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Eine phantastische Seefahrt in ein überschäumendes Dasein, die geistvolle und ausgelassene Expedition zweier unbekümmerter, von Lebenslust und Wissensdurst beseelter Forscher, Denker und Dichter! Gemeinsam mit seinem Geistesbruder, dem Biologen Edward F. Ricketts, mietete John Steinbeck ein Schiff mit zwei Beibooten und fuhr damit zu Anfang des zweiten Weltkrieges die Pazifikküste entlang, um die Halbinsel Niederkalifornien in den Kalifornischen Golf, um das Leben der dortigen Seefauna zu ergründen, vor allem der wirbellosen Tiere, der Krebse, Muscheln, Schnecken, Korallen, Polypen, Kraken, Medusen und anderer Geschöpfe des Meeres. Ausrüstung, Zeit, Geld und Personal der Expedition waren knapp, aber ihr menschlicher, geistiger und wissenschaftlicher Gewinn war groß, größer als selbst bei reich dotierten Expeditionen in dies wenig erforschte Reich der Rochen und Wale, der Delphine und Seeschildkröten. Diese sonderbare Fahrt stellt Steinbeck so fesselnd, bescheiden und liebevoll dar, daß sich der Leser so wie das genießerische Matrosenpaar Tiny und Sparky vom Golf fast nicht mehr trennen will. Sieben Jahre nach ihrer Rückkehr, kurz vor Antritt einer neuen Expedition, die durch die Hekate-Straße nach den Queen Charlotte-Inseln gehen sollte, ist Steinbecks Gefährte, Ed Ricketts (Das Urbild des Doc aus «Cannery Row») einem Autounfall zum Opfer gefallen. Sein Leben und Tod wird im ersten Teil des Buches geschildert. Wie nah kommen uns da die beiden abenteuerlichen Freunde! Wie gleichen sie einander in ihrem Denken, ihrer Menschenliebe, ja selbst in ihrem Äußern!
Mit dem Logbuch des Lebens gibt der Dichter unserer Zeit das, was Goethe der seinigen mit der «Farbenlehre» gegeben hat: schöpferische Anregung und dichterisch intuitive Erkenntnis naturwissenschaftlicher Dinge. Es ist auch Steinbecks Weltanschauungswerk, seine schalkhafte Dichtung vom «Lauf der Welt» und auch ein saftiges Stück «Dichtung und Wahrheit».
JOHN STEINBECK
LOGBUCH DES LEBENS Im Golf von Kalifornien
Mit einer Vita Ed Ricketts
STEINBERG-VERLAG ZÜRICH
Titel des Originals: THE LOG FROM THE SEA OF CORTEZ reissued with a profile about Ed Ricketts Einzige autorisierte deutsche Übertragung von Dr. Rudolf Frank
Einbandentwurf und Schutzumschlag von Hans Hermann Hagedorn Copyright 1953 by Steinberg-Verlag, Zürich Printed in Switzerland
ERSTER TEIL
EDWARD F. RICKETTS TOD UND LEBEN
JOHN STEINBECK
EDWARD F. RICKETTS
I
n der Dämmerstunde eines Apriltages 1948 unterbrach Ed Ricketts die Arbeit in seinem Laboratorium, deckte seine Instrumente zu, räumte seine Aufzeichnungen weg, krempelte die aufgerollten Ärmel seines Wollhemdes herunter und zog seinen braunen Rock an, der etwas zu eng und an den Ellbogen abgewetzt war. Er wollte zum Abendessen ein Beefsteak und kannte die Fleischbank in New Monterey, wo es das zarteste gab. Er trat auf die Straße, die offiziell Ocean View Avenue heißt, aber als Cannery Row bekannter ist, die Straße der Ölsardinen. Am Bordrand stand sein Wagen, ein ramponierter alter Sedan, der seine Mucken hatte und sich nicht leicht in Gang bringen ließ. Ed hätte schon längst einen neuen gebraucht, konnte es sich aber nicht leisten, da andere Dinge vorgingen. Er schaltete, ruckte und drückte, bis der hochbetagte Motor in ein katarrhalisches Husten ausbrach, ein Beweis, daß er lief. Nun griff mein Freund in die schartigen Gänge, und das Gefährt fuhr die Cannery Straße hinauf. Das düstere Zwielicht erschwerte das Sehen. Ein Stück weiter oben kreuzten die Schienen der Pacific Railways den Weg, der hier steiler wurde, weshalb Ricketts den zweiten Gang einschaltete. Der Lärm des Motors und der Getriebe übertönte alle andern Geräusche. Ein Lagerschuppen aus Wellblech versperrte die Aussicht nach links. 13
Von dort nahte in eben diesem Moment der Abendzug aus San Francisco, der Del Monte Expreß, und stieß in das fahrende Auto. Der Kuhfänger vorn an der Lokomotive bohrte sich ihm in die Flanke und riß es achtzig Meter weit mit. Dann kam der Zug endlich zum Stehen. Man holte Ed aus dem zertrümmerten Wagen und legte ihn ins Gras. Das Zugpersonal, Passagiere und alles, was in den kleinen Häusern bei den Geleisen wohnte, drängte sich um ihn. Ein Arzt war sogleich zur Stelle. Eds Schädel war fürchterlich zugerichtet. Die Augen standen verquer. Aus dem Munde quoll Blut. Der Körper sah aus, als betrachte man ihn durch unrichtige Gläser. Doch Ed war bei Bewußtsein. Der Doktor beugte sich über ihn. Die Menge stand stumm. Und Ed fragte: «Wie schlimm ist es?» «Ich weiß nicht», antwortete der Arzt. «Wie fühlen Sie sich?» «Ich fühle nichts.» Da der Doktor ihn kannte und wußte, welch ein Mann Edward Ricketts war, sagte er: «Natürlich, das ist der Schock.» «Natürlich», kam es leise zurück. Die Augen Eds fingen an zu verglasen. Man hob ihn auf eine Bahre und brachte ihn ins Spital. Streckenarbeiter stemmten und zerrten den zertrümmerten Wagen aus dem Kuhfänger der Maschine, und der Del Monte Expreß fuhr langsam in den Bahnhof Pacific Grove, die Kopfstation, ein.
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Mehrere Ärzte waren um Ricketts bemüht, und mehr Ärzte riefen an, ob sie helfen könnten. So beliebt war Ed bei allen. Die Spitalärzte sahen, daß der Fall ernst war, narkotisierten daher und schnitten Ed auf, um zu sehen, wie ernst es war. Es war hoffnungslos: die Milz gebrochen, Rippen verletzt, die Lunge durchstochen, das Hirn erschüttert. Am besten hätte man ihn in der Narkose dahinscheiden lassen, aber die Chirurgen konnten und wollten den Mann nicht aufgeben, so wenig wie das Volk im Wartezimmer und auf den Gängen. «Wer weiß», hieß es, «ein Wunder ist möglich.» Die Operateure erinnerten sich an derartige Fälle. Sie reparierten Eds Interna so gut es ging und nähten ihn wieder zu. Immer wieder mußte einer der Ärzte hinaus ins Wartezimmer, und dann war ihm, als träte er vor Gericht. Alle Wartenden saßen da wie aus Stein. Ihre Augen enthielten nur eine einzige Frage. Auf welche die Doktoren mit Sätzen antworteten wie: «Es geht durchaus nach Erwarten …» oder: «Etwas Bestimmtes läßt sich vorläufig nicht sagen, aber es scheint, als sei im Zustand des Patienten eine Besserung eingetreten …» Sie redeten mehr als notwendig. Das Volk sagte kein Wort. Es wartete. Und dauernd kamen Angebote von Leuten, die Blut spenden wollten. Am folgenden Morgen kam Ed zu Bewußtsein, war aber sehr erschöpft und von der Narkose noch halb betäubt. Seine Augen waren entfärbt. Sprechen konnte er nur mit großer Mühe, wiederholte jedoch seine gestrige Frage: «Wie schlimm ist es?» Der anwesende Arzt, der schon im Begriff stand, ihm einen beruhigenden Unsinn vorzulügen, besann sich als 15
Ricketts Freund rechtzeitig auf dessen Mentalität und medizinische Kenntnisse und sagte daher nur: «Sehr schlimm.» Ed stellte keine weiteren Fragen. Doch in ihm war eine Lebenskraft, die noch tagelang Widerstand leistete, so daß die Ärzte bereits an das Wunder glaubten, dessen Eintreten sie für unmöglich gehalten hatten. Sie konstatierten besseren Puls, und sahen, daß sich die Gesichtsfarbe unter dem Verband belebte. Ed hielt sich so lange, daß einige Wartende wagten, nach Hause zu gehen und sich schlafen zu legen. Und dann, wie es bei Menschen höchster Vitalität oft der Fall ist, schwanden Energie, Farbe, Puls, Atmung still und rasch, und er starb. Die Erregung in Monterey wich einem Zustand dumpfer Bedrücktheit, von dem die Menschen sich zu befreien suchten. Ed war tot. Nun wollten sie, daß er entschwebe, schnell und so weit entschwebe, daß sie seiner würdig und gefaßt gedenken konnten. Auf einem Hügel, nicht weit von der Ebbezone am Leuchtturm, steht das Krematorium, in dessen Kapelle Edward Ricketts im geschlossenen Sarg für einige Nachmittagsstunden aufgebahrt wurde. Blumenspenden fand jedermann unangebracht, und die Befürchtung, es werde jemand eine Ansprache halten, erwies sich als unbegründet. Es ging alles so schnell, daß niemand zu einer Äußerung, sei sie gut oder schlecht, Zeit fand, nicht einmal die gewohnheitsmäßigen Leichenredner. Eine Unmenge Menschen drängte in die Kapelle; jeder warf einen Blick auf den Sarg und ging wieder hinaus. Es 16
bildeten sich keine Gruppen. Alle wollten allein sein. Einige begaben sich an den Strand, setzten sich in den körnigen Sand und starrten wie blind in die nahende Flut, die sich langsam über den Seetang der Klippen ergoß. Auf allen, die Ed Ricketts gekannt hatten, lagerte eine Art Betäubung, nicht das, was man Trauer nennt, eher ein ratloses Fragen: Was sollen wir tun …? Was wird nun sein …? Ohne Doc! Was ist das noch für ein Leben …? Jeder saß in sich gekehrt. Wir waren uns selber abhanden gekommen, wir fanden uns nicht mehr zurecht. Es fällt mir schwer, über Ed all das niederzuschreiben, was man festhalten muß; es ist kaum möglich, sein Wesen klarzustellen. Das weiß jedermann, der ihn kannte. Mag sein, daß manches, was man von ihm erzählt, Phantasieprodukt war oder übertrieben. Der persönliche Eindruck spielt eine große Rolle. Gewiß werden Viele beim Lesen dieser Blätter sagen: «Das stimmt nicht, Ed war anders!» Und dann wird der Betreffende einen Menschen schildern, wie ich ihn nie erlebt habe. Nur eines wird keiner bestreiten: Eds Kraft und Wirkung. Sie war tief und bleibend. Einige hat er gelehrt, zu denken; andre, zu schauen oder zu lauschen. Die Kinder am Strand haben von ihm gelernt, die Augen offen zu halten, und dann entdeckten sie wunderbares Getier und eine ungeahnte Welt. Er belehrte jeden, ohne daß der es merkte. Fast alle seine Bekannten versuchten, ihn zu bestimmen, wie man eine Pflanze bestimmt. Die einen sagten von ihm: «Er war halb Christus, halb Faun», andere: «Er war ein großer Lehrer und ein großer Wollüstling, ein Unsterblicher, der die Frauen geliebt hat.» Sicher war er ein 17
Original und sein Charakter einzigartig, doch so, daß jeder mit ihm etwas gemeinsam hatte, der eine dieses, der andere jenes. Er war lieb und gütig, doch auch zur Grausamkeit fähig, war klein und schmächtig, dabei stark wie ein Stier, treu und dennoch unzuverlässig; freigebig war er, gab aber wenig und empfing viel. Sein Denken war so paradox wie sein Leben. Er dachte in mystischen Begriffen, obwohl er dem Mystizismus abhold war und ihn mißbilligte. Er war Individualist und verfolgte mit innerer Genugtuung das soziale Verhalten der Tierwelt. Wir alle versuchten ohne Erfolg, Ed Ricketts Wesen zu definieren. Vielleicht ist es besser, man legt das gesamte Material an Erinnerungen, Anekdoten, Aussprüchen und Begebenheiten, über das wir verfügen, schriftlich nieder. Viel Widersprechendes wird sich darunter befinden. Aber so war er. Sein Wesentliches liegt anderswo. Es muß eine Möglichkeit geben, es zu entdecken. Es gibt noch einen Grund, Ed Ricketts Sein aufs Papier zu bannen … Er stirbt nicht. Sein Geist verfolgt uns, die wir ihn kannten. Er ist immer zugegen, auch dann, wenn wir seine Abwesenheit am schmerzlichsten spüren. Eines Nachts, nicht lange nach seinem Tod, saßen einige von uns im Laboratorium, tranken Bier, lachten, erzählter uns Geschichten vom Doc und plötzlich schrie einer auf «Wir müssen ihn lassen! Wir müssen ihn freigeben, ihn gehen lassen!» Der Schmerzenschrei war echt und wahr. Wir können Ed nicht halten, er aber weicht nicht. Vielleicht, wenn ich alles über ihn niederschreibe, dessen ich mich erinnern kann, wird es Eds Geist beruhigen 18
und bannen. Ich will es versuchen. Und jedes Wort, das ich schreibe, muß wahr sein, sonst ist alles umsonst. Es soll keine Verherrlichung seiner Vorzüge sein, denn – wie ein Anderer sagte – er hatte die Fehler seiner Tugenden. Eine Formel für Ricketts wird es nie geben. Das beste wird sein, sich nur zu erinnern. Das will ich, so gut ich vermag. Das Biographische: Edward F. Ricketts, in Chicago geboren, spielte als Kind auf der Straße, besuchte die Schule, studierte an der Universität Chicago Biologie, eröffnete in Pacific Grove, Kalifornien, ein kleines Privatlaboratorium und übersiedelte nach Monterey in die Ocean View Avenue. Als Akademiker hat er es nur bis zum Bachelor of Science gebracht. Klubs: keine. Ämter und Ehrenzeichen: keine. Heeresdienst: zwei Weltkriege. Getötet durch einen Eisenbahnzug im Alter von 52 Jahren. In diesem engen Kreis hat er einen weiten Weg zurückgelegt und eine Wunde zurückgelassen, die nicht vernarben will. Ich saß in New Monterey im Warteraum eines Dentisten, hoffte, der Zahnschlosser sei gestorben, hatte gräßliche Zahnschmerzen und für eine erstklassige Behandlung nicht genug Geld. Ich hegte den bescheidenen Wunsch, man möge meine Schmerzen stoppen, ohne zu umfangreicheren, kostspieligen Bohr- und Ausgrabungsarbeiten zu schreiten. Da öffnete sich die Tür zum Mißhandlungszimmer, und heraus kam ein schmächtiger Mann mit Kinnbart. Sein Gesicht sah ich mir nicht genau an; ich starrte auf das, was er in der Hand hielt: einen Backenzahn mit einer erklecklichen Portion Unterkiefer daran. Beim 19
Überschreiten der Schwelle stieß er einen wohltemperierten Fluch aus, während er mir seine Reliquie hinhielt. Sie roch, und er sagte: «Sehen Sie sich das Scheusal an!» Ich hatte bereits genug gesehen. «Und so etwas», fügte er hinzu, «hat mir im Mund gesessen.» «Scheint mehr Kiefer als Zahn», bemerkte ich. «Ich glaube, der Mann da drin hatte nicht die rechte Geduld. Ich bin Ed Ricketts», stellte er sich vor. «John Steinbeck», erwiderte ich. «Tut’s weh?» «Es geht. Ich habe von Ihnen gehört.» «Ich auch von Ihnen. Kommen Sie, trinken wir was!» Das war unsere erste Begegnung. Irgendwer hatte mir erzählt, in Cannery Row habe ein interessanter Kerl eine erlesene Musikbibliothek, wundervolle Platten, ein Privatlabor und ein weit über seine wirbellosen Tiere hinausreichendes Verständnis. Ich hatte bereits geplant, ihn gelegentlich aufzusuchen. Ich hielt mich damals nicht für arm. Ich hatte bloß kein Geld. Ausreichendes Essen beschaffte ich mir durch List, Fischfang und Mundraub. Meine Zerstreuungen durften ebenso wenig kosten. Sie bestanden aus Spaziergängen, Gesprächen, Scherzen, Spiel und Umgang mit Menschen, die wie ich von der Luft lebten. Zu einem Symposion genügte eine Gallone 39-Cent-Wein; daraus erwuchs oft die größte Lustbarkeit. Reiche Leute kannte ich keine, verachtete sie daher und war ebenso stolz wie froh, daß ich so und nicht anders lebte. Vielleicht hatte ich mich bisher nur deshalb gescheut, Ed Ricketts Bekanntschaft zu suchen, weil er, gemessen an meinem Lebensstandard, ein reicher Mann war. Er konnte mit 100 bis 150 Dollar Mo20
natseinkommen rechnen und besaß ein Auto. Für meine Begriffe war dies ein Luxusdasein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Mensch viel Geld durchbringen kann, kam aber bald dahinter. Vom ersten Augenblick an war mir Ed Ricketts vertraut. Ich kannte ihn in den folgenden achtzehn Jahren besser als irgend sonst wen, und doch habe ich ihn vielleicht gar nicht gekannt. Mag sein, daß es all seinen Freunden so ging. Er unterschied sich von allen und war doch mit ihnen so tief verbunden, daß jeder sich in ihm wiederfand. Dies mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb uns sein Tod einen solchen Schlag versetzte. Nicht allein Ed war dahin, auch vieles Bedeutsame in uns selbst. Das alte Haus, in dem sich sein Laboratorium befand, hatte er vor seiner Übersiedlung gekauft und für seine Zwecke umgestaltet. Von draußen gelangte man zunächst in ein Vorzimmer, eine Art Schauraum, an dessen vier Wänden auf Regalen in gläsernen Gefäßen Seetiere mancherlei Art aufgetürmt waren. Daneben befand sich ein kleines Bureau, wo er aus unerfindlichen Gründen zwischen Registraturschränken und einem Kassenschrank die Käfige mit seinen Klapperschlangen stehen hatte. Auf dem Kassenschrank lagen ein Berg Schreibpapier und Kartothek-Karten. Er liebte Papier und Kartons und kaufte sie en gros. An der dem Meer zu gelegenen Seitenfront lagen zwei weitere Räume, der eine voll Käfigen mit Hunderten weißer Ratten, die sich rasend vermehrten und einen netten Gestank verbreiteten, wenn nicht regelmäßig reingemacht 21
wurde; es geschah nicht einmal unregelmäßig. Der zweite, nach hinten gelegene, war voll von Mikroskopen, Instrumentarien und allen Vorrichtungen zur Aufzucht und Konservierung jener zarten Mikroorganismen, auf denen ein Hauptteil der Laboratoriumseinkünfte beruhte. Im Souterrain lagerten die Flaschen und Behälter zur Aufbewahrung größerer Seetiere, ferner die Apparaturen zur Einbalsamierung und für Injektionen; sie kamen besonders bei Katzen, Haien, Fröschen und allen anderen Tieren zur Anwendung, die beim Sezierunterricht benötigt werden. Das Ganze nannte sich seltsamerweise PACIFIC BIOLOGICAL LABORATORIES INC. und verstieß gröblich gegen das kalifornische Gesetz über Aktiengesellschaften. Als die Gesellschaft nach Eds Tod liquidiert werden sollte, ließ sich weder feststellen, wer außer mir eine Aktie besaß, noch wie hoch das Aktienkapital war, und erst recht nicht, wie die Aktien standen und ob sie überhaupt standen. Über die Eigenschaften seiner Tiere führte Ed wundervoll Buch, aber Geschäftsbriefe ließ er oft wochenlang liegen, machte sie nicht einmal auf. Kein Mensch weiß, wie sein Geschäft zwanzig Jahre lang gehen konnte, aber es ging, auch wenn es manchmal wackelte. Zuweilen war sogar System drin, und es lief auf hohen Touren. Dann wieder machte es schlapp und war monatelang auf dem Hund. Während einer solchen Depressionsperiode schickte ihm einmal ein guter Freund per Post einen Käskuchen. Ed nahm an, in dem Paket sei Konservierungsmaterial. Als er es nach drei Monaten öffnete, hätte er den Inhalt kaum identifizieren können, wenn nicht ein Zettel, der obenauf 22
lag, empfohlen hätte: «Iß diesen Käskuchen sogleich! Er ist prima.» Sein Schreibtisch war meist mit ungeöffneten Briefen dermaßen überhäuft, daß die Hälfte davon auf den Boden fiel. Ed glaubte an die Theorie: Wenn man einen Brief eine Woche lang unbeantwortet läßt, erübrigt sich jede Antwort. Er hatte die Theorie sogar noch ausgebaut: Briefe, die man einen Monat lang ungeöffnet liegen läßt, braucht man überhaupt nicht mehr aufzumachen. Aber von dieser wie von andern Gewohnheiten Eds gab es Abweichungen und Ausnahmen. Er stand mit zahlreichen Personen in regem Briefwechsel, beantwortete ihre Schreiben prompt und ausführlich, wobei er sich der Raumersparnis halber einer Schreibmaschine mit Spezial-Kleinlettern bediente. Auf die Anschaffung dieser Maschine hatte er besondere Umsicht und viel Zeit verwendet. Kommerzielle Typen wie «$, &, +, %, §» etc. mußten gegen biologische Schriftzeichen ausgewechselt werden, auch verlangte er auf der Tastatur verschiedene ausländische Zeichen: die spanische Tilde, die französischen Akzente, die Cedille und das deutsche «ä, ö, ü». Er brauchte sie zwar fast nie, hatte sie aber gern zur Verfügung. Die Lebensgeschichte seines Laboratoriums zerfällt in zwei scharf geschiedene Perioden: die vor und die nach dem Brand, der in mehrfacher Hinsicht Beachtung verdient. Da muß eines Nachts irgend etwas bei der elektrischen Strom-Versorgung der Küste in Durcheinander geraten sein. Von den vorgesehenen normalen 220 Volt sprang die Spannung urplötzlich auf etwa 2000. Dies war – da die Elektrizitätsgesellschaft in der nachfolgenden Gerichtsver23
handlung von jeder Schuld freigesprochen wurde – zweifellos einem unmittelbaren Eingreifen Gottes zuzuschreiben. Im Nu stand fast ganz Cannery Row in Flammen. Ed ergriff seine Schreibmaschine, sauste die Treppe hinunter, holte sein Auto, und bevor das Gebäude noch Zeit fand, in den eigenen Keller hinab zu krachen, war er im Freien. Seine mit Umsicht gesammelte wissenschaftliche Bibliothek, die zum Teil unersetzliche Werke enthielt, seine feinen Apparaturen, die Mikroskope, die vielen teuren Behälter, das ganze tote und lebende Inventar ging zum Teufel. Ed hatte nicht einmal Hosen an. Aber sein Transport- und sein Schreibgerät war dank seiner Geistesgegenwart unversehrt, und er war stolz, just diese Wahl getroffen zu haben. Und noch etwas blieb bei der Katastrophe heil. Eds Safe, sein vorhin erwähnter Kassenschrank, war ein so bemerkenswertes Stück Feinmechanik, daß er sich oft schon Gedanken gemacht hatte, ein von romantischen Vorstellungen irregeleiteter Einbrecher könne etwas wertvolles darin vermuten, den Geldschrank knacken und so den schönen Verschluß mit dem genialen Mechanismus ruinieren. Daher hatte Ed den Einbruch- und Feuersicheren nie abgeschlossen, hatte sogar einen Keil eingeklemmt, damit man ihn gar nicht zuschließen konnte, selbst wenn man es wollte, und obendrein über das Vexierschloß eine Inschrift geklebt, die an Eidesstatt versicherte, daß der Safe nicht abgesperrt sei. Ed besaß ja auch wirklich nichts, was man normalerweise einem Kassenschrank anvertraut. Er benutzte ihn, um darin Speisen aufzubewahren, welche die Fliegen hätten anlocken können, die sich um Cannery 24
Row in Wolken zusammenballten. Doch an den Fischkonserven aus der Straße der Ölsardinen hatten sie sich einen Ekel gegessen und waren daher auf andere Nahrung scharf. Aber noch keine Fliege hatte es fertiggebracht, den Safe zu öffnen. Doch zurück zu unserer Feuersbrunst! Nachdem alles ausgebrannt und die Asche abgekühlt war, fanden wir den Kassenschrank unten im Keller. Er war aus dem Parterre, als der Fußboden nachgab, heruntergestürzt und lag auf der Seite. Er war in der Tat ein vorzüglicher Safe, denn als man ihn öffnete, fand sich darin eine halbe Ananas, ein Viertelpfund Gorgonzola und eine offene Büchse Sardinen, und alles – mit Ausnahme der Sardinen – war noch genießbar, aber an der Ungenießbarkeit der Cannery-Sardinen war weder die Feuersbrunst noch der Geldschrank schuld. Diesen bewunderte Ed seitdem mehr denn je zuvor und betonte: «Ich hätte die kostbarsten Dinge drin aufheben können; er hätte sie beschützt. Denkt nur, wie empfindlich der Gorgonzola ist! Er kann es im Safe nicht sehr heiß gehabt haben. Er schmeckt noch delikater als sonst.» Trotz seiner Gelehrsamkeit, vielleicht auch gerade deswegen, war Ed in vielen Dingen naiv. Nach dem Brand gab es eine Menge Prozesse gegen die Elektrizitätsgesellschaft, die alle auf der Annahme beruhten: Wenn ein Irrtum oder die Nachlässigkeit der Gesellschaft die Katastrophe verursacht hat, muß sie den angerichteten Schaden bezahlen. Zu den Klägern gehörten auch die Pacific Biological Laboratories, Inc. Ed begab sich aufs Obergericht Salinas und sagte die Wahrheit, so gut er konnte. 25
Die Gerichtsverhandlung fesselte seine Aufmerksamkeit. Er verbrachte viele Stunden im Gerichtsgebäude, beobachtete die Justiz mit der gleichen naturwissenschaftlichen Sachlichkeit wie eine neue Spezies Meerwasserbewohner und erklärte danach, von Staunen bewegt: «Da sieht man, wie leicht es ist, in der simpelsten Materie unrecht zu haben. Bisher war es meine Überzeugung, die Justiz habe die Aufgabe, in den Fragen der menschlichen Beziehungen und des Eigentums zur Wahrheit zu gelangen. Ich hatte nur nie daran gedacht: Jede Partei will gewinnen, und dieser Wunsch verbiegt alle guten Vorsätze dermaßen, daß die objektive Wahrheit zwischen subjektiven Plädoyers zermalmt wird. Beide Seiten wollen siegen. Nehmt nur den Fall mit dem Brand! Keine hatte Interesse an, im Gegenteil, beide hatten einen wahren Abscheu vor der Wahrheit.» Es war dies für ihn eine Entdeckung, die er weiteren Nachdenkens wert hielt. Da er die Wahrheit liebte, hatte er geglaubt, Alle müßten es. Daß es sich anders verhielt, betrübte ihn aber nicht; es interessierte ihn nur. Bald darauf machte er sich ans Werk, sein Labor und seine Bibliothek systematisch neu aufzubauen. Seine Ausdrucksweise wirkte auf Leute, die ihn nicht kannten, oft recht befremdend. Als er einmal einen Katalog zusammenstellte, wollte er die Tierhandlungen davon in Kenntnis setzen, daß er einen ziemlichen Vorrat Hexenfische auf Lager habe. Der Hexenfisch ist sowohl äußerlich wie auch in seinen Gewohnheiten äußerst ekelhaft, ein Scheusal in Reinkultur. Aber Ed empfand es anders. Bestimmte Funktionen des Scheusals fand er geradezu fas26
zinierend und offerierte daher: «Wonnige, bildschöne Hexenfische, in größeren Quantitäten lieferbar.» Er bewunderte alle Art Würmer dermaßen, daß er einmal ein heißgeliebtes Mädchen unter Liebkosungen «Wormy» nannte, worüber sie um so mehr außer sich geriet, als sie das Wort nicht für die Verkleinerungsform von Worm-Wurm, sondern für das gleichlautende Adjektiv «wormy», d. h. «wurmstichig» hielt. Ed aber wollte damit nur ausdrücken, wie interessant, wie hübsch und begehrenswert sie ihm erschien. Die Holde hat sich nie an den Kosenamen gewöhnen können. Sie behauptete, weder wurmstichig noch ein Würmchen zu sein. Da er Feinschmecker war, gebrauchte er gern kulinarische Ausdrücke. Ich habe selber gehört, wie er am gleichen Abend ein junges Mädchen eine Meerassel und eine Melodie als schmackhaft bezeichnete. Für seinen Geist gab es keine Schranken. Für Alles hatte er Interesse, und es gab weniges, was er nicht liebte. Dies wenige will ich notieren. Vielleicht liefert es uns den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit. Doch nein! So einen Schlüssel wird es nie geben. Das Alter liebte er nicht. Er haßte es an Andern und hielt es bei sich nicht für möglich. Alte Weiber waren ihm unerträglich; er hielt es nicht im gleichen Zimmer mit ihnen aus; er könne sie nicht riechen, behauptete er. Sein Geruchsinn war tatsächlich ungemein ausgeprägt. Er roch es, wenn eine Maus in der Stube war. Ich war selbst dabei, wie er, allein mittels seines Geruchorgans, das Vorhandensein einer Klapperschlange im Unterholz feststellte. 27
Er haßte dünnlippige Frauen und pflegte zu sagen: «Wenn sogar die Lippen dünn sind, wo soll dann Fülligkeit sein?» Das frage ich auch. Doch war seine Vorliebe für Frauen zu groß, als daß er sich durch das Lippenformat unter allen Umständen hätte abschrecken lassen. Wenn ein süßes Ding mit wenig Lippe sich mit dem Lippenstift einen üppigen Mund malte, war er zufrieden und erklärte: «Sie ist auf dem richtigen Weg. Es gibt eine seelische Fülle, und die kann manchmal sehr nett sein.» Er haßte heiße Suppen und goß daher in die feinste Hühnerbrühe kaltes Wasser. Er haßte es, wenn sein Kopf naß wurde. Beim Tieresammeln in der Brandungszone machte es ihm nichts aus, wenn ihn die Wellen bis auf die Haut durchnäßten, wenn nur sein Kopf bedeckt und hübsch trocken blieb. Unter der Dusche trug er einen wasserdichten Südwester. Das muß man gesehen haben! Er verabscheute es, wenn jemandem grundlos Schmerzen zugefügt wurden. Auf einer abendlichen Autofahrt sah er einen Mann, der einen roten Setter mit einem Schürhaken verprügelte. Sofort hielt er, ging mit seinem Universalschraubenschlüssel auf den Tierquäler los und hätte ihn totgeschlagen, wäre der Kerl ihm nicht weggelaufen. Trotz seiner schmalen Statur fürchtete er sich vor niemand und konnte im Zorn gefährlich werden. Als einer unserer Cops mitten in der Nacht auf einen Betrunkenen mit dem Pistolengriff losschlug, stürzte sich Ed unbewaffnet, mit bloßen Händen auf den Polizisten und war so erschreckend in seiner Wut, daß der Cop sein Opfer sogleich losließ. Dieser Haß galt aber nur unbegründeter 28
Grausamkeit. Wenn ihn der Schmerz notwendig dünkte, zeigte er wenig Mitgefühl. In der Depressionszeit kauften wir ein lebendes Schaf für drei Dollar. Das klingt heute unglaubhaft, aber es war so. Das fette Tier war selbst damals in der Zeit größter Geldknappheit eine besondere Occasion. Als wir es jedoch daheim hatten, hatte keiner von uns das Herz, ihm den Garaus zu machen. Da schnitt Ed, ohne mit der Wimper zu zucken, dem nahrhaften Tier die Gurgel durch und setzte uns kühl auseinander, das Verbluten sei völlig schmerzlos, wenn kein Schreck, keine Todesangst hinzutrete. «Wenn man die Halsschlagader mit einem scharfen Instrument öffnet, tut es kaum weh.» Er hatte sie mit einem Skalpell durchschnitten und das Tier nicht erschreckt, so daß der Schmerz, den uns das Mitgefühl und eine verkehrte Einfühlung verursachten, wahrscheinlich größer war als der des Schafes. Seelischem Schmerz bei normalen Menschen stand er mit philosophischem Gleichmut gegenüber und setzte uns auseinander: Fast alles, was unsereinem zustoßen kann, sei seit Millionen Jahren immer wieder geschehen; infolgedessen habe sich für alles, was uns zugefügt werden könnte, in der menschlichen Natur ein Mechanismus herausgebildet, der den Schmerz lindernd in Obhut nimmt, ein Kanal aus prähistorischen Zeiten, tief eingesenkt in unsere Erbmasse. Er hatte eine Abneigung gegen Pünktlichkeit, außer wenn es sich um Experimente oder Beobachtungen handelte. Er hatte nämlich früher einmal bei der Eisenbahn gearbeitet; dort sei sein ganzes Leben durch den Sekundenzeiger geregelt worden, und dadurch habe er einen 29
Abscheu vor der exakten Einhaltung der Zeit bekommen, erzählte er uns; es war meines Wissens das einzige Mal, daß er etwas von seinem Leben als Eisenbahner verlauten ließ. Zu Verabredungen kam er konsequent zu spät. Lud man ihn auf sieben Uhr zum Abendessen, so erschien er um neun. Wenn hingegen eine zum Sammeln günstige Ebbe um 6.53 eintreten sollte, war er um 6.52 zur Stelle. Je mehr ich in ihn einzudringen suche, um so deutlicher wird mir, daß für ihn keine Norm endgültig war. In bezug auf das eigene Verhalten war er sich keiner Regel bewußt, beobachtete jedoch bei anderen Menschen das Schema ihres Verhaltens mit Hingebung. Seit ich ihn kenne, trug er den kurzen Spitz- und Bakkenbart, der sein halb Faun-, halb Christus-Aussehen unterstrich. Diesen Bart hatte er sich deshalb wachsen lassen, weil ein von ihm begehrtes Mädchen der Ansicht war, er habe ein «schwaches Kinn», was gar nicht der Fall war, aber ihr zulieb züchtete er einen Kinnbart. Ihr Schönheitsideal stammte vermutlich aus den Annoncen, die zu jener Zeit Jünglinge mir Arrow-Kragen und keck vorspringendem Kinn reproduzierten. Nach vielen andern Geliebten trug er noch immer den Bart. Er war nun daran gewöhnt. Erst bei der Armee im zweiten Weltkrieg mußte er sich rasieren lassen, nachdem er manchen Verdruß, den ihm der Ziegenbart eingebracht, stoisch ertragen hatte. Oft hatten Lausbuben ihm «mä-ä-äh» nachgerufen. Aber dagegen wußte er sich zu verteidigen. Er drehte sich einfach um und machte: «Mä-ä-ä-äh!» Das verblüffte die Bengel so, daß sie sich verdrückten. Sein Verhältnis zu Hunden war ebenso eigentümlich 30
wie liebenswürdig. Dabei hat er nie einen Hund besessen, sich auch keinen gewünscht. Den Hund auf der Straße grüßte er würdevoll, und wenn er im Auto an einem vorüberfuhr, griff er an seinen Hut und winkte ihm lächelnd zu. Und die Hunde, weiß der Kuckuck, haben zurückgelächelt. Für Katzen hatte er wenig übrig. Nur eine einzige behielt er in heiterer Erinnerung. Die stand nämlich mit seinem Vater auf Kriegsfuß; es war Jahre vor dem Brand, als der alte Herr, der nun längst tot ist, sich im Laboratorium nützlich zu machen suchte. Da entwickelte sie eine phänomenale Spucktaktik, die dem Sohn Bewunderung abnötigte, während der Vater, den das Geschoß selten verfehlte, darüber ergrimmt war. Doch nicht genug damit: Wenn der alte Herr durchs Laboratorium schlurfte, sprang das raffinierte Tier auf ein Regal und machte nicht nur einmal, sondern häufig – auf Papa Ricketts pipi. Dessen ungeachtet gedachte Ed seines Erzeugers in Liebe. «Er hatte eine Eigenschaft, die nur durch Genialität zu erklären ist: Er hatte immer unrecht», erzählte der pietätvolle Sohn. «Wenn ein Mensch aufs geradewohl eine Million Entscheidungen trifft und blindlings Urteile abgibt, kann man auf Grund der Wahrscheinlichkeitsrechnung annehmen, daß etwa eine halbe Million richtig und eine halbe falsch sind. Aber bei meinem Vater war die ganze Million absolut falsch. Das ist nicht Glücksache, selbst durch Zuchtwahl ist es kaum zu erklären. Es ist das Zeichen eines einmaligen Genies.» Vater Ricketts war ein scheuer, stillvergnügter Herr, der gegen seine Kopfschmerzen so viele Aspirintabletten verschlang, daß sich daraus eine chronische Acetylosalicyli31
cum-Vergiftung entwickelte, mit der eine leichte Verblödung verbunden war. Er hat jahrelang unten im Lagerraum gearbeitet, Präparate versandfertig gemacht und sogar größere, nicht allzu empfindliche Tiere zu Ausstellungszwecken präpariert. Aber sein höchster Stolz war ein menschlicher Fötus, den er in einer musealen Schauflasche liebevoll in Spiritus gesetzt hatte. Dieser Fötus hätte das uneheliche Kind eines Chinesen und einer Negerin werden sollen, wurde es aber nicht, denn nach einer unehelichen Auseinandersetzung erhielt die werdende Mutter zu viel Arsenik. Erst die Autopsie brachte ihr schwarzgelbes Geheimnis ans Tageslicht. Dort wurde es bald vom Pacific Biological käuflich erworben. Zu Studienzwecken war der Embryo schon zu erwachsen. Ricketts senior durfte ihn daher erben. Und er kreuzte ihm, nach dem Vorbilde Buddhas, Beinchen und Ärmchen und verpflanzte ihn so in die dicke Museumflasche, die seitdem im Souterrain zu sehen war. Das Schaustück wurde in Cannery Row berühmt. Kinder wie auch Erwachsene durften es gratis besichtigen und machten von dieser Erlaubnis gerne Gebrauch. Eines Tages stolperte eine Italienerin in das Naturalienkabinett, und da Daddy Ricketts ihr Italienisch nicht verstand, dachte er, sie wolle sein Meisterwerk, den Embryo in Spiritus bewundern, und präsentierte ihn ihr voll Stolz. Zum Dank dafür zog sie fix ihre Röcke aus und zeigte ihm mit nicht geringerem Stolz die Narben eines gelungenen Kaiserschnitts. Eds Papa geriet in Verlegenheit. Katzen bildeten für das Pacific Biological eine nicht unbeträchtliche Einnahmequelle. Sie wurden chloroformiert, 32
entblutet; hierauf injizierte man ihnen Einbalsamierungsfluid und Farbstoff in die Venen und Arterien und verkaufte sie zu Studienzwecken an Lehranstalten. Aber da der U.S.-Tierschutzverein keine Aufzucht von Katzen für Laboratoriumsbedarf duldet, bestand – wenn beispielsweise eine Bestellung auf 25 Katzen einlief – nur eine Möglichkeit, sie zu beschaffen: Ed gab den Nachbarsbuben bekannt, er sei Abnehmer für Katzen zum Preis von 25 Cent pro Stück. Dann aber fand er es recht betrüblich, daß die katzenliebende Jugend von Monterey herzlos nicht nur die Katzen ihrer Tanten und Nachbarn verkaufte, sondern auch ihre eigenen. Tagelang ging das heimliche Gelaufe zum Souterrain des Biological, immer wieder klopfte ein kleiner Katzenverräter ans Tor, ließ eine Katze aus dem Sack, kassierte mit dem unschuldigsten Gesicht einen Viertelsdollar ein und huschte hierauf in den Kramladen des Chinesen Chong, kaufte sich ein Pistölchen und Zündplättchen, und Chong machte wie immer ein gutes Geschäft. Eine vornehme Katzenfreundin, die daheim etliche hochmütige Katzentiere verhätschelte, sagte einmal zu Doc: «Lieber Freund, ich verstehe natürlich, daß so etwas notwendig ist; ich bin großzügig. Ich betrachte es nur als ein Glück, daß Sie auf Katzen mit Stammbaum keinen Wert legen.» Drauf Ed: «Und doch, meine Dame, bekomme ich keine andern. Herumstreunende Katzen sind viel zu schlau und hurtig, um sich fangen zu lassen. Man bringt mir nur dumme, faule, verwöhnte Salonkatzen aus gutem Hause. Schauen Sie unten im Souterrain nach, ob zufällig einer von Ihren Lieblingen dabei ist!» 33
Wenn irgendwer sich beklagen kam und seine Katze unter dem Rudel im Biological wiedererkannte, gab sie ihm Ed unverzüglich zurück. Zwei Knirpse benutzten dies zu dem, uralten Trick: Der eine verkaufte ihm Mamas Mäusefängerin, und der andre kam heulend und verlangte den Liebling zurück. Das klappte zweimal tadellos, und die beiden Gerissenen hätten auf diese Weise ein Vermögen verdienen können, wenn nicht Doc beim dritten Versuch die ihm offerierte Katze an ihrem hellgelben Fell und dem geknickten Schwanz wiedererkannt hätte. Fast jeder Mensch, meinte Ed, habe mindestens einen biologischen Fimmel, und so viele Leute ihn auch mit den merkwürdigsten Theorien und Anliegen überfielen, er hörte alle geduldig an. Besonders zahlreich waren jene, die in der Natur irgendwelche Parallelen entdeckten, wie jener Mann, der die These verfocht, daß Thunfische, die er kurzweg «Seehühner» nannte, mit den Hofhühnern verwandt seien: sie hätten dieselben Augen! Drauf Ed: «Ich gebe zwar selten ein eindeutiges Gutachten ab, aber in diesem Ausnahmefall möchte ich der Überzeugung Ausdruck verleihen, daß zwischen Hühnern und Tuna keine sehr nahe Verwandtschaft besteht.» Eines schönen Tages betrat ein modisch gekleideter, nach Maiglöckchen duftender junger Chinese das Laboratorium, tat furchtbar geheimnisvoll und deutete, mit argwöhnischem Blick auf mich, der ich gerade danebenstand, flüsternd an, er wolle Ricketts unter vier Augen sprechen. Der Chinese, der wie ein uramerikanischer Collegeboy auftrat, machte Ed offenbar Spaß; er stellte mich ihm im 34
gleichen Flüsterton als seinen Mitarbeiter vor, der in all seine Geheimnisse eingeweiht sei, worauf der Besucher vorsichtig fragte: «Haben Sie Katzenblut?» «Im Moment nicht, aber wenn wir Katzen präparieren, ist immer welches erhältlich. Wozu brauchen Sie es?» «Für ein Experiment», versetzte der Jüngling, klappte seinen Rockrevers um, enthüllte die Plakette eines Detektiv-Fernkurses und präsentierte sein Fernkurs-Diplom. Wir waren hingerissen, aber wozu er das Katzenblut eigentlich brauchte, verriet er uns nicht. Ed versprach, ihm von der nächsten Katzenserie das gewünschte Quantum zu reservieren; wir nickten einander geheimnisvoll zu, worauf unser mysteriöser Gast sich auf Zehenspitzen entfernte. Ja, das Labor war von Geheimnis umwittert. Da war die dunkle Affaire mit der Dame, die eine männliche Klapperschlange kaufen wollte. Ich habe damals daraus eine Erzählung gemacht. Sie steht in dem Novellenband «Der rote Pony» unter dem Titel «Die Schlange». Ich schrieb die Sache so hin, wie sie sich zugetragen hat, legte keinen tieferen Sinn hinein, hätte auch keinen gewußt und beantwortete keinen der Briefe, in denen man mich danach fragte. Die Dame zahlte den geforderten Preis für die Schlange. Daß das Reptil ein Männchen war, wußten wir, da es zufällig kurz zuvor unsere andere Klapperschlage befruchtet hatte. Die Kundin verlangte, die Giftschlange müsse vor ihren Augen gefüttert werden und bezahlte auch die dazu benötigte weiße Ratte. Ich habe in der erwähnten Geschichte eingehend beschrieben, wie die Grubenotter ihre Kiefern aushenkte, um die getötete Ratte verschlingen zu können. 35
Es hatte etwas erschreckendes. Aber noch schrecklicher war, wie die Dame den Vorgang aus nächster Nähe verfolgte und mit Kinnbacken und Mund jede Bewegung der Giftschlange mitmachte. Sie hat dann für ein Jahr im Voraus die weißen Ratten zur Fütterung ihrer Klapperschlange bezahlt und erklärt, sie werde wiederkommen, ist aber nicht mehr erschienen. Was mit ihr war, was in ihr vorgegangen ist, ob sie von einem sexuellen, einem erotischen, einem religiösen oder zoophilen Impuls getrieben war, oder ob es sich bloß um eine snobistische Laune gehandelt hat, ist uns nie klar geworden. Aber meine Erzählung fand ein komisches Echo. Ein Buchhändler schrieb mir, sie sei nicht nur schlecht, sie sei die miserabelste Story, die er jemals gelesen habe. Andere Leser bestellten Klapperschlangen. Ein frommer Verein beschuldigte mich, ich hätte eine perverse Phantasie, während ein ganz Gescheiter in meiner Schilderung eine symbolische Wiedergeburt des Aaronstabes und Mosis Schlangenwunder erblickte. Es ereignete sich noch mehr Rätselhaftes im Biological, zum Beispiel: der Blumenbann! Irgend jemand mußte das Haus von außen beobachtet und abgepaßt haben, wann niemand daheim war. Wenn wir zurückkehrten, lag jedesmal quer über der Schwelle eine Reihe weißer Blumen. Bei einigen nordamerikanischen Indianerstämmen bedeutet dies eine Verwünschung. Wer über die Blumen tritt, stirbt. Wer die weißen Rosen dahingelegt hat? Keine Ahnung. Vermutlich wollte man uns verhexen. Zur Zeit als der Ku-Klux-Klan übers ganze Land seine Affichen und Zettel spuckte, erhielt auch das Laboratorium seinen Teil. Texte wie! WIR HABEN EIN WACHSA36
MES AUGE AUF EUCH, wurden unter die Haustür geschoben. Mystische Dinge wirkten auf Ricketts ungünstig ein. Er haßte alle okkulten Gedanken und Offenbarungen in einem Ausmaß, das auf einen tiefliegenden, unausrottbaren Glauben an derlei hindeuten dürfte. Nicht einmal im Spaß ließ er sich aus der Hand lesen. Das Spiel mit dem sogenannten Ouija-Brett trieb ihn zur Raserei, und Gespenstergeschichten brachten ihn dermaßen in Harnisch, daß er sofort das Zimmer verließ, wenn jemand damit anfing. Er hatte ein Haustelephon, das die oberen Räume mit dem Souterrain verband. Bald nachdem Ricketts senior gestorben war, vertraute mir der Sohn an, in einem alpdruckartigen Wachtraum habe er das Telephon läuten gehört, den Hörer abgenommen und deutlich vom andern Ende der Leitung seines Vaters Stimme vernommen. Das verfolgte ihn bis in Schlaf und Traum. Ich deutete an, vielleicht habe sich jemand mit ihm einen schlechten Scherz erlaubt und riet, den Draht zu durchschneiden, was er sogleich besorgte. Er ging noch weiter und entfernte die beiden Apparate. «Denn», sagte er, «wenn es jetzt bei durchschnittener Leitung läutete, wäre es noch grauenhafter. Ich könnte es nicht ertragen.» Schon damals hatte der weiße Blumenbann ihm schrecklich zugesetzt. Ich sagte oben: Für seinen Geist gab es keine Schranken. Ich muß es richtigstellen. Er verbot seinem Geist, sich mit metaphysischen Erscheinungen zu beschäftigen, aber sein Geist verweigerte ihm den Gehorsam. Das Leben in Cannery Row war seltsam, zärtlich und 37
fürchterlich. Dem Pacific Biological vis-a-vis befand sich Montereys größtes, vornehmstes und beliebtestes Hurenhaus. Dessen Eigentümerin und Leiterin war ein bedeutendes Frauenzimmer, welches sich des Vertrauens und der Zuneigung jedes Menschen erfreut, der je mit ihr in Berührung gekommen war, mit Ausnahme solcher, die den Tugendknax hatten und deren Urteilsfähigkeit dadurch beeinträchtigt war. Sie war hochherzig und in jeder Hinsicht gesetzestreu, außer in einer: sie verstieß gegen die unklaren Verordnungen betr. Prostitution. Aber da ihr die Polizei dies nicht krumm nahm, fühlte sie sich im Recht und teilte nach verschiedenen Seiten hübsche Geschenke aus, besonders gern an die Witwen und Waisen von Polizisten und Feuerwehrsleuten. Während der Depression hat sie im Kramladen für eine ganze Reihe verarmter Familien die Rechnungen beglichen. Wenn die Handelskammer für wohltätige Zwecke Geld sammelte und jeden Gewerbetreibenden mit 10 Dollar veranschlagte, spendete Madam Dora 100. So hielt sie es bei allen Kollekten und Betteleien Einzelner. Sie war weise und nachsichtig. Sie merkte, wenn jemand ihr etwas vorschwindelte, gab ihm aber trotzdem so viel, als redete er die lautere Wahrheit. Ed stand zu Madam in freundschaftlicher Beziehung, gehörte jedoch nicht zu den Kunden des Hauses. Dazu war sein Sexualleben zu kompliziert. Oft bat ihn Dora um seinen Rat, und jedesmal tat er sein bestes. Seine wissenschaftlichen und weltlichen Kenntnisse standen ihr jederzeit zur Verfügung. In einem Freudenhaus ist Hysterie an der Tagesordnung, sei es, daß Hysterische diesen Frauenberuf bevorzugen, sei es, daß der Beruf Hysterie erzeugt; 38
ich konnte es bisher noch nicht entscheiden. Jedenfalls schickte Madam Dora des öftern eine ihrer Damen zum Zweck einer Rücksprache zum Doc. Dieser hörte sie mit Geduld und aufmerksam an; ihre Anliegen und Kümmernisse waren selten besonders schwierig. Er redete ihnen besänftigend zu, spielte auf seinem Plattenspieler schöne Musik; es fiel ihm nie ein zu moralisieren, vielmehr erörterte er alle ihm unterbreiteten Schwierigkeiten gewissenhaft, stellte die Dinge klar und nahm ihnen so alles Beunruhigende oder Schreckhafte. Bald merkte die Traviata, daß sie mit ihren Problemen nicht alleinstand und Viele in dieser elenden Welt den gleichen Kampf zu bestehen hatten und ihn bestanden. Wenn sie sich dann verabschiedete, fühlte sie sich durch seine seelische Stärke gehoben, gekräftigt und froh. Und noch eine Bindung bestand zwischen Ed und Madam. Sie hatte keine Konzession, Alkohol über die Straße zu verkaufen. Doch kam es gelegentlich vor, daß bei Rikketts spät nachts, wenn die Wirtschaften geschlossen hatten, kein Bier mehr vorhanden war, dafür um so mehr Durst. Madams Haus aber war die ganze Nacht offen. Da hatte sich denn ein genaues Ritual herausgebildet, an dem beide Teile ihren Heidenspaß hatten. Ed ging hinüber und bat Madam, ihm etwas Bier zu verkaufen. Sie weigerte sich jedesmal und setzte ihm auseinander, sie habe leider keine Lizenz, worauf Doc die Achsel zuckte und heimging. Zehn Minuten drauf wurden auf seiner Treppe weiche Pantoffelschritte vernehmbar, hierauf ein leichtes Bummsen vor seiner Tür, und die Pantoffeln huschten treppab. Ed wartete anstandshalber ein paar Minuten, und wenn er da39
nach – rein zufällig - die Schwelle überschritt, gewahrte er ein halbes Dutzend wohlverpackter, eiskalter Flaschen Bier. Madam gegenüber erwähnte er dies niemals. Es wäre gegen die Spielregel gewesen. Er vergütete ihre Gefälligkeit mit den Stunden, in denen sie seine Hilfe in Anspruch nahm, die sie ihres Lohnes für wert hielt. Denn nicht selten kam es drüben bei Dora, zumal in der Nacht von Samstag auf Sonntag, zu einer Rauferei. Das kommt selbst in den distinguiertesten Freudenhäusern vor. Wie könnte es anders sein, wenn mancherlei Liebe und vielerlei Alkohol sich begegnen? Es war nur vernünftig, daß Dora in solchen Fällen davon Abstand nahm, einen Arzt oder die Polizei zu bemühen. Ihr guter Freund Ed wurde mit einem zerrissenen Ohr, einer blutigen Lippe und ein paar Glassplittern im Schädel ohne weiteres fertig. Er war ein ausgezeichneter Operateur; es war noch nie eine Klage gekommen. Selbstverständlich wurde auch hierüber tiefstes Schweigen bewahrt, denn Doc war kein approbierter Arzt, überhaupt kein Doktor. Aber für Menschenfreundlichkeit braucht man ja keine Lizenz. Wie Doras Haus das Ziel vieler Vergnügungssüchtiger, so war Ed ein Anziehungspunkt für allerlei Anschläge, die in Cannery Row ausgekocht wurden. Das ganze Viertel hatte ihn gern, aber das hinderte die Wenigsten daran, ihm mit den dreistesten Zumutungen zu kommen. Doch rückten die Brüder nicht gleich mit der Sprache heraus; auch dies wäre gegen die Spielregeln gewesen. Aber sie brauchten nur den Mund aufzutun, da wußte Ed bereits, wie der Hase 40
läuft. Trotzdem wartete er, bis sie sich erklärten. Vorher griff er nicht in die; Tasche. «Es macht ihnen viel mehr Freude, wenn sie sich das Geld ehrlich erschwindeln», begründete er seine Zurückhaltung. Er gab nie viel. Er hatte selber so wenig. Und trotzdem es kaum einen Trick gab, den er nicht schon erlebt hatte, erfüllte ihn jeder besonders phantasievolle Pumpversuch mit Bewunderung. Eines Abends, als er gerade einen kleinen Hundshai präparierte, erschien einer seiner Stammkunden bei ihm mit den Worten: «Ich bin ein glücklicher Mensch», und behauptete, nun erst erfülle ihn das Glück wahren Seelenfriedens. «Du meinst, ich hätte es zu nichts gebracht, lieber Eddy Aber nach meiner unscheinbaren Außenseite kannst du unmöglich beurteilen, was in mir steckt.» Ed wartet gespannt auf die Falle. «Seelenfrieden, Eddie, was will man mehr! Ich habe einen; Platz, wo ich schlafen kann, keinen Palast, aber gemütlich ist es. Hungern muß ich nur ab und zu. Vor allem habe ich gute. Freunde; die sind mein höchstes Glück.» Ed hält an sich. ‚Jetzt kommt es‘, sagt er sich. «Weißt du Ed», fährt der Schlauberger fort, «wenn ich nachts im Bett liege, danke ich Gott. Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Ein bißchen Essen, ein Dach überm Kopf und ein paar kleine Laster wie Schnaps, Weiber – Tabak …» Ed fühlt es hereinbrechen. «Kein Schnaps!» sagt er. «Aber Eddie, ich will doch nichts zu trinken!» betont der Kunde. «Verstehst du mich nicht?» «Wie viel?» fragt Ed. 41
«Nur ein Zehner, mein guter Junge; ich brauche zwei Päckchen Tabak, vom billigsten, in brauner Verpackung. Weißt du, ich habe das braune Papier so gern.» Ed ist so entzückt, daß er ihm einen Viertelsdollar gibt. «Wo in der Welt findet sich noch ein Mensch, der auf einen lausigen Zehner so viel Nachdenken, Gefühl und Rhetorik verwendet!» setzt er hinzu, findet sogar, die Bemühung seines Besuchers sei mehr wert als 25 Cent, läßt aber vorsichtshalber diesen Gedanken nicht laut werden. Ein andermal, als er mit ein paar leeren Bierflaschen in Chongs Kramladen will, um sie zurückzugeben und frische zu holen, sieht er vor dem Laden einen Stromer am Trottoirrand sitzen. «Ach, Doc! Kannst du mir nicht eine gute Diaret verschreiben?» sagt der Kunde und schielt dabei auf die leeren Flaschen, «ich habe etwas Beschwerden beim Wasserlassen.» «Beim Bierlassen hast du nie Beschwerden», lacht Ed, und schon ist er hereingefallen, merkt es aber erst, als der Andere bekümmert Schultern und Arme hebt und ihn vorwurfsvoll ansieht. «Also schön, dann komm mit!» ruft er und kauft ihm drin einen Liter Bier. Er empfand für den Strick aufrichtige Bewunderung, «Stell dir nur vor», sagte er nachher zu mir, «wie viel Mühe er sich wegen dem bißchen Bier geben mußte! Allein schon, bis er auf das komische Wort Diaret kam! Und dann mußte er kalkulieren, wann ich drüben Bier holen würde, mußte rechtzeitig zur Stelle sein und sich außerdem wie ein Gedankenleser in meinen Gemütszustand einfühlen. Geistiges Billardspiel! Wäre ein Stoß daneben42
gegangen, so hätte er das Nachsehen gehabt. Es ist erstaunlich!» Das einzige, was ich dabei nicht erstaunlich fand, war die Anwesenheit des Schnorrers, als Ed Bier holen ging. Denn das tat Ed oft. Die Tagediebe von Cannery Row, die allein von ihrer Pfiffigkeit lebten, allenfalls auch von etwas Arbeit in einer der Konservenfabriken, nötigten Ed Ricketts immer von neuem Bewunderung ab. «Sie haben meine Mentalität und meine Hemmungen bis in die zehnte Dezimalstelle mathematisch genau berechnet», meinte er. «Sie kennen mich besser als ich, und dabei bin ich nicht unkompliziert. Ihre Berechnung meiner mutmaßlichen Reaktion stimmt allemal haargenau.» Und jedesmal, wenn sie stimmte, war er begeistert. Allzu viel hat es ihn selten gekostet. Er überlegte sich rechtzeitig, wieviel er für das Vergnügen anlegen wolle. Zuweilen engagierte er ein paar dieser Boys, damit sie ihm beim Sammeln helfen sollten, und bezahlte sie im Akkord: soundsoviel für Frösche, soviel für Katzen und soviel pro Schlange. Einer von diesen Hilfssammlern – ich nenne ihn Al; in «Cannery Row» heißt er Gay, in Wirklichkeit weder so noch so – zeichnete sich durch besondere Findigkeit aus. Als Ed wieder einmal schleunigst Katzen benötigte, beschaffte sie Al ebenso rasch wie geheimnisvoll, lauter kräftige, ausgewachsene Tiere. Hintennach bemerkte Ed, daß es ausschließlich Kater waren. Es dauerte einige Zeit, bis uns Al in sein Geschäftsgeheimnis einweihte – unterm Siegel strengster Verschwiegenheit. Doch da er inzwischen selig entschlafen ist, und nicht mehr auf 43
Katzenfang ausgeht, kann ich seine Methode, so wie er sie uns beschrieb, hier bekannt geben. «Ich habe eine Doppelfalle gemacht», gestand er: «in einem großen Käfig noch einen kleinen, und in den habe ich eine leckere, brünstige Katzenlady gesetzt. Ich kann euch sagen, damit fange ich in einer Nacht zehn bis zwölf Kater.» «Wie bist du denn auf die geniale Idee gekommen?» fragte Ed, und erhielt die Antwort: «Sehr einfach. Wo ich doch jeden Samstag nachts auf gleiche Methode gefangen werde!» Als Tiersammler bewährte sich Al so vortrefflich, daß er bald auch zu Arbeiten im Labor hinzugezogen wurde. Ed lehrte ihn, Hundshaien Injektionen geben, Farbstoffe mixen und weniger heikle Tiere konservieren, worauf Al ungemein stolz war. Er warf mit naturwissenschaftlichen Ausdrücken um sich, die er ebenso falsch aussprach wie anwendete, und spielte den gelehrten Professor, worüber Ed sich königlich amüsierte. Und obwohl ihm die alkoholische Vergangenheit Als bekannt war, schenkte er ihm volles Vertrauen. Wieder einmal war eine größere Anzahl Hundshaie eingetroffen, und da Ed irgendwo eingeladen war, gab er Al den Auftrag, bis zu seiner Rückkehr ihnen die ihm bekannten Einspritzungen zu geben. Die Einladung zog sich ziemlich lang hin, und als Ed endlich nach Hause kam, brannten im Souterrain sämtliche Lichter. Er eilte hinunter. Der ganze Raum war ein einziger Trümmerhaufen, der Fußboden mit Glassplittern übersät, ein Faß Formaldehyd umgeworfen und ausgelaufen; die Glaszylinder, Schalen, Tuben und Ausstellungsflaschen waren von den 44
Regalen gefegt und am Boden zerschmettert. Ein Orkan hätte nicht ärger gewütet. Al war nicht da – nur seine Hosen und ein Auto-Klappfauteuil, dessen Anwesenheit sich weder damals noch später erklären ließ. Bleich vor Wut begann Ed die Scherben zusammenzufegen. Er war mitten in dieser Herkulesarbeit, als Al in Gummistiefeln, in einen langen Mantel gehüllt, das Labor betrat. Ed stürzte auf den Betrunkenen los, schrie ihn an: «Verdammter Lump! Hast du mit Saufen nicht warten können, bis deine Arbeit erledigt ist?!» Würdevoll wie ein altrömischer Senator hob Al den Arm. «Nur zu, Eddie! Nenne mich Hund, nenne mich Hurensohn, nenne mich, wie du willst – ich verzeihe dir.» «Verzeihst …! Du wagst es –» Ricketts war nahe daran, einen Mord zu begehen, doch Al verhütete es durch seine tragische Haltung und die Worte: «Ich habe es verdient. Beschimpfe mich! Gib mir die unflätigsten Namen, Eddieboy! Es tut mir nur leid, daß sie meine Gefühle nicht verletzen.» «Teufel, was quatschst du da?!» Al öffnete seinen Paletot. Bis hinab zu den Gummistiefeln war er splitterfasernackt. «In diesem Aufzug habe ich einer gesellschaftlichen Veranstaltung beigewohnt. Sag selbst, Eddieboy: wenn ich dazu imstande war, muß ich gefühllos sein. An meinem dicken Fell prallt jede Beschimpfung ab. Also nur zu! Ich verzeihe dir.» Eds Wut versank in fassungslosem Erstaunen. Später sagte er mir: «Hätte Al sein angeborenes Genie auf etwas anderes als auf Saufen, Schmarotzen und Nepperei verwendet, er hätte unbegrenzte Möglichkeiten gehabt. – Doch 45
nein! Er hat sich ein mühseliges und überfülltes Arbeitsgebiet ausgesucht und es darin zur Vollendung gebracht. Jede andere Laufbahn, internationales Bank- und Börsenwesen zum Beispiel, wäre für ihn zu leicht gewesen.» Al war verheiratet, doch Weib und Kinder vermochten ihn nicht zu mäßigen. Schließlich geriet die Frau auf den Ausweg, ihr letztes Mittel, den Gatten zu bändigen: Als sie ihn auf einer seiner kursierenden Schönheiten erwischte, sorgte sie dafür, daß er eingesperrt wurde. Al äußerte einmal: «Bevor sie in Monterey einen neuen Polyp anstellen, muß er erst eine Befähigungsprobe ablegen: sie schicken ihn nach Cannery Row, und wenn er mich nicht schnappen kann, ist es nichts mit dem Engagement.» Das rote alte Backsteingefängnis in Salinas hatte niemals Als Beifall gefunden. Es sei unfroh und unhygienisch, erklärte er. Aber als das neue prächtige Staatsgefängnis fertig war, wo Al als erster sechzig Tage abzusitzen hatte, blieb er statt dessen fünfundsiebzig und rühmte es nach seiner Rückkehr geradezu enthusiastisch: «Eddie, ich sage dir, da hast du in deiner Zelle einen Sechsröhrenapparat, und der neue Sheriff ist eine grundehrliche Haut, ich habe ihn im Spiel, beim Euchre, beschissen, Eddie, das hättest du sehen sollen! Wie ich meine zwei Monate heruntergerissen hatte, war er mir 86 Dollar schuldig; da mußte ich ihm natürlich Revanche geben, klar! Eher hätte er mich nicht weggelassen. Schön, da habe ich halt andersherum gemogelt: gegen mich und meine innere Überzeugung; das ist schwer. Fünfzehn Tage habe ich dazu gebraucht, sonst wäre es aufgefallen. Ich rate dir, Eddie: spiele nie mit 46
einem Sheriff! Du gewinnst nichts dabei, du verlierst nur deine kostbare Zeit.» So oft und lange brachte ihn seine Frau ins Staatsgefängnis, bis sie endlich kapierte, daß ihm das komfortable Paradegefängnis Salinas lieber war als der häusliche Herd. Nun kam das schmuddelige Frauchen heulend mit tröpfelnder Nase zu Ricketts und bat ihn um Rat. «Ich rackere mich ab, damit die Kinder nicht hungern müssen», jammerte sie, «und er amüsiert sich auf Staatskosten! Das könnte ihm so passen! Er darf mir nie mehr da hin, der Verbrecher!» Sie war von den Geburten, vom Babystillen, vom Daseinskampf verbraucht. Was sollte Ed ihr da raten? Er war am Ende seiner Weisheit. «Sie könnten ihn höchstens töten», meinte er, «aber dann hätten Sie kein Plaisir mehr von ihm.» Die gesellschaftlichen Gepflogenheiten Cannery Rows waren ziemlich verwickelt, und wenn man da nicht Bescheid wußte, konnte man arg ins Fettnäpfchen treten. Wenn man eine der Damen des Freudenhauses auf der Straße traf, durfte man nicht mit ihr sprechen. Selbst wenn man sich die ganze Nacht noch so gut mit ihr unterhalten hatte, wäre es unanständig gewesen, sie draußen auch nur zu grüßen. Einen anderen unsozialen Zustand beobachteten Ed und ich vom Fenster des Pacific Biological aus. Jenseits der Straße zwischen Chongs Kramladen und Doras Bordell war eine unbebaute Parzelle. Dort lagen Röhren, verrostete Boiler und dicke Balken herum, die von den Konservenfabriken weggeworfen worden waren. In den Röh47
ren kampierten etliche Vogelfreie von Cannery Row, und in der warmen Jahreszeit sonnten sie sich wie Eidechsen auf den Balken. Hier wickelten sie ihre sonderbaren Geschäfte ab, halfen sich gegenseitig mit Zehnern aus, und wenn einer eine Schnapsflasche aus dem Sack zog, so bedeutete dies nicht nur, daß er draus trinken wollte, sondern daß sie die Runde machen werde. Es war eine recht abgerissene Bande. Ihre rauhen blauen Baumwollhosen waren an den Knien fast weiß und am Hosenboden verwittert. Sie waren, wie Ed es ausdrückte, die Lotosesser unserer Ära, die Erfolgreichen im Widerstand gegen die Ängste, die Hast und Sinnlosigkeit der Gegenwart. Er betrachtete sie mit jener Bewunderung, die er jeder Tiergattung, Familie oder Spezies entgegenbrachte, die dank günstiger Veranlagung den Kampf ums Dasein siegreich bestand. Wir führten viele Gespräche darüber, und Ed erklärte, auf Grund oberflächlicher Betrachtung könne man unmöglich sagen, wie erfolgreich eine Spezies sei. «Auf den ersten Blick», sagte er, «möchte man annehmen, die hiesigen Bankiers und Fabrikbesitzer, zumal der Bürgermeister von Monterey seien erfolgreiche Exemplare und müßten alle andern überleben. Aber nun blicke gefälligst tiefer, auf die Magengeschwüre, die Herzstörungen, den Blutdruck der Gruppe! Dem gegenüber da drüben die armen Teufel! Leberschrumpfung hat bei ihnen allenfalls Chancen, die andern Übel nicht!» Er schnalzte laut mit der Zunge. «Die Paläozoologie hat uns gelehrt, daß Überbewaffnung und zuviel Pracht einer Spezies die Symptome ihres Erlöschens sind: denke nur an das Mammut, die Riesenreptilien! 48
Aber dort drüben die schutzlosen Unbemittelten haben keinen Panzer, keinen Schmuck außer bestenfalls hie und da ein Paar Damenstrumpfbänder als Ärmelhalter. Vielleicht sind sie in der gegenwärtigen Weltkonstellation die einzigen, die die Spezies Mensch erhalten und von inneren und äußeren Angreifern befreien werden.» Doch so sehr er die Vogelfreien liebte, so tief bekümmerte ihn die Grausamkeit, die sie George gegenüber an den Tag legten. George war der Hausbursche, Hinausschmeißer und Zuhälter des Freudenhauses, war elegant, liebenswürdig, gut gewachsen, übte über die Freudenmädchen eine ebenso ungesetzliche wie vollständige Polizeigewalt aus, hatte zu jeder von ihnen unentgeltlichen Zutritt und konnte sogar einen Freund mitbringen. Er hatte dunkles welliges Haar, ein gutes Salair, freie Kost und Logis und schluckte obendrein einiges von den Einkünften etlicher Mädchen, war also recht vermögend. Er erfreute sich des besten Rufs als Herausschmeißer; seine Fußtritte waren berühmt; Augen konnte er blauschlagen wie selten einer, auch übers Knie legen, doch kamen die letzterwähnten Prozeduren nur in besonders verwickelten Fällen zur Anwendung. Jeder mußte ihn für den glücklichsten Menschen auf Gottes Erdboden halten. Wir aber blickten in Georges Seele und erkannten, wie einsam er war, der Arme! Er sehnte sich nach männlicher Gesellschaft, nach Kameradschaft, Freundschaft und rauher Geselligkeit, hatte die Weiberwelt, ihre Parfums, Hysterien, Perioden, Geheimnisse und Tuscheleien von Grund auf satt, hatte nicht einmal einen Kollegen, vor dem er damit renommieren konnte, und das wurmte ihn. 49
Wir sahen vom Fenster aus zu, wie er sich mit den Brüdern der Sonne anzufreunden bemühte, aber sie wollten nichts von ihm wissen. In ihren Augen stand er als Zuhälterlein gesellschaftlich abgrundtief unter ihnen. Wenn er durchs Unkraut heranschlenderte und sich zu ihnen auf einen der Balken setzte, kehrten sie ihm den Rücken. Sie beleidigten ihn nicht. Aber jedes Gespräch, das gerade in Gang war, brach bei seinem Annäherungsversuch ab. Ein peinliches Schweigen entstand. George war geächtet und fühlte es tief. Wir sahen, wie er gedemütigt dastand, hörten sein gezwungenes Lachen, doch selbst ein pikanter Witz, den er zum besten gab, vermochte den Bann nicht zu brechen. Ob solcher Ungerechtigkeit schüttelte Ricketts den Kopf. «Ich hätte die Boys für gerechter gehalten, für bessere Menschen», murmelte er. «Warum weiß ich nicht. Als Pennbrüder haben sie freilich etwas vor uns voraus, aber wie konnte ich annehmen, sie seien über kleinliche Vorurteile erhaben – bloß weil sie Pennbrüder sind?!» Er dachte darüber nach und fuhr fort: «Ich kannte jemand, der hielt alle Huren für ehrlich, bloß weil sie Huren waren. Er fiel damit wiederholt herein. Einmal hat ihm sogar Eine seine ganzen Kleider gestohlen. Aber er ließ nicht von seiner Überzeugung; sie war für ihn zum Glaubensartikel geworden, und sowas kann man nicht aufgeben, denn man steckt drin, ist damit identisch geworden. Aber meine Gefühle betreff der Boys muß ich einer neuen Untersuchung unterziehen.» Wir sahen, wie George in seiner Vereinsamung auf das Mittel der Bestechung verfiel. Er kaufte Whisky, ließ ihn 50
die Runde machen und verlieh Geld wie ein Verrückter. Unsere Stromer akzeptierten seinen Whisky, sein Geld, ihn selbst aber nicht. Ricketts mischte sich sonst nie in die Angelegenheiten der Nachbarschaft, aber George beunruhigte ihn, und eines Nachmittags trat er vor die Boys und sprach: «Warum seid ihr nicht nett zu ihm? Er ist ein einsamer Mensch. Er will mit euch Freundschaft schließen. Ihr drückt ihm ein Brandmal auf, das vielleicht sein ganzes Leben verkümmert und verbittert. Er wird zu niemand mehr gut sein. Ich wäre nicht überrascht, wenn ihr auf diese Weise an seinem Tod schuldig würdet.» Hierauf antwortete Whitey 2 (es gab auch einen Whitey 1): «Aber Doc, Sie können unmöglich verlangen, daß wir einem Zuhälter Gesellschaft leisten. Das täte kein anständiger Mensch.» (NB! Wenn die Stromer offiziell mit Ricketts sprachen, war er für sie der Doc. Wenn sie ihn anpumpten, nannten sie ihn Ed, Eddie oder Eddieboy.) Hatte Ed gewußt, wie richtig seine Vorhersage war? Nicht lange danach hat dieser George in der Küche des Hurenhauses mittels eines Eispickels sich das Leben genommen. Und als Ed den Boys erregt vorhielt, sie trügen Mitschuld an diesem Selbstmord, sagte Whitey 1 fast das gleiche, was Whitey 2 geäußert hatte: «Zum Teufel Doc, was soll man denn anders tun? Kann man mit einem Zuhälter befreundet sein?!» Traurig sann Ed vor sich hin: «Ich kann es kaum glauben, daß bei den Boys moralische Motive im Spiel sind. Da muß eine unübersteigbare soziale Barriere bestehen, die sich durch kein Argument überwinden läßt», und nach ei51
ner Pause sagte er: «Weiße Kücken hacken auf schwarze Kücken. Hoffentlich liegt hier der Fall nicht so einfach.» Ricketts Beziehungen zu dem chinesischen Krämer Wing Chong, und nach dessen Ableben zu seinem Sohn, beruhten auf gegenseitiger Hochachtung. Stets hatte Ed dort Kredit und oft recht langfristigen, was mitunter bitter nottat. Wir versuchten einmal auszurechnen, wie viele Gallonen Bier in den Jahren unserer Bekanntschaft über die Straße gewandert waren. Die Ziffer erreichte eine so schwindelhafte Höhe, daß wir es aufgaben. Wir wollten es auch gar nicht so genau wissen. Ed hatte viele Freunde und übte auf Irrenhausaspiranten wie die Klapperschlangen-Lady und den diplomierten chinesischen Detektivspinner eine besondere Anziehung aus. Andere wieder benutzten ihn als Auskunftsbureau. Eines Nachmittags läutete das Telephon, und eine weibliche Stimme fragte: «Ach, Dr. Ricketts, wie heißt der tropische Fisch mit den vielen Stacheln an Steiß und am Bauch. Er fängt mit L an.» «Ist mir im Moment nicht gegenwärtig», antwortete Ed, «aber wenn Sie in einer halben Stunde nochmals anrufen wollen, werde ich nachschlagen.» Während er dies mit wissenschaftlicher Gründlichkeit tat, bemerkte er zu mir: «Eine sehr angenehme, leicht kehlige Stimme.» Schon nach zwanzig Minuten meldete sich die angenehm Kehlige wieder und sagte: «Lieber Doktor, es ist nicht mehr nötig. Ich habe es durch die wagrechten Wörter herausgebracht.» Ed aber hat niemals herausgebracht, wer die Kreuzwortbeflissene mit den schönen Kehllauten war.
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Ricketts war sowohl äußerlich wie innerlich absolut unmilitärisch. Trotzdem wurde er in beiden Weltkriegen zum Heeresdienst eingezogen. Man hätte annehmen sollen, dieses geborene Original, das zu allen Dingen seine eigene Einstellung hatte, wäre durch die organisierte Mittelmäßigkeit der Armee zum Wahnsinn getrieben worden. Weit gefehlt! Der brave Soldat Ricketts hatte Erfolg, und die Armee – sein Truppenteil wenigstens – schien sich nach und nach seinen Bedürfnissen anzupassen, so daß er in beiden Kriegen persönlich nicht zu klagen hatte. Seine militärischen Erfahrungen im ersten Weltkrieg faßte er folgendermaßen zusammen: «Ich war jung und bin heut noch erstaunt, wie vernünftig ich mich benahm. Ich habe mir oft gedacht: wenn irgend ein großes Industrieunternehmen wie General Motors oder Standard Oil eine Armee aufstellen würde, keine staatliche käme dagegen auf. Jene Gesellschaften sind organisatorisch darauf eingestellt, etwas zu tun oder zu produzieren: Profit oder Gold oder Stahl. Sie haben einen einheitlichen Willen. Aber eine öffentliche Armee besteht aus Millionen von Individuen, von denen jedes für sich selbst arbeitet. Einige wollen Beförderung, einige wollen stehlen, einige wollen persönliche Macht oder Ruhm und viele wollen sich drücken. Sehr wenige haben ein Interesse daran, den Krieg zu gewinnen.» Über seine militärische Laufbahn äußerte er sich folgendermaßen: «Ich hatte mir genau überlegt, für welche Waffe ich mich entscheiden sollte, und so jung ich auch war, muß ich heute noch meine Entscheidung bewundern. Damals im Jahr 1917 hat es hierzulande mit der Bildung ziemlich gehapert; es fiel mir leicht, Kompanie53
schreiber zu werden. Jede Gefahr, in die Offizierslaufbahn bugsiert zu werden, war damit beseitigt. Ich wollte um keinen Preis Leutnant oder Captain werden. Dafür gab es genug Aspiranten. Kompanieschreiberaspiranten waren dünner gesät. – Wie blind jene egozentrischen Streber waren», fuhr er fort, «sieht man schon daran, daß ihnen entscheidende Dinge entgingen: Da alle Leutnants und der Captain ein Steckenpferd ritten, meist Golf oder Weiber, durfte der tüchtige Kompanieschreiber die Urlaubsscheine ausstellen, und bald sprach es sich herum, daß ich ein Freund von Whisky bin.» Er seufzte genießerisch. «Stelle dir vor, John: Bei der Demobilisierung hatte ich über dreihundert Liter Whisky übrig – während der Prohibition!» Sein Ton wurde leicht gehässig: «Aber da war so ein Frömmler, der sich beim Captain über mich beschwerte, was sagst du dazu? So ein Moralprediger! Ein Abstinenzler! Ich möchte nur wissen, warum Antialkoholiker immer intrigieren müssen! Er schrieb eine Beschwerde nach der andern, der Idiot!» «Worüber hat er sich denn beschwert?» «Hätte er ein bißchen Grütze im Kopf gehabt, er hätte sich sagen müssen, daß alle Beschwerden durch die Hand des Kompanieschreibers gehen.» Ed lachte in sich hinein. «Ich bin gewiß nicht nachtragend, aber der Kerl ist mir heut noch zuwider. Er hat übrigens seine Strafe empfangen! Es verbreitete sich das Gerücht – du weißt, wie schnell sich beim Heer Gerüchte verbreiten –, gegen den guten, hilfreichen Kompanieschreiber Ricketts werde von Guttemplerseite gehetzt. Na, mein Feind hatte nun nichts mehr zu lachen! Überall ging es ihm dreckig, auf der La54
trine, bei der Essenausgabe und beim Brigadestab. Er hat sich seine ganze militärische Karriere verdorben, wahrscheinlich auch seinen Magen, dieses Kamel!» Daß man Ed auch zum zweiten Weltkrieg aufbot, empfand ich als ungerechte Schikane. Noch eine Woche, und er hätte die Altersgrenze des Aufgebots überschritten. Erst nach seinem 47. Geburtstag kam er zur Untersuchung und schien zum Dienst am Vaterland in keiner Weise geeignet, schon allein, weil er einen Bart trug. U.S. Army Psychiater musterten ihn mit gerunzelter Stirn und unterzogen ihn einem Interview, aus dem die medizinisch-militärischen Fragesteller perplex und ratlos hervorgingen. Sie erklärten ihn daher für diensttauglich und verordneten eine Amputation seines Bartes. Eingedenk seiner ersten Weltkriegserlebnisse sah Ed getrost in die Zukunft. «Was kann mir schon passieren?» sagte er: «Mit meinen Erfahrungen, meinem gereiften Verstand!» In Ansehung seiner langjährigen Laboratoriumserfahrung versetzte man ihn in die Abteilung für venerische Krankheiten im Reservespital Monterey, und zwar in die Pharmazie. Etwas angenehmeres hätte ihm gar nicht passieren können. Er durfte zu Hause schlafen und konnte mit den unerschöpflichen Vorräten an Medikamenten nach Gutdünken schalten. Und die Gefahr, man könne ihn zum Offizier ausbilden, war in astronomische Ferne entrückt. Er war selig darüber, denn er verabscheute es, Menschen zu kommandieren; er wollte nur ihre Liebe und angenehme Gesellschaft. Sein Vorgesetzter hatte auch diesmal ein Hobby – ob Weiber oder Golf ist mir entfallen –, 55
jedenfalls war es so zeitraubend, daß Ed wieder sich selbst überlassen blieb. Infolgedessen leistete seine Abteilung hervorragende Arbeit. Dank den in Extraschränken verwahrten Flüssigkeiten umgab ihn rasch eine Schar leidenschaftlicher Verehrer, die ihn beschützten und gegen jede nur denkbare Beschuldigung verteidigten, zum Beispiel die: er fange nie vor zehn Uhr vormittags mit der Arbeit an und feiere öfters ein lang ausgedehntes Weekend. Aber sein rastloser Geist und seine Feinschmeckerzunge waren gar bald des ewigen, eintönigen Grapefruitsaftes mit Alkohol überdrüssig; er begann mit dem unbegrenzten Vorrat an Medikamenten zu experimentieren, und binnen kurzem verbreitete sich das Gerücht von der fabelhaften Erfindung eines gänzlich neuen, ausgezeichneten Drink, dessen Wirkung etwas Einzigartiges, nie Dagewesenes sei. Noch niemand habe dergleichen gekostet. Der Name des Wundertranks lautete: Ricketts’ Folly, und man erzählte sich, der Kommandant, ein Major und Eds Vorgesetzter, sei nach dem Genuß von nur zwei Glas Rikketts’ Folly stramm und ohne mit der Wimper zu zucken, direkt in eine Mauer marschiert, dort umgeplumpst und habe am Boden eine heroisch anfeuernde Ansprache gehalten. Nachdem Ed in Ehren und blühender Gesundheit demobilisiert war, erkundigte ich mich nach diesem Drink, dessen Ruhm mittlerweile über den ganzen Kontinent bis Chicago gedrungen war. «Seine Komposition», erklärte mir der Erfinder bereitwillig, «ist im Grunde recht einfach. Wieso er humoristische Nebenwirkungen zeitigt, konnte ich nie eruieren. Es ist weiter nichts drin als Alko56
hol, Kodein und Grenadine. Schmeckt deliziös! Dagegen sind alle andern Liköre Spülwasser.» Ich sehe meine Biographie Edward Ricketts schaukelt unchronologisch vor und zurück und pendelt nach allen möglichen Seiten. Das wollte ich nicht, als ich anfing, aber jetzt scheint es mir die richtigste Methode zu sein. Denn Ed war so vielseitig, schillerte wie ein Kristall in allen Farben, daß ich davon überzeugt bin, es ist das beste, ich gehe bei diesem menschlichen Kristall von einer Facette zur andern. Aus allen zusammen ergibt sich vielleicht für mich und den Leser die ganze Gestalt greifbar und leuchtend. Ed hatte mehr Kurzweil als irgendwer, den ich je kannte, und dabei tiefe Kümmernisse, auf die ich später zurückkommen werde. Da wir gerade beim Trinken sind, möchte ich dieses Kapitel vervollständigen. Er trank gern und aufs Wohl aller Menschen und Dinge. Aber ich habe ihn niemals richtig betrunken gesehen. Nur zweimal sagte er mir: «Ich finde nicht mehr den Heimweg.» Aber selbst dann mußte man ihn schon sehr genau kennen, um zu merken, daß er einen sitzen hatte. Woran es zu erkennen war? Sein Lächeln war dann etwas breiter; seine Stimmlage schwebte höher, und er unternahm einige Spitzentanzschritte – einen eigenartig gezierten Trippeltanz. Getränke, die keinen Alkohol enthielten, lehnte er ab, außer Kaffee, aber auch den versetzte er meistens mit Whisky. «Seit zwölf Jahren habe ich keinen Tropfen Wasser ohne wohltuenden Zusatz getrunken», vertraute er mir zu jener Zeit an, als er gleichzeitig von Zahnweh, Liebeskummer und derartigen Magenschmer57
zen geplagt war, daß der behandelnde Arzt darin die Anzeichen von Magenkrebs erblickte, eine Milchdiät verordnete und ihm den Alkohol verbot. Trotziger Trübsinn lastete nunmehr auf dem Biological. Der Patient, am Rand eines Nervenschocks, tobte gegen die Grausamkeit des Schicksals, das ihm so etwas zumutete! Wasser – nun, das lehnte er zwar ab und mißtraute ihm, jedoch in aller Gelassenheit. Allein auf Milch hatte er einen wütenden Haß. Ihre Farbe fand er abscheulich, ihren Geschmack widerlich, all ihre Merkmale verächtlich. Ein paar Tage lang würgte er ab und zu unter erbitterten Klagen ein paar Schlückchen Kuhmilch herunter, ging dann wieder zum Doktor und setzte ihm seine Milchantipathie auseinander: Sie rühre vom einem Säuglingsschock, aus dem eine Neurose entstanden sei. Beruflich habe sich diese Laktophobie in das Studium der Meeresbiologie umgesetzt, da bekanntlich die Meertiere keine Milch gäben – mit Ausnahme der Walfische und verschiedener Seekühe, aber für diese Familie habe er nie Sympathie gezeigt. Er fürchte, die Heilung seines Magenleidens bringe ihn in größere Gefahr als die Krankheit selbst. «Darf ich der Milch nicht einige Tropfen von meinem alten, gut abgelagerten Rum zusetzen? Nur um den unangenehmen Geschmack abzutöten!» fragte er, und dem Arzt blieb nichts anderes übrig, als die paar Tropfen Rum zu genehmigen. Den Verlauf der Kur verfolgte ich mit Entzücken. Von Tag zu Tag verschob sich das Verhältnis der Milch zum Rum, und nach einem Monat war es soweit, daß Ed seinem Rum ein Tröpfchen Milch zusetzte. Die Magen58
schmerzen waren übrigens weg. Meines Wissens hat er seitdem nie wieder Milch getrunken, doch sprach er von ihr im Ton höchsten Respekts und pries sie als ein spezifisches Krebsheilmittel. Zuweilen herrschte im Biological großer Gesellschaftsbetrieb, und manchmal dauerte eine Party mehrere Tage. Wenn wir kein Geld hatten, war unser Bedürfnis nach einer Party besonders groß. Wir legten dann unsere letzten Cents zusammen; viele waren dazu nicht nötig. In Monterey gab es einen Wein zu 39 Cent die Gallone; es war natürlich kein Grand vin, auch schmeckte er nach dem Korken und andern ungehörigen Dingen, aber er ließ sich trinken, brachte niemanden um und erhöhte die allgemeine Lustigkeit. Wenn sich vier Paare zusammenfanden und jedes eine Gallone mitbrachte, konnte die Party so lange dauern, bis sich Eds Mund zu einem anormal breiten Lächeln verzog und sein trippelnder Spitzentanz anhub. Später, als wir nicht mehr so arm waren, tranken wir Bier oder nahmen nach Ricketts Rezept abwechselnd ein Schlückchen Whisky und einen Schluck Bier. Beider Aroma, fand er, ergänze sich. Zur Feier meines Geburtstags fand einmal, einem dringenden Bedürfnis zufolge, eine viertägige Party statt. Dabei ging es hoch her. Niemand ging zu Bett, außer aus rein romantischen Gründen. Am Ende des vierten Tages lag angenehme Erschlaffung über der glücklichen Schar. Wir konnten uns nur noch flüsternd verständigen; das viele und falsche laute Singen hatte unsere Stimmbänder überanstrengt. Vorsorglich stellte Ed ein Fläschchen Bier auf den Boden neben sein Bett, legte sich aufs Ohr und war 59
sofort eingeschlafen. Seit Beginn der Einladung hatte er zirka fünf Gallonen vertilgt. Er schlief etwa zwanzig Minuten, regte sich dann und langte, ohne die Augen zu öffnen, nach der Flasche, fand sie instinktiv, richtete sich auf, tat einen langen Zug, lächelte selig; in segnender Geste bewegte er Mittel- und Zeigefinger der Rechten und hauchte stockheiser: «Nichts mundet so gut wie der erste Schluck!» Er liebte nicht nur den Trunk; er ging noch weiter: Er beargwöhnte jeden, der das Trinken verschmähte. Gewiß, wenn ein Nichttrinker bescheiden den Mund hielt und sich mit seinem Manko nicht brüstete, konnte Ed außerordentlich nett zu ihm sein. Doch ach! Bei Abstinenzlern strengster Observanz fand sich diese Laissez-faire-Haltung selten, und wenn so einer ihm überheblich kam oder ihn schulmeistern wollte, kannte Eds Zorn keine Grenzen. Seiner Ansicht nach war jeder, der nicht gern einen guten Tropfen trank, entweder krank oder verrückt, meist beides und huldigte obendrein einem geheimen Laster. Nichttrinker-Seelen, glaubte Ed, seien zusammengeschrumpft und vertrocknet, die Tugendposen der Antialkoholiker ein Deckmantel für unsäglich ekelhafte Gewohnheiten. Die gleiche Einstellung hatte er gegenüber Männern und Frauen, die sexuell unempfindlich waren oder taten, als seien sie keusch. Hierüber weiter unten! Wenn es zu Auseinandersetzungen kam, zählte Ed die großen Männer, großen Geister, großen Herzen und großen Phantasten der Weltgeschichte auf und fand keinen darunter, der sich nicht des Weines erfreut hätte, und wenn ihm Bernard Shaw entgegengehalten wurde, lachte er bloß, 60
doch mischte sich in sein Gelächter keine Bewunderung für den enthaltsamen, uralt gewordenen Gentleman. Für Musik zeigte Ricketts ein profundes, leidenschaftliches Interesse. Er erkannte ihre tiefe Verwandtschaft mit schöpferischer Mathematik, neigte daher nicht zu extravaganten, vielmehr zu den streng logischen Werken der Tonkunst, gregorianischen Gesängen in alten Kirchentonarten, dem einfachen Melos in angelischer Verwicklung, den Messen Palestrinas und William Byrds; er lauschte hingerissen den Kompositionen von Dietrich Buxtehude und hielt «Die Kunst der Fuge» von Johann Sebastian Bach, wie er mir einmal sagte, für die bedeutendste Musik, die bis heute geschaffen worden sei. Bis heute! Immer gab es bei ihm ein «bis jetzt»; denn nie sah er eine Entwicklung als abgeschlossen an und erblickte im Seienden nie einen Endpunkt, nie die Vollendung. «Alles ist im Fluß und Vorwärtsdrang; eines wächst aus dem andern.» Zu dieser Erkenntnis hatten ihn seine naturwissenschaftliche Schulung und biologische Beobachtungen gebracht. Er liebte Monteverdis weltliche Passion und die Strenge Scarlattis. Neugierig und verständnisvoll grub er nach verschollener, alter Musik so wie er in einer Schlammpfütze nach seinen wirbellosen, geliebten Platt- und Schnurwürmern grub. Er hörte Musik mit geöffnetem Mund. Es war, als wolle er die Töne verschlingen. Heimlich bewegte sich dabei sein Zeigefinger im Rhythmus. Es war sein großer Kummer, daß er nicht singen und mit der Stimme keine Note richtig treffen konnte. Dabei hatte er das absolute Gehör. Als wir einen Satz Stimmga61
beln kauften und sie in Gummi stellten, um uns die vergessenen mathematischen Skalen zurückzurufen, erkannte Eds Ohr jedes Intervall, sagte jede Abweichung, jeden Ton haargenau an, konnte aber keinen nachsingen oder nachpfeifen. Ich habe ihn überhaupt nie pfeifen gehört; ich glaube, er konnte es nicht. Beim Versuch, eine Melodie nachzusummen, stolperte er über die Noten und lächelte hilflos, da sein Gehör ihm sagte, wie unmöglich er sei. Doch die Musik war ihm unentbehrlich und er darin unvergleichlich, nur in anderer Art. In einer Nacht, da eine furchtbare seelische Erschütterung mich zerrüttete, trieb es mich zu ihm. Ich war von Qualen betäubt. Ich brachte kein Wort hervor. Da reichte er mir Musik, flößte sie mir wie Medizin ein. Sein Plattenspieler spielte für mich, immerzu … Ed hätte längst zu Bett gehen sollen, aber noch als ich in Schlaf sank, ließ er seine Musik nicht verstummen. Er wußte, sie klärte meine trübe Wirrnis. Er spielte einfache Weisen, fern, kühl, irdischem Leiden entrückt, ging allmählich zu Bachs stärkenden Vorbildern über, bis ich zu eigenem Denken und Fühlen befähigt war, bis ich es ertragen konnte, wieder zu mir zu kommen. Dann gab er mir Mozart. Es war die zarteste, behutsamste Behandlung, auf die nur ein Arzt der Seele, ein Liebender, sich versteht. Eds Lektüre war sehr umfangreich, umfaßte nicht nur die gesamte Literatur seines Spezialgebietes wirbelloser mariner Tiere, sondern auch alles mögliche andere. Es ist mir unerklärlich, woher er die Zeit dazu nahm. Seine Geschmacksrichtung kann ich nur nach dem beurteilen, worauf er immer wieder zurückkam: Übersetzungen nach 62
dem Chinesischen des Li Tai Pe und Tu Fu, aus dem Sanskrit «Die Schwarzen Ringelblumen» und immer wieder «Faust I und II». Wie er Bachs «Kunst der Fuge» für die bedeutendste Musik bis heute hielt, so «Faust» für das bedeutendste Schriftwerk – bis heute. Er hatte seine erst nur auf das Naturwissenschaftliche beschränkten deutschen Sprachkenntnisse so weit vervollkommnet, daß er Faust nicht nur lesen konnte, sondern auch den Klang der Worte mitfühlend in sich aufnahm und ihre Schwingungen spürte. Sein Geist war zeitlos, nicht dem Alten, nicht dem Modernen verhaftet. Er las mir Layamons altenglische Chronik und den Beowulf vor. Jedes Wort klang so frisch, als sei es gestern geschrieben. Er glaubte an kein religiöses Dogma, mißtraute den schulmäßigen Religionen, fand sie verdorben durch Politik, Machtstreben und Wirtschaft; es gab für ihn keinen Gott, den irgend ein Kult verherrlichte. Vielleicht ließ sich sein Gott nur durch das mathematische Zeichen für das sich ausdehnende Weltall bezeichnen. An eine Fortdauer nach dem Tod glaubte er gewiß nur in chemischer Hinsicht. Die Verheißungen eines ewigen Lebens hielt er für künstliche Brosamen, die man unserer armen Hoffnung und Todesangst hinwirft. Politik und Nationalökonomie beobachtete er mit demselben Gleichmut wie einen Ebbetümpel. Die Sowjets betrachtete er kurz nach der großen russischen Revolution mit dem zufriedenen Interesse eines Terriers, der zum erstenmal einen Frosch erblickt. Er dachte sich, es gäbe in Rußland vielleicht etwas neues, eine Mutation in der Natur der Spezies. Als nach Abschluß der Revolution die Ex63
perimente aufhörten, das Sowjetsystem sich festigte und unerbittlich sich an der Macht behauptete, verlor er jegliches Interesse. Dann und wann nahm er noch ein Muster. Seine letzte Hoffnung für das System schwand, als er an etliche russische Biologen schrieb, Informationen über die Arktis, ihre Erkundungen der Eismeerregion und der dortigen Tierwelt verlangte und keine Antwort erhielt. Er nahm an, seine Briefe seien nicht in ihren Besitz gelangt. Für sein Gefühl war jegliche Einschränkung oder Kontrolle der Wissenschaft eine Sünde, die Verletzung von Grundprinzipien. Er verlor sein Interesse für marxistische Dialektik, als er sie nicht in wahrnehmbarer Natur verifizieren konnte. Belustigt, verächtlich beobachtete er, wie die befähigten Eingeweihten die Welt beeinflußten, damit sie ihren Entwürfen entspreche. Als er von Lyssenkos Entdeckungen las, lachte er, ohne dafür eine Erklärung zu geben. Wir spielten schon vorher ein Spiel, das wir im Spaß spekulative Metaphysik nannten. Es bestand darin, daß wir der wahrnehmbaren Realität ein Stück Wirklichkeit entnahmen, es in unsern Spekulationen wie einen Baum emporwachsen und sich verzweigen ließen und dabei mit Vergnügen beobachteten, wie sich unsre Gedankenäste vom Stamm der äußeren Wirklichkeit immer weiter entfernten. Für unser Spiel, das wir als Sport betrieben, gab es keine Korrektur, keine Beschränkung; es war eine vergnügliche Denkübung auf den Instrumenten unseres Geistes, Improvisationen und Variationen über ein Thema, und bereitete uns einen ähnlichen Genuß wie Musiktheorie. So wenig man sagen kann: «Diese Musik ist die einzige», ebenso wenig behaupteten wir, «dieser Gedanke ist der 64
einzig mögliche», vielmehr: Dies ist ein Gedanke, ob gut oder schlecht, falsch oder richtig, jedenfalls ein Gedanke, mithin ein Stück Natur. Sobald eine These formuliert war, unterwarfen wir ihr die Wirklichkeit. Zum Beispiel folgendermaßen: Wir dachten: Vielleicht lebt unsere Spezies am besten und schöpferischsten in einem halbanarchischen Zustand unter losen Richtlinien in zwangloser Sitte. Hierzu fügten wir die schon oben angedeutete Prämisse, daß Überpanzerung und Überornamentierung Verfalls- und Untergangssymptome sind, anders ausgedrückt: eine überstarke Sicherungstendenz könnte das Anzeichen menschlichen Ab- oder Aussterbens sein. Wir dachten weiter: Es gibt im menschlichen Bereich keine andere schöpferische Einheit als das allein schaffende Individuum. Bei rein schöpferischer Tätigkeit in der Kunst, Musik, Mathematik gibt es keine wahre Mitarbeiterschaft. Das schöpferische Prinzip ist Sache der Einsamkeit und des Einzelnen. Gruppen können wohl forschen, untersuchen, ausführen, zusammensetzen, bauen, aber es schien uns unvorstellbar, daß eine Gruppe etwas erschaffen oder erfinden könnte. Der primäre Impuls einer Gruppe schien uns eher auf die Zerstörung des schöpferischen Menschen und seiner Schöpfung gerichtet. Und jede Maginotlinie, von welcher Gruppe sie auch errichtet sein mochte, dünkte uns höchlichst verwundbar. Nun füllten wir unser Schema mit Beispielen wie dieses: A. das damalige «Dritte Reich». B. Die Sowjets, vom Politbureau kontrolliert. C. Angenommen, es werde eine jähe Ausschaltung von je 25 Männern in jedem der beiden Systeme vorge65
nommen. Resultat: Eine lähmende Wirkung. Erholungsmöglichkeit schwer oder gar nicht. D. Welche Sicherung gibt es dagegen? Entfernung oder Zerstörung gefahrdrohender Opposition? Aber – E. Opposition ist schöpferisch; Restriktionen sind unschöpferisch. Die das Wachstum fördernde Kraft wäre folglich abgeschnitten. F. Nun wächst das Sicherungsstreben. Der damit ververbundene Integrationsprozeß müßte alle Stegreiftendenzen, den Hang zum Schöpferischen zerstören, denn – G. diese werfen Sand in die Maschinerie des Systems, und sie würde sich reiben, verlangsamen, zum Stillstand kommen, vorausgesetzt – H. daß unsere theoretischen Annahmen stimmen. I. Dann wären Denken und Kunst zum Verschwinden gezwungen. An deren Stelle träte – K. ein wirksames Festhalten an der Überlieferung. (So spielten und spannen wir weiter.) L. Eine allzu saturierte und gesicherte Gesellschaft, ein allzu zentralisiertes System ist von Zerstörung bedroht, weil – M. die Beseitigung eines Teils (s. o.!) N. das Ganze zu lähmen droht. – O. Blicke nun auf das Böcke schießende, anarchische System der United Staates, auf die Stupidität einiger unsrer Gesetzmacher, auf die gewalttätigen, reaktionären Kreise, auf die Begriffstutzigkeit, die Schwerfälligkeit, wenn es gilt, Wandel zu schaffen! P. Die Vernichtung von fünfundzwanzig Männern in 66
Q.
R. S. T.
Schlüsselstellungen (C) könnte vielleicht die Sowjetunion ins Wanken bringen. Wir aber – wir könnten unser Repräsentantenhaus, unsern Senat, unsern Präsidenten, unsern Generalstab verlieren, und – es würde sich nicht viel ereignen. Es ginge weiter. De facto wären wir besser dran.
Auf diese Weise trieben wir unser Spiel, doch stets mit dem Vorbehalt: so könnte es sein, und manche Nacht verging uns im Flug, wenn wir die Irrlichter unseres Denkens verfolgten. Auf einen Abschnitt in seinem Leben legte Ed besonderes Gewicht: die Zeit nach der Trennung vom Elternhaus und den Beginn seiner Studien an der Universität Chicago, als alles, was man ihm seit frühester Kindheit eingeprägt hatte, endlich verschwand. Das Leben daheim hatte ihm nicht behagt. «Erwachsene», stellte er fest «sind in ihrem Verhalten zu Kindern verrückt, und das wissen die Kinder. Die Großen stellen Regeln auf und denken nicht daran, sie zu befolgen. Sie stellen Behauptungen auf, an die sie nicht glauben. Aber von ihren Kindern erwarten sie es, und obendrein wird noch verlangt, daß die Kinder ihre Eltern für diesen Blödsinn bewundern. Sie müssen sehr weise sein und in sich gekehrt, die Kleinen, um die Großen ertragen zu können. Welcher Unfug, daß die Erwachsenen den Wachsenden zumuten, sie sollen glauben, durch Erfahrung würden sie klüger! Die Kinder sehen ja doch auf Schritt und Tritt, daß ihre Alten durch die Erfah67
rungen ihrer längstvergangenen Kinderjahre absolut nichts gelernt haben; daß sie in eine Wirrnis der Vorurteile, Träumereien und Normen verstrickt sind, deren Ursprung sie selber nicht kennen und den sie nie zu ergründen wagen aus Furcht, ihr ganzes System werde zusammenbrechen. Ich glaube, Kinder fühlen das instinktiv. Daher lernen gescheite Buben und Mädchen, dieses ihr Wissen geheimzuhalten, und halten sich innerlich frei von dem lärmenden Wahn.» So frei hatte Ed Ricketts sein Elternhaus verlassen. Mit tiefem Glücksgefühl erinnerte er sich der äußeren Freiheit, die er danach genoß. Es war kein Müßiggang, dem er sich damals hingab. «Ich weiß nicht, wann ich überhaupt geschlafen habe», berichtete er. «Dazu hatte ich keine Zeit. Früh morgens mußte ich die Heizung besorgen, ging dann in Vorlesungen, nachmittags ins Labor, hierauf zurück zur Zentralheizung, abends verdiente ich mir mein Brot in einem Lädchen und studierte hierauf bis Mitternacht. Ich hatte eine Liebschaft, diese hatte einen Mann, der auf Nachtarbeit ging. Daher habe ich selbstverständlich von Mitternacht bis zum Morgen nicht viel geschlafen. Gleich hieß es wiederaufstehen, Feuer machen, Vorlesungen hören …! Es war eine herrliche Zeit!» Es wäre unmöglich ein getreues Bildnis Ed Ricketts zu zeichnen, ohne dabei sein Sexualleben zu berücksichtigen, denn das tobte in ihm, erfüllte sein Dasein, nahm seine Zeit, sein Denken gewaltig in Anspruch. Er selbst hat seine Sexualität immer wieder analysiert, und da er sich niemals genierte, sie offen zu diskutieren, bedeutet es keine Entweihung seines Andenkens, wenn wir sie hier erörtern. 68
Zunächst: Er litt an (besser gesagt: erfreute sich) einer gesteigerten Funktion der Schilddrüse, die sich u. a. darin auswirkte, daß er in kurzen Abständen Nahrung zu sich nehmen mußte, andernfalls er mit Wutanfällen und sein Körper mit heftiger Schmerzempfindung reagierte. Zudem war er, seit ich ihn kannte und vermutlich seit seiner Pubertät geil wie ein Bullterrier. Seine Potenz war oder galt für gewaltig. Präzise Unterlagen hierfür stehen mir nicht zu Gebote; ich weiß es aber von mehreren Seiten, die es gewußt haben müssen. Jedenfalls hat er sich sehr eingehend mit Sexualfragen befaßt. In seinem Verkehr mit Frauen kam für ihn das, was man gemeinhin mit «Ehre» bezeichnet, nicht in Betracht. Nicht als ob sein Verhalten je ehrlos gewesen wäre, nur hatte das Wort, insofern es Enthaltsamkeit einbezog, für ihn keine Bedeutung, und jeder Mann, der ihm seine Frau anvertraut und von ihm erwartet hätte, er werde bei ihr nicht sein möglichstes tun, wäre ein Narr gewesen. Ed mußte bei ihr sein Glück versuchen; es war ein innerer Zwang. Wenn ihn die Betreffende abwies, war er vernünftig; er drängte sich keiner Frau auf, aber am Versuch ließ er es niemals fehlen. Als ich ihn kennen lernte, beschäftigte ihn, und zwar ebenso wissenschaftlich wie konsequent, ebenso lang wie behutsam, die Defloration eines jungen Mädchens, und zwar war er daran nicht nur sexuell beteiligt; sein Interesse für die psychische und physische Struktur der Virginität war gewiß ebenso lebhaft. Das sonst übliche Siegesgefühl, der Erste zu sein und den Widerstand zu überwinden, spielte dabei, glaube ich, kaum eine Rolle. Eds persönli69
cher, physischer Grund war, was man bei uns «heiße Hosen» nennt, sein sekundäres Motiv jedoch eine rege geistige Wißbegier, den Status der Jungfräulichkeit und die durch Aufgabe dieser Position hervorgerufenen Wandlungen kennen zu lernen. Seine anatomischen Kenntnisse waren zwar umfangreich genug, «aber», wie er zu sagen pflegte, «der strukturellen Variationen sind da so reizend viele, auch wenn man dabei die Anomalien nicht in Betracht zieht, und diese Mannigfaltigkeit erregt immer von neuem unsere Aufmerksamkeit und bietet Überraschungen durch eine Funktion, die schon an sich lustvoll genannt werden darf.» Der Widerstand jener besonderen Jungfrau war tatsächlich überraschend. Ed war sich nicht schlüssig, ob ihre Resistance von einer seelischen Hemmung herrührte oder auf dem althergebrachten, normalen Widerstreben der Jungfer gegen Entjungferung oder gar auf Abneigung gegen seine Person beruhte. Er faßte jede dieser Möglichkeiten geduldig ins Auge. Und da es in eigener Sache für ihn keine Scheu gab, stand er nicht an, mit Freunden und Bekannten darüber zu reden. Ein Glück, daß besagte Jungfrau diese Gespräche nicht mit angehört hat! Sie hätten sie in Verlegenheit bringen können, aber diese Möglichkeit kam Ed nie in den Sinn. Viele Jahre danach, als sie die ganze Geschichte erfuhr, hat die Dame geäußert: wenn sie gehört hätte, wie wir ihre Intimitäten erörterten, wäre sie womöglich noch immer Virgo. Aber da war es natürlich zu spät, und auch dies war ein Glück. Eines steht fest: Für ein unkompliziertes Sexualleben war Ed nicht zu haben. Ein unproblematisches, williges 70
Mädchen, das nicht anderweitig mit Beschlag belegt war, reizte ihn kaum. Hatte sie jedoch einen Gatten oder sieben Kinder oder Schwierigkeiten juristischer beziehungsweise neurotisch-erotischer Natur, so legte sich Ed mächtig ins Zeug. Hätte er eine Frau gefunden, die nicht nur verheiratet und Mutter, sondern obendrein im Gefängnis und ein siamesischer Zwilling gewesen wäre, eine grenzenlose Begeisterung hätte sich seiner bemächtigt. Viele Histörchen aus Ricketts Liebesleben lassen sich hier einfach nicht wiedergeben. Die besten wurden mit solcher Freiheit erzählt, nicht nur von Ed, sondern danach auch von etlichen seiner Experten, daß sie weit über Cannery Row hinaus Berühmtheit erlangten. Im Freundeskreis mögen solche Geschichten, weil wahr, durchaus akzeptabel sein, aber im Druck würden sie leicht anstößig wirken, was sie ja auch tatsächlich sind. Solange es sich nicht um Komplikationen der oben angedeuteten Art oder dünne Lippen handelte, stand Ed aller Weiblichkeit unvoreingenommen und unparteiisch gegenüber. Haut-, Haar- und Augenfarbe, Figur, Format in Länge und Breite spielte für ihn keine Rolle. Er war jeder Art Anregung aufgeschlossen. Klarsichtig, sachlich und wahr konnte er seinen Mitmenschen auf Grund seines Wissens und tiefen Verständnisses die wertvollsten Ratschläge geben. Doch wenn Stürme der Liebe ihn packten, war er wie umgewandelt. Dann zerstob seine Sachlichkeit, und seine Beobachtungsgabe verpuffte. Das Objekt seiner Neigung hatte sozusagen nichts mit dem Bilde zu tun, das er sich von ihr zurechtlegte. SIE war 71
nur der physische Rahmen. ER erst tat das Bild hinein. SIE war wie eine der großen, gesichtslosen Gestelle, auf denen die Frauenkleider angefertigt werden. Auf dies Gerüst baute er SEIN Weib, erschuf es von Grund auf, erfand ihre Erscheinung, ihren Geist, stattete sie mit Talenten und Empfindungen aus, die nicht nur erstaunlich, sondern platterdings unwahr waren. Das also behandelte reale Frauenzimmer erfuhr mit Erstaunen, daß sie für Dichtungen schwärmte, die sie niemals gelesen, von denen sie nicht einmal etwas gehört und, wäre es der Fall gewesen, nie verstanden hätte. Sie erfuhr ferner, daß ihr beim Anhören von Musikstücken, die sie ebenso wenig kannte, vor Entzücken der Atem stockte. Sie wurde schön, aber das Schönheitsideal, das sie in seinen Augen verkörperte, hatte garnichts mit ihr zu tun. Und ihre Ideen – die mußten sie am meisten überraschen, denn ihr war nicht bewußt, daß sie je welche gehabt hatte. Ich sehe in diesem eigenartigen Treiben Eds keine Selbsttäuschung. Er fabrizierte sich eben das Weib, nach dem er verlangte, etwa so wie jener Ritter aus dem waliser Märchen, der sich sein Weib aus Blumen erschuf. Manchmal brauchte es zu so einer Schöpfung längere Zeit, und wenn er damit fertig war, standen alle, nicht zuletzt Ed, konsterniert vor dem Ergebnis. Es kam aber auch vor, daß er in seinem Ungestüm das Rohmaterial derart umformte, daß das Weib wirklich so wurde, wie er es sich gedacht hatte. Ein eklatantes Beispiel hierfür ist mir in lebhafter Erinnerung. Einer unserer Freunde, ein Sardinenfischer, hatte einen einträglichen, aparten Nebenberuf. Der Sardinenfang geht 72
ja nur saisonweise. Dazwischen liegen Monate des Müßiggangs, verbunden mit finanziellem Rückschlag. Aber unser Freund ging weder müßig noch pleite. Er eruierte, lancierte, protegierte eine laufende Serie Damen, denen er einen Teil, ihres Verdienstes abzog. Im ganzen waren es nie mehr als fünf. Das Geschäft blühte, und er besuchte uns öfters. Er und die Fünf fühlten sich glücklich. Ich erwähne dies nur, um die geistige Kraft der Rickettschen FrauenUmschöpfung zu illustrieren. Unser Sardinen- und Mädchenfischer brachte in übermütiger Laune eine aus jener Serie zu einer Party im Biological, eine kleine, straffe, zähe, in allen Dingen erfahrene Blondine. Ed sah sie, und im gleichen Augenblick setzte seine Vernunft aus. Er tat alles, sie von ihrem Protektor wegzulotsen. Er hatte die Vorstellung, sie sei ebenso unerfahren wie schüchtern. Auf letztere Annahme geriet er wohl dadurch, daß die Blondine nicht redete. Sie hielt die Sprache zum Verkehr mit Männern für ungeeignet. Ed aber sah in ihr Schönheit, Jugend und Jungfräulichkeit, und so baute sein Geist sie neu auf. Er nahm sie mit in die Ferien und bemühte sich, sie zu verführen, durch Männlichkeit, Philosophie und Überredungskunst. Aber er hatte zu gut gebaut. Irgendwie hatte er sie davon überzeugt, sie sei das, wofür er sie irrtümlich hielt. Mit mädchenhafter Scheu, zart und zäh widerstand sie seiner beharrlichen Werbung. Nach einem Monat mußte er es aufgeben. Er hatte nicht ein einziges Mal mit ihr geschlafen. Sie aber hatte ihm so viel Zeit geopfert, daß sie, nach Monterey heimgekehrt, sich die größte Mühe geben mußte, um 73
unserm Sardinenfischer genug abliefern zu können, denn die Sardinensaison war wieder einmal zu Ende. In seiner Verzückung war Ed imstande, Dinge für wahr zu halten, die wissenschaftlicher Prüfung kaum hätten standhalten können. Eine seiner großen Lieben dauerte jahrelang, und jede Nacht schrieb er ihr einen Brief, manchmal drei Zeilen, manchmal zehn Seiten in seiner zierlichen, sorgsamen Schrift. Sie tue das gleiche; jeden Tag schreibe sie ihm, erzählte er mir und hat es wirklich geglaubt. Dabei weiß ich bestimmt, daß er im Verlauf von fünf Jahren nicht mehr als acht kindisch gekritzelte Blättchen von ihr bekommen hat. Eds naturwissenschaftliche Notizhefte waren sehr aufschlußreich. Zwischen Aufzeichnungen über zoologische Beobachtungen und seine biologische Sammeltätigkeit standen unverhüllte, undelikate Beobachtungen wesentlich anderer Art. Nach seinem Hingang war es meine Aufgabe, diese Notizen durchzugehen, bevor sie seinem Letzten Willen zufolge der Hopkin Marine Station auszuhändigen waren. Leider mußte ich eine beträchtliche Anzahl Einträge aus den Heften entfernen, nicht etwa, weil sie uninteressant gewesen wären, im Gegenteil, sondern weil sich der Gedanke nicht von der Hand weisen ließ, ein rühriger Student, der in diesem Meer des Wissenswerten nach Informationen über die Morphologie der Wirbellosen tauche, könne am Ende mit Erpressungsmaterial emportauchen, das sich gegen die Hälfte der weiblichen Einwohnerschaft Montereys verwenden ließ. Ed hatte für so etwas keine Empfindung. Ich schnitt die betreffenden Einträge aus. Sie besitzen ohne Ansehen der Person einen Er74
kenntniswert. Ich habe sie daher nicht vernichtet, und wer weiß! Vielleicht werden dereinst die darin systematisch beleuchteten Frauen sich jener Seitensprünge dankbaren Herzens erinnern. Hinten in Eds Wagen lag eine alte Decke – ehedem dunkelrot, nun aber von häufigem Gebrauch am Strand und im Wagen etwas vergilbt – ein treuer wollener Veteran, in mancher heimlichen Stunde im Sand und auf Dünen bewährt. Grassamen und Tangreste waren in ihr Gewebe gedrungen. Ich glaube, mein toter Freund hat sein Auto niemals des Abends in Gang gesetzt, ohne daß diese sanft errötete Decke im Rücksitze lag. Bevor eine Liebe ihn anfiel und wie ein aufgerührtes Gewässer bewegte, sah er die Frau mit fein kritisch abschätzenden Augen an und war beglückt, wenn er schwellende Lippen, volle Brüste, einen festen, doch wohlgepolsterten Hintern feststellen konnte, übersah aber dabei auch nicht die Finessen: die Form des Fußes, Länge und Bau der Finger und Zehen, Fesseln, Fuß- und Daumenballen, Läppchen und Muschel der Ohren, Form, Farbe und Stellung der Zähne, Hüfthaltung und Gang. Auf all dem ruhte sein Blick mit Wohlgefallen in Dankbarkeit. Unwandelbar lebte in ihm die Freude darüber, daß die Liebe und die Frauen so waren, wie sie waren – oder wie sie ihm erschienen. Und doch, über allen Freuden und offenherzigen Freiheiten seines Lebens und Liebens schwebte eine jenseitige Traurigkeit, ein ungestilltes Verlangen, ein Suchen, das manchmal an Verzweiflung grenzte. Wonach ihn verlangte und was niemals da war – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er es immer gesucht und nirgends gefunden hat. 75
Er forschte danach, lauschte, schnupperte, spähte danach in der Liebe. Vergebens. Ich glaube, etwas davon fand er in der Musik, und es war wie ein tiefes, unendliches Heimweh. Oft war ihm, als sei er von einer Mauer umgeben, einer spiegelnden Ringmauer, und er entwickelte eine «Philosophie des Durchstoßens»: eines Durchbruchs durch die Rückwand des Spiegels in eine wirklichere Wirklichkeit, mit der verglichen unsere Tagwelt traumähnlich erscheinen müßte. Der Gedanke ließ ihn nicht los und drängte: Brich durch! Brich durch! «Bach hat es beinahe geschafft», sagte er beim Anhören der ‚Kunst der Fuge‘: «Höre jetzt, wie nah er daran ist, ganz dicht! Und jetzt sein Grimm, da er es nicht kann! Jedesmal, wenn ich das höre, glaube ich: diesmal dringt er durch die berstende Wand in das Licht …! Und nie kommt er so weit, ganz so weit nie.» Ihn selber trieb es mit Macht, durchzustoßen und vorzudringen ins Licht. In den Jahren unserer engen Zusammenarbeit hatte ich mich daran gewöhnt, auf sein umfassendes Wissen zu bauen und mich in allem auf seine peinlich genauen Forschungsresultate zu stützen. Dabei blieb es, auch als ich von Monterey fortzog. Einmal im Monat, mitunter allwöchentlich, kam ein langer Brief; darin schrieb er genau wie er sprach. Mir war, als hörte ich seine Stimme. Sie klang aus den sauber getippten Zeilen, den scharfgeschnittenen kleinen Typen. Uns beiden war, als sei ich nie abgereist. Noch heute, wenn der Briefträger mir meine Post einhändigt, suche ich unwillkürlich nach dem Couvert mit den Kleintypen seiner Schreibmaschine. 76
Die kleine Expedition, die im zweiten Teil dieses Buches beschrieben ist, bereitete ihm tiefgehende Freude, auch unser Logbuch. Er hat oft drin gelesen, um sich eine Stimmung, eine Situation, einen Spaß ins Gedächtnis zu rufen. Sein naturwissenschaftliches Denken war ökologisch und aufs Ganze gerichtet. Er suchte der kleinsten Erscheinung die weitesten Horizonte zu geben und überall die Wechselwirkung in der Erhaltung des Lebens der Tierwelt, die Dialektik im Lebens- und Ernährungsprozeß zu beleuchten. Ich erinnere mich an seinen Ausspruch: «Auf den ersten Blick möchte man annehmen, die Klapperschlange und das Känguruh seien Todfeinde, da die Schlange die Känguruhrasse verfolgt und frißt. Aber von höherer Warte betrachtet, sind sie in Freundschaft verbunden und aufeinander angewiesen. Die Känguruhs ernähren die Klapperschlange; diese holt aus dem Känguruhvolk die langsamen, schwachen und dünnen, so daß beide Arten erhalten bleiben. Es ist sehr wohl möglich, daß weder die eine noch die andere Spezies ohne ihren Freund-Feind existieren könnte.» Besondern Spaß machten ihm die Commensal-Tiere *, zumal wenn mehrere Spezies in Gruppen als «Tischgenossen» zur Erhaltung der Arten beitrugen. Das freute ihn, als sei diese Einrichtung eigens für ihn geschaffen. Alles Neue, sei es Tier oder Pflanze, wollte er nicht nur besichtigen, betasten, beschnuppern, er mußte es auch kosten. Als wir in einer Ebbe-Lache über die sonderbare Tatsache sprachen, daß die Nudibranchien, die so schön in * siehe Anhang, der auch über weitere Spezialausdrücke Auskunft gibt. 77
der Färbung, dabei unbewaffnet, zart, zum Anbeißen appetitlich sind, nie von andern Tieren gefressen werden, obwohl sie sich mühelos greifen lassen, langte Ed rasch ins Wasser, holte mühelos eine entzückend orangefarbene Nudibranchie heraus und steckte sie in den Mund. Doch fast im nämlichen Augenblick zog er eine furchtbare Fratze, spuckte, würgte, erbrach – und wußte nun ganz genau, warum die Fische diese liebliche Lockspeise schwimmen lassen. Ein andermal kostete er eine freischwimmende Seeanemone und zerstach sich die Zunge derart an den Nesselzellen der Fangarme, daß er vierundzwanzig Stunden lang den Mund kaum zumachen konnte. Und doch! Hätte es wieder etwas zu erkunden gegolten, er hätte den gleichen Streich schon am folgenden Tag wiederholt. Seiner schmächtigen Figur, den zarten Gesichtszügen hätte man seine Körperkräfte und die immense Ausdauer nie zugetraut. Um zur günstigen Ebbezeit am besten Sammelgrunde zu sein, konnte er stundenlang ohne Aufenthalt chauffieren, sich dort sogleich furios in die Arbeit stürzen und bis das Hochwasser nahte, Steinblöcke umwälzen, dann heimfahren und im Labor seine Funde präparieren und konservieren. Durch weichen, hohen Dünensand stapfte er mit der schwersten Traglast, ohne eine Spur von Ermüdung zu zeigen. Seine Widerstandskraft war phantastisch. Wahrlich! Ein Eisenbahnzug mußte kommen, ihn umzubringen. Was anderes hätte es nicht vermocht. Sein Geruchsinn war hoch entwickelt. Er roch jede Speise, bevor er sie aß, nicht nur auf der Platte, auch noch 78
im Löffel, auf jeder Gabel, die er zum Munde führte. Er witterte, beschnupperte jedes Lebewesen, das er aus einem Ebbepfuhl nahm und klassifizierte die Tiere auch nach dem Geruch. Selbst einzelne Stimmungen, sogar manche Gedanken hatten für ihn einen bestimmten Duft, der offenbar von besondern Erlebnissen herrührte. Oft beschrieb er die Gerüche einzelner Personen; jede hatte ihre eigenen, und sie wechselten. Sein Geruchsinn erhöhte Eds Liebesgenüsse. Bei derart ausgeprägten Fähigkeiten des Riechorgans sollte man denken, sogenannte schlechte Gerüche seien ihm unerträglich gewesen. Weit gefehlt! Ohne Abscheu stocherte er in verfaultem Gewebe, beugte sich dicht über die stinkenden Eingeweide einer Katze; ich sah ihn sogar in einen toten Riesenhai buchstäblich hineinkriechen, um im dunkeln Innern des Tierleibes die Leber herauszunehmen und sie dem Licht auszusetzen. Es gibt wohl keinen scheußlicheren Geruch als da drin. Ed hatte eine Vorliebe für feine Instrumente und Werkzeuge und eine ebenso große Abneigung gegen schlechte. Er sprach mit Verachtung von den auf Effekt und Verkauf berechneten, ins Auge stechenden, elegant lackierten, aber bei Gebrauch schmählich versagenden Apparaten, während jedes ehrlich gearbeitete Handwerkszeug ihn mit Freude erfüllte. Wie selig war er, als ich ihm aus Schweden eine Garnitur feinster Stahlinstrumente, Skalpelle, Operationsscheren, Zänglein und Zangen mitbrachte! Im Gegensatz zu seinen Wohnräumen hielt er sein Laboratorium stets peinlich sauber, weil er dies als notwendig erkannte. Er fand, die meisten Menschen verwendeten viel 79
zu viel Zeit, Mühe und Nachdenken auf Dinge, die sie nicht unbedingt brauchten. «Wenn ein gebohnerter Boden dich so beglückt, daß es sich für dich lohnt, ihn zu bohnern, dann bohnere ihn; andernfalls laß es sein!» sagte er. Er hielt sich nicht ohne Grund für arm; er hatte ja auch für drei Kinder zu sorgen. Ihnen gab er in schwieriger Zeit folgende Maxime auf den Lebensweg mit: «Drei Dinge dürfen wir nie außeracht lassen. Ich nenne sie euch in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Nummer eins: Wir müssen mit dem, was uns zu Gebote steht, so viel Freude wie möglich erringen. Das ist das wichtigste. Nummer zwei: Wir müssen möglichst gut essen, sonst haben wir nicht genug Kraft und Gesundheit zur Freude. Nummer drei: Wir müssen die Wohnung vernünftig in Ordnung halten, Geschirr usw. waschen. Aber das kommt wie gesagt erst in dritter Linie und darf die zwei ersten Hauptsachen nicht beeinträchtigen.» Auch Eds Verhältnis zu seiner Kleidung war interessant. Er trug teure wildlederne Mokassins, dicke Wollsocken und Wollhemden. Daß diese schauderhaft kratzten, schien ihm nichts auszumachen. Alles andre war ihm gleichgültig. Die Jacke war an den Ellbogen, die Hosen an den Knien abgewetzt, an anderen Stellen auch. In seinem Schrank hing ein alter zerknitterter gelblicher Schal, den er niemals trug; ich habe es jedenfalls nie gesehen. Daß ihm ein Anzug nicht paßte, genierte ihn nicht. Er ging darin überall hin, war stets tadellos sauber und strahlte ein solches Gefühl innerer Sicherheit aus, daß nirgends der Eindruck aufkam, er sei unpassend angezogen. Eher wirkten andere Leute in seiner Gesellschaft geckenhaft. Einen 80
Hut trug er nur, wenn Gefahr bestand, sein Kopf könne naß werden, und dann den erwähnten WachstuchSüdwester. Doch was er auch trug oder nicht trug, in seiner Hemdbrusttasche hing an einem Rollenkettchen jahraus, jahrein ein zwanzigfaches Vergrößerungsglas von Bausch & Loms. Er benutzte es ständig; es war ein Bestandteil seiner Sehtechnik, mehr noch: es war ein Stück Ed. Immer wieder stoße ich auf die Paradoxie seiner Persönlichkeit. Er liebte Annehmlichkeiten und legte doch keinen Wert darauf. Er badete gern; als aber der Boiler im Laboratorium kaputt war, ließ er ihn über ein Jahr lang nicht reparieren und badete kalt. Im WC verklebte er das Loch in der Schüssel mit einem Stück Kaugummi. Es muß dort heut noch zu sehen sein. Eine zerbrochene Fensterscheibe war jahrelang mit Zeitungspapier verkleistert. Er liebte Komfort, aber die Stühle im Labor waren hart und unbequem. Sein Bett war ein mit Stricken bespannter Rotholzkasten, auf dem eine dünne Matratze lag. Die Damen beklagten sich bitterlich über diese ebenso schmale wie ungemütliche Lagerstatt, die obendrein durch Gequietsche gegen die leiseste Bewegung Einspruch erhob. Ich habe das Pacific (oder Western) Laboratory und Ed (unter dem Namen Doc) für mein Buch «Cannery Row» reichlich verwendet. Als ich ihm das Manuskript vorlegte, um zu hören, ob er einige Änderungen wünsche, las er es aufmerksam, lächelte ab und zu, und als er fertig war, sagte er: «Laß es so! Es ist mit Güte geschrieben. So etwas kann nicht schlecht sein.» Schlecht waren nur gewisse Auswirkungen, an die er so 81
wenig wie ich gedacht hatte. Kaum war das Buch erschienen, als neugierige Touristen auftauchten, erst einzelne, dann ganze Haufen, ihre Wagen in Cannery Row parkten, uns ins Haus fielen, Ed wie einen Filmstar anstarrten, sich ins Laboratorium drängten, alles anglotzten und blödsinnige Fragen stellten. «Eine Landplage!» meinte auch Ed, war aber deswegen nicht böse, denn unter den Eindringlingen befanden sich Damen und unter diesen einige Schönheiten. Nach seiner Herkunft und Kindheit habe ich Ed nie gefragt, obwohl er mir gewiß Auskunft darüber gegeben hätte. Aber wir hatten wichtigeres zu besprechen. Doch entsinne ich mich, daß er den ersten der Danny-O’NeillRomane, in denen James T. Farrell das Leben irländischer Einwandererfamilien in Chicago beschreibt, gleich nach Erscheinen zweimal hintereinander gelesen hat. «Das ist ein wahres Buch», lobte er, «ich bin im selben Viertel von Chicago geboren, habe in den gleichen Straßen gespielt; ich kenne alle Personen in dem Roman. Er ist wahr!» Darum fand er ihn schön, las auch die folgenden Bände, bis New York zum Schauplatz dieser irisch-katholischen Saga wurde. Aus New York waren ihm keine wahren Dinge bekannt. Eine der kuriosesten Begebenheiten im Pacific Biological ließe sich etwa betiteln: «Wie wir versuchten, unser Wissen im Krieg gegen Japan nützlich werden zu lassen, und welches Fiasko wir dabei erlebten.» Die Geschichte beginnt mit der Beendigung unserer Expedition in den Golf, über welche das folgende Logbuch Auskünfte gibt. Nach unserer Rückkehr machten wir uns 82
sogleich ans Werk, die Tausende dort aufgesammelter Tiere wissenschaftlich auszuwerten. Unser Bestreben war weniger auf Entdeckung neuer Arten gerichtet als auf eine Geographie der pazifischen Fauna. Dazu brauchten wir eine Unmenge Ergänzungen, besonders hinsichtlich des Vorkommens der von uns beobachteten Gattungen an allen Küsten des Pazifik, vor allem auch an den dazwischenliegenden Südseeinselgruppen. Es war nach dem Angriff auf Pearl Harbor, und wir befanden uns im Krieg mit Japan. Schon ohne Krieg wäre es schwer gewesen, die erforderlichen Informationen über die Südsee zu erhalten, denn ein Großteil der pazifischen Inseln war nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund dem kaiserlichen Japan als Mandat anvertraut worden, und dieser Treuhänder der Völkerliga hatte als erstes um sein gesamtes Mandat einen Bambusvorhang gehängt. Zwanzig Jahre lang durfte dort kein Ausländer landen. Zoologisch waren die Inseln wenig erforscht. Nach Verhängung des Mandats und des Bambusvorhangs hatte man nichts mehr von dort gehört – dachten wir. Wir schickten die üblichen Briefe an unsere Universitäten und baten um alle etwa vorhandenen Informationen über die Inseln. Die daraufhin einlaufenden Antworten waren sensationell. Eine unglaubliche Menge neuester Informationen war beigefügt. Wie das möglich war? Wo doch Japan seine Südsee längst streng von aller Welt abgeschnitten hatte!? Zugleich mit der Abschließung hatten die Japaner eine Inventarisierung ihrer neuen Besitzungen vornehmen und vor allem feststellen lassen, was sich für den Kriegsfall an 83
Nahrungsmitteln aus dem Stillen Ozean herausholen ließe. Bekanntlich essen Japaner viel mehr Meeresprodukte als wir. Wen konnten sie da zwecks Bestandaufnahme am geeignetsten abkommandieren? Ihre eigenen Zoologen, die sich zum Teil in der wissenschaftlichen Welt eines ausgezeichneten Rufes erfreuten. Was sich nunmehr begab, mutet wie das Libretto einer Komischen Oper an. Die Zoologen stellten ihre Untersuchungen selbstverständlich in tiefstem Geheimnis an. Doch war es nicht minder natürlich, daß sie als gewissenhafte Spezialisten ihre Studien gründlich betrieben und nach den verschiedensten Richtungen hin ergänzten. Denn eine sorgsame zoologische Bestandaufnahme notiert nicht bloß die für Soldaten eßbaren Tiere, sondern auch deren Nachbartiere, Freunde und Feinde, sowie alles, was auf ihre Lebensbedingungen Einfluß hat: Wetterverhältnisse, Wellenschlag, Gezeitenschwankungen, Strömungen, Salzgehalt, Riffe, Küstenvorsprünge aller Art, Bodenbeschaffenheit, kurz alle Phänomena, die mit dem Vorkommen der in Frage stehenden Tiere, ihrer Verbreitung, ihrem Wachstum und Wohlbefinden irgendwie in Zusammenhang stehen, mit einem Wort: ihre Ökologie. Und dazu gehört auch z. B. die Feststellung von Abwässern, die von neuen chemischen und andern Fabrikanlagen in die Ebbezone geleitet werden und auf das ökologische Gleichgewicht einwirken. Nachdem die Gelehrten der kaiserlich japanischen Regierung ihre Rapporte über die Ernährungsmöglichkeiten abgeliefert hatten, schrieben sie, vermutlich mit größerer innerer Anteilnahme, ihre wissenschaftlichen Beobach84
tungen nieder, ließen sie vervielfältigen und beglückten damit ihre Fachkollegen in aller Welt. Warum nicht? Viele von ihnen hatten an der Harvard, an der HopkinsStanford University oder dem Institute of Technology in Kalifornien, an allen möglichen amerikanischen Bildungsstätten studiert, hatten überall Freunde, denen sie gern eine Freude bereiten wollten und die ihrer exakten, rein wissenschaftlichen Arbeit zweifellos das größte Verständnis entgegenbringen und ihren Fleiß bewundern würden. Beim Lesen dieser Berichte aus der Südsee dachten Ed und ich plötzlich an keinerlei Seegetier mehr. Denn hier, vor unsrer Nase, hatten wir die detaillierten Aufzeichnungen der physikalischen Beschaffenheit eines kaum je erkundeten Gebiets, das sich in Feindeshänden befand! Wir hatten damit das genaueste Material zur Vorbereitung von Insellandungen, falls unsere See- und Landstreitkräfte zum Angriff auf Japan übergehen sollten! Für Küstenlandungen zwecks Invasion lagen hier die herrlichsten Informationen: ein vollkommenes Bild jedes in Frage kommenden Strandes, der Wassertiefen in Küstennähe, der Strömungen, Riffe, Gezeiten! Wir wußten natürlich nicht, ob wir mit unserer aufregenden Entdeckung alleinstanden, zweifelten aber, ob unsere Marine- oder ArmeeIntelligenz um das Vorhandensein dieser Berichte wußte. Wie oft bleibt Offenkundiges unbemerkt! Wir sagten uns: Wenn unser Intelligence Service nichts von der Sache weiß, dann müssen wir es ihn unbedingt wissen lassen. Weiß er es aber, so schadet es nichts, wenn wir ihn nochmals darauf aufmerksam machen. Also schrieben wir an das Navy Department in Washington, schilderten das in 85
unsern Händen befindliche Material, die darin steckenden Möglichkeiten, und wie wir dazu gekommen waren. Sechs Wochen darauf erhielten wir einen hektographierten Wisch, der unsern Patriotismus dankend quittierte. Ed sah die Sache mit philosophischem Gleichmut an. Ich aber, unkund solch militärischer Wurstigkeit, fuhr aus der Haut, schrieb an Mr. Frank Knox, den damaligen Staatssekretär der Marine, und trug ihm nochmals die Angelegenheit vor. Als der Brief schon zugeklebt war, schrieb ich in begreiflicher Erregung auf das Couvert: «Streng persönlich!» Zwei Monate lang geschah nichts. Als es geschah, war ich weg, aber Ed hat es mir später erzählt. Ein schmallippiger, strammer Herr in Zivil kam des Abends ins Biological, legitimierte sich als Lieutenant Commander * der Naval Intelligence ** und bemerkte ernst: «Es ist uns eine Mitteilung von Ihnen zugegangen.» «O ja! Wir freuen uns sehr, daß Sie endlich hier sind, wir –» Der Offizier unterbrach. «Sprechen Sie japanisch?» «Nein.» «Können Sie japanisches lesen?» «Nein», antwortete Ed. «Spricht oder liest Ihr Teilhaber japanisch?» «Nein! wozu fragen Sie überhaupt?» «Was ist dann mit dieser angeblichen Information über pazifische Inseln?» * Seeoffizier zwischen Kapitän und Erstem Offizier ** Marine-Spionageabteilung 86
«Ach so!» rief Ed. «Drum! Die Informationen sind alle englisch geschrieben.» «Wieso englisch?» «Weil die japanischen Zoologen sie englisch geschrieben haben; sie haben hier studiert. Englisch wird noch zur wissenschaftlichen Weltsprache.» Die Intelligence (sagte mir Ed) bot ihre Intelligenz auf; sie aber versagte offenbar, sonst hätte der Herr nicht noch gefragt: «Warum schreiben jene Personen nicht japanisch?» «Weiß ich nicht.» Ed wurde langsam ungeduldig. «Sie schreiben halt englisch; ihr Englisch klingt zwar etwas seltsam, ist aber englisch.» Der Kommander schien verstimmt, so verstimmt, wie wohl meine Aufschrift «streng persönlich» in Washington verstimmt haben mochte, und wiederholte: «Etwas seltsam!» Hierauf in grimmigem Ton: «Sie werden von uns hören.» Was nie geschah. Ich habe mich des öftern gefragt, ob sie die Information schon hatten oder nachträglich sich beschafft haben. Ich wüßte zu gern, ob ein Soldat der fernöstlichen Invasionstruppen, als er mit seiner Abteilung eine Viertelmeile vom Strande ausgeschifft wurde und unter feindlichem Feuer ans Land waten mußte, das Gefühl hatte: die Landungsleitung hat hier den Meeresboden und die Gezeitentafel genau gekannt – oder ob er das Gegenteil annehmen mußte. Ich weiß es nicht. Nachdem mir Ed von dem Besuch erzählt hatte, meinte er: «Ich glaube, ich lerne es nie, ich falle immer wieder her87
ein. Und dabei müßte ich diese Sorte allmählich kennen, ich als ehemaliger Kompanieschreiber …!» Und dann erzählte er mir die Geschichte von den Tests der Flotte im Hafen von Bremerton. Durch diese Tests sollte ein wirksames Material oder ein Schiffsanstrich ermittelt werden, durch welchen die Bernikel vertilgt oder verjagt werden könnte. Die aufgewendeten Kosten waren beträchtlich. Man baute große Zement-Tanks und ließ sie mit Anstrichproben, metallischen Salzen, diversen Teersorten und Giften auf den Meeresboden hinab, um festzustellen, welches Material sich gegen Bernikel am besten bewähre. «Eine Professorin der Universität Washington», fuhr Ed fort, «mit der ich gut befreundet war, galt mit Recht als die internationale Bernikel-Kapazität, und als sie von den Tests vernahm, ging sie als gute Patriotin hin und stellte sich zur Verfügung. Stieß aber auf zwei Einwände: Daß sie eine Frau war, was sie nicht ableugnen konnte, und obendrein hochgelehrt. Das ging zu weit! Man dankte ihr mit ausgesuchter Höflichkeit, aber für Theorie habe die amerikanische Flotte kein Interesse. Nur ausgekochte Praktiker würden mit so etwas fertig. Nach drei Monaten fand sich an keinem der verschiedenen Testmaterialien auch nur die leiseste Spur einer Bernikel, auch nicht an dem Führungsmaterial aus nichtpräpariertem Holz. Die Praktiker standen vor einem Rätsel. Meine gescheite Freundin hörte davon, besuchte zum zweiten Mal die Versuchsstation und sah auf den ersten Blick, was passiert war. «Ja-a-a!» lachte Ed, «die Herren Flottenpraktiker! Ausgekocht sind sie, sterilisiert und sauber, steril wie ausgekochtes Ver88
bandzeug! Aber das Hafenwasser von Bremerton ist drekkig von Nachthafenwasser, verfaultem Fisch, Schmieröl und Algen. Das ging unserer Flotte, die so chemisch reinlich ist, natürlich gegen den Strich. Drum haben die Herren befohlen, das Wasser müsse, bevor man es an die schönen neuen Versuchstanks heranläßt, filtriert werden, und ihr Befehl wurde so akkurat ausgeführt, daß auch nicht eine einzige Bernikellarve an die guten teuren Tests gelangte. Die Professorin war viel zu schüchtern, die uniformierten Marinedilettanten auf ihren Blödsinn aufmerksam zu machen. Ich glaube, sie haben es nie erfahren.» So wurde unsere Hilfsbereitschaft und wissenschaftliche Anmaßung, die der Routine ins Kriegshandwerk pfuschen wollte, in die gebührenden Schranken gewiesen. Wie ich Teilhaber am Pacific Biological Laboratories Inc. geworden bin? Sehr einfach. Ed steckte vor Jahren dermaßen in Schulden, daß durch die Zinsen, die er der Bank zahlen mußte, sein Unternehmen so ausgeblutet war wie eine seiner Katzen im Souterrain. Betrübt schickte er sich an, das Geschäft zu liquidieren und mit seiner Unabhängigkeit das Recht aufzugeben, lange zu schlafen, bis spät in die Nacht zu arbeiten und frei über sich zu verfügen. An sich brachte das Labor, obwohl es nicht rationell betrieben wurde, immerhin so viel ein, daß Ed davon leben konnte. Aber zur Bezahlung der Bankzinsen reichte es nicht. Ich hatte damals just so viel übrig, daß ich an die Stelle der Bank treten und Ricketts Gläubiger werden konnte. Den Zinssatz senkte ich bis fast auf den Verschwindepunkt und wußte, das Kapital werde gleichfalls verschwin89
den. Als Sicherheit empfing ich ein Aktienpaket der Pacific Biological und eine Hypothek auf das Haus. Das Paket bestand aus bestem Papier, mehr kann ich davon nicht sagen; von Finanztransaktionen verstehe ich nichts. Es genügte mir, daß das Labor dadurch noch zehn Jahre weiter leben konnte. Durch geschäftliche Umsicht habe ich jedenfalls nicht dazu beigetragen. Dieser Verdacht scheidet also aus. Daß sich das unwahrscheinliche Geschäftsunternehmen so lange hielt, läßt sich nur durch Magie erklären. Eine vernunftgemäße Erklärung gibt es nicht. Unsere Direktionssitzungen unterschieden sich von einer Party nur dadurch, daß noch mehr Bier konsumiert wurde, und was als seriöse Geschäftsdebatte begann, zerflatterte in philosophisch-ökologischen Gedankenspielen. Auch unsere Exkursion in den Golf von Kalifornien war ein Wunder. Wir gelangten dorthin, wohin wir wollten, fanden, was wir uns gewünscht hatten und konnten es praktisch und theoretisch verwerten. Wir faßten daraufhin den Plan, auf einer Fahrt durch die Inselkette der Alëuten unser Werk weiterzuführen, aber der Krieg machte uns einen Strich durch die Rechnung. Nach dem Krieg wollten wir nach den, der Nordwestküste Kanadas vorgelagerten Queen-Charlotte-Inseln im Stillen Ozean. Dort am Ende der Straße der Hecate im Dixon Entrance greift das Meer von Norden her durch einen langen schmalen Hals fjordartig tief in die Graham-Insel. Hier könnte man die Wandlungen bestimmter animalischer Formen, Folgen langwährender Isolierung, Anpassung und Ausbildung der Organe für besondere Tätigkeiten, wohl besser als irgend sonstwo studieren. Im April 90
1948 hatten wir alles beisammen, die Billette und Schiffskarten gelöst und unsre Behälter und Sammelgeräte parat. Ed hätte im Lauf des Monats aufbrechen sollen; auf der Grahams-Insel wollten wir uns treffen … Vielleicht wird einmal jemand anders in diesem sonnigen kleinen Inselmeer seine Studien treiben. Mir ist in Monterey an jenem Apriltag sein Licht für immer erloschen. Ich will meinen Bericht abschließen. Vieles fehlt. Über Eds Beziehung zu seinen verschiedenen Ehegattinnen und seinen drei Kindern habe ich nichts geschrieben. Es wäre nicht angebracht; auch weiß ich nur wenig davon. Wie gesagt: Menschen, die Ed. Ricketts gekannt haben, werden mit dieser Darstellung nicht recht zufrieden sein. Sie alle haben zahllose andere Ed Ricketts gekannt. Vielleicht gab es so viele Eds, wie Ed Freunde hatte. Würde man sie über sein eigentliches Wesen befragen und über die Ursache des tiefen Eindrucks, den er hinterließ, ich glaube, es käme jedesmal etwas andres heraus. Ob es da überhaupt einen Generalnenner gibt …? Ich habe versucht, ihn zu ziehen. Die große Begabung Eds, von allen geliebt, benötigt und nun, da er tot ist, unendlich entbehrt zu werden, diesen ihm eigenen Zauber suchte ich zu ergründen. Aber da war noch etwas anderes, das über seinen menschlichen Charme hinausging, und ich glaube, es war seine Empfänglichkeit, seine Fähigkeit, jegliches von einem jeden mit Anmut und dankbar entgegenzunehmen und das ihm Gereichte dadurch zu verklären. Hierdurch fühlte sich jeder Mensch gut, der Ed etwas 91
reichte: einen Gedanken, einen Einfall, ein Geschenk, ganz gleich was. In der armseligen Reihe der Tugenden ist jene des Schenkens wahrscheinlich die überschätzteste. Schenken erbaut vor allem den Spender, erhöht sein Ich, verleiht ihm eine, Überlegenheit über den Beschenkten, macht ihn größer, bläht ihn auf. Häufig verbirgt sich darin, ein selbstsüchtiges Lustverlangen, das sich schon manchmal als böse und schädlich erwies. Man denke nur an einige unserer wölfischen Finanzmagnaten, die zwei Drittel ihres Daseins darauf verwandten, den Eingeweiden der Gesellschaft Riesenvermögen zu entreißen, um im letzten Drittel einen Teil davon gratis zu retournieren! Ihre Philanthropie als eine Art angstvoller Wiedergutmachung zu erklären, genügt nicht; noch weniger die Erklärung, ihr Charakter habe sich nach Befriedigung ihrer Geldgier geändert. Unersättlichkeit ist nicht zu sättigen; das liegt in ihrem Wesen. Ob so Geartete raffen oder spendieren, der psychische Impuls ist in beiden Fällen der gleiche. Denn Geben schafft ein ebenso großes Überlegenheits- und Machtgefühl wie das Ansichreißen, und Wohltätigkeit dürfte sich oft genug als eine Erscheinungsform der Habgier erweisen. Es ist so einfach und lohnend, zu geben. Hingegen das richtige, gute Empfangen erheischt eine in Selbsterkenntnis und Güte fein ausgeglichene Seele, braucht Demut, Takt und tiefes Verstehen. Als der Empfangende stehst du nicht einmal vor dir selbst stärker und weiser da als der Geber und mußt doch weiser sein, um der Gabe gut sein zu können. Um ein stets Empfangender zu sein, braucht es Selbstachtung, nicht etwa Selbstliebe, 92
keine Eigenliebe, nur eine freundliche, selbstverständliche, angenehme Bekanntschaft mit dem eigenen Ich. Wie Ed einmal konstatierte (nicht wehleidig, sondern lediglich als bedauerliches Faktum): «Ich habe mich lange Zeit nicht gemocht, aus mehreren Gründen, einige waren triftig, andere aus der Luft gegriffen; es widerstrebt mir, im einzelnen darauf einzugehen. Dann aber entdeckte ich Schritt für Schritt, daß eine ganze Anzahl Leute mich gern hatten, und sagte mir: Wenn die mich mögen, warum soll ich es nicht auch können? – Der Gedanke allein genügte natürlich nicht. Erst nach und nach lernte ich, mich selbst zu lieben wie meinen Nächsten.» Das entsprang bei ihm keiner Eigenliebe sondern der Selbsterkenntnis. Er lernte es, die Person «Ed» so zu nehmen und zu lieben wie er andere Menschen liebte, und so war es gut. Die Meisten mögen ihr eigenes inneres Wesen nicht, kennen es nicht einmal recht. Wie könnte da eine echte Liebe entstehen? Sie mißtrauen sich selbst, legen eine Maske an, plustern sich auf, prahlen, hadern, heucheln, verstellen sich und sind auf andere neidisch, weil sie sich selber nicht mögen. Da sie sich zu wenig kennen, ist ihnen ihr Innerstes fremd, und da der Mensch gedankenlos automatisch das Fremde fürchtet und ablehnt, fürchten sie ihr Ich und bekämpfen es. Sobald Ed fähig war, sich zu lieben, war er dem Kerker der Selbstverachtung entronnen, hatte es nicht mehr nötig, sich seine Überlegenheit auf übliche Art zu beweisen, also auch nicht durch Geben. Er konnte empfangen und verstehen und, ohne Anwandlungen von Neid, seiner Mitmenschen froh werden. 93
Sein Talent, zu empfangen, hinzunehmen und aufzunehmen, machte ihn zu einem großen Lehrer. Kinder brachten ihm Muscheln, gaben ihm Auskünfte über deren Bewohner, aber bevor sie dies konnten, mußten sie lernen, mußten Eindrücke sammeln. Im Gespräch mit Ed merkte man überrascht, daß man ihm Hypothesen, Ideen, Ahnungen mitteilte und staunte selber, wie man dabei auf Dinge kam, an die man zuvor nicht gedacht, die man ganz übersehen hatte. Dies gab einem ein solch gutes Gefühl der Gemeinschaft mit ihm, daß man ihm jeden Gedanken gern unterbreitete. Dann sagte er wohl: «Ja, so ist’s. So könnte es gehen; außerdem –» und er erleuchtete die ihm dargebrachte Idee, doch ohne sie dir zu entfremden oder sie an sich zu reißen. Sein Schöpfertum war ein großes schönes Empfangen, war eine Party der Seelen, auf der er nichts als sein ausschließliches Eigentum ansah, mochte es nun ein Braten, ein Musikstück, ein Gedanke oder ein Zwanzigdollarschein sein. Er war nur die Hand, die darreichte. Daher hat sich keiner seiner Freunde je mit ihm überworfen. Er rivalisierte nicht, und so wurde man eins mit ihm. O könnten wir doch alle so sein! Könnten wir von ihm lernen, uns selbst zu erkennen und ein wenig zu lieben! Vielleicht schwänden dann unsere Ängste und Grausamkeiten. Wir brauchten nicht mehr einander weh zu tun, nur um unser Ego-Kinn über Wasser zu halten. Das wäre es. Mehr kann ich nicht über Ed Ricketts sagen. Ich weiß nicht, ob irgendein klares Bild daraus entstand. Das Zurückdenken und sich erinnern hatte wohl nicht 94
den erhofften Erfolg. Es hat seinen Geist nicht gebannt, nicht befriedigt. Noch immer geistert unfaßbar ein Ungestaltbares. Die Dunkelheit bricht herein. Ed unterbricht die Arbeit in seinem Labor. Ich sehe ihn seine Instrumente zudekken, seine Papiere beiseite räumen, die aufgerollten Ärmel herunterkrempeln und seinen abgetragenen braunen Rock anziehen. Ich sehe, wie er hinausgeht, in seinen zerbeulten alten Wagen steigt und langsam dahinfährt in den sinkenden Abend. So lang ich lebe, läßt mich das nicht mehr los.
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ZWEITER TEIL
DIE EXKURSION IN DEN GOLF VON KALIFORNIEN
UNSER LOGBUCH
E
in Buch ist ein Stück Realität, durch den Geist des Verfassers bestimmt und gestaltet. Bei einer Erzählung, einem Roman gilt dies als selbstverständlich; bei einem Tatsachenbericht ist man sich darüber öfters nicht recht im klaren. Und doch treibt der gleiche Impuls den einen Menschen zum Dichten, den andern in Ebbetümpel und drängt ihn dazu, davon zu erzählen. Warum unternimmt jemand eine Tibet-Expedition oder wühlt den Meeresgrund mit dem Schleppnetz auf? Warum sitzen Männer vor einem Mikroskop, untersuchen die kalkhaltigen Plättchen einer Seegurke, empfinden bei Entdekkung einer neuen Spezies Begeisterung, geben ihr einen Namen und schreiben im Hochgefühl des Besitzes ein ausführliches Referat. Wir sollten die wahren Impulse erkennen, uns nicht mit Gemeinplätzen wie «Dienst an der Wissenschaft» etwas vorgaukeln, sondern wissen, was wir tun. Mein Freund Ed und ich haben nun dieses Buch über den Golf von Kalifornien geschaffen. Wir hätten es auf verschiedene Art und Weise gekonnt, haben aber beschlossen, daß es sich selber die richtige Form geben soll. Seine Grenzen sind ein Boot und ein Meer, sein Zeitraum die sechs Wochen Charter-Zeit, sein Thema alles, was wir dort sahen, oder uns auch bloß einbildeten, seine Beschränkung nur die unseres eigenen Geistes. Wir haben unsere Fahrt zuweilen mit dem Ehrennamen 99
Expedition belegt. Der Golf, durch den sie uns führte, hieß ehedem «Sea of Cortez», das Meer des Entdeckers Fernando Cortez, was uns schöner und abenteuerlicher dünkte als «Gulf of California». Wir hielten in vielen kleinen Häfen und an kahlen Küsten, um dort wirbelloses Seegetier zu sammeln. Einer der Gründe, die wir uns selber für unsere Reise nannten (und wenn wir uns auf diesen Grund beriefen, nannten wir sie eine Expedition), war die Beobachtung der maritimen Wirbellosen zwecks Bericht über ihre Beschaffenheit, ihre Verbreitung, ihr Zusammenleben, ihre Ernährung und ihre Fortpflanzung, also ein ganz einfacher, klarer Plan. War aber nur ein Teil der Wahrheit, und diese gestanden wir uns ganz offen ein. Wir waren neugierig, so grenzenlos neugierig wie ein Charles Darwin, ein Alexandre Agassiz, Carl Linné oder Plinius senior. Wir wollten alles sehen, was in unsere vier Augen hineinging, uns dabei denken, so viel wir konnten, und aus der beobachteten, eingefangenen Realität so etwas wie einen Bau errichten. Wir waren uns dabei bewußt, daß unser Augenschein, unser Bericht, unsere Konstruktion verkürzt, beeinflußt und vielfach abgelenkt sein werde, so wie jedes Wissen, jedes System beeinflußt ist, einmal durch die Zeitströmung und deren kollektiven Druck, dann aber auch durch den Druck, den unsere individuellen Persönlichkeiten ausüben. Da wir hierüber im klaren waren, tappten wir nicht allzu oft daneben und konnten jene Beeinflussungen durch die Realität einigermaßen ausbalancieren. Beides gehört schließlich zusammen. Zum Beispiel: Die mexikanische Sierra, eine forellenähnliche Makrelenart, hat in ihrer Rückenflosse «XVII-15-IX» Flos100
senstachel, was sich ohne weiteres nachzählen läßt. Wenn aber dieser goldene Fisch auf die Angelschnur haut, daß uns die Hände brennen, sich bäumt, uns beinah entkommt, bis wir ihn endlich über die Reling haben – sein Schwanz peitscht die Luft, seine Farben pulsieren – dann tritt eine wesentlich neue Verwandtschaftsbeziehung in Erscheinung, eine Wesenheit, die mehr ist die Summe von Fisch plus Fischer. Um die Flossenstachel der Sierra unberührt von dieser zweiten Realität zu zählen, bleibt nichts anderes übrig als sich ins Labor zu setzen, ein stinkendes Gefäß zu öffnen, einen steifen farblosen Fisch aus der Formollösung zu nehmen, die Flossenstacheln zu zählen und wahrheitgetreu zu notieren: «D. XVII-15-IX». Damit hast du eine unbestreitbare Tatsache verbucht, wahrscheinlich die für dich und den Fisch unwichtigste. Es ist gut, zu wissen was man tut. Mit dem eingemachten Fisch hat man eine Wahrheit und viele Lügen eingeheimst. Die Sierra hat weder diese Farbe, noch dies Gewebe, noch diesen Tod. Sie riecht auch nicht so. Solches hatten wir in den Planungsmonaten unserer Expedition wohl erwogen und waren entschlossen, um kleiner Wahrheiten willen uns die Horizonte nicht verengen, die Sicht nicht trüben zu lassen. Wir wußten: was uns als wahr erscheint, kann eine recht zweifelhafte Teilwahrheit sein. Der Mann mit dem eingemachten Fisch hat die wichtigsten Beobachtungen versäumt: die über sich, über den Fisch, also den springenden Punkt: seine Gedanken sowohl über die Sierra wie über sich. Es gehörte dies zur geistigen Verproviantierung unserer Expedition. Wir sagten uns: «Seien wir allem aufgeschlos101
sen! Schauen wir, was es zu sehen gibt! Berichten wir, was wir finden! Wir wollen uns nicht durch konventionelle wissenschaftliche Einschränkungen dumm machen. Völlig objektiv läßt sich das Cortez-Meer sowieso nicht beobachten. Denn in diesem einsamen, unbehausten Golf erfährt unser Schiff wie wir selbst im Augenblick unseres Eindringens eine Veränderung. Mehr noch! Dadurch daß wir dorthin gehen, bringen wir in den Golf einen neuen Faktor. Stellen wir diesen Faktor in Rechnung! Wir lassen uns nicht durch den Mythos einer permanenten, objektiven Realität beirren! Wenn so etwas überhaupt existiert, dann nur in eingesalzenen Fetzen und verschrobenen Ideen. Gehen wir», so sagten wir uns, «ans Cortez-Meer im Bewußtsein, daß wir damit für immer ein Teil davon werden; daß unsere Gummistiefel, die über eine AalgrasSandbank stapfen; daß die Steine, die wir in einem Ebbetümpel umwälzen, uns in Wahrheit und für immer zu einem Faktor in der Ökologie der Gegend werden lassen. Wir werden von dort einiges mitnehmen, aber wir werden auch einiges da lassen.» Und wenn wir auch nur einen kleinen Faktor in einer gewaltigen Rechnung bilden, ist er doch von Bedeutung. Jede Bedeutung ist relativ. Wir nehmen eine winzige Kolonie weicher Korallentiere vom Riff einer kleinen Wasserwelt. Das ist nicht besonders aufregend. Fünfzig Meilen davon entfernt fangen japanische Garnelenboote mit unbarmherzigen Schaufeln die Krabben tonnenweise und zerstören damit die Gattung, so daß sie sich nie wieder dort einfindet, und zugleich das ökologische Gleichgewicht der ganzen Region. Im Weltganzen gesehen ist auch das nicht wichtig. Und Tausende Meilen 102
davon entfernt fallen die großen Bomben, und die Sterne werden davon nicht erschüttert. Nichts ist wichtig. Oder Alles. Wir beschlossen, nach beiden Richtungen aufgeschlossen zu sein, um die Sierra, falls wir Wert darauf legten, als «D. XVII-15-IX; A. II-15-IX» beschreiben zu können, sie aber außerdem auch lebendig schwimmen, an der Angelschnur zerren, auf der Reeling sich bäumen zu sehen und sie schließlich zu essen. Es liegt kein Grund dafür vor, daß eine dieser Methoden unzuverlässig sein sollte. Die Flossenzählung leidet gewiß nicht darunter, daß auch andere Beobachtungen angestellt werden. Vielleicht, dachten wir, ergibt sich aus allen zusammen ein vollständigeres und womöglich exakteres Bild als aus einer Untersuchungsweise allein. Demgemäß gingen wir vor.
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W
ie organisiert man eine Expedition? Welche Ausrüstung ist erforderlich? Welche Quellen sind zu studieren? Wo liegen die kleinen Gefahren und wo die großen? Darüber hat noch niemand geschrieben. Es gibt keine Informationen. Der Plan ist eine Kleinigkeit, so einfach wie der Plan, ein gutes Buch zu schreiben. Für unsere Expedition umfaßte er Start, Reiseweg, die anzulaufenden Häfen und den Rückweg. Das alles ließ sich mit ziemlicher Genauigkeit vorher bestimmen. In den bekannteren Erdteilen ist es bis zu einem gewissen Grad auch möglich, das Wetter in der betreffenden Jahreszeit voraus zu sehen und sich über Höhe und Tiefe der Gezeiten und die Stunde ihres Eintretens zu vergewissern. Man weiß wohl auch, was für eine Art Schiff am geeignetsten ist, wieviel Lebensmittel für eine bestimmte Zeit und eine gegebene Teilnehmerzahl erforderlich sind und welche Medikamente im allgemeinen benötigt werden, Irrtümer vorbehalten. Es gibt ja auch nichtübliche Krankheiten. Die einschlägige Literatur über den Golf, soweit sie erhältlich war, haben wir gelesen. Sie ist lückenhaft und zum Teil konfus. Der «Küstenpilot» ist seit Jahren nicht mehr ergänzt. Einige Naturforscher mit Spezialinteressen haben den Golf besucht und nach Spezialistenart nichts gesehen, was sie nicht hatten sehen wollen. Clavigero von der Gesellschaft Jesu hat im achtzehnten Jahrhundert genauer und 104
mehr als die meisten beobachtet und beschrieben. Es existieren auch romantische Berichte von jungen Leuten, die am Golf Abenteuer gesucht und gefunden haben. Natürlich! Aus all diesen Quellen ergibt sich, daß das CortezMeer, der Golf von Kalifornien, eine lange, schmale, gefährliche Wassermasse darstellt, die von jähen, heftigen Stürmen heimgesucht wird. März und April sind dort meist ziemlich ruhig und verläßlich; die März-April-Gezeiten für Sammlertätigkeit im Litoral * besonders günstig. Die Spezialkarten sind in bezug auf das Festland und die Meerestiefen in ihren Aussagen bestimmt und zuverlässig, doch unsicher in der Brandungszone, die Lagunen nur punktiert, das heißt: ihre Grenzen ungewiß. Der «Küstenpilot» warnt vorsichtig und eifrig wie immer vor trügerischer Beleuchtung und Fata Morgana; der Jesuit Clavigero spricht etwas deutlicher von Schiffstrümmern, Wracks, heimtückisch wechselnden Strömungen, von Schiffsuntergängen und der unwirtlichen Küste, an der schon manche Mannschaft verhungert ist. Heutzutage ist es in Friedenszeiten für einen besonnenen, vorsichtigen Menschen in abgelegenen Gegenden weniger wahrscheinlich, daß er getötet oder verstümmelt wird, als auf den Verkehrsstraßen unserer Weltstädte, aber der atavistische Drang nach Gefahren hält trotzdem an. Seine Be-
* Siehe Anhang, der auch über vorausgegangene und weitere spezielle Bezeichnungen Auskunft gibt. Soweit das Logbuch selber weitere Erläuterungen bringt, sind die betreffenden Stellen im Index zu finden.
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friedigung nennt man Abenteuer. Trotzdem empfändet Ihr lieben Abenteurer keine besondere Genugtuung, wenn Ihr in San Francisco die Market Street gegen die Verkehrsordnung überquertet und dabei unter die Räder kämet. Aber euch in der Südsee umbringen zu lassen, das laßt ihr euch gern einen Haufen Geld und alle möglichen Strapazen kosten. Ihr befahrt berüchtigt wilde Gewässer im Kanu, durchquert ohne adäquate Nahrung diese oder jene Wüste, setzt euer anfälliges, ungeimpftes Blut den unheimlichsten Krankheitserregern aus, und das nennt ihr dann Abenteuer. Sehr möglich, daß sich eure Ahnen, der eintönigen Attacken der Säbelantilope überdrüssig, nach den guten alten Zeiten des Pterodaktylus und Iguanodons gesehnt haben. Ed und ich hatten kein Verlangen nach Abenteuern. Wir wollten Seetiere sammeln, und zwar an abgelegenen Orten, an bestimmten Tagen, zu den auf der Gezeitentafel angegebenen Stunden und wollten daher alle Abenteuer tunlichst vermeiden. Unsere Pläne, Vorräte und Ausrüstungen mußten mehr oder weniger – nein, keinesfalls weniger! – zweckentsprechend sein. Weder meine noch Eds Gemüt erfüllte jene edle Langeweile, welche Abenteuer und Bridgespieler erzeugt. Unsere erste Aufgabe war, ein Schiff zu chartern. Es mußte erstens seetüchtig sein, zweitens bequem und geräumig genug, um darin sechs Wochen zu leben und zu arbeiten, und so flach, daß man damit auch seichte Buchten befahren konnte. Die Schleppnetzschiffe von Monterey schienen zu diesem Zweck geradezu ideal, zuverlässige Arbeitsboote mit angenehmen Kajüten und reichlichem 106
Laderaum. März, April ist die Sardinensaison vorüber, und die Boote liegen still. Wir hielten es also für leicht, eines zu chartern. Hinten an den Buhnen lagen sie zu Hunderten verankert. Wir begaben uns zur Mole und erzählten dort, wir wollten so ein Schleppnetzboot mieten. Das sprach sich sogleich herum, doch wurden wir keineswegs mit Offerten überschwemmt, besser gesagt: nicht ein einziges Boot wurde uns angeboten. Erst langsam enthüllte sich uns die Mentalität der Bootsbesitzer. Sie wollten von unserm Vorhaben nichts wissen. Ob Italiener, Slawen oder Japaner, in erster Linie waren sie Sardinenfischer. Leute, die nach andern Fischen fischten, waren für sie Luft. An Arbeiten auf dem Festlande wie Häuser- und Straßenbau oder Fabrikarbeit glaubten sie weniger als ein Atheist an die Jungfrau Maria, aber nicht aus Unwissenheit, sondern aus Besessenheit. Alle Denk- und Gefühlskraft, deren ein Mensch fähig ist, ergoß sich bei ihnen in die Sardinen. Für sonst etwas war da kein Raum. Das beste Beispiel hierfür bot sich, als wir auf See waren: Hitler war in Dänemark eingefallen und rückte gen Norwegen; jeden Moment erwartete man die Invasion in England. Die Welt war drauf und dran, zum Teufel zu gehen, aber in unserm Schiffsradio hörte man nichts davon. Als es in dem Geknatter der Kurzwellen einem unserer Leute gelang, mit einem andern Boot Verbindung zu bekommen, entspann sich folgender Dialog: «Hier ist die Western Flyer. Bist du’s, Johnny?» «Ja. Bist du’s, Sparky?» «Ja. Hier Sparky. Wieviel Fisch habt ihr?» «Nur fünfzehn Tonnen. Und ihr?» 107
«Wir fischen nicht.» «Warum?» «Och, wir gondeln im Golf herum und sammeln Seesterne und so Zeug.» «Ja? Schön, Sparky, dann mach ich die Wellenlänge frei.» «Halt, warte, Johnny! Du sagst, ihr habt nur 15 Tonnen?» «Stimmt. Wenn du meinen Vetter sprichts, sag’s ihm!» «Gut, Johnny. Schluß.» Norwegen, Frankreich waren okkupiert, auch etliche andere Länder. Wir wußten nichts davon. Aber wieviel jedes Fischerboot in vierhundert Meilen Umkreis gefangen hatte, wußten wir. Es kommt eben alles darauf an, wie und worauf ein Mensch eingestellt ist. Davon kommt er nicht los. Genau so ging es bei unsrer Suche nach einem Schiff. Die Eigentümer mißtrauten uns nicht; sie hörten uns gar nicht zu. Wir waren für sie nicht vorhanden, höchstens als etwas, worüber man lacht. Aber die Zeit drängte, und wir wurden unruhig, bis endlich ein Bootsbesitzer, der sich in Geldverlegenheit befand, uns sein Fahrzeug zu einem annehmbaren Preis anbot. Schon wollten wir einschlagen, als er plötzlich mit seiner Forderung unerhört in die Höhe ging – nicht, um uns zu übervorteilen, sondern nur um sich zu drücken. Er war selbst über sich entsetzt. Als Antony Berry mit seiner Western Flyer in der Monterey-Bucht anlegte, stand es um unsere Sache schlimm. Allein Antony Berry war ohne Furcht. Sein Schiff war einmal von der Regierung, und zwar für Lachsfänge in den alaskischen Gewässern, gechartert worden und er daher an Blödsinn gewöhnt. Er war nachsichtig und nicht dumm. 108
Genau wie die Andern hatte er seine Mucken, aber das wußte er. Er erklärte sich damit einverstanden, daß wir unsern Unfug trieben, immer vorausgesetzt, daß wir 1. anständig zahlten, 2. ihm sagten, wohin es gehen solle, 3. sein Schiff nicht mutwillig gefährdeten, 4. rechtzeitig zurückkehrten und 5. ihn nicht in unsre Allotria hineinzögen. Er war noch jung, seriös und ein tüchtiger Kapitän, der sich sogar auf Navigation verstand – eine Seltenheit bei der Fischerflotte. Seine angeborene Vorsicht nötigte uns späterhin oft Bewunderung ab. Die Western Flyer war neu, sauber und wohnlich, die Maschinen in bestem Zustand. Sie war 22,50 m lang (der Mast 6,61 m hoch) und lief dank ihrem 165 HP Dieselmotor ihre zehn Knoten. Im Deckhaus befanden sich das Steuerrad, die grüne, frisch gestrichene Kapitänskajüte (zugleich Radioraum), ein behaglicher ebenfalls frisch grün gestrichener Mannschaftsraum mit Kojen, dahinter die Küche, von der eine Tür zum Fischbassin führte, hinter diesem die große Drehscheibe mit der Rolle des Sacknetzschleppers. Von den zwei mitgeführten Beibooten war das eine etwa 3, das andere ungefähr 6 m lang. Der Anblick des Maschinenraums war ein Vergnügen, jeder sichtbare Teil blitzte vor Sauberkeit, alles war gut geölt, der Fußboden fleckenlos. Alle Gerätschaften hingen tadellos poliert am richtigen Ort. Man brauchte das nur anzusehen, um dem Kapitän vollstes Vertrauen entgegenzubringen. Es waren uns bei der Fischerflotte schon andere Maschinenräume zu Gesicht gekommen! Als Bemannung heuerten wir den Maschinisten Tex Travis sowie die Matrosen Sparky Enea und Tino Colletto, 109
aber da sie das Unternehmen für eine Verrücktheit hielten, erklärten sie sich nur widerstrebend zur Fahrt bereit. Keiner war je im Golf gewesen, der Kapitän nur bis Kap San Lucas an der Mündung des Golfes gelangt. Wann sich Montereys skeptische Einstellung mir und Ed gegenüber geändert hat, wüßte ich nicht zu sagen. Es kam ganz plötzlich, vielleicht dadurch, daß man annahm, der als vorsichtig bekannte Tony habe sich auf keine Verrücktheit eingelassen, vielleicht auch nur aus purer Erleichterung, weil die Entscheidung endlich gefallen war! Jedenfalls waren wir jählings von Hilfsbereitschaft geradezu überschüttet. Unentgeltlich wollten einige mit uns gehen! Dem Matrosen Sparky Enea wollte jemand sogar dafür zahlen, wenn er ihm seinen Platz abtrete, und zwar mehr, als die Löhnung betrug! Sparky hätte in Monterey bleiben und sich mit der Abfindungssumme gut amüsieren können, aber er lehnte ab. Unser Projekt war zu Ansehen gelangt. So viel Hilfe, wie man uns antrug, konnten wir unmöglich brauchen; mit den uns erteilten Ratschlägen hätte man die Flotten sämtlicher Großmächte dirigieren können. Wer weiß, was sich unsere Mannschaft unter der Exkursion vorgestellt hat! Jedenfalls entwickelte sie sich späterhin zu einem tüchtigen, feinfühligen und gewandten Sammlerteam. Die Unterzeichnung der Charterungs-Urkunde erfolgte mit der gebührenden Ehrfurcht. Angesichts einer SchiffsCharter verbietet sich auch der leiseste Anflug von Frivolität. Die furchtbarsten Gottesgerichte sind in diesem Schriftstück nicht nur vorausgeahnt, sondern auch wie etwas Unausbleibliches schwarz auf weiß niedergelegt. Da 110
liest du genau, was du in den kompliziertesten Fällen von Schiffbruch, Eisbergen, verborgenen Klippen, Wasserknappheit, Meuterei oder Ertrinken zu tun und zu unterlassen hast, und das geht hinab bis zu den leichteren Unglücksfällen wie der Beschädigung des Kiels oder einer Planke. Neben Heiratsurkunde und Todesurteil gehört die Schiffcharter zu den gewichtigsten Dokumenten der Menschheit. Für beide Vertragspartner sind entsprechende Strafen vorgesehen, und wenn eines schönen Morgens die Strahlen der aufgehenden Sonne dein Fahrzeug inmitten der Mojave- oder der Colorado-Wüste bescheinen sollten, brauchst du nur in deiner Charter nachzusehen. Die Schuldfrage ist dort geklärt und die gerechte Strafe notiert. Wir brauchten mehrere Stunden, um das feierliche Gefühl, das uns die Charter einflößte, zu überwinden. Wir hatten bereits beschlossen, in uns zu gehen, ein frommes Leben zu führen, Schulden zu bezahlen, und mindestens einer von uns hatte in diesem furchtbar heiligen Augenblick an ein Gelübde ewiger Keuschheit gedacht. Nun aber war die Magna charta maritima unterzeichnet, und Nahrungsmittel strömten in den Bauch der Western Flyer. Unglaublich, wie viel Futter 7 Leute benötigen, um 6 Wochen zu existieren! Kisten, Kisten und Kisten voll Pfirsichen, Bananen, Tomaten, ganzen Romano-Käsen, Kondensmilch en masse, Weizen- und Maismehl, Gallonen Olivenöl, Tomatenpaste, Keks, eingesottene Butter und Konfitüren, Ketchup, Reis, Bohnen, Speck, Fleischkonserven, Gemüse, Suppenwürfel wurden von der begeisterten Mannschaft verstaut, verschwand in Schränken, 111
unter kleinen Luken im Boden der Kombüse, manches davon auf Nimmerwiedersehen. Ed und ich hatten schon öfters Seetiere gesammelt, aber meist in der gemäßigten Zone. Infolgedessen beruhte unsere Ausrüstung zum Sammeln, Konservieren und Aufbewahren von Exemplaren der Fischwelt nur auf unsern Erfahrungen in andern Gewässern und auf Vorahnungen der im heißen und feuchten Klima zu erwartenden Schwierigkeiten. In einigen Fällen hatten wir recht, in andern unrecht. In einem kleinen Schiff muß die Bibliothek konzentriert und leicht zugängig sein. Zu diesem Behuf hatten wir eine kräftige, mit Stahlbändern verstärkte Kiste gebaut, deren vorderes Oberteil sich so herunterklappen ließ, daß es als Pult zu benutzen war. Die Kiste enthielt etwa 20 dicke Bände und zwei Sonderabteilungen für Akten, die erste für wissenschaftliche Publikationen, die zweite für Korrespondenz, ferner eine kleine Metallkassette voll Schreib- und Bleifedern. Radiergummi, Büroklammern, Etiketten, Scheren, Nadeln, Gummibändchen, Reißstiften, Anhängezetteln usw.; außerdem Gefächer für Land- und Seekarten, für Couverts verschiedener Größe, Schreib-, Durchschlag- und Kohlepapier und eine Extraschachtel mit Tuschen in Fläschchen und Leim. Die Bücherkiste war so konstruiert, daß sie außerdem unsere Reiseschreibmaschine und ein Zeichenbrett mit Reißschiene aufnehmen konnte, was sie auch tat. Unten war Raum für Karton- und Papierrollen ausgespart. Das Ganze maß in geschlossenem Zustand 1,10:0,45:0,45 m, wog gefüllt etwa anderthalb Zentner und sollte in einer 112
unbenutzten Schlafkoje auf einem niedrigen Tisch Aufstellung finden denn außer in ihrer gedrängten Fülle und Reichhaltigkeit bestand der Hauptwert der Bücherei darin, daß sie jederzeit leicht zugänglich war. Wir schafften also das wertvolle Stück auf die Western Flyer. Aber da war kein niedriger Tisch, um es draufzustellen, und außerdem ging es in keine Koje hinein. Auf Deck durften wir es wegen der Feuchtigkeit nicht placieren. Schließlich zogen wir es an Tauen aufs Dach des Deckhauses, bedeckten es mit Persenningen und banden es zwischen zwei Kisten Orangen fest. Wenn das Schiff schlingerte, mußte man die Bibliothek jedesmal fester binden, da sich die Stricke lockerten. Bei allfälliger Benutzung dauerte es zehn Minuten, bis Persenning und Haltestricke entfernt und das Vorderteil aufgeklappt war. Da die Kiste auf dem Kopf stand, war es nicht leicht, die auf den Buchrücken verzeichneten Titel zu lesen. Hätten wir einen niedrigen Tisch und eine ausreichend große Koje gehabt, so wäre alles in schönster Ordnung gewesen. Aus diesem wie aus ähnlichen kleinen Versehen zogen wir die Folgerung: jede Forschungsreise in mehr oder weniger unbekannte Gegenden muß unbedingt zweimal gemacht werden, das erste Mal, um Irrtümer zu begehen, das zweite Mal, um sie zu vermeiden. Das Dumme ist, daß frühere Forscher und Sammler es unterließen, ihre Ausrüstung sowie deren Fehlschläge zu publizieren. Wir werden uns dieser Unterlassung nicht schuldig machen. Unsere Bibliothek umfaßte alle erhältlichen Spezialwerke über die Fauna des Golfs und Mittelamerikas, darunter Erstdrucke von Johnson und Snook, Ricketts und Calvin, 113
Russell und Yonge, Flattely und Walton, Fishers dreibändige Monographie über die Seesterne, Keeps «Muscheln der Westküste», Rathbuns «Brachyuran Monograph», Schmitts «Kaliforniens zehnfüßige Krebstiere», Frasers «Hydrozoen», Barnharts «Die Seefische Südkaliforniens», die Küsten-Pilot-Bände der ganzen pazifischen Küste und schließlich große und kleine Karten des gesamten heimzusuchenden Gebiets. Unsere Kamera-Ausrüstung war ausreichend, denn sie wurde wenig benutzt. Sie umfaßte eine tadellose Spiegelreflexkamera mit Stativ, Lichtmesser und allem Zubehör. Uns fehlte nur ein Kameramann. Während der Ebbe waren wir alle eifrig beim Sammeln; da fand niemand Zeit, die Hände abzutrocknen und zu kurbeln. Danach waren uns Anästhesie, Tötung, Konservierung und Beschriftung unserer Funde wichtiger als das Filmen. Der Irrtum lag nicht im Material sondern im Personal. Nächstes Mal nehmen wir jemand mit, der nichts anderes zu tun hat als einzustellen und zu drehen. Hauptsache, daß unser Sammelgerät gut war! Wir hatten Schaufeln, Stemmeisen, Stangen, Netze verschiedener Art, hölzerne Fischkästen und für den Fang bei Nacht eine Reihe elektrischer Handlaternen mit je sieben Ersatzbatterien. Was aber an Behältern im Rumpf der Western Flyer verschwand, schien überhaupt kein Ende zu nehmen: Gefäße aus Holz und Ton mit vernickelten Deckeln, Tonnen zu 15 und 30 Gallonen, Zylinder mit abschraubbarem Verschluß und einem Fassungsvermögen von 2 Unzen bis 1 Gallone, etliche Gros verkorkbarer Phiolen in 4 Formaten: 100 zu 33 mm, 6, 4 und 2 dram (1 dram = 1/16 Unze), 114
ungezählte Tuben, acht 2 ⅓ Gallonenkannen … Wie sich später herausstellte, kamen wir nicht einmal damit aus! Wir mußten unsere Funde, wichtige Exemplare, zusammendrängen, was sich als untunlich erwies. Empfindliche Organismen müssen, um Verletzungen vorzubeugen, separat konserviert werden. An Chemikalien verfrachteten wir in unserm Schiff ein 15 Gallonenfaß Formaldehyd der U.S.P. (United States Pharmacopoeia) und ein gleich großes Faß denaturierten Alkohol. Beides reichte nicht annähernd. In Guaymas mußten wir 10 Gallonen reinen Zuckeralkohol nachkaufen. Auch unsere 2 Gallonen Epsomsalze zu Anästhesierungszwecken erschöpften sich bald und mußten in Guayma aufgefüllt werden. Auch Menthol, Novokain und Chromsäure (alles für Tiere, die schlappmachen) befand sich im Chemikalienkasten. Zur Präparierungs-Ausrüstung gehörten ferner Spezial-Schnüre und -glasplatten, Gummihandschuhe, Meßgläser, Skalpelle und Zangen. Unser Binokular-Mikroskop von Bausch & Lomb war mit einer 12-Volt-Lampe versehen, die sich jedoch auf dem rollenden Schiff zu schwer handhaben ließ, so daß wir statt dessen eine Taschenlampe benutzten. Wir hatten einen Satz galvanisierte Eisenkübel von 15 bis 20 Gallonen Fassungsvermögen (sowohl, um im großen unempfindlich zu machen, wie auch zum Aufbewahren), ferner Tiegel und Schalen, emailliert und aus Glas, um unsere Spezimina auszulegen, und ein kleines Aquarium zu Beobachtungszwecken. Die Zusammenstellung unserer Schiffsapotheke beruhte auf langem, gründlichem Nachdenken. Sie enthielt Nem115
butal, Butesin-Pikrat gegen Sonnenbrand, 1000 Kapseln Chinin à 2 grain (1 grain = 59,0615 mg), zweiprozentige Quecksilberoxydsalbe gegen Bernikel-Verletzungen, Abführmittel, Ammoniak, Jod, Merkurochrom und andere keimtötende Präparate, Alcaroid und schließlich Whisky zu Heilzwecken. Doch der hat unsere Abschiedsfeier nicht überlebt und somit, da unterwegs niemand erkrankte, seinen Zweck erfüllt.
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oweit wir unsern langwierigen Vorbereitungen und dem ohnedies knapp bemessenen Schlaf Zeit abringen konnten, gingen wir zur Mole und schauten uns die Schiffe an, die dort an den Bojen zwischen Wellenbrechern verankert waren, schmutzige wie sauber bemalte Boote, deren jedem der Charakter seines Eigentümers aufgeprägt war. Denn jedes Fahrzeug hat eine Persönlichkeit, und jede ist anders und der ihres Herrn ähnlich. Waren die Streben verrostet, die Deckplanken nicht gescheuert, die Taue unordentlich gehäuft, so brauchten wir nicht erst nach dem Namen des Kapitäns zu forschen; wir wußten ihn. Auch wenn die Taue richtig gerollt, die Kabel eingefettet und der Mastkorb mit Geweihen geziert war, brauchten wir uns nicht nach dem Eigentümer zu erkundigen. An zahlreiche Mastkörbe, Krähennester genannt, waren Hochwildgeweihe genagelt, und als wir fragten, warum, ward uns die Antwort, sie brächten Glück. Das brachte es wohl schon den Vorvätern dieser Seeleute, die aus Sizilien stammen, und wenn man sie fragte: «Wie kommt ihr darauf, daß es Glück bringt?» erhielt man die Antwort: «Es bringt Glück; sonst würden wir nichts annageln.» Schon vor Jahrtausenden befanden sich glückbringende Geweihe an solchen Masten, und als die Schiffe von Karthago und Tyrus die sizilianischen Häfen anliefen, trug der Auslug am Mast gewiß schon ein Hirschgeweih, brachte Glück, und niemand wußte warum. Denn diese 117
verästelten Knochenauswüchse wachsen recht eigentlich aus den Tiefen der Volksseele und nicht allein sie, sondern die Schiffe selbst. Daher ist für einen Mann, ja für fast alle Menschen ein Boot, mehr als jedes andre von ihm benutzte Werkzeug oder Beförderungsmittel, eine verkleinerte Darstellung des Archetypus. Denn es lebt ein geistiges Urbild-Boot, das Boot als platonische Idee, als Gemütszustand, als Gefühl, und da dies Gefühl so stark ist, dürfen wir annehmen, daß kein anderes Gerät mit solch ehrlicher Sorgfalt geschaffen wird wie ein Boot. Gewiß werden auch schlechte gebaut, aber nur wenige. Denn ein schlechtes Schiff hält den Fluten nicht stand und ist drum nicht wert, daß man es baue. Aber das gleiche könnte man ja auch von einem schlechten Auto auf holpriger Straße behaupten. Offenbar handelt der Bootsbauer unter einem inneren Zwang, der stärker ist als er selbst. Rippen, Inholz und Spanten sind stark; das ist ihre Wesensart, sie ist vom Begriff der Bootsrippe nicht zu trennen. Und so sind Planken auserlesen und festgefügt, sonst sind ’s keine Planken, und ein Kiel fehlerfrei; sonst ist er kein Kiel. Der Mensch baut das Beste, was in ihm ist, in das Schiff und dazu unbewußt das Gedächtnis der Ahnen. Als ich einmal die Boots-Abteilung bei Macy in New York durchwanderte – es gab da Regattaboote, Segler und kleine Kreuzer – merkte ich plötzlich, daß ich bei jedem Schiffsrumpf, an dem ich vorbeikam, scharf mit den Knöcheln anklopfte. Ich wunderte mich, warum ich es tat, und hörte im selben Augenblick hinter mir ein Pochen: Ein mir völlig Unbekannter klopfte mit seinen Knöcheln genau im gleichen Rhythmus wie ich an jeden 118
Bootsbauch, an dem er vorüberging. Ich beobachtete eine Stunde lang, und da war kein Mann, kein Junge und wenige Frauen, die nicht das gleiche taten. War es ein unbewußtes Prüfen des Fahrzeuges? Viele der Besucher hatten wohl noch nie auf einem Schiffe gelebt, einige kleinere Buben vielleicht noch niemals eines gesehen, und doch prüfte jeder jeden Bootsbauch, beklopfte ihn, um zu sehen, ob er gesund sei, und war sich dabei nicht einmal bewußt, daß er es tat. Ich erwog: vielleicht klopft man unwillkürlich an jeden größeren hölzernen hallenden Gegenstand, und begab mich zu den Klavieren, den Eisschränken, den Betten, den Zederschränken, aber da klopfte niemand – nur bei den Booten! Wie tief muß dies dem gebenden und empfangenden Menschen innewohnen … Das Wasserfahrzeug, durch Jahrtausende menschlicher Versuche, Erfahrungen und Bewährung hindurchgegangen, hat in der Natur kein Gegenstück, es sei denn ein trockenes Blatt, durch Zufall auf eine Wasseroberfläche gefallen. Vom Boot, das er erschuf, empfing der Mensch einen seelischen Einfluß, eine Gemütsbewegung, die ihn jedesmal packt, wenn er sieht, wie es auf den Wogen reitet oder ruhig und stolz dahingleitet. Ein Pferd, ein prächtiger Hund kann gewiß auch unser Gemüt bewegen, doch von leblosen Dingen allein das Boot. Über alle andern Gegenstände hinaus vermenschlicht es sich in unserm Geist. Wenn wir am Steuer standen, schien uns die Western Flyer mitunter erregt, wach und gereizt. Bevor noch die Korrektur erfolgt war, wich sie vom Kurs, stieß mit dem Schnabel in schräg anbrau119
sende Wogen, und nach dem Sturm war sie müde und faul. Wenn aber die bunten Wimpel flattern, ist sie beglückt, trägt die Nase hoch, und ihr Hinterteil wippt wie der stolze Popo eines Girls, das seiner Sache sicher ist. Schiffbrüchige haben erzählt: ehe ihr Schiff auf den Felsen stieß, sei ein Schaudern durch seinen Leib gegangen; sie hätten es deutlich gespürt oder auch einen Schrei gehört, als es auf Sand lief und die Brandung sich in seine Eingeweide ergoß. Das ist keine Mystik, sondern Identifikation, Einswerdung. Der Mensch, der dies größte, persönlichste aller Geräte erschuf, empfing dadurch eine bootartig schaukelnde wellenbrechende Seele, und das Schiff eine menschliche. Wie gut verstehe ich jetzt einen alten Wikinger: Wenn der sein Ende herannahen fühlte, bestieg er sein selbstgezimmertes Schiff ganz allein und segelte darin gen Sonnenuntergang in die Ewigkeit. Die Identifikation von Mensch und Schiff ist so vollkommen, daß wohl noch niemand ein Schiff mittels Bomben, Torpedo oder Artillerie zerstört hat, ohne sich dabei im Herzen als Mörder zu fühlen. Ohne die Zerstörungstendenzen, die Todesinstinkte, die für die Spezies Mensch so bezeichnend sind, wäre kein homo sapiens je dazu fähig! Nur unser Mordtrieb ermöglicht die Versenkung von Schiffen und das damit verbundene grausig krankhafte Triumphgefühl. Denn uns ist beschieden, das zu ermorden, was wir am innigsten lieben – und das sind natürlich wir selbst. In Ebbetümpeln sahen wir, wie sich die winzigen Lebewesen ernähren, fortpflanzen und wie und was sie töten, 120
um es aufzufressen. Wir haben unsern Befund schriftlich niedergelegt, haben aus langen, eingehenden Beobachtungen unsere Folgerungen gezogen, so daß wir sagen können: «Für diese und jene Gattung ist dies oder jenes Verhalten typisch.» Nur die Spezies Mensch beobachten wir nicht als Spezies, und dabei kennen wir zahllose Einzelexemplare ziemlich genau! Wenn wir uns einbilden, der Mensch werde mit der Zeit zum Menschen gütiger und darum kämen keine Kriege mehr, so übersehen wir dabei den realen Befund. Würden wir uns unter ebenso einwandfreie Beobachtung nehmen wie z. B. den Einsiedlerkrebs, so kämen wir zum Ergebnis: «Es ist ein symptomatischer Zug der Gattung Homo, daß ganze Gruppen von Individuen periodisch in einen fiebrigen Erregungszustand verfallen, in welchem die Gruppen aufeinander losfahren und nicht allein Individuen ihrer eigenen Gattung zerstören, sondern auch die von der Gattung erzeugten Werke. Ob dies durch einen Virus verursacht wird, eine luftige Spore, oder ob eine spezifische Reaktion auf einen bislang unbekannten metereologischen Anreiz vorliegt, läßt sich vorläufig nicht feststellen.» Die Hoffnung (ebenfalls eine symptomatische Eigenschaft dieser Spezies), es werde nicht immer so bleiben, ändert nichts an der genau beobachteten und jederzeit nachzukontrollierenden Vergangenheit und Gegenwart. Wenn sich zwei Flußkrebse begegnen, fangen sie meist miteinander zu kämpfen an. Man kann natürlich die Behauptung aufstellen, sie würden dies künftighin bleiben lassen. Aber ohne daß eine Mutation eintritt, ist dies ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, unsere Spezies werden auf Krieg verzichten, 121
ohne daß zuvor eine psychische Mutation erfolgt, wofür – gegenwärtig – kein Anzeichen vorhanden ist. Und wenn jemand die Schuld für das Töten und Zerstören auf wirtschaftliche Unsicherheit, auf Ungerechtigkeit oder Ungleichheit schiebt, bestätigt er damit – nur auf andere Weise – die obige These. Wir haben, was wir sind. Wenn einmal auf Erden zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre verstrichen sind, ohne daß – unter welchem Justiz- oder Wirtschaftssystem es auch sein mag – Mord- und Zerstörungstriebe bemerkbar wurden, werden wir dies abweichende Verhalten zu untersuchen haben. Bis heute sind aber die Mordgewohnheiten unserer Spezies noch ebenso regelmäßig zu konstatieren wie unsere diversen sexuellen Neigungen.
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n der Zeit vor unserer Golffahrt saßen wir mitunter am Pier und sahen die Sardinenfangboote, die dort bei den Wellenbrechern zwischen weggeworfenen Grapefruit-Schalen schaukelten. Es ist das, wie auch anderwärts, ein recht schmutziger Ort – als sei das Buhlen der Wogen mit dem Gestade obszön und der reinigenden Macht des Meeres zuwider. Wir sprachen mit unserm künftigen Kapitän von unserer künftigen Mannschaft: von unserm Maschinisten Tex Travis, einer geborenen Landratte, denn er stammte vom Panhandle, dem Pfannenstiel von Texas. Er war schon in früher Jugend in Dieselmotoren vernarrt, in jene kraftvollen, geraden, schimmernden Gebilde aus reinem Metall und purer Logik. Das Klardenkertum, das Tex innewohnt, fühlte sich dadurch angesprochen. Auf andern Gebieten konnte er sentimental und unlogisch sein, aber bei seinen Maschinen liebte er Klarheit und Konsequenz. Zufälligeroder alkoholischerweise kam er in einem alten Ford an die Westküste, und dort an der Bucht von Monterey entdeckte er etwas wunderbares: die besten Dieselmotore, die er je gesehen, und Boote – und beides in einem. Dies frohe Lustgefühl hat ihn niemals verlassen. Er vermochte sich von der See nicht mehr zu trennen, bot sie ihm doch jene zwei Vollkommenheiten vereint. Tex ist der Mann der Maschinerie. Sobald er hinunter in den Maschinenraum steigt, ist er mit seiner Maschine eins. Er geht unten her123
um, braucht sich nicht umzugucken, nichts nachzusehen – er weiß! Er kann noch so müde sein, noch so tief schlafen, die kleinste Mißstimmung der Schiffsmaschine bringt ihn auf die Beine und halb im Schlaf in. den Maschinenraum. Ein heißgelaufener Teil, ein Riß, ein Stäubchen irgendwo in den Zylindern oder am Kolben verursacht ihm, haben wir immer gesagt, teuflische Bauchschmerzen. Kapitän Tony Berry stieg, je öfter wir mit ihm sprachen, um so höher in unserer Wertschätzung. Er hatte die nachdenklichen Augen der Slawen und die Habichtsnase der Dalmatiner. Er sprach nicht viel und lachte selten, war hager, groß und sehr stark. Auf Formen legte er keinen Wert. Im Dienst trug er einen einfachen Tweedanzug und einen verknautschten Filzhut, als wolle er sagen: «Ich trage das Meer im Kopf und nicht am Leibe wie jeder Jachtprotz.» Ihn beseelte nur eine Leidenschaft: die Liebe zum Rechten und der Haß auf das Falsche. Theorie hielt er für Zeitvergeudung. Zu unserm Kummer und manchmal zu unserm Schaden sprach er nur dann, wenn er wußte, er habe recht. Man konnte mit ihm weder diskutieren noch wetten. Doch wenn er die Wahrheit wußte, redete er und tobte gegen das Unwahre und deren Vertreter. Schlamperei wirkte auf ihn als eine abscheuliche Ungerechtigkeit, und wenn eine Nachlässigkeit unterlief, schrie er wie ein Besessener. Doch warf er sich nicht in die Brust, wenn er mit seiner Auffassung durchdrang. Als idealer Richter, der er war, verabscheute er jedes Eigentumsdelikt, fühlte jedoch keine Genugtung, wenn er einen Dieb verurteilte. Hatte er einer Wahrheit zum Recht verholfen und eine Unwahrheit entlarvt, eine Verkehrtheit vereitelt, so war 124
ihm wohl, aber er triumphierte nicht. Er zog sich bekümmert zurück und murrte darüber, daß die Torheit der Welt Irrtümer auch nur einen Moment anerkennt und verteidigt. Er liebte Senkblei und Lotleine, denn sie sagten ihm für seinen Kurs die Wahrheit. Er verehrte die Seekarten und bewunderte, bis wir im Golf waren, den «Küstenpilot». Gewiß hatte der «Küstenpilot» bei Erscheinen nicht unrecht, aber seit der letzten Auflage hatte sich einiges an den Küsten geändert, und dieser Umstand brachte Tonys Glauben an die ewige Gerechtigkeit des «Küstenpilots» ins Wanken. Das relativistische Denken moderner Physiker empfand er als ekelhaft. Damit wollte er nichts zu tun haben. Gute Seekarten, Kompaß, Länge- und Breitegrade, das war etwas, worauf man sich verlassen kann. Ein Kreis ist eine Wahrheit, und eine Richtung leuchtet ewig als goldene Linie. Als später in den Luftspiegelungen des Golfes visuelle Distanzen zu einer sehr variablen Angelegenheit wurden, fragten wir uns, ob Tonys Gewißheiten dadurch nicht erschüttert würden. Anscheinend nicht. Dank dieser Eigenschaften war er ein guter Kapitän. Wenn irgend möglich setzte er nichts aufs Spiel, auch wenn er dadurch einen Vorteil hätte erringen können. Sein Schiff und sein und unser Leben waren ihm zu kostbar. Nun aber komme ich zu einem Ausrüstungsgegenstand, der mein Herz noch heute in Wut versetzt und meine Feder Gift spritzen läßt. Als vorsichtiger Autor sollte ich vielleicht hinter das Titelblatt drucken lassen: «Der in diesem Buch erwähnte Außenbordmotor beruht auf reiner Erfin125
dung. Jede etwaige Ähnlichkeit mit irgendwelchen lebenden oder toten Außenbordmotoren ist daher rein zufällig.» Auf alle Fälle will ich dieses verdammte Gestell diskreterweise «die Hansensche Seekuh» nennen. Dies blendende kleine Stück Maschinerie, aluminiumbemalt und rot betupft, war einzig und allein zu dem Zwecke gebaut, um in die Augen zu stechen, in unbesonnene Herzen zu dringen und verkauft zu werden. Wir nahmen sie für unsere Beiboote mit, damit es uns hurtig an Land und wieder zurück befördere und in schmale, untiefe Buchten und dem Strand entlang in die Flutmündungen der Flüsse fahre. Aber wir hatten nicht mit der Tatsache gerechnet, daß die neueste industrielle Entwicklung den Gipfel des real Möglichen erklommen hat und bereits in Bereiche vorstößt, die hart ans Mystische grenzen. In der Seekuh-Fabrik, wo stählerne Finger biegen und formen, messen und teilen und Schrauben anziehen, ist eine neue Mathematik ausgebrochen. Das seit frühesten Zeiten gesuchte Geheimnis ist wie durch Zufall gefunden: Leben wurde geschaffen! Eine Maschine ist erwacht. Eine feindliche Seele, ein boshafter Geist wurden in ihr geboren. Unsere Hansensche Seekuh war nicht nur ein Lebewesen, sondern obendrein ein ganz gemeines, hysterisches, erbärmliches, rachsüchtiges, tückisches, gehässiges Ding. Während der sechs Wochen, in denen wir mit ihr in Verbindung standen, haben wir sie genau beobachtet, zunächst als Produkt der Mechanik, dann aber, als ihre Lebensregungen immer deutlicher wurden, psychologisch. Und wir erkannten: wenn diese dämonischen kleinen Motoren erst den Geschlechtsverkehr und die Fortpflanzung 126
lernen, ist es aus mit der Menschheit. Denn ihr Haß auf uns ist so groß, daß sie solange warten, planen, organisieren und sich vermehren werden, bis sie in einer Schrekkensnacht unter Geheul, Geschrei, Gepfeife, Gezisch uns von der Bildfläche fegen. Ich glaube nicht, daß Mr. Hansen, der Erfinder der Seekuh, der Vater dieses Außenbordmotors, gewußt hat, was er da erzeugte. Eher neige ich zu der Annahme: die von ihm geschaffene Monstrosität entstand genau so infolge eines Zufalls wie viele andere Kinder. Nur Eines unterscheidet die Seekuh von dem uns bisher bekannten Leben. Während die uns vertrauten Formen das komplizierte Ergebnis von Jahrbillionen Mutation und Kombination darstellen, sind in der Seekuh Leben und Intelligenz gleichzeitig entstanden. Das ist mehr als nur eine neue Spezies. Es ist ein völlig neuer Begriff «Leben», der hier in Erscheinung trat. Wir haben an unserer Seekuh folgende Eigenschaften nicht allein festgestellt, sondern waren auch in der unangenehmen Lage, sie immer und immer wieder nachprüfen zu können: 1. Unglaubliche Faulheit. Die Seekuh fährt gern Boot und läßt dabei ihren Propeller vornehm im Wasser hängen, während wir krampfhaft rudern. 2. Sie verbraucht gleich viel Treibstoff, ob sie läuft oder nicht. Offenbar ist sie imstande, Benzin zu absorbieren, ohne die demselben innewohnende Energie in verwertbare Bewegung umzuwandeln. Selbst nach der kleinsten Fahrt mußte die Seekuh frisch gefüllt werden. 3. Dieser sogenannte Außenbordmotor hat hellseherische Begabung. Die Seekuh konnte unsre Gedanken lesen, besonders wenn wir uns im Zustand hochgradiger Erre127
gung befanden. Jedesmal, wenn wir entschlossen waren, sie kaputt zu schlagen, kam sie in Gang und lief ebenso laut wie aufgeregt. Sie verfolgte damit den doppelten Zweck: erstens ihr Leben zu retten und zweitens, neues Zutrauen zu ihr zu erwecken. 4. Sobald man mit dem Schraubenzieher auf sie losging, stellte sie sich tot, eine Eigenschaft, die sie mit dem Opossum, mit Mitgliedern der Familie Faultier und dem Gürteltier teilt. Auch diese simulieren sofortigen Tod, sobald sie mit einem Schraubenzieher angegriffen werden. 5. Die Seekuh haßte unsern Tex Travis. Vielleicht fühlte sie, daß er dank seiner Kenntnisse in Mechanik imstande war, den Grund ihrer Pflichtvergessenheit zu erkennen. 6. Die Seekuh weigert sich zu laufen, wenn a. hoher Wellengang ist, b. Wind weht, c. nachts, morgens früh und abends, d. bei Regen, Tau oder Nebel, e. wenn die zurückzulegende Strecke länger als 180 m ist. An warmen, sonnigen Tagen, wenn die See ruhig und der weiße Strand nah war, kurz, wenn uns das Rudern Spaß machte, dann lief sie, wenn man sie bloß anguckte und wollte gar nicht mehr stehen bleiben. 7. Die Seekuh liebt niemanden, vertraut keinem. Sie hat keinen Freund. Mag sein, daß unsere Beobachtungen gegen Ende der Fahrt durch Gefühlsmomente beeinflußt waren. Jedesmal, wenn die Seekuh achtern hockte und ihren niedlichen Propeller müßig ins Wasser hängen ließ, war ihr der Tod 128
außerordentlich nah. Wir waren schließlich durch ihre Tücke und Bösartigkeit angesteckt und auf dem Sprung, sie zu vernichten. Aber wir taten es nicht. Nach unserer Rückkehr gaben wir der Hansenschen Seekuh eine frische Aluminiumbemalung mit roten Email-Tupfen und verkauften sie. Und dabei hatten wir es in der Hand, die Welt von diesem motorischen Karzinom zu befreien.
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s wäre lächerlich, den improvisierten Charakter unserer Expedition in Abrede zu stellen. Kein Schiffseigentümer wäre davon erbaut, wenn man sein Schiff – zumal bei so kurzer Dauer des Chartervertrags – völlig ummodeln wollte. In fünf bis acht Wochen hätten wir die Western Flyer so schön umbauen und einrichten können, daß selbst der verwöhnteste Sammler wirbelloser Seetiere sich nichts herrlicheres hätte träumen lassen. Aber dazu hatten wir weder die Zeit noch das Geld. Wir hatten kein ständiges Laboratorium an Bord. In einem der Fischbassins wäre genügend Platz gewesen, aber bei der dort herrschenden Feuchtigkeit wären unsere Instrumente über Nacht verrostet. Wir hatten auch keine Dunkelkammer, kein Dauer-Aquarium, keine großen Wasserbehälter, um die Tiere darin am Leben zu erhalten, und keine Pumpen, um sie mit Meerwasser zu versorgen. Wir hatten nicht einmal ein Schreibpult, nur den Küchentisch. Mikroskope und Kameras waren in einer leeren Koje verstaut. Die Emailtiegel zum Auslegen der Tiere befanden sich in einer großen Kiste, die achtern zwischen den zwei Beibooten am Netztisch vertäut war. Der Lukendekkel des Fischbassins wurde unser Labor. Um die Tiegel zu füllen, mußten wir das Wasser in Eimern herbeischleppen. Eine zweite leere Koje wurde mit Medikamenten, wertvolleren Chemikalien und Taschenlampen usw. angefüllt. Tauchnetze, Reagenzgläser, Meßzylinder, Tuben und Krü130
ge waren in Kisten verpackt und lagerten im Fischbassin. Die Fässer mit Alkohol und Formaldehyd waren auf Deck an die Reeling gebunden, und zwar sehr fest. Der Gedanke, fünfzehn Gallonen U.S.P.-Formaldehyd könnten sich losreißen und aufplatzen, flößte uns Schauder ein. Man braucht nur einmal mit dem Zeug gearbeitet zu haben, dann hat man einen heillosen Respekt und Abscheu davor. Ein Glück, daß bei keinem von uns eine FormalinAllergie entstand! Unsere kleine Kühlkammer mit ihrem Benzinmotor sollte die lebenden Tiere mit entsprechend gekühltem Meerwasser versorgen. Sie befand sich oben auf dem Deckhaus, wurde aber leider leck, fing zu tröpfeln an und landete schließlich achtern beim Netztisch. Da ihr Motor obendrein bockig war und nicht genügend Strom lieferte, könnte man wohl behaupten, daß dieser ganze Apparat nicht gerade leistungsfähig war. Aber ich will nicht undankbar sein. An schwülen Tagen im Golf hat er ein kleines Bier prächtig gekühlt, unter Umständen sogar für Jeden mehrere große. Unsere Mannschaft billigte mit Begeisterung unsere These, man dürfe keinesfalls ungekochtes Wasser zu sich nehmen und abgekochtes schmecke nicht gut. Übrigens war das Wetter viel zu heiß, um auch noch Wasser zu kochen. Die gesamte Schiffsbesatzung war eifrig bestrebt, die Richtigkeit unserer wissenschaftlichen Theorie zu erhärten. Der Konsum an Trinkwasser sank auf den Nullpunkt. Ein großer, in Segeltuch verpackter Sauerstoff-Zylinder wurde noch auf das Deck heraufgewunden, und nun war die Western Flyer beladen. Alle Colis waren gut unterge131
bracht. Etliche wurden während der ganzen Reise niemals hervorgeholt; andere waren so sorgsam verstaut, daß wir sie überhaupt nicht mehr fanden. Es war vereinbart, falls bei Tag und Nacht gefahren werde, würden Alle abwechselnd Steuerwache halten. Aber im Golf gab es so viel zu tun, daß wir nur tagsüber fuhren und nachts vor Anker lagen, so daß sich dort die Steuerwache erübrigte. Gegen Ende der Vorbereitungszeit waren nicht nur wir, sondern ganz Monterey wie im Fieber. Die Stadt war in Festesfreude – nicht weil sie uns nun bald los war, sondern wegen der Sardinensaison, deren Abschluß festlich begangen wurde. Diese Feier wurde alljährlich von den Konservenfabriken und Schiffseigentümern veranstaltet; unten am Pier wurden Ochsen am Spieß gebraten. Bier, Beef und Salat für jedermann gratis! Die Sardinenflotte war mit Fahnen, Wimpeln und Luftschlangen dekoriert. Das Schiff mit dem reichsten Fang der Saison wird zur Königin erklärt. Jedes Boot hält offene Tafel für die Freunde der Mannschaft und des Besitzers. Der Wein fließt in Bächen, und dann beginnt eine Schiffsparade. Stets fängt sie wundervoll exakt an und endet in einem unbeschreiblichen Durcheinander. Es war Sonntag. Die Western Flyer, wie die andern Schiffe mit blauroten Fahnen und Serpentinen geschmückt, sollte am Montag Morgen in See stechen. Aber die Mannschaft mitsamt dem Kapitän weigerte sich, vor Beendigung der Festlichkeit aufzubrechen, und so fuhren wir denn in der Parade mit, ein Teil der Mannschaft im Krähennest, die andern auf dem Deckhausdach. Danach bevölkerten wir mit fünftausend andern Vergnüg132
ten den Quai, verzehrten gewaltige Mengen Fleisch, tranken Bier und hörten Ansprachen an. Der Kartoffelsalat wurde in Waschbütten serviert. Die Reden schäumten von Liebe zum Vaterland und zu allem, wovon die Festredner jemals etwas gehört hatten. Aber jetzt möchte ich etwas über die von der mexikanischen Regierung erhaltenen Visa einflechten. Während wir unsere Vorbereitungen trafen, rüstete Mexiko zu einer Präsidentenwahl, und die zu diesem Behuf getroffenen Anstalten waren so intensiv, daß man sich auf Gewalttätigkeiten gefaßt machen mußte, weshalb wir es für geraten hielten, uns mit Ausweispapieren zu bewaffnen, aus denen hervorgehen sollte, daß wir weder aus politischen noch kommerziellen Gründen mexikanisches Hoheitsgebiet beträten. Wie leicht hätte sonst unsere Tätigkeit den Verdacht eines patriotischen Zöllners oder Soldaten erwecken können! Man stelle sich nur vor: Ein Schiffchen schleicht sich an unbewohnte Punkte einer kahlen Küste heran! Seine Besatzung verbringt ihre Zeit damit, Steine umzudrehen! Es wäre wahrlich kein leichtes Stück, für so etwas einem Soldaten eine befriedigende Erklärung zu geben. Ein militärisch denkender Mann würde uns zweifellos auslachen, wollten wir ihn glauben machen, wir seien 1500 Meilen gereist lediglich zu dem Zweck, um am Strand Steine zu wälzen und Tierchen darunter hevorzuholen, welche obendrein größtenteils ungenießbar sind. Ohne uns mit der Absicht zu tragen, auf irgend jemand zu schießen? Wer sollte das glauben? Mußte nicht schon unsere Ausrüstung jedem, der die Kriegsnummern von «Life», von «Pic» und «Look» gesehen hatte, mehr als verdächtig 133
erscheinen? Zwar verfügten wir über keine anderen Schußwaffen als einen alten Schießprügel und ein Pistölchen, allein in den Augen eines ländlich-sittlichen Soldaten kann ein Sauerstoffzylinder sehr wohl Torpedogestalt besitzen, und gar unsere Laboratoriumsausstattung! War sie nicht von atomistischen und kriegerischen BazillenGedanken umwittert? Für uns persönlich hatten wir keine Angst. Wir fürchteten nur, man könne uns in irgendeinem Dreckloch festhalten und derweil ginge eine günstige Ebbekonstellation vorüber und wir hätten das Nachsehen! In unserer Naivität stellten wir uns vor, unser Staatsdepartement, da es in reger, freundschaftlicher Korrespondenz mit der Regierung Mexikos stand, könne vielleicht einem seiner Briefe ein paar Zeilen beifügen, welche die mexikanische Bundesrepublik zweifellos von unsern friedlichen Absichten überzeugen würde. Wir schrieben dementsprechend ans Staatsdepartement, setzten unser Vorhaben auseinander und fügten ein Verzeichnis von Leuten bei, die bereit wären, für unsere lauteren Absichten gutzusagen. Dann warteten wir und hegten in unserer kindlichen Einfalt den Glauben: wenn etwas klipp und klar dargelegt ist und Wahrheitsbürgen genannt sind, gibt’s keine Schwierigkeiten. Wir sind schließlich amerikanische Bürger, sagten wir uns, und unsre Regierung ist unsere Dienerin. Ach, wie wenig ahnten wir von amtlichen Prozeduren! Die Antwort des Staatsdepartements – in einer dermaßen diplomatischen Sprache, daß wir sie kaum verstanden – riß uns aus einem gewaltigen Irrtum. Vor allem: das Staatsdepartement war nicht unsere Dienerin, vielleicht andre Regierungsstellen, das State Department auf keinen 134
Fall. Für Einsammlung wirbelloser Seetiere habe es wenig oder gar kein Interesse, es sei denn, sie werde von einer gelehrten Körperschaft vorgenommen, am besten mit Dr. Butler als Präsident. Außerdem stelle das Gouvernement an Privatpersonen keine Empfehlungsschreiben aus. Und das Staatsdepartement hoffe zu Gott, es möchten uns keine Schwierigkeiten erwachsen und wir dann womöglich seine (des Staatsdepartements, nicht etwa Gottes) Hilfe erflehen. Dies alles war in so wunderbar unverständliche Redewendungen gehüllt, daß uns ein Licht aufging, weshalb man immer liest: Unsere Diplomaten «studieren» eine Note aus Japan oder England oder Frankreich. – Ed und ich haben den Staatsbrief fast eine ganze Nacht lang studiert, haben seine Satzperioden in einfache Worte übertragen, und nachdem wir diese wieder zusammengesetzt hatten, kam obiger Quatsch heraus. Ich kann mir gut vorstellen, daß das Wort Quatsch unser Staatsdepartement entsetzen würde, denn jeder versteht es. Da saßen wir nun mit ohne Permit und hatten vor Augen den unbekannten Soldaten, der sich noch immer über unsern Sauerstoffzylinder aufregte. Inzwischen aber hatten sich ein paar gute Freunde in Mexiko um unser Permit bemüht. Der mexikanische Generalkonsul in San Francisco diktierte daraufhin einen Brief. Durch einen andern Freund kamen wir in Verbindung mit dem mexikanischen Botschafter in Washington, Mr. Castillo Najera, und zu unserm Erstaunen erhielten wir von ihm den Bescheid, es bestehe kein Grund, weshalb wir nicht abreisen sollten; die Einreisevisa würden sogleich erteilt. Genau das stand in dem Brief, und als wir ihn lasen, er135
füllte uns eine leise Traurigkeit. Dieser Botschafter war offenbar ein herzensguter Mensch, und es tat uns von Herzen leid, daß er keine diplomatische Zukunft hatte. In internationalen politischen Kreisen wird er es zu nichts bringen. Wo doch sein Brief auf den ersten Blick zu verstehen war! Ja! Mr. Castillo Najera ist ein Hohn auf die Diplomatie, ein Rebell. Man denke! Er schrieb nicht nur klar, er hielt auch sein Wort! Die Permits kamen mit der nächsten Post und waren in Ordnung. Und darum möchte ich hier diesem Kavalier ehrenwörtlich versichern: Wenn ihn je die unausbleibliche Strafe für seine Logik und Klarheit ereilt, bin ich mit Freuden bereit, ihm zu einem neuen Start in einem andern Beruf zu verhelfen. Die Permits, die er uns verschafft hat, tragen so wundervolle Siegel, daß sogar ein Soldat, der nicht lesen kann, die Überzeugung gewinnen dürfte, wir seien bestimmt nicht das, wofür wir uns ausgeben, sondern mindestens dermaßen einflußreiche Spione und Saboteure, daß er bescheiden zurücktreten muß. Die Treibstofftanks brauchten wir erst in San Diego aufzufüllen, also stand unserer Abfahrt nichts weiter im Wege als einige Wettkämpfe des Sardinenfestes, bei denen die Schiffsleute der Western Flyer keinesfalls fehlen durften. Tony, Tiny, Tex und Sparky beteiligten sich am Beibootrennen, am Erklettern eines eingefetteten Mastbaums und am Wassertonnen-Tournier, errangen dabei keine Preise und legten auch keinen Wert darauf. Als die Festlichkeit spät in der Nacht langsam verhallte, begaben wir uns zum letzten Mal auf dem Festland ins Bett und träumten von lauter Ausrüstungsgegenständen, die wir vergessen hatten. 136
Und die ausgetrunkenen Bierbüchsen vom Sardinenfest tanzten noch lang, einmal hin, einmal her, im Wellengeplätscher hinter der Bühne. Am folgenden Morgen, am 11. März punkt 10 Uhr, sollte die Abfahrt unwiderruflich erfolgen. Aber da fanden sich so viele Leute zum Adieusagen ein, und der Abschied war so entzückend, daß wir erst am Nachmittag daran dachten, es sei endlich Zeit, in See zu stechen. Die Anker waren bereits gelichtet. Diese letzten Minuten, resp. Stunden gehören zu den sympathischsten, die ein Mensch erleben kann. Sie sind so voll inniger sanfter Trauer, und dabei verliert man nichts. Selbst Personen, die mich sonst nicht ausstehen konnten, waren bei unserm Abschied gerührt. Immer wieder drückten sie uns die Hände, immer wieder riefen wir Lebewohl, ohne uns dazu entschließen zu können, die Taue einzuziehen und die Maschinen in Gang zu setzen. Wie gut wäre es doch, wenn wir allzeit im Lebewohl-Zustand lebten, nicht enteilten und nicht verweilten, sondern im goldenen Schwebezustand der Liebe und Sehnsucht, eine schmerzliche Lücke hinterließen, ohne überhaupt fort zu sein. Dieser Zustand kennt keine Sättigung, keinen Überdruß … O wie schön waren wir Sechs, wie begehrenswert! Bräute und Gattinnen waren zugegen, hinschmelzend empfänglich für jede Art Liebe und so schön wie noch nie. Die Bierbüchsen vom gestrigen Fest schlugen gleich Glöcklein an unsern Schiffsbauch. Möwen kreisten zu unsern Häupten, doch ließen sie sich nicht nieder; es fehlte an Platz. Zu viele Menschen nahmen an diesem zaubrischen Abschied teil, selbst völlig fremde kamen an Bord; erschüttert klopften sie uns auf die Schul137
tern und stiegen in die Kombüse hinab. Wäre in unserer Schiffsapotheke der indizierte Vorrat nicht bald auf die Neige gegangen, ich glaube, es wäre niemals ein Aufbruch erfolgt. Nun aber war die letzte Dosis Whisky verordnet, verabreicht, geschluckt, und dank dieser Prophylaxe sahen nicht nur wir Sechs, sondern auch mindestens sechzig Montereyaner auf lange Zeit einer blühenden Gesundheit entgegen. Da in der Schiffscharter stand, der Aufbruch habe spätestens am 11. III. zu erfolgen, und Tony, der Schiffseigentümer vertragstreu war, schmissen wir nun, zum Teil mit Gewalt, unsere lieben Gäste hinaus, lösten die Taue, zogen sie ein, fuhren rückwärts, drehten, steuerten vorwärts und wanden uns durch die Boote der Fischerflotte hindurch. In unsere Takelage flatterten die Sardinenfestwimpel und Serpentinen, und als wir das Hafenbereich hinter uns ließen, als der Wind mit Macht in die Takelung fuhr, winkten wir den Leuten am Ufer, im frohen Bewußtsein, ihnen ein prächtiges, stolzes Schauspiel zu bieten. Die GlockenBoje am Cabrillo-Riff schien dies zu bekräftigen. Im heftigen Seewinde bei kräftigem Seegang schlugen ihre vier Klöppel in hurtigem Tempo aufgeregt gegen das Metall. Ed und ich standen auf unserm Deckhaus. Die Häuser von Pacific Grove und die dunkeln Kiefern der Hügel glitten an uns vorüber, als seien nicht wir sondern sie in lebhafter Fahrt. Wir setzten uns auf eine Orangenkiste und dachten, was für vortreffliche Menschen wir Biologen doch sind: die Tenöre der Naturwissenschaft, voll Temperament und dabei launenhaft, wollüstig, lachlustig und gesund! Zuweilen begegnet man auch einem andern Typ; 138
auf der Universität haben wir ihn im Gegensatz zum Highball «Dry-ball» getauft, aber solche verknöcherten, ausgetrockneten Exemplare sind keine richtigen Biologen, sondern Einbalsamierer der freien Natur. Sie betrachten das Leben, dessen Urkräfte sie nicht sehen, ausschließlich in präpariertem Zustand. Ihre Welt ist im Formaldehyd verrunzelt. Der wahre Biologe nimmt’s mit dem Leben auf, mit dem lärmenden, tobenden, schäumenden Leben, und lernt von ihm des Daseins Grundgesetz, das heißt: «Lebe!» Der Dry-ball aber sieht nicht, was jedem Seestern in jedem Bläschen seiner Strahlen und bis in den Kern seiner Sternseele bewußt ist und was der Biologiestudent fühlt, wenn er aufblickt zu den Offenbarungen des Lebens: daß man nach allen Richtungen hin fruchtbar zu werden hat! Da ihm (dem Seestern wie dem Studenten) bestimmte Anlagen innewohnen, muß er sie bis an die Grenze seiner Möglichkeiten fortzeugend verfolgen. Ich habe Biologen gekannt, die tatsächlich in jeder Richtung fruchtbar geworden sind; ein paar hatten dadurch kleine Unannehmlichkeiten. Aber sie waren echte Biologen und können ein Lied davon singen so hell wie der Schmied am Amboß: daß Moralinsäure nur allzu oft ein Sympton von Prostata-Leiden oder Magenkrebs ist. Sie haben vielleicht ein bißchen zu viel nach allen Richtungen hin befruchtet, aber auch sie kommen so leicht ums Leben wie jeder andere Organismus, und bis dahin befinden sie sich in guter Gesellschaft. Jedenfalls haben sie nie die Produktivität ihrer Hormone mit Moral und Ethik vermengt. Die Western Flyer stößt durch die hohen Wogen mit Kurs auf Point Joe, den Südzipfel der Monterey-Bucht. Ein 139
weißer Wasserstrich kündet das offene Meer. Nordwind bläst heftig. Beim Riff schwimmt eine Heulboje. Sie brüllt wie ein Stier in Qual. Auf der Uferstraße fahren Autos. In einigen sitzen Freunde vom Fest, winken uns zu, und wir winken gefühlvoll zurück. Nachwehen des sentimentalen Sardinentags … Wir umfahren die Boje, das Riff. Unser Fahrzeug rollt und fährt weiter gen Süden. Der Nord drückt das Achterdeck hinunter. Unter uns wachsen und wechseln die Wogen. Fast ist es, als stünden wir still. Ein Schwarm Pelikane zieht über unsern Bug. In enger Verbundenheit fliegen sie dicht über den Wellen der Küste entlang wie von einem einzigen Nervensystem belebt und gelenkt; ihre kräftigen Schwingen schlagen im gleichen Takt, und zuweilen scheint es, als berührten ihre Flügelspitzen die Wellenkämme. Sie nutzen die Wellentäler, um sich vor dem Winde zu schützen, schauen nicht um sich, wechseln die Richtung nicht. Pelikane kennen ihr Ziel. Ein seltsamer Seelöwe taucht aus der Flut, ein gelbbrauner, grämlicher Alter mit überhängendem Schnauzbart, die Schultern mit Narben vergangener Schlachten bedeckt. Er kreuzt unser Kielwasser, schwimmt dann parallel unserm Kurs, tritt Wasser, mustert uns, schnaubt befriedigt, drängt zum Ufer und begibt sich zu einer Tagung der Seelöwen. Solche pflegen sie abzuhalten, und wenn man sie fangen will, braucht man die Versammlung nur zu umzingeln. Die Fenster an der Küstenstraße reflektieren das Licht der untergehenden Sonne. Der Nordwind bläst immer stärker, greift unserm Mast in den Backstagdraht, und der fängt zu singen an, durchdringend tief, ein unglaublicher 140
Kontrabaß. Jede neue Woge hebt uns empor und wirft uns ins nächste Tal. Aus dem Küchenventilator dringt der Duft kochenden Kaffees, ein Geruch, der dem Boot eigentümlich blieb, solange wir es bewohnten. Am Abend stiegen wir wieder aufs Dach des Deckhauses und sprachen lange über den Meergreis, den «Old Man of the sea», der bestimmt eine Sage wäre, wenn ihn nicht zu viel Personen gesehen hätten. Denn es liegt im Wesen des Menschen, den Ozean mit Ungeheuern und andern Wundern zu bevölkern, ganz gleich, ob es sie gibt oder nicht. In gewissem Sinn gibt es sie, denn man sieht sie immer wieder. Vor knapp einem Jahr saßen wir in Rikketts Laboratorium beim Kaffee und plauderten mit Jimmy Costello, einem Reporter des Monterey Herald. Da läutete das Telephon, und der Lokalredaktor teilte ihm mit, bei Moss Landing, ungefähr in der Mitte der Monterey-Bucht, sei der halbverweste Leichnam einer Seeschlange ans Land gespült worden. Jimmy solle sofort hinüber, Aufnahmen machen. Jimmy sauste hin, und als er sich dem stinkenden Ungetüm näherte, bemerkte er an dessen Haupt einen Zettel; darauf stand: «Nur keine Aufregung! Es ist ein Riesenhai.» Unterschrift: Dr. Rolph Bolin, Hopkins Marine Station. – Das hat der wahrheitsliebende Doktor sehr gut gemeint. Doch seine Güte war ein Schlag für die Montereyaner. Sie hatten so innig gewünscht, daß es eine Seeschlange gäbe. Sogar Ed und ich hatten darauf gehofft. Ich glaube, wenn einmal eine richtige Seeschlange, eine vollständige, nicht halb verfaulte, gefunden oder gefangen würde – ein Schrei der Beglückung würde die Welt erfüllen. «Da sieht man’s», würde jeder sa141
gen, «ich hab’s ja immer gewußt. Ich hatte es im Gefühl, daß es sie gibt.» Die Menschen brauchen in ihren seelischen Ozeanen Seeungeheuer, und zu diesen gehört auch der Meergreis. In Monterey gibt’s noch heute eine ganze Anzahl Leute, die ihn gesehen haben, zum Beispiel unser Tiny Colletto. Der könnte ihn malen, wenn er malen könnte, aber er kann nicht malen. Der Meergreis, so hat er ihn mir geschildert, ist riesig groß, taucht aber nur etwa einen Meter über den Meeresspiegel, betrachtet das nahende Schiff, doch sobald es allzu nah kommt, versinkt er langsam und ist nicht mehr zu sehen. Er macht beinahe den Eindruck eines mächtigen Tauchers, hat große Augen und ein zottiges Fell. Photographiert ist er bis jetzt noch nicht. Sollte dies aber geschehen, so wird ihn Dr. Rolph Bolin identifizieren, und dann ist wieder einmal eine schöne Legende dahin. Ich hoffe daher, daß der Old man of the sea niemals geknipst oder gefilmt wird. Denn wenn sich herausstellen sollte, daß er nur ein etwas groß geratener Seelöwe ist, wäre es für viele Leute ein schmerzlicher Verlust, eine Weihnachtsmann-Dämmerung. Und der Ozean würde dadurch nicht besser. Denn die unergründlichen Tiefen des Meeres sind wie unser Unterbewußtsein, darin unsere Traumsymbole hausen und von wo sie zuweilen, so wie der Meergreis, aufsteigen und sichtbar werden. Mögen uns auch diese Symbole entsetzen, so sind sie doch da und sind unser. Der Ozean ohne namenlose Ungeheuer wäre wie der Schlaf ohne Träume. Für Tiny Colletto und Sparky Enea als Augenzeugen steht die Existenz des Meergreises außer Frage, auch für Ed und mich, denn wir wissen, er ist vorhanden. Auf Aussage dieser beiden Matro142
sen hin würde jedes Gericht einen Menschen zum Tode verurteilen. Oder nicht? Wenn sie erklären, sie hätten den Mord mit eigenen Augen gesehen …? So wie den Meergreis! Ed und ich haben oft über den Tiefgang unseres MeerGedächtnisses nachgedacht, über die See-Gedanken, die im Menschengeist leben. Wenn jemand das Unterbewußtsein beschreibt, vergleicht er es ja auch, unwillkürlich, mit einem dunkeln Gewässer, in welches das Licht nur ein Stück weit eindringt. Und weiter: Da der menschliche Foetus auf einer bestimmten Entwicklungsstufe Fischkiemen aufweist und die Kiemen eine Komponente der Menschheitsentwicklung darstellen, ist es durchaus nicht unvernünftig, eine parallele Entwicklung des Geistes oder der Seele anzunehmen. Wenn das Gedächtnis des menschlichen Körpers so stark ist, daß es sich in rudimentären Kiemen symbolhaft auszudrücken vermag, dann können die in zahlreichen Individuen auftauchenden Wassersymbole uns wohl auf ein psychisches Gruppenbewußtsein hinlenken, den Untergrund des gesamten Unterbewußtseins. Welche Dinge muß es dort unten geben! Welche Ungeheuer, welche Feinde! Welche Ängste vor Druck, Finsternis, Raub! Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen dafür, daß sogar den Wirbellosen ein solches Gruppengedächtnis innewohnt, vermöge dessen sie auf Reize reagieren, die längst nicht mehr stark genug sind, um die betreffende Reaktion hervorzurufen. Unsere stärkste Erinnerung (nach der an das Meer) ist wohl der Mond. Aber Mond, Meer und Gezeiten sind eins. Noch immer bewirken Ebbe und Flut einen kleinen, aber noch meßbaren Gewichtsunterschied. So verliert beispiels143
weise der Dampfer Majestic bei Vollmond etwa 6 kg Eigengewicht. * Nach einer Theorie George Darwins (Charles Darwins Sohn) waren vor über tausend Millionen Jahren, also noch vor dem Kambrium, die Gezeiten von ungeheurer Gewalt, und dementsprechend muß auch die Gewichtsdifferenz sehr bedeutend und die Anziehungskraft des Mondes der weitaus wichtigste Milieufaktor für die Lebewelt der Küstenstriche gewesen sein. Mit den Mondphasen müssen Körpergewicht und Aufenthaltsorte ungeheuer gewechselt haben, zumal wenn die Mondbahn zu jener Zeit elliptisch verlief. Die Veränderung der Sonne im gleichen Zeitraum war wahrscheinlich relativ geringer. Nun vergegenwärtige man sich die Wirkung der Druckabnahme auf die von Eiern oder Sperma strotzenden Gonaden, die ohnehin schon fast barsten und nur den leisen Anlaß zur Entladung erwarteten! (Nicht zu vergessen, die Dehiszenz der Eier durch die Körperwände bei den Polychäten. Diese Würmer entstammen bereits dem Kambrium und haben sich seitdem nur wenig verändert.) Die Tatsache und Wirksamkeit jener George Darwinschen Urwelt-Gezeiten zugegeben, brauchen wir deren Bild nur durch den Instinkt genannten Begriff ererbter psychischer Eigenschaften zu ergänzen, um eine Ahnung der Macht zu haben, die der lunare Rhythmus – den Seetieren und damit auch höheren Arten bis zum Homo sapiens ins Tiefste verwurzelt – auf diese ausübt. Wenn die Fischer auf ihrer Bahn den Meergreis auftauchen sehen, erleben sie wohl vergangene Wirklichkeiten * Mattner, „The Tide“, 1926, S. 26. 144
als Gegenwart. Er braucht keine Halluzination zu sein, ist es vermutlich nicht. Die Wirkungen der Gezeiten ruhen im geheimnisvollen Dunkel der Seele. Man vergesse nicht, daß selbst heute die Folgen von Flut und Ebbe weiter verbreitet und stärker in Kraft sind, als man gemeinhin annimmt. So wird berichtet, daß der Radio-Empfang dem Steigen und Fallen der Labrador-Gezeiten * entspricht; daß außerdem eine Beziehung zwischen dem GezeitenRhythmus und jüngst beobachteten Schwankungen der Lichtgeschwindigkeit besteht. ** Wir können also getrost voraussagen: Wäre man erst imstande, alle derartigen Anzeichen mit hinlänglicher Subtilität zu registrieren, so dürfte sich wohl ergeben, daß alle physiologischen Vorgänge durch Flut und Ebbe beeinflußt werden. Man könnte einwenden, der physikalische Beweis für George Darwins Theorie beruhe weniger auf Fakten als auf deren Interpretation; eine kritische Untersuchung könne in Anbetracht der ungekannten Faktoren und fehlenden Zwischenglieder den ganzen Komplex und damit zugleich die biologischen Folgerungen ausschalten. Aber umgekehrt wird auch ein Schuh daraus! Die Tierwelt selbst bietet uns wohl eine schlagende Bestätigung der Ur-Gezeiten-Theorie. Ja, man ist fast gezwungen, sie zu akzeptieren, wenn man jene einfachen Eindrücke kausal auf sich wirken läßt. Es scheint reichlich gesucht, wollte man die unverkennbar starken lunaren Einwirkungen, die bei zeugenden und gebärenden Tieren jederzeit zu beobachten sind, lediglich der * „Science“, Supplement-Bd. 80, Nr. 2069, vom 24. August 1934, S. 7. ** Ebd. Bd. 81, Nr. 2091, vom 25. Jan. 1935, S. 101. 145
gegenwärtigen, relativ schwachen Gezeitenkraft zuschreiben oder gar zufälligem Zusammentreffen. Dem primitivsten und machtvollsten Kollektiv- und Gattungsinstinkt wohnt ein rhythmisches Gefühl oder «Gedächtnis» inne, das alles beeinflußt und in der Vergangenheit vermutlich stärker als heute war. Es wäre zum mindesten glaubhafter, diese tiefgreifenden Wirkungen jenen verwüstenden, instinktbestimmenden Gezeiten-Einflüssen zuzuschreiben, die während der frühesten organismenbildenden Erdepochen aktiv waren. Ob nun irgendwelche Mechanismen entdeckt oder entdeckbar sind, die sich den Keimplasmen dergestalt einprägen, die Tatsache besteht, daß die Prägung vorhanden ist: in mir und Ed, in Sparky, im Kapitän, im Palolowurm, in den Chitonen und in den Monatsblutungen unserer Frauen. Sie lastet auf unsern Träumen, haust im zarten Gespinst unserer Nerven, und wenn es auch scheint, als sei der Weg von Seeschlange und Meergreis bis hierher etwas sehr weit – er ist es tatsächlich nicht. Was alles an Geistsymbolen wir ernten, wurde ins weiche fruchtbare Erdreich unseres vormenschlichen Daseins gesät. Die Symbole der Schlange, des Monds und der See dürften wohl nur Signallichter sein, die uns zeigen: die psychophysische Einwirkung existiert.
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5 11. MÄRZ
D
er Abend legte sich über die See, der Nordwind ließ nach, doch die Wellenberge blieben sich gleich, nur trugen sie keine Schaumkronen mehr. Tümmler nahten, guckten uns an und schwammen wieder weg. Die Steuerwache wurde abgelöst; wir setzten uns zum ersten Mal an Bord zu Tisch, verzehrten die kalten Reste vom Abschiedsimbiß, und da wir keine Lust hatten, schlafen zu gehen, zogen wir dickere Röcke an und setzten uns zum Steuermann auf die Bank. Hier oben das Lichtlein an der Kompaßkarte, unten die Backbord- und Steuerbordlichter markierten die Grenzen unseres Reichs. Wir passierten das Vorgebirge von Point Sur. Die langen gleichmäßigen Dünungswellen stießen heftiger, rascher, was Tony Berry, der Kapitän, ganz natürlich fand: «So ist es immer. Die Landspitze zieht die Wellen an.» Ein anderer hätte vielleicht gesagt: «Die Wellen gehen gegen die Landspitze», und beide Feststellungen wären ein guter, handgreiflicher Ausdruck für die Beziehung zwischen Gebendem und Empfangendem. Welle auf Welle nimmt, gibt, rührt an die nächste und wird durch ihre Drehung berührt. So geht es fort und fort bis zur Landspitze; dort bricht sich die letzte, vom Meer her gedacht, die erste für den, der vom Ufer aus denkt. Es ist wichtig, von wo aus man denkt. 147
Die Sterne quälen sich durch den Dunst. Nun leuchten sie hell genug, um in der dunkeln Umwelt die Schaumkronen, die wieder da sind, schimmern zu lassen. Vom Steuer aus gesehen, weht das Gaffelfähnchen am Mast im Kurs hin und her, deckt bald diesen, bald jenen Stern. Ob es wohl längere Zeit ein und denselben Stern unsern Blikken entziehen könnte? Wir versuchen, es durch Steuerung zu erreichen. Unmöglich! Selbst der Kapitän bringt es nicht fertig, und dabei kennt unser Tony sein Schiff genau; jede Schwankung spürt er, noch ehe sie erfolgt, korrigiert jeden Irrtum, bevor er sich auswirken kann. Das hat nichts mehr mit Vernunft oder Nachdenken zu tun. Beim guten Reiter ist es ebenso; er spürt den Impuls des Pferdes in den Knien, fühlt, ohne daß er es zu wissen braucht, nicht allein, wenn es im Begriff steht zu scheuen, sondern auch nach welcher Richtung. Die Landratte (auch ein Schiffer, der zu lang im Binnenland gelebt hat) stellt sich am Steuerrad ungeschickt an, bei schwerer See erst recht. So ging es mir und auch Ed. Am Steuer waren wir beide etwas verkrampft, zumal wenn wir dabei Tonys skeptischen Blick auf uns fühlten. Es war für uns beide ein Ding der Unmöglichkeit, den Kurs exakt innezuhalten; der Kompaß zeigte Abweichungen von 2 bis 10 Grad. Wenn einen dann außerdem Müdigkeit überfällt, hat man auf einmal vergessen, ob man das Rad nach rechts oder links drehen muß, damit die Magnetnadel auf der Karte wieder dorthin zeigt, wo sie hinzeigen soll. Das Steuer dreht sich nur nach zwei Richtungen, nach rechts oder links. Eine Unachtsamkeit, ein Zaudern und das Boot schwenkt; eine leichte Korrektur, und es giert 148
über den Kurs hinweg nach der entgegengesetzten Seite. Man möchte verrückt werden, besonders wenn Tony, der Erhabene, dabeisitzt. Er korrigiert einen nicht; er sagt kein Wort. Aber er liebt die Wahrheit, und für ihn ist der Kurs die Wahrheit schlechthin, jede Abweichung eine Lüge. Und wie der Kurs ideell den Bug geradewegs rund um die Erde verlängert, also plaudert die Schiffsspur das Verhalten des Steuermanns aus. Wäre es möglich, mathematisch genau zu steuern (was unmöglich ist), so müßte das Kielwasser eine gerade Linie bilden. Und selbst dann würde sie durch die Strömung, die Wellen gekrümmt, und deine Bemühung wäre umsonst, dein Erfolg zunichte. Wie auf allen Gebieten gibt es wohl auch auf dem der Navigation ein System. Die inneren Faktoren wären dabei das Schiff, das Steuer, die Mannschaft und vor allem des Kapitäns Wille, Plan und Aufmerksamkeit, die wiederum seinen jeweiligen Stimmungen, Freuden, Leiden, Begierden und Erfahrungen unterworfen sind. Die äußeren Faktoren sind das Meer mit seinen Küsten, die Wellen, die Winde und deren teils konstante, teils variable Einwirkungen auf das Steuerruder. Man kann einen Gegenstand ansteuern, aber nicht unbeschränkt darauf lossteuern; sonst würde man ihn ja niederrennen. Man muß daher auf eine seiner Seiten zusteuern. Nach einem Kompaßstrich aber kann man haargenau steuern und unbeschränkt. Er ist unzerstörbar. Wenn man ein Ziel erreicht, ist es ihm zu danken. Willst du nun eine Landzunge erreichen, so kannst du zunächst deinen Kurs nach dem Kompaß nehmen, mußt ihn aber ändern, sobald du dich dem Ziel näherst, und zwar änderst du ihn 149
auf Grund dessen, was deine Augen sehen. Hier haben wir die Umsetzung des Ideals in die Wirklichkeit, die Verbindung von Innerlichem und Äußerlichem, von Mikrokosmos und Makrokosmos. Der Kompaß verkörpert das vorhandene und zugleich unerreichbare Ideal, die Sichtsteuerung jenes Kompromiß mit der Vollkommenheit, das deinem Schiff überhaupt erst die Fahrt und damit sein Dasein ermöglicht. In der Entwicklung der Navigation im menschlichen Geist und Gemüt – strauchelnd muß sie sich vollzogen haben; ein langwieriger Prozeß, für die Umgestalter voll Schrecken, für den Furchtsamen ein einziges Grauen – wie oft mag da der forschende Geist der ersten Seefahrer einen konstanten Punkt am Horizont ersehnt haben, auf den er zusteuern kann! In klaren Nächten leuchtete ihnen wohl mancher Stern, doch der Kurs auf jeden derselben beschreibt einen Bogen. Die glückliche Entdeckung der nautischen Nützlichkeit des Polarsterns (der sich zwar auch im Bogen bewegt, doch nur minimal und daher relativ konstant ist) muß ungeheuer ermutigt haben. Den durch die Irre vorwärtstastenden Geistern erschien Stella Polaris als die Göttin der Beständigkeit, als Stern der Liebe und des Vertrauens. Immer ersehnten wir ein Unwandelbares und fanden, daß nur ein Kompaßstrich, eine Idee, ein persönliches Ideal sich nicht ändern muß. Das «Ideal», das Schiller und Goethe in Dichterworten real gestalteten, ist die Freude der Menschen weit. Ihm galt Beethovens Symphonie zu Schillers Lied an die Freude. Ein Ebbetümpel wurde einmal «eine Welt im Schlamm 150
und unter Steinen» genannt, und so ist die Schiffahrtskunde die Welt innerhalb unseres Horizonts. Die durch Steuermannskunst zu überwindenden Schwierigkeiten liegen in der Natur der Oszillationen, die in kurzen oder langen Zeiträumen oder in beiden zugleich erfolgen. Das Auf und Ab der Oszillation versinnbildlicht uns das Hegeische Grundgesetz von der Durchdringung der Gegensätze. Kein Wunder, daß in der Physik das Zeichen für Oszillation – 1 grundlegend, ursprünglich, allgegenwärtig ist und in jeder Gleichung zum Vorschein kommt.
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6 12. BIS 15. MÄRZ
I
m Kanal von Santa Barbara, den wir am Morgen erreichten, flutete das Wasser in weichen, langgestreckten grauen Wellen, und dicht darüber lagerte eine schmale Nebelschicht, in die die Seevögel bald hineinflogen, daß man sie nicht mehr sah, bald wieder heraus. Tümmler umringen uns, sie tun es mit Vorbedacht; wir sahen deutlich, wie sie ihre Richtung änderten und auf uns lossteuerten, diese neugierigen Tiere. Die Japaner essen sie gern, Westländer selten. Unsere Matrosen Tiny und Sparky fangen sonst mit Vergnügen jede Art Fisch und harpunieren alles, was schwimmt. Nur an Tümmler gehen sie nicht heran. «Sie schreien so!» meint Sparky. «Wenn sie verwundet sind, schreien sie herzzerbrechend.» Merkwürdig! Eine sterbende Kuh schreit auch, und ein Schwein, das man absticht, protestiert ohrenbetäubend, und doch sind bis jetzt nur wenige Herzen dadurch gebrochen worden. Aber der Tümmler schreit auf wie ein verzweifeltes Kind. Ob nicht hinter der Seemannsliebe zu den Tümmlern noch etwas anderes steckt? Mehr als die Scheu vor dem Schrei? Ähnlichkeiten, die diese Tiere mit uns Menschen haben …? Wie sie sich produzieren, wie sie spielen und Spaß daran finden, Geschwindigkeit zu entwickeln! Stundenlang sahen wir sie im Wasser Figuren beschreiben, auf 152
und nieder tauchen, und als sie bemerkten, daß Publikum da war, schienen sie die Meerenge auf den Kopf stellen zu wollen. Wenn sie losschnellen, krümmen sich ihre Rükken, ihre gesamte Körperkraft teilt sich den toll peitschenden Schwänzen mit, und sobald sie ihr Tempo verlangsamen, sind nur noch die Muskeln beim Schwänze gestrafft. Wenn sie an die Oberfläche stoßen, öffnen sich ihre Blasen wie Augen, schnappen Luft ein, und ehe sie wiederum untertauchen, schließen sie sie, wie man ein Auge schließt. Plötzlich schienen sie ihrer Spiele müde, krümmten wieder die Rücken; die unglaublichen Schwänze schlugen die Flut, und im Nu waren sie weg. Der Nebel verzog sich, aber das Wasser blieb glatt. Wie frisch gefallener Schnee bewahrt es die Spur all dessen, was sich hier abgespielt hat. Wir nähern uns einer Fettschicht; sie ist von Möwenfedern besät. Hier hat sich eine Sardinenhorde getummelt; Möwen haben sie überfallen, sich an ihr gesättigt, aufs Wasser niedergelassen und ihre Federn geputzt. Ein japanisches Linienschiff überholt uns; sein Kielwasser bleibt. Noch lange schaukeln wir drin. Es war ein rechter Faulenzertag. Als die Nacht einbrach, zog Los Angeles mit seinen Vororten und vielen schwebenden Lichtern an uns vorüber. Die Scheinwerfer von San Pedro bestrichen ununterbrochen das Meer. Ein meilenweit reichender Strahl war so hell, daß er unsere Schatten scharf auf den Exhaustor-Schuppen warf. Vor Tagesanbruch fuhren wir durch eine enge Einfahrt in den Hafen von San Diego und im Zickzack den Lichtern entlang zur Landestelle. Obwohl angeblich Frieden 153
herrscht, umfängt uns ein lautes Getümmel aus Menschen, Stahl, Munition und Geratter. Gedankenlos wie die Toten bereiten Menschen ein Zerstörungswerk vor. Über uns donnern Bomberformationen; unter uns künden Unterseeboote lautlosen Untergang. Im U-Boot ist der Geist eingeschient, alles Denken allein auf die Funktion gerichtet. Wir sprachen mit einem Offizier. In einem Ziel-Wettbewerb hatte er einen Preis errungen, und wir fragten: «Haben Sie einmal an eine Gasse gedacht, in der Ihre Geschosse explodieren, an die zerfetzten Familien und daran, daß tausend Generationen in Mitleidenschaft gezogen sind, wenn Sie Ihr Feuerkommando geben?» – «Natürlich nicht», sagte er, «wir haben so weitreichende Geschosse, daß man unmöglich sehen kann, wo sie landen.» Stimmt. Sähe er, wo sie eingeschlagen, empfände er das Entsetzliche, das er mit einem Handwinken bewirkt, ahnte er dessen wellenartige Auswirkungen ins Grenzenlose – er könnte seine Funktion nicht länger erfüllen. Er würde zur Bruchstelle seiner Geschütze. Doch da er blind darauf beharrt, daß es sich hier um rein ballistische Probleme handelt, ist er ein trefflicher Schießoffizier. Er ist viel zu bescheiden, um die Verantwortung selbständigen Denkens auf sich zu nehmen. Sonst wäre ja auch sein ganzes Weltbild in Einsturzgefahr. Wir aber fragten uns: Trachten denn nicht die Bestandteile dieses Weltgebildes selber danach auseinanderzufallen? Gelangen die Paradoxa unserer Zeit nicht endlich zu einer Erkenntnis ihres Widersinns, die das ganze Gebäude zusammenbrechen läßt? Denn der Wider- und Wahnsinn ist so 154
enorm geworden, daß die Lenker des Volkes notwendig immer unintelligenter werden müssen, um ihre eigene Führerschaft zu ertragen. Der Hafen von San Diego ist voller Explosivstoffe, und es fehlt nichts, was dazu nötig ist, sie über Feindesland zu befördern und dort abzuwerfen. Der Feind ist heute noch nicht bestimmt. Aber die Dirigenten des Mechanismus sind Realisten. Sie wissen: ein Feind wird sich finden lassen, und dann haben sie ihren Sprengstoff bereit. Wie vorgesehen füllten wir in San Diego unsere Treibstoff- und Wassertanks auf, schoben Eisblöcke in unsern Eisschrank und versahen uns mit leichter verderblichen Lebensmitteln wie Brot, Eiern und frischem Fleisch. Sie werden nicht lange halten. Wenn das Eis geschmolzen ist, bleiben uns nur Konserven und frisch gefangene Seefische. Wir blieben den Tag und die folgende Nacht vor Anker, ließen uns zum letzten Mal die Haare schneiden, aßen viel Rostbeef, und uns war, als nähmen wir Abschied fürs Leben. Völlig Unbekannte kamen an unsern Landeplatz; kleine Buben kletterten wie die Affen auf unser Deck; schweigsame Männer, wie sie immer am Hafen herumstehen, fragten, wohin die Fahrt gehe, und als wir antworteten, «in den Golf von Kalifornien», schimmerte Sehnsucht in ihren Augen. Sie glichen jenen Leuten, die ohne ersichtlichen Grund an den Bahnhof gehen oder sich beim Flugplatz herumdrücken. Sie möchten fort, am liebsten fort von sich selbst, und wissen nicht, daß sie ihren Erdball Langeweile überall mitschleppen. Einer der gar zu gern mit uns wollte, begnügte sich schließlich mit der Erlaubnis, um die er inständig bat: daß er uns die Haltetaue zu155
werfen dürfe. Die ganze Zeit wartete er bei der BugtauSchlinge. Als er endlich das Abfahrtskommando vernahm, warf er uns das Bugtau zu, rannte zum Pflock, um den das Hecktau geschlungen war, löste und schleuderte es, dann stand er still und sah die Western Flyer davonfahren. Er wäre arg gerne mitgekommen. Südlich der kalifornisch-mexikanischen Grenze wechselt das Meer die Farbe, wird so intensiv ultramarin, als dringe ein Färbemittel bis tief auf den Grund. Die einheimischen Fischer nennen es Tuna-Wasser. Am Freitag passierten wir Punta Baja und gelangten in die Region der fliegenden Fische und Seeschildkröten. Tiny und Sparky legten die Angelruten aus und ließen sie während der ganzen Fahrt draußen. Diese Zwei, Sparky Enea und Tiny Colletto, sind zusammen in Monterey aufgewachsen, waren schlimme Buben und darüber sehr glücklich. Die dortige Polizeistelle besitzt eingehende Berichte über die jugendliche Entwicklungszeit der zwei Unzertrennlichen. Beide sind untersetzt, kräftig, und einer will immer dasselbe wie der andere. Wenn sich Tiny mit einem Mädchen verabredet und Sparky mit einem andern, setzt Tiny alle Hebel in Bewegung, um Sparkys Kleine herumzukriegen, was ganz in der Ordnung ist, da Sparky mit List und Schläue Tinys Schatz zu gewinnen sucht. Auch Steuerwache hielten die Beiden gemeinschaftlich, wobei wir oft merkwürdig vom Kurs abkamen. Die Magnetnadel auf der Karte ging ihren eigenen Weg, und die Fahrtrichtung krümmte sich meistens der Küste zu, wäh156
rend Sparky und Tiny hingebungsvoll angelten. Wenn dann die beweglichen Gummikapseln an der Zugvorrichtung der Angel (wegen der zusammenwirkenden Tunaund Schiffsgeschwindigkeit hatte sie zwei solche Kapseln, außer der äußeren eine innere) einschnappten und ruckten, kletterte einer der Beiden hinunter, um den Fisch in Empfang zu nehmen. War dieser besonders groß und wütend, so tönte von unten alsbald ein aufgeregtes Geschrei. Daraufhin ließ der Andere das Steuer fahren und kam seinem Freund zu Hilfe. Vielleicht liegt hierin ein Grund für die sonderbaren Kurse, welche die Western Flyers zuweilen verfolgte. Womöglich ließe sich sogar die Hypothese vertreten, daß unsere Angler nach ihrer Rückkehr ans Steuer so eifrig über den Fang diskutierten, daß sie darüber vergaßen, sich den richtigen Kurs geben zu lassen, und sich mit einem andern begnügten, der beinah ebenso gut war. Sie fanden dies wahrscheinlich rücksichtsvoller, als den Kapitän aufzuwecken, damit er den Kurs rektifiziere. «Zehn Grade mehr oder weniger spielen bei einer so kleinen Reise keine entscheidende Rolle.» Tony Berrys fanatische Wahrheitsliebe war durch Tiny und Sparky reichlich wettgemacht. Sie glauben nicht an Wahrheiten, nicht einmal an Lügen. Jene Polizeiberichte über ihre glückliche Jugendzeit haben ihnen schon früh gezeigt, wie wandelbar diese Begriffe sind. Sie glauben an nichts, was sie nicht selber erprobt haben. Selbst dem Kompaß mißtrauen sie, und wenn ihnen Tony vorwirft: «Ihr seid vom Kurs abgewichen», antworten sie: «Wir sind aber nirgends angerannt.»
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egen 2 Uhr nachmittags kamen wir in die Gegend der Magdalenabucht. Die See war schmeichlerisch glatt. Ein leichter flockiger Nebel lag über dem Wasser. Fliegende Fische stoben vor dem vordringenden Bug nach rechts und links auseinander. Es scheint, auch wenn es nicht bewiesen ist, daß sie nachts weiter fliegen als tags. Falls die Behauptung zutrifft, wonach ihr Flug nur so lange währt, wie sie naß sind, mag es mit dieser Annahme seine Richtigkeit haben, denn bei Nacht trocknen sie nicht so schnell. Unsre Vermutung kann aber auch auf Augentäuschung beruhen. Die Nachtflüge der Fische verfolgten wir mit dem Scheinwerfer. Mag sein, daß uns dadurch der Flug länger vorkam. Tiny Colletto ist der geborene Harpunier. Oft steht er vorne im Schiff, in der Hand die Harpune zum schleudern bereit. Bis jetzt hat sich noch nichts Harpunierbares blicken lassen, außer den Tümmlern, die er verschont. Nun aber werden die Seeschildkröten zahlreicher. Er steht, wartet, zielt; dann trifft sein Wurfgeschoß. Prompt verläßt Sparky das Steuerrad, und beide ziehen ein kleineres, etwa 75 cm langes Exemplar an Bord. Es ist eine Schildpatt-Schildkröte. * * Eretmochelys imbricata Nelson, meist unter der Bezeichnung Chelone imbricata bekannt.
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Nun kommt das empfindsame Herz unserer Matrosen zum Vorschein. Die dünne Pfeil-Harpune hat die ziemlich weiche Schale durchbohrt und ist schräg in den Leib eingedrungen. Die Matrosen hängen das Tier an eine Relingstütze. Es bewegt hilflos die Flossen, reckt den alten runzligen Hals und knirscht mit seinem Papageienschnabel. Die Äuglein haben einen schmerzlich fragenden Ausdruck. Aus dem durchlöcherten Schild quillt das Blut, und plötzlich ist Tiny von Reue gepackt. Er will die Todesqual abkürzen, legt die Schildkröte auf den Boden, packt eine Axt, verfehlt jedoch in der Aufregung das Tier mit dem ersten Hieb. Die Schneide schlägt in die Planken. Erst mit dem zweiten Schlag trennt er das Haupt vom Rumpf. Und erlebt etwas ihm völlig Neues, etwas Entsetzliches! Schildkröten haben ein zähes Leben. Diese Chelone ist nach der Hinrichtung genau so lebendig wie vorher. Aus dem Stumpf spritzt viel rotes Blut; die Flossen flattern wild. Kein Zusammenkrampfen oder Verengen wie sonst bei geköpften Tieren. Da Ed und ich darauf bedacht sind, die Chelone zu untersuchen, kümmern wir uns zunächst nicht um Tinys Bestürzung. Auf dem Schild entdecken wir zwei Bernikel-Basen und Hydrozoen, die wir sogleich konservieren. In der Hautfalte neben dem kleinen Schwanz nisten zwei Krebslein (planes minutus, nach Linnäus), Männchen und Weibchen, und scheinen sich dort heimisch zu fühlen. Da wir auch die Eingeweide, sowohl auf die Ernährung der Schildpatt-Schildkröte hin wie auf etwaige Eingeweidewürmer untersuchen wollten, sägten wir den Schild an den Seiten auf und öffneten die Bauchhöhle. Vom Schlund bis zum After ist der Verdauungskanal voll 159
kleiner, hellroter Steinkrebse *, einige davon, die der Gurgel am nächsten saßen, sind unversehrt, so daß wir sie konservieren können. Der Schlundrand ist mit festen Stacheln besetzt, deren eigentümliches Gewebe hart genug war, daß es die von der Chelone verschlungenen Krustentierchen zermalmen konnte. Die sonderbar kreisende Schlundbewegung (die sich sogar während der Sektion beobachten ließ; die Reflexe waren selbst dann noch aktiv) brachte die mahlenden, wetzenden Stachelspitzen zusammen, und die immer weiter zerquetschte Nahrung glitt in den Magen. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Anpassung des Körperbaus an die Ernährungsweise, oder auch umgekehrt. Die Herzschläge dauern an. Sie erfolgen ganz regelmäßig. Wir entfernen das Herz und legen es in einen Krug Salzwasser, wo es stundenlang weiterpulsiert. Als es nach vierundzwanzig Stunden zum Stillstand kommt, genügt die Berührung mit einem Glasstäbchen, um es zu einigen weiteren Schlägen zu veranlassen. Erst dann steht es still. Die Prozedur ging Tiny sehr an die Nieren. Bei ihm haben Tiere zu sterben und tot zu sein, wenn er sie geschlachtet hat. Aber als wir das Muskelgewebe zerlegten, um es zu kochen, reagierten sogar die weißen Fleischwürfelchen noch auf jede Berührung, und Tiny schwor, er werde nie wieder auf Seeschildkröten Jagd machen. Er hat auch keine mehr harpuniert. Offenbar identifizierte er sich mit dem sich windenden Bindegewebe und war außerstande, es objektiv zu betrachten. * Pleuroncodes planipes Stimpson. 160
Das Kochen mißglückte. Wir schmissen das übelriechende Fleisch über Bord und zogen die Lehre daraus, daß das Schildkrötenkochen gelernt sein will. Den Schild aber wollten wir aufbewahren, kratzten ihn also, so gut es ging, aus und bestreuten ihn mit Salz, worauf wir ihn über Bord ins Wasser hingen, in der Hoffnung, die Isopoden würden uns den Gefallen tun, ihn zu reinigen, was sie aber nicht taten. Daher tränkten wir ihn mit Formaldehyd und ließen ihn in der Sonne trocknen. Dann warfen wir ihn weg. Der schöne Schild war nicht mehr zum Ansehen. In der Nacht kreuzten wir einen Bonitoschwarm. Die Steuerwache fing fünf dieser schönen, glatten feingebauten Fische, wodurch wir eklig vom Kurs abkamen. Wir versuchten eine Farbfilmaufnahme von ihnen zu machen, denn im Todeskampf wechseln Bonitos ständig die Farbe. Ihre Schwänze schlugen erregt das Deck, und wie im Takt glänzten die Farben auf, schwanden und leuchteten abermals, bis sie im Tod eine neue Farbe annahmen. Wir gedachten, von vielen Tieren Farbphotos herzustellen, denn durch die Konservierung bleichen sie bis zu völliger Farblosigkeit. Auch zeigen viele Tiere, eigentlich fast alle, im Leben eine andere Kolorierung als im Tode. Doch da sich unter uns kein gelernter Filmoperateur befand, erzielten wir nur klägliche Erfolge und steckten die Sache auf. Aber Sparky briet uns wenigstens große, dicke Bonito-Filets, und sie schmeckten vorzüglich. In der gleichen Nacht gingen uns auch zwei kleine Abarten des nördlichen Fliegenden Fisches (Cypselurus californicus) ins Netz. Mit dem raschen Einbruch der Dunkelheit schwand die Bläue des Wassers, und wir fuhren dahin wie durch Träu161
me, darin eine treibende leere Kiste, die irgendein Dampfer über Bord geworfen, magische Anziehungskräfte besaß, so daß wir uns nicht enthalten konnten, sie anzusteuern und aufzufischen. Eine neue Schildkrötenart ließ sich blicken. Im Gegensatz zu der vorigen dunkelbraunen war sie grau, schlank, die Nase paddelförmig und lang. Sie bewegte sich hurtig in großen Schwärmen, die über die Wasserfläche sprangen und sich zu freuen schienen. Des Lebens Überfluß in diesen Gebreiten gibt allem einen unglaublichen Überschwang. O diese unendliche Fülle! Fischschwärme tummeln sich wie Kinder auf der Spielwiese, so daß das Wasser sich kräuselt wie unter einer frischen Brise. Die Seeschild- und -pattkröten spielen; eine Tuna-Horde erscheint, und wenn sie aufschnellen, die munteren Wassergeschöpfe, glitzern ihre Leiber im Sonnenlicht. Das Meer wimmelt von Leben, es sprüht. Unten am Grund herrscht sicher die gleiche Fülle. Mikroskopisch betrachtet, ist dieses ganze Meer von Plankton erfüllt. Tuna-Wasser, das Wasser des Lebens! Vom Plankton bis zur grauen Schildkröte ist alles da und in sich vollendet wie unsere Chelone mit ihrem Krebspärlein am Schwanz und den Bernikeln und Hydrozoen auf dem Buckel! Der pelagische Steinkrebs Pleuroncodes, von den Mexikanern «Langustina» genannt, besät den Ozean mit roten Tupfen. Üppige Nahrung ist überall. Alles frißt alles. Siebzig Meilen nördlich Punta Lazaro waren wir nachmittags gegen 5 einem Heer dieser schwimmenden kleinen Langusten begegnet. Ihr leuchtendes Rot hob sich prächtig von der ultramarinblauen Seefläche ab. Wo bleibt da die Schutzfärbung? Ein größerer Farbenkontrast wäre nicht zu 162
erfinden. Das blaue Meer starrte von diesen kleinen Roten. Nach Stimpson wurde am 8. März 1859 in Monterey eine Anzahl solcher Langustinen an den Strand gespült. Es geschah dies wohl während eines jener seltsamen Zyklen, in denen die Strömungen Wunderdinge verrichten. Wir fuhren langsam, fingen in Tauchnetzen einige Langustinen, legten sie in weiße Porzellanschalen und machten Farbfilmaufnahmen. Einige davon glückten sogar, ein Zufall, der sich auf unserer weiteren Fahrt nur selten wiederholte. In den Schalen ließ sich beobachten, daß diese Tiere nicht eigentlich schwimmen, sondern sich schlängeln. Schließlich ertränkten wir sie in frischem Süßwasser, und als sie tot waren, konservierten wir sie in Alkohol, der ihre herrlich leuchtende Farbe beseitigte.
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ie Punta Lazaro, die wir nach Mitternacht um zwei Uhr passierten, gilt wie Kap Horn für einen der verfluchtesten Wetterwinkel auf diesem Globus. Selbst wenn rings herrliches Wetter ist, sagen die Seeleute, soll es hier scheußlich sein. Wie zuvor bei unserer Durchfahrt zwischen der Cedros-Insel und dem Vorgebirge der heiligen Eugenia ging es denn auch hier überm Santa Maria Busen recht stürmisch zu. Die SkyllaCharybdis-Furcht unserer Ahnenvölker, die solche mythischen Meerengen mit Ungeheuern ausstattete, welchen sie nur durch Gebete und Sühneopfer entrannen, diese atavistische Angst lebt noch immer, und wir atmeten auf, als weiter südlich das Meer wieder friedlich war. Gegen fünf Uhr früh stießen wir auf eine womöglich noch dichtere Ansammlung jener kleinen roten Pleurocodes als am Vortag. Wir hielten wieder und fingen viele im Netz. Inzwischen biß ein «Skipjack» an Sparkys Angel an, kam in die Pfanne und auf den Frühstückstisch. Während wir ihn mit Genuß verzehrten, erklärte Ed, es sei ein Katsuwonus pelamis, was Sparky heftig bestritt. Es sei ein Skipjack, ein Schiffhüpfer, behauptete er: «Nie und nimmer ein Katsuwonus pelamis!» «Wieso?» fragte Ed, und er erklärte: «Weil ich ihn esse. Ich bin sicher, ich würde niemals einen Katsuwonus pe164
lamis essen.» Einige Stunden danach fingen wir zwei Goldmakrelen (Coryphaena equisetis, auch Golddelphine genannt), bezaubernde goldene Tiere; ihre Farbe wechselt rhythmisch, wächst und verblaßt. Abgesehen von der kurzen Pause beim Langustinenfang waren wir seit San Diego Tag und Nacht ununterbrochen gefahren. Braun, öde und trocken, mit seltsam flachen Höhenzügen und zerklüfteten Felsen glitt wieder ein Stück Westküste der langgestreckten Halbinsel Baja California (Niederkalifornien) an uns vorüber. Schon jetzt im März flimmerte Hitze über dem Land. Tony hatte bisher den Kurs in einigem Abstand von der Küste gehalten, nun aber steuerte er in südöstlicher Richtung drauf zu, denn in der Nacht wollten wir vor Cabo (Kap) San Lucas an der Südspitze der Halbinsel haltmachen. Im weitern Verlauf unserer Exkursion sollte nur noch tagsüber gefahren werden. Als erste Sammelstation hatten wir Cabo Pulmo am Eingang zum Golf in Aussicht genommen, danach La Paz und die Angeles-Bucht, doch außerdem gedachten wir überall dort haltzumachen, wo uns das Ufer verheißungsvoll schien. Schon das bißchen Dauerfahrt bis hierher, neunzig Stunden im ganzen, dünkte uns endlos. Wir freuten uns auf die Landung. Am Nachmittag lagen die dürren Hügel rotgolden vor unsern Augen. Nachts verließ niemand das Dach des Deckhauses. Das Kreuz des Südens stand klar über dem Horizont. Die Luft war warm und erquickend. Tony brütete über der Seekarte. Gegen 22 Uhr kam das Leuchtfeuer auf dem «falschen Kap» in Sicht. Wir umfuhren es in tiefer Finsternis. Die 165
hohen schwarzen Felsen, «die Mönche», wie man sie nennt, waren kaum zu erkennen. Im «Küstenpilot» ist ein Leuchtfeuer am Ende der Mole von San Lucas erwähnt, aber davon war nichts zu sehen. Vorsichtig steuerte Tony das Schiff in den Hafen. Ein Licht flammte auf, zeigte einen Moment ein Stück Uferdamm und verschwand. Nirgends ein Lichtschein, aus keinem Fenster, keinem Lokal. Der Scheinwerfer auf unserm Deckhaus kämpfte vergebens gegen die Dunkelheit. Vom Bug aus lotete Sparky beträchtliche Wassertiefe. Langsam fuhren wir dahin, stoppten, trieben, spähten, loteten immerzu, und plötzlich erhob sich das Ufer neun Meter vor uns. Kleine Wellen spritzten, und unser Lot zeigte immer noch 8 Faden (14,5 m). Wir warfen den Anker aus und warteten, bis er packte. Dann stoppten wir die Maschine. Lange saßen wir auf dem Deckhaus. Warmer Wind wehte den Duft des Landes, Geruch von Verbenen, Mangroven und Erde, herüber. Wie leicht vergißt man die Gerüche des Bodens! An Land sind sie uns so vertraut, daß unsere Nase sie ignoriert. Aber nach ein paar Tagen auf See ist diese Gewöhnung verfluchtet, und der erste Anhauch des Festlands erregt eine seltsam bohrende Sehnsucht nach unserer Heimat: dem Land. Am Morgen war das Geheimnis der Nacht gelüftet. Der kleine Hafen lag hell in der Sonne. Am Strand ein paar Häuser und hart am Felsen die Tuna-Konservenfabrik zeigten an, daß man in einer bewohnten Gegend war. Bald stellte sich auch heraus, daß der «Küstenpilot» recht gehabt hatte: Am Ende der Mole brennt wirklich ein Leucht166
feuer. Aber nur bei Tag. Gleich beim Morgengrauen war es angegangen und leuchtete bis zum Abend. Denn es ist an die Elektrizitätsversorgung der Konservenfabrik angeschlossen, und deren Maschinen arbeiten nur tagsüber. Unser wahrheitliebender Kapitän konnte den «Küstenpilot» keiner Lüge bezichtigen, nur einer orakelhaften Ausdrucksweise. «Ein Licht brennt», hatte der «Pilot» verkündet und nur nicht hinzugesetzt, wann. Die Felsen am Ende der Halbinsel, die Mönche, wirkten auf Ed und mich als poetischer Abschluß von tausend Meilen Halbinsel und Vorgebirge. Beim Kap der guten Hoffnung ist es ähnlich. Vielleicht rühren unsere angeborenen Vorstellungen vom Ende der Welt aus solchen Ursprüngen. Als Sinnbilder der Abwehr, des Schutzes ragen Mönche über die Weiten der See. Vor über zweihundert Jahren kam der Mönch Clavigero S. J. an diese Landzunge. Wir zitieren aus seiner, von Lake und Gray ins Englische übersetzten Geschichte Nieder-Kaliforniens *: «Das Kap bildet die südliche Grenze, der Rio Colorado, der Rote Fluß, die östliche und der Hafen von San Diego, 32,1° nördlicher Breite und etwa 16,9° westlicher Länge, die. Westgrenze. Gegen Nord und Nordost stößt das Land an barbarischer Völkerschaften Gebiete, die an der Küste kaum, im Binnenland überhaupt noch nicht erkundet sind. Im Westen hat Niederkalifornien den Stillen Ozean, im Osten den Golf von Kalifornien; man nennt ihn auch das Rote Meer, weil er Ähnlichkeit mit ihm hat, aber häufiger noch: See des Cortés, zu Ehren des berühmten Ero* „History of Lower California“, S. 15. Stanford University Press 1937. 167
berers, der es entdeckt und befahren hat, Ihrer Länge nach erdehnt sich die Halbinsel über nahezu zehn Breitegrade; ihre Breite beträgt zwischen 27 und 127 englische Meilen. Der Name California galt anfänglich nur einem einzigen Hafen, später bezeichnete er die ganze Halbinsel; einige Geographen gehen sogar noch weiter und verstehen darunter auch Neu-Mexiko, das Land der Apachen, und andere vom eigentlichen Kalifornien weitab gelegene Regionen, die nichts mit Kalifornien zu tun haben. Der Ursprung des Namens Kalifornien ist nicht bekannt. Angeblich soll Cortés, stolz auf seine geringen lateinischen Kenntnisse, die Bucht, wo er landete, wegen der dort herrschenden Hitze «Callida fornax» (heißer Ofen) genannt haben, was dann er selbst oder sein Gefolge in das Wort California zusammenzog. Sollte diese Hypothese nicht wahr sein, sie klingt doch immerhin glaubhaft.» Um dieser letzten Worte willen lieben wir den Pater Clavigero. Er war mit Worten vorsichtig. Die in seiner Geschichte von Baja California niedergelegten Beobachtungen sind überraschend korrekt, und wenn auch nicht durchwegs wahr, so klingen doch alle «immerhin glaubhaft». Er überläßt dir die Entscheidung. Seine jesuitische Bildung ist hierin vielleicht am deutlichsten spürbar. Es ist, als sage er: «Wenn du es glaubst, hast du vielleicht unrecht, aber wenigstens bist du kein Narr.» Die englischen Übersetzer fügen hier folgende beobachtenswerte Fußnote an: «Der berühmte Korsar Drake nannte Californien zu Ehren seines Vaterlandes: New Albion. Zur Zeit Karls II. von Spanien hielt man die Halbinsel für eine Insel und nannte sie Isla Carolina, ein Name, 168
der sich noch bei dem deutschen Jesuitenpater Scherer und dem französischen Geographen de Fer findet. Doch verloren sich diese Bezeichnungen bald; am längsten hielt sich jene nach Cortés.» In einer zweiten Fußnote heißt es: «Der gelehrte Ex-Jesuit Don José Campoi gibt folgende Etymologie des Wortes ‚Californias‘ oder ‚California‘. Es sei eine Zusammensetzung aus ‚cala‘ (spanisch: kleine Bucht) und ‚fornix‘ (lat.: Gewölbe, Bogen) und beziehe sich auf die kleine Bucht beim Kap San Lucas, an deren Westseite ein überhängender Fels von der Flut so durchbrochen ist, daß er in seiner oberen Hälfte genau wie ein von Menschenhand errichteter Torbogen aussieht. Cortés soll dies aufgefallen sein, und sein Latein mit seiner Muttersprache vermischend, habe er dem Ort den Namen ‚Cala y fornax‘, d. h. Bucht des Gewölbes gegeben. Für unser Empfinden trifft solche hochgelehrte Diskussion über diesen oder jenen Ortsnamen kaum je das Richtige. Namen fallen wie Samen auf eine Stelle, werden verweht oder haften. Wenn Menschen sich einmal im Südpolargebiet dauernd niederlassen, werden sie sich gewiß nicht um Bezeichnungen wie «Rockefeller-Mountains» scheren. Ein Name erwächst wie von selber dem Ort, denn sehr eng ist die Beziehung des Namens zum Ding. Bei Orts-Taufen im Wilden Westen sah man das deutlich. Da gibt es zwei kleine Berge, die von den ersten Siedlern «Maggie’s Bubs» * genannt wurden, was allen Ansprüchen genügte außer denen empfindsamer Naturfreunde, die es * „Bubs“ Slang = Kosename für männliche Babies besonders kleine Zwillingsbrüder.
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vergebens mit etlichen andern Namen versuchten, bis sie endlich die Waffen streckten und die Zwillingsberge «die Maggies» nannten, nicht ohne hinzuzufügen, dies sei eine altindianische Benennung. So wurde auch eine nach dem Zeugungsorgan des Hundes benannte Spitze (mit Rücksicht auf jene zartbesaiteten Naturschwärmer will ich den ursprünglichen Namen nicht wiederholen) auf Landkarten nur noch als «The Dog» (der Hund) gedruckt. Dabei sieht die Spitze im Leben nicht wie ein Hund, sondern anatomisch genau wie jener Teil aus, dessen vulgäre Bezeichnung sich bei der Namengebung zwangsläufig durchsetzte, und jeder, der das Ding sieht, ist schöpferisch so begabt, daß er die Urbezeichnung entweder ausspricht oder in Damengesellschaft herunterschluckt. Die Fähigkeit und der Wille, Namen zu geben, lebt tief in uns als magischer Atavismus. Erst der Name macht uns eine Erscheinung vertraut; sie scheint dann nicht mehr gefährlich. Das Namenlose kann namenloses Unheil bergen. Sobald das Ding einen Namen hat, läßt sich mit ihm fertig werden. Ein Tannenbaum ist ungefährlich, der Wald voll Gefahren. Unter primitiven Völkerschaften glaubt man hingegen manchmal, dem Übelstand zu entgehen, wenn man seinen Namen nicht ausspricht. Darum nennt der Malaie den Tiger nicht, aus Angst ihn dadurch herbeizurufen. Bei uns macht man mit Benennungen Dinge unwirksam, vor denen man Furcht hat. Wenn sich die Horizonte einer neuen Zeit weiten und der Philosoph es mit der Angst bekommt, er werde aussterben wie ein vorsintflutliches Monstrum, stellt er behende einen Tabu-Kasten auf, gibt ihm den Namen Mystizismus oder Supranaturalismus 170
oder Radikalismus. Dann kann er da hinein alle Gedanken schmeißen, die ihn erschrecken, und ist gerettet. Bei geographischen Namen wirkt der Ort bei seiner Benennung entscheidend mit. So wie Tony sagte: «Die Landspitze zieht die Wellen an», sage ich: «Der Ort zieht den Namen an.» Es kommt nicht darauf an, was California bedeutet, sondern nur darauf, daß von allen Namen, mit denen das Land belegt wurde, nur dieser eine der richtige war. Das Land gab dem leeren Wort Kalifornien magische Inhalte und stieß alle «Neu Albions» und «Carolinas» ab. Ich kannte einen Mann namens Copeland; der konnte hingehen, wohin er wollte, und überall, auch wo ihn niemand von früher her kannte, bekam er den Spitznamen «Copenhagen» und dann «Hagen» – automatisch. Ich wüßte nicht, was er vom Hag, Haag oder Hagen hätte, aber irgend etwas muß es wohl sein. Warum nannte ihn nie jemand «Copen» oder «Co-op»? Er wird unfehlbar immer wieder Hagen genannt. Ed und ich sehen darin etwas Mystisches. Wem es nicht paßt, kann das ganze Problem in seine Tabu-Kiste schmeißen und den Deckel zuklappen. Hinter den großen grauen steinernen Mönchen, die vorn auf der Landzunge stehen, zieht sich ein Streifen Strand, für Buben der schönste Ort, um Verstecken und Seeräuber zu spielen. Hier träumen sie von Pinassen, Fregatten, Barkassen, Brigantinen, von Weltumseglung, Juwelen, bildschönen Edelfrauen und Barren Goldes, o herrliche Schiffsfracht! So hat dieser kleine verborgene Strand wohl schon Menschen der Frühzeit angelockt und in die Ferne gesandt. Piratennamen sind in die Felsen gemeißelt. 171
Doch heute liegt im Sand hinter den Mönchen ein Haufen Hammerhaie. Die Leber ist ihnen herausgerissen; ihr Fleisch fault. Und wie lange wird’s dauern, bis unsre herangereifte Piraterie, die die alten Pinassen gegen Küstengeschütze vertauscht hat, dies Kap mit grauen Ungetümen besetzt und gegen die Schiffahrt im Golf nicht mehr ein kleines Rudel abgerissener Kerle schickt, vielmehr Projektile, gefüllt mit TNT. Von dieser Seeräuberei kehrt kein Pirat mit Juwelen, keiner mit bildschönen Edeldamen zum Strand hinter den Felsen zurück. An diesem Morgen wuschen und rasierten wir uns mit besonderer Sorgfalt, denn wir erwarteten die Ankunft der mexikanischen Amtspersonen und von ihnen die Erlaubnis, an Land gehen zu dürfen. Es dauerte lang, bis sie kamen, denn sie mußten erst ihre Amtsuniformteile zusammensuchen und sich ebenfalls anständig rasieren. Es legen so selten Schiffe hier an … Da läßt es sich keiner entgehen, auch wenn es nur ein so lumpiges Fischerfahrzeug wie das unsrige zu besuchen gilt. Erst gegen Mittag schritten die gutgekleideten Herren in ihren Sonnenhelmen zum Strand hinab, um sich zu uns herüberrudern zu lassen. Sie hatten sich mit dem Abzeichen mexikanischer Beamtenwürde, Maschinenpistolen Kaliber 45, bewaffnet und außerdem mit aller Liebenswürdigkeit, die den Vorzug und Ruhm des amtlichen Mexiko bildet. Egal, was sie dir antun, sie tun es auf nette Art! Das erfuhren wir nicht allein hier, sondern auch in den übrigen Häfen. Jeder der über eine Uniform verfügt oder sich eine ausborgen kann, kommt da an Bord, der Zollbeamte in hellem frischgewaschenem Kittel, der Stadtreisende in seiner zweireihigen 172
Agentenkluft; Tiny findet, sie hätten auch einen zweireihigen Blick. Hierauf Soldaten, solange der Vorrat reicht, und endlich Indianer. Aber die rudern nur, und von Uniform sieht man an ihnen nichts. Würdevoll, als seien sie mindestens Botschafter betreten die Herren das bescheidene Schiff. Jedesmal erfolgt das gleiche allgemeine Händegeschüttel. Die Kambüse ist zum Empfang bereit. Der Kaffee dampft und wird eingegossen. ‚Etwas Rum gefällig?‘ – ‚Ein Tröpfchen, bitte!‘ Zigaretten werden gereicht. Die «Zündholzzeremonie» beginnt. Zigaretten sind nämlich in Mexiko wohlfeil, Streichhölzer nicht. Wenn ein Señor dich besonders auszeichnen will, zündet er dir deine Zigarette an. Wenn du ihm vorher eine gegeben hast, muß er dir diese Ehre erweisen. Sobald euer beider Zigaretten in Brand gesetzt sind, darf jeder, der will, das Zündholz benutzen, vorausgesetzt, daß es noch brennt. Reibst du eins auf der Straße an, so holt sich jeder Zündholzlose Feuer bei dir, verneigt sich stumm und geht qualmend weiter. Daß wir diesmal nicht allzu lange zu warten hatten, lag einzig daran, daß der Distriktgouverneur unlängst Cabo San Lucas besucht und erst in den allerletzten Tagen eine Jacht im Hafen angelegt hatte. Daher wußten die Amtspersonen noch, wo sie ihre amtlichen Kleidungsstücke hingelegt hatten, und brauchten sie, ehe sie sich an Bord begaben, nicht noch erst plätten zu lassen. Als sie mit festen Schritten den Strand durchmaßen, stoben die dort fröhlich grasenden Schweine und äsenden Geier nach allen Richtungen auseinander. Die Beamtenschaft füllte das Ruderboot fast bis zum Sinken, und dieses legte Breitseite an Breitseite bei uns an. 173
Die Formalitäten wurden mit Würde erledigt. Wir sprachen zu ihnen in miserablem Spanisch, und sie erwiesen uns gleiche Ehre durch ein ebenso miserables Englisch. Sie genehmigten unsere Existenz, tranken Kaffee, rauchten, entfernten sich dann und trösteten uns mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen. So willkommen uns auch ihr Besuch gewesen, so sahen wir doch mit brennendem Verlangen, wie die Flut langsam zurückwich. Die vom Wasser entblößten Felsen schienen reich an animalischem Leben. Während wir uns in Höflichkeiten ergingen, war von den Klippen her leichtes Gewehrfeuer an unser Ohr gedrungen. Dort schossen etliche Männer auf schwarze Kormorane, und wir erfuhren, daß ganz Cabo San Lucas ein Todfeind der Kormorane ist. Denn diese Seeraben sind die Schmeißfliegen folgender vollkommener, gutgeölter Ökologie: Die Konservenfabrik verarbeitet Tuna. Die Eingeweide und sonstige Abfälle der Tuna werden vom Ende der Mole ins Meer geworfen. Damit werden Scharen kleiner Fische herbeigelockt, die in Netzen gefangen und als Köder zum Tunafang verwendet werden. Dieser enggeschlossene Kreislauf wird von den Kormoranen durchbrochen, da diese sich nicht allein an dem Fischköder vergreifen, sondern obendrein nach den angelockten Fischlein tauchen, sie teils fressen, teils vom Pier und den dort harrenden Netzen verscheuchen. Daher gelten die Kormorane als Eindringlinge, als Radikale, als subversive Elemente und Frevler gegen das gottgewollte Gleichgewicht am Cabo San Lucas. «Nächstens werden sie noch das Stimmrecht verlangen», bemerkte einer der Unsern. 174
Nun hatten wir die Erlaubnis, unserm Beruf nachzugehen, packten zum ersten Mal die Hansensche Seekuh aus und montierten sie im Heck unseres Beiboots. Das Ufer war nah. Wir brauchten nur am Startseil zu ziehen und ihren Propeller genügend trudeln zu lassen um mit Windeseile zum Strand zu gelangen. Die Seekuh lief zwar an diesem Tag nicht, schien sich jedoch am Trudeln des Schwungrades zu ergötzen. Unser Strand-Sammelgerät bestand meist aus einer Reihe kleiner Stemmeisen, hölzernen Fischeimern mit Henkel, Litergläsern mit aufschraubbarem Deckel und vielen Glastuben, wie sie für kleine empfindliche Tiere unschätzbar sind. Die Chance, sie heil heimzubringen wächst enorm, wenn man jedes einzelne, oder mindestens ganz wenige gleicher Gattung, getrennt aufbewahrt. Auf keinen Fall dürfen die weichen Tiere mit lebhafteren Krabben zusammen transportiert werden, denn diese, sobald sie sich irgendwie beeinträchtigt oder gefangen fühlen, geraten in einen Paroxysmus der Wut und zwicken aufs Geradewohl alles, auch Tiere der eigenen Gattung, mitunter sogar sich selbst. Waren uns die entblößten Felsen aus der Entfernung reich an animalischem Leben erschienen, so sahen wir jetzt: sie strotzten, sie schäumten von Leben. Das Litoral war eine einzige überschäumende Fülle. Alles schien übersteigert. Seeigel und Seesterne hafteten an ihrem Fleck fester als irgend sonstwo. Die einschaligen Muscheln hielten mit solcher Zähigkeit fest, daß eher die Schale brach, als daß das Tier losließ. Vielleicht hängt dies mit der Gewalt der großen Brandung zusammen, die hier gegen die Küste 175
schlägt. Ist es nicht staunenswert, daß diese Primitiven der Tierwelt sich nicht vom wütenden Anprall der Wogen vertreiben lassen, sich nicht in die stillen Buchten der schützenden Ebbezone zurückziehen, statt dessen vielmehr ihre Widerstandskräfte steigern und mit lustvollem Trotz gegen die See ankämpfen! Wie uns dieser Lebenswille erregt und beglückt! Und es scheint – nach dem wimmelnden, kribbelnden, streitenden, sich bäumenden Urgrund – als seien auch sie, unsere Studienobjekte, in gleicher Weise erregt. Während die Wasser abziehen, sammeln wir das Litoral von oben her seewärts ab. Hätten wir nur mehr Zeit! Von allem, was uns zuhanden kommt, nehmen wir etliche Exemplare. Oben wimmeln die Felsen von Sally-Lightfoots, diesen schönen, sensitiven Krabben; bei ihnen wohnen die weißen Uferschnecken, ein Stück abwärts Bernikel und Purpurschnecken, vielerlei Krebse, Napf- und Schüsselschnecken, weiter unten viele Serpuliden, Röhrenwürmer in kalkhaltigen Röhren mit schönen blumenartigen rotvioletten Köpfen, sog. Floriaten; noch weiter abwärts der von John Xanthus geschilderte vielstrahlige Seestern Heliaster kubiniji, in seiner Nähe Seeigel, aber nur wenige und so in Spalten versteckt, daß sie schwer zu entfernen sind. Einzelne widerstanden unsern Stahlhebeln mit einer Hartnäckigkeit, daß ihr Mund am Stein blieb, während das übrige abbrach. Noch weiter unten, zwischen Riffen im Wasser die dunkeln Gorgonien, die Rindenkorallen, und schon im seichten Brandungsbereich eine glänzende Kollektion Moostiere, Bryozoen genannt; Flachwürmer, Flachkrabben, die große Seegurke Holothuria lubrica, ver176
schiedene Anemonen, viele Schwämme von zweierlei Typ: der eine mit glatter purpurner Haut, der andre weiß, aufgereckt, kalkisch. Da waren große Kolonien von Tunikaten: Büschel winziger Individuen, vereint durch eine gemeinsame Tunika und den Schwämmen so ähnlich, daß selbst ein geübter Sammler wie ich einen Spezialisten wie Ed fragen muß, ob sein Fund ein Schwamm oder eine Tunikate ist. Blamabel! Denn der Schwamm steht knapp über den Protozoen auf der untersten Stufe jener Entwicklungsleiter, auf der sich oben, bereits den Wirbeltieren benachbart, die Tunikaten befinden. Mir scheint dies ein geradezu unanständiger Trick, den einem eine sehr demokratische Vorsehung da spielt. Wir nahmen alle möglichen Schnecken, einschließlich Kegel- und Stachelschnecken; eine kleine rote Tektibranchie, Hydroiden; viele Ringelwürmer und den roten fünfeckigen Seestern Oreaster, fanden natürlich auch die üblichen Horden Einsiedlerkrebse, aber merkwürdigerweise keine Chitonen, obschon die Gegend für sie ideal schien. Wir sammelten hastig. Der zurückweichenden Flut immer ein Stück voraus, wateten wir in Gummistiefeln im Nassen, und als sie wieder vordrang, zogen wir uns nur zögernd zurück. Die Herrlichkeit des Litorals, die Farbenpracht und die Fülle der Gattungen schien uns die Zeit zu verschlingen. Als die Nachmittagsflut anstieg, war uns, als hätten wir eben erst angefangen. Doch unsere Eimer, Tuben und Gläser waren gefüllt. Als wir Schluß machten, merkten wir erst, wie müde wir waren. Unser Sammelzweck unterscheidet sich grundsätzlich von dem im allgemeinen verfolgten. Das Sammeln ge177
schieht heute meist durch Leute, die sich auf eine oder mehrere Gruppen spezialisieren, und wenn zum Beispiel ein enragierter Hydroiden-Spezialist an ein Riff kommt, will er nichts anderes sehen; Schwämme bedeuten für ihn nur eine Beeinträchtigung seiner Hydroidensucht. Doch erst die Sammlung der Mannigfaltigkeit gewährt weite Sicht. Sie ergibt ein völlig anderes Bild. Wir sehen über, neben und hinter dem Einzelwesen die Verbreitung, Verteilung der Arten, ihren wechselnden Umfang, die sich wandelnde Form; wir erkennen, welche Gruppen zunehmen und aufkommen und was den veränderten Lebensbedingungen weicht. In gewisser Hinsicht befolgen wir dabei die ältere Methode: die Darwins auf der Beagle, seinem Segelschiff. Man nannte ihn einen Naturphilosoph, einen Naturaliensammler. Er war ein Naturforscher im vollsten Sinne des Wortes. Er wollte alles sehen: Fauna, Flora und Mineralreich, Erde und Meere. Und hatte so viel Zeit, so viel Raum! Er konnte seine Tiere fangen, am Leben halten und beobachten. Jahre, nicht bloß sechs Wochen, standen ihm zu Gebote. Die Beagle brauchte nicht wie der Spürhund, nach dem sie hieß, überall hurtig, wendig herumzuschnuppern. Langsam segelte sie dahin. Ach, wie beneideten wir ihn um all seine Fahrten! Im Geist sahen wir den jungen Charles, wie er mit dem Tauchnetz eine Qualle zu Tage förderte und über die Lehne seines Korbsessel gebeugt untersuchte. Im Binnenland ritt oder wanderte er. Das ist die richtige Gangart für einen Naturforscher. Er, der so vieles zu sehen hat, darf nicht hasten. Es braucht Zeit, zu überlegen, zu betrachten und nachzudenken. Das moderne Verfahren (das ganze 178
Gebiet rasch überblicken und sich dann auf eine Einzelheit stürzen) war bei Darwin auf den Kopf gestellt. Aus einer langen Betrachtung der Teile wuchs sein Gefühl für das Ganze. Wo wir uns an einer ergiebigen Fundstelle danach sehnten, einen Monat, nicht bloß zwei Tage zu verweilen, ist Darwin ein Vierteljahr geblieben. Kein Wunder, daß er da allerhand sehen und registrieren konnte! Darum spürt man in Darwins Schriften wie in seinem Denken den Atem der See, der Gezeiten Hebung und Senkung und seine Geduld. Ich brächte sie nicht mehr auf, selbst wenn ich es wollte. Tempo und Ton der heutigen Schriftstellerei entspricht und entspringt enervierendem Schreibmaschinengeklapper, das heutige ungeduldige Denken unserer brüchigen, stoß-, ruck-, sprung- und krampfhaften Ausbildung, deren Ziel es ist, möglichst rasch möglichst viel junge Leute «herauszustellen» (so heißt es doch in unseren Lehranstalten?) Herauszustellen! Wohin? Wozu? So wie sich der Hai aus einem verendeten Pferd große Brocken herausreißt, so fetzen heute die jungen Biologen aus ihrem Wissensgebiet einzelne Stücke, untersuchen sie und werfen sie weg. Es ist dies weder eine gute noch eine schlechte Methode; es ist schlechthin die einzige unserer Zeit. Wir können in Sehnsucht auf Charles Darwin zurückblicken, wie er vom Bord seiner Beagle in Meerestiefen hinabblickte, doch der Versuch, sein Vorgehen nachzuahmen, wäre romantisch und dumm. Im Segelschiff gegen Wind und Strömung zu kämpfen, vierhundert Meilen zu reiten, statt zu fliegen, ist lächerlich, wäre außerdem unwirksam. Denn zunächst sind wir, dann unsere Werke Produkte der Gegenwart. Wir könnten allenfalls ein biologisch-philoso179
phisches Kostümstück produzieren, aber es wäre gekünstelt. Und heimwehkrank sehen wir nach den Bergen des Wissens und Schauens, die in gelassener Erdenfahrt Charles Darwin aufgehäuft und in seinen Schriften bewahrt hat. Uns drängt sogar unser Schiff, und selbst die Seekuh, obzwar sie nicht laufen will, infiziert uns mit der Idee motorischer Fortbewegung. Sechs Wochen haben wir alles in allem. Kein Wunder, daß wir wie Rasende sammeln, jede Ebbe-Minute um Klippen und Riffe streifen, selbst nachts! Und während der Flutzeit arbeiten unsere Bodennetze, Tauchnetze und Angeln. In knapp sechs Wochen müssen wir fertig sein. Wie viel besser hatte es doch John Xantus in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, da ihn die Regierung der Vereinigten Staaten als metereologischen Beobachter hierher nach San Lucas schickte! Sein Amt ließ ihm reichlich Zeit, für unser National-Museum Tiere zu sammeln. Die erste prachtvolle Kollektion GolfFormen, die es erhielt, stammen von ihm. Seine Verdienste werden gewiß nicht geschmälert, sondern verbreitet, wenn ich hier eine Geschichte von ihm erzähle, die wir vom Direktor der Tuna-Konservenfabrik, Señor Chris, erfuhren. Ed bemerkte, welch ein großer Mann dieser Ungar Xantus gewesen sei: «Wo ein anderer nur seine GezeitenTafeln in Ordnung gehalten und sich im übrigen nach dem Hotel Willard gesehnt hätte, hat Janos Xantus, weitgehend und sorgsam die Fauna des Golfes gesammelt.» Da sagte Direktor Chris: «Oh, er hat noch viel mehr getan», und wies auf drei kleine Indianerkinder: «Das zum Beispiel sind Xantussche Urenkelchen; in San Lucas gibt es 180
eine große Familie der Xantusen, und im Gebirg, ein paar Meilen von hier, lebt ein ganzer Xantus-Stamm.» Einst gab es solche Riesen auf Erden … Wo nähmen die heutigen Biologen, welche das Streben nach Titeln, Beförderung, Ehren und dazu der Fakultätstratsch vollauf in Anspruch nimmt, die Herzenswärme, die Seelengröße her (von der Potenz wollen wir gar nicht erst reden), um der Nachwelt «einen ganzen XantusStamm» zu hinterlassen …!? Ehre dem großen Janos für all sein Wirken! Er war im vollsten Sinne des Wortes einer, der nach allen Richtungen hin fruchtbar wurde. Von Sally-Lightfoots wurde schon viel erzählt, und wer sie sieht, ist begeistert. Ihr Name hat wohl weniger mit dem Kosenamen für Sarah oder Salomo zu tun als mit den Worten sally (= Ausbruch, lustiger Streich) und lightfoot (= leichtfüßig). So sind sie, diese Krebslein! Ihr Rückenschild glänzt wie Cloisonné-Emailmalerei; sie rennen auf Zehenspitzen, haben die schärfsten Augen und reagieren im Tausendstel einer Sekunde. Obwohl sie hier am Kap in hellen Scharen auftreten, im Golf etwas weniger zahlreich, sind sie kaum zu fangen. Offenbar können sie, ohne zu wenden, nach jeder beliebigen Richtung rennen. Infolge ihrer rapiden Reaktionsfähigkeit erwecken sie den Eindruck, als läsen sie unsre Gedanken. Sie entschlüpfen dem langstieligen Fangnetz, weil sie ahnen, woher es kommt. Wenn du langsam gehst, wandert die Leichtfußherde dir langsam voran. Eilst du, so eilt sie. Tauchst du nach ihnen, so scheinen sie sich in blauen Rauchwölkchen zu verflüchtigen, auf jeden Fall sind sie verschwunden. Unmöglich, sie zu beschleichen! Sie sind schön, ihre Farben leuchten181
des Rot, Blau und ein warmes Braun. Was gaben wir uns für Mühe, ihrer habhaft zu werden! Als wir endlich ihrer fünfzig bis sechzig in einer Felsschlucht erblickten, beschlossen wir, sie zu überlisten. Zwar waren sie flinker als wir, doch mußte sich dies durch unsere überragende Intelligenz ausgleichen lassen. Unsere Taktik war folgende: Hinten, am oberen Rande der Schlucht erhob sich ein Felsblock. Dorthin begab sich, ein Netz in der Hand, Tiny Colletto heimlich auf einem Umweg und versteckte sich hinter dem Stein. Er war da völlig verborgen, selbst für die Stielaugen der Krebslein. Sie hatten ihn auch bestimmt nicht hingehen sehen. Sie weideten im vorderen, unteren Teile der niedrigen Felsschlucht. Ed und ich kamen von vorn, von der Seeseite. Unsere Haltung war nonchalant, unser Gesichtsausdruck unbefangen, und wie wir so in den Canon einbogen, hätte selbst der scharfsinnigste Beobachter annehmen müssen, jeder Gedanke an Lightfoots läge uns fern. Alsbald bewegte die Herde der Krebslein sich vor uns her, und zwar ebenso nonchalant. Wir eilten nicht, sie eilten nicht. Arglos, leichtfüßig trippelten sie auf den Felsblock zu, von dessen Höhe ein großes Netz über sie fallen und sie zu Gefangenen machen sollte, wovon sie natürlich nichts ahnten. Wir schlenderten weiter; sie schlenderten vor uns her, und 1 m 20 vor Tinys Versteck schwenkte die Schar wie Ein Maim, nein wie ein SallyLightfoot nach rechts über den Felsspaltenrand und hinab zum Meer. Weg waren sie! Der Mensch reagiert auf Lightfoots sonderbar unlogisch. Während die Krebsleinschar ihrem Charakter treu bleibt, neigt ihr Verfolger zu sinnlosem Geschrei und Flü182
chen, setzt seine aussichtslose Jagd bis ins seichte Gewässer fort, wirft sich dort wie ein Rasender über sie, trägt aber keine Lightfoots sondern nur Hautabschürfungen davon, Tiny Colletto außerdem eine leichte Schulterverrenkung. Er hat ihnen diesen Streich nie verziehen, hat seit diesem Tag die Leichtfüßigen auf die gerissenste Weise bekämpft worauf er durch langjährige Wirtshauskämpfe in Monterey trainiert war. Er beschmiß alle Sallys mit Steinen, klatschte mit Brettern nach ihnen, ja er dachte sogar an Gift. Mittels solcher unfairen Methoden gelang es ihm tatsächlich ein paar Sallys zu überwältigen. Aber vermutlich waren es nur die Lahmen, die Blinden und die Idioten dieser Spezies. Bei innerlich ausgeglichenen, unpathologischen Leichtfüßen hatte weder er noch wir die geringsten Chancen. Mit Wirbellosen so beladen, daß uns das Rückgrat schmerzte, kehrten wir auf unser Schiff zurück und gingen sogleich an die Konservierung. Unsere rechteckigen Emailtiegel stellten wir auf den Lukendeckel des Fischbassins, dazu die Schalen, Tabletts und kristallenen Schaugläser, füllten sie mit frischem Meerwasser und setzten unsere Funde, nach Familien geordnet, hinein: alle Krabben in das eine, die Meeranemonen in ein zweites, Seeschnecken ins dritte Gefäß. Die diffizilen Flachwürmer und Hydroiden erhielten pro Exemplar ein eigenes Glas. Die Einteilung in Spezies war danach ein leichtes.
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obald unser Fang sortiert und beschriftet war, begaben wir uns wieder an Land und besuchten die Konservenfabrik. Ihr Direktor Chris und der Hafeninspektor Luis fuhren uns im Fabrik-Camion in das Städtchen. Ein elender Ort, dies San Lucas! Im Winter hat eine Sturmflut es heimgesucht. «Die Gassen waren reißende Flüsse. Niemand hatte ein Dach über dem Kopf», erzählte Señor Luis aufgeregt. «Die Kinder schrien, und es gab nichts zu essen. Die Bevölkerung hat schrecklich gelitten.» Der Weg, eine Wagenspur im Lehmboden, rüttelte uns in dem Konserven-Camion unangenehm durcheinander. Dornbüsche und Kaktusse streiften den Wagen und unsre Gesichter. Endlich hielten wir vor einer grämlichen «Cantina», in welcher verdrossene Jünglinge darauf warteten, daß endlich einmal etwas los sei. Schon lange warteten sie darauf, seit einigen Generationen, und waren stets gut aussehende junge Leute, aber sie blickten hoffnungslos drein. Die Sturmflut vom letzten Winter war schon zu häufig erörtert, das Thema restlos verbraucht, zumal jeder das gleiche gesehen hatte. Und nun kamen wir, stiegen aus dem Camion: Fremde, richtige Ausländer und so verwegen, wie man es sich nur wünschen konnte. Tiny trug eine weiße Matrosenmütze, die er in einem Waschraum in San Diego – vertauscht hatte, wie er es nannte; Kapitän Tony seinen verknautschten Filzhut, die andern Jachtmützen, 184
Sweaters und Manchesterhosen, starrend von Fischblut – was wollten die Jünglinge, die ein Ereignis erhofften, noch mehr? Erst schien es, als würden sie auftauen. Dann aber versanken sie wieder in dumpfes Brüten. Wir genügten ihnen nicht. Eine Sturmflut war eben doch mehr. Nichts trostloser als so eine kleine Cantina. Gäste sind da, aber die meisten haben kein Geld, um sich einen Drink zu kaufen. Sie stehen herum und warten auf ein Mirakel: den Engel, der sich mit goldenen Flügeln an der Bar niederläßt und allen etwas zu trinken bestellt. Das Wunder tritt niemals ein, aber woher sollen das die traurigen Jünglinge wissen? Angenommen, das Wunder geschähe, und sie wären nicht da? Darum lehnen sie an der Wand, und wenn die Sonne allzu heiß scheint, sitzen sie auf dem Boden und lehnen die Rücken gegen die Wand. Ab und zu tritt einer aus, ins Gebüsch, oder sie gehen heim essen. Aber dort duldet sie es nicht lange. Der goldene Engel könnte inzwischen erscheinen! Ihr Glaube daran ist kein starker Glaube; aber er höret nimmer auf. Um Stimmung zu machen, legt der Kantinenwirt seine lautesten Platten aufs Grammophon. Das einzig Gute: er hat Carta Bianca Bier, und auf das Risiko hin, man beschuldige mich, ich hätte meine Seele dieser Brauerei verkauft, erkläre ich hiermit: wir lieben das Carta Bianca Bier. Eis gibt es allerdings nicht, auch kein elektrisches Licht. Statt dessen zischte eine Petroleum-Laterne und lockte Käfer und Fliegen meilenweit an. Auch Scharen neugieriger Kakerlaken eilten herbei, große, stattliche Küchenschaben mit Gesichtern beinahe wie Menschen. Das Geräusch der Musik stimmt uns nur noch trister. 185
Die Jünglinge beobachten. Jedesmal wenn einer von uns einen Schluck Bier nimmt, heben sich mit seinem Arm die Augen der jungen Leute, und selbst die Kakerlaken heben die Köpfe. Wir halten es nicht mehr aus. Wir bestellen Bier für Alle! Aber es ist zu spät. Die Jünglinge sind zu tief in Trübsal versunken. Schwermütig schlürfen sie das lauwarme Bier. Wir kauften rasch Strohhüte, denn die Sonne brennt morderisch. Man sollte meinen, so ein ulkiger Hut gäbe zu frohem Gelächter Anlaß, doch die Jünglinge von San Lucas, den Tränen so nah, verkümmern sich und uns das bißchen Vergnügen. Ihr goldener Engel, der endlich erschienen ist, macht auf sie nicht den gewünschten Eindruck. So wie uns mag es dem lieben Gott zumute sein, wenn er alles Erdenkliche für die ewigen Freuden gerüstet, himmlische Harfen verfertigt und gestimmt, die Straßen im Jenseits mit Gold gepflastert und Hosiannahs neu komponiert hat – und nun läßt er die Auserwählten herein. Sie sehen sich um in der himmlischen Stadt und wünschen, sie wären wieder in Brooklyn. Wir erzählten lustige Anekdoten, und da wir spürten, sie würden nicht goutiert, verstummten wir vor der Pointe. In dieser Cantina gibt es kein Lachen. Wir eilten zu unserm Boot, und ich glaube: die jungen Leute waren zufrieden, uns scheiden zu sehen. Erst wenn wir fort sind, können sie etwas mit uns anfangen. Unsere Anwesenheit hat den Flug ihrer Phantasie gelähmt. Direktor Chris hat uns von einem Likör erzählt, der aus einer einheimischen Pflanze gewonnen wird. Er heißt Damiana und ist außerhalb von Baja California so gut wie unbekannt. Er sei ein Aphrodisiakum, sagte Chris und er186
zählte uns zum Beweis phantastische Dinge, woraufhin wir gleich einen Liter Damiana kauften, um ihn daheim im Labor einer ernsten wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen, am sichersten wohl an einer unserer weißen Ratten. Ein wahres Aphrodisiakum gibt es nicht. Es existieren Reizmittel wie Kanthariden zur Überwindung psychischer Komplexe, physische Hilfen wie Yohimbin; ferner stark proteinhaltige Nahrung wie Bêche-de-mer und die Keimdrüsen der Seeigel sowie die in dieser Beziehung stark überschätzte Auster; sogar Chilenin ruft eine gewisse aufreizende Wirkung hervor, allein ein echter Liebestrank, der uns die Möglichkeit schenkt, die Quintessenz der süßen Göttin Aphrodite in einer Kapsel zu schlucken, ist wohl nirgends zu finden. Eine sympathische junge Dame sagte uns einmal, ein vortreffliches Aphrodisiakum sei der Geschlechtsverkehr. Sicher ist er das einzig gute. Viele Leute sind an diesem Thema mächtig interessiert, aber kaum einer gibt es zu. Schon aus purer Selbstachtung muß ein Mann nach außen hin tun, als sei er mit Libido überreich ausgestattet. Doch Apotheker und Ärzte kennen nur allzu gut jenen «Freund» des Ratsuchenden, der so ein Mittel benötigt. Es ist der gleiche «Freund», der die Adresse eines Abtreibers braucht, derselbe «Freund», der an einer verschleppten Gonorrhöe leidet. Was tut man nicht alles, um diesem erfundenen guten Freund aus der Patsche zu helfen! Schlaflose Nächte verbringen wir seinetwegen, und da er ein Aphrodisiakum braucht, mußten wir ihm eins kaufen. Doch ach! Die Literflasche Damiana, die wir unserm «Freund» mitbringen wollten, lagert jetzt bei 187
einem Zöllner in San Diego. Wahrscheinlich hat auch er «einen Freund». Da ich bei unserer Rückkehr an der Grenze unsern Zollbeamten auf die angebliche Wirkung der Damiana aufmerksam machte, wäre es nicht undenkbar, daß dieser Zaubertrank an dem unbekannten Freund einer ernsten wissenschaftlichen Prüfung unterzogen wurde. Wir haben über die Unanständigkeiten nachgedacht, die dies Buch enthalten muß, um wahr zu sein. Anstand, Zucht, Unzucht, Obszönität – nenne es, wie du willst! – sind etwas sehr relatives; es kommt auf die Einstellung an. Ein Mann, den wir seit langem kennen, war einst bei reichen Leuten auf dem Land angestellt. Als eines Morgens eine ihrer Kühe kalbte, gingen die Kinder mit ihm in den Stall, um es sich anzusehen. Es war eine gute, normale Geburt; es war keine Beihilfe nötig. Die Kinder stellten Fragen, die unser Bekannter beantwortete, und als nun der Kopf sich durcharbeitete, das kleine schwarze Maul erschien und den ersten Atemzug tat, standen die Kinder von Ehrfurcht ergriffen. Und ausgerechnet in diesem Augenblick kam ihre vornehme Mutter angetobt und schrie: «Schweinerei, Kinder so etwas sehen zu lassen!» Diese «Schweinerei» hatte den jungen Seelen Andacht gegeben und ihrem Geist den Blick in die Werkstatt des Lebens geöffnet, während der Anstandsbegriff der feinen Mama dies reine Gefühl mit Schmutz überzog. Wenn der Leser oder die Leserin dieses Buches ebenso «vornehm» ist wie jene Dame, ist dies Buch ordinär. Denn unsere Wirbellosen im Ebbegebiet haben wie alle Lebewesen zwei üble Angewohnheiten: sich zu wehren und zu vermehren. Wo du da hinsiehst, beschäftigen sie sich mit 188
der Fortpflanzung. Man könnte dies alles dunkel umschreiben oder lateinisch ausdrücken; auch Griechisch wird von den Prüden als Schutzmittel gegen Aufrichtigkeit sehr gern angewandt, obwohl weder die alten Griechen noch die lateinischen Autoren das Geschlechtliche bemäntelten, im Gegenteil. Die großen Stammväter der Biologie haben sich manchmal den Spaß erlaubt, den Tieren ihre «vulgären, unflätigen», aber sehr plastischen Namen zu lassen, sie bloß ein wenig zu latinisieren, worüber sich etliche ihrer unschöpferischen Nachfolger gewaltig entrüsteten, wie Mr. Verrill in einer Schrift über die Aktinienfunde der Kanadischen Arktis-Expedition, wo es u. a. heißt, die meisten der von Linnaeus angegebenen Namen seien wegen ihrer «Indezenz und Obszönität» zu verwerfen. «Man sollte sie vergessen und ignorieren, ebenso wie die generischen Bezeichnungen, mit denen Linné und verschiedene seiner Zeitgenossen um 1761 einige Spezies der Aktinien belegt haben. Diese indezenten Ausdrücke sind gemeinhin nur latinisierte Formen vulgärer Namen, wie sie noch immer unter den Fischern an unsern Küsten, auch für ähnliche Dinge, gebräuchlich sind.» Hoffentlich wird dieser sonderbare Versuch, die Biologie zu «reinigen» ohne Nachfolge bleiben! Wir jedenfalls haben uns unsere vulgäre, ordinäre Freude am Wunder, am Wunderlichen und Wunderbaren bewahrt. Wir sind nicht besser beschaffen als die Tiere, ja in mancher Beziehung nicht so gut. Lassen wir also dies Logbuch des Lebens ausfallen wie es will! Wir verließen das Fabrik-Camion und wanderten 189
durch die sandigen Dünen in die Nacht. Aus dem sehr dunkeln Himmel stachen die Sterne sehr weiß hervor. Der Geruch des Landes war aus unsern Nasen gewichen; sie waren bereits wieder an Vegetation gewöhnt. Das Bier wirkte angenehm erwärmend; auch in der Luft lag eine Wärme, die aber nicht vom Bier herrührte; wir sollten es gleich bemerken. Aus einem Gebüsch zur Seite der Wagenspur schimmerte etwas, und als wir uns näherten, erkannten wir, daß es ein rohes Holzkreuz war. Eine Peitschenschnur verband Querbalken und Schaft. In der Finsternis schien es aus sich selber zu glühen. Erst als wir dicht davor standen, sahen wir in einem leeren Kanister am Boden die Kerze, die es von unten her zart anleuchtete. Und der Camionfahrer erzählte uns von dem Fischer, der von einer Bootsfahrt krank und erschöpft bis hierher gelangt war; er suchte sein Haus zu erreichen, aber an dieser Stelle brach er zusammen und starb. Mit dem Kreuz und der Kerze hat seine Familie die Stätte vorläufig gekennzeichnet. Ein festeres Kreuz soll später errichtet werden. Denn es ist gut, den Ort zu bezeichnen, wo ein Mensch den Tod fand. Dies ist der einzige völlig einsame Akt in unserm Dasein. Bei jedem andern, besonders bei unsrer Geburt, sind wir eng mit Andern verbunden. Nur dieser gehört uns allein. Fast überall in Mexiko findet man solche Orte durch ein Zeichen hervorgehoben. Das Grab ist ein ander Ding. Da pflegt die Familie auf erlesenem Gestein in schmucken Buchstaben zu prahlen, zu lügen und zu verschweigen, denn es handelt sich um eine gesellschaftliche Angelegenheit und nicht um die des Toten. Allein das Kreuz ohne 190
Inschrift und das verborgene Licht sind gleichsam die Spiegelung der letzten, strengen Einsamkeit, die in das Auge des Sterbenden drang. Wir traten vom Kreuze zurück. Unwirklich, fast schon Erinnerung, schwebte es in dem schmalen Lichtschein, und jener Fischer, der nach Hause wollte und sich mit Mühe und Not bis hierher geschleppt hat, wir werden nie seinen Namen wissen, aber er bleibt in unserm Gedächtnis, ein überpersönliches Wesen, ein schmerzliches Symbol und Urbild unserer Spezies, die immer wieder, von Generation zu Generation sich abmüht, nach Hause zu kommen, und ihr Ziel nie erreicht. Wir gelangten zur Anlegestelle und bestiegen unser kleines Boot. Da Nacht war, wollte die Seekuh natürlich nicht anlaufen; also mußten wir rudern. Doch bevor wir die Riemen eintauchten, siehe da standen am andern Ende des Landungssteges wie hergezaubert die schönen traurigen Jünglinge aus der Cantina. Sie hatten sich dort nicht vom Fleck gerührt. Ein Dschinn, ein Dämon, hatte sie durch die Lüfte getragen und hier zu Boden gesetzt. Ihre Blicke verfolgten uns durch die Dunkelheit hinüber bis zu den Bordlichtern der Western Flyer. Zweifellos schwebten sie dann wieder zurück zur Cantina, wo der Wirt seine Platten verwahrte und mit feinfühligem Daumen die Dollarscheine befingerte, die wir ihm zurückgelassen. Am Ufer brannte kein Licht, denn die Elektrizitätsversorgung war seit Sonnenuntergang wieder eingestellt. An Bord legten wir uns sogleich schlafen. Morgen vormittag ist wieder Ebbe.
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ir wollen möglichst vieles aufklären; so oft es geht, Station machen und sammeln. Unser Bild vom Golf soll so vollständig sein, wie es sich irgend ermöglichen läßt. Darum brechen wir zeitig zum Pulmo Riff auf. Die Fahrt um die Südspitze der Halbinsel und längs dem Ostufer bis Cabo Pulmo ist ja nicht lang, das Wetter herrlich, die tiefblaue See leicht gekräuselt; der sandige Strand leuchtet gelb. Die Hügel dahinter sind dunkel von dichtem Gebüsch. Wie Viele haben schon diese Gegend besucht und geschildert. Zahlreiche dieser Berichte haben wir durchstudiert, sind aber mit keinem zufrieden. Für einen Jachtbesitzer zum Beispiel ist San Lucas ein miserables, von Mükken zerbissenes, poveres Stinkloch, und einem, der halb verhungert im Rettungsboot hierher verschlagen wird, scheint es voll Behagen und Güte. Das sind die Extreme, zwischen denen es eine Unzahl Abstufungen gibt. Unsere Situation und Empfindung ist vor allem durch das, was wir sehen, bedingt. Ich las einmal ein Tagebuch von 1839. Sein Verfasser schrieb darin über Panama. Bevor er hinkam, hatte er eine Beschreibung der Stadt Panama gelesen, die sich jedoch auf die alte Stadt bezog. Die schilderte er nach beendetem Besuch genau seiner Lektüre entsprechend, ohne zu wissen, daß der in dem Buch beschriebene 192
Ort inzwischen zerstört und das neue Panama an einer anderen Stelle stand. Aber das hatte ihn nicht im geringsten gestört. Er wußte, was er dort finden wollte, und fand es. Oft haben Laien die kuriose Idee, wissenschaftliche Werke seien die Sprungbretter zur Vollkommenheit. Sie irren – die Laien nicht weniger als die von ihnen in Ehrfurcht bestaunten Bücher! All jene biologischen Berichte liefern uns zwar einen Maßstab, aber nur zur Beurteilung der Herren Autoren – keinen naturwissenschaftlichen. Auf diesem Gebiet zeigt sich ebenso selten wirkliche Größe wie anderwärts. Infolge der schiefen Ausdrucksweise ist es bei etlichen Rapporten schlechthin unmöglich, nach der dort gegebenen Beschreibung das lebende Tier zu erkennen. In andern Berichten wiederum sind die Fundstellen entweder überhaupt nicht angegeben oder in einem derartigen Durcheinander, daß die erwähnten Tiere unauffindbar sind. Ed stellte fest: diese angeblich wissenschaftlichen Darstellungen sind genau so getrübt und verbogen wie irgendwelche andere Beobachtungen, sind den gleichen Ungenauigkeiten und Irrtümern unterworfen wie Zeugenaussagen vor der Strafkammer in Salinas. Wir gewannen zuweilen den Eindruck, diese naturwissenschaftlichen Zwerge umgürten sich mit Priesterstolz, um ein geistiges Manko zu verbergen, so wie ein Medizinmann und Zauberer sich hoher Stelzen und Masken bedient und die Priesterschaft aller Kulte fremdartiger Sprachen und Sinnbilder. Darum eifern ja auch unsere kleinen Beamten der Wissenschaft gegen die Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis, denn die will die Dinge so klar und plastisch darstellen, daß sie auch der nicht Ein193
geweihte versteht. Ich kenne keinen einzigen großen Naturwissenschafter, der einem Kinde nicht ungezwungen und fesselnd erzählen könnte, womit er beschäftigt ist. Sehr möglich, daß die Hasser der Klarheit weder etwas beobachtet, noch etwas wesentliches zu sagen haben! Wie unklar muß da das Bild sein, das sie sich selber von ihrem eigenen Arbeitsgebiete machen! Wer borniert ist, bleibt es, gleichgültig welches Feld er beackern mag, und sicherlich ist es das Recht eines bornierten Wissenschafters, sich mittels Titeln, Ämtern, Geheimzeichen und und bunten Federn genau so ein Ansehen zu geben wie es andere gerissene Machthaber tun, um über die Dummen zu triumphieren. Als wir uns dem Wendekreis des Krebses und dem Korallenriff El Pulmo näherten, ließ der Kapitän einen Matrosen den Mast hinauf ins Krähennest klettern und nach verborgenen Klippen schauen. Von dort oben kann man bis tief in den Ozean hineinsehen; gleich dunkeln Schatten scheinen die Felsen vom Meeresboden emporzuwachsen. Das Wasser ist hier eher grün als blau und so klar, daß man den sandigen Boden sieht. Wir fuhren so weit ins Seichte, wie es die Sicherheit zuließ, und warfen dann Anker. Das Korallenriff, eine Meile vor unserm Bug, stieg langsam aus der zurückfallenden Flut. Weiß war der Strand zu unserer Linken, und hinter ihm lag eine einsame kleine Rancheria, wie wir später noch andere kennen lernten. Meist ragt neben ihr eine Palme, zuweilen zwei; daran erkennt man sie schon von weitem. Wenn man näher kommt, sieht man eine kleine Hürde mit zwei Eseln, 194
ein paar Schweine und magere Hühner. Das Vieh sucht sich draußen Nahrung. Am Strand liegt ein Einbaum, denn hier wächst wenig; das meiste muß aus dem Meer geholt werden. Man erblickt selten ein Licht. Die Eingeborenen stehen mit der Sonne auf und gehen mit ihr zur Ruh. Sicher empfinden sie ihre Einsamkeit, denn sobald ein Schiff naht, paddeln sie ihm in ihren Kanus entgegen. Der kleine Einbaum vom Pulmo-Riff legt sich an die Seite der Western Flyer. Drei Dunkelrothäutige sitzen darin, ein Weib und zwei Männer. Sie sind in Lumpen gekleidet und diese mit noch älteren Fetzen geflickt, die serapes der beiden Männer so fadenscheinig, daß das Licht durchscheint, des Weibes rebozo hat längst seine Farbe verloren. Die drei halten sich und ihr Kanu an der Längsseite unseres Schiffes fest und bedecken dabei, sich vor uns zu schützen, Nase und Mund mit ihren schmierigen Dekken. So viel Böses hat der weiße Mann ihren Vorfahren gebracht! Sein Atem war von Lungenkrankheit vergiftet. Mit den Weißen zu schlafen, war Gift für Generationen. Wo immer er seine Kolonien errichtete, welkte und starb die eingeborene Einwohnerschaft. Während vierhundert Jahren brachte der Weiße Industrie und Handel und die sogenannte Prosperität, doch das Volk trägt zerlumpte Kleider und fühlt die Schande, nichts besseres tragen zu können. Eiserne Harpunen brachte er und dazu Syphilis, Tuberkulose, krasse Neurosen der weißen Völker und die sonderbare Verehrung eines Gottes, der im Lande der weißen Männer vor urdenklichen Zeiten geopfert wurde. Die Bewohner wissen, daß der Weiße giftig ist und schützen ihre Atmungsorgane vor ihm. 195
Nun sind sie an Bord, sitzen stundenlang an der Reling, schauen uns an und warten. Das Essen, das wir ihnen bieten, verzehren sie höflich. Aber dazu sind sie nicht hergekommen. Sie sind keine Bettler. Wir geben den Männern Hemden, die sie zusammengefaltet in den Bug ihres Kanus legen. Sie sind auch nicht wegen Kleidung gekommen. Schließlich reicht uns einer der dunkeln Männer eine Zündholzschachtel mit ein paar verkrüppelten Perlen. Sie sehen aus wie ein bleiches Geschwür. Fünf Pesos will er dafür und weiß, sie sind es nicht wert. Wir geben ihm eine Schachtel Zigaretten und nehmen sie, obwohl wir das häßliche Zeug nicht mögen. Die Drei könnten nun gehen, aber sie denken nicht dran. Sie würden Wochen hier sitzen bleiben, ohne sich zu regen, ohne zu sprechen außer untereinander in leisem, weichem, säuselndem Flüsterton. Ihre dunkeln Augen lassen nicht von uns ab. Keiner stellt eine Frage. Es ist, als träumten sie. Wir haben diese und andre Indianer mitunter nach den einheimischen Namen der Tiere gefragt, die wir gefangen hatten. Dann pflegten sie Rats miteinander. Es ist, als lebten sie in den Dingen wie die Dinge in ihnen, wie das Gestade, die Klippen, die Düne, die Einsamkeit. Sie über die Gegend zu befragen, ist gerade so, als frage man sich selber: Wieviel Zehen hast du? Was? Zehen? Zehn natürlich. Ich kenne sie, seit ich lebe; ich habe nie daran gedacht, sie zu zählen … Natürlich wird es heute Nacht regnen, ich weiß nicht, warum. Etwas in mir sagt mir, es wird heute Nacht regnen. Gewiß bin ich das Ganze, jetzt, wo ich es mir überlege. Da muß ich doch wissen, wann es regnet. Die dunkeln, düstern Augen haben in den Pupillen 196
sonderbar rote Lichter. Es sind die Traumaugen eines träumenden Volkes. Willst du diesem zeitlosen Blick entgehen, brauchst du nur zu sagen: «Adiós, señor.» Langsam scheinen sie zu erwachen. «Adiós», sagen sie sanft. «Que vaya con Dios.» Sie paddeln davon. Sie haben uns Stille gebracht. Wenn sie fort sind, tönt einem die eigene Stimme laut und rauh in den Ohren … Wir beluden das kleinere Beiboot mit dem nötigen Sammelgerät und Behältern und setzten die Seekuh ans Heck. Sie hat sich selten geirrt, aber jetzt irrte sie, da sie sich einbildete, es ginge direkt zum Strand und nicht zum Korallenriff, das eine Meile entfernt lag! Dröhnend brauste sie los und legte eine Viertelsmeile zurück, bis sie merkte, daß sie sich getäuscht hatte. Das sollte ihr nicht noch einmal passieren! Die restlichen drei Viertel des Weges mußten wir rudern. Wie stets trugen wir auch hier beim Sammeln unsere Gummistiefel. Denn es gibt viele stachelbewehrte Tiere, darunter recht gefährliche. Eine Seeigelspezies ist äußerst giftig; manche Würmer, besonders Eurythoë, hinterlassen in der Haut Stacheln, die unbarmherzig brennen, und ein Bernikelschnitt ruft sofort eine Entzündung hervor. Handschuhe kannst du beim Sammeln nicht tragen. Da heißt es möglichst vorsichtig sein und aufpassen, wo man hinfaßt. Einige dieser kleinen Biester sind verdammt zudringlich. Wem die Vorsicht nicht angeboren ist, lernt sie bald, schon nach dem ersten Verband um einen der Finger. Die Füße sind durch die Stiefel einigermaßen geschützt. Allerdings gibt es einen Seeigel, dessen Stacheln so scharf sind, daß sie 197
den Gummi durchstoßen und im Fleisch abbrechen. Die Wunde ist schmerzhaft und infektiös. Pulmo ist, wie erwähnt, ein Korallenriff. Daß sich die riffbauende Koralle (Pocillopora capitata Verrill) nur an der Ostseite, nie an einer Westküste ansiedelt, wurde schon oft vermerkt. Auch hier bei Cabo Pulmo zeigte es sich. Mit Strömung oder Brandung kann das in keinem Zusammenhang stehen. Hier muß wieder einer jener unbekannten Faktoren im Spiel sein, die den Ökologen allgegenwärtig umgeistern. Wir fanden am Pulmo-Riff ein noch vielfältigeres, noch bewegteres Leben als am Cabo San Lucas. An die Korallen geklammert, sich in sie einbohrend auf ihnen wachsend, lebt eine überquellende Fauna. Jedes Stück der roten weichen Materie, die wir abbrachen, wimmelt und pulsiert von Leben, von winzigen Krabben, Würmern und Schnekken. Ein einziges kleines Korallen-Bruchstück barg unter Umständen dreißig bis vierzig verschiedene Spezies; ihre Farben sprühten. Aber die scharfen Stacheln des violetten Seeigels Arbacia incisa setzten uns gleich abscheulich zu und trieben einigen von uns, die unbesonnen drauflos stapften, ihre Spitze in oder zwischen die Zehen. Schrittweise enthüllten die weichenden Wogen das Riff und dessen flache Oberfläche. Wir sammelten so umfassend und rasch wir nur konnten, um einen Querschnitt alles hier Sichtbaren zu gewinnen. Da hingen purpurne Gorgonien gleich Spitzenfächern. Kleine Pufferfische blähten sich auf und zeigten ihre Stacheln, sobald man sie angriff. Wir sahen und fingen zahlreiche Seesterne, darun198
ter auch rotgoldene Kissen-Sterne. Die Eucidaris thouarsii, ein Seeigel mit keulenartigen Stacheln, fand sich in großer Anzahl in Felsennischen, aus denen sie sich anscheinend kaum fortrühren. Wir nahmen auch etliche Phataria unifascialis Gray mit, jene graziösen grünen und braunen Sterne, und die große schlanke fünfzackige Pharia pyramidata, deren Fortbewegungsfalten mit Plättchen bedeckt sind; ferner verschiedene Bernikel; mehrere Typen Mürbsterne und ein mächtiges, prächtiges Exemplar der Stachelschnecke. Eine große Halbkugelschnecke war mit Pflänzchen, Korallinen und andern Algen so gut getarnt, daß sie erst, nachdem man sie umgedreht hatte, vom Riff zu unterscheiden war. Steinaustern und Austern, Napfschnecken und Schwämme, zweierlei Arten Korallen, Erdnuß-Würmer, Seegurken gab es zu greifen und vielerlei Krabben, zumal jene die sich in junge Algen hüllen und dadurch wie Knöpfe aussehen; erst wenn sie sich auf dem Riff fortbewegen, erkennt man sie. Unter den vielen Würmern begegneten wir unserm eben erwähnten Spezialfeind Eurythoë, der so ekelhaft sticht. Aber wir hüteten uns blindlings zuzugreifen. Auch von heftig schnappenden Garnelen, von faserigen schwarzen und weißen Spinnenkrabben (Mithrax areolatus) und glatten roten Krebslein (Trapezia spp.) waren die Korallenbüsche dicht bevölkert, und bei allen ist der Sinn für Selbständigkeit hoch entwickelt. Schließlich sahen wir noch unter dem Riff eine große fleischige Gorgonia, Seefächer genannt. Freundlich winkte der Fächer im klaren Wasser, aber es war zu tief; wir konnten sie nicht erreichen. Ich zog mich aus, tauchte nach der fleischigen Gorgo, und mir war, als würde ich je199
den Moment von einem jener Seeungeheuer angegriffen, an die wir nicht glauben … Düster war es dort unter den Korallen, aber die Farben der Schwämme leuchteten stärker als droben im Licht. Ich blieb nicht lange, riß den großen Seefächer ab kam an die Oberfläche, und obwohl ich noch mehrmals tauchte, war dies das einzige Exemplar dieses Gorgonientyps, den ich finden konnte, das einzige auf unserer ganzen Reise. Nun aber waren die mitgebrachten Eimer, Tuben und Krüge so voll, daß wir das Wasser ständig erneuern mußten, um die Tiere am Leben zu halten. Wir brachen auch einige große Korallenäste und trugen sie in Eimern voll Meerwasser an Bord, wo wir sie in abgestandenes Seewasser, jeden in eine Pfanne, versetzten. Interessant! Weil das Wasser schal war, kamen aus den Röhren, Lükken, Höhlungen der Koralle ihre kleinen Untermieter zu Tausenden hervorgekrabbelt, um sich ein neues Quartier zu suchen; Würmchen und winzige Krebslein erschienen wie aus dem Nichts und ließen sich ohne weiteres auflesen. Ich vergaß: Der Meeresboden innerhalb des Korallenriffes ist weißer Sand und übersät mit purpurnen und goldenen Kissen-Seesternen, von denen wir viele einsammeln konnten. Und im Sand lagen Köpfe und Knöpfe der Porites porosa, einer andern Korallenart, die härter und regelmäßiger geformt ist als die riffbauende Gattung. Unser Eifer, möglichst viel zusammenzutragen, bevor wieder Hochwasser das Riff bedeckt, machte uns allerdings etwas wahllos, aber auf weitere Sicht war dies kein Schaden. Wieder an Bord gingen wir unsern gesamten Fund und 200
die Korallenäste sorgfältig durch und entdeckten dabei sogar Tiere, von denen wir keine Ahnung hatten. El Pulmo war das einzige Korallenriff, dem wir auf unserer Fahrt begegneten. Wir konstatierten, daß dort die gesamte Fauna, sogar die Algen besondere Anlagen und Organe entwickelt haben. Offenbar werden sie von keinem starken Wellenschlag heimgesucht. Denn selbst äußerst empfindliche Tiere gedeihen auf der freien Oberfläche des Riffs. Bei jedem heftigen Seegang würden sie hier zermalmt oder weggespült. Aber der Wettkampf ums Dasein tobt am Riff wie am Kap. Nur die Kampfmethoden sind an beiden Orten verschieden. In San Lucas eignet den meisten Tieren besondere Geschwindigkeit und Wildheit, während sich die von El Pulmo mehr auf Verstecken und Tarnen verlegen: Krebslein tragen die Masken von Algen, Bryozooen, ja sogar Schlauchtieren. Fast alles hat hier einen kleinen Tunnel oder Schlupfwinkel. Die Weichheit der Koralle ermöglicht, was der harte, glatte Granit von San Lucas nicht zuläßt. Öfters auf unserer Expedition wünschten wir uns eine Taucherausrüstung, doch nirgend so sehr wie auf Pulmo. Denn der dem Strand zugekehrte, unterhöhlte Rand des Korallenriffs birgt Wunder, vor denen der Forscher den Atem anhält, wie man zu sagen pflegt. Den Atem realiter anzuhalten und unter Wasser die Augen zu öffnen, um Umschau zu halten, ist schwerer. Das Wasser am Riff war sehr warm. Wir entledigten uns unserer Gummistiefel, zogen zum Schutz vor Stechgetier unsere Tennisschuhe an, tauchten von neuem nach schönen Korallengebilden und versuchten hierauf die Seekuh in Trab zu bringen. Sie aber zwang uns wieder zum 201
Rudern, worüber wir uns nach Ankunft an Bord bei unserm Mechaniker Tex so bitter beschwerten, daß er das boshafte Ding auseinandernahm und Glied für Glied untersuchte. Fassungsloses Staunen spiegelte sich in seinen Augen. ‚Wie kann man nur‘, dachte er, ‚eine so vollkommene Apparatur in die Welt setzen zum einzigen Zweck, daß sie nicht funktioniert?!‘ Aber nachdem er sie wieder zusammengesetzt hatte, machte er eine noch erstaunlichere Entdeckung. Sie war wasserscheu. Über den Wassern an Bord unseres Schiffes lief sie stundenlang. Sogleich nach unserer Rückkehr lichtete die Western Flyer den Anker, nahm Kurs gen Nordnordwest, und da die See wunderbar ruhig war, konnten wir unsere riesige Kollektion ohne Erschütterung in allen nur verfügbaren Emailpfannen und Glasschalen ausbreiten, entspannen, abtöten und konservieren. Das ging bis Einbruch der Dunkelheit. Danach saßen wir noch lange und schrieben Etiketten für die gefüllten Krüge und Tuben. Diese verpackten wir wieder in ihre Wellkartons und verstauten sie im Lagerraum. Die verkorkten Röhren wurden auf ihre Dichte und etwaigen Bruch genau untersucht, mit Zellstoff umwickelt und in Kisten verpackt. Hierdurch wurde jeder mögliche Schaden auf ein Minimum reduziert und durch die sofortige Beschriftung späteren Verwechslungen vorgebeugt. Nur schade, daß unsere großen und kleinen Behälter, so viele es auch waren, nicht annähernd reichten. Denn jedes Exemplar braucht den seiner Größe angemessenen Raum.
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Auf der Weiterfahrt durch den Golf begannen die Luftspiegelungen, von denen wir viel gehört und gelesen hatten, vor unsern Augen das Bild der Küste sonderbar zu verzerren. Es ist fast, als sei man berauscht oder plötzlich wahnsinnig geworden. Eine Landzunge spaltet sich jählings auf, wird zur Insel; das Meer scheint sich ins Binnenland zu ergießen; das Vorgebirge erscheint als pilzförmige Klippe, löst sich vom Boden, schwebt über der See. Selbst nahe dem Land ist man sich über dessen wahre Gestalt noch nicht im klaren. Man sieht Inseln, die der Karte nach nicht in Sicht sein können, während andere, nahe, unsichtbar sind, bis sie mit einmal die Fata Morgana durchbrechen. Unkörperlich ist das Land, das dich umgibt. Du lebst in alten Märchen von unsichtbaren Königreichen … Was mögen in diesem verzauberten Golf die ersten spanischen Entdecker empfunden haben? Mirakel waren ihre tägliche Kost. Vielleicht setzten sie darum ihre Füße nur um so fester auf den eroberten Boden. Gewöhnt an das Erscheinen von Heiligen, an Madonnen im Traume und Wachtraum, dünkte sie eine Fata Morgana vielleicht etwas durchaus Alltägliches. Wir haben in Mexiko viele wundertätige Bildwerke gesehen. Meist ist es ein Christusbild, das sich, von übernatürlichen Kräften getragen, auf einen Berg oder in einer Höhle niederließ, meistens in Krisenzeiten. Merkwürdig, daß die himmlischen Behörden zu ihren hiesigen Offenbarungen stets schlechte spanische Holzschnitzereien aus dem siebzehnten Jahrhundert wählen! Vielleicht orientiert sich im Himmel die Kunstkritik genau nach der Aufnahmefähigkeit einer Zeit. Es wäre allerdings mehr als wundersam, es 203
wäre geradezu empörend, wenn sich auf einem mexikanischen Berg oder unter einem Baum ein Epsteinscher Christus oder ein Vogel von Brâncusi oder Dali’s «Christus steigt vom Kreuz» niederließe. Es war gewiß für jene ersten harten Jesuitenpatres eine schwierige Aufgabe, auf die Indianer am Golf Eindruck zu machen. Denn die Luft ist hier von Wundern erfüllt; die Umrisse der Wirklichkeit wandeln sich jeden Moment. Die Himmel saugen das Land in sich ein und speien es wieder aus. Ein ewiger Traum überzieht die Gefilde. Die Erschütterung mittels Holzschnitzereien des Settecento war da wohl die einzige Möglichkeit. Handfest mußte das Wunder sein, sonst wirkte es nicht. Bei Luftspiegelungen wurde Kapitän Anthony Berry nervös. Denn hier lagen sich, vor seinen Augen, Recht und Unrecht, Richtig und Falsch in den Haaren. Was sollte er davon halten? Es ist leicht, sich hinzustellen und zu erklären: «Das Land ist da. Was es wegwischt, ist Trug, der durch das Licht, die Luft und den Feuchtigkeitsgehalt bewirkt wird.» Aber wenn jemand ein Schiff zu steuern hat, muß er sich nach dem richten, was er sieht, und wenn Licht, Luft und Feuchtigkeit, also drei wirkliche Dinge zusammenwirken, um zu schwindeln – woran soll da ein ehrlicher Realist noch glauben?! Tony konnte die Fata Morganen nicht leiden. Die Rollangeln waren ausgelegt, und während wir noch die heutige Ausbeute spezifizierten, biß wieder ein Skipjack an, ein feister flinker Katsuwonus pelamis. Ich rannte nach unserer Farbfilm-Kamera, um die wechselnden Tinten und Formen des sterbenden Fisches festzuhalten. Aber 204
es war wieder einmal falsch belichtet, und so wurde nichts draus. Schwertfische umspielen unsere Fahrt, als gelüste es sie, sich zur Schau zu stellen. Sie schnellen fast senkrecht empor, blitzen im Sonnenschein, zuweilen überschlagen sie sich und klatschen dann wieder aufs Wasser. Man nimmt an, daß sie das tun, um ihre Schmarotzer loszuwerden. Am gleichen Nachmittag sahen wir zum ersten Mal einen der riesigen Glattrochen, Manta genannt. Unsere Harpunen waren wurfbereit; eine leichte hatte gerade den Schwanz eines Schwertfisches getroffen, doch da der Widerhaken nicht durchgedrungen war, entwischte der Fisch. Zwecks Verfolgung des großen Rochens hätten wir wenden müssen, doch da wir zur Nacht die Isla Espirítu Santo erreichen wollten, um vor Punta Lobos zu ankern, verzichteten wir und erreichten die Heiliggeist-Insel vor Einbruch der Dunkelheit. Als wir uns anschickten, Anker zu werfen, sprang der Wind mit Macht um und veranlaßte Tony, Kurs auf das Festland zu nehmen. Wogen und Wind wuchsen von Minute zu Minute; unsere Sammeltiegel und Krüge liefen Gefahr, ins Meer gewirbelt zu werden. Es brauchte eine halbe Stunde angestrengter, hastiger Arbeit, bis wir alles versorgt, die Ausrüstungsgegenstände befestigt und die flatternden Sonnensegel, die unsern Spezimina Schatten gespendet hatten, wieder einzuziehen. Bei starkem Wind durchfuhren wir den Canal San Lorenzo nördlich La Paz und sahen – im Golf eine große Seltenheit – Leuchtfeuer brennen. Seit jenem, das wir am «Falschen Kap» erblickt hatten, waren diese die ersten. Durch Schaumwellen, zuweilen auch eine Sturzsee gelangten wir 205
in den Windschutz der Punta Pescadero. Langsam, ständig lotend fuhren wir in die Bucht. Nachdem der Anker glücklich unten war, kochten und verzehrten wir unsern delikaten Skipjack. Nach dem Essen ging es an die Gemeinschaftsarbeit. Denn da wir keinen Koch und keinen Tellerwäscher hatten, war vereinbart, hierbei sollten alle mit Hand anlegen. Allein wenn es galt, Teller zu waschen, drückte sich unser Maschinist. Angeblich hatte er gerade dann im Maschinenraum etwas wichtiges zu erledigen. Hätte er nicht immer die gleiche Ausrede vorgebracht, so wäre vielleicht seine Ruchlosigkeit nie an den Tag gekommen. So aber war in uns der Verdacht gekeimt, Tex sei dem Geschirrwaschen nicht gewogen, und wir äußerten dies nun unverhohlen. Tex stritt es energisch ab. Geschirrwaschen, sagte er, sei seine Lust. «Würdet ihr nicht auch tausendmal lieber Teller waschen, als ewig im Maschinenraum stehen und euch die Finger schmutzig machen, wo sie beim Geschirrwaschen so schön sauber werden? Und dann die Gefahr! Wie oft werden Menschen von einer Maschine getötet!» So appellierte er an unsere Einsicht; wir aber setzten seinem Plädoyer ein eisiges Schweigen entgegen, das ihm die Fassung raubte. «Ich habe einmal», versicherte er, «von Texas bis San Diego ununterbrochen Teller gewaschen. Seitdem liebe ich schmutziges Geschirr.» Er blickte vergebens in unsere kalten Augen. Der Schweiß brach ihm aus. Er gelobte, er werde uns später (wann, sagte er nicht) um die Vergünstigung bitten, sämtliches Geschirr waschen zu dürfen, aber gerade jetzt müsse er im Maschinenraum etwas richten: «Im Interesse der Schiffssicherheit.» 206
Niemand antwortete. «O Gott!» schrie er. «Wollt ihr mich aufhängen?» Da ergriff Sparky das Wort und sprach: «Tex, entweder wäschst du jetzt das geliebte Geschirr oder du schläfst mit ihm.» Drauf Tex: «Ich schwöre dir, sobald ich unten die Kleinigkeit fertig habe, wasche ich mit dem größten Vergnügen fünftausend Teller.» Er ging hinunter, und jeder von uns nahm eine Ladung Geschirr und legte sie sachte ihm in sein Bett. Daraufhin hat er seinen Widerstand aufgegeben, alles zurückgetragen und abgewaschen. Er murrte nicht. Aber in seinem Gemüt war eine Saite gerissen. Ein Licht war erloschen. Er brachte nie mehr die Ketchup-Flecken aus seinem Bettzeug. In der gleichen Nacht saß Sparky am Radio und bekam Verbindung mit der Fischerflotte, die von der Cedros Insel in südsüdöstlicher Richtung und um die Südspitze der Halbinsel bis in den Golf nach Tuna fischte. O diese bedauernswerten Fischer! Sie sind nicht glücklicher als die Farmer. Wie kann man bloß Fischer werden! Andauernd passieren ihnen die schrecklichsten Dinge. Sie verlieren ihre Netze, ein Fisch wird rabiat, Seelöwen gehen ins Netz, zerreißen es, um wieder auszubrechen, oder man fängt einen Baumstamm. Wenn’s keine Fische gibt, sind die Preise hoch; gibt es zu viele, so ist der Preis lächerlich niedrig; und erfände man selbst ein Mittel, daß der Fisch hinauf ins Boot schwimmt, sich über die Planken ins Fischbecken schlängelt und mit seinen Flossen das Eis über sich schaufelt – na, die Flüche kannst du dir nicht vorstellen! «Warum hat das verdammte Biest sich nicht entgrätet und we207
nigstens sein eigenes Eis mitgebracht!» Nie hat der Fischersmann eine glückliche Stunde. Ein einziger Schrei der Empörung über die Ungerechtigkeit der Elemente überschwemmte unsern Kurzwellenempfänger, solang wir vor Anker lagen. Das Buch, an dem man schreibt, ein Tag, den man dahinlebt, die Reise, die wir unternehmen, jedes hat seine besondere Eigenart. Was alles bei einer Schiffsreise zusammen- und auf einander einwirkt, Persönlichkeit, Zufälle, Gedanken, Unnatur und Natur, all dies und noch mehr gibt ihr das eigne Gepräge, so daß man am Ende entweder sagt: «Es war vergnüglich, lehrreich und gut», oder: «na, mäßig!» Und dabei bleibt es dann. Wir fuhren von einem zum andern Sammel-Halt, zu immer Neuem, und mit der Nacht, wenn der Anker fiel, kam Ruhe über das Schiff, und das Cortezmeer schlief. Wir aber sprachen, grübelten, spintisierten und tranken Bier. Und unser Gespräch wanderte von der Süßigkeit unvergeßlicher Frauen zur Bitterkeit unsrer vergeßlichen Spezies. A-a-ach! Wie müde wird man beim Sammeln. Sechs Wochen Ebbenarbeit, mehr kann ein Mensch kaum aushalten, wenn er so sammelt wie wir. Erst leuchtet dir jeder Fels, jedes Würmchen erregt deine Aufmerksamkeit. Weit, bunt und prächtig liegt alles vor deinen Augen. Aber nach anderthalb Stunden erschlaffen die Aufmerksamkeitszentren, die Farben verblassen, und das ganze Gebiet scheint sich auf ein einziges Tier zu verengen, zu konzentrieren. Merkst du, John, merkst du, Ed, wie deine Welt sich verengt, wie deine rege Anteilnahme zerflattert, ver208
weht …? Wie wird es erst sein, wenn mit dem nahenden Alter diese Ermüdung ein Dauerzustand wird, die Beobachtungsfähigkeit kränkelt und sich nimmer erholt? Ist es nicht vielen Männern der Wissenschaft so ergangen? Ihre Begeisterung, ihr Scharfsinn und Mitgefühl stumpften ab, und sie verkrochen sich in Schulmeisterei, denn die ist leicht. Und zugleich mit der Verkalkung stieg schmerzhaft die Erinnerung an einstige Regsamkeit auf, und die Trauer ob ihres Hingangs wandelte sich in Neid auf Menschen, in denen die Flamme noch glüht. Aus seinem scholastischen Schneckenhaus bekämpft der Verbrauchte mit billigen Waffen die Unverbrauchten. Der Verbrauchte braucht in einer Unmenge korrekter Feststellungen nur ein paar Fehlerlein zu entdecken; das genügt, um alle korrekte Leistung des Rüstigen unter den Tisch zu fegen und von diesen Pünktchen aus zum Angriff überzugehen. Welch kläglicher Anblick! Gar mancher Dozent, dessen Vorbild und Wort seiner Hörer Begeisterung weckte und beflügelte, verfällt am Ende darauf, die alten Vorlesungen bequem, blutleer und unverändert Jahr für Jahr herunterzuhaspeln. Vielleicht ist mein Erschlaffen am Ebbepfuhl das Vorspiel eines Zerfalls. Wir erkennen in einer Pfütze die Weite der Welt nur, wenn wir in uns die Spannkraft fühlen, die die Grenzen der Realität ins Unendliche weitet. Dann weist uns der Tümpel den Weg vom Urtierchen ins Universum, hebt uns hinaus über Zeit und Raum und Ökologie wird zum Synonym für das All. Sonderbar, wie verschieden der Zeitbegriff bei verschiedenen Menschen und Völkern ist! Die drei Indianer, die uns an Bord besuchten, haben ein völlig anderes Zeitge209
fühl, besser gesagt: eine andere Zeitwelt als wir. Ich denke mit Ed: Wir werden sie nie verstehen, solange wir nicht in ihre Zeitwelt eindringen, die wohl in das sich weitende Universum mündet und in ihm aufgeht. Blickt man auf geologische und paläontologische Zeiträume, so möchte man ausrufen: «Welch unglaubliches Intervall!» Ja. es ist nur ein Intervall, ein Zwischenraum. Wer sich um ein Bild astrophysischer Zeit bemüht, sieht vor sich Lichtjahre, Zeiträume, welche den Geist zerrütten müßten, legte sich nicht die Relativität aller Dinge ins Mittel und zeigte die Zeit und mit ihr die Weltenräume als ein sich pulsierend Dehnendes. Verwunderlich, wie die Einengungen alter Teleologien unsere Beobachtungen infiziert; wie das kausale Denken durch die Hoffnung beeinflußt wird! Hoffnung ist, wie oben gesagt, eine Spezialität der Spezies Mensch, und dies simple Schutzrinden-Symptom scheint ein primärer Faktor bei der Betrachtung unseres Universums. Hoffnung bedeutet die Umwandlung eines gegenwärtigen schlechten Zustands in einen künftigen bessern. Der Sklave hofft auf Freiheit, der Müde auf Rast, der Hungrige auf Nahrung. Und den Hoffnungszüchtern, wirtschaftlichen wie religiösen, gelang es, aus diesem primitiven Streben der Unbefriedigten Weltbilder zu schaffen, denen man sich nur mit Mühe entziehen kann – der Mensch wächst zur Vollkommenheit; das Tier reift zum Menschen; das Schlechte wandelt sich zum Guten; das Niedere steigt empor – bis unser kleiner Mechanismus Hoffnung es fertig bringt, quälendes Denken zu lindern, und unsere ganze Welt beeinflußt. Als unsere Spezies den Kunstgriff der Erinnerung 210
zeitigte (und mit ihm jene ausgleichende Projektion, die wir «Zukunft» nennen) mußte sich dieser Qual-Aufsauger Hoffnung einschalten, sonst hätte die Spezies sich in Verzweiflung vernichtet. Denn wäre je ein Mensch bis ins tiefste Unterbewußtsein dessen sicher, daß seine Zukunft nicht besser als seine Vergangenheit werde, er wünschte nichts anderes, als mit dem Leben Schluß zu machen. Und aus dieser wohltätigen Blähung bauen wir unsere eisernen Teleologien und flechten Pfützen, Gezeiten und Sterne hinein. Den meisten Menschen ist keine Feststellung so zuwider wie die: «Ein Ding ist, weil es ist.» Selbst solche, die die Gängelbänder einer Sonntagsschul-Gottheit abzustreifen vermochten, werden unbewußt von der alten Teleologie geleitet. Selbst in dem Satz, daß die Hoffnung unsere Qualen lindert, steckt noch die alte Teleologie – es sei denn man weiß, fühlt und denkt: ‚Wir sind, sind da, und ohne das Gegengewicht Hoffnung wären wir längst so wie viele andere Gattungen ausgelöscht‘; Dr. Torsten Gislén hat in einer Anfang 1934 in Stockholm * erschienenen vorzüglichen Schrift über fossile Stachelhäuter (betitelt: Entwicklungsläufe zu Tod und Erneuerung) dargelegt, daß Mutationen eher und häufiger als eine erhaltende Wirkung eine zerstörende ausüben. Zwar weist er dies nur bei seinen Stachelhäutern nach, aber wir sollten dabei auch an unsere eigene Spezies und ihre Mutation denken. Es habe in ihr, so wird gesagt und geglaubt, in historisch belegten Zeiten keine Mutation stattgefunden. Müssen wir uns da nicht erst fragen, wo eine Mutation beim Menschen platz* Ark. f. zool. K. Svenska Vetens., Bd. 26 A, Nr. 16. 211
greifen könnte? Der Mensch ist das einzige Lebewesen, dessen Tendenzen sich außerhalb seiner selbst befinden. Mögen Tiere Höhlen graben oder Nester bauen, mögen einzelne Gattungen (wie die Bienen, die Spinnen) sogar komplizierte Wohnungen herstellen, sie tun es mit ihren eigenen Säften und Kräften. Welt verändern sie damit kaum: die Welt, die von Menschen durchfurcht, zerschnitten, zerrissen, gesprengt und mit seinen Daseinsbrocken übersät ist! Keine angeborene technologische Eigenschaft hat zu diesen Erdumgestaltungen ihn gedrängt; nur sein Strebertum führte zu solch technischem Raffinement. Physiologisch bedarf der Mensch jener Prunkausstattung nicht, aber der Mensch als ein Ganzes verlangt sie. Denn er ist das einzige Tierweltgeschöpf, das außerhalb seiner selbst lebt, dessen Triebe auf äußere Dinge gerichtet sind: Besitzungen, Geld, Macht über andere. Er lebt in seiner Stadt, seiner Fabrik, seinem Geschäft, lebt seinem Amt, seiner Kunst, und da er sich in diese äußeren Komplexe projiziert, ist er mit ihnen eins. Sein Haus, sein Auto sind ein Teil von ihm, und zwar kein kleiner! Das demonstriert sich recht hübsch an der den Ärzten bekannten Tatsache, daß bei Männern, die ihr Vermögen verloren haben, sich meistens Impotenz einstellt. Wenn also menschlicher Drang und Sinn in äußeren Dingen liegt, dergestalt daß sogar sein subjektives Sein ein Spiegel der Häuser, Wagen, Getreide-Elevatoren ist, so liegt die Stelle, an der wir nach seiner Mutation zu suchen haben, in Richtung seines Dranges, das heißt: in den Dingen, an die sein Herz und sein Geist angewachsen sind. Hier finden wir in der Tat den Beweis für eine Mutation. Die indus212
trielle Revolution, der Zug zum Kollektivismus läßt sich ebenso gut als echte Mutation der Spezies ansehen wie die Verlängerung des Halses in der Entwicklungsgeschichte der Giraffe. Denn hier wie dort wie überall erfolgen die Mutationen offenbar in Richtung des Strebens der Gattung. Es liegt kein Grund für die Annahme vor, dies Streben müsse auf etwas Besseres gerichtet sein, und das gilt auch für die Vermassung, sofern sie als Mutation zu betrachten ist. Ed und ich haben der Paläontologie die Regel entnommen, daß Überornamentierung, Überschutz und Komplizierung Vorläufer des Untergangs sind. Und die Mutation unserer Spezies (für welche die Versammlungswut, die Massen- und Kollektivproduktion in Fabriken und auf Farmen, die mechanisierten Armeen Symptome und zugleich Beweise sind) wäre ein Gegenstück zu der verdickten Panzerung der Riesenreptilien, einer Tendenz, die in Vernichtung endet. Sollte diese Annahme wahr sein, so könnte nichts, was unserm Denken entspringt, sich ins Mittel legen oder die Sache abbiegen. Bewußtes Denken scheint auf das Tun oder die Richtung unserer Spezies geringe Wirkung zu üben. Da ist ein Krieg, den niemand kämpfen wollte, in dem keiner einen Nutzen erblickt, ein Krieg der Schlafwandler und Vampyre, dem meine und deine Intelligenz ohnmächtig gegenübersteht. Vor einiger Zeit hat der Congress, der aus anständigen Menschen besteht, die Bewilligung einiger hundert Dollar für Volksernährung abgelehnt. Aus vollster Überzeugung erklärten sie, unter einer derartigen finanziellen Belastung müsse die Wirtschaftsstruktur des Landes zusammenbrechen. Und bald darauf haben die gleichen noch genau so an213
ständigen Menschen unbedenklich viele Milliarden für die Fabrikation und Detonation von Explosivstoffen bewilligt, um dadurch dasselbe Volk zu beschützen, das sie vorher nicht ernähren wollten. Und so geht es weiter und weiter. Vielleicht ist dies alles ein Teil des Mutationsprozesses, und vielleicht wird die Mutation dafür sorgen, daß mit uns allen Schluß gemacht wird. Wir haben unser Vorhandensein dem Erdball ein- und aufgeprägt. Nur haben wir nichts dagegen getan, daß Bäume, Schlinggewächse, Eis, Verwitterung, daß alle Natur mit unserer Hinterlassenschaft in kurzer Zeit aufräumt. Und es ist seltsam, ist traurig und zugleich symptomatisch, daß die meisten Mitmenschen, die diese unsere Betrachtung lesen (die reine Spekulation enthält), es für einen Verrat an unserer Spezies halten werden, auf solche Weise zu spekulieren. Denn trotz des Beweises vom Gegenteil herrscht noch immer der Hoffnungstrieb. Ihm gilt der Mensch nicht als Spezies, sondern als eine sieghafte Rasse, die der Vollkommenheit entgegenschreitet. Dieser erhoffte Mensch wird sich selber befreien, wird emporfliegen zu den Sternen und sich dort niederlassen, wo er kraft seiner Tüchtigkeit, seiner Güte und Wunderkraft hingehört: zur Rechten von x – 1 . Von diesem majestätischen Throne aus wird er mit purer Intelligenz die Weltordnung dirigieren. Und dann – wenn unsere Spezies so fortschritt in die Vernichtung oder in Gottes Antlitz – werden auf Erden gewisse degenerierte Gruppen zurückbleiben, beispielsweise die Indianer von Niederkalifornien, werden im Schatten der Felsen oder reglos in einem Einbaum sitzen. Sie werden sich sonnen, werden essen, schlafen und beischlafen und haben mancherlei Sa214
gen, zaubrisch und trunken wie Luftspiegelungen. Vielleicht wird darin eine mächtige, gottähnliche Menschenart zur Begleitmusik explodierender Raketen oder in vier- bis zwölfmotorischen Bombern davonfliegen, da Gottes Stimme sie heimruft. Die Nächte im Golf sind sonderbar still. Das Wasser ist glatt, fast wie erstarrt, und der Tau so schwer, daß die Planken triefen. Leise zischend reiben die Wellchen den Muschelstrand. Im Finstern hört man die klatschenden Sprünge der Fische. Manchmal schnellt ein großer Rochen empor, fällt mit deutlich vernehmbarem Prall auf die Wasserfläche; immer wieder schwänzelt eine Schar Fischlein dicht an der Oberfläche; man hört sie, hört das leiseste Geräusch. Nur von Menschen spürest du keinen Hauch. Von allem, wodurch das Menschenvolk sich bemerkbar macht, siehst und hörst du in diesen Golfnächten nichts, nichts … Trotz der raunenden Wellen, der huschenden Fische umgibt dich ein Gefühl der Erstarrung. Todesstille … Man liegt vor Anker. Der Motor steht. Es ist schwer einzuschlafen. Kaum hörbare Laute lassen dich auffahren. Die Mannschaft liegt schlaflos. Wenn vom Ufer das Gebell eines Hundes odel das Muhen einer Kuh herübertönt, sind wir beruhigt. Zuweilen erhob sich nachts eine leichte Brise, und das Schiff ruckte am Anker und drehte sich langsam. Nichts ist so still wie ein Boot, wenn der Motor stillsteht. Da schwimmt es mit angehaltenem Atem, und man sehnt das tiefe Pochen der Zylinder herbei. 215
11 20. UND 21. MÄRZ
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as Südende der Isla Espirítu Santo sollte unser nächster Sammelort sein: dort wo das lange, schmale, gebirgige Eiland hoch und steil in die blaue Flut des Canal San Lorenzo stößt. Wir wollten gerade hier sammeln, um dann die Fauna des ungeschützten östlichen Inselrandes mit der im Schutze der Bahia de La Paz zu vergleichen. Wir suchten jeweils im gleichen Gebiet an solchen Orten zu arbeiten, die in bezug auf Wogenprall, Meerestiefe, Felsenbildung, Bodenbeschaffenheit, Blöße und Deckung, kurz in allen Lebensbedingungen möglichst verschieden waren. Dadurch kamen wir auf die Hauptunterschiede der Lebensformen. Früh morgens ließen wir die Punta Pescadero hinter uns und durchquerten in kurzer Fahrt wiederum den Canal San Lorenzo. Viele Manta-Rochen kreuzten nahe der Oberfläche; die Spitzen ihrer «Schwingen» ragten darüber hinaus. Sie schienen zu ruhen. Als wir uns näherten, verschwanden sie in der Tiefe. Ihre mühelose Geschwindigkeit ist erstaunlich. Mit Angeln fingen wir zwei behende, kräftige gelbflossige Tunas (Neothunnus macropterus). Mit wilden, harten Schlägen zerrten sie an der Schnur; es sah aus, als wollten sie sich den Kopf abreißen. Wir ankerten vor einem steinigen Strand, dem ersten am Golf, der uns die Möglichkeit gab, unter Steinen und 216
Felsblöcken zu suchen. Der Umstand, daß die kleineren Blöcke und Kiesel auf Sand ruhten, deutete auf einen uns neuen ökologischen Zustand. Alle außer Tony gingen mit Ed und mir an Land. Sparky und Tiny hatten sich bereits zu tüchtigen Sammlern entwickelt. Nun tat auch Tex Travis mit und war bald Feuer und Flamme. Seine Mitwirkung war uns hochwillkommen, denn bei solch summarischer Arbeit, bei der Kürze der Zeit und dem Umfang des abzusuchenden Gebiets kann man gar nicht genug Hände und Augen haben! Und dazu fühlen diese Seeleute für das Meer und die Meeresbewohner eine Liebe, die keine Gleichgültigkeit, keine Geringschätzung aufkommen läßt. Die Blöcke und Kiesel am Strand ließen sich bequem umwälzen. Sie sind groß genug, um die Tiere vor Wellen zu schützen, und nicht schwer aufzuheben. Sie waren mit kurzen Algen bedeckt und in rauhen Sand gebettet. Die hier dominierende Spezies ist die Sulfur-Seegurke, eine fast schwarzgrüne Holothuria lubrica, die aussieht, als sei sie mit Schwefel bestreut. Während die Flut vom seichten Strande zurückwich, erblickten wir sie zu Millionen gebüschelt, gehäuft zwischen Blöcken und unter Kieseln. Während der Ebbe, als die Tropensonne prall auf den Strand fiel, wurden sie größtenteils völlig trocken, ohne dadurch Schaden zu nehmen. Die meisten dieser lebenden Gurken waren 12 bis 20 cm lang, doch sah man auch viele Holothuria-Babies, etliche nicht länger als 2½ cm. Wir nahmen viele mit. An Zahl das zweitwichtigste Lebewesen an diesem Gestade ist der Ophiurans communis, ein Schlangenstern. 217
Am Pulmo Riff hatten wir davon einige Varianten gefangen, von denen wir gelesen hatten, sie seien im Golfgebiet sehr verbreitet. Hier sah man sie zu Teppichen ausgebreitet, in dunkeln, sich windenden, eng verflochtenen Bündeln, so daß man sie auf einen Schlag zu Hunderten aufheben konnte. Es waren fünf verschiedene Spezies, von deren jeder wir eine beträchtliche Anzahl mitnahmen. Denn beim Präparieren werfen diese «Mürben» oft ihre Arme ab oder verknoten sich unentwirrbar. Wir aber wünschten eine Reihe einwandfreier Exemplare. Von den reichlich vorhandenen Seesternen nahmen wir sechs Varianten. Der Unterschied zwischen den Ophiuren und den Seesternen drückt sich recht anschaulich in ihren zoologischen Namen aus. Beide stammen aus dem Griechischen. Die Wurzel «ophio» bedeutet: Schlange, und das Geschlecht der Ophiuren-Sterne weist am runden kompakten Rumpf lange schlangenartige Arme auf, während die Sterngestalt der eigentlichen Seesterne aus den mit «aster» (Stern) zusammengesetzten Namen verschiedener ihrer Gattungen spricht, z. B. Astrometis, Heliaster etc. (weitere siehe Index!) Wir fanden drei Gattungen Seeigel, darunter den giftigen, scharfstacheligen Centrechinus mexicanus; nahezu zehn verschiedene Krebsarten, vier Sorten Garnelen; Seeanemonen verschiedenen Typs, eine große Zahl Würmer, darunter unsere Feindin Eurythoë, die anscheinend den ganzen Golf unsicher macht; etliche Spezies Nacktmollusken und reichlich Erdnußwürmer. Auch von Chitonen, Napf- und Schlüssellochschnecken, verschiedenen Sorten der schmackhaften Venus- und Zangenmuschel, von Flachwürmern, Schwämmen, Moostierchen 218
und zahlreichen Schneckenarten waren die Steine und der Sand darunter bevölkert. Wieder füllten sich unsere Sammeleimer, so wählerisch wir auch waren. Wir holten vor allem Holothurien und Ophiuren. Soweit wir ihnen dann noch auf andern Stationen begegneten, wurde dies lediglich in unserm Sammlungsbericht vermerkt, es sei denn, sie zeigten besondere Varianten in Farbgebung oder Größe. Auf diese Weise wurden im weitern Verlauf der Expedition mehr und mehr Spezies nicht mehr gesammelt. Nur ihr Vorkommen wurde notiert. An Bord der Western Flyer legten wir unsere Tiere wieder in Tiegel und richteten sie zur Anästhesie. In einer der Seegurken, und zwar in ihrem After entdeckten wir einen kleinen Commensal-Fisch *, der sich dort sichtlich wohlfühlte; er bewegte sich mühelos hurtig hinein und heraus, immer mit dem Kopf nach innen. Nachdem wir ihn im Tiegel durch leichten Druck aus dem Innern der Gurke entfernt hatten, machte er schleunigst kehrt und kroch ihr wieder, den Kopf voran, in den Hintern. Der bleiche Teint des Höflings ließ erkennen, daß er sich dort gewohnheitsgemäß aufhielt. Interessant, wie die Gebiete manchmal von einer oder zwei Spezies beherrscht werden. An diesem Strand sind die dunkeln gelbgrünen Seegurken fast überall und gleich an zweiter Stelle die großen Holothurien. Keines der beiden verfügt über besondere Offensivwaffen, allerdings * Encheliophiops hancocki Reid. 219
scheinen auch beide von andern Tieren nicht als Delikatesse betrachtet zu werden. Es besteht anscheinend eine mittlere Linie, und eine Spezies, welche darüber hinauswächst, kann das betreffende Gebiet numerisch beherrschen. Sobald sie die Schwelle erfolgreicher Vermehrung und Arterhaltung überschritten hat, wird das ganze Bereich ihre Spezialresidenz. Zahlreiche andere Tiere, seien sie nun deren Futter oder deren Verzehrer, werden dann entweder vertilgt oder zur Auswanderung gezwungen. In vielen Fällen scheinen Ankunft und Sieg einer Spezies vom Zufall abzuhängen. In einigen nördlichen Gebieten, wo das Wintereis die Steine von ihren Bewohnern reinigt, bringt der Sommer bald diese bald jene Spezies zur Herrschaft. Der Erfolgsfaktor ist wohl die frühere Ankunft und damit der zeitigere Beginn der Vermehrung. * Wie bei den Menschen ist bei der maritimen Fauna die Priorität des Besitzes von ungeheurer Bedeutung für Fortdauer und Herrschaft. Doch zuweilen ergibt es sich, daß der große Erfolg einer Spezies ihren Ruin besiegelt. Wir haben Beispiele dafür, daß durch rapide, erfolgreiche Vermehrung eines Stammes der erreichbare Vorrat an Nahrung sich derart erschöpft, daß das numerisch dominierende Tier entweder auswandern oder eingehen muß. Auch kommt es vor, daß sich Nebenprodukte aus den Körpern der Tiere für eine zu große Konzentration ihrer eigenen Spezies als schädlich erweisen. Bei Beobachtung dieser kleinen Lebewelt ist man im* T. Gislén: «Epibiosenim Gullmar Fjord II», 1930 S. 157. Kristinebergs Zool. Station 1877–1927, Skrift ut. av K. Svenska Vetesn Nr. 4.
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mer wieder versucht, Parallelen zur Menschenwelt zu ziehen. Aber Analogieschlüsse sind für den Biologen eine Fallgrube, vor der er sich hüten muß. Vermenschlichungen wie «Der Bienenfleiß, die hausfrauliche Tugend der Ameise, die Bosheit der Schlange» geben eine absolut falsche Vorstellung. Nimmt man aber die Parallelen in bezug auf die Tiere nicht weiter ernst, so sind sie recht unterhaltend und zur Beurteilung menschlicher Dinge von Nutzen. Der oben geschilderte Wechsel in der Beherrschung eines Gebiets ist so ein Fall! Man denke sich eine Menschengruppe, die wie unsere Seegurken ein Gebiet und damit Sicherheit und Eigentum erobert hat. Sie dominiert, unterhält, um ihr Reich zu bewahren, eine Polizei, alimentiert sie, ist durch gute Kleidung, gute Behausung und gute Ernährung geschützt, sogar vor mancher Krankheit. Sie könnte sich massenhaft weitervermehren; ihr Samen könnte gar bald die Welt überziehen – aber im Kampf um die Herrschaft hat die Gruppe andere ihrer Spezies, die nicht so geschickt oder glücklich waren, hinausgeworfen. Und die wurden unstät. Mangelhaft bekleidet, schlecht ernährt, ohne Sicherung und feste Sitze treiben sie sich herum. Man sollte annehmen, sie würden zugrunde gehen. Aber das Umgekehrte tritt ein. Der dominierende Mensch verweichlicht, wird ängstlich, verwendet einen Großteil seiner Zeit darauf, sich zu sichern. Seine Vermehrung stockt; er bekommt weniger Kinder, und diese werden so gründlich beschützt, daß sie nicht mehr richtig imstande sind, sich zu wehren. Die Hungrigen, die Vertriebenen aber entwickeln besondere Kräfte. Sie haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Sie wissen sich zu ver221
teidigen und entwickeln bald eine Offensivtechnik, Regsamkeit, Angriffslust, Intelligenz in dem Maße, daß eines Tages die dominierende Gruppe weggefegt wird und die Unstäten, hungrigen Starken den geräumten Platz einnehmen. Und dann geht es wieder von vorne los. Der Emporgekommene dominiert; verschanzt und verweichlicht sich. Der Wechsel dominierender Gruppen und reicher Familien vollzieht sich ziemlich rasch; bei letzteren genügen gewöhnlich ein paar Generationen für Aufstieg, Blütezeit und Verfall. Zuweilen, wie im Fall des Zeitungskönigs Hearst, vollziehen sich Start, Glorie und Absturz in einer einzigen Generation, und es bleibt nichts. Nur dann und wann lebt etwas weiter, irgend ein geistiger Wert, der einem Individuum innewohnte … Während die Macht, die W. R. Hearst darstellte, schon vor seinem Ableben starb und bestenfalls verlacht, verachtet, wahrscheinlich aber vergessen ist, hat der Geist, hat das Denken eines Sokrates ihn nicht nur überlebt, sondern wirkt weiter wie ein lebendiges Wesen. Ein seltsamer Dualismus eignet dem Menschengeist und macht aus ihm ein ethisches Paradox. Er hat gute Eigenschaften und schlechte, d. h. er nennt die einen gut und die andern schlecht und hält an dieser Begriffsbestimmung durch die Jahrhunderte fest. Zu den guten zählen wir: Weisheit, Nachsicht, Milde, Wohltätigkeit, Gastfreundschaft, Freigebigkeit, Demut. Hingegen Grausamkeit, Selbstsucht, Raffgier und Habsucht gelten universell als sehr unerwünscht. Dennoch waren in unserer Gesellschaftsstruktur die für gut gehaltenen Qualitäten unveränderlich Begleiter des Mißerfolgs, während die soge222
nannten schlechten Eigenschaften Eckpfeiler des Erfolges sind. Nun wird der Durchschnittsbetrachter zwar in abstracto die guten Eigenschaften lieben und verehren, die schlechten aber verabscheuen, wird jedoch dessen ungeachtet Personen, die es dank der schlechten Eigenschaften zu etwas gebracht haben, bewundern und vor Leuten, die infolge ihrer Güte Schiffbruch erlitten, keinen Respekt haben. Ein solcher Betrachter blickt zu Sokrates, Jesus, St. Augustinus voll Liebe auf, weil sie Symbole des Guten sind, das er bewundert, während er die Symbole des Schlechten haßt. Tatsächlich aber möchte er lieber erfolgreich als gut sein. Beim Tier dürfte man den Terminus «gut» durch «schwach-überlebender-Teil» ersetzen, den Terminus «schlecht» durch «stark-überlebender-Teil». Mithin bewundert der Mensch in seinem durch Bewußtsein kontrollierten Denken den Gang zum Untergang, doch seine nichtdenkenden Triebe, welche in Wahrheit sein Handeln bestimmen, drängen ihn zum Überleben in Macht und Fülle. Kein Tier ist in eine derartige Alternative geklemmt. Der Mensch ist ein Paradox auf zwei Beinen. Er hat sich nie an das tragische Wunder seines Gewissens gewöhnt. Vielleicht ist die Spezies Mensch noch nicht recht fertig, nicht ausgegoren, ist in diesem Werdezustand infolge physischer Erinnerungen verknüpft mit den hemmungslosesten Kämpfen um einen Platz an der Sonne und zugleich gehemmt durch ein beschwerliches Bewußtsein, das man Ethos, Moral, Humanität oder Gewissen nennt. Auf der Western Flyer bereitete uns Sparky Enea Thunfisch in Tomatensauce mit Gewürzen und Zwiebeln – ein lukullisches Mahl! Jeder einzelne Block oder Kiesel, den 223
wir gewälzt hatten, war ja nicht schwer gewesen, aber alles in allem wog dies Gestein viele, viele Tonnen, und jetzt sollte das Sortieren, Konservieren und Etikettieren beginnen …! Nein, erst ein kühles Bierchen; in diesem Stadium der Müdigkeit ist das für uns die beste Rast! Ein Einbaum war inzwischen an unser Backbord gekommen. Zwei Indianer klommen herauf. Ihre Kleidung war etwas besser als die der drei Gestrigen. Da sie im Kanu bis La Paz kaum einen Tag brauchten, waren sie etwas von städtischer Zivilisation beleckt, ihre Kleider zwar ausgefranst und geflickt, aber wenigstens keine Lumpen. Wir hießen Sparky und Tiny Colletto einen leichten Wein bringen, und nach je zwei Gläsern wurden unsere Gäste so hübsch gesprächig, daß ich dachte: ‚O weh! Indianer vertragen doch keinen Alkohol!‘ Aber nachher stellte sich heraus, daß Tiny und Sparky den Wein großzügig mit purem Scotch «verdünnt» hatten. Zwei große Gläser von solchem Whisky-Wein hätten jeden von uns umschmeißen können. Aber den Beiden tat es nichts. Sie tauten nur auf. Ein Gegenbeweis gegen die Alkohol-Intoleranz der Indianer. Die Zwei waren barfüßig, hatten die ortsüblichen Eisenharpunen bei sich und unten im Kanu einen großen Fisch. Ihr Fahrzeug war für die Gegend typisch und in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Da hier keine hohen, genügend dicken Bäume wachsen, kommt das Holz vom gegenüberliegenden Festland; der Einbaum war in Mazatlan aus einem Stamm Leichtholz geschnitzt und innen versteift. Bug und Heck hatten die gleiche Form. Zuweilen sieht man auf diesen seefesten Einbäumen ein kleines Segel. Meist aber werden sie von zwei Mann, an jedem Ende 224
einer, gepaddelt. Das Holz ist außen wie innen mit dünnem weißem oder blauem Mörtel beworfen und dadurch sehr hart und absolut wasserdicht. Woraus der Mörtel besteht, war nicht in Erfahrung zu bringen; anscheinend werden dazu zermahlene Muscheln verwendet. Ein junger Mann mit einem solchen Nayarit-Kanu, Hosen, Hemd, Hut und einer Eisenharpune ist für sein Leben versorgt, fühlt sich innerlich sicher, ist überall gerne gesehen und kann getrost eine Familie gründen. Man hört oft, die Mexikaner seien glückselige Leute, «immer zufrieden, ohne Bedürfnisse …» Aber wer so etwas behauptet, sagt damit nichts über mexikanische Seligkeit aus, nur über seine eigene Unseligkeit. Die Amerikaner und wahrscheinlich alle nördlichen Völker sind aus innerer Haltlosigkeit Gernegroße. Ihr Streben erwächst aus Unsicherheit. Man sagt, das heftige Interesse für Karten-, Glücks- und Geduldspiele, für das geistige Labyrinth des Contract-Bridge, für das berechnende Stoßen kleiner weißer Kugeln mittels Stöcken, rühre von innerer Öde. Es kommt eher von inneren Komplikationen. Langweile entsteht seltener daraus, daß man sich zu wenig als daß man sich zu viel Gedanken macht, von denen keiner schlicht und klar ist. Bridge ist ein Mittel, um die tausend kleinen Aufregungen zu vergessen, die das anarchische Hirn überfüllen. Das Bridge-Resultat ist simpel und klar. Aber im Leben der Bridgespieler ist alles unklar und resultatlos. Daher flüchten sie aus dem Durcheinander ihres Denkens und Fühlens in irgendeinen geregelten Vorgang, sei es auch nur ein Spielchen. Möglich, wenn auch nicht unbedingt sicher ist, daß des armen mexikanischen Indianers 225
Leben weniger wirr verläuft. Er zeugt Kinder, spießt Fische, betrinkt sich und geht wählen. Das sind klare, in sich geschlossene Handlungen, bei der ein Resultat herauskommt. Dies gilt auch von den dort üblichen Beamtenbestechungen. Von Amerikanern wird so etwas in Bausch und Bogen verurteilt, und ist doch ein einfaches, leichtes Verfahren. Es erfolgt ein Vorschlag, ein Preis wird genannt und gezahlt, liebenswürdige Worte werden gewechselt, die Leistung erfolgt und damit Schluß. Keiner geht den andern mehr etwas an. Es ist wie der alte reelle Kauf gegen bar oder wie der noch ältere Tauschhandel. Mir gefällt die do-ut-des-Bestechung weit besser als unser auf «Beziehungen» beruhendes System. Bei uns wird nichts abgemacht, kein Preis genannt; alles bleibt im Unklaren. Wir gehen mit unserm Anliegen zu einem Freund, der einen Richter kennt. Unser Freund geht zu diesem Richter. Der Richter kennt einen Senator, und dieser steht gut mit dem Chef einer Einkaufszentrale. Auf diesem nicht ungewöhnlichen Weg gelingt es uns, fünf Fuhren Holz zu verkaufen. Aber damit fängt die Geschichte erst an. Jedes Glied der Kette ist dem andern verbunden. Drei Jahre später muß dem Sohn des Einkaufchefs zu einer Anstellung in Annapolis verholfen werden. Der Senator braucht abermals drei Jahre später für einen guten Freund Einfuhrbewilligungen mit mehrjähriger Gültigkeit. Nach vier Jahren sucht der Richter Stimmen: die unseres Freundes und seiner Freunde, und unser Freund schickt uns andauernd Freunde auf den Hals, damit wir sie anstellen. Es wäre für uns viel einfacher und billiger gewesen, hätten wir damals zu dem Einkaufchef gehen und ihm den Auftrag mit 25 % 226
des für die 5 Fuhren bewilligten Preises honorieren können. Aber das wäre unanständig, wäre Bestechung gewesen. Schließlich haßt jedes Glied der Protektionskette jedes andere, während der ehrliche Bestechungshandel keinen zu unbekannten Leistungen zwingt, auf gegenseitiger Achtung beruht und oft genug aufrichtige Sympathie zur Folge hat. Denn wenn der Bestochene dich hintergeht, ist er für dich erledigt, für andere auch. Hält er jedoch sein Wort, so könnt ihr einander immer vertrauen. Ob die Mexikaner glücklicher sind als wir, kann man nicht wissen. Vermutlich sind sie genau so glücklich und unglücklich wie wir; nur ist ihr Glücks- und Unglücksgefühl von dem unsern ebenso verschieden wie ihr Zeitgefühl und uns ebenso unzugänglich. Doch ist es schon ein Gewinn, zu wissen, daß dem so ist. Während die zwei Indianer weiter von dem Zeug tranken, das ich für Wein hielt und von dem sie vermutlich annahmen, es sei irgendein teures ausländisches Getränk (es muß sehr schlecht geschmeckt haben, um für sehr ausländisch und sehr teuer gehalten zu werden), entwickelten sie eine Redebegabung, die wir bei diesem Volke häufig bemerkt haben. Es sind geborene Redner, ihre Sätze anmutig gebaut und reich an Metaphern und eleganten Gleichnissen. Der Ältere hielt eine prächtige politische Ansprache und zeigte sich als glühender Verehrer des Generals Almazan, der damals mexikanischer Präsidentschaftskandidat war. Er verglich dessen militärische Tugenden mit denen eines Kriegsgottes, ob des Ares, des Mars oder des Huitzilopochtli verriet er uns nicht. An äußerer Schönheit stammte der General offenbar von Apoll, 227
nicht dem von Belvedere, sondern einem früheren etwas kompakteren. An Güte, Weisheit und Vorbedacht rangierte Almazán ein Stück über den Halbgöttern. Der Redner rühmte sogar des Kandidaten Leistungsfähigkeit im Bett, jedoch ohne zu sagen, woher er das wußte; wahrscheinlich war der General bei seiner weiblichen Wählerschaft dafür bekannt und geschätzt. «Er ist ein starker Mann!» rief unser Redner und hielt sich am Backbordmast fest. Einer von uns rief dazwischen: «Wenn er gewählt wird, gibt es dann mehr Fische für die Armen?» Der Orator nickte weise. «So ist es, mein Freund.» Später kam uns zu Ohren, daß der Gegenkandidat, General Camacho, viele der genannten Tugenden mit seinem Gegner gemein hatte, und da er gewann, offenbar in noch höherem Ausmaß. Denn in der Politik siegt immer die Tugend, und wenn sich so zwei Tugendkolosse gegenüberstehen wie hier, läßt sich der Grad ihrer Vollkommenheit nur konstatieren, indem man die Stimmen zählt. Wir waren darauf gefaßt, früher oder später eine Erklärung für unsern Aufenthalt im Golf und unsere Tätigkeit abgeben zu müssen, und zwar eine kurze und überzeugende. Leuten, die im Schweiß ihres Angesichtes damit beschäftigt sind, genug Nahrung und Kinder zu produzieren, läßt sich unmöglich klarmachen, daß man nur hergekommen ist, um unnütze Tierchen aufzulesen und dadurch unser Weltbild zu erweitern. Das glaubten wir ja selber kaum. Wir brauchten eine Erklärung, die jedermann befriedigen mußte. Ed hat einmal einen langen Fußmarsch durch die Südstaaten unternommen und anfangs auf Befragen erklärt, er tue das, weil er das Wandern 228
liebe und auf diese Weise das Land deutlicher fühle und erkenne. Aber damit stieß er überall auf Unglauben und Mißtrauen. Es klang wie eine Lüge. Schließlich sagte ihm jemand: «Mich führen Sie nicht hinters Licht! Ich weiß, es handelt sich um eine Wette.» Diese Erklärung hat sich Ed mit Freuden zu eigen gemacht und wurde seitdem von jedermann geschätzt und verstanden. Ein fast ebenso plausibles Motiv legten wir uns nun zurecht und bedienten uns seiner während der ganzen Fahrt. «Wir sind», erklärten wir, «Raritätensammler, Händler mit Kuriositäten. Die süßen Tierchen und Muscheln liegen hier herum, und weil es so viele gibt, zahlt kein Mensch was dafür. Aber in New York ist so etwas eine Seltenheit. Reich kann man damit nicht werden, aber ein bißchen was springt aus dem Verkauf heraus. Außerdem macht es uns Spaß, die Dinger zu fangen.» Das verstand jeder, und viele brachten uns allerhand angeschleppt, wovon sie dachten, wir könnten es für unsere Kuriositätensammlung gut brauchen. Sie schworen darauf, wir würden damit ein Heidengeld verdienen. Dem Himmel sei Dank, daß sie nicht dabei waren, als man auf der Rückfahrt beim Zoll in San Diego den Wert unserer ganzen Ausbeute, Tausende eingepökelter Tiere, auf $ 5.– taxierte. Wie tief wären wir in der Achtung unsrer Indianer gesunken! Obwohl sie beim Abschied ziemlich beschwipst waren, vergaßen sie nicht, eine Tracht geleerter Tomatenbüchsen mitzunehmen. Die schätzen sie fast ebenso hoch wie wir ihre Seesterne. Eigentlich hätten wir diese Nacht nicht nach La Paz fahren sollen, denn der Pilot hatte seine Kurzwellenstunde, 229
und jeder Anruf außerhalb dieser Zeit kostet das doppelte, aber wir wollten unbedingt nach La Paz. Wir hatten kein Bier mehr, und das Wasser in unsern Tanks schmeckte uns nicht. Als wir es einfüllten, hatte es uns genau so wenig gemundet und war seitdem nicht besser geworden. Wir wären zwar nicht verdurstet; schließlich hätten wir das Zeug doch getrunken, aber wir sehnten uns nach La Paz. San Lucas war nur ein Drecknest gewesen, und die ganze Schiffsbesatzung empfand ein dringendes Verlangen nach Zivilisation, denn nirgends kann man sich auf so amüsante Art unzivilisiert benehmen wie in der sogenannten Zivilisation. Außerdem übt La Paz einen ganz besonderen Zauber aus. Im ganzen Golfbereich ist diese Stadt ob ihrer Größe berühmt. Das hörst du hier überall. Sie sei zwar nicht ganz so groß wie Guaymas oder Mazatlan, aber dafür über alle Maßen schön. Um an einem Feiertag dort zu sein, paddeln die Indianer oft mehrere hundert Seemeilen. O welcher Stolz, in La Paz geboren zu sein! Aus der Zeit, da La Paz die Perlenmetropole der Welt war, schwebt noch heut eine zaubrige Wolke über dem Ort. Die Gewänder der spanischen Könige, die Stolen der römischen Kardinäle und Päpste strotzten ehedem von La-PazPerlen. Der Name klingt immer noch märchenhaft. Es ist eine alte Stadt, so alt, wie es im Westen nur eben möglich ist, und die Indianer verehren sie ob ihres Alters. «Guaymas», sagen sie, «ist fleißiger, Mazatlan vielleicht lustiger, aber La Paz ist antigua …!» Der Golf und seine Gestade waren für Kolonisierungsversuche stets ein ungünstiger Boden. Kaum eine Niederlassung konnte sich dauernd halten. Die Halbinsel 230
wünscht keine Menschen. Aber die Perlenaustern von La Paz lockten aus der ganzen Welt Männer und Weiber herbei, und wie überall, wo plötzlich Bodenschätze erscheinen, trat auch die nackte Gier zutage. Eine kleine Begebenheit, die sich erst in den letzten Jahren hier zutrug, ist typisch. Durch Zufall fand ein Indianerboy eine Perle von unglaublicher Größe. Ihr Wert war so groß, daß er sein Leben lang nicht mehr hätte zu arbeiten brauchen, und er wußte: ‚Ich kann mich so oft und so lange betrinken, wie ich nur will. Ich werde das schönste Mädchen heiraten und außerdem noch viele andere beglücken.‘ Auch sein Seelenheil und das seiner Lieben ruhte in dieser herrlichen Perle. Denn er konnte nun viele, viele Messen pränumerando bezahlen; die würden seine arme Seele und die manches dort schmorenden lieben Verwandten aus dem Fegefeuer herausdrücken, wie man aus einer Wassermelone die Kerne herausquetscht. In der Hand die Perle, im Herzen sein glückliches Schicksal in Zeit und Ewigkeit, eilte er nach La Paz zu einem der Perlenhändler. Der aber bot ihm dafür so wenig, daß er voll Wut wieder wegging. Er wollte sich nicht übers Ohr hauen lassen, ging zu einem zweiten Juwelier; dieser bot ihm aufs Haar die nämliche Summe, und nachdem er sein Glück noch bei etlichen andern Agenten und überall mit dem gleichen Ergebnis versucht hatte, war ihm klar, daß alle miteinander unter einer Decke steckten und er für seinen Schatz nirgends mehr erlösen könne. Da begab er sich an den Strand und verbarg seine Kostbarkeit unter einem Stein. In der folgenden Nacht wurde er mit einem Keulenhieb 231
bewußtlos geschlagen und seine Kleidung durchsucht. Am nächsten Abend übernachtete er bei einem Freund, aber da kamen mehrere Kerle, banden und knebelten die Freunde und durchstöberten das ganze Haus. Um seinen Verfolgern zu entrinnen, lief der Junge landeinwärts, wurde abermals überfallen und sogar gefoltert. Er aber verriet sein Versteck mit keiner Silbe. Er wurde nur immer zorniger. Und nun wußte er, was er zu tun hatte. Verwundet, wie er war, schleppte er sich im Schutze der Nacht zurück nach La Paz, schlich wie ein verfolgter Fuchs zum Strand, holte seine Perle unter dem Stein hervor, sprach einen Fluch über sie aus, schleuderte sie, so weit er nur konnte, in den Canal San Lorenzo und war wieder ein freier Mensch. Und obwohl nun seine künftige Existenz und sein ewiges Seelenheil äußerst fraglich waren, stieß er ein schallendes, triumphierendes Lachen aus. Fast möchte man die Geschichte, obwohl sie wahr zu sein scheint, für ein erfundenes lehrreiches Gleichnis halten. Dieser Boy ist mir zu heroisch und zu gescheit. Er weiß nicht nur viel; er handelt auch danach, und das kommt bei Menschen sehr selten vor. Es mag sich so zugetragen haben. Aber wir glauben es nicht. Die Geschichte ist zu vernünftig, um wahr zu sein. Während wir noch vor Espirítu Santo ankerten, jagte eine schwarze Jacht an uns vorbei. Auf ihrem Hinterdeck unterm Sonnendach rekelten sich elegante weißgekleidete Damen und Herren, hatten Eisdrinks neben sich stehen, und wir, wir ärgerten uns, daß wir kein Bier hatten. Gereizt schrie Tiny Colletto hinter ihnen her: «In so einem Hopphopp-Ding fahren nur Schwule!» Und dann, sich 232
bezähmend, entschuldigend: «Ich kann es nicht mit Bestimmtheit behaupten; ich bin nicht homosexuell.» Die Jacht verschwand hinterm Horizont, und fast an der gleichen Stelle erschien der uralte Schrecken der Meere: ein schwarzer Frachter, schmutzig, verwahrlost, unheimlich. So taumelte er mit Schlagseite in Richtung La Paz. Dort sahen wir das Gespensterschiff nachher im Hafen. Tex sagte zu einem Mann an der Mole: «Die Kiste sinkt ja!» und der Mann antwortete ruhig: «Sie sinkt immer.» Auf der Western Flyer grassiert die Eitelkeit. Die Kleider werden unbarmherzig gewaschen, Schuhe gewichst, Mützendeckel geglättet, Hosen entfleckt, und überall hängt etwas zum Trocknen. Das ganze Schiff stinkt nach Haaröl und Bayrum. Das Baden, Haarschneiden, Kämmen, Rasieren nimmt kein Ende. Das Spieglein über der Waschgelegenheit hinterm Deckhaus wird eifrig benutzt. Jeder guckt hinein mit dem forschend scheuen Blick eines Tanzgirls vor seinem Auftritt. Der Anblick befriedigt uns nicht, aber was kann man dagegen tun? Weiß der Teufel, wen oder was wir in La Paz zu finden hofften! Was es auch sein mochte, wir machten uns dafür schön. Bevor wir an Land gingen, spülten wir noch das Fischblut vom Deck, räumten die Gerätschaften weg, legten die Taue in graziöse Spiralen und wuschen sogar einige Teller, Wenn just keine Luxusjacht im Hafen lag, wollten wir als Elegants auftreten, falls aber Gefahr bestand, durch derartige Konkurrenz ausgestochen zu werden, waren wir entschlossen, die ruppigen, wetterfesten Seemänner zu spielen. Glutäugige Spanierinnen mit Mantilla und hohen 233
Kämmen im Haar waren das mindeste, was wir auf der Strandpromenade zu erblicken hofften. Sogar unserm unnaivsten Expeditionsteilnehmer, Mr. John Steinbeck, schwebte so etwas vor wie die Eingangsszene des Hollywoodfilms «Life in Latin America»: Tänzer im Vordergrund, rückwärts Wirtshaustische voll Nationaltrachten; Männerchor (springt auf, singt:) I met my love in La Paz Satin and Latin she was. Wir versammelten uns auf dem Deckhausdach. Vor uns lag aufgeschlagen der «Küstenpilot». Sogar Kapitän Tony, der Besonnene, war mitgerissen. Statt seinem alten Filz trug er eine lustige weiße Seemannsmütze mit Goldkokarde, einer Kombination von Feldartillerie- und UBoot-Abzeichen, gekrönt von einem pfeildurchbohrten Herzen. Ich habe so oft den Geist und Stil des «Küstenpilot» bewundert, daß ich den Text, den Tony uns vorlas, zitieren möchte. Die Autoren dieses unschätzbaren Nachschlagewerks sind weise Ironiker. Sie wissen, sie schreiben für geistig Minderwertige, und geben sich keinerlei Illusionen darüber hin, daß ihre minutiösen Angaben, selbst wo sie unmöglich mißzuverstehen sind, bestimmt falsch verstanden werden. Am liebsten wäre ihnen, wenn die Küste, das ganze Meer mit den diversen Bojen und Lichtern sich niemals verändern würde. Winde und Stürme dürften nur zu festgesetzten Zeiten zulässig sein, aber am sehnlichsten wünschen sie sich, ihr Leserkreis möge ihre Instruk234
tionen kapieren. Ach, keiner dieser bescheidenen Wünsche ging je in Erfüllung. Die Küstenpilot-Autoren schreiben sachlich und ruhig, und nur zuweilen, wenn es sich um die Beleuchtung und den Hafendienst handelt, klingt aus ihren gütigen Worten eine leise Bitterkeit auf. Es folgen die auf La Paz bezüglichen Stellen aus «H. O. 84. Fahrtanweisung für die Westküsten Mexikos und Mittelamerikas, 1937, verbesserte Aufl. Januar 1940», S. 125 unter der Überschrift: DER HAFEN VON LA PAZ La Paz Hafen ist jener Teil des La Paz Kanals, der sich zwischen dem in nächster Nähe von La Paz befindlichen Meeresufer und dem Ostende von El Mogote befindet. El Mogote ist eine niedrige, sandige, buschbewachsene Halbinsel, die sich von Osten nach Westen in einer Länge von rund 6 Seemeilen erstreckt. Sie mißt 1½ Meilen an ihrer breitesten Stelle. Diese bildet die Nordseite von Ensenada, einer großen Lagune, welche ihrerseits in eine kleine, dicht mit Bäumen, Büschen und Kaktus bewachsene, flache Ebene (!) gebettet ist. Das Wasser der Lagune ist größtenteils seicht, doch besteht eine Fahrtrinne mit Tiefen von 2 bis 4 Faden. Diese Fahrtrinne beginnt am nordwestlichen Teil der Lagune und führt bis La Paz Hafen. La Paz Hafen hat eine Weite von ½ bis ¾ Seemeilen, ist aber fast ganz mit Treibsandbänken gefüllt, durch welche sich ein Kanal mit 3 bis 4 Faden Tiefe hindurchwindet. Eine Untiefe mit Tiefen von nur 1 bis 8 Fuß erstreckt sich nördlich des Ostendes von El Mogote bis 400 Yard vor der Prieta-Spitze und schützt La Paz Hafen vor den durch Nordwestwinde verursachten Sturzseen. 235
Der La Paz Kanal befindet sich zwischen den eben erwähnten Untiefen (resp. Sandbänken) und dem Festland, erstreckt sich von der Prieta-Spitze bis in Höhe der Stadt La Paz, hat eine Länge von ca 3½ Seemeilen und eine Tiefe von offiziell 3 ½ Faden, aber auf diese Tiefe ist kein Verlaß. Fahrzeuge mit 13 Fuß Tiefgang können den Kanal bei jedem Gezeitenstande passieren. Der Kanal ist eng, hat zu beiden Seiten steile Böschungen; die Tiefe wechselt da und dort innerhalb eines Abstandes von 20 Yard von 3 Faden bis herunter auf 3–4 Fuß. Das Tiefwasser des Kanals und die zu beiden Seiten vorspringenden Untiefen lassen sich schon von weitem deutlich erkennen. 1934 wurde im Kanal eine Tiefe von 16 Fuß amtlich festgestellt. Ein 9 Fuß tiefer Kanal, von Küstenfahrzeugen häufig benutzt, führt etwa 1 Seemeile süd-südöstlich der Prieta-Spitze quer durch die Sandbänke in den La Paz Kanal. Durch diese Gegend des Kanals (Peilung 1290) zieht sich die Caymancito-Klippe. Warnungszeichen. Auf der Höhe der Prieta-Spitze am Eingang zu dem nach La Paz führenden Kanal befinden sich drei Warnungszeichen: je eine in den Meeresboden gerammte Röhre von 3 Zoll Durchmesser. Alle drei ragen nur wenige Fuß über den Wasserspiegel hinaus. Diese Balken sind zur Flutzeit auch bei Tag schwer zu erkennen und nachts unbeleuchtet. (Wer bemerkt nicht diese leise Bitterkeit, die hier das Herz des Küstenpiloten bewegt? Wir bemerkten sie.) Leuchtfeuer. Drei Paar feststehende Kabelbaken, jedes mit einem Licht, markierten den Kanal von La Paz. Das erste Paar befindet sich am Ufer beim Kanaleingang etwa eine Meile südöstlich der Prieta-Spitze, das mittlere auf einem Hügel etwa ¼ Meile süd-südöstlich der Caymancito-Klippe, das dritte ungefähr ¾ Meilen nordöstlich des Stadtquais von La Paz. 236
Hafenbeleuchtung. Am T-förmigen Ende des Stadtquais von La Paz hängt an einem 18 Fuß hohen Posten eine Laterne, eine zweite an einem 20 Fuß hohen Pfosten, die erstere am Nordende, die letztere am Südende des T-Balkens. Beide Pfosten sind aus Holz. Ankerplätze. Schiffe, die auf einen Piloten warten, können südlich der Prieta-Spitze ankern. Tiefe 7 bis 10 Faden. Sie können auch nördlich von El Mogote ankern, sind aber dort dem Wind und dem Seegang ausgesetzt … Das beste Hafenbecken oberhalb der Stadt liegt 200 bis 300 Yard wesdich des Quais. Tiefe etwa 3½ Faden. Treibsand! Führung durch Lotsen ist für nicht einheimische Fahrzeuge obligatorisch. Der Pilot kommt in einem kleinen Motorboot mit weißer Flagge, auf die der Buchstabe P gemalt ist, und besteigt das ankommende Schiff in der Nähe der Prieta-Spitze. Obwohl die Piloten die Schiffe auch nachts in den Hafen lotsen, ist es nicht ratsam, bei Nacht dort einzufahren.
Müssen solche mit einem Genauigkeitstrieb ausgestattete Wasserautoren nicht aus der Haut fahren, wenn ihre musterhafte Ordnung durch unvernünftige Naturkräfte und noch unvernünftigere Menschen untergraben wird? Der Treibsand im Kanal, die drei Warnungsröhren, vor denen gewarnt wird, die zwei hölzernen Laternenpfosten und endlich die zarte Andeutung, daß die Piloten bei Nacht nicht richtig in den Hafen kutschieren, spricht für den unbestechlichen Takt des Autorenkollektivs. Wir bauen auf sie. Sie sind in sich gefestigte Männer. Nur ab und zu erleiden sie einen Nervenzusammenbruch und ein qualvoller Schrei entringt sich ihrer Feder, so im Supplementband von 1940: 237
Seite 109, Zeile 1: statt «LICHT» lies: «LICHTER» und statt: «ZWEI LICHTER» lies: «NUR EIN LICHT, UND NUR SOLANGE IN DER FABRIK GEARBEITET WIRD.» Der Schrei endet in der Berichtigung: «S. 111, Zeile 2 lies statt KISTE: KÜSTE und Zeile 6 von unten: statt: KÜSSTE: KÜSTE. – Der Küstenpilot.» Diese Küstenschriftsteller sind keine glücklichen Menschen. Sie leben in ständiger Aufregung. Wenn etwas passiert, haben sie schuld. Daher auch die Herbheit ihrer Sprache. Aber wie sehr sie sich auch mühen, die Unrast der Natur und die Gedankenlosigkeit der Menschen ist ihnen stets um zwei Bootslängen voraus. Ihrem Rate folgend fuhren wir froh und munter hinter die Prieta-Spitze, warfen Anker, hißten die amerikanische Flagge und darunter die gelbe Quarantänefahne; am liebsten hätten wir auch einen Kanonenschuß abgefeuert, aber wir hatten nur unsern alten Schießprügel, dessen Hahn leicht eingerostet war. Es war ja nur ein Paradestück, nicht zum schießen, nur um zu imponieren. Während wir warteten, sahen wir uns die Aussicht an. Sie ist prächtig. Das Oberland von Prieta, am Abhang ein Türmchen, in der Ferne der Strand von La Paz mit niedlichen Häuschen, von Bäumen flankiert, daneben ein Musikzelt – wie eine Hollywood-Produktion. Kleine Kanus aus den Nayaritbergen glitten vorüber. Den Meeresspiegel kräuselte eine leichte Brise. Wir drehten 30 m Farbfilm, alle 30 mißglückten. Endlich näherte sich das im «Küstenpilot» erwähnte Motorboot, allerdings ohne weiße Flagge und Buchstabe P. 238
Wenn das der «Küstenpilot» gesehen hätte, daß man ihn so desavouiert …! Der Pilot von Las Paz, ein älterer Herr in Straßenanzug und dunklem Hut stieg würdevoll an Bord; den offerierten Drink lehnte er ab, nahm nur eine Zigarette, postierte sich wie ein Admiral an das Steuer und dirigierte unsern Maschinisten wie ein feinnerviger Kapellmeister. Eine sanfte Armbewegung nach vorn hieß: «Voran!» Die vibrierende Hand bodenwärts bedeutete: «Langsam!» Der Daumen, leicht über die Schulter weisend, besagte: «Rückwärts!» Der Herr war zwar nicht gesprächig, brachte uns aber mit Leichtigkeit durch den Canal San Lorenzo und hieß uns 200 m westlich des sogenannten Stadtquais den Anker werfen. Es war der beste Platz im ganzen Hafen. Von nahem bezaubert La Paz noch mehr als von weitem. An der Wasserkante die kleinen Villen im Kolonialstil mit eisernen Fensterläden, die schönen Bäume der Uferpromenade mit den vielen Bänken; jede derselben ist nach einem verstorbenen Mitbürger genannt, aber auch lebende Ausländer dürfen drauf sitzen. Kaum war der Anker geworfen, als auch bereits der Hafeninspektor erschien und in unsere Papiere Einsicht nahm. Unsre Empfehlungsschreiben imponierten ihm dermaßen, daß er zu unserm Schutz eine bewaffnete Wache abkommandierte, drei Mann, die einander ablösten und unsere Schätze bewachten. Da wir dafür bezahlen mußten, waren wir nicht begeistert, erkannten jedoch binnen kurzem die Weisheit der Anordnung. Denn von früh bis spät war die Western Flyer vom Deck bis zur Takelage, gleich wie von Mückenschwärmen, von Kinder239
horden und Ortsarmen umschwärmt, und trotzdem kam nichts abhanden, so viel auch herumlag, Sachen, die jeder von uns gegebenenfalls gerne gestohlen hätte. Die Wachtposten hielten unsere Besucher von der Kajüte fern, doch glaube ich nicht, daß dies der Grund war, weshalb keine Diebstähle vorkamen. In andern Häfen, wo man uns mit keiner Wache beglückte, kam auch nichts weg. Unsere Wächter, große, nette, mit Selbstladern bewaffnete Männer in tadellos sauberer gestärkter Montur, waren gefällig und gesellig, aßen und tranken mit und sie erzählten uns viel Schätzenswertes über La Paz. Zum Schluß schenkten wir jedem eine Schachtel Zigaretten, was ihnen ebenso schätzenswert schien. Sie entsprachen allerdings nicht dem Bild, das man sich von mexikanischen Soldaten auf Grund gedruckter Schilderungen zu machen pflegt. Sie waren reinlich, tüchtig und freundlich. Mit dem Hafeninspektor kam auch der Hafenagent und war eine feine Erfindung! Er tat und besorgte alles für uns, begleitete uns zum Essen, handelte in den Geschäften die Preise herunter, warnte uns vor gewissen Lokalen und empfahl andere. Die dafür zu entrichtende Gebühr war so gering, daß wir sie dankbarst verdoppelten. Sobald die Formalitäten erledigt waren, eilten Sparky, Tiny und Tex an Land. Wir sahen sie nicht mehr bis spät in der Nacht. Da kehrten sie mit Präsenten zurück: geschnitzten Kuhhörnern, farbigen Taschentüchern und Schals. Vom Wechselkurs (6 Pesos für einen Dollar) waren sie so entzückt; daß sie auch uns mit «Kurios» (Kuriositäten) belieferten: fünf ausgestopften Seevögeln, japanischem Tand, spanischen Kämmen aus New England, an240
dalusischen Umhängetüchern aus New Jersey, Machetes aus Sheffield, und alles, obwohl erst seit kurzem in La Paz, atmete das Aroma des Landes. Kapitän Tony war aus Mißtrauen an Bord geblieben, aber auch er begab sich nachher ein Weilchen an Land. Die Flut lief allmählich ab und enthüllte den flachen Oststrand. Wir zogen mit unsern Sammelgeräten los, voll Erwartung einer uns neuen Fauna. Denn in diesem wogensicheren warmen Flachwasser war zweifellos, abgesehen von einigen Allerwelt-Tieren, mit einem völlig veränderten Bilde zu rechnen. Die Bodenschicht bildet hier ein Geschiebe, reich an Bruchstücken alter Korallen, ein willkommenes Versteck für Getier, das sich eingräbt. In unsern Gummistiefeln bewegten wir uns über die seichte Fläche, und wo wir einen Stein, ein Korallenstück umdrehten, färbte der Sandschlamm das Wasser dunkel. Wie immer beim Sammeln hatten wir bald eine Bubenschar auf dem Hals. Allein schon die typische Haltung des Sammlers, das langsame Gehen mit vorgebeugtem Oberkörper und gerecktem Hals, zieht Neugierige an. «Was haben Sie verloren?» wird man gefragt und antwortet: «Nichts.» «Ja, was suchen Sie denn?» Die Frage kann einen in Verlegenheit bringen. Wir suchen etwas, das uns als Wahrheit erscheint: wir suchen nach jenem Grundgesetz, das uns des Lebens Wesenheit erschließt. Wir suchen nach den wechselseitigen Beziehungen aller Dinge – so wie ein Jüngling nach dem beglückenden Aufleuchten im Blick der Geliebten oder ein anderer nach Händeln. Aber da die Buben und Burschen am Ebbestrand noch nicht wissen, 241
daß auch sie nach solchen Dingen suchen, antworten wir: «Wir suchen Kurios… allerlei kleine Tiere.» Und sogleich fangen sie an, uns suchen zu helfen. Sie sind dunkelhäutig, zerlumpt; jeder hat eine kleine Eisenharpune, die für die Jugend von La Paz ein ebenso beliebtes Spielzeug ist wie bei uns Murmeln und Kreisel. Sie stochern damit zwischen den Steinen herum. Zuweilen bekommt auch ein Fisch, der sich zu weit verirrt hat, den eisernen Stich zu verspüren. An diesen Ufern haust die kleine Gespenster-Garnele, ein lebenstüchtiges Ding, das unheimliche Geschwindigkeiten entwickelt und einen mit seinen Scheren unheimlich zwicken kann. Da sie in ihr Loch rückwärts hineinkriecht, hat der Angreifer, der von oben kommt, mit ihren Klauen zu rechnen. Diese Schwierigkeit haben die kleinen Jungen für uns gelöst. Wir versprachen ihnen für jede Gespenster-Garnele zehn Centavos. Da gruben sie sich denn von hinten an die Garnele heran und konnten nun das empörte Tier am Hintern aus seiner Höhle ziehen, worauf sie es solange schlugen, bis es mit seinen Scheren Ruhe gab. Doch die so Malträtierten lehnten wir ab. Wir wollten unversehrt Lebende. Buben sind die besten Sammler der Welt, und die von La Paz hatten eine Technik, bei der sie nur hie und da in den Finger gezwickt wurden. Bald regneten die ZehnCentavo-Stücke. Immer mehr Jungen fanden sich ein, alle mit scharfen Augen, denen kein Ding entging, und als sie erst merkten, daß wir auf alles mögliche erpicht waren, brachten sie uns die erstaunlichsten Dinge. Vielleicht verkörperten wir nur ihren eigenen Drang. Waren wir in ih242
rem Alter nicht ebenso? Wir lagen vor einem Ebbetümpel auf dem Bauch, und unsere Augen und all unsere Sinne vertieften sich so in die kleine Welt, daß sie für uns nicht mehr klein war, sondern weltenweit. Der Einsiedlerkrebs wurde so groß wie wir, ein kleiner Seepolyp wuchs zum Ungeheuer. Wogende Algen bedeckten uns; wir lauerten unter einer Meeresklippe und sprangen hervor wie ein Fisch. Mag sein, daß wir und alle, die den Raum mittels Gleichungen ergründen, dies Wunder nur prolongieren. Aber auch unter jeder Bubengruppe befindet sich regelmäßig ein Blödian, der nichts versteht, nur dummes Zeug vorbringt und sich damit brüstet. Wenn wir an La Paz zurückdenken, stehen uns immer wieder unsere Buben vor Augen. Wir hatten mit ihnen so vieles gemeinsam … Querschnitt des Litorals: Die Gespenstergarnele, auch Langusta genannt, fand sich allenthalben. Unser Feind, der stechende Wurm, lehrte uns auf unsere Finger aufpassen. Der große Mürbstem hielt sich unter alten Korallen auf, war aber weniger zahlreich als in Espirítu Santo vertreten. Verschiedenartige Schwämme hafteten an Felsen, in deren Rissen sich schmucke Krebslein versteckten. Prachtvolle violette Polycladeen-Würmer krochen über Tunikaten wie über einen Rasen. Die riesige austernartige Hacha war selten, doch einige wenige Exemplare bekamen wir, ferner etliche ausgewachsene Porites-Korallen; von zwei graziösen Asteroiden die größere, schönere eine Phataria; mindestens drei Typen Seeanemonen, einige Keulen-Igel, Schnecken und viele Hydroiden. Einige Nackt243
schnecken hatten sich bis zu völliger Unsichtbarkeit mit Algen und Hydroiden maskiert. Wir fanden den wurmförmigen Gastropoden Aletes, viele zweischalige Muscheln, darunter die bohrende Lithophaga plumula, die einer Erdnuß ähnelt, viele leuchtend orangene Nudibranchien, Einsiedlerkrebse, Tunikaten, Flachwürmer, die wie Gelatin über die Steine flossen; Sipunkuliden, zahlreiche Schüsselschnecken, einige Sonnensterne (Heliaster), doch weniger und kleinere als am Cabo San Lucas. Mit vollen Händen kamen unsere Buben immer von neuem angerannt, und bald waren Eimer und Tuben gefüllt. Längst waren unsere Zehn-Centavos-Stücke aufgebraucht, so daß unsere kleinen Helfer jeweils einen Zehnerverband zum Wechseln eines Silberpesos bilden mußten. Wegen der späteren Verteilung der eingewechselten Münzen hegte keiner ein Mißtrauen gegen den andern. Dazu waren sie nicht zivilisiert genug. Sie hatten noch nicht gelernt zu betrügen. Und das ist für einen Kulturmenschen doch so wichtig. Das Bubenvolk von La Paz ist unglaublich zahlreich, und wir standen mit einem Großteil desselben in regem Geschäftsverkehr. Kaum waren wir zur Western Flyer zurückgekehrt und eben dabei, unsere Spezimina auszubreiten, als ein neuer Ansturm erfolgte. Es hatte sich herumgesprochen, im Hafen seien ein paar Verrückte, die für Ungeziefer, das jedes kleine Kind am Strand auflesen kann, horrende Summen bezahlten, und nun kamen die Kinder in Kähnen, Einbäumen, Flachbooten; viele schwammen sogar herüber, und alle brachten was mit. Einiges konnten wir brauchen, anderes nicht, was die betref244
fenden Überbringer betrübte, jedoch nicht empörte. Sie ruderten, paddelten oder schwammen wieder zurück, überfluteten das Ebbegebiet, fanden sich abermals ein und mit ihnen zahlreiche Neue. Am folgenden Tag erschienen sogar die Kinder aus dem nahen Gebirge und präsentierten uns alles, was irgendwie krabbelte. Was wir an Land zu erledigen hatten, setzte weitere Buben in Nahrung. Sie trugen Pakete, machten Botengänge, zeigten uns den Weg (meist falsch) und suchten uns jeden Wunsch an den Augen abzulesen. Da war aber einer, der tat sich besonders hervor. Er war uns gleich aufgefallen. Seine Schultern waren nicht schlank wie die der übrigen, sondern breit, und in seiner Gesichtsbildung, seiner Miene lag etwas germanisches oder angelsächsisches. Während die andern Buben nur an das ihnen Aufgetragene und die Bezahlung dachten, suchte er das Verlangen nach neuen Dingen in uns zu wecken, erfand Bedürfnisse, die nicht vorhanden waren, und suchte sich unentbehrlich zu machen. Bis spät in die Nacht wartete er auf uns und stand bei Tagesanbruch schon wieder auf Deck. Und als ob ihn die andern fürchteten, räumten sie plötzlich das Feld. Der Junge wird eines Tages ein reicher Mann und La Paz stolz auf ihn sein. Er hat den Blick und die Methoden der Erfolgreichen. Gleich nach dem ersten Erfolg, den er bei uns errang, kam er auf die Idee, ein bißchen zu mogeln. Es war uns einerlei. So ein kleiner Schwindel amüsiert uns und läßt sich leicht abwehren. Des Buben Methode war einfach. Er leistete einen Dienst und ging dann zu jedem einzelnen von uns und kassierte ein, so daß er für eine Leistung mehrmals bezahlt wurde. Wir beschlos245
sen, ihn auszuschalten. Aber seine kleinen Kollegen beschlossen noch etwas besseres. Einer von ihnen hat es uns nachher erzählt. Unser kleiner Gauner hatte nämlich den andern Jungen vorgespiegelt, wir hätten ihn als unsern alleinigen Diener angestellt und ihm befohlen, ihnen auszurichten, sie sollten sich nicht mehr blicken lassen. Sie aber kamen hinter den Schwindel, lauerten ihm auf und verprügelten ihn. Als wir ihm in der Stadt wieder begegneten, hatte er einen Verband um die Nase. Er ist kein braver Junge. Aber er wird einmal reich, weil er mit allen Fasern danach strebt, reich zu werden. Die andern wollen Süßigkeiten oder ein buntes Tuch. Dieser dynamische Lausbub allein will Geld und nochmals Geld. Dagegen kommen gute kleine Wilde nicht auf. Am Abend vor unserer Abfahrt hatten wir mit einem andern kleinen Jungen ein rührendes Erlebnis. Wir waren noch einmal an Land gerudert, hatten unser Beiboot am Ufer an einen Pflock gebunden, schlenderten durch die alten Gassen und traten schließlich, wie man sich denken kann, auf ein Glas Bier in ein Lokal. Es war geräumig und nahezu leer. Während wir tranken, fühlten wir einen Blick. Ein sehr dünnes, sehr dunkles Indianerbübchen starrte uns durch die Scheiben von draußen mit wütenden Blicken an, und dieser Blick aus Kinderaugen war so voll Haß, daß wir rasch austranken, zahlten und gingen. Draußen hielt der Kleine mit uns Schritt, aber sagte kein Wort. Wir gingen durch schwach erleuchtete Straßen zum Quai. Er wich nicht von unserer Seite. Kurz vor dem Ufer begann er zu drucksen, brachte jedoch keine Silbe heraus. Schon gingen wir daran, unser Boot loszubinden, da 246
schrie er in panischer Angst: «Cinco centavos!» und prallte zugleich zurück, als fürchte er einen Schlag. Und da verstanden wir sein ganzes Verhalten. War es uns früher auf Stellungssuche nicht ähnlich ergangen …? Vielleicht hat der Vater des Kleinen gesagt: «Du Dummkopf! In der Stadt sind Fremde, die schmeißen das Geld nur so raus. Hier sitzt dein Vater mit seinem wehen Bein, und du …? Du tust überhaupt nichts. Andere Jungen werden reich, aber du Faulpelz, du rührst dich nicht. Señor Ruiz sitzt jetzt mit einer Zigarre bei einem Glas Bier in der Cantina. Warum? Weil sein guter Sohn bei der Hand war, als das Centavowunder geschah. Hast du schon einmal gesehen, daß dein armer Vater sich eine Zigarre hat leisten können? Nie! Jetzt gehst du sofort und bringst mir zehn Centavos!» Mit dieser verhaßten Last auf der Seele ging der Kleine von Hause weg. Er haßte uns ebenso wie wir die Herren gehaßt haben, die wir um Arbeit bitten mußten, und er fürchtete uns, weil wir ihm fremd waren, schob die bittere Pflicht so lange hinaus wie er konnte; erst als es gar nicht mehr anders ging, sprach er die Bitte aus und war dabei so bescheiden. Nicht einmal zehn, nur fünf Centavos! Es muß ihm furchtbar schwer gefallen sein. Als wir ihm einen Peso gaben, zog ein Lächeln über sein Gesicht, und er schaute sich um, ob er irgend etwas für uns tun könnte. Unser Boot war noch festgebunden. Wie ein kleiner Terrier ging er auf den nassen Schifferknoten los, zerrte mit Fingern und Zähnen daran, aber seine Kraft reichte nicht. Er fing fast zu heulen an. Wir stießen das Boot ins Seichte, und er begleitete uns 247
so weit er nur konnte. Hoffentlich war der Vater, nachdem er sich eine Zigarre und eine aguardiente hat kaufen können, gerechter gestimmt als vorher und hat Andern, so daß es der Kleine hat hören können, gesagt: «Was sagt ihr zu Juanito …! So einen guten Sohn hat man selten gesehen. Die Zigarre, die ich da rauche, ist ein Geschenk, das er mir, seinem Vater, gemacht hat wegen dem wehen Bein. Da kann man stolz sein, Freunde, so einen Sohn zu haben wie meinen Juanito!» Wir hoffen zu Gott, daß der alte Indianer seinem Juanito, oder wie das Bübchen geheißen hat, von dem Peso wenigstens fünf Centavos abgegeben hat, damit es sich dafür eine Eiscreme und ein Knallbonbon kaufen konnte. Zweifelsohne hat man uns in La Paz nach Kräften beschummelt. Für die Lebensmittel haben wir bestimmt zu viel bezahlt. Auch die Fährleute haben uns übervorteilt. Aber wir waren ja so unermeßlich reich und sind viel zu dumm, um auf der Stelle zu merken, wenn man uns übers Ohr haut. Hier sind wir reich. Daheim liegt der Fall anders. Alle wirklich Reichen haben einen Instinkt, der ihnen sagt, daß man sie hereinlegen will. Ich kannte einen steinreichen Herrn, den Eigentümer mehrerer Bureauhäuser. Einmal bei Durchsicht der Hausverwalter-Rapporte las er, daß aus einem WC eines dieser Bureaupaläste eine elektrische Birne verschwunden war. Gestohlen! Das wurmte den Reichen. Wochenlang kam er nicht darüber hinweg. «Unsere Zivilisation geht zugrunde», grollte er. «Wem kann der Mensch noch vertrauen? Dieser Glühbirnendiebstahl beweist, daß unser ganzes Volk moralisch verrottet ist.» 248
Wir aber waren so neue Neureiche, daß wir von Geld keine Ahnung hatten. Außerdem fühlten wir uns geschmeichelt. Als die Bootsleute sahen, daß unsere Seekuh arbeitsscheu war, gingen sie mit den Preisen hinauf, haben uns aber gesagt, die Zeiten seien schwer und das Geld rar.
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12 22. MÄRZ. KARFREITAG
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ir machten uns fein und begaben uns in corpore zur Kirche. Unser Aufzug war halb eine Parade, halb ein Spießrutenlaufen. In der dunkeln alten, verwahrlosten Kirche war es kühl. Viel Volk, alte Weiber in schwarzen Umhängetüchern und Indianer knieten reglos am Boden. Ein Chor kleiner dunkler Mädchen schritt von einer zur andern Leidensstation den Passionsweg ab und sang dazu Lieder, die an altspanische Madrigale gemahnten. Manchmal entgleisten sie etwas; einige klappten nach, doch am Schluß jeder Strophe fand sich ihr schriller Gesang wieder zusammen. Als sie fertig waren, predigte ein junger Priester. Ein feiner Kopf! Sein Gesicht war asketisch, seine Augen voll Inbrunst. Heißer Glaube erfüllte den Raum. Atemlos lauschte das Volk. Die häßlichen Christusbilder, die geziert lächelnden Madonnen, die überladenen Heiligenfiguren waren mit einemmal nicht mehr da. Der junge Priester war stärker und reiner als sie. Aus seiner eigenen Unschuld und Lauterkeit schien er für sie zu bitten. Wir blieben lange. Dann traten wir aus dem kühlen Dunkel ins weiße blendende Sonnenlicht. Stille … Karfreitagsluft. Kein Windhauch im Gezweig der Bäume. Es war, als ob die Welt mit angehaltenem Atem das hehre Experiment erwarte: Jesus im Kampfe mit Tod und Hölle im Schmelzofen einer Idee. Und die Bäu250
me, die Berge, das Volk warteten. So harrt ein Mann, dessen Frau ein Kind bekommt, andächtig, angstvoll und etwas ungläubig. Denn nirgends ist eine Gewißheit, daß das Ostern der Auferstehung je kommen wird. Wir standen noch unter dem Eindruck des Gottesdienstes, der Gemeinde und ihrer Empfindungen, der Mühseligen und Beladenen, der hungrigen kleinen Kinder, der alten Frauen mit den tragisch geduldigen Augen, die da emporstarrten zu einem gipsernen Heiligen, der anklagend auf sie herunterblickt. Wir sind diesen Armen von Herzen gut. Während wir langsam die Straßen durchwandern, weilt das Kirchenvolk in unsern Gedanken. Wir denken an die Geister der Güte, die von Zeit zu Zeit, kurz bevor die Ärmsten vor Hunger zusammenbrechen, dafür sorgen, daß sie gefüttert werden, und gedenken der Guten, die sich bemühen, sie von Krankheit und Armut zu befreien. Dabei kommt uns in den Sinn, was sie und wir sind. Produkte von Krankheit, Kummer, Hunger und Alkoholismus. Nehmen wir an, irgendein allmächtiger Geist wollte unsere Spezies heilen, dergestalt daß wir für eine Reihe von Generationen gesund und glücklich wären …! Was dann? … Wir sind die Produkte unserer Krankheiten und Nöte, und die sind ebenso mächtig wie andere genetische Faktoren. Unsere Spezies zu heilen und herauszufüttern, hieße sie ändern. Das Ergebnis wäre ein völlig anderes Wesen. Wer weiß, ob sie ohne die fortwirkenden Traditionen des Hungers, der Syphilis, der Tuberkulose uns nicht noch unerträglicher wäre …! Gewisse Mittler neurologisch bedingter, von feigen Völ251
kern praktizierter Religionen hoffen, durch eine Verengung ihres Gefühlslebens ihr Dasein zu erhöhen und auszuweiten, und wecken in Ed und mir die Vermutung, jene geheilte, herausgefütterte neue Spezies Mensch werde uns nicht behagen. Das neue Wesen, das aus der Säuberung unserer Spezies hervorginge, wäre womöglich so, daß wir es nicht lieben könnten. Denn erst durch Kämpfe und Sorgen fühlen die Leute Teilnahme für einander. Die Herzlosigkeit der Gesunden, Wohlgenährten, Sorgenfreien hat grenzenlosen Dünkel und Geckenhaftigkeit im Gefolge. Am Strand von La Paz wächst ein neues Hotel. Man sieht ihm schon an, wie teuer es sein wird. Luxusflugzeuge werden wohl bald Weekendgäste aus Los Angeles hierher befördern, und die schöne, alte, schmutzige arme Stadt wird in Florida-Häßlichkeit blühen. Hühnergegacker ertönt. Wir blicken über eine Lehmmauer in einen Hof voller Hühner und fragen die Frau, ob wir nicht einige kaufen könnten. Sie seien zwar nicht zum Verkauf bestimmt, antwortet sie, aber ein paar könne sie uns ablassen. Wir treten ein. Ein Beweis dafür, daß das Federvieh wirklich nicht zum Verkauf bestimmt ist, erhalten wir dadurch, daß wir uns die zwei, die wir gern möchten, selbst einfangen müssen. Es sind die am wenigsten sehnigen, und wir setzen ihnen sogleich nach. Alles, was man mit Recht oder Unrecht von der Trägheit der Niederkalifornier erzählt, gilt keineswegs für ihre Hühner. Das sind Leichtatlehten und Schnellläufer, können rennen, fliegen, und in die Enge getrieben verschwinden sie plötzlich und 252
tauchen an ganz einer andern Stelle des Hühnerhofs wieder auf. Wenn die Eigentümerin keine Lust zum Einfangen hatte, so wurde diese Abneigung von andern La Pazern keineswegs geteilt. Groß und Klein strömte herbei und sparte weder mit Rat noch tätiger Hilfe. Gleich Fußballern stürzten sich die kleinen Buben auf die von uns erwählten Hühner. Eine Staubsäule stieg aus dem Hühnerhof, und es war klar, daß wir der Beiden schließlich habhaft werden würden. Denn sobald ein Team müde war, nahm sofort ein zweites die Jagd auf. Hätten wir fair gespielt und unsern gefiederten Gegnern die gleichen Ruhepausen gewährt, wir hätten sie nie gefangen. So aber packten wir nach geraumer Zeit die erschöpften, von Federn Entblößten. Der Mob war befriedigt. Wir zahlten und gingen. An Bord sollte Sparky sie schlachten, doch es war ihm zuwider. Als er ihnen die Hälse durchschnitt, wurde ihm übel. Damit sie sich ausbluteten, ließ er sie backbord ein Stück hinunter. Da stieß das Steuerbord eines Bootes dagegen und drückte sie platt. Aber selbst dann waren sie noch zu zäh. Sie hatten die bestentwickelten Muskeln und Sehnen, die uns jemals begegnet waren. Ihre Beine waren wie die von Luftakrobaten, und ihre Brüste ermangelten jeglicher Rundung und Weichheit. Wir bereuten, sie getötet zu haben, denn es waren erstklassig trainierte, von echtem Sportgeist erfüllte Vögel. Bei ihren Qualitäten hätten sie bei uns daheim an jeder University graduieren können. Eine glänzende akademische Laufbahn hätte ihnen offen gestanden, denn sie hatten Kampfgeist und Idealismus. Während der Nachmittagsebbe sammelten wir auf El 253
Mogote, einer sandigen Halbinsel mit weitausgedehnten seichten Flächen, die bei Niederwasser freilagen. Die Hochwassergrenze war durch dichtes Mangrovengehölz gekennzeichnet. Der Sand war glatt, frei von Stein- und Korallentrümmern. Vom Schiff aus hatten wir die Sandinsel schon ins Auge gefaßt, und ein kräftiger, etwa neunzehnjähriger Junge, der um uns herumpaddelte, hatte uns nach El Mogote gefahren. Er hieß Raul Velez, verstand etwas Englisch und erwies sich besonders nützlich. Er faßte rasch auf, sammelte mit Verstand und konnte uns sagen, wie die verschiedenen Tiere mit ihren einheimischen Namen heißen: «Cornude» ist der Hammerhai, «Barco» der Rote Schnapper, «Caracol» oder «Burral» nennt man Schnecken im allgemeinen und im besondern eine große Muschelschnecke. Der Seeigel heißt Erizo, der Seefächer Abaniko, die Seeklette Bromas, die große Steckmuschel: Hacha. Bemerkenswert die Sandbänke! Wir stießen zum ersten Mal auf das Dentalium und gruben zweierlei Formen desselselben, jede in mehreren Exemplaren, aus. Diese seltsamen Tiere gleichen leicht gekrümmten Zähnen und gehören zu einer kleinen Klasse Mollusken. Im Volksmund heißen sie Zahnmuscheln. Im seichten Wasser fanden wir an winzigen Steinen haftende kleine Seeanemonen in drei Erscheinungsformen, auch die Sandanemone Cerianthus. Gräbt man sie aus, so erscheint ihr längliches Gehäuse schmutzig grau, doch im Boden ruhend gleicht sie einer lieblichen roten oder auch violetten Blüte. Wir sahen eine Menge kleiner Schwarzgurken am Boden kriechen, ein Typ, dem wir 254
noch nicht begegnet waren, und eine große Pfeffer-undSalz-Gurke, ferner viele Herz-Igel, zwei Varianten der gewöhnlichen Mürb- oder Schlangen-Sterne (Ophiuren) und eine «Grabende Ophiure». Schwämme und Tunikaten hielten sich an unsicheren Steinchen fest, doch da das seichte Wasser sich kaum bewegt, leben sie in Sicherheit. Flachwürmer verschiedener Art, Stechwürmer, Erdnußwürmer, Echiuroiden-Würmer und was sonst unter die Rubrik Würmer fallen mag, bot sich in ermüdender Fülle. Wir nahmen auch ein Exemplar der Seepeitsche, eine Tierkolonie, die einen sehenswerten Anblick gewährt; sie sieht exakt wie eine weiße Peitsche aus: der untere Teil ein horniger Stiel; der obere setzt sich aus Zooiden zusammen, deren jede ihr eigenes Leben hat. Eine Reihe Kanäle vereint ihre Körper und verbindet sie mit dem Hauptstiel. Beim Nahen der Flut wichen wir in der Ebbezone auf die Mangrovenbäume zurück. Sie blühten. Ihr moderiger Geruch, vermischt mit den Ausdünstungen ihrer im Schlamme verankerten Stelz- und Atmungswurzeln war betäubend. Aber man muß hineinschauen; es ist ein faszinierender Anblick! Große Einsiedlerkrebse wohnen zwischen ihren Stelzwurzeln. Der Schlamm – seine Schwärze ist ein Produkt der Wurzelmasse – wimmelt von Landund Seegetier, ist von zahllosen: Fliegen umsummt, von Insekten besetzt, und ein Einsiedlerkrebs, den man Gassenkehrer zu nennen pflegt, schleicht. herein und heraus und erklimmt sogar die hervorstehenden Wurzeln. Die fauligen Düfte und die Undurchdringlichkeit des Wurzelgeflechts der Mangrove mögen beide wohl dazu beitragen, daß uns die salzwassertrinkenden Mangroven255
waldformationen Widerwillen einflößen. Ed und ich setzten uns hin, beobachteten schweigend das Getriebe im Wurzelwald, und uns war, als lauere überall Mord. An umbrandeten Felsen war ein offenes, wildes, hungrig freudiges Töten voll Tatkraft und Leidenschaft, hier aber umgibt es uns wie scheuheimlicher Meuchelmord. In den Wurzeln knistert und knackt es; immer grausiger wird der Geruch. Man hat das Gefühl, als sei man belauert. Niemand liebt Mangroven. Raul sagt, in La Paz hasse man sie. Die tieferen Sandbänke sind rasch von der Flut bedeckt. Wir waten zu einem Wrack, das bäuchlings im Sande liegt und entnehmen dem verfaulten Holz, ja sogar der verrosteten Maschine eine Anzahl Bernikel. Das war ein ertragreicher Tag, auch reich an Gedanken. In der Kirche begann es. Mitunter hat man ein Gefühl unendlicher Fülle, einer wärmenden Allheit, darin jede Sicht, jedes Ding, jeder Duft und jegliche Erfahrung uns ein gewaltiges Ganzes erschließt. Selbst die Mangroven hatten heute daran ihren Anteil. Möglich, daß bei den Primitiven Menschenopfer die nämliche Wirkung hervorrufen: Ganzheit der Empfindungen und Gefühle. Gutes und Schlechtes, Schönes, Häßliches und das Grausame werden miteinander verschweißt. Wie erregt waren wir doch, als wir auf die Dentalien stießen, – als seien es Goldklumpen! Raul hat in seinem Kanu eine La Paz-Harpune. Wir kaufen sie ihm ab, um sie mit heim zu nehmen. Sie besteht aus einem Eisenschaft mit Ring für die Leine am einen Ende und dem mit Scharnier versehenen Widerhaken am andern. Ein kleines kreisförmiges Band hält den Widerhaken am Schaft, bis die Reibung im Fleische des Op256
fers das Bändchen löst, so daß sich der Widerhaken im Fleische öffnet. Wir wollten diese Harpune als Andenken, probierten sie aber vorher an einem Manta-Glattrochen aus, und dabei ging sie uns flöten. Es schwimmen noch mehr dieser Riesenrochen im Golf und haben in ihrer dikken Haut eine unsrer Harpunen. Wir hätten auch gerne eines der Nayarit-Kanus erworben. Sie sind so leicht, sie schweben geradezu über das Wasser; zum Sammeln in Lagunen sind sie ideal und außerdem selbst bei kräftigem Wellengang seetüchtig. Doch da war Keiner, der uns sein Kanu hätte ablassen wollen. Zu groß ist die Liebe zu ihnen. Selbst die ältesten Nayarits werden immer von neuem geflickt und ausgesteift. Sie kommen ja von so weit her! Bei Einbruch der Dunkelheit kehrten wir zur Western Flyer zurück. Das ganze Deck war voll Buben, die uns sehnsüchtig erwarteten. In den Händen hielten sie alle möglichen verdrückten, zerquetschten Exemplare. Wir kauften ihnen ab, was wir brauchen konnten, und dann kauften wir noch eine Menge Unbrauchbares. Die Kinder hatten so lange unter den ernsten Augen unseres militärischen Schutzmannes ausgeharrt! Es tat uns wohl, zu sehen, wie nett dieser Soldat von La Paz zu den zerlumpten Kleinen war. Wenn sie über das Deck rannten, paßte er gut auf und verhütete jeden Unfall, ohne sich wichtig zu tun. Nie kehrte er den Polizisten hervor. Ich glaube, wären wir zu den Kindern häßlich gewesen, er wäre für sie eingetreten; unser vermeintlicher Reichtum hätte ihn davon nicht abgehalten. Sein Selbstlader war keine Drohung, sondern nur das Abzeichen seiner Würde. In der Küche 257
und wenn er sich zu uns setzte, schnallte er den Gurt ab und hing ihn mitsamt der Schußwaffe an den Nagel. Uns gefiel auch der Ton, in dem er mit den Buben sprach. Es lag Würde darin; er schnauzte nie, und die Kinder hatten vor ihm Respekt, aber keine Furcht. Als ein Junge den uralten Lausbubentrick versuchte, eines unsrer Exemplare verschwinden zu lassen, um es uns wieder anzudrehen, sagte ihm der Soldat kurz und mit Verachtung die Meinung. Der kleine Delinquent verlor das Gesicht und sogar seine bisherigen Freunde. Ein anderer Junge hatte an seiner Leichtharpune ein grauschwarzes, den Pufferfischen ähnliches Tier mit flachem breiten Kopf, wollte es uns aber nicht verkaufen. Ein Mann habe es bei ihm bestellt, zahle zehn Centavos dafür und wolle eine Katze damit vergiften. Es war der erste Botete, der uns zu Gesicht kam. Wie man in La Paz glaubt, befindet sich der Giftstoff in seiner Leber. Man benutzt ihn, um kleinere Tiere, sogar Fliegen damit zu töten. Wir haben es nicht ausprobiert, fanden jedoch im Verlauf unserer Exkursion in den meisten warmen und seichten Gewässern im Golf solche Botetes; in Lagunen und Aalgrasuntiefen ist er wohl vorherrschend. Er liegt dort am Boden; seine schwarzweiße Haut macht ihn nahezu unsichtbar. Manchmal liegt er im Aalgras in einer sanften gelichteten Mulde des modrig schlammigen Bodens, was darauf hindeutet, obzwar nicht beweist, daß dies sein fester Wohnsitz ist, zu dem er immer wieder zurückkehrt. Durchwatest du nun das seichte Wasser, so verhält er sich ruhig, bis du ganz nahe bist. Dann erst türmt er und hinterläßt ein Gewölk aufgewühlten Schlammes. Im Druck 258
des Sammelns, Sortierens und Konservierens versäumten wir die Sektion seines Magens, so daß wir über seine Ernährung nichts mitteilen können. Die Literatur über den Botete ist weit verstreut und schwer auffindbar. Die Angehörigen seiner Gattung finden sich überall auf der Welt in warmen seichten Meeresgewässern und sind ebenfalls giftig. Trotz seiner weiten Verbreitung und der schweren Vergiftungserscheinungen, die sein Genuß zur Folge hat, wurde er seltsamerweise bisher nur selten beschrieben. Wer ihn verzehrt, stirbt meist einen qualvollen Tod. Träte der Botete nur vereinzelt auf, so ließe es sich begreifen, daß die Nachrichten über ihn so spärlich sind. Viele, weit seltener gesehene Fische der Tiefsee wurden wesentlich mehr diskutiert als dieser kleine tödliche. Wir waren von ihm fasziniert und holten uns im weitern Verlauf unserer Fahrt zahlreiche Exemplare. Im folgenden einige der von uns gefundenen Angaben über die Familie Botete und ihre Übeln Auswirkungen. Ob sein Gift wirklich auch Fliegen tötet, ging daraus nicht hervor. Wohl aber erfuhren wir von Herre *, daß «bei mindestens zwei bis drei Abarten das Fleisch nicht nur dünn, hart, oft bitter und von widrigem Geschmack ist, sondern auch giftige Alkaloiden enthält. Sie rufen eine als Ciguatera bekannte Krankheit hervor, die das ganze Nervensystem angreift, heftige gastrische Störungen, Lähmung und meistens den Tod herbeiführt.» Und auf S. 423 lesen wir, daß die Balistida, der trigger-fish, wie er am Golf * „Poisonous and -worthless fishes: An Account of the Philippine Plectognaths“, Phil. Journal, Sei. Bd. 25 (4) S. 415.
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von Panama genannt wird, «zwar auf Fischmärkten im Osten zu sehen ist, jedoch kaum als Nahrung dient. In manchen Teilen der Philippinen werden jedoch die kleineren gegessen, doch sollte man ihren Verkauf verbieten, da das Fleisch mehr oder weniger giftig ist. Sowohl auf Kuba wie auf Mauritius dürfen sie nicht zu Markt gebracht werden, da ihr Genuß bekanntlich Ciguatera verursacht.» Es heißt dort weiter: «Francis Day («Fishes of India», 1878, S. 686) schreibt: Dr. Meunier auf Mauritius weist darauf hin, daß das giftige Fleisch zunächst das Nervengewebe des Magens angreift, heftige Krämpfe dieses Organs und kurz danach der ganzen Muskulatur hervorruft. Der Leib wird von Krämpfen geschüttelt, die Zunge schwillt an, die Augen starren, die Atmung wird mühsam. Der Patient verscheidet in äußerst qualvollem Paroxismus. Als erstes Gegenmittel sind starke Brechmittel zu verabreichen, anschließend Öle, und schmerzstillende Mittel. – In seinem Bericht über die Wirbeltiere Abessiniens konstatiert Rüppel, daß der Balistes flavomarginatus bei Djetta am Roten Meer häufig ist und oft zu Markt gebracht wird, obwohl nur Pilger, denen die Eigenschaft dieses Fischfleisches unbekannt ist, ihn kaufen würden. Die Balistiden seien nicht nur von üblem Geschmack, sondern auch ungesund.» Weiter unten, S. 479, wo Herre die Tetraodontiden behandelt, erwähnt er die Namen «Botete» und «Batete» als in den meisten philippinischen Dialekten gebräuchlich. «Diese gefährliche Fischgruppe», fährt er fort, «ist in warmen Meeren auf der ganzen Erde verbreitet und in den Philippinen allgemein. Obwohl die Bevölkerung über die 260
giftigen Eigenschaften des Fleisches einigermaßen im Bilde ist, wird es fast in jedem philippinischen Fischerdorfe gegessen, und es vergeht kein Jahr, ohne daß dadurch einige Todesfälle verursacht werden. – Ein japanischer Forscher (ein Exemplar seiner Abhandlung war leider nicht aufzutreiben; sie erschien im ‚Archiv für Pathologie und Pharmakologie‘) hat das Vorkommen von Alkaloiden im Fleisch der Tetraodontiden sorgfältig untersucht und fand dessen sehr nahe Verwandtschaft mit dem Muskarin, dem aktiv giftigen Bestandteil der Amanita muscaria und anderer Giftpilze. Es ist ein giftiges kristallinisches Alkaloid ohne Geschmack und Geruch.» Herre teilt fernerhin mit, die Eingeborenen hielten speziell die Gallenblase, die Milz und die Eier dieses Fisches für giftig. In La Paz ist es, wie wir gesehen haben, die Leber. Nur sie hält man für fähig, Katzen und Fliegen zu vergiften. Vielleicht nimmt man sie aber auch deswegen, weil sie als Köder anziehender ist als die von Herre erwähnten Organe. Auf Seite 488 verzeichnet er außerdem: «Das ‚Medical Journal of Australia‘ vom 1. Dezember 1923 berichtet von zwei Malaien, welche von einer TetraodonSpezies (obwohl man sie auf die Gefahr aufmerksam gemacht hatte), zuerst zu Mittag aßen, ohne daß sich bedenkliche Folgen einstellten, hierauf zu Abend, wodurch Beide heftig erkrankten. Der eine starb binnen einer Stunde, der andre etwa drei Stunden später.» Über die Diodontiden, zu welcher Gruppe das von dem Jungen aus La Paz harpunierte Exemplar gehört, schreibt Herre, S. 503: «Die Fische dieser Familie sind mit Recht als giftig verschrien. Ihr Fleisch sollte niemals gegessen wer261
den.» Die Botete ist ein träger, unbewaffneter, langsamer Fisch, der sich weder tarnen, verstecken, noch richtig angreifen oder entschlüpfen kann. Es hat zwar keinen Wert, ist aber unterhaltend, darüber anthropomorphisch nachzudenken, in welcher Relation diese Charaktereigenschaften zu seiner Giftigkeit stehen. Was war zuerst da: das Ei oder das Huhn? Hat die Botete in ihrem Fleische das Gift entwickelt, um sich dadurch (statt durch die ihr mangelnde Geschicklichkeit, Geschwindigkeit, Kampffähigkeit) zu schützen, oder konnte sie sich dank ihrer Giftigkeit «gehen lassen» und auf jene sonst notwendigen Eigenschaften verzichten? Der geschützte, gesicherte Mensch verliert bald seine Angriffs- und Verteidigungsfähigkeit. Mag sein, daß die Botete, weil sie kein Gehirn, keine Technik und keine Tricks nötig hatte, um sich zu schützen, es sei denn vor einem Mann, der seine Katze vergiften will, mit der Zeit eine blöde alte Schachtel geworden ist. Am Abend kehrte Tiny an Bord zurück. Er hatte einige Spezimina des Phthirius pubis gesammelt, aber weil er sich nichts notiert hatte, konnte oder wollte er uns nicht den genauen Fundort bezeichnen. Seine Mitbringsel zeigten nichts ungewöhnliches an der bekannten, weitverbreiteten Spezies. Da wir früh am Morgen abfahren wollten, gingen Ed und ich noch ein wenig durch die nächtlichen, kaum beleuchteten Gassen der alten Stadt. Und wir wunderten uns, wieso uns so vieles am Golf seltsam vertraut war und Heimatgefühl in uns wachrief. Beide kannten wir keinen Ort, der La Paz ähnlich sah, und doch hatten wir das Gefühl, als seien wir hierher zurückgekehrt. 262
Am Strande klagen die wilden Tauben ins Abenddunkel, und es ist wie ein Stich, eine Dissonanz, eine schmerzliche Sehnsucht. Und wer diesem Flüsterruf folgt, geht langsamen Schritts in die Dornen, aus denen die Klage der Tauben dringt … An den Golf sich erinnern zu wollen, ist als versuche man, einen Traum wiederherzustellen. Das ist kein sentimentaler Anfall, hat auch nur wenig mit Schönheit, nicht einmal mit bewußter Vorliebe zu tun. Aber der Golf zieht uns an … Wir sprachen reiche Leute mit eigener Motorjacht; sie könnten hin, wohin sie nur wollten, und finden sich immer wieder vom Cortez-Golf angezogen. Und da wir hier nicht fremd sondern zurückgekehrt sind, bleibt in unserm Geiste der Drang, immer zurückzukehren. Wäre er lustvoll, üppig und stark, man könnte es verstehen … Doch er ist grämlich, mißtönend, feind. Schroff ragen die Felsen gen Himmel und spenden kaum frisches Wasser. Aber wir wissen, solange wir leben, müssen wir wiederkommen. Wir wissen nur nicht, warum. Spät in der Nacht sitzen wir auf dem Deckhaus. Ein Frachter tankt Wasser. Er bereitet sich zur Fahrt nach Guayamas, um Waren zu holen. La Paz liegt im Schlaf. Kein Mensch auf den Straßen, am Strande. Die Flut wendet sich und dreht unser Schiff, pocht leise an seinen Bauch. Hundegebell klingt durch die Nacht von La Paz herüber.
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13 SAMSTAG, 23. MÄRZ
F
rühmorgens stachen wir in See. Der ehrwürdige Pilot steuerte uns hinaus, verneigte sich und stieg in sein Boot, das hinter uns hergefahren war. Die See war still und fast dunkelblau. Es ging nordwärts der Küste entlang. Herrlich, wieder in Fahrt zu sein! Eine Erholung, keine allgegenwärtigen Bubenaugen auf sich gerichtet zu fühlen, deren Erwartung man nicht enttäuschen darf! Bei Isla San José wollen wir halten und weitersammeln. Bereits am Nachmittag gingen wir an der Südwestspitze vor Anker. Schon während sich die Western Flyer der Insel näherte, erregte ein schmales dunkles Eiland in anderthalb Meilen Entfernung unsere Aufmerksamkeit; Isla Cayo nannte es unsere Seekarte. Trotz des klaren sonnigen Wetters lag es schwarz und geheimnisvoll in erreichbarer Ferne. Dunkle unheimliche Dinge mußten sich dort zugetragen haben, vielleicht durch zerstörerische Naturkräfte, vielleicht durch verwüstende Menschenhand. Dies Cayo ist nur 1,5 km lang, 0,5 km breit, sein Nordende ein Felsenvorsprung, das Südende ein 12 m hohes Plateau. Der Anblick weckte in uns das Gefühl von «verbrannter Erde». An einer verbrannten Küste, sagten wir uns, werden nur wenige Tiere leben; sie würden dort nicht gedeihen. Selbst Algen kämen sich vor wie Schiffbrüchige. Ob dies von todbringenden Chemikalien herrührt, läßt sich 264
nicht behaupten. Möglich wäre es. Erfahrene Sammler sehen es, ob eine Küste «verbrannt» ist, auch wenn sie so weit entfernt sind wie wir und noch keine Einzelheiten unterscheiden. Sogar die Luft, die die Insel umgab, schien geschwärzt. Heute zum ersten Mal hätte die Hansensche Seekuh uns einen großen Gefallen erweisen können. Für solche Anlässe hatten wir sie gekauft. Wir waren denkbar nett zu ihr, sagten ihr nur das beste nach, während wir sie mit aller Schonung ins Heck des Beibootes trugen, und taten, als dächten wir nicht im Traume daran, sie werde nicht laufen. Aber sie wollte nicht. Wir ruderten unser Boot – und die Seekuh – nach Cayo. So viel Unerklärliches hat dieses Inselchen, daß ich möglichst viel davon zu Papier bringen will. Fast alles ist fraglich … Aber vielleicht weiß ein Leser die Antwort und teilt sie mit. Es gibt auf Cayo keinen Landeplatz, nur glatte, von der Brandung gerundete Felsblöcke, die selbst bei Windstille einem anlegenden Ruderboot den Boden zertrümmern können. An der Ostküste, der wir uns näherten, erhebt sich hinter dem steinigen Strand eine Felswand. In ihr gewahrten wir eine Anzahl niedriger Höhlungen. In die mächtigen Felsblöcke im Ebbebereich waren große eiserne Ringe eingelassen und lange Eisenketten, doch so verrostet und in Auflösung, daß sie in unsern Händen zerbröckelten. Auch in der Felswand, in 1,80 bis 2,45 m Höhe, befanden sich weitere eiserne Ringe und Schlingen von 20 cm im Durchmesser. Auch sie schienen alt, doch bei der dampfi265
gen Golfluft und der damit verbundenen rapiden Verwitterung ist eine genaue Altersangabe unmöglich. In den niedrigen Höhlungen ließ sich deutlich erkennen, daß hier oft Feuer brannten. Rings um die Feuerstätten – einige alt, andere anscheinend neueren Datums – waren zahllose Schalen von Zangenmuscheln und Schildkrötenplatten aufgehäuft, als habe man die Tiere hierher gebracht, um sie zu räuchern. Ein Haufen ziemlich frisch in Scheiben geschnittenes Schildkrötenfleisch lag neben einer der Feuerstellen. Dabei gibt es hier in unmittelbarer Nachbarschaft keine Zangenmuscheln und recht wenig Schildkröten. Auch ist auf dem ganzen Inselchen kein Gehölz, das Brennholz liefern könnte. Dies alles mußte man erst mit Booten heranschaffen. Wo aber haben sie angelegt …? Mysteriös! … Wasser zum Kochen und Trinken ist auch keines da. Wozu man Schildkröten, Eßmuscheln, Brennholz und Wasser auf eine unzugängliche Insel verbringt, ist schleierhaft. Wo man anderthalb Meilen entfernt leicht landen kann und an Holz und Wasser kein Mangel ist! Und wozu die großen Eisenringe? Ein Schiff oder ein größeres Boot kann man daran nicht festbinden, weil keine Einbuchtung Schutz vor Stürmen und Wogen, nicht einmal vor leichten Winden gewährt! Von Neugier getrieben, erklommen wir über einen scharf ausgehauenen Riß die Felsenwand. Oben war sie flach, mit spärlichem braunen Gras und etwas Kaktus bewachsen. Sonst sahen wir nichts, nur am südlichen Rand eine große schwarze Krähe, die uns mißbilligend ankrächzte. Als wir uns näherten, flog sie davon. Der Fels ist leicht braungelb, das Gras hellbraun. Unverständlich, wieso Cayo aus der Entfernung schwarz 266
aussieht! Die Blöcke und festen Steine im und am Wasser sind rötlich und wie das ganze Gebiet und die Insel vulkanischen Ursprungs. Wir sammelten zwischen den Steinen im Ebbebereich und trafen, wie zu erwarten war, eine klägliche, spärliche Fauna. Heliaster, der Sonnenstern, war klein, blaß in der Farbe und nur in ein paar Exemplaren vorhanden, sonst noch einige Seegurken, Anemonen und noch weniger Seekaninchen. Das einzige Wesen, das Cayo zu lieben scheint, ist Sally Lightfoot. Dies schöne Krebslein kroch über die Felsen und beherrschte das Leben der tristen Region. Wir nahmen ein paar Aletes (wurmartige Schnecken), Schlangenwürmer, etwa zwei Schneckenarten, Isopoden und Strandhüpfer mit. Die Flut nahte. Unser Boot, das wir auf einen Felsblock gezogen hatten, geriet in Gefahr, weggerissen zu werden. Rasch stiegen wir ein und ruderten los. Ich saß im Heck und zerrte wütend an der Startschnur der Seekuh. O wie bedauerte ich, daß wir sie nicht an einem gut erhaltenen oberen Ringe aufgehängt hatten, am besten an ihrem Propeller! Ihren boshaften Magnetzünder hätte das sicherlich auch gefreut. Sobald wir ein Stück weit gerudert hatten, sah Cayo wiederum schwarz aus. Wer kann es erklären …? Sobald wir die Planken der Western Flyer unter den Füßen hatten, ersuchten wir Tex, die Seekuh vollständig bis auf das kleinste Schräubchen auseinanderzunehmen und ein für allemal festzustellen, ob ihr Versagen metaphysischen Ursprungs sei oder etwas, das sich irgendwie richten ließe. Er tat, wie ihm geheißen. Unser Scheinwer267
fer leuchtete ihm. Als er die Seekuh wieder zusammengesetzt und mit dem Beiboot verbunden hatte, lief sie einwandfrei. Tex unternahm sogleich mit ihr eine Rundfahrt, und wir dachten befreit, nun hätten wir endlich einen zuverlässigen Außenbordmotor. In dieser Nacht, da wir vor Isla San José ankerten, wurden wir von kleinen schwarzen Mücken heimgesucht, die wie Käfer aussahen und deren Stiche wahnsinnig brannten und juckten. Sich zudecken nutzte nichts; sie krochen ins Bettzeug und bissen unerbittlich. Da an Schlaf nicht zu denken war, unterhielten wir uns, und Tiny gab einige seiner «Erlebnisse» zum besten. Wenn nur ein Teil davon wahr sein sollte, wäre die Tiny-Saga eine der hervorragend unanständigsten, die Ed oder mir je unterkamen, und nicht ohne Kummer verzichten wir darauf, einige dieser Denkwürdigkeiten hier folgen zu lassen. Gewisse Vertreter der Öffentlichkeit wären sonst imstande, unser ganzes Logbuch zu unterdrücken und damit einen beispiellosen Verrat an der biologischen Wissenschaft zu begehen. Die Tiny-Saga bleibt ungeschrieben.
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14 24. MÄRZ OSTERSONNTAG, VORMITTAG
H
eiß und gelb lag der Strand. Wir schwammen, dann wanderten wir landeinwärts einer Hügelkette entlang, die sich zwischen unserm Strand und einer mangrovenumsäumten Lagune erstreckt. An der Lagunenseite der Hügel Tausende von Schlupfwinkeln, in denen sich vermutlich große Landkrebse aufhalten, aber sie ausbuddeln zu wollen, wäre sinnlos. Das Lagunenufer wimmelt von knipsendem, knisterndem, knakkendem Krabbenzeug und Litoral-Schnecken. Aber wie frisch und süß hier die Mangroven duften! Da ist nichts von fauligem Wurzelgestank. Sie riechen wie eben gemähtes Gras. Die Aussicht ist wundersam. Das glühende Rostrot der fernen Berge, die grüne Mangrovenwaldung am Ufer spiegeln sich in der glatten Lagune … wie auf einer phantastischen Zeichnung Gustave Dorés: Die Zinnen der ewigen Stadt. Kein Lüftchen regte sich in der unabwendbaren Hitze. Dann und wann stößt ein Lagunenfischlein nach oben; zarte Kreise pflanzen sich fort und fort. Die Stille summt in unsern Köpfen; ich glaube, wieder den Kirchengesang der Kinder zu La Paz zu vernehmen … Wir verträumen den Tag, sammeln wohl auch ein weniges. Jeder versinkt in Erinnerungen. Später sprachen wir über Art und Methoden des Den269
kens. Es war eine Diskussion, die heutzutag kaum für angebracht gilt, aber an einem Ostertage wie diesem schweift der Geist, und berührt mancherlei Dinge. Wir gingen davon aus, durch naturwissenschaftliches Denken werde man zu reineren Erkenntnissen Zugang erhalten: das nicht-teleologische, das «Ist-Denken», könne zum Teil die Stelle üblicher Ursache-Wirkung-Methoden einnehmen. Der verschleierte Golf, seine wechselnden Formen und Belichtungen glichen wohl unsern Bemühungen, die immerfort bedrängt oder abgelenkt werden durch unsere Körperlichkeit, unsre Bedürfnisse und deren Sättigung. Vielleicht wird es nicht schaden, wenn ich hier etwas von unsern Gesprächen niederschreibe. Während der Wallstreet-Krise und nachher gab es (und gibt es heute noch) Viele, ganze Familien, die zwar schuldlos ins Unglück gerieten, aber an und für sich verschwenderisch in den Tag hinein lebten. Da wurde nun öfters geäußert, der Staat erhalte sie, weil sie nachlässig, untüchtig und ungeschickt sind. Sie sollten sich gefälligst zusammenreißen, dann brauchten sie nicht zu verrecken, oder wie Henry Ford es ausdrückte: «Es soll jeder die Ärmel aufkrempeln und an die Arbeit gehen!» Schön und gut. Aber was sollte dann mit denen geschehen, deren Arbeitsstellen die also Zurechtgewiesenen einnehmen müßten, wo doch zu jener Zeit für nur etwa 70 % der arbeitsfähigen Bevölkerung Arbeit vorhanden war?! Diese Frage hat nichts mit dem zu tun, was sein könnte oder «sein sollte, wenn das-und-das anders wäre.» Wir betrachten die vorliegende Situation und sonst nichts. Es handelt sich jetzt nicht um die Geschicklichkeit oder An270
griffslust, die damals und weiterhin in der von der Gesellschaft ausgeschiedenen Schicht der Arbeitslosen vorhanden war, auch nicht um die Tatsache, daß sich darunter auch die Unfähigen, die Pechvögel befanden; das Warum spielt jetzt keine Rolle. Gesamthaft gesehen ist es so. Und hängt damit zusammen, daß die Lebewesen mehr Nachkommenschaft produzieren, als die Erde ernähren kann. Mag man das einzelne Individuum tadeln, als Mitglied der Gesamtheit ist es ohne Schuld. – Ein Einzelner kann durch Rücksichtslosigkeit, Tüchtigkeit oder einen Glückszufall aus der entrechteten Schicht in die begünstigte vordringen, aber für Alle ist dies nicht möglich, mögen sie auch noch so sehr danach streben. Das Gesamtverhältnis bleibt auch bei wechselnder Sortierung 70:30. Den 30 % kann man nichts vorwerfen. Sie sind dort, wo sie sind, «weil die natürlichen Bedingungen sind, wie sie sind.» Und da wir von Natur Egoisten sind, können wir uns nur freuen, daß sie und nicht wir das untere Extrem darstellen. Jemand, der besonders angriffig ist, wird auch bei subnormalsten ökonomischen Zuständen Arbeit erhalten können, doch einzig allein darum, weil Andere nicht so angriffig sind wie er. Daß solche besonderen Fälle nicht einmal allzu selten sind, ist für die Regierung ein Vorteil. Sie kann daraufhin ruhig so weitermachen. Ebenso häufig sind ja auch Wahnsinnsfälle, die beim Volk einen so tiefen Eindruck hervorrufen, daß es weiter nicht auffällt, wenn unsereins ohne Mantel und Hut unrasiert in der Welt herumläuft; man hält uns höchstens für merkwürdig. Gedankensprung zurück: Die Bücher, «Wege zum Erfolg» u. s. w., die unsern jungen Leuten erzählen, wie sie 271
totsicher eine Anstellung finden, sind ein Unfug, weil bei uns nur für die Hälfte der Jungen eine passende Arbeit vorhanden ist. Diese Art des Denkens verdrießt allerdings Viele, besonders Damen, die das als brutal empfinden. Dabei ist es von Mitgefühl getragen, gerechter und wirklichkeitsnäher als üblichere Betrachtungsweisen. Als extremes Beispiel sei an den Seehasen Tethys erinnert. Das ist ein schalenloser, schwabbeliger Nacktkiemer, eine maritime Schneckenart, die weniger mit einem Hasen als einem kauernden Kaninchen Ähnlichkeit haben dürfte. An den von der Flut erreichten Flußmündungen und Buchten sieht man diese Tiere oft. Die Zahl der Eier, welche von einem Tethys-Hasen während einer einzigen Laichzeit produziert werden, schätzte ein kalifornischer Biologe auf über 478 Millionen. All diese Eier können nicht Tethysse werden; diese ganze ungeheure Möglichkeit kann sich nicht, darf sich nicht verwirklichen, sonst wäre in kurzer Zeit das Weltmeer von Tethys okkupiert; selbst für diese Seehasen wäre das kein Glück, denn nach ein paar Generationen würden sie den Erdball überfluten; für uns wäre längst nichts mehr zum Essen da, und sie müßten zu Kannibalen werden. Im Durchschnitt gelangen denn auch von den 478 Millionen nicht mehr als 1 bis 2 Stück zur Reife. Alle übrigen werden die Beute anderer Tiere, deren Ernährung und Dasein das Vorhandensein reichlicher Mengen an Tethyslarven und andern Formen erfordert. Alles Leben beruht ja auf solchen Erfordernissen. Nun stelle man sich einmal vor, Vater-Mutter Tethys (denn Tethys ist Hermaphrodit mit der üblichen kreuz272
weisen Befruchtung) erteile seinen hoffnungsvollen Larven den Elternsegen mit den Worten: «Seid fleißig und rührig, betet und arbeitet, auf daß ihr lange lebet und so hübsche, erfolgreiche Tethysse werdet wie eure acht Pfund schwere Papa-Mama!» So ein Schwärmer! So ein Heuchler! Ein überdimensionierter Münchhausen! Wo die Gewinnchance für den Einzelnen geringer ist als beim schwindelhaftesten Preisausschreiben. 99,999 % Nieten! Kein Prophet könnte verkünden, welches Individuum überleben wird. Das einzelne hat eigentlich fast gar keine Chance. Aber auf diesem «fast» beruht die Fortdauer der Spezies. Und ein Fünkchen von Wahrheit ruht sogar in der aussichtslosen Ermahnung der zwittergeschlechtlichen Tethys. Der Gewandteste und Glücklichste macht das Rennen. Was wir unter teleologischem Denken verstehen, verbindet sich vielfach mit einer Bewertung von Ursache und Wirkung und den einem Geschehen innewohnenden höheren Zwecken, betrachtet Veränderungen und Heilungen unter dem Gesichtspunkt dessen, was «sein sollte», und im Hinblick auf ein zu erstrebendes Vorbild, meist ein subjektives oder anthropomorphisches Wunschbild, vertraut auf eine Besserung der Zustände und bringt es leider oft nur zu einem sehr oberflächlichen Verständnis derselben. Bei ihrer zuweilen intoleranten Weigerung, die Tatsachen so zu sehen, wie sie sind, münden die teleologischen Vorstellungen zuweilen in einen leidenschaftlichen, wenn auch unwirksamen Versuch, unerfreuliche Zustände zu ändern anstatt sie erst einmal zu ergründen und damit der Abhilfe einen vernünftigen, gangbaren Weg zu bereiten. 273
Nicht-teleologische Ideen beruhen auf dem Ist-Denken, auf einer natürlichen Auslese, wie sie Darwin verstanden haben mag, auf Klärung der Tiefen und Weiten, auf einer Schau hinter die überlieferten und persönlichen Wunschund Trugbilder. Ereignisse sind für den Ist-Denker eher Gewächse, Verwachsungen, Expressionen als Resultate. Er zieht das bewußte Aufnehmen und Sammeln gegebener Tatsachen dem Glauben an das Erwünschte vor und ganz bestimmt einem allumfassenden Gebot. Das nicht-teleologische Denken befaßt sich in erster Linie nicht mit dem, was sein sollte, sein könnte oder sein möchte, sondern mit dem, was tatsächlich ist. Es bemüht sich aufs äußerste um die Beantwortung der bereits ausreichend schwierigen Fragen nach dem Was und dem Wie – anstatt dem Warum. Eine interessante Parallele zu diesen zwei Typen des Denkens bietet uns der Mikrokosmos mit seiner Freiheit oder auch Unbestimmtheit im Gegensatz zum unantastbaren Bilde des Makrokosmos. Statistisch ist das Elektron frei, zu gehen, wohin es will. Doch das äußere Bild jedes Körpers, darin Milliarden Elektronen hausen, steht trotz gewisser Einschränkungen fest und sicher. Der gewisse Zerfall eines Stücks Eisen oder Holz durch Abgang der vermutlich unsterblichen Elektronen steht ebenso fest, mögen auch Bemalung und Rostverhütung den Auswirkungen des Zweiten Gesetzes der Thermodynamik vorbeugen. Mitunter klären Beispiele einen Fall besser als Begriffsbestimmungen und Erläuterungen. Daher seien im folgenden drei Fragen – den beiden Denkmethoden gemäß – betrachtet.
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A. Warum sind manche Menschen größer als andere? Die teleologische Antwort: «Wegen der Unterfunktion der Thyroidea, der Schilddrüse.» Sehr einfach. Aber diese Einfachheit rührt von einer Unterfunktion der Intelligenz. Ein gescheites Kind würde sofort fragen: «Ja, warum funktioniert die Drüse denn ungenügend?» Das wäre ein hübsch nicht-teleologischer Einwurf, der zugleich zeigt, wie schnell das teleologische Denken schachmatt ist. Für das nicht-teleologische Denken kann es keine «Antwort» geben, nur Bilder, die um so größer und bedeutungsvoller werden, je weiter unser Horizont reicht. Wir wollen schrittweise vorgehen. Erster Schritt: Variation (Abwechslung, Abwandlung, Schwankung) umfaßt die ganze Welt, ist universell, urtümlich und wahr. Sie findet sich in jeder Gruppe von Einheiten: von Rasierklingen, Metermaßen, Steinen, Bäumen, Pferden, Menschen. Zweiter: In unserm Fall erfolgen die Abweichungen in bezug auf Größe oder Kleinheit von einer Durchschnittslänge Erwachsener, die mittels statistischer Messungen oder durch einfachen Augenschein bestimmt ist. Dritter: Bei den Größenschwankungen unserer Spezies besteht anscheinend eine konstante Relation zur Funktion kanalloser Drüsen, so daß man vom einen aufs andere schließen kann. Vierter: Man kennt außer den wachstumregulierenden kanallosen Drüsen noch anderes, was mit der Körperlänge zusammenhängt, innere Sekretionen, die ganze Kette endokriner Organe mit ihren an- und ausgleichenden Tätigkeiten. Auch sonstige Faktoren mögen dabei im Spiele 275
sein. Für sich allein sind sie vielleicht nicht wichtig oder noch nicht entdeckt, doch insgesamt gewinnen sie Bedeutung und können in Ergänzung der übrigen über manchen fraglichen Punkt hinweghelfen. Fünfter und letzter Schritt: Die betreffenden Menschen sind größer, «weil» sie zu einer Gruppe gehören, die den oben erwähnten Schwankungen unterliegt. Mit andern Worten: Sie sind groß, weil sie groß sind. Dies statistische oder Ist-Bild ist verwickelter als die teleologische «Antwort», die überhaupt keine Antwort ist. Es ist aber nur in dem Sinn verwickelt, wie jede Wirklichkeit verwickelt ist. Tatsächlich ist das Bild einfach. Man muß nur das Wort «ist» verstehen. Einsichten dieser Art lassen sich auf den tiefen, einfachen Satz zurückführen: «Es ist so, weil es so ist.» Allerdings können genau die gleichen Worte auch Ausdruck leichtfertiger Oberflächlichkeit sein, und es gibt kaum ein Mittel, das tiefe, geduldige, teilnehmende Verstehen, das All-Wahre, das in dem Satze liegt und unbegrenzt Wandlung und Ausweitung erlaubt, zu unterscheiden von der gleichgültigen Ungeduld, die sich der nämlichen Worte bedient. B. Warum sind manche Zündhölzer größer als die andern? Untersuche die Zündhölzer einer Schachtel! Auf den ersten Blick scheinen sie gleich lang. Doch wenn du sie mit dem genauesten Greifzirkel nachmißt oder auf einer analytischen Wage wiegst, erkennst du Unterschiede. Mögen sie äußerstenfalls nur 0,001% nach oben oder unten vom Durchschnitt abweichen (es wird mehr sein), so wissen 276
wir doch, daß selbst ein so minimaler Unterschied bedeutungsvoll sein kann. Teilen wir nun die vom angenommenen Durchschnitt abweichenden Hölzchen in Plus- und Minusgruppen ein, so zeigt sich, daß nicht zwei Zündhölzchen «normal» sind, d.h. den theoretisch angenommenen Durchschnitt repräsentieren. Damit ist offenkundig, daß Frage B lächerlich ist. Es gibt kein «Warum …» Es ist so. Es mögen Faktoren mitsprechen, wichtigere und unwichtigere: Dank der Universalität der Variation (auch bei den Faktoren, welche die Variation «verursachen») wird es sicherlich solche Faktoren geben, sogar vorherrschende! Aber die Frage, so wie sie gestellt ist, haut entschieden daneben. Die richtige Antwort wäre: «Es liegt in der Natur der Biester.» Darin läge durchaus nichts verächtliches. Die «Natur» eines Dings erfaßt zu haben, ist an sich schon eine Tat. Sollte jedoch die Variation im Format sehr auffällig sein (zumal wo Gleichförmigkeit verlangt ist), so dürfte wohl ein spezieller «verursachender» Faktor dominieren, der sich herausfinden läßt. Viele Menschen brauchen gefühlsmäßig für alles einen bestimmten «Grund», sonst fühlen sie sich nicht wohl; mindestens muß das Ding einen Namen haben; hat es ihn, so sind sie beruhigt. Solche Leute gehen am besten hin und untersuchen die Maschinerie, mit der die Zündhölzer hergestellt werden, und jene Variation (Schwankung), die sich in der Ungleichheit des Fabrikats ausgewirkt hat. Durch dieses Vorgehen aber betritt man ein weit umfassenderes Bereich: das der Universalität der Variation, die mit der sogenannten Kausalität wenig zu tun hat. 277
C. Führerschaft. Eine teleologische Vorstellung wäre die: Jene an der Tête sind die Anführer einer Bewegung, führen tatsächlich und leiten bewußt die Massen, so wie ein Korporal oder Offizier, der befiehlt: «Vorwärts marsch!» und die Truppe geht vor. In diesem Sinn spricht man von politischen und kirchlichen Führern und solchen auf dem Gebiete der Wissenschaft. Diese Vorstellung ist in beschränktem Umfang berechtigt. Die nicht-teleologische Vorstellung ist: daß die Leute, welche wir Führer nennen, einfach jene sind, die sich im günstigsten Augenblick in der Richtung bewegen, hinter der der stärkste Einfluß drängt und die Möglichkeit künftiger Massenentfaltung und Massenbewegung wohnt. Um hiervon ein anschaulicheres Bild zu gewinnen, betrachte man unterm Mikroskop die Bewegungen einer Amöbe! Dieses hautlose einzellige Wassertier hat lappenförmige «Fortsetzungen», Pseudofüße genannt. Es bewegt sich dadurch vorwärts, daß sich der eigentliche Leib des Tieres in ein oder mehrere dieser Pseudofüße hinein ergießt. Angenommen, die Moleküle, die sich per Zufall an der Tête des Pseudopodium befänden, das heißt der Lappen, mittels deren die Amöbenbewegung erfolgt, seien mit Bewußtsein begabt und sprächen zu sich und ihren Genossen: «Wir sind die Führer dieser großen Vorwärtsbewegung. Unsere Führerschaft ist die Ursache, daß unser ganzes Volk diesen Weg einschlägt. Die Massen folgen der von uns gewollten Richtung.» Es entspräche dies der weitverbreiteten Vorstellung von Führerschaft.
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Nun gibt es aber drei verschiedene Denktypen, und zwei davon sind teleologisch. Die physikaüsche Teleologie, die heut häufigste, haben wir eben betrachtet. Die andere, die spirituelle, ist seltener. Ehedem vorherrschend zeigt sie sich heute hauptsächlich auf metaphysischem Gebiet, in den meisten Religionen, so wie sie gemeinhin gerne verstanden werden (doch vermutlich nicht so, wie sie ursprünglich verkündet wurden und wie ihre wahren Adepten sie heute noch auffassen mögen). Gelegentlich findet man alle drei Typen beisammen am gleichen Problem. Hier ein Beispiel-Paar: a. Van Goghs fiebrig gehetzte Schaffensperiode in Arles, die in epileptischen Anfällen gipfelte und mit seinem Selbstmord endete. Teleologische Antwort: Vernachlässigung der Gesundheit in Zeiten geistiger Überanstrengung und das Arbeiten in prallster Sonne führten die epileptischen Anfälle herbei, aus denen schwere Depressionen und schließlich der Entschluß zum Selbstmord resultierten. Spirituelle Teleologie: Er eilte, drängte, hetzte, denn er hatte ein Vorgefühl seines bevorstehenden Endes und wollte vorher so viel wie möglich von seinem Wesen zum Ausdruck bringen. Das nicht-teleologische Bild umfaßt die beiden andern und zugleich zahlreiche andere Symptome, Vorgänge und Äußerungen (auch aus Van Gogh’s Bildern, Zeichnungen, Briefen). Alles zusammen bildet einen Bestandteil seiner Wesenheit, seiner Lebensgier.
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b. Die Schilddrüsen-Neurose, ihre Symptome und Äußerungen. Teleologische Antwort: Die übermäßige Tätigkeit der Schilddrüse übersteigert die Erregbarkeit des Nervensystems bis zum Nervenzusammenbruch. Spirituelle Teleologie: Die Nervosität ist die Ursache. Ein ungeordnetes oder von außen gestörtes Seelenleben hat den Patienten zu geistigen und körperlichen Exzessen getrieben, welche dem Drüsensystem, speziell der Thyreoidea zusetzen, sie aus der Balance bringen und den Körper, den ganzen Menschen in Mitleidenschaft ziehen. Man vergleiche: die Anfälligkeit der Armee für hochgradiges Heimweh führt zu militärischem Versagen. Nicht-teleologisches Bild: Das von den Teleologen Geäußerte sind getrennte Segmente eines Circulus vitiosus, der noch andere mehr oder weniger getrennte Segmente umfaßt: Symbole, vielleicht auch Teile aus einer tieferen, nichtteleologischen Schicht, in der noch vieles andere seinen Ursprung hat. Dessen Verzweigungen nennen wir «n». Mit Kausalität hat dies nur auf Umwegen zu tun. Das teleologische Denken kann höchst trügerisch sein, zumal dort, wo es nach dem ebenso oberflächlichen wie verbreiteten Schema: «post hoc, ergo propter hoc», vorgeht. Es ist da ungefähr wie bei Sprengungen in einem Steinbruch, wo der Vorarbeiter, bevor die Explosion erfolgt, aus seiner Trillerpfeife ein charakteristisches Warnungszeichen ausstößt. Die Bewohner der Nachbarschaft, auch die Haustiere, verbinden bald eins mit dem andern: das Pfeifen mit der – Sekunden danach erfolgenden – Erschütterung und dem Knall, und stellen sich automatisch darauf ein. Nach280
dem sie dies viele Male erlebt haben (ohne mit dem technischen Vorgang in unmittelbare Berührung gekommen zu sein) könnte sich bei Gedankenlosen, beim Haustier, bei Kindern, beim Naiven, beim Primitiven sehr wohl das Gefühl oder die Meinung durchsetzen: nicht nur, daß es sich hier um eine Ursache-Wirkung-Beziehung handle, sondern auch daß dieses bestimmte Pfeifen die Explosion verursache. Ein etwas Klügerer würde die gegenteilige Ansicht vertreten: die Explosion verursache den Pfiff, wobei ihm allerdings die Erklärung der zeitlichen Umkehrung schwer fallen dürfte. Der normale Erwachsene würde erkennen, daß weder der Pfiff die Explosion, noch diese den Pfiff erzeuge, daß vielmehr beides Bestandteile einer größeren Unternehmung seien, in der das «Warum» für Beides, und zwar zunächst und unmittelbar für das Pfeifen enthalten sein müßte. Um nun der Sache theoretisch kausal auf den Grund zu kommen, brauchte ein solcher Denker allerdings sehr viel Verstand, müßte von einer zur anderen Ursache vorwärts dringen, müßte all jenen verwikkelten Motiven, Gründen und ihren Verzweigungen (die uns, aber nicht ihm, von vornherein bekannt sind) auf die Spur kommen und befände sich schließlich in einem Durcheinander von Gedanken über Produktion, Eigentum an den Produktionsmitteln und ökonomischen Warums, Weswegens, Zu-welchem-Zweck, lauter Fragen, über die kaum Übereinstimmung zu erzielen wäre. Dies Exempel ist einfach und dürfte einleuchten. Die meisten Dinge sind weit verwickelter und subtiler, gehen in ihren Relationen und einem Großteil ihrer Ursprünge weit zurück auf Umstände, die viel schwieriger zu ergrün281
den sind als das warnende Trillern des Dynamitiers. Selbst über die hier endende, von Menschen geschaffene Kette wissen wir wenig genug – um wieviel weniger von den rein naturhaften Phänomenen, die von den Herren Teleologen seelsorgerisch verwaltet werden. Selbst bei den scheinbar offenkundigsten UrsacheWirkung-Situationen – prüft man sie auf Grund umfassenderer und detaillierterer Kenntnisse – verliert der Gesichtspunkt «Ursache-Wirkung» an Wirkung und Ursache, und die konstatierende oder statistische Betrachtungsweise gewinnt an Bedeutung. Es läßt sich wohl mit Sicherheit annehmen, daß nicht-teleologische Schlußfolgerungen «endgültiger» sind als teleologische. Denn diese erweisen sich, außer wo man sich ihrer nur zum Behelf bedient, als lähmend und einengend. Doch im gleichen Maß, in dem das Ist-Denken aufgeschlossener ist, erfordert es eine größere Sorgfalt und Disziplin, um die Gefahren unzulänglicher, zerfahrener Anwendung auszuschalten. Aber häufig sieht es danach aus, als habe eine der beiden teleologischen Methoden zu einer definitiven Antwort geführt, ein Irrtum, der teilweise auf Wunschdenken beruht. Jemand fragt angesichts einer bestimmten Erscheinung «Warum?» und erwartet im Grunde (und empfängt in etlichen Fällen) nur eine berichtende Antwort, statt des definitiven: «Weil …», das er zu begehren vermeint. Doch er akzeptiert im allgemeinen die lediglich referierende Antwort (sie kann nicht anders ausfallen, solange sie nicht das Ganze umfaßt; dies aber kennt man nur durch «darin Leben») und hält sie für ein genau bestimmtes «Weil». 282
Wunschdenken nährt diesen Irrtum, da jedermann das Unumstößliche, das Vollkommene und Gewisse sucht (daher die Überbewertung der Diamanten, der bleibendsten Gegenstände auf Erden!) und immer erwartet, er werde es finden. Richtiger wäre es, die referierende, schildernde Antwort nur als Anstoß anzusehen, als Vorspann, als Aufforderung: alle übrigen Relationen, soweit nur immer zugängig, zu betrachten und das Gesamtbild mit all seinen Unterlagen und unter Aufbietung aller geistigen Fähigkeiten ins Auge zu fassen. Aber man akzeptiert die Antwort statt eines richtigen «Weil», hält sie damit für erledigt (denn sie hat ja nun einen Namen), interessiert sich nicht mehr dafür und geht zu etwas anderm über. Doch in der Hauptsache scheinen wir gelegentlich zu definitiven Antworten zu gelangen, und zwar durch das Wirken eines andern uranfänglichen Prinzips: der Universalität der Quanten. Kein Ding geht gleichmäßig in ein anderes über. Die Übergänge sind sprunghaft, wenn auch oft die Sprünge so klein sind, daß wir den Eindruck von Stetigkeit haben. Die einzelnen Quanten erscheinen überall mit Zwischenräumen, Synapsen. Bei den Lichtwellen ist jede Welle ein Teilchen, jedes Teilchen eine Welle. Jedes stößt an ein anderes an, oft in radikal verschiedenen Systemen, wenn auch in solchen Fällen nur schwach. Wir bezweifeln stark, daß es überhaupt irgendwelche «geschlossenen Systeme» gibt. Mag man z. B. den Ozean dafür halten, so hat doch so Mancher, der die Winterstürme in Pacific Grove oder Carmel erlebt hat, sein Haus vom Anprall jener Wellen erzittern gefühlt, die eine halbe Mei283
le oder auch mehr von ihm entfernt an ein total anderes «geschlossenes» System stießen. Jedoch die größte Täuschung beim Soll-Denken, oder sagen wir lieber: der größte Einwand dagegen, ist mit dem Gefühlsinhalt, dem Glauben, verbunden. Die Leute glauben, ja sie verkünden die auf diesem Wege an sie gelangten «Antworten»; sie verschließen Augen und Geist krampfhaft vor möglicherweise entgegengesetzten Anschauungen, und dies geschieht nicht nur bei Laien; die sich bekämpfenden «Schulen» aller Fakultäten bieten dafür Beispiele in Fülle, wobei es sowohl zwischen den Anhängern der gleichen teleologischen Methode zu Kämpfen kommt, wie auch zwischen den Vertretern verschiedener. Für den Ist-Denker aber ist ein solcher Konflikt nicht möglich. Zum Beispiel im Fall einer Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyroidismus) wird die Therapie, welche von jenen angeraten wird, die an psychische oder neurotische Entstehungsgründe glauben, wahrscheinlich in scharfem Gegensatz stehen zu den Ratschlägen derer, die sich auf rein physische Ursachen kaprizieren. Selbst innerhalb der letzteren Gruppe, der physikalischteleologischen, kann ein Zwiespalt auftauchen zwischen denen, die speziell auf eine Störung der Schilddrüse tippen, und jenen, die einer generellen Gleichgewichtsstörung der kanallosen Drüsen Schuld geben. Doch zwischen keiner jener Meinungen und dem Bild, das sich der IstDenker macht, kann ein Konflikt entstehen, denn dieses Bild umfaßt auch jene, wertet sie entsprechend ihrer Bedeutung, versucht es zum mindesten, akzeptiert vorübergehend vielleicht etwas davon, denn auch die teleologi284
schen «Antworten» werden von der nicht-teleologischen Methode keineswegs außer acht gelassen, denn obwohl nur bedingt wahr, gehören sie zum Gesamtbild, nur muß als erstes ihre Bedingtheit erkannt sein. Auch Irrtümer sind Realitäten und entsprechend ihrer Intensität und Verbreitung mit in Betracht zu ziehen. «All-Wahrheit» muß auch alle bestehenden Fehlmeinungen erfassen, ihre Beziehung zum Ganzen erkennen und darf ihre Wirkungen nicht bestreiten. Auch hier gilt der Satz: «Es ist so, weil es so ist.» In seinem Artikel über Ökologie in der Encyclopaedia Britannica * erzählt Elton: Als vor Jahren in Norwegen das jagdbare, wichtige Wildhuhn Lagopus lagopus auszusterben drohte, ergriff man drastische Maßnahmen zum Schutze desselben, vor allem vor seinem Hauptfeind, einem Habicht, dem dieser Vogel vor allem als Nahrung diente, und setzte für jeden erlegten Habicht eine Belohnung aus. Zwei Folgen traten ein: 1. Es wurde eine beträchtliche Menge Habichte ausgerottet. 2. Die Lagopi verschwanden noch rapider als vorher. Die naiv in Anwendung gebrachte Maßnahme hatte versagt. Doch gab man sich damit nicht zufrieden, wollte die nützlichen Waldhühner nicht den gleichen Todesweg gehen lassen wie die nordische Wandertaube und den Tauchvogel Auk; das Untersuchungsgebiet wurde behördlicherseits erweitert, und die ökologische Analyse ergab: Die norwegischen Waldhühner waren zu jener Zeit von einem Hautschmarotzer, Eimeria avium, heimgesucht, der eine parasitäre * 14. Edition, Bd. in, S. 916: „Ecology“ 285
Krankheit, Coccidiosis genannt, hervorrief. In ihrem Anfangsstadium verringerte die Krankheit die Fluggeschwindigkeit, so daß die Erkrankten den Habichten leicht zum Opfer fielen. Dadurch daß die Habichte sich dies zu Nutzen machten, verhinderten sie zugleich die Verbreitung des Parasits, und die Epidemie hätte wohl nicht ihren Höhepunkt erreicht, wäre eine wohlmeinende Behörde nicht dazwischengefahren. So hatten die Feinde der Waldgans ihr Gutes erwiesen, die Freunde Böses. Die Erkenntnisse des Ist-Denkens werden von Vielen als unbarmherzig empfunden. O diese Scheu, sich ihrer zu bedienen! Die Leute haben Angst, sie verlieren den Boden unter den Füßen und den gefühlsmäßigen Rückhalt ihres Glaubens an die Erhaltung der Vogelwelt, an die beruhigenden, alten Institutionen der Kirche, der Universität, des Familienlebens und eines wohlgenährten Bankkontos. Es ist die gleiche Scheu, die jede Loslösung vom Überlieferten einflößt. Entsetzt und zugleich fasziniert betrachtet die kleine Schwester den großen Bruder, der nicht mehr an den Sankt Niklas glaubt, blickt der junge Theologiestudent auf das ältere Semester, das die primären Bindungen seines Kinderglaubens abgestreift hat, glotzt der Fettbürger auf die Beinkleider emanzipierter Damen. Wer sich konsequent des Ist-Denkens bedient und außer im engsten Freundeskreis danach handelt, gilt als rücksichtloser Einzelgänger und hartherziger Egoist. In Wahrheit trifft das Gegenteil zu: Er ist zärtlich, zartfühlend und besorgt. Er umarmt die Welt, was sonst selten mal einer tut. Er fragt nicht nach dem Warum; es ist ihm nicht wichtig, sobald er weiß, was ist und was war. Er 286
braucht nichts zu beschönigen, nichts zu verzeihen, denn es «ist», ist Teil eines Gesamtbildes. In Carmel-Woods hatte ich eine Nachbarin, deren Hund vergiftet wurde und die sich darüber irrsinnig aufregte. Abends traute sie sich nicht mehr auf die Straße, da ihr die Begleitung des Tieres fehlte. Sie rief uns an und fragte, ob wir es nachts bei geschlossenen Fenstern hören könnten, wenn sie mit ihrer Tischklingel läute; sie müsse doch wen benachrichtigen, wenn Einbrecher in Vorbereitung eines Einbruchs ihr die Telephonleitung durchschnitten hätten. Das war natürlich eine absolut törichte Furcht, eine Neurose. Als Ist-Denker sagten wir liebevoll: «Wir hören die Klingel ganz deutlich, werden aber außerdem ein Fenster offen lassen und uns mit Hosen ins Bett legen, damit wir im Augenblick bei Ihnen sein können.» Wir hielten uns nicht damit auf, ob die Einbrecherfurcht begründet sei; die Frage war sekundär. Und als die Nachbarin sich entschuldigte: «Verzeihen Sie, ich weiß, es ist verrückt von mir, mich so zu ängstigen, aber ich bin so aufgeregt», lautete die ich-denkerische Antwort: «Verehrteste, da gibt es doch nichts zu verzeihen. Wenn Sie Befürchtungen haben, so sind sie. Es sind reale Dinge, die man beachten muß. Ob es verrückt ist oder nicht, hat damit nichts zu tun. Was sie sind, ist unwichtig angesichts der Tatsache, daß sie sind.» Mit andern Worten: Die Teleologie der Furcht kam höchstens in zweiter Linie. Die Wahnvorstellung ließ sich durch ein kameradschaftliches Lächeln und einen netten Ton eher wegbringen als durch die Worte selbst. Der teleologisch Denkende hätte sich zunächst gesagt: 287
das bildet die Frau sich nur ein; sie macht sich verrückt. Und ihr hätte er ruhig und sachlich auseinandergesetzt: «Es hat gar keinen Sinn, daß Ich etwas tue. Es liegt einzig allein an Ihnen. Ihre Furcht ist unbegründet. Die müssen Sie zunächst einmal überwinden, und wenn ich dann etwas für Sie tun kann – mit dem größten Vergnügen!» Jedes Wort ein leiser Tadel. Wenn er ein gutes Herz hat, wird der Betreffende der Geängstigten helfen, ihre Ängste zu überwinden, (Ersatz für Verständnis). Wenn er besonders nett ist, wird er sich mit den Ursachen der Furcht beschäftigen, d.h. dieselbe kausal zu verstehen suchen. Aber bei nicht-teleologischer Behandlung kommt als erstes: Liebe und verstehendes Hinnehmen. Wenn dann noch weiteres nötig ist, kann man ruhig und vernünftig die Sache besprechen. Streng genommen paßt der Ausdruck «nicht-teleologisches Denken» gar nicht auf das, was wir im Sinn haben. Modus operandi wäre die richtigere Bezeichnung: Die Methode, Gegebenheiten jeder Art zu behandeln. Das obige Beispiel betrifft ja auch mehr das Fühlen als das Denken. Die Methode geht über bloßes Denken hinaus; sie erheischt ein «Sich Hineinleben». Beim Beispiel von den Arbeitslosen war das Denken nur der Ausgangspunkt, ein Beginn, um ins Innere der Geschehnisse einzudringen, «das Eis zu brechen». Mit der Schulderörterung behandelt man die Situation auf die beschränkte, unzulängliche teleologische Art. Die nichtteleologische Methode schließt diesen Gesichtspunkt als einen korrekten, wenn auch beschränkten mit ein. Es besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen 288
Ursache (im Denken) und Schuld (im Fühlen, und die Schuld ruft den Tadel hervor). Man fühlt, daß unsre Nachbarn wegen ihres Hasses, ihres Ärgers oder ihrer Furcht tadelnswert sind. Man denkt, daß die miserabeln Straßen durch die Politik «verursacht» sind. Das nichtteleologische Bild ist in beiden Fällen das umfassendere und reicht über Schuld, Tadel und Ursache weit hinaus. Und dieser nicht-kausale, nicht-beschuldigende Gesichtspunkt scheint mir sehr oft, dem «neuen Ding» zu entsprechen, dem Hegelschen «Christ-Kind», wie es unerwartet der Vereinigung zweier entgegengesetzter Standpunkte entspringt, etwa der Verbindung physikalischer und spiritueller Teleologien, zumal bei einem Ursachenkonflikt zwischen beiden oder innerhalb eines derselben. Die neue Sicht wirft häufig Licht über ein umfangreicheres Bild. Sie bietet einen Schlüssel, der Höhenbereiche erschließt, die weder dem einen noch dem andern teleologischen Blick erreichbar sind. Interessante Parallelen liegen hier vor: zum Triangulum, zu christlichen Ideen von der Dreieinigkeit, zu Hegels Dialektik, zu Swedenborgs Metaphysik der göttlichen Liebe (Fühlen) und göttlicher Weisheit (Denken). Die Faktoren, die wir als «Antworten» betrachtet haben, scheinen nur Symbole zu sein, beziehungsreiche Hinweise auf Dinge, denen sie zugehören, ohne daß dabei von Ursache und Wirkung die Rede sein kann. Der wahrste Grund für jeglichen Dinges Sein ist der, daß es ist. Dies ist ein gültigerer, klarerer Grund als alle andern Einzelgründe oder auch eine Gruppe von Gründen, die doch nicht das Ganze darstellt. Alles aber, was weniger als das Ganze bildet, ist 289
nur ein Teil des Gesamtbildes, und das grenzenlos Ganze ist unerkennbar, außer du lebst darin; dann bist du es. Ein Ding mag so sein, «weil» tausendundein mehr oder weniger wichtige Gründe dafür sprechen, so wie ein Mensch wegen glandularer Insuffizienz übergroß ist. Die Ergänzung dieser vielen Gründe (die eher in der Natur der Verbindungen als in der Person liegen) ist, daß er so ist. Die einzelnen Gründe, egal wie stichhaltig sie sein mögen, sind nur fragmentarische Teile des Bildes. Das Ganze schließt notwendig alles ein, was als Objekt oder Subjekt einen Anstoß gibt, immer weitere und im Weiten schwindende Kreise zieht oder in der ursprünglichen Intensität des hervorgerufenen Strudels verharrt. Unsere häufigen Andeutungen von etwas Tiefliegendem wollen keinen Mystizismus mit einbeziehen – es sei denn, man nenne Gedankengänge, die eine unbegrenzte Zahl von Faktoren und Symbolen umfassen, mystisch. Allein die hier in Anwendung kommende Unendlichkeit begegnet uns auch in den mathematischen Aspekten der Physiologie und Physik, und beide sind weit entfernt von Mystizismus in des Wortes üblicher Bedeutung. Vielmehr ist das Tiefliegende wahrscheinlich nicht mehr als eine Ergänzung bekannter Symbole, Fingerzeige und Wechselbeziehungen, nur daß seine Kraft = n ist. Solche Ergänzung braucht nichts in sich zu schließen, was sehenswürdiger wäre, als was wir bereits kennen. Aber ebensowohl könnte es alles einschließen, auch Vorgänge und Wesensformen, die von den allgemein bekannten so verschieden sind wie Vektor, Skalar und Tensor oder wie die Vorstellungen vom Elektron in der theoretischen Physik sich vom me290
chanischen Weltbild der victorianischen Naturwissenschaftler unterscheiden. Kausalität wäre hier lediglich ein Name für etwas, das nur im schiefen Stückwerk unserer Rekonstruktionen existiert. Gewiß, mit all ihren Beziehungen ist sie etwas reales, aber nichts geistig erfaßbares, da sie sich überall hin erstreckt und nicht durch unsern beschränkten Verstand erfaßbar ist, so wenig wie durch irgend etwas anderes von so kurzer Lebensdauer. Die psychischen oder intellektuellen Rückstände, die nach den meisten sorgsamen physikalischen Analysen verbleiben, auch sichtbare physikalische Reste, zeigen uns Kindern des zwanzigsten Jahrhunderts das gleiche Muster wie die ehrbarsten, wissenschaftlichsten geistigen Spekulationen mittelalterlicher Philosophen. Diese Rückstände, deren kleinstes Differential, die 0,001 %, die zur Weiterexistenz der Seetiere genügen, erscheinen am Ende als die wichtigsten Dinge der Welt, nicht wegen ihres Umfangs, sondern ihrer Allgegenwart. Das Differential ist das wahre All, der wahre Katalysator, der kosmisch die Macht hat, zu lösen und zu binden. Jede weit genug eindringende Untersuchung wird diese Residua ans Licht bringen oder sie noch unangetastet lassen (wie Emerson in «Die Überseele» bereits vor hundert Jahren bemerkte); sie wird in die Backsteinmauer, genannt «Unmöglichkeit der Vollendung», hineinrennen und zugleich auf der Gültigkeit der Vollendung beharren. Die Ausnahmen bestätigen die Regel. Denn die Ausnahmen sind die gangbarsten Vehikel des Intellekts. Alle sind erklärbar, denn wenn eine erfaßt ist, führt sie mit der Kraft «n» zu anderen, tieferen Anomalien. 291
Dies Tiefliegende, von dem die Nicht-Teleologen sprechen, tritt überall in Erscheinung, verbindet entgegengesetzte Dinge auf unterschiedlichen Höhen, so wie es Realität und Potential in Verbindung bringt, doch in keinen Kausalzusammenhang. Die Dinge drücken es aus, so wie es selbst Ausdruck der Dinge ist. ES ist jegliches Ding, und jegliches ist ES. So wie Swinburne, die Erdgöttin Hertha besingend, sie sprechen läßt: «Mensch, gleich und eins mit mir, Mensch, aus mir gemacht, Mensch, der ist ICH», also seien alle Dinge, die DIES sind – und DIES sind ALLE – in gleicher Weise gepriesen! DIES materialisiert sich überall, so wie Eddington das Nicht-Integralzeichen «q» überall erscheinen sieht, im Hintergrund aller Fundamentalgleichungen *, dergestalt, daß die Lichtgeschwindigkeit trotz und in ihren Schwankungen sich gegen Untersuchungen quasi aufzulehnen scheint. Das Ganze ist notwendigerweise Alles: die Gesamtheit von Tatsachen und Illusionen, von Leib und Seele, von physischer Wirklichkeit und übersinnlicher Wahrnehmung, ist Individuum und Kollektiv, Leben und Tod, Makrokosmos und Mikrokosmos (die größten Quantitäten und dazwischen die größten Synapsen), Bewußtsein und Unterbewußtsein, Subjekt und Objekt, und alles dies portraitiert in dem Worte ist, dem tiefgründigsten der letzten, tiefsten Realität, nicht flach oder teilweise, wie Gründe es sind, sondern – tiefer und teilnehmender – auch den östlichen Begriff des Seienden umfassend.
* „The Nature of the Physical World“, S. 208–210. 292
All dies am heißen Sand an Ostersonntag … Der Tag verging, die Zeit verrann … Unser Abstecher wurde ein dualistisches Gebilde aus Sammeln, Essen, Schlafen einerseits und aktiv spekulierendem Denken andererseits. Sonnenlicht, Bläue, Meeresstille, Schiffsmaschine und wir Menschen waren Teile eines Ganzen, und wir fühlten dessen Natur, wenn auch nicht seine Gestalt.
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15 NACHMITTAG, ABEND UND OSTERMONTAG VORMITTAG
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m Mittag verließ unser Schiff die stille Bahia Amortajada. Wir fuhren der Küste entlang nach Nordnordwesten. Südlich der Punta San Marcial, im Nordteil des Hauptriffs, sollte wieder gesammelt werden, aber das Wasser ging nicht so weit zurück, wie die Gezeitentafel versprach, und vereitelte eine erschöpfende Suche. Oben an den Steinblöcken fanden wir einige wenige Polykladeen, zwei große und zahlreiche kleine Chitonen, es war das erste Mal, daß wir sie in größerer Anzahl entdeckten. Viele Seeigel wurden sichtbar, leider zu tief, um an sie heran zu kommen. Garnelenlarven schwammen in kleinen Kreisen. Im Hinblick auf die Zahl der gefundenen Formen war das Sammeln kein Erfolg. Abends ließen wir eine nach oben mit einem Papierkegel abgedeckte Lampe bis dicht an die Wasserfläche hinunter. Pelagische Isopoden und Mysiden schwärmten in den erleuchteten Ring, bis das Wasser von ihrer Menge zu schwellen, zu wirbeln schien. Dazu stießen, von der willkommenen Nahrung verlockt, zahlreiche kleine Fische, und nach diesen schnappten an der Peripherie des Lichtkreises die großen. Von Zeit zu Zeit unterbrachen wir diesen verrückten Tanz mit unsern Tauchnetzen und schütteten den Fang zur Inaugen294
scheinnahme in Porzellanschalen. Dabei entdeckten wir kleine, durchsichtige Tiere, wie wir sie bisher noch nie gesehen hatten. Da wir keine gute Ebbe hatten, gingen wir bald zu Bett, standen schon um vier Uhr wieder auf und machten uns in der Dunkelheit mit starken elektrischen Handlaternen bewaffnet auf die Suche. Diese Sammelart hat vor der bei Tageslicht unbestreitbare Vorzüge, jedenfalls auf kleinem Gebiet. Einmal bemerkt man im engen Kreis mehr Einzelheiten, vor allem aber sind viele Seetiere nachts lebhafter, rühriger als bei Tag. Das künstliche Licht schreckt sie anscheinend nicht. Die Ebbe war diesmal sehr anständig. In einer Spalte des Riffs fiel unser Blick auf eine mächtige, blau und orangen gefärbte Languste mit braunen Tupfen. Aber ihr Fang erforderte Vorsicht! Diese Riesenkrebse sind stark und so gut bewaffnet, daß sie im Nahkampf einem bös in die Hand schneiden. Ed näherte sich behutsam, bückte sich und packte mit beiden Händen das Tier um die Mitte. Aber es gab überhaupt keinen Kampf, sei es, daß unsre Languste faul, krank oder durch die Brandung verwundet war. Sie wehrte sich nicht. Die Höhlungen im Marcial Riff enthielten eine Menge keulenstacheliger Seeigel und etliche scharfstachelige rote, solche, wie sie uns an einem der Vortage Wunden beigebracht hatten; ferner verschiedenartige Seefächer, zwei der gewöhnlichen Seesterne und die uns neue Spezies Othilia tenuispinus, der wir weiter nördlich im Golf noch öfters begegnen sollten. Wir nahmen eine reichliche Anzahl vielstrahliger Sonnensterne und eine uns neue flache Art See295
gurke, wie wir sie nie wieder sahen, vermutlich ein Stichopus fuscus. Im Licht unserer Handlaternen beobachteten wir den Pufferfisch bei der Mahlzeit, wie er sich nahe der Oberfläche träge im klaren Wasser bewegte. Auf dem Grund krochen Mürb-Sterne, wie wir sie bisher nur unter Steinen gefunden hatten, gleich kleinen Schlangen zu Tausenden herum. Bei Tageslicht rühren sie sich fast gar nicht. Wo immer der scharfe, kräftige Strahl unserer Lampe ins Wasser leuchtete, erblickten wir Fische in rascher Bewegung, und der Grund unter ihnen lebte von eifrig fressenden Invertebraten. Aber das Sammeln mit Handlampe ist umständlich. Einer muß das Licht halten, der andere die Tiere nehmen, und da das Laternchen immer wieder vom Salzwasser naß wird, lebt es nur kurz. Die prächtige große Languste war der Haupttreffer dieses Ausflugs. Wir versuchten, sie zu farbfilmen; wie gewöhnlich ging etwas schief, aber das Hinterteil des schönen Tiers bekamen wir auf den Streifen. Immerhin ein Fortschritt! Bei den meisten unserer Aufnahmen erwischten wir überhaupt nichts. Wir brachten mehrere Chitonarten an Bord, eine größere Anzahl Tunikaten, einige Turbellar-Würmer, aber mit denen hatten wir Schwierigkeiten, denn ehe man sie konservieren kann, schmelzen sie schon dahin. Mehrere Arten Mürbsterne lagen in unsern Tiegeln, zahlreiche Krabben und schnappende Shrimps, gefiederte Hydrozoen, zweischalige Muscheln verschiedener Gattung, Schnecken, kleine Seeigel, Würmer, Einsiedlerkrebse, Sipunkuliden und Schwämme. Auch die kleinen Ebbeteiche waren voll pelagischer Garnelenlarven, pelagischer Isopo296
den – asselähnliche Krustentierchen – und kleiner Mysiden. Beim Marcial Riff ist das Wasser besonders dicht von jenen pelagischen Tierchen bevölkert, die unsere Buben von La Paz kurzweg Wanzen genannt haben, und diese Wanzen schwammen, krochen und huschten hier überall. Das seichte, warme Wasser der Küste steigert den Wettkampf des Lebens erstaunlich. Nach dem Frühstück lichteten wir den Anker und fuhren weiter. Wir hatten nun schon Routine: Sammeln, Sichten, Konservieren, Weiterfahren und wiederum sammeln! Die See war tiefblau, und der Fische gab es sehr viele. In der Ferne sahen wir Tunascharen das Wasser schlagen. Schwertfische sprangen um unser Schiff. Immer stand einer von uns mit einer leichten Harpune im Bug und versuchte einen von ihnen zu spießen. Aber wir kamen nie nahe genug. Wurf auf Wurf ging zu kurz. Wir konservierten und etikettierten alles der Reihe nach. Die See lag so ruhig, daß selbst bei den heikelsten Tieren alles glatt ging. Wenn das Boot rollt, pflegen Seeanemonen, Sipunkuliden und andere dazu befähigte Tiere sich zusammenzuziehen und sich in sich selbst zu verkriechen. Selbst unter Epsomsalz-Behandlung entspannten sie sich nicht. Doch heut war die See glatt wie geschorener Rasen. Unser Kielwasser fächelte noch meilenweit hinter uns her. Die Angeln an der Reling schnappten und schnellten, und wir zogen Sparkys Freund mit dem kuriosen Namen Skipjack sowie eine Mexikanische Sierra herauf. Dieser goldene Fisch mit blauen Flecken hat Forellengestalt und schwimmt sehr rasch, aber nie wie die Tuna in dichten 297
Scharen. Seine Größe differiert von 37 bis über 60 cm. Obwohl er zur Gruppe der makrelenartigen Formen gehört, ist sein Fleisch weiß, süß und sehr zart. In der Pfanne gebakken schmeckt er am besten, besser als jeder andere Fisch.
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16 25. UND 26. MÄRZ
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m Mittag fuhren wir in den Puerto Escondito, den Verborgenen Hafen. Ein magischer Ort. Wolltest du die Bucht deiner heimlichen Wünsche malen, es käme wahrscheinlich etwas ähnliches dabei zum Vorschein wie dieser kleine Port. Wir schwenken um eine Landzunge. Hellgrüne Mangroven umsäumen einen gerundeten Busen; dann erst gewahrt man in ihm versteckt eine zweite, schmale längliche Bucht. Ihr Eingang ist bei Flut nur etwa 15 m breit, die Wassertiefe in seiner Mitte laut Karte 3,48 m, aber da flutete es so ungestüm, daß wir die Einfahrt nicht riskierten, sondern im Schutz des ersten Vorsprungs, der Piedra de la Marina, vor Anker gingen. Hier hatten wir 18,2 m Tiefe, was Tony beruhigte. Von Süden her, die Küste entlang, näherte sich ein Eingeborenen-Kanu mit kleinem Treibsegel. Sobald der Anker gepackt hatte, warfen wir Angelleinen aus. Im Nu hatten einige Hammerhaie und ein großer roter Schnapper angebissen. Die Luft war heiß, vom Duft der Mangrovenblüten geschwängert. Der warme kleine äußere Busen, sein schlammiger Boden, sein von glatten Kieseln gesäumtes Ufer, war zunächst unsere Sammelstation. Am Grund erblickten wir graue, etwa 90 cm lange schlangenartige Tiere mit schwarzer Zeichnung und blumenartigen violett-orangenen Köpfen wie Chrysantemen, 299
dergleichen wir noch nie gesehen hatten. Wir wateten in Gummistiefeln das Ufer entlang, fingen einige und erkannten: es waren Riesen-Synaptiden * seltsame Geschöpfe, erschreckend und schwer zu behandeln, denn an allem, womit sie in Berührung kommen, kleben sie fest, aber nicht mittels Schleim, sondern so, als seien sie mit zahllosen Saugzellen versehen. Sobald man sie aus dem Wasser nimmt, bestehen sie nur noch aus Haut. Ihre Körperlichkeit kommt nur von dem Wasser, das sie einziehen und durch sich hindurchlaufen lassen. Sobald man sie herausnimmt, entweicht das Wasser, und sie hängen schlaff wie Wursthäute. Sobald wir das heraus hatten, brachten wir möglichst viele der fesselnden Gattung sachte zur Oberfläche und fingen sie in untergetauchten hölzernen Sammeleimern auf, so daß sie es nicht mehr nötig hatten, ihr Wasser zu lassen. Am Meeresboden krochen sie munter herum, bewegten graziös ihre Blumenhäupter, während die Flut ihre Mägen unablässig mit Nahrung versorgte. An Bord zeigten sie in hohem Maß die Gewohnheit vieler Holothurien: sich selbst auszuweiden. Diese Euapta scheint ganz besonders nervös. Wir suchten sie mit Epsomsalzen zu entspannen, um sie in ganzer Länge mit ihrem ausgestreckten Blumenkopf töten zu können, allein das Salz, so sorgsam wir es in Anwendung brachten, hatte nur den Effekt, daß sie die Köpfe einzogen und gleich darauf ihre Mägen ins Wasser ausstießen. «Mägen» ist unpräzis ausgedrückt, denn was sie ausspeien, ist in Wirklichkeit der Eingeweidetrakt und Atmungsbaum. Wir betäubten sie * Wurmartige Seegurkenart, Euapta godeffroyi 300
mit reinem Sauerstoff und versuchten sie dann zu salzen. Das Resultat war in beiden Fällen gleich unbefriedigend. Erst dadurch, daß wir ihnen die Salze in winzigster Dosis und sehr langsam beibrachten, gelang es endlich, einige nicht-ausgeweidete Exemplare zu erhalten, doch keines mit ausgestrecktem Kopf. Die Farbfilmaufnahmen der lebenden Tiere, obwohl nicht besonders geglückt, zeigten doch wenigstens Form, Farbe und Bewegung der ausgestreckten Chrysantemenköpfe. Wieder, wie gestern, bekamen wir nur das eine Ende auf den Streifen, aber diesmal wenigstens das wichtigere: den Kopf. Wir sahen auch viele hellgrüne Hornhechte, Nadelfische, doch waren sie so flink, daß kein einziger in eins unserer Tauchnetze ging. Der Giftfisch Botete war zahlreich vertreten. Tex und Sparky fingen etliche mit dem leichten Schlagnetz. Wir fanden auch zwei neue Seesternarten und viele Cerianthus-Anemonen. Inzwischen ruderte Tiny Colletto in unserm kleinen Beiboot zur Mitte der Bucht und pickte mit einem dreizackigen Spieß ab und zu einen Kissenstern vom Boden. Plötzlich hörten wir ihn schreien und sahen, daß dicht vor ihm ein Riesenrochen, die Manta, ihre flügelartigen Brustflossen mindestens drei Meter weit gespreitet, aufgetaucht war. Selten, daß man sie sonst in flachen Buchten erblickt! Wir schrien zurück, er solle sie spießen. Er aber hockte reglos zusammengekauert, den Blick starr auf die fortschwimmende Manta gerichtet, am Boden des Bootchens. Die Begegnung schien ihm unfaßbar. Der Riesenrochen hätte mit einem Schlag seiner «Flügel» das Boot mitsamt Tiny kippen und ihn dann packen können. Es dauerte 301
lange, bis Tiny wieder bei Trost war. Noch eine Stunde danach brachte er nichts heraus als immer nur: «Habt ihr das gesehen, das gottverdammte Vieh …!» Doch seitdem war es sein höchster Ehrgeiz, so einen riesigen Knorpelfisch zu erlegen. Das Eingeborenen-Kanu, das wir bei unsrer Anfahrt gesichtet hatten, war nun näher gekommen, und legte sich neben die Western Flyer. Ein Indianer mit seinem Jungen kam an Bord. Sie brachten etwas, das sie Abalonen nannten; es waren aber keine, sondern gigantische Kammuscheln, Peeten, die ein beliebtes Nahrungsmittel bilden; ferner mehrere Exemplare der großen fächerförmigen eßbaren Muschel Hacha; seltene Perlaustern und Großmuscheln. Wir kauften ihm alles ab und baten ihn, uns noch andere Schalentiere zu bringen, deren Suche uns Wochen gekostet hätte. Es ist überall das gleiche: Von einem wohlschmeckenden, von einem giftigen, einem gefährlichen Tier wissen die Einheimischen alles, besonders, wo es zu fangen ist. Ungefährliche aber und ungenießbare gucken sie überhaupt nicht an, haben sie scheinbar niemals gesehen. Bei der ummauerten Einfahrt zum eigentlichen, dem inneren Puerto Escondito erhob sich hart am Wasser ein steinerner Rohbau. Dahinter schoß ein langes Boot hervor, getrieben von einem Außenbordmotor, dessen Spezies sich hauptsächlich dadurch von der Hansenschen Seekuh unterschied, daß sie ihren Lenkern gehorchte. Im Boot saßen einige Indianer und drei Herren in Breeches und Tourenstiefeln. Sie kamen zu uns an Bord und stellten sich vor. Der erste war Leopold Pérpuly, Eigentümer 302
einer Ranch am Wüstenrand von Puerto Escondito, der zweite Gilbert Baldibia, Lehrer aus Loreto, der dritte Manuel Madinabeitia C. Er war beim Zoll, ebenfalls aus Loreto und wie die zwei andern auf Ferien und Jagd; alle drei waren stattlich, gut gewachsen und trugen die unvermeidlichen A5-kalibrigen Selbstlade-Dienstpistolen. Wir öffneten für sie eine Büchse Fruchtsalat, und als wir mit ihnen über die Gegend plauderten, luden sie uns ein, mit ihnen das großhörnige Borregoschaf jagen zu gehen. Sie wollten sogleich aufbrechen; man werde das wüste Felsengebirge besuchen, dort kampieren und morgen wieder zurück sein. Ohne zu zögern, schlugen wir ein und folgten den Herren zu der eine halbe Meile hinter Puerto Escondito gelegenen kleinen Farm. Wir wollten keinen Borrego töten, sondern nur die Gegend kennenlernen, und wie sich alsbald herausstellte, trachtete auch keiner der Herren dem großhörnigen Schaf nach dem Leben. Leopoldo Pérpulys Ranch war rings von Gestrüpp umgeben und mit braunem Schlammwasser bewässert. Dieses wird durch unablässig arbeitende Maulesel mittels einer unendlichen Eimerkette aus 20 m Tiefe emporgewunden. Dadurch erntet der Rancher auf diesem trockenen Wüstenfleck Tomaten und Weintrauben. Die Hütten der Rancheria bestehen nur aus niederen Wänden mit Dächern aus geflochtenen Palmblättern, ihre Böden aus festgestampftem Lehm, und doch umwehte uns hier Behaglichkeit. Die Indianer lassen sich Zeit zur Arbeit. Durch das Flechtwerk der Hütten lugten kleine und größere Kinder nach uns. Für uns standen Maulesel und ein Pferdchen zur Ver303
fügung. Zwei Indianer liefen zu Fuß uns voraus, was Ed und mir leid tat. Bald aber bemerkten wir, daß ihr Hauptkummer darin bestand, daß wir auf unsern Reittieren so langsam vom Fleck kamen. Wiederholt verloren wir sie aus den Augen, bis wir sie vor uns am Wege kauern und auf uns warten sahen. Wir ritten hintereinander auf schlecht gebahnter Straße, die bis Loreto verlängert werden sollte. Das Dornen- und Kaktusdickicht war zwar gerodet, aber die Fahrbahn noch nicht planiert. Eine phantastische Landschaft! Dichte Xerophyten: Kakteen, Mimosen und Dornbüsche, die vor Hitze knisterten; Flechten, die wenn man sie brach, rot bluteten. Vor Erfindung der Anilinfarben benutzte man sie als Färbemittel. Señor Pérpuly warnte uns vor bestimmten Büschen: «Wer sie anfaßt und sich nachher an die Augen fährt, kann erblinden.» Andre Gewächse sind nützlich. Einen Absud der Frauenhaar-Farne gibt man den Frauen nach einer Geburt; es soll die Blutungen stillen, und zwar zuverlässig. Wir verließen den gebahnten Pfad und ritten über gewelltes, felsiges Land, höher und steiler über schlüpfrige Schieferschichten ins Felsige. Aber unsre Indianer liefen deswegen nicht langsamer und ärgerten sich, daß die Maulesel immer weiter zurückblieben. Mein Mulus war ein wandelndes Klagelied. Zuerst dachte ich, er hätte etwas gegen mich. Dann aber neigte ich eher zur Annahme, er leide an Weltschmerz. Bei jedem Schritt, den er tat, ächzte er so überzeugend, daß ich nach kurzer Zeit abstieg, den Sattel abnahm, um zu sehen, ob er aufgescheuert sei. Keine Spur! Ich stieg wieder auf, und 304
abermals holte er aus den Tiefen seines Leibes das gleiche furchtbare Gestöhn. Es klang wie der Ruf gemarterter Seelen im Fegefeuer. Warum er das tat? Es ist nicht zu erklären. Kein Mexikaner würde sich dadurch beeinflussen lassen, und einen Angehörigen sentimentalerer Völkerschaften hatte der Esel nie auf dem Rücken getragen. Ich war tief bekümmert, aber nicht tief genug, um abzusitzen und neben ihm her zu laufen. Wir haben beide bei diesem Ritt furchtbar gelitten. Er aus seelischer Pein und ich aus Mitgefühl. Wir ritten in Serpentinen. Über uns wuchteten Felsen; unter uns leuchtete blau das Cortez-Meer, und über ihm schwebten phantastische Luftspiegelungen. Wie erwähnt war auch ein Pferd mit von der Partie: spindeldürr die Beine, Kruppe und Hinterteil eingefallen, die Augen irr von Weh über seine gesellschaftliche Zurücksetzung. Man denke: ein edles Roß in Gesellschaft von Bastardtieren, wie es die Maulesel sind! Ja, und wie mag einem Maulesel zumute sein, der von Pferden umgeben ist, die gesellschaftlich so viel höher stehen als er, wenn sie prunkend einherstolzieren, ihrer Anmut und Kraft froh bewußt?! Wir haben darüber nachgedacht und gefunden: In dieser Situation, in der sie sich seit Jahrtausenden befinden, haben Maultier und Maulesel ihre antisoziale Dickköpfigkeit entwickelt. Sie wissen, sie können ein Pferd an Gedankenreichtum übertreffen, vielleicht sogar einen Menschen, und haben in beiden Beziehungen recht. Darum verstockt sich der sozial zurückgesetzte Maulesel in intellektuellem Zynismus. Er ist trotzig, tückisch, herzlos und egozentrisch. Aber hier unserm Pferd mit den mageren Hinterbacken fehlt diese tausendjährige Traditi305
on. Ihm ist der Zustand neu. Wie könnte es innerhalb einer Generation eine solche innere Umstellung vollziehen?! Umgeben von Mäulern ist es verkümmert, sein Geist geknickt, sein Blick umflort. Seine Ohren können sich nicht mehr spitzen, sein Maul hängt halb offen; so schleicht es gedemütigt hinter den Mauleseln drein, beraubt seines Vorrangs, ein Bild des Jammers. Fürsten im Exil pflegen Kellner zu werden, aber dies arme Roß kann nicht einmal Kellner werden, und wir verachten es wie einen Großherzog, der seines Thrones und seiner Zivilliste beraubt ist. Wir gelangten an eine steinige Steige, die uns die Maulesel nicht mehr hinauftragen konnten; so steil ging es aufwärts. Wir kletterten auf allen Vieren und ließen die Tiere unten. So gelangten wir zu einer Felskluft, in die aus hundert Meter Höhe ein Wassersturz sich von Absatz zu Absatz ergoß. Auf dem untersten hat sich eine Mulde gebildet. Da wachsen Palmen, mächtige Farne und wilder Wein. Der Wasserfall aber, ein Bach, der hoch oben im Felsengebirge entspringt und so tief hinabstürzt, hat weder die Kraft noch das Glück, den Ozean zu schauen. Hitze trocknet ihn ein; der Wüstenboden saugt ihn auf. Vor unsern Augen zerstäubt er in Dunst. Wir setzten uns neben die nasse Mulde. Unsre Indianer kochten Kaffee und packten die Lunchtasche aus. Ihr Glanzstück war eine warme Tortilla. O wie gern möchte ich wieder einmal eine solche Tortilla essen! Ein Hochhaus von einer Tortilla! Das Parterre eine Tortilla wie üblich, der Zwischenstock gare Bohnen, darüber wieder eine Tortilla und so fort bis in die elfte und zwölfte Etage! Wie ein Hochzeitskuchen wurde sie mit dem Messer von oben nach unten in Sekto306
ren geteilt. Ein feines Gericht und sehr sättigend! Während wir davon aßen, bereiteten die Indianer unsere Lagerstatt, und da wir auf Jagd waren, feuerten wir anstandshalber einige Schüsse auf eine Felswand ab. Dann war es dunkel. Wir hüllten uns in unsere Decken, und ein Nachtgeplauder hub an. Es war peinlich, ja geradezu peinigend. Unsere drei Mexikaner erzählten Geschichten, wahrscheinlich unanständige; es ließ sich nicht feststellen. Fast jede begann: «Da war mal eine Lehrerin mit großen schwarzen Augen, muy simpática …» Muy simpática hat eine etwas andre Bedeutung als «sehr sympathisch»; sympathisch ist mehr passiv, während simpática eine aktive Mitwirkung beinhaltet, ein Entgegenkommen, eine weitgediehene Bereitwilligkeit. Jedenfalls hat die simpática Lehrerin unter ihren Schülern allemal einen «großen, kräftigen Jungen con cojones, pero cojones …!»; letzteres wurde mit einer Gebärde begleitet, die einem beim Flakkerscheine des Lagerfeuers nicht entgehen konnte. Aufmerksam beugten wir uns vor, um die Pointe nicht zu versäumen, doch diese kam entweder in einem mexikanischen Slang, den wir nicht verstanden, oder war vom Gelächter des Erzählers dermaßen durchtränkt, daß sie gar nicht erst unser Ohr erreichte. So jagte eine mexikanische Lehrerinnengeschichte die andere, ohne daß wir dahinter kamen, was der Lehrerin schließlich widerfuhr. Wir ahnten zwar: etwas mußte geschehen, wenn eine Pädagogin muya simpática einem großen Jungen «con cojones» befiehlt, nach der Stunde dazubleiben, aber ob und wie es geschah, wissen wir heute noch nicht. In der Nacht wurde es kalt. Die Moskitos waren erbar307
mungslos. In dieser kaum bewohnten Gegend muß Menschenblut die größte Delikatesse sein. Sie gierten danach, summten näher und näher; enger und enger zogen sie ihre Kreise – dann ein Sturzflug; wir boten ein dankbares Ziel. Die Sicht war vortrefflich. Jeder der ununterbrochenen Nachtflüge war von Erfolg begleitet. Erst als es bitter kalt wurde, verzogen sich die Moskitogeschwader. Wir konnten den leichten Schlaf der mexikanischen Indianer beobachten: wie sie mitten in der Nacht aufwachen und Zigaretten rauchen. Leise reden sie miteinander und schlafen schon wieder wie lebhafte Vöglein, die ein bißchen im Dunkel singen und träumen, es sei Tag. Sechs, sieben Mal erwachten sie so. Es ist angenehm, sie zu hören. Ihr Gespräch plätscherte so ruhig, als träumten sie noch. Der Morgen brach an. Es gab Kaffee und den Rest aus der Lunchtasche, worauf Señor Pérpuly den Indianern feierlich eine Winchester 30–30 Flinte mit geborstenem Kolben überreichte und sie sich in die Büsche schlugen. Diese unsere erste Jagd auf das Großhornschaf Borrego war zugleich die schönste und edelste unseres Lebens. Während der ganzen Jagd brauchten wir keinen Finger zu rühren. Das Töten freut uns nicht; wir tun es nur, wenn es nötig ist; und hier jagten diese famosen Indianer für uns. Wir saßen derweil am Wasserfall und sprachen mit unsern Gastgebern über die Amerikaner. Sie sind, wie uns die Mexikaner erzählten, alle vermögend; jeder hat seinen eigenen neuen Ford; es gibt in den USA keine Armut; jedermann geht täglich ins Kino und betrinkt sich, so oft er Lust hat. Auch gibt es keine politischen Feindschaften, 308
keine Not, keine Furcht, keine Fehlschläge, keine Arbeitslosigkeit, keinen Hunger. Ein herrliches Land, aus dem wir da kamen; wir hatten es bisher noch gar nicht bemerkt, doch unsere lieben Gastgeber wußten Bescheid, und wir brachten es nicht übers Herz, sie ihren Illusionen zu entreißen. Nach jeder ihrer Lobeserhebungen sagten wir: «Cómo no?», und das ist die vorsichtigste Form der Zustimmung, die jemals in einer Sprache zu finden war. Denn «Cómo no?» bedeutet überhaupt nichts. Es ist ein höfliches Füllsel. So saßen wir zufrieden im Kühlen und blickten über die glühende Wüstenei zum blauen Golf hinab. Nach ein paar Stunden kehrten unsere indianischen Jäger zurück. Sie brachten keine Borregos, doch hatte einer von ihnen ein Säckchen voll Borregomist. Ed und ich beschlossen, künftighin nie anders zu jagen als so wie hier. Señor Pérpuly bemerkte leicht betrübt: «Hätten sie einen Borrego erlegt, so könnten wir uns mit ihm photographieren lassen.» Allerdings ein Verlust! Am Fuße des Wasserfalls sahen wir Laubfrösche, Roßhaarwürmer, Wasserspinnen, und als wir uns fragten: «Wie kommen sie hierher? So weit weg von allem andern Wasser, von jeder Feuchtigkeit …?» ging es uns auf, daß Leben in jeglicher Form von Anfang an überall auf die Möglichkeit wartet, Wurzeln zu schlagen und sich zu vermehren. Allenthalben harren von Anbeginn Eier, Sporen, Bazillen … Der Regen fällt, und der Ort wimmelt von Leben. Wir aber, die wir die wasserlose, heiße, öde Weite erblicken und die Entfernung bis zum nächsten Gewässer kennen, sagen ungläubig: «Wie konnten diese Tierchen bis hierher gelangen?» Und ehe wir nicht mit den stump309
fen Werkzeugen unsres Verstandes die Ursache packen, glauben wir nicht recht an die Roßhaarwürmer und Laubfrösche. Allein das Faktum besteht: Sie sind da. Wenn man eine Schar Fische friedlich in stillem Wasser ruhen sieht, und ihre Köpfe weisen alle in derselben Richtung, so entfährt bestimmt einem Betrachter der Ruf: «Das ist ungewöhnlich.» Es ist aber keineswegs ungewöhnlich. Wir fangen bloß wieder am verkehrten Ende an. Sie liegen eben einfach so da. Ungewöhnlich scheint es nur deshalb, weil wir aus unserm plumpen Denkinstrument keine menschenähnliche Erklärung herausziehen können. Alles ist potentiell überall. Unser Leib ist potentiell in bezug auf Karzinom und Tb ebenso abwehrbereit wie anfällig. Ein Schwanken der Wage, und das wartende Leben stürzt herein, ergreift Besitz, wächst, breitet sich aus, wobei der Stoff, aus dem wir bestehen, bis zu dem Punkte zerrissen wird, an dem wir das Gegengewicht nicht mehr aufbringen und unsere Wagschale sich senkt. Dies nennen wir Sterben. Wir sind dabei nicht mehr aktiv; wir werden von einem vielgestaltigen Leben genommen und von ihm zur Fortpflanzung gebraucht. Wir leben nicht, aber Es lebt, und die Wage ist wieder im Gleichgewicht. Ein Mensch ist potentiell alles, ist gierig und gütig, großer Liebe so fähig wie großen Hasses, ist zugleich aus- und unausgeglichen; man nennt das Gefühle. Er ist eine Welle in großem Gewoge. Und hört nicht auf zu fragen: «warum?» Er bringt es nicht fertig, sich seine kosmische Identität einzugestehen. Pyrosoma giganteum (eine Kolonie pelagischer Manteltiere) sieht aus wie ein Handschuhfinger. Jedes Mitglied 310
der Kolonie ist ein individuelles Wesen und die Kolonie wiederum ein Lebewesen, das ganz anders ist als die Summe seiner Kolonisten. Einige derselben, jene am offenen Ende der Pyrosoma, haben eins am andern die Geschicklichkeit entwickelt, eine pulsierende Bewegung zu machen, welche der Muskeltätigkeit sehr ähnlich ist. Andere Kolonisten sammeln Nahrung und verteilen sie, und die Außenseite des Handschuhfingers ist hart und gegen Berührung geschützt. Hier haben wir also zweierlei Tiere und dennoch das gleiche Ding – etwas, das die frühe Kirche ein Mysterium hätte nennen müssen. Wenn sie etwas «ein Mysterium» nannte, nahm sie es voll und tief so hin, wie es ist, als etwas, das der Vernunft nicht zugänglich ist. Wenn daher ein mit individualistischer Vernunft begabter Mensch fragen will: «Welches ist nun das Tier, die Kolonie oder das Individuum?» muß er zunächst seine besondere Art des Raisonnements aufgeben, dann kann er sich antworten: «Es sind halt zwei Lebewesen, und sie gleichen sich nicht mehr als eine jede Zelle meines Körpers mir gleicht. Ich bin mehr als die Summe meiner Zellen, und meines Wissens sind sie mehr als eine Bruchteilung von mir.» Diese Hinnahme ist keine Teilnahmlosigkeit, sondern die Grundlage für ein tieferes Verstehen unserer Welt und unserer selbst. Und damit ist das Ganze bereit, in die Tabu-Kiste geworfen zu werden. Es genügt nicht hier einzuwenden, wir könnten nichts beurteilen, solange nicht alle Informationen vorliegen. Kenntnisse sammeln, leitet an sich nicht zum Verstehen. Eines Kindes Welt breitet sich nur wenig über sein Verständnis hinaus, während die eines großen Forschers ins 311
Unermeßliche vorstößt. Jede Antwort gebiert unweigerlich eine umfangreiche Familie von neuen Fragen. So zeichnen wir Welten und suchen sie wie einen Aufriß in die Welt um uns einzupassen. Wenn sie sich nicht einfügt, zerknüllen wir sie und entwerfen eine neue. Dort der Laubfrosch in der Felsenmulde – nehmen wir an, er sei mit menschlicher Vernunft begabt und fände in seiner Mulde einen Zigarettenstummel – er würde erklären: «Hier liegt eine Unmöglichkeit vor. Im weitesten Umkreis wächst kein Tabak und kein Papier. Man sieht auch, das Ding hat gebrannt, und bei uns gibt es kein Feuer. Dies Ding kann weder fliegen noch kriechen und ist zu schwer, um vom Winde verweht zu werden. Mithin kann es nicht sein. Ich negiere es. Denn würde ich zugeben, dieses Ding sei hier, so wäre die Weltanschauung der Frösche bedroht, und dann ist nur noch ein einziger Schritt zum Antifaschismus.» Für den Rest seines Lebens wird sich der Laubfrosch bemühen zu vergessen, daß etwas, das ist, ist. Auf dem Heimweg zur Farm offerierte uns der eine Indianer sein Säckchen mit Borregomist. Wir nahmen aber nur ein paar Böhnlein davon. Der Mann hat sicher Angehörige, die das Übrige gut gebrauchen können; es ist ohnedies wenig genug. Als wir nach langem heißem Ritt endlich wieder an der Verborgenen Bucht anlangten, schien es uns wunderlich, daß die Western Flyer die ganze Zeit über hier war … Unsere Gastgeber waren so reizend nett und aufmerksam, wie wohl nur Mexikaner sein können, und haben uns zudem das edelste Waidwerk gelehrt. Wir werden nie mehr ein anderes ausüben. Wir haben ihre Jagdmethode sogar verbessert: Wir werden kein Ge312
wehr mitnehmen, denn sonst besteht immer noch eine leise Möglichkeit, daß die Jagd unterm Wild Verwirrung anrichtet. Von jeher war es uns unverständlich, warum Menschen gehörnte Tierköpfe auf Brettchen montieren und daheim aufhängen, damit die Besiegten auf ihre Mörder herabblicken können. Beglückt es die Leute dermaßen, den Tieren überlegen zu sein? Wären sie ihrer Überlegenheit sicher, so brauchten sie keinen Beweis. Nur ein Mann, der Angst hat, muß seinen Mut plakatieren, nur der Ungeschickte seine Geschicklichkeit. Ed und ich haben uns jeder je ein tadelloses Borrego-Böhnlein in ein hölzernes Medaillon eingerahmt, und während andere Jäger mit ihren Geweihen prahlen: «Es war ein Tier, doch weil ich stärker bin, ist es tot; ich aber lebe. Hier der Beweis!» rühmen wir mit unsern Medaillons: «Es war ein Tier und ist es vermutlich heute noch. Hier der Beweis. Es erfreut sich hoffentlich weiterhin bester Gesundheit.» Nach der Dürre im Binnenland erquickte die Nähe der See. Wer am Ozean geboren ward oder sich mit ihm verschwistert fühlt, ist fern von ihm auf die Dauer nicht glücklich. Sparky bereitete uns eine großartige Schüssel Spaghetti à la Enea, und wir futterten bis wir nicht mehr konnten. Doch die Schwächen unserer Ausrüstung machten sich nun deutlich bemerkbar. Das Ventil des Sauerstoffzylinders litt unter der Feuchtigkeit; die kleine Gefrieranlage erwies sich als unzulänglich. Darauf berechnet, Meerwasser abzukühlen, hielt sie uns höchstens etwas Bier kalt und selbst darauf war kein Verlaß mehr.
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Es zeigte sich, daß eine Reihe Tiere, die uns bisher begegneten, Ubiquisten sind. Der Sonnenstern Heliaster kubiniji, ist sozusagen überall – hic et ubique, wie Hamlet sagt –, doch konnten wir feststellen, daß er, je weiter nördlich wir im Golf kamen, um so kleiner wurde. Auch der Stechwurm Eurythoë ist ubiquitär. Er braucht nur lose Steine oder Korallen, unter denen er sich verstecken kann. Kurios, daß in der Beschreibung, die Chamberlin * von Eurythoë gibt, alles mögliche erzählt wird, bloß nicht das für den Sammler wichtigste: daß dieser Wurm scheußlich sticht; sein haarartiger Rand bricht einem in der Hand und hinterläßt einen Brand, der lange Zeit nicht verschwindet. Tiny, durch Erfahrungen klug geworden, hat einen heillosen Respekt vor Eurythoë und sich endlich dazu bequemt, nach vorsichtiger Sammler Sitte erst zu schauen, bevor er mit der Hand hintappt. Der violette, mit scharfen Stacheln bewehrte Seeigel Arbacia incisa lebt überall, wo Fels oder Riff heftigem Wogenprall oder raschem Strudel ausgesetzt ist. An allen höher gelegenen Steinen im Litoral – wo sie abwechselnd Wasser, Sonne und Luft haben – hausen Bernikel und die üblichen Napfschnecken. Auch die Seeanemonen und ihre kleinen höckerigen Formen sind im Golf ubiquitär, selbstverständlich auch Seegurken, Einsiedler- und Porzellankrebse. Wir haben nun wirklich schon eine beträchtliche Anzahl Tiere beisammen, und wenn wir das bisherige Ergebnis mit den Resultaten verschiedener wohlausgestatteter, * „The Annelida Polychayta“, 1919, S. 28. 314
bestens bemannter und glänzend finanzierter Expeditionen vergleichen, fragen wir uns verwundert, nach welchen Methoden jene Sammler vorgegangen sind. Vielleicht mit Ausnahme der Hancock-Expedition (deren Berichte so teuer und selten sind, daß sie sich Amateure wie wir, ja selbst Universitätsbibliotheken nicht leisten können) stammen die besten Rapporte von einer berühmten wissenschaftlichen Expedition, die vor etwa dreißig Jahren von San Francisco aus den Golf bereiste. Sie hatte acht Naturforscher und eine komplette, geschulte Mannschaft an Bord eines eigens zu diesem Zweck gebauten und installierten Dampfers. In zwei Monaten graste sie 35 Stationen ab und erbrachte insgesamt 2351 Exemplare von 118 Echinodermen-Spezies aus zwei großen Fauna-Gebieten, sowohl aus deren Litoral wie aus Tiefwasser-Fischzügen bis 1760 Faden Tiefe. Nur 39 Spezies kamen aus seichtem Wasser, davon 31 in etwa 387 Exemplaren vom Golf. Wir haben jetzt binnen neun Tagen allein dem Golfrand ungefähr doppelt so viel Echonodermen-Spezies entnehmen können, ganz abgesehen von der Unmenge sonstiger Funde, und nur die Knappheit an Behältern setzte unserm Sammeleifer einen Dämpfer auf. Gewiß, wir arbeiten hart, aber nie unvernünftig. Wir staunen nicht darüber, daß wir so viel, sondern darüber, daß jene so wenig erledigten. Wir haben dabei immer noch Zeit zum Vergnügen, zu Gesprächen und sogar zu einem Bierchen. (Wir erledigten von zwei Spezies Bier 2160 Exemplare.) Die Gestade des Cortez-Meeres, obwohl für den Sammler außerordentlich ergiebig, sind in der Literatur fast unerwähnt (immer mit Ausnahme der unter Ausschluß der 315
Öffentlichkeit publizierten Hancock-Kollektion). Wir haben nicht die Zeit, die nötig wäre, um die Hintergründe des Lebens im Golf einwandfrei und vollständig darzustellen. Bei uns ist es ein Dahinrasen, es geht leider nicht anders, doch dürfte aus unsern Resultaten ersichtlich sein, daß sich mit Energie und Enthusiasmus Mangel an Ausrüstung und Personal ausgleichen läßt.
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17 MITTWOCH, 27. MÄRZ
N
achdem wir vom äußeren Busen genug hatten, begaben wir uns um 5 Uhr 30 mexikanischer Zeit in unserm kleinen Beiboot auf eine Rundfahrt in die innere Bucht von Puerto Escondito. Da es noch dunkel war, benutzten wir unsere elektrischen Handlaternen. Bei schöner Ebbe fuhren Ed und ich langsam dem Ufer entlang. Abwechselnd ruderte einer, während der andere den Grund ableuchtete. Die Oberfläche lag spiegelglatt. Der große, flache schokoladebraune Stichopus fuscus, der zur Gruppe der Holothurien zählt, beherrscht das Ostufer. Zu Hunderten sahen wir ihn sich langsam, fressend am Boden der Bucht vorwärtsbewegen, auch zahlreiche Carditamera affinis, eine gekräuselte Muschel mit harter, dicker, gewellter Schale. Die Fauna unter den Steinen ist nicht eben reich. Ost- und Nordufer bestehen aus zackigem Gestein; in ihrem stillen Bereich sind die Wellen nie stark genug, um sie abzuschleifen. Die Bucht ist fast ganz von Mangroven umsäumt. Sie duften stark, doch angenehm würzig. Einige jener großen schneckenartigen Synaptiden, wie wir sie am Ostersonntag in der äußeren Bucht gefangen haben, bewegen sich am Grund. Am Westrande der Bucht, in den wir bald einbogen, gelangten wir an Sandbänke. Die Fauna wechselt. Von den 317
schokoladebraunen Seegurken ist nichts mehr zu sehen. Wir fuhren dem Sandstrand entlang und erblickten am Ufer zwei dunkelbraune Tiere mit katzenartigem Gang, etwa so groß wie ein junger Schäferhund. Es war noch nicht hell genug, sie deutlich wahrzunehmen. Als wir uns ihnen näherten, verschwanden sie in den Mangroven. Vielleicht waren es eine Art großer Zibetkatzen und machten am Wasserrande auf Fische Jagd. Unten am glatten Sandboden büscheln sich höckerige grüne Korallen, wahrscheinlich Porites porosa, doch nahmen wir keine Proben mit. Abgesehen von Cerianthus-Anemonen und einigen zweiklappigen Krebslein ist der Boden dieses Gebietes verhältnismäßig steril. Am Südende der Bucht kamen wir wieder zur engen Einfahrt, durch die jetzt die zurückkehrende Flut hereinbrach, und hier stießen wir plötzlich auf eine erstaunlich üppige Tierwelt. Ja, hier wo Wasser herein- und hinausdrängt und Nahrung und Frische mit sich führt, versammeln sich am steinigen Grund Scharen grüner und roter Kissensterne und auf einem beschränkten Felsenstrich eine vereinzelte weiche korallenartige Formation mit großen Knoten und Köpfen. Auf den ersten Blick schien sie identisch mit dem westindischen Zoanthus puchellus, wie er in Duerdens «Actinians of Porto Rico» * abgebildet ist. Von der Strömung gegen die Felsen geworfen, lag ein großer pelagischer Cölenterat, äußerlich einer Seeanemone ähnlich, mit langen orangerosigen Fühlern, die sich offenbar nicht einziehen lassen. Als ich ihn aufgriff, wurde ich * U.S. Fish Comm. Bulletin for 1900. Bd. 2 S. 321 bis 374. 318
eklig gestochen. Er hat bösartige Nesselzellen; sie stachen mir sogar durch die Schwielen der Handfläche und schmerzten wie ein Haufen Bienenstiche. Hier bei der Einfahrt nahmen wir auch einige große Seehasen, Dolabella californica; einige Muscheln und ein kleines Spezimen der muschelartigen Hacha. Der Stich des pelagischen Cölenteraten tat noch stundenlang verdammt weh. Wie vieles in diesen Golfgewässern doch giftig ist! Seeigel, Stachelrochen, Morays, Herzigel, die bissige Anemone von vorhin und viele andere! Man wird ängstlich. Bernikel-Schnitte, die sich unmöglich vermeiden lassen, verursachen aufregende Wunden. Finger und Handflächen werden kreuz und quer von Schnitten graviert; dann aber bedecken sich – vermutlich unter Einwirkung des Salzwassers und infolge des immerwährenden Umwälzens von Steinblöcken – die Hände mit harten, fast hornigen Schwielen. Die Puerto-Escondito-Station wurde für uns eine der reichsten, da sich hier auf engstem Gebiet die verschiedenartigsten Lebensbedingungen beisammen finden: Sandboden, Steinufer, Felsblöcke, Bruchstein, Korallen, stille warme Plätze und rasende Gezeiten. Bei umfassender Suche dürfte sich wohl herausstellen, daß sich in dieser engbegrenzten Welt ein ansehnlicher Teil der marinen und litoralen Panama-Fauna beisammenfindet. Auf diesen paar Acres findet sich mit Ausnahme brandungsgepeitschter Riffe jede nur mögliche Umwelt. Puerto Escondita ist ein Lehrbuch der Ökologie. Wir entnahmen dieser Station Fels-Isopoden, Schwämme, Manteltiere, Turbellarien, Chitonen, zweiklappige 319
Schnecken, Einsiedlerkrebse, viele andere Krebse, HeteroNereiden, pelagische Nacht-Mysiden, kleine Ophiuren, Napfschnecken, Würmer und verbuchten in unserm Kollektionsverzeichnis vom Ostermontag sogar den Roßhaarwurm vom Wasserfall im Felsengebirg. Es war ein Chorodes, wahrscheinlich Chorodes occidentalis Montgomery *. Auch acht Spezies Seegurken und elf Seesternarten nahmen wir mit. Von der Morgenkollekte zurück, fuhren wir sogleich nach Loreto, begierig die Stadt kennen zu lernen, war sie doch die erste erfolgreiche Niederlassung auf Baja California; ihre Kirche ist die älteste Missionskirche der Halbinsel. Hier wurde die Unwirtlichkeit des Landes endlich besiegt. Eine Siedlung schlug Wurzel inmitten von Hunger und Elend. Vor uns liegt der Ort, in Palmen und Laubwerk gebettet. Wir werfen Anker. Unsere Ferngläser holen das Ufer heran. Am Strand eine Reihe Kanus, daneben im Sande liegen und sitzen weißgekleidete Männer und schauen nach unserm Schiff. Als der Anker unten ist, stehen sie auf und schlendern zur Stadt. Jetzt müssen sie natürlich Uniform anlegen. Loreto wird selten von Fremden besucht, und da der Gouverneur schon lange nicht mehr da war, braucht es wahrscheinlich einige Zeit, bis sie ihren Staat beieinander haben. Sie müssen Frau und Kind in Bewegung setzen. «Wo ist mein Waffenrock? Mein Gurt! Ein frisches Hemd!» Der Hafeninspektor muß sich rasieren, parfümieren, erst aus- und * nach J. T. Lucker vom U. S. Nationalmuseum. Dort Nr. 159124. 320
dann anziehen. Das braucht Zeit. Der Kahn im Hafen muß warten. Es ist nett von den mexikanischen Behörden, daß sie ein Fischerboot wie das unsrige genau so behandeln wie die Queen Mary. Die müßte genau so lang warten wie die Western Flyer. So etwas freut einen doch, und man zahlt freudig die Hafengebühren, die übrigens hier nicht erhoben wurden. Bezaubernd! Man behandelt uns nicht wie Seeräuber, die in einer elenden Kiste herumgondeln, sondern als Botschafter von Ultra-Marina, als Würdenträger, durch welche die Ferne freundliche Grüße entbietet. Kein Wunder, daß auch wir nach sauberen Hemden rennen, daß Tony seine Kapitänsmütze aufsetzt; daß Tiny aus seiner Koje jene Parademütze holte, zu der er im Pissoir in San Diego auf ehrliche Weise – wer zweifelt daran? – gelangt war und deren Embleme blank putzt! Wir sind nicht gerade hochelegant, nicht einmal elegant, aber sauber und wohlriechend. Wir duften nach Veilchen, denn Sparky hat sein Rasier-Schönheitswasser über uns ausgegossen. Sollte ein «brazo», die mexikanische Doppelumarmung, als Zeichen guter Gesinnung und herzlicher Gefühle stattfinden müssen – wir werden uns nicht blamieren. Die Honorationen kehren uniformiert zurück und paddeln zur Western Flyer. Wir überstanden die Begrüßungszeremonie und fuhren darauf nach Loreto, der lieblichen Stadt. Still liegen die Häuser im Sonnenglanz, und jedem spendet ein Garten Schatten. Die Straßen weiß und heiß. Vor der Cantina unter einer Markise sitzen Jünglinge. Wir gehen vorüber; sie grüßen. Eine Kette junger Mädchen 321
verschwindet kichernd um die Ecke. Wir wirken gewiß etwas eigentümlich. Unsere Hosen sind nicht weiß, sondern dunkel, unsere verrückten Kopfbedeckungen so ausländisch, daß kein Loretaner Laden so etwas auf Lager nehmen würde. Wir sind weder Seeleute noch Soldaten. Natürlich platzen da kleine Mädchen heraus. Ab und zu lugen sie nochmals hinter der Hausecke hervor, denn so etwas komisches wie uns sehen sie selten. In ihr erneutes Gekicher mischt sich das mißbilligende «Psst!» der Älteren. In einem von Bougainvilleen beschatteten Vorgärtchen sagt eine Frau entschuldigend: «Nehmen Sie es nicht übel; es sind dumme Dinger! Nachher schämen sie sich.» Aber was gibt es da zu entschuldigen? Das Benehmen der Mädchen ist erfreulich. Sonst ist die erste Reaktion auf Fremde Furcht oder Haß, besonders bei uns daheim. Da lobe ich mir das Lachen, das hier um die Ecke dringt. Es klingt keine Spur gehässig, nein herzig. Daß sie uns komisch finden, ist sehr begreiflich. Wie gewöhnlich läuft ein Bub neben uns her. Er ist brav und blickt ernsthaft. Ob ein Volk, das von mexikanischen Jungen regiert würde, nicht besser dran wäre und glücklicher als Nationen, an deren Spitze vertrocknete alte Männer stehen mit verknöcherten Ansichten, Vorurteilen und Magenkrebs …? Dieser kleine Junge würde dem diplomatischen Corps jeder Hauptstadt zur Zierde gereichen. Aus dem geraden Blick seiner dunkeln Augen sprechen Höflichkeit, Festigkeit, Güte und Würde. Er erzählt uns von Loretos Armut und wie es war, als die alte Kirche einstürzte. Er begleitet uns zur zerstörten Mission. Das Dach ist eingefallen, das Kirchenschiff voll Trümmergestein. Von 322
den Wänden hängen Fetzen altersdunkler Gemälde. Der Glockenturm steht unversehrt. Wir klimmen die Wendeltreppe hinauf in die Glockenstube. Unsere Hände streicheln die dunkeln Glocken. Sie summen leise … Wir blikken hinab auf niedere Dächer, umwallte schattige Gärten. Sie schlafen … Ein Kapellchen im Innern der Kirche ist nicht beschädigt, aber mit Latten versperrt. Ich spähe hinein. Das Bildwerk an der Rückwand möchte ich gern aus der Nähe betrachten. Es könnte von Greco sein, ist es aber wohl nicht. Doch hat manch seltsames Stück den Weg hierher gefunden. Die Glocken sind ein Geschenk der spanischen Krone an ihre getreue Stadt. Auch Ed würde das Bildwerk gern von nahem besichtigen. Es zeigt die Liebe Frau von Loreto. Sie steht hinter Glas und ist mit Lilien vom Osterfeste bekränzt. Soweit man im Düstern sehen kann, ist sie schön; aber das kann ebenso gut auf Täuschung beruhen. Vielleicht ist sie geschmacklos. Soweit sich erkennen läßt, hat dieses Marienbild nicht den holdseligen Blick der Jungfräulichkeit, den Muttergottesblick, wie so viele, eher das Gepräge von Angst und Schrecken einer JungfrauMutter der Welt, den Ausdruck aller Verzweifelten, die hier gebetet haben. Der Bevölkerung von Loreto, zumal der indianischen, erscheint sie gewiß als das Holdeste auf Erden. Ob unser kritischer Blick, vom sogenannten guten Geschmack verkümmert, das Gebilde geschmacklos findet, spielt keine Rolle. Und offengestanden, ich finde es nicht. Auch mir erscheint sie hold im Dämmer der kleinen Kapelle von Osterlilien umkränzt. Dies ist ein sehr heiliger Ort. Das 323
steht fest. Es anzuzweifeln hieße eine Tatsache in Abrede stellen, die so sicher ist wie die Gezeiten. Wie rasch ich doch immer wieder in ein altes Schema zurückrutsche und unser geistiges Exerzitium vom Ostersonntag vergesse! Weg mit dem abgenutzten Cliché; dann fühlst du dich wohler! Diese Dame aus Gips, Holz und Farbe ist einer der stärksten ökologischen Faktoren der Stadt Loreto. Wer nichts von ihr und ihrer Kraft weiß, kennt Loreto nicht. Diese Statue ist wie ein granitener Monolith in der Brandung, welcher den Anprall der Wogen bricht; seine Wirkung auf die Verteilung der Fauna zieht wie ein ins Wasser geschleuderter Stein seine Kreise. Nicht anders wirkt diese gipserne Dame auf die tiefen, nächtlichen Wasser des menschlichen Geistes. Sie mag entschwinden, ihr Name dahingehen, so wie Gäa, die Große Mutter, wie Isis verschwand. Etwas ihr Ähnliches wird dann an ihre Stelle treten; die Sehnsüchte, die sie erschufen, werden irgendwo auf Erden einen ähnlichen Altar errichten und ihre Kräfte davor verströmen lassen. Ob Artemis, Aphrodite oder eine Verkäuferin bei Woolworth, sie ist so ewig wie unsere Spezies, und solang wir bestehen, werden wir ihr ein Standbild errichten. Versunken, beladen mit dem Gedenken an eine dunkle Kapelle, gingen wir langsam durch die verlassenen Straßen Loretos. Lebensmittel werden an Bord geschafft, Anker gelichtet! Wir fahren nordwärts zur Isla Coronados. Unterwegs fingen wir eine Sierra mexicana und einen zweiten Fisch, der offenbar eine Kreuzung der gelbflossigen Tuna (Ne324
othunnus macropterus) und einer Albakore (Astrangia pederseni) darstellt. Tiny und Sparky, die das Tunawasser gut kennen, behaupten, diese Kreuzung werde viel gefangen, wenn auch nie in größerer Menge. Am Nordende der Insel werfen wir Anker und machen uns an einem nach Westen vorspringenden Riff sogleich ans Sammeln. Die vom Wasser überpülten Felsen sind nicht reich zu nennen. In unsern hohen Wasserstiefeln steigen wir langsam um sie herum und wenden die flachen, algenbedeckten Steine. Wir stoßen mehrfach auf die solitäre Koralle Astrangia pederseni, aber nur unter Schwierigkeiten gelingt es, einige mitzunehmen. Sie sind nämlich sehr hart und splittern, sobald man sie abbricht. Man müßte das Felsstück, an dem sie haften, heraussägen! Wir behalfen uns mit einem scharfen, dünnen Messer, behandelten die Astrangien behutsam wie Edelsteine, aber bei aller Vorsicht zerbrachen von fünfen, die wir auf diese Weise von ihrer harten Bettung zu lösen suchten, nicht weniger als vier. Wir fanden auch Büschel der harten Zoanthidea-Anemone, und zwar in zwei verschiedenen Typen, der eine wesentlich größer als der andere, ferner zahlreiche große halbkugelige gelbe Schwämme, die wir in unsern Sammelrapporten als «auffallend ähnlich der Tethya aurantia, einer Geodia-Spezies aus der Monterey-Bucht» notiert haben – eine Ähnlichkeit, die sich zum Teil damit erklären läßt, daß es, wie sich inzwischen herausgestellt hat, die Tethya aurantia, eine Geodia-Spezies war! Unsere Sammlung am Coronado-Riff umfaßte auch die übliche Auswahl: von den Krebslein mit Rückenbedeckung aus Algen zum Schutz vor der Bryozoa, wodurch sie eher wie 325
Moos als wie ein Tier aussehen. Trotz alledem ist diese Region nicht reich, sondern «verbrannt», und wiederum überkam uns das sonderbare Gefühl wie auf Cayo, als sei diese Küste animalischem Leben feind; als wohne den Steinen etwas Feindseliges inne, angesichts dessen ein Tier es sich zweimal überlegt, ob es sich niederlassen soll. Seltsam! Wir sahen auch Orte, die menschlichem Leben feind sind, Küstenstriche Kaliforniens, welche den Menschen nicht mögen. Es ist, als seien sie schon von einer andern, unsichtbaren Spezies bewohnt, die uns ablehnt. Vielleicht sind solche Orte für uns «verbrannt»; ein Gesteinforscher könnte möglicherweise sagen, warum. Sollte hier eine leichte Radioaktivität vorhanden sein, die den Menschen irritiert, so daß er fühlt: ‚Die Gegend ist unfreundlich … da ist etwas, das meine Art nicht toleriert …‘? So wie es radioaktive Strahlungen gibt, die nicht nur Leben, sondern auch Mutation fördern (vgl. die mit Obstmaden angestellten Experimente!), ebenso gut könnte es Kombinationen geben, die eine entgegengesetzte Wirkung auslösen. Aus kleinen, scheinbar nebensächlichen Einzelheiten baut sich bei gründlichem Nachdenken zuweilen eine haltbare Hypothese auf. In der Literatur über den Golf waren wir auf ein Rätsel gestoßen und sahen es nun durch unsere Funde verdeutlicht. In der Fauna des CortezMeeres zeigen sich klar erkennbare geographische Unterschiede. Das Gebiet von Cabo San Lucas bis La Paz ist ausgesprochen panamisch. Von vielen Warmwasser-Mollusken und Krustentieren wurde nördlich La Paz nie etwas wahrgenommen, abgesehen von wenigen dorthin ver326
schlagenen Exemplaren, und etliche jener Mollusken dringen nicht einmal über Cabo San Lucas nach Norden vor. Hingegen ist das Golfgebiet nördlich Santa Rosalia gegenüber der Cedrosinsel, sogar nördlich Puerto Escondito von vielen Kaltwassertieren bewohnt, einschließlich dem gewöhnlichsten kalifornischen Strandkrebs Pachygrapsus crassipes, der weiter nördlich im Pazifik bis zur Küste von Oregon auftritt. Diese Tiere befinden sich im nördlichen Teil des Golfes offenbar in einer Sackgasse, denn südlich von ihnen gibt es keine ihrer Gattung, so daß sich die Frage erhebt: «Wie kamen sie dorthin?» 1895 brachte Cooper * eine Erklärung vor. In bezug auf den nördlichen Golfteil bemerkt er: «Die hier gefundenen Spezies gehören größtenteils der gemäßigten Fauna an. Viele derselben sind mit denen auf dem gleichen Breitengrad an der äußeren (West-) Küste Niederkaliforniens identisch. Es dürfte dies darauf hindeuten, daß die trennenden, bis 1000 m hohen Gebirgszüge in vergangenen geologischen Zeitaltern von westöstlichen Meerengen durchzogen waren.» Die auch von uns beobachtete Erscheinung findet sich in der einschlägigen Literatur, zumal durch Konchyliologen mehrfach erörtert. Eric Knight Jordan, ein Sohn David Starr Jordans, ein vielverheißender junger Geologe, der vor wenigen Jahren gefallen ist, befaßte sich sowohl mit der prä-historischen wie der gegenwärtigen Verteilung der Mollusken an der Westküste Niederkaliforniens. Er * „Catalogue of marine shells … on eastern shore of Lower California …“ Proc. Calif. Acad.-Sci. Band 5 (2), S. 146.
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stellte das Bestehen zweier verschiedener Faunen fest und gab den derzeitigen geographischen Aufenthaltsort von 124 Spezies an, welche er auch in Quartär-Schichten der Magdalena-Bucht vorfand. Ihre heutigen Aufenthaltsorte liegen weiter nördlich, um Cedros. «Es scheint», bemerkt er, «als sei in der Quartärzeit eine Südwärtsverschiebung der Temperaturen erfolgt, durch die die Lebensbedingungen um Cedros bis zum 24. Grad nördlicher Breite vorrückten, also bis zur Magdalena-Bucht.» Heute begegnen und mischen sich in der Gegend der Cedros-Insel nördliche und südliche Fauna so wie im Diluvium bei der Magdalena-Bucht. Die heutige MagdalenaNiederung, die sich von der Westküste bis La Paz erstreckt, lag zu jener Zeit unter Wasser, und dieses war kühl genug, um an jener Stelle eine Vermischung von Kaltwasser- und Warmwasser-Spezies zuzulassen. Es läßt sich die Hypothese vertreten, daß beim Rückzug der Isothermen die Kaltwasser-Formen nicht mehr imstande waren, die südlichsten Ufer Niederkaliforniens zu bewohnen, zu denen der Golf-Eingang gehört. In diesen zunehmend wärmeren Gewässern mußten sie entweder zugrunde gehen oder nach Norden ziehen – entweder an der Westküste oder den Golfufern entlang. Im letzteren Fall wurden die eindringenden und sich nach Norden verbreitenden Spezies vom warmen Wasser des Südens blockiert und behaupteten sich durch die Jahrtausende bis heute erfolgreich im Kampf ums Dasein. Sie paßten sich an, wobei vielfach eine Verarmung eintrat. Diese Hypothese steht allerdings in Widerspruch zu Coopers Annahme eines Meereskanals etwa 350 Meilen nördlich der Magdalena328
Ebene an einer Stelle, an der keine Anzeichen einer Quartär-Überschwemmung vorhanden sind. Bemerkenswert, daß ein Paläontologe wie dieser junge Jordan durch seine Forschungen in einem umgrenzten Bereich die Grundlagen für eine vernünftige Hypothese geliefert hat, die sich auf die Verteilung der Tierwelt in einem andern Gebiet bezieht. Wiederum ein Beweis für die Rolle, die der Zufall bei vielen Untersuchungen spielt! Die naturwissenschaftliche Literatur ist reich an Antworten auf Fragen, die sich der Forscher gar nicht gestellt hatte. Mit einer guten Hypothese hat man’s nicht leicht. Ist sie komplett, glatt, stichhaltig und dicht, so wird sie zum Kunstwerk, zum Ding an sich. Es ist, als habe man ein Sonett geschmiedet, ein Gemälde vollendet. Nichts schrecklicher, als wenn eine plötzlich neu auftauchende Tatsache da hineinschießt! Es ist furchtbar, die herrliche Theorie preisgeben zu müssen! Einer unserer führenden Geographen hatte auf Grund geloteter Wassertiefen bewiesen, an einer bestimmten Stelle des Pazifik müsse ein Riff sein. Er war lange Zeit außerstande, das nichtvorhandene Riff mit seinem hypothetischen Geistesriff zu versöhnen. Etwas ähnliches trug sich vor einigen Jahren zu. Eine naturwissenschaftliche Forschungsstelle entsandte eine Expedition nach dem Süden, unter anderm auch zum Zweck, festzustellen, ob die See-Otter ausgestorben sei. Die Forschungsreisenden kehrten zurück mit dem Ergebnis, das Geschlecht der See-Otter sei erloschen. Bald darauf sprach einer von uns beiden (wer bleibt sich gleich) mit einer Küstenbewohnerin südlich Monterey und hörte zu seinem 329
Erstaunen, wie sie ihm haargenau Tiere beschrieb, die sie in der Brandung beobachtet hatte und die nach ihrer Schilderung unmöglich etwas anderes sein konnten als See-Ottern. Die Art ihrer Beschreibung ließ keinen Zweifel übrig, daß sie dieselben mit eigenen Augen gesehen hatte. Ein Bericht hierüber an die gelehrte Forschungsstelle blieb unbeantwortet. Sie hatte die See-Otter von der Karte gestrichen; der Fall war damit erledigt. Erst dadurch, daß der Photoreporter eines Skandalblatts die Tiere photographierte, wurde die Öffentlichkeit informiert. Ob die gelehrte Gesellschaft daraufhin wiederrief, entzieht sich unserer Kenntnis. Ich erzähle das nicht, um auf irgendwen einen Stein zu werfen. Es ist so schwer, eine Idee zu haben, sei es auch nur über die See-Otter. Es ist noch schwerer, sie wieder fahren zu lassen. Wenn eine Hypothese erst einmal in dir verwurzelt ist, bildet sie ein Gewächs, das sich nur durch eine Art chirurgische Operation beseitigen läßt. Daher kommt es ja auch, daß ein Glaube noch lange fortbesteht, auch wenn seine Grundlagen keine Gültigkeit mehr besitzen. Und die mit dem Glauben verbundenen Gewohnheiten und Bräuche dauern sogar noch fort, wenn der Glaube, der sie ins Leben rief, längst vergessen ist. Die Praxis muß sich nach dem Glauben richten, ihm folgen. Sozialreformer und Gesetzgeber huldigen häufig der Ansicht, Gesetze könnten etwas lebendig machen oder verhindern. Just das Gegenteil ist der Fall. Ein wirksames Gesetz kann nur das befehlen, was die Majorität der Gesellschaft innerlich oder äußerlich schon befolgt. Sonst hat es keinen Erfolg. Wir hatten genug Beispiele für Gesetze, die ver330
suchten, ein Quell des Guten zu werden. Unser Prohibitionsgesetz war ein Beispiel für die Abwegigkeit jener Ansicht. Stärker und zäher als äußere Wirklichkeit sind die Vorgänge in unserm Geist. Einer von uns (ich sage nicht, wer) ist mit kräftigem Bartwuchs gesegnet. Eines nachts in der Bahia San Christobal stand er am Steuer, während die Andern in der Kambüse saßen und Kaffee tranken. Wir sprachen über die Werwölfe, von denen man sich in fast allen Ländern grausliche Geschichten erzählt, und spielten alsbald mit einer finstern Idee. «Bald ist Vollmond», sagte einer, und ein zweiter: «Bei Vollmond verwandelt der Bärtige sich …» Und ein dritter: «Letzte Nacht habe ich auf dem Verdeck das Kratzen von Klauen gehört.» Wieder der erste: «Wenn ihr seht, wie er mit glühenden Augen auf allen Vieren hier die Treppe heraufkommt, dann paßt auf! Er beißt euch die Kehle durch.» Das Spiel regte uns mächtig an. Mehr und mehr untermauerten wir unsere Hypothese: Die Zähne des Bärtigen, speziell die Eckzähne, seien mit zunehmendem Mond gewachsen. Letzte Woche beim Abendessen habe er sein Kotelett mit den Zähnen zerrissen. Draußen fauchte der Wind durch die Schwärze der Nacht. Da plötzlich erschien der Bärtige, Haupt- und Barthaar zerzaust, die Augen vom Zug stark gerötet; sie schienen zu glühen, und wie er so die enge, dunkle Treppe heraufkam, sah es tatsächlich aus, als bewege er sich auf allen Vieren. Wir erstarrten. Die Haare sträubten sich uns. Eine Gänsehaut lief über sämtliche Rücken. Wir hatten uns so in 331
unser Phantasiespiel hineingeredet, hineingedacht, daß es einige Zeit bedurfte, um davon loszukommen. Solche Vorstellungen können sehr stark sein; bei manchen Menschen löschen sie alle Wahrheiten aus.
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18 DONNERSTAG, 28. MÄRZ
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achdem wir noch in der gleichen Nacht unsere Ausbeute der Isla Coronado konserviert und beschriftet hatten, merkten wir erst, wie müde wir waren. Auch die Augen ermüden vom Sehen so vieler neuer Dinge; Schlafen hat entschieden therapeutischen Wert; danach werden wir um so nachdrücklicher arbeiten, sagten wir uns. Wir hegten zwar einen leisen Zweifel an der Richtigkeit unserer Behauptung, doch wie stets, wenn wir faulenzen, legen wir Wert darauf, unsere Faulheit theoretisch zu begründen. Ist es nicht unerhört, daß das himmlische Faulsein sich eines so üblen Rufes erfreut? Man könnte freilich behaupten, es sei dadurch in Mißkredit gekommen, daß Trägheit meist Hungern zur Folge hat. Aber im allgemeinen sorgt gerade der Hunger dafür, daß einer nicht faul ist. Man hat den Müßiggang sogar als Sünde angeprangert. Unverständlich! Bei einem, der Talent zur Faulheit hat, gebiert sie Taten, während große Geschäftigkeit oft nichts anderes ist als ein neurasthenischer Tic. Ich kenne eine Dame, die hat die fixe Idee, immerzu Aschenbecher auszuleeren, und entwickelt dabei einen phantastischen Fleiß. Sie verbringt ihre Tage, indem sie unermüdlich in ihrer Wohnung herumwandert und dafür sorgt, daß in keiner Aschenschale Asche zu finden ist, und um ja nicht müßig zu gehen, kauft sie immerzu neue Aschenbe333
cher. Ed kennt einen Herrn, der sorgt immer dafür, daß alle Bilder geradehängen und die Teppiche ordentlich liegen; er arrangiert die Bücher auf den Regalen der Größe nach und legt Zeitungen und Zeitschriften exakt und adrett aufeinander. Wozu? Wenn er sich Ruhe gönnte, meinetwegen mit den Füßen auf einem Stuhl und neben sich ein Glas kühles Bier – nicht kalt, nur kühl! – und betrachtete aus dieser Position einen verrutschten Teppich oder ein schiefhängendes Bild, er würde sich sagen und dazu ein Schlückchen Bier nehmen (am besten CartaBlanca-Bier): «Der Teppich irritiert mich. Ich möchte ihn zurechtlegen. Läge er gerade, es wäre mir angenehmer. Ich müßte ihn also zurechtlegen. Aber es gibt nur eine einzige gerade Richtung, die meinem rein persönlichen Gefühl von Geradheit und Ordnung entspricht, obwohl für den Teppich eine Fülle anderer Möglichkeiten bestehen. Das bedeutet: ich versuche meinen beschränkten Ordnungssinn einem Perser aufzuoktroieren, der von sich aus einen solchen Sinn überhaupt nicht hat und sich, ob grad oder schief, glücklich fühlt. Ich sollte einmal versuchen, Menschen zurechtzulegen …» Er nimmt einen tiefen Schluck. «Zum Beispiel Helen C … Helen ist etwas unordentlich. Aber Helen C …». Er versinkt in träumerische Gedanken. «Wie hübsch sieht sie aus mit ihrem zerzausten Haar! Wie reizend, wenn sie erregt ist und durch den Mund atmet …!» Wieder hebt er sein Glas und eine Minute darauf den Hörer und wählt ihre Nummer. Er ist glücklich. Helen C. ist vielleicht ebenso glücklich, und der Teppich hat seine Ruhe. Verdient ein derart bewegter Zustand stiller Beschau334
lichkeit als Schande, als Sünde gebrandmarkt zu werden? Mit nichten! Nur durch aufgelockerte Faulheit gelangen wir in jenen Zustand der Kontemplation, darin sich die Dinge nach ihrer Wichtigkeit ausbalancieren: wir und die Welt, die Welt in sich selbst. Der Geschäftige findet zu solchem inneren Ausgleich nie Zeit. Ein geruhsamer Mensch könnte, glaube ich, keinen Mord begehen, auch keine schweren Einbrüche oder nennenswerte Diebstähle. Nie würde er andre aufhetzen. Ein beschauliches Volk göttlicher Faulpelze zöge nie in den Krieg, es sei denn, um ihr Recht auf Faulheit gegen Angriffe von außen zu schirmen. Krieg ist die Betätigung der Geschäftigen. Auf dieser Ideologie schliefen wir bis nach neun. Um zehn kam die Schiffsmaschine in Gang. Die Western Flyer nahm Kurs auf Conception Bay: «Bahia Concepción», der Busen der Empfängnis. Das Meer war bisher mit Ausnahme einiger Windstöße hinter La Paz sehr ruhig. Heute zum ersten Mal bläst wieder eine Brise das ultramarinblaue Wasser. Um uns her springen und spielen die Schwertfische. Am Bug richten wir unsere leichteste Harpune und warten, warten. Immer wieder, um uns über einen ruhenden Schwertfisch zu bringen, dreht der Steuermann das Rad; die hellen Tiere aber warten anscheinend nur darauf, daß wir knapp in Wurfnähe sind, um unterzutauchen. Nach vielen wilden Fehlwürfen sitzt endlich ein Geschoß knapp im Schwanz eines fast vier Meter langen Ungetüms. Doch da schnickt die halbmondförmige Schwanzflosse; sie schmeißt das Ding heraus, und weg ist die Harpune! Mit den Tuna-Scharen, die unser Schiff passiert, ging es uns besser. Wie da die An335
gelschnüre gleich zuckten, sich bogen unter den Schlägen der schönen Tiere! Wir stellten achtern ein Tönnchen mit Lake auf, schnitten Tunas in Scheiben, um sie eingesalzen mit nachhause zu nehmen. Da aber jeder von uns zu dem guten Werk ein übriges tat und immer wieder eine Handvoll Salz hineinwarf, wurde die köstliche Speise versalzen und total ungenießbar. Wir umfuhren Punta Aguja und bogen mit Südkurs in die tiefe Tasche von Bahia Concepción. Vor uns im Dunst lag das Städtchen Mulege, doch da hielten wir nicht. Denn erstens erhebt man dort niederträchtige Hafengebühren (man hat uns davor gewarnt) und zweitens – auch davor hat man uns gewarnt – herrscht Malaria. Hinter der fahren wir schon seit Anfang her! Am Kap hatte man uns gesagt: «Hier ist keine, aber in La Paz wütet sie.» In La Paz hieß es: «Nur in Loreto!» Und in Loreto: «Nein, die Malaria ist in Mulege.» Möglich. Wir jedenfalls ließen Malaria und Mulege auf sich beruhen und wissen daher nicht, was die Mulegenos zu dieser Frage bemerken könnten. Später, am andern Ufer des Golfes, stießen wir wieder auf Malaria-Warnungen; sie begleiteten uns bis Topolobambo, wo wir sie ließen. Von Sachkenntnis ungetrübt, können wir nur bestätigen: In Mulege und Topolabambo blüht die Malaria. Eine zweiundzwanzig Meilen lange kräftige Landzunge grenzt die Concepción-Bucht gegen den Golf ab. Die Breite der Bucht beträgt an den verschiedenen Stellen 2 bis 5 und im Norden an der Mündung 2½ Meilen. Die Ostküste, der entlang wir sammelten, verläuft ziemlich regelmä336
ßig. Das Ufer ist sandig, steil, voll Milliarden bleichender Schalen und reich an Muscheln und Schnecken. Die Landzunge, die den kleinen Concepción-Golf vor dem großen Golf schützt, ist von einer Bergkette durchzogen, die stufenweis gegen die Ostküste abfällt. Hier, dem Ufer entlang, haben sich viele Lachen stark salzhaltigen Wassers gebildet. Darin sitzen bei ihren nassen Höhlungen Tausende «Fiddler crabs», wie sie bei uns genannt werden, eine Krabbenart mit Scheren von ungleichmäßiger Länge. Wenn man ihnen zu nahe tritt, werfen sie Blasen. Wundervoll der Strand, übersät mit den rosigen und weißen Schalen der Murex. Sparky war davon so entzückt, daß er einen Waschzuber voll einsammelte, den er im Schiffsbassin verstaute. Es reichte aber nicht für all seine Freundinnen und Freunde in Monterey und Umgebung. Hinter dem Strand kommt ein erhöhter Streifen Land, sandig, trocken, von Kakteen und dichtem Gebüsch bewachsen, und dahinter erhebt sich die Bergkette. Wieder tönt der Wildtaubenruf heimwehkrank von den Hügeln zu uns herüber. Sehnsüchtiges Erinnern erwacht und zugleich eine seltsame, unbezähmbare Neugier. Wieder erstirbt ein Tag, und mich packt das Verlangen, den gurrenden Tönen nachzugehen, weiter und weiter und alles andere zu vergessen. Unser Unterbewußtsein birgt nicht nur visuelle und gedankliche, sondern gewiß auch tonale Symbole, Töne, auf die etwas in uns Antwort gibt, eine jähe Lüsternheit, ein Zusammenzucken aus Furcht, oder heimwehe Traurigkeit. Vielleicht war in unserer vormenschlichen Existenz dieser Taubenton das Signal, daß der Tag vorüber ist und eine Nacht voller Schrecken, die 337
letzte vielleicht bevorsteht. Zusammen mit dem optischen Zeichen der untergehenden Sonne und dem Geruchssymbol der kühler werdenden Erde, krampft das Gurren der Tauben des Menschen beklommenes Herz noch enger zusammen, genügt nach urzeitlicher Angewöhnung vielleicht auch allein. Der Geruch einer Moschusziege braucht uns nicht bekannt zu sein, und doch erkennen wir ihn als ein Erlebtes. Wenn wir ihn auch nur verdünnt in Parfüms einatmen, übt er auf uns seine Wirkung, selbst wenn wir nie die leidenschaftliche Gier, die sich aus der Moschusdrüse entlädt, unmittelbar empfanden und dem Liebesspiel, das sich danach entwickelt, niemals beigewohnt haben. Viele Hirtenvölker kannten den Duft und seine Folgen, fühlten sich stark von der Erregung der Moschustiere berührt. Heute noch sieht sich der Städter tief aufgewühlt, wenn er diesen Duft im Haar eines Mädchens riecht. Wahrscheinlich produzieren wir weder Moschus noch etwas ähnliches, doch immer wieder erlebt ein Mann, daß er sich plötzlich umdreht und Einer von all den Vielen nachsieht, nur dieser Einen, ihr sogar nachläuft … Sie braucht nicht schön zu sein, ist es tatsächlich oft nicht. Welch anderes Stimulanz könnte dies bewirkt haben als eine Geruchsempfindung, tiefer oder auch höher als bewußte Geruchsfähigkeiten …? Wer einem solchen Impuls vertraut und ihm bis zum unausbleiblichen Ende nachgeht, wird selten enttäuscht. Wenn es im Unterbewußtsein starke visuelle Symbole gibt, müssen auch unsere anderen Sinne, Gehör, Geruch und Tastsinn, ihre Symbole in sich tragen. Die Ballen unserer Daumen, die Ohrläppchen, die Haut unterhalb der Rippen, die Schenkel, die Lippen haben ihre 338
Erinnerungen. Sie wohnen bei den Düften der Blumen im Frühling, der alle Sinne bewegt, dem Duft des bereiten Weibes, Reptiliengerüchen und dem Geruch des Todes tief im Unterbewußtsein. Ich kann manchmal genau sagen: «Der Mann stirbt bald.» Rieche ich den Zerfall der Zellen? Sehe ich, wie das Haar seinen sinnlichen Glanz verliert und die Haut ihre Tönung? Wir sind uns über diese Reaktionen im einzelnen nicht im klaren, und doch sagen wir: ‚Der Mann, der Hund, die Katze, die Kuh stirbt.‘ Wenn die Hundeflöhe es so genau wissen, daß sie ihren tödlich erkrankten Wirt verlassen, warum sollten wir es nicht wissen? Der nahende Tod, der Vor-Tod der Zellen informiert uns so gut wie die Flöhe. Das seichte Uferwasser der Bahia Concepción ist voll sogenannter «Sand-Dollars»: zwei landläufiger Spezies (Encope californica und Encope grandis) und einer sonst sehr seltenen (Clypeaster rotundis), und mit ihnen ökologisch verbunden wächst an losen Steinen im Sand und an Auswüchsen alter Korallen die rot leuchtende Tedania ignis, ein baumartig verästelter Schwamm. Dies die Glanzpunkte im Nassen. Bei und unter andern Steinen in feuchtem Sand ruhen überdimensionierte Hachas, überbüschelt von Tunikaten, auf ihren Schalen die gewöhnlichen kleinen Ophiuren und Krabben. Eine der maskierten Felsmuscheln trägt eine Gruppe solitärer Korallen. Auf dem Trocknen sind viele große Schnecken, vor allem die Murex, die Sparky so sehr begeistert. Wir sammeln zunächst vom Beiboot aus, fischen, über den Bootsrand gebeugt, mit dem Tauchnetz oder spießen das Gewünschte mit ei339
nem kleinen Dreizack. Mitunter springen wir über Bord und tauchen nach einem am Felsen haftenden Prachtexemplar von einem Schwamm. Das Eis, das wir in La Paz an Bord gebracht hatten, war geschmolzen. Wir ließen unser Motorchen stundenlang laufen, um unsern Eisschrank zu kühlen, doch bei der herrschenden Hitze brachte es die Temperatur nicht unter 38° Fahrenheit. Es setzte auch mehrmals aus und hatte offenbar keine Lust, bei solcher Hitze zu laufen. Man hörte es ihm sogar an. Das Motorgeräusch klang müde, verschwitzt, geradezu angeekelt. Zum Abendessen buk Sparky die eben gefangenen Fische. Nach Einbruch der Dunkelheit beleuchteten wir das Deck und hingen wieder unsere Lampe über die Reling. Ein schlangenartiger Aal ging uns ins Netz. Nach der langsamen, gekrümmten Fortbewegungsart, die wir an ihm unter Wasser beobachteten, halten wir ihn für eine der viperartigen marinen Schlangen, die weiter südlich oft vorkommen. Wir fingen auch einen fliegenden Fisch. Wir arbeiteten vom Deck aus in dem beleuchteten Wasser mit Tauchnetzen an langem Stiel und stellten unsere emaillierten Tiegel so auf, daß wir die kleinen pelagischen Tiere unmittelbar hineinschütten konnten. Die verschiedenen Gruppen in den verschiedenen Tiegeln nahmen rapid zu. Da sah man Hetero-Nereiden (das «freie Stadium» eines sonst kriechenden Wurms, der mit Geschlechtsreife einen Schwanz entwickelt, welcher wie ein Paddel aussieht und ähnlich funktioniert), schwimmende Krebse, freischwimmende Aneliden, Schnurfische, die man sonst nicht sieht, da sie durchsichtig sind. Wir hätten 340
auch jetzt nicht gewußt, daß welche im Tiegel sind, hätten wir nicht ihre feinen Schatten am Emailboden gesehen. Erst in Alkohol war es mit der Durchsichtigkeit aus; da konnte man sie erkennen. Andere Tiegel quollen über von schwänzelnden, schnellenden Tierchen. Jedes Tauchnetz brachte zahlreiche Spezies, und als wir die nach oben abgeschirmte Lampe fast bis an die Wasserfläche hinunterließen, gab es im Lichtkreis ein verrücktes Gestöber der Kleinsten, in das die etwas größeren Fische schnappend hineinfuhren, während am Lichtrand die großen Klugen kreuzten, ihre Gelegenheit wahrnahmen, zustießen, den kleinen Fisch schnell packten und verschlangen. Auch einige der crèmefarbenen gefleckten Schlangenaale schlängelten sich heran und ins Netz. Ihre Ähnlichkeit mit Schlangen ist unheimlich. Sie schwimmen nicht wie die Fische; sie schrauben sich durch die Flut. Ihre Augen sind hellblau und klein. Ohne unsere Arbeit zu unterbrechen, versahen wir unsere Krebsnetze mit Lockspeise, wozu wir die Reste unserer abendlichen Fischmahlzeit verwendeten, und ließen sie auf den Meeresboden hinunter. Als wir sie hochzogen, waren sie beladen mit großen stieläugigen Schnecken (Strombus spp.) und stachelbewehrten, bösartigen Seeigeln (Astropygae pulvinatae). Die Kaltwasser-Verwandten dieser beiden Spezies bewegen sich nur langsam; diese aber sind äußerst flink und gefräßig. Ein Netz, das wir fünf Minuten unten ließen, kam mit mindestens zwanzig Seekrebsen herauf, alle im Angriff auf unsere Lockspeise. Sie sind aber nicht nur geschwind, sie bedienen sich zugleich ihrer Stacheln mit großem Geschick und mit einem 341
– fast möchte man sagen: Stachelspitzengefühl! Sobald man sich ihnen nähert, geraten die langen, scharfen kleinen Speere in Bewegung, richten ihre Spitze auf den Angreifer und starren ihm gleich einer mazedonischen Phalanx entgegen. Der Schaft der Speere ist crèmegelb-weiß, die 10,27 mm lange Spitze blauschwarz. Ihr Stich brennt wie ein Bienenstich. In vier Faden Tiefe scheinen sie hier zahlreich vertreten. Bis zu welcher Tiefe sie vorkommen, ist uns unbekannt. Ihr Bau, ihre Geschicklichkeit, ihre Gefräßigkeit deuten auf eine recht beträchtliche. Mit den gleichen Netzen fingen wir einige einsiedlerähnliche Krebse, die sich dem Leben in einer Schale zweiklappiger Muscheln angepaßt und ihre Körperform dementsprechend verändert haben. Vermutlich endet in diesen Gewässern kein tierisches Gewebe durch Zerfall. Der rasende Appetit der Lebenden dürfte dafür sorgen, daß kein totes oder auch nur verwundetes Tier länger als ein paar Sekunden bleibt. Rasch naht der Tod dem Schnellen, der einmal trödelt, dem Muscheltier, das seine Schale zur Unzeit öffnet, dem Draufgänger, der furchtsam wird. Dort unten ruht auf dem kleinsten Versehen, auf jeder Schwäche die Todesstrafe, und es gibt keine Bewährungsfrist. Einige der Seeigel mit Stachelspitzengefühl hätten wir gern am Leben erhalten, um ihre Methoden der Bewegung und des Angriffs zu beobachten. Aber unsere Aquarien haben Wände aus polarisiertem Glas; die Tiere können zwar heraus gucken, aber wir nicht hinein. Ein schlimmer Fehler unsererseits! Man braucht zu einer solchen Forschungsfahrt notwendig ein Aquarium großen Formats, in 342
dem man jedes beachtliche Tier eine Zeitlang beobachten kann. Es gibt drei Arten, ein wirbelloses Tiere zu studieren: 1. an ihren eigenen Sitzen während der kurzen Ebbezeit, 2. längere Zeit im Aquarium, 3. tot und konserviert. Das Ideal wären alle drei Beobachtungsarten nacheinander. Es dauert lange, bis man so weit ist, ein Tier wirklich zu kennen. An seinem natürlichen Aufenthaltsort sieht man sein normales Leben. In einem Aquarium lassen sich anormale Lebensbedingungen schaffen und so die Anpassungsfähigkeiten der Tiere feststellen. Als Beispiel lasse ich einige Aufzeichnungen folgen. Sie erfolgten bei Beobachtung einer kleinen Aktinienkolonie im Aquarium, in dem wir sie mehrere Monate hielten. An ihrer Fundstelle in der Ebbezone waren sie dick und dicht am Gestein. Wenn sie die Flut bedeckt, strecken sie ihre schönen Tentakel aus; mit ihren Nesselzellen fangen und fressen sie viele Mikroorganismen. Berührt sie ein stärkeres Tier, zum Beispiel ein Krebslein, so lähmen sie es, schließen es in ihren Magen, und der Verdauungsprozeß beginnt, noch ehe die Beute tot ist. Schalen und andere unverdauliche Teile stoßen sie aus. Von einem Feind angegriffen, rollen sie sich zusammen. Eine Gruppe dieser Seeanemonen brachten wir auf ihrem eigenen Stein ins Laboratorium und setzten sie so ins Aquarium. Gekühltes Wasser und Sauerstoff wurde, um sie am Leben zu halten, ins Aquarium gestäubt. Hierauf gaben wir ihnen verschiedenartige Nahrung und bemerkten, daß sie auf einfache Berührung der Tentakel nicht mehr reagierten. Hingegen zeigte sich etwas, das wie eine vage Parallele zu Ge343
schmacksempfindungen anmutet und auf chemischen oder mechanischen Vorgängen beruhen könnte. Eiweißnahrung wurde mit den Tentakeln ergriffen und ohne Zögern gefressen. Fett wurde vorsichtig angerührt, sichtlich dem Magen einverleibt und sofort wieder ausgesondert. Stärkehaltige Nahrung wurde mit den Tentakeln berührt und dann ignoriert. Zucker, wenn konzentriert, schien sie dermaßen zu brennen, daß die Fühler davor zurückzuckten. Es schien in der Tat, als erfolge die Differenzierung und Auswahl auf chemischem Wege. Wir ließen das gleiche Meerwasser immer wieder zirkulieren, kühlten es lediglich ab und setzten Sauerstoff zu. Purer Sauerstoff verursachte bei den Seeanemonen eine Art Betäubung. Sie erschlafften; die Reaktion auf Berührung war sehr verlangsamt und hörte zuweilen ganz auf; die Reaktion auf chemische Reizmittel war jedoch aktiv, wenn auch verlangsamt. Mit der Zeit war (infolge der ständigen Zirkulation des Wassers an den Seeanemonen vorbei) die mikroskopische Nahrung, die es bot, aufgebraucht. Und nun begannen die Tiere ihre Gestalt zu verändern. Ihre dicken, fetten Körper wurden halsförmig lang. Von 2,54 wuchsen sie auf 6,62 cm und waren sehr dünn, wie wir vermuteten, infolge Hungers. Nach drei Monaten setzten wir ein Krebslein ins Aquarium. Die Anemonen bewegten ihre langen Hälse, beugten sich über das Krebslein und griffen es an. Ihre normale Reaktion wäre gewesen: sich aufzuschließen und die Fühler einzuziehen. Aber ihre Gewohnheiten hatten sich geändert. Wenn man ihre Körper, selbst unten an der Grundfläche, berührte, bewegten sie sich abwärts, krümmten ihre Stengel, während die Fühler hungrig nach Nah344
rung suchten. Sie schienen sogar – was wir in der Ebbezone an Seeanemonen nie gesehen hatten – miteinander um Nahrung zu kämpfen. Diese Wandlungsfähigkeit war von uns bisher nie beobachtet worden, ist auch in der Literatur, soweit uns bekannt, nirgends erwähnt. Das Aquarium ermöglicht eine sehr wertvolle Erweiterung der am Strand angestellten Beobachtung. Scharfsichtige, scheue Tiere gewöhnen sich rasch an menschliche Umgebung und lassen sich durch künstliches Licht nicht stören. Hätten wir unsere feinfühligen Seeigel in ein Aquarium setzen können, so hätte sich feststellen lassen, auf welche Weise sie sich so rapid vorwärtsbewegen und was sie dazu treibt, auf einen sich nähernden Körper mit ihren Stacheln zu zielen. Wir aber konservierten sie. Da verloren sie selbstverständlich die Farbe und viele ihrer schönen, scharfen Stacheln. Wir hätten auch sehen können, wieso die großen Schnecken imstande sind, tierisches Gewebe so rasch zu verarbeiten. Doch unter den gegebenen Umständen wissen wir davon nichts.
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19 FREITAG, 29. MÄRZ
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ach der Gezeitentafel können wir uns hier oben im Golf nicht mehr richten und eine neue anzulegen hat keinen Sinn, da wir überall gleich wieder aufbrechen. Also weg damit! Gestern Abend haben wir den Stand der Flut mit einer Fahnenstange bezeichnet, heute früh 7 Uhr 30 sahen wir durch das Fernglas, wie weit das Wasser zurückgewichen war. Eine himmlische Ruhe liegt über unserm Denken und Tun, was aber unsere Arbeit und deren Fortgang in keiner Weise beeinträchtigt. Eile mit Weile! Man kann in Muße fleißig sein; es ist besser als eine fieberhafte Untätigkeit. Die Sonnenglut auf dem Morgenstrand macht uns froh. Wir denken an Darwin, wie er spät nachts mit seiner Beagle in die Bucht von Valparaiso einlief und am Morgen erwachte, hinüber zum Ufer schaute und sich so wohl fühlte, daß er schrieb *: «Als der Morgen kam, erschien alles berückend. Im Gegensatz zu Tierra del Fuego war hier das Klima wohltuend, die Luft trocken und der Himmel so klar, sonnig, blau strahlend, daß die ganze Natur Leben sprühte.» Das bezog sich viel weniger auf Valparaiso als auf ihn, und da er sich mit der Natur eins fühlte, sprühte die Natur Leben. In Wirklichkeit sprühte er und war so beseligt, daß wir heute nach * Charles Darwin, «Reise auf der Beagle», Kap. 12; Juli 1823 346
hundert Jahren in seinen paar allgemeinen Adjektiven noch seine Ekstase verspüren, ihn vor uns sehen, wie er sich reckt, in der Morgenfrische die Muskeln spielen läßt und seinen Hut in die Luft wirft und auffängt. Hoffentlich war’s eine steife runde Melone! Genau so ist uns an diesem Morgen am Busen der Empfängnis zumute. «Alles erscheint berückend …» Die Wellchen lecken den Uferrand. Kaum daß sie schäumen. Draußen in der Bucht jagen Pelikane nach Fischen, schweben, kreisen, tauchen mit gefalteten Schwingen, was ungeschickt aussieht, jedoch offenbar von Erfolg gekrönt ist, sonst gäbe es hier keine Pelikane mehr. Um zehn Uhr hat das Wasser anscheinend den tiefsten Stand erreicht und beginnt zurückzufluten. Wir weichen Schritt für Schritt mit. Der entblößte Strand fällt ganz vorne am Wasser steil ab, dahinter steigt er stufenweise an. Wir greifen zwei Spezies Cakes-Igel auf, die sich kommensal in 15 bis 45 cm Tiefe aufhalten: Encope California Verrill, der gewöhnliche Cakes-Seeigel mit Löchern, und die hier sehr verbreitete Encope grandis (L. Agassiz), auch Schlüsselloch- oder Sanddollar-Igel genannt. Außerdem ein ganz seltenes Mitglied dieser Gruppe, das wir erst nachher an Bord als einen Clypeaster rotundus (A. Agassiz) erkannten, wobei sich beim Auseinanderlegen herausstellte, daß wir drei Exemplare der Spezies in Händen hatten. Etwas tiefer, etwa 60 cm im Wasser des Ebbereichs, griffen wir eine uns neue, flache, sandverkrustete Seegurkenspezies: Holothuria inhabilis. An mehreren Stellen fanden sich Riesenherz-Seeigel, und zwar zu Tausenden zwischen 60 und etwa 90 cm im Nie347
derwasser, tiefer nur sehr wenige, die meisten um 90 cm unter der Oberfläche. Das Litoral ist hier ähnlich wie am Puget-Sund: der obere Strand Kieselkies bis zur Größe kleinerer Felsstücke; der untere Sand, teils kiesig, teils fein, und unter Ebbeniveau da und dort Steine. In dieser Zone bis maximal 1,32 m gedeihen üppige Haine von Algen, wahrscheinlich Sargassum, die sich bis zur Oberfläche ausbreiten. Abgesehen davon, daß es hier kein Aalgras gibt, könnte man meinen, man sei am Puget-Sund. Wir nahmen Strombi galeati, riesige stiläugige Muscheltiere; einige Holothurien-Spezies und die Sandanemone Cerianthus, deren Kopf wunderschön, deren Körper jedoch wie mit fauligem Tuch umhüllt ist. Tiny taufte sie «Kaldaunen». Wir haben den Namen beibehalten. Tauchend erwischten wir auch eine Anzahl der großen, miesmuschelartigen Hachas. Ihre Schalen waren mit Schwämmen und Manteltieren verkrustet, unter welchen sich Krebslein und schnappende Garnelen versteckt hatten. Auch gezackte Napfmuscheln hafteten an den Hachaschalen. Diese Hacha schließt sich mittels ihres großen Anziehmuskels so fest zusammen, daß man sie nicht einmal mit dem Messer aufbringt; eher zerbricht die Schale, als daß der Muskel nachgibt. Die beste Methode, sie zu öffnen: man legt sie in einen Eimer Wasser, und sobald sie sich ein wenig öffnet, fährt man mit einer scharfen schmalen Klinge hinein und durchschneidet rasch den Muskel. Den Finger dazwischen zu halten, ist weniger ratsam. In vielen Hachas entdeckten wir die sehr weiche Pontonia pinnae, eine kommensale Garnele, die in Hachas Körperfalten zu Hause ist. 348
Gegen Mittag waren wir auf der Fahrt nach der Lagune von San Lucas (nicht zu verwechseln mit Cabo San Lucas im Süden!) und beschäftigten uns währenddessen wie gewöhnlich mit Konservierung und Beschriftung. Einige Sanddollar-Igel töteten wir in Formalin und legten sie zum Trocknen an die Sonne; andere verwahrten wir in Formaldehyd-Lösung in einem Tönnchen. Sparky hat bis jetzt schon mehrere Säcke mit feinen weißen, rosig geränderten Murex-Gehäusen gefüllt. Er meinte, er müsse sich deswegen rechtfertigen, was niemand verlangt hat, und erklärte uns, er wolle seine Gartenwege damit säumen. Er fürchtet, man könne meinen, er liebe sie. Er hat nie einen Garten gehabt. Er liebt sie ganz einfach und will sie besitzen. Er geniert sich nur. Wir passierten Mulege, den Ort mit den angeblich hohen Hafengebühren und der angeblich noch höheren Malaria-Sterblichkeitsziffer. Seine roten Dächer und weißen Hausmauern standen so hübsch vor dem bergigen Hintergrund, daß wir die größte Lust hatten, an Land zu gehen. Doch da wir uns geschworen hatten: «Nie nach Mulege!» mußte es dabei bleiben. Sehnsüchtig schauten Sparky und Tiny nach dem vorübergleitenden Städtchen. Sie lieben solche Abstecher, besonders nachdem sich herausgestellt hat, daß die Mexikanerinnen ihr Italienisch und ihre verschiedenen Wünsche vorzüglich verstehen. Nach jeder Landung wandern sie mit ihrem Photoapparat durch die Gassen und haben in kurzer Zeit je eine Freundin. Tony und Tex sind hierzulande Ausländer, Tiny und Sparky aber zu Hause, selbst wenn sie den Namen des betreffenden Hauses nicht kennen. 349
Aus angeborenem Taktgefühl fragen sie gar nicht danach. Da es jetzt immer am Ufer entlang ging, war ihre Steuermannskunst wesentlich besser geworden. Wenn sie nicht zufällig einen Schwertfisch jagten, was oft der Fall war, kamen wir während je einer ihrer Steuerwachen höchstens dreimal vom Kurs ab. Daß sie sich nicht mehr nach dem Kompaß richten mußten, sondern nur nach der Küste, begrüßten sie sichtlich erleichtert. Es fiel uns aber in diesen Tagen auf, daß Tex fett wurde, und da er nach unserer Rückkehr zu heiraten beabsichtigte, beschlossen wir, ihn auf Diät zu setzen, damit sein Bauch in hochzeitsmäßigen Zustand käme. Trotzdem er dagegen protestierte, kürzten wir seine Ration, woraufhin er drei Tage lang Essen stibitzte oder uns abbettelte und auf diese Weise doppelt so viel verzehrte als sonst. Schon allein das Wort «Hungerkur» machte ihn so hungrig, daß er am Ende des dritten Tages erklärte, er halte es nicht mehr aus. Zum Abendessen verschlang er so viel, daß er beinah geplatzt wäre. Obwohl er während seiner Abmagerungsdiät einige Pfund zugenommen hatte, ließ ihn die Erinnerung an jene drei Tage noch lange erschauern. «Wenn man so hungert», sagte er, «fühlt man sich nicht als Mann, und wenn ich mich nicht als Mann fühle, wozu soll ich dann heiraten?» Um 5 Uhr nachmittags gingen wir außerhalb der Lagune San Lucas vor Anker. Eine lange Nehrung scheidet das Salzwasserhaff vom Meer. Es war vielleicht tief genug, daß wir dort hätten einfahren können, doch herrschte beim Eingang eine außergewöhnlich starke Strömung, und Auf350
zeichnungen über die Wassertiefe hatten wir nicht. An solchen Orten hielt Tony Vorsicht für doppelt geboten. Aber das war nicht der einzige Grund für die Wahl unseres Ankerplatzes. Im offenen Golf weht bei Nacht stets eine leichte Brise, während in stehendem Gewässer, zumal bei einem Mangrovenwald, allerhand Insekten zu Besuch kommen, besonders eine kleine käferartige Fliege, die krabbelt einem ins Bett und hat eine ausgesprochene Vorliebe für empfindliche Körperteile. Wenn von Mangroven der Wind zu uns herüberwehte, hatten wir von solchen kleinen Gästen schon viel auszuhalten gehabt. Sie hassen das Licht und fühlen sich erst glücklich, wenn sie dir unter der Bettdecke an die Nieren gehen. Ihr Biß juckt elend. Wenn unsere Wünsche irgendwelchen Einfluß auf das himmlische Gericht haben, wird die Kollektivseele dieser Spezies dereinst in der Hölle schmoren. Strömung hin, Strömung her – wir ankerten draußen! Bei unserer Ankunft ergoß sich die Flut wie ein oberschächtiger Mühlbach in die Lagune. Wir mußten die Morgenebbe abwarten. Wir brannten darauf, festzustellen, ob wir an der sandigen Landzunge den Amphioxus, den primitivsten Wirbellosen, entdecken würden. Die Lage war dazu die gegebene. Während der Anker Fuß faßte, kreuzte ein großer Hai, die Rückenflosse hoch über Wasser, unsere Bahn. Wir schossen mit der Pistole nach ihm. Ein Schuß ging durch seine Flosse. Wie ein Rasiermesser durchschnitt der Raubfisch die Flut, daß das Wasser zischte. Haie können eine unglaubliche Geschwindigkeit entwickeln. Die Schnelligkeitsunterschiede bei den einzelnen Individuen dieser Spezies sind beträchtlich, und es gibt 351
Hai-Arten wie den Man o’War, mit denen verglichen die andern langsam zu nennen sind. Nachts hingen wir wieder das Licht über die Reling und fingen einige kleine Tintenfische, die übliche Heteronereide, eine Reihe freischwimmender Krustentiere, Krabbenlarven in Menge und wieder einen durchsichtigen Rippenfisch. Sparky und Tiny haben eine besondere Technik im Fangen fliegender Fische entwickelt. Der eine stößt nach dem Fisch mit dem Netz, so daß dieser ins Netz des anderen fliegt. Aber damit hat man ihn noch lange nicht. Denn selbst im Netz wehrt sich das Tier, flattert sich frei, und nicht selten entkommt es. In dieser Nacht trug sich etwas zu, dessen ich mich nicht rühmen möchte, obwohl es zu einer fröhlichen Feier Anlaß gab. Die Tiegel mit den Tieren standen noch auf Deck, und ein Teilnehmer unserer Expedition – wer, möchte ich, wie gesagt, aus Bescheidenheit nicht sagen – verwechselte das Epsomsalz mit den Brotbröseln und versuchte einen Großtiegel voll Holothurien mit Bröseln zu anästhesieren. Das Ergebnis war ein dicker Brei, der keine narkotische Eigenschaft zeigte. Gegen Ende der Festlichkeit erinnerten wir uns an eine Stelle bei Horaz, wo es heißt, daß ein Betrunkener durch den Genuß gebackener Garnelen und afrikanischer Schnecken sogleich wieder nüchtern werde. Leider hatten wir weder das eine noch das andre zur Hand, wußten auch nicht, was für Schnecken Horatius meint: Escargots oder Seeschnecken? Ob dieses klassische Heilmittel seit der Antike jemals verordnet und ausprobiert worden ist …? Jammerschade, daß die Menschheit von solchen 352
phantasievollen Heilmitteln abgekommen ist und statt dessen Aspirin, Saridon, Optalidon, Alcacyl etzetera schluckt! Die Mysterien des Weingottes Bacchus werden durch eine Chemie annulliert, die selber schon beinah, nicht ganz, eine mystische Angelegenheit ist. Horatius Flaccus weist sogar darauf hin, daß besagte Garnelen und Schnecken, vermischt mit dem Weine von Kos, der Heimat des Hippokrates, unfehlbar von Rausch und Katzenjammer befreien. Möglich! Dann hätte sein Mittel eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen Zaubermitteln, zu deren Ingredienzen Froscheier, Eidechsenzungen, das Hirn eines Gehängten und Laudanumsaft, d.h. Roh-Opium gehören, was alles zusammen das Zentralnervensystem und zugleich unsere Phantasie stimuliert, in der Lagune San Lucas jedoch nicht erhältlich ist. Aber nachdem wir das Wundermittel festlich und wissenschaftlich erörtert hatten, war uns klar, daß es eine gute, kräftige Dosis Protein plus Alkohol darstellt. So etwas stand uns zu Gebote, und zwar in Gestalt von gebackenem Fisch und einem gehörigen Schuß Whisky. Die amerikanischen Reklamefachleute haben für den Rausch einen beschönigenden, blödsinnigen Namen geprägt; sie müssen ja alles beschönigen und haben ihn daher «Overindulgence» (Überbefriedigung) getauft. Ein widerwärtiges Wort! Schon in der Vorsilbe «over» hegt eine Art Verweis: Das hättest du nicht tun sollen! Es war zuviel für dich. – Bei unserer kleinen Feier wiesen wir diese Beschuldigung ganz entschieden zurück. Wir haben nicht zu viel getrunken, sondern genau so viel, um eine angenehm leichte Trunkenheit zu erzeugen. Zum Teufel mit eurer Over-indulgence! 353
A propos Whisky! Der aufmerksame Leser wird sich erinnern, daß beim Abschied von Monterey der gesamte Whiskyvorrat aus unserer Schiffsapotheke verabfolgt wurde. Bald nachdem wir in See gestochen waren, stellte sich jedoch heraus: Jedem Expeditionsteilnehmer hatte das Wohl Aller so sehr am Herzen gelegen, daß er für etwaige Notfälle ein gewisses Quantum heilsamen Whiskys mit an Bord nahm; so daß wir alles in allem eine WhiskyApotheke beisammen hatten, deren sich eine bessere Bar nicht hätte zu schämen brauchen. Und wer erkühnt sich zu leugnen, daß ein Notstand der Seele nicht schlimmer sei als eine Erkältung? Was für Li Tai Pe gut genug war, ist uns erst recht gut. Der bescheidenen Feier entquollen noch die Gedanken: Wieviel Unsterbliche huldigten niemals dem Weine? Wir haben nicht nachgezählt, aber wir glauben: Keine! Die australischen Buschmänner und die Indianer sind wohl die einzigen Kulturvölker, welche weder einen Weingeist noch eine Weingeistigkeit hervorgebracht haben. Doch ach, auch unter den Weißen gibt es Gruppen und Individuen, die dem Alkohol entsagten! Sie stammen zweifellos von Buschmännern oder Indianern ab. Wir wünschen keine Gemeinschaft mit ihnen. Wenn solch ein Buschmann-Spezimen dies Logbuch liest – was wird er sagen? Er wird sagen: «Diese Abscheulichen haben die ganze Zeit über Bier getrunken und an der Lagune San Lucas Whisky!» Es wäre genau so, als sagte ein Blinder: «Manche Leute haben eine scheußlich schädliche Angewohnheit, die sie Sehen nennen; sie führt zum Tode und müßte unbedingt abgeschafft werden.» Unser Volk, von wenigen Ausnah354
men abgesehen, hat eine triumphale alkoholische Vergangeheit und weist keine daraus resultierenden dauernden Degenerationsmerkmale auf. Die Theorie, der Alkohol sei Gift, ist zu simpel, als daß wir sie blindlings akzeptieren möchten. Für einzelne Individuen mag er es sein; für andre ist Zucker Gift, für wieder andere Fleisch. Für die Rasse als Ganzes gesehen war Alkohol von jeher ein Linderer der Schmerzen, ein Erwärmer des Herzens, ein Stärker der Muskeln und Geister. Er gab Feiglingen Mut und ließ häßliche Typen anziehend erscheinen. In Schweden saß einst in einer Hochsommernacht ein armes, zerlumptes, schmutziges Luder am Straßenrand, und da es betrunken war, sprach es staunend, leise, andächtig zu sich selbst: «Ich bin reich und glücklich und vielleicht eine Schönheit.»
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20 SAMSTAG, 30. MÄRZ
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ormittags 8 Uhr 30 lag die Land- und Sandzunge frei in einer weiten Ebbefläche, die bis weit hinaus aus zerbrochenen Molluskenschalen bestand. Wir wühlten darin und fanden außer vielen Muschelchen mehrere Exemplare einer glatten Abart der Venusmuschel, ferner einen großen Fiedlerkrebs männlichen Geschlechts. Der Cerianthus (Tinys «Kaldaunen») war hier allgemein, auch der Einsiedlerkrebs und Callinectes bellicosus, ein Schwimmkrebs mit hellblauen Scheren, der von den Mexikanern gerne gegessen wird und ausgezeichnet schmeckt. Er schwimmt äußerst schnell. Jagt man ihn ins Seichte, so sucht er eine Zeitlang zu fliehen, faßt aber dann festen Fuß und erhebt die Scheren wie ein Boxer in Defensive. Wenn er dich zwickt, tut es verdammt weh. Gefangen, in Sammeleimern, lassen diese Schwimmkrebse ihre Wut aneinander aus. Bei unserer Rückkehr an Bord fanden wir die Eimer voll abgezwickter Beine und Scheren. Aus freien Stücken verlassen sie nicht wie die Grapsoiden das Wasser, und wenn man sie daraus entfernt, verlieren sie bald ihre Stärke und Kampfeslust. Aber sie gehen im Süßwasser auch nicht so rasch ein. Durch den ständigen Aufenthalt im Brackwasser der Lagunen haben sie eine Toleranz für Frischwasser gewonnen, die nicht nur die anderer Krabben übertrifft, sondern auch 356
die Toleranz eines Herrn Biologen, dessen Name ihr nie erfahren werdet. Die Intoleranz unserer Rückwärtsgeher setzt einen immer wieder in Erstaunen. Der Amphioxus wohnt gemeinhin an der Seeseite sandiger Landzungen und unterhalb des Ebbebereichs, allenfalls noch an sandigen Stellen, die nur bei besonders niederem Ebbestand zum Vorschein kommen; selbst dann handelt es sich wohl meist um Einzelgänger. Ausnahmsweis tiefes Niederwasser dürfte Gebiete enthüllen, in welchem sie scharenweise erscheinen. Das Einfangen dieser Lanzettfischchen ist eine aufregende Angelegenheit und erheischt größte Behendigkeit. Sie sind zum Teil durchsichtig und von vollendetem Stromlinienbau, obendrein ebenso kräftig wie gewitzt. Geht man mit der Schaufel dem Sand zu Leibe, darin sie leben, so springen sie heraus und ringeln sich wie besessen, um schleunigst in sicheren Sand zu gelangen, was ihnen meist glückt. Im und sogar unterm Sand bewegen sie sich mit erstaunlicher Schnelle. Durch Umschaufeln des Meeressandes und fixes Zupakken, fingen wir etliche. In Balboa Beach, Süd-Kalifornien, gab es ehedem viele Amphioxen, doch sind sie infolge der Kanalisation und des starken Motorbootverkehrs dort selten geworden, diese interessanten Tiere, die eine Zwischenstufe zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen darstellen. Sie sind im allgemeinen 2,5 bis 6,6 cm lang und so gebaut, daß sie mühelos durch Sand schlüpfen können. Die Landzunge war reich an kleinen Chionen; auch einiger kleiner Rasiermessermuscheln konnten wir habhaft werden. Tinys «Kaldaunen» zogen wir aus ihrem schmutzigen Gehäuse und entdeckten in dessen glatten Innern 357
viele winzige kommensale Sipunkuliden, die sich haardünn auseinander- und dann wieder so zusammenziehen können, daß sie kleinen Erdnüssen ähneln. Kommensale Erbsenkrabben fanden wir wider Erwarten keine. Die San Lucas-Lagune hat etwa die Form eines Schlauches. Ihr stark salzhaltiges, seichtes, einer mörderischen Sonne ausgesetztes Wasser bildet eine dicke Brühe, wodurch es sehr schwer ist, den Cerianthus in ausgestrecktem Zustand zu konservieren. Die kleinen Bunodiden lassen sich in Epsomsalz leicht anästhesieren, aber Tinys Kaldaunen können sich selbst nach achtstündigem Aufenthalt in konzentrierter Epsomsalzlösung, auch wenn die Tiegel in glühender Sonne standen, immer noch rasch und kräftig zusammenziehen, indem sie, sobald die Konservierungsflüssigkeit sie berührt, durch ihre aboralen Poren Wasser ausstoßen. Früher oder später werden wir einmal eine vollkommene Methode zur Anästhesierung von Seeanemonen herausfinden; bis jetzt ist es uns nicht geglückt. Vielleicht gelingt es durch eine Verbindung von Trockeneis - mit Formalinbehandlung, wofern wir, solange die Tiere im Trockeneis entspannt sind, die Absorbierung des Formalin erreichen. Aber dazu bedarf es noch vieler Versuche, denn bei zu großer Kälte nehmen sie das Formalin nicht auf, und wenn zu warm, ziehen sie sich zusammen, sobald sie mit ihm in Berührung kommen. Gegen 11 Uhr 30 waren wir wieder an Bord und brachen zur Bahia San Carlos auf. In Santa Rosalia wollten wir nicht halten. Es ist dies ein größerer Ort, der seinen Ursprung und Fortbestand einem benachbarten, von einer französischen Gesellschaft betriebenen Kupferbergwerk 358
verdankt. Wir hatten es eilig. Eigentlich ging es uns jetzt erst auf, welch ungeheure Aufgabe wir uns gestellt hatten, zumal angesichts der beschränkten Zeit, der ebenso beschränkten Ausrüstung und unsrer geringen Personenzahl. Die Zeit flog dahin, und so sehr sich Sparky und Tiny auch danach sehnten, in Santa Rosalia nette Krabben zu angeln, ließen wir es links liegen. Vom Schiff aus schien uns die Stadt weniger mexikanisch zu sein als andere, wahrscheinlich weil uns bekannt war, daß sie von einer französischen Companie dirigiert wurde. Echt mexikanische Städte entstammen dem Boden; man kann sich nicht vorstellen, sie seien einmal nicht vorhanden gewesen. Santa Rosalia mit seinen großen Industrieanlagen, Verladerampen und Schotterhaufen wirkte unnatürlich. Doch wie in Weißglut leuchtete das Gebirge hinter der Stadt; ihre roten Dächer, die Häuser, von Grünanlagen umgeben, blickten verlockend, und Sparky am Steuerrad mußte all seine Willenskraft aufbieten, um den Kurs fern dem Ufer zu halten. Seine linke Hand zuckte schwer. Gegen 6 Uhr nachmittag kamen wir zur Bahia San Carlos, die gleich einer saugenden Mundhöhle an einem sanften Meerbusen hängt, in welchem sich bei 5 bis 7 Faden Tiefe gut ankern läßt. Die innere Bucht ist von Sandufern umgeben. Dort am Ostsand, in dem starke Felsblöcke ruhen, wollten wir sammeln, denn hier, nahmen wir an, gäbe es eine Fauna, sehr anders als die von heut früh auf den Ebbeflächen. Hoch häuften sich faulende Algen und Seetang, Überreste vermutlich vom letzten Sturm. Vielleicht aber auch endet an diesem Strand eine zyklische Strömung, so daß eine Hochflut Massen losgerissener Tang359
bänke anschwemmt, ähnlich wie bei San Antonio del Mar (an der Westküste Niederkaliforniens, etwa 60 Meilen südlich Ensenada), wo sich die Trümmer gescheiterter Schiffe aus Hunderten Meilen Entfernung auftürmen zu Bergen ausgebleichter Planken und Balken, vom Seewasser zerfressener Kisten und Kasten, Flaschen, Kanistern und Lumpen, zum Kehrichthaufen eines pazifischen Kehraus. Bei San Carlos sah man kaum Strandgut menschlichen Ursprungs. Bis hierher fahren Schiffe so selten, daß das Volk zugeschnittenes Holz und Konservenbüchsen zu schätzen weiß und schleunigst aufliest. In dem verfaulenden Unkrauthaufen gab es zahllose Fliegen und Myriaden Strandhüpfer, die sich am unermeßlichen Vorrat gütlich taten, doch konnten wir nur einer kleinen Zahl habhaft werden; sie waren zu flink. Wiederum merkten wir, daß hier am Golf dem Selbstschutz der Tiere ein «Extra» zugesetzt ist: Sie sind extra-schnell, extra-bewaffnet und zwikken und beißen ärger als die gleichen Spezies in andern Gebreiten. Im Sand fanden wir einige, der kalifornischen Pismo-Muschel recht ähnliche Formen, doch in der Farbe glänzend braun bis schwarz. Von den Felsen nahmen wir zwei Spezies Chitonen, etliche neue Schnecken und Krebse, sahen auch blaue scharfstachelige Seeigel und eine Anzahl Flachwürmer, die schwer zu fangen waren, da sie wie Quecksilber über das Gestein fliehen. Sie ließen sich schlecht konservieren. Manche lösten sich in der Flüssigkeit einfach auf, während andre sich eng zusammenrollten. Auch dem Sonnenstern Heliaster begegneten wir, doch war er hier oben im Golf ganz klein und zuckte nicht 360
mehr zurück. Unterm Sand lagen viele Herzigel. Als wir bei Dunkelheit wieder die abgeschirmte Lampe übers Geländer hängten, erfolgte ein Ansturm durchsichtiger Fische, unter ihnen ein Typ, den wir bisher noch nicht erlebt hatten. Wir fingen wiederum einen Tintenfisch, einen Larven-Mantis-Shrimp, die üblichen Heteronereiden und Krustazeen.
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21 SONNTAG, 31. MÄRZ
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ie Ebbe ist heute morgen kläglich, nur etwa 75 cm unter der obersten Bernikellinie. Wir begannen gegen 10 Uhr, doch kaum hatten wir ein bißchen unter Wasser gesammelt, als ein Wind sich erhob und die Oberfläche kräuselte, so daß wir nichts mehr sahen. Aber das war nicht schlecht. Statt daß wir uns hier am unteren Litoral von dem theatralischen Stachelhummer ablenken ließen, widmeten wir nun unsere Aufmerksamkeit der oberen Region, wobei sich folgendes ergab: Unter den ubiquen Tieren am Golfufer steht die schwefelgelbe, grüne und schwarze Seegurke Holothuria lubrica an erster Stelle; Heliaster unmittelbar dahinter. Beide finden sich nahezu überall. Hier bei San Carlos lebt Sally Lightfoot am weitesten über Hochwasserstand, zusammen mit einigen Formen der Ligyda occidentalis, einem kakerlakenartigen Krustentier. Oben an Felsen und Klippen in mörderisch praller Sonne, nur selten überflutet, häufiger von Gischt bestäubt: Bernikel und Napfschnecken. Etwas tiefer miesmuschelähnliche gekräuselte Muscheln, braune Chitonen, viele Seegurkenarten, einige Heliasterarten und zwei Arten Mürbsterne. Die verbreitete Spezies Ophiothrix spicula, der wir sonst überall begegneten, findet sich nicht. Warzige Seeanemonen leben hier unter Vorsprüngen, in Felsspalten und an Felsrändern. Dort haften auch 362
Seesterne Astrometis sertuliferae und zu Tausenden unter den Steinen Garbanzo-Muscheln zusammen mit KeulenSeeigeln. Dies ist, von oben gerechnet, die zweite Zone. In der dritten eine Überfülle von Schwämmen verschiedener Spezies, unter ihnen ein sehr schöner blauer; der Seepolyp Octopus bimaculatus und eine Chitonenspezies; viele große Purpur-Seeigel (wir nahmen keine mit); im Sand und zwischen den Felsen Herz-Seeigel, etliche Sipunkuliden und viele Tunikaten. Wir fanden eine außerordentlich große gelbe Schwammart (Cliona vermutlich), die eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Lissodendoryx noxiosa von Monterey aufweist, und eine weiße: Steletta mit tückischen Stacheln. Da waren orangen glänzende Nudibranchien, riesige Terebellid-Würmer, einige schalenlose Schnecken mit Lungenatmung (Pulmonaten), ein Bandstreifenwurm und eine Anzahl solitärer Korallen. Dies waren die «gewöhnlichen» Tiere; an ihnen sind wir am meisten interessiert. Obwohl wir bei unsern normalen Beobachtungen auch Raritäten mitnehmen, ist unser Hauptaugenmerk auf die großen Gruppen und ihre Assoziationen gerichtet, wobei das Wort «Assoziation» das biologische Beisammensein aller Tiere eines bestimmten Aufenthaltsortes bedeutet: eine Erweiterung des Begriffs der Kommensalität über das einfache Wirt-Gast-Verhältnis hinaus. Denn es gibt mehrere Gründe, aus denen sich verschiedene Tierarten häufig beisammenfinden, 1. Weil sie einander nicht fressen; 2. weil sie unter gleichen Gegebenheiten des Bodens und Klimas gedeihen; 3. weil sie entweder dieselbe Nahrung oder verschiedene Teile derselben Beute zu sich nehmen; 4. weil zuweilen die Panzerung 363
oder die Waffen der einen zugleich der andern zum Schutz dienen (wie zum Beispiel die scharfen Stacheln eines Seeigels manch räuberisches Niederwassertier von der EbbeLache verscheucht); 5. weil unter den Tierarten tatsächliche Arbeitsteilung bestehen kann. Die Assoziation kann also sehr locker und sehr eng sein. Sie umfaßt sowohl Kommensalität wie Thigmotropismus. Ja, wenn man so die Kleinwelt der Invertebraten beobachtet, verschwimmt einem die ganze Nomenklatur. Spezies, Phylum, Klasse, Gattung, Gruppe, Familie, Variante scheinen ineinander überzugehen; die alte Vorstellung festgefügter Systematik gerät ins Wanken, und an ihre Stelle tritt eine Art von Skalen der Tierwelt. Die gegenwärtige taxonomische Methode der Biologie ist plump und starr; ihre Benennungen sind durchsetzt von schnurrigen Einfällen und kleinen Eitelkeiten unsrer Naturforscher. O wie gern sieht so mancher eine Spezies nach sich benannt! Ursprünglich war die beschreibende Methode bei Namengebungen nicht schlecht. Jeder Forschungsbeflissene verstand Latein und Griechisch und konnte sich aus dem Namen ein ungefähres Bild machen. Heute sind diese Sprachkenntnisse seltener; sie werden nicht einmal mehr verlangt. Wieviel leichter wäre es, wenn man die Wirbellosen mit Nummern und Buchstaben bezeichnete, zu denen die Namen ergänzend hinzuträten. Wenn man z. B. weiß, daß das Phylum der Arthropoden die Ziffer römisch VI, die Klasse der Krustazeen ein großes B, die Ordnung eine arabische 13 trägt und Genus und Spezies durch Kombination kleiner Buchstaben bezeichnet werden, so wäre man bei einiger Übung rascher imstande, ein Tier zu identifi364
zieren, als auf Grund einer antiquierten Methode, die sich an ein zuerst wahrgenommenes Merkmal hält, das nicht immer, nicht durchgehends zutrifft. Je weiter wir im Golf nach Norden kamen, um so dünner besiedelt schienen die Ufer. Die kleinen Rancherias und die indianischen Fischerkanus wurden seltener. Nördlich Santa Rosalia zeigten sich auch kaum mehr Kähne fahrender Händler. Wir kamen uns vor wie abgeschnitten. Doch da und dort stößt man an einem Strand auf Spuren einstigen regen Lebens. Wir sahen eine erloschene Feuerstätte mit 15 bis 20 großen Seeschildkrötenschalen. Das Fleisch war wohl über dem Holzkohlenfeuer gekocht oder geräuchert worden. Eine Eisenharpune unweit davon war vermutlich ihrem Besitzer abhanden gekommen und war vielleicht sein wertvollster Besitz. Feuerwaffen haben die Indianer am Golf anscheinend keine; der Preis ist für sie unerschwinglich. Uralte Stücke aus längst vergangenen Zeiten hüten sie wie einen Schatz; Steinschloßgewehre und Hinterlader vererben sich von einer zur andern Generation. In einer Indianerhütte befindet sich sogar noch ein altspanischer Brustpanzer; wir haben ihn aber nicht selber gesehen. So eintönig das Leben dieser Menschen verläuft, so schwer ist es, sie in Erstaunen zu setzen. Ein Tank, ein voll ausgerüsteter Soldat würde sie kaum außer Fassung bringen. Die Ernährung macht ihnen Mühe genug. Der indianische Mensch lebt in sich und der Natur, ein Bruder der Sonne im Kampfe mit Stürmen und Krankheit. Unsere vielbewunderten mechanischen Spielereien, die uns und unsere Zeit in Anspruch nehmen, wären in seinen Augen 365
das, was sie sind: ausgeklügeltes Zeug ohne Beziehung zu den wirklichen Dingen. Man müßte nur einmal einem solchen Indianer von unsern hochfahrenden Projekten erzählen, von unsern hochfliegenden Planungen, der phantastischen Massenproduktion schwerverkäuflicher Güter, der Anhäufung überflüssiger Gebrauchsgegenstände, die ganze Bevölkerungsschichten in eine Art Schuldsklaverei versetzen; von den Unruhekeimen und Neurosen, die wir auf unsere Kinder im Mutterleibe und im Erziehungsstadium verpflanzen, bis sie erwachsen in dieser verworrenen Welt keine Heimstatt mehr finden; von unserer heutigen Landesverteidigung gegen eine besessene Nazi-on und der Notwendigkeit, von dieser Aufgabe selber besessen zu sein; von den Einbußen, den Opfern, den zahllosen Unglücks- und Todesfällen, die die Aufrechterhaltung unseres wahnsinnigen Standards erfordert; von der Wissenschaft, die sich um Kenntnisse abmüht und der den errungenen Kenntnissen stracks zuwiderlaufenden Behandlung von Menschen und Gütern! Wie könnte man unserm Indianer begreiflich machen, daß Medizin und Chemie sich damit abplagen, einen Kranken zu retten, damit er nach seiner Genesung von Bomben zerrissen wird; daß man Menschen auf alle mögliche Art gesünder macht, damit sie der Tod um so rühriger, heftiger antrift …?! Sehr möglich, daß all dies Tun unserm unwissenden Indianer nicht als Beweis hoher Zivilisation, sondern als unbegreiflicher Wahnsinn erscheint! Ich will damit nicht sagen, daß dieser indianische Fischer ein vollkommenes oder auch nur gutes Dasein führt. Ein hohler Zahn kann für ihn eine Lebensplage, eine Ma366
gengeschichte die Todesursache sein. Er muß oft hungern. Aber er bringt sich nicht um wegen Dingen, die ihn nicht unmittelbar angehen. Oft fragt man uns: Warum macht ihr das: Tierchen auflesen und einpökeln? – Unsern zivilisierten Brüdern brauchen wir daraufhin nur eine jener sanktionierten Bedeutungslosigkeiten zu versetzen, vor denen man bei uns solchen Respekt hat, und etwa zu antworten: «Wir füllen Lücken in der Kenntnis der Golf-Fauna auf.» Das genügt. Kenntnis ist bei uns geheiligt. Da fragt einer nicht weiter und nimmt unsere Motive nicht unter die Lupe. Die Rothaut aber könnte weiter fragen: «Wozu diese Kenntnis? Da du ihr Diener bist, was hat sie für Absichten?» Stellte ein Weißer eine ähnliche Gegenfrage, so könnten wir ihn mit dem Hinweis auf den Fortschritt der Wissenschaften befriedigen. Der Indianer würde jedoch fragen: «Wohin schreitet sie fort? In Verwicklungen, die immer größer werden? Ihr rettet das Leben von Kindern für eine Welt, die sie nicht liebt. Wir bauen zuerst die Hütte; dann erst ziehen wir ein.» Was wir von unsern Zielen und Pflichten zusammenfaseln, all die hohlen, hochtrabenden Redensarten von Wissenschaft und Ethos sind Mauern, die vor einem ratlosen kleinen «Warum?» in sich zusammenfallen. Aber Ed und ich und Tiny und Sparky und Tex sind dahintergekommen, warum wir die Ufer absuchen: – Die Tiere sind gar so schön! Das Leben hier schenkt uns Lebensfülle und Überschwang. Mit andern Worten: Wir tun es, weil es uns Freude macht. Wir behaupten auch nicht, der gedachte Indianer sei der edle Wilde, der ein logisches Leben führt. Seine Zau367
bereien, Gebräuche und Teleologien sind genau so voll Unsinn wie die unsern. Aber wenn zwei Personen aus entgegengesetzten sozialen, geographischen und intellektuellen Bezirken einander begegnen und miteinander in Verkehr treten wollen, brauchen sie dazu eine logische Grundlage. Clavigero S. J. erzählt von einer für unsereins ganz ekelhaften Gepflogenheit einiger Indianerstämme Niederkaliforniens. Wenn diese armen Hungerleider Fleisch erwischten, was selten der Fall war, schnitten sie es in lange dünne Streifen; jeder aß einen, zog ihn dann wieder herauf, aß ihn wieder und wieder, und öfters geschah es, daß er ihn zu gleichem Zweck weiterreichte. Pater Clavigero hat sich darüber entsetzt. Man denkt dabei an den alten Chinesen, den man verspottete, weil er zwanzigjährige Eier verzehrte. Seine Entgegnung war: «Euer Käse ist verfaulte Milch. Ihr liebt verfaulte Milch, wir lieben verfaulte Eier. Wir sind beide blöd.» Mit unserer Kostümierung waren wir auf der Western Flyer total heruntergekommen. Die breiten Strohhüte waren natürlich unentbehrlich, aber Hemden? So etwas kannten wir gar nicht mehr, höchstens halblange Hosen, in denen man jederzeit vom Heck per Kopfsprung ins Wasser konnte, sich zu erquicken. Infolgedessen wurde unser bißchen Bekleidung nie trocken; das Salz drang in die Fasern und machte sie hydroskop. Das Geschirr wuschen wir im heißen Meerwasser. Infolgedessen setzten sich Salzkristalle daran fest, auch am Kaffeetopf, was unserm Mokka einen besonders feinen Geschmack verlieh. Es 368
gab fast jeden Tag Fisch: Goldmakrelen, Sierra mexicana, rote Schnapper. Wir backten Unmengen fetter Biskuits, aßen sie heiß, was uns nicht bekam. Wöchentlich zweimal bereitete Sparky herrliche Spaghetti. Kaffee wurde in unglaublichen Quantitäten vertilgt. Einer von uns – vermutlich ich – schuf eine Zitronenpastete, die so hervorragend gelang, daß sich alle darum rissen, ja, alle Hinterlist, die in den Herzen der Besten schlummert, wurde durch sie erweckt: Günstlingswirtschaft, wenigstens der Verdacht einer solchen, Schelmenstreiche, Mundraub – wir waren über uns selber entsetzt, und als einer von uns, der Gelehrteste, Weiseste, von dem man ein gewisses Maß Selbstbeherrschung hätte erwarten können – ich sage nicht, wer –, eine Pastetentranche in seinem Bett versteckte und nachts, als die Lichter erloschen waren, heimlich in sich hineinfraß, wurde einstimmig beschlossen, es dürfte nie wieder Zitronenpastete geben. Kultur und Charakter bröckelten ab. Die Krallen der Spezies Homo kamen zum Vorschein. Doch auch die Furcht vor der Welt, vor dem Krieg, das ansteckende Gefühl ökonomischer Unsicherheit ist verflogen. Dinge von großer Wichtigkeit, die wir daheim ließen, haben nicht das geringste Gewicht mehr. Die Krankheitserreger, die ihnen anhaften, sind vom Gegenmittel der Ruhe verschlungen. Langsam rinnt unser Blut. Die hunderttausend Bagatellen, die sonst unsern Tag durchzukken, sind bis auf ein paar zerronnen. Ein Waldgebirge, blaß und welk, gleitet an uns vorüber; wir sitzen an Deck, stundenlang … Eines übermütigen Schwertfisches Sprünge beanspruchen unsere ganze Aufmerksamkeit. Ein Fischschwarm zieht vorbei, von möwenartigen Seevögeln ge369
folgt. Nun ist das Wasser voll Federn und öligem Auswurf. Für die Vögel waren die Fische zu groß, um sie zu töten und aufzufuttern, aber ein Fischschwarm ist mehr als der Fisch. Da ist ein ständiges Speien; da sind die Verwundeten, Schwachen und Alten und werden ausgemerzt; da sind kleinere Fische, die angebissen sich losreißen und sterben. Eine Wanderschar Fische ist wie ein Heerlager beim Vormarsch oder Rückzug und hinterläßt wie dieses allerhand Überbleibsel, von denen sich Seevögel ernähren. Die abgebalgten Häute ölen die Oberfläche des Meeres. Um sechs Uhr nachmittags ankern wir im Westen der Bahia San Francisquito. Sie ist an unserm Ankerplatz 4 Faden tief, etwa eine Seemeile breit, ihr Ausgang im Norden. Im Süden ragen zwei Felszacken. Sie flankieren die Einfahrt einer kleineren Bucht, die ein weißer sandiger Strand umgibt. An seinem Rande eine Indianerhütte, davor ein blaues Kanu. Niemand kommt aus der armseligen Hütte. Vielleicht sind ihre Bewohner krank oder tot. Wir rudern nicht näher heran. Uns ist, als wären wir Eindringlinge, und dies Gefühl war so eindeutig, daß wir darauf verzichteten, in der kleinen, inneren Bucht zu sammeln. Die Gegend ist steinig und kahl, Buschwerk dürr, spärlich und dünn. Wir rudern zum Westufer der Bahia, pflanzen unsere Gezeitenstange auf, an deren Spitze ein Bandanna flattert, so daß wir sie auch vom Schiff aus sehen können. Wind weht. Das Wasser ist empfindlich kalt und steht 60 cm unter der höchsten Bernikellinie. Drei Typen Krebse sind hier verbreitet: Pachygrapsus crassipes, Geograpsus lividus und unter den Steinen der 370
Petrolisthes nigrunguiculatus, ein Porzellankrebs. Viele Bernikel, große Napfschnecken und zwei Spezies Schnekken: Tegula und eine kleine Purpura. Auch viele große braune Chitonen und einige Borsten-Chitonen. Weiter abwärts unter den Felsen anastomose Massen Salmacina, eines Röhrenwurms mit rostroten Kiemen; einige Tunikaten, Astrometis und die üblichen Holothurien. Tiny fand die schöne große Schalengewandung eines Hummers, offenbar des nördlichen Panulirus interruptus. Sie war von Isopoden frisch sauber geputzt. Darin erweisen sich die Millionen Iso- und Amphipoden sehr nützlich. Wenn man zu Studienzwecken ein sauberes Skelett braucht, gibt man das tote Tier in ein Sammelglas, bohrt in den Deckel Löcher, just groß genug, um den Gleichfüßlern den Eingang zu ermöglichen, versenkt es in einem Ebbetümpel, und in Kürze ist das Gerippe vom kleinsten Fleischpartikel befreit und dabei unversehrt. Unter kräftigem Wind war das Wasser so wellig und kalt, daß wir uns bald wieder an Bord begaben. Dort ließen wir wie gewöhnlich mit Lockspeise versehene Netze hinunter, um zu sehen, was am Boden herumkroch. Beim Heraufziehen war eines derselben sehr schwer. Ein großer Hornhai, der Heterodontide Gyropleurodus, hatte es von außen gepackt, hielt mit seinen Bulldoggenzähnen den Köder fest und wollte nicht loslassen. Ohne Gegenwehr ließ er sich so aus dem Wasser aufs Deck ziehen, und auch dort gab er seine Beute nicht preis. Es war acht Uhr abends. Da wir ihn konservieren wollten, schlugen wir ihn nicht tot. Wir nahmen an, er werde auf dem Trocknen schnell sterben. Seine Augen waren gestreift und erinner371
ten an Ziegenaugen. Er sträubte sich nicht, sondern lag ruhig auf den Planken. Aus dem Blick, mit dem er uns ansah, sprachen Elend und Haß. Das Horn an der Rückenflosse war rein und weiß. In langen Intervallen öffneten und schlossen sich die Kiemenschlitze. Sonst keine Bewegung. Am folgenden Morgen lag er immer noch lebend da, doch war jetzt der ganze Leib mit Blutmalen bedeckt. Sparky und Tiny standen entsetzt. Außerhalb seines Elements hat ein Fisch zu sterben. Er aber starb nicht. Seine Augen standen weit offen; sie waren seltsamerweise nicht ausgetrocknet und betrachteten uns feindselig. Die Kiemenschlitze öffneten und schlossen sich in gleichen Zeitabständen. Des Raubfischs träge Zähigkeit wirkte beklemmend. Ein unheimlicher Gast! Die Blutflecken leuchteten. Um Mittag versenkten wir ihn in den FormaldehydTank. Erst dann wand er sich einen Moment, ehe er starb. Fast siebzehn Stunden hatte er außer Wasser verbracht, ohne Kampf, ohne um sich zu schlagen. Hurtige, zarte Fische wie Tunas und Makrelen vergeuden ihre Lebenskraft in jähem, aufgeregtem Gezappel und sterben schnell. Diesem Hornhai eignete eine unbeugsame Ausdauer. Er war zu uns an Bord gekommen, weil er in verbissenem Grimm den Köder nicht lassen, und lebte hier, weil er das Leben nicht lassen wollte. Vor Zeiten wäre daraus eine jener grausigen Mythen entstanden, an denen die mündlich überlieferte Literatur der Meere so reich ist. Dies Tier war eine ausgesprochene und furchtbare Persönlichkeit, die uns alle aufwühlte. Wie am 16. März, als die Seeschildkröte nicht sterben wollte, wurde es Tiny übel. Die Heterodontiden, zu denen der Hornhai gehört, leben meist in 372
warmen, seichten Lagunen. Ich kann den Gedanken nicht von der Hand weisen, daß diese Familie oft bei zurückweichender Flut gestrandet auf dem Trocknen blieb und sich dadurch bei ihr die Fähigkeit entwickelte, so lange zu leben, bis das Hochwasser zurückkehrt. Die auffallende Reglosigkeit diente in diesem Fall einer Erhaltung der Lebenskraft. Die schöne, empfindliche Tuna unternimmt einen ungestümen Fluchtversuch, behält aber keine Kraftreserven und stirbt sogleich. Zwischen diesen beiden konträren Reaktionen bestehen bei der Spezies Homo zahlreiche Abstufungen. Der eine Mensch schlägt in wütendem Ansturm sein Leben in die Schanze; der andre wartet auf eine Flut, die ihn emporhebt und weiterträgt. Die gleiche Variation beobachtet man bei den höheren Wirbeltieren, besonders den Haustieren. Es wäre sonderbar, wenn sich die nämlichen Züge nicht auch bei niederen Wirbeltieren, speziell den individualistischen, feststellen ließen. Ein Fisch wie Thunfisch oder Sardine lebt kollektiv in Scharen, in Schwärmen, in «Schulen», wie man es gerne und zutreffend nennt. Sie dürften schwerlich so von der Norm abweichen wie unser gehörnter Hai. Denn die «Schule» erzwingt Disziplin, Uniformität, gleiches Tempo. Das Einzeltier, das den Anforderungen der Schule nicht entspricht, wird getötet oder dem Untergang preisgegeben. Der Überschnelle wird von der Schule ebenso und so lange eliminiert wie der allzu Langsame, bis zwischen schnell und langsam ein Durchschnitt erreicht ist. Es ist kein Witz, daß sich bei unsern Schulen und Hochschulen eine gleiche Tendenz feststellen läßt. Ein Harvard-Mann, ein Yale-Mann, ein Stanford-Mann (in idealer Ausprägung) 373
ist ebenso leicht zu erkennen wie eine Tuna und hat wie diese alle Prüfungen überstanden, bei welchen sowohl die Idioten wie die Genies ausschieden. Sogar in physikalischer Hinsicht hat sich da ein Standard herausgebildet, so daß es unmöglich ist, nach Sprache, Kleidung, Haarschnitt, Haltung und Geisteszustand die Angehörigen der einzelnen Schuleinheiten von einander zu unterscheiden. Es wäre in dieser Verbindung von Interesse zu wissen, ob eine vollständige Kollektivisierung der gesamten menschlichen Gesellschaft dieselben Folgen zeitigen würde. Massenfabrikation zum Beispiel verlangt, daß sich jeder Einzelne dem Tempo des Ganzen anpaßt. Der Langsame wird beschleunigt oder eliminiert, der Rasche verlangsamt. Bei einem restlos vereinheitlichten Zustand kann die Durchschnittstüchtigkeit recht hoch sein, doch nur durch restlose Ausscheidung des Schnellen, des Beweglichen, des Höchstintelligenten ebenso wie des Untüchtigen. Der radikale Kollektivmensch muß de facto auf Vielseitigkeit verzichten. In der Fisch-Schule gibt es keine andere Defensivtechnik als Flucht, und die Spezies verdankt ihren Fortbestand hauptsächlich ungeheurer Vermehrung. Die enorme Einbuße an Eiern und Jungen gewährleistet die Sicherheit der «Schule», deren Existenz auf dem Wahrscheinlichkeitsgesetz beruht, wonach aus einer großen Menge entstehender Dinge Einige fertig werden. NB! In einem auf Gleichschaltung und Uniformität bedachten Reich der Spezies Mensch schreien Führer zuerst nach Geburtenvermehrung, denn an einer schlotternden mittelmäßigen Maschine müssen immerzu Einzelteile ersetzt werden. Unser Augenmerk ist, wie gesagt, nicht auf Raritäten, 374
sondern auf die verbreiteten Tiere und ihre Assoziationen gerichtet. Trotzdem haben wir bis jetzt schon etwa 50 Spezies gefunden, die bisher nicht beschrieben worden sind. Sie werden später von Spezialisten untersucht, klassifiziert, beschrieben und benannt werden. Aber das kann noch Jahre dauern. Denn zu den Nebenprodukten des Krieges gehört auch die Tatsache, daß die Männer der Wissenschaft von einander geschieden sind. Eine dänische Kapazität auf biologischem Gebiet kann sich mit seinem Kollegen in Kalifornien zur Zeit nicht in Verbindung setzen. Dr. Rolph Bolin, Ichthyologe an der Hopkins Marine Station, stieß in unserer nach Monterey verbrachten Kollektion auf jenen kleinen Kommensalfisch, der im After einer Holothuria, einer Seegurke, lebte, heraus- und hineinschlüpfte, sich vielleicht von den dort vorhandenen Fäkalien ernährte oder, was wahrscheinlicher ist, Schutz vor etwaigen Feinden suchte. Wir hatten gedacht, es handele sich um eine neue Spezies, doch stellte sich heraus, daß unser Kriecher bereits einen Namen besaß. Wir hatten gehofft, ihm nach alter verrufener Biologen Weise den Namen Philorectalis popularis Winchell geben zu können. Es gibt Meer-Biologen, deren Hauptinteresse auf Rarität, auf selten gesehene, unbenannte Tiere gerichtet ist. Meist sind es reiche Amateure; einige von ihnen treibt wohl das Verlangen, ihren Namen einem wehr- und harmlosen Weichtier anzuhängen. Die Sucht nach Unsterblichkeit auf Kosten Wirbelloser ist offenbar groß. Solche Sammler gehören in die gleiche Kategorie mit jenen Briefmarkensammlern, die sich mittels möglichst viel 375
Fehldrucken und Perforationen seelischen Aufschwung verschaffen. Das rare Tier kann individuell von Interesse sein; im ökologischen Bild ist es kaum von Belang. Die allgemeinen, bekannten, massenhaft vorhandenen Tiere, der rote pelagische Hummer, der in Milliarden vorhandene Einsiedlerkrebs, alle die Gassenkehrer der Ebbezone, würden durch ihr Verschwinden die ganze Region beeinflussen; es würde immer weitere Kreise ziehen. Das Verschwinden des Planktons, trotz der mikroskopischen Kleinheit seiner Komponenten, würde aller Wahrscheinlichkeit nach alles Leben im Meere ausmerzen und das gesamte Sein der Spezies Mensch verändern – wenn nicht gar durch eine erdbebenhafte Erschütterung des Gleichgewichts alles Leben auf unserm Globus auslöschen. Denn diese winzigen Wesen bilden in ihrer unvorstellbaren Anzahl vermutlich die Basis der Welternährung. Die Vernichtung einer der raren, gesuchtesten, mit Inbrunst gefangenen und benamsten Arten würde hingegen am Zellengewebe der Welt wahrscheinlich spurlos vorübergehen. Was uns beschäftigt, ist die Beziehung von Tier zu Tier. Wenn man sie verfolgt, wird einem deutlich, daß die Spezies nur ein Komma in einem Satzgefüge bildet; daß jede Art zugleich Spitze und Basis einer Pyramide darstellt; daß alles Leben bis zu dem Punkt relativ ist, an dem eine Einsteinsche Relativität in Erscheinung tritt. Und dann wird die Bedeutung wie das Gefühl hinsichtlich der Spezies nebelhaft. Eine verschmilzt mit der andern, Gruppen gehen unmerklich in ökologische Gruppen über, bis das, was wir als Leben erkennen, sich mit dem berührt, was wir für Nicht-Leben halten und in es eingeht: Bernikel und Stein, 376
Stein und Erde, Erde und Baum, Baum und Regen und Luft. Einheiten schmiegen sich in die Ganzheit und sind von ihr nicht zu trennen. Dann kann man zum Mikroskop, Ebbepfuhl und Aquarium zurückkehren. Aber das kleine Getier ist als verwandelt befunden, nicht länger getrennt und allein. Und es ist ein seltsam Ding, daß der Großteil des Gefühls, das wir das religiöse nennen; daß ein Hauptteil jenes mystischen Aufschreies, der eine der gepriesensten, ersehntesten und am meisten benutzten Reaktionen unserer Spezies darstellt, wahrhaftig das Verstehen und der Versuch ist auszusagen: der Mensch ist der Ganzheit verbunden, ist mit allem Seienden unlösbar verknüpft und verwandt. Das ist leicht gesagt, aber das tiefe Gefühl davon rief einen Jesus, einen Augustinus, einen Franziskus, einen Roger Bacon, einen Charles Darwin und einen Einstein hervor. Jeder von ihnen hat auf seine eigene Weise entdeckt und in der ihm eigenen Sprache staunend bestätigt: alle Dinge sind Ein Ding, und EINES ist Alles, ist Plankton, die schimmernde Phosphoreszenz auf dem Meere, die kreisenden Planeten und ein sich weitendes Weltenall und alle verbunden durch das elastische Band der Zeit. Es empfiehlt sich, von den Lachen der Ebbezone zu den Sternen emporzublicken und dann wieder zurück zum Ebbetümpel.
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22 MONTAG, 1. APRIL
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ir wüßten überhaupt nicht mehr, welcher Wochentag ist, wenn wir nicht unser Logbuch hätten und es nicht jeden Donnerstag und Sonntag Sparky-Spaghetti gäbe. Enea tut das aus purem Instinkt. Er lauscht in die Tiefen seines Innern, und wenn dieses ihm sagt, «heut mußt du Spaghetti kochen», dann ist entweder Donnerstag oder Sonntag. Heut fuhren wir zur Bahia Angeles, unserer letzten Station auf der großen Halbinsel Niederkalifornien. Die Gezeiten wurden gewaltig, und obwohl wir von den gefahrdrohenden Einwirkungen der Colorado-Mündung noch weit entfernt waren, fühlte sich unser Kapitän beunruhigt. Die Andern bekümmerte es mehr, daß wir keine Aufnahmen machten. Wie gesagt nahm sich niemand die Zeit und die Mühe, die Hände richtig abzutrocknen, ehe er die Kamera anfaßte, ganz zu schweigen davon, daß keiner verstand, mit ihr umzugehen. Aber wir hatten deswegen alle ein schlechtes Gewissen, und heute setzte es uns derart zu, daß wir die Filmapparatur wieder einmal hervorholten und zu operieren begannen. Es fiel uns auch weiter nicht schwer, nur über eines waren wir uns nicht einig: wie bringen wir den Film in die Kamera, ohne daß er dabei belichtet wird. Der eine riet dies, der andere das, und wie meistens, wenn mehrere Methoden angängig waren, ent378
stand eine ebenso lebhafte wie tiefgründige Debatte, die sich bald von Blende und Apparatur weit entfernte. Wir standen gerade auf dem Lukendeckel des Fischbassins; nur Sparky und Tiny oben am Steuerrad. Daß sie bei der Filmerei und dem aufregenden Disput nicht dabei sein konnten, schien ihnen undenkbar, und daher riefen sie mit aller schuldigen Hochachtung zu uns herunter: «Entweder kommt ihr mit der Kamera herauf, damit wir mitreden können, oder wir lassen das Steuerrad schießen und kommen zu euch.» Als ich mir daraufhin die Bemerkung erlaubte, dies grenze an Meuterei, setzte uns Sparky vom Steuer her laut auseinander, auf einem italienischen Boot der Fischerflotte von Monterey sei Meuterei nicht nur nichts außergewöhnliches, sondern geradezu der Normalzustand. Ihm und Tiny sei eine kleine Meuterei lieber als vieles andere. – Da schafften wir denn die Apparatur aufs Deckhausdach und vergaßen sie, da ein anderes Thema auftauchte, das uns mehr fesselte. Doch getrost! Wir werden auch noch einen Film zustande bringen. «Die Angeles-Bucht ist 25 Quadratmeilen breit», sagt der Küstenpilot: «also sehr groß. Etwa fünfzehn Inselchen sind ihr vorgelagert, und zwischen einigen hat man eine gute, tiefe Einfahrt.» So ziemlich der einzige Hafen im ganzen Cortez-Meer, dem der Küstenpilot gnädig gesinnt ist, liegt hier im Westen der Bucht. «Es ist vor allen Winden geschützt», sagt der Küstenpilot. Wir fuhren zwischen der Roten Punta und zwei Inselchen ein und ankerten nahe dem Ufer bei 8 Faden Tiefe. Von einer Siedlung erwähnt der Küstenpilot nichts. Trotzdem standen da Häu379
ser, neuzeitliche Gebäude mit Fliegerschutz, und auf einem kleinen Flugplatz hockte ein Flugzeug. Wir hatten ein unangenehmes Gefühl. Nachmittags gegen halb vier gingen wir an Land, wo wir auf der Stelle von Mexikanern umringt wurden, die sich neugierig aufgeregt nach dem Grund unseres Hierseins erkundigten. Auch drei Amerikaner traten heran, erzählten, sie seien zum Fischen hergeflogen, und interessierten sich lebhaft für unsere Absichten. Nachdem wir sie davon überzeugt hatten, daß diese allein auf Seegetier gerichtet sind, ließ man uns stehen, ohne ein Wort zu verlieren. Vielleicht hatten wir zu viel Gerüchte gehört. Schon in Monterey hatte man uns erzählt, es würden Waffen über die Grenze geschmuggelt; man brauche sie für die bevorstehen den Wahlen und Unruhen. Die amerikanischen Fischer sahen so gar nicht wie Fischer aus, und auch die Mexikaner waren viel zu interessiert, bis sie erfahren hatten, was mit uns sei, und viel zu gleichgültig, sobald sie es wußten. Kann sein, daß wir es uns nur einbildeten, aber irgend etwas schien hier nicht zu stimmen. Vielleicht hat man Goldfelder entdeckt und in Erwartung kommender Ereignisse die neuen Häuser gebaut … Ein Weg führt nach Norden zur Bucht San Felice. Das Land ist öde und dürr. Nur weiter oben am Berghang, wo eine Quelle entspringt, sahen wir Grünes. Mehr braucht es in Niederkalifornien eigentlich nicht, um eine Siedlung ins Leben zu rufen. Am steinigen Strand bei unserm Ankerplatz machten wir uns ans Sammeln und fanden ihn recht ergiebig. Die 380
höchsten Felsen waren von Aktinien, Holothurien, Seeschaben und verschiedenartigen Porzellankrebsen bevölkert. Sally Lightfoot zeigte sich nicht, auch kein Großkrebs und nur wenige kleine Heliasterformen. Vorherrschend ist eine weiche Lungenschnecke, die hier zu Millionen unter den Felsblöcken lebt. Wir holten uns einige Hundert. Dann ein paar Chitonen, sowohl den glatten braunen Chiton virgulatus wie den flaumigen Acanthochitona exquisitus. Wir gewahrten schöne große Bündel des kleinen Röhrenwurms Salmacina, viele Flachwürmer, die wie braune Siruptropfen längs der Unterseite von Felsen herunterquollen, und unter ihnen zwei Exemplare des Octopus bimaculatus. Sie entwischen äußerst geschickt und hurtig, und wenn man sie endlich packt, säugen sie sich einem an Arm und Hand fest. Entfernt man sie nicht auf der Stelle, so entstehen Blutbläschen und sogenannte «Affenbisse». Unter Wasser und offenbar unter der gewöhnlichen Ebbelinie leben die glänzend gelben Geodia und zahlreiche Exemplare eines andern großen Schwamms von prächtiger Farbe und Form. Es sind dies Kolonien der Kosmopolitin Cliona (celata bei uns bekannter als «boring sponge», bohrender Schwamm) und stehen in rosa leuchtender Pracht gleich Vasen, mehrere Fuß im Durchmesser und zum Teil vollendet regelmäßig geformt. Wir nahmen uns etliche, die wir teils mit Formaldehyd trockneten, teils präparierten. Der Algengürtel dieses Küstenstrichs ist deutlich abgegrenzt und scharf abgeteilt. Ein Sargassum johnstonii fanden wir zwei bis drei Fuß unter der Ebbelinie im Wasser. Das Gestein in der Ebbezone ist völlig glatt. Unterhalb jenes 381
Sargassum existiert eine weite Zone der flachen farnartigen Alge Padina durvillaei *. Der Wind kräuselte leider die Oberfläche, so daß wir hier nur bei vorübergehender Windstille tiefer zu blicken vermochten. Von Algen abgesehen schien der Grund nicht sehr belebt. Weiter Steine zu wenden, war zwecklos. Während wir sammelten, ruderten die amerikanischen Fischer ziellos herum. Argwöhnisch, wie wir nun waren, hatten wir den Eindruck, als fischten sie nicht, sondern spielten nur die Rolle von Fischern, und zwar sehr schlecht. Möglich, daß wir uns irrten, aber die ganze Gegend flößte Verdacht ein, und das war uns sonst nirgends passiert. Wir begaben uns an Bord, legten unsern Fang ab und fuhren mit dem Beiboot zu den Sandflächen im Norden der Bucht. Sie bestehen aus festem Lehm. Hier zu graben ist recht beschwerlich, das Ufer flach, seicht und langgestreckt. Wir fanden Chione- und Tivela-Muscheln und einen armen halbtoten Amphioxus. Die Ebbe war wieder nicht niedrig genug, um an seine eigentlichen Aufenthalte heranzukommen. Es gibt da einen Strich, an dem sich bei extrem niederem Wasserstand gewiß viele dieser Lanzettfischchen fangen lassen. Lange turmartige Schnecken trugen kommensale Anemonen auf ihrem Gehäuse. Die im Flachen eingebetteten Felsen waren reich an animalischem Leben: Steinaustern, großen hochornamentierten Napfschnecken, Schneck* Bestimmung erfolgte durch Dr. E. Yale Dawson von der botanischen Abteilung der Universität von California.
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chen, Büscheln von Röhrenwürmern mit kommensalen Erbsenkrebslein in den Röhren. Unter einem der Blöcke wohnte ein mittelgroßer Octopus (nicht: bimaculatus). Die kleinen Blöcke und Steine im treibenden und im lehmigen Sand dürften vielen Tieren als Hafen dienen. Die Fortbewegung in und auf diesem unsicheren, glatten Grund ist für Tiere, die nicht speziell dazu ausgerüstet sind, schwierig. Darum drängen sie sich an die Felsen, wo sie festen Fuß fassen können und in Sicherheit sind. Die Flut hatte es eilig. Der Wind wehte stärker. Wieder auf der Western Flyer, sahen wir einen großen schmutziggrünen Schoner mit vollen, geblähten Segeln mit Wucht in die Bucht fahren. Er kam aber nicht auf uns zu, sondern ankerte möglichst weit abseits. Es war eins jener unwahrscheinlichen Golf-Fahrzeuge, bei denen man nicht versteht, wieso sie noch schwimmen, und wenn, wie sie navigieren. Die Fugen sind gesprungen, die Bemalung zieht Blasen, das Verdeck sackt ein, die Eisenteile sind verrostet, die reinsten Klöppelspitzen, und innen ist alles so dreckig, verwanzt und verlaust, daß anständige Seeleute treffend bemerken: «Wenn die Kakerlaken und Schaben nicht gefüttert würden oder man ihnen auf irgendeine Weise zu nahe träte, sie würden meutern und sich des Schiffes bemächtigen.» Ein mexikanischer Matrose setzte sogar hinzu: «Sie würden wahrscheinlich besser segeln als dieser Kapitän.» Sobald der Schoner Anker geworfen hatte, gab er kein Lebenszeichen mehr von sich. Das Ufer mit seinen neuen Baulichkeiten auch nicht. Uns hatte man bei der Ankunft gefragt, wie lange wir blieben. «Bis morgen», war unsre 383
Antwort gewesen, und nun hatten wir das kuriose Gefühl, wir seien Störenfriede; sobald wir weg wären, passiere hier irgendetwas. Möglich, daß wir uns irrten. Jedenfalls war die Sache keinem von uns geheuer. Sonst hielten wir nie in einem geschützten Hafen Ankerwache, aber in dieser Nacht stand immerzu einer auf und hielt Umschau. Wie beim Werwolf hat uns wahrscheinlich unsere rege Einbildungskraft einen Streich gespielt. Am Abend sah man am Strand ein paar Lichter, die rasch wieder verschwanden. Der Schoner zeigte kein einziges Bordlicht.
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23 DIENSTAG, 2. APRIL
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rüh brachen wir auf, fuhren durch den Canal Balenas, hatten Isla Angel de la Guarda zur Rechten und vor uns den sogenannten Segelfels, der aus der Ferne einem Marconisegel zum Verwechseln ähnlich sieht. Er hat die Form einer schlanken, etwa 50 m hohen Pyramide und ist von Guano so weiß, daß er das Licht reflektiert. Man sieht ihn schon von weither, so daß er den Schiffern als bester Richtpunkt dient. In seiner Nähe ist das Wasser sehr tief. Wäre genügend Zeit gewesen, wir hätten an seinem Fuße gesammelt, aber wir strebten nach Puerto Refugio an der Nordspitze von Angel de la Guarda. Doch machten wir wenigstens im Vorbeifahren einige Filmaufnahmen vom Segelfels. Sie waren sogar noch schlechter als unsere bisherigen. Es hing nämlich zufällig Wäsche an der Leine, und die Kamera stand gerade dahinter. Als der Filmstreifen entwickelt war, zeigte er nur hie und da ein Stück Aussicht auf den Segelfels, dafür aber die herrlichsten Szenenbilder von Tinys blauweiß gestreiften Hosen, wie sie im Winde wehten. Ich gebe zu, unsere Aufnahmen waren alles in allem hundsmiserabel. Dennoch bemühte sich nach unserer Rückkehr eine namhafte Filmanstalt sehr um eine Kopie. Die Herren sagten: so etwas habe man bisher noch nie gesehen: auf insgesamt 1000 m Streifen alles vereinigt, was man mit einer Kamera 385
falschmachen kann! Als Unterrichtsmittel für Anfänger hielten sie unser Werk für unschätzbar. Bei Großaufnahmen von Tieren hatte stets jemand im Licht gestanden. Die Belichtungszeit war immer zu kurz oder zu lang, nie richtig. Wir bekamen Wolkenstimmungen aufs Bild, um die uns jeder Kameramann beneidet hätte, aber was wir eigentlich haben wollten, war nie drauf. Doch dürfen wir uns ohne Anmaßung rühmen, daß es in der Weltgeschichte des Films niemals eine gelungenere, lebensvollere Aufnahme blauweiß gestreifter Hosen gegeben hat als unsre beim Segelfels. Die schlangenartig lange Küste von Angel de la Guarda liegt öde, menschenleer, östlich von uns. Die Insel ist 42 Meilen lang und an einigen Stellen bis 10 Meilen breit. Es heißt, sie sei von Iguanen und Klapperschlangen bewohnt; man munkelt sogar, dort fände sich Gold. Doch nur wenige Menschen gelangen weiter als ein paar Schritte vom Ufer ins Innre. Allein der Hafen ist gut. Schon sein Name «Puerto Refugio» sagt, daß viele Schiffe in Sturmesnot hier sichere Zuflucht gefunden haben. Pater Clavigero nennt ihn auch «Angel Custodio». Wie alle verrufenen Orte übt Angel de la Guarda eine besondere Anziehung aus. Es lockt das Goldene Vlies. Es schreckt der Drache, der es bewacht, hier also die Klapperschlange. Die Berge, die das Rückgrat der Insel bilden, erheben sich bis zur Höhe von 1000 bis 1300 m. Ihre Gipfel sind kahl, die Hänge ein Dickicht. Unweit der Nordspitze gerieten wir in starke Dünung. Die Wind blies kräftig. Der Gezeitenhub ist hier sehr groß. Während unseres Aufenthalts stellten wir einen Flutwechsel von 4,7 m fest, was aber nicht das 386
Maximum darstellt. Selbst 8 m Gezeitenhub ist hier nichts ungewöhnliches. Puerto Refugio besteht aus zwei Hafenbecken, die ein schmaler Kanal verbindet. Beide bieten tiefen, sicheren Ankergrund. Die einzige Gefahr liegt in der Raschheit der Gezeiten und im Druck, den sie auf die Ankertalje ausüben. Ihre Wucht machte es uns unmöglich, beschwerte Netze bis auf den Boden zu bringen. Sie wurden zur Seite getrieben, siebten auf diese Weise die Strömung und brachten uns dadurch so viel an Kleingetier, Algen und Tang, daß sich der Fang immerhin lohnte. Eilig und rechtzeitig warfen wir Anker und ruderten gegen 5 Uhr 30 nachmittag zum südöstlichen Teil der Bucht. Hier zwischen Sand und Geröll türmten sich Fisch- und Vogelskelette und Walfischgerippe. In den Wipfeln niederer Büsche am Uferrand befanden sich Vogelnester von 0,90 bis 1,20 m im Durchmesser. Da Gräten drin lagen, dürften es Pelikannester gewesen sein. Aber sie waren leer: ob sie ausgestorben, oder ob nicht die rechte Jahreszeit war, wissen wir nicht. Man ist so gewohnt, am Strande auf Spuren von Menschen zu stoßen, daß es seltsam berührt und man erschrocken, vereinsamt ist, wenn das Auge nichts sieht, was unsre Spezies berührt oder gebraucht hat. Tiny und Sparky unternahmen einen kleinen Abstecher ins Innre der Insel, kehrten aber nach einigen hundert Schritten still und verstimmt zurück. Was sie an Land zu suchen gewohnt waren, hatten sie nicht gefunden, kein weibliches Wesen, nicht einmal eine Klapperschlange. Es wimmelt von Strandhüpfern, die sich vom Abfall 387
nähren. Sonstigem Leben scheint der rauhe Sand nicht günstig. Als die Flut sich zurückzog, umwanderten wir einen Felszacken und kamen zu einer Geröllebene. Hier gibt es viel zu sammeln. Das weichende Wasser hinterließ viele kleine Ebbeteiche. Die Glätte der Steine deutet auf heftige Brandungen. Auf dem gefährlich schlüpfrigen Grund tummelt sich Sally Lightfoot und Pachygrapsus. Wir nähern uns dem Hafeneingang. Die Felsblöcke werden größer und immer glatter. Wir wandern weiter. Das Bild wechselt plötzlich. Ein massiges Riff taucht auf. Statt der kahlen Blöcke – von Bernikel und Algen bedeckte Steine. Der Wasserspiegel, um 1,10 m gefallen, hat die unteren Ebbeteiche enthüllt. Sie sind wundervoll reich an Schwämmen, Korallen und netten kleinen Algen. Wir wollen weiter, um ein möglichst großes Terrain zu besichtigen, doch immer wieder bleiben wir stehen. Immer wieder fesselt uns ein kleiner erstaunlicher Tümpel und bietet uns ein vollkommenes Theater mit maskierten Krebslein und vielen gekrümmten Shrimps. Das Riff ist ein gezackter vulkanischer Fels. In ihm befinden sich mysteriöse Höhlungen. Wir treten in eine ein. Ein irgendwie vertrauter Geruch schlägt uns entgegen. Gleich darauf wissen wir, was es ist. Der Ton unserer Stimmen hat unzählige Fledermäuse aufgestört. Ihr millionenfaches Gequiek klingt wie Wasserrauschen. Durch Steinwürfe suchen wir einige dieser Nachttiere herauszuscheuchen, aber sie scheuen das Licht. Sie quieken nur um so aufgeregter. Es wird Abend und kalt. Unsere Hände sind von der langen Sammelei aufgeschürft und wir recht froh, daß es 388
zu dunkel ist, um weiterzuarbeiten. Für den einen Tag haben wir genug: einen Echiuroiden-Wurm mit löffelförmiger Nase, den wir lose unter Steinen auflasen; vielerlei Shrimps; eine inkrustierte Koralle (Porites in andrer Verkleidung); viele Chitonen, darunter neue, und mehrere Octopi. Die augenfälligsten Tiere waren die gleichen Pulmonaten wie an der verdächtigen Angeles-Bucht, nur waren jene stärker, zäher, da ziemlich trocken auf hohen Steinen glühender Sonne ausgesetzt. Ein Felsvorsprung war mit Bernikeln behaftet, bemerkenswert der Größenunterschied bei den gleichen Tieren auf verschiedener Höhe! In den höheren Lachen sind sie kleiner: die Miesmuscheln, die Schnecken, die Einsiedlerkrebse, die Napfschnecken, die Bernikel, die Schwämme. In den unteren Ebbeteichen sind dieselben Spezies größer. Zwischen kleinen Felsen, Geröll und Kies haben wir eine Menge Stechwürmer gefunden und einen Ophiurentyp, der uns neu vorkam. Dann stellte sich aber heraus: es war die vertraute Ophionereide in jugendlichem Stadium. Man kann die höhergelegenen Ebbetümpel als Kinderstuben für tieferliegende, überflutete Zonen betrachten. Da gab es scharfstachlige und Keulen-Seeigel und im Sand einige Herzigel. Die vom zurückweichenden Wasser freigelegten Höhlungen unter den Felsen sind herrliche Fundgruben für viele Schwamm-Spezies, einige rein weiß, andere blau, andere violett; das ganze Gestein war mit ihnen überzogen. Diese Höhlungen sind so schön wie die bei Point Lobos in Zentral-Kalifornien. Es brauchte viel Mühe, alle gewonnenen Tiere auszulegen und einzutragen. Inzwischen spannten sich die für 389
den Meeresboden bestimmten Krebsnetze in der Strömung und brachten uns eine Anzahl sehr kurzer, fetter Stechwürmer (Chloeia viridis), die uns noch nicht begegnet waren, vermutlich eine durch die Gewalt der Gezeiten weggerissene Tiefwasserform. Mit dem Handnetz ringen wir die pelagische Nudibranchie Chioraera leonina, die sich auch im Puget-Sund findet. Das Wasser flutete mit einer Stundengeschwindigkeit von etwa 4 Meilen an der Western Flyer vorüber. Bis spät in der Nacht ließen wir die Tauchnetze draußen. Eine merkwürdige Sammelstation! In dem recht kalten Wasser begegnen sich Vertreter der südlichen und der nördlichen Fauna. Der Druck der Wogen, der starken Gezeiten und die Kälte scheinen das Tierleben zu ermutigen, was sehr begreiflich ist. Denn das quirlende, wogende Wasser hat nicht nur einen größeren Sauerstoffgehalt, es sorgt auch für ständigen Nahrungs-Zufluß und -Wegfluß. Die Daseinserschwerungen, die Notwendigkeit, der Nahrung nachzujagen, sich mit andern zusammenzutun oder mit ihnen zu kämpfen, dies alles bringt den Tieren ein Ungestüm bei, eine Zähigkeit, die im Daseinskampf siegt und sich in einer erfolgreichen Nachkommenschaft kund tut. Wo keine oder kleine Gefahr, ist kleinerer oder kein Ansporn. Vielleicht liegt es in dem Grundplan, der auf diesem freundlich-feindlichen Planeten jeglichem Lebenden tief eingeprägt ist, daß die Beseitigung von Hindernissen kämpferischen Daseinsdrang automatisch dahinsiechen läßt. Bei Warmwasserversorgung und üppigem Mahl begeben die Tiere sich in unfruchtbare zufriedene Faulheit. Die Menschen desgleichen. In seinen «Historien» 390
nennt Tacitus als beste Taktik gegenüber germanischen Truppenteilen: man solle sie in ein warmes Klima versetzen und reichlich mit Nahrung versorgen. Dies werde sie rascher als irgend sonst etwas ruinieren. – Wenn dies biologisch richtige Feststellungen sind, was würde dann aus einer wohlgenährten, in warmem Neste geschützten Bürgerschaft des idealen Zukunftstaates? Das Ergebnis solcher Schutzmaßnahmen bei einer Truppe ist, daß die Disziplin unfehlbar flöten geht und alle Energien sich in schwächlichen Streitereien erschöpfen. Belege? Bis jetzt gab es wohl nur einen einzigen Staat, der seine Bevölkerung hegte und pflegte, ohne sie konstant gegen einen wirklichen oder gedachten äußeren Feind auf dem Qui vive zu halten: den Inka-Staat. Seine Bewohner wurden so weich und schwach, daß eine kleine Horde hartgesottener Wüteriche imstande war, die ganze Nation zu überwältigen. Als aber der Reichtum an Lebensmitteln von den Spaniern veraast und die glänzend organisierte Verteilung der Lebensmittel und Bekleidung zerstört war, wuchs das Volk von Peru in Hunger, Kälte und Elend zu einer bedrohlichen Macht. Ed zweifelt nicht daran, daß ein siegreicher kollektivistischer Staat nicht viel langsamer zusammenbräche als ein besiegter. Eine bittere Niederlage würde wahrscheinlich ein grimmiges Eroberungsideal länger am Leben erhalten als ein Sieg. Denn die Menschen besiegen erfolgreicher einen Feind als sich selbst. Inseln haben von jeher die Menschen bezaubert. Wenn die alten Geschichtenerzähler Wunder vermelden, lassen sie sie unweigerlich auf einer Insel geschehen: die Inseln 391
der Seligen und die des göttlichen Dulders Odysseus, Avalon und Vineta, Atlantis und Bimini … Jenseits des Horizontes mitten im Meere kann das Unmögliche Wahrheit sein; wer hätte es in der Antike nachkontrollieren können? In unserer Einstellung zu Inseln lebt wohl noch etwas von jenen Schauern des Wundersamen. Wie gerne kehrten wir (die folgenden Zeilen sind nach unserer Rückkehr geschrieben) zur Isla Angel de la Guarda, zur SchutzengelInsel, zurück …! Nur dürfte es nicht an Zeit und Vorräten mangeln. Dann gingen wir über die kahlen Berge; die Täler mit ihren Klapperschlangen und giftigen Insekten schreckten uns nicht, und wir glauben alles, was man uns erzählt hat: daß wir Goldklumpen finden werden; daß übernatürliche Tiere dort hausen, Bergschafe, die niemals Wasser trinken; das tun wir sowieso nicht. Und wenn uns jemand von Troglodyten berichtet, denen die Insel gehört, werden wir erst nach gründlichem Nachdenken leise Zweifel äußern. Isla Angel Custodio gehört zu den Seligen Inseln, die nächstens durch eine Mining Company oder ein Gefangenen-Camp gründlich versaut werden. Bis jetzt hatten wir auf der Western Flyer keinen einzigen Krankheitsfall. Aber bei Puerto Refugio klappte Tiny ein bißchen zusammen. Er fühle sich nicht beieinander, behauptete er. Wir brachten ihn in die Kambüse und hielten in seiner Gegenwart ein Konsilium, wobei wir ihm auseinandersetzten, das sei für ihn und uns viel erfreulicher als eine Autopsie. Wir fragten ihn alles mögliche, auch sehr verfängliche Sachen, was für ihn ein Anlaß war, mordsmäßig zu renommieren, und dies war nun wieder 392
für uns ein Anlaß, ihm einen Heiltrank zu brauen, dem keine Krankheit gewachsen war, seine jedenfalls nicht. Nach einigen Stunden erschien er wieder auf Deck, zwar etwas benommen, aber grinsend. O wären nur alle Wahnideen so einfach zu kurieren! Auf den Gesundheitszustand der Schiffsmannschaft legten wir schon darum besonderes Gewicht, weil die Physis des Menschen einen entscheidenden Einfluß auf das Sammeln von Wirbellosen hat. Mit einem wehen Finger kann man kein Gestein aufheben, unter dem Tiere leben, und auf das, was wir sehen, hat unsere Verdauung mehr Einfluß als unsere Iris. Wie oft lugt aus einer Tierbeschreibung der Magenkrebs ihres Autors hervor! Um das Wesen der Tiere gefühls- wie verstandesmäßig zu erfassen, müßte man, so wie das Tier, allezeit hungrig und geil sein. Dann ist man dazu in der rechten Verfassung. Ohne unbescheiden zu sein, glaube ich sagen zu dürfen, daß es in beiden Beziehungen keiner von uns an sich fehlen ließ.
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24 MITTWOCH, 3. APRIL
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ir umfahren die Nordspitze von Angel de la Guarda. Der Heimweg beginnt. Das Meer ist klar und blau. Breit flutet die Dünung. Gegen Mittag fahren wir langsam durch eine Schule zeppelinförmiger Quallen: Ktenophoren, vielleicht auch Siphonophoren. Das Meer ist davon übersät. Sie sind 15 bis 25 cm lang, und wir versuchen, einige aufzulupfen. Doch die Körpermasse hat nicht genug Konsistenz, um sie außer Wasser zusammenzuhalten. Sie fließen zerteilt durch die Maschen der Tauchnetze ab. Bald darauf nähern wir uns einer Schule von Walen. Einer kommt uns so nah, daß der Sprühregen aus seinen Atemlöchern unser Deck überstäubt. Nichts stinkt so schauderhaft nach Verfall wie ein Wal; in seinem Dunstkreis kann einem übel werden. Die Tröpfchen, die am Schiff haften blieben, verbreiteten ihren Geruch noch lange, nachdem wir an der Schar vorbei waren. Die großen Tuna-Schulen, für den südlichen Golf so charakteristisch, sind hier nirgends zu sehen. Einige Seehunde trödeln durchs Wasser oder schlafen an der Oberfläche. Beinah hätten wir einige überfahren. Tief fühlt man die Einsamkeit dieser See. Kein Schiff, kein Boot, kein Einbaum; am Ufer kein Dorf, nicht die kleinste Ranch. Wie würden wir uns über einen indianischen Fischer freuen, ihn an Bord willkommen heißen; wir wür394
den eine Büchse Fruchtsalat für ihn öffnen … Doch die Gegend liegt leer und verlassen. Die Ostküste von Angel de la Guarda liegt hinter uns. Isla Tiburón zeigt uns ihre sonderbare Schulter. Wir haben Rückenwind; die Gezeitenströmung drängt mit; die Western Flyer fährt schnell wie noch nie! Durch unsere Ferngläser mustern wir die Westküste Tiburóns. Die Klippen sind schroff, die Berge höher als auf Angel de la Guarda. Die Insel wird mehrmals im Jahr von den Seri-Indianern besucht, von denen man sich erzählt: es sind Menschenfresser oder waren es einmal, was aber immer wieder bestritten wird. Fest steht: sie haben viele Fremde getötet. Ob sie sie nachher gegessen haben, bleibe dahingestellt. Es existieren hierüber keine Akten. Kannibalismus hat für die meisten Menschen etwas Gruseliges und wird als Sünde betrachtet. Vielleicht liegt diesem Abscheu das Gefühl zu Grunde: Wenn die Menschen lernten, einander zu verzehren, würde das Fleisch in so reichlichen Mengen disponibel, daß kein Mensch mehr hungrig und sicher wäre. Der Haß und die Furcht, die der Kannibalismus erregt, ist beachtenswert. Wegen ihrer Mordtaten werden die armen Seri-Indianer nicht sonderlich gefürchtet, aber wenn sie vor Hunger aus einem amerikanischen Staatsangehörigen ein Steak herausschneiden, entsteht eine Panik. Ich mußte an Swifts hintergründigen Hinweis denken: O würden doch die irischen Babies als Nahrung geschätzt! Dann würde man sie füttern, und sie bekämen endlich einmal satt zu essen. – Seine wohlgemeinte Bemerkung entfesselte seinerzeit einen Sturm der Entrüstung. Den Hauptgrund für Kannibalismus, das ist 395
festgestellt, bildet immer der Hunger. Wenn die Leute was besseres kriegen, frißt keiner seinen Nächsten. Zum Teil dürfte diese Geschmacksrichtung durch einen unsympatischen Beigeschmack menschlichen Fleisches bedingt sein und dieser hinwiederum durch unsere verkehrte Ernährung. Aber die ließe sich entsprechend ändern. Was die andern Hemmungen angeht, so läßt sich verstehen, daß man Verwandte, mit denen man schon ungern zu Tisch sitzt, nicht auch noch serviert bekommen möchte. Es ist auch begreiflich, daß ein Kavalier keine Damen verzehren will und eine romantisch veranlagte Dame die Krone der Schöpfung nicht gern mit der Gabel aufspießt. Aber all diese Schwierigkeiten sind nicht unlösbar, der Geschmack menschlichen Fleisches könnte durch eine Spezialdiät und würzige Saucen verbessert werden, und dann würden diese Seri-Indianer (falls sie tatsächlich der Menschenfresserei huldigen), aller Verachtung, allen Hasses ledig, als Pioniere des Neokannibalismus gefeiert werden. Clavigero gibt uns in seiner «Geschichte Kaliforniens» folgenden Bericht über die Seris: Im September 1709 verließ der Segler San Javier mit 3000 Scudi zum Kauf von Proviant in Yaqui den Hafen von Loreto. 180 Meilen vor seinem Bestimmungsort, von wütigem Sturm überfallen, lief das Fahrzeug auf Sand. Ein Teil der Mannschaft ertrank, die übrigen erreichten im Rettungsboot die Küste. Dort aber drohte ihnen eine nicht minder große Gefahr von Seiten kriegerischer Heiden, den Series, die unversöhnliche Feinde der Spanier sind. Daher begrub die Mannschaft in höchster Eile die 3000 Scudi und alles Wertvolle, was sich noch auf dem Wrack 396
befand. Dann fuhren sie im Rettungsboot unter tausend Gefahren und schweren Entbehrungen nach Yaqui, von wo sie nach Loreto Nachricht über den Vorfall sandten. Inzwischen entdeckten die Series den Ort, an dem die Spanier das Geld und ihre Habe vergraben hatten, gruben alles aus, raubten das Steuerruder des Wracks, das sie außerdem demolierten, um sich die Nägel aneignen zu können. Kaum hatte Pater Salvatierra in Loreto die Unheilsnachricht empfangen, als er auf der Rosario, einem nicht mehr seehaltenden Fahrzeug, nach Guaymas segelte. Von dort schickte er sie zum Wrack der San Javier, während er selbst mit vierzehn Yaqui-Indianern sich zu Fuß dorthin aufmachte. Es war ein äußerst beschwerlicher Weg; zwei Tage lang fanden sie nirgends trinkbares Wasser. Endlich gelangten sie ans Ziel und blieben dort unter Lebensgefahr zwei Monate lang. Doch während die Mannschaft das Fahrzeug instandsetzte, gewann Pater Salvatierra die Freundschaft der Series und dies in einem solchen Grade, daß sie ihm nicht nur die geraubte Fracht der San Javier zurückgaben, sondern auch mit ihren christlichen Nachbarn, den Pima-Indianern, ihren Todfeinden, Frieden schlossen. Er taufte dort viele Kinder, unterwies die Großen im Glauben und flößte ihnen eine solche Liebe zum Christentum ein, daß sie sich einen Missionar erbaten, damit er sie regelmäßig unterrichte, sie taufe und leite. Also siegte die milde Charakterstärke Pater Salvatierras mit Hilfe des Herrn über die Wildheit eines von den Spaniern wie von den andern Indianern gefüchteten Barbarenvolks. Er aber, da er der Heiden unerwarteten Gehorsam und ihre bessere Regung erkannte, dankte Gott unter heißen Zähren für alles Gute, das aus dem Schiffbruch erwachsen war.
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Die «milde Charakterstärke» des Paters hat aber die Seris nicht davon abgehalten, auch weiterhin, und zwar bis vor kurzem, zu morden. Bemerkenswert an Clavigeros Bericht ist die Angabe, der Pater habe ein «nicht mehr seehaltendes Fahrzeug» benützt. Man staunt und fragt, ob es denn auch seetüchtige Schiffe und seekundige Kapitäne gab. Liest man die damaligen Schilderungen von Seefahrten, so gewinnt man den Eindruck, als hätten jene geistlichen und soldatischen Navigatoren sich weniger auf den Kompaß als auf Gebete verlassen. Allem Anscheine nach sind die heutigen Steuerleute im Cortez-Meer aus der gleichen Pilotenschule hervorgegangen. Etliche Schiffe, die uns begegneten, hielten sich allen physikalischen Gesetzen zum Trotz über Wasser und erreichten tatsächlich Guaymas oder La Paz. Es muß im Himmel irgendwo so ein kleines Pilotenhaus geben, in dem ein vielgeplagter St. Christopher Tag und Nacht der Schiffahrt im Golf mit einer Handvoll Wunder unter die Arme greift. Rot liegt die Küste von Tiburón vor unsern Augen, das Buschwerk so grün, wie wir lange keines erblickten. In einigen Bergfalten wachsen kleine niedere Bäume, unsern Zwergeichen ähnlich; genau konnten wir es im Vorbeifahren nicht feststellen. Gegen 5.30 nachmittags umfuhren wir die lange rote Punta Bluff an der südwestlichen Ecke der Insel und ankerten dort, geschützt vor Nordwinden. Ich gebrauche absichtlich das Wort «Ecke», denn Tiburón ist ein auf die Südecke gestelltes Viereck; von dort zeigt der Kompaß ziemlich genau auf die Nordecke. An Land suchten wir vergebens nach Seri-Indianern. Wir hatten einen derartigen Bärenhunger, daß es uns völlig wurst ge398
wesen wäre, ob Seris uns oder wir Seris zum Dinner bekommen hätten. Von der roten Punta Bluff neigen sich niedere Felsflächen seewärts, ideal zum Sammeln; sie haben viele topfartige Löcher, die bei Ebbe zu Aquarien werden. Südöstlich der Punta greifen lange riffartige Steinfinger ins Meer; zwischen ihnen liegen wie Schwimmhäute sandige Schrägen, daneben viele Steine, in Sand gebettet; anschließend ein rauher Kies-Strand. Wieder einmal an einer einzigen Sammelstelle jedes Milieu außer Schlamm und Brackwasser-Lagune! Wir beginnen am Riff. In den Topf löchern haben sich liebenswürdigerweise Hydroiden, Korallen, farbige Schwämme und helle Kleinalgen versammelt. In Ebbeteichen viele gekrümmte Garnelen, die sich schwer fangen lassen, denn erstens sind sie so durchsichtig, daß man sie kaum sieht, zweitens erzielen sie mittels Schwanzschlägen Höchstgeschwindigkeit. Man erblickt nur ihre Mägen und die flackernden Flossen. Ihr Inneres kann man, als seien es kleine Glasmodelle, genau beobachten. Wir griffen mit der Hand sehr langsam unter sie und hoben sie so an die Oberfläche. Am Riff die üblichen Heliaster, Aktinien, Igel und viele Riesenschnecken Callopoma fluctuosum. Ganz oben in der Gezeitenzone viele der Tegula ähnliche Schnecken, wie wir sie am Cabo San Lucas fanden, obwohl dort das Wasser warm und hier kalt ist. Sally Lightfoot ist kaum noch zu sehen. An seine Stelle tritt der nördliche Krebs Pachygrapsus. Wir finden einige üppige solitäre Korallen und einen reichlichen Vorrat flaumiger Hydroiden, die von uns mit ebenso großer Sorgfalt gesammelt wie nach399
her konserviert werden, damit sie weder verdrückt werden noch brechen. Sie sind, mindestens dem Aussehen nach, Pflanzen so ähnlich, daß sie für unsere Phantasie eine Brücke vom Tier- ins Pflanzenreich bilden, so wie umgekehrt einige Pflanzen (wie die tropischen sensitiven und insektenfressenden) durch ihre nervliche und muskulare Gewandtheit. Wir verdanken dem Riff auch eine Anzahl Bernikel, viele Phataria und Linckia, Schwämme und Manteltiere. Auf dem Weg vom Riff zu den steinernen Fingern fingen wir einen sehr abgemagerten Spinnkrebs (Stenorhynchus delebilis) – kaum noch Körper, lauter Beine! Im Sand zwischen den Steinfingern ruhten viele Stachelrochen; am Rand einer Sandnische waren zwei in Begattung. Das Männchen (oder war es das Weibchen?) lag auf dem Rükken und auf ihm (oder ihr) das Weibchen (beziehungsweise Männchen). Wir hätten sie beide gern im Koitus konserviert, unterdrückten daher unsre sentimentalen Empfindungen, stießen von oben eine leichte Harpune durch das Pärchen und hoben die Empörten empor. Ihre zarten Gefühle waren beleidigt. Trotz der Harpune lösten sie sich voneinander. Tiny Colletto war inzwischen im kleinen Beiboot in den Steinfingerbuchten herumgefahren und hatte noch einige Stachelrochen harpuniert. Wir entnahmen dem Sande des Nachbarstrandes etliche SandHolothurien und gruben in einem lehmigen Ebbeteich ebenso lang wie erfolglos einem Pelzkrebs nach, den wir in seinen Schlupfwinkel hatten rennen sehen. Es war ein reiches Sammelfeld, doch unser Gesichtskreis wurde dadurch nicht erweitert; wir fanden bestätigt, was wir bereits 400
festgestellt hatten, und in ihrer Überfülle war die Punta Bluff kein Bluff gewesen. Bei Anbruch der Dunkelheit drehten wir an Bord die Decklichter an und sahen zahlreiche barracudaähnliche Fische sich auf die Fischchen stürzen, die sich dem Lichtschein näherten. Wir befestigten eine Angelschnur an einem kleinen dreizackigen Wurfspeer. Ungefähr jeder zehnte Wurf traf einen der großen Fische. Während wir sie an Deck zogen, begab sich etwas Merkwürdiges. Vom Ufer nahte ein Schwarm großer Fledermäuse, das heißt: die Körper waren eher klein, aber die Flügel zeigten eine Spannweite von etwa 0,45 m. Unermüdlich umkreisten sie unser Schiff, obwohl nirgends Insekten zu sehen waren. Sparky, der an der Reling stand und Barracudas zu harpunieren suchte, bekam einen furchtbaren Schreck; er hat Angst vor Fledermäusen. Als plötzlich eine dicht bei ihm niederschoß, stieß er mit seiner Harpune nach ihr, und zufällig drangen die Widerhaken in das Nachttier und hielten es fest. Etwa fünf andere Fledermäuse senkten sich unmittelbar auf Sparkys Kopf. Entsetzt ließ er die Harpune fallen und rannte in die Kambüse. Sie fiel übers Geländer ins Wasser, von wo wir sie mitsamt der erlegten Fledermaus später heraufzogen. Jetzt war dazu keine Zeit, denn nun passierte etwas noch merkwürdigeres. Wie auf ein Signal machten die Fledermäuse, es waren Hunderte, plötzlich kehrt, flogen landein und ließen sich nicht wieder blicken. Was hatten sie bei uns gewollt? Fledermäuse leben bekanntlich von Insekten und Früchten. Es gibt aber auch Berichte über fischfressende. Vielleicht gehörten die Tiburóner zu dieser Sorte. 401
Wir rieten Sparky, er solle über den Vorfall das Maul halten. «Lieber Sparky», sagte Ed, «du giltst in Monterey ohnedies schon als Aufschneider. Wenn du dort auch noch erzählst, du hättest eine Fledermaus harpuniert, glaubt dir kein Mensch mehr ein Wort!» Sparky gelobte Schweigen, aber als wir wieder in Monterey waren, konnte er sich nicht bezähmen, renommierte mit seiner Leistung, und alles brüllte vor Lachen. Lachend kamen die Leute zu uns ins Labor: «Wißt ihr, was Sparky gesagt hat? Er schwört drauf, er hätte eine Fledermaus harpuniert!» Zur Strafe für Sparkys Schwatzhaftigkeit antworteten wir: «Fledermaus …? Ach was! Er hat wohl die Filmoperette gesehen!» Sparky war wegen unserer Zeugnisverweigerung etwas gekränkt. Fledermäuse kann er seitdem noch weniger leiden als vorher. Still ruht die See. Schwarz ragen die Berge von Tiburón in den gestirnten Himmel. Still ruht auch die Western Flyer. Nur ein leichtes Geräusch ist vernehmbar … Tiny Colletto wäscht sein Hemd. Guaymas ist nah; da juckt es ihn wieder. Ed und ich sprechen von Fledermäusen, von der Furcht und den Märchen, die sie im Volke erwecken. In Ivan Sandersons «Karibischem Schatz» * findet sich eine aufschlußreiche Bemerkung über Fledermäuse als Träger des Tollwutvirus. Sie können ihn auf Menschen übertragen. Hier sind wir nahe dem Ursprung des Vampirismus und des Werwolfglaubens. Die südamerikanische Fledermaus * «Caribbean Treasure», S. 56. 402
heißt Vampir. Menschen mit Tollwut kann man sehr wohl für Werwölfe halten. Eins reiht sich ans andre. Sparkys sinnlose, fast instinktive Fledermausscheu beruht vielleicht auf ererbten Erinnerungen, auf einem angeborenen Wissen um schreckliche Dinge, die einstens durch Fledermäuse bewirkt worden sind. Bei unserer Lektüre vieler mehr oder weniger wissenschaftlicher Berichte über Expeditionen zur See begegneten wir immer wieder zwei Vorurteilen oder Komplexen. Erstens: An Bord ist ein Weib! Die Frau eines Fahrtteilnehmers. Sie wird in den Berichten nie mit Namen genannt; sie heißt immer nur «the skipper» oder «the shipmate» oder «the pal», hat meistens blonde Haare, die sich nicht locken, und ist auf allen Photos mit drauf. Sehr interessant! Der zweite Komplex ist mehr stilistischer Art und bezieht sich auf das Scheiden, die Rückreise. Naturgemäß äußert er sich erst gegen Schluß der Reisebeschreibungen und beginnt mit dem Ausruf: «Und so –». Regelmäßig: «Und so –». Warum weiß kein Mensch. «Und so sagen wir dem lieblichen Tiburón Lebewohl und versprechen, wir werden bald wiederkehren. Adiós, Tiburón, amigo …!» Wir auf der Western Flyer können diese Gefühlsduselei ebenso wenig ausstehen wie die strähnigen Haare der anonymen shipmate. Und so – sagten wir Tiburón Lebewohl und trollten uns gen Guaymas.
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25 DONNERSTAG, 4. APRIL
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nterwegs fischten unsere Rollangeln zwei feine Sierras. Unsere künstlichen Köder waren vom vielen Gebrauch ramponiert, aber wir hatten sie mit Hühnerfedern wieder instandgesetzt. Wir fuhren den ganzen Tag. Gegen Abend tauchen Sportfischerboote aus Guaymas auf, schwer beladen mit Sportsmen, deren Kostümierung und Ausrüstung den Fischen enorm imponierte. Intellektuelle Rekordleistung! Sie werden den Fisch durch ihres Geistes Kraft unfehlbar knock out schlagen. Und wir bedienen uns der barbarischen Methode, eine Angelschnur mit einem Hühnerfeder-Köder über Bord zu schmeißen! Wie komfortabel, rosig und sauber diese Gentlemen-Fischer in ihren eigens zu diesem Zweck konstruierten Patentdrehstühlen sitzen, während uns in Salzwasser gewaschene Hosen an den Beinen kleben! In Ermangelung von Komfort und Sauberkeit umgeben wir uns mit Verachtung für diese Sportsmen. Ohne daß sie sich eigens darum bemühen müßten, sind sie uns von Grund auf zuwider. Sparkys und Tinys Verachtung für die Salonangler ist aber völlig frei von Gefühlen des Neides. Stammen doch beide aus uralten Fischergeschlechtern, denen es stets nur auf Fische und nie auf Noblesse ankam. Man stelle sie sich in so einem Drehsessel vor, in der einen Hand die Angelrute, in der andern das Eisgetränk! Wenn 404
die Herrschaften drüben nichts fangen, sind nur die Demokraten dran schuld, und ihre Gebete gelten Mr. Calvin Coolidge: «Möge Sankt Petrus im Himmel ihm einen besseren Fischzug bescheren als uns!» Guaymas könnten wir heute Nacht erreichen, aber nicht anlaufen. Die Nachttaxe für Piloten ist dort enorm hoch, und wir sind etwas knapp an Geld. Daher fahren wir gegen 6 Uhr abends um die Punta Doble nach Puerto San Carlos (nicht zu verwechseln mit Bahia San Carlos an der gegenüberliegenden Küste von Niederkalifornien!), einer prächtigen kleinen Bucht mit schmalem Felsenentrée, Einfahrtsbreite knapp 90 m, der Ankerplatz 5 bis 7 Faden tief, der Strand beim Eingang rechts und links voll Geröll, dazwischen Sand. Wir haben noch Zeit zum Sammeln. Dem Geröll entnehmen wir einige uns unbekannte Schnecken und zwei Echiuroiden, aber unter den Steinen ist nichts anderes als in Tiburón. Das warme Wasser der Bucht ist die reinste Garnelensuppe. Einige davon holen wir mit dem Tauchnetz. Nach rascher Durchmusterung des Geländes – denn es wird dunkel – begeben wir uns wieder aufs Schiff. In der Finsternis erhebt sich rings um die Western Flyer ein sonderbares Geräusch, ein periodisches Zischen und lautes Plätschern. Wir steigen auf Deckhaus, richten den Scheinwerfer, und siehe: Die Bucht wimmelt von Fischchen, die sich wohl an der Garnelensuppe gütlich tun, und immer wieder schießt eine Schule etwas größerer Fische (ca. 15 bis 25 cm lang) in das Gedränge der Kleinen (von 3–5 cm) und ist so zahlreich und schnell, daß dadurch das scharfe Gezisch entsteht, das uns aufgefallen war. In einiger Entfernung springen und platschen zahlreiche große 405
Fische. Ohne ein Wort zu verlieren holen Sparky und Tiny ein Langnetz, steigen ins Beiboot und suchen gleich eine ganze Fischschule ins Netz zu bekommen. Wir rufen hinüber: «Was wollt ihr denn mit den vielen Fischen, vorausgesetzt, daß ihr sie fangt?!» Tiny und Sparky bleiben stumm wie die Fische, deren Menge sie magisch anzieht. Sie sind Fischer, Söhne und Enkel von Fischern. Was mit den Fischen geschieht, geht den Fischhändler an. Ihre Aufgabe ist, zu fangen. Sie arbeiten besessen, doch es gelingt ihnen nicht, die Schule einzukreisen. Erschöpft kehren sie zurück. Das Wasser starrt von kleinen Fischen. Sparky geht in die Kambüse, setzt unsere größte Bratpfanne mit Olivenöl aufs Feuer. Tiny fängt mit Tauchnetzen die 3- bis 5-cmFische, in jedem Netz mindestens hundert, reicht sie von draußen durch das Kambüsenfenster hinein, Sparky schüttet sie in die brodelnde Pfanne; rasch sind sie knusprig braun; wir lassen sie abtropfen; salzen und essen sie, ohne uns oder die Fische zu säubern. Sie munden köstlich. Frischer wurden Fische noch nie verzehrt, es sei denn von den Japanern, die sie angeblich lebend verspeisen, und von College-Boys, die sich sogar beim Fressen lebendiger Fische photographieren lassen. Jedes einzelne Fischchen war ein zarter, verlockender Leckerbissen, und wir schmausten Hunderte! Hierauf machten wir uns an die gewohnte Nachtarbeit und fingen in Netzen die vom Lichtschein angezogenen pelagischen Garnelen, Garnelenlarven, schwimmenden Krebslein und viele der transparenten Fische. Die ganze Nacht über währt der zischende Ansturm der 406
jagenden und gejagten großen, kleinen und mittleren Fische. Wir waren noch nie in so dicht bevölkertem Wasser. Der Lichtstrahl dringt durch die Oberfläche in dichte wimmelnde Unersättlichkeiten. Geordnet, geleitet schwimmen die Schulen, wenden als Einheit, tauchen als Einheit. Ihre Millionenscharen folgen einem genauen Zeit-, Tiefenund Richtungsplan. Unsere Vorstellung von diesen Tieren als Individuen muß auf Irrtum beruhen. Ihre Funktionen im Schulverband sind auf eine uns bisher unbekannte Weise so reguliert, als bilde die Schule die Einheit. Sie ist es. Ohne diese Annahme (denn es bleibt bis auf weiteres eine Annahme, daß die Schule ein einziges Tier sei) läßt es sich nicht erklären, daß sie mit all ihren Zellen (Fischen) auf Reize reagiert, die den einzelnen Fisch (die Zelle) vielleicht gar nicht beeinflussen würden. Dies Großtier, die Schule, hat sein eigenes Wesen, Streben und Ziel. Es ist mehr als die Summe seiner Einheiten und von ihr verschieden. Sobald wir dies durchdacht haben, finden wir es nicht mehr unglaublich, daß alle Fischköpfe in derselben Richtung weisen; daß der Zwischenraum von Fisch zu Fisch überall der gleiche ist; daß eine Schul-Intelligenz alles lenkt. Wen diese Annahme zu kühn dünkt, der möge einmal die Fisch-Schule als in sich geschlossenes Lebewesen und nicht als eine Summe von Fisch-Einheiten betrachten und studieren. Er wird finden, daß bestimmte Untergruppen von Fisch-Einheiten spezielle Funktionen erfüllen: daß schwächere oder langsamere Einheiten sogar, zwecks Erhaltung der Schule als Ganzem, ihre Stelle als Beschwichtigungsfutter zum Aufhalten räuberischer Verfolger einnehmen. Hier in der kleinen Ha407
fenbucht von San Carlos, wo viele Schulen mehrerer Spezies schwimmen, hat man das Gefühl (ich gebrauche das Wort mit Absicht!), das Gefühl einer noch höheren Einheit, eines zonalen Verbandes der Arten in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit in punkto Ernährung, wobei jeweils eine der anderen Nahrung bildet: ein Großtier, das in sich selbst fortlebt – von Shrimpslarven zu Kleinfischchen, zu größern, zu großen, zu Riesenfischen – ein wirksam sich selbst versorgender Mechanismus. Vielleicht, daß uns diese Einheit einen neuen Aufschluß gibt und unser Denken hinlenkt zu dem noch größeren Übertier, das da ist das Leben des Meer-Alls, und dieses in das noch umfassendere der ganzen Erde. Dann wird uns wohl aufgehen, daß es für die lebenden Dinge nur ein Gebot gibt; es lautet: Lebe fort! Überlebe! Und alle die Formen und Spezies und Einheiten und Gruppen sind ausgerüstet zum Überleben, sind scheu und wild, gewandt, schlau, giftig, gewappnet und weise, scharfsichtig und weitblickend, um fortzuleben. Dies eine Gebot befiehlt für Myriaden von Individuen Tod und Zerstörung, damit das Ganze fortlebe. Des Lebens Ziel ist, am Leben zu bleiben, und alle die Mechanismen, alle Tricks, Erfolge und Fehlschläge sind auf dies Endziel gerichtet.
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26 FREITAG, 5. APRIL
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rüh am Morgen kurze Fahrt nach Guaymas. Zum ersten Mal, seit wir bei San Diego die Grenze passierten, sollen wir wieder in Weltverkehr treten. O wie fern waren uns Welt und Weltkrieg, Verkehr und Verkehrtheiten unseres früheren Daseins! Wir freuen uns nicht auf die Heimkehr. Die Rückkehr zu Zeitungen, Letzten Nachrichten, Post und Business widerstrebt uns. Treiben wir nicht seit dem 15. März durch eine Doppelwelt …? Die realistische, die vorher war, erscheint uns heut wie eine trügerische Luftspiegelung. Kriegswirtschaft und Kriegsgewimmel, Parolen und Kämpfe der Parteien, Völkerhaß, Innen- und Außenpolitik, aus unsrer Distanz betrachtet bieten sie ein unwürdiges Bild. Wie gut verstehen wir, da wir jetzt ebenso fühlen, die Indianer der Cortez-See, die über das Ameisengetriebe des Nordens traurig die Köpfe schütteln und sprechen: «Es ist ja verrückt. Es wäre freilich nicht übel, Fordwagen zu haben und Wasserleitung, aber nicht, wenn es zum Wahnsinn führt.» Auch unser Zeitgefühl ist nun anders. Die Gezeiten sind unsere Uhr, das Pochen der Maschine unser Sekundenzeiger. Hinter Guaymas läuft die Uhr ab. Noch zwei, drei Sammelstationen, dann wimmelt die Charter uns ab; wir müssen uns ohnedies sputen, um zu dem schwarz auf weiß fixierten Termin in Monterey einzutreffen. 409
Doch schon sinnt unsere Mannschaft auf Mittel und Wege, wie sie wieder zurück in den Golf kommen kann. Die Reise war wie ein Schlummer, an Träumen reich, ein Ausruhen vom Getriebe. Der gewohnte Nützlichkeitsstandpunkt schien im Verkehr mit mexikanischen Menschen verrückt. Gewiß, auch sie sind auf sich selber bedacht, aber auf einer anderen Ebene. Was sie für uns taten, zielte nicht auf Profit, jedenfalls nicht auf das, was wir darunter verstehen, nicht auf Austausch materieller Güter. Wohl war jeder Kontakt mit einem Handel verbunden – etwas von unnennbarem Wert wurde ausgetauscht. Vielleicht, daß dieser Menschen Eigennutz in unnennbaren Dingen liegt, ihr Tauschhandel Gefühle zum Gegenstand hat: Lust, Freude oder auch nur menschlichen Kontakt. Vielleicht, daß die Indianer, wenn sie zeitentrückt an der Reling hockten, etwas einnahmen – nicht unsre Geschenke, nicht den Imbiß, den wir ihnen boten; darum hatten sie uns nicht aufgesucht, und wo sie uns halfen, geschah es nicht in Gedanken an materielle Vergütung. Ihre Güte und Freundlichkeit ist nicht wie bei uns eine Ware. Wollten wir eine Harpune kaufen, so ergab sich sogleich die Schwierigkeit: was ist der Preis? Der Indianer zahlte vor Jahren drei Peso dafür. Das war also ihr Preis. Daß Zeit einen Geldwert hat, ist ihm unbekannt. Er hat es noch nicht gelernt, daß er die drei Tage Kanufahrt, die er zum Kauf einer neuen Harpune benötigt, in die zu fordernde Summe einkalkulieren muß. Denn Zeit, so wenig wie Güte, ist für ihn eine Ware. Wir suchten den Indianern auseinanderzusetzen, auch Zeit sei etwas, das man verkaufen könne. Sie aber sagen: Die Zeit fließt dahin. Wenn man sie aufhalten, aufheben, weg410
nehmen oder vergraben könnte, ließe sie sich verkaufen. Ebenso gut könne man Luft verkaufen oder Hitze oder Kälte oder Gesundheit oder die Schönheit … Da dachten wir an unsere Großindustrien, an den Verkauf von Air-fresh, Heizkörpern, Frigidaires, KlimaAnlagen, an geldgierige Radio-Reklame, die uns Gesundheit und Schönheit in Flaschen und Schachteln anpreist. Ob gut oder schlecht, hier ist es anders. Hier denkt man: Zeit und Schönheit können nicht eingefangen und nicht verkauft werden. Wir aber wissen: beide können verkümmert und verhäßlicht werden, und es hat wiederum nichts mit Gut oder Böse zu tun. Unsere Bevölkerung zahlt für Tabletten in einer gelben Schachtel mehr als für dieselben Tabletten in einer weißen. Sogar die Strahlenbrechung des Lichts hat bei uns ihren Preis. Bücher kauft man, weil es zum guten Ton gehört, nicht weil man danach verlangt. Krieger und Flieger kaufen sich Mut. In Form von tomatenfarbiger Seife und Reizwäsche kauft man ein romantisches Lustbegehren, Bildung in Gestalt von Fernkursen und heftet die Lieferungen und wiegt sie nach, damit man ja nicht zu kurz kommt. Erst kauft man sich Schmerz und hierauf Schmerzstillung, kauft Courage, kauft Rast und lebt in Unrast und Angst. Und macht sich dabei über den Indianer lustig, der mit sauer erworbenen Silberstücken seinen Vater aus der Hölle und sich in den Himmel kauft. Diese Indianer sind eben viel zu unwissend, um zu verstehen, welche Sinnwidrigkeiten die Industrie aufgeklärten Völkern in den Kopf setzen kann! Du kannst in die Ferne schweifen; bei der Rückkehr fühlst du dich verstört. Da wir ein Empfinden für Größe 411
haben, spüren wir: hier lebt noch ein großes Volk. Die Gelassenheit einer Indianerin, die am Straßenrand sitzt, kann unsereins nicht aufbringen. Und doch sehnt sich auch dieses Volk nach dem, was das unsre bestrickt. Früher hat man gedacht, durch Bildung, sanitäre Maßnahmen, Wohnkultur, Demokratie, Sozialismus werde die Kluft zwischen den Völkern einmal überbrückt werden. Heut scheint das alles zu umständlich. Die Invasion erfolgt mittels Autostraßen und Hochspannungsdrähten. Dann ändert sich alles im Handumdrehen. Sobald das Radio dasteht, sobald Asphalt und Zement und Dampfwalzen als Plätteisen über die Berge fahren, ist für jedes beliebige politische System der Boden bereit, und das «Lokalkolorit» wird zur Industrie. Dann werden die Menschen am Cortez-Meer saubere Füße für wesentlich wichtiger halten als saubere Sinne. «Zivilisation» heißt: Überlandzentralen, Flughäfen, Bulldozer, Drug-stores und vor allem Konserven. Ein kleines lokales Kraftwerk mit 110 Volt Spannung und die Windungen einer staubigen Landstraße lassen ein Volk lange Zeit unberührt. Allein Telefunken, Neonlicht, Großkraftmaschinen, Traktoren und Zeitungswesen reißen die Menschen – sei es in Mexiko, in China, im schottischen Bergland, oder im ländlichen England unweigerlich in die Netze der Zivilisation, die der sogenannte Zeitgeist überall webt. Und auch dies ist weder gut noch schlecht. Uns, die wir der Komplikationen müde sind und denen Gefühlskälte zum Bilde des Alltags gehört, erscheint der Indianer als schlichter, geruhsamer Mensch, und solange wir uns erlauben, in Unwissenheit über seine Komplika412
tionen zu verharren, können wir uns nach seiner Lebensweise sehnen und sie der unsern für überlegen erachten. Genau so kann der Indianer, von unheilbarem Zahnweh, Augenentzündung, Unterernährung und Gedanken an Großeltern und Onkels im Fegefeuer geplagt, uns um unsern Luxus beneiden. Ob er es tut, ist eine andere Frage. Aber wir brauchen nur an die schrecklichen Komplikationen unserer Kindheit zu denken! Wie haben wir uns gesehnt, als Erwachsene sorgenfrei dazustehen und Geld in der Tasche zu haben! Das wäre glatt! Wie sagte der Rancher Leopoldo Pérpuly aus Puerto Escondito? «Bei euch gibt es keine Armut und keine Not. Jeder hat einen neuen Ford.» Zeitig am Vormittag waren wir in Guaymas, erledigten die Zollformalitäten, holten beim Konsulat unsere Post und taten dann, was man nach längerer Fahrt in einer Hafenstadt tut; es war recht amüsant, gehört aber nicht hierher. Guaymas ist längst an den Weltverkehr angeschlossen. In La Paz und Loreto fanden wir Stadt und Golf zu untrennbarer Einheit verbunden; hier ist sie durch Bahn und Hotels durchbrochen. Das soll keine Kritik bedeuten. Nur hatten wir den Eindruck, als liege Guaymas nicht mehr am Golf. Aber man war sehr nett zu uns; wir lernten reizende Leute kennen und schieden ungern.
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27 MONTAG, 8., DIENSTAG, 9., MITTWOCH, 10. APRIL
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ber erst nach drei Tagen. Bei der Abfahrt waren wir etwas abgekämpft. Kapitän und Pilot Corona, Eigentümer mehrerer Shrimpsboote, der uns gastfreundlich aufgenommen hatte, lotste uns aus dem Hafen, machte bei einem seiner gerade einfahrenden Boote halt und lud uns zur Besichtigung ein. Es war ein recht dürftiges Fahrzeug, und mit seiner Ausbeute an Shrimps war es nicht weit her. Man klagt, daß die japanischen Shrimpsfänger die Fischerei ruinieren. Wir beschlossen, ihnen am folgenden Tag einen Besuch abzustatten. Sobald wir außerhalb Guaymas unsern lieben Pilot abgesetzt hatten, war der Golf wieder lokal und entsprach unserm Bilde vom Cortez-Meer. Eine Luftspiegelung schwebte über dem Festland; die See war sehr blau. Wir fuhren nur ein kurzes Stück und ankerten in einer kleinen Bucht gegenüber dem Leuchtfeuer der Pajaro-Insel. Nachts fingen wir eine Reihe Fische, die mit dem Katzenwels eine gewisse Ähnlichkeit haben. Unsere Stimmung war etwas gedrückt. Sparky und Tiny waren in Guaymas verliebt und schmiedeten Pläne, zurückzukehren und sich dauernd dort niederzulassen. Der Maschinist und der Kapitän litten an einer leichten Schwermut, vielleicht an Heimweh. Am Dienstag wurden wir vor Tagesanbruch von den 414
Stimmen ausfahrender Fischer geweckt. Wohlgemut lichteten wir den Anker und machten uns an die gewohnte Arbeit. Der Tag war schwül. Ein heißer, feuchter Dunst lag über dem Golf. Das Wasser war ölig und zugleich wellig. Nach einer Stunde gelangten wir zur japanischen Fischerflotte. Sie bestand aus einem Mutterschiff und 11 Schleppnetzbooten, von denen gerade sechs Dienst taten. Das große 10 000 Tonnen-Mutterschiff ankerte nahe der Küste; die Dreggerboote, etwa 45 bis 54 m lang, dürften je 600 Bruttoregistertonnen fassen. Sie arbeiteten grauenhaft systematisch. Nicht nur, daß sie jeden Shrimp vom Meeresboden holten; sie fischten auch alle anderen Lebewesen. Sie kreuzten gestaffelt, und ihre überhängenden Dreggnetze kratzten buchstäblich den Meeresgrund aus. Ein Tier, das ihren Fängen entging, mußte ein Wunder an Schnelligkeit sein. Selbst die Haie kamen nicht davon. Wieso die mexikanische Regierung diese radikale Vernichtung einer wertvollen Nahrungsquelle zuläßt, ist eines jener Mysterien, deren Aufklärung wohl nur in gewisser Herren Taschen, in die man nicht hineingucken kann, zu finden wäre. Da wir solch ein eisernes Boot in Augenschein nehmen wollten, steuerte Tony Berry die Western Flyer längsseits an eines heran. Ed und ich ließen das Beiboot herunter und stiegen ein. Die Blicke, mit denen wir dabei von drüben bedacht wurden, waren nichts weniger als freundlich. Wir aber hielten uns am japanischen Backbord fest, reichten unser Empfehlungsschreiben des mexikanischen Marineministeriums hinauf, hingen uns an, warteten, sahen, wie ein mexikanischer Beamter auf der Kommandobrücke 415
unseren Brief studierte, und plötzlich schlug oben die Stimmung um. Man half uns an Bord und band unser Boot längsschiffs fest. Das Arbeitsdeck befand sich vorne. Hier wurden die Schleppnetze entleert. Auf der andern Längsseite stand ein langer Schneidetisch, an dem die Shrimps geköpft und auf eine Art Rutschbahn geworfen wurden. Ob sie unten in Eis oder sogleich in Büchsen kamen, entzieht sich meiner Kenntnis. Vermutlich wurden sie erst auf dem Mutterschiff eingelötet. Das Dreggnetz war gerade im Wasser, doch schon begann sich die Kabeltrommel zu drehen und brachte das schwerbeladene Beutelnetz herauf. Dabei schlossen sich die großen Kratzeisen wie Bügel eines riesigen Portemonnaies, und als sie sich wieder öffneten, schütteten sie viele Tonnen Meertiere aufs Deck, nicht nur Shrimps, auch tonnenweis Fische aller Art: Sierras, Pompanos mehrerer Spezies, Hammer- und Glatthaie, Adlerrochen, Schmetterlingsrochen, kleine Tunas, Katzenwelse, haufenweise Puercos; dazu Meeresschlamm mit Aktinien und grasartigen Gorgonien. Der Meeresgrund unter uns mußte völlig ausgeschabt sein. Im Augenblick da sich das Dreggnetz entleerte, machte sich die japanische Mannschaft ans Werk, behielt nur die Krabben und schmiß die Fische sogleich über Bord. Die See war von Fischleichen übersät. Möwen umschwärmten sie gierig. Fast alle Fische waren am Sterben, nur wenige dürften sich wieder erholt haben. Diese schauderhafte Vergeudung von Nahrungsmitteln war um so sonderbarer, als die Japaner ja sonst ob ihrer Sparsamkeit berühmt 416
sind. Die Shrimps wurden in Körbe geschaufelt und zum Schneidetisch geschafft. Das Dreggnetz war bereits wieder unten am Werk. Mit Erlaubnis des Kapitäns hatten wir uns einige Vertreter jeder beachtlichen Fischgattung ausgesucht. Ein paar Tage an Bord dieses Fischbaggers ergäbe eine lückenlose Kollektion der gesamten Lebewelt dieser Meeresregion. Die Mannschaft, unter der sich Mexikaner befanden, zeigte sich nunmehr sehr freundlich und brachte zutraulich ihre Kuriosa zum Vorschein: lichtrote Seepferdchen, leuchtende Seefächer, Riesenshrimps. Das wollten sie uns alles schenken. In regelmäßigen Abständen hörte man vom Oberdeck her einen hohen Singsang, der echoartig von der Kommandobrücke erwidert wurde. Auf schwankem Steg stand der Lotse, warf das Lot, zog es auf, las es ab, warf wieder aus, und jedesmal nach dem Ablesen sang er die Meerestiefe in japanischem Falsett, und der Steuermann gab in gleicher Tonlage die Bestätigung. Als wir auf dem Weg zur Kommandobrücke am Lotsen vorbeikamen, rief er: «Hello!» Wir blieben stehen, begannen mit ihm zu reden, bis wir merkten, daß sein ganzer angloamerikanischer Wortschatz aus «Hello» bestand. Der japanische Kapitän auf der Kommandobrücke konnte nicht einmal so viel Englisch, auch kein Spanisch, war aber sehr höflich; die Verständigung erfolgte mittels Dolmetsch, als welcher der mexikanische Vertreter vom «Fisch- und Wilddienst» fungierte, ein liebenswürdiger Herr, dessen Anwesenheit den japanischen Raubbau sanktionierte. Über die Tiere, um die es hier ging, war er nach 417
seiner eigenen Aussage wenig orientiert. Der Riesenshrimp sei ein Penaeus stylirostris, ein kleines Spezimen der Penaeus californicus. Die von uns untersuchten Penaei hatten ausgedehnte Eierstöcke, der Californicus hat männlich-weibliche Sukzession, d. h. alle Tiere werden als Weibchen geboren und nach Erreichung eines bestimmten Alters zu Männchen. Der Fisch- und Wild-Beamte hätte sich über sein gegenwärtiges Arbeitsfeld gern näher orientiert. Wir versprachen, wir würden ihm das ausgezeichnete Werk von Schmitt über die marinen ZehnfüßerKrustazeen Kaliforniens und möglichst noch andere Shrimps-Literatur besorgen. Persönlich waren die Leute auf dem Schiff riesig nett, nur leider verstrickt in ein immenses Zerstörungswerk. Gute Menschen in einer bösen Sache! Mit ihren vielen großen Booten, ihrem Fleiß, ihrer Tüchtigkeit, Energie und Intensität werden diese Japaner gar bald alles Krustengetier der Region ausrotten. Und zwar für immer. Es stimmt nicht, daß eine dermaßen mißhandelte Spezies wiederkommt. Das gestörte Gleichgewicht kann vielleicht einer neuen Spezies Übergewicht geben, aber das alte Verhältnis ist für immer dahin. Dazu kommt, daß diese Boote täglich Hunderte von Tonnen Fisch hinmorden und veraasen, von denen viele für die Volksernährung dringend notwendig wären. Vielleicht weiß das mexikanische Marineministerium nicht, wie hier eine starke, gute Lebensmittelquelle entleert wird. Es müßten schleunigst Bestimmungen erlassen werden, die den Fang einschränken; keinesfalls dürfte erlaubt sein, daß ein Gebiet so intensiv durchgekämmt wird. Das Potential dieser Region müßte sorgfältig untersucht und künftiger 418
Fang mit den noch vorhandenen Mengen in Einklang gebracht werden. Geschieht dies, so wird es hier unbegrenzt weiterhin Shrimps geben. Geschieht es nicht, so steht der mexikanischen Shrimp-Industrie ein baldiges Ende bevor. Wir in den U.S.A. haben so viel zur Zerstörung unserer Bodenschätze, Wälder, Ackerland, Fischerei, beigetragen, daß wir gewarnt sein sollten. Wir gingen unter jeder Regierung mit unsern natürlichen Hilfsquellen so leichtsinnig und verschwenderisch um, daß unser Land noch lange Zeit an den Wunden zu leiden hat, die ihm unsere Raffgier und Dummheit schlug. Hier an der Shrimp-Industrie erkennen wir einen Bruch, der sich durch Nationen, Ideologien, Organisationen und beispielsweise auch durch die Metro-Goldwyn-Mayer hindurchzieht. Die Einheiten innerhalb der Organismen sind gute Leute: bei so einer Film-Company glänzende Regisseure, Kameraleute, Schauspieler, Komparsen, Cutter, Architekten, Skriptgirls, aber das Produkt aus diesen guten Einheiten ist mitunter, vielleicht infolge darübergelagerter Sonderinteressen, verdorben, unrein, verkehrt oder blöd, jedenfalls niemals so gut wie die Einzelnen, die es machten. Auch der mexikanische Beamte und der japanische Kapitän sind gute Leute, aber infolge ihrer Verbindung mit einem Unternehmen, das von Kräften über oder hinter ihnen ehrlich oder schändlich dirigiert wird, begehen die Herren ein Verbrechen an der Natur, an der unmittelbaren Wohlfahrt Mexikos und an der ganzen menschlichen Spezies. Die Schiffsbesatzung half uns in unser Beiboot, reichte uns die Eimer voll Spezimina herunter und stieß das Boot 419
ab. Die Western Flyer, die inzwischen langsam gekreuzt hatte, nahm uns an Bord. Wir brachten von den Hunderten greifbarer Pompano-Spezimina etwa ein Dutzend. Sparky war fassungslos, daß wir nicht auch Fische zum Essen mitbrachten; das hatten wir völlig vergessen. Wir nehmen südlichen Kurs auf Estero de la Luna, einen Süßwassersee, dessen Grenze zum Meere hin auf unserer Karte punktiert ist; wir hoffen, dort eine reichhaltige Aestuarium-Fauna zu finden. Die taschenartige seichte Bucht zwischen Cabo Arco und Punta Lobos ist von einer tiefen Dünung aufgewühlt. Tiny bemerkt als erster eine Schar Manta-Rochen und schlägt eine Jagd vor. Es sind wahre Ungeheuer, messen zwischen den «Flügelspitzen» bis über drei Meter. Wir haben zwar nicht die geeigneten Jagdgeräte, gehen aber auf seinen Vorschlag ein und knüpfen an eine leichte Leine eine unserer Pfeil-Harpunen. An diesen Harpunen sitzt ein 12,5 cm langer Bronzepfeil in einer Nute am Schaft. Dadurch daß der Pfeil ins Fleisch eindringt, dreht er sich seitlich, verläßt die Nute, und der hölzerne Schaft schwimmt weg. Die Leine bleibt mit dem Pfeil und so mit dem getroffenen Tier verbunden. Die Riesenrochen kreuzen langsam. Ihre Flügelspitzen ragen über die Meeresoberfläche. Sparky begibt sich ins Krähennest. Von dort sieht er senkrecht ins Wasser und dirigiert den Steuermann. Achtzig Meter vor einem der Riesentiere drosselt Tex die Maschine. Das lebende Ziel liegt reglos. Tiny schwebt über der Reling, daß man meint, er fällt gleich über Bord. Er zielt und trifft. Das Monstrum zappelt nicht; es taucht nur unter. Die Leine 420
spannt sich bis zum äußersten, schwirrt wie eine Violinsaite, reißt und reist ab. Das ganze Schiff ist in Aufregung. Tex bringt ein 3,5 cm dickes Hanfseil, schlingt es in einen neuen Harpunenkopf. Tiny nimmt die Harpune und geht wieder in Stellung. Er ist so aufgeregt, daß er, ohne es zu merken, mit dem Fuß in den Hanfstrick geraten ist. Ich habe es zum Glück noch rechtzeitig gesehen und ihn darauf aufmerksam gemacht. Das Schiff nimmt Richtung auf ein zweites Monstrum. Tiny schleudert die Harpune – daneben. Gleich nochmal – und wieder daneben! Beim dritten Mal erreicht der Pfeil das Ziel; das Seil reißt und schwirrt ab. 180 Meter sind zum Teufel. Zum Teufel! Wir haben’s wieder mal falsch gemacht! Aber anderthalb Tonnen Fisch in Expreßzugsgeschwindigkeit sind keine Kleinigkeit. Wir hätten am Geschoß und der Leine ein Fäßchen überbord werfen sollen, damit sich der Fisch bis zur Erschöpfung dran abkämpft. Es fehlt eben am richtigen Handwerkszeug. Tiny bekommt einen Wutanfall. Nun bringt Tex ein nahezu unzerreißbares, 7 cm dickes Seil. Es fehlt bloß die Harpune. Wir haben keine mehr, aber Tex weiß Rat. Aus einem Kabeltau biegt er einen Dreizack zurecht. Ausgezeichnet! Aber das Ding ist so schwer, daß man es kaum heben kann. Tex will nun selber sein Glück versuchen. Es darf keinen Versager geben, sagt er, wartet, bis sich der Bug fast genau über einem der größten Rochen befindet und wirft sein Kabel mit Macht in die Tiefe, daß es nur so raucht! Das Ende des dicken Seils hat er vorher um den Poller beim Mast geschlungen. Dort spannt es sich nun, knirscht, zuckt und wird schlaff. 421
Als wir die Dreizack-Harpune heraufzogen, hing ein kurzes, dickes Stück Fleisch dran, sonst nichts. Tiny war verzweifelt. Ein Wind erhob sich und wellte das Meer. Von unsern Ungeheuern war nichts mehr zu sehen. Wir suchten Tiny zu trösten. «Was hättest du denn mit dem Fisch anfangen wollen?» fragte Ed. «Ich hätte ihn mitsamt der Harpune über den Lukendeckel gehängt», stieß Tiny hervor. «Na, und dann?» «Dann hätte ich ihn photographiert. Sonst glaubt mir’s in Monterey keiner.» Er grollte noch lange, weil wir kein Manta-Rochen-Jagdgerät mitgenommen hatten. Tex aber arbeitete bis tief in die Nacht mit Schleifstein und Feile an einer neuen extragroßen Pfeilharpune, die er mit seinem 7 cm dicken Kabel kombinieren will. «Das trägt seine 15 bis 20 Tonnen, und der Pfeil da, der reißt nicht aus!» Es zu beweisen, hatte er leider keine Gelegenheit, da wir keiner Rochenschule mehr begegneten. Spät abends ankerten wir südlich des Leuchtfeuers der Insel Lobos, etwa fünf Meilen südlich der Einfahrt von Estero de la Luna. Aus Furcht, in dem seichten Wasser zu stranden, wagte sich Tony Berry nicht näher heran, und diese Furcht war allgemein, ohne sich auf etwas bestimmtes zu beziehen oder sich erklären zu lassen. Es war, als sei ein Fremder an Bord, ein Wesen in dunklem Mantel. Man sah es nicht, man fühlte es nur. Die See war glasig, das Deck triefte von Feuchtigkeit. Alle waren gereizt und erschreckt – wieso, ließ sich nicht feststellen. Tex werkte an der Seekuh herum und brachte sie tadellos in Gang. Wir brauchten sie für eine längere Morgenfahrt der Küste ent422
lang. Während unseres dreitägigen Aufenthalts in Guaymas hatten wir die Gezeiten genau verfolgt. Um zur Ebbe im Aestuarium, dem Estero von Lobos, zu sein, mußten wir vor Tagesanbruch weiterfahren. Nachts hatte ich einen Alpdruck und schrie um Hilfe. Niemand konnte mehr schlafen, aber nur Ed und ich standen früh in der Dunkelheit auf, zogen uns leise an und frühstückten. Das Leuchtfeuer von Punta Lobos zuckte nördlich von uns. Das Deck war glitschig von Tau. Als wir ins Beiboot stiegen, rutschte ich aus und verzerrte mir das Bein. Die Hansensche Seekuh, sich selber treu, weigerte sich zu laufen. Wir mußten rudern. Das Ufer war kaum sichtbar. Wir richteten uns nach dem Leuchtfeuer. Faserige Nebelstreifen trieben über das Wasser, mehrten und verdichteten sich, und dann umhüllte uns dicker weißer Nebel. Kein Ufer, keine Western Flyer war sichtbar. Nun auch kein Leuchtfeuer mehr. Nach seinem letzten Aufblitzen suchten wir die Richtung zu bestimmen, in der die Dünung lief, um uns nach ihr zu orientieren. Von allem abgeschnitten ruderten wir im glasigen, unheilkündenden Wasser. Der Morgen dämmerte. Die Luft war stahlgrau, der Nebel so dicht, daß wir kaum vier Meter weit sehen konnten. Wir schnitten die Dünung in dem von uns berechneten Winkel, als plötzlich ein fernes Zischen wie von Millionen Schlangen an unser Ohr drang. «Der Cordonazo!» riefen wir beide wie aus einem Munde. Der Cordonazo ist ein jäher, heftiger Sturm, der ins Wasser hackt und schon mehr Schiffe zerstört hat als viele andere Unwetter. Einen Augenblick packte uns Angst, die gewaltige Angst, der Cordonazo werde im Nebel unsern Kahn hinaus in 423
den Golf treiben und dort vernichten. Das Zischen ward lauter. Fast hatte es uns erreicht. In Gefahr läuft einem ein kalter Schreck den Rücken hinauf; ein Brechreiz sitzt in der Kehle. Dann verschwindet das in einem dumpfen Zum-Teufel-auch!-Gefühl. Es ist wohl irgendein Geist-Drüsen-Körper-Prozeß, in den eine Art Schocktherapie eingreift. Jedenfalls war unsere Furcht nun verschwunden. Wir spannten die Sehnen, stemmten die Füße gegen die Bootsrippen, der ersten wilden Windstöße gewärtig. In diesem Moment fuhr unser Kahn sachte auf Grund, und da merkten wir: es war überhaupt kein Cordonazo, der so zischte, sondern die Wellchen, die eine vorspringende Sandbank kräftig liebkosten. Wir stiegen aus, zogen das Boot herauf, und dann setzten wir uns zunächst einmal in den Sand. Der Schreck steckte uns noch in den Knochen. Auch jene dumpfe Schläfrigkeit, die der Adrenalintrunkenheit folgt, war vorhanden. Während wir noch da saßen, hob sich der Nebel, und im Frühlicht erblickten wir die verankerte Western Flyer. Wir befanden uns eine Viertelmeile von der Stelle entfernt, wo wir hin wollten. Die Sonne brach durch den schwindenden Nebel. Sehr konsequent kam die Hansensche Seekuh, da es weder Gefahr noch besondere Arbeit gab, plötzlich in Gang und beförderte uns um den Sandberg-Eingang des großen Estero (Aestuarium) de la Luna. Dabei kam an Tag, warum die Meeresgrenze des Aestuars auf unserer Karte punktiert ist: es gibt keine Grenze. Der Horizont war von einer Luftspiegelung verzerrt, von Dunstdraperien umrahmt; die Berge schienen verdreht und die Büsche zu schweben. Bis man eine solche Küste 424
nicht Schritt für Schritt ausgemessen hat, weiß man nicht, was Tragbild, was Wirklichkeit ist. Hinter der Einfahrt zum Estero lag ein großes Kanu. Vier Indianer stiegen aus. Sie kamen vom nächtlichen Fischfang. Als wir sie ansprachen, brummten sie, ohne zu lächeln. In ihrem Fahrzeug hatten sie Fische so groß und dick, daß es zwei Mann brauchte, um einen zu tragen. Sie sahen aus wie prima Seebarben und mochten pro Stück 50 bis 90 Kilo wiegen. Die Indianer trugen ihren Fischzug durch eine Schneise im Gebüsch zu ihrem Lagerplatz, von dem wir nichts sahen als den aufsteigenden Rauch. Ihre Mienen waren gleichmäßig unfreundlich. Das hatten wir im und am Golf noch nicht erlebt. Nicht etwa, daß sie nur uns nicht mochten; sie konnten sich anscheinend auch gegenseitig nicht leiden. Brodelnd wich die Flut aus dem Estero. Vom biologischen Standpunkt betrachtet scheint das Gebiet ziemlich steril. Viel kleine Tiere, einige Spezies Großschnecken und zahlreiche kleine; bohrende Aktinien (Harenactis) mit durchsichtigen, fast farblosen Tentakeln lagen ausgebreitet im Sand und überall in röhrenförmigen Sandlöchern der blumenhafte Cerianthus. Millionen Sanddollars eines uns neuen glänzend lichtgrünen Typs zeigten längere Stacheln und hatten Löcher. Weiter drinnen im Estero holten wir uns eine Anzahl kleiner Herz-Seeigel; große fanden wir nur sehr wenige. Im Sand waren Höhlungen, doch von Bewohnern war nichts zu sehen, sei es, daß sie sehr rasch entkommen oder zu tief drinnen waren, doch selbst unter Wasser standen die Burgen offen, und um ihren Eingang herum lagen haufenweis Abfälle. Wir vermuten, daß die 425
Höhlen das Werk großer Krustentiere sind, vielleicht aus der Familie des Fiedlerkrebses. Von allen das allgemeinste Tier war der Enteropneust, ein «eichelzüngiger» Wurm, den wir auch an der San Lucas und der Angeles Bucht bemerkt hatten; dort lagen Hunderte ihrer Sandauswürfe herum. Wir waren davon überzeugt, daß wir trotz langem Herumgraben kein einziges Exemplar des vollständigen Wurms, der über 90 cm lang sein dürfte, erlangen würden. Ein EnteropneustSpezialist hat später unsere Annahme bestätigt und unser Versagen lebhaft bedauert. Tief im Estero nahmen wir etliche große, sehr schön gestreifte, der Tivela ähnliche Muscheln und eine beträchtliche Zahl flacher perliger. In Gastropoden-Gehäusen verschiedener Größe fanden wir Hunderte großer Einsiedlerkrebse, ferner einen langarmigen, sandgrabenden Ophiuren. Es stellte sich heraus, daß es ein Ophiophragmus war. Unser Bericht darüber ist der erste, seit der Däne Lütken vor hundert Jahren auf Grund nicaraguanischen Materials diese Spezies entdeckte. In dem unsicheren Sand war jedes Stück Holz, jede größere Muschelschale, jeder Stein mit Bernikeln überkrustet; sogar ein schwimmender Riesenkrebs trug eine Ladung Bernikel auf seinem Rücken. Während wir sammelten, hatte sich der Wind etwas verstärkt. Wir kreuzten im leicht gekräuselten seichten Wasser und suchten den Boden zu ergründen. Sandhaie schossen herum, aber die Bodenfläche war keusch, keineswegs so bevölkert, wie wir vorausgesetzt hatten. Die Luftspiegelungen wurden immer verrückter. Waren die vier unfreundlichen, mürrischen Indianer am Ende nur 426
davon verwirrt, daß in ihrer ungewissen Welt nichts, was eine halbe Meile entfernt ist, seine Größe und Gestalt bewahrt und alles flutet, zittert und in traumhafte Formen zerfließt …? Aber vielleicht ist es bei ihnen umgekehrt, und ihnen zeigen die Träume, im Gegensatz zu ihren Alltagsvisionen, eine harte, scharf konturierte, zuverlässige Welt. Beim Gezeitenwechsel kehrten wir zum Schiff zurück. Anscheinend hatte die morgendlich benebelte Schocktherapie auf die Hansensche Seekuh günstig gewirkt, denn sie lief einwandfrei. Aber die Flut kam so stark, daß wir der Kuh rudernd beistehen mußten; sonst wäre sie gegen die einströmenden Wasser nicht aufgekommen. Sogar mit vereinten Kräften brauchten wir Drei gute zwei Stunden, bis wir wieder bei der Western Flyer waren. Estero de la Luna war für unser aller Empfinden kein guter freundlicher Ort. Ein Übel lag in der Luft und übertrug sich auf uns. Der Abschied fiel keinem schwer. Es herrschte erst wieder Zufriedenheit, als wir in Fahrt waren. Auf nach Agiabampo zur letzten Sammelstation! Mit diesem Estero de la Luna, diesem «Mond-Aestuar», hatte es eine sonderbare Bewandtnis. Böse Träume, ein fatales Gefühl, kleine Unfälle … Ich möchte wissen, ob es andern Leuten hier ebenso ergangen ist. Orte, glaube ich, können Stimmungen erzeugen wie ein Bild, dessen Farben und Linien uns bannen. Treten nun zu Kolorit und Komposition mißtönend schrill Hitze, Nässe, Gerüche hinzu, so kann daraus ein quälender seelischer Druck entstehen, wie er im Estero auf uns lastete. Unterhalb Mon427
terey gibt es einen Küstenstrich, der jeden Sensitiven sonderbar angreift, und wenn er dann seine Empfindungen ausdrücken will, gebraucht er unwillkürlich musiktheoretische Ausdrücke. Möglich, daß hier unsere Nerven Wegweiser sind und auf Realitäten hindeuten, die sich rein intellektuell nicht erfassen lassen. In der Einleitung zu Boodins «A Realistic Universe» * heißt es: «Wenn wir die Realität wissenschaftlich ergründen wollen, müssen die Gesetze des Denkens die Gesetze der Dinge sein. Denken und Dinge haben den gleichen Mutterboden. Sie können letztendlich einander nicht widerstreiten.» Und auf dem Einheitsgebiet einer Hypothese oder im Leben (das das Einheitgebiet der Realität ist) ist Alles ein Zeiger, ein Hinweis, auf alles andere und dessen Index. Und das Wahre des Geistes und seine Beschaffenheit muß ein Hinweis (der Index, der Zeiger) auf die Dinge und ihre Beschaffenheit sein, wie sehr auch das eine dem andern, das Denken den Dingen, konträr sein mag. Diese zwei Index-Typen lassen sich mit den zwei Wellen-Typen vergleichen, denn Indices sind Symbole und so ursprünglich wie Wellen. Der erste Wellentyp ist die regelmäßige, die Cosinus-Welle (z. B. Licht-, Schall-, Gezeiten-Welle; alle Wellen, deren Quelle konstant und unvermischt ist). Diese Wellen können progressiv – zunehmende oder abnehmende – oder auch stationär sein, obzwar irgend eine Progression oder ein Wechsel in allen Schwingungen auffindbar ist. Alle Glieder einer Reihe sind durch die Torsion des ersten Gliedes ebenso beeinflußt wie durch die * New York 1931. 428
Hemmung oder Wandlung des letzten. Dieser Typ Wellen ist berechenbar, wie die Gezeiten. Der zweite Typ, der zunächst irreguläre, etwa die Kurve der Niederschlagsmenge einer bestimmten Gegend, ist abhängig von der Beobachtungszeit. Man kann nicht berechnen, ob und wieviel es morgen regnen wird, wohl aber kann man für die Zeitdauer von zehn Jahren eine bestimmte Regenmenge und die Jahreszeit ihres Niederschlages voraussagen. Und diesem zweiten irregulären Typ kommen wohl die geistigen Fühler und Zeiger, unsere Indices, nahe. Wir hatten an unserm Kambüsentisch viele Diskussionen, und jeder von uns war um Verständnis für die Denkart des andern bemüht. Es gibt ja verschiedene Arten des Aufnehmens. Bei der ersten liegt der Geist auf Lauer, erwartet Fußangeln, und darüber entgeht ihm das Eigentliche und Richtige. Bei der zweiten kommt es überhaupt zu keiner Rezeption des Problems; sie ist eine blinde Flucht entweder aus geistiger Trägheit, oder weil einem Art und Ergebnisse der Erörterung nicht in den Kram passen. Die dritte Einstellung ist die beste und zugleich leichteste. Der Geist ist entspannt und sagt: «Ich will es aufnehmen, ohne mich dabei gegen etwas zu verschanzen. Wenn ich es verstanden habe, werde ich es durchdenken, nachprüfen und Kritik üben.» Dies ist von allen Standpunkten, die ein Kritiker einnehmen kann, der feinste und seltenste. Der engherzigste und gemeinste von allen aber ist folgender: erschreckt oder empört über die Zumutung, über seinen beschränkten Horizont hinausdenken zu sollen, geht der Kritikus zum Angriff über, stürzt sich auf einen verkehrten Buchstaben, ein Lapsus linguae, kommt mit unbegriffenen 429
Begriffsbestimmungen, zieht angelesene Gegengründe an den Haaren herbei, und indem er sich wie ein ungezogenes Hündchen benimmt, reißt er das Ganze in Fetzen. Wir haben einen Krittler erlebt, der seiner Wut über eine ihm verhaßte Idee dadurch Luft machte, daß er seinen Verriß auf einen Flüchtigkeitsfehler aufbaute. Er gehörte zur Klasse jener argwöhnischen Egozentriker, die immer das Gefühl haben, sie müßten sich um jeden Preis vor etwas schützen, vor allem vor den Ideen anderer. Durch Torheit schützen sie sich vor vermeintlichen Torheiten. Ideen sind nicht gefährlich, solange sie keinen Nährboden finden in einer Erde, die tiefer ist als der Geist. Sogenannte Führer und Staatsmänner fürchten, die Idee des Kommunismus könne zu Aufständen führen, wo sie doch ohne den schwarzen Mutterboden der Unzufriedenheit, darin sie gedeiht, unwirksam bleibt. Der von Streiks beunruhigte Businessman neigt sich dem streiklosen Faschismus zu und denkt nicht daran, daß dieser auch ihn eliminieren würde. Eine Rebellennatur mag sich leidenschaftlich nach Befreiung vom kapitalistischen Joche sehnen, sie in einem Arbeiterstaat erwarten und übersieht dabei, daß ein solcher Staat auch frei von Rebellen ist. In jedem Fall ist die Idee nur gefährlich, wenn sie in Angst, Unruhe und Not Wurzel geschlagen hat. Dann aber ist sie keine Idee mehr, sondern wird Gefühlssache und Religion. Ja, und dann – wie meistens bei teleologischem Denken – zäumt man das Roß am Schwanz auf. Wie nahe war doch Lukrez, der die Teleologie seiner Zeit genossen widerlegt hat, unserer Auffassung! Wie nahe sind wir diesem einzigartigen Neo-Epikuräer! 430
«Nichts geht unter demnach von allem, was wir erkennen. Eines stellt die Natur aus dem andern her, und sie läßt nur Immer neues entstehen aus anderer Dinge Verwesung», singt er im Ersten Buch seines grandiosen Lehrgedichtes «De rerum natura», darin er die Natur der Dinge, der Menschen, des Weltalls und ziemlich alle Fragen berührt, die uns heute berühren, bis er im Fünften Buch fortfährt: «Weiter führt mich nunmehr die Folge unseres Denkens, Euch zu zeigen: die Welt ist selbst ein vergänglicher Körper, Und so wie sie entstand, so wird sie dereinst auch vergehen – Euch zu zeigen, wieso durch jene Verbindung des Urstoffs Erde und Himmel und Meere entstanden und Sonne und Sterne Und der wandelnde Mond. Auch will ich euch sagen von Tieren, Die unsre Erde erzeugte, und jenen, die wir uns ersannen, Und wie das Menschengeschlecht mit gegliederter tönender Rede Durch die Benennung der Dinge geselligem Leben sich auftat; 431
Wie sich alsbald in das menschliche Herz eine Furcht vor den Göttern Einschlich, so daß man die Götter als heilig verehret auf Erden. Auch erkläre ich euch den Lauf der Sonne, des Mondes Und wie allein die Natur sie durch ihre gebietende Kraft lenkt, Daß ihr nicht etwa wähnet, als ob nach eigenem Willen Sie zwischen Himmel und Erde alljährlich die Laufbahn erneuern, Nur um den Wuchs der Tiere und Pflanzen gefällig zu fördern, Oder vielleicht nach Weisung und Rat der Götter sich wälzen.» Am Mittwoch Nachmittag fuhren wir behutsam der Küste entlang, denn da gibt es Untiefen und Sandbänke, die zum Teil nicht auf der Karte verzeichnet sind. Die Bläue der tiefen Gewässer wandelt sich in den seichten, sandigen in ein Graugrün. Wir sahen einige Manta-Rochen, aber sie blieben nicht an der Oberfläche, und niemand war mehr auf Jagd erpicht. Tex holt nicht einmal seine großartige neue Harpune. Weilt unsere Mannschaft im Geist schon daheim …? Sie haben so vieles gesehen und erlebt, daß sie jetzt nur daran denken, was und wie sie alles in Monterey erzählen werden. Wir legen vor keiner Stadt mehr an. Agiabampo soll unser letzter Aufenthalt sein. Dann rasch nachhause! Die Küste ist flach, heiß und feucht, mit Man432
groven und Büschen bewachsen, das Meer, abgesehen von vereinzelten Haien und Rochen, steril. Am Sandboden keine Algen. Nach dem überschäumenden Leben, das am gegenüberliegenden Golfufer uns entgegenquoll, stimmt der Anblick uns traurig. Gegen Abend ankern wir fünf Meilen abseits der Küste in tieferem, sicherem Wasser. Am Morgen wollen wir uns mit dem Senkblei ins Aestuar Agiabampo loten.
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28 DONNERSTAG, 11. UND FREITAG, 12. APRIL
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m 10 Uhr nähern wir uns der Nordseite des Estero. Die Ebbe beginnt. Sandbänke tauchen auf. Tiny lotet vom Bug aus. Sparky beobachtet vom Krähennest aus die vor uns liegenden Untiefen. Näher als eine Meile will Kapitän Tony nicht an den Eingang zum Aestuar. Er läßt gern eine Sicherheitsmarge. Sobald der Anker unten ist, steigen alle außer ihm in das kleine Beiboot. Mehr gingen keinesfalls hinein. Wenn die See rauh wäre, könnten wir ersaufen. Sparky und Tiny rudern um die Wette, der eine rechts, der andere links. Ein komischer Zickzackkurs ist die Folge. Agiabampo ist eine große Lagune mit enger Einfahrt. Das Städtchen liegt zehn Meilen weiter westlich am Nordufer. Wir lassen es liegen. Die Einfahrt ist durch Sandbänke und Vorsprünge erschwert. Ein Boot mit einigem Tiefgang ließe sich ohne Lokalkenntnis kaum ungefährdet durchbringen. Wir fahren zum Nordufer. Mangrovendickicht, von schmalen, flußartigen Einschnitten unterbrochen. Auf den weiten Sandflächen wächst Aalgras, das erste, das uns auf der Reise begegnet. * *
University of California war es die echte nach Dr. Dawson von der Zostera marina. Man habe sie, bemerkt er, bisher noch nie so weit südlich festgestellt.
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Doch während sonst Aalgras animalisches Leben in Fülle beherbergt, war dieses keineswegs reich. Wir sahen die Vertiefungen, in denen der Giftfisch Botete liegt. Das Vorhandensein vieler Stachelrochen mahnte uns, selbst in unsern Gummistiefeln, vorsichtig zu gehen. Ein Schlag mit dem Schwanzdorn eines Stachelrochens durchbohrt einen Schuh mit Leichtigkeit. Die Sandbänke nahe der Einfahrt sind von der Strömung aufgespalten. Oben in der Ebbezone in schrägen, etwa 45 cm tiefen Höhlungen leben viele GrapsoidenKrebse (Ocypode occidentalis) und in verlassenen Muschelschalen der unvermeidliche Einsiedlerkrebs. Vielerlei große stieläugige Muscheln. Tiefer im Wasser zahlreiche Chionen und die blauscherigen Krebse, die hier offenbar gewandter und wilder als anderwärts sind. Ein Teil des Aalgrases war reif; wir nahmen es zum Bestimmen mit. Es hafteten Schneckeneier daran, doch die Schnecken, die sie gelegt hatten, sahen wir nicht; hingegen ein Prachtexemplar des Schuppenwurms Polydontes oculea in einer Art Cerianthus-Röhre. Wir hatten meist Windstille und konnten daher überall auch den Boden des Aestuars sehen. Auf den Sandinseln futterten Vogelscharen anscheinend besonders viel Röhrenwürmer, und am Uferrand jagten Austernfresser grabende Krebse, tauchten nach ihnen und schnappten sie vom Eingang ihrer Behausungen weg. Es war keine schwierige Sammelstation, diese letzte, und das Gesamtbild mit Ausnahme des Aalgrases für uns nicht neu. Zweifellos gab es noch manches, was wir nicht sahen; unsere Augen waren wohl vom vielen Sehen ermüdet. 435
Erst als das Niederwasser seinen tiefsten Stand erreichte, bestiegen wir unser Bootchen und fuhren zur Western Flyer zurück. Beim Sammeln in engmündigen Buchten begingen wir immer wieder den Fehler: wir fuhren gegen die Ebbe ein und gegen die Flut heraus, hatten also jedesmal schwer mit der Gezeitenströmung zu kämpfen. Obwohl uns die Seekuh ausnahmsweise beistand, mußten wir angestrengt rudern, um das freie Meer zu gewinnen. Die Nachtfahrt sollte uns quer über den Golf und der Heimat entgegen tragen. Topolobampo ließen wir auf sich und seiner etwaigen Malaria beruhen. Wie schön, wieder einmal bei Nacht zu fahren! Man schläft so gut zum Takt der Maschine. Tiny am Steuerrad schimpft über die maßlose Verschwendung, die hier die Japaner mit Fischen trieben. Bevor wir uns zur Ruhe begaben, besprachen wir diese Frage nach mehreren Richtungen. Dem Fischersmann Tiny genügt es nicht, daß ein Fischer Fische fängt; er muß wissen, daß sie Menschen zur Nahrung dienen. Die Vergeudung, die damit von den Japanern getrieben wurde, bedeutet ihm einen unwiderbringlichen Verlust. Richtig! Und doch wird der ganze verschleuderte Fischfang verzehrt. Jedes Teilchen, das den Vögeln entgeht, nehmen die Detritus-Fresser, Würmer und Holothurien, und was diese verfehlen, fällt Bakterien anheim. Der Fischersleute Verlust ist einer andern Gruppe Gewinn. Im Makrokosmos wird nichts verschwendet; die Waage bleibt im Gleichgewicht. Die Elemente, die sich im Fisch zu einem individualisierten physischen Organismus, einem Mikrokosmos, vollendeten, kehren unterschiedlos zurück in das große Reservoir Makrokosmos. Darin gibt 436
es nichts Überflüssiges, kann es nicht geben, und daher keine Zerstörung, nur wechselnde Formen von Energie. Jede Gruppe muß natürlich verschwenden: der Mensch tote Fische; die Seevögel abgebröckelte Teilchen; andere wieder Gräten und Schuppen. Aber das Ganze verschwendet nicht. Der große Organismus Leben nimmt und nutzt alles. Das weite Bild ist immer klar, und das schmalere, das Bild von Esser und Essen, dürfte wohl auch klar sein. Das starke Gleichgewicht des Lebens einer bestimmten Tierart beruht auf reichlichem Vorhandensein nährender Arten, so wie sie selbst eine ist. Nichts ist vergeudet. «Kein Stern ist verloren», sang einst Lukrez. In gewissem Sinn gibt es auch keine Überproduktion. Denn jegliches lebende Ding hat seinen Platz (a posteriori), und Gott (in nichtmystischem Sinn) sieht jeden Sperling fallen und jede Zelle verwertet. Die sogenannte Überproduktion, selbst bei unserer Massenfabrikation, ist nur angesichts des augenblicklichen Zustandes eine Überproduktion und kann in der Geschichte des Organismus sehr wohl innerhalb eines umfassenden Grundplans von Wechsel und Wiederholung eine Funktion ausüben. Manche Zellen freilich müssen kränkeln, damit andere sich entfalten, und vielleicht sind unsere Produktionsübersteigerungen heilsame Fieber, die Blutzufuhr zu kränkelnden Teilen bewirken. Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist sowohl ein Produkt aus Drehung und Druck als auch eine gradlinige Vorwärtsbewegung, und es ist kurios, daß wir zu keiner Zeit die leiseste Idee hatten, was eigentlich mit uns geschieht. Die gegenwärtigen Kriege, jeder Umschlag und Rückschlag der Ideologien, der Wechsel von 437
Kampf und nervöser Erwartung scheint eine bestimmte Richtung zu haben, und höchstwahrscheinlich sieht man in hundert Jahren, daß diese Richtung ganz anders war als wir dachten. Der zeitliche wie der räumliche Blick geht durch verkrümmte Linsen. Bei Menschen vollzieht sich der Wechselstrom AufbauZerfall, zumal historisch, mit großer Regelmäßigkeit, und der Grad positiver Bindung ist ein Maßstab für nachfolgenden Zerfall. Nichts ist so wild zügellos wie eine Horde gutgedrillter Soldaten, sobald ihre Disziplin gesprengt und beseitigt ist. Kein Verlorensein ist so wie das eines Mannes, dessen Lebenshaltung zerstört ward, kein Haß so glühend wie der Haß dessen, der sehr geliebt hat. Die historischen Wellenbewegungen ließen sich aufzeichnen und die harmonischen Kurven menschlichen Gruppenverhaltens beobachten, und daraus könnte ein Wissen um die Funktion von Krieg und Zerstörung erwachsen. Gar wenig weiß man von den Funktionen individuellen Schmerzes und Leidens. Nach ihrer tiefgreifenden Organisation können wir nur annehmen, daß sie notwendige Mechanismen des Fortlebens sind. Und so gut wie nichts ist von den Gruppenschmerzen der Spezies bekannt. Doch wäre es wohl nicht unvernünftig, auch in ihnen Erhaltungsmechanismen zu sehen, die das Fortbestehen der Spezies ermöglichen. Bedauerlich, daß man sogar gegen solche Untersuchungen hysterisch sentimentale Schranken errichtet! Warum fürchtet man sich davor, unsere Spezies als Spezies zu sehen und durchzudenken …? Fürchten wir uns vor dem, was dabei zum Vorschein käme? Daß unsere Eigenliebe dadurch verletzt 438
und das Ebenbild Gottes sich als Maske herausstellen würde …?! Dies dürfte sich nur zum Teil bewahrheiten. Sobald wir nicht mehr das Bild eines gütigen, bärtigen, zwischen Sternen waltenden Diktators hegen und pflegen, könnten wir uns als wahre Abbilder seines Reiches erkennen, unsere Augen als Nebelwelten, Universen in unsern Zellen. Das Sicherheitsventil aller Spekulation ist: Es könnte so sein. Solange dies «könnte», das oft wiederholte «vielleicht», «wohl» oder «mag sein» unseres Logbuchs im tiefsten beherzigt wird, sind all unsere Spekulationen davor bewahrt, in uns zu Dogmen zu erstarren und bleiben, was sie sein sollen: ein schöpferisches Fluid. So nimmt ein wertvoller Maler die geschauten Farben und Linien sondernd und sichtend durch Augen und Nervenstränge in sich auf, mischt sie mit seinem Erlebnis und Können, bevor sie durch seine Hand auf die Leinwand fluten, und läßt sein Gemälde sprechen: «Es könnte so sein». Vielleicht ist sein Kritiker nicht so weise bescheiden und aufrichtig, sondern behauptet: «So ist es nicht. Das Bild ist verdammt.» Könnte sich dieser Kritiker dazu aufschwingen zu sagen: «Für mich ist es nicht so, weil meine Sinne und mein Erlebnis mit denen des Malers vielleicht nicht identisch sind», so wäre er ein besserer Kritiker, so wie jener Maler darum besser ist, weil er sein Ich in der Farbschicht weiß. Edward Ricketts und ich suchen uns stets vor Augen zu halten, daß die Wirklichkeit, die wir beobachten, ein Stück Wir ist und die Spekulation unser Produkt. Und doch: Wenn irgendwie «die Gesetze des Denkens 439
die Gesetze der Dinge» sind, findet man selbst in der Tollheit den Wegweiser zur Wirklichkeit. Während des Restes der Nacht steuerten Tiny und Sparky. Den Kurs hatte der Kapitän ihnen angegeben. Vor Tagesanbruch umhüllte uns dichter Nebel. Tony stoppt die Maschine. Als es dämmert, hören Tiny und Sparky Brandung rauschen und melden es. Eilends verlassen wir unsere Kojen und steigen aufs Deckhaus. In dem sich verziehenden Nebel erblicken wir eine halbe Meile vor uns eine Insel. «Habt ihr den Kompaßkurs eingehalten, den ich euch gab?» fragt Tony, und Tiny versichert: «Jawohl, das haben wir!» Drauf Kapitän Tony: «Dann habt ihr eine großartige Insel entdeckt. Hier auf der Karte ist nämlich keine verzeichnet,» (lind und lieb:) «Ich gratuliere euch von Herzen. Wie wär’s, wir nennen die Insel: Isola Colletto Enea oder Sparky-Tiny? Aber vom Kurs», fuhr er honigsüß fort, «seid ihr verfluchten Hallunken um mindestens 50 Seemeilen abgewichen, daß ihrs nur wißt!» Die Inselentdecker sagten kein Wort, rühmten sich ihrer Tat auch in Monterey nicht. Ihre Entdeckung entpuppte sich als die Isla Espirítu Santo. Hätten die Zwei sie entdeckt, sie wären schwerreich geworden, aber leider hatten das ein paar Spanier schon Jahrhunderte früher getan. Vor uns lag die Bucht des heiligen Gabriel. Ihr Korallensand leuchtete strahlend weiß, ein Riff sprang verlokkend vor, am Ufer reizte uns ein Mangrovensumpf, und wir ruderten, ohne uns zu besinnen, an Land, um zum unwiderruflich letzten Male Sammelstation zu machen. 440
Rasch zogen wir am schneeweißen Strand unsere Kleider aus und warfen uns in die blauklare Flut. Die Tiere hier sind an die Weiße des Strandes assimiliert, die Krabben bleich, fast weiß, alle andern, sogar Seesterne, seltsam entfärbt. Streckenweise ist der blendende Sand von Geröll und Mangroven durchbrochen. Inmitten der Bucht erhob sich zum Wasserspiegel ein feiner, breiter grüner und brauner Korallenwipfel, an seinen großen Knollen Phataria und viele Seeigel mit Keulenstacheln. Dicht unterm weißen Sand Chione-Muscheln in Fülle. Aber wir fanden sie erst, als wir dahinterkamen, daß vor jeder Schale ein leichter Schleier von Algen aus dem Sande herauswächst, und konnten uns nun eine größere Anzahl nehmen. Allerdings leben dicht bei den Muschelbetten Herzigel mit verteufelten Stacheln (Lovenis cordiformis), auch sie unter Sand, und wer nach den Muscheln gräbt, wird von den Lovenien scheußlich gestochen. Zahlreiche Hachas mit assoziierten gebüschelten Tierkolonien. Wir fanden solitäre und gebüschelte Zoantharien der Ordnung Hexakorallier, wie wir sie schon in verschiedenen Varianten gesehen; zartgefärbte CallinectesKrebse und eine der langen, schlangenähnlichen Seegurken, Euapta godeffroyi, wie wir sie schon dem Puerto Escondito entnommen hatten. Am vorspringenden Riff Seeanemonen, Napfschnecken, viele Bernikel; am häufigsten der häutige Röhrenwurm Megalomma mushaensis mit violetten und braunen Tentakeln wie die der Serpuliden. Sobald man ihnen nahe kam, zog der Wurm sie zurück und war sandfarben. Die Region der Mangroven ist reich; ihre Wurzeln, ein441
gekeilt zwischen Felsgestein, bargen eine feine Schar Krabben und Aktinien. Am weitesten oben im Litoral leben die kräftigen, haarigen grapsoiden Krebse Geograpsus und Goniopsis. Sie sind sehr geschwind, aktiv; in Gefangenschaft kämpfen sie wild und enden in Autotomie. Ein Xanthodius hebes, ein Panopeus-ähnlicher Krebs, bewegte sich langsam und wie im Traum. O die vielen Porzellankrebse und schnappenden Shrimps! Bernikel am Riff und den Mangrovenwurzeln! Zwei neue Ophiuren! Ein großer Seehase, eine Mischung von Schnecke und Muschel … Ein reichgesegneter Tag, dieser letzte am Cortez-Meer! Die Sonne brannte, der Strand war herrlich. Das Sammeln hatte uns rechtschaffen müde gemacht. Wir schwammen, spielten und fühlten uns abgesehen von den Moskitostichen sehr wohl. Wenn jetzt die Maschine zu laufen beginnt, hält sie nicht mehr an, bis wir an der Grenze in San Diego sind. Wir zaudern. Sollen wir bleiben? Ja oder Nein! Die Wagschalen stehen im Gleichgewicht. Schließlich geben wir uns einen Ruck, nehmen die Sammelgläser, die Tuben, die Stemmeisen, rudern langsam zur Western Flyer, aber immer wieder läßt sich einer ins Wasser gleiten; es ist zu schön … Selbst unser Maschinist und der Kapitän, die auf Heimkehr gedrängt hatten – jetzt, da es so weit ist, zögern sie. Wir haben gemeinsam Wesen und Sein des Cortez-Meeres gefühlt und haben vereint mit ihm ein Neues daraus bewirkt. Es besteht aus dem Golf und uns. Bekümmerten Herzens setzt Tex die Maschine in Gang. Zum letzten Mal wird der Anker gelichtet. 442
Den ganzen Nachmittag über wird gepackt, werden Hunderte Tuben verkorkt, in Papier gewickelt, die Deckel der Krüge fest zugeschraubt, die Gerätschaften verstaut, die Beiboote hochgezogen, der Lukendeckel zugeklappt, die Bücherkiste mit Persenning zugedeckt, und zum letzten Mal packt mich das Verlangen, die Hansensche Seekuh über Bord zu schmeißen. Wir nähern uns dem Kap. Schwertfische springen im Abendsonnenschein. Wie Blinkzeichen blitzen sie in der Ferne. Glückselig trommelt die Maschine über der nächtlichen, ruhigen See. Am Morgen liegt die Spitze der niederkalifornischen Halbinsel zu unserer Rechten und der Golf hinter uns. Vor uns der Pazifik ist von drohenden Wolken verhängt. Die Natur hat sich einen altmodischen Bühneneffekt geleistet. Als wir gegenüber der äußersten Landspitze waren, erfolgte ein Donnerschlag. Auf dies Stichwort stieß unser Bug in die mächtige Dünung des Großen Ozeans. Erneut blies uns der Wind ins Gesicht. Das Wasser ward grau.
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29 SAMSTAG, 13. UND SONNTAG, 14. APRIL
N
ach Mitternacht um drei (Pazifik-Zeit) passierten wir das Leuchtfeuer am Falschen Kap und nahmen Kurs nach Norden. Grau drohte der Himmel. Der Wind nahm zu. Erloschen war uns der Golf, der Sonne und Spiel, Denken und Schaffen gewesen. Die Welt des Großen Ozeans hatte uns überfallen und hielt uns. Wiederum war mir, als sei ein Unsichtbarer an Bord, eine Symbolgestalt – für den Schiffsmann ein Geist, eine Vorahnung, ein Gefühl in Menschengestalt. Wir konnten noch nicht den Mikrokosmos des Golfes mit dem Makrokosmos des Weltmeers vereinbaren. Die grauen Wogen kamen angerollt. Die Western Flyer stieß mit der Nase hinein. Weiße Gischt spritzte über uns So verging der Samstag; eine neue Nacht nahte. Immer rauher wurde die See, und wie ein gereiztes Roß stürzte das Schiff sich bäumend hinein. Weder auf noch unter Deck konnte man einen Schritt tun, ohne sich festzuhalten. In der Kambüse ging alles drunter und drüber. Eine Kanne Olivenöl war vor ihrem Standort gesprungen und hatte den Fußboden glitschig gemacht. Auf dem Herd rutschte der Kaffeetopf zwischen den eisernen Randleisten herum. Über der wogender See flüchteten die Vögel landein, suchten im Zickzack flatternd den Schutz der Wellentäler. Der Kapitän am Steuerrad war wohl am besten dran. 444
Er und das Steuer hielten einander auf dem abschüssigen Deck. Er war dem Schiff, dem wachsenden Sturme am nächsten, hielt stand und nahm hin. Seine Hand war der Kurs. Was waren die Form, die Töne, die Größe und Farben dieser kleinen Expedition? Neu waren sie und wir auf subtile Art mit Strand, Sand und Riff, mit kleinen und großen Lebewesen verbunden, mit Brandung und heißen, faulen Lagunen. Die Fahrt hatte Tönung, Umfang und Maß, war ein Ding, dessen Grenzen einander durchdrangen und über sich selber hinaus in Räume und Zeiten reichten, die mehr waren als Buchten und Golf, mehr als unser aller Leben. Unsere Hände wälzten Steine, und wir sahen ein Leben, das wie das unsre war. Auf dem Deckhaus klammerten wir uns an die Reling; der stumpfe Schiffsschnabel kämpfte sich durch die nassen Berge, und die Wasser schlugen uns ins Gesicht. Etwas schöpferisches vollzog sich, ein Sturm in unsern engen Teekesselköpfen! Aber kochendes Wasser entwickelt Dämpfe, im Schälchen so gut wie in einer Dampfturbine; es ist derselbe Stoff, schwach und verteilt oder explosiv je nach Bedarf. Unser Ausflug zum Golf war wie ein fester Kern, von dem aus Gedankenfäden in jede erreichbare Wirklichkeit und Unwirklichkeit zogen, war eine Realität, die bis in unser Zentralnervensystem reicht. Die Gesetze des Denkens schienen tatsächlich eins mit den Gesetzen der Dinge. Das Schiff tauchte und bäumte sich; strudelnde Bäche rannen die Speigatten hinab, und unten im Schiffsbauch waren kleine tote Tierchen zu Tausenden. Aber wir sahen 445
in ihnen keine Siegesbeute, die wir aus den Ebbe-Lachen des Cortez-Meeres davontrugen, sondern eher Zeichnungen, Skizzen, unvollständige, unvollkommene, von dem, wie es im Golfe war. Das wahre Bild dessen, wie die Welt und wie wir dort waren, stand in uns von Sonne leuchtend, von Meerwasser triefend, bald blau, bald verbrannt und fern von suchendem Denken. Es ging nicht um Dienst an der Wissenschaft, nicht um Benennung unbekannter Arten, sondern um – Herrgott, es hat uns Freude gemacht! Wir haben es geliebt … die rotbraunen Indianer und die Gärten der See und das Bier und die Arbeit war alles Ein Ding, und wir waren dies Eine auch. Das Schiff stieß durch die hohen Wogen auf Cedros zu. Der Sturm blies die Schaumkronen weg. Die Western Flyer, gleich einer mächtigen Orgel, empfing mit dem langen schwingenden Stahldraht vom Bugspriet zur Mastspitze den Wind und sang ihren tiefsten Ton in das Brausen.
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ANHANG
Erläuterungen
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Index
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Erläuterungen
Aalgrass, Meerwasserriemen: Zostera marina. Aboral, obere Fläche eines Seesterns oder Seeigels, im Gegensatz zur unteren, oralen Fläche, an der sich der Mund befindet. Acre, Flächenmaß, 1 acre = 40, 4678 a. Adlerrochen, bis 200 kg schwerer Rochen (s. d.) mit gefährlichem Schwanzstachel. Adrenalin, Hormon des Nebennierenmarkes. Wirkungen u. a. Verengung der Gefäße, Steigerung des Blutdrucks. Aestuar(ium), spanisch: Estero, englisch: Estuary, französisch: Estuaire. Fluß, See oder Süßwasserbucht, in die vom Meer her das Hochwasser der Gezeiten eindringt. Caesar, Tacitus, Plinius erwähnen die Ästuarien der Loire, der Scheide und in Ulyrien. Aggassiz Alexandre, geboren in Neuchâtel, 17. XII. 1835, gestorben 22. II. 1910 in Cambridge, Massachusetts. Forschungsreisender, Gründer der zoologischen Station Newport, Rhode Island. Sein Vater: Aggassiz Louis, geb. 1807 in Motier (Schweiz), gest. 1873 in Cambridge, Mass. – Naturforscher, Gründer des Museum of Comparative Zoology der Harvard University. Aguardiente, Aquavit, Branntwein. Aktinien, Seerosen, Seeanemonen, Unterordnung der Hexakorallier (s. d.). Einzeltiere von beachtlicher 451
Größe. Mehrere Arten leben in Symbiose mit Einsiedlerkrebsen (s. d.) auf deren Schneckenhäusern. Albacore, Bezeichnung für verschiedene Thynnus-Spezies. Algen, Klasse der niederen Pflanzen mit ein- oder mehrzelligen Individuen. Zu den Algen gehört auch der Tang (Braunalge). Allergie, Überempfindlichkeit. Allergische Krankheiten: Asthma, Hautausschläge, Heufieber, Nesselsucht, Migräne u. a. Amphioxus (branchiostoma lanceolatum), Lanzettfischchen, mit den Wirbeltieren verwandt, hat keine Wirbelsäule, sondern nur einen unter dem Rückenmark liegenden Stab von knorpelähnlicher Festigkeit; ohne Schädel, ohne paarige Flossen. Amphipoden, Flohkrebse. Kleine seitlich zusammengepreßte Krustentiere. Anastomose, Verbindung eines Systems von Linien, Zweigen, Strömen. Anemonen, siehe Aktinien. Anthropomorphismus, vermenschlichte Vorstellungen von Gott, Tieren oder Naturgegenständen. Anthropoden, Gliederfüßer, Stamm der Wirbellosen, umfaßt Krustentiere, Spinnentiere, Tausendfüßer, Insekten. Assoziation, hier: das Zusammenleben von Tieren mit gleichen oder sich ergänzenden öcologischen (s. d.) Lebensbedingungen. Astrophysik untersucht den chemischen und physikalischen Zustand der kosmischen Materie und die Entwicklung der Himmelskörper. 452
Ätiologie, Lehre von den Ursachen; in der Medizinlehre: von den Krankheitsursachen. Atmungsbaum, das Atmungsorgan der Holothurien (s. d.). Zwei baumförmig verästelte Schläuche, die als Ausstülpungen des Enddarms in die Leibeshöhle ragen und mit Meerwasser gefüllt sind. Atok bezeichnet die geschlechtliche Unreife der Segmente von Polychaeten (s. d.). Autopsie, Leichenöffnung, Leichenbeschau. Autonomie, Selbstverstümmelung. Avalon, sagenumwobene Halbinsel im Südosten der Insel Neufundland.
Bahia, span.: Bucht. Balistiden, Hornfische, Abteilung der Korallenfische. Bandanna, großes, buntes, weißgeflecktes Halstuch. Barracuda, Sphyraena, Pfeilhecht, bis 1 m lang. Bêche-de-mer, Trepang, eßbare Seewalze. Ihre wirtschaftliche Bedeutung als Genußmittel in China ist in «Seine Majestät O’Keefe» von Klingman und Green veranschaulicht. (Anm.d. Übers.). Bernikel, Entenmuschel, Seeklette; kleines marines Krustentier, das sich an Steinen, Schiffen, Menschen festsetzt. Bertha, Nerthus, frühgermanische Erdgöttin. Bimini, Wunderinsel der indianischen Sage, wo ewige Jugend und Frieden herrscht. Zwei kleine Koralleninseln und eine Dichtung Heinrich Heines sind nach ihr benannt. 453
Blasenschnecke, Physa, im Wasser lebende Lungenschnecke. Blasentang, siehe: Tang. Bonito, Sarda chiliensis; Stachelflosser aus der Familie der Makrelen. Brackwasser, Gemisch von Süß- und Salzwasser in Flußmündungen, s.: Aestuarium. Brâncusi, Constantin, geb. 1876 in Pestisani. Rumänischer Bildhauer in Paris. Bryozoen, Moostierchen, auch Blumenpolypen genannt; aus millimetergroßen Einzeltierchen bestehende Kolonien, die an Pflanzen, Pfählen, Steinen haften und die Form von Blumen, Moos oder Knollen haben. Bullterrier, Kreuzung von Bulldogge und Terrier. Bunodiden, Seeanemonenart (s. d.) mit warziger oder unebener Körperhülle.
Cabo, spanisch: Kap. Cerianthus, Gattung der Ceriantharia, der «Zylinderrosen», zur Klasse der Korallentiere gehörend, s.a.: Hexakorallier. Cetaceen (Ceta, lat.: der Walfisch), Ordnung der Wale. Charta, Schiffsmietvertrag; chartern, ein Schiff mieten. Chiton, Gattung der Käferschnecken, gehört zu den Mollusken. Coelenteraten, Hohltiere; wirbellose radialsymmetrische Vielzeller, zu denen Polypen, Medusen, Korallen und Rippenquallen gehören. Cojon, Hode; im Plural (pars pro toto) Hoden mit Penis. 454
Coolidge Calvin, 1872–1933, republikanischer Präsident der U.S.A. 1923/29. Dali Salvador, geb. 1904 in Figueras. Spanisch-französischer Maler. In seinem psychologisch pointierten Surrealismus starke Hinneigung zum Magischen. Dehiszenz, sprengende Entladung, besonders von Sperma und Eiern. Delphin, Wal-Säugetier, schnellt sich durch kräftige Schwanzschläge aus dem Wasser; einer seiner Vertreter: der kleine Tümmler. Detritus, breiig zerfallene Gewebemasse; in Wasser schwimmende halbzersetzte Pflanzenteile. Dualismus, Zweiheit; Annahme eines guten und bösen Prinzips.
Echonodermen, Stachelhäuter. Echinoiden, Seeigel, Stachelhäuter mit armlosem kugeligem Körper. Etwa 500 lebende und 2500 fossile Arten. Echiuroiden, wurmartig, den Sipunculiden verwandt. – Körper sackartig, meist dünnhäutig, oft mit löffelförmigem Rüssel. Eddington Arthur Stanley, 1882 bis 1946, Astronom. Werke u. a.: «Sterne und Atome», «Weltbild der Physik». Einsiedlerkrebs, Eremit; Meereskrebs, dessen weicher Hinterleib in einer Schneckenschale steckt. Emerson Ralph Waldo, 1803–1882, amerikanischer Dichter und Philosoph. 455
Enteropneusten (d. h. Darm-Atmer), Eichelwürmer; Meertiere, die äußerlich den Würmern gleichen. Ihr Körper besteht aus Eichel, Kragen und Rumpf. Der Vorderdarm besitzt ähnlich wie bei Fischen Kiemen. Epsomsalz, Bittersalz, Epsomit. Epstein Jacob, geb. 1880, englischer Bildhauer. Hauptwerke in London, Chicago, New York und in Paris das Denkmal Oscar Wildes auf dem Père-Lachaise. Erbsenkrabbe, kleiner Krebs der Gattung Pinnotheres, bewohnt kommensal (s. d.) die Schalen von Austern und andern Muscheln. Erdnusswurm, siehe: Sipunculiden. Estero, siehe: Aestuarium. Euapta godeffroyi, siehe: Riesen-Synaptidc.
Faden, Meerestiefenmaß, 1 Faden = 1,829 m. Fauna, die Tierwelt. Fiedlerkrebs, kleiner Krebs der Ordnung Gelasimus, hat seinen Namen wegen der Schnelligkeit, mit der er seine «Ellenbogen» bewegt.
Gallone, Gallon, englisch-amerikanisches Hohlmaß. 1 Gallone = 4,51 l. Garbanza-Muschel. (Garbanzo, spanische Hülsenfrucht, Art: Cicer arietinum), Benennung der Muschel wegen der Ähnlichkeit. Gastropoden, Schnecken. Zu dieser Gruppe gehören die marinen Kiemenschnecken und die Lungenschnecken. 456
Gonaden, Geschlechts- oder Keimdrüsen. Gorgonia, Seefächer, Venusfächer; koloniebildende Gattung der Hornkorallen.
Hacha, niederkalifornischer Name der großen miesmuschelförmigen Steckmuschel Pinna. Harvard, 1636 gegründete älteste amerikanische Universität in Cambridge, Mass. Herzseeigel, Herzigel, Bezeichnung für Lovenia cordiformia u. a. Hexakorallier, Unterklasse der Korallentiere (s. d.). Sechsstrahlige Korallen mit 6 Magenkammern und 6 gefiederten Tentakeln. Zur gleichen Gruppe gehören: Aktinien (s. d.), Krustenanemonen (Zoantharia) und Ceriantharia. Hexenfisch, Myxine glutinosa, auch Schleimaal genannt. Highball, Whisky mit Wasser. Holothurien, Seegurken oder Seewaken, Klasse der Stachelhäuter. Vertreter z. B. die Bêche-de-mer (s. d.). Hopkins Marine Station, naturwissenschaftliche Zweigstelle der Stanford University, bes. für Seetierforschung. Huitzilopochtli, mexikanischer Kriegs- und Schutzgott. Hydoriden, Unterabteilung der Hydrozoen (s. d.), meist in buschförmigen Kolonien. Hydrozoen, Klasse der Nesseltiere (Coelenteraten, s. d.), vielfach koloniebildend. Hygroskopisch sind Stoffe, die Feuchtigkeit anziehen.
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Inka, früh-indianische peruanische Dynastie vom 12. bis ins 16. Jahrhundert. Ihr Reich reichte von Ekuador bis Mittelchile. Integration, Einordnung von Gliedern in ein Ganzes. Invertebraten, Evertebrata, wirbellose Tiere. Isopoden, Asseln; Ordnung der Ringelkrebse. Isothermen, Verbindungslinien gleicher Temperaturen.
Kakerlaken, Schaben; lichtscheue Insekten mit flachem Körper. Kambrium, die älteste geologische Formation des Paläozoikum. Katalysatoren, chemische Stoffe, die durch ihre Anwesenheit den Ablauf chemischer Reaktionen beschleunigen oder verlangsamen, selbst aber unverändert bleiben. Kommensale (oder Kommensal-) Tiere nennen wir solche Arten, die mit, in oder auf einem andern Tier leben, wobei beide die Nahrung teilen. Kommensalismus, Tischgemeinschaft. Konchyliologie, Lehre von den Weichtieren. Korallentiere, koloniebildende Coelenteraten (s. d.) mit Horn- oder Kalkskelett. Die Kalkskelette bilden oft Gesteinsmassen (Korallenriffe). Krähennest, Mastkorb zum Ausguck. Krustanzen, Krustentiere, fast ausschließlich im Wasser lebende Gliederfüßer mit Hautpanzer aus Chitin, bei höheren Formen mit Kalkeinlagerung. Kleinkrustazeen: Ruder-, Ranken- und Blattfüßer, Wasserflöhe, 458
Muschelkrebse. – Höhere Krustazeen: Asseln, Flohund zehnfüßige Krebse, darunter Einsiedlerkrebs, Languste, Hummer, Krabben u. a.
Layamon, Leutpriester zu Ernley am Severn in Worcester im 13. Jahrh. Schrieb die erste englische Reimchronik, „The Brute“, in der die Artussage enthalten ist. Legua, tropische Baumeidechse mit gezacktem Rückenkamm. Linné, Carl v., schwedischer Naturforscher, 1707–78. Li Tai Pe (auch Li Taipe, Li Po, Li Poa, Li Pai), chinesischer Klassiker, Lyriker, 699–762. Litoral, Uferzone, Brandungsbereich, Lebensbereich im Ebbegebiet. Logbuch, Schiffsjournal. Lukrez (Titus Lucretius Carus) in Rom um 98–55 vor Chr. Sein umfassendes philosophisches, naturkundliches Lehrgedicht, «De rerum natura» (von der Natur der Dinge), zeigt das Weltbild Epikurs, die heitere, illusionslose Seelenruhe als höchstes menschliches Gut und Ziel. Lyssenko Trofim Denissowitsch, russischer Naturforscher, Agrobiologe. Arbeiten über Fragen der Genetik, der Züchtung und des Samenbaus.
Machete, starkes Messer. Makrele, bunter Stachelflosser, mariner Knochenfisch, nahverwandt: Goldmakrele, Thunfisch. Manta, Glattrochenart. 459
Mantilla, spanischer Spitzenschleier um Kopf und Schultern. Mexikanischer Sierra, siehe: Sierra. Monterey, Stadt an der Monterey Bay in Kalifornien. – Stadt, Menschen, Atmosphäre und Landschaft sind von John Steinbeck in seinen Büchern, bes. «Tortilla Flat», «Der Rote Pony» und «Cannery Row», geschildert. (Anm. d. Übers.) Moostierchen, siehe: Bryozoen. Moray, wilder Meeraal. Mürbsterne (brittle-stars), Bezeichnung für Schlangensterne, (s. d.). Murex, Stachelschnecke mit starken Stacheln. Mutation, Auftreten einer neuen Eigenschaft im Leben einer Spezies auf Grund einer sprunghaften Änderung der Erbmasse: einer Eigenschaft, die sich auf die Nachkommen vererbt. Mysiden, kleine Krustazeen (s. d.), wegen ihrer Beutelplatten, darin sie ihre Jungen entwickeln, auch Opossum-Shrimps genannt.
Nayarit, mexikanische Gebirgskette (Sierra de Nayarit) am Pazifik südlich des Wendekreises des Krebses zwischen 106 und 104° westl. Länge. Nubibranchien, Nacktkiemer, marine Unterordnung der Schnecken; ohne Mantel und Schale, häufig farbenprächtig und anmutig.
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Octocpus, Achtfuß, Krake, achtarmiger Tintenfisch. Öcologie (von grch. Oikos, das Haus), engl.:«Ecology», ein Zweig der Biologie. Das Wort wurde 1869 von Ernst Haeckel geprägt und bezeichnet die Lehre von den Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt, zur unbelebten, wie zur künstlich umgestalteten Natur und zu den Mitbewohnern des gleichen Gebiets. – Die Öcologie der Waldtiere wird von James Aldridge in «Der Trapper», jene der Bienen von Gerhard Gesemann in «Die glücklichen Augen» (Kap. 32 «Die Wildbienen») veranschaulicht. (Anm. d. Übers.) Ophiuren, Schlangensterne, Klasse der Stachelhäuter.
Palolowurm, Eunice viridis, zur Ordnung der Polychäten (s. d.) gehöriger Borstenwurm. Vom geschlechtsreifen Tier löst sich das Hinterende mit den Geschlechtsprodukten ab, bewegt sich selbständig im Wasser und erscheint im Oktober/November jeweils am Vortag des letzten Mondviertels an der Küste. Pelagisch heißen Pflanzen und Tiere, die im offenen Wasser leben; hier: solche, die nahe an (oder auf) der Oberfläche schwimmen. Persenning, Schutzhülle aus wasserdichtem Segeltuch. Phthirius Pubis (von grch. «phtheir», die Laus), ein Seefisch, der sich an andere ansaugt. «Meerlaus». Von Plinius «pediculus marinus» (Meerfüßchen) genannt. Plankton, die im Wasser freischwebenden pflanzlichen und tierischen Kleinlebewesen, Nahrung für Wassertiere. Plinius, Gajus Plinius Secundus («der Ältere»), 461
28–79 n. Chr. Seine «Naturgeschichte» ist eine Stoffsammlung aller Wissensgebiete. Plumularia, federförmige Hydroidenart. Polarisiertes Licht: Licht, dessen Wellen nur in einer Ebene, senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung, schwingen. Polychäten, Vielborster, eine Ordnung der Chätopoden (Borstenwürmer). Polykladen, marine Strudelwürmer, deren Darmtrakt ausgedehnte Verzweigungen aufweist. Pompano, mehrdeutige Bezeichnung, in Kalifornien besonders für den wohlschmeckenden Stromateus simillimus. Porzellankrebse, Porcellanidae; so genannt nach der auffälligen Musterung des Rückenschilds typischer Exemplare. Post hoc ergo propter hoc: «Danach, also deswegen». Potentiell: seiner Kraft, seinen Möglichkeiten, seinem Wirkungsvermögen nach. Protozoen, Urtiere, Einzeller. Puerco Marino, Braunfisch, Delphinart. Puget-Sund, Meeresbucht zwischen Seattle und Olympia im Staate Washington. Pulmonaten, Schnecken mit Lungenatmung. Pyha, chilenische Lungenschnecke.
Quant, kleinste Einheit physikalischer Größen. Quartär, die auf die Tertiärzeit folgende letzte geologische Formation, umfaßt etwa die letzte Million Jahre der Erdgeschichte. 462
Rancheria, Feldhütte der mexikanischen Viehweider, ihr Wohnsitz. Rasiermesser-Muscheln, „Razor clams“, die 1869 von Wood so genannten Solen ensis und Solen siligua. Rebozo, mexikanisches Umschlagetuch. Riesen-Synapynaptiden, Euapta godeffroyi, wurmartige Seegurkenart, siehe: Holothurien. Rochen, dem Haifisch verwandter Knorpelfisch. Wesentliches Merkmal: starke Abplattung des Leibes.
Sargassum, Gattung der Braunalgen. Siehe: Algen. Schlangensterne, Ophiuren, Klasse der Stachelhäuter. Schnapper, großer roter Seefisch, eßbar. Schwertfisch, Xiphüda, Knochenfisch aus der UnterOrdnung der Stachelflosser, mit schwertförmigem Fortsatz am Oberkiefer. Scudo, altitalienische Münze, dem Taler entsprechend. Seeanemone, siehe: Aktinien. Seegurke, siehe: Holothurien. Seehase, eine bis 20 cm lange Schnecke mit nur sehr kleiner Schale. Siehe: Tektibranchien. Seeigel, Echinus, kugeliger Stachelhäuter mit Kalkplatten, Stacheln und Saugfüßchen. Seekuh, Sirene, zu den Walen gehörendes Säugetier mit flossenförmigen Hintergliedmaßen. Seerosen der Fauna: mehrere Aktinienarten (s. d.). Seetang, Braunalgen der Gattungen Fucus, Sargassum, Macrocystis, in weiterem Sinn auch andere Meeralgen. Shrimps, Bezeichnung für langbeinige, schlanke marine 463
Krustazeen (Art Crangon und verwandte Typen, bes. Crangon vulgaris, der gemeine Shrimp). Shrimps im weiteren Sinn verschiedene Krustentiere u. a. Mysiden, Gammariden, Krabben, Crevettes. Sierra mexicana, Makrelenart, Beschreibung bes. Logbuch, Kap. 15, letzter Absatz. Siphonophoren, Unterabteilung der Hydrozoen (s. d.), häufig girlandenförmige Tierstöcke. S. J., Societas Jesu, der Jesuitenorden. Speigatt, rundes Loch in der Schiffswand zum Ablaufen des Wassers. Spezies, Art; eine Gruppe von Tieren oder Pflanzen, die in vielen Merkmalen übereinstimmen und sich miteinander geschlechtlich fortpflanzen können. Ähnliche Arten werden zu Gattungen, diese zu Familien zusammengefaßt. Stanford, s. Hopkins. Swinburne Algernon Charles, 1837–1909, englischer Dichter pantheistischer Naturgefühle. Hauptwerk: «Gesänge der Sturmfluten». Synapse, bei Aristoteles und den Mathematikern: der Berührungspunkt.
Tacitus Cornelius, um 55 bis 120 nach Chr. Römischer Historiker. Werke: Historien, Annalen, Germania. Tang, Braunalge, treibt losgerissen in großen Tangbänken auf dem Meer, z. B. Blasentang und Sägetang. Taxonomie, Zweig der Biologie, befaßt sich mit der Klas464
sifizierung von Tieren und Pflanzen nach ihrer natürlichen Verwandtschaft sowie mit den Regeln, die für die Namengebung maßgebend sind. Tektibranchien, marine Gruppe der Gastropoden, mit überdeckter Schale. Zu ihr gehört u. a. der Seehase (s. d.). Teleologie, Lehre von der Zweckmäßigkeit in der Natur, erklärt das Weltgeschehen aus seinen Zielen und Zwecken. Tensor, von der Richtung abhängige physikalisch-mathematische Größe. Tentakel, Fühler, bei Korallenpolypen die Fangfäden. Terebelliden, marine Ringelwürmer, die sich aus Schleim und Sand eine Wohnröhre bauen, meist an der Unterseite von Steinen oder Felsen. Thigmotropismus, ein angeborenes Bestreben, das die Berührung mit einer festen, höhlenartigen Hülle sucht. Thunfisch, siehe Tuna. Tierra del Fuego, Feuerland. Torsion, Drehung, Verdrehung. Tortilla, dünner mexikanischer Maiskuchen. Tümmler, Familie der Delphine (s. d.). Tuna, Thunfisch, Thynnus, Thon, 2 bis 4 m lange Makrele, ein springender Fisch. Tunikaten, Manteltiere. Die Körperhaut scheidet einen Mantel (Tunica) aus dem zelluloseähnlichen Tunicin ab. Turbellarien, Strudelwürmer; Ordnung der Plattwürmer.
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Ubiquisten, Tiere und Pflanzen die überall vorkommen. Im Logbuch: Tiere, die im ganzen Golf, wenn auch nicht überall in gleicher Menge, zu finden sind. Urbellaria, Gattung der Turbellarien. U.S.P. United States Pharmocopceia, offizielles amerikanisches Verzeichnis der Drogen und Medikamente.
Vektor, in der Mathematik eine gerichtete Größe, die durch eine Verbindungslinie von einem festen zu einem beweglichen Punkt veranschaulicht wird. Mathematisches Zeichen: ein Pfeil. Gegensatz: Skalar. Venusmuschel («Venus clam»), nordamerikanische Bezeichnung für zwei Arten: die Harte oder Runde Muschel: Venus mercenaria, und die Weiche oder Lange Muschel: Mya arenaria. Vineta, untergegangene sagenhafte Stadt, angeblich zwischen den Ostseeinseln Usedom und Wollin.
Western Flyer, «Westlicher Flieger», Schiffsname. Wildhuhn, Lagopus lagopus. Nordischer Vogel. Winchell Walter, amerikanischer Columnist, Sensationsjournalist u. Radioredner. Xantus Janos, geb. 5. X. 1825 in Csokonya bei Somogy, gest. 13. XII. 1894 in Budapest. Vorfahren Griechen, im 15. Jahrh. nach Transsylvanien eingewandert. Ungarischer Freiheitskämpfer. 1850 Flucht nach U.S.A. Expeditionen von Mississippi bis zum Pazifik. Ange466
höriger des U.S. Küstendienstes in Fort Tejon und San Lucas. Metereologische Beobachtungen. Entdeckte neue Vogelarten, die nach ihm benannt wurden, und 89 Inseln und Sandbänke. 1891 USA-Konsul in Manzanillo in Mexiko. 1869–1871 Ostasien-Expedition. Rückkehr nach Ungarn; Leiter der ethnographischen Abteilung des Nationalmuseums in Budapest. Xerophyten, durch ihre Struktur an trockenes Klima angepaßte Pflanzen.
Yale, 1701 als College gegründet, seit 1887 Universität in New Haven, Connecticut, U.S.A. Yohimbin, Alkaloid aus der Rinde des afrikanischen Yohimbe-Baumes, wirkt gefäßerweiternd und auf die Geschlechtsorgane erregend.
Zoantharien, Krustenanemonen, Ordnung der Hexakorallier (s. d.). Zölenteraten, siehe: Coelenteraten. Zooiden, Einzelindividuen eines Kolonie-Organismus, mit mehr oder weniger unabhängigem Eigenleben.
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Index Alle Seitenangaben verweisen auf die Druckausgabe Aal 279. Aalgras 211, 286, 358 f, 371. Abalonen 247. Abaniko 207. Abessinien 212. aboral 249, 371. Abstinenzler 48. Acanthochitona exquisitus 313. Adlerrochen 344, 371. Agassiz A. 80, 285, 371. Agassiz L. 285, 371. Agiabampo 253, 357 ff. Aktinien 154, 261, 281 ff, 313, 329, 344, 351, 364, 371. Albacore 266, 371, 377. Aletes 199, 218. Algen 71, 163 f, 178, 198 f, 267, 285, 295, 314, 319, 329, 357, 364, 371. Alkohol 30 ff, 43 ff, 184, 279, 290 f, u. a. Allergie 106. Almazân 186 f.
Amanita muscaria 213. Amöbe 229. Amortajada 241. Amphioxus 288, 293, 314, 371. Amphipoden 304, 371. Anastomose 304, 371. Aneliden 279. Anemonen s. Seeanemonen u. Aktinien! Angel de la Guardia 317–326. Angeles-Bucht 134, 311–316, 320, 352. Apachen 136. Aphrodisiaka 152 f. Aphrodite 266. Apoll 186. Arbacia incisa 162, 258. Arco (Kap) 347. Ares 186. Arles 228. Artemis 266. Arthropoden 299, 371. Asseln 243, 375, s.a. Isopoden! Association 298, 307. 469
Asteroiden 199 u. a. Astrangia pederseni 266 f. Astrometis 179, 297, 304. Astropygae 280. Atlantis 322. Atmungsbaum 246, 372. Augustinus 183, 309. Auk 234. Austern 152, 163, 189, 315, 373. Avalon 322, 372. Bacchus 289. Bach 48, 61. Bacon 309. Bahia Concepción s. Conception Bay! Bakterien 360. Balboa 293. Baldibia 248. Balenas Kanal 317. Balistiden 212 f, 372. Ballistik 125. Bandanna 304, 372. Bandstreifenwurm 298. Barco 207. Barnhart 91. Barracuda 330. Batete s. Botete! Bausch & Loms 65, 92. Bazillen 254.
«Beagle» 145 f, 284 f. Bêche-de-mer 152, 372, 374. Beethoven 122. Bernikel 71 f, 129, 132, 143, 161, 163, 209, 258, 262, 297, 304, 309, 319 f, 352, 364. Berry A. (Tony) 87–368. Bienen 173, 376. Bimini 322, 372. Biologen 112d, 145 ff, 154, 158, 181, 292, 308. Biologie 26, 154, 299, 308 u. a. Bolin 114 f, 308. Bonito 130 f, 372. Boodin 353. Borregoschaf 248, 253, 256 f. Borsten-Chitonen 304. Botete 211–14, 247, 359. Brâncusi 167, 372. Bremerton 71. Bridge 184 f. Bromas 207. Bryozoen 143, 164, 267, 372, 375. Bunodiden 294, 372. Burral 207. Buxtehude 48. Byrds 48.
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Cakes-Seeigel 285. Callinectes-Krebse 292, 364. Camacho 187. Campoi 137. Cannery Row 1–75. Caracol 207. Carditamera affinis 260. Carmel 232, 235. Caymancito 193. Cayo 216–219, 267. Cedros-Insel 133, 169, 268 f, 368. Centrechinus mexicanus 179. Cetianthus 208, 247, 261, 286, 292 f, 294, 351, 359, 372. Chamberlin 257. Charter 79, 85 ff, 88 f, 105, 337. Chelone 128 f, 131 f. Chionen 293, 314, 359, 364. Chioraea leonina 321. Chitonen 118, 144, 179, 241, 243, 262, 296 ff, 304, 313, 320, 372. Chiton virgulatus 313. Clione 298, 314. Chorodes 262. Chris 146 f, 150, 152. Ciguatera 212. Clavigero 83, 136 f, 302, 318, 327 f.
Clypeaster 285. Coccidiosis 234. Coelenteraten 261, 372, 374. Coletto T. 88–368 u. in «Cannery Row, die Straße der Ölsardinen» 94. Colorado 311. Commensal s. Kommensal … Conception Bay 275–286. Coolidge 334, 372. Cooper 268 f. Cordonazo 350. Cornude 207. Corona 342. Coronados 266–273. Cortés (Cortez) 136 f. Cortez-Meer s. Golf von Kalifornien. Coryphaena 133. Cypselurus 131. Dali 167, 373. Damiana 152 f. Darwin Charles 80, 116, 145 f, 224, 284 f, 309. Darwin G 116 ff. Dawson 314. Day 212. Dehiszenz 117, 373. Delphine 133, 373, 376. Dentalium 207 f, 209. 471
Detritus 360, 373. Diluvium 269. Dixon Entrance 73. Djetta 212. Dolabella californicus 261. Dora (Williams) 29 ff, 37 f; in «Die wundersamen Schelme von Tortilla flat» 123; «Cannery Row» 129–242. Doré 220. Drake 137. Duerden 261. Echinodermen 258, 373 Echinoiden 373, s. a. Seeigel! Echiuroiden 208, 320, 334, 373 Eddington 239. Eimeria avium 234. Einsiedlerkrebse 97, 144, 198 f, 208, 243, 258, 262, 280, 292, 308, 320, 352, 359, 371, 373, 375. Einstein 309. Elton 233. Emerson 238, 373. Encheliophiops hancocki 180. Encope 278, 285. Enea Sparky 86–368. Ensenada 193, 295. Enterophneusten 352, 373.
Epibiosen 180. Epikuräer 356, 375. Epstein 167, 373. Erbsenkrabben, Erbsenkrebse 293, 315, 373. Erdnußwürmer 163, 179, 208, 373. Eretmochelys imbricata 128 f. Erizo 207. Escargots 289. Espirítu Santo Insel 168, 177– 191, 199, 363 ff. Estero de la Luna 347, 349–53. Ethik, Ethos 113, 182 f, 301. Euapta godeffroyi 246, 364. Eucidaris thouarsii 162. Eurythoë 161, 163, 179, 199, 256, 373, 377. Farrell 66. Fata morgana s. Luftspiegelungen! Fer 137. Fiddler crabs s. Fiedlerkrebse! Fiedlerkrebse 276, 292, 351, 373. Fisher 91. Flachkrabben 143. Flachwürmer 143, 149, 179, 199, 208, 296, 313.
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Flattely 91. Fledermäuse 320, 330 ff. Fliegende fische 126, 128, 131, 279, 289. Flohkrebse s. Amphipoden! 375. Floriaten 143. Ford 221, 337, 340. Franziskus 309. Fraser 91. Frösche 16, 253 f, 256. Gäa 266. Garbanza-Muscheln 297, 373. Garnelen 82, 163, 179, 198, 241, 243, 286, 289 f, 329, 334 f. Gastropoden 199, 352, 373, 378, s. a. Schnecken! Geodia 267, 314. Geograpsus lividus 304, 364. Geruchsinn 63, 277 f. Gesellschaft Jesu (S. J.) 83, 377. Gespenster-Garnele 198 f. Gezeiten 68, 116 ff, 145, 193, 241, 261, 265, 284, 304, 318, 321, 326, 329› 337, 349, 352, 354, 359. Gislén, 173, 180. Glattrochen 168, 177, 210.
Goethe 122. Golddelphine 133. Goldmakrelen 133, 302, 375. Golf von Kalifornien 66, 73, 77–365. Gonaden 117. Goniopsis 364. Gorgonia 143, 162 f, 344, 374, s. a. Seefächer! Graham-Insel 73. Grapsoiden 292, 359, 364. Greco 265. Guaymas 189, 215, 327 f, 331 ff, 334, 337–42, 349. Gyropleurodus 305 ff. Habichte 233 f. Hacha 199, 247, 261, 278, 286, 364, 374. Haie 16, 34 f, 63, 139, 145, 207, 245, 288 f, 305, 343 f, 352, 357. Halbkugelschnecken 163. Hammerhaie s. Haie! Hancock 258 f. Harenactis 351. Harvard 68, 306, 374. Hearst 182. Hecate 73. Hegel 122, 236 f. 473
Heliaster 143, 179, 199, 218, 242, 257, 296 f, 313, 329. Herre 212 ff. Hertha, Bertha, Nerthus 239, 372. Herz(see)igel 208, 261, 283, 296, 298, 320, 351, 364, 374. Heterodontiden 305 ff. Hetero-Nereiden 262, 279, 289, 296. Hexakorallier 364, 371 f, 374, 379. Hexenfisch 20, 374. Hippokrates 290. Hollywood 192, 195. Holothurien 178 ff, 143, 246, 260, 285, 289, 297, 304, 304, 308, 313, 330, 360, 372, 374, 377, s. a. Seegurken, Bêche-de-mer. Hopkins Stanford Marine Station 59, 68, 114, 308, 374. Horaz 289 f. Hornhai 205 ff. Hornhechte 247. Hummer 304, 308, 375. Hydroiden 144, 149, 199, 329, 374, 376. Hydrozoen 91, 129, 243, 374, 377.
Hyperthyroidismus 223 s. a. Schilddrüse! Iguane (Leguane) 318. Indianer 140, 147, 159 ff, 171 f, 175 f; 183–89, 203, 247–56, 265, 291, 299–302, 304, 325– 328, 337–340, 351 f, 368. Inka 322, 374. Invertebraten (= Wirbellose, s. d.) 243, 298, 374. Isis 266. Isopoden 130, 218, 241, 243, 262, 3°4, 374. Ist-Denken 221–239. Jesus 183, 204, 309. Johnson 91. Jordan D. St. 268. Jordan E. K. 268 f. Kakerlaken 150, 297, 315, 374. «Kaldaunen» s. Cerianthus! Kalifornien 136–368. Kambrium 116, 374. Kammuscheln 247. Kannibalismus 326 f. Känguruh 62. Kap der guten Hoffnung 135. Kap Horn 133.
474
Karthago 94. Karzinom 46 f, 104, 113, 254, 323. Katsu-wonus pelamis (Skipjack) 133, 167 f, 244. Katzen 16, 24 ff, 34, 63, 211, 213. Katzenwels 342, 344. Keeps 91. Kegelschnecken 144. Keulen(see)igel 199, 297, 320. Kissen(see)sterne 162, 164, 247, 261. Klapperschlangen 16, 27 f, 41, 318 f, 323. Kommensaltiere, kommensal 62, 180, 285 f, 298, 309, 315, 374. Konchyliologen 268, 374. Korallen 82, 159, 162–165, 197, 199, 257, 261 f, 266, 278, 298, 319, 329, 363 f, 372 f, 374, 378. Kormorane 141 f. Kos 210. Krabben 82, 142 f, 149, 162 f, 220, 243, 276, 278, 289, 292, 344, 363 f. 375, 377 u. a. Kritiker, Krittler 354. Krustazeen, Krustentiere 129,
243, 268, 289, 296 f, 299, 345, 351, 371, 374 f. s. a. Isopoden, Einsiedlerkrebs, Krabben, Hummer, Languste etc. Ktenophoren 325. Kuba 212. Labrador 117. Lachs 87. Lagopus 233 f. Langusta 199. Langusten 242 f. 375. Langustina 132, 134. Lanzettfischchen 293, 314, 371, s. a. Amphioxus! La Paz 134, 168, 177, 183, 188– 215, 220, 243, 268 f, 275 f, 278, 328, 340. Laudanum 290. Ligyda occidentalis 297. Linckia 329. Linné (bis 1762 Linnaeus) 80, 129, 154, 375. Lissodendoryx noxiosa 298. Li Tai Pe 291, 375. Lithophaga plumula 199. Litoral 84, 142 ff, 199, 220, 258, 262, 285, 297, 364, 375. 475
Lobos 168, 321, 347, 349. Loreto 248 f, 262–266, 276, 327, 340. Los Angeles 124, 206. Lovenien 364, 374, s. a. Herzseeigel. Lucker 262. Luftspiegelungen 101, 166 f, 176, 250, 337, 342, 351 f. Lukrez 356 f. 360, 375. Lungenschnecken 313, 372. Lütken 352. Lyssenko 51, 375. Magdalenabucht 128, 269. Magenkrebs s. Karzinom! Maggies 138. Makrelen 80, 244, 305, 372, 375, 378. Makrokosmos 121, 224, 239, 360, 366. Malaria 275 f, 360. Mangroven 135, 207 ff, 245, 260 f, 288, 357 f, 363 f. Man o’War 289. Manta 347 f, 357, 375, s. a. Glattrochen, Riesenrochen. Rochen! Manteltiere s. Tunikaten!
Mantis-Shrimp 296. Marcial Riff 242 ff. Marmer 116. Mars 186. Maulesel 249 ff. Mauritius 212. Mazatlan 184, 189. Meeranemone s. Seeanemonen! Meerasseln s. Asseln, Isopoden! Meergreis 114–118. Megalomma muscaensis 364. Mensch als Spezies 97, 156, 170, 172f, 180–183, 205 f, 225 f, 266, 303, 306 f, 308 f, 319, 346, 362. Metaphysik 51, 228 u. a. Metro-Goldwyn-Mayer 346. Meunier 212. Mexikanische Sierra s. Sierra mexicana! Miesmuscheln 297, 320, 374. Mikrokosmos 121, 224, 239, 360, 366. Mithrax areolatus 163. Mogote 193, 207. Mollusken 179, 208, 268 f, 292. Monterey 1–114, 126 f, 132, 148, 270, 290, 298, 308, 476
312 f, 337, 348, 353, 357, 363, 375. Monteverdi 49. Montgomery 262. Moostiere 143, 179, 372, 375, s. a. Bryozoen! Moral 113, 183. Moray 261, 375. Moschus 277 f. Moos Landing 114. Mozart 50. Mulege 275 f, 287. Mürbsterne(= Schlangensterne) 163, 179, 199, 242 f, 297. Murex 276, 278, 286, 375. Muscheln 243, 261, 280 f, 286, 292, 297, 352, 359, 364, 375 u. a. Muschelschnecken 207. Musiktheorie 51, 61, 353. Mutation 98, 102, 173 ff, 267, 375. Mysideh 241, 243, 262, 375, 377. Mysterium, Mystisches, Mystizismus 13, 28 f, 138 f, 237 f, 255, 289 f, 309.
Nacktkiemer 222, s. Nudibranchien! Nacktmollusken 179. Nacktschnecken 199. Nadelfische 247. Najera 110. Napfmuscheln 286. Napfschnecken 143, 163, 179, 258, 262, 297, 404, 315, 320, 364. Navigation 121 f, 315, 328. Nayarit 184, 193, 210, 375. Neothunnus macropterus 177, 266. New Albion 137. Nikaragua 352. Nudibranchien 62, 199, 222, 298, 321, 375. Obstmaden 267, Ocean View Avenue s. Cannery Row! Octopus bimaculatus 298, 313, 376. Ocypode occidentales 359. Odysseus 322. Ökologie, ökologisch 62, 68, 82, 141, 171, 178, 233 f, 262, 265, 278, 3o8f, 376. Oktopus 315, 320, s. a. Octopus 376. 477
Ophionereide 320. Ophiophragmus 352. Ophiothrix spicula 297. Ophiuren 178 f, 208, 262, 278, 320, 352, 364, 376. Opossum-Shrimps 375. Oreaster 144. Oregon 268. Oszillation 122. Othilia tenuispinus 242. Pachygrapsus 268, 304, 319, 329. Pacific Grove 232. Padina durovillaei 314. Pajaro 342. Paläozoologie 38. Palestrina 48. Palolowurm 118, 376. Panama, panamisch 157, 212, 262, 268. Panilurus interruptus 304. Panopeus 364. Pazifik, pazifisch 67, 136, 268, 270, 295, 365 ff. 379. Pearl Harbor 67. Peeten 247. pelagisch 132, 241, 243, 261 f, 279, 308, 321, 335, 376. Pelikane 113, 285, 319.
Pelzkrebs 330. Penaeus californicus 345. Pérpuly 248–256, 340. Peru 322. Pescadero 168, 177. Petrolisthes nigrunguiculatus 304. Pharia pyramidata 163. Phataria 163, 199, 329, 354. Philippinen 212 f. Phthirius pubis 214, 376. Piedra de la Marina 245. Pima-Indianer 327. Pinna 374. Pismo-Muschel 295 f. Planes minutus 129. Plankton 131, 308 ff, 376. Pleuroncodes planipes 129, 132 f. Plinius d. Ä. 80, 371, 376. Point Joe 113. Point Sur 119. Polychäten 117, 257, 372, 376. Polydontes oculea 359. Polykladeen 199, 241, 376. Pompano 344, 376. Pontonia pinnae 286. Porites 164, 199, 261, 320. Porto Rico 261. 478
Porzellankrebse 258, 304, 314, 364, 376. Prieta 193 ff. Protein 152, 290. Protozoen 144, 376. Puerco 344, 376. Puerto Escondito 245–248, 256–262, 268, 340, 364. Puerto Refugio 317–323. Pufferfische 162, 211, 242. Puget-Sund 283 f, 321. Pulmo, Kap 134, 157–165, 178. Pulmonaten 298, 320. Punta Aguja 275. Punta Baja 126. Punta Bluff 328 ff. Punta Doble 334. Punta Lazaro 132. Purpurschnecken 143, 304. Purpur-Seeigel 298. Pyrosoma giganteum 255. Quallen 145, 325 u. a. Quant 232, 377. Quartär 269, 377. Queen-Charlotte-Inseln 73. «Queen Mary» 263.
Radioaktivität 267. Rasiermessermuscheln 293, 377. Rathbun 91. Ricketts 1–368. Ricketts u. Calvin 91. Riesenreptilien 174. Riesenrochen 247, 347 ff, s. a. Rochen! Riesenschnecken 329. Riesenshrimps 344 f. Riesensynaptiden 377. Rindenkorallen 143. Ringelwürmer 144. Rippenfisch 289, s. a. Schnurfische! Rio Colorado 136. Rochen 176, 210, 247, 344, 357, 377. Rockefeller-Mountains 137. Röhrenwürmer 143, 304, 313, 315, 359, 364. «Rosario» 327 f. Roßhaarwürmer 253 f, 262. Rotes Meer 136, 212. Russell 91. Salinas 19, 36, 158. Sally Lightfoot 143, 147 ff, 218, 297, 313, 319, 329. 479
Salmacina 304, 313. Salvatierra 327 f. San Antonio del Mar 295. San Carlos 294–298. San Carlos Puerto 334 ff. San Christobal 271. Sandanemone 208, 286. San Diego 110, 124f, 134, 136, 153, 188, 263, 337, 365. Sand-Dollars 278, 285, 286, 351. San felice 313. San francisquito 304. «San Javier» 327. San José 216, 219. San Lorenzo 168, 177, 190, 195. San Lucas, Kap 88, 134–47, 150–157, 162, 164 f, 188, 199, 268, 286, 329, 379. San Lucas, Lagune 286, 288– 294, 352. San Marcial 241. San Pedro 124. Santa Barbara 123. Santa Rosalia 268, 294 f, 299. Sardinen 124, 306. Sargassum 285, 314, 377. Schaben 315. Scherer 137. Schilddrüse 55, 225–233.
Schildpatt-Schildkröten 128 ff, 131, 217 f. Schiller 122. Schlangenaale 280. Schlangensterne 178, 208, 375 ff. Schlangenwürmer 218 u. a. Schlauchtiere 164 u. a. Schlüssellochschnecken 179, 285. Schmetterlingsrochen 344, s. a. Rochen! Schmitt 345. Schnecken 144, 162, 179, 199, 207, 222, 243, 262, 278, 280, 289 f, 296, 298, 304, 315, 320, 329, 334, 351, 359, 377 u. a. Schnurfische 279. Schüsselschnecken 143, 199. Schwämme 143 f, 163, 199, 208, 243, 262, 267, 278, 286, 298, 314, 319 ff, 329 u. a. Schwarzgurken 208. Schwertfische 167, 243, 275, 287, 303, 365, 377. Schwimmkrebse 292 u. a. Sea of Cortez s. Golf von Mexiko! Seeanemonen 63, 143, 149, 480
179, 199, 208, 218, 244, 258, 261 f, 281 ff, 294, 297, 315, 364, 372, 377 s. a. Aktinien. Seebarben 351. Seefächer 163, 242, 344, 374, s. a. Gorgonia! Seegurken 79, 143, 163, 178– 181, 208, 242, 258, 260, 262, 283, 297, 308, 364, 377, s. a. Holothurien! Seehase 222 f, 261, 364, 377 f. Seehunde 325. Seeigel 142 f, 152, 161 f, 179, 207, 241 ff, 258, 261, 280, 283, 296 ff, 329, 264, 371, 377. Seekaninchen 218. Seeklette 207. Seekrebse 279 f, u. a. Seekuh 377 u. a. Seelöwe 113 ff, 170. See-Otter 270 f. Seepeitsche 208. Seepferdchen 344. Seepolypen 198, 298 u. a. Seerosen 377 u. a. Seeschaben 313. Seeschildkröten 126–132, 299, 306, s. a. SchildpattSchildkröten!
Seeschlange 144 f, 118. Seeschnecken 149, 289 u. a. Seesterne 86, 91, 112 f, 142 ff, 162, 179, 188, 242, 247, 262, 297, 363, 371, u. a. Seetang 377, s. a. Tang! Segelfels 317 f. Seri-Indianer 326 ff. Serpuliden 143, 364 u. a. Shrimps 243, 296, 320, 336, 342–346, 364, 377. Sierra mexicana 80 ff, 244, 266, 302, 333, 344, 377. Siphonophoren 325, 377. Sipunkuliden 199, 243 f, 293, 298, 373. Skalaf 238, 378. Skipjack s. Katsuwonus! Skylla 133. Snook 91. Sokrates 182 f. Soll-Denken s. Teleologie! Sonnensterne s. Heliaster! Sparky s. Enea! Spinnen 173, 371 u. a. Spinnenkrabben 163. Stachelhäuter 173, 376 f, u. a. Stachelhummer 297. Stachelrochen 261, 329 f, 359, s. a. Rochen! 481
Stachelschnecken 144, 163, 375. Stanford University 136, 306, s. a. Hopkins! Stechwürmer 320 f. Steinkrebse 129, 132. Steletta 298. Stichopus fuscus 242, 260. Stiller Ozean s. Pazifik! Stimpson 132. Strandhüpfer 218, 295, 319. Strombus galeatus 280, 286. Strudelwürmer s. Polykladeen, Turbellarien! Swedenborg 237. Swift 326. Swinburne 239, 377. Synapse 232, 239, 377. Synaptiden 246, 260. Tabu 138 f, 255. Tacitus 321, 371, 378. Tang 293, 319, 371 f, 378. Taxonomie, taxonomisch 299, 378. Tedania ignis 278. Tegula 304, 329. Teleologie 172 f, 221–239, 302, 355 ff, 378.
Tensor 238, 378. Terebellid-Würmer 298, 378. Tethya aurantia 267. Tethys 222 f. Tetradontiden 213. Thermodynamik 224. Thigmotropismus 298, 378. Thunfisch s. Tuna! Thyreoidea s. Schilddrüse! Tibet 79. Tiburón 326–332, 334. Tierra del fuego 284, 378. Tino s. Coletto! Tintenfische 289, 296. Tivela-Muscheln 314, 352. Tollwut 331 f. Topolabambo 276, 359 f. Trapezia 163. Travis Tex 88–368. Trigger-fish s. Balistiden! Troglodyten 323. Tümmler 119, 123 f, 128, 373, 378. Tuna 131, 135, 141, 146, 169, 177, 183, 243 f, 266, 275, 305 ff, 325, 344, 378, 371. Tuna-Wasser 126 f. Tunikaten (Manteltiere) 143 f, 199, 208, 143, 262, 278, 386, 298, 304, 329, 378. 482
Turbellarwürmer 243, 262, 378. Tyrus 94. Ubiquisten, Ubiquität 257 f, 297, 378. Uferschnecken 143. Unterbewußtsein 116, 239, 277. Urtierchen 171. U.S.P. 92, 106, 378. Vampir 332 Van Gogh 228 f. Vektor 238, 378. Velez 207, 209. Venusmuscheln 179, 292, 378. Vereinigte Staaten 361 u. a. Verrill 154, 162, 285. Vineta 322, 378. Virginität 5 5 ff. Virus 97. Wal, Walfisch 46, 319, 325, 372 f. Walton 91. Wandertaube 234. Wanzen 243. Wasserspinnen 253. Werwölfe 271 f, 316, 332.
«Western flyer» 86–368. Wildhühner 234, 379. Wildtauben 276. Wirbellose 116, 149, 154, 281, 288, 293, 299, 308, 323, 372, u. a. Woolworth 266. Würmer 20, 179, 208, 243, 262, 360 u. a. Xanthodius hebes 364. Xanthus 143, 146 f, 379. Xerophyten 249, 379. Yale 306, 379. Yaqui 327. Yohimbin 152, 379. Yonge 91. Zahnmuscheln 208. Zangenmuscheln 179, 217 f. Zaubermittel 290, 302. Zerstörungstendenzen 97 f. Zibetkatzen 261. Zoantharien 364, 374. Zoanthidea-Anemone 267. Zoanthus puchellus 261. Zooiden 208, 379.
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