mädchen beschloß, dem ohnehin lächerlichen Spuk ein für allemal ein Ende zu machen. Als Kalbe das nächste Mal den Kopf durch die sich nach innen öffnende Tür steckte, schwante ihm sofort Böses, weil er Aphrodite nicht mehr auf dem Bett liegend vorfand, und natürlich war er sekundenschnell auf alles mögliche gefaßt. Nicht von ungefähr umklammerte er den Pistolenschaft entschlossener als je zuvor. Was ihm dann jedoch widerfuhr, war derart ungewöhnlich, daß er später nur Begriffe wie Heimtücke und Hinterlist dafür ins Feld führen konnte. Wenn man bedenkt, daß er ein vergleichsweise leichtes Opfer war, so hatte er damit zweifellos zutreffend den Grad von Ver werflichkeit des Geschehens charakterisiert. Aphrodite, die flach an die Wand gedrückt neben der Tür stand, war in dieser Beziehung freilich völ lig anderer Meinung. Wie anders wäre es zu erklä 131
ren, daß sie ohne Skrupel und mit gut berechne tem, leichtem Schwung dem völlig verdatterten Valentin Kalbe ihre Gliederspinne ins Gesicht warf, wo Augustus ausgerechnet in dem einzigen Bü schel Haare, das den ansonsten gänzlich kahlen Schädel des Schwammigen kurioserweise noch zierte, hängenblieb. Vielleicht klammerte sich aber auch der, wie anzunehmen ist, nicht weniger verwunderte Skorpion, dem Flugkunststücke bis lang jedenfalls noch nicht zugemutet worden wa ren, an diese Rettung versprechende Haarinsel mit letzter Kraft an. Was das betrifft, blieb jedoch auch Aphrodite auf bloße Vermutungen angewie sen. Für den Ablauf der Ereignisse selbst war es freilich unerheblich, ob der Pedipalpus an Kalbe hängenblieb oder sich an ihm festklammerte, denn die Wirkung war gleichermaßen prompt. Der Schwammige kam nicht einmal mehr zum Schuß. Seine anfängliche Verblüffung verwandelte sich jäh in Entsetzen, als dicht vor seinen Augen ein vielgliedriges, widerliches Tier zappelte. Man kann irgendwie verstehen, daß er später, sofern man ihn nach seinem Verhalten befragte, die Wahrheit rüde zu seinen Gunsten zurechtbog und bei spielsweise behauptete, daß er das aggressive Spinnentier, wie er sich ausdrückte, mit der Hand wegzuwischen versucht habe. Das sei ihm jedoch deshalb nicht gelungen, weil Aphrodite, das „schwergewichtige Weib“, wie er bei dieser Gele genheit zu sagen beliebte – weil also das junge Mädchen ihn mit einem kunstfertigen linken Le berhaken zu Boden geschickt habe. In Wirklichkeit allerdings fiel Valentin Kalbe schlicht und einfach 132
in Ohnmacht, worüber sich nur derjenige wundern sollte, dem bisher noch kein Skorpion ins Gesicht hing, und sei es auch wie in diesem Fall lediglich ein harmloses Exemplar. Auf diese Weise brauchte Aphrodite, die sich zugegeben in der Tat bereit hielt, ihren Wächter ohne weiteres niederzuwal zen, nicht mehr in Aktion zu treten. Sie begnügte sich damit, Augustus vorsichtig aufzuheben und wieder in die Tasche ihrer Lederjacke zu stecken; kurz darauf hatte sie das Haus verlassen. Und sie wanderte schon geraume Zeit auf der Suche nach einem Gasthof durch die nächtlichen Straßen Kölns, als Valentin Kalbe seufzend und ächzend aus der Bewußtlosigkeit erwachte. Aphrodite schlief bis in den hellen Tag hinein, und wiewohl einigermaßen ausgeruht, verwünsch te sie das energische Klopfen an der Tür, das sie aufweckte. Sie hatte zunächst auch einige Mühe, um sich zurechtzufinden. Erst als auf ihr verschla fenes „Herein!“ eine robuste, starkknochige Frau das Zimmer betrat, fiel dem jungen Mädchen wie der ein, daß sie spät in der Nacht doch noch ein Zimmer in einer Absteige gefunden hatte, die zwar nicht gerade vertrauenerweckend aussah, dafür immerhin den lokalpatriotischen Namen „Zum Maritzebillche“ aufwies. Und es war eben die rauhbauzige Maria Schmitz gewesen, die sich nach langem Hin und Her und nur aus Sympathie, wie sie zungenfertig versicherte, bereit gefunden hatte, der jungen Französin ein Zimmer zu über lassen. Momentan war allerdings bei der Wirtin von Sympathie wenig zu spüren. Vielmehr fuchtel te sie entrüstet mit einer Zeitung vor Aphrodites 133
Nase herum, wobei sie unaufhörlich in jenem Dia lekt auf Aphrodite einredete, den sprachwissen schaftlich nur mangelhaft Bewanderte als „Köl nisch“ zu bezeichnen pflegen, während Einheimische, die es naturgemäß wissen müssen, von „Kölsch“ oder von „Platt“ reden. Es ist unter solchen Umständen verzeihlich, daß das junge Mädchen kaum etwas begriff, denn dieses Idiom ist, die Ureinwohner der alten Römerstadt einmal ausgenommen, anderen Deutschstämmigen schon nicht zuzumuten, von Ausländern ganz zu schwei gen. Das mochte schließlich auch Maria Schmitz einleuchten, denn mit einmal fiel sie ins Hoch deutsche oder wenigstens doch in das, was sie darunter verstand. Und wenn hierbei auch noch manche Kommunikationsbarriere unverhofft auf tauchte, so war eine Unterhaltung auf dieser Basis immerhin leidlich möglich. „Dat is woll der Dank für meine Jüte“, krähte Frau Schmitz in jenen Tönen, die man aus uner findlichen Gründen die höchsten zu nennen pflegt. Aphrodite nickte eifrig mit dem Kopf, während sie ihre Nickelbrille vom Nachttisch fischte und über die Ohren zog. „Gewiß“, antwortete sie. „Ich danke Ihnen. Sie sind wirklich gut.“ „So?“ sagte Frau Schmitz, die offenbar wirklich eine Seele von Mensch war, denn sie schaltete sofort auf eine etwas tiefere Tonlage um. „Aber dafür kann ich mir nix kaufe, Mamsellsche. ‘n Mensch wie Sie kann isch hier nit jebrauche.“ „Sie können mich hier nicht gebrauchen?“ ver gewisserte sich Aphrodite, während sie überlegte, 134
was die Wirtin eigentlich kaufen wollte. „Aber warum denn?“ „Deswejen…“, antwortete Maria Schmitz und warf Aphrodite die Zeitung aufs Deckbett. „Wenn isch dat jewußt hätt’. Aber Jott is mein Zeuje… Isch hannet nit jewußt. Und aussehen tust de auch nit so, Kind.“ Mit diesen Worten ließ sie sich auf einen wackli gen Schemel fallen, der neben dem Bett stand. Mit gefalteten Händen starrte sie das junge Mäd chen anklagend an. Aphrodite nahm die Zeitung auf, und sofort war ihr klar, was die Wirtin so in Aufregung versetzt hatte. Denn von der Titelseite blickte sie sich ge wissermaßen selber wütend entgegen. Es war ein Foto, das Helmut Baller unmittelbar nach ihrer Verhaftung routinemäßig hatte anfertigen lassen. Zweckentsprechend hatte man bei der Aufnahme keinen Wert darauf gelegt, ihre wahrscheinlich ohnedies nicht vorhandene fotogene Seite ausfin dig zu machen. „Scheußlich“, sagte das junge Mädchen selbst kritisch und schüttelte den Kopf. „Hann isch et nit jesaat“, kommentierte Maria Schmitz und schlug verzweifelt die Hände inein ander. „Isch kannet noch jaanit jläuwe. Sach ens… Häs de wirklisch ding lev Tant…?“ Sie machte mit beiden Händen eine Bewegung, als wolle sie einer Gans kunstgerecht den Hals umdrehen. 89 „Aber nein“, sagte Aphrodite abwehrend, die zwar nicht die Worte, dafür aber um so deutlicher 135
die Handbewegung verstanden hatte. Sie nahm der Wirtin die Frage nicht übel. Denn im Text un ter ihrem Konterfei, der wahrscheinlich von der sachkundigen Hand Hauptinspektor Ballers stammte, worauf das klobige Amtsdeutsch schlie ßen lieg – in besagtem Text also hieß es unmiß verständlich, daß sie, Aphrodite Bagarre, dringend des Mordes an der Freifrau von und zu Hummer lang und Böllersinn, obendrein noch als Tante ihr eng verwandt, und deren Sekretär, Edler Gans von Himmelreuth, nebst des Meuchelmordes an Sigismund Graf von Hasenthal verdächtig sei, woran sich die Aufforderung anschloß, jeder auf rechte Bürger möge zweckdienliche Angaben über die oben abgebildete Person entweder direkt dem Dezernat IV zu Köln oder jedem beliebigen Poli zeirevier übermitteln. Auch liege der Verdacht na he, daß sie ihre Hand bei der Mordtat an Jakob Hafermann im Spiel habe. Nicht vergessen hatte Helmut Baller, darauf zu verweisen, daß es sich bei Aphrodite um eine ungemein gefährliche Per son handele, die gegebenenfalls rücksichtslos von der Waffe Gebrauch mache und die außerdem über mehr oder minder angriffslüsterne Insekten verfüge, vor denen ausdrücklich gewarnt werden müsse. Als Belohnung auf die Ergreifung der mutmaßlichen Täterin habe die Europäische Be wegung für die Monarchie dankenswerterweise DM 2000 ausgesetzt, hieß es abschließend. „Aber nicht doch, Madame“, wiederholte das junge Mädchen und legte in ihren Blick soviel Un schuld wie möglich. Ohne sich zu zieren, stieg sie aus dem Bett, und während sie sich wusch und 136
anzog, berichtete sie der begierig lauschenden Inhaberin des „Maritzebillche“, was ihr in den letz ten Tagen widerfahren war. Maria Schmitz erwies sich bald als eine ausgezeichnete Gesprächspart nerin, obwohl Aphrodite das Gefühl nicht los wur de, daß ihr die starkknochige Wirtin im Grunde keine Silbe glaubte. Sie bekundete jedoch rege Anteilnahme durch viele Zwischenbemerkungen wie „Wat de nit säs“ und gelegentlich auch mit einem Aphrodite völlig unbegreiflichen „Jecken Doll“, um am Ende der Erzählung ihre unleugbar von einem gewissen Wohlwollen getragene Mei nung in dem Satz „Dat jit et doch nit!“ zusam menzufassen. Daß die Wirtin mit dieser Phrase grenzenlose Entrüstung über das der jungen Französin angetane Unrecht zum Ausdruck brin gen wollte, deduzierte Aphrodite mit einiger Mühe aus dem nachfolgenden Wortschwall, der sie förmlich überschwemmte. Soviel wurde ihr im merhin klar, daß Maria Schmitz partout nicht ge sonnen war, die Geschäfte der Kölner Polizei zu besorgen, deren Vertreter sie beiläufig gesagt mit höchst unfeinen Namen bedachte, die Aphrodite zu ihrem Glück nicht verstand. Sie könne Unge rechtigkeit auf den Tod nicht vertragen, versicher te die Wirtin weiter, dafür sei sie bekannt, und überhaupt solle die Polizei die wirklichen Verbre cher jagen, anstatt Unschuldige zu verdächtigen, wie es in neunzig von hundert Fällen vorkomme. Da kenne sie sich nämlich aus, das habe sie mehr als einmal am eigenen Leib erfahren. Kürzlich erst habe man ihren Mann, den Pitter, wegen Hehlerei eingesperrt, und davon sei weiß Gott kein Ster 137
benswörtchen wahr. Aber Pitter sitze immer noch im Knast. Aphrodite soll sich bloß keine Gedanken machen. Im „Maritzebillche“ sei sie völlig sicher. Wer hier verkehre, habe mit der Polizei sowieso nicht viel im Sinn. Allerdings müsse sie wegen des Risikos die Zimmermiete ein bißchen erhöhen, schloß Maria Schmitz ihre hier lediglich auszugs weise wiedergegebenen Ausführungen, das sei doch wohl nicht zuviel verlangt. Und natürlich wisse sie von nichts. Aphrodite ging ohne Debatte auf die Forderung der Wirtin ein, die schlankweg den dreifachen Zimmerpreis verlangte, der sofort und für eine Woche im voraus zahlbar sei. Spätestens bei der Erwähnung des angeblich unschuldig einsitzenden Pitter stand es für sie nämlich fest, daß der laut starke Einsatz der Maria Schmitz für die Gerech tigkeit recht fragwürdiger Natur war und gewiß nichts mit echter Anteilnahme an ihrem Schicksal zu tun hatte. Freilich blieb gerade bei dieser Sach lage unerklärlich, weshalb die Wirtin sich mit ei nem verhältnismäßig geringen Gewinn zufrieden gab, obwohl sie doch runde DM 2000 erwarteten, sofern sie der Polizei einen Wink gab. War ihr zweifellos vorhandener Haß auf die Hüter der öf fentlichen Ordnung größer als ihre Geldgier? Oder gab es noch andere und schwerwiegende Gründe, die es Maria Schmitz geraten sein ließen, die Poli zei unter allen Umständen zu meiden? Vielleicht spielte sie auch ein doppeltes Spiel und hing jetzt bereits am Telefon, um Helmut Baller auf die Spur zu setzen; die überhöhte Miete hatte sie schließ lich schon kassiert. Aphrodite beschloß jedenfalls 138
sehr auf der Hut zu sein und dem „Maritzebillche“ schleunigst und möglichst unauffällig den ausla denden Rücken zu kehren. Es sollte jedoch ganz anders kommen, und spä ter war Aphrodite sogar geneigt, ihre unbändige Eßlust eine glückliche Eigenschaft zu nennen. Denn ohne dieses Laster hätte sie sicherlich nicht die Bekanntschaft des Zitter-Hermännchens ge macht, der zwar ein Obergauner war, ihr jedoch nichtsdestoweniger von großem Nutzen sein soll te. Aber der Reihe nach: Als Aphrodite eine halbe Stunde, nachdem Maria Schmitz sie verlassen hatte, die stockfinstere Treppe hinabstieg, die in den verräucherten und gerade noch halbdunklen Gastraum führte, schlug ihr ein betäubender Duft entgegen. Nun sei ohne weiteres zugestanden, daß ein solcher Geruch auf einen halbwegs nor malen Mitteleuropäer überhaupt keinen Eindruck machen dürfte; er würde ihn bestenfalls mit ei nem verächtlichen, wenn nicht gar angewiderten Naserümpfen quittieren. Was indessen Aphrodite anging, so war dieser Duft die Verführung schlechthin. Denn dort unten in der Küche kochte man ohne Zweifel Puffbohnen mit Speck und Boh nenkraut, und das war ausgemacht das Lieblings gericht des jungen Mädchens. Es ist folglich nicht verwunderlich, daß sich mit jedem Schritt ihre Begierde steigerte, wenngleich bei ihr auch leise Zweifel aufkamen, weil sie aus eigener Garten produktion zu so früher Jahreszeit noch nie Puff bohnen geerntet, geschweige denn gekocht hatte. Es war immerhin erst Anfang Juni. Aber eine ent sprechende Frage an Maria Schmitz, die neugierig 139
den Kopf aus der Küchenluke steckte, um zu se hen, wer da die Treppe hinuntertrampelte, besei tigte bei Aphrodite alle Bedenken. Sie koche tat sächlich „dicke Bohnen“, versicherte die Wirtin, die so früh allerdings aus Holland eingeführt wer den mußten und deshalb geringfügig teurer als gewöhnlich seien. Und obwohl Aphrodite eigent lich sang- und klanglos aus dem „Maritzebillche“ hatte verschwinden wollen, ließ sie es sich nicht zweimal sagen, das Gericht zu probieren. Sie hatte bereits dreimal ihren Teller leergefegt und wollte gerade Maria Schmitz, die beiläufig bemerkt von einem Staunen ins andere fiel, die weil sie die Portionen gegen alle Gewohnheit überaus reichlich bemessen hatte – das junge Mädchen wollte also die Wirtin um eine weitere Portion ersuchen, als die bislang leere Gaststube ein hünenhaft gebauter und muskelbepackter Mann betrat, der sich still in eine Ecke setzte und einen Korn bestellte. Aphrodite stufte ihn nach kurzer, indes gründlicher Musterung wegen seiner Unbeholfenheit als offensichtlich ungefährlich ein und widmete sich wieder den Bohnen. Sie wurde jedoch hellhörig, als sie wenig später sah, wie die Wirtin mit dem neuen Gast tuschelte und dabei verstohlen zu ihr hinüberschielte. Sie überlegte hastig, ob sie es riskieren konnte, der vierten vor sorglich noch eine fünfte Portion Puffbohnen fol gen zu lassen oder ob es vielleicht besser sei, die ihr allmählich unheimlich werdende Garküche mit Hotelbetrieb auf dem schnellsten Wege zu verlas sen. Doch bevor sie zu einem Entschluß kam, war 140
der Riese bereits aufgestanden und hatte sich un gefragt an ihren Tisch gesetzt. Aphrodite funkelte ihn böse an: „Verschwinden Sie!“ befahl sie barsch. „Und ‘n bißchen plötz lich…“ Der Hüne kicherte und rieb sich belustigt die Hände. „Du bist richtig, Puppe… Endlich mal ‘ne Biene, die Haare nicht nur auf dem Kopf hat… Kolossal…“ Aphrodite war irgendwie erleichtert, daß sich ihr Gegenüber immerhin einer Redeweise bediente, die keine langwierigen sprachwissenschaftlichen Überlegungen erforderte, um hinter den Sinn der Sache zu kommen. Aber das war auch alles, was sie im Augenblick zugunsten des Giganten vor bringen konnte, und das war wenig genug. „Sie werden mich gleich kennenlernen, Monsi eur“, knurrte sie. „Und dann werden Sie sich ver dammt wundern.“ „Köstlich, einfach köstlich… Klasse!“ jubelte der Riese und schlug vor Begeisterung mit der flachen Hand so auf den Tisch, daß die noch verbliebenen Puffbohnen auf dem Teller des jungen Mädchens erschrocken in die Höhe fuhren. „Endlich mal was Neues in diesem Schuppen.“ Aphrodite griff betont langsam in die Tasche ih rer Lederjacke, und wie durch Zauberei ging mit dem Hünen eine erschreckende Wandlung vor sich. Er wurde plötzlich blaß wie ein Bettuch, sei ne Augen weiteten sich vor Entsetzen, und er zit terte und bebte am ganzen Körper. Es war zum Erbarmen. 141
„Nein…“, stotterte er verstört und streckte fle hend beide Hände aus. „Nein… Bitte… Ich geh’ ja schon, Fräulein…“ Aphrodite hätte es nie für möglich gehalten, aber alles an diesem riesigen Kerl verriet nackte, ungeschminkte Angst. Dieser Anblick stimmte sie schnöderweise etwas heiterer. Trotzdem ließ sie sich nicht erweichen. Sie wollte Gewißheit haben, denn schließlich mußte dieser muskelbepackte Angsthase doch einen Grund haben, wenn er sich ungefragt an ihren Tisch setzte. Langsam holte sie Augustus aus der Tasche und schob ihn ihrem Tischgefährten unmittelbar vor die Nase. Augu stus mußte das lange Höhlendasein einstweilen satt haben, denn er bekundete eitel Freude, so weit das einer Gliederspinne natürlich möglich ist. Er dehnte, reckte und streckte die vielen Glieder, rannte behende auf dem Tisch hin und her und genoß anscheinend die wiedergewonnene Bewe gungsfreiheit. Auf den Riesen jedoch machten diese gymnastischen Übungen des Geißelskorpi ons einen ganz anderen Eindruck. Offenbar sah er Augustus als ein gefährliches Miniatur-Raubtier an, das zum tödlichen Sprung auf ihn ansetzte. Blitzschnell zog er die ausgestreckten Hände an den Körper, seine Gesichtsfarbe verschob sich zu sehends ins Grünliche, und das Zittern hatte wo möglich noch um ein paar Grad zugenommen, wie Aphrodite verwundert konstatierte, die ihr Gegen über, das geistesgegenwärtig drei bis vier Meter mitsamt seinem Stuhl zurückgerutscht war, nun aus einiger Entfernung leidlich bequem beobach ten konnte. 142
„Bitte…“, wimmerte der Riese mit weit aufgeris senen Augen. „Ich hab’s nicht so gemeint… Bit te…“ „Na schön…“, sagte das junge Mädchen, wie derum höchst zufrieden mit der Wirkung, die Au gustus gemeinhin erzielte. „Merken Sie sich das für die Zukunft.“ Augustus machte gewisse Schwierigkeiten, be vor er sich augenscheinlich sehr widerwillig wieder in die Tasche verfrachten ließ. Erst in diesem Au genblick erschien auch Maria Schmitz wieder auf der Szene, die sich mit einem wilden Aufschrei hinter die Theke geflüchtet hatte, als Augustus zum Vorschein gekommen war. Es sollte noch ei ne ganze Weile dauern, bis sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. „Also ich geh’ dann“, sagte der Hüne still, je doch immer noch zitternd. „Wie das Fräulein be fehlen…“ „Bleiben Sie“, ordnete Aphrodite unwirsch an, der plötzlich beim Anblick des Häufchens Unglück ein Gedanke gekommen war, den sie vorerst frei lich nicht zu Ende bringen konnte. „So billig kom men Sie jetzt nicht mehr davon. Zuerst beantwor ten Sie mir ein paar Fragen.“ Gehorsam sackte der Herkules wieder auf den Stuhl. Auf diese Weise also lernte Aphrodite das in Kölner Ganovenkreisen fest etablierte ZitterHermännche kennen, das seinem Spitznamen in der Tat alle Ehre machte, wenn von Ehre in einem solchen Zusammenhang überhaupt gesprochen werden kann. Diesen unter Gaunern besonders 143
entlarvenden Beinamen hatte er sich eingehan delt, weil er, wiewohl mit dem Mundwerk immer weit voran und auch mit hochfliegenden Plänen ausgestattet, niemals ein Ding, wie es in diesem Milieu hieß, glücklich zu Ende drehen konnte. Entweder überfiel ihn kurz vor oder während eines Einbruchs das große Zittern, womit er nicht nur sich, sondern auch etwa beteiligte Kumpane nicht selten in höchste Gefahr brachte. Häufig jedoch zog er es vor, angstschlotternd abzuziehen, was er sogar fertigbrachte, wenn er bloß Schmiere zu stehen brauchte. Natürlich machte er sich auf die se Weise in den einschlägigen Kreisen völlig un möglich, zumal auf sein Konto einige eklatante Mißerfolge zu buchen waren. So war es beispiels weise ihm zu verdanken, daß der Einbruch im Textilkontor von Räder & Co. völlig mißlang, ob wohl oder gerade weil das Zitter-Hermännche in diesem Fall ausnahmsweise seine Vorangst zu un terdrücken vermochte. Der in Frage kommende Panzerschrank war nämlich bereits geöffnet und insoweit alles in Ordnung, wenngleich man sich mit der Zeit ein wenig verkalkuliert hatte. Aber nach menschlichem Ermessen konnte eigentlich nichts mehr passieren, vorausgesetzt, daß die drei Einbrecher sich absolut still verhielten, um den die Runde machenden und, wie man später feststell te, leider auch schwerbewaffneten Wächter pas sieren zu lassen. Aber Zitter-Hermännche klap perte so laut mit den Zähnen, daß der Wächter sich bemüßigt fühlte, doch einmal im Kontor nachzuschauen, und das Ergebnis waren vier Jah re Zuchthaus. Daß der Versuch, das Metier eines 144
Taschendiebes zu ergreifen, katastrophal enden mußte, hätte dem Zitter-Hermännche eigentlich der gesunde Menschenverstand sagen müssen. Er hatte Glück, daß er mit sechs Monaten glimpflich davonkam, nachdem die soeben sehr umständlich gemauste Handtasche seinen bebenden Händen sofort wieder entglitten und der Besitzerin vor die Füße gefallen war. So kläglich scheiterten alle Versuche des Zitter-Hermännchens, festen Un terweltboden unter die Füße zu bekommen, ob wohl er bis hin zur Konsultierung eines renom mierten Psychiaters nichts unversucht ließ, dem leidigen Zittern beizukommen. Vergeblich. Er mußte sich darein schicken, selbst in diesem Mi lieu als gescheiterte Existenz zu gelten. Nach seinen zugegeben recht bitteren Erfah rungen rechnete sich das Zitter-Hermännche sehr realistisch die Möglichkeiten aus, die ihm eigent lich noch verblieben, um in Verbrecherkreisen Karriere zu machen. Und er hatte hierbei einen Einfall, den man durchaus genial nennen könnte, geböten nicht Anstand und Sitte, ihn im gleichen Atemzug als höchst verwerflich abzutun. Wie dem jedoch sei: Das Zitter-Hermännche kam zu der Einsicht, daß er das leidige Bibbern und Beben im entscheidenden Augenblick nicht aus der Welt oder besser gesagt aus den Gliedern schaffen konnte. Und so beschloß er, aus der Not gewis sermaßen eine Tugend zu machen, woraus übri gens zu ersehen ist, welchem Mißbrauch der Be griff Tugend unter Umständen ausgesetzt ist. Er legte sich einen möglichst unhandlichen und mit hin schwer zu übersehenden Revolver zu und 145
schlich nach Einbruch der Dunkelheit durch abge legene, menschenleere Gassen, wo er einsamen Spaziergängern oder ortsunkundigen Touristen auflauerte. Und weil ihn wie immer vor der Tat das große Schlottern befiel, überwanden die mei sten Passanten den ersten Schreck verblüffend schnell, wenn dieser Rübezahl unverhofft vor ih nen auftauchte, und beantworteten wahrheitsge mäß die stereotyp gestellte Frage: „Haben Sie hier in der Nähe vielleicht einen Schutzmann ge sehen?“ nachsichtig und wahrheitsgemäß. Bei ei nem Nein fackelte das Zitter-Hermännche freilich nicht lange, sondern zog das unförmige Mordin strument aus der Tasche und forderte angstbe bend zum „Händehoch“ auf, um wenig später mit der Brief- oder Handtasche des Opfers zu ver schwinden. Und wie das Zitter-Hermännche im Kreis seiner Kumpane nicht ohne Stolz zu versi chern pflegte, ernährte dieses dubiose Geschäft mit der umfunktionierten Angst durchaus seinen Mann. Man kann schwerlich sagen, daß Aphrodite die Lebensgeschichte des Zitter-Hermännchens, die sie nach einer knappen Stunde nicht ohne Hilfe eines guten Dutzend Korn in Erfahrung gebracht hatte, ungemischten Gefühls hingenommen hätte. Ein Ganove taugt schließlich nicht deshalb den Henker, weil er bei seinen Untaten wie Espenlaub zittert. Und Raubüberfall war so ungefähr das schmutzigste Handwerk, das Aphrodite sich vor stellen konnte. Solche Überlegungen waren dem Zitter-Hermännchen allerdings fremd. Er fühlte eher so etwas wie Genugtuung, daß er es schließ 146
lich doch noch geschafft hatte, in die lawinenartig anwachsende Zunft der Strauchdiebe und Räuber aufgestiegen zu sein, mochte er hier auch nur ein vergleichsweise bescheidenes Plätzchen einneh men. Aphrodite spielte zwar einen Moment mit dem Gedanken, ihrem Gesprächspartner ins Ge wissen zu reden, gab es aber rasch wieder auf. Genausogut hätte sie Augustus zureden können, die Jagd auf Spinnen und Käfer aufzugeben. Der Entschluß des jungen Mädchens, den Zeigefinger gar nicht erst zu erheben, wurde indes nicht un erheblich durch die Versicherung des ZitterHermännchens beeinflußt, daß er sie unendlich bewundere, denn nur deshalb habe er das Ge spräch mit ihr gesucht. „Raspeln Sie kein Süßholz“, knurrte Aphrodite, die diese Bemerkung nicht ernst nahm. Sie ver schluckte sich jedoch vernehmlich, als ZitterHermännche prompt fortfuhr: „Und wie ich Sie bewundere. Sie haben Mut. Ist schließlich keine Kleinigkeit, vier Figuren alle zu machen. Einfach so…“ „Was?“ sagte das junge Mädchen, die ihren Oh ren nicht traute. „Soll das etwa heißen…?“ Zitter-Hermännche kniff verschmitzt die Augen zu. Er verstand sich offensichtlich schon als Kom plize der jungen Französin. „Das soll selbstverständlich nichts heißen, Fräu lein. Überhaupt nichts. Ich versteh’ schon, daß Sie darüber nicht reden wollen. Keine Sorge! Ich bin stumm wie ‘n Fisch. Wissen Sie übrigens schon, wie man Sie in meinen Kreisen nennt?“ 147
„Ich bin nicht neugierig“, brummte das junge Mädchen, die immer noch nicht mit den Unterstel lungen des Zitter-Hermännchens fertig war. „Blaublut-Mieze“, sagte der Zitterer gewichtig. „Weil Sie doch fast ausschließlich solche Herr schaften…“ Er machte eine bezeichnende Handbewegung. „Das ist wohl ‘ne Ehre?“ fragte Aphrodite un wirsch. „Jedenfalls unter Leuten Ihres Schlages.“ „Und ob!“ versicherte das Zitter-Hermännche. „Das bringt ja auch nicht jeder fertig. Ich meine… Na ja, Sie wissen schon. Ich hab’ vorhin beinahe in die Hosen gemacht, als Sie in die Tasche grif fen. Ich dachte, Sie holen ‘ne Kanone ‘raus. Was so ‘n richtiger Kill… hmhm… Mensch ist, wollte ich sagen, der fummelt nicht lange… Hut ab, kann ich nur sagen. Aber die Spinne, die Sie da in der Rückhand haben… Teufel, Teufel… Die ist auch nicht ohne.“ „Isch ben immer noch janz kapott“, bestätigte Maria Schmitz, die von der Theke her aufmerksam das merkwürdige Gespräch verfolgte. „Nä, wat et nit aal jit…“ „Das ist keine Spinne“, erklärte Aphrodite ge dankenverloren. „Das ist ein Skorpion.“ „Kenn’ ich“, sagte Zitter-Hermännche und nick te mit dem Kopf. „Ich hab’ doch Karl May gele sen… Haben Sie von der Sorte noch mehr?“ „Allerdings“, antwortete Aphrodite, die nicht so recht hingehört hatte und sich deshalb ihrer faustdicken Lüge nicht bewußt wurde. „Jungejunge…“, sagte Zitter-Hermännche be wundernd. „Das ist ja besser als ‘ne kriegsstarke 148
Kompanie Leibwächter. Da sieht man wieder, was wirkliche Klasse ist. Ich sag’s so, wie ich’s meine, Fräulein. Sie sind uns allen drei Nummern über. Stimmt’s, Mariechen?“ „Dat häsde schön jesacht“, bestätigte die Wirtin und kratzte sich gleichzeitig sehr nachdenklich am Hinterkopf. Wenn sie wirklich jemals daran ge dacht hatte, die zweitausend Mark Belohnung, die auf Aphrodites Ergreifung ausgesetzt waren, doch noch irgendwie einzuheimsen, so war sie nach der Erwähnung der Skorpionen-Leibgarde bestimmt schwankend geworden. Aphrodite, der, wie man sich erinnert, im Ver lauf des Gesprächs mit diesem Unterwelt-Parvenü ein Einfall gekommen war, hatte endlich einen Entschluß gefaßt. Er war allerdings so eigentümli cher Zwienatur wie die Umgebung, in die sie wi der Willen geraten war. „Schluß mit dem Gerede“, sagte sie energisch. „Wollen Sie bei mir einsteigen?“ Das Zitter-Hermännche zog es vor lauter Ehr furcht förmlich vom Stuhl hoch. Von seinem ver zückten Gesicht war die Antwort unschwer abzu lesen.
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Von den Etruskern wird berichtet, daß sie so et was wie ein Leber-Happening veranstalteten, wenn sie vor lebenswichtige Probleme gestellt wa ren: Sie opferten einen fetten Vierbeiner und deu teten nach Aussehen und Form der Leber die Zu kunft, und der Überlieferung nach sollen sie damit gar nicht schlecht gefahren sein. Aphrodite pflegte bestenfalls gleichgültig die Schultern zu heben, wenn Monsieur Bagarre Geschichten dieser Art aus entlegener Zeit auftischte; ihr imponierte bei spielsweise die von den Blattschneideameisen entwickelte Technik ungleich mehr. Es ist mithin bezeichnend, daß ihr jüngst die Etrusker über haupt wieder einfielen, aber es spricht wahrhaftig Bände, daß sie dabei ein gewisses Neidgefühl nicht zu unterdrücken vermochte. Sie hätte je denfalls viel darum gegeben, wenn sie auf so ein fache und probate Weise einen Blick in die Zu kunft hätte tun können. Es tröstete sie folglich nur wenig, daß die Etrusker ihren eigenen Untergang offenbar auch nicht vorausgesehen hatten, weil ihr selbst das eher ein fataler Hinweis auf die ei gene Situation zu sein schien: Wer sagte ihr ei gentlich, ob sie nicht geradewegs ins Verderben lief? Aphrodite machte sich nichts vor: Ihre Lage war katastrophal. Den Nachforschungen der Polizei würde sie auf die Dauer schwerlich entgehen. Wer so aussah wie sie, der mußte früher oder später auffallen, und daß ihr Bild nicht nur in allen Zei 150
tungen zu finden war, sondern auch die Plakat säulen zierte, hatte das Zitter-Hermännche bei läufig, wenngleich mit unverhohlenem Respekt angemerkt. Vorübergehend hatte sie sogar erwo gen, ob sie nicht eine Maske anlegen solle, wie das in einschlägigen Kriminalromanen bei solchen Gelegenheiten empfohlen wird. Aber diesen Ge danken gab sie rasch wieder auf. Sie war, in wel cher Verkleidung auch immer, sozusagen unver wechselbar. Und wer sagte ihr überhaupt, daß bloß die Polizei hinter ihr her war? Immerhin hatte man sie bereits zweimal in eine teuflisch geschick te Falle gelockt, und das Ergebnis war, daß sie sich als mutmaßliche vierfache Mörderin verkrie chen mußte. Aphrodite sah keinen zureichenden Grund dafür, daß die Fallensteller es nicht noch einmal versuchen würden, wenn sie die Möglich keit dazu hätten, zumal es sich hier aller Wahr scheinlichkeit nach um den oder die wirklichen Mörder handelte. Ihnen kam es sicherlich auf ein Verbrechen mehr oder weniger nicht an, voraus gesetzt, daß sie so das junge Mädchen noch zu sätzlich in Verdacht bringen und möglicherweise umgehend der Polizei übergeben konnten. Aber selbst wenn der oder die Mörder, was allerdings sehr fraglich war, das weitere Verfolgungsgeschäft allein der Polizei überließen, blieben immer noch die von der Freifrau erpreßten Opfer, die, wie das Erlebnis mit dem Obersten Eduard Trutz von Hoffmannsau bewies, offenbar keine Ruhe geben wollten und durchaus zu Verzweiflungsaktionen fähig waren. Es war nach allem, was Aphrodite im Verlauf dieser Affäre erfahren hatte, schlechthin 151
unwahrscheinlich, daß man lediglich dem Ober sten ins Ohr geblasen hatte, sie sei die Erbin der Freifrau und mithin zwangsläufig im Besitz der be lastenden Papiere und Dokumente. Aber hatte die Freifrau überhaupt Erpressungen im großen Stil betrieben? Oder waren der Oberst und die Gräfin von Hasenthal gewissermaßen nur ein Anlaß für Gelegenheitsverdienst gewesen? Und welcher Zu sammenhang bestand zwischen diesen Erpres sungen und den Mordfällen? Gab es hier über haupt einen Zusammenhang? Auf alle diese Fragen hätte Aphrodite mit vielen plausiblen und sogar mit einigen schlüssigen Vermutungen, je doch nicht mit bündigen Antworten reagieren kön nen, und gerade dieser Umstand erhellt wie in der Nuß ihre mißliche Lage. Denn daß sie ihre Vermu tungen in harte Gewißheiten verwandeln mußte, wenn sie aus der Bredouille wieder herauskom men wollte, war ihr spätestens nach der unerfreu lichen morgendlichen Zeitungslektüre im „Marit zebillche“ klargeworden. Es fragte sich bloß wie. Verhältnismäßig einfach schien es ihr zu sein, das gewohnte Phlegma wenigstens vorübergehend aufzugeben. Das war reine Willenssache. Gerade Langsamtrotter sind, wie aus der Zoologie be kannt, kaum noch zu bremsen, wenn sie sich einmal in rasche Bewegung gesetzt haben, und mit dieser Spezies konnte man selbstverständlich im übertragenen Sinn Aphrodite durchaus verglei chen. Damit allein war es freilich auch nicht ge tan. Sie durfte nicht vergessen, daß ihre Bewe gungsmöglichkeiten beängstigend gering, ja bei näherem Hinsehen gleich Null waren. Wie eigent 152
lich sollte sie unter diesen Bedingungen in Aktion treten? Sie mußte mit der denkbar schmälsten Handlungsfreiheit handeln, und genausogut hätte man dem jungen Mädchen die Aufgabe stellen können, die Quadratur des Kreises zu lösen. Aphrodite war also mit ziemlich düsteren Ge danken befrachtet, als sie sich ans Vertilgen der Puffbohnen machte, und man geht sicherlich in der Annahme nicht fehl, daß neben der fraglos vorhandenen Leidenschaft für dieses Gericht auch ein bißchen Desperation hierbei im Spiel war. Wer weiß, fragte sie sich tief in ihrem Inneren, ob ich jemals wieder dazu komme. Ausgerechnet in die ser schier ausweglosen Lage mußte ihr das ZitterHermännche über den Weg laufen, der sie zwar wie alle Welt für eine abgefeimte Mörderin hielt, deswegen jedoch weder Abscheu noch Verach tung, sondern grenzenlose Bewunderung emp fand. Zweifellos zeugte das von Infantilität oder von einem kaum noch zu überbietenden Grad an Verkommenheit, und unter normalen Umständen hätte Aphrodite das Zitter-Hermännche kurzer hand in die sprichwörtliche Steinwüste der rheini schen Großstadt gejagt. Tatsächlich kostete es sie viel Überwindung, die aus so niedrigen Beweg gründen stammende Bewunderung des ZitterHermännchens nicht nur nicht weit von sich zu weisen, sondern sich ihrer sogar zu bedienen. Möglicherweise hatte ihr das Zitter-Hermännche der Teufel geschickt, aber auch das war dem jun gen Mädchen momentan gleichgültig. Wer fragt schon den Retter nach seinem Vorstrafenregister, wenn ihm das Wasser bis zur Stirnlocke reicht? 153
Außerdem: Das Zitter-Hermännche konnte in die sem Fall seine zweifelhaften Fähigkeiten und Ver bindungen ausnahmsweise in den Dienst einer gu ten Sache stellen, wenngleich ihm das kaum ins Bewußtsein kommen dürfte. Und schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als wenigstens den Versuch zu machen, ihre eigene stark eingegrenz te Bewegungsfreiheit irgendwie zu ersetzen. So hatte sie also die Miene einer entschlossenen Banden-Chefin aufgesetzt, was ihr mitnichten schwer fiel, weil sie aus Erfahrung wußte, daß sie zu die sem Behuf nur zu grinsen brauchte, und anschließend das Zitter-Hermännche mit einigen sehr konkreten Aufträgen in Marsch gesetzt. Dar aufhin war sie in ihr Zimmer hinaufgestiegen, wo sie sich mit einem Wonneseufzer aufs Bett warf, und trotz der überstandenen Aufregungen war sie schnell eingeschlafen. Allerdings hatte sie nicht versäumt, der Wirtin des „Maritzebillche“ vorher noch grimmig anzuempfehlen, daß sie sich die zweitausend Mark Belohnung getrost aus dem Kopf schlagen solle, wenn sie Wert darauf lege, ihren Pitter lebend wiederzusehen, eine Drohung, die Maria Schmitz erschrocken mit einem dreima ligen hastigen Kreuzschlagen auf ihrer karierten Schürze beantwortete. Pünktlich um zehn Uhr abends erschien Aphro dite in der zu dieser Tageszeit übervollen Gaststube. Sie war ausgeruht und folglich wieder guter Dinge. Als sie an einem voll besetzten Eck tisch das Zitter-Hermännche entdeckte, huschte sogar ein befriedigtes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Erscheinen war eine kleine Sensation. Alle Gä 154
ste blickten neugierig auf, und vorübergehend verstummten auch die Gespräche, abgesehen von einem vereinzelten Ausruf, der wie „Mensch, was für ‘ne Brumme“ klang. Genau hätte sie es zwar nicht zu sagen gewußt, aber sie hatte doch das unbestimmte Gefühl, daß die meisten der Anwe senden sie vom Hörensagen und obendrein als „Blaublut-Mieze“ schon kannten. Das war ihr frei lich nicht angenehm, in Anbetracht des Milieus jedoch nur schwer zu ändern. Dementsprechend legte sie ihr Gesicht wieder in möglichst mörderi sche Falten. Am Tisch wurde Aphrodite lärmend begrüßt. Das Zitter-Hermännche stellte ihr seine Kumpane vor, die, wie er sogleich versicherte, „völlig sau ber“ seien. Er mußte einen ziemlich verdrehten Begriff von Sauberkeit haben, wie das junge Mäd chen nach einem schnellen Blick auf die Runde verwundert bemerkte, und das traf nicht allein auf das Äußere zu. Wäre sie diesen Gestalten unter anderen Umständen begegnet, hätte sie sicherlich umgehend Reißaus genommen. Neben dem Zitter-Hermännche saß ein gedrungener Mann mit brutal geschnittenen Gesichtszügen und wulstigen Lippen, dem die eine Hälfte des rechten Ohrs fehl te und der deshalb Stutzohr gerufen wurde. Er war ein angesehener Autoknacker, und das halbe Ohr war ihm bei einem Schußwechsel mit der Po lizei abhanden gekommen, als sie ihn bei der Ausübung seines Handwerks überraschte. Ihm gegenüber hockte das Schlangen-Hännesje, ein lang aufgeschossener, unglaublich hagerer Mann, der sich mit Leichtigkeit auch durch engste Luken 155
zwängen konnte und dem deshalb der Beruf des Einsteigdiebs gewissermaßen schon in die Wiege gelegt worden war, wofür er den Nachteil, streng diät leben zu müssen, gern in Kauf nahm. Weiter war der Knabber-Ferdi mit von der Partie, ein nervöser, ständig fingerkauender und reichlich verschüchtert wirkender Mann, dem niemand an sah, daß er der erfolgreichste Geldschrankknacker des Stadtviertels war. Und schließlich lernte Aphrodite hier das Nato-Jettchen kennen, eine schon ältliche, ordinäre Prostituierte, deren Kun denkreis vornehmlich aus den diversen Beschüt zern des abendländischen Geistes bestand, die entweder in Köln und weiterer Umgebung statio niert waren oder sich dorthin zwecks Besichtigung des berühmten Doms, mithin also zu Bildungs zwecken, verirrt hatten. Man machte ein bißchen Konversation, die Aphrodite insofern recht fatal an den Leichen schmaus im adligen Milieu erinnerte, weil auch hier, freilich auf anderer Ebene, das Lamento über den unaufhaltsamen Niedergang des Standes überwog, woran vorzüglich die Amerikanisierung des Gewerbes die Schuld trage. Aber von einem bei ihm ansonsten ungewohnten Tatendurst ge trieben, machte das Zitter-Hermännche der, wie er sagte, „ewigen Klagerei“ bald ein Ende und er klärte, an das junge Mädchen gewandt, es sei „al les programmgemäß gelaufen“ und wen man sich von den feinen Pinkeln zuerst vorknöpfen solle. Nun muß hier erläuternd eingefügt werden, daß Aphrodite dem Zitter-Hermännche am Mittag eine Namensliste mit dem Auftrag übergeben hatte, 156
den derweiligen Aufenthaltsort der aufgeführten Personen ausfindig zu machen. Auf dieser Liste waren vom Vicomte de Bassecour angefangen bis hin zum Fürsten Tscherwenkow säuberlich die stinkvornehmen Teilnehmer am Leichengelage für die verblichene Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn aufgeführt, den Grafen von Hasen thal natürlich ausgenommen, den Aphrodite aus Pietät ausgespart hatte. Und um dem sich geehrt fühlenden Zitterer plausibel zu machen, weshalb sie diese Information brauche, hatte sie finsteren Blickes erklärt, diese Figuren stünden demnächst auf ihrem Programm, was mit einem anerkennen den Pfiff quittiert wurde. Wie das ZitterHermännche es fertiggebracht hatte, die fragli chen Adressen in so verhältnismäßig kurzer Zeit aufzutreiben, sollte freilich sein Geheimnis blei ben, wiewohl Aphrodite ihn eigentlich danach hat te fragen wollen. Aber das Zitter-Hermännche hatte sich sozusagen im eigenen Eifer verfangen und ließ das junge Mädchen nicht zu Wort kom men. Selbstverständlich habe er sich um die Adresse des Obersten Eduard Trutz von Hoff mannsau erst gar nicht mehr gekümmert, plau derte er munter weiter. In diesem Fall habe die Chefin ihn wohl auf den Arm nehmen wollen. Als ob sie nicht selbst genau wisse, daß der werte Herr Oberst sang- und klanglos das Zeitliche ge segnet habe, und zwar vermittels zweier Kopf schüsse. Saubere Arbeit übrigens, dazu könne er der Chefin nur gratulieren. Er habe ja immer ge wußt, daß sie auch prima mit einer Kanone umzu gehen wisse. Die Polizei sei allerdings etwas per 157
plex, fuhr er fort, weil dieser Mord nicht in das bisherige Schema passe. Aber natürlich sei ihr trotzdem klar, daß die Blaublut-Mieze wieder ein mal zugeschlagen habe. Und mit diesen Worten reichte er Aphrodite den „Stadtkurier“, dessen Ti telseite mit der knalligen Überschrift „Die Blaublut-Mordserie geht weiter“ und einem Foto ver sehen war, das, wie gehabt, Aphrodite als mutmaßliche Täterin vorstellte. Daß das junge Mädchen unter diesen Umständen glattweg ihre Frage an das Zitter-Hermännche vergaß, dürfte nur denjenigen überraschen, der diese herbe Art von Publizität noch nicht kennengelernt hat. Aber das Leben geht weiter, mögen einem Schicksalsschläge auch noch so hart mitnehmen. Was Aphrodite betraf, so wurde sie mit der Tatsa che, nunmehr schon als fünffache Mörderin ge sucht zu werden, sogar erstaunlich schnell fertig, woraus beiläufig zu ersehen ist, was Gewöhnung ausmacht. Jedenfalls ließ sie sich von ihrem ur sprünglichen Vorhaben nicht abbringen. So stand sie etwa anderthalb Stunden später, begleitet von Zitter-Hermännche und Schlangen-Hännesje, der sich ebenfalls gern zur Mitarbeit bereit erklärt hat te, vor einem Schönheitssalon mit dem verhei ßungsvollen Namen „Sexy“. Er gehörte nach den vom Zitter-Hermännche eingeholten Informatio nen der Duchesse Isabelle de Moumou, die vor vier Jahren ihr vergammeltes Schloß in der Breta gne verkauft und vom Erlös dieses Etablissement eingehandelt hatte. Das junge Mädchen fand al lerdings bei ihren Begleitern kein Verständnis da für, daß sie an der Tür Sturm läutete, anstatt kur 158
zerhand einzusteigen, wie es Schlangen-Hännesje händeringend vorschlug. Das Zitter-Hermännche fand die Angelegenheit gleichwohl aufregend ge nug, um ausgiebig vor sich hin zu beben. Aber weder Läuten noch anschließendes wütendes Klopfen nützte etwas: Offenbar war die Duchesse nicht zu Hause. Kurz entschlossen bestieg Aphro dite deshalb mit ihren Gefährten ein Taxi und ließ sich nach Deutz zu einem Heim der Ursulinerinnen fahren, wo Monsignore Barlini als Hausgeistlicher Unterschlupf gefunden haben sollte. In der Tat bestätigte ein betagtes, verhärmtes Nönnlein, das nach emsigem Rühren des altmodischen Türklop fers schließlich eine Luke der Eingangspforte öff nete, daß Monsignore hier eine Heimstatt gefun den habe, leider aber nicht anwesend sei. Nicht anders erging es Aphrodite und ihren Vasallen in einem distinguierten Altersheim für adlige Damen, wo Gerlinde von Schnepfenfuß den Vorsitz führte. Hier war von einem schnauzbärtigen, unfreundli chen Pförtner zu vernehmen, daß sie durch Abwe senheit glänze. Als auch beim Fürsten Tscherwen kow, der ein teures Appartement in der Neuen Klappergasse bewohnte, niemand auf das fanati sche Klingeln öffnete, war das junge Mädchen na he daran, die weitere Suche aufzugeben. Anderer seits sagte sie sich jedoch, daß diese kollektive Nachtschwärmerei unmöglich ein Zufall sein konn te. Nach einem Blick auf ihre beiden Begleiter, die zusehends mürrischer dreinschauten, entschloß sie sich, noch einen letzten Versuch zu machen, wozu das schlotternde Hermännche nicht unwe sentlich beigetragen hatte, der etwas von Hexerei 159
vor sich hin stotterte und Aphrodite weinerlich an flehte, die Sache doch wenigstens für heute auf zugeben. Und diesmal hatte sie Glück. Der Conde della Scala bewohnte in Bayenthal eine pompöse Villa, die er dem Vernehmen nach vor zwei Jahren vom Präsidenten der Europäi schen Föderation der Krawattenhändler, den es unwiderstehlich nach dem Süden zog, gegen ein kleines Lustschloß am Lago Maggiore eingetauscht hatte. Den Conde wiederum hatte es offenkundig in den doch viel unwirtlicheren Norden getrieben. Die Villa lag in einem nicht allzu großen verwilder ten Park, den eine hohe, mit Glasscherben be spickte Mauer umschloß, die außerdem noch mit einem nach außen sich vorbeugenden Stachel draht versehen war. ,Eine Miniaturfestung’, dach te Aphrodite und musterte kritisch das vergitterte Tor, das durch eine schwache Funzel an der Spit ze des Torbogens mäßig erhellt wurde. Schlangen-Hännesje kratzte sich geräuschvoll am Hin terkopf und lächelte traurig wie ein Kannibale, der unverhofft auf vegetarische Kost gesetzt wird. Er schien wenig Neigung zu haben, diese Burg zu bezwingen. Als Aphrodite die in der Tormauer an gebrachte, kunstvoll verzierte Handklingel betä tigte und daraufhin plötzlich drei heiser kläffende Tigerdoggen, die ihren Namen wahrhaftig verdien ten, aus dem dunklen Park hervorschossen und einen martialischen Tanz hinter dem Gitter auf führten, mußte das Schlangen-Hännesje alle Hoff nung fahrengelassen haben. Mit ein paar Sätzen, die jeder Antilope zur Ehre gereicht hätten, war er bei einem schon vorher mit geübtem Blick aus 160
gemachten Gully, worin er Sekunden später ver schwand. Vom Zitter-Hermännche war zu diesem Zeitpunkt schon längst nichts mehr zu sehen. Er hatte beim Anblick der düsteren Mauer vor Angst Gefäßverengung bekommen und es vorgezogen, die weitere Entwicklung aus sicherer Entfernung abzuwarten. Das Verschwinden dieser beiden Ko ryphäen der Unterwelt hatte das junge Mädchen allerdings nur beiläufig registriert. Sie war vollauf damit beschäftigt, die wütende Meute hinter dem Gitter mit sinnlosen Sprüchen wie „Nanana, meine Lieben“ und „Was seid ihr doch für brave Hund chen“ zu beruhigen, ohne den geringsten Erfolg zu ernten, was verständlich ist, weil Aphrodite gleichzeitig still vor sich hin fluchte. Sie war eben mit dem Seelenleben von Filzläusen vertrauter als mit den Gefühlsregungen eines Hundes. Die Ti gerdoggen gaben erst auf das scharfe Kommando eines bulligen Mannes Ruhe, der plötzlich seitlich vom Gitter auftauchte und gewissermaßen zur Begrüßung dem jungen Mädchen mit unmißver ständlicher Geste eine Maschinenpistole vor die Nase hielt. Unter solchen Umständen schienen es die Doggen verantworten zu können, sich vom Gitter zurückzuziehen, und auf ein Kommando des Bulligen verschwanden sie gänzlich vom Schau platz. Nun kann man beileibe nicht behaupten, daß Aphrodite über das Auftauchen des Mannes mit der Maschinenpistole besonders erbaut gewe sen wäre, wenn sie auch den begrenzten Rückzug der geifernden Köter mit Erleichterung aufnahm. Sie war es begreiflicherweise leid, ständig in die Mündung drohend auf sie gerichteter Mordwaffen 161
zu starren. Es stimmte sie auch nicht versöhnli cher, daß der Bullige offenbar eine Art ZitterHermännche im Feierkleid war: Er steckte in ei nem schwarzen Cut von untadeligem Schnitt, der nachgerade zur Gemessenheit verpflichtete. Statt dessen bibberte der klobige Mann so hinreißend, daß der Cut sich gewissermaßen in Wallung be fand, was dem Image eines solchen Kleidungs stücks höchst abträglich ist. ,Der Kerl hat die Ho sen randvoll!’ dachte Aphrodite unmanierlich, während sie nach dem Conde della Scala fragte. Zu ihrem Erstaunen geruhte der Conde anwesend zu sein. Bevor der Bullige jedoch, der, wie sich später herausstellte, als Butler des gräflichen An wesens fungierte, das Tor aufschloß und das jun ge Mädchen ins Haus geleitete, verstrich noch ei ne gute halbe Stunde, die unter anderem damit ausgefüllt war, Aphrodite von einem eigens dafür herbeizitierten Hausmädchen auf Waffen untersu chen zu lassen. Sie und der Butler wurden beiläu fig bemerkt weiß wie junge Wanzen, als Aphrodite ihnen vorsorglich Augustus entgegenhielt und bis sig bemerkte, das wäre das einzige in ihrem Be sitz befindliche Mordinstrument. Sie weigerte sich jedoch standhaft, den Geißelskorpion am Tor ab zugeben, obwohl der Butler sich erbot, einen handlichen Karton zu beschaffen. Aber sie mußte wohl oder übel einwilligen, die Lederjacke nebst Augustus im Vestibül zurückzulassen, wo das Hausmädchen alsdann mit einem kiloschweren Fleischklopfer ausgerüstet Wache mit der Anwei sung bezog, die Jacke nicht aus den Augen zu las 162
sen. Der Butler war unleugbar ein umsichtiger Mann. Weshalb hätte Aphrodite nicht zu sagen ge wußt, aber irgendwie hatte sie erwartet, den Con de della Scala nicht allein vorzufinden. Aber daß sie geradewegs in eine Vorstandssitzung der Eu ropäischen Bewegung für die Monarchie hinein platzen würde, überstieg ihre kühnsten Hoffnun gen. Denn im sogenannten Rauchsalon, wohin der Bullige sie begleitete und an dessen Tür er, die Maschinenpistole immer noch in der Hand, gravi tätisch Posten bezog, fand sie, den Vicomte de Bassecour ausgenommen, sämtliche Mitglieder des Vorstands besagter Interessengemeinschaft versammelt vor. Sie okkupierten die Ledersessel und das Ledersofa, die zusammen mit drei Maha gonitischen und wandhohen Bücherregalen das Mobiliar des Raumes ausmachten. Und in einem Sessel entdeckte das junge Mädchen sogar den nibelungentreuen Valentin Kalbe, der mit trauer umflorter Stirn trübsinnig vor sich hin blickte. Überhaupt schien die Stimmung der hohen Herr schaften nicht gerade glänzend zu sein, und Aphrodite war taktlos genug, die Anwesenden insgeheim als reichlich trübe Tassen zu klassifizie ren. Jedenfalls machten ausnahmslos alle den Eindruck, als ob sie sich auf den Gang zur Schlachtbank vorbereiteten, und dieser Eindruck war gar nicht so verkehrt, wie Aphrodite sich bald überzeugen konnte. „Willkommen, Signorina“, sagte der Conde matt und lud mit einer Handbewegung das junge Mäd chen zum Sitzen ein. „Sie wollten mich sprechen?“ 163
„Allerdings“, antwortete Aphrodite und ließ sich in den einzigen noch freien Ledersessel neben der unaufhörlich vor sich hin wimmernden Ehrentraut Maria Gräfin von Hasenthal plumpsen, die ihr fla nellgraues Sackkleid mit einem einfachen, schwarzen Baumwollfähnchen vertauscht hatte. „Aber, aber…“, sagte sie roh und klopfte der Gräfin auf die zarten Schultern. „Sterben müssen wir alle einmal.“ Die Gräfin schluchzte ein paar Phon stärker. „Wie recht Sie haben“, seufzte Monsignore Bar lini und fuhr mit der Hand in den offensichtlich zu engen violetten Kragensaum. „Jaja…“, echote Fürst Tscherwenkow mit weh leidig gesträubtem Schnauzbart. Aphrodite hatte Mühe, das Lachen zu verbei ßen. Was ging hier eigentlich vor? Warum bliesen die adligen Herrschaften unisono Trübsal? Wo war ihre Hochnäsigkeit geblieben? Und weshalb mach te niemand den Mund auf, um sie des Mordes zu bezichtigen? Sie hatte zumindest erwartet, daß man ihr mit Vorwürfen kommen würde, aber nicht einmal Valentin Kalbe raffte sich dazu auf, obwohl er doch Grund genug hatte. Ganz zu schweigen davon, daß man eine mutmaßliche Mörderin mög lichst umgehend der Polizei ausliefert, wenn sie einem so unverhofft in die Hände läuft, zumal sie sich schwerlich hätte wehren können. Oder las man in diesen Kreisen keine Zeitungen? Das jun ge Mädchen beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. „Ich wollte Sie in der Tat sprechen, Conde“, sagte sie. „Aber möglichst allein. Ich hatte keine 164
Ahnung, daß Sie hier ein Meeting veranstalten. Macht nichts. Auf diese Weise erspare ich mir eine Menge Lauferei. Ich hatte ohnehin vor, Sie einen nach dem anderen aufzusuchen.“ „Und weshalb, wenn ich fragen darf?“ sagte der Conde, der als Hausherr die Rolle des Sprechers übernahm. „Sie wissen doch, daß man mich des fünffachen Mordes verdächtigt?“ fuhr das junge Mädchen fort. „Natürlich“, antwortete der Conde, ohne mit der Wimper zu zucken. „Und Sie haben keine Angst?“ Der Conde runzelte erstaunt die Stirn. „Wovor?“ „Vor mir. Vor wem denn sonst?“ „Was für einen Grund sollten wir dafür wohl ha ben?“ „Vielleicht will ich auch Ihnen und den anderen Damen und Herren hier an den Kragen?“ sagte Aphrodite sarkastisch, um ihre zunehmende Ver wunderung zu vertuschen. „Unsinn“, antwortete der Conde und winkte läs sig mit der Hand ab. Sogar Ehrentraut Maria Grä fin von Hasenthal hielt einen Moment lang das Wimmern zurück und schüttelte abweisend den Kopf. „Unsinn“, wiederholte der Conde. „Das sind doch alles Flausen.“ „Schöne Flausen“, sagte Aphrodite. „Immerhin klebt an jeder Straßenecke mein Steckbrief.“ „Schon“, entgegnete der Conde. „Aber was geht das uns an? Wir haben jedenfalls wenig Anlaß, Sie 165
für die verschiedenen Morde verantwortlich zu machen.“ „Wie erfreulich“, sagte das junge Mädchen, das niemals und schon gar nicht in diesem Kreis ge hofft hatte, auf Verständnis zu stoßen. „Sie glau ben also an meine Unschuld! Ich frage mich nur, wie sich das mit dem Empfang verträgt, der mir hier zuteil wurde. Oder ist’s bei Ihnen üblich, Be sucher mit vorgehaltener Maschinenpistole zu empfangen, Conde?“ „Leider“, sagte der Conde. „Aber wahrscheinlich würde ich nicht mehr leben, wenn ich weniger vorsichtig wäre.“ „Was glauben Sie wohl, Señorita, warum wir uns hier verkrochen haben“, warf Baron Felipe Torre de Cienfuego y Mierdadios ungestüm ein. „Sollen wir uns einfach der Reihe nach abschlach ten lassen? Wie der Graf von Hasenthal und der Oberst? Um die anderen ist es weiß der Himmel nicht schade. Aber hier sind wir wenigstens eini germaßen sicher.“ Ehrentraut Maria Gräfin von Hasenthal heulte bei diesen Worten laut auf, wobei freilich schwer auszumachen war, ob ihre Klage dem Ehemann oder dem Liebhaber oder gleich allen beiden galt. „Ich verstehe kein Wort“, sagte Aphrodite wahrheitsgemäß. „Vielleicht ist jemand so freund lich und klärt mich auf.“ Es dauerte reichlich eine Stunde, bevor das junge Mädchen wenigstens notdürftig ins Bild ge setzt war, und an der Aufklärungsaktion beteilig ten sich so gut wie alle Anwesenden, Monsignore Barlini nämlich ausgenommen, der ein kleines 166
Nickerchen eingelegt hatte. Freilich mußte Aphro dite dem bisweilen schlagartig versiegenden Mit teilungsbedürfnis der blaublütigen Runde mit prä zisen und als ziemlich unpassend empfundenen Fragen nachhelfen, und wahrscheinlich hätte sie damit auch keinen Erfolg gehabt, wenn nicht alle von einem gleichermaßen dumpfen wie hilflosen Haß beseelt gewesen wären. Denn daß man über Tote nur Gutes sagen solle, wie es eine altrömi sche Spruchweisheit vorschreibt, war den aufge brachten Damen und Herren von Stand völlig egal. Sie machten aus ihrem Herzen keine Mör dergrube. Auf diese Weise erfuhr Aphrodite, daß die edle Freifrau von und zu Hummerlang wie die Pest gehaßt und gefürchtet worden war. Gerlinde von Schnepfenfuß erklärte sogar hochmütig, daß sie der Jungfrau Maria eine armdicke Kerze ge weiht habe, damit dem Meuchelmörder die Sünde vergeben werde. Widerwillig räumte man auf eine entsprechende Frage nach dem Grund dieses Has ses ein, daß die Freifrau sämtliche Vorstandsmit glieder der Europäischen Bewegung für die Mon archie gründlich ausgebeutelt habe, ja daß es geradezu Vorbedingung war, erpreßt zu werden, um in den Vorstand der Bewegung zu kommen. Der Zustimmung ihres Vorstands bei allen Ent scheidungen war die Freifrau auf diese Weise völ lig sicher, weshalb sie durchaus der Mühe entho ben war, dort in eigener Person zu erscheinen. Hier wie auch im Fall der sozusagen intimen An gelegenheiten konnte sie die Führung ihrer Ge schäfte getrost in die bewährten Hände des Vi comte de Bassecour oder des Edlen Gans von 167
Himmelreuth legen, die deswegen womöglich noch verhaßter waren als sie selber. Aphrodite wackelte bedenklich mit dem Kopf und tat so, als falle sie von einem Staunen ins andere, obwohl sie bis zu diesem Zeitpunkt lediglich ihre Vermu tungen bestätigt gefunden hatte. Wenig Eindruck machte auch Isabelle de Moumou auf sie, die mit der Ansicht herausrückte, daß vielleicht die omi nöse Freifrau gar nicht existiere. Denn möglicher weise hätten der Edle Gans und der Vicomte die Freifrau nur erfunden, um auf diese Weise unge störter im trüben fischen zu können. Was die Du chesse de Moumou anlangte, die ihre Fettpölster chen vergeblich in einem knallroten SamtHosenanzug zu verstecken suchte, so konnte man zweifellos von einer beachtlichen Denkleistung sprechen, wenn sie natürlich auch falsch war. Denn daß Aphrodite eine zur Freifrau avancierte Tante hatte, war schlechthin nicht aus der Welt zu diskutieren. Aber dieser Umstand beschäftigte das junge Mädchen im Augenblick weniger. Sie gab sich vielmehr redliche Mühe herauszubekommen, weswegen die adlige Sippe eigentlich erpreßt worden war, aber hier biß sie im übertragenen Sinn förmlich auf Marmor. Die titeltragenden Herrschaften mußten verdammt viel Dreck am Stecken haben, weil alles Bohren nichts nützte; sie schwiegen sich anhaltend aus. Weit weniger zurückhaltend waren sie hingegen, als das junge Mädchen den Grund wissen wollte, weshalb sie ihr Domizil ausnahmslos alle nach Köln verlegt hat ten, was doch unmöglich ein Zufall sein konnte. Nein, versicherte man ihr glaubwürdig, die Frei 168
frau hatte niemand gezwungen, in die rheinische Metropole zu kommen, und von ungefähr habe man sich natürlich auch nicht an die Ufer des oh nedies nur schmutztrüben, wiewohl vielbesunge nen Stromes begeben. Selbstverständlich wollte man an Ort und Stelle sein, weil man schließlich nie wissen könne, ob sich nicht doch einmal eine günstige Gelegenheit anbiete, die belastenden Pa piere wiederzubekommen. Und man hatte am En de recht behalten, denn mit dem unfreiwilligen Tod der Freifrau und eines ihrer Komplizen schien eine solche Chance gekommen zu sein. „Wir alle sahen ein neues Morgen heranziehen“, formulierte Gerlinde von Schnepfenfuß in diesem Zusammen hang, die bekanntlich eine Schwäche fürs Poeti sche hatte. Mit dem Vicomte de Bassecour hoffte man schnell fertig werden beziehungsweise ein für beide Seiten vorteilhaftes Arrangement treffen zu können. In dieser Absicht hatte man sich mitein ander ins Benehmen gesetzt und völlige Einmü tigkeit darüber erzielt, dem Vicomte eine einmali ge und nicht gerade geringe Abfindung im Austausch für die fraglichen Dokumente anzubie ten. Freilich konnte niemand ahnen, daß der klei ne Vicomte sich als ein unglaublich harthöriger Klotzkopf entpuppte. Einer aus dem Conde della Scala, dem Grafen von Hasenthal und Monsignore Barlini bestehenden Abordnung hatte er rundher aus bedeutet, er gedenke das Vermächtnis der Freifrau bis aufs letzte Komma hin zu erfüllen. Das betreffe sowohl die Europäische Bewegung für die Monarchie wie die weitere Kassierung der großzügigen Spenden, die von den Vorstandsmit 169
gliedern für die gemeinsame Sache aufgebracht werden müßten. Große Aufgaben verlangen nun einmal Opfer, und wer das nicht einsehen wolle, dem müsse er notfalls etwas nachhelfen. Auf die se unmißverständliche Drohung reagierte der Graf von Hasenthal mit einem Tobsuchtsanfall und der Versicherung, er denke nicht daran, einem ver kommenen Subjekt wie dem Vicomte weiterhin sein gutes Geld in die schmutzigen Finger zu drücken. Lieber wolle er auf der Stelle tot umfal len. Dieses Versprechen verlangte dem Vicomte lediglich ein verächtliches Schulterheben ab. Dann warf er die erlesene Abordnung kurzerhand hin aus, nicht ohne die Herren vorher noch einmal väterlich zu ermahnen, pünktlich zu zahlen. Diese Unterhaltung hatte zwölf Stunden vor dem Leichengelage für die Freifrau stattgefunden, das der Graf von Hasenthal bedauerlicherweise nicht überleben sollte. Sein Wunsch, lieber tot umzufal len als weiter zu zahlen, war buchstäblich in Erfül lung gegangen. „Schnelle Bedienung“, sagte Aphrodite lako nisch, womit sie sich einen feindseligen Blick der Gräfin von Hasenthal einhandelte. „Pardon“, be richtigte sie sich schnell, „ich wollte natürlich sa gen, daß Monsieur le Vicomte keine Zeit verloren hat. Wenn er wirklich der Mörder des Grafen sein sollte…“ „Zweifeln Sie etwa daran?“ fragte der Conde. „Ja“, sagte das junge Mädchen. „Ich habe sogar erhebliche Zweifel. An dem betreffenden Abend saß der Vicomte nämlich neben mir, wie Sie sich sicherlich erinnern werden. Und er hat sich die 170
ganze Zeit über nur einmal von seinem Platz ge rührt, als er den Leichenredner begrüßte… Die sen… Na…“ „Dr. Krafft“, kam ihr Gerlinde von Schnepfenfuß zu Hilfe. „Richtig. Mir ist schleierhaft, wie er dem Grafen das Gift in den beiläufig gesagt vorzüglichen Whisky tun konnte.“ „Vielleicht hat er Komplizen“, sagte Fürst Tscherwenkow. „Möglich…“, antwortete das junge Mädchen nachdenklich. „Das herauszufinden dürfte nicht schwer sein. Aber da ist noch etwas anderes. Wenn ich Sie, meine Herrschaften, nicht falsch verstanden habe, so wußten Sie doch alle, daß nicht ich im Besitz der Papiere bin, die Ihnen… nun ja… einiges Kopfzerbrechen bereiten. Und spätestens nach der erfolglosen Unterredung mit dem Vicomte? Ist das richtig?“ „Natürlich“, sagte Isabelle de Moumou. „Wir sind selbstverständlich von den betreffenden Her ren unterrichtet worden. Außerdem wußten wir das schon vorher. Ich habe nämlich die betreffen den Dokumente mit eigenen Augen gesehen.“ Sie verstummte einen Moment, weil sich alle Augen vorwurfsvoll auf sie richteten. „Ich weiß gar nicht, was Sie wollen, meine Freunde“, fuhr sie nach einer Weile verlegen fort, indes nicht ohne den Versuch zu machen, frauli chen Charme in ihre Stimme zu legen. „Sie wissen doch Bescheid. Schließlich bin ich es gewesen, die Sie informiert hat, wo die Papiere zu finden sind.“ Sie wandte sich an Aphrodite. 171
„Sie müssen nämlich wissen, Mademoiselle“, sagte sie, „daß ich kurz nach der Ermordung der Freifrau den Vicomte aufgesucht habe… Ich wollte auf meine Art versuchen… Na ja, als Frau meine ich… Was ist schon dabei…?“ „Und?“ fragte Aphrodite. „Er hat mir… Sie wissen vielleicht… Die Fotogra fien… Er hat sie mir zwar gezeigt, aber nicht im Traum daran gedacht, sie mir auszuhändigen. Er hat sie einfach wieder im Safe seines Arbeitszim mers eingeschlossen.“ „Worauf Sie sich wieder angezogen haben, nicht wahr. Liebste?“ sagte Ehrentraut Maria Gräfin von Hasenthal schneidend. Die Duchesse verzog schmollend die Lippen. „Quoi“, sagte sie und schloß vorübergehend keusch die Augen. „Ihr solltet froh sein, daß ich mit meinem Wissen nicht hinter dem Berg hielt.“ „Aber erst nachdem das private Striptease nicht funktionierte“, knurrte Fürst Tscherwenkow. „Wundert Sie das, Fürst?“ sagte Gerlinde von Schnepfenfuß spitz. „Wer hat, der hat“, konterte Isabelle de Mou mou anzüglich und musterte Gerlinde von oben bis unten. Aphrodite hielt es für ratsam, einzugreifen und die drohende Auseinandersetzung abzuwenden, denn Gerlinde von Schnepfenfuß hatte schon das Lorgnon angriffslustig vor das Gesicht gestellt und holte tief Luft, während die anwesenden Herren erwartungsvoll grinsten. „Madame la Duchesse hat bestimmt getan, was sie konnte“, sagte sie schnell und eine Spur lauter 172
als gewöhnlich, ohne sich allerdings einen bered ten Blick auf den wogenden Busen der Inhaberin des Verschönerungssalons verkneifen zu können. „Es steht also fest, daß der Vicomte die begehrten Papierchen hat. Das ist wichtig. Aber wieso ei gentlich wußte der Oberst davon nichts?“ „Como es posible?“ Der Baron Felipe Torre de Cienfuego y Mierdadios klatschte sich laut aufla chend auf die Schenkel. „Habt ihr das gehört, Freunde? Sie fragt wieso! Nein, das gibt es doch nicht…“ Prompt wieherte auch Fürst Tscherwenkow los. Der Conde della Scala hüstelte verhalten hinter der vorgehaltenen Hand, um nicht zu zeigen, wie sehr er sich amüsierte. Auch Gerlinde von Schnepfenfuß kniff ihre ohnehin überschmalen Lippen zu einem Strich zusammen, was von höch ster Belustigung zeugte, während die rundliche Duchesse freudige Gluckser von sich gab. Offen sichtlich hatte Aphrodite einen umwerfend komi schen Witz gemacht. Nur die Gräfin von Hasenthal und Valentin Kalbe blieben todernst. Eher huschte noch zusätzlich ein Schatten von Trauer über ihre Mienen, sofern das überhaupt noch möglich war. Es war am Ende auch die Gräfin, die nach einem mahnenden Blick in die Runde widerwillig und sehr von oben herab erläuterte: „Wissen Sie, meine Liebe… Trutz, will sagen der Oberst von Hoffmannsau, war ein durch und durch geradlini ger Mann…“ „Eine Seele von Mensch“, warf Valentin Kalbe ein, „wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Gräfin…“ 173
„Sie dürfen, Valentin“; sagte die Gräfin huldvoll. „Sie haben ihn schließlich besser als jeder andere gekannt.“ „Sind Sie da völlig sicher, Liebste?“ Gerlinde hatte schon wieder das Lorgnon aggressiv vor das Gesicht gezogen. Diesmal hielt es der Conde für angebracht zu intervenieren. „Wir konnten den Oberst nicht mehr einwei hen“, sagte er sachlich. „Er war gerade in familiä ren Angelegenheiten abwesend. Und wie erwähnt, er war ein geradliniger Mann. Ein einfaches Ge müt, wenn ich so sagen darf, Gräfin.“ Ehrentraut Maria nickte nachlässig. „Einfach oder nicht“, sagte Aphrodite unwillig, „er war jedenfalls überzeugt, daß ich die bela stenden Papiere besitze. Und diesen Floh hat ihm nach eigener Aussage der Vicomte ins Hemd ge setzt. Folglich muß er irgendwann mit ihm ge sprochen haben.“ Valentin Kalbe meldete sich zu Wort, wozu er wie in der Schule die rechte Hand hob. „Es ist richtig“, sagte er, nachdem der Conde ihm mit einer Handbewegung zu sprechen erlaubt hatte. „Der Herr Oberst hatte in der Tat mit dem Herrn Vicomte ein Gespräch und dabei von ihm die Information, die Erbschaft der Freifrau betref fend, erhalten. Er hat darüber den ganzen Nach mittag mit mir beraten. Am Tag des Leichen mahls, meine ich. Der Oberst war entschlossen, die Sache auf seine Weise zu bereinigen. Und wir kamen zu dem Ergebnis, daß die Entführung des gnädigen Fräuleins der kürzeste Weg zum Ziel wäre.“ 174
„Wie ich schon sagte: Ein wahrhaftig einfaches Gemüt, der liebe Oberst.“ Baron Felipe kreuzte die Arme und lächelte verächtlich. „Wann genau hat diese Unterredung zwischen dem Oberst und dem Vicomte stattgefunden?“ wollte Aphrodite wissen. „Genau weiß ich es nicht“, antwortete der ge treue Kalbe. „Etwa vier oder fünf Stunden vor dem Essen im Hotel ,Zu den vier Haimonskin dern’.“ „Also ein paar Stunden nach der Auseinander setzung mit der Abordnung“, sagte Aphrodite. „Wäre es nicht recht und billig gewesen, den Oberst darüber zu informieren?“ „Aber wir haben doch versucht, ihn zu errei chen“, sagte der Conde stirnrunzelnd. Offenbar behagte ihm die Hartnäckigkeit des jungen Mäd chens überhaupt nicht. „Er war wie vom Erdboden verschwunden. Wir haben ihn erst abends wieder gesehen.“ „Er hielt sich bei mir auf“, sagte Valentin Kalbe bescheiden. „Wir mußten doch die Entführungsak tion gründlich vorbereiten.“ „Da haben Sie’s“, sagte der Conde. Aphrodite war längst klargeworden, daß der Oberst Trutz von Hoffmannsau im Kreis seiner Standesgenossen schwerlich als ein Ausbund an Klugheit angesehen wurde. Man hielt ihn vielmehr für einen ausgemachten Dummkopf, und damit hatte man ausnahmsweise wohl recht. Wahr scheinlich hatte man es für unnötig erachtet, den tölpelhaften Nachfahren der Wittelsbacher auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, wenn man 175
ihn überhaupt in Kenntnis über die Pläne der Gruppe gesetzt hatte. Außerdem schien in dieser, illustren Runde jeder liebend gern die eigene Sup pe abkochen zu wollen, sofern er dazu Aussicht oder Gelegenheit hatte, ohne sich um das Schick sal der anderen zu kümmern. Isabelle de Moumou hatte es jedenfalls auf ihre Weise ebenso versucht wie der inzwischen dahingeschiedene Oberst. Und wenn sich Aphrodite umschaute, war sie sicher, daß jeder der Anwesenden in irgendeinem Winkel seines Gehirns ein eigenhändig gebrautes Rezept verwahrte, um aus dem Schlamassel zu kommen. Oder hatte man sich inzwischen auf einen ge meinsamen Nenner geeinigt? Das junge Mädchen schob diese Überlegung vorerst beiseite. Ver ständlicherweise war sie vordringlich daran inter essiert, wieso eigentlich der Oberst hatte daran glauben müssen. War es denkbar, daß gerade er, ein lauterer, aber impulsiv handelnder Charakter, besonders gefährlich gewesen sei? Sie könne sich in dieser Hinsicht zwar irren, einleuchtend sei es jedoch wirklich nicht. Aber vielleicht habe jemand eine Erklärung parat? Stockend berichtete Valentin Kalbe, dem diese Fragen in erster Linie galten, daß etwa eine Stun de nach der Flucht Aphrodites aus seiner Stube – er sagte wahrhaftig Stube – der Vicomte de Bas secour aufgetaucht und sogleich in höchste Erre gung geraten sei, als er vernommen habe, was vorgefallen war. Er, Valentin Kalbe, habe sich von diesem Herrn noch schwere Vorwürfe anhören müssen, weil er unverantwortlicherweise eine ge fährliche Verbrecherin habe entkommen lassen. 176
Daraufhin habe der Herr Vicomte mit dem Herrn Obersten telefoniert und ihn angesichts der prekä ren Situation um eine sofortige Aussprache gebe ten. Wegen des delikaten Charakters der Affäre sei es freilich ratsam, sich an einem neutralen und möglichst einsamen Ort zu treffen, vielleicht an einer noch zu vereinbarenden Stelle im sogenann ten Grüngürtel. Der Oberst habe nach anfängli chem Zögern zugestimmt, berichtete Kalbe schluckend, und am frühen Morgen habe man den Obersten erschossen auf einer Bank im Grüngür tel gefunden. Irgendeinen Verdacht zu äußern sei ihm fern, außerdem stehe es ihm nicht an, sagte Valentin Kalbe abschließend, aber er könne gleichwohl nicht umhin, die Verabredung des Vi comte mit dem Herrn Obersten nebst dessen Er schießung für einen puren Zufall zu halten. Und mit diesen Worten ließ sich der ergebene Valentin schweratmend wieder in den Sessel gleiten. „Aha“, sagte Aphrodite zufrieden, „allmählich kommt Licht in die Sache. Offenbar hat der Vi comte eine einmalige Gelegenheit ausgenutzt, um mich zusätzlich in Mordverdacht zu bringen.“ „Alles spricht für diese Version“, sagte Baron Felipe. „Der Vicomte ist bekanntlich ein Mann schneller Entschlüsse“, bestätigte der Conde. „Gott wird ihn strafen!“ sagte Monsignore Barli ni, der unterdessen aufgewacht und von Aphrodi te unbemerkt die Erzählung Valentin Kalbes mit angehört hatte.
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„Dafür kann ich mir nichts einhandeln“, sagte das junge Mädchen erbost. „Nicht der Vicomte, sondern ich werde polizeilich gesucht.“ „Leider, leider“, sagte Fürst Tscherwenkow und legte seine Stirn in mitleidige Falten. „Ich weiß nicht, worauf Sie noch warten, meine Herrschaften“, fuhr Aphrodite nach einer kurzen Verschnaufpause fort, die sie einlegen mußte, um ihre aufsteigende Empörung niederzukämpfen. „Wollen Sie nicht die Polizei anrufen und zu Proto koll geben, was Sie wissen? Das hätten Sie übri gens schon längst tun sollen.“ Der Conde della Scala schüttelte höchst be denklich den Kopf. „Ich fürchte“, sagte er, „das wird nicht gehen, Signorina.“ „Wir bedauern sehr“, ergänzte Fürst Tscher wenkow. „Jeder muß sein Kreuz tragen“, dozierte Monsi gnore Barlini salbungsvoll. Aphrodite blickte von einem zum anderen. Sie war ganz gespannte Aufmerksamkeit, gab sich aber völlig gelassen. „Was geht nicht?“ fragte sie trocken. „Heißt das vielleicht, daß Sie die Polizei nicht verständigen wollen?“ „Sehen Sie“, erläuterte der Conde. Er gab sich redliche Mühe, wie das leibhaftige Mitgefühl aus zusehen. „Wir möchten Ihnen gern helfen. Auf Eh re und Gewissen. Aber wir können es nicht. Wir sind selbst in einer bösen Zwangslage.“
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„Fahren Sie fort“, sagte Aphrodite wegwerfend. „Und lassen Sie sich nicht alles hinter den Zähnen hervorziehen.“ „Überlegen Sie doch einmal“, sagte der Conde. „Wir können den Vicomte nicht bei der Polizei an zeigen, obwohl er ein abgefeimter Halunke ist.“ „Auf seinem Konto steht immerhin Erpressung und höchstwahrscheinlich auch Mord“, sagte Aphrodite. „Ist das vielleicht nichts?“ „Eben“, sagte Monsignore Barlini. „Wir sind es unserem Stand und Namen schuldig, daß gewisse Papiere zumindest in der Schublade bleiben. Aber sie würden unweigerlich ans Licht der Öffentlich keit kommen, wenn wir den Vicomte der Polizei ausliefern. Das sollten auch Sie verstehen, mein Kind, und die Strafe dem himmlischen Richter überlassen.“ „Ich bin doch nicht blöd“, sagte Aphrodite und zeigte wütend die Zähne. „Soll ich möglicherweise weiter unter Mordverdacht herumlaufen, bloß weil Sie, meine Damen und Herren, Konfitüre in den Knochen haben? Ich verstehe natürlich: Sie alle haben so viel auf dem Kerbholz, daß Sie es sich gar nicht leisten können, den sauberen Vicomte ans Messer zu liefern. Ein Ohrengeier hackt dem anderen kein Auge aus, wie man so sagt.“ „Wie degoutant“, empörte sich Gerlinde von Schnepfenfuß. „Was kann man vom Plebs schon verlangen“, sagte Ehrentraut Maria von Hasenthal. „Ich möchte Sie ebenfalls ersuchen“, sagte der Conde und richtete sich in seinem Sessel so hoch wie möglich auf, „die Grenzen des Schicklichen 179
nicht zu überschreiten. Sie befinden sich immer hin in meinem Haus.“ „Sparen Sie sich gefälligst das blöde Blabla“, sagte das junge Mädchen. „Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß ich mir das gefallen lasse. Also gut, wenn Sie die Polizei nicht informieren wollen, dann werde ich es tun.“ Mit diesen Worten stand Aphrodite resolut auf. Sofort brachte der bullige Butler die Maschinenpi stole auf sie in Anschlag. „Setzen Sie sich lieber wieder hin“, sagte der Conde zynisch. „Ich habe mich offenbar nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich wiederhole des halb: Wir können auf keinen Fall dulden, daß der Vicomte de Bassecour öffentlich mit diesen leidi gen Mordgeschichten in Verbindung gebracht wird. Es wäre nur zu unserem eigenen Schaden. Wir sind entschlossen, das unter allen Umständen zu verhindern.“ „Ich bin gespannt, wie Sie das verhindern wol len“, sagte Aphrodite und wiegte sich provozie rend in den Hüften. Der Conde machte eine bezeichnende Handbe wegung, und das junge Mädchen wußte auch oh ne ausdrücklich hinzublicken, daß er den schwer bewaffneten Butler meinte. „Wollen Sie mich vielleicht mit Gewalt festhal ten?“ fragte sie, während sie gleichzeitig überleg te, was sie eigentlich in einer so hoffnungslosen Lage noch unternehmen könne. „Erraten“, feixte Fürst Tscherwenkow. „Sie wer den solange hierbleiben, bis…“ 180
Der Conde winkte herrisch ab. „Ich habe schon erwähnt“, sagte er, „daß wir uns in einer Zwangslage befinden. Vergessen Sie nicht, Signorina, daß wir es mit einem gefährli chen, skrupellosen und sehr entschlußfreudigen Mann zu tun haben. Wir haben uns nicht umsonst hier bei mir versammelt. Mein Haus ist ziemlich sicher. Und nach den Vorfällen mit dem Grafen von Hasenthal und dem armen Obersten müssen wir alle um unser Leben fürchten. Aber schließlich können wir nicht ewig hier sitzenbleiben. Ich bin aus diesem Grunde geneigt, es als einen glückli chen Zufall anzusehen, daß Sie mich mit Ihrem Besuch beehrten, mein Fräulein.“ „Sie hat wahrhaftig der Himmel geschickt“, warf Monsignore Barlini ein. „Das kann man wohl sagen“, bekräftigte die Duchesse de Moumou. „Ich breche gleich in Tränen aus“, sagte Aphro dite. „Mir wäre lieber, wenn Sie damit herausrük ken würden, was Sie ausgebrütet haben.“ „Warum nicht?“ sagte der Conde della Scala. „Es wird Ihnen, zugegeben, nicht angenehm sein, aber was sollen wir machen…“ „Herr, vergib uns“, murmelte Monsignore Barlini und faltete die Hände. Er ging Aphrodite mit sei nen frommen Sprüchen mehr auf die Nerven als der aalglatte Conde. „Also heraus mit der Sprache“, sagte das junge Mädchen. „Es ist im Grunde ganz einfach“, berichtete der Conde. „Sie stehen unter Mordverdacht, und Sie werden es bleiben, solange wir schweigen und Sie 181
dem Vicomte nicht gefährlich werden können. Und Ihre bloße Existenz ist für ihn schon gefährlich. Ich mache mich doch verständlich? Nun gut! Wir werden mithin dem Vicomte ein kleines Geschäft vorschlagen. Er wird uns die fraglichen Dokumen te aushändigen. Und dafür bekommt er Sie. Wir sind sicher, daß er mit Freuden unseren Vorschlag akzeptieren wird.“ Aphrodite lachte laut, wenngleich etwas ge zwungen auf. Die Aussicht, dem rabiaten Vicomte in die Hände zu fallen, den alle und wahrscheinlich mit Recht für einen Mörder hielten, war nicht ge rade rosig. „Was seid Ihr doch für Narren“, sagte sie hin haltend. Immer noch war ihr nicht eingefallen, wie sie aus der verzwickten Situation herauskommen sollte. „Was wird der saubere Vicomte schon ma chen? Er wird mich umbringen. Damit der Mord verdacht ewig an mir kleben bleibt. Können Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren?“ Der Conde zuckte bedauernd die Schultern. „Das Leben ist kein Zuckerlecken“, philoso phierte Baron Felipe und zündete sich genüßlich eine dicke Brasil an. „Vielleicht wird er die Papiere wirklich aus der Hand geben“, fuhr Aphrodite eindringlich fort, die allmählich die Verzweiflung überkam. „Aber er wird keine Ruhe geben. Er kann es gar nicht. Schließlich wissen Sie zuviel. Und schon deshalb wird er einen nach dem anderen von Ihnen aus der Welt schaffen. Was ich Ihnen, meine Herr schaften, von Herzen gönne.“ 182
„Überlassen Sie diese Sorge getrost uns“, sagte der Conde della Scala. „Selbstverständlich haben wir auch daran gedacht. Ohne ein schriftliches und von unbeteiligten Zeugen beglaubigtes Ge ständnis wird der Vicomte nicht davonkommen. Sie sehen, wir haben wirklich alles erwogen, und nach menschlichem Ermessen kann eigentlich nichts mehr passieren.“ Diese letzte Bemerkung hatte der Conde in überheblichem und süffisantem Ton vorgebracht, aber vielleicht gerade aus diesem Grunde sollte sie sich Sekunden später als ein handgreifliches Versehen herausstellen. Es passierte nämlich al lerlei. Zunächst ertönte aus dem Vestibül ein markerschütternder Schrei, der alle unwillkürlich von den Sitzen hochriß. So konnte nur jemand aufjammern, der kurz vor dem Skalpieren stand. Wenig später stürzte schreckensbleich und völlig aufgelöst das Hausmädchen in den Rauchsalon, den Fleischklopfer verzweifelt über dem Kopf schwingend. In der Aufregung rannte sie den bul ligen Butler um, der sich zwar geistesgegenwärtig zur Tür gedreht hatte, um dem vermeintlichen Feind die Stirn bieten zu können, gerade deshalb aber noch nicht festen Fuß hatte fassen können. Auf diese Weise landete die Maschinenpistole un ter der Soutane von Monsignore Barlini, und dort war sie vorerst gut aufgehoben. Das Hausmäd chen hingegen prallte immer noch hysterisch schreiend mit der Duchesse de Moumou zusam men. Beide stürzten dem Fürsten Tscherwenkow vor die Füße, der wiederum dadurch den Halt ver lor und das Doppelkinn tief im Busen der Duches 183
se vergrub. Bei diesem Zusammenstoß glitt dem Hausmädchen unglücklicherweise der Fleischklop fer aus der Hand; er fiel prompt Gerlinde von Schnepfenfuß auf das Lorgnon, und es war ihr Pech, das sie das Gestell zwecks Besichtigung der Lage soeben vor die Nase gezogen hatte. Natür lich hatte Aphrodite keine Ahnung, was eigentlich vorging. Der aufgeregte, fallende, kreischende Adel um sie herum war jedenfalls der Meinung, der Vicomte de Bassecour stehe mordlüstern vor den Toren, wie das junge Mädchen ängstlichen Zwischenrufen entnahm. Der Conde della Scala war sogar hinter seinem Sessel in volle Deckung gegangen, während Baron Felipe sich angestrengt bemühte, unter den Teppich zu kriechen. Aphrodi te interessierten die Gründe für das mit einmal ausgebrochene Chaos offen gestanden wenig. Sie hatte jedenfalls keine Mühe, in dem entstandenen Durcheinander gemächlich den Salon zu verlassen und im Vestibül ihre verbeulte Lederjacke vom Haken zu nehmen, nicht ohne vorher Augustus, der halb aus der Tasche heraushing, wieder in seine Höhle zurückexpediert zu haben. Dann nahm sie, was natürlich nicht wörtlich zu nehmen ist, die Beine in die Hand und machte, daß sie aus diesem ungastlichen Haus verschwand. Jedenfalls war sie schon um die nächste Ecke gebogen, als eine Minute später der wieder maschinenpistolen bewehrte Butler in den Garten stolperte…
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Das Arbeitszimmer des Vicomte de Bassecour war zwar nicht mit erlesenem, wohl aber mit teurem Geschmack eingerichtet, und man mußte nicht einmal gehörig hinschauen, um den unverkennba ren Hang zur Plusmacherei auszumachen. Auf dem Boden lag bis an die vier Wände heranrei chend ein, wie es sich gehört, schon ziemlich be jahrter Täbris, über den Aphrodite sicherlich acht los hinweggestampft wäre, hätte sich das Schlangen-Hännesje nicht vor Entzücken beinahe überschlagen, und er mußte von Berufs wegen den Wert solcher Stücke abschätzen können. Mit ten im Raum stand ein riesiger Schreibtisch aus Eichenholz, der auf soliden Löwentatzen ruhte und der mit einer marmornen Garnitur versehen war. Vier hochlehnige Stühle, von denen einer hinter dem Schreibtisch stand, während die drei anderen um einen von einem weißen Telefon besetzten Teetisch vor dem französischen Fenster plaziert waren, vervollständigten das Mobiliar, und es ver steht sich, daß sie aus dem gleichen Material wie der Schreibtisch waren. Die Stühle waren mit lila Samt bezogen, und so waren auch die Fenster vorhänge und die Portiere vor einer Tapetentür beschaffen, die den Zugang zu einem mit Mänteln und Anzügen vollgestopften Wandschrank freigab. Daß die Stores aus Brüsseler Spitzen angefertigt waren, mußte Aphrodite dem Schlangen-Hännesje wohl oder übel glauben, obwohl es ihr mangels Sachkunde nicht sehr imponierte. Aufrichtig be 185
staunte sie die mit Himmelsschlüsseln und Maß liebchen übersäte Biedermeiertapete, und auch der venezianische Spiegel an der Wand hinter dem Schreibtisch nötigte ihr vorübergehend volle Aufmerksamkeit ab. Beim Anblick des pompösen Ölschinkens über einem glasversperrten Bücher regal, das den Vicomte de Bassecour mit federge schmücktem Barett, Bauschen an den Hosen und in Stulpenstiefeln darstellte und womit er sich of fensichtlich als Musketier des Bourbonenkönigs ausweisen wollte, tippte das junge Mädchen sich jedoch respektlos an die Stirn. Und wenig Ver ständnis zeigte sie naturgemäß auch für ein Dut zend erotischer Gravüren aus der Serie der soge nannten Diaboliques, die militärisch ausgerichtet an der Tapete vor dem Wandschrank hingen. Aphrodite bewegte sich in diesem Zimmer so gelassen wie ein Rosenkäfer im Hoheitsgebiet ei nes Ameisenhaufens, ein Privileg, das sich dem Vernehmen nach nur dieser Käfer herausnehmen kann. Gleichwohl war sie nicht etwa einer freund lichen Einladung des Vicomte gefolgt. Sie war ganz im Gegenteil ein sicherlich höchst ungebete ner und ungefragter Gast. Sie hatte nämlich ge nau das getan, was man im Jargon der Unterweit einen „sauberen Bruch hinlegen“ nannte, und es muß eingeräumt werden, daß sie sich nicht das geringste Gewissen daraus machte. Den Entschluß dazu hatte sie spät in der Nacht auf dem Weg zum „Maritzebillche“ gefaßt, den sie zu Fuß zu rücklegte, weil sie einfach das Bedürfnis hatte, ihre Gedanken einmal in Ruhe zu ordnen. Im nachhinein belustigte sie sich noch königlich über 186
das adlige Durcheinander, wie sie es bei sich nannte, und sie mutmaßte nicht von ungefähr, daß Augustus der Stein des Anstoßes gewesen war. Wahrscheinlich hatte er sich in der Taschen grotte zu langweilen begonnen oder Appetit auf einen fetten Happen verspürt. Wie dem sei: Au gustus hatte sich jedenfalls angeschickt, die Ta sche zu verlassen, und anstatt ihm eines mit dem Fleischklopfer zu versetzen, hatte das als Wache zurückgelassene Hausmädchen offenkundig beim Anblick des neugierigen Pedipalpus die Nerven verloren. Aphrodite konnte sich lebhaft vorstellen, daß man das Mädchen deswegen mit geharnisch ten Vorwürfen überschüttet hatte, aber schließlich ist es nicht jedermanns Sache, mit einem Skorpi on fertig zu werden. Und dem Hausmädchen hatte man schon als Kind Angst vor kriechendem und krabbelndem Getier eingeimpft, woraus zu erse hen ist, daß sich Erziehungsfehler früher oder später zwangsläufig rächen. Was hingegen Aphro dite betraf, so war sie natürlich geneigt, diese un vermittelt wieder aufgebrochenen verjährten Äng ste des Hausmädchens eine glückliche Fügung zu nennen, und auch die moralisch gewiß anrüchige Bekanntschaft mit der Unterwelt schien ihr unter dem Eindruck der letzten Ereignisse eher ein Vor teil zu sein. Irgendwie mußte sie schließlich dem Vicomte de Bassecour, der sich mehr und mehr als eine Schlüsselfigur der Erpressungs- und Mordaffäre entpuppte, beizukommen suchen, und das hieß, die notwendigen Beweise heranzuschaf fen. Die waren jedoch nach Sachlage der Dinge, wenn überhaupt, so nur beim Vicomte selbst auf 187
zutreiben. Nun war das junge Mädchen selbstver ständlich nicht so schwachsinnig, den Vicomte aufzusuchen und ihn höflich zu bitten, er möge doch so großherzig sein und sie einen Blick in den von der Duchesse de Moumou erwähnten Safe werfen lassen. Genausogut hätte sie sich gleich auf dem nächsten Friedhof einen Platz reservieren lassen können. Oder sollte sie zur Polizei gehen und auspacken, was sie inzwischen in Erfahrung gebracht hatte? Freudentänze waren in den Amts stuben der Kölner Polizei zwar auf Grund man gelnder Erfolge nicht üblich, aber Aphrodite war sicher, daß Hauptinspektor Baller einige wilde Runden um seinen Schreibtisch drehen würde, sobald sie ihm in die Hände lief, zumal sie zwar interessante neue Aspekte, aber keine schlüssigen Beweise liefern konnte. Der Weg zur Polizei blieb ihr folglich wenigstens vorläufig noch verschlos sen. Wollte sie also vorankommen, und das hieß vor allem, den auf ihr lastenden scheußlichen Mordverdacht loswerden, mußte sie einstweilen auf eigene Faust handeln. So beschloß sie kurzer hand, dem Vicomte heimlich einen Besuch abzu statten. Das Zitter-Hermännche war anfangs freilich gar nicht begeistert gewesen, am hellen Tag irgendwo einzusteigen, ließ sich am Ende indessen über zeugen, wozu der Umstand nicht unerheblich bei getragen hatte, daß er bei dem Unternehmen eine verhältnismäßig ungefährliche Aufgabe zugewie sen bekam. Er hatte nichts weiter zu tun, als vor dem einsam gelegenen Haus des Vicomte am Sperlingsweg herumzulungern und aufzupassen, 188
wann der Vicomte zurückkehrte. In diesem Fall sollte er die bundesdeutsche Ersatzhymne „Humba-Humba-Täteräää“ lauthals anstimmen und zu diesem Zweck natürlich den Betrunkenen spielen, was ihm zweifellos nicht schwerfiel, weil er ohne hin dauernd unter Schnaps stand. Den Vicomte zu entdecken, war auch recht einfach, denn sein schwerer, leichenwagengroßer Cadillac war kaum zu übersehen. Nervenraubend war lediglich das sich hinziehende Warten darauf, daß der Vicomte endlich sein Heim verließ. Das festzustellen, hatte man dem Nato-Jettchen übertragen, die unver drossen vor dem Haus des Vicomte flanierte. Un terdessen warteten Knabber-Ferdi, SchlangenHännesje, das Zitter-Hermännche und Aphrodite in einer nicht weit entfernten Kneipe. Gegen Mit tag war es dann soweit: Das Nato-Jettchen und Zitter-Hermännche bezogen ihre Posten, während Schlangen-Hännesje behende wie eine Eidechse durch ein schmales Kellerfenster verschwand und ein paar Minuten später die Haustür von innen öffnete. Schon vorher hatte das ZitterHermännche ausgekundschaftet, daß der Vicomte offensichtlich keine Dienstboten hatte, was Aphrodite bei seinen dunklen Geschäften nicht im geringsten verwunderte. Die Eindringlinge mach ten deshalb auch keine Anstalten, vorsichtig zu sein. Mit nachtwandlerischer Sicherheit fand Knabber-Ferdi das Arbeitszimmer und den hinter dem venezianischen Spiegel verborgenen Safe, musterte ihn einen Moment kritisch, quetschte ein „Witzlos“ zwischen den Zähnen hervor, kramte eine Weile in einer vorsorglich mitgebrachten Ta 189
sche, und wenig später griff er in den leicht wie eine Drehtür geöffneten Safe hinein und über reichte Aphrodite ein dickes Bündel Papiere. Da nach verabschiedete er sich sofort, vergaß jedoch aus irgendwelchen Gründen zu erwähnen, daß in dem Safe auch ein Packen Geldscheine gelegen hatte, der jetzt in seiner Tasche steckte. Schlangen-Hännesje hingegen war Kavalier genug, das junge Mädchen nicht sogleich zu verlassen. Er griff sich ein auf dem Bücherregal stehendes Transistorradio, stellte es an und bezog Posten am französischen Fenster, was nicht der Komik entbehrte, weil er bei jedem aufklingenden Twist ausgiebig den Hintern schüttelte. Aphrodite, die es sich hinter dem Schreibtisch bequem gemacht hatte und die säuberlich in Dos siers eingeteilten Papiere durchstöberte, ließ sich dadurch nicht stören. Freilich handelte es sich auch um eine Lektüre, die den Vergleich mit ei nem Kriminalreißer ohne weiteres aushielt, und Aphrodite wurde hierbei allmählich klar, warum der feine Adel sich so verbissen darüber ausge schwiegen hatte, weshalb man ihn erpreßte. Zu nächst fielen dem jungen Mädchen etliche Fotos in die Hände, die früher vorzugsweise von Pariser Straßenhändlern, heute jedoch en gros in gewis sen Shops Kopenhagens angeboten werden. Die Duchesse de Moumou war darauf wirklich ausge zeichnet getroffen, wenn man den Umstand in Rechnung setzt, daß sie gut zwanzig Jahre jünger gewesen sein mußte. Sie trug die in diesem Me tier übliche Kleidung, also ihre Sommersprossen, mit Grazie und Anmut, wie Aphrodite neidlos zu 190
gestand, gerade weil sie in dieser Beziehung mit der damals noch knusprigen Isabelle weder kon kurrieren konnte noch wollte. Offenbar hatte sie als junges Mädchen ihren Champagner auf diese Weise verdienen müssen, bevor sie das Schloß in der Bretagne erbte, und das war in der Tat für ei nen Erpresser ein gefundenes Fressen: 25 Prozent ihrer Einkünfte aus dem Schönheitssalon „Sexy“ waren jedenfalls regelmäßig in die Kassen der Freifrau und ihrer Kumpane geflossen, wie aus einer beigefügten Aufstellung hervorging. Nicht weniger lukrativ war das Geschäft mit dem Für sten Tscherwenkow bisher gewesen, der zur nicht geringen Verwunderung des jungen Mädchens ein Taxiunternehmen leitete und ebenfalls regelmäßig 25 Prozent der Einnahmen abzuführen hatte. Auch von ihm lagen einige Fotos vor, die ihn in Beglei tung von SS-Offizieren zeigten, mit denen er of fenkundig auf sehr freundschaftlichem Fuß ver kehrte. Das allein hatte den Erpressern jedoch nicht genügt. Irgendwie hatten sie sich in den Be sitz des fürstlichen Tagebuchs setzen können, worin Tscherwenkow pedantisch genau berichtete, was er als Gestapo-Spitzel in Holland für Taten vollbrachte, und das hätte mit Sicherheit ausge reicht, um ihn an den Galgen zu bringen, wie Aphrodite nach flüchtigem Durchblättern konsta tierte. Daß der Conde della Scala ein gefragter Choreograph sogenannter grüner Ballette war, ließ das junge Mädchen zunächst kalt, weil es nicht wußte, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Erst als sie die entsprechenden Papiere ge nauer studierte, wurde ihr bewußt, daß der sau 191
bere Conde unter dem allerdings plattbürgerlichen Namen Mario Spinella in verschiedenen Städten Italiens gut frequentierte Knabenbordelle betrieb, und in diesem Fall gingen 30 Prozent der Einnah men an die Erpresser. Auf das Konto des Barons Felipe Torre de Cienfuego y Mierdadios kam nur ein einziges Vergehen. Er hatte vor rund einem Dutzend Jahren übrigens erfolgreich versucht, seine lädierten finanziellen Verhältnisse vermittels einer gigantischen Unterschlagung aufzubessern. Niemand war ihm auf die Schliche gekommen, die Freifrau natürlich ausgenommen, was den Baron monatlich einen schönen Batzen des eingestriche nen Gewinns kostete. Auch Monsignore Barlini fraß die fotografisch und mündlich bezeugte Vor liebe für ausnahmslos minderjährige Novizinnen regelmäßig ein kleines Vermögen weg, und Ger linde von Schnepfenfuß wartete sogar mit einer handfesten Überraschung auf. Immerhin konnte sie einen inzwischen im internationalen Invest mentgeschäft nicht schlecht etablierten Sohn vorweisen, der allerdings den Makel hatte, einen gewöhnlichen Stalldiener zum Vater zu haben. Gewiß war die peinliche Angelegenheit seinerzeit kunstgerecht vertuscht worden. Gerlindes Ab kömmling selber glaubte der Erstgeborene einer biederen Briefträgerfamilie zu sein, worauf er stets zurückzukommen pflegte, wenn er erläutern wollte, wie weit er es doch verhältnismäßig ge bracht habe. Gleichwohl hatte die Freifrau Wind von der Sache bekommen, und zwar von der leib lichen Tochter der Briefträgersgattin, die es wie der von ihrer Mutter in einer schwachen Stunde 192
als Geheimnis anvertraut bekommen und gegen Zahlung von 200 blanken Mark schriftlich bezeugt hatte. Gerlinde von Schnepfenfuß war das Still schweigen über ihre einstige Schande monatlich 500 DM wert, womit sie beiläufig gesagt auf dem niedrigsten Preisniveau eingestuft worden war. Die Gräfin von Hasenthal hatte nicht allein den Obersten Trutz von Hoffmannsau, sondern noch ein halbes Regiment anderer Herren mit ihrer Seelenfreundschaft bedacht, während der Graf wahrscheinlich vor lauter Kummer sich bei aufge henden Varieté-Sternchen schadlos hielt, wofür das Ehepaar eine erkleckliche Stange Geld auf bringen mußte. Auch diesem Dossier waren etwa ein Dutzend Fotografien beigefügt, die gelinde ge sagt berechtigte Zweifel am seelischen Charakter dieser Freundschaften aufkommen ließen. Außer dem waren hier detaillierte Rapporte verschiede ner Damen und Herren zu finden, die zweifellos schon vor der amourösen Liaison mit einem der Ehepartner gekauft worden waren. Mit diesen miesen Figuren verglichen, war der Oberst Trutz von Hoffmannsau in der Tat ein lauterer und ge radliniger, wiewohl ausgesprochen dümmlicher Charakter zu nennen, sagte sich Aphrodite, als sie schließlich die Nase in das entsprechende Dossier steckte, aber genutzt hatte ihm das am Ende auch nichts. Das junge Mädchen schob die kostbaren Papie re zusammen und verstaute sie in der Innenta sche ihrer Lederjacke. Alsdann wandte sie sich einer noch verbliebenen dickbäuchigen Akte zu, die vornehmlich Durchschläge von Geschäftsbrie 193
fen der Europäischen Bewegung für die Monarchie enthielt. Es waren in der Mehrzahl stereotyp for mulierte Bittgesuche, die auf die gewaltige Arbeit der E. B. M. zwecks Restaurierung des monarchi schen Gedankens in Europa hinwiesen, worin aber auch die Schwierigkeiten nicht verhehlt wurden, die der kontinuierlichen Fortsetzung des heiligen Werkes entgegenstünden, und natürlich fehlte es hauptsächlich an Geld. Aphrodite notierte mit ei niger Verblüffung, daß sowohl Stiftungen wie Pri vatleute mit bisweilen erheblichen Summen die E. B. M. unterstützten, aber interessanterweise lag auch eine Zusage vom Christlichen Bildungswerk Nordrhein-Westfalen über eine Spende von DM 75 000 vor, die von Dr. Krafft unterzeichnet war. Der Pedipalpus Augustus wunderte sich nicht we nig, als ihm dieses Schriftstück kurzerhand als zusätzliches Sitzpolster in die Taschenhöhle ge schoben wurde. Weiterhin enthielt die Akte zahl reiche Aufträge für beinahe alle renommierten privaten Auskunfteien Westeuropas mit dem Ersu chen, bestimmte Personen ständig zu überwachen beziehungsweise ohne Ansehen von Stand und Stellung ihre Vergangenheit zu überprüfen, und es handelte sich meistens um Persönlichkeiten, die mit recht hochtrabenden Titeln ausgestattet wa ren. Übrigens waren drei oder vier Aufträge auch an die Agentur „Diskret“ ergangen, wie Aphrodite, die bekanntlich mit diesem Institut gewisse Ver bindungen hatte, belustigt konstatierte. Vergeb lich freilich suchte das junge Mädchen nach den einschlägigen Berichten der Detekteien, die wohl an anderer Stelle aufbewahrt wurden. Nach kur 194
zem Nachdenken entschloß sich Aphrodite, die umfängliche Akte wieder im Safe zu deponieren. Sie vergaß indessen nicht, vorher einige ihr wich tig vorkommende Belege herauszureißen und in ihrer Tasche von Augustus bewachen zu lassen, und darunter befand sich auch ein Schreiben, das in ganz besonderem Maß ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Kaum hatte das junge Mädchen den Safe ge schlossen und den venezianischen Spiegel wieder ordnungsgemäß davor plaziert, als das Schlangen-Hännesje mit dem Ruf „‘raus hier!“ das Hin ternschütteln ausgerechnet bei einem aufregend rhythmischen Watussi abrupt abbrach und schnell wie ein Wiesel aus dem Zimmer verschwand. Er hatte in der Eile sogar vergessen, das kleine Radio ab- und wieder an seinen Platz zu stellen, wohl in der richtigen Annahme, daß Aphrodite das ohne dies besorgen würde. Als die Klänge des Watussi jäh verstummten, hörte auch Aphrodite, wie auf der Straße ein offenkundig sehr bierseliges Pär chen aus tiefstem Herzensgrund „Humba-HumbaTäterä“ grölte, was nach der getroffenen Verein barung nur bedeuten konnte, daß der Vicomte im Anmarsch war. Aphrodite bedankte sich still beim Zitter-Hermännche und dem Nato-Jettchen und trat seitwärts an das französische Fenster heran. Sie kam gerade noch zurecht, um den Cadillac des Vicomte vorfahren zu sehen. Es war also höchste Zeit. Sie hatte eben erst die Türklinke des Arbeitszimmers in der Hand, als unten im Hausflur schon die Tür ins Schloß fiel und der sonore Baß des Vicomte aufklang, der sich offenbar in Beglei 195
tung befand. Vielleicht hätte das junge Mädchen noch entkommen können, wenn der Vicomte im Erdgeschoß geblieben wäre, wo der Salon, die Bi bliothek, das Schlafzimmer und eine moderne Kü che lagen. Unglücklicherweise stiegen der Vicomte und sein Besucher jedoch sofort die Treppe hin auf, die ins Arbeitszimmer führte, das die ganze erste Etage einnahm. Schnell entschlossen reti rierte Aphrodite zur Portiere, die den Zugang zum geräumigen Wandschrank verdeckte, und wenige Sekunden später war sie in dem nachgerade be stialisch mit Russisch-Leder geschwängerten Mö bel verschwunden. Der Aufenthalt des jungen Mädchens hinter der Biedermeiertapete strafte das alte Sprichwort durchaus der Lüge, wonach der Lauscher an der Wand die eigene Schand’ zu hören bekomme, ob wohl es in der Tat schändlich herging. Der Beglei ter des Vicomte war nämlich niemand anderer als Dr. Nepomuk Krafft, wie Aphrodite, die einen Zoll weit die Wandschranktür offengelassen und einen waghalsigen Blick riskiert hatte, nicht ohne Inter esse bemerkte. Auf Elogen eingestimmt war der vormalige Leichenredner diesmal freilich nicht. Er war vielmehr sehr rauhbauzig und schroff. „Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung von Ihnen, Vicomte“, sagte er. „Und der Teufel wird Sie holen, wenn Sie dazu nicht in der Lage sind. Haben Sie was zu trinken?“ „Selbstverständlich. Kognak, Whisky, Wodka, Gin?“ „Gin, wenn ich bitten darf.“ 196
Erst nach längerer Pause vernahm Aphrodite wieder die Stimme Kraffts. „Was ist mit der Erklärung, Vicomte?“ „Erklärung, Erklärung…“, sagte der Vicomte ausweichend. „Woher soll ich wissen, wo das Geld geblieben ist? Ich habe keinen Heller davon gese hen.“ „Mag sein“, sagte Krafft, „obwohl es mir schwerfällt, das zu glauben. Schließlich sind Sie der geschäftsführende Sekretär der Bewegung.“ „Irrtum“, antwortete der Vicomte. „Jetzt führe ich in der Tat die Geschäfte. Früher jedoch war dafür der Edle Gans von Himmelreuth zuständig. Und die Freifrau natürlich.“ „Das ist mir völlig egal“, wetterte Krafft. „Wir haben das Geld nicht der Freifrau und auch nicht ihrem Sekretär zur Verfügung gestellt, sondern der Bewegung. Mit ganz bestimmten Auflagen, wie Sie wissen. Und ich verlange Auskunft dar über, wie es verwendet wurde.“ „Vielleicht versuchen Sie es einmal auf dem Friedhof“, sagte der Vicomte, ohne sich Mühe zu geben, den Hohn in seiner Stimme zu verbergen. „Nur die Freifrau und Himmelreuth wußten, wel chem Zweck die Gelder zugeführt wurden. Und die beiden sind leider tot. Gefallen für das Abend land, wie Sie selber so schön sagten, Doktor.“ „Hören Sie, Vicomte“, sagte Krafft, „jetzt reicht’s mir. Was soll ich dem Vorstand des Bil dungswerks sagen… Daß die Gelder sich in Luft aufgelöst haben?“ „Ihre Sache“, sagte der Vicomte. „Außerdem möchte ich wissen, was der Vorstand des Bil 197
dungswerks damit zu tun hat. Gehen Sie, Krafft… Als ob Sie nicht wüßten, daß die Spenden aus dem Geheimfonds des Bundeskanzleramts stammten…“ „Ich muß doch sehr bitten!“ „… und das sogenannte Bildungswerk nur zur Tarnung diente“, fügte der Vicomte hämisch hin zu. „Hätte nie gedacht“, brabbelte Aphrodite im Schrank vor sich hin, „daß man so leicht zu Geld kommen kann. Die liebe Tante hatte es wahrhaf tig faustdick hinter den Ohren.“ „Hören wir auf mit dem Geschwätz“, sagte Krafft energisch. „Es ist völlig unerheblich, woher das Geld stammt. Von mir verlangt man auf jeden Fall Rechenschaft darüber. Ich habe die Bewe gung aus einleuchtenden Gründen als unterstüt zungswürdig empfohlen, und an mich wird man sich deshalb auch halten. Vielleicht verraten Sie mir, was ich sagen soll?“ „Was weiß ich“, sagte der Vicomte, der offen sichtlich kein Interesse für die Nöte seines Ge sprächspartners aufbrachte. „Ich kann Ihnen je denfalls nicht helfen.“ „Aber es müssen doch Bücher vorhanden sein, die man einsehen und kontrollieren kann?“ „Bestimmt“, sagte der Vicomte im Brustton der Überzeugung. „In Geldsachen war die Freifrau sehr penibel, auf mein Wort. Aber ich habe keine Ahnung, wo die Bücher sind. Ich habe nämlich keine gefunden.“ „Was?“ „Wenn ich es Ihnen sage…“ 198
„Hören Sie, Vicomte, Sie treiben den Scherz etwas zu weit.“ „Ich war noch nie so ernst, mein Verehrtester. Mir ist es zwar auch ein Rätsel, aber die Bücher sind nicht aufzufinden. Ja, wenn Tote reden könn ten…“ „Da hört sich doch alles auf.“ Aphrodite hörte Papier rascheln, und kurz dar auf fuhr Dr. Krafft fort: „Ich habe hier eine Auf stellung der Summen, die über das Christliche Bil dungswerk im Verlauf der letzten zwei Jahre an die Europäische Bewegung für die Monarchie ab geführt worden sind. Da ist erstens ein Betrag von dreißigtausend Mark, verbunden mit der Auflage, ein Ferienheim für die Söhne und Töchter verarm ter adliger Flüchtlinge aus den deutschen Ostge bieten einzurichten. Wir haben uns erkundigt, Vi comte. Bis heute gibt es ein solches Heim nicht.“ „Jaja“, sagte der Vicomte, „ich erinnere mich. Die Freifrau war tagelang in dieser Sache unter wegs.“ „Und?“ „Vergeblich, völlig vergeblich, lieber Dr. Krafft. Die Mittel reichten einfach nicht aus. Sie sind doch nicht etwa so naiv zu glauben, daß man mit drei ßigtausend Mark ein Ferienheim einrichten kann? Bei den Preisen…“ „Sie vergessen, daß die Bewegung laut Schrei ben vom fünfundzwanzigsten ersten neunzehn hundertsiebenundsechzig selber hunderttausend Mark aufbringen wollte. Nur unter dieser Voraus setzung haben wir die, wie es damals hieß, noch fehlende Summe aufgebracht.“ 199
„Möglich“, sagte der Vicomte gleichgültig. „Wahrscheinlich sind damals andere Verpflichtun gen dazwischengekommen. So was kommt überall einmal vor.“ „Und wie steht es mit den sechzigtausend Mark, die ein halbes Jahr später gezahlt wurden und die für die Herausgabe einer Zeitschrift verwendet werden sollten?“ „Sie meinen den ,Ewigen Boten der Monar chie’?“ Der Vicomte war gekränkt. „Es gehört zwar innerhalb der Bewegung nicht zu meinem Aufga benkreis, aber soviel ich weiß, ist das Blatt doch erschienen.“ „Stimmt. Ein klägliches Mitteilungsblatt von sa ge und schreibe vier Seiten Umfang. Wollen Sie vielleicht behaupten, daß das sechzigtausend Mark gekostet hat?“ „Ich bin in dieser Angelegenheit überfragt, mein Lieber. Ich halte das aber durchaus für möglich. Es mußte Papier gekauft werden, was auch nicht gerade billig ist, und zumindest ein Redakteur war schließlich auch einzustellen. Das geht doch ins Geld, was denken Sie eigentlich?“ „Ich höre immer Redakteur!“ fauchte Krafft. „In der ersten und einzigen Nummer des Boten war der auch Ihnen nicht ganz unbekannte Edle Gans von Himmelreuth als Redakteur angeführt. Der Herr muß ein geradezu phantastisches Gehalt be zogen haben. Wenigstens das müßte man den Bü chern entnehmen können.“ „Aber gewiß doch“, sagte der Vicomte. „Wenn ich bloß wüßte, wo sie sind…“ 200
„Ausreden, nichts als billige Ausreden“, bellte Krafft. „Ich bin schließlich nicht vom Jupiter. Ich kann mir schon denken, warum die Bücher ver schwunden sind…“ „Aber sie sind nicht verschwunden“, sagte der Vicomte. „Ich kann sie bloß nicht finden.“ „Möchte wissen, wo der Unterschied ist“, sagte Krafft. „Logik scheint nicht Ihre Stärke zu sein“, erklär te der Vicomte. „Soviel Logik bringe ich jedenfalls noch auf, um Sie zu fragen, Vicomte, weshalb der Bote nur einmal erschienen ist? War das Geld so schnell alle?“ „Keine Ahnung, mein Bester. Oder doch… War ten Sie. Ich glaube gehört zu haben, daß es mit den Annoncen nicht so richtig klappte. Und was ist eine Zeitung schon ohne das Anzeigengeschäft?“ „Quatsch“, sagte Krafft unfein. „Das wissen Sie so gut wie ich. Ich stelle fest, daß für die Heraus gabe einer vierseitigen Nummer angeblich sech zigtausend Mark verwendet worden sind. Das ist doch absurd…“ „Sie vergessen die nicht gerade geringen Spe sen“, sagte der Vicomte. „Ich vergesse gar nichts. Wollen Sie meine Mei nung hören? Ich glaube, daß das Gros der Summe tatsächlich für sogenannte Spesen verwendet worden ist.“ „Für einen Stadtdirektor sind Sie bemerkens wert scharfsinnig“, sagte der Vicomte munter. „Aha… Sie geben es also zu. Immerhin etwas. Und weil wir schon dabei sind, darf ich Sie wohl 201
fragen, was mit den fünfundsiebzigtausend Mark geschehen ist, die zur Unterstützung der noch un ter kommunistischer Herrschaft lebenden Mitglie der des Adels verwendet werden sollten?“ „Sehr hübsch formuliert“, sagte der Vicomte. „Soviel ich weiß, sollten mit diesem Geld gewisse Personen meines Standes, die das Unglück hat ten, sich nicht rechtzeitig absetzen zu können, moralisch gestärkt und aufgewertet werden. Auf diese Weise hoffte man gewisse schon aus finan ziellen Gründen nach Westen orientierte Keimzel len zu schaffen oder – soweit sie möglicherweise schon bestanden – zu kräftigen.“ „Das gehört nicht hierher“, sagte Dr. Krafft ab weisend. „Und wie das hierhergehört“, sagte der Vi comte. „Ich will damit nur sagen, daß auch Ihre Beweggründe, lieber Krafft, keineswegs so rein humanitärer Natur sind, wie Sie es glauben ma chen wollen.“ „Wir haben angenommen, daß wir und die Eu ropäische Bewegung für die Monarchie den glei chen Idealen und Zielen verpflichtet sind.“ „Aber das sind wir doch“, sagte der Vicomte. „Der Annahme war ich trotz mancher Zweifel bis vor wenigen Tagen auch.“ „Und heute nicht mehr?“ „Sie machen es mir sehr schwer.“ „Halten Sie uns etwa für Kommunisten? Aber, aber, lieber Krafft…“ „Unsinn“, sagte der Stadtdirektor. „An Ihrer be ziehungsweise an der Einstellung der führenden Persönlichkeiten der E. B. M. habe ich nie gezwei 202
felt. Wohl aber liegt der dringende Verdacht na he…“ „Da bin ich aber gespannt“, sagte der Vicomte. „… daß man unsere politischen Ansichten und Ziele ausnutzte, um in den eigenen Beutel zu wirtschaften.“ „Das ist eine Infamie“, brüllte mit einmal der Vicomte auf, aber es klang nicht übermäßig über zeugend. „Wie können Sie sich unterstehen…“ „Ich habe nicht von Gewißheit, sondern von ei nem Verdacht gesprochen“, sagte Dr. Krafft etwas kleinlauter. „Sie, Vicomte, können ihn sehr schnell entkräften. Sie brauchen mir nur Einblick in die Bücher zu verschaffen.“ „Selbst wenn es so wäre“, sagte der Vicomte unvermittelt wieder völlig beherrscht. „Ich kenne eine ganze Menge angesehener Geschäftsleute, die mit der Parole vom Abendland nicht schlecht in ihre Tasche wirtschaften.“ „Das will ich gar nicht bestreiten“, sagte Krafft. „Immerhin sind bei diesen Firmen aber die Bücher aufzutreiben, und mehr verlange ich nicht.“ „Damit kann ich momentan nicht dienen“, sagte der Vicomte. „Aber ich werde mich noch einmal bemühen. Das verspreche ich.“ „Sehr liebenswürdig“, sagte der Herr vom Christlichen Bildungswerk, „aber darauf kann ich bedauerlicherweise nicht warten. Ich muß Gewiß heit haben.“ „Warum plötzlich so eilig?“ „Ich muß kommende Woche meiner vorgesetz ten Behörde Bericht erstatten. Und mit den ent 203
sprechenden Belegen über die Verwendung der Spenden aufwarten können.“ „Ich verstehe“, sagte der Vicomte. „Aber ob es mir gelingt, so schnell…“ „Ich kann leider nicht mehr warten“, fiel ihm Krafft ins Wort. „Sie werden zugeben, daß ich ge nügend Langmut bewiesen habe. Es wird Sie si cherlich nicht interessieren, aber für mich steht meine Ernennung zum Oberstadtdirektor und demnächst ein Bundestagsmandat auf dem Spiel. Deshalb muß ich, leider, wie erwähnt, auf Num mer Sicher gehen.“ „Und das bedeutet?“ Der Vicomte blieb kalt wie eine grönländische Schneewehe. „Sie legen mir bis morgen mittag die fraglichen Bücher vor, Vicomte, und ich wünsche von Her zen, daß Sie Erfolg bei der Suche haben. Wenn nicht, wäre ich nämlich gezwungen, die hiesige Staatsanwaltschaft um Intervention zu bitten und das Geschäftsgebaren der E. B. M. unter die Lupe zu nehmen. Inwieweit das in Ihrem Interesse liegt, möchte ich nicht beurteilen. Verstehen Sie?“ „Ist das Ihr Ernst?“ „Mein voller Ernst.“ „Geben Sie mir wenigstens noch ein paar Tage Zeit.“ „Ganz unmöglich, Vicomte. Ich bedaure…“ „Drei Tage?“ „Ausgeschlossen. Es geht nicht. Ich würde Ih nen gern entgegenkommen, obwohl die Sache oberfaul zu sein scheint. Aber soll ich vielleicht Ihretwegen meine Laufbahn aufs Spiel setzen?“ 204
„Wenn es so ist, lieber Krafft… Da kann man nichts machen. Haben Sie sich eigentlich schon überlegt, daß nicht nur wir, sondern auch Sie ganz schön in der Klemme sitzen?“ „Nicht daß ich wüßte…“ „Nehmen wir doch einmal an, lieber Doktor, der Nachweis über die Verwendung der gespendeten Gelder ließe sich nicht erbringen.“ „Das wäre schlimm für Sie, Vicomte.“ „Möglich. Aber Sie wären erledigt, Krafft.“ „Wieso eigentlich?“ „Weil Sie die Auszahlung der fraglichen Spen den an die Bewegung befürwortet und veranlaßt haben, obwohl Sie, wie Sie selbst zugeben, Zwei fel an der Bonität des Unternehmens hatten.“ „Das ist ein fataler Irrtum, Vicomte“, sagte der CDU-Doktor wortreich und mit Betonung. „Erstens habe ich nur meine Pflicht getan, denn zu meinen Aufgaben gehört es, Persönlichkeiten, Organisa tionen oder Interessengemeinschaften zu fördern, die auf die Ideale der westlichen Zivilisation ein geschworen sind und somit kommunistischer Gleichmacherei entgegenwirken. Daß die Europäi sche Bewegung für die Monarchie auf dieser Grundlage beruht, werden Sie kaum bestreiten. Außerdem kann man es in der ominösen Nummer des ,Ewigen Boten…’ schwarz auf weiß nachlesen, ganz abgesehen, daß es in der uns vorliegenden Satzung der ,Bewegung’ verankert ist.“ „Dagegen ist nichts einzuwenden“, sagte der Vicomte. „Zweitens habe ich gewisse Bedenken hinsicht lich der politischen Effektivität der ‚Bewegung’ nie 205
verschwiegen, wenn ich sie auch lange nicht für so schwerwiegend hielt, der E. B. M. die finanziel le Beihilfe zu verweigern.“ „Nachträglich noch besten Dank“, sagte der Vi comte höhnisch. „Und drittens kann ich notfalls darauf verwei sen“, fuhr Dr. Krafft fort, „daß ich es bin, der die Untersuchung gegen Sie veranlaßt hat, nachdem die immer schon vorhandenen Zweifel sich außer ordentlich verstärkt haben. Sie sehen, mein lieber Vicomte, ich habe nichts zu befürchten. Entweder weise ich anhand der von Ihnen beizubringenden Bücher nach, daß die Investitionen zweckentspre chend angelegt und mithin gerechtfertigt waren, oder ich decke den ganzen Schwindel auf. Der Oberstadtdirektor ist mir jedenfalls so oder so si cher.“ „Auf unsere Kosten“, sagte der Vicomte. „Daß Sie sich nicht schämen…“ „Nicht die Spur“, sagte Nepomuk Krafft heiter. „Sie wissen also Bescheid, Vicomte. Ich gebe Ih nen bis morgen mittag Zeit, die Bücher vorzule gen.“ „Und wenn ich Ihnen nun gestehe, daß es diese Bücher gar nicht gibt?“ „Aber Sie haben doch eben noch…“ „Das war gelogen. In Wahrheit haben wir von der E. B. M. nie Bücher geführt.“ „Auch gelogen“, knurrte Aphrodite im Wand schrank vor sich hin. „Über die hübschen Neben einnahmen wurde sogar recht gut Buch geführt.“
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„Eingehende Spenden wurden von der Freifrau nach Belieben verwendet. Vornehmlich für sich selbst. Was sagen Sie nun?“ „Ein Skandal“, sagte Dr. Krafft nach längerer Pause und vernehmlichem Schlucken. „Ein uner hörter Betrug. Irgendwie habe ich es geahnt. Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Vicomte.“ „Das glaube ich nicht“, sagte der Vicomte kalt. „Denken Sie vielleicht, ich nehme das so ein fach hin?“ „Sie werden wohl müssen.“ „Sie sind übergeschnappt, mein Lieber. Ich werde noch heute Anzeige wegen Betrug und Un terschlagung erstatten. Mein Ehrenwort. Alles hät te ich für möglich gehalten, aber…“ „Sie werden gar nichts, Krafft“, fuhr ihm der Vi comte ins Wort. „Sie werden sich vielmehr hübsch ruhig verhalten und schweigen…“ „Das möchte ich doch mal sehen“, sagte Dr. Krafft empört, verstummte jedoch unvermittelt. „… weil Sie hier lebend nicht mehr herauskom men. Sie hergelaufener Halsabschneider“, sagte der Vicomte schneidend. „Sie sind entschieden zu weit gegangen, Krafft.“ „Machen Sie keinen Unsinn… Stecken Sie das Ding weg. So war es doch gar nicht gemeint…“ Die Stimme Nepomuk Kraffts war schrill vor Angst. „Ich mache nie Unsinn“, sagte der Vicomte. Das Crescendo dieser gleichermaßen aufschluß reichen wie seltsamen Unterhaltung hatte Aphro dite so neugierig gemacht, daß sie den Kopf aus dem Wandschrank steckte und vorsichtig die Por 207
tiere ein wenig beiseite schob, um zu sehen, was im Zimmer vor sich ging. Auf diese Weise be schäftigt, überhörte sie das allerdings kaum ver nehmbare dreimalige „Plopp“, das aus der mit ei nem Schalldämpfer versehenen Pistole des Vicomte kam und womit der vielversprechenden Karriere des Dr. Nepomuk Krafft vorzeitig ein En de gesetzt wurde. Als Aphrodite die beiden Herren ins Blickfeld bekam, sank Dr. Krafft soeben sehr tot vom Stuhl, während der Vicomte dabei war, den Schalldämpfer abzuschrauben, um ihn als dann nebst der Pistole seelenruhig wieder in sei nen Taschen zu verstauen. Ein zynisches Lächeln spielte um seinen Mund. Er ging zu dem auf der Seite liegenden Stadtdirektor, drehte ihn mit dem Fuß auf den Rücken und blickte ihn lange prüfend an. Dann nahm er den Hörer des auf dem Tee tisch stehenden Telefons ab und wählte eine Nummer, die Aphrodite unwillkürlich und rein me chanisch mitkonstruierte. Nach ihrer Berechnung handelte es sich um die Nummer 7 81 89 45. Der Vicomte mußte eine Weile warten, bis sich am an deren Ende der Teilnehmer meldete. Er sprach Französisch: „Ich bin’s, Michel…“ … „Oui, die Sache ist gelaufen, Reine…“ ,Reine?’ überlegte Aphrodite. ,Königin? Hätte nie geglaubt, daß der Kerl so devot ist…’ … „Nein, nicht so… Ich mußte ihn fertigmachen…“ …
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„Aber es ging nicht anders, glaub mir doch. Er wollte uns den Staatsanwalt auf den Hals het zen…“ … „Ja, den Staatsanwalt… Mir blieb gar nichts an deres übrig, Reine…“ … „Aber nein…“ … „Ja, mausetot…“ … „Wenn du meinst, Reine…“ … „Hier vor mir…“ … „Das weiß ich auch, daß die Leiche nicht hier bleiben kann…“ … „Das frage ich dich…“ … „Aha … „Gute Idee…“ … „Zu gefährlich, Reine. Warten wir lieber die Nacht ab…“ … „Meine Rede…“ … „In Ordnung…“ … „Was sagst du? Geld? Unsinn, der Kerl hatte nur seine Karriere im Kopf. Dabei kommt er am 209
Ende viel besser auf seine Kosten. Glaub mir, es ist besser so…“ … „Na also…“ … „Ausgezeichnet, Reine…“ … „Natürlich bin ich vorsichtig…“ … „Gut…“ … „Ich breche sofort auf…“ … „Schön…“ … „Keine Sorge….“ … „Ja, bis gleich…“ Der Vicomte legte den Hörer auf die Gabel. Aufatmend fuhr er sich mit einem feinen Spitzen taschentuch über die schweißnasse Stirn, eine Entspannungsgeste, die er mit einem erleichterten „Olala“ unterstrich. Er warf dem leblosen Dr. Krafft noch einen gehässigen Blick zu, bevor er schnellen Schrittes das Arbeitszimmer verließ, und wenig später hörte Aphrodite den Cadillac da vonbrummen. Wer freilich angenommen hat, daß das junge Mädchen nach diesen gewiß dramatischen Ereig nissen stehenden Fußes die Polizei auf den Plan rufen würde, der wurde gräßlich enttäuscht. Denn kaum dem makaberen Tatort glücklich entronnen, begab sich Aphrodite in die nächste Konditorei, 210
wo sie drei Wiener Törtchen mit Schlagsahne und riesigem Appetit vertilgte. Hauptinspektor Baller war unbestreitbar doch ein Menschenkenner: Die se junge Dame hatte wirklich so gut wie keine Nerven.
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„Wo bleibt der verdammte Kerl…“, knurrte Helmut Baller und rieb sich nervös die Nase. „Und ich dachte immer, Sie hätten Ausdauer“, sagte Aphrodite anzüglich und blickte den Inspek tor herausfordernd an. „Schon gut“, sagte Baller ergeben. „Einmal muß er schließlich kommen.“ Die beiden saßen mit noch zwei weiteren Beam ten des Dezernats IV der Kölner Polizei in einem schwarzen Mercedes, der an der Ecke Sperlingsweg-Nachtigallenstraße parkte, von wo das Haus des Vicomte de Bassecour vorzüglich zu beobach ten war. Obermeister Schmidtchen und seine Leu te hatten in ihrem Wagen am anderen Ende des Sperlingsweges Posten bezogen. Sie alle warteten seit gut zwei Stunden auf den Vicomte, der sich jedoch Zeit ließ. Es war unterdessen stockdunkel geworden. Aphrodite unterdrückte mühsam ein Gähnen, aber es wäre vermessen zu behaupten, daß nur sie allein von bleierner Langeweile ge packt worden wäre. Nun ist es keineswegs selbstverständlich, son dern eigentlich gänzlich außerhalb der Regel, daß eine unter Mordverdacht stehende Person mit dem die Fahndung nach ihr leitenden Inspektor verträglich plaudernd im Auto sitzt, aber es grenzt schon ans Wunderbare, wenn dieser Inspektor Helmut Baller heißt. Tatsächlich hatte es einigen Wirbel und manche Überraschung für den Inspek tor gegeben, bevor er den bisher mit seltener 212
Sturheit eingeschlagenen Holzweg verließ, und natürlich war es Aphrodite gewesen, die seine Spürnase in eine andere Windrichtung gedreht hatte. Um das zu bewerkstelligen, hatte sich das junge Mädchen nicht etwa einen detaillierten Plan zurechtgelegt, wiewohl sie gewisse Effekte durch aus einkalkuliert hatte. Sie ging allenfalls von ei ner für anspruchsvolle Charaktere nachgerade banalen und sozusagen entomologischen Überle gung aus. Ihrer Gewohnheit entsprechend, hatte sie nämlich Helmut Baller längst ins Reich der In sekten versetzt und ihn mit einem Ameisenlöwen verglichen, der bekanntlich abwartend in seinem Sandtrichter hockt und darauf wartet, daß ihm die schlitternden Ameisen in die Beißer kullern. Viel anders hatte sich der Hauptinspektor bei der Auf klärung der anstehenden Mordfälle bislang auch nicht verhalten: Er hatte blitzschnell ergriffen, was zufällig in die Sandgrube seines Apparats ge riet, und das war zu ihrem Pech Aphrodite gewe sen. Sie konnte eigentlich noch von Glück sagen, daß Baller sie zunächst einmal für ungenießbar befunden und gewissermaßen wieder über den Rand des Trichters befördert hatte, wie das sein Pendant in der Insektenwelt ebenfalls in solchen Fällen zu halten pflegt. Und das junge Mädchen war außerdem der zwar despektierlichen, indes der Wahrheit recht nahe kommenden Meinung, daß der Horizont des Inspektors schwerlich über den eigenen Sandtrichter reichen dürfte, wie das bei Ameisenlöwen nun einmal naturgegeben ist. Mithin war es bloß erforderlich, dem Hauptinspek tor einen fetten Happen in besagten Sandtrichter 213
zum Fraß vorzuwerfen, und der Vicomte de Bas secour schien Aphrodite für diese gewiß opferrei che Rolle wie geschaffen zu sein. Hierzu mußte sie freilich erst einmal selber in den Trichter des Ameisenlöwen, will sagen in die Amtsräume Hel mut Ballers, wenn auch auf die Gefahr hin, dies mal als willkommener Imbiß betrachtet zu wer den. Folglich war sie gehalten, dem Inspektor zunächst einmal den Appetit zu verleiden, und sie sagte sich, daß es doch mit dem Teufel zugehen müsse, wenn ihr das nicht gelingen sollte. Im merhin hatte sie inzwischen viel Interessantes an zubieten… Helmut Baller war so verdattert, daß es ihn förmlich vom Stuhl fegte, als Aphrodite unvermit telt und unangemeldet in seinem Büro erschien, und man geht gewiß nicht fehl in der Annahme, daß sie diesen Überfall ganz bewußt in Szene ge setzt hatte. Es wäre ihr schließlich ein leichtes gewesen, den Inspektor vorher telefonisch zu ver ständigen, zumal sie nach der Kuchenorgie in der Konditorei unverzüglich ein Postamt aufgesucht und dort mehrere recht aufschlußreiche Gesprä che, darunter sogar eines mit ihrem Vater, ge führt hatte. Sie hatte auch nicht vergessen, sich mit allerdings verstellter Stimme per Telefon zu vergewissern, ob die adligen Tagediebe noch voll zählig in der Villa des Conde della Scala versam melt waren. Sie war durchaus zufrieden, als der bullige Butler ziemlich barsch erklärte, darüber könne er keine Auskunft geben, was nach Sachla ge der Dinge nur bedeuten konnte, daß die Blaublut-Runde immer noch beisammen war. Erst da 214
nach war sie auf vielen Neben- und Umwegen und vorsichtshalber ständig mit dem flaggengroßen Taschentuch vor dem Gesicht wedelnd zum Poli zeipräsidium geschlichen, was natürlich sehr um ständlich, aber immer noch besser war, als in letzter Minute festgenommen zu werden. Erst im Präsidium angekommen, fühlte sie sich parado xerweise wieder sicher, weil sie sich nicht von un gefähr sagte, daß man sie an diesem Ort am al lerwenigsten vermuten würde. Also betrat sie strahlend die Amtsstube Helmut Ballers, der bei ihrem Anblick eher einem verdutzten Kaninchen als einem Ameisenlöwen ähnelte, wie der Wahr heit halber festgestellt werden muß. Auch Ober meister Schmidtchen, der wie üblich um seinen Vorgesetzten herumlungerte, blieb vor Staunen der Kaugummi im Hals stecken, und aus Versehen hätte er sich obendrein noch fast neben den Stuhl gesetzt, den er zwecks Erhaltung seines gestörten Gleichgewichts offenbar dringend benötigte. Das junge Mädchen konnte mithin zufrieden sein: Ihr überraschender Auftritt war ein voller Erfolg. Das anschließende Wortgerangel mit Helmut Baller verlief vielleicht aus diesem Grunde harm loser, als Aphrodite insgeheim gehofft hatte, wie wohl der Inspektor, vom Himmel der Verblüffung wieder auf den ungebohnerten Büroboden herun tergeholt, sich eingangs von bis auf die Knochen fressender Voreingenommenheit zeigte, hierin dem Sandtrichterbewohner wiederum ziemlich ähnlich. Er verzichtete zwar darauf, die junge Französin in Handschellen legen zu lassen, wie der überängstliche Schmidtchen ihm empfahl, weil 215
er sich nach quälendem Nachdenken sagte, Aphrodite habe sich schließlich selber gestellt. Vorsichtshalber beorderte er jedoch zusätzlich noch zwei Polizisten ins Zimmer. Und er bestand darauf, daß Augustus, dem Ballers erste Frage galt, mitsamt seiner handlichen LederjackenWohnung in einem Nebenzimmer unter strenger Bewachung sozusagen abgelegt wurde. Erst dann geruhte er seine Aufmerksamkeit voll dem jungen Mädchen zuzuwenden, das er mit einer Handbe wegung zum Sitzen aufforderte, und in seiner Stimme schwang sogar so etwas wie ein väterli cher Unterton mit, als er sagte: „Sehr vernünftig, Mademoiselle, daß Sie freiwillig kommen. Früher oder später erwischen wir nämlich jeden.“ „Reden Sie kein Blech“, erwiderte Aphrodite ab sichtlich grob und machte es sich auf dem ihr schon bis zum Überdruß bekannten klapprigen Stuhl bequem. „Spitzen Sie lieber die Lauscher, Inspektor. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.“ „Nichts lieber als das“, sagte Baller entgegen kommend und versuchte entsprechend dreinzu schauen, weil er in dem gleichwohl verzeihlichen Irrtum befangen war, Aphrodite wolle endlich mit dem lang ersehnten Geständnis herausrücken. „Machen Sie sich Luft, das erleichtert ungemein, Fräulein. Wir haben so unsere Erfahrungen.“ Obermeister Schmidtchen begleitete diese Be merkung des Dezernatschefs mit begeistertem Kopfnicken. Statt einer Antwort legte Aphrodite dem irritiert zwinkernden Hauptinspektor stumm den Durch schlag eines Geschäftsbriefes auf den Schreib 216
tisch, den sie zusammen mit anderen Schriftstük ken vor ein paar Stunden gewissenlos aus der Ak te der Europäischen Bewegung für die Monarchie gestohlen hatte. Sie nickte dem zögernden In spektor aufmunternd zu. „Was soll ich damit?“ fragte Baller. Er hielt sei nen aufsteigenden Unmut heroisch im Zaum, weil man, wie er jüngst aus einem Vortrag des zustän digen Polizeipsychologen erfahren hatte, geständ nisbereite Täter nicht überschroff anfassen soll. „Lesen“, sagte Aphrodite lakonisch. Helmut Baller dachte an die Psychologie und tat dem jungen Mädchen den Gefallen, faltete jedoch wenig später das Schreiben achtlos zusammen. „Ich möchte nicht hoffen, liebes Kind“, sagte er geduldig, „daß Sie schon wieder anfangen, sich lustig zu machen.“ „Wo denken Sie hin…“, antwortete Aphrodite. „Ich will Ihnen ganz im Gegenteil helfen, die frag lichen Mordfälle aufzuklären.“ „Das ist ein Wort“, sagte Baller. „Also dann packen Sie mal aus.“ „Ich bin schon dabei“, versicherte Aphrodite. „Aber wir werden keinen Schritt vorankommen, wenn Sie den Brief nicht genau lesen, Inspektor.“ Der Hauptinspektor seufzte tief auf. „Also gut!“ sagte er. „Obwohl ich nicht sehe, was ein ganz normaler Geschäftsbrief mit dem Fall zu tun haben soll. Hier bedankt sich die Frei frau, also Ihre Tante, namens der Europäischen Bewegung für die Monarchie für eine Spende von zehntausend Mark. Und zwar beim Bund der Ver einigten Yoghurthersteller Deutschlands. Auch 217
wird die Bitte der Yoghurthersteller nach Überlas sung eines Adelswappens als Markenzeichen wohlwollend zu prüfen versprochen. Das ist alles. Völlig normal, wie gesagt.“ „Na ja“, sagte Aphrodite zweifelnd, „vielleicht läßt sich das Geschäft mit geadeltem Yoghurt wirklich besser an. Aber das meine ich gar nicht. Schauen Sie doch mal nach dem Datum, Inspek tor.“ Helmut Baller nahm das Blatt noch einmal auf. „Erster Juni neunzehn…“, sagte er prompt. „Sehr richtig. Und wer hat den Brief unter schrieben und den Durchschlag abgezeichnet? Na?“ Hauptinspektor Baller starrte eine ganze Weile wie hypnotisiert auf das Papier, bevor er es schwungvoll auf den Schreibtisch zurückwarf und sich mit beiden Händen in die Haare fuhr, was bei ihm immer ein Anzeichen höchster Ratlosigkeit war. „Das ist doch nicht möglich“, sagte er. „Doch“, sagte Aphrodite mit Genugtuung. „Der Brief trägt die Unterschrift der Freifrau, die auch den Durchschlag wie üblich mit der Abkürzung mfhb abzeichnete: Marguerite Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn. Und eigenhändig, wie es aussieht.“ „Aber das ist doch Blödsinn“, fuhr Helmut Baller auf. „Am ersten Juni war die Freifrau mausetot. Ich habe sie selbst gesehen. Daran ist nichts zu deuteln…“ „Ich weiß“, sagte Aphrodite. „Sie ist laut Ob duktionsbefund in der Nacht vom neunundzwan 218
zigsten auf den dreißigsten Mai getötet worden. Andererseits hat sie jedoch am ersten Juni noch einen Brief geschrieben und abgezeichnet.“ „Vorausgesetzt, der Brief ist echt“, sagte Hel mut Baller. „Er ist echt“, sagte Aphrodite. „Um das heraus zufinden, braucht man schließlich nur bei diesen Yoghurtfritzen in Karlsruhe anzurufen. Was ich übrigens schon getan habe, Inspektor. Der Brief ist dort am dritten Juni morgens eingegangen. Mit der Unterschrift der Freifrau. Das können Sie leicht überprüfen.“ „Stimmt“, sagte der Hauptinspektor, der Ober meister Schmidtchen einen Wink und das Schrei ben gab, worauf dieser vorbildliche Untergebene im Eiltempo aus dem Büro verschwand, wiewohl anzunehmen war, daß er hinter der zugeschlage nen Tür die eingeschlagene Geschwindigkeit er heblich begrenzen würde. Aphrodite lächelte. Sie war sehr zufrieden. „Wir werden bald Bescheid wissen“, fuhr der In spektor an das junge Mädchen gewandt fort. „Ver raten Sie mir inzwischen, wo Sie den Wisch ei gentlich herhaben?“ „Gefunden“, log Aphrodite kaltschnäuzig, die diese Frage erwartet hatte. Helmut Baller blickte sie beinahe mitleidig an. „Erzählen Sie das gefälligst Ihrem Skorpion“, sagte er. „Gefunden ist vielleicht nicht der richtige Aus druck“, räumte das junge Mädchen bereitwillig ein. „Aber Sie erinnern sich doch sicherlich auch noch an das vom Vorstand der sogenannten Be 219
wegung für die Freifrau veranstaltete Leichenge lage, nicht wahr?“ „Und wie“, sagte der Inspektor. „Der vierte Mord innerhalb weniger Tage…“ „Sehr richtig“, bestätigte Aphrodite und schloß einen Augenblick lang trauernd die Augen. „Der arme Graf von Hasenthal… Die Aufregung können Sie sich gewiß vorstellen, die sein plötzlicher Tod verursachte. Und bei dieser Gelegenheit hat er das Schreiben verloren.“ „Wer?“ „Der Vicomte de Bassecour natürlich. Ich saß neben ihm.“ „Und Sie haben es einfach eingesteckt?“ „Sollte ich es vielleicht liegenlassen? Der Vi comte war anderweitig beschäftigt. Er bemühte sich um den Grafen. Was blieb mir anderes üb rig?“ „Beispielsweise das Schreiben dem Vicomte zu rückzugeben“, sagte Helmut Baller strafend. „Aber ich bin doch entführt worden“, sagte das junge Mädchen entschuldigend und sah mit Ver gnügen, wie Helmut Baller vor ungläubigem Stau nen den Mund weit aufriß. Die nächste Viertel stunde schluckte, schnaufte und stöhnte er noch mehrmals vernehmlich, während er sich Aphrodi tes freilich nicht gerade auf Vollständigkeit be dachten Bericht anhörte. So unterschlug sie einstweilen das großangelegte Erpressungsge schäft der Freifrau und ihrer Kumpane, weil sie sich mit richtigen Gespür sagte, daß man dem In spektor unmöglich alles auf einmal zumuten kön ne. Hier war ganz im Gegenteil vorsichtige Dosie 220
rung am Platz. Statt dessen rückte sie den Vi comte de Bassecour eindrucksvoll in den Vorder grund, der, wie sie erläuterte, den Obersten zur Entführung angestiftet habe. Und damit die Er pressungen wenigstens nicht ganz aus dem Blick feld gerieten, gab sie ohne weiteres das Motiv der Entführung wahrheitsgemäß an. Helmut Baller war von der Erzählung des jungen Mädchens so erschüttert, daß er nur mechanisch mit dem Kopf nickte, als Obermeister Schmidtchen polternd zu rückkehrte und stramm die unbezweifelbare Echt heit des fraglichen Schreibens meldete. Offenbar drang die Bedeutung dieser Mitteilung nicht ganz in Helmut Ballers Bewußtsein, denn er blieb hart näckig beim vorigen Thema: „Entführung…“, sagte er. „Erpressung… Auch das noch… Ich hoffe in Ih rem Interesse, daß Sie Ihre Behauptungen bewei sen können…“ „Ich weiß nicht“, sagte Aphrodite skeptisch. „Es kommt darauf an, ob man Valentin Kalbe zum Reden bringen kann. Ich halte es allerdings für möglich, daß er lieber schweigt. Niemand belastet sich gern selber.“ „In diesem Fall ist Ihre ganze Entführungsge schichte keinen Pfifferling wert“, sagte Helmut Baller. „Vielleicht ist sie überhaupt nur eine Erfin dung.“ „Eben“, erklärte das junge Mädchen ungerührt. „Darüber bin ich mir im klaren.“ „Dann wäre es besser gewesen, Sie hätten überhaupt nicht davon angefangen“, knurrte Hel mut Baller. 221
„Sie vergessen, daß Sie mich fragten, warum ich das bewußte Schreiben dem Vicomte nicht zu rückgegeben habe, Inspektor. Ich habe also nur Ihre Frage beantwortet.“ „Richtig“, sagte Baller und schlug sich an die Stirn. „Der Brief… Was soll man davon nun wieder halten?“ „Ganz einfach“, sagte Aphrodite. „Es gibt näm lich zwei Möglichkeiten. Entweder lebte die Frei frau am 1. Juni noch…“ „Unsinn“, sagte Baller. „Ich weiß verdammt gut, wer tot ist und wer nicht.“ „… oder jemand hat sich hinter ihrem Namen versteckt und ihre Unterschrift gefälscht“, fuhr das junge Mädchen fort. „Schon eher möglich“, brummte der Inspektor. „Wie Sie meinen“, sagte Aphrodite bereitwillig. „Wer jedoch könnte an einer solchen Fälschung Interesse haben? Und wer kennt sich immerhin so gut im Sekretariat der ‚Bewegung’ und ihrem Ge schäftsgebaren aus, um eine derartige Fälschung überhaupt zustande zu bringen?“ Aphrodite schob die herabgerutschte Nickelbril le wieder auf die Nase und musterte verstohlen den offenbar mühsam nachdenkenden Hauptin spektor. Vor Anstrengung traten die Adern an sei nen Schläfen hervor. „Hm…“, sagte er nach einer Weile. „Tja, eigent lich deutet alles auf den Vicomte de Bassecour hin. Obwohl das natürlich schwer vorstellbar ist…“ „Gewiß, gewiß“, sagte Aphrodite. „Aber Sie ha ben, wie mir scheint, den Nagel doch auf den Kopf 222
getroffen, Inspektor. Phantastisch… Eine großarti ge Leistung…“ „Wieso?“ fragte Helmut Baller dümmlich. „Wo von sprechen Sie eigentlich?“ „Von Ihnen natürlich“, antwortete Aphrodite di plomatisch. Sie war zwar dabei, den Inspektor gewissermaßen um seine detektivischen Gebüh ren zu prellen, durfte ihn das jedoch nicht merken lassen. „Haben Sie nicht eben auf den Vicomte hinge wiesen? Und das ist doch in der Tat sehr einleuch tend“, fuhr das junge Mädchen fort. „Finden Sie…“ Der Inspektor war irgendwie ge schmeichelt. „Aber ja…“, sagte Aphrodite. „In wessen Besitz war der Durchschlag des Briefes? Wer ist mit der Arbeit der ,Bewegung’ vertraut wie niemand sonst nach dem Tod der Freifrau und ihres Sekretärs? Wer führt heute die Geschäfte? Auf alle diese Fra gen gibt es nur eine Antwort: Der Vicomte de Bassecour…“ „Aber ich sehe kein Motiv für die Fälschung“, sagte Baller verzweifelt, der sich immer weniger zurechtfand. „Was für ein Interesse sollte der Vi comte haben?“ „Vergessen Sie bitte nicht, Inspektor, daß ein großer Teil der Spenden der Freifrau persönlich zur Verfügung gestellt wurde. Und es ging biswei len um erhebliche Summen. Ist das nicht verlok kend?“ Insgeheim verwünschte das junge Mädchen den langsamen Verstand Helmut Ballers, wodurch sie gezwungen wurde, mit immer neuen und wenig 223
stens plausibel klingenden Erklärungen aufzuwar ten, Erklärungen, von denen sie selbst übrigens kein Wort glaubte. „Das wäre immerhin möglich…“, räumte Baller ein. „Und wenn ich mir noch eine Bemerkung erlau ben darf“, sagte Aphrodite, „so scheint mir, daß der Vicomte auch ein handfestes Interesse an der Beseitigung der Freifrau und ihres Sekretärs ge habt haben könnte. Auf diese Weise war er näm lich in der Lage, alle Spenden ungestört einzu heimsen, die entweder direkt an die Freifrau oder an diese seltsame ‚Bewegung’ gingen.“ Helmut Baller schüttelte energisch den Kopf. „Das ist aber verteufelt weit hergeholt“, sagte er. „Der Vicomte und Mord? Ausgeschlossen. Mög lich, daß er gewissen Versuchungen erlegen ist… Das kommt schließlich überall vor. Aber Mord? Was denken Sie sich eigentlich?“ „Was das betrifft“, sagte Aphrodite, „ich bin nicht die einzige, die so denkt. Da müßten Sie erst einmal hören, was seine lieben Standesbrüder und -schwestern von ihm halten. Olala, das ist nicht von Pappe, mein Wort darauf.“ „Können Sie das vielleicht näher erläutern?“ „Aber gern, Inspektor. Sehen Sie, die betref fenden Herrschaften sind beispielsweise davon überzeugt, daß der Mord an Trutz von Hoffmanns au auf das Konto des Vicomte geht. Und sie haben dafür, soviel ich weiß, gute Gründe, was in diesen Kreisen nicht gerade häufig vorkommt.“ Obermeister Schmidtchen schnappte bei diesen Worten empört nach Luft, so wie er ohnedies bei 224
jeder Gelegenheit zu verstehen gab, daß er das lange Gespräch mit Aphrodite als unnütze Be schwer betrachtete. Freilich nahm er sich beim Anblick seines Chefs gleich wieder an die Kandare, denn Helmut Baller schien eher neugierig als ab weisend zu sein. Vielleicht war er auch bereits so durcheinander, daß er nach jedem Strohhalm griff. Jedenfalls hörte er sich geduldig an, was das junge Mädchen über den Vicomte de Bassecour in der Villa des Conde della Scala erfahren hatte, wobei sie wiederum die Erpressungen en gros un erwähnt ließ. Irgendwie hatte sie das Empfinden, daß sich ihr Schweigen noch einmal auszahlen würde. Zum Ausgleich gab sie jedoch fast wortge treu wieder, was Valentin Kalbe vom vereinbarten Rendezvous des Vicomte mit dem Obersten be richtet hatte, und sie fügte hinzu, daß sie eigent lich keinen Grund sehe, weshalb Kalbe diese Aus sage nicht auch zu Protokoll geben sollte. Allerdings werde man die adligen Damen und Her ren wohl nachdrücklich bitten müssen, dem ge treuen Valentin, den sie offenbar in der Nachfolge des Obersten als ihren gemeinsamen Domestiken betrachteten, Sprecherlaubnis zu gewähren. Das scheine ihr indes kein unüberwindliches Hindernis zu sein, fügte das junge Mädchen maliziös hinzu. Befriedigt nahm sie zur Kenntnis, daß Helmut Bal ler auf diesen scheinbar absichtslos hingeworfe nen Köder überraschend schnell anbiß. Dem ir gendwie zwischen Aktendeckeln eingezwängten Denken des Hauptinspektors kam die Idee mit dem Protokoll sicherlich gelegen. Und die Aus sicht, vermittels eines solchen Protokolls etwas 225
Solides in die Hand zu bekommen, mußte ihm wahrhaftig verlockend erscheinen, denn momen tan befand sich sein Gehirn in einer Verfassung, die man nur noch chaotisch nennen konnte. Aphrodite war nicht im geringsten überrascht, daß man sie in der Villa des Conde della Scala, wo die Herrschaften noch immer wie verschüchterte Mäuse beisammenhockten, ohne jede Begeiste rung empfing, als sie eine halbe Stunde später dort zusammen mit Helmut Baller und einer an gemessenen Schutztruppe eintraf. Dementspre chend zeigte anfangs niemand Neigung, mit An gaben über den Vicomte de Bassecour hinter dem Berg hervorzukommen, und auf einen Wink des Conde hüllte sich auch Valentin Kalbe, der inzwi schen wieder in einer Livree steckte und mit sau rer Miene Likör reichte, gravitätisch in Schweigen. Nach mehreren vergeblichen Anläufen, wenig stens einen aus der adligen Runde zum Sprechen zu bewegen, war der Inspektor drauf und dran aufzugeben, und insgeheim schalt er sich selbst einen Idioten, weil er auf das Geschwätz Aphrodi tes hereingefallen war. Was Obermeister Schmidt chen von der Sache hielt, war unschwer von sei nem Gesicht abzulesen: Er überlegte offensichtlich, was er mit Aphrodite alles anstellen werde, wenn er sie nach diesem ergebnislosen Ausflug in die Finger bekäme. Das junge Mädchen hingegen amüsierte sich köstlich. Selbstverständ lich hatte sie von vornherein damit gerechnet, daß sie dem anscheinend total versiegten Redebedürf nis der versammelten Adelsclique etwas nachhel fen mußte. Helmut Baller, der sich schon eine ge 226
raume Weile weidlich abrackerte, auf seine Fragen jedoch nur einsilbige und nichtssagende Antwor ten erhielt – Helmut Baller also staunte nicht schlecht, als Gerlinde von Schnepfenfuß unvermit telt ihre Redeschleusen öffnete, obwohl Aphrodite völlig zusammenhanglos lediglich einen gewissen robusten Stallknecht und dessen Sprößling er wähnt hatte. Ihr schloß sich Fürst Tscherwenkow auffallend schnell an, nachdem das junge Mäd chen ihn gefragt hatte, ob er nicht auch meine, daß Tagebücher unter Umständen einen hohen dokumentarischen Wert besäßen. Der Conde della Scala zeigte sich ebenfalls und wie aus heiterem Himmel als ein höchst mitteilsamer Mann, freilich erst auf die unschuldige Frage Aphrodites, ob er nicht zufällig einen Mann namens Mario Spinella kenne. Daraufhin sahen auch die übrigen Damen und Herren keine Veranlassung mehr, länger das Schweigen zu üben. Und sie drängten jetzt förm lich den getreuen Valentin, doch endlich den Mund aufzumachen. Hauptinspektor Baller verfolgte die sen Wandlungsprozeß mit gleichermaßen aufrich tiger wie neidischer Bewunderung, wenn er sich auch partout nicht erklären konnte, was hier ei gentlich vorging. Gleichviel: Auf diese Weise bekam der Inspek tor aus erster Hand bestätigt, daß der Vicomte de Bassecour sich tatsächlich mit dem Obersten zu einem nächtlichen Stelldichein im Grüngürtel ver abredet hatte, und als fähiger Beamter konstatier te er auch sofort die ungefähre Übereinstimmung zwischen der Tatzeit und der beiderseits verein barten Stunde. Man verschwieg ihm auch nicht, 227
daß dem plötzlichen Tod des Grafen von Hasen thal eine heftige Auseinandersetzung mit dem Vi comte vorausgegangen war, wiewohl sich Fürst Tscherwenkow, der diese Aussage machte, hüte te, den Anlaß des Streits, also die fortlaufenden Erpressungen, zu erwähnen, wozu er sich mit ei nem flehenden Blick das schweigende Einver ständnis Aphrodites einholte. Und als die anderen bemerkten, daß auch das junge Mädchen offen sichtlich dieses heiße Eisen nicht anfassen wollte, sahen sie erst recht keinen Grund, die Erpressun gen ins Gerede zu bringen. Bei einigen ließ Aphrodites Verhalten sogar die Hoffnung aufkei men, daß sie aus irgendwelchen Erwägungen her aus gesonnen war, gänzlich Gras über diese Affä ren wachsen zu lassen, aber das sollte sich später, jedenfalls was die einschlägigen Verbre chen betraf, als ein gründlicher Irrtum herausstel len. Einstweilen jedoch bedankte man sich bei Aphrodite mit immer neuen Beschuldigungen und Bezichtigungen des Vicomte de Bassecour. Hier von mochte vieles bloßes Hirngespinst oder doch nichts weiter als gehässige Vermutung sein, wenn etwa der Conde della Scala die ständige Rivalität zwischen dem Edlen Gans von Himmelreuth und dem Vicomte erwähnte und anhand einiger frap panter Exempel belegte, woraus er messerscharf schloß, daß nur der Vicomte als Mörder der Frei frau und ihres Sekretärs in Betracht komme. Mit einer wichtigen und bislang auch dem jungen Mädchen unbekannten Nachricht rückte jedoch schließlich die Duchesse de Moumou heraus. Sie war nämlich am Abend des 29. Mai zufällig, wie 228
sie versicherte, am Haus der Freifrau vorbeigefah ren, und sie könne es auf ihren Eid nehmen, daß sie bei dieser Gelegenheit den Vicomte de Basse cour das Gebäude habe betreten sehen. Und nach dieser Aussage hatte es Helmut Baller plötzlich so eilig, daß er sogar das Aufsetzen der verschiede nen Protokolle einem Untergebenen überließ und sofort aufbrach. Aphrodite unterdrückte mühsam ein hämisches Grinsen. Helmut Baller änderte, wie man weiß, eine ein mal gefaßte Meinung gewiß nicht schnell, ja er pflegte mit verbissener Einfalt bis zum letzten auf seinem Standpunkt zu beharren. Aber wenn er seine Ansicht unter dem Druck von Tatsachen oder angesichts einer Flut von Indizien ändern mußte, so tat er es radikal, ohne an seine ver gangenen Irrtümer noch einen Gedanken zu ver schwenden. Mithin war es ihm völlig entfallen, daß er Aphrodite einmal im Verdacht gehabt hatte, als er auf ihre Frage, weshalb man eigentlich wie von Sinnen und unter infernalischem Sirenengeheul durch die Straßen Kölns rase, von oben herab entgegnete, er verschwende nicht gern Zeit, wenn er einen hundsföttischen Mörder zu verhaften ha be. Immerhin stehe er, Hauptinspektor Baller, nach langer Arbeit und vielerlei Mühe vor dem Ab schluß seines bisher größten Falles, und einen sol chen Erfolg könne er weiß der Himmel gebrau chen, denn oben habe man ihm das Versagen beim Fang des weißen Wals so recht noch nicht vergeben. Und jetzt habe er genügend Beweise in der Hand, um den Vicomte de Bassecour der stra fenden Gerechtigkeit zuzuführen, denn es gebe 229
wohl keinen Zweifel mehr darüber, daß er und niemand sonst die Blaublut-Morde auf dem Ge wissen habe. Aphrodite hielt es nunmehr für gera ten, eine gewisse Skepsis an den Tag zu legen, und zwar in der, wie sich zeigen sollte, nicht un begründeten Hoffnung, den Inspektor noch mehr wider den Vicomte einzunehmen. Tatsächlich bau te Helmut Baller auch sofort ein ganzes Gebäude teils sinnfälliger, teils allerdings auch ziemlich ab surder Argumente gegen den kleinen Franzosen auf. Vielleicht hatte er so unrecht nicht mit der Behauptung, daß der Mörder des Obersten wahr scheinlich auch die nachträglichen Schüsse auf den Edlen Gans von Himmelreuth und die Freifrau abgegeben habe, denn in beiden Fällen sei eine Mauser Kaliber 7,90 benutzt worden. Aus diesem Umstand jedoch wiederum abzuleiten, daß der Schütze zwangsläufig auch der Giftmörder sein müsse, wie der Inspektor es tat, war für Aphrodi tes Geschmack etwas vorschnell gedacht. Ent schieden zu weit ging Baller jedoch nach den Be griffen des jungen Mädchens mit der Vermutung, daß der Vicomte unmöglich ein Mann von Adel sein könne, weil ihrer ganzen Anlage nach die Morde eher auf ein primitives und brutales Gemüt hindeuteten, wie eben die sozusagen zweifache Ermordung der Freifrau und ihres Getreuen. Er, Helmut Baller, sei jedenfalls beinahe sicher, daß man es bei diesem Vicomte mit einem gewöhnli chen Hochstapler zu tun habe, dem die Freifrau und die anderen Opfer natürlich früher oder spä ter auf die Schliche kommen und die deshalb aus 230
dem Wege geräumt werden mußten. Und das sei übrigens ein geradezu klassisches Tatmotiv. Aphrodite begleitete diese beachtlichen detekti vischen Kunstsprünge des Hauptinspektors mit beifälligem Kopfnicken, was eine ziemlich an strengende Sache war, weil Baller bei dieser Be schäftigung keine Spur von Ermüdung zeigte und erst damit aufhörte, als der Wagen in den Sper lingsweg einbog. Wer wollte es ihm verdenken? Helmut Baller war glücklich, daß der Wirrwarr in seinem Kopf verschwunden und einem einzigen, klaren Gedanken gewichen war, und das war ak kurat die Verfassung, die für sein Wohlbefinden lebenswichtig war. Aphrodites Überlegungen hin gegen schweiften in eine ganz andere Richtung: Sie sah im Geist einen Ameisenlöwen vor sich, der sich anschickte, über das ihm zum Fraß vorgewor fene Opfer blutgierig herzufallen, und sie hatte keinen Anlaß, die aufsteigende Schadenfreude zu unterdrücken. Kurz vor Mitternacht endlich bog der protzige Cadillac in den Sperlingsweg ein und hielt wenig später vor dem Haus des Vicomte. Mit sanfter Gewalt hielt Aphrodite den Hauptinspektor zurück, der sofort aus dem Wagen stürzen wollte: „Ruhe, Inspektor“, sagte sie. „Sie sehen doch, daß er nicht allein ist.“ Tatsächlich stieg noch ein zweiter Mann aus dem Auto und ging zusammen mit dem Vicomte auf das Haus zu, worin beide wenig später ver schwanden. „Und wenn er nun Leine zieht?“ sagte der In spektor. 231
„Der haut bestimmt ab“, sagte aus dem Fond des Wagens einer der Polizisten. „Möglich“, räumte Aphrodite ein. „Aber be stimmt nicht zu Fuß.“ „Auch wieder wahr“, sagte Baller. „Warten wir noch ein paar Minuten“, schlug Aphrodite vor. „Aber machen wir uns lieber etwas näher an den Cadillac heran.“ Diesmal wurde ihre Geduld auf keine lange Pro be gestellt. Denn kaum hatten sie neben dem Haus Posten bezogen, öffnete sich die Haustür, und der Vicomte kam rückwärts heraus, was durchaus die vorteilhafteste Haltung war, die er einnehmen konnte. Er schleppte nämlich an ei nem Ende ein offenbar recht schweres Bündel, an dessen anderem Ende sein Begleiter trug. Später stellte es sich heraus, daß es sich bei besagtem Bündel um den in einen Teppich eingewickelten seligen Dr. Nepomuk Krafft handelte, der insofern der Polizei noch einen letzten Dienst erwies, weil die Verhaftung des Vicomte nebst der ihn beglei tenden Person geradezu ein Kinderspiel war. Kei ner der beiden traf Anstalten, sich zur Wehr zu setzen, obwohl dazu vielleicht Gelegenheit gewe sen wäre. Denn Helmut Baller blieb für längere Zeit buchstäblich die Luft weg, als sich heraus stellte, daß die mit dem Vicomte gekommene Per son gar kein Mann, sondern eine in einem Hosen anzug steckende Dame war. Aphrodite freilich zuckte mit keiner Wimper. Sie begnügte sich mit der unter solchen Umständen schon übertrieben höflichen Feststellung: „Sie glauben gar nicht, wie 232
ich mich freue, Sie wiederzusehen, Armanda Ha fermann.“ Es war glücklicherweise eine sehr schwüle Juni nacht, so daß der eisige Blick, den Armanda Ha fermann auf das junge Mädchen schoß, keinerlei Wirkung erzeugte.
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11 Am nächsten Nachmittag. „Na?“ sagte Aphrodite fröhlich, die, wie am Vorabend vereinbart, pünktlich um 14.00 Uhr das Amtszimmer des Hauptinspektors betrat. „Die Sa che läuft, hoffe ich.“ Helmut Baller winkte mißmutig mit der Hand ab und setzte den nun schon Stunden andauernden Gewaltmarsch quer durch das Büro unverdrossen fort. Er war wütend wie gewisse Ameisen, wenn man ihnen an die Pilzzucht will, und das möchte schon etwas heißen. Obermeister Schmidtchen stand in strammer Haltung an eine Wand ge drückt und wagte nicht laut zu atmen. In einem Sessel vor dem Schreibtisch saß eine adrette, hochblond eingefärbte junge Dame, die verloren mit einem Bleistift spielte, sofern sie nicht gerade ein kleines Gähnen unterdrückte, was in regelmä ßigen Abständen vorkam. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag einladend aufgeschlagen, indes völlig leer, ein umfänglicher Notizblock. Obermei ster Schmidtchen genau gegenüber hatte man auf zwei Stühlen Armanda Hafermann und den Vi comte plaziert. Der Vicomte hatte eine düstere, jedoch gleichermaßen unbewegte Miene aufge setzt, während die famose Haushälterin der Frei frau schadenfroh vor sich hin feixte. Sie amüsierte sich offensichtlich königlich über den außer Rand und Band geratenen Inspektor.
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Und die Tür bewachte ein uniformierter Polizist, der bestimmt nur aus Versehen nicht bei den Cat chern gelandet war. „Puuuuh…“, sagte Aphrodite unvermindert hei ter, während sie sich ungefragt einen Stuhl her anangelte und umständlich Platz nahm. „Dicke Luft, wenn mich nicht alles täuscht.“ Baller fuhr herum, obwohl er erst die Hälfte des Büros durchlaufen und folglich eine Kehrtwende noch gar nicht nötig hatte. „Sie haben gut reden“, fauchte er. „Seit heute früh habe ich die beiden ununterbrochen in der Mache. Aber sie denken nicht daran, den Mund aufzumachen. Da kann man doch aus der Haut fahren.“ „Na und?“ erwiderte das junge Mädchen schnippisch. „Wer schweigt, hat allen Grund dazu. Das regt mich nicht weiter auf. Oder brauchen Sie etwa noch ein Geständnis dieser… hm… Vögel?“ „Geständnis ist immer gut“, sagte Baller im Brustton der Überzeugung. „Meinetwegen“, sagte Aphrodite, die erst jetzt Gelegenheit hatte, die schwere Aktentasche abzu setzen, die sie mitgebracht hatte. „Sie werden Ihr Geständnis bekommen.“ „Wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen, müssen Sie erst noch ‘ne Weile trainieren“, sagte Baller und lachte krampfhaft auf. „Die beiden sind stumm wie Fische und stur wie Nashörner. Und so was wollen Sie zum Reden bringen?“ „Warten wir es ab“, sagte Aphrodite. „Voraus gesetzt, Sie lassen mir freie Hand. Einverstan den?“ 235
„Einverstanden“, sagte Helmut Baller und ließ sich schwer schnaufend in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen. „Wenn ich Zeit hab’, geh’ ich immer ins Kino, aber der Film hier ist auch nicht ohne. Stummfilme mag ich besonders gern, und was anderes wird hier bestimmt nicht laufen.“ „Möglich“, sagte Aphrodite, „aber nicht sehr wahrscheinlich. Na, dann wollen wir mal.“ Mit diesen Worten griff sie in die Aktentasche, wo ein geräumiges Außenfach für Augustus reser viert war, und holte den Geißelskorpion heraus. Sie betrachtete ihn erst eine kleine Weile, wie er auf ihrer Hand die Glieder reckte und dehnte, be vor sie stöhnend und ächzend aufstand und zu Armanda Hafermann trat, die mit keinem Muskel zuckte. „Ist er nicht schön?“ fragte Aphrodite. Armanda würdigte sie keiner Antwort. „Und völlig harmlos, Armanda“, fügte Aphrodite hinzu. „Aber das wissen Sie ja. Seit langem.“ Armanda blieb stumm. „Was soll das?“ polterte Baller dazwischen. „Sie war schließlich dabei, als Sie mir erklärten, daß der Skorpion harmlos sei.“ Aphrodite beachtete ihn nicht. „Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen das Tierchen in die Bluse stecken würde“, sagte das junge Mädchen freundlich. Armanda Hafermann lächelte nur mokant. „Wie? Keine Angst? Er kribbelt und krabbelt aber scheußlich.“ Schweigen. 236
„Und ganz so ungefährlich ist es nämlich auch nicht“, sagte Aphrodite plötzlich mit Nachdruck. „Das hier ist nämlich nicht Augustus, meine Liebe, sondern ein richtiger, giftiger Skorpion. Und mit dem ist nicht zu spaßen.“ Armanda Hafermann lachte trocken auf. „Geben Sie sich keine Mühe“, sagte sie höh nisch. „Ich kann sehr gut zwischen harmlosen Spinnen und Skorpionen unterscheiden.“ „Interessant“, sagte Aphrodite. „Woher eigent lich, wenn ich fragen darf?“ Aber Armanda Hafermann hüllte sich obstinat wieder in Schweigen. „Es scheint doch nicht ganz ein Stummfilm zu werden“, sagte Helmut Baller leicht verärgert. „Einen Satz haben Sie der Dame immerhin schon entlockt.“ „Stimmt. Und das ist genau ein Satz mehr, als Sie den ganzen Vormittag aus ihr herausgebracht haben“, erwiderte Aphrodite ohne falsche Be scheidenheit. „Übrigens war das nicht einmal mei ne Absicht. Ich wollte lediglich ein Experiment machen. Mehr nicht.“ „Viel Eindruck haben Sie aber nicht gemacht mit Ihrem Pe… Pe… Pe… Verdammt, wie heißt das Vieh doch?“ Das junge Mädchen überhörte geflissentlich die ohnedies nur rhetorische Frage des Inspektors. „Eben“, sagte sie trocken. „Was eben?“ Baller kratzte sich irritiert am Kopf.
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„Mein Skorpion hat Armanda Hafermann tat sächlich keine Angst einjagen können. Sie haben völlig recht, Inspektor.“ „Ach so“, sagte Baller. „Tja, da sind Sie ganz schön abgeblitzt.“ „Ich kann mich an einen gewissen Polizeiin spektor erinnern“, konterte Aphrodite ironisch, „der den Revolver zog, als er Augustus nur von weitem erblickte. Ich nehme an, Sie kennen den betreffenden Herrn.“ „Krrrchz…“ Der Inspektor räusperte sich verle gen. „Ich sehe überhaupt keinen Zusammen hang“, sagte er schließlich. „Nein?“ sagte Aphrodite. „Dann sollten Sie bei Gelegenheit einmal darüber nachdenken, weshalb beispielsweise Armanda Hafermann keine Furcht vor Geißelskorpionen hat, während der soeben erwähnte Inspektor…“ „Natürlich“, fiel ihr Baller hastig ins Wort. „Wenn man es so sieht…“ „Und daß sie weiterhin offenbar zwischen gifti gen und ungefährlichen Gliederspinnen unter scheiden kann…“, fuhr das junge Mädchen unbe irrt fort. „Stimmt“, erklärte der Inspektor. „Ziemlich un gewöhnlich… Aber möglicherweise ist die Entenlo gie ihr Hobby, wer weiß?“ „Entomologie“, berichtigte ihn Aphrodite. „Spielt doch keine Rolle“, sagte Baller peinlich berührt, weil die hochgradig aufgeblondete Dame ein Lächeln nicht verkneifen konnte. „Außerdem ist nicht einzusehen, was das mit unserem Fall zu tun hat. Wollen Sie nicht lieber mal Ihr Glück 238
beim Vicomte versuchen? Er ist schließlich die Hauptperson, wenn ich nicht ganz irre.“ „Sind Sie sicher, Inspektor?“ „Was für eine Frage? Der Franzmann ist im merhin dringend verdächtig, sechs Morde began gen zu haben. Wenn das nichts ist… Die Haushäl terin können wir bestenfalls wegen Beihilfe zum Mord belangen.“ „Wenn das so ist“, sagte Aphrodite, „hat die lie be Armanda allen Grund zur Freude…“ Tatsächlich hatte die hagere Haushälterin die schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzogen. „… denn für Beihilfe zum Mord bekommt sie doch höchstens ein oder zwei Jahre Gefängnis“, fuhr Aphrodite fort. „Mehr ist bestimmt nicht drin“, sagte der In spektor bedauernd. „Wahrscheinlich sogar weni ger. Schließlich war sie am Mord beziehungsweise an seiner Planung nicht beteiligt.“ „Das ist, vorausgesetzt, Sie meinen den Mord an Dr. Krafft, ausnahmsweise sogar wahr“, erklär te Aphrodite, die es natürlich wissen mußte. „Trotzdem, Inspektor, der Vicomte hat keinesfalls alle Morde begangen.“ „Dann haben Sie seit gestern aber Ihre Meinung verdammt schnell geändert“, sagte Baller un wirsch, der geradewegs neue Komplikationen auf sich zukommen sah. „Vielleicht habe ich mich bisweilen etwas unge nau ausgedrückt“, sagte das junge Mädchen di plomatisch. „Gleichwohl kann ich mich nicht erin nern, daß ich beispielsweise behauptet hätte, der 239
Mord am Grafen von Hasenthal müsse dem Vi comte auf die Rechnung gesetzt werden. Ich habe nicht einmal ausdrücklich gesagt, daß die Freifrau und der Edle Gans von Himmelreuth auf sein Kon to kommen.“ „Und die Revolverschüsse?“ warf Helmut Baller ein. „Sie stammen einwandfrei aus derselben Waffe, die auch bei der Ermordung des Obersten Trutz von Hoffmannsau und dieses Krafft benutzt worden ist. Wir haben sie in der Tasche des Fran zosen gefunden und sichergestellt.“ „Das bestreite ich überhaupt nicht“, sagte Aphrodite geduldig. „Zweifellos hat der Vicomte den Obersten und Dr. Krafft umgebracht. Und er hat auch die Schüsse auf die Leichen der Freifrau und ihres Sekretärs abgegeben. Mehr ist ihm je doch nicht nachzuweisen, weil er von den restli chen Mordtaten zwar wußte, aber unmittelbar nicht daran beteiligt war.“ „Mein lieber Mann!“ stöhnte Helmut Baller auf. „Und wer zum Kuckuck hat dann die übrigen Mor de begangen?“ „Armanda Hafermann natürlich“, erwiderte Aphrodite ruhig. Hauptinspektor Baller schlug verzweifelt beide Hände vor das Gesicht, worauf Obermeister Schmidtchen sich bemüßigt fühlte, anklagend die Augen an die Decke zu richten. Die Haushälterin der Freifrau war aufgesprungen, was dem unifor mierten Catcher ein warnendes Grunzen abver langte. Armanda Hafermann zitterte vor Wut.
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„Ich verlange“, schrie sie, „daß man diesem verrückten Weibsbild sofort den Mund stopft! Ich lasse mir das nicht gefallen…“ „Nanu, auf einmal so gesprächig…“, sagte das junge Mädchen kalt. Der Catcher hatte einige Mühe, Armanda Ha fermann wieder auf den Stuhl zu drücken, aber daß sie weiter Gift und Galle ausspuckte, konnte er nicht verhindern. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich halbwegs wieder beruhigt hatte, was viel leicht bloß auf die Tatsache zurückzuführen war, daß ihr Vorrat an Schimpfwörtern allmählich ver siegte. Erst danach kam Helmut Baller wieder zu Wort: „Ich weiß ja, daß Sie Humor haben, Made moiselle“, sagte er. „Aber gehen Sie jetzt nicht ein bißchen zu weit?“ „Ich bin noch nie so ernst gewesen, Inspektor“, entgegnete Aphrodite. „Überlegen Sie doch selbst einmal. Wie beispielsweise hätte der Vicomte den Grafen von Hasenthal umbringen sollen? Er saß die ganze Zeit über beinahe unbeweglich neben mir am Tisch. Er hatte gar keine Gelegenheit da zu, dem Grafen das Gift in den Whisky zu tun.“ „Aber die Hafermann noch viel weniger“, sagte der Inspektor. „Sie hat am Gelage überhaupt nicht teilgenommen.“ „Das ist richtig. Aber sie war ganz in der Nähe. Und zwar in der Küche. Sie hatte gewissermaßen die Leitung des Unternehmens übernommen.“ „Woher wissen Sie das?“ fragte der Inspektor. „Von Valentin Kalbe, der dort bekanntlich als Kellner eingesetzt war. Es war nämlich bei solchen piekfeinen Anlässen üblich, daß die eigenen 241
Dienstboten weitgehend die Regie übernahmen. Verstehen Sie?“ Helmut Baller pfiff durch die Zähne. „So ist das also“, sagte er. „Als ich jedoch am Tatort ankam, war von Armanda Hafermann nichts mehr zu sehen…“ „Sie hat sich selbstverständlich sofort aus dem Staub gemacht, zumal sie alles Weitere getrost dem Vicomte überlassen konnte, der in die Sache eingeweiht war. Ich habe mich gleich etwas ge wundert, warum er als einziger nicht die Spur von Überraschung zeigte, als der Graf umfiel.“ „Alles gut und schön“, räumte der Hauptinspek tor ein. „Aber wie hat, einmal angenommen, sie ist wirklich die Täterin – wie hat dann die Hafer mann das Gift in das Whiskyglas des Grafen tun können?“ „Sie können fragen“, sagte Aphrodite. „In der Küche selbstverständlich.“ „Nun gut. Aber wie hat sie den Grafen veranlas sen können, ausgerechnet dieses Glas mit dem vergifteten Whisky zu nehmen? Das ist doch aus geschlossen.“ „Nichts einfacher als das“, fuhr das junge Mäd chen erklärend fort. „Ich sagte doch soeben, daß bei derartigen Gelegenheiten die Dienerschaft der adligen Damen und Herren gewissermaßen ab kommandiert wurde. Und die Hafermann kannte selbstverständlich den sogenannten Leibdiener des Grafen, der hier, wie auch die anderen Dome stiken, die eigene Herrschaft bediente. Verstehen Sie jetzt?“ 242
„Teufel, Teufel…“, sagte Baller. „Das ist wahr haftig ein starkes Stück. Und Valentin Kalbe kann bezeugen, daß die Hafermann tatsächlich in der Küche war?“ „Nicht er allein“, sagte das junge Mädchen. „Der Butler des Conde della Scala war beispiels weise auch anwesend. Außerdem die Hotelköche und anderes Personal. Das ist leicht nachzuwei sen.“ „Ich habe nie bestritten, daß ich an jenem Abend in der Küche des Hotels Dienst tat“, melde te sich mit einmal Armanda Hafermann zu Wort. Sie hatte sich offenbar wieder gefangen, denn sie war kühl wie ein gut funktionierender Eisschrank. „Was beweist das schon? Nichts, rein gar nichts.“ „Und warum sind Sie geflüchtet?“ bellte Baller heiser. „Anscheinend hatten Sie kein gutes Gewis sen.“ „Ich war müde“, sagte die Hafermann. „Außer dem hatte ich leichte Migräne. Deshalb bin ich nach Hause gegangen.“ „Migräne“, höhnte der Hauptinspektor. „Was Sie nicht sagen. Nebenan fällt jemand tot um, und Sie gehen gemütlich nach Hause. Daß ich nicht la che.“ „Es ist mir egal, ob Sie mir glauben oder nicht“, sagte die Haushälterin. „Beweisen Sie mir erst einmal, daß ich das Gift in das Glas des Grafen getan habe. Dann können wir weiterreden. Au ßerdem: Was für einen Grund sollte ich wohl ge habt haben, den Grafen umzubringen?“ „Tja“, sagte Baller mit einmal wieder zweifelnd, „danach frage ich mich allerdings auch.“ 243
„Sind Sie eigentlich ganz sicher, Armanda“, sagte Aphrodite unvermittelt, „daß der Vicomte auf die Dauer schweigen wird? Ich bin vom Ge genteil überzeugt.“ „Was geht mich das an?“ sagte die Hafermann abweisend. „Mit dem, was der Vicomte mögli cherweise getan hat, habe ich nichts zu schaffen.“ „Das wird sich herausstellen“, sagte das junge Mädchen. „Obwohl Ihre Rechnung auf den ersten Blick sehr einleuchtend ist: Dem Vicomte ist le benslängliche Haft so oder so sicher. Ihm kann es deshalb egal sein, ob man ihm nun einen Mord mehr oder weniger anhängt. Während Sie sich mit dem ergaunerten Geld einen fröhlichen Tag ma chen.“ Aphrodite lieg bei diesen Worten den Vicomte keinen Augenblick aus den Augen. Aber nichts deutete darauf hin, daß sie bei ihm auf einen empfindlichen Nerv gestoßen war. Er blickte viel leicht noch eine Nuance verbiesterter drein, schwieg jedoch weiterhin beharrlich. Helmut Baller freilich war unerhört hellhörig geworden: „Von was für ergaunertem Geld spre chen Sie eigentlich?“ sagte er. „Das ist ja ganz was Neues.“ Aphrodite versuchte so unschuldig wie nur möglich auszusehen, was ihr mit einiger Mühe auch gelang. „Verzeihung, Inspektor“, sagte sie. „Ich ver gaß… Sie wissen ja noch nicht, daß hier ein groß angelegtes Erpressungsgeschäft wie geschmiert lief.“ „Erpressung?“ 244
„Hm…“ Das junge Mädchen nickte bestätigend. „Übrigens ausgebrütet und in die Wege geleitet und nahezu perfekt betrieben von meiner verbli chenen Tante, der Freifrau von und zu Hummer lang und Böllersinn. Und bei diesem Geschäft wurde sie tatkräftig unterstützt von dem ebenfalls bereits verschiedenen Edlen Gans von Himmel reuth und dem hier anwesenden Vicomte de Bas secour…“ „Ich werd’ verrückt“, sagte Helmut Baller, der vor Überraschung die Augen verdrehte. „Das muß ich erst verdauen… Schmidtchen, holen Sie mal ‘ne Runde Bier.“ Der Obermeister setzte sich unverzüglich in Trab, und während seiner Abwesenheit legte Aphrodite dem Hauptinspektor die aus dem Safe des Vicomte gemausten Dossiers vor, die sie vor sorglich mitgebracht hatte. Die Gemütsreaktionen Helmut Ballers waren von durchaus unterschiedli cher Natur. Bei den im Wortsinn enthüllenden Fo tografien entstellte ein genüßliches Grinsen sein Gesicht, während er gleichzeitig der vor ihm sit zenden nachgemachten Blonden beziehungsreiche Blicke zuwarf. In anderen Fällen hingegen standen ihm buchstäblich die Haare zu Berge, wobei ihm freilich weniger vor den Abgründen schwindelte, die sich vor ihm auftaten. Er sah vielmehr eine Sturzwelle von Skandalen anrollen, sofern diese Geschichten publik wurden, und darin hatte er sich ausnahmsweise nicht getäuscht. Schließlich handelte es sich hier um die Creme der Gesell schaft, und Baller wußte aus Erfahrung, daß seine Vorgesetzten es gar nicht gern sahen, wenn man 245
die Nase zu tief in diese Leckerei steckte. Was Wunder, daß er heimlich überlegte, was er even tuell vertuschen oder zumindest doch von der Öf fentlichkeit fernhalten könnte. Ein verzeihlicher Irrtum, beiläufig bemerkt, weil er nicht wissen konnte, daß Aphrodite den Vormittag damit ver bracht hatte, Fotokopien dieser Dokumente anzu fertigen, und zwar vermittels einer Zeiss-Kamera, die Stutzohr kürzlich im Auto eines norwegischen Touristenehepaars gefunden hatte. Sagte er je denfalls. Die Nöte des Inspektors interessierten das junge Mädchen momentan allerdings wenig. Sie beobachtete möglichst unauffällig den Vicomte de Bassecour, der verständlicherweise wenig Be geisterung zeigte, als er die Dossiers zu Gesicht bekam. Er hatte sich schon gewundert und insge heim gefreut, daß die Polizei damit nicht auf trumpfte. Armanda Hafermann schoß ihm einen Blick zu, der wahrhaftig Bände sprach, bekam aber nur ein verlegenes Schulterheben zur Ant wort. Aphrodite konnte sich durchaus vorstellen, was in den beiden jetzt vorging, und sie ahnte auch, was für Gedanken Helmut Baller wälzte. Wie anders wäre ihr rätselhaftes Lächeln ansonsten zu erklären? Es verstärkte sich noch um ein weniges, als Obermeister Schmidtchen nach einem Rekord lauf in die Kantine mit einer stattlichen Anzahl Bierflaschen zurückkehrte und Baller eilig die Dos siers in einer Schublade verschwinden ließ. Er hatte offenbar nicht den Wunsch, den ständig pol ternden und unbeherrschten Obermeister über Gebühr einzuweihen. 246
„Woher haben Sie das Zeug?“ fragte Baller nicht gerade unfreundlich, aber auch nicht son derlich entgegenkommend, nachdem er eine Fla sche an den Mund gesetzt und einen langen Schluck genommen hatte, eine Beschäftigung, bei der Aphrodite ihm keineswegs nachstand. „Woher schon“, sagte das junge Mädchen weg werfend. „Der Vicomte hat mir die Papiere ver kauft.“ Wutentbrannt sprang der kleine Franzose auf. „Das ist eine hundsgemeine Lüge“, brüllte er. „Eine Infamie…“ „Danke“, sagte Aphrodite kalt. „Ich wollte nur einmal sehen, ob Sie wirklich die Sprache verloren haben. Es geht noch ganz gut, wie ich bemerke.“ Der Vicomte sank langsam auf seinen Stuhl zu rück. „Du solltest deine Nerven schonen“, sagte Ar manda Hafermann bissig und mit einem bezeich nenden Kopfnicken hin zu Aphrodite. „Du wirst Sie noch gebrauchen können.“ „Das glaube ich auch“, kommentierte die junge Französin anzüglich. „Schluß jetzt“, sagte Baller. „Ich habe gefragt, wie diese Papiere in Ihren Besitz gekommen sind, Mademoiselle.“ „Ist das so wichtig?“ „Hätte ich sonst gefragt?“ „Na schön“, sagte Aphrodite und machte eine entsprechende Handbewegung. „Ich habe mir er laubt, diese interessanten Papierchen zu klauen.“ „Was?“ staunte Helmut Baller. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. 247
„Na und?“ sagte Aphrodite. „Wie anders hätte ich an sie herankommen sollen? Also habe ich sie gestohlen.“ „Aber das ist ungesetzlich“, erklärte Baller ge wichtig. „Verbrechen nach…“ „Das weiß ich auch“, fuhr ihm das junge Mäd chen in die Rede. „Sie werden sich dafür verantworten müssen“, sagte der Hauptinspektor. „Wo kämen wir hin, wenn…“ „Aber gewiß doch“, unterbrach ihn Aphrodite gelangweilt. „Darüber können wir immer noch sprechen. Ich rate Ihnen jedoch, nicht zu verges sen, daß diese Erpressungen und andere ziemlich dubiose Geschäfte der Schlüssel sind für die Auf klärung der Mordfälle, die Ihnen, Inspektor, doch sicherlich am Herzen liegt…“ „Immerhin…“, sagte Baller. „Ich erstatte Anzeige gegen diese Diebin“, sag te der Vicomte. „Ich bin hingerissen“, sagte Aphrodite unge rührt. „Das kommt schließlich einem Geständnis gleich, daß Sie, Vicomte, im großen Ausmaß das Geschäft der Erpressung betrieben haben.“ „Idiot!“ zischte Armanda Hafermann vernehm lich. Offensichtlich sprang sie mit Herrschaften von Adel ganz nach Belieben um. „Soll ich das auch mitschreiben?“ fragte das Blondgeschöpf naiv. „Fragen Sie nicht so dämlich“, fuhr Helmut Bal ler sie an, dem begreiflicherweise der Kopf schwirrte. 248
„Und vergessen Sie ja nicht zu notieren, daß der Vicomte mich wegen Diebstahls anzeigt“, er gänzte Aphrodite munter. „Zur Sache.“ Baller klopfte energisch mit dem Handknöchel auf die Schreibtischplatte. „Sie be haupten also, Mademoiselle, daß die Freifrau mit diesen… hm… Erpressungen zu tun hatte? Stimmt das?“ „Nein“, sagte Aphrodite. „Das Ganze war sogar ihr Einfall. Außerdem werden Sie das feststellen, wenn Sie die Papiere gründlich studieren. Und die Opfer werden es Ihnen gewiß bestätigen, nach dem das Geheimnis ihrer oberfaulen Vergangen heit ohnehin gelüftet ist. Sie brauchen nämlich keine Rücksicht mehr auf sich selbst zu nehmen.“ „Sicher“, sagte Baller eifrig. „Und wir werden die Angelegenheit, wie sich versteht, so diskret wie möglich behandeln.“ „Das habe ich mir schon gedacht“, sagte Aphrodite bedeutungsvoll. „Was jedoch Ihre Tante angeht…“, fuhr Baller nach einer kurzen Pause fort. „Ich muß schon sa gen… Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Er pressung ist ein schweres Verbrechen.“ „Treten Sie getrost“, antwortete Aphrodite. „Viel gehalten habe ich ohnedies nie von dieser gefräßigen Libelle. Außerdem ist sie doch tot, oder?“ „Wir werden jedenfalls sehr behutsam vorge hen“, sagte der Hauptinspektor mit einem bei ihm wirklich seltenen Zartgefühl. „Schon weil anderer seits gewisse Meriten der Freifrau schwerlich ab zusprechen sind.“ 249
„Ach…“, sagte das junge Mädchen. „Sie meinen die Bourbonen und das andere Gelichter und den abendländischen Geist und was weiß ich noch al les? Purer Unfug, Inspektor. Ausgemachter Blöd sinn, wenngleich mit Methode und Berechnung in Szene gesetzt.“ „Ich verstehe kein Wort“, sagte Baller. „Was ist daran neu“, sagte Aphrodite rück sichtslos. „Aber ich will es Ihnen gern erläutern, wenn Sie ein wenig Geduld aufbringen. Ich werde Ihnen nämlich die Geschichte meiner Tante, der wohllöblichen Freifrau, erzählen.“ „Wenn uns das weiterbringt“, sagte Baller skep tisch, und sogleich runzelte auch Obermeister Schmidtchen zweifelnd die Stirn. Er hatte ein un glaubliches Gespür dafür, was in seinem Chef vor sich ging. „Und wie“, sagte Aphrodite. „Ich erspare mir das, was Sie über meine Tante schon wissen, In spektor, also ihren fatalen Hang zum Blaublüti gen, dem sie als hübsches und berechnendes jun ges Ding hemmungslos nachgehen konnte. Und als Soubrette, die an Varietés und sogar an eini gen renommierten Theaterbühnen auftrat, hatte sie reichlich Gelegenheit dazu. Am Ende war ihr sogar ein bleibender Erfolg beschieden, denn sie konnte sich den freilich schon ziemlich alters schwachen Freiherrn von und zu Hummerlang und Böllersinn angeln, der einschlägige Gebrechen durch ein beträchtliches Vermögen wettmachte. Natürlich auch durch seinen Namen.“ „Sie sagen das in einem Ton, als ob Sie Ihre Tante deswegen verurteilten“, sagte der Inspek 250
tor. „Ich sehe darin nichts Verwerfliches. Das kommt doch alle Tage vor.“ „Ich finde, es ist jämmerlich“, antwortete Aphrodite kurz angebunden. „Aber das steht hier nicht zur Debatte. Wie dem sei: Die neugebacke ne Freifrau zog mit ihrem Ehemann auf ein Schloß in Württemberg und glaubte für immer am Ziel zu sein. Selbstverständlich lag sie ständig im buhleri schen Bett, wie man, soviel ich weiß, solche Gele genheitsamouren in deutschen Küchenliedern nennt. Aus dieser Zeit datiert übrigens ihre Be kanntschaft mit dem Vicomte de Bassecour, bei dem sie sich offenbar vorzugsweise für die eheli che Totalebbe entschädigte. Mit durchschlagen dem Erfolg, wie man hinzufügen muß, denn der kleine, damals indes recht tüchtige Vicomte geriet restlos unter freifraulichen Einfluß. Seitdem ist er nichts weiter als ihre Kreatur gewesen.“ Der Vicomte lief bei diesen Worten vor Wut rot an, und sicherlich wäre er explodiert, hätte ihm nicht der Polizeicatcher beruhigend, also nicht ge rade zärtlich die unförmige Pranke auf den Schei tel gelegt. „Und woher wissen Sie das alles?“ sagte der In spektor ohne besonderes Interesse. „Ich habe mir gestattet, einige vergilbte Briefe der Freifrau flüchtig durchzusehen, die im Safe des Vicomte lagen“, antwortete Aphrodite. „Für wahr eine köstliche Lektüre. Daraus zu schließen, war der Vicomte nicht gerade billig. Und die Kose namen erst wie beispielsweise ,mon petit gigolo’. Aber am schönsten finde ich ,Mein dummer Schlums…’“ 251
Diesmal riß sich der Vicomte von dem verhin derten Catcher los. „Eine Gemeinheit“, tobte er. „Ich würde Sie glatt fordern, wenn Sie keine Frau wären.“ „Auf Degen, wie?“ antwortete das junge Mäd chen kühl. „Daraus wird bestimmt nichts. In der nächsten Zeit haben Sie bestenfalls Gelegenheit, mit dem Blechnapf zu klappern.“ Obermeister Schmidtchen mußte dem Catcher zu Hilfe kommen, um den aufgebrachten Vicomte zu bändigen. „Ich finde das überhaupt nicht lächerlich“, sagte Baller. „Meine Frau nennt mich bisweilen auch Pusselchen.“ Die Aufgeblondete verschluckte sich beinahe vor Lachen, und auch Aphrodite hatte Mühe, sich zu beherrschen. „Wie gut ich Ihre Frau verstehe, Inspektor“, sagte das junge Mädchen mit unverkennbarem Spott. „Aber kommen wir lieber auf das Familien leben der Freifrau zurück. Es ist ungleich interes santer. Jedenfalls hatte sie es in nicht ganz einem Jahrzehnt geschafft, das Vermögen des Freiherrn durchzubringen. Kein Wunder bei ihrem Lebens stil. Nach dem Krieg war die Pleite vollständig und damit auch der Freiherr überflüssig geworden.“ „Er starb neunzehnhundertsechsundvierzig, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Inspektor. „Ein tragischer Unglücksfall. Er stürzte aus dem Fenster. Ich bin im Verlauf meiner Recherchen daraufgestoßen.“ „Ich dachte es mir“, sagte Aphrodite. „Ein Un glücksfall… Aber genaue Untersuchungen waren in 252
jenen wirren Zeiten kaum möglich. Und ich möch te wetten, daß einwandfreie Zeugenaussagen vor lagen. Vielleicht die der freifraulichen Haushälterin Armanda Hafermann?“ „Stimmt“, sagte Helmut Baller verwundert. „Sind Sie Hellseherin?“ „Wieso denn“, sagte das junge Mädchen. „Ich rechne nur zwei und zwei zusammen.“ „Nanana…“, sagte der Inspektor skeptisch. „Natürlich ist das heute schlagend nicht mehr nachzuweisen“, fuhr Aphrodite fort, „aber es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß der überflüssige Freiherr aus dem Weg geräumt wurde. Die Frei frau hat zwar stets viel vom Adel, aber nichts vom verarmten Adel gehalten. Und es sollte mich wun dern, wenn Armanda Hafermann nicht die einzige Zeugin des… na ja… Unfalls gewesen ist.“ „Getroffen“, sagte Helmut Baller. „Blödsinn“, fauchte Armanda Hafermann. „Das Trampel hat Phantasie, das ist aber auch alles. In Wirklichkeit war der Freiherr schon so klapprig, daß er eine Tür nicht mehr vom Balkonfenster un terscheiden konnte. Und zufällig war vor dem Bal konfenster kein Balkon mehr. Kriegsschaden, ver stehen Sie? Es ist einfach empörend, was man sich als ehrbare Frau anhören muß.“ „Ich finde auch, wir sollten uns an Tatsachen halten“, sagte der Inspektor. „Und Tatsache ist ein amtlich beglaubigter und bezeugter Unfall.“ „Meinetwegen“, willigte Aphrodite nicht sonder lich erbaut ein. „Aber auf die Ehrbarkeit dieser Dame komme ich noch zurück. Jedenfalls tauchte die Freifrau nach dem Tod ihres Mannes mit ein 253
mal in Köln auf, begleitet von ihrer Haushälterin, die wiederum als Anhang ihren versoffenen Gat ten, Jakob Hafermann, mitschleppte. Dem Trio ging es anfangs gar nicht gut. Man lebte von der Hand in den Mund und vornehmlich von gewissen Geschäften mit der Besatzungsmacht. Damals er hielt mein Vater sogar ein paar Klagebriefe von seiner mißratenen Schwester, und das will bei ih rer Hochnäsigkeit verdammt viel heißen.“ „Damals waren eben schwere Zeiten“, warf der Hauptinspektor ein. Selbstredend nickte Obermei ster Schmidtchen sofort düster mit dem Kopf. „Die Pakete, die mein Vater laufend schickte, hat er sich buchstäblich vom Mund absparen müs sen“, sagte das junge Mädchen böse. „Ich könnte mich heute noch beißen, wenn ich bloß daran denke. Kaum nämlich, daß die Freifrau wieder Morgenluft witterte, war Vater wie gehabt natür lich Luft für sie. Und sie hatte weiß der Himmel keine schlechte Witterung.“ „Sie sollten nicht immer in Rätseln sprechen“, sagte Baller. „Und machen Sie’s gefälligst kurz.“ „Kürzer geht’s wirklich nicht“, sagte Aphrodite abweisend. „Und wenn Sie, Inspektor, mich nicht immer unterbrechen würden, wären wir schon ein gutes Stück weiter. Also: Die Freifrau sah ihre Chance kommen, als nach neunzehnhundertacht undvierzig der Westen den kalten Krieg erfand. Sie beschloß einfach, Nutznießer des wilden Euro parummels zu werden, der in der Folge des kalten Krieges besonders kräftig erst in den damaligen drei westlichen Besatzungszonen und später in der Bundesrepublik ausbrach.“ 254
„Was unterstehen Sie sich?“ krächzte Helmut Baller empört. „Was heißt hier Europarummel? Die Einigung Europas…“ „Westeuropas“, unterbrach ihn Aphrodite. „Man könnte auch Schrumpfeuropa sagen, denn soviel ich weiß, ist Europa viel, viel größer.“ „Kommunistin“, zischte Armanda Hafermann. „Die rote Schlampe gehört hinter Gitter.“ „Das könnte Ihnen so passen, Armanda“, sagte Aphrodite. „Und nicht wir haben den kalten Krieg…“, krächzte Inspektor Baller weiter, der sich an scheinend unerhört aufregte. „Bleiben Sie friedlich, Inspektor“, sagte das junge Mädchen ruhig. „Sie sollten sich lieber gele gentlich mit den notorischen Fakten der jüngsten Geschichte befassen.“ „Die brauchen Sie mir nicht beizubringen“, knurrte Baller. „Sie waren noch nicht auf der Welt, als wir…“ „… vermittels des Europatheaters moralisch aufzurüsten begannen, um später dann richtig aufzurüsten“, unterbrach ihn Aphrodite spöttisch. „Ich weiß.“ Helmut Baller, der sich in der Erregung halb von seinem Sessel erhoben hatte, sank wieder zurück. „Es ist zwecklos“, stöhnte er. „Was soll ich mich mit Ihnen streiten. Sie sehen eben alles durch ei ne rote Brille.“ „Das Weibstück gehört eingesperrt“, wiederhol te Armanda Hafermann nachdrücklich. „Und so was wagt es, anständige Leute zu beschuldigen.“ 255
Der Hauptinspektor überhörte notgedrungen diese Empfehlung. Schließlich konnte er die junge Französin nicht wegen einer Meinungsäußerung belangen, die neuerdings die Spatzen von den Dächern pfiffen und nur die Enten der Springer presse nach wie vor glatt ignorierten. „Und dabei haben Sie noch vor ein paar Tagen behauptet, daß Sie von Politik rein gar nichts ver stünden“, fügte er indes anklagend hinzu. „Wenig“, stimmte ihm Aphrodite zu. „Lediglich was so für den Hausgebrauch erforderlich ist.“ Der Hauptinspektor fuhr energisch mit der Hand durch die Luft. „Dann machen Sie bitte von Ihren Ansichten auch nur zu Hause Gebrauch“, wetterte er. „Sie befinden sich hier in einem Amtszimmer, und ich werde nicht dulden…“ „… daß dieser Raum durch ungebührliche Reden sozusagen entweiht wird“, unterbrach ihn das junge Mädchen spöttisch. „Ich verstehe. Aber wenn Sie mich weiterhin unterbrechen, werden Sie nie erfahren, was für einen Einfall die saubere Freifrau eigentlich hatte. Und ich betone noch mals, daß er der Schlüssel zur Lösung der Mord fälle ist.“ „Reden Sie schon“, knurrte Baller widerwillig. Er bedauerte heimlich, daß er Aphrodite nicht doch noch die Morde anhängen konnte. „Ich protestiere“, tobte Armanda Hafermann, die beide Fäuste gegen das junge Mädchen schüt telte. „Hier bestimme ich“, donnerte der Inspektor. „Sie halten den Mund. Ich habe meine Vorschrif 256
ten. Ich bin verpflichtet, jede Aussage zur Kennt nis zu nehmen. Verstanden?“ „Recht so, Inspektor“, sagte Aphrodite sarka stisch. „An Vorschriften muß man sich halten. Ich sagte vorhin, daß die Freifrau die entstandene po litische Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen be schloß. Habe ich mich diesmal einigermaßen re spektierlich ausgedrückt, Inspektor?“ Helmut Baller nickte bloß mürrisch, weil selbst er unmöglich den blanken Hohn überhören konn te, der hinter dieser Frage steckte. „Fein“, sagte Aphrodite. „Die Freifrau zitierte den vorübergehend nach Frankreich retirierten und dort allerlei undurchsichtigen Geschäften nachgehenden Vicomte de Bassecour zu sich. Sie gewann auch ihren damaligen Bettwärmer, den Edlen Gans von Himmelreuth, der im wahrsten Sinne des Wortes zum heruntergekommenen Adel gehörte, für ihren Plan. Und gemeinsam gründete das blaublütige Trio die Europäische Bewegung für die Monarchie.“ „Das ist nicht strafbar“, sagte Baller. „Außer dem längst bekannt.“ „Ich habe auch nicht behauptet, daß die Grün dung der sogenannten E. B. M. ungesetzlich war“, sagte das junge Mädchen. „Ich gehe vielmehr noch weiter. Die Gründung der E. B. M. paßte so gar ganz ausgezeichnet in die damalige politische Landschaft. Daß die drei adligen Galgenvögel überhaupt nicht daran dachten, den offiziell pro klamierten europäischen Geist zu befördern, son dern nur die eigene Bereicherung im Auge hatten 257
– das freilich steht auf einem anderen Blatt. Und entbehrt nicht der Komik, mein lieber Inspektor.“ „Ich kann darin beim besten Willen nichts Ko misches sehen“, sagte Baller eisig. „Vorausge setzt, daß Sie Beweise für Ihre Behauptung auf bringen können.“ „Die Beweise liegen in Ihrer Schublade“, sagte Aphrodite. „Erpressungen kleinen und großen Stils. Und wenn Ihre Leute nicht beide Augen zu gekniffen haben, müssen sie im Safe des Vicomte eine dicke Akte gefunden haben, die Aufschluß über eingegangene Spenden und Zuschüsse für die E. B. M. gibt. Es handelt sich dabei nicht gera de um geringe Summen. Oder haben Sie das Haus des Vicomte noch nicht durchsucht?“ „Wofür halten Sie mich“, sagte Baller indigniert. „Das haben wir noch in der Nacht besorgt. Die Ak te ist sichergestellt. Natürlich hatten wir noch kei ne Zeit, die Papiere zu prüfen.“ „Dann stecken Sie möglichst bald einmal die Nase hinein“, sagte Aphrodite. „Alle Spenden sind in die Tasche der Freifrau und ihrer Kumpane ge flossen, und das war ein verdammt einträgliches Geschäft. Dr. Nepomuk Krafft hat, beiläufig be merkt, in den Täbris des Vicomte beißen müssen, weil er den adligen Gaunern auf die Sprünge ge kommen ist. Da haben Sie das Tatmotiv dieser Mordsache.“ „Einleuchtend“, sagte der Inspektor. „Ich habe mich auch schon gefragt, was für einen Grund der Vicomte eigentlich hatte… In der Tat sehr plausi bel.“ 258
„Sehen Sie“, sagte Aphrodite, die jedoch nicht den Inspektor, sondern die Haushälterin und den Vicomte anschaute. Beide hüllten sich finster in Schweigen. „Natürlich florierte anfangs das Geschäft der drei Mustereuropäer nicht so gut“, fuhr das junge Mädchen erläuternd fort. „Das hat sich erst im Laufe der Zeit so vortrefflich eingespielt. Es war zuerst sogar recht mühselig, belastendes Material über die blaublütigen Standesgenossen in die Hände zu bekommen. An der Beschaffung des Ma terials beteiligten sich ausnahmslos alle. Und selbstverständlich wurde auch Armanda Hafer mann und ihr Ehegespons für diese Zwecke in Dienst genommen. Später übertrug man diese Aufgabe Detektivbüros in verschiedenen Städten, während die Mitglieder der Erpresserclique nur noch Sonderaufgaben übernahmen. Die Freifrau hielt sich sogar in den letzten Jahren völlig zu rück. Sie hatte nämlich ihre eigenen Pläne.“ „Und Armanda Hafermann war ebenfalls an die sen Erpressungen beteiligt?“ fragte der Inspektor. „Sie werden irgendwo in ihrer Wohnung die Be richte der Detekteien finden“, antwortete Aphrodi te. „Und noch manches andere Interessante. Denn ich nehme an, Inspektor, daß Sie wohl die Räume der ‚Bewegung’ und die Privatzimmer der Freifrau, kaum aber die hafermannsche Teilwoh nung durchsucht haben, nicht wahr?“ „Dafür war kein Anlaß“, gab Baller widerwillig zu.
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„Merken Sie denn nicht, daß das Mädchen ganz unverfroren lügt?“ schoß die Haushälterin dazwi schen. „Das ist doch haarsträubend.“ „Ich bin ausnahmsweise Ihrer Meinung, Arman da“, sagte Aphrodite. „Ich komme nämlich jetzt zu den Mordfällen. Sehen Sie, Inspektor, die Frei frau wußte natürlich, daß früher oder später das Erpressungsunternehmen platzen würde. Und auch das ziemlich morsche Gebäude der E. B. M. mußte zumindest bedenklich ins Wackeln kom men, sobald es beispielsweise einem der großher zigen Spender einfallen sollte, Rechenschaft zu fordern. So ist es am Ende ja auch gekommen.“ „Sie meinen Dr. Krafft?“ fragte Baller, der si chergehen wollte. „Ja, natürlich“, sagte das junge Mädchen. „Nicht wenig beunruhigte die Freifrau auch, daß nach und nach alle ihre Opfer in ihre Nähe und das heißt nach Köln zogen. Sie vermutete nicht un richtig, daß jeder von ihnen ihr liebend gern an den faltigen Hals ginge, wenn er Gelegenheit und dazu natürlich die belastenden Papierchen fände. Ich wiederhole mithin: Die Freifrau wußte, zumin dest jedoch ahnte sie, daß die Zeit des noch blü henden Geschäfts bald vorüber sein würde. Natür lich hatte sie keine Lust, ihr Luxusappartement mit einer muffigen Zelle zu vertauschen. Sie woll te vielmehr den Rest ihres Lebens mit dem ergat terten Geld irgendwo an der Riviera oder der Co sta brava möglichst anspruchsvoll verbringen. Und deshalb faßte sie einen teuflischen Plan.“ Aphrodite beobachtete, wie Armanda Hafer mann unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutsch 260
te. Absichtlich legte sie eine kurze Verschnaufpau se ein. „Weiter“, drängte Helmut Baller. „Ja, einen gleichermaßen satanischen wie höchst einfachen Plan“, fuhr Aphrodite fort. „Sie beschloß kurzerhand, alle Mitwisser beiseite zu schaffen. Übrigens auch den Vicomte de Basse cour, aber darauf komme ich noch zu sprechen. Es war ein leichtes, den ihr ohnedies hörigen Vi comte für ihre Absichten zu gewinnen. Denn eines der ersten Opfer sollte der Edle Gans von Himmel reuth sein, der ständige Rivale des Vicomte, den er deshalb nicht gerade mit freundlichen Gefühlen bedachte. Und zusammen mit ihm sollte Armanda Hafermann sterben, die mehr von der Freifrau wußte als alle anderen. Beispielsweise auch, daß der Tod des Freiherrn kein Unfall war.“ Helmut Baller war bei diesen Worten des jun gen Mädchens aufgesprungen. „Sind Sie übergeschnappt!“ rief er unbe herrscht. „Ich hab’ doch noch Augen im Kopf. Ar manda Hafermann sitzt doch hier vor mir…“ „Ich sagte doch, daß das Weibsbild nicht ganz richtig im Kopf ist“, sagte Armanda wütend. „Ach, Sie meinen die Person, die dort auf dem Stuhl sitzt und Blut und Wasser schwitzt?“ sagte Aphrodite. „Das ist nicht die Haushälterin, Inspek tor. Das ist vielmehr die Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn, geborene Bagarre. Meine liebe Tante.“ „Was?“ sagte der Hauptinspektor, der Mund und Augen aufriß und mühsam nach Luft schnappte. Auch Obermeister Schmidtchen 261
schluckte vernehmlich, und der mitstenografie renden blonden Maus fiel prompt der Bleistift aus der Hand. Nur der Catcher blickte weiter finster und verständnislos vor sich hin. „Vergessen Sie nicht, Inspektor“, sagte Aphro dite nach einer Weile ruhig, „daß niemand in den letzten Jahren die Freifrau zu Gesicht bekommen hat. Es war nicht schwer, einen kleinen Tausch mit Armanda vorzunehmen, zumal sich die beiden alten Damen im Verlauf ihres langen Zusammen lebens recht ähnlich wurden. Das kommt häufig vor. Jedenfalls ist die Ermordete, die Sie neben dem Edlen Gans von Himmelreuth vorfanden, nicht die Freifrau, sondern Armanda Hafermann gewesen.“ „Das ist doch absurd!“ Die Stimme der vorgeb lichen Armanda Hafermann schnappte vor Zorn über. „Friedlich, Tantchen“, sagte das junge Mädchen. „Leugnen ist völlig zwecklos. Es gibt nämlich ei nen Zeugen, der dich ohne weiteres identifizieren wird.“ „Sie meinen wohl Ihren Vater“, sagte die Frei frau, die offensichtlich immer noch nicht aufgeben wollte. „Das möchte ich doch mal sehen.“ „Nein, Tantchen“, antwortete Aphrodite ruhig. „Ich meine den Vicomte de Bassecour. Gib dich bloß nicht der falschen Hoffnung hin, daß er schweigen wird. Er wird hingegen mit Vergnügen auspacken, wenn er erfährt, wie raffiniert du ihn aus dem Weg schaffen wolltest.“
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„Glaub ihr kein Wort“, sagte die ehemalige Soubrette an den Vicomte gewandt. „Das ist ein ganz fauler Trick.“ „Vielleicht…“, sagte der Vicomte nachdenklich. „Vielleicht aber auch nicht. Ich möchte ganz gern hören, was Mademoiselle zu sagen hat.“ „Vernünftig“, sagte Helmut Baller, der immer noch ziemlich erschüttert auf seinen Sessel zu rückfiel. „Gern“, sagte Aphrodite. „Es ist mir ein Vergnü gen. Für Sie, Vicomte, hatte meine Tante etwas ganz Besonderes reserviert. Sie sollten sich ge wissermaßen selbst lebenslänglich ins Zuchthaus bringen. Deshalb hat die Freifrau Sie aufgefordert, die Leichen Armandas und Himmelreuths zusätz lich noch einmal zu erschießen. Was Sie auch prompt erledigten, womit Ihre Schußwaffe sozu sagen schon polizeilich registriert war.“ „Ganz schön ausgekocht“, sagte der Hauptin spektor und schüttelte über soviel Verderbtheit ausgiebig den Kopf. „Meine Entführung durch den Obersten Trutz von Hoffmannsau kam Ihrer lieben Freundin gera de recht, Vicomte“, fuhr Aphrodite fort. „Sie machte Ihnen klar, daß sowohl der Oberst als auch ich jetzt unbedingt aus dem Weg geschafft werden müßten, und zwar weil ich durch den Oberst mit Sicherheit von den Erpressungen er fahren würde. Und der Oberst, weil man nicht dulden könne, daß irgendein Opfer aus der Reihe tanze und eigene Wege gehe. Sie, Vicomte, ka men zu Valentin Kalbe in der Absicht, mich zu er ledigen, aber ich war zu meinem Glück schon ver 263
schwunden. So konnten Sie nur noch den zweiten Auftrag zu Ende bringen und den Oberst erschie ßen.“ „Das ist doch Wahnsinn“, sagte die freifrauliche Haushälterin zum Vicomte. „Diese Rotznase will uns bloß auseinanderbringen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht recht habe.“ „Ja, das will ich“, gab Aphrodite unumwunden zu. „Und der Vicomte wird es sich noch sehr über legen, ob er dir noch länger die Stange hält. Daß Sie, Vicomte, den Stadtdirektor Dr. Krafft er schossen, war der Freifrau nämlich so unlieb wie der nicht, wiewohl sie am Telefon äußerst besorgt tat.“ „Woher wissen Sie nun das schon wieder?“ sag te Baller und wischte sich die verwunderten Augen aus. „Ich weiß es, basta“, sagte Aphrodite knapp. „Und der Vicomte weiß recht gut, daß ich die Wahrheit sage. Wie dem sei: Die Freifrau sagte Ihnen zu, Vicomte, die Leiche des Dr. Krafft besei tigen zu helfen. Aber ich bin verdammt sicher, daß sie der Polizei einen Wink auf den mutmaßli chen Täter geben wollte. Das liegt einfach in der Logik der Sache.“ „Himmel“, sagte Helmut Baller und schlug sich an die Stirn. „Das stimmt haargenau. Ich Esel!“ Er wühlte hastig in den auf dem Schreibtisch liegen den Papieren, und er fand schließlich, was er suchte. „Dieser Brief kam mit der Morgenpost“, fuhr er ergänzend fort. „Ich habe ihm weiter keine Bedeutung beigemessen, weil die Angelegenheit 264
ohnehin klar schien. Aber in diesem Licht gese hen…“ Er gab Aphrodite einen Brief, der nur einige Zei len enthielt. „Sieh einmal an“, sagte das junge Mädchen. „Viel Zeit hat Tantchen nicht verloren. Der Brief ist, wie ich sehe, am Vorabend aufgege ben worden. Ein menschenfreundlicher Text, Vi comte, das kann man wohl sagen.“ Sie las laut vor: „Der Mörder des Obersten Trutz von Hoffmannsau heißt Vicomte de Basse cour, wohnhaft Sperlingsweg 9. Er hat auch Dr. Nepomuk Krafft getötet, dessen Leiche Sie sicher lich bald aus dem Rhein fischen werden. Einer, der die Gerechtigkeit liebt.“ „Das habe ich nie geschrieben“, sagte die Frei frau schnell. „Das mußt du mir glauben, Schlums…“ Der Vicomte würdigte sie keines Blickes. Er stand langsam auf, strich entschlossen über sei nen Clemenceau-Schnurrbart und sagte: „Ich werde aussagen. Die neben mir sitzende Person ist in der Tat nicht Armanda Hafermann, sondern die Freifrau von und zu Hummerlang und Böller sinn. Und sie hat Armanda Hafermann, den Edlen Gans von Himmelreuth, Jakob Hafermann und den Grafen von Hasenthal vergiftet. Und mich zum Mord an dem Obersten Trutz von Hoffmanns au und an Dr. Nepomuk Krafft angestiftet.“ „Du verfluchtes Schwein!“ brüllte die Freifrau auf und fuhr wütend auf den Vicomte los. Nicht einmal der Polizeicatcher vermochte zu verhin dern, daß der Vicomte wegen seiner tiefgehenden Kratzwunden im Gesicht erst einmal verarztet 265
werden mußte, bevor er Hauptinspektor Helmut Baller ein Geständnis bescherte, das an Schönheit und Vollständigkeit sogar noch die umfängliche Konfession des Schlitzer-Toni übertraf, die im merhin den dokumentarisch belegbaren Höhe punkt in der Laufbahn des Hauptinspektors bilde te. Man kann es auch anders sagen: Das Geständnis des Vicomte machte Helmut Baller wenigstens vorübergehend zum überglücklichsten Menschen auf der ganzen Welt. Nun war Inspektor Baller, wie bekannt, gewiß kein Geistesheros, obwohl seine Vorgesetzten in dieser Hinsicht kurioserweise ganz anderer Mei nung waren, aber der Undankbarkeit konnte ihn niemand zeihen. Er war sich beispielsweise völlig klar darüber, daß er das ersehnte Geständnis ein zig und allein der jungen Französin verdankte. Es spricht deshalb durchaus für ihn, daß er Aphrodi te, kaum nachdem die beiden Verbrecher abge führt worden waren, einen nachgerade opulenten Imbiß servieren ließ. Er vergaß sogar Augustus nicht, denn er mobilisierte sämtliche verfügbaren Beamten seines Dezernats, um Fliegen und Spin nen und Käfer aller Art einzufangen, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, ob der Geißel skorpion auch Kakerlaken fresse, die nach seiner Aussage scharenweise das Polizeipräsidium bevöl kerten. Er ließ es sich auch trotz mancherlei Be denken wegen Aphrodites offenbar dubioser poli tischer Haltung nicht nehmen, das junge Mädchen höchst eigenhändig zum Flughafen Köln-Wahn zu fahren, von wo sie die nächste Maschine nach Pa ris nehmen wollte, und es war gleichwohl schon 266
weit nach Mitternacht. Begreiflicherweise nutzte er die Gelegenheit, um noch einige Auskünfte ein zuholen, wofür das junge Mädchen hinlänglich Verständnis aufbrachte. „Eines ist mir immer noch unklar, Mademoisel le“, sagte er, während er an einer Ampelkreuzung bei Rot auf die Bremse latschte. „Wie sind Sie daraufgekommen, daß Armanda Hafermann eben nicht die Haushälterin, sondern Ihre Tante war?“ Aphrodite, die neben ihm auf dem Vordersitz saß, warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Das habe ich relativ spät erfahren“, antwortete sie. „Ich erzählte Ihnen doch, daß ich mich in der Wohnung des Vicomte verstecken mußte und da bei ein Telefongespräch belauscht habe…“ „Hm…“, sagte Baller bestätigend, schaltete in den ersten Gang und ließ langsam die Kupplung los. „Mir fiel auf“, fuhr das junge Mädchen fort, „daß der Vicomte den Gesprächspartner am anderen Ende ,Reine’ nannte. Nun, Reine heißt soviel wie Königin im Französischen, und ich weiß von mei nem Vater, daß meine Tante sich mit Vorliebe so nennen ließ. Sie war nie bescheiden und fühlte sich als junges Mädchen durchaus als Königin der Soubretten.“ „Ach so“, sagte Baller und wich elegant einem wohl kurzsichtigen alten Mütterchen aus, das auf der Fahrbahn umherirrte. „Außerdem hatte ich mir die Telefonnummer gemerkt“, erklärte Aphrodite weiter. „Und als ich unter dieser Nummer anrief, meldete sich Arman da Hafermann. Reine mußte also die angebliche 267
Haushälterin sein. Es konnte sich mithin nur um meine Tante handeln.“ „Das zu beweisen“, sagte Baller, „wäre Ihnen aber verflucht schwergefallen, wenn der Vicomte nicht ausgepackt hätte.“ „Überhaupt nicht“, schmunzelte das junge Mäd chen. „Ich habe vorsorglich mit meinem Vater te lefoniert, der mir ein kleines Geheimnis verriet. Meine Tante hat nämlich einen Zoll unter dem Nabel einen Leberfleck, der ungefähr wie eine Marguerite aussieht. Daher hat sie übrigens ihren Namen.“ „Toll“, sagte der Inspektor. „Eltern sind eben manchmal komisch“, sagte Aphrodite, die es schließlich wissen mußte, sofern man die Erfahrung mit ihrem eigenen Namen in Rechnung setzte. „Und warum hat die Freifrau Sie nach Köln be stellt?“ Ballers Wissensdurst war offenbar immer noch nicht gestillt. „Das ist doch sonnenklar“, antwortete Aphrodi te. „Sie wollte mich in Mordverdacht bringen. So zusagen der Polizei gleich den Mörder mitliefern, um sich eventuell langwierige und gründliche Un tersuchungen zu ersparen. Deshalb hat sie auch den Vicomte veranlaßt, nachträglich noch einmal auf die Toten zu schießen. Man sollte mich auf fri scher Tat ertappen. Jedenfalls sollte es so ausse hen. Und Sie geben jetzt doch ebenfalls zu, In spektor, daß Sie einen entsprechenden Anruf erhalten haben?“ „Wie anders hätten wir so schnell zur Stelle sein können“, sagte Helmut Baller, der, auf der Aus 268
fallstraße angekommen, den vierten Gang einleg te. „Und wir haben Sie ja auch prompt erwischt. Aber sagten Sie nicht bei anderer Gelegenheit, daß die Freifrau mit der sinnlosen Leichen Schießerei bezweckte, den Vicomte fürs Zucht haus vorzubereiten?“ „Sie hat auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das ist übrigens eine ihrer Spezialitäten.“ „Sehr plausibel“, meinte Baller. „Etwas ande res: Warum mußte Jakob Hafermann dran glau ben? Er war der Freifrau doch grenzenlos ergeben und obendrein ein Säufer, der ihr schwerlich ge fährlich werden konnte.“ „Irrtum“, sagte Aphrodite. „Er mußte aus dem Weg. Den Tod seiner Frau hat er so richtig zwar nicht mitgekriegt, dieweil er wie üblich total be trunken war. Aber er wußte schließlich, wer die Freifrau war, die ihre Rolle als Armanda Hafer mann nur mit seinem Einverständnis hätte spielen können. Wahrscheinlich hätte dieses verkommene Subjekt dagegen nicht einmal etwas einzuwenden gehabt. Aber die Freifrau ging lieber auf Nummer Sicher.“ „Damit hat sie sich selber aber keinen guten Dienst erwiesen“, meinte Helmut Baller. „Denn wenn es stimmt, daß die Freifrau den Mordver dacht auf Sie hatte lenken wollen, war es einfach töricht, Hafermann umzubringen. Sie befanden sich doch zur Tatzeit in Untersuchungshaft.“ „Sehr richtig bemerkt“, antwortete Aphrodite. „Sie vergessen bloß Augustus, der mir in der Wohnung entlaufen war. Die angebliche Haushäl 269
terin hatte die Schachtel sehr wohl gesehen, die ich unter dem Arm trug, als ich an der Tür klingel te und nach meiner Tante fragte. Sie war sicher, daß sie zumindest für eine gewisse Zeit den auf mir ruhenden Verdacht nur verstärken konnte, wenn sie meinen Skorpion auf den inzwischen da hingeschiedenen Jakob Hafermann plazierte.“ „Aber…“, warf der Inspektor skeptisch ein. „Ich weiß, was Sie sagen wollen“, kam ihm Aphrodite zuvor. „Natürlich hat sie den in der Wohnung umherirrenden Augustus entdeckt. Wahrscheinlich im Bad. Und sich ihren Reim dar auf gemacht.“ „Welcher normale Mensch faßt ein solches Vieh an“, sagte Baller, der sich jedoch sofort berichtig te. „Verzeihung… Ich meine natürlich, wenn man nicht weiß, um was für ein Tier es sich handelt.“ „Das wußte Tante Marguerite sogar recht gut“, sagte das junge Mädchen, die bei diesem letzten Ausfall des Inspektors auf Augustus amüsiert lä chelte. „Sie waren doch selbst dabei, als ich das Experiment mit ihr machte. Des Rätsels Lösung ist, daß sie vor langen Jahren mit einem Ölmillio när aus Dallas liiert war. Damals machte sie mit irgendeinem Ensemble eine Tournee durch die Staaten. Und mangels blaublütiger Herren, die dort bekanntlich rar gesät sind, begnügte sie sich einstweilen mit einem gewissermaßen öligen Te xaner. Auf dessen Ranch lernte sie bis zum Über druß Geißelskorpione kennen. Und natürlich auch, daß diese Spezies von Gliederspinnen nicht giftig ist.“ 270
„Junge, Junge!“ sagte der Inspektor bewun dernd. „Sie sind die geborene Detektivin.“ „Quatsch“, sagte Aphrodite. „Ich habe nur Papa entsprechend ausgehorcht. Wobei sich beiläufig bemerkt herausstellte, daß Tante Marguerite ebenfalls vor langen Jahren auch ein paar Monate in Südamerika zugebracht hat. Von dort hat sie wahrscheinlich das schnellwirkende indianische Pfeilgift mitgebracht.“ „Ein unverhältnismäßig rasch wirkendes Toxi kum, in der Tat“, sagte der Inspektor, der ab sichtlich das Fremdwort wählte, um mit seiner Bil dung zu glänzen. Seine Neugier war indessen immer noch nicht befriedigt. „Weshalb aber hat sie sich den Grafen von Ha senthal vorgenommen?“ fuhr er nach einer Weile fort, weil er damit beschäftigt war, allmählich herunterzuschalten. Der Flugplatz Köln-Wahn war bereits in Sicht. „Das wiederum sollte den Verdacht gegen mich wieder aufleben lassen“, sagte Aphrodite schmun zelnd. „Meine Tante war schließlich dabei, als ich Ihnen klarzumachen versuchte, daß Augustus ein harmloses Tier ist, womit ich für den Mord an Ja kob Hafermann schwerlich noch in Frage kam. Folglich mußte sie mich wieder neu in Verdacht bringen. Die Wahl fiel natürlich deshalb auf den Grafen, weil er gegen die Erpressungen aufzu mucken wagte.“ „Alles klar“, sagte Helmut Baller, der ungemein froh war, weil er jetzt imstande war, seinen Vor gesetzten vollständig Rede und Antwort zu ste hen. Er hielt Aphrodite sogar höflich die Wagentür 271
auf, bevor er sich mit einem kräftigen Händedruck von ihr verabschiedete. Das junge Mädchen hatte sich schon gut zehn Meter von ihm entfernt, als der Inspektor ihr nachrief: „Moment noch, Made moiselle…“ Aphrodite drehte sich um: „Was ist denn, In spektor. Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“ „Tja…“, sagte Helmut Baller und ging langsam auf die junge Französin zu. „Eines hätte ich wirk lich noch gern gewußt. Ich meine…“ „Drucksen Sie nicht herum. Mann“, sagte Aphrodite. „Heraus mit der Sprache. Meine Ma schine startet in einer Viertelstunde.“ „Es ist weiter nichts“, meinte Baller. „Und doch… Kurzum: Es muß doch etwas dran sein, daß die Bourbonen wiederkommen. Oder vielleicht unser Kaiser. Wie sonst hätte die Europäische Bewegung für die Monarchie solche Erfolge erzie len können? Zugegeben Erfolge…“ Aphrodite tippte sich vielversprechend und laut auflachend an die Stirn. „Sagen Sie bloß, Inspektor“, antwortete sie und wandte sich zum Gehen. Soviel gehobene Dumm heit lohnte wirklich keine weitere Antwort. „Nanana…“, stotterte Helmut Baller verblüfft.
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Nachwort
Der Verfasser des vorliegenden und hiermit auch der verehrlichen Öffentlichkeit zugänglichen Ro mans, der innerhalb der Kriminalliteratur seines gleichen suchen dürfte, wie der Unterzeichnete nach eingehendem Studium der Materie füglich anmerken darf – der Autor dieses Werkes ist be dauerlicherweise vor ungefähr zehn Tagen vom Bierholen nicht zurückgekehrt. In Fachkreisen wird daher das Schlimmste befürchtet, denn auch eine großangelegte Suchaktion blieb erfolglos, obwohl nicht die kleinste Destille, Kaschemme oder Stampe ausgelassen wurde. Infolgedessen konnte der Autor seine mehrfach geäußerte Ab sicht, dem Roman noch ein abschließendes Kapitel hinzuzufügen, leider nicht mehr verwirklichen. So ist dem Unterzeichneten die ebenso ehren- wie mühevolle Aufgabe übertragen worden, die zu rückgelassenen Aufzeichnungen und Papiere des Verschwundenen mit aller Sorgfalt zu sichten und das eventuell vorhandene letzte Kapitel ausfindig zu machen. Der Unterzeichnete verwandte hierauf seine ganze Schaffenskraft, vermochte jedoch das erwähnte Kapitel oder wenigstens dessen Entwurf nicht zu finden. Daraus ist zu schließen, daß der spurlos verschollene Romancier dieses Kapitel entweder nicht geschrieben oder aus unbekannten Gründen auf seinem letzten Gang zusammen mit einer bauchigen Bierkanne mitgenommen hat. Gleichwohl waren die intensiven Bemühungen des Unterzeichneten nicht ganz erfolglos, denn er 273
konnte einige Fundstücke sicherstellen, die ohne jeden Zweifel Entwürfe für dieses Kapitel darstel len. Zum Beispiel fand er unter dem rechten vor deren Bein eines nierenförmigen Rauchtisches mehrere eng zusammengefaltete Papierbogen, die dort zu dem Zweck, das Wackeln des Tisches zu verhindern, eingeklemmt und außerdem eng be schrieben waren. Daß es sich hierbei um einen Szenenentwurf für das gesuchte letzte Kapitel handelt, konnte der Unterzeichnete nach genau em Studium des Textes einwandfrei konstatieren, weil a) der Name Aphrodite mehrere Male darin vorkommt und b) diese Passage im Roman nicht vorhanden ist und folglich erst hinzugefügt wer den sollte und c) die Flugreise der Heldin erwähnt wird. Hingegen war mit Sicherheit nicht zu eruie ren, an welchem Ort diese Szene situiert ist, je doch dürfte aus der Erwähnung des Puffbohnen beets einwandfrei hervorgehen, daß es sich um den in Kapitel 2 des Romans angeführten Garten von Monsieur Bagarre handelt, worauf auch die Anwesenheit von Monsieur Bagarre selbst hindeu tet. Ich zitiere: „Ich werde ganz schwach, wenn ich daran den ke, was du alles hast durchmachen müssen“, jammerte Monsieur Bagarre. Aphrodite beachtete ihn nicht. Sie stand versonnen vor dem Puffboh nenbeet und überlegte, wieso eigentlich diese Sorte Bohnen in Holland schneller wachse als in ihrer Heimat. Da mußte doch irgendein Trick da bei sein. „Und dieser Hauptinspektor…“, fuhr Monsieur Bagarre fort. „Erst benimmt er sich derart scheuß 274
lich, und dann fährt er dich noch zum Flughafen. Aber irgendwie mußte er sich ja erkenntlich zei gen.“ „Quatsch“, sagte Aphrodite und wandte sich mit einem Seufzer von den erst fingerlangen Bohnen ab. „Er wollte mich so schnell wie möglich loswer den. Schließlich hat er bei dieser Affäre nicht ge rade eine rühmliche Rolle gespielt. Von dem Skandal ganz zu schweigen, wenn ich Gelegenheit bekommen hätte, die Presse beispielsweise über die Vergangenheit der adligen Bande aufzuklären. Deshalb ließ er mich sicherheitshalber nicht aus den Augen.“ „Richtig“, stimmte Monsieur friedlich seiner Tochter zu. „Die Vergangenheit der feinen Damen und Herren. Hat darüber eigentlich etwas in den Zeitungen gestanden?“ „Natürlich nicht“, sagte Aphrodite. „Mir war von vornherein klar, daß man alles tun würde, um so viel Gras wie nur möglich darüber wachsen zu las sen. Aber ich habe schließlich die Fotokopien.“ „Du willst doch nicht etwa…?“ fragte Monsieur Bagarre entsetzt. „Doch“, sagte Aphrodite und kicherte schaden froh. „Ich werde die Sache publik machen. Figu ren wie der Conde della Scala oder gar der Fürst Tscherwenkow gehören ins Loch. Und weil man in Köln offenbar nicht so recht an die Sache heran gehen will, werde ich mir erlauben, etwas nach zuhelfen.“ „Du bist verrückt“, sagte Monsieur Bagarre. „Der Inspektor bringt es fertig und belangt dich wegen Einbruchdiebstahls.“ 275
„Meinetwegen“, sagte das junge Mädchen schnippisch. „Dann verklage ich ihn wegen übler Nachrede und Verleumdung. Ich habe den von ihm wissentlich falsch aufgesetzten Steckbrief nicht vergessen. Außerdem rücke ich ihm in die sem Fall mit einem leibhaftigen Skorpion auf die Amtsbude.“ Ende des Zitats. Eine weitere Spur des letzten Kapitels fand der Unterzeichnete im Pantoffel des verschwundenen Literaten. Es waren wiederum zwei dicht be schriebene Papierbogen, die zweckentfremdet als Einlegesohlen dienten. Leider ist der größte Teil des Textes völlig unleserlich geworden, weil der Verschollene. bekanntlich ein leidenschaftlicher Pantoffelträger ist und auf diese Weise sein Werk eigenhändig oder, wie man wohl genauer sagen muß, eigenfüßig ruiniert hat. Höchste Akribie und aufwendige Kleinarbeit waren nötig, um wenig stens einige Bruchstücke dieses Textes zu dechif frieren. Sie genügen jedoch für den Beweis, daß es sich hier um einen Teil des letzten Kapitels handelt, weil a) vom Prozeß der Freifrau von und zu Hummerlang und Böllersinn und b) vom Ende der Laufbahn des Zitter-Hermännches die Rede ist. Ich zitiere: „Auf diese… erf… Aphrodi… daß der Freifrau un ter Ausschluß der Öffentlich… Prozeß gemacht wurde… Lebenslän….Und… Zufall… ereilte am glei chen Tag das Zitter-Hermännche… sal… bar kühn geword… ein… erzter Tourist, der… der Karriere des Zitterers ein Ende gesetzt… So erwischte es schließlich die großen wie die kleinen Gau…“ Ende des Zitats. 276
Der Vollständigkeit wegen ist der Unterzeichne te gehalten, anzuführen, daß er auf vereinzelte Notizen stieß, die möglicherweise auch diesem letzten Kapitel beizuzählen sind, obwohl dafür ein exakter Beleg vorerst nicht zu erbringen ist. Auf der Manschette eines abgelegten weißen Hemdes fand er zum Exempel die nachfolgend zitierte No tiz: „B. dachte so angestrengt nach, daß ihm der Kragenknopf vom Schweiß rostete.“ Ende des Zi tats. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, daß es sich bei B. um Hauptinspektor Helmut Baller handelt. Dagegen spricht jedoch, daß diese Ge stalt sich ihrer ganzen Anlage nach eines solchen Eifers kaum befleißigen dürfte (vgl. die Kap. 1, 2, 3, 10 und 11 des Romans). Und um das Bild ab zurunden: Auf einem der in der Wohnung des Verschwundenen zahlreich vorhandenen Bierdek kel war vermerkt: „Haben Sie überhaupt keine Ahnung, Inspektor, wie eine Frau zwischen Kinn und Knie beschaffen ist?“ Es kann einerseits ver mutet werden, daß dieser Satz, der im Roman selbst nirgends zu finden ist, gleichwohl für dieses Werk gedacht war: Die Anrede „Inspektor“ könnte Hauptinspektor Helmut Baller gelten. Gegen diese These spricht indessen andererseits, daß die Ge stalt des Helmut Baller, wie man dem Kapitel 11 des Romans entnehmen kann, verheiratet ist und insofern vermutlich weiß, wie eine Frau auf dem Terrain zwischen den benannten Örtlichkeiten be schaffen sein dürfte. So kann der Unterzeichnete abschließend nur feststellen, daß die Entschei dung, ob diese Sätze dem Roman und hier vor nehmlich dem geplanten letzten Kapitel zugerech 277
net werden können oder nicht, künftiger For schung vorbehalten bleiben muß. Denn es liegt auch im Bereich des theoretisch Möglichen, daß diese Bemerkungen schon Vorgriffe auf ein weite res Buch des abhanden gekommenen Schriftstel lers sind, mit dem der geneigte Leser jedoch nur rechnen kann, wenn der Verschollene zufällig doch noch vom Bierholen zurückfinden sollte, worauf sich zu verlassen der Endesunterfertigte freilich nicht empfehlen möchte. Dr. Fürchtegott Kniersch
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