Buch Als sich ihre verwitwete Mutter einer Operation unterziehen mu ß, ist Tess McPhail gezwungen, sich der Familienrei...
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Buch Als sich ihre verwitwete Mutter einer Operation unterziehen mu ß, ist Tess McPhail gezwungen, sich der Familienreise zu stellen. Ihre Schwestern Judy und Renee bestehen nämlich darauf, daß sich die . erfolgreiche und berühmte Country-Sängerin für eine Weile aus dem Showbusineß zurückzieht, um ihren Anteil an den töchterlichen Pflichten zu übernehmen. Und Tess ist entschlossen, den Aufenthalt in ihrer kleinen Heimatstadt Wintergreen im tiefsten Missouri von der positivsten Seite zu nehmen. Doch bald schon geraten alle guten Vorsätze ins Wanken, als sie feststellen muß, daß die Beziehung zu ihrer Mutter und zu den Schwestern nach all den Jahren der Abwesenheit nicht so problemlos wiederaufzufrischen ist. Hinzu kommt, daß der neue Nachbar ihrer Mutter ein alter Verehrer von Tess aus Schulzeiten ist, dem sie einst übel mitgespielt hat - und der sich zu einem sehr attraktiven und liebenswerten Mann entwickelt hat. Allerdings ist dieser Kenny Kronek von seinem ehemaligen Schwärm längst nicht mehr so angetan wie früher - und vor allem ist er ganz entschieden dagegen, daß Tess seine begabte Tochter als Sängerin ins Geschäft bringen will... Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1979. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über moderne Frauen, die mit Schwung und Humor das Leben und die Liebe meistern, einen festen Platz auf den Bestsellerlisten erobert.
Als Taschenbuch von LaVyrle Spencer lieferbar: Vorbei und nie vergessen (42611) - Wildnis des Herzens (41472) -Wo der Traum die Nacht verläßt (41558) - Vergib, wenn du kannst (415 80) - Ein Traum von einem Mann (429 8 6) - Ein Haus im Himmel (42985) - Ein Sommer in Maine (43713)
LAVYRLE SPENCER
Melodie des Lebens Roman
Aus dem Amerikanischen von Elke Iheukumere
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Small Town Girl« bei G. P. Putnam's Sons, The Putnam Berkley Group, Inc., New York.
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 1998 © der Originalausgabe 1997 by LaVyrle Spencer © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: G+J/Photonica Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 35017 Lektorat: SK Redaktion: Ilse Wagner Herstellung: Heidrun Nawrot Made in Germany ISBN 3-44Z-3 5017-4 13579 10 8642
Small Town Girl Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr. Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her. Sie hat die Welt gesehen, jetzt kommt sie nach Haus. Der Kleinstadt fehlt so vieles, alles sieht anders aus. Eine Rückkehr ist ihr verwehrt, das hat sie das Leben gelehrt. Im Elternhaus lebt Mama schon eine Ewigkeit. Das alte Haus ist schäbig, ein Stück aus alter Zeit. Die gleiche alte Uhr tickt an der verblich'nen Wand. Mama will nichts ersetzen, läßt alles im alten Stand. Mama freut sich sehr, doch sich zu ändern fällt ihr schwer. Wie wir uns verändern, wenn wir flügge sind, wie sich alles wendet, was wir gewußt als Kind. Alle Leute reden über den Jungen von nebenan. Er gehört zum Gestern, das ich nicht mehr sehen kann. Die Fügungen des Lebens haben uns achtzehn Jahr' getrennt, Nur eine Nacht mit ihm beruhigt mein Herz, das brennt. Sag' ade, Tränen tun weh. Ohne zurückzusehen verläßt sie die Heimatstadt. Tief im Inneren weiß sie, daß sie sich verändert hat. Mit Augen voller Tränen blickt sie zu der verblich'nen Wand und flüstert dann ganz leise: Mama, laß bitte alles im alten Stand. Ich kehre zurück, muß noch viel lernen für mein Glück.
1. Kapitel Der schwarze 300 ZX mit den getönten Fenstern wirkte in Wintergreen, Missouri, mit einer Einwohnerzahl von eintausendsiebenhundertdreizehn Menschen, völlig deplaziert. Alle blickten sich nach ihm um, als einen Gang heruntergeschaltet wurde und er dann mit dröhnendem Motor um den Stadtplatz herumfuhr, hinter Conn Hendricksons schwerfällig polterndem Sin clair-Heizölwagen und Miss Elsie Bullards 78er Buick Sedan her, dessen Tachometer noch nie die Geschwindigkeit von fünfzig Meilen angezeigt hatte, seit sie ihn damals aus dem Ausstellungsraum gefahren hatte. Auf offener Straße fuhr Miss Elsie fünfundvierzig, aber in der Stadt zog sie ausgewogene fünfzehn Meilen vor. Der ZX war jetzt direkt hinter ihr, die Musik dröhnte durch die geschlossenen Fenster. Die Bremsen quietschten, und der Wagen brach nach hinten aus und zog so die Aufmerksamkeit aller auf das Nummernschild aus Tennessee. MAC, stand darauf. Und MAC sagte alles. Vier alte Männer kamen aus Wileys Bäckerei, ihr Atem roch noch nach Kaffee, sie bohrten sich mit Zahnstochern in den Zähnen und verfolgten den Wagen mit ihren Blicken. »Da ist sie.« »Sie ist wieder da.« »Und sie gibt ziemlich an.« »Das tut sie. Ein toller Wagen, den sie da fährt.« »Was macht sie überhaupt hier? Sie kommt nicht gerade oft nach Hause.« »Ihre Momma steht kurz vor einer Hüftoperation. Sie ist nach Hause gekommen, um sich eine Weile um sie zu kümmern, so habe ich es gehört.« »Wie kann sie überhaupt etwas sehen durch diese Fenster?« »Ich habe mir schon immer gedacht, daß Menschen, die so dunkle Fenster brauchen, etwas zu verbergen haben, ist das nicht so, Delbert?« Sie sahen dem eleganten Wagen nach, der sich hinter den von Miss Elsie geklemmt hatte. Der Verkehr um den Stadtplatz herum bewegte sich entgegengesetzt dem Uhrzeigersinn, und an diesem müßigen Dienstag im April lechzte Miss Elsie, die gerade von ihrer freiwilligen Schicht im Three-Rivers-Pflegeheim kam, nach einem Erdbeereis aus Miltons Drogerie. Sie tuckerte mit der Geschwindigkeit einer herunterbrennenden Kerze um den ganzen Stadtplatz herum und suchte nach einem Parkplatz. Der ZX folgte ihr nur einen Meter von ihrer schweren Chromstoßstange entfernt. Im Inneren des Sportwagens hörte Tess McPhail auf zu sin gen und sagte laut: »Beweg deinen Hintern, Miss Elsie!« In den letzten fünf Stunden hatte sie ihrer eigenen Stimme auf einem groben Mitschnitt ihres kurz vor der Veröffentlichung stehenden Albums gelauscht, das sie in den letzten Wochen in Nashville aufgenommen hatte. Ihr Produzent, Jack Greaves, hatte ihr das Band gestern gegeben, als sie gerade
das Studio verlassen wollte. »Hör es dir an auf dem Weg nach Missouri«, hatte er gemeint. »Und dann rufst du mich an, wenn du angekommen bist, und läßt mich wissen, was du davon hältst.« Das Band lief noch immer, während Tess ungeduldig mit einem langen, pflaumenblau lackierten Fingernagel auf das Lenkrad klopfte. »Elsie, würdest du voranmachen!« Miss Elsie, deren struppiges weißes Haar von hinten aussah wie ein Ball aus Flaumfedern, umklammerte mit beiden Händen fest das Lenkrad und fuhr weiterhin im Schneckentempo umden Platz herum. Endlich erreichte sie die Ecke, an der sie abbiegen wollte, blinkte nach rechts und machte Tess den Weg frei. Mit quietschenden Reifen fuhr Tess weiter, schaltete, trat den Gashebel durch und spurtete die Sycamore hinauf; dabei murmelte sie: »Gütiger Himmel, Kleinstädte.« Diese hier hatte sich nicht verändert, seit sie vor achtzehn Jahren von hier weggegangen war. Es gab noch immer das Gerichtsgebäude aus rotem Backstein auf dem Stadtplatz, die alten Ladenpassagen um den Platz herum, noch immer standen die alten Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg an den Straßenecken, sahen dem Verkehr zu und warteten auf die nächste Parade, die sie aus dem Alltagstrott herausholte. Und auch die alten Häuser entlang der Sycamo re waren die gleichen geblieben. Auch wenn die Hickorybäume jetzt größer waren, sahen die meisten Häuser noch genauso aus wie damals, als Tess den Abschluß von der High-School gemacht hatte. Dort drüben war Mindy Alversons Haus: Ob ihre Eltern wohl noch dort lebten? Und was war aus Mindy geworden, Tess' bester Freundin in dieser Zeit? Dort drüben lebte früher Mrs. Mabry. Sie hatte Geometrie unterrichtet, und es war ihr nie gelungen, in Tess auch nur ein Fünkchen Interesse für dieses Fach zu wecken. Tess war ein Mädchen gewesen, das all die Unterrichtsfächer, die nichts mit Musik oder den kreativen Künsten zu tun hatten, nur am Rande interessierten. Immer hatte sie behauptet, sie würde den Unterrichtsstoff nicht brauchen, weil sie doch nach ihrem Abschluß eine große Country-und-Western-Sängerin werden würde. Und dort war auch das Haus, in dem dieses vorlaute Gallamore -Mädchen gewohnt hatte, das Mädchen, das in dem Jahr die Hauptrolle bekommen hatte, in dem Tess' Klasse Oklahoma aufgeführt hatte! Tess hatte die Rolle der Laurie so gern spielen wollen, daß sie geweint hatte, als die Rollenbesetzung verkündet worden war. Alle hatten gesagt, daß eigentlich ihr diese Rolle zugestanden hätte; nur we il Cindy Gallamores Vater im Schulausschuß saß, war sie ausgewählt worden und nicht Tess. Nun, sie hatte es Cindy Gallamore gezeigt, oder etwa nicht? Sie fragte sich, was die gute alte Cindy heute wohl tat. Wahrscheinlich machte sie sich einmal im Monat die Dauerwelle selbst und beschäftigte sich damit, Windeln
zu wechseln - in einem dieser düsteren kleinen Häuser, die Keksschachteln glichen, während gerade Tess McPhails neuester Nummer-Eins-Country-Hit aus dem Radio dröhnte - hinter dem Stapel schmutzigen Geschirrs auf Cindys Anrichte. Tess ließ noch ein letztes Mal das Band von »Tarnished Gold« laufen und lauschte mit kritischer Aufmerksamkeit. Im großen und ganzen gefiel es ihr. Es gefiel ihr sogar sehr, mit Ausnahme eines einzigen Akkordes, der sie noch immer störte, auch nachdem sie das Stück schon etwa fünfzig oder sechzig Mal auf dem Weg hierher gehört hatte. Sie fuhr an Judys und Eds Haus an der Thirteenth Street vorüber. Die Garagentür stand offen, und ein Wagen war darin zu sehen, doch Tess sang weiter und warf nur einen flüchtigen Blick auf das Haus. Judy und ihre verdammt gebieterische Aufforderung. »Mommas andere Hüfte muß auch noch operiert werden, und diesmal wirst du dich um sie kümmern«, hatte Judy erklärt. Was hatte Judy schon für eine Ahnung von einer großen Karriere? Alles, was sie in ihrem Leben getan hatte, war, einen Schönheitssalon zu führen. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, was es bedeutete, mitten aus der Arbeit zu den Aufnahmen eines neuen Albums weggeholt zu werden. Eine ganze Plattenfirma plante die Herausgabe dieses Albums zu einem Datum, das schon vor mehr als einem Jahr festgesetzt worden war. Aber Judy war eifersüchtig auf den Erfolg ihrer Schwester, das war sie schon immer gewesen, und indem sie sich jetzt wichtig machte, rächte sie sich an Tess. Das letzte, was Judy ihr am Tele fon gesagt hatte, war: »Du wirst hier sein, Tess, und versuche nicht, dich zu drücken!« Dann gab es noch Tess' mittlere Schwester, Renee. Sie lebte am anderen Ende der Stadt, und ihre Tochter Rachel sollte in vier Wochen heiraten. Es war verständlich, daß Renee in den letzten wenigen Wochen vor der Hochzeit noch sehr viel zu tun hatte. Aber hätten sie die Operation nicht verschieben können? Immerhin hatte Mom schon seit ihrer ersten Operation vor zwei Jahren gewußt, daß auch die zweite Hüfte operiert werden mußte. Tess bog auf die Monroe Street ein, und Erinnerungen überfielen sie, während sie die Straße entlangfuhr. An diesen sechs Häuserblocks vorüber war sie sieben Jahre lang zur Schule gegangen. Sie hielt vor dem Haus ihrer Mutter an, stellte den Motor ab und starrte auf das Haus. Lieber Himmel, es sah heruntergekommen aus. Sie stöpselte ihr Telefon aus und stieg dann aus. Neben dem Wagen blieb sie stehen und schob sich die Hosenbeine ihrer engen Jeans hinunter, eine zierliche Frau mit einer übergroßen Sonnenbrille, Cowboystiefeln und baumeln den indianischen Ohrringen aus Silber und
Türkisen, mit Haar in der Farbe eines irischen Setters und heller, sommersprossiger Haut. Ihr Herz sank, als sie das Haus betrachtete. Warum, um alles in der Welt, hatte ihre Mutter es nur so herunterkommen lassen? Der Bungalow aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg war aus roten Ziegeln gebaut, aber die weiße Farbe der Holzverkleidung blätterte ab, und die Stufen, die zur Veranda führten, waren schiefgetreten. Der Garten sah bemitleidenswert aus. Die Steinplatten auf dem Fußweg waren brüchig und abgesunken, und der Lebensbaum war so groß geworden, daß er das Wohnzimmerfenster überragte. Löwenzahn wuchs im Vorgarten. Was tut Mom nur mit dem ganzen Geld, das ich ihr schicke? Noch vor einigen Jahren hätte Mary McPhail kein Unkraut auf der Wiese vor ihrem Haus geduldet. Aber damals waren ihre Hüften noch gesund gewesen. Tess holte ihre übergroße graue Tasche aus weichem Leder aus dem Wagen, schlug die Tür zu und lief zum Haus. Als sie über den brüchigen Gehweg ging, mußte sie wieder daran denken, wie ihre kleinen Freundinnen mit ihren Puppenwagen hier gespielt hatten, während sie mit Melody, ihrer singenden Puppe, auf den Stufen der Veranda Vorstellungen gegeben hatte. Noch ehe sie die Treppe vor der Haustür erreicht hatte, öffnete ihre Mutter die Tür und strahlte sie an. »Ich hatte doch recht, als ich glaubte, ich hätte eine Autotür gehört!« Mary McPhails Freude war unverkennbar, sie öffnete die Fliegentür und breitete dann beide Arme aus. »Tess, Liebling, du bist gekommen!« »Hey, Momma.« Tess lief die Stufen hinauf und drückte ihre Mutter an sich. Sie hielten sich fest und schaukelten hin und her. Hinter ihnen fiel die Tür zu, und sie waren gefangen in dem win zigen Vorraum. Mary war einen halben Kopf kleiner und fünfundvierzig Pfund schwerer als ihre Tochter, sie hatte ein rundes Gesicht und trug eine Brille mit einem Metallgestell. Als Tess sich ein wenig von ihr zurückzog, um sie anzusehen, entdeckte sie Tränen in Marys Augen. »Darfst du überhaupt herumlaufen, Momma?« In Tess' Stimme konnte man noch immer den Akzent des südwestlichen Missouri erkennen. »Natürlich darf ich das. Ich bin gerade aus dem Krankenhaus gekommen. Man hat mir den Operationssaal gezeigt, hat mir Blut abgenommen, und ich mußte in so eine kleine Plastikröhre pusten, damit sie sehen konnten, ob ich genug Luft in meinen Lungen habe, um die Operation zu überstehen. Und wenn ich all das habe tun können, dann werde ich wohl auch noch meine Tochter zur Begrüßung in den Arm nehmen dürfen. Nimm diese verflixte Sonnenbrille ab, damit ich erkennen kann, wie mein kleines Mädchen aussieht.« Tess lächelte und nahm die Sonnenbrille ab. »Ich bin es doch nur.« Sie
streckte beide Arme zur Seite aus. »Nur du. Ganz bestimmt - nur du, wo ich dich seit neun Monaten nicht mehr gesehen habe.« Mary drohte Tess mit dem Finger. »Ich weiß. Es tut mir leid, Momma. Es war eine verrückte Zeit, wie üblich.« »Dein Haar sieht anders aus.« Mary packte sie bei den Ellbogen und betrachtete sie aufmerksam. Tess' Haar war in Stufen geschnitten und fiel im Nacken zerzaust bis über den Kragen ihres T-Shirts, wogegen es vorn gerade die Ohren bedeckte. »Die Frisur haben sie mir für mein neues Album verpaßt.« .; »Wer? «Cathy.« >Cathy? Wer ist das noch gleich?« >Cathy Mack, meine Stylistin. Ich habe dir doch von Cathy erzählt.« Mary winkte ab. »Ich glaube schon, aber es arbeiten so viele Leute für dich, die kann ich gar nicht alle auseinanderhalten. Und, Himmel, Mädchen, du bist so dünn geworden. Geben sie dir denn da unten in Nashville nichts zu essen?« »Ich bemühe mich absichtlich, so schlank zu bleiben, Momma, das weißt du doch - und du weißt auch, daß so etwas nicht von selbst kommt-, also bitte, versuche gar nicht erst, mich zum Es sen zu zwingen, okay?« Mary wandte sich um und humpelte ins Haus. »Nun, ich würde denken, wenn du soviel Geld verdienst, dann könntest du auch ein wenig besser essen.« Tess widerstand dem Wunsch, mit den Augen zu rollen. Sie setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und folgte Mary ins Haus. Sie gingen durch das niedrige Wohnzimmer, das die ganze Vorderseite des Hauses einnahm. Das Zimmer lag nach Westen, es hatte uneben verputzte Wände, und abgenutzte Möbel standen darin - das auffallendste Stück darunter war ein Klavier. Von den drei Bogengängen in der gegenüberliegenden Wand führte der mittlere nach oben, der rechte ins Bad und zu Marys Schlafzimmer und der linke zur Küche und dem hinteren Teil des Hauses. Mary humpelte durch den linken. »Ich dachte immer, Country-Sängerinnen trügen langes Haar.« »Schon lange nicht mehr, Momma. Die Dinge in der Country-Musik haben sich geändert.« »Aber du hast all deine hübschen Naturlocken geglättet. Ich habe deine Locken immer sehr geliebt.« »Sie möchten, daß ich modern aussehe.« Marys eigenes Haar könnte auch einen Friseur gebrauchen, dachte Tess und starrte auf eine Stelle auf ihrem Hinterkopf, wo sie die Kopfhaut sehen konnte. Mary hatte es aufgegeben, ihr Haar zu färben, sie ließ es natürlich wachsen, und es hatte jetzt eine silbrig-graue Farbe. Doch noch viel
schlimmer war die schmerzhafte Art, wie sie sich vorwärts bewegte. Immer wenn sie das Gewicht auf ihr rechtes Bein verlagerte, schwankte sie zu dieser Seite und mußte sich an Möbeln oder an der Wand festhalten. »Bist du sicher, daß es gut ist, wenn du herumläufst, Momma?« »Die Operation wird mich noch lange genug von den Beinen holen. Solange ich noch herumhumpeln kann, werde ich das auch tun.« Sie war eine gedrungene, untersetzte Frau von vierundsiebzig Jahren, in einen abscheulichen alten Hosenanzug aus Polyester gekleidet, der ausgebeult war. Die Hose war lavendelfarben, das Oberteil war einmal weiß gewesen, mit einem Muster aus Stiefmütterchen, die mittlerweile so verblaßt waren, daß sie kaum noch zu erkennen waren. Der Anzug war mindestens fünfzehn Jahre alt. Tess fragte sich, ob ihre Mutter heute im Krankenhaus wohl so gekleidet gewesen war. Sie fragte sich auch, was mit dem eleganten seidenen Hosenanzug geschehen war, den sie ihr bei Nordstroms gekauft hatte, als sie im letzten Herbst auf der Konzerttournee in Seattle gewesen war. »Die Küche sieht noch immer so aus wie früher«, bemerkte sie, als Mary Wasser in die Kaffeemaschine goß. »Sie ist alt, aber mir gefällt sie so.« Die Küche hatte weiße Schränke mit Arbeitsplatten aus braun beschichtetem Kunststoff, die so abgenutzt waren, daß sie an einigen Stellen schon ganz weiß waren. Tess hatte schon oft mit Mary geschimpft, weil sie keine Unterlage benutzte, aber Mary schnitt noch immer alle Sachen auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Die Wände der Küche waren mit einer gräßlichen Tapete mit orangefarbenen Blumen tapeziert, und an den Fenstern hingen orangefarbene Gardinen mit einem Blumenmuster. Dann gab es noch eine Uhr mit dem Bild eines Sees auf dem Zifferblatt und einen Ele ktroherd mit einer großen Beule. Die hatte er bekommen, weil Judy einmal mit dem Topf dagegen gestoßen war, als die drei Mädchen sich stritten, wer das Popcorn machen sollte. Und neben dem Herd thronte auf der in düsterem braun gestrichenen Anrichte ein selbstgebackener Nußkuchen, in dem sich in jedem Stück ungefähr dreihundert Kalorien versteckten. Tess unterbrach ihre Betrachtung. »Oh, Momma, du hast doch nicht etwa...« Mary wandte sich um und sah, wohin Tess' Blicke gingen. »Natürlich habe ich. Ich konnte doch nicht zulassen, daß mein kleines Mädchen nach Hause kommt, ohne daß ihre Lieblingsspeisen auf sie warten.« Etwas in der Art, wie sie die Worte »kleines Mädchen« aussprach, ging Tess auf die Nerven. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, und sie war von zu Hause weggegangen, gleich nachdem sie ihren Abschluß an der High-School gemacht hatte. Ihr Gesicht und ihr Name waren den meisten Amerikanern so bekannt wie das des Präsidenten, und ihr Einkommen überstieg das seine um
ein Mehrfaches. Sie hatte das alles mit ihrem Talent, ihrer Kreativität und einer Geschäftstüchtigkeit geschafft, die der Wall Street würdig gewesen wäre. Doch ihre Mutter bestand noch immer darauf, Tess ihr »kleines Mädchen« zu nennen. Die wenigen Male, wo Tess sie korrigiert hatte, indem sie behauptete: Ich bin nicht mehr dein kleines Mädchen«, hatte Mary verwirrt und verletzt reagiert. Deshalb sagte Tess jetzt nichts. »Kochst du diesen Kaffee für mich?« fragte sie. »Du kannst doch keinen Nußkuchen essen, ohne dazu Kaffee zu trinken.« »Ich trinke kaum noch Kaffee, Momma... und ich sollte auch keinen Kuchen essen.« Mary warf ihr über ihre Schulter einen Blick zu. Ihre überschwengliche Laune verschwand, und sie drehte langsam den Wasserhahn zu. Der verwirrte Ausdruck lag wieder in ihren Augen, der Ausdruck einer Generation, die sich bemühte, die nachfolgende zu verstehen. »Oh... na ja... dann... was soll's...« Sie blickte auf den halbgefüllten Topf, dann ließ sie das Wasser wieder auslaufen. »Dann werde ich den Kaffee eben für mich selbst kochen.« »Hast du kein Obst, Mom?« Tess ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür. »Obst?« fragte Mary, als habe ihre Tochter gerade pate de foie gras gefordert. »Ich esse sehr viel Obst, und ich könnte jetzt etwas brauchen. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.« »Ich habe noch ein paar Dosenpfirsiche.« Mary öffnete die Tür eines Schrankes und beugte sich unbeholfen vor. »Ja, das wäre nett, aber ich kann sie mir selbst holen. Hey, warum setzt du dich nicht und läßt mich die Arbeit tun?« »Es geht mir auch nicht besser, wenn ich sitze. Ich mache das schon. Warum holst du nicht deine Sachen aus dem Wagen und bringst sie nach oben?« Mary hatte die Pfirsiche gefunden und suchte in der Schublade nach einem Büchsenöffner. Tess griff in die Schublade und legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Weil ich nach Hause gekommen bin, um mich um dich zu kümmern, und nicht umgekehrt. Also, du läßt mich das jetzt machen.« Die Pfirsiche waren in dicken Sirup eingelegt und hatten eine verschrumpelte, gummiartige Haut über einem weichen Fruchtfleisch, doch Tess nahm eine Gabel und aß sie gleich aus der Dose. Dabei wanderte sie in der Küche hin und her, sie sah sich die Notizen an, die an einer Pinnwand neben dem Telefon hingen Die Pinnwand selbst war aus häßlichem Plastik und sah aus wie grüne Erbsen. Schulbilder ihrer Nichten und Neffen hingen daran, eine Notiz, die Telefonrechnung zu überprüfen, um festzustellen, ob
man ihre Gespräche falsch abgerechnet hatte, und einige Lebensmittelcoupons, die ihre Mutter aus d en Zeitungen ausgeschnitten hatte. Tide - fünfundzwanzig Cent billiger. Wie der einmal fragte sich Tess, was ihre Mutter wohl mit dem Geld tat das sie ihr schickte. Es irritierte sie, daß Mary noch immer Coupons aus den Zeitungen ausschnitt, mit denen sie fünfundzwanzig Cent sparen konnte, wenn das doch so verdammt unnötig war! Mary öffnete die Tür des Kühlschrankes. »Ich habe dir dein Lieblingsessen gemacht - Hamburger und Tater Tots. Ich könnte es jetzt gleich in den Ofen stellen, aber« - sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand - »es ist erst vier Uhr, und es dauert eine Stunde, bis es gar ist. Fünf Uhr ist zu früh zum Abendessen, vielleicht sollten wir also noch etwas warten und...« »Die Pfirsiche reichen aus für den Augenblick, Momma. Ich weiß, daß du immer erst um sechs Uhr zu Abend ißt.« Sie sah die Erleichterung in Marys Gesicht, als diese feststellte, daß sie ihren Zeitplan für das Abendessen nicht ändern mußte. Tater Tots waren Tess' Lieblingsessen gewesen, als sie zwölf Jahre alt war. Heutzutage aß sie nur noch einmal in der Woche Rindfleisch, und tiefgefrorene Tater Tots kamen bei ihr gar nicht mehr auf den Tisch. Schließlich besaß sie eine ganze Kollektion maßgeschneiderter Konzertkleidung in der Größe achtunddreißig, die zwischen acht- und zehntausend Dollar das Stück gekostet hatte. Sie nahm die Büchse mit den Pfirsichen mit an den Küchentisch und setzte sich. Mitten auf dem Tisch stand eine Topfpflanze auf einem Plastikuntersetzer, der so häßlich war, wie Tess noch keinen gesehen hatte. Genau wie das Oberteil von Marys Hosenanzug mußte er einmal weiß gewesen sein. Doch jetzt war er vergilbt und verbogen, wie alte Fischschuppen sah er aus. Mary goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu Tess an den Tisch. Vorsichtig sank sie auf dem Stuhl mit den Beinen aus Chrom und dem aufgeplatzten Sitz aus Vinyl, der sich unter einem Kissen aus braunen und orangefarbenen Blumen versteckte. Sie blickte auf Tess' übergroßes T-Shirt mit den vier Ge sichtern darauf und einem Logo. »Was bedeutet das, >Southern Smoke
»Oh, erst ein paar Monate.« »Ist es etwas Ernstes?« »In unserem Geschäft?« Tess lachte. »Besser nicht.« »Aber warum denn nicht?« »Mit seinen Konzertterminen und meinen Auftritten in ganz Amerika, wo ich hundertfünfzig Konzerte im Jahr gebe? Und zusätzlich dazu nehme ich noch dieses neue Album auf, das eine riesige Menge an Zeit kostet. Dann muß ich noch die Werbetour dafür machen, wohin auch immer die Plattenfirma mich schickt... na ja, ich habe Burt in dieser ganzen Zeit genau viermal gesehen. Und dabei mußte ich sogar noch ein paarmal mit Jack streiten, weil er der Meinung war, ich sollte nach Hause gehen und schlafen und mir nicht noch Burts Band im Stockyard anhören, nachdem ich bis zehn Uhr am Abend im Aufnahme studio gewesen war.« »Was ist denn Stockyard?« »Ein Restaurant und ein Club, in den wir manchmal gehen.« »Und wer ist gleich Jack noch einmal?« »Jack Greaves... mein Plattenproduzent.« »Oh, richtig.« Tess sah, wie der kleine Hoffnungsschimmer aus den Augen ihrer Mutter schwand, und sie wußte, daß Mary nicht verstand, worum es ging. Sie konnte die Tatsachen nicht akzeptieren, daß ihre jüngste Tochter die Karriere einer Ehe und Kindern vorgezogen hatte. Für eine Frau wie Mary McPhail, die ganz in ihrer Rolle als Mutter aufging, war dies gleichbedeutend mit einem verschwendeten Leben. »Das erinnert mich daran - ich muß unbedingt Jack anrufen. Er überspielt gerade noch einige Musikspuren auf einen meiner neuen Songs, und ich muß unbedingt mit ihm darüber reden. Es wird nicht lange dauern.« Sie benutzte ihre Kreditkarte für den Anruf von d em Telefon an der Wand in der Küche, und sie erreichte Jack im Wildwood Studio, da sie wußte, daß er heute dort arbeitete. »Hi, Jack.« »Mac! Schön, von dir zu hören. Bist du bei deiner Mutter?« »Jawohl, Sir. Ich bin gesund und munter hier angekommen.« »Wie geht es ihr?« »Na ja, so mittelmäßig.« »Also, dann sag ihr doch bitte von mir, daß ich hoffe, daß alles gutgehen wird.« »Danke, das werde ich ihr sagen. Hey, ich habe mir den ganzen Weg hierher >Tarnished Gold< angehört, und der Akkord auf dem Wort >irren< stört mich noch immer. Ich denke, dieser Akkord sollte ein >Es< sein und
kein >E<. Das würde dem Wort selbst viel mehr Pathos geben.« Sie sang ihm die Stelle vor und gestikulierte dabei mit der Hand, als würde sie die Töpfe auf dem Küchenregal dirigieren. »Verstehst du, was ich meine, Jack?... Kannst du Carla noch einmal ins Studio holen, um die Stelle neu aufzunehmen?... Hat sie noch immer Probleme mit ihrer Stimme?... Na ja, dann bitte sie darum, wirst du das tun?... Danke, Jack, und dann schickst du mir die neue Aufnahme bitte per Expreß, sobald sie fertig ist, aber du brauchst dir nicht erst die Zeit zu nehmen, alles zusammenzumischen, ehe ich nicht die neue Aufnahme gehört habe, okay? Du hast die Telefonnummer meiner Mutter und auch die Adresse, stimmt's? Morgen werde ich nicht hier sein - morgen ist die Operation -, aber ich rufe dich aus dem Krankenhaus an. Sicher. Danke, Jack. Tschüs.« Als sie den Hörer aufgelegt hatte, sah sie in das erstaunte Ge sicht ihrer Mutter. »Du willst etwas ganz neu aufnehmen, nur wegen einer einzigen Note?« »So wird das immer gemacht. Manchmal nehmen wir eine ganze Klangspur auf und benutzen sie dann hinterher gar nicht. Und in der letzten Woche hat Jack einen Konzertgeiger ins Studio geholt, weil ich darauf bestanden habe, denn eine Geige hat einen völlig anderen Klang als eine Fidel, und ich fand, daß dieser Song ein Geigensolo haben sollte an einer Stelle, wo...« Das Telefon läutete und unterbrach sie, und Mary versuchte, aufzustehen. Sie zuckte zusammen, weil ihr die Bewegung weh tat. »Ich gehe dran«, sagte Tess schnell. »Ich stehe ja noch hier.« Sie griff nach dem Hörer. »Hallo?« »Oh... du bist also doch gekommen.« Es war ihre Schwester Judy, mit sehr wenig Wärme in ihrer Stimme. »Ich wollte mich nur versichern, daß du auch da bist.« »Ich bin hier. Vor ungefähr einer halben Stunde bin ich gekommen.« »Wie ich gehört habe, bist du mit dem Wagen gekommen.« »Woher hast du das gehört?« »Die Leute in der Stadt haben dein Nummernschild gelesen.« Tess wandte ihrer Mutter den Rücken zu. »Ich fand, ich sollte meinen eigenen Wagen haben, während ich hier bin«, meinte sie. »Vier Wochen sind...« Sie hielt inne, ihre Mutter konnte jedes Wort hören. Judy beendete den Satz für sie. »Eine lange Zeit... Ich weiß. Ich habe Mutter beim letzten Mal versorgt, du erinnerst dich doch sicher.« Einen Augenblick lang herrschte feindseliges Schweigen, während die beiden Schwestern sich wieder an die Unterhaltung erinnerten, als Judy ihrer jüngeren Schwester befohlen hatte, nach Hause zu kommen. Schließlich fragte Judy: »Wie geht es ihr denn heute? Sie mußte wegen der Voruntersuchungen ins Krankenhaus, und man hat sie wohl auch
herumgeführt und ihr alles erklärt. Ich nehme an, das hat sie ermüdet.« Tess wandte sich zu ihrer Mutter um. »Judy möchte wissen, wie du dich fühlst, Momma.« »Sag ihr, es geht mir gut. Die Schwester meint, mein Hämo globin ist normal und meine Lungenfunktion ist gut, also ist für morgen alles bereit.« Tess wiederholte die Worte ihrer Mutter. »Nun, grüße sie von mir«, meinte Judy. »Sag ihr, daß ich heute abend nicht mehr kommen kann, aber ich werde im Krankenhaus sein, ehe sie morgen früh in den Operationssaal muß. Du mußt dafür sorgen, daß sie um sechs Uhr im Krankenhaus ist, denn die Operatation ist für halb sieben angesetzt. Hat sie dir das gesagt?« Judy stellte diese Frage mit scharfer Stimme. »Keine Sorge, sie wird da sein.« »Na gut. Dann werden wir uns also morgen sehen.« Mary versuchte noch einmal, von ihrem Stuhl aufzustehen. »Augenblick, ich möchte mit ihr sprechen.« »Warte. Momma möchte mit dir reden.« Mit großer Mühe stand M ary auf und ging zum Telefon hiinüber. Als sie mit Judy sprach, trat Tess zu dem Fenster neben dem Küchentisch und starrte hinaus. Das Fenster ging auf den Garten neben dem Haus hinaus, in dem einige übergroße, wuchernde Rhododendronbüsche ihr Grundstück vom Grundstück der Andersons nebenan trennten. »Hey, Liebes. Danke, daß du die Lebensmittel für mich geholt hast. Ich bezahle sie dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen... Nein, nein, nein, du wirst mir nicht meine Lebensmittel bezahlen! Ich sorge schon dafür, daß du das Geld bekommst. Ich finde es nett von dir, daß du sie für mich geholt hast. Wie ist es Nicky ergangen bei seinem Laufwettbewerb?... Oh, ist das nicht wundervoll? Und hat Tricia ein Kleid für den Schulball gefunden? ... So weit weg! Konnte sie in der Stadt nichts finden?... Nun, sie wird bezaubernd aussehen, da bin ich ganz sicher. Sag ihr, sie soll sich richtig gut amüsieren, ich werde am Samstag abend an sie denken... Okay, werde ich... ja... ja. Tschüs.« Während sie Marys Unterhaltung mit ihrer Schwester lauschte, hatte Tess das Gefühl, als sei sie Lichtjahre entfernt von ihrer Familie. Diese verband eine Beziehung miteinander, bei der sie einander beinahe täglich sahen, und auch die Sorgen, die Tess alle hinter sich gelassen hatte, als sie ihr Zuhause verließ. Telefongespräche aus Houston und Oklahoma City waren nicht das gleiche wie Lebensmittel, die man dem anderen in den Kühlschrank räumte, oder wie das Leben der Enkelkinder, die ihre Großmutter beinahe täglich sahen. Auf der anderen Seite klangen ihre Sorgen in Tess' Ohren belanglos, verglichen mit ihren eigenen. Hatten sie schon im Haus des Gouverneurs gesungen oder Preise in der Hauptsendezeit im Fernsehen entgegengenommen? Hatten sie Hallen mit dreißigtausend Fans gefüllt,
deren Eintrittsgelder für Dutzende von Menschen den Lebensunterhalt bedeuteten, angefangen von den Studiotechnikern über die Diskjockeys, Bühnenhelfer bis zum Produzenten, von Los Angeles bis New York? Hatten sie sich Sorgen machen müssen, um Termine einzuhalten für ein Plattenalbum, für das die Werbung und der Auslieferungstermin schon feststanden, noch ehe die Songs überhaupt geschrieben waren? Ballkleider, Laufwettbewerbe und Lebensmittel - all diese Dinge berührten das Leben von Tess nicht länger. Und so sollte es auch sein. Mary legte den Hörer wieder auf. »Ich schwöre dir... Judy hat in dieser Woche alle Hände voll zu tun. Sie hat am Dienstag für Rachel ein Fest zum Anlaß ihrer Hochzeit gegeben, und der Schulball findet an diesem Samstag statt. Jedes Mädchen in der Schule hat einen Termin in ihrem Laden gemacht, um sich von ihr das Haar frisieren zu lassen, sie hat also unheimlich viel zu tun. Und wie es aussieht, hat Nicky an jedem Abend nach der Schule irgendeine Sportveranstaltung, bei der sie auch dabeisein muß. Und als wäre das noch nicht genug, hat Tricia auch noch darauf bestanden, bis nach Cape Girardeau zu fahren, um ein Ballkleid zu kaufen. Ich sage Judy immer wieder, daß sie den Kindern auch mal etwas abschlagen muß.« »So wie du es bei uns gemacht hast?« antwortete Tess. Mary sah sie überrascht an. »Habe ich bei euch nein gesagt?« »Ich erinnere mich an ein paar Gelegenheiten. Eine davon war, als ich mir einen gepolsterten Büstenhalter kaufen wollte, weil ich ganz verrückt war nach Kelvin Hazlitt, der zwei Jahre älter war als ich und mich überhaupt nicht angesehen hat. Ich dachte, wenn ich Brüste hätte wie... na ja, du weißt schon...« Tess machte mit den Händen die entsprechende Bewegung und hob sie vor ihre Brust. »Wie ein schwangeres Rhinozeros, dann würde Kelvin mich bitten, mit ihm auszugehen. Ich mache dir noch heute einen Vorwurf, weil er es nicht getan hat.« "Mary lachte vergnügt und humpelte zum Tisch. »Kelvin Hazlitt ist mittlerweile schon das dritte Mal verheiratet. Gut, daß ich damals nein gesagt habe. »Ein anderes Mal hast du nein gesagt, als ich mich tätowieren lassen wollte.« »Tätowieren! Himmel, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.« »Aber sicher. Mindy hatte eine Tätowierung, und ich dachte damals, ich müßte all das haben, was Mindy hatte. Hast du übrigens etwas von Mindy gehört? Ich bin am Haus ihrer Eltern v orbeigekommen und habe mich gefragt, was wohl aus ihr geworden ist.« »Mindy ist wieder in der Stadt. Sie und ihr Mann besitzen ein Geschäft für Haushaltsgeräte hier in der Stadt, und sie haben drei Kinder, die alle noch zur Schule gehen. Eines davon ist in der gleichen Klasse wie eines von Renees Kindern, glaube ich.« Während Mary weitererzählte, stellte Tess die restlichen Pfirsiche in den Kühlschrank und legte die Gabel in die Spüle. Aus dem Fenster über der
Spüle konnte sie auf der anderen Seite einer kleinen Gasse den Hinterhof von Mrs. Kronek sehen. Die beiden Häuser wurden durch den unbefestigten Weg getrennt, und die beiden Grundstücke waren einander vollkommen gleich, nur spiegelverkehrt. Die beiden Häuser, die Gartenwege, Wäscheleinen, Gärten und Garagen stimmten überein wie die Flecken auf den Flügeln eines Schmetterlings. Die Garagen waren alt, sie standen einzeln direkt an dem Weg, so daß die beiden Tore zu dem Weg einen rechten Winkel bildeten. Während Tess aus dem Fenster sah, begann eines der Tore sich zu heben, dann fuhr ein Wagen über den Weg und in Mrs. Kroneks Garage. Einen Augenblick später trat ein großer Mann in einem Anzug aus der Garage, der in der Hand einen Aktenkoffer trug. Er ließ das Garagentor offen, blickte zu ihrem Haus hinüber und ging dann über den Hinterhof zur Hintertür von Mrs. Kro neks Haus. »Wer ist denn das?« wollte Tess wissen. Mary trat neben sie und sah aus dem Fenster. »Aber das ist doch Kenny Kronek, du erinnerst dich sicher an ihn.« »Kenny Kronek?« Tess sah, wie er die Treppe hinaufging und dann in dem Wintergarten aus Glas verschwand. Er war groß und schlank, mit dunklem Haar. Der Wind blies seine Krawatte zur Seite, und ehe die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, warf er noch einen Blick zu ihrem Haus hinüber. »Du meinst doch nicht etwa diesen Sonderling, der in der Schule immer Nasenbluten hatte?« »Tess, du solltest dich schämen. Kenny Kronek ist ein netter Junge.« »Oh, Momma, das hast du immer schon gesagt, nur weil er Lucilles Sohn ist und sie deine beste Freundin war. Aber du weißt genausogut wie ich, daß er ein Dummkopf war, wie es schlimmer keinen gegeben hat. Er war so dumm, er konnte noch nicht einmal über einen Kreidestrich laufen, ohne darüber zu stolpern. Und all diese Pickel, die er hatte! Ich kann noch immer die Aknesalbe riechen, mit der er sich eingeschmiert hat.« »Kenny hat sich um seine Mutter gekümmert bis zu ihrem Tod, und es gibt viele nette Menschen auf der Welt, die ein wenig ungelenk sind, Tess. Außerdem ist er ein wirklich guter Vater, und er kümmert sich sehr gut um das Haus, seit Lucille gestorben ist, ich kann mich in keinerlei Hinsicht über ihn beklagen.« »Willst du damit sagen, daß es wirklich eine Frau gegeben hat, die diesen Mann geheiratet hat?« »Natürlich hat ihn jemand geheiratet. Ein Mädchen, das er im College kennengelernt hat, Stephanie. Aber jetzt sind die beiden geschieden.« »Kein Wunder«, murmelte Tess leise vor sich hin und wandte dem Fenster den Rücken zu. »Tess«, sagte ihre Mutter, mit einer leisen Ermahnung in der Stimme.
»Nun ja, er hat immer...« Tess gestikulierte mit den Händen, als fände sie nicht das richtige Wort. »Er hat mich immer so angesehen. Du weißt schon, was ich sagen will.« Sie tat, als würde ein Schauer durch ihren Körper laufen. »Er war ein solcher Schleimer.« »Das finde ich gar nicht.« »Du vielleicht nicht, aber alle Mädchen in der Schule, das ist ganz sicher.« »Ach, Tess, komm schon.« »Es stimmt aber. Das einzige Fach, das wir zusammen hatten, war der Chor, als ich noch in der unteren Klasse war und er in der höheren. Weißt du noch, als wir zu dem Chorfestival nach St. Louis gefahren sind? Wir sind mit dem Bus gefahren, und Kenny hat sich neben mich gesetzt, und ich bin ihn nicht wieder losgeworden. Er saß neben mir, mit all seinen Pickeln und seinem langen, dürren Hals und diesem Adamsapfel, der aussah wie eine Pampelmuse in einer Socke. Und er wurde so rot und war so verlegen, daß er sofort wieder Nasenbluten bekam. Und sein Haar - Himmel, Mutter, weißt du noch, wie er immer sein Haar kämmte? Wir saßen also nebeneinander in diesem Bus, und er versuchte, mit mir Händchen zu halten!« »Na und, was ist denn schon dabei?« »Mutter, das war in den siebziger Jahren! Die meisten Mädchen, die ich kannte, schliefen schon mit ihren Freunden. Und ausgerechnet Kenny Kronek - der größte Trottel von allen - kommt zu mir und versucht, all seinen Mut zusammenzunehmen, um meine Hand zu halten! Ich schwöre dir, meine Freundinnen haben sich so sehr über mich lustig gemacht, daß ich dachte, ich würde sterben.« »Ihr Kinder wart so gemein zu ihm.« »Mom, es gab Kinder, mit denen war man befreundet, und andere Kinder, von denen wollte man nichts wissen. Und Kenny Kronek gehörte entschieden in die zweite Gruppe.« »Trotzdem hättest du ein wenig netter zu ihm sein können.« »Nein, ganz bestimmt nicht. Nicht zu diesem Trottel. Er hätte sich nur ein wenig umsehen müssen, hätte sich die anderen ansehen müssen, um festzustellen, wie idiotisch er selbst aussah, und er hätte sich dann ändern müssen. Doch das hat er nie getan. Wenn er mit uns zusammensein wollte, dann hätte er sich ein wenig mehr Mühe geben müssen.« Mary zeigte ihren Unwillen nicht gern offen, doch gab es genug Anzeichen dafür - ein Muskel in ihrem Gesicht, der sich anspannte, die Art, wie sie die Kaffeetasse in die Hand nahm und sie zur Spüle trug. Mir ruhiger Stimme erwiderte sie: »Warum holst du nicht dein Gepäck aus dem Wagen und stellst dann den Wagen vor die Garage? Dort steht er sicher besser, als wenn du ihn die Nacht über auf der Straße stehen läßt, einen so teuren
Wagen.« Tess wußte, daß ihre Mutter sie auf diese Art zurechtwies, und sie verspürte einen dicken Kloß im Hals. Wieso traf einen der Unmut einer Mutter nur um so vieles schwerer als der eines anderen Menschen? Tess konnte die schwierigsten geschäftlichen Verhandlungen führen, in der Welt der Unterhaltungsindustrie bewegte sie sich wie ein Profi, sie traf ihre eigenen Entscheidungen und produzierte Musik, für die sie Respekt - ja sogar Ehrfurcht - erntete. Doch jetzt war sie noch keine Stunde zu Hause und fühlte bereits die Einschränkungen, die ihr auferlegt wurden, weil sie versuchte, an einen Ort zurückzukehren, dem sie längst entwachsen war. Sie fuhr bis zum südlichsten Ende des Häuserblocks und bog von dort in die Gasse ein, vorbei an alten Schuppen und an Garagen, hinter denen sie als Kind Verstecken und Fußball mit alten Dosen gespielt hatte, vorüber an Magnolienbäumen und wildem Wein, der Dinge überwuchert hatte, die er eigentlich gar nicht überwuchern sollte. Es gab dort Stapel aus schwarz gewordenem Holz und alte Fässer, die nicht mehr gebraucht wurden. Jedes Haus besaß einen Garten. Diese Gärten waren üppig grün und so alt, daß ihre Grenzen überwuchert waren von Bäumen, die ihre Samen zwischen den Schuppen verteilt hatten, und von Büschen, die in die Nachbargrundstücke hineinwuchsen. Aber hier in Wintergreen, ein Stück über dem Stiefelabsatz von Missouri, wo Nachbarn noch wirkliche Nachbarn waren und es seit zwanzig oder dreißig Jahren gewesen waren, kümmerte sich niemand um den genauen Grenzverlauf. Marys Garage war genauso alt wie die der anderen, und sie brauchte dringend einen neuen Anstrich. Überraschenderweise besaß sie jedoch ein neues Tor. Vor dieses Tor stellte Tess jetzt ihren Wagen und warf einen Blick auf das Haus auf der anderen Seite der Gasse. Alles war frisch gestrichen und gepflegt, nirgendwo rankte wilder Wein, und kein einziges Stück Abfall lag herum. Ein Pluspunkt für den heiligen Kenny, dachte Tess sarkastisch, nahm ihr Gepäck aus dem Wagen und ging zum Haus. Auf dem Weg über den Hinterhof stellte sie fest, daß ihre Mutter es irgendwie geschafft hatte, den Garten zu bestellen. Dieser Garten war Tradition, ganz gleich, wie unnütz er auch war oder welch große Schmerzen ihre Mutter hatte ertragen müssen, als sie auf Knien die Saat ausgebracht hatte. Tess bemerkte, daß alles wunderbar wuchs, weil der Frühling in diesem Jahr sehr früh eingesetzt hatte. Und wenn sie richtig rechnete, dann würde sie wohl in den nächsten vier Wochen auch für den Garten sorgen dürfen. Ganz sicher würde das ihre Fingernägel ruinieren! Und ihre Fingernägel waren eines ihrer Markenzeichen. Die Treppe zur Hintertür hatte drei Stufen mit einem Handlauf aus schwarzem Eisen an einer Seite. Tess fragte sich, wie Mary diese Stufen wohl nach der Operation schaffen würde. Im Inneren des Hauses gab es einen
kleinen Flur, von wo aus die Tür in den Keller führte und man über eine weitere Stufe nach rechts durch eine Tür in die Küche gelangte. Als Tess das Haus erreicht hatte und mit ihrem Gepäck durch die Küche ging, rief sie über ihre Schulter: »Hey, Momma, du hättest mit deiner schlimmen Hüfte nicht auch noch den Garten bestellen sollen.« Sie war schon im Wohnzimmer, als Mary antwortete: »Oh, das habe ich gar nicht getan. Kenny hat das in diesem Jahr für mich gemacht.« Tess blieb abrupt stehen und trat dann von der ersten Stufe der Treppe wieder herunter, die sie gerade hatte hinaufgehen wollen. Sie blickte zu dem Bogengang, der in die Küche führte. Doch sie konnte nur die Tischbeine und das Fenster dahinter erkennen, und im Geiste stellte sie sich vor, wie der picklige Kenny Kronek Mutters Tomaten gepflanzt hatte. »Er hat einen Rotorpflug«, erklärte Mary weiter. »Und er hat es mir angeboten, also habe ich zugestimmt.« Der heilige Kenny mit dem Rotorpflug, dachte Tess und verzog das Gesicht, als sie die Treppe hinaufpolterte. Mary rief ihr hinterher: »Und hast du mein neues Garagentor gesehen? Er hat es für mich eingebaut.« Tess hielt mitten in der Bewegung inne, ihr Gepäck stellte sie auf der Treppe ab. Der Tölpel hatte auch noch das Garagentor eingebaut? Was beabsichtigte er wohl damit? Die obere Etage des Hauses bestand aus nur einem Raum mit schrägen Wänden und je einem Fenster an beiden Seiten. Die Mädchen hatten dieses Zimmer immer die Baracke genannt, als sie noch darin wohnten. Drei Betten standen mit dem Kopfende gegen die südliche Wand, die Treppe befand sich an der östlichen Seite, und um die Treppenöffnung herum war ein kräftiges, selbstgebautes Geländer, das dafür sorgte, daß niemand hin unterfallen konnte. Gleich am oberen Ende der Treppe war ein Fenster, von dem aus man in den Garten des heiligen Kenny sehen konnte. Tess ging daran vorbei, ohne auch nur einen Blick hinauszuwerfen, sie ging um das Geländer herum und blickte zur anderen Seite des Raumes. Die Betten standen links, neben jedem Bett stand eine Kommode. Am anderen Ende des Raumes befand sich unter dem Fenster ein kleiner Toilettentisch, und nach rechts hin waren kleine Schränke in Kniehöhe unter der Dachschräge eingebaut. Tess legte ihr Gepäck auf das hinterste Bett. Die Reihenfolge, in der die Mädchen in den Betten schliefen, hing von ihrem Alter ab. Das Bett, das der Treppe und damit auch dem Bad unten am nächsten war, gehörte der Ältesten, Judy, im mittleren Bett schlief Renee, und das Bett an der anderen Seite des Raumes war das Bett von Tess, denn sie war das Baby. Sie hatte es immer gehaßt, wenn man sie das Baby der Familie nannte, und jetzt fühlte sie einen Anflug von selbstgefälliger Zufriedenheit,
weil sie diejenige war, die ihr Zuhause verlassen und das Beste aus sich gemacht hatte. Sie sah sich um und ging dann zu der Kommode hinüber, an der sie gesessen und zum ersten Mal in ihr Tagebuch geschrieben hatte, daß sie Sängerin werden wollte. Hier hatte sie von Renee gelernt, Make -up zu benutzen; und von hier aus hatte sie mit geschürzten Lippen auf die Straße hinuntergestarrt, wenn sie zur Strafe in ihr Zimmer geschickt worden war. Warum eigentlich? Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, aber so etwas war früher oft passiert. Und wahrscheinlich hatte sie es auch verdient, nahm sie an. Auf dem Toilettentisch stand eine leere Parfümflasche von Love's Baby Soft und eine gerahmte Fotografie von Judy mit zwei ihrer Freundinnen aus der High-School. Daneben entdeckte Tess ein rosa Glasschälchen mit einem Perlmuttknopf, einem kleinen Ring, einem Haarband und ein paar Staubflocken. In das Holz des Tisches hatte Tess im Jahr 1977 mit einem Kugelschreiber den Namen Elvis gedrückt. Es war das Jahr gewesen, in dem sie ihren High-School-Abschluß gemacht hatte. Auch wenn der Tisch seither ein paarmal gestrichen worden war, so sah man den Namen noch immer. Tess war mit der Musik von Elvis aufgewachsen, und damals war er ihr Idol gewesen: Wenn er es schaffen konnte, dann würde sie es auch schaffen. Sie strich mit der Fingerspitze über das Wort, dann machte sie die kleine Lampe mit dem Lampenschirm aus billigem Plastik an. Sie knipste sie wieder aus und öffnete dann die Schublade der Kommode. Etwas rollte darin herum, und Tess griff hinein und holte einen Bonne-Bell-Lippenstift mit Root-Bier-Geschmack hervor. Sie öffnete ihn und roch daran. Eine Woge von Nostalgie hüllte sie ein - sie war wieder dreizehn Jahre alt und bekam ihre ersten Seidenstrümpfe; sie war vierzehn und benutzte Parfüm für Erwachsene; sie war fünfzehn und hatte ihre erste wirkliche Verabredung mit einem Jungen. Sie rieb mit dem Lippenstift über ihre Lippen. Er war klebrig geworden, und mit dem Handrücken wischte sie sich über die Lippen und legte den Lippenstift dann in die Kommode zurück. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Toilettentisch und blickte aus dem Fenster auf die Straße hinunter. Von hier aus hatte sie nach den Autos Ausschau gehalten, wenn ihre Freunde sie abholen kamen. Die Bäume im Vorgarten waren gewachsen, und von hier oben konnte man die zersprungenen Platten im Gehweg noch viel besser erkennen, auch die hellen Flecken auf dem Rasen und das Unkraut. Die Sonne stand gerade noch über den Dächern der Häuser auf der anderen Straßenseite, wo sie sich als Babysitter ihr erstes Taschengeld verdient hatte. Von unten hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Tess? Soll ich jetzt das Essen in den Ofen schieben?« Sie murmelte leise vor sich hin: »Jawohl, Momma, denn die Welt wird
sich aus den Angeln heben, wenn das Essen nicht pünktlich um sechs Uhr auf dem Tisch steht.« Sie richtete sich auf und rief: »Ich mache das schon, Momma. Ich hänge nur noch meine Sachen auf, okay?« »Na ja... okay«, antwortete Mary zögernd, dann fügte sie noch hinzu: »Aber es ist schon zehn nach fünf, und es sollte wirklich eine ganze Stunde im Ofen sein.« Tess konnte nicht anders, sie schüttelte den Kopf. Der übliche Stundenplan im Musikgeschäft begann damit, daß man um die Mittagszeit aufstand, dann war man von etwa zwei Uhr bis neun im Studio, irgendwann gegen sechs brachte eine Cateringfirma etwas zu essen. An den Abenden, wenn sie Konzerte gab, bedeutete das, daß sie zwischen acht und elf Uhr auftrat und dann um Mitternacht aß. Wenn sie in Clubs sang oder mit dem Bus unterwegs war, packte man um ein Uhr am Morgen seine Sachen zusammen und aß die letzte Mahlzeit des Tages, während man über den Highway rollte. Aber Tess rief pflichtschuldigst: »Ich bin gleich da, Mom!« Ihre Mutter hatte das Essen bereits in den Ofen geschoben, als Tess nach unten kam, sie ließ Tess den Tisch decken und den Rest des Essens vorbereiten. Mary schlug vor, zu den fettigen Tater Tots Toast zu essen (natürlich mit richtiger Butter und hausgemachter Himbeermarmelade), dazu Kaffee (mit Sahne und Zucker natürlich) und zum Nachtisch Nußkuchen mit Schlagsahne (mit richtiger Schlagsahne, nicht der aus der Dose - das waren zusätzlich noch vierzig Kalorien pro Stück für die Schlagsahne, überlegte Tess). Ein diskreter Blick in den Kühlschrank brachte nur einen Kohlkopf zum Vorschein, doch keinen Salat oder Hüttenkäse, saure Sahne, aber keinen Joghurt undVollmilch, keine fettarme Milch. Wo waren denn nur die Lebensmittel, die Judy gebracht hatte? Im Gefrierschrank fand Tess, Gott sei Dank, ein Paket gefro renen Broccoli. »Mom, hättest du etwas dagegen, wenn ich das hier koche?« fragte sie. Mary sah ihre Tochter an, als hätte diese ihre Gefühle verletzt. »In dem Essen ist doch Gemüse drin.« Kartoffeln, die im Fett schwimmen, dazu dicke, sahnige Hühnerbrühe. »Wenn du die Broccoli lieber aufheben möchtest für ein anderes Essen...« »Nein, nein, koche sie dir nur!« Das tat Tess auch, doch als dann das Hauptgericht heiß war, duftete es so köstlich und sah so verlockend aus, daß sie sich darüber hermachte wie ein Soldat nach einem langen Fußmarsch. Sie trank auch die verflixte Vollmilch, weil es die ein zige Milch im Haus war, und sie aß auch eine halbe Scheibe Toast mit Butter und Marmelade. Mary lächelte zufrieden, als sie ihr zusah.
Als die Teller leergegessen waren, schnitt Mary ein Stück von dem Kuchen ab. »Ich habe dir extra ein kleines Stück abgeschnitten.« »Ich kann es nicht essen, Momma, ehrlich nicht. Es sieht köstlich aus, aber ich kann nicht mehr.« »Ach, Unsinn.« Mary zog Tess' Teller zu sich. »Ich habe den Kuchen extra für dich gebacken. Was wird dir ein kleines Stück Kuchen schon schaden? Wenn du mich fragst, du siehst aus wie eine Vogelscheuche, du könntest ruhig ein wenig mehr Fett auf den Knochen brauchen.« »Bitte, Momma, nein, ich kann nicht.« Trotzdem legte Mary das Stück Kuchen auf Tess' Teller. »Tu dir keine Schlagsahne drauf, dann macht der Kuchen auch nicht so dick.« Tess aß pflichtschuldigst ein erstes Stück, als jemand an die Hintertür klopfte und die Tür dann öffnete, ohne auf eine Aufforderung zu warten. »Mary?« fragte der Mann und trat in den winzigen Flur. Jetzt trug er keinen Anzug mehr, sondern einen roten Anorak, er hatte auch keinen Aktenkoffer mehr in der Hand, sondern er trug auf seiner linken Schulter einen vierzig Pfund schweren Sack mit Salztabletten. »Oh, Kenny, du bist das.« Mary begann sofort zu strahlen. »Ich habe dir das Salz für die Wasseraufbereitung gebracht«, erklärte er und wandte sich unter seiner schweren Last langsam um, um die Kellertür zu öffnen. »Ich trage es gleich nach unten.« »Oh, tausend Dank, Kenny. Tess, mach ihm doch bitte das Licht an, Schatz.« »Habe ich schon«, rief er, als das Licht im Keller anging. Seine Schritte verklangen, dann gab es eine Pause, als er den Sack öffnete, und kurz darauf hörte man, wie die Salztabletten in den Plastikbehälter geschüttet wurden. Dann kam er die Treppe wieder hinauf, schnell diesmal, als würde er laufen. »Ich habe noch einen Sack. Ich bin gleich wieder da.« Als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, flüsterte Tess: »Er kommt so einfach in dein Haus, ohne anzuklopfen?« »Ach, Tess, wir sind hier in Wintergreen, nicht in Nashville.« Im nächsten Augenblick war er schon wieder da, mit dem zweiten Sack, den er ebenfalls nach unten trug und in den Plastikbehälter leerte, ehe er wieder nach oben kam. Als er die Kellertür hinter sich schloß und dann die Stufe hinauf in die Küche kam, steckte Tess gerade den zweiten Bissen von dem Kuchen in den Mund und blickte dabei angelegentlich auf ihren Teller, als hätte er all die schlimmen Dinge gehört, die sie eben über ihn gesagt hatte. Doch sie hätte sich gar keine Sorgen zu machen brauchen, denn er bedachte sie mit keinem einzigen Blick. Er trat neben Marys Stuhl, blickte zu ihr hinunter, rieb dann die Hände gegeneinander, sein Anorak machte dabei ein
singendes Geräusch. »Also, alles wieder aufgefüllt. Brauchst du sonst noch etwas?« »Ich glaube nicht. Das wird jetzt wohl eine Weile reichen. Kenny, du erinnerst dich doch an Tess, nicht wahr?« Er nickte Tess abwesend zu, beinahe so, als würde er sie gar nicht sehen. Sein Benehmen war brüsk, schon beinahe rüde, und er begrüßte sie nicht mit einem einzigen Wort. Sie war nicht ein mal sicher, ob er immer noch Pickel hatte, denn sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn anzusehen. Sie aß weiter ihren Kuchen, während Mary fragte: »Wieviel bin ich dir schuldig, Kenny?« Er holte einen Kassenbon aus der Tasche und reichte ihn ihr. » Sieben-achtzig.« Mary wandte sich an Tess. »Liebling, würdest du bitte meine Tasche holen? Sie hängt am Schrank in meinem Schlafzimmer.« Tess war froh, daß sie das Zimmer verlassen konnte. Hinter sich hörte sie, wie Mary Kenny berichtete, wann Tess angekommen war. Doch er wechselte das Thema und fragte sie, ob sie für morgen früh alles hergerichtet hatte. Als Tess mit der Tasche in das Zimmer zurückkam, trat er einen Schritt zur Seite, um ihr nicht im Weg zu stehen, und sagte noch immer nichts. Mary holte das Geld aus der Tasche und reichte es ihm, während Tess sich wieder an den Tisch setzte. »Bitte schön. Sieben Dollar...« Sie zählte noch ein paar Münzen in seine Hand. »Und achtzig Cents.« »Danke.« Er steckte die Münzen in die Tasche seiner Jeans und griff dann in die hintere Tasche seiner Jeans nach seinem Geldclip. Dabei wandte er ihr den Rücken zu, und Tess, die schnell aufgeblickt hatte, bot sich der Anblick seines strammen Pos. »Dann ist also alles bereit für morgen?« fragte er Mary. »Und die Blutabnahme war auch in Ordnung? Hast du denn auch deine Gehhilfe aufpoliert?« »Jawohl, Sir, alles ist bereit.« »Hast du Angst?« fragte er mit ruhiger Stimme. »Nicht so sehr. Ich habe das ja schon einmal erlebt, ich weiß also, was mich erwartet.« »Dann brauchst du also nichts mehr zu tun?« »Nein. Tess bringt mich morgen früh um sechs Uhr ins Krankenhaus. Das heißt, wenn ich es schaffe, in ihren Wagen zu klettern. Ich weiß nicht einmal, wie der Wagen heißt, aber er hat mehr gekostet als dieses Haus. Hast du ihn gesehen, Kenny?« Ein unangenehmes Schweigen senkte sich über den Raum. Was konnte Kenny anderes tun, als ihr zu antworten? Noch immer vermied er es, Tess anzusehen. »Ja, Mary, ich habe ihn gesehen.«
»Sie ist den ganzen Weg von Nashville hierhergekommen, um sich um mich zu kümmern.« Als er dann endlich Tess mit einem unpersönlichen Blick bedachte, konnte sie ihm nicht ausweichen. »Hallo, Kenny«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Tess«, antwortete er so kalt, daß sie wünschte, er hätte besser gar nichts gesagt. Seine entsetzliche Frisur war verschwunden, und auch die Pickel hatte er nicht mehr. Er sah gar nicht einmal so schlecht aus, er war viel größer, als sie angenommen hatte, mit braunen Augen und dunklem Haar, mit einem konservativen Haarschnitt. Aber er war Tess gegenüber distanziert. Nachdem er sie pflichtschuldigst begrüßt hatte, wandte er sich wieder Mary zu, hockte sich neben ihren Stuhl und legte die Fin gerspitzen leicht auf ihr Knie. »Also, dann hör mir jetzt einmal zu...« Während er Mary mit seiner tiefen, warmen und einfühlsamen Stimme Mut zusprach, floh Tess vom Tisch. Sie tat, als wolle sie die Kaffeekanne holen, doch in Wirklichkeit versuchte sie, ihre Demütigung zu verbergen, da er sie einfach ignorierte. Tess McPhail, deren Bild auf dem Cover des Time-Magazins abgebildet war, die eingeladen worden war, im Weißen Haus zu singen, und deren Auftritte ihre Fans zu Begeisterungsstürmen hinriß, so daß sogar manchmal die Polizei eingeschaltet werden mußte. Tess McPhail wurde von diesem hochmütigen, eingebildeten Trottel Kenny Kronek kurz abgefertigt. »Ich werde morgen früh an dich denken«, versprach er Mary. »Und ich komme dich besuchen, sobald es dein Zustand zuläßt. Casey läßt dich grüßen, sie wünscht dir viel Glück, und sie wird dich auch besuchen, wenn sie kann. Also, mach's gut, und es wird nicht getanzt, ehe der Arzt es dir erlaubt, okay?« Mary tätschelte seine Hand und lachte. »Die Zeit, als ich noch getanzt habe, ist vorbei, Kenny, also solltest du besser auf mich aufpassen.« Auch er lachte, dann stand er wieder auf. »Viel Glück, Mary«, sagte er ruhig, dann umfaßte er ihr Kinn, beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Danke, mein Lieber.« Die Küche war klein. Als er sich umwandte, um zu gehen, stand Tess ihm mit der Kaffeekanne in der Hand im Weg. Ihre Augen blitzten wütend. »Entschuldigung«, sagte er und ging um sie herum, als sei sie eine Fremde, der er in einem Aufzug begegnet war. Als sich die Tür hinter ihm schloß, stand Tess mit hochrotem Gesicht in der Küche.
2. Kapitel Tess McPhail war es nicht gewöhnt, daß man sie behandelte wie einen
Holzklotz. Wo immer sie auch hinging, die Leute beachteten sie. Ihre Fans liebten sie. Radiosender wetteiferten mitein ander um ihre Interviews. Leute im Restaurant baten sie um ihr Autogramm. Ihr Agent war davon überzeugt, daß sie die weitaus begabteste Frau war, die er in seinem ganzen Berufsleben vertreten hatte. Ihr Produzent erklärte, daß sie Gespür für einen Hit hatte und auch das Talent, ihn umzusetzen, und d aß er durch sie ebenfalls zu einem Star geworden war, weil er mit ihr zusammenarbeitete. Sie besaß die geschäftlichen und privaten Telefonnummern der ganzen Hierarchie von MCA Records, die sich am Telefon niemals verleugnen ließen, wenn sie wußten, daß Tess am anderen Ende der Leitung war. Doch wäre Kenny Kronek ein Hund gewesen mit einem natürlichen Drang, er hätte an ihrem Fuß das Bein gehoben. Im gleichen Augenblick, als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, knallte sie die Kaffeekanne auf den Herd, wandte sich zum Tisch und stellte klirrend die Teller zusammen. »Also!« rief sie ärgerlich, trug das Geschirr zur Spüle und stellte es dort ab. »Seit wann ist er hier der Hausherr?« »Also, Tess, du sollst nicht so undankbar sein. Es gibt so viele Gelegenheiten, wo die Kinder nicht extra hierherkommen können, um mir zu helfen, und dann ist Kenny immer zur Stelle. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne ihn tun sollte.« »Das habe ich gesehen.« »Aber Tess, worüber regst du dich denn so sehr auf?« »Ich rege mich nicht auf! Aber er spaziert so einfach hier herein, als ob ihm das Haus gehören würde! Und wer ist Casey?« »Seine Tochter, und würdest du bitte damit aufhören, das Ge schirr so unsanft zu behandeln?« »Ich nehme an, sie kommt auch so einfach hier herein, ohne anzuklopfen!« Jetzt erst begriff Mary, worum es ging. »Aber Tess, du regst dich nur deshalb auf, weil er dich nicht beachtet hat!« »Oh, Mutter... also wirklich. Du solltest mir ein wenig mehr Vertrauen schenken.« »Ich schenke dir alles Vertrauen der Welt, wenn du es verdient hast, aber nicht, wenn du Kenny kritisierst. Und ich habe gesagt, du sollst mein Geschirr nicht so unsanft behandeln. Du wirst es noch kaputtmachen.« »Wenn das passiert, werde ich dir neues kaufen. Sieh dir doch nur einmal dieses alte Zeug an! Die Teller sind ganz verkratzt, und der Goldrand ist auch verblaßt! Warum kaufst du dir kein neues Geschirr von dem Geld, das ich dir schicke? Und wo wir gerade davon sprechen, warum hast du dir überhaupt nichts gekauft von diesem Geld?« »Mir gefällt das alte Geschirr. Ich habe es schon seit der Zeit, als dein Dad
noch lebte, also sei bitte ein wenig vorsichtiger. « »Mutter, du solltest diesem Mann nicht einfach erlauben, in dein Haus zu kommen, wann immer es ihm paßt!« »Ach, Tess, hör dir doch nur einmal selbst zu. Er ist mein Nachbar. Warum regst du dich darüber so auf? Ich kannte seine Mutter vierzig Jahre lang.« »Er ist unhöflich.« »Zu mir nicht.« »Nein, nur zu mir!« »Kannst du ihm deswegen einen Vorwurf machen? Gerade erst hast du mir erzählt, wie häßlich du immer zu ihm gewesen bist.« Tess gab ihrer Mutter keine Antwort. Sie drehte den Wasserhahn auf, füllte die Spüle und wusch dann das Geschirr ab, eine Arbeit, die sie verabscheute. Vor fünf Jahren hatte sie ihrer Mutter angeboten, ihr ein neues Haus zu bauen, mit einer Spülmaschine und einer Klimaanlage und mit all den Dingen, die sie sich wünschte! Vor fünf Jahren! Aber hatte Mary zugestimmt? Natürlich nicht. Statt dessen stand sie jetzt hier, spülte das Ge schirr mit der Hand und blickte dabei aus dem Fenster zu Kenny Kroneks Haus! »Also gut! Er hat mich wütend gemacht, aber dieser Mann ist ein absoluter Flegel.« Ihre Mutter holte sich ein Geschirrtuch aus dem Schrank und griff nach einem nassen Teller. »Ich möchte mich nicht mit dir streiten, Tess. Du hast nie sehr viel von Kenny gehalten. Und ich erwarte auch nicht, daß sich das jetzt ändert. Aber er war wirklich sehr gut zu mir, und es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit, wenn ich weiß, daß er in der Nähe ist, wann immer ich ihn brauche.« Tess nahm ihrer Mutter das Geschirrtuch und den Teller aus der Hand. »Ich spüle. Du kannst dich hinlegen und dich ausruhen, lesen oder deine Sachen für morgen zusammenpacken.« Mary blickte zum Wohnzimmer. »Nun ja... die Schwester hat mir eine Spezialseife gegeben und mir gesagt, daß ich heute abend ein Bad damit nehmen soll und dann noch eines morgen früh.« »Geh nur, nimm dein Bad, ich bringe die Küche in Ordnung. Brauchst du Hilfe?« »Nein... nein, ich schaffe das schon.« Als Mary das Zimmer verlassen hatte, packte Tess das Ge schirrtuch an beiden Enden, zerrte daran und starrte aus dem Fenster. Vier Wochen, überlegte sie. Es wird noch keine zwei Wochen dauern, dann bin ich verrückt geworden. Einen Augenblick später hörte sie, wie im Bad das Wasser lief. Sie machte sich wieder an ihre Arbeit und versuchte, das Haus auf der
anderen Seite der Gasse nicht zu beachten und auch nicht die Tatsache, daß der Eigentümer dieses Hauses ihr heute eine derbe Abfuhr erteilt hatte. Sie konnte von hier aus sein Küchenfenster sehen, und ab und zu erkannte sie auch einen Kopf hinter der Scheibe, der sich bewegte. Der Wintergarten, der schon in den sechziger Jahren an das Haus angebaut worden war, war auch erleuchtet, obwohl sich dort niemand aufhielt. Tess erinnerte sich schwach daran, mit Kenny gespielt zu haben, als sie beide noch klein waren und ihre Mütter zusammen Kaffee getrunken hatten. Doch noch deutlicher erinnerte sie sich daran, daß sie sich jedesmal mit Händen und Füßen gewehrt hatte, wenn sie mit ihm spielen sollte, als sie älter wurde. Sie war beinahe fertig mit dem Geschirr, als sich die Haustür öffnete und eine wohlbekannte weibliche Stimme rief: »Tess, bist du da?« Renee. Tess' Herz hob sich beim Klang der Stimme ihrer Schwester, obwohl sie den Wunsch unterdrückte, zu ihr zu laufen und sie in den Arm zu nehmen. Statt dessen wartete sie in der Küche auf Renee. Im nächsten Augenblick schon stand Renee in der Tür - eine große, dunkelhaarige und klassisch schöne Frau mit einem angenehm ruhigen Gesicht wie eine Walt-Disney-Zeichnung einer Prinzessin. Renee war die mittlere der drei McPhail-Mädchen und war jetzt achtunddreißig Jahre alt, sah aber aus wie dreißig. Sie trug einen pastellblauen Rock und eine Bluse und um die Schultern hatte sie einen weißen Pullover gelegt. Ihr schulterlanges, kastanienbraunes Haar sah aus, als sei sie im Auto mit offenem Fenster gefahren. »Du bist wirklich hier!« jubelte sie, streckte Tess die Arme entgegen und strahlte sie an. »Hallo, du kleines Miststück.« Renee lachte, nahm Tess in den Arm und drückte sie fest an sich. »Was willst du damit sagen, kleines Miststück?« »Du weißt ganz genau, was ich damit sagen will. Mich so einfach hierher zu befehlen, damit ich mich um Momma kümmere. Ich bin so wütend auf dich, ich könnte dich erwürgen.« Renee fand die ganze Sache lustig. »Nun, wenn das dazu nötig war, dich nach Hause zu bringen, dann nehme ich an, haben wir es wohl richtig gemacht.« »Wahrscheinlich hast du mir damit einen Haufen Schwierig keiten gemacht, aber das weißt du, nicht wahr?« »Ach, komm schon«, wehrte Renee ab. »Ich habe einen Plattenvertrag, und eigentlich sollte ich genau in diesem Augenblick für die Aufnahmen im Studio sein.« »Und ich sollte zu Hause sein und das Essen für meine Familie auf den Tisch stellen, aber ich war unterwegs und habe nach fünfundzwanzig
eingetopften Veilchen gesucht für die Tische beim Empfang nach der Hochzeit. Außerdem habe ich bei der Firma, die das Essen liefert, ein Florentiner-Hühnchen probiert und versucht, jemanden zu finden, der eine weiße Kutsche hat, denn Rachel besteht darauf, in einer weißen Kutsche vor der Kirche vorzufahren. Doch die einzigen Kutschen, die ich hier in dieser Gegend finden konnte, sind schwarz und sehen aus, als wäre schon Robert E. Lee damit in die Schlacht gefahren.« »Weißt du eigentlich, daß ich sieben Auftritte habe absagen müssen?« »Was glaubst du, was wir alles haben absagen müssen, als Momma das letzte Mal im Krankenhaus war?« Jetzt hielten sie einander nicht mehr in den Armen, sie lehnten sich beide zurück und betrachteten einander abschätzend. »Für dich ist das aber einfacher«, meinte Tess. »Du lebst hier.« »Versuche einmal, dieses Argument Judy gegenüber anzubringen, dann wirst du sehen, wie weit du damit kommst.« »Judy. Ha! Mit Judy werde ich kaum noch reden, nach der Art, wie sie mich am Telefon behandelt hat.« »Sie ist ganz einfach nur ärgerlich auf dich. Das ist sie schon seit zehn Jahren, weil du nie nach Hause kommst.« »Was willst du damit sagen, ich würde nie nach Hause kommen? Ich komme nach Hause!« »Aber sicher. Einmal im Jahr oder so, wenn dein Zeitplan es dir gerade erlaubt. Meine Süße, eine Familie hat mehr verdient als das.« »Aber das verstehst du nicht.« »Sicher verstehe ich das. Du hast eben deine Prioritäten.« »Renee-ee!« »Te-ess«, antwortete ihre Schwester im gleichen Ton. »Von Judy hätte ich so etwas erwartet, aber nicht von dir.« »Du bist jetzt dran, Tess, und das weißt du auch«, antwortete Renee schlicht. Ihnen waren die Argumente ausgegangen. Tess ging zur Spüle zurück, zog den Stöpsel heraus und ließ das Wasser ablaufen. Sie drückte das Spültuch aus und wischte damit über den Wasserhahn. Dann wandte sie sich zu ihrer Schwester um, zeigte mit der Hand zum Bad und flüsterte: »Sie macht mich verrückt!« Auch Renee sprach leise. »Es sind doch nur vier Wochen, und wenn die Hochzeit erst einmal vorüber ist, kann ich mich um sie kümmern.« »Aber ich lebe nicht mehr so... ich esse keinen Nußkuchen mehr und spüle das Geschirr auch nicht mehr mit der Hand, um Himmels willen.« »Für die nächsten vier Wochen wirst du es tun.« »Sie begreift einfach nicht, daß ich in Form bleiben muß. Es gehört zu
meinem Image, und ich kann ganz einfach keine Tater Tots mehr essen und auch keinen Nußkuchen mit Schlagsahne!« Renee hielt Tess am Ärmel ihres T-Shirts fest und sah ihr tief in die bernsteinfarbenen Augen. »Sie ist deine Mutter. Sie liebt dich. Und so zeigt sie dir ihre Liebe.« Sie ließ Tess wieder los. »Und wie, um alles in der Welt, soll sie wissen, was du alles nicht mehr ißt? Du bist ja nie hier.« Vermutlich würde sich diese Unterhaltung während der Zeit, in der Tess zu Hause war, immer wieder wiederholen. Es fiel ihr schwer, eine heftige Antwort zu unterdrücken, denn niemand in ihrer Familie hatte auch nur die leiseste Ahnung von der ungeheuren Verpflichtung, die sie eingegangen war, und auch nicht, wie viele Menschen davon betroffen waren. Ihre Familie glaubte ganz einfach nur, daß sie in ihrem Erfolg gefangen war und daß, wann immer sie den Telefonhörer aufnahm, dies einem Bühnenauftritt gleichkam. Was sie auch dagegen sagen würde, es würde auf taube Ohren treffen. »Ist sie schon im Bett?« fragte Renee. »Nein, sie nimmt ein Bad.« »Also, dann werde ich an die Tür klopfen und guten Tag und auf Wiedersehen sagen. Ich muß nach Hause. Ich wollte nur kurz vorbeikommen, um zu sehen, ob du gut angekommen bist.« Renee ging durch das Wohnzimmer zu dem kleinen Flur und klopfte mit dem Autoschlüssel gegen die Tür des Badezimmers. »Momma? Hi, hier ist Renee. Ich kann leider nicht bleiben. War heute alles in Ordnung bei deinem Besuch im Krankenhaus?« »Alles in Ordnung. Kannst du nicht warten, bis ich fertig bin?« »Tut mir leid. Ich muß nach Hause, um meine Familie zu füttern, doch ich komme morgen früh ins Krankenhaus, noch bevor du in den Operationssaal mußt, okay?« »Okay, Liebes. Danke, daß du vorbeigekommen bist.« »Brauchst du noch etwas?« »Nein, mir fällt nichts mehr ein. Aber wenn ich doch noch etwas brauche, kann Tess es mir besorgen, und Kenny hat sich auch angeboten.« »Okay, dann sehen wir uns also morgen früh.« Als Renee zurück ins Wohnzimmer kam, lehnte Tess - die Hände in den Hosentaschen - an dem Bogengang, der zur Küche führte. Schon wieder Kenny«, sagte Tess und verzog angewidert das Gesicht, doch das sah Renee nicht. »Dem Himmel sei Dank für Kenny. Er behandelt sie, als wäre sie seine eigene Mutter. Wir alle sollten ihm sehr dankbar sein. Also... ich muß los.« Renee gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Wir sehen uns morgen früh. Hat sie dir gesagt, um wieviel Uhr sie im Krankenhaus sein muß?« »Hat sie mir gesagt.«
»Schaffst du das?« Tess rollte mit den Augen. »Das kann ich nicht glauben«, murmelte sie. »Okay, okay - ich habe ja nur gefragt.« »Ich habe mehr Termine in einem Monat als du und Judy in eurem ganzen Leben.« »Aber nicht um diese Uhrzeit.« »Wirst du wohl aufhören, mich zu behandeln, als sei ich das Baby in der Familie!« »Okay, also gut... ich gehe jetzt. Wir sehen uns morgen.« Tess folgte ihrer Schwester zur Tür und sah ihr dann nach, wie sie in ihrem blauen Kombi davonfuhr. Es war Abend geworden, auf der Straße war es still. Sie hörte, wie im Badezimmer das Wasser aus der Wanne gelassen wurde. Der Geruch im Flur schien sich nie zu ändern. Er erinnerte sie an die vielen Orte ihrer Kindheit - an öffentliche Büchereien, Kirchen, Schulgebäude, die noch alle Holzfußböden hatten. Der Fußboden im Flur war aus Eichenholz, der Teppich mit der Unterseite aus Jute war alt und roch muffig wie die Kleidung alter Menschen, die nicht mehr oft das Haus verlassen. Der Flur selbst war ein win ziges Rechteck mit einer Tür nach draußen und einer anderen Tür, die ins Wohnzimmer führte. Er stammte aus einer Zeit, in der man noch keine Eingangshalle vor den Wohnbereich gebaut hatte. An einer Wand hing ein antiker Spiegel, und auf dem Bo den in einer Ecke steckten in einem Ständer aus mattiertem Messing einige Zeitungen. Tess stand in dem kleinen Flur, war mürrich und fühlte sich fehl am Platze, sie fühlte sich nicht länger wohl im Haus ihrer Mutter und begriff nicht, warum das so war. Sie wünschte, sie wäre im Studio in Nashville, wo sie hin gehörte und wo sie ihren Platz kannte. Hier hatte sie das Gefühl, als sei sie an ein fremdes Ufer gespült worden. Ihre Verbindung zu diesem Ort war zerstört, und dafür machte man sie verantwortlich. Doch alles, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen, war ihr Erfolg. Ihre Mutter kam, gekleidet in ein geblümtes Baumwollnachthemd und einen Morgenmantel, aus dem Badezimmer. »Tess? Ist Renee schon wieder weg?« »Ja. Sie mußte nach Hause.« Tess ging hinter ihrer Mutter her in das Wohnzimmer und sah ihr zu, wie sie ihr Haar trockenrieb. Das Zimmer roch nach Medizin. »Puh! Was ist das? Das stinkt.« »Sie haben gesagt, es ist antibakterielle Seife.« »Soll ich dir das Haar kämmen? Ich habe meinen Fön dabei.« »Nein, danke, Schatz. Ich habe meine Bürste. Und morgen früh muß ich diese Seife noch einmal benutzen - Befehl vom Krankenhaus.« So, wie Mary sich bewegte, war es offensichtlich, daß sie Schmerzen hatte. »Geht es deiner Hüfte schlechter, Momma?«
Mary legte eine Hand darauf und humpelte noch mehr als zuvor. Vorsichtig lehnte sie sich auf die Armlehne eines Sessels, da es einfacher für sie war, darauf zu sitzen, weil sie höher war als der Sitz. »Es fällt mir sehr schwer, in die Badewanne zu steigen und wieder heraus. Danach ist es mit den Schmerzen immer viel schlimmer.« Als Tess noch einmal auf das Thema zurückkam, tat sie es mit einer viel sanfteren Stimme als zuvor, als sie sich über Kenny Kronek aufgeregt hatte. »Warum wolltest du denn nicht, daß ich dir ein neues Haus kaufe? Du hättest eine hübsche, geräumige Dusche haben können anstatt dieser engen kleinen Badewanne. « Mary winkte ab und versuchte, es sich so gut wie möglich auf der Armlehne des Sessels bequem zu machen, doch das gelang ihr nicht. »Mom, was kann ich denn für dich tun?« »Hol mir ein Kissen aus dem Bett, dann lege ich mich auf das Sofa, und du kannst dich zu mir setzen, damit wir uns ein we nig unterhalten können.« Es dauerte eine Weile, bis Mary es sich auf dem Sofa einigermaßen bequem gemacht hatte. Doch dann bat sie: »Und jetzt erzähle mir, wo du in der letzten Zeit überall gewesen bist.« Tess begann, ihr die wichtigsten Ereignisse der letzten Monate zu erzählen. Nachdem sie jahrelang mit dem Bus unterwegs gewesen war, besaß sie jetzt ihr eigenes Flugzeug, sie konnte also an einem Tag in Kalifornien auftreten und am nächsten Tag schon wieder in Nashville im Aufnahmestudio sein. Und da es sich von den Kosten her nicht lohnte, einen Mechaniker und einen Piloten einzustellen, um nur ein einziges Flugzeug zu flie gen, hatte sie gleich fünf Flugzeuge gekauft und eine Flugzeug-Leasing-Firma gegründet, um die Kosten zu minimieren. Sie hatte ihrer Mutter gerade erzählt, wie gut die zwei Jahre alte Firma lief, als Marys Augen schwer wurden und den etwas verschwommenen Ausdruck eines Menschen bekamen, der mit aller Kraft versucht, wach zu bleiben. Als Tess merkte, daß ihre Worte gar nicht mehr zu Mary durchdrangen, meinte sie: »Momma, du bist müde. Komm, ich helfe dir ins Bett.« Mary unterdrückte ein Gähnen. »Hmm... ich glaube, du hast recht, mein Schatz. Ich muß sowieso um halb fünf aufstehen, es wird also nicht schaden, wenn ich jetzt ins Bett gehe.« Das Schlafzimmer ihrer Mutter hatte sich nicht sehr verändert, genau wie der Rest des Hauses. Es gab eine neue Bettdecke und dazu passende Gardinen, doch die Möbel waren noch immer die gleichen, standen an der gleichen Stelle wie früher, und sogar der Teppich war in all den Jahren nicht ausgetauscht worden. Auf der Kommode stand ein Hochzeitsfoto ihrer Eltern und auch die hölzerne Schale, in die ihr Daddy, an den sie sich kaum noch erinnerte, die Schlüssel und das Wechselgeld aus seinen Hosentaschen gelegt hatte. Er war bei einem Autounfall mit dem Postwagen, den er fuhr, ums
Leben gekommen, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Die Portraits der drei Mädchen an der Wand waren noch immer die gleichen. Sie waren aufgenommen worden, als sie in der Grundschule waren, und seit dieser Zeit hatten sie an der Wand mit der beige-weißen Tapete gehangen. Was ist nur mit mir los, fragte sich Tess. All das weckte in ihr keine nostalgischen Gefühle. Statt dessen fühlte sie nur Abwehr für die erstickende Beständigkeit im Leben ihrer Mutter. Wie hatte Mary nur all die Jahre hier leben können, ohne auch nur einmal den Teppich zu wechseln, ganz zu schweigen davon, daß sie sich keinen Mann mehr genommen hatte. Sie war eine attraktive Frau, und sie war auch sehr freundlich, doch sie hatte immer behauptet: »Nein, ein Mann war genug für mich. Er war der einzige Mann, den ich je gewollt habe.« Und soweit Tess wußte, war ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters nicht ein ein-; ziges Mal mit einem anderen Mann ausgegangen. , Tess zog die Bettdecke zurück, und Mary legte sich hin. Dann beugte sie sich über ihre Mutter, eine tiefe Traurigkeit wegen all dem, was ihrer Mutter entgangen war, schnürte ihr die Brust zu. » Mom, warum hast du eigentlich nie wieder geheiratet, nachdem Daddy gestorben war?« fragte sie. »Ich wollte es nicht.« «All die langen Jahre nicht?« „Ich hatte doch euch Mädchen und danach meine Enkelkinder. Ich weiß, es fällt dir schwer, das zu verstehen, aber ich war glücklich. Ich bin glücklich.« Tess versuchte einen so unvorstellbaren Fatalismus zu begreifen, doch für sie, die ständig mit neuen Gesichtern und neuen Orten konfrontiert wurde, schien Marys Leben unnütz. Als Tess sich gerade wieder aufrichten wollte, streckte Mary die Arme aus und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ich weiß, daß du gegen deinen Willen nach Hause gekommen bist, Liebes. Es tut mir leid, daß Judy und Renee dich gezwungen haben.« »Nein, Mom, das ist nicht wahr.« »Sicher ist es das, aber ich bin dir deshalb nicht böse. Wer möchte schon mit allem, was er gerade tut, aufhören, und sich um eine lahme, alte Frau kümmern.« »Mom, sei doch nicht dumm.« Doch Mary sprach weiter, als h ätte Tess gar nichts gesagt. »Aber weißt du, was ich glaube? Ich glaube, das Leben, das du führst, laugt dich aus. Deshalb habe ich auch zugelassen, daß die Mädchen dich gezwungen haben, nach Hause zu kommen, denn ich bin davon überzeugt, daß du es nötiger gebraucht hast als ich.« »Mom, sie haben nicht...« Mary legte ihrer Tochter einen Finger auf die Lippen und brachte sie so zum Schweigen. »Du brauchst nicht zu lügen, Tess. Ich bin nicht von gestern. Ich habe gesagt, es ist in Ordnung, und das ist es auch. Wirst du dafür sorgen, daß du in der Zeit, in der du hier bist, viel schläfst? Wir müssen morgen früh
um halb fünf aufstehen, damit wir um sechs Uhr im Krankenhaus sind. Das ist schrecklich früh. Und jetzt gibst du mir einen Kuß und machst dann das Licht aus.« Sie gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange. »Gute Nacht, Momma«, sagte sie und löschte das Licht. »Du kannst die Tür einen Spalt auflassen, ich finde es schön, daß mich das Licht daran erinnert, daß du wieder zu Hause bist.« Tess ließ die Tür einen Spalt weit offen und verspürte ein Ge fühl der Ernüchterung. Ich bin nicht bereit für diesen Rollentausch, dachte sie. Es ist, als wäre ich die Mutter und sie das Kind. Der Gedanke gab ihr das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Ruhelos lief sie im Wohnzimmer auf und ab. Sie warf einen Blick auf das Klavier. Vorsichtig drückte sie eine Taste hinunter, so leicht, daß es kein Geräusch machte. Sie wünschte, sie könnte sich davor setzen und spielen. Sie blätterte in den Noten, die auf dem Notenständer lagen, doch Mary brauchte ihren Schlaf, und wenn sie jetzt auf dem Klavier spielte, würde sie das aufwecken. In der Küche brannte nur das Licht am Ofen. Tess öffnete die Tür des Kühlschrankes, doch als ihr klar wurde, was sie da tat, schloß sie sie schnell wieder und ging zur Spüle hinüber, um aus dem Fenster zu starren, zu den Lichtern, die im Haus auf der anderen Seite der Gasse brannten. Was ist nur los mit mir? dachte sie. Es war ein verwirrender Tag gewesen, und morgen würde es so weitergehen, wenn sie erst einmal Judy gegenübertreten und zusehen mußte, wie ihre Mutter in den Operationssaal gerollt wurde. Sie fühlte den Streß als dumpfen Druck in ihrem Kopf. Schon jetzt vermißte sie ihre Arbeit, sie vermißte den lebhaften Pulsschlag der unaufhörlichen Aktivitäten, die ihre Tage ausfüllten. Wie jeden anderen professionellen Musiker hatte ihr Terminplan mit Aufnahmen, Werbeveranstaltungen und Auftritten sie mit der inneren Uhr eines Kojoten ausgestattet. Tagsüber verhielt sie sich abwartend, doch in der Nacht heulte sie. Aber in Wintergreen war es erst neun Uhr am Abend, und es gab keine Veranlassung zum Heulen. Wäre sie bei einem Konzert, dann würde sie genau in diesem Augenblick auf der Bühne stehen. Wäre sie in Nashville, dann wäre sie jetzt in der Music Row in einem Glaskasten, mit Kopfhörern auf dem Kopf, und würde eine Platte aufnehmen. Sie nahm den Hörer des Telefons in der Küche, des einzigen Telefons im ganzen Haus, und wählte eine Nummer, doch dann erst wurde ihr klar, daß ihre Stimme ihre Mutter aufwecken würde. Sie legte den Hörer wieder auf, dann ging sie hinaus zu ihrem Wagen, um ihr tragbares Telefon zu holen. Als sie an dem Gemüsegarten vorüberkam, den Kenny für ihre Mutter ange-
pflanzt hatte, stieg wieder der Ärger in ihr hoch über die Art, wie er sie zurückgewiesen hatte. Aber was machte ihr das schon? Er war nur ein tölpelhafter Nachbar, dem sie aus dem Weg gehen würde, solange sie hier war, und wenn sie erst einmal wieder weg war, würde sie ihn sowieso nie wiedersehen. Im Garten jedoch blieb sie stehen. Im Mondlicht hob er sich deutlich von der helleren Fläche des Rasens ab. Eine unerklärliche Wut stieg in Tess auf. Warum brauchte eine vierundsiebzig-jährige Frau mit zwei kranken Hüften und einer Tochter, die Millionärin war, überhaupt einen Gemüsegarten? Kroneks Haus war hell erleuchtet, sowohl die obere als auch die untere Etage, und seine Garagentür stand noch immer offen. Ein weiterer Wagen stand in der Einfahrt - sie hatte nicht gesehen, wann er gekommen war -, und sie fragte sich, wessen Wagen es wohl war. Aber wieso interessierte sie sich überhaupt dafür? So, wie die beiden Häuser angeordnet waren, würde sie wohl die nächsten vier Wochen damit verbringen, jeden Menschen, der ins Haus ging oder herauskam, zu beobachten. Doch was Kenny Kronek in der Zeit tat, in der er zu Hause war, interessierte sie überhaupt nicht. Sie nahm das Telefon aus dem Wagen mit ins Haus und schloß dann die Türen ab, ehe sie nach oben ging. Wieder wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Lichter in Kroneks Haus gezogen, als sie oben an der Treppe am Fenster vorüberging. Irritiert ließ sie die Jalousie herunter, dann setzte sie sich auf ihr Bett und rief ihren Agenten, Peter Steinberg, in Los Angeles an, wo es gerade erst sieben Uhr war. »Hi, Peter.« »Mac«, sagte er. »Wo bist du?« »In Wintergreen.« »Hat deine Mom die Operation gut überstanden?« »Die ist erst morgen.« »Oh. Ich hoffe, es geht alles gut. Also, hör mal, ich bin froh, daß du angerufen hast...« Er erging sich in einer Aufzählung der Strafgelder, die sie für die beiden abgesagten Konzerte in diesem Monat bezahlen mu ßten, dann berichtete er ihr, daß die Ge schäftsführung der Plattenfirma einen ganz besonderen Fotografen ausgesucht hatte, den sie engagieren wollten, um die Fotos für ihr nächstes Album zu machen, und daß sie so schnell wie möglich einen Titel für dieses Album brauchten, damit man die Pläne für die Fan-Messe machen konnte - ein Treffen aller Fans, das im Juni stattfinden sollte. Die Firma MCA wollte dort das neue Album vorstellen, und deshalb mußte schon sehr bald der Titel feststehen. Außerdem hatte die Werbeabteilung von MCA verlauten lassen, daß Tower Records in Nashville darum gebeten hatte, während der Woche der Fan-Messe eine Autogrammstunde in ihrem Geschäft abzuhalten. Wäre Tess daran
interessiert? Nachdem sie ihre Unterhaltung mit Peter Steinberg beendet hatte, rief Tess ihre Presseagentin Charlotte Carson an und hinterließ die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, daß sie bei Tower Records anrufen und der Bitte um die Autogrammstunde zustimmen sollte. Sie bat Charlotte, nach dem Anruf noch einen Bestätigungsbrief zu schreiben und ein von ihr unterschriebenes Werbefoto beizulegen. Und würde Charlotte bitte die Leute bei Putnams wissen lassen, daß sie sehr daran interessiert war, in den Kalender der Country-und-Western-Sänger aufgenommen zu werden, den diese herausgeben wollten. Wann brauchten sie ihr Foto? Konnten sie so lange warten, bis die neuen Aufnahmen fertig waren? Danach rief sie ihre Stylistin, Cathy Mack, an und hinterließ ihr die Nachricht über den Fotografen, den MCA einsetzen wollten. Sie versicherte Cathy, daß sie sich für das Foto auf ihrem neuen Album von ihr frisieren und schminken lassen wollte, ganz gleich, wer die Fotos machte. Aber darüber würde sie mit Cathy noch reden, wenn sie weitere Einzelheiten wußte. Schließlich rief sie noch bei ihrer Sekretärin in Nashville an und erreichte noch einmal nur den Anrufbeantworter. »Hi, Kelly, ich bin's. Ich wollte nur Bescheid sagen, daß ich gut angekommen bin und daß ich jetzt im Haus meiner Mutter bin. Tut mir leid, daß ich nicht schon früher angerufen habe, aber du hattest ja die Nummer meines Handys, ich dachte, daß du dich schon melden würdest, wenn etwas Wichtiges passiert wäre. Hör mal, Peter hat sich um die Konzertabsagen bemüht, und es ist ihm gelungen, Lubbock und Fort Worth abzusagen, also streiche sie in deinem Terminplan. Wir müssen wahrscheinlich Strafgelder bezahlen, sieh dir bitte einmal die Verträge an und sage mir dann Bescheid. Außerdem habe ich vergessen, Ivy Britt Bescheid zu sagen, wo ich den nächsten Monat über zu erreichen bin, rufe sie doch bitte an und sag ihr, daß ich den Song haben will, sobald sie ihn fertiggeschrieben hat - wir haben einen festen Termin für das Album, und ich habe die beiden letzten Songs noch immer nicht ausgewählt. Gib ihr die Nummer meiner Mom und die Nummer von meinem Handy. Und sage ihr bitte, daß mir ihre Arbeit gefällt und daß ich sie gern auf meinem neuen Album veröffentlichen würde, daß ich das aber nicht tun kann, wenn sie sich nicht beeilt. Ach ja, und MCA möchte, daß ich einen Fotografen nehme, den sie ausgewählt haben. Würdest du dir bitte von ihnen seinen Namen und seine Adresse geben lassen und auch eine Liste der Leute, für die er gearbeitet hat? Wenn möglich, laß dir einige Proben seiner Arbeiten geben, das wäre schön. Noch eines - die staatliche Ausstellungsgesellschaft von Minnesota hat mich eingeladen, im übernächsten Sommer dort aufzu treten, doch ich brauche vorher noch einige Daten über die Zuschauerzahlen, ganz besonders bezüglich der Konzerte, sowohl bei Tag als auch am Abend.
Würdest du das für mich zusammentragen und es mir dann heute nacht noch hierherschicken? Nun... ich denke, für heute abend ist das alles. Die Operation ist für halb sieben morgen früh angesetzt, und ich vermute, daß ich morgen den ganzen Tag im Krankenhaus sein werde. Ich nehme mein Handy mit, du kannst mich also unter dieser Nummer erreichen, falls es nötig ist. Okay, danke, daß du dort drüben alles am Laufen hältst, Kelly. Wir sprechen bald miteinander.« Als ihre geschäftlichen Dinge alle erledigt waren - ein Un ding, denn erledigt waren sie eigentlich nie -, suchte sie ihren Schlafanzug und ging dann auf Zehenspitzen die knarrende Treppe hinunter, um ein Bad zu nehmen. Im Badezimmer schie nen die Röhren zu singen wie ein Teekessel, in dem Wasser kocht, deshalb ließ sie das Wasser nur ganz langsam einlaufen, u m Mary nicht zu wecken. Es dauerte eine Ewigkeit, bis zehn Zentimeter Wasser in die Wanne gelaufen waren. Tess haßte Badewannen, eine Dusche war ihr viel lieber. Doch als sie dann im Wasser lag, lehnte sie sich zurück und betrachtete die rosa Plastikfliesen mit dem unregelmäßigen grauen Muster. Wie die Linien im Revel-Erdbeereis sah das Muster aus. Genau unter der obersten Reihe der Fliesen in Schulterhöhe verlief ein etwa zwei Zentimeter breiter, schwarzer Streifen. Es sah entsetzlich aus, deshalb schloß sie die Augen und dachte an das Album, das bald herauskommen sollte. Sie hatte acht gute Songs aufgenommen, doch mindestens zehn waren nötig. Ihr Produzent, Jack, nahm immer gern elf Songs auf, damit sie den einen oder anderen noch austauschen konnten, wenn es nötig war. Sie brauchte also noch drei Songs für dieses Album. Gutes Material zu finden - das war das wichtigste für den Erfolg in diesem Geschäft. In Nashville gab es phantastisch talentierte Musiker, doch zunächst einmal mußte sie einen Song haben, ehe sie mit der Arbeit beginnen konnten. Und es gab eine ganze Menge erfolgreicher Sängerinnen, die nur darauf warteten, einen guten Song von den besten Songschreibern zu erwischen. Also war Tess in das Geschäft der Musikverlage eingestiegen und hatte einen Stab von zwölf Songschreibern eingestellt. Sie war nicht dumm, sie wußte, daß das Leben eines Künstlers seine Grenzen hatte, doch wenn ihre Stimme nicht mehr mitspielte, dann würden die Lizenzgebühren des Verlages ihr ein üppiges Einkommen gewährleisten, das dafür sorgte, daß sie ihren Lebensstil nicht aufgeben mußte, ganz gleich, wie alt sie auch werden würde. Doch blieb noch immer das Problem der drei Songs, die sie finden mu ßte, um das Album zu vervollständigen. Ivy Britt schrieb gute Songs, doch sie war sehr langsam. Manchmal brauchte sie Monate für einen einzigen Song. Tess hatte vor, mehr Zeit am Klavier zu verbringen, solange sie hier war. Es war die beste Zeit, selbst zu schreiben, weil sie nicht von ihren Geschäften abgelenkt wurde. Und ihre Pflichten bei der Versorgung von Mary würden
ihr genug Zeit lassen, zu komponieren. Vielleicht sollte sie einen Song darüber schreiben, wie es war, nach so langer Zeit wieder nach Hause zu kommen. Die erste Zeile fiel ihr ein, und sie summte leise eine Melodie. Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr... Viermal summte sie die Melodie, dann sang sie leise die Worte im Rhythmus des tropfenden Wasserhahnes. Es ergab einen Vier-Viertel-Takt in Dur, eine heitere Ballade. Sie dachte über die nächste Zeile nach. Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her... Und dann die dritte Zeile. Sie hat die Welt gesehen, jetzt kommt sie nach Haus... Was reimte sich auf Haus? Maus, raus... Tess öffnete die Augen, setzte sich auf und seifte dann ihren Waschhandschuh ein, dabei summte sie die Worte vor sich hin und versuchte, die letzte Zeile zu finden. Sie probierte ein paar Möglichkeiten durch. Sie fühlt sich, als sei sie irgendwie aus der Bahn...
Sie versucht, sich zurechtzufinden, doch sie hat den Anschluß verloren... Keine dieser Versionen gefiel ihr, deshalb dichtete sie weiter. Und so entwickelte sich ein Song. Manche Songs entstanden auf diese Art, waren ein Ausdruck von dem Leben, das Tess führte, drückten eine unterschwellige Kreativität aus, die sich äußerte, als hätte sie selbst gar keinen Anteil an der Erschaffung des Songs. Als sie sich dann schließlich abtrocknete und ihren Pyjama anzog, hatte sie die ersten drei Zeilen des Songs fertig und konnte es kaum erwarten, nach oben zu kommen, um sie aufzuschreiben. In ihrem Schlafzimmer setzte sie sich an den alten Toilettentisch und schrieb die Worte auf ein Stück Papier. Sie wünschte, sie könnte nach unten gehen und auf dem Klavier die Akkorde anschlagen, die sie in ihrem Kopf hörte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Countrysängern hatte Tess nie Gitarre gespielt. Alle drei McPhail-Mädchen hatten Klavierunterricht bekommen. Tess hatte einmal versucht, Gitarre zu spielen, doch ihre Finger waren zu kurz, und außerdem brachen dabei ihre Fin gernägel ab. Deshalb hatte sie wieder damit aufgehört. Aber oft beneidete sie die Mitglieder ihrer Band, die im Bus oder in einem Motelzimmer ihre Instrumente zur Hand nahmen und spielten, sangen oder komponierten, ganz gleich, wo sie im Augenblick waren. Um elf Uhr kletterte sie in ihr Bett und knipste das Licht aus. Um Mitternacht war sie noch immer wach, der neue Song hatte sie mit Tatkraft erfüllt, und die fremde Matratze, die nicht gerade bequem war, trug auch
ihren Teil dazu bei, daß sie nicht schlafen konnte. Als sie zum letzten Mal auf die Uhr sah, war es ein Uhr achtunddreißig, und sie wußte, es würde die Hölle sein, um halb fünf aufstehen zu müssen.
3. Kapitel Tess h örte ihren Wecker nicht, sie wachte erschrocken auf, als ihre Mutter von unten rief: »Tess? Zeit zum Aufstehen, Liebes. Es ist schon fünf Minuten nach fünf.« Fünf nach fünf... du gütiger Gott, gab es wirklich Menschen, die zu einer solch ungastlichen Stunde aufstanden? »Okay, Mom, ich bin wach«, krächzte sie und setzte sich unbeholfen auf. Ein schwacher rötlicher Schein zeichnete sich hinter der Jalousie ab. Tess kratzte sich am Kopf und blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster. Dann rutschte sie bis zur Bettkante und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, daß sie jetzt wirklich aufstehen und sich anziehen mußte. Zum Duschen blieb keine Zeit mehr - ach Teufel, stimmt ja, es gibt ja gar keine Dusche, nur eine Badewanne. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde die Brandung dagegendonnern. »Hey, Momma?« rief sie und tapste mit unsicheren Schrit ten bis zu dem Geländer. »Wohin müssen wir überhaupt fahren?« »Nach Poplar Bluff.« Wintergreen war eine zu kleine Ge meinde, um ein eigenes Krankenhaus zu besitzen. »Dreißig Minuten Fahrzeit?« »Dreißig Minuten. Wie immer.« Als Tess zur Treppe ging, kam sie am Fenster vorüber und hob die Jalousie ein Stück hoch, um sicherzugehen, daß wirklich die Sonne für das Licht dahinter verantwortlich war. Es stimmte. In etwa zwanzig Minuten würde sie genau über dem Dach von Kenny Kroneks Haus aufgehen. Tess verzog das Ge sicht und ließ die Jalousie wieder fallen, dann machte sie sich brummend auf die Suche nach ihrer Zahnbürste. Da Tess heute morgen nicht viel Zeit hatte, sich zu waschen, gab sie sich mit einer Katzenwäsche zufrieden und fuhr sich dann schnell mit dem Lippenstift über die Lippen, ehe sie in ihre Jeans, ihre Cowboystiefel und ein Polohemd schlüpfte, über das sie noch ein Sweatshirt zog, auf dem in großen schwarzen Buchstaben der Name Boss stand. Sie nahm sich noch die Zeit, ihre Ohrringe anzulegen - ohne Ohrringe fühlte sie sich nackt, ganz gleich, wie sie gekleidet war -, dann lief sie nach unten, um zu sehen, was sie mit ihrer Frisur anfangen könnte. Im Badezimmer stellte sie fest, daß die Zeit viel zu kurz war, um sich noch richtig zu frisieren. Von draußen rief Mary: »Tess, bist du fertig? Wir müssen jetzt losfahren.«
»Ja, nur noch eine Sekunde.« Schließlich band sie ihr Haar mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog diesen dann durch die Öffnung einer Baseballkappe, auf der Azalea Trail 10K Run geschrieben stand. Himmel, sie sah ja schrecklich aus. Aber die Operation konnte nicht warten, und ihre Mutter stand mit der Tasche in der Hand vor der Tür des Badezimmers. »Ich nehme deinen Koffer und lege ihn in den Wagen, dann komme ich zurück und helfe dir die Treppe hinunter«, erklärte ihr Tess. »Also, du wartest auf mich, okay?« Als sie zurückkam, stand Mary in der Küche und sah sich um, als fürchte sie, nie wieder hierher zurückzukommen. Liebevoll glitten ihre Blicke über ihre Besitztümer, über den Herd, auf dem sie seit Jahrzehnten gekocht hatte, die Glasbehälter, deren Deckel abgestoßen waren, über die zerkratzte Arbeitsplatte der Anrichte, die grelle Tapete, den Tisch mit dem häßlichen Pla stikuntersetzer, der jeden Tag noch häßlicher wurde. Auf dem Untersetzer stand ein eingetopfter Efeu. Marys Blicke blieben daran hängen. »Ich habe den Pflanzen gestern noch Wasser gegeben, das sollte zunächst einmal genügen.« »Alles wird hier in Ordnung sein, ich sorge schon dafür.« »Judy hat Milch und Brot für dich gebracht, und sie hat auch noch ein paar Hamburger in den Gefrierschrank gelegt. Oh, und auch noch Eier. Die Eier sind ganz frisch.« »Mach dir um mich keine Sorgen.« Doch noch immer zögerte Mary und sah sich noch einmal um. Tess wartete, während ihre Mutter nach einer Entschuldigung suchte, die Abfahrt noch ein wenig hinauszuzögern. Ein einziges Wort, das Kenny Kronek gestern abend ausgesprochen hatte, kam Tess wieder in den Sinn. »Hast du Angst?« hatte er gefragt, als er neben Marys Stuhl hockte. In dem Augenblick hatte Tess seine Anwesenheit und seine Vertrautheit mit ihrer Mutter so sehr abgelehnt, daß sie der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Doch als sie jetzt Marys Zögern sah, wurde ihr klar, daß sie sich keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob ihre Mutter Angst vor dieser zweiten Operation hatte. Doch wie es schien, war genau das der Fall. »Komm schon, Mom«, drängte sie mit sanfter Stimme. »Wir fahren jetzt besser los. Ich kümmere mich schon um alles, mach dir keine Sorgen.« Als sie das Haus verließen, warf die Sonne gerade ihren langen Schatten über die Hintertreppe und die Wand neben der Tür. Tess hatte Mitleid mit ihrer Mutter, als sie sah, wie diese sich an das Geländer klammerte und mit schmerzverzerrtem Gesicht die drei Stufen hinunterging. Eine Woge der Zuneigung zu dieser Frau hüllte sie ein. Sie hatte nur sehr wenig über das nachgedacht, was ihre Mutter mitgemacht hatte, während der Knorpel in
ihrer Hüfte immer weiter schwand. Bis jetzt hatte sie immer gemeint: Das ist heute eine ganz normale Operation. Viele Menschen lassen sie über sich ergehen. Sie wird sie ganz wunderbar überstehen, genau wie beim ersten Mal. Doch als sie jetzt Marys schmerzverzerrtes Gesicht sah, mit dem sie die Stufen hinunterging - das erste Mal, daß sie ihre Mutter auf einer Treppe beobachtete -, wurde Tess nachdenklich. Sie ging zu ihr, nahm sie am Arm und half ihr über den schmalen Gehweg, der zu der Gasse führte, in der sich die Garage befand. Als sie an dem frisch bestellten Garten vorübergingen, sagte Mary: »Du wirst auch nicht vergessen, den Garten zu gießen, nicht wahr, Tess?« » Ganz bestimmt nicht.« »Der Gartenschlauch ist...« Sie versuchte, sich umzudrehen und in die Richtung zu deuten, doch dann zuckte sie zusammen, und ihre Hand glitt zu der Hüfte, während sie versuchte, ein Aufstöhnen zu unterdrücken. »Ich werde den Schlauch schon finden, mach dir deshalb keine Sorgen.« »Wenn du nicht weißt, wo etwas ist, dann frage Kenny. Das Gras muß gemäht werden, ehe ich zurückkomme, vielleicht kannst du Nicky bitten, das zu machen. Er hat zwar im Augenblick viel mit seinem Sport zu tun, deshalb weiß ich nicht, ob er genügend Zeit hat, aber... na ja, du kannst ihn ja fragen. Und sonst, wenn Kenny sieht, daß der Rasen gemäht werden muß, kommt er manchmal einfach rüber und macht es, ohne daß ihn jemand darum bitten muß.« Oh, du lieber Himmel! Sie war es leid, immer wieder von Kenny zu h ören! Auf keinen Fall würde sie diesen Mann um etwas bitten. Sie erreichten Tess' Wagen, und Tess öffnete die Tür, doch schon nach den ersten Bemühungen von Mary war es offensichtlich, daß es viel zu schmerzhaft für sie sein würde, in den Wagen zu steigen. Die Sitze lagen sehr tief, und das erforderte, daß sie sich bücken mußte. »Mom, warte! Es ist...« Tess warf einen Blick zur Gara gentür. »Das ist wirklich dumm... kannst du hier stehenbleiben, während ich deinen Wagen aus der Garage hole? Ich glaube, wir fahren besser mit deinem Wagen.« »Das denke ich auch.« »Hast du die Wagenschlüssel in deiner Tasche?« »Nein, sie hängen am Schlüsselbrett neben der Tür.« Tess lief zum Haus zurück und holte die Wagenschlüssel, doch ehe sie Marys Wagen aus der Garage holen konnte, mu ßte sie zuerst ihren Wagen wegfahren. Sie fuhr rückwärts in die schmale Gasse, ließ den Motor laufen und stieg aus. »Du mußt die Fernbedienung an meinem Autoschlüssel drücken«, riet Mary ihr. »Ich habe ein automatisches Garagentor. « »Wirklich? Donnerwetter, Mom!«
»Kenny hat es für mich eingebaut.« Tess' Überschwang verschwand sofort. Der heilige Kenny, der Garagentoreinbauer. Was tat dieser Kerl nur? Lebte er etwa bei ihrer Mutter? Das neue Garagentor öffnete sich geräuschlos, und Tess schob sich in die schmale Garage neben den fünf Jahre alten Ford Tempo ihrer Mutter, setzte den Wagen rückwärts aus der Garage, stieg aus, um Marys Koffer in den Kofferraum zu legen... und entdeckte ihre Mutter, die den heiligen Kenny höchstpersönlich anlächelte, der gerade von seinem Hinterhof aus die Gasse betrat. Er trug einen grauen Jogginganzug und Mokassins und hatte weder geduscht noch sich rasiert. Sein braunes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, die Haut in seinem unrasierten Gesicht war rauh. Doch das schien ihm nichts auszumachen. Tess stand bewegungslos neben dem Wagen ihrer Mutter. Die beiden schienen sie gar nicht zu bemerken, während der Motor ihres Wagens leise schnurrte. »Morgen, Mary«, begrüßte er ihre Mutter freundlich. »Guten Morgen. Warum bist du denn schon so früh am Morgen aufgestanden?« »Ich trinke Kaffee und lese die Zeitung. Ich habe dich gesehen, deshalb wollte ich mich noch von dir verabschieden. Hast du alles?« »Mein Koffer ist noch in Tess' Wagen. Wir wollten mit ihrem Wagen fahren, aber in meinem ist mehr Platz.« »Soll ich ihn in die Garage stellen?« »Nun ja... gern, wenn es dir nichts ausmacht. Sie versucht, die beiden Wagen hier zu rangieren und...« Er ging zu Tess' Wagen, öffnete die Tür und holte den Koffer aus dem engen Raum hinter den Sitzen. Dann trug er ihn zu Marys Wagen, öffnete die rückwärtige Tür und stellte den Koffer hinein. Danach half er Mary beim Einsteigen. »Vorsichtig«, riet er ihr, während sie sich mit einer Hand am Dach des Wagens festhielt und sich ganz vorsichtig auf den Sitz schob. »Oh, diese alten Knochen« - sie lachte atemlos - »sie lassen sich nicht mehr so einfach zusammenklappen.« Als sie im Wagen saß, blickte sie zu Kenny auf. »Ich habe Tess gesagt, wenn sie wissen möchte, wo alles ist, könnte sie dich fragen. Der Gartenschlauch und der Rasensprenger... oh, ich habe ganz das Benzin für den Rasenmäher vergessen. Ich denke, Nicky wird den Rasen mähen müssen, solange ich nicht da bin, aber er weiß nicht, daß er das Benzin mit Öl mischen muß, denn sonst wird...« »Mach dir keine Sorgen, ich werde dafür sorgen, daß alles erledigt wird.« »Der Kanister mit dem Benzin ist...« »Ich weiß, wo er ist, Mary. Kümmere du dich zunächst einmal darum, daß du eine neue Hüfte bekommst.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und
drückte sie. »Auf Wiedersehen und viel Glück.« Er schlug die Wagentür zu und sah zum ersten Mal an diesem Morgen über das Dach des Wagens zu Tess. Dabei blickte er betont ausdruckslos. Tess wartete darauf, ob er sie wohl begrüßen würde. Doch das tat er nicht, seine Augen glitten zu dem Wort »Boss« auf ihrer Brust, dann betrachtete er mit kritischem Blick ihre Ohrringe aus Silber und Türkisen, die wie Regentropfen glänzten. Schließlich trat er einen Schritt zurück und wartete darauf, daß sie in den Wagen stieg und den Wagen zurücksetzte. Sie schwang sich auf den Fahrersitz und schlug die Tür so laut zu, daß ihr die Ohren dröhnten. Sie würde den Wagen schon zurücksetzen! Genau über seine verdammten Füße, wenn sie es konnte! Sie wandte sich um, legte einen Arm über die Lehne des Sitzes und fuhr rückwärts, mußte dann jedoch zu ihrem Ärger feststellen, daß sie ihren eigenen Wagen nicht weit genug zurückgesetzt hatte. Einen Meter weiter, und sie wäre dagegen gefahren. Wütend schob sie den Ganghebel in die Parkposition und öffnete die Tür. »Ich mache das schon«, sagte er und ging zu dem Z. »Mach dir keine Mühe!« rief sie, Mißbilligung und Befehl lagen in ihrer Stimme. Er ignorierte sie einfach, stieg in die zweiundvierzigtausend Dollar teure Rakete - den Traumwagen eines jeden Mannes - und ließ Tess schäumend vor Wut zurück. Dann fuhr der Z zurück und wartete. Sie konnte nichts anderes tun, als den Ford ihrer Mutter nach vorn zu fahren und für ihn Platz zu machen. »Dieser Kenny ist so zuvorkommend«, meinte Mary mit unschuldigem Gesicht. Ja, dachte Tess, der heilige Kenny, der Z-Rangierer. Wahrscheinlich erlebte er jetzt sogar einen Orgasmus, nur weil er in dem Wagen sitzen durfte. Sie kurbelte das Fenster hinunter und wartete voller Wut, während er ihren Wagen in die Einfahrt zu der Garage stellte, ausstieg und sich alle Zeit der Welt ließ, um sich den sexy schwarzen Wagen ganz genau anzusehen. Wahrscheinlich würde er seinen linken Hoden dafür hergeben, einen solchen Wagen zu besitzen. Wenn er überhaupt einen linken Hoden hatte. Er schlenderte zu ihrem Wagen hinüber und ließ dann die Autoschlüssel in Tess' ausgestreckte Hand fallen. »Nettes Auto«, sagte er. Tess zog ihren Arm so ruckartig zurück, als hätte sie sich verbrannt, dann drückte sie den Gashebel des Wagens durch und fuhr so schnell los, wie der Vierzylindermotor es erlaubte. (Wo war nur ihr dreihunderter Motor, wenn sie ihn brauchte?) Am nördlichen Ende der Gasse warf sie einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, daß er ihren Rückzug überhaupt nicht beachtet hatte. Statt dessen sah er sich ihren Wagen an. Sie bog nach links in die Peach Street, als ihre Mutter sagte: »Du hättest
nicht so grob zu Kenny sein dürfen, Tess.« »Er war grob zu mir! Und niemand rührt meinen Wagen an! Niemand!« »Aber Tess, er wollte doch nur helfen.« »Wenn er mir helfen möchte, dann soll er mir aus dem Weg gehen!« »Ich verstehe nicht, was für einen Schaden er damit hätte anrichten sollen, wenn er deinen Wagen dieses winzige Stück gefahren hat. Er ist ein sehr sorgsamer Mann.« »Er hat mich nicht einmal gefragt! Er ist einfach... er ist in den Wagen eingestiegen, als wäre es eine alte Klapperkiste! Weißt du eigentlich, wieviel dieser Wagen wert ist? Zweiundvierzigtausend Dollar ist er wert! Und er konnte es gar nicht erwarten, sich reinzusetzen! Wahrscheinlich wird er jetzt überall herumlaufen und den Leuten erzählen, daß er den Wagen gefahren hat! Niemand außer mir hat je diesen Wagen gefahren! Niemand! Ich lasse noch nicht einmal die Parkwächter an den Wagen!« Mary starrte ihre Tochter in sprachloser Überraschung an. »Aber Tess...« »Ach, zum Teufel, vergiß es einfach, Mom. Er und ich, wir beide können eben nicht miteinander auskommen.« »Aber ihr habt doch kaum miteinander geredet. Wie könnt ihr da nicht miteinander auskommen?« »Mom, ich habe gesagt, du sollst es vergessen! Tust du das bitte?« Erst jetzt bemerkte Tess, daß sie schrie, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Nach einer Pause, in der Mary ihre Tochter erstaunt ansah, murmelte sie: »Nun ja, also gut... ich wollte doch nur...« Sie hielt inne und blickte dann aus dem Seitenfenster. 63 Ich hätte sie nicht anschreien dürfen, dachte Tess. Ganz besonders nicht heute. Aber manchmal stellte Mary sich so dumm an! Ständig plapperte sie davon, was für ein guter Junge Kenny war, sie ignorierte einfach die Tatsache, daß er Tess jetzt bereits zum zweiten Mal kurz abgefertigt hatte, und sie hatte auch keine Ahnung davon, wie unerträglich es für Tess war, daß er das Auto, das soviel Geld gekostet hatte, so einfach ohne ihre Erlaubnis fuhr. Aus dem Schweigen, das sich zwischen sie gesenkt hatte, und aus der Art, wie Mary das Gesicht abgewandt hatte, war für Tess klar ersichtlich, daß ihre Mutter sich nicht vorstellen konnte, etwas Falsches gesagt zu haben, und daß sie jetzt überlegte, warum Tess sie so angefahren hatte. »Momma?« Mary wandte sich zu ihr um und sah sie mit einem verletzten Blick an. Tess hatte sich noch nie gut entschuldigen können, und auch jetzt brachte sie die richtigen Worte nicht heraus. »Vergiß es ganz einfach, okay?« Doch auch während sie weiterfuhren, hing das Schweigen schwer zwischen ihnen. Draußen schien die Sonne hell auf den Highway, und Tess war gezwungen, ihre Sonnenbrille aufzusetzen. Hier sah alles noch immer
genauso aus wie früher. Dies war ein armer Bezirk, das Einkommen der Menschen hier im Gebiet Ripley bestand hauptsächlich aus dem Geld, das diejenigen, die es woanders verdienten, nach Hause schickten — und aus Sozialhilfe, Renten, Arbeitslosengeld und Wohlfahrtsgeldern. Wie es schien, lebte die Hälfte der Bewohner von Ripley in Mobilheimen. Aber das Land war wunderschön. Dunkle rote Erde, grünes Gras, viele Seen, Hartriegelbäume am Rande der Wälder, große Flecken gelber Butterblumen, die Ausläufer des Ozark-Gebirges und Pferdefarmen und kleine Landkirchen boten einen bezaubernden Anblick. Sie fuhren an Weiden vorbei, wo biskuitfarbene Kühe grasten, und an Farmen, wo Zie gen auf die Dächer ihrer Ställe geklettert waren und wo ein großer, whiskeybrauner Truthahn seine Schwanzfedern aufstellte und ihnen nachsah. Etwas später rumpelten sie über die Brücke über den Little Black River, dessen Wasser im Licht der Morgensonne glänzte. "Während sie so dahinfuhren, erlaubte Tess dem herrlichen Morgen das zu tun, was eigentlich ihre Entschuldigung hätte tun müssen - der Spannung im Wagen die Schärfe zu nehmen. Schließlich fragte sie: »Möchtest du meinen neuesten Song hören, Momma?« Mary, die ganz in die Betrachtung der Landschaft versunken gewesen war, wandte sich zu ihrer Tochter um, erfreut, daß diese wieder besser gelaunt war. »Aber natürlich.« Die Kassette hatte Tess noch schnell aus dem Recorder in ihrem Wagen genommen, jetzt schob sie sie in den Recorder im Wagen ihrer Mutter. »Ist das der Song mit dem schlechten Akkord?« wollte Mary wissen. »Genau der ist es.« Sie fuhren in den Sonnenaufgang hinein, während aus dem Recorder Tess' Stimme ertönte, die von einer Ehe in der Krise sang. Als der Song vorüber war, meinte Mary: »Ich konnte nicht feststellen, daß damit etwas nicht stimmt. Es ist ein sehr hübsches Lied, mein Schatz. Werden sie es bald auch im Radio spielen?« »Erst im Herbst. Zuerst kommt noch eine Single heraus vielleicht sogar zwei -, ehe das neue Album fertig ist.« »Hat es schon einen Titel?« »Das Album? Nein, wir überlegen noch. Jack möchte, daß ich es Water under tbe Bridge nenne, das ist der Titel der ersten Single, aber die Leute der Plattenfirma meinen, daß man das falsch verstehen könnte. Deshalb wollen sie einen anderen Titel. Ich hätte es gern Single Girl genannt, nach einem alten Song von Mary Travers, den wir neu aufgenommen haben, aber die Leute von MCA möchten nicht, daß es nach einem Song genannt wird, der schon früher aufgenommen wurde, ganz gleich, wie alt der auch ist oder wie
verschieden unsere Version ist. Also weiß ich noch nicht, wie sie sich schließlich entscheiden werden.« »Single Girl wäre doch passend bei einem Mädchen wie dir, würde ich meinen«, antwortete Mary. Tess unterdrückte einen Seufzer. »Ich weiß, daß du dir wünschst, ich würde heiraten, Momma, aber bei meiner Karriere ist das ganz einfach nicht angebracht. Und außerdem habe ich noch niemanden kennengelernt, den ich heiraten möchte.« »Und was ist mit diesem Burt?« Sie hatten die Ausfahrt erreicht, und Tess bog nach links ab, in Richtung auf Poplar Bluff. »Ich kenne ihn kaum. Dränge mich bitte nicht, Momma. Ich bin ganz glücklich mit meiner Arbeit und meinem Leben, und solange das so bleibt, interessiert mich eine Heirat nicht.« »Aber du bist doch schon fünfunddreißig.« »Und was hat das zu bedeuten? Daß ich keine Kinder haben werde?« »Nun, darüber nachdenken solltest du schon.« »Ich wäre eine schreckliche Mutter.« »Nein, das ist nicht wahr. Du hast diesen Gedanken ganz ein fach nie zu Ende gedacht.« »Bitte, Mom...« »Deine Schwestern sind auch gute Mütter. Wieso glaubst du, daß es bei dir anders wäre?« »Momma, ich möchte es ganz einfach nicht!« »Also, das ist doch Unsinn. Jede Frau möchte Mutter sein.« Nicht jede Frau wollte das, aber es hatte keinen Zweck, zu versuchen, Mary davon zu überzeugen. Sie gehörte noch zur alten Generation, sie glaubte noch daran, daß es die Pflicht einer jeden Frau war, Kinder zu gebären, nur weil sie mit den dazu nötigen, körperlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Wahrscheinlich glaubte sie auch daran, daß jeder heimatlose Mensch es verdient hatte, auf der Straße zu leben, und daß jeder Mensch mit dem HIV-Virus homosexuell war. Und auch wenn sie niemals laut wurde, so lag in ihrer ruhigen Art eine Unnachgiebigkeit, eine Halsstarrigkeit, die jedem sagte, daß sie ihre Einstellung nicht ändern würde. Genauso, wie sie nicht bereit war, etwas in ihrem Haus zu verändern, wie sie noch immer fettes Essen kochte und darauf bestand, ihren Garten zu bestellen. Tess war noch nicht einmal zwei Tage zu Hause, und die vier Wochen, die noch vor ihr lagen, erschienen ihr länger und länger. »Mom, ich will mich nicht mit dir streiten.« »Aber Tess, ich streite mich doch gar nicht mit dir«, entgegnete Mary mit der gleichen, überaus freundlichen Stimme, die in Tess den Wunsch erweckte, ihr den Sicherheitsgurt über den Mund zu legen. »Ich sage doch nur, daß es
nicht natürlich ist, allein zu leben und keine Babys zu bekommen. Du mußt hier links abbiegen. Das Krankenhaus ist auf der Pine Street.« Als Tess dann endlich vor dem Krankenhaus anhielt, war sie mehr als bereit, aus dem Wagen auszusteigen. »Bleib hier, Mom. Ich werde dir einen Rollstuhl holen.« Sie holte tief Luft, um ihre Nerven zu beruhigen, dann ging sie in das braune Ziegelgebäude hinein. Wie ist es nur möglich, daß ich sie liebe und sie doch gleichzeitig erdrosseln möchte? Zwei Frauen saßen hinter dem Tresen hinter der Anmeldung. Die eine war untersetzt, etwa dreißig Jahre alt, mit sprödem braunem Haar und runden Wangen und trug einen weißen Pullover. Auf ihre m Namensschild stand Maria. Die andere war älter, schlanker, mit dünnem, graumeliertem Haar und einer randlosen Brille. Auf ihrem Namensschild stand Catherine. »Guten Morgen. Ich brauche einen Rollstuhl für meine Mutter. Sie soll heute hier operiert werden.« Die untersetzte Frau keuchte. »Aber, Sie sind... Sie sind Tess McPhail, nicht wahr?« »Ja, die bin ich.« »O du liebe Güte. Ich liebe Ihre Musik!« »Danke.« »Ich habe zwei Ihrer Langspielplatten.« »Das ist nett. Besteht die Möglichkeit, einen Rollstuhl zu bekommen?« »Oh! Aber natürlich.« Maria riß sich beinahe ein Bein aus, so sehr bemühte sie sich, Tess behilflich zu sein. Während Tess zum Eingang zurückging, folgte ihr Maria mit dem Rollstuhl, ihre Augen waren vor Begeisterung so weit aufgerissen wie die von Judy Garland, als diese eine Musikvorstellung mit Mickey Rooney geplant hatte. »Gibt es bald eine neue Platte von Ihnen?« »Ich arbeite im Augenblick an einem Album«, erwiderte Tess knapp, und ihr fiel wieder einmal auf, wie oft Menschen, die sie erkannten, in Ehrfurcht erstarrten. Andere benahmen sich, als würden sie sie schon seit ihrer Kindheit kennen und als hätten sie das Recht, sie mit Fragen zu überschütten, andere wurden sehr besitzergreifend und vergaßen alles um sich herum. Maria tat alles zusammen. »Wann kommt das Album heraus?« »Im Herbst.« »Himmel, wenn ich das meiner Mutter erzähle! Sie war die jenige, die mich mit Ihrer Musik bekannt gemacht hat, als...« »Entschuldigung, aber ich möchte Ihnen meine Mutter vorstellen, Mary McPhail.«
»Oh, Himmel, sicher. Dies ist also die Mutter der berühmtesten Person des ganzen Butler-Bezirks. Also, Sie müssen ja mächtig stolz sein!« plapperte Maria, während sie Mary aus dem Wagen half. »Des Ripley-Bezirks. Wir kommen aus Wintergreen.« »Ich habe immer gehört, Sie kämen aus Poplar Bluff.« Tess war daran gewöhnt, daß alle Menschen glaubten, sie wüßten alles über sie. Sie hatte Geschichten von Leuten gehört, die darauf bestanden, daß sie recht hatten, obwohl sie sich irrten. Jetzt wünschte sie, ihre Mutter hätte diese Frau nicht korrigiert. Obwohl die Aufmerksamkeit der Frau eigentlich der Patientin gelten sollte, wandte sie sich doch immer wieder an Tess, während sie ihre Mutter in das Gebäude brachte und dann die nötigen Formulare für die Anmeldung ausfüllte. Die andere Frau, Catherine, nahm sich etwas mehr zusammen, doch Tess vermutete, daß sie einigen Freunden aus der Belegschaft des Krankenhauses Bescheid gesagt hatte, denn während der kurzen Zeit der Aufnahmeformalitäten kamen und gingen plötzlich sehr viele Menschen. Sie brachten Formulare, öffneten Akten oder benutzten das Kopiergerät, während sie gleichzeitig Tess anstarrten und dann nur zögernd wieder verschwanden. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, reichte Maria ihr ein Stück Papier. »Würden Sie mir bitte ein Autogramm geben, Mac?« bat sie. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich Sie Mac nenne, nicht wahr?« »Mir bitte auch«, meldete sich Catherine. Schnell unterschrieb Tess das Papier für die beiden, bedachte sie mit einem unbestimmten Lächeln und rief ihnen dann ins Ge dächtnis: »Die Operation meiner Mutter ist für halb sieben angesetzt. Sollten wir uns nicht beeilen?« Im Operationsflügel wurde Mary von Krankenhausmitarbeitern weggebracht, um auf die Operation vorbereitet zu werden. Ihre Art der Begrüßung ließ Tess vermuten, daß man sie bereits von ihrem Kommen unterrichtet hatte. Tess schickte man in einen Warteraum in der zweiten Etage, der große Fenster besaß, von wo aus man auf einen kleinen Garten mit Bänken und einigen Tischen sehen konnte. Der Raum war leer, und auf einer Konsole oben an der Wand flimmerten in einem Fernsehapparat, dessen Ton abgestellt war, die Morgennachrichten. Das Mobiliar war typisch für einen Warteraum: ein orangebraun bezogenes Sofa und braune Sessel, ein runder Tisch mit stapelbaren Stühlen. An der Wand gab es eine Spüle und eine Anrichte mit einer elektrischen Kaffeemaschine, an der das rote Licht leuchtete. Tess stellte ihre große graue Tasche auf einen der Stühle und ging zu der Kaffeemaschine. Der Kaffee war heiß und duftete herrlich. Sie füllte einen Pla stikbecher und hob ihn an die Lippen. Als sie sich umwandte, stand ihre Schwester Judy
an der Tür. Tess ließ den Arm sinken, und die beiden Schwestern sahen einander schweigend an. Judy zeigte keine überschwengliche Freude, so wie Renee es getan hatte. Statt dessen nahm sie den Riemen ihrer Handtasche von der Schulter und sagte: »Na ja...«, während sie mit einem Anflug von Überheblichkeit langsam in das Zimmer watschelte. »Hallo, Judy.« »Wie ich sehe, bist du rechtzeitig angekommen.« »Nun, das ist aber eine nette Begrüßung.« »Für nette Begrüßungen ist es noch viel zu früh am Morgen.« Judys Sandalen machten ein klatschendes Geräusch, als sie zur Kaffeemaschine hinüberging und sich auch einen Becher Kaffee eingoß. Tess betrachtete sie von hinten: sie hat schon wieder zugenommen, dachte sie erschrocken. Judy hatte eine Figur wie ein Faß und bedeckte ihre ausschweifenden Kurven mit übergroßen Oberteilen, die alles verbargen bis auf ihre recht stämmigen Unterschenkel. Heute trug sie ein riesiges weißes T-Shirt mit einer Mickey Mouse darauf und dazu verwaschene, knielange Leggings. Sie besaß einen Schönheitssalon, deshalb war ihr Haar immer gefärbt und sorgfältig frisiert, und sie war auch dezent und geschmackvoll geschminkt. Doch in Wahrheit war Judy eine sehr unattraktive Frau. Mary behauptete immer, Judy hätte ihr Aussehen von der Familie ihres Vaters geerbt. Wenn sie lächelte, verschwanden ihre Augen fast in den Falten ihrer Wangen. Ihr Mund war zu klein, um hübsch zu sein, und sie hatte sich für einen Haarschnitt entschieden, der ihr rundes Gesicht noch betonte. Seit Jahren war Tess davon überzeugt, daß Eifersucht der Grund dafür war, daß sie sich nicht mit Judy verstand. Als die ältere Schwester sich jetzt mit dem Becher mit Kaffee in der Hand zu ihr umwandte, wurde der Kontrast zwischen den beiden Frauen nur noch deutlicher. Obwohl sich Tess heute morgen beeilen mu ßte, sah sie hübsch aus in ihren engen Jeans, und das hastig frisierte Haar unter ihrer Kappe verriet einen mo dernen Haarschnitt, der Hauch von Lippenstift verlieh ihrem ungeschminkten Gesicht einen sehr fotogenen Ausdruck, ein Grund dafür, daß ihr Gesicht auf den Titelseiten von Dutzenden von Magazinen und Illustrierten erschien, und nicht nur auf Zeitschriften, die sich mit Musik befaßten. Sie hatte eine milchweiße Haut mit einem Anflug von Sommersprossen, mandelförmige Augen mit kastanienbraunen Wimpern und einen hübschen Mund. Ihre Hände zogen sofort die Aufmerksamkeit auf sich, die Fingernägel, ihr Markenzeichen, waren mindestens drei Zentimeter lang, pflaumenblau lackiert und so gepflegt, daß sie alle Blicke auf sich zogen. Judy hob mit kurzen, dicken Fingern, an denen die Nägel kurz
geschnitten und nicht lackiert waren, den Becher an ihren Mund. Wenn man die beiden Frauen betrachtete, ihre unterschiedliche Größe und auch ihre gesamte Erscheinung, so hätte niemand vermutet, daß sie Schwestern waren. Judy sagte: »Die Wahrheit ist, daß ich nie daran geglaubt habe, daß du wirklich kommen würdest.« »Die Wahrheit ist, daß mir die Art nicht gefallen hat, wie man mich dazu aufgefordert hat.« »Ich nehme an, keiner der Leute, mit denen du arbeitest, gibt dir Befehle.« »Du hast überhaupt keine Ahnung von den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite oder wie ich überhaupt arbeite, denn du hast mich nie danach gefragt. Du stellst ganz einfach nur Vermutungen an.« (.»Richtig. Und ich habe vermutet, daß du wieder einmal am liebsten das tun würdest, was du getan hast, seit du Wintergreen verlassen hast, nämlich die Sorge um Mutter Renee und mir und unseren Männern zu überlassen.« »Du hättest mich auch darum bitten können, Judy.« »Und was hättest du dann wohl geantwortet? Daß du eine Konzerttournee in Texas hast oder daß du zu Proben für eine Wohltätigkeitsveranstaltung mußt oder was auch immer das ist, was so gottverdammt wichtig ist, daß sich alles in der Welt nur um deinen Terminplan drehen muß.« »Wann habe ich je so etwas behauptet?« »Du bist nicht einmal zu Mutters Geburtstag nach Hause gekommen! Oder zu Weihnachten!« »Ich habe ihr aus Seattle ein Geburtstagsgeschenk geschickt, und zu Weihnachten war ich zu erschöpft, denn ich hatte nur achtundvierzig Stunden für mich selbst zur Verfügung.« »Mutter will keine Geschenke von dir, weißt du das nicht? Alles, was sie sich wünscht, ist, dich ab und zu zu sehen.« »Du sagst das so, als würde ich nie nach Hause kommen.« »Wie lange ist es denn her, seit du das letzte Mal hier warst?« »Judy, können wir nicht ganz einfach...« Tess hob beide Hände, als wolle sie eine schwere Glastür aufstoßen. Sie schloß die Augen und öffnete sie dann wieder. »Können wir das nicht einfach vergessen und versuchen, miteinander auszukommen, während ich hier bin? Und wenn du das nächste Mal etwas von mir willst, dann rufst du nicht einfach an und erteilst einen Be fehl von höchster Stelle. Versuche ganz einfach, mich zu bitten, okay? Ich schlafe nicht mehr in dem Bett, das am weitesten von der Treppe entfernt ist, und ich bin auch nicht länger deine kleine Schwester, die immer dein Tagebuch gelesen und dein Make-up benutzt hat. Ich bin jetzt erwachsen, und ich nehme von dir keine Befehle mehr entgegen, okay?« »Nun, diesmal hast du es aber getan, nicht wahr... Mac?« Niemand in der Familie nannte sie Mac. Für sie war sie immer Tess geblieben, während Mac
ihr Spitzname im Beruf geworden war. Es war ein Name, den einer ihrer Fans erfunden hatte, es war der Name, den alle riefen, wenn sie darauf warteten, daß sie auf die Bühne kam, der Name, der auf die T-Shirts aufgedruckt war, die bei ihren Konzerten verkauft wurden, der Name den die ganze Nation kannte wie die Namen einer auserwählten Gruppe von Unterhaltungskünstlern, von denen nur die Vornamen genannt werden mußten, um sie zu erkennen. Elvis, Sting, Prince. Mac. Während das Wort noch in der Luft hing, kam eine Frau in einer weißen Uniform durch die Tür. »Miss McPhail? Ich habe gehört, daß Sie hier sind. Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, hätte ich gern ein Autogramm von Ihnen. Ich lege Papier und Stift einfach auf den Tisch, und Sie können es dann im Schwesternzimmer abgeben, wenn Sie wollen. Mein Name ist Elly.« Sie war in Tess' Augen der ideale Fan, sie hatte Respekt, und ihre Bitte zeugte von gutem Geschmack. Tess liebte die Art, wie sie um das Autogramm bat. Als die Schwester das Zimmer wieder verließ, wandte sie sich noch einmal um. »Vielen Dank. Sie haben eine großartige Stimme.« Das war mehr, als Judy ihr in ihrem ganzen Leben gesagt hatte. Tess setzte sich an den Tisch, stellte den Kaffeebecher beiseite und unterschrieb auf dem Blatt Papier, während Judy sie mit hochmütigem Gesicht schweigend beobachtete. .Gerade als Tess fertig war, kam Renee ins Zimmer. »Hey, ihr beiden, hier seid ihr also! Ich bin gerade einer Schwester begegnet, die mir gesagt hat, wir sollen in den Flur kommen, ehe sie Momma in den Operationssaal bringen. Kommt schon.« Tess stand auf und lief sofort los, an Renee vorbei, die an der Tür stand. »Was ist los mit ihr?« fragte Renee Judy. »Das gleiche wie immer. Sie glaubt doch ständig, sie sei viel zu gut für uns.« »Judy! Kannst du sie denn nie in Ruhe lassen? Um Himmels willen, sie ist doch gerade erst angekommen.« »Wurde aber auch langsam Zeit«, brummte Judy und folgte ihren beiden Schwestern. Im Flur lag Mary auf einer Bahre und war bis zu den Schultern zugedeckt. Nacheinander beugten ihre Kinder sich über sie und küßten sie. Vor ihr verbargen sie ihren Streit. »Wir werden hier sein, wenn du aufwachst, Momma«, versicherte Tess ihr. »Es wird alles ganz wunderbar verlaufen«, fügte Renee hinzu. »Genau wie beim letzten Mal. Mach dir keine Sorgen.« »Die Kinder und Ed haben gesagt, ich soll dich von ihnen grüßen und dir sagen, daß sie dich besuchen werden«, sagte Judy. »Bis gleich.« Sie sahen Mary nach, als sie auf der Bahre in den Operationssaal gerollt
wurde, bewegungslos blieben sie mitten auf dem Krankenhausflur stehen und fühlten, wie die Spannung zwischen ihnen langsam wich und sich ihre ganze Sorge auf die Mutter richtete, die sie liebten. Sie hatte so schutzlos ausgesehen, wie sie auf dieser Bahre gelegen hatte, mit blassem Gesicht und nach Medizin riechendem Haar, das glanzlos war, nachdem es wieder und wieder gewaschen worden war, ohne danach mo disch frisiert zu werden. Eine Hüftoperation war heutzutage ganz sicher eine Routinesache, aber im Alter von vierundsiebzig Jahren konnte einiges passieren. Mary wurde langsam alt, manchmal war sie vergeßlich, manchmal starrsinnig, und sehr oft konnte sie die anderen ganz schön wütend machen. Aber sie war der Grund dafür, daß sie Schwestern waren. Sie war der Quell so vieler Kindheitserinnerungen, sie hatte sie großgezogen und geliebt wie niemand sonst in ihrem Leben. Und in diesen wenigen Sekunden, wo sie der davon rollenden Bahre nachsahen, mit der ihre Mutter in die Obhut fremder Hände gegeben wurde, verbündeten sich die drei Schwestern. Die Türen schlossen sich hinter der Bahre, und die Männer mit den weißen Schuhen und den blauen Kitteln verschwanden. Leise ertönte eine Glocke, und eine Stimme kam aus dem Lautsprecher: »Doktor Diamond... Doktor Diamond.« Dann herrschte wieder Schweigen. " Renee seufzte und wandte sich dann an die beiden anderen. »Wie wäre es jetzt mit einer heißen Tasse Kaffee in der Cafeteria?« Ihr war schon seit so vielen Jahren die Rolle des Friedensstifters zugefallen, daß es ihr ganz natürlich erschien, sie auch jetzt, wo sie wieder zusammen waren, wieder zu übernehmen. Sie faßte ihre beiden Schwestern bei den Ellbogen und zwang sie, mit ihr zu gehen. »Nun kommt schon, ihr beiden, und hört auf, euch zu streiten.« An den Tischen der Cafeteria saßen etwa ein Dutzend Menschen, hinter dem Tresen standen zwei Angestellte. Die eine Frau war etwa fünfzig Jahre alt und hatte eine selbstgemachte Dauerwelle. Sie hörte damit auf, Kartons mit Saft in die Kühltheke zu stapeln, und sah Tess wie gebannt an. »Morgen«, sagte sie. »Guten Morgen.« Hinter der Kasse saß eine weitere Frau mittleren Alters, mit blasser Gesichtsfarbe und einer altmodischen Brille. Als die drei McPhails sich an einen der Tische gesetzt hatten, war es ganz offensichtlich, daß die beiden Frauen hinter dem Tresen überlegten, ob sie Tess auch richtig erkannt hatten. Tess setzte sich absichtlich mit dem Rücken zu ihnen. Schließlich kam die Frau mit der Dauerwelle zu ihnen herüber. »Sagen Sie, sind Sie nicht jemand, den ich kennen sollte?« Tess hatte so etwas schon öfter erlebt. Sie wußte auch, wie man mit solchen Leuten umgehen mußte.
»Ich bin Tess McPhail.« »Siehst du, Blanche, ich habe es dir doch gesagt! Sie ist es!« tro mpetete die Frau durch den ganzen Raum. »Ich habe gehört, daß Sie in dieser Gegend hier geboren und aufgewachsen sind. Hören Sie, würden Sie mir ein Autogramm geben? Ich habe kein Papier, aber wir können ja auch das hier nehmen.« Sie nahm Tess' Serviette. »Mein Mann wird mir das nämlich sonst niemals glauben. Tut mir leid, ich habe leider keinen Stift, aber Sie haben doch sicher einen in dieser riesigen Tasche, nicht wahr?« Tess hatte ihre Tasche an den Stuhl gehängt. Als sie jetzt danach griff und in der Tasche herumsuchte, lag plötzlich ein Stift auf dem Tisch. Renee reichte ihn ihr, und an der Art, wie sie den Mund verzog und die Augenbrauen hob, erkannte Tess ihre Belustigung. Tess begann zu schreiben. Die Frau bat: »Könnten Sie bitte >Für Dolores< drauf schreiben? Und schreiben Sie doch bitte etwas darüber, wie gut das Essen hier war oder etwas Ähnliches, denn sonst wird mir niemand glauben, daß Sie wirklich hier waren und hier gegessen haben.« Als Tess fertig war, reichte sie der Frau die Serviette. Die blickte voller Begeisterung darauf und meinte: »Danke, Schatz. Also, Sie sind ja wirklich ein winziges Ding, und Sie sind nicht nur bezaubernd, sondern auch noch nett dazu. Nochmals vie len Dank.« Sie gab Tess einen Schlag auf den Rücken, den Tess in ihrem ganzen Körper fühlte. Dann ging sie davon, betrachtete die Serviette und lächelte. Als sie weg war, streckte Renee Tess die Hand entgegen, weil diese ihren Stift wiederhaben wollte. Tess reichte ihn ihr und stand auf. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich brauche eine neue Serviette.« Renee begann, Dolores nachzuäffen, als Tess an den Tisch zurückkam. Sie übertrieb absichtlich die gedehnte Sprechweise der Südstaaten. »Mein Gott, es ist Mac McPhail, und ich will verdammt sein, wenn sie nicht genauso ißt und Servietten benutzt wie alle anderen Sterblichen auch. Also ich hätte gedacht, sie tut nichts anderes, als Country-Songs zu singen und in Shows aufzutreten, und dann schleppt sie all ihr Geld zur Bank.« Sie sprach wieder normal. »Gütiger Himmel, sind sie etwa alle so? < wollte sie wissen. »Gott sei Dank nicht. Einige haben wirklich ein Hirn in ihremKopf« »Wie oft begegnen dir denn solche Leute?« « ? Viel zu oft.« Renee hielt sich die Serviette vor den Mund und lachte. »Ich dachte, sie würde dich vom Stuhl schlagen, als sie dir den Klaps auf den Rücken gab.« »Aber das ist noch besser als die Fans, die dich unbedingt umarmen wollen.« »Bah.« »Ja. Bah.«
»Mom hat mir von dem Fan erzählt, den man in deiner Garderobe gefunden hat.« »Da hatte ich wirklich Angst.« »Wie ist er denn überhaupt da reingekommen?« »Das weiß niemand so genau. Es sind immer Sicherheitskräfte dabei, wenn wir ein Konzert geben, aber irgendwie hat er es geschafft, sich an ihnen vorbeizumogeln. Ich öffnete die Tür, und er stand dort und roch gerade an meinem Parfüm. Das war wirklich beängstigend.« »Momma fand es gespenstisch, als sie mir davon erzählte. Sie macht sich große Sorgen um dich, wenn sie weiß, daß du auf Tournee unterwegs bist.« »Jetzt ist es wesentlich sicherer, weil wir den Bus nicht mehr benutzen. Und außerdem sind meistens die Jungs von der Band bei mir, und wie ich schon sagte, es sind auch immer Sicherheitskräfte dabei. Da braucht ihr euch wirklich keine Sorgen zu machen.« »Bis sie wieder einmal einen Mann in deiner Garderobe fin den, der an deinem Parfüm riecht.« Sie warfen einander einen ernsten Blick zu, dann schlug Tess vor: »Laß uns das Thema wechseln.« Während der Unterhaltung hatte Judy kein einziges Wort gesagt. Sie saß dabei, als habe das Gespräch mit dem Fan und die Geschichte über den Eindringling in Tess' Garderobe überhaupt nicht stattgefunden. Ihre schweigende Ablehnung war beinahe mit Händen zu greifen, und es beeinflußte die Stimmung der Schwestern, während sie ihr Frühstück aßen. Renee hatte Frühstücksflocken bestellt. Tess aß eine halbe Grapefruit und ein getoastetes Muffin ohne Butter. Judy verspeiste zwei Doughnuts, und dazu trank sie eine Tasse heiße Schokolade. Tess beobachtete sie und dachte: Besitzt du denn überhaupt keinen Respekt vor deinem Körper? Dreihundert Kalorien für jeden Doughnut, und du schiebst dir gleich zwei davon in deinen fetten Hals. Doch offensichtlich machte es Judy nichts aus, denn sie verputzte die ersten beiden und holte sich dann noch einen dritten Doughnut. Tess' Blicke folgten ihr, als sie zum Tresen ging. »Sie sollte eine Diät machen.« »Aber solange du schlanker bist als sie, kann sie dich auch noch dafür verachten, und nicht nur für deinen Erfolg, nicht wahr?« »Dann ist es dir also auch aufgefallen.« »Das ist mir schon immer aufgefallen.« »Muß sie mich denn behandeln, als wäre ich irgendeine selbstgefällige Frau, die überall nach ihren Fans sucht? Das gehört zu meinem Geschäft dazu - es ist ein wichtiger Teil davon -, und es gibt Zeiten, da hasse ich es auch.
Aber meine Fans sind mein Lebensblut. Das sollte sie doch eigentlich wis sen.« »Tief in ihrem Inneren weiß sie es, da bin ich mir ganz sicher.« Mit traurigem Gesicht betrachtete Tess ihre übergewichtige Schwester. »Weißt du, was? Sie hat noch nicht ein einziges Wort über meine Arbeit gesagt. Es ist beinahe so, als würde sie für sie gar nicht existieren. Sie hat mir nie erzählt, daß sie eine Kassette von meinen Liedern gekauft hat oder daß sie einen Song von mir im Radio gehört hat - überhaupt nichts. Um Himmels willen, Wäre das denn so schlimm?« »Judy ist nicht glücklich, Tess. Psst, sie kommt.« Judy kam an den Tisch zurück mit einer übergroßen Zimt rolle auf ihrem Teller, gefüllt mit klebrigem Karamel und Nüssen. Sie stellte den Teller auf den Tisch und stützte sich dann mit beiden Händen auf den Tisch, um ihren schweren Körper auf den Stuhl sinken zu lassen. Sie biß in das klebrige süße Gebäck und warf dann einen Blick auf die Uhr. »Nun, die Hälfte der Zeit hat Mom schon überstanden«, meinte sie und lenkte so die Aufmerksamke it von ihrer Schwäche ab. Und mit dieser Bemerkung setzte sie auch ihre seit langem andauernde Feindseligkeit ihrer Schwester gegenüber fort.
4. Kapitel Es fiel Tess schwer, wach zu bleiben, als sie in den Warteraum zurückkamen. Ihre innere Uhr war völlig aus dem Takt geraten, nachdem sie heute morgen schon bei Sonnenaufgang aufgestanden war. Sie war gerade dabei, einzunicken, als plötzlich eine Männerstimme sagte: »Meine Damen, ich bin Doktor Palmer.« Sie reckte sich und stand auf, während der Arzt ihnen allen die Hände schüttelte. Er war ganz in Blau gekleidet, nur die Kappe hatte er ausgezogen, und man sah sein lockiges, graues Haar. Er hatte schmale Lippen, ein hervorstehendes Kinn und trug eine Brille mit einem silbernen Gestell. »Unser Star«, begrüßte er Tess. »Es ist nett, Sie kennenzulernen.« Dann wandte er sich an die drei Schwestern. »Ihrer Mutter geht es gut. Die Operation ist sehr gut gelungen, wir haben nichts Außergewöhnliches feststellen können, kein Anzeichen von Krebs, und das ist ja immer eine gute Nachricht. Das Hüftgelenk war ziemlich verschlissen, deshalb sollte sie nach der Operation all ihre Schmerzen los sein. Wie ich hörte, wird sich eine von Ihnen eine Weile um sie kümmern.« »Ja, ich«, sagte Tess. »Wir möchten, daß Sie dafür sorgen, daß sie bereits morgen aufsteht und daß sie schon übermorgen die ersten Schritte macht. Die Schwestern werden Ihnen natürlich dabei helfen, aber ich versichere Ihnen, es ist das beste, wenn
sie die Hüfte gleich von Anfang an belastet. Wir lassen die Leute heute nach einer Operation nicht mehr im Bett liegen, wie es früher üblich war. Sie wird während der Zeit, wo sie hier ist, Physiotherapie bekommen, und wenn sie zu Hause ist, werden Sie ihr bei den Übungen helfen. Die Therapeutin wird Ihnen die Anleitungen dazugeben.« »Wann kann sie denn nach Hause kommen?« »In vier oder fünf Tagen wird sie entlassen, das hängt davon ab, wie gut sie sich erholt. Sie sollte in zwei Wochen noch einmal zur Nachuntersuchung kommen. Dann werden wir auch die Fäden ziehen. Danach muß sie in vier Wochen noch einmal kommen. Dann werden wir eine Röntgenaufnahme machen, um sicherzugehen, daß es keine Probleme mehr gibt. Danach muß sie jedes Jahr einmal zur Untersuchung hierherkommen.« »Wann können wir sie sehen?« »Sie wird gerade in ihr Zimmer gebracht. Lassen Sie ihr noch ein wenig Zeit, zehn Minuten etwa, dann können Sie raufgehen.« »Ist sie erschöpft?« »Ein wenig.« Als die drei Schwestern dann zu Mary gingen, schlief sie. Das Kopfteil des Bettes war hochgestellt. Sie schien zu spüren, daß sie nicht länger allein war, denn sie öffnete die Augen und lächelte ein wenig. Die drei stellten sich an die Seiten des Bettes, und Renee sprach mit Mary. »Es ist alles vorbei. Der Arzt sagt, daß alles glattgelaufen ist.« Mary nickte schwach. Sie hatte einen Sauerstoffschlauch in der Nase und einen Infusionsschlauch im Handrücken. Unter der Bettdecke hervor hing der Schlauch eines Katheders. Ein zu sätzliches Kissen zwischen ihren Beinen hielt ihre Schenkel auseinander. »So müde«, murmelte sie und schloß die Augen. Die drei berührten ihre Hände, küßten sie auf die Wange, strichen ihr das Haar aus der Stirn, doch war es offensichtlich, daß Mary Schlaf mehr als alles andere brauchte. Eine Schwester kam ins Zimmer, sie lächelte und fühlte Mary den Puls. Dann trug sie die Werte auf eine Karte ein. »Sie wird jetzt ein Weile schlafen«, erklärte sie. »Wir werden Sie rufen, wenn sie aufwacht; wenn Sie lieber im Warteraum warten möchten.« Also gingen sie in den Warteraum zurück, tranken noch mehr Kaffee und verbrachten die nächsten Stunden damit, daß eine nach der anderen nach ihrer Mutter sah. Während der Tag verging und die Narkose nachließ, wurde Mary immer unruhiger. Die Schwester gab ihr ein Schmerzmittel und ein leichtes Schlafmittel. Sie schlief gerade, und die drei Schwestern saßen im Warteraum. Es war Nachmittag, als plötzlich ein junges Mädchen den Kopf durch die Tür streckte. »Hi, ihr drei. Wie geht es?«
Judy blickte von ihrer Zeitschrift auf. »Oh, hi, Casey.« Renee sagte: »Aber Casey, was machst du denn hier?« »Ich bin ausgeritten. Wie geht es Mary?« Sie war gekleidet wie ein Cowboy, der schlechte Zeiten erwischt hatte — und dabei sah sie unerhört reizend aus: mit einem locker geflochtenen blonden Zopf, einem speckigen Cowboyhut aus Stroh, einem verwaschenen Hemd mit Perlknöpfen und einer Jeans mit großen Löchern an den Knien. Als sie in das Zimmer trat, brachte sie den Geruch nach Pferd mit. »Ganz gut. Die Operation ist glattgegangen, und sie schläft die meiste Zeit.« »Na ja, hey, das klingt gut!« Sie bewegte sich wie ein Rodeo-Cowboy ohne jegliche Anmut. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.« Sie streckte Tess die Hand entgegen. »Ich bin Ca sey Kronek. Ich lebe auf der anderen Seite der Gasse gegenüber von Ihrer Mutter.« »Hallo, Casey. Ich bin Tess.« »Ich weiß. Teufel, alle wissen das. Als ich gehört habe, daß Sie kommen werden, habe ich zu meinem Dad gesagt: >Hey, ich muß sie unbedingt kennenlernen! < Und ich muß Ihnen sagen, ich bin ganz aufgeregt, daß ich Ihnen endlich die Hand schütteln kann. Und Ihrer Mutter geht es gut, wie?« »Ja, es geht ihr gut.« „Ich nehme an, sie kann noch keinen Besuch bekommen.« »Morgen wäre es besser. Sie schläft die meiste Zeit.« »Ja, schon richtig, denn ich stinke ziemlich.« Casey blickte auf ihre armselige Jeans und die noch viel armseligeren Stiefel. Tess lachte laut auf. »Ja, das tust du wirklich.« »Ich bin mit meinem Pferd ausgeritten, und es war nicht mehr sehr weit bis hierher, da dachte ich, ich könnte einen kleinen Umweg machen und nachsehen, wie es Mary geht. Ihre Mom ist ein großartiges altes Mädchen. Sie war für mich immer so etwas wie eine Großmutter, und es tut mir leid, daß sie so viele Schmerzen und Leid hat ertragen müssen, bis ihre Hüften operiert wurden.« Sie wandte sich plötzlich an Judy. »Ich habe gehört, Tricia geht mit Brandon Sikes zu dem Schulball.« »Ja, er hat sie endlich eingeladen.« »Junge, der ist vielleicht süß. Und er ist auch sehr nett.« »Das findet Tricia auch.« »Geht er im Herbst ins College?« »Er ist am SEMo angenommen worden, er möchte Grundschullehrer werden. Und wie steht es mit dir?« » Oh, Himmel, nein!« Casey hob beide Hände. »Kein College für mich, danke! Ich habe nicht den Verstand dafür. Pferde züchten, das wäre schon eher etwas für mich. Hey, Renee, wir haben die Einladung zu Rachels Hochzeit bekommen, und wir werden ganz sicher kommen. Es ist ziemlich
aufregend, wie?« »Ja, und es dauert auch nicht mehr lange bis dahin. Nicht einmal mehr einen ganzen Monat.« »Werden die beiden hier wohnen?« »Eine Zeitlang schon.« »Da bist du sicher erleichtert, wie? Ich meine, wer will schon, daß sein Kind heiratet und dann gleich wegzieht? Ich denke, das wäre ein ziemlicher Hammer.« »Ich bin froh, daß sie noch eine Zeitlang hier leben werden. Singst du noch immer in dieser kleinen Band?« »Nein, wir haben uns getrennt. Wir konnten nirgendwo einen Ort finden, wo wir unsere Gigs machen konnten, und Dad hat außerdem gemeint, ich würde dadurch immer viel zu spät ins Bett kommen. Und auch wenn ich nicht ins College gehen will, muß ich doch den High-School-Abschluß machen. Er meinte, die Band würde mir dabei im Weg stehen.« Renee wandte sich an Tess. »Casey ist genau wie du, Tess. Sie singt die ganze Zeit.« »Psst!« schalt Casey. »Sie wird noch glauben, daß ich nur hierhergekommen bin, um sie darum zu bitten, mir einen Auftritt zu verschaffen. Sie denkt wahrscheinlich: >Hilfe! Schon wie der so eine!<« Casey verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf, ließ sie dann aber wieder sinken. »Ich bin wirklich nur gekommen, um nach Mary zu sehen. Und ich wollte ihr das hier brin gen.« Sie reichte Renee etwas. »Es ist ein vierblättriges Kleeblatt. Ich habe es draußen auf der Weide gefunden. Gib es ihr und sag ihr, Casey läßt sie grüßen. Ich werde sie morgen oder übermorgen besuchen, okay?« »Sicher, Casey. Und danke, daß du gekommen bist. Sie wird sich darüber freuen, das weiß ich.« »Na ja...« Casey blieb noch einen Augenblick stehen, die Zeigefinger hatte sie unter den Gürtel ihrer Jeans geschoben. Dann streckte sie Tess abrupt die Hand entgegen. »Es war nett, Sie kennenzulernen, Miss McPhail... äh, Tess... Mac... Ich weiß gar nicht, wie ich Sie nennen soll.« Tess bemühte sich, unter dem festen Händedruck des Mädchens nicht zusammenzuzucken. Trotz ihres weichen Gesichts hatte sie nur wenig Feminines an sich, doch wie es schien, bemühte sie sich absichtlich darum, männlich zu erscheinen. »Hier nennen mich alle Tess. Dort draußen« - Tess machte eine ausladende Handbewegung - »bin ich Mac. Du kannst es dir aussuchen.« »Mac also.« Casey lächelte und ließ Tess' Hand wieder los, dann trat sie einen Schritt zurück. »Es gibt noch eine Sache, um die ich Sie bitten möchte, wenn ich darf. Da wir alle hier die Methodistenkirche besuchen, auch Ihre
Mutter, die gleiche Kirche, in die Sie früher auch gegangen sind... na ja... mein Dad ist der Leiter des Chors dort, und ich habe gehört, daß Sie eine Weile hierbleiben und sich um Mary kümmern werden... also, glauben Sie, Sie könnten vielleicht am Sonntag mit uns zusammen im Chor singen? Es wäre wirklich phantastisch. Ich meine, stellen Sie sich das doch nur einmal vor - Tess McPhail und der Chor der Ersten Methodistenkirche von Wintergreen! An die sem Tag wäre die Kirche wahrscheinlich zum Platzen voll!« Der Gedanke, auf der Chorempore zu stehen und in einem Chor zu singen, der von Kenny Kronek dirigiert wurde, war für Tess genauso reizvoll, wie gestoßenes Glas zu essen. »Ich werde darüber nachdenken, okay?« »Sicher. Denken Sie darüber nach.« Casey zuckte die Schultern. »Ich nehme an, etwa hundert Leute bitten Sie jeden Monat darum, etwas für irgendwelche Gruppen zu tun - Reden halten, zu singen oder eine Autogrammstunde zu geben. Ich wollte Sie nicht drängen.« »Das hast du auch nicht getan. Öffentliche Auftritte gehören zu meinem Job. Aber ich möchte trotzdem darüber nachdenken, okay?« »Sicher, das verstehe ich.« Casey strahlte Tess an, eine leichte Röte bildete eine attraktive Nuance zu den kleinen Sommersprossen auf ihren Wangen. »Na ja, dann gehe ich jetzt besser. War nett, Sie kennenzulernen.« »Ganz meinerseits.« »Tschüs, Judy. Tschüs, Renee.« Tschüs«, sagten die beiden. Als sie gegangen war, meinte Tess: »Zu allem anderen dirigiert der heilige Kenny auch noch den Kirchenchor? Seit wann hat er sich denn dafür qualifiziert?« »Hat er gar nicht«, antwortete Renee. »Ich denke, das einzige, was er in dieser Richtung getan hat, war, im Chor der High-School zu singen. Doch als Mrs. Atherton dann krank wurde, wollte niemand den Chor übernehmen, und Casey hat ihn dann schließlich dazu überredet. Da er sowieso im Kirchenchor mitgesungen hat und niemand bereit war, den Chor zu übernehmen, hat er schließlich zugestimmt. Das war vor ungefähr sechs Monaten, und da sich seither noch niemand gemeldet hat, der die Arbeit übernehmen will, dirigiert er ihn noch immer. « »Und wie singt der Chor?« »Ganz anständig. Sie sind zwar noch nicht eingeladen worden, Pavarotti zu begleiten oder so, aber« - Renee zuckte die Schultern - »sie singen ganz anständig.« Jetzt meldete sich auch Judy zu Wort. »Der heilige Kenny?« »Nun ja, ist er das etwa nicht? Mutter scheint ihn in den Himmel zu
heben.« »Er ist sehr gut zu ihr.« »Sehr gut zu ihr! Am besten sollte er gleich bei ihr einziehen! Er bestellt ihren Garten, füllt ihr das Salz für die Wasseraufbereitung nach, baut ihr das neue Garagentor ein! Teufel, ich bin überrascht, daß er nicht heute morgen hier aufgetaucht ist, um ihr die Hüfte zu operieren! Ich meine, wann immer ich mich auch nur umdrehe, stoße ich auf diesen Kerl. Was ist bloß los mit ihm?« Judy und Renee warfen einander einen verwirrten Blick zu. »Vielleicht sagst du uns, was los ist«, sagte Renee. »Der Junge hilft Mom - was ist denn daran nicht in Ordnung?« Judy fügte hinzu: »Und wir kennen ihn schon unser ganzes Leben lang, also, was ist daran nicht in Ordnung?« Tess stand vor ihren Schwestern und mu ßte ihnen ihre ungerechtfertigten Anschuldigungen erklären. Wie konnte sie ihnen sagen - ganz besonders Judy -, daß Kenny sie wütend gemacht hatte, weil er sie einfach ignoriert hatte? Wenn das nicht nach einem Star mit einem aufgeblasenen Ego klang, nach was dann? »Ich schicke ihr ständig Geld. Viel Geld! Was macht sie damit? Sie könnte jemanden bezahlen, der ihr ein neues Garagentor einbaut, und sie könnte jemanden anstellen, der ihr den Rasen mäht. Und der Mann von Culligan könnte kommen und sich um ihre Wasseraufbereitungsanlage kümmern, aber sie läßt das alles von Kenny Kronek machen. Es ärgert mich ganz einfach, das ist alles! Und wißt ihr, was mich verletzt? Es ist die Tatsache, daß ich ihr angeboten habe, ihr ein Haus ihrer Wahl zu kaufen, ein brandneues Haus, in dem keine Garagentore erneuert werden müssen und wo nicht alles verkommt. Sie könnte eine Spülmaschine haben und ein Wäschezimmer im Erdgeschoß und eine Klima anlage und alles, was sie sich wünscht, aber sie hat nein gesagt. Um Himmels willen, habt ihr beiden euch in letzter Zeit mal in ihrer Küche umgesehen, habt ihr euch die Schränke angesehen? Der Belag ist vollkommen abgegriffen, man sieht schon den Untergrund. Und die Stufen vor dem Hauseingang sind schiefgetreten, und der Gehweg ist rissig und fällt auseinander. Der Teppich in ihrem Schlafzimmer ist genauso alt wie wir, und die Fliesen im Bad sind noch immer die gleichen schrecklichen modrigen Din ger, die angebracht wurden, als das Haus gebaut worden ist. Ich schicke ihr, wenn ich auf Tournee bin, hübsche Kleider aus den besten Läden, und sie trägt noch immer diesen lavendelfarbenen Hosenanzug aus Polyester, den sie wahrscheinlich schon vor fünfzehn Jahren gekauft hat. Ich verstehe sie nicht mehr.« Als Tess zu Ende gesprochen hatte, senkte sich ein tiefes, nachdenkliches Schweigen über den Raum. Judy und Renee warfen einander einen schnellen
Blick zu, ehe Renee dann zu sprechen begann. »Sie wird alt, Tess.« »Alt! Sie ist doch erst vierundsiebzig.« »Alt genug, daß sie keine Veränderungen mehr haben möchte. Sie möchte das behalten, an das sie gewöhnt ist.« »Aber das ist doch absurd!« »Für dich vielleicht, aber nicht für sie. Für sie steckt ein ganzes Leben voller Erinnerungen in diesem Haus. Warum also sollte sie dort ausziehen wollen?« »Na gut, ich verstehe ja noch, daß sie aus dem Haus nicht heraus möchte, aber warum kann sie es dann nicht ein wenig modernisieren?« »Weißt du, was dein Problem ist?« mischte sich jetzt Judy ein. »Du warst nicht hier, um sie altern zu sehen. Du kommst ein mal im Jahr nach Hause und verlangst, daß sie noch immer so ist wie früher, doch das ist sie nicht. Natürlich ist sie störrisch, und sie findet, daß es keinen Zweck hat, in ihrem Alter noch große Veränderungen durchzuführen. Aber wenn sie damit glücklich ist, dann laß sie doch in Ruhe.« Tess starrte Judy an und dann Renee. »Stimmt das?« »Im Grunde schon.« »Aber muß Mutter dann so schäbig aussehen? Kann sie nicht etwas mit ihrem Haar anfangen, Judy? Du hast doch einen Schönheitssalon.« »Ich habe es versucht. Sie weiß, daß sie jederzeit kommen kann, um sich frisieren oder eine Dauerwelle machen zu lassen, was auch immer sie möchte, aber sie findet ständig eine andere Entschuldigung, warum sie nicht kommt. Entweder schmerzt ihre Hüfte zu sehr, oder sie muß dringend in den Garten.« »Oh, diesen Garten solltest du gar nicht erst erwähnen. Das letzte, was sie auf dieser Welt braucht, ist dieser Garten.« »Es macht ihr viel Spaß, in ihrem Garten zu arbeiten.« »Es macht ihr Schmerzen in den Hüften, sonst nichts.« »Das auch, aber du wirst ihre Meinung nicht ändern, warum versuchst du es also überhaupt? Sie hat ihr ganzes Leben lang einen Garten gehabt, und wir wissen alle, daß sie nicht ihr eigenes Gemüse züchten muß. Aber es macht sie glücklich, also laß sie in Ruhe.« »Und da wir gerade dabei sind, laß Kenny Kronek ruhig für sie tun, was er möchte«, meinte Renee. »In Wirklichkeit ist er es, der sie davon überzeugen kann, irgend etwas zu ändern. wenn es uns nicht gelingt. Jim hat sie schon sooft davon zu überzeugen versucht, daß es besser wäre, sich ein elektrisches Garagentor anzuschaffen, weil sie sich mit ihrer schlimmen Hüfte nicht bücken kann, um das Tor aufzumachen. Er hat sogar angeboten, es für sie einzubauen, aber sie war immer dagegen. Und dann erklärt sie plötzlich eines Tages, daß sie ein neues Garagentor hat und daß Kenny es für sie eingebaut hat. Ich versuche gar nicht erst, das zu begreifen, aber die beiden verstehen
Sich so gut, und ich bin ganz einfach dankbar dafür, daß er in ihrer Nähe ist.« Als Tess an diesem Nachmittag zum letzten Mal in das Zimmer ihrer Mutter ging, betrachtete sie diese mit anderen Augen als zuvor. Sie versuchte, die Tatsache zu verstehen, daß ihre Mutter älter wurde, daß sie im Alter von vierundsiebzig Jahren das Recht hatte, ein wenig störrisch zu sein. Vielleicht hatte Judy ja recht. Vielleicht gab sich Tess, weil sie nicht sooft zu Hause war, der Illusion hin, daß die Zeit stillstand. Sie drückte Mary das vierblättrige Kleeblatt in die Hand. »Das ist von Casey Kronek. Sie war hier, um sich zu erkundigen, wie es dir geht, und sie hat mich gebeten, dir das zu geben. Sie hat es draußen auf der Weide gefunden, wo ihr Pferd untergebracht ist. Sie schickt dir viele liebe Grüße und hat gesagt, sie wird dich morgen besuchen.« »Oh, ist das nicht schön? Casey ist ein so süßes Mädchen.« »Hör mal, Mom... ich werde jetzt nach Hause fahren, aber ich komme morgen wieder. Wenn du irgend etwas brauchst, dann laß es mich wissen, und wenn es dir heute nacht nicht so gutgeht, dann bitte die Schwester um ein Schmerzmittel. Wirst du das tun?« »Ganz bestimmt.« »Wir werden jetzt auch nach Hause fahren«, erklärten die beiden anderen Frauen. Sie küßten ihre Mutter und ließen sie blaß und erschöpft zurück. Draußen atmeten sie tief die frische Luft ein. Sie blickten in den blauen Frühlingshimmel. Aber auf dem Weg zu ihren Autos waren sie ungewöhnlich still. Renee nahm Tess in den Arm und drückte sie, doch Judy spitzte nur den Mund, als wolle sie ihr einen Abschiedskuß geben, aber in Wirklichkeit war es keiner. In Marys altem Ford davonzufahren, das gab Tess ein Gefühl, befreit worden zu sein. Der Frühlingstag war herrlich, es war warm, und Phlox und Iris blühten vor den Häusern. Hier und dort zeigten sich blühende Rhododendronbüsche als bunte Farbtupfer. Tess ließ sich Zeit; sie hielt am Supermarkt an und kaufte frisches Gemüse, fettarmes Salatdressing und Hühnerbrüstchen, ehe sie nach Wintergreen zurückfuhr. Als sie über die altbekannten Straßen zurückfuhr, brachte sie Ordnung in ihre Gefühle darüber, wieder zu Hause zu sein. Es hatte etwas für sich, weit weg von der Familie zu leben. Dort draußen in Nashville und in den anderen Städten brauchte sie sich nicht ständig Sorgen zu machen um die Gesundheit ihrer Mutter, um Judys Eifersucht und all die anderen kleinen Ärgernisse, denen sie in den vierundzwanzig Stunden, seit sie jetzt wieder zu Hause war, begegnet war. Wieder hier zu sein, hatte ihr Augenblicke der Nostalgie gebracht, aber es hatte auch noch deutlicher den Unterschied hervorgehoben zu dem Mädchen, das sie einmal gewesen
war. Ihre Werte und Prioritäten hatten sich verändert. Ihr Lebensrhythmus hatte sich verändert, und ihre Bekanntschaften, ihr Gesichtskreis und ihre Verpflichtungen ebenfalls. War das denn so schlimm? Sie fand das nicht. Was sie in ihrem Leben geschafft hatte, hatte eine unerhörte Energie gefordert und war auch eine Verpflichtung, und diese beiden waren so groß geworden, daß im täglichen Leben nur wenig Raum blieb für das, was sie als gesellschaftliche Nebensächlichkeiten ansah. Judys Eifersucht war eine solche Nebensächlichkeit. Und auch Mutters störrisches Benehmen gehörte dazu. Wenn Tess mit ihren geschäftlichen Verpflichtungen beschäftigt war, vergaß sie all diese Dinge. Zu Hause jedoch nagten sie an ihr und ihre Bedeutung in dem allgemeinen Lebensschema wurde übermäßig groß. Als sie um fünf Uhr in die Gasse hinter ihrem Haus einbog, erwartete sie eine weitere dieser gesellschaftlichen Nebensächlichkeiten: Kenny Kronek mähte den Rasen ihrer Mutter. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit einem V-Ausschnitt, dazu eine blau-rote Cardinals -Baseballkappe. Er blickte auf, hielt aber nicht inne, als sie bremste und mit der Fernbedienung das Garagentor öffnete. Es dauerte eine Weile, bis sie die beiden Autos rangiert hatte, und während dieser Zeit ging er mit dem Rasenmäher über die Wiese, verschwand um die Hausecke zur Vorderseite des Hauses und tauchte dann wieder auf. Als Tess den Wagen ihrer Mutter in die Garage gestellt und ihren eigenen Wagen auf der Auffahrt geparkt h atte, nahm sie die Lebensmittel und ging zum Haus. Auf halbem Weg traf sie auf Kro nek. »Wie ist es gegangen?« fragte er und stützte eine Hand in die Hüfte, lächelte aber nicht. »Perfekt«, antwortete sie, so knapp und unhöflich wie möglich. »Und Mary?« »Der Arzt sagt, es geht ihr gut. Keine Komplikationen. Morgen muß sie schon aufstehen.« »Nun, das sind gute Neuigkeiten.« Sie fühlten sich beide ein wenig verlegen, weil sie nach außen hin höflich waren und doch wünschten, es nicht zu sein. »Ich habe heute deine Tochter kennengelernt«, sagte Tess. Er bückte sich, nahm einen kleinen Ast vom Rasen und warf ihn in den Garten. »Sie hat gesagt, daß sie vielleicht im Krankenhaus vorbeischauen wird. Ich habe ihr geraten, bis morgen zu warten, bis es Mary ein wenig bessergeht.« »Sie ist erfrischend natürlich.« »Damit willst du wohl sagen, sie hat nach Pferd gerochen, nicht wahr?« Wäre er jemand anderes gewesen, hätte Tess gelacht. Doch da es Kenny war, hielt sie sich zurück. »Ein wenig. Aber sie hat sich dafür entschuldigt.«
»Sie liebt ihre Pferde.« Noch immer vermied er es, sie anzu sehen, er blickte über den Rasen und den Hinterhof, das Ge wicht auf ein Bein verlagert. »Sie hat mich gebeten, am Sonntag zusammen mit dem Kirchenchor zu singen.« Er warf ihr einen schnellen Blick zu und stieß dann einen leisen Fluch aus. Dann hob er eine Hand und kratzte sich den Kopf unter seiner Kappe. »Ich habe ihr gesagt, sie soll dich damit nicht belästigen. Hoffentlich glaubst du nicht, ich hätte sie dazu angestiftet.« Tess erinnerte sich daran, daß er in ihrer Zeit in der High-School eine Schwäche für sie gehabt hatte. Mit genügend Sarkasmus in der Stimme, um ihn ärgerlich zu machen, erwiderte sie: »Also, warum sollte ich so etwas denken?« Er rückte die Baseballkappe wieder gerade und betrachtete sie von Kopf bis Fuß voller Verachtung, dann wandte er sich wieder dem Rasenmäher zu. »Ich muß weitermachen«, brummte er. Er stellte den Motor wieder an und zog an dem Gashebel, bis Tess die Ohren dröhnten. Sie beugte sich zu ihm und schrie über den Lärm: »Du hättest den Rasen nicht zu mähen brauchen! Ich wollte meinen Neffen darum bitten!« »Es macht keine Mühe!« rief er zurück. »Ich werde dich gern dafür bezahlen!« Er warf ihr einen Blick zu, der sie auf die Höhe der Grashalme reduzierte. »In dieser Gegend hier bezahlt man nicht für einen Gefallen«, antwortete er, dann fügte er in verächtlichem Ton hinzu: »Miss McPhail.« »Ich bin in dieser Gegend geboren worden, falls du das vergessen haben solltest. Rede also nicht in diesem Ton mit mir, Mister Kronek!« Er sah ihr ins Gesicht. »Oh, Entschuldigung... Mac, nicht wahr?« »Tess ist ganz in Ordnung, falls du von deinem hohen Roß herunterkommst und dich dazu herabläßt, mit mir zu sprechen!« »Wie mir scheint, war ich heute wohl der erste, der von seinem hohen Roß heruntergekommen ist!« »Aber du scheinst vergessen zu haben, daß ich gestern abend auch im Haus war, nicht wahr?« »Das passiert nicht gerade sehr oft, wie?« »Nein. Normalerweise haben die Menschen bessere Manieren! « Sie brüllten einander an. »Weißt du, du warst wirklich schon immer sehr hochnäsig.« »Ich war nie hochnäsig!« Er schnaufte, dann schob er den Rasenmäher weiter. Über seine Schulter hinweg rief er: »Von wegen... Mac!« Er sprach das Wort Mac in einem so beleidigenden Ton aus, daß sie am liebsten hinter ihm hergelaufen wäre, um
ihn zu treten! Statt dessen stürmte sie ins Haus und knallte die Tüte mit den Lebensmitteln auf die Anrichte und fragte sich, wann sie sich in den letzten achtzehn Jahren zum letzten Mal so aufgeregt hatte. Und die ganze Zeit über - während sie ins Bad ging, während sie sich ein dünneres T-Shirt anzog und dann die Fenster in der stickigen oberen Etage öffnete, während sie die Lebensmittel in den Kühlschrank stellte - dröhnte draußen der Rasenmäher und erinnerte sie daran, daß er dort draußen war, daß er sie einkreiste. Um sich abzulenken, entschied sie sich, Jack Greaves anzurufen, der ihr erzählte, daß Carla Niles ins Studio kommen würde, um den neuen Akkord für »Tarnished Gold« aufzunehmen, und daß er ihr das Band morgen schicken würde. Sie rief Peter Steinberg an, der ihr die Verkaufszahlen durchgab und ihr sagte, daß Billy Ray Cyrus angerufen hatte, um sie zu bitten, im August bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung für ein Kinderkrankenhaus aufzutreten. Sie rief Kelly Mendoza an und bat sie, auf ihrem Terminkalender nachzusehen, ob im August noch ein Termin frei war. Den sollte sie dann Cyrus durchgeben. Kelly berichtete ihr von der Post, die an diesem Tag eingegangen war, und von den Anrufen. Sie erzählte Tess, daß ein Fax mit dem wöchentlichen Gavin-Bericht angekommen war und sagte ihr auch, daß ihre aktuelle Single, »Cattin'«, um einen Platz in den Radio-Charts gefallen war. Auch waren ihre handgearbeiteten Stiefel von M. L. Leddy in Fort Worth angekommen. Sollten sie ihr nach Wintergreen nachgeschickt werden? Während Tess vom Telefon in der Küche aus sprach, kam ein Wagen angefahren und parkte vor Kroneks offener Garagentür - es war der gleiche Wagen, der auch gestern dort gestanden hatte, ein weißer Dodge Neon. Eine Frau stieg aus und kam über den Weg auf Kenny zu. Sie war etwa vierzig, trug Schuhe mit niedrigen Absätzen und ein blaßpfirsichfarbenes, sommerliches Jackenkleid. Er hörte mit dem Mähen auf, als sie auf ihn zukam, und machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Sie trug einen Aktenkoffer in der einen Hand, mit der anderen deutete sie auf sein Haus und gestikulierte, während sie sich unterhielten. Kenny deutete mit dem Daumen auf Marys Haus, und die Frau warf einen schnellen Blick in diese Richtung. Dann lächelte sie, ging über den Weg zurück, während er sich wieder an seine Arbeit machte. Wer mag das sein? fragte sich Tess und sah zu, wie die Frau durch den Wintergarten das Haus betrat. Eine halbe Stunde später wusch Tess gerade ihren Salat, als sie aus dem Fenster blickte und die Frau noch einmal sah. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt eine Hose und eine weiße Bluse, kam mit einem Tablett in den Garten und stellte es auf den Gartentisch. Kurz darauf folgte ihr Casey mit noch einem Tablett. Die Frau winkte Kenny zu, der mittlerweile mit Marys
Rasen fertig war und begonnen hatte, seinen eigenen Rasen zu mähen. Dann setzten die drei sich an den Tisch und aßen zu Abend. Sine Geliebte? fragte sich Tess. Konnte es sein, daß der heilige Kenny wirklich ein Leben in Sünde führte? Sicher war die Frau mehr als nur eine Haushälterin, denn schließlich hatte sie sich in seinem Haus umgezogen und saß jetzt zusammen mit ihm am Tisch. Und zwischen den drei Menschen dort drüben schien eine gewisse Ve rtrautheit zu herrschen. Tess erwischte sich dabei, wie sie sich Gedanken darüber machte, und trat schnell vom Fenster zurück. Wen interessiert das schon, dachte sie und begann, die Hühnerbrust zu dünsten, dann ging sie ins Wohnzimmer, um das zu tun, was sie schon den ganzen Tag hatte tun wollen. Mit einem Kassettenrecorder in der Hand, mit Papier und Bleistift, setzte sie sich an das Kla vier, um an dem Song zu arbeiten, der ihr gestern abend eingefallen war. Das alte Klavier mu ßte dringend gestimmt werden, doch der Anschlag der Tasten und der außergewöhnlich gute Klangkörper übertrafen viele der Klaviere, auf denen sie schon gespielt hatte. Dies war für sie der liebste Teil ihrer Arbeit. Zu komponieren war wie zu spielen, und das war schon immer so gewesen. Manchmal erschien es ihr lächerlich, daß sie für etwas bezahlt wurde, was ihr eine so offensichtliche Freude bereitete. Doch die Tantiemen ihrer Songs brachten ihr Hunderttausende Dollar jedes Jahr. Sie war schon immer sehr schöpferisch gewesen, und die Arbeit, ein Thema, die Poesie und die Musik zu einer Einheit zusammenzufügen, fesselte sie manchmal so sehr, daß sie gar nicht hörte, wenn jemand sie ansprach. In den Jahren, als sie und die Band im Bus unterwegs gewesen waren, schrieb sie sehr oft, während sie über den Highway fuhren. Zuerst kamen die Worte zusammen mit einer Grundmelodie, zu der sie dann die Akkorde hinzufügte, indem sie auf einem win zigen, zwei Oktaven großen, elektronischen Keyboard spielte, das sie auf ihrem Schoß halten und über Kopfhörer hören konnte. Manchmal arbeitete ihr Lead-Gitarrist mit ihr zusammen, besonders bei den Songs mit einem etwas härteren Rhythmus, der von den Gitarren bestimmt wurde. Die ersten Zeilen, die ihr gestern abend in der Badewanne eingefallen waren, begannen eine konkrete Form anzunehmen. Sie bekamen eine Melodie und einen Rhythmus. Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr. Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her. Sie hat die Welt gesehen, jetzt kommt sie nach Haus... Doch die letzte Zeile dieser Strophe fiel ihr nicht ein. Ideen ka men ihr, doch sie verwarf sie wieder, eine nach der anderen. Sie sang versuchsweise einige Zeilen davon, spielte dazu die Be gleitmelodie auf dem Klavier, doch keiner der Texte gefiel ihr. Sie war völlig versunken in ihre Arbeit, als sie plötzlich aus der Küche eine Stimme hörte. »Hey, Mac? Ich bin es, Casey!«
Tess hielt mit der linken Hand einen Akkord gedrückt, den sie gleichzeitig mit der rechten Hand zu Papier brachte, als Casey ohne Aufforderung das Zimmer betrat. »Hi« sagte das Mädchen fröhlich, und Tess wandte sich zu ihr um. Sie stand mitten im Zimmer und lächelte. Statt ihrer Reitkleidung trug sie jetzt eine saubere Jeans und dazu ein gelbes T-Shirt, das sie in die Jeans gesteckt hatte. Zusammen mit der Cowboy-Kleidung schien auch ihre burschikose Art verschwunden zu sein. Jetzt sah sie eher aus wie die junge Debbie Reynolds. Wenn man es genauer überlegte, so sah sie mit ihrer Stupsnase, dem dicken Zopf in ihrem Nacken und den großen, interessiert blickenden Augen dem jungen Mädchen sehr ähnlich. »Ich habe Sie spielen hören«, sagte sie. »Ich arbeite an einem Song, der mir gestern abend in der Ba dewanne eingefallen ist.« »Wollen Sie damit sagen, Sie schreiben einen Song?« »Jawohl.« »Wovon handelt er?« »Davon, was für ein Gefühl es ist, wenn man hierher zurückkommt, nachdem man lang e fort war. Er handelt von den Menschen in dieser Stadt, von meiner Mutter, von diesem Haus.« Tess machte eine ausladende Bewegung. »Davon, daß sich hier nichts ändert, einschließlich einiger Dinge, die sich dringend ändern sollten.« Sie erklärte einige ihrer Gefühle, die sie gehabt hatte, seit sie zurückgekommen war, und die sie jetzt in dem Song festhalten wollte. »Darf ich ihn hören?« Tess lachte leise und kratzte sich am Kopf, um genügend Zeit haben, dem Mädchen eine ausweichende Antwort zu geben. Nun ja, normalerweise spiele ich meine Sachen den Leuten erst vor, nachdem sie aufgenommen und urheberrechtlich geschützt sind.« »Oh, Sie meinen, damit ich Ihnen den Song nicht klaue oder so.« Casey lachte und rollte dann den linken Ärmel ihres T-Shirts hoch. »Herrje, das ist wirklich gut. Glauben Sie, ich wäre wirklich so gut, daß ich so etwas tun könnte? Das ist sehr unwahrscheinlich. Kommen Sie schon, lassen Sie mich hören, was Sie geschrieben haben«, drängte sie und warf sich in einen Sessel. Ein Bein legte sie über die Armlehne. »Der Song ist noch nicht fertig.« »Was macht das schon? Spielen Sie mir das vor, was Sie haben.« Tess wandte sich wieder dem Klavier zu, trotz allem war sie beeindruckt von dem Mädchen. Beinahe jeden Tag hatte sie es mit Fans zu tun, sei es auf der Straße, hinter der Bühne oder bei öffentlichen Auftritten. Die meisten dieser Menschen stießen sie ab, weil sie ihr ein Übermaß an Verehrung entgegenbrachten oder weil sie ihre Bitte um ein Autogramm mit den Worten begleiteten: »Ich besitze zwar keine Ihrer Platten, aber...« Casey
Kronek tat keines von beiden. Sie ließ sich ganz einfach in einen Sessel fallen wie ein Kumpel, den sie schon seit langer Zeit kannte, und sagte: »Nun kommen Sie schon... los.« Warum Tess sich von der Vertraulichkeit des Mädchens nicht abgestoßen fühlte, konnte sie nicht sagen, aber Casey hatte so etwas Natürliches an sich, das jeglichen Anflug von Anmaßung v ergessen ließ. Und sie zeigte Tess ihre Bewunderung voller Zurückhaltung. Die Wahrheit war, daß Tess in ihrem turbulenten Leben nur sehr wenig Freunde außerhalb des Musikbusineß hatte. Und dieses Mädchen benahm sich wie eine Freundin, und Tess biß an. »Also gut. Das ist alles, was ich bis jetzt habe.« Sie spielte die ersten drei Zeilen, dann versuchte sie eine vierte, und als diese nicht gelang, eine weitere vierte Zeile. Doch es war offensichtlich, daß keine von beiden gut war. »Spielen Sie es noch einmal«, bat Casey. Tess spielte und sang noch einmal. Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr. Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her. Sie hat die Welt gesehen, jetzt kommt sie nach Haus... »Der Kleinstadt fehlt so vieles, alles sieht anders aus«, sang Casey mit einer Altstimme, die genau den richtigen Ton traf. »Eine Rückkehr ist ihr verwehrt, das hat sie das Leben gelehrt.« Die letzten beiden Zeilen, die Casey hinzugefügt hatte, schufen eine verblüffende unterschwellige Gedankenverbindung, die am Ende jedes Verses wiederholt werden würde. Ein Schauer lief durch Tess' Körper. Sie hörte die Begleitmusik in ihrem Kopf, suchte die Melodie auf den Tasten, schloß die Augen und hielt den letzten Akkord, der verklang wie Rauch, der um ihre Köpfe wirbelte. Das Zimmer versank zehn Sekunden lang in Schweigen. Dann sagte Tess: »Perfekt.« »Das ist es doch, worüber Sie gesprochen haben, nicht wahr? Sie sieht die Fehler der Stadt durch die Augen eines Menschen, der einmal dort gelebt hat.« »Ganz genau. Und der Gedanke mit dem Refrain gefällt mir. Es klappt wunderbar.« Tess beugte sich vor und schrieb die Worte und die Noten auf das Papier. Als sie damit fertig war, legte sie den Stift beiseite und sagte: »Noch einmal.« Während Tess sang, saß Casey in dem weich gepolsterten Sessel und ließ ihr linkes Bein baumeln. Den Kopf hatte sie zurückgebogen, die Augen geschlossen, das Ende ihres Zopfes drehte sie um einen Finger und sang dann leise die Begleitung zu der Melodie, beinahe wie zu sich selbst. »Weißt du, was?« sagte Tess, als sie zu Ende gespielt hatte. »Mir ist
gerade ein Schauer über den Rücken gelaufen.« »Mir auch.« »Das ist immer ein gutes Zeichen. Außerdem hört es sich so an, als hättest du eine großartige Stimme. Warum singst du so leise?« »Weil es Ihr Lied ist.« »Hey, wenn du es kannst, dann tu es auch. Möchtest du noch einmal die Begleitung singen, aber diesmal lauter, damit ich es auch hören kann?« Casey schien nicht überrascht zu sein, und das gefiel Tess. »Sicher«, war alles, was sie sagte. Sie sangen noch einmal, und Tess stellte sehr schnell fest, daß Casey eine einzigartige Stimme hatte. Sie war ein wenig rauh, als könne sie die Schwielen von der Hand eines arbeitenden Menschen reiben. Dazu besaß Casey ein gutes musikalisches Gehör, doch was noch wichtiger war: sie hatte keine Furcht. Nicht sehr viele siebzehnjährige Mädchen, die Tess kannte, konnten Seite an Seite mit einer Frau ihres Rufs singen, ohne den Mut zu verlieren. Doch Casey schaffte es, und währenddessen baumelte noch immer ihr Bein über der Sessellehne, und sie hatte noch immer die Augen geschlossen. Als sie die Augen öffnete, hatte sich der Country-und-Western-Star auf dem Klavierstuhl zu ihr umgewandt und betrachtete sie mit einem belustigten Gesichtsausdruck. »Also, verrate mir... bist du hierhergekommen, um mir zu zeigen, was du kannst?« »Zum Teil«, gab das Mädchen zu. »Nun, ich bin wirklich beeindruckt. Mit dieser rauhen Stimme könntest du Löcher in die Socken singen.« Tess legte die Hände auf die Knie. »Deine Stimme gefällt mir.« »Das Problem ist, daß man sie immer heraushört.« »Du meinst, in einer Gruppe?« »Hm-hm.« »Wie zum Beispiel im Kirchenchor?« »Hm-hm. Oh! Das erinnert mich daran. Meinem Dad hat es gar nicht gefallen, daß ich Sie damit belästigt habe, im Kirchenchor mitzusingen. Er hat gemeint, ich wäre aufdringlich gewe sen, und er hat mir befohlen, mich zu entschuldigen. Das ist der wirkliche Grund, warum ich gekommen bin. Also, es tut mir leid. Ich wollte mich nicht in Ihre freie Zeit hier zu Hause einmischen, ich habe ganz einfach nicht nachgedacht, das ist alles. Na ja, und mein Dad hat gemeint: >Mach, daß du da rübergehst und ihr sagst, sie braucht sich die Mühe nicht zu machen! Und deshalb bin ich jetzt hier.« Sie rutschte zur Kante des Sessels und ließ die Hände zwischen den Knien baumeln, dann zuckte sie die Schultern. »Sie sollten nach Hause kommen und sich in der Stadt bewegen können, ohne daß die Menschen Sie belästigen,
so wie überall anders.« »Das hat dein Dad gesagt?« »Hm-hm.« »Na ja...« Tess dachte eine Weile nach. Ihre Hände lagen auf ihren Oberschenkeln, die perfekt gepflegten Fingernägel auf den Knien. »Ich muß sagen, das überrascht mich.« Sie legte den Kopf ein wenig schief. »Sag mir, ist der Chor gut?« »Nicht sehr. Aber verraten Sie Dad nicht, daß ich das gesagt habe.« i Tess lachte. »Oh, glaub mir, das werde ich ihm schon nicht verraten.« »Die Stimmen sind gar nicht so schlecht, aber... ich weiß nicht. Wahrscheinlich bin ich auch nicht sehr sachverständig. Ich singe einfach gern... Country ist meine Lieblingsmusik, aber mit dem Chor zu singen, das macht eigentlich auch Spaß. Es ist zwar nicht gerade ein Gig in einer Kneipe, aber immerhin gibt es mir die Gelegenheit, zu singen. Deshalb bin ich auch ganz froh, daß Dad zugestimmt hat, Chorleiter zu werden, denn sonst würden wir wahrscheinlich gar nicht mehr singen. Erin nern Sie sich an Mrs. Atherton?« »Sicher. Sie trägt eine Brille, ist ungefähr so groß und hat lockiges, schwarzes Haar.« »Ja, aber ihr Haar ist mittlerweile grau. Sie hatte eine Bypass-Operation, deshalb ist es nicht sicher, ob sie den Chor überhaupt noch einmal leiten kann.« »Hm, das ist schade.« Tess stand auf. »Ich habe eine Hühnerbrust auf dem Herd, es ist wohl besser, wenn ich mich mal darum kümmere.« Casey folgte ihr in die Küche und lehnte am Türbogen, während Tess den Deckel vom Topf hob, mit der Gabel in das Fleisch stach und feststellte, daß es gar war. Sie legte den Deckel wieder auf den Topf, schaltete den Herd aus und holte die Zutaten für einen Salat aus dem Kühlschrank. Während sie alles mit dem Dressing vermischte, fragte Casey: »Haben Sie jemanden, der all die Arbeit für Sie tut, wenn Sie zu Hause in Nashville sind?« »Was für Arbeiten? Meinst du das Kochen?« »Ja.« »Ich habe eine Haushälterin, und wenn ich sie darum bitte, dann kocht sie auch für mich. Aber an den Tagen, an denen ich im Studio bin und Plattenaufnahmen mache bis ungefähr neun Uhr am Abend oder über Mittag, bringt eine Catering-Firma das Essen für uns. Und an den Abenden, an denen ich ein Konzert gebe, warte ich normalerweise mit dem Essen, bis ich mit dem Auftritt fertig bin. Ich singe nicht gern mit einem vollen Bauch.« »Was ist das denn für ein Gefühl, vor all den vielen Menschen zu stehen? Ich meine, es muß doch ganz einfach phantastisch sein.«
»Es ist das einzige, was ich mir in meinem Leben gewünscht habe. Ich liebe es.« »Ja, ich kann mir vorstellen, was Sie meinen. Ich singe schon, seit ich etwa drei Jahre alt war. Zuerst habe ich immer nur meinen Puppen vorgesungen und dann meiner Mom und meinem Dad. Und schließlich habe ich allen Leuten vorgesungen, die bereit waren, mir zuzuhören.« »Du auch?« Tess stellte ihr Essen auf den Tisch und holte dann das Besteck aus der Schublade. »Bei mir war es genau das gleiche, als ich klein war.« Mit Messer und Gabel kam sie an den Tisch zurück, und Casey stieß sich vom Türbogen ab. »Ich werde Sie dann jetzt besser essen lassen.« »Nein, hör mal, wenn es dir nichts ausmacht, kannst du bleiben. Setz dich, dann reden wir.« »Wirklich?« »Ich habe zwar nur ein Stückchen Hühnerbrust, aber ich kann dir ein Stück Nußkuchen anbieten.« »Marys Nußkuchen?« »Und ob.« »Hey, das klingt großartig.« Als Tess Anstalten machte, den Kuchen zu holen, winkte Ca sey ab: »Nein, Sie setzen sich und essen. Ich hole den Kuchen.« Sie wußte genau, wo sie einen Teller, eine Gabel und die Tortenschaufel fand. Als sie mit dem Kuchen an den Tisch zurückkam, fragte sie: »Hat Mary auch noch Eis?« »Sicher, du weißt bestimmt, wo es ist.« Casey bediente sich und brachte dann alles zum Tisch. »Also, erzählen Sie, in was für einem Haus leben Sie in Nashville?« wollte sie wissen. »Ich habe mein eigenes Haus, aber ich bin leider nicht sehr oft dort. Die meiste Zeit bin ich unterwegs auf Konzerttourneen. « »Ist das schlimm, wenn man nicht oft zu Hause ist?« »Ich fand es schlimmer, als wir noch mit dem Bus unterwegs waren. Es war beinahe so, als wäre man zusammen eingesperrt, Tag für Tag mußte man mit den gleichen Menschen auf dem engen Raum zusammenleben. Es hat Zeiten gegeben, da konnte ich diesen Bus und diese Menschen kaum noch ertragen, und ich war es leid, mich daran erinnern zu müssen, in welcher Stadt ich im Augenblick war, damit ich mich bei meinen Interviews in den Radiosendern nicht versprach. Aber im Grunde genommen muß es mir wohl Spaß machen, denn ich tue es noch immer. Und seit ich mein eigenes Flugzeug habe, macht es noch viel mehr Spaß.« »Ihr eigenes Flugzeug... Donnerwetter! Mary hat uns erzählt, als sie es
gekauft haben. Ich war ja so beeindruckt.« Tess mußte lachen, als sie die ungezügelte Begeisterung des Mädchens sah. »Erzählen Sie, wie es ist, wenn man eine Platte aufnimmt«, drängte Casey sie. Tess erzählte von ihrem Leben in Nashville, als sie an der Hin tertür eine Stimme hörten. »Casey, warum bist du noch immer hier?« Draußen war es dunkel geworden, und in der Küche brannte mittlerweile das Licht. Von der Hintertür aus mußte Kenny den Hals verrenken, um den Tisch zu sehen, an dem die beiden Frauen saßen. Tess beugte sich vor und blickte zu ihm hin. »Sie stört mich nicht. Ich habe sie gebeten, zu bleiben.« »Wir unterhalten uns, Dad, das ist alles«, sagte Casey. Ohne eine Aufforderung kam Kenny ins Haus, stand in dem winzigen Flur vor der Hintertür, und nur eine Stufe trennte ihn von der Küche. Er legte die Hände gegen die Seiten des Türrahmens und streckte dann den Kopf ins Zimmer. »Casey, komm jetzt nach Hause. Ich habe dir gesagt, du solltest sofort zurückkommen.« »Kann ich nicht noch meinen Kuchen zu Ende essen?« fragte sie mit einem Unterton von Ungeduld in der Stimme. Er wandte sich an Tess. »Stört sie dich auch ganz sicher nicht?« fragte er. »Laß sie zu Ende essen.« »Also gut. Zehn Minuten«, antwortete er, dann stieß er sich von der Wand ab und verschwand. . Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, meinte Casey: »Ich weiß gar nicht, warum er heute schon den ganzen Tag hin ter mir her ist. Er ist doch sonst nicht so.« Tess dachte: Ich habe keine Ahnung, warum ein Mann, der mir feindselig gegenübersteht, sich die Mühe macht und im Dunkeln von der anderen Seite der Gasse hierherkommt, nur um seiner Tochter zu sagen, sie soll nach Hause kommen, wo er doch genausogut das Telefon hätte benutzen können. »Was arbeitet dein Dad eigentlich?« fragte sie Casey. »Er ist staatlich geprüfter Steuerberater. Er hat eine eigene Firma in der Nähe des Stadtplatzes, drei Häuser von der Firma entfernt, in der Faith arbeitet.« »Faith?« »Faith Oxbury, seine Freundin.« »War sie das, mit der ihr zusammen gegessen habt?« »Hm-hm.« Casey leckte das Eis von ihrem Löffel. »Sie kommt meistens abends zum Essen. Oder wir essen auch oft bei ihr zu Hause. Sie sind schon eine Ewigkeit zusammen.« Tess fragte sich, wie lange das wohl sein mochte, doch sie würde Casey nicht danach fragen. Casey legte den Löffel beiseite und schob den Teller
zurück. Sie stützte einen Fuß auf den freien Stuhl unter dem Tisch und machte einen krummen Rücken. »Daddy und Faith sind schon so lange zusammen, daß die Leute sie behandeln, als wären sie verheiratet. Sie spielen mit anderen Paaren zusammen Bridge, werden zusammen zu Parties eingeladen, und wenn in unserer Schule etwas los ist, kommt Faith zusammen mit Dad hin. Teufel, er verschickt sogar Weih nachtskarten im Namen von uns allen dreien.« »Aber warum heiraten die beiden denn nicht?« »Ich weiß nicht. Ich habe ihn einmal danach gefragt, und er meinte, der Grund dafür sei, daß sie katholisch ist, und wenn sie einen geschiedenen Mann heiratet, könnte sie in der Kirche keine Sakramente mehr empfangen. Aber wenn Sie mich fragen, ich finde, das ist eine sehr lahme Entschuldigung, um einen Menschen, mit dem man schon seit acht Jahren zusammen ist, nicht zu heiraten.« »Acht Jahre. Das ist eine lange Zeit.« »Das ist es. Und ich sage Ihnen noch etwas. Es wäre ihnen am liebsten, wenn ich glauben würde, daß sich zwischen ihnen nichts tut. Ich meine, er gibt ihr ab und zu einen Kuß auf die Wange, und sie halten auch manchmal Händchen, aber sie bleibt nie über Nacht bei uns, und er bleibt nie über Nacht bei ihr. Aber wenn die beiden glauben, daß ich ihnen dieses charlotte russe abnehme, dann sind sie dümmer, als ich gedacht habe.« »Charlotte Russe?« »Ach, das ist nur ein Name, den ich dem Ganzen gegeben habe - wir haben einmal in der Schule in der Hauswirtschaftsklasse Charlotte Russe gemacht. Na ja, und danach habe ich dieser Sache diesen Namen gegeben, diese kleine Scharade, die sie mit mir spielen, als wäre ich noch in der sechsten Klasse. Aber niemand geht so lange miteinander, ohne es auch zu tun«, brachte Casey ihre Überlegungen auf den Punkt. »Oder etwa nicht?« fragte, sie, als sei sie plötzlich unsicher geworden. »Mich darfst du so etwas nicht fragen.« »Na ja, ich glaube es nicht. Aber wissen Sie, was? Irgendwie habe ich Respekt vor ihm, daß er sich genügend Gedanken über meine Achtung ihm gegenüber macht, um sie einer solchen Sache wegen nicht aufs Spiel zu setzen. Also tun wir alle so, als wäre unsere Beziehung zueinander so platonisch wie unter Ge schwistern. Und Faith kommt zu uns, macht uns das Abendessen und bleibt bis neun Uhr oder so. Dann bringt er sie zu ihrem Wagen und wünscht ihr eine gute Nacht. Und am Donnerstag spielen sie Bridge, und einmal in der Woche bügelt sie ihm die Hemden, weil er es nicht mag, wie die Wäscherei sie bügelt, und einmal in der Woche geht er zu ihr und mäht für sie den Rasen. Und am Sonntag geht sie in ihre Kirche und er in unsere. Aber immerhin kommen wir alle wundervoll miteinander aus. Faith ist sehr nett zu mir.« Casey hielt inne und holte tief Luft. »Na ja..:« Sie stellte den Fuß wieder auf den Boden und schlug sich mit der Hand aufs Knie.
»Meine zehn Minuten sind vorbei, ich muß nach Hause.« Sie stand auf und trug den schmutzigen Teller zur Spüle, Tess folgte ihr mit ihrem Geschirr. Nachdem sie Wasser über den Teller hatte laufen lassen, wandte sie sich zu Tess um. »Danke, daß Sie mir Ihren Song vorgespielt haben und danke für den Kuchen und dafür, daß ich Ihnen so viele Fragen stellen durfte. Tut mir leid, wenn ich zu neugierig war, aber ich konnte nicht anders. Darf ich Sie in den Arm nehmen?« Tess stellte ihren Teller ab, dann hatte Casey sie schon in den Arm genommen und drückte sie. Auch sie drückte das Mädchen an sich. Das Mädchen zog tief die Luft ein und rief dann: »Oooo! Sie sind einfach super. Und ich fand es schon immer ganz toll, daß Sie genau hier groß geworden sind und es bis ganz nach oben geschafft haben. Ich möchte genauso werden wie Sie!« Mit diesen Worten lief das Mädchen zur Tür. »Gute Nacht, Mac. Sagen Sie Mary, daß ich sie morgen nachmittag besuchen werde!«
5. Kapitel Am Tag nach Marys Operation saß Tess morgens neben Marys Bett und vermißte ihre beiden Schwestern, die nicht gekommen waren, obwohl sie es versprochen hatten. Es war schwierig, ihre Mutter, die sie als gesund und munter im Gedächtnis hatte, mit Stützstrümpfen zu sehen, wie sie sich an eine Gehhilfe klammerte und sich verzweifelt bemühte, fünfzehn Sekunden lang aufrecht stehenzubleiben. Wieder einmal stellte Tess fest, daß sie keine Ahnung hatte, wie sie sich verhalten sollte. Ohne Judy und Renee war die Un terhaltung mit Mary zäh und meistens schwiegen sie. Tess erzählte Mary von Caseys Besuch und davon, wie sehr sie die Ge sellschaft des Mädchens genossen hatte. »Sie hat mir erzählt, daß sie in einer Band gesungen hat«,meinte sie. »Ja, aber ich habe sie nie gehört.« »Haben sie Country-Musik gemacht?« »Ich glaube schon.« »Sie hat eine wirklich ausgeprägte Stimme, einen etwas rauchen Alt, der einen gefangennimmt.« »Kenny hat von ihr verlangt, bei der Band aufzuhören. Ihm/gefielen die Leute nicht, mit denen sie zusammen war, also solltest du sie besser nicht ermutigen“ »Kenny hat wirklich etwas gegen Country-und-Western-Sängerinnen, wie?« »Oh, Tess, du willst ihm doch nicht etwa nach all den Jahren immer
noch eins auswischen?« ; Das war die Art und das Ende ihrer Unterhaltung. Der Tag brachte Tess' Gefühle durcheinander. Eine Physiotherapeutin mit Namen Virginia kam ins Zimmer und hob Marys Beine einige Male hoch. Mary stöhnte auf und preßte die Augen fest zusammen. »Sie werden ihr zu Hause bei diesen Übungen helfen müssen«, erklärte Virginia. »Möchten Sie es jetzt schon einmal versuchen?« »Nein! Ich meine... machen Sie nur weiter. Ich werde Ihnen morgen helfen.« Bei dem Gedanken, ihrer Mutter Schmerz zu bereiten, wurde ihr ganz übel. Wer hatte dies alles nach der ersten Operation für Momma getan? Renee? Judy? Würden sie sich bei dieser Arbeit abwechseln, oder würden sie alles ihr überlassen, wenn Momma erst einmal zu Hause war? Irgendwann an diesem Tag erschien eine Schwester und entfernte den Sauerstoffschlauch aus Marys Nase. Jetzt sah sie wenigstens nicht mehr ganz so verletzlich aus. Aber die Infusion und der Katheder blieben noch und fesselten sie in ihrem zerknitterten Operationshemd mit dem offenen Rückenteil ans Bett. Als Judy um zwei Uhr am Nachmittag erschien, begrüßte Tess sie beinahe begeistert. Sie war selbst überrascht darüber. Judy verhielt sich Tess gegenüber distanziert, sie watschelte zum Bett und schenkte Mary ihre ganze Zuneigung. »Hey, Momma, wie geht es dir heute?« »Nicht so gut, fürchte ich. Ich habe Schmerzen.« »Nun, du weißt doch noch, wie es beim letzten Mal war. Wenn du erst einmal die ersten Tage überstanden hast, dann geht es dir sehr schnell besser.« Manchmal schien es Tess, als wüßten ihre Schwestern immer das Richtige zu sagen, während sie sich sehr unbeholfen vorkam, wenn sie ihre Mutter trösten mußte. »Renee hat sich heute freigenommen«, erzählte Judy Mary. »Sie muß sich um die Vorbereitungen für die Hochzeit kümmern. Sie hat gesagt, sie besucht dich morgen. War sonst noch jemand hier und hat dich besucht?« In diesem Augenblick hörte man Stimmen auf dem Flur, und drei Leute auf einmal betraten das Zimmer. Es waren Casey, ihr Vater - mit einer Schachtel Pralinen - und ein Mann von etwa Anfang Fünfzig in einem kurzärmligen Sommerhemd mit einem Kragen von Geistlichen. Mary lächelte, als sie ihn sah. »Hochwürden Giddings.« »Mary«, sagte er liebevoll und schüttelte ihre Hand, während alle einander begrüßten. »Ich habe gleich ein ganzes Besuchskomitee mitgebracht! Sehen Sie nur, wen ich draußen im Flur getroffen habe.« »Casey und Kenny... du liebe Güte, wie schön.« Sie gingen zu Mary und küßten sie, während Casey sang: ^Mary,
Mary, es wollen wissen alle Leut', wie geht's deiner Hüfte heut'.« Mary ging auf Caseys leichten Ton ein. »Mit Silberbällen rollt es sich ganz gut«, meinte sie und spielte damit auf die neue Prothese an, die sie jetzt in ihrer Hüfte hatte. Alle lachten, und Mary gestand: »Ich weiß nur, daß es heute ziemlich weh tut.« »Das hier wird dir helfen.« Casey nahm ihrem Vater die Schachtel mit den Pralinen aus der Hand und legte sie Maryauf den Bauch. »Deine Lieblingspralinen, ganz, ganz dunkle ^Schokolade.« »Oh, du liebe Güte, o ja, das sind wirklich meine Lieblingspralinen.« Sie fuhr mit dem Daumennagel über das Papier,ährend sich alle anderen fröhlich unterhielten. Hochwürden Giddings bestellte Grüße von den Mitgliedern seiner Kirche,Casey half Mary, die Pralinen zu öffnen, und in dem allgemei Durcheinander stand Kenny schließlich neben Judy und Tess am Fuß des Bettes. '»Na, Judy«, meinte er und blickte auf sie hinunter. »Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.« »Du versuchst wohl, dich ein wenig abzusondern?« fragte sie »In dieser Stadt?« erwiderte er trocken. »Das ist wohl kaum möglich.« Er hatte die typisch männliche Haltung eines Krankenhausbesuchers angenommen - die Beine ein wenig gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt. Jetzt blickte er zu Tess. »Hallo, wie geht es dir heute?« fragte er leise. Daß er sie angesprochen hatte, hatte nur mit seinem Respekt Mary gegenüber zu tun, und außerdem war der Pfarrer im Zimmer. Doch sie fühlten sich beide unbehaglich, wie sie so nebeneinander standen und sich nur wegen der anderen miteinander unterhielten. »Es geht mir gut. Ich bin ein wenig müde, weil ich diese Zeit einteilung nicht gewöhnt bin.« »Ich kann mir vorstellen, daß du sonst erst später mit deiner Arbeit beginnst.« »Meistens.« Mary unterbrach sie. »Seht einmal - dunkle Schokolade. Möchtet ihr etwas?« »Nein, danke, Mom«, antwortete Tess, doch Judy trat um das Bett herum, um sich zu bedienen. »Wie ist es mit dir, Kenny? Möchtest du etwas?« »Nein, danke, Mary. Das ist nicht gut für meine Taille.« Kenny und Tess standen ein wenig von den anderen entfernt, es war, als seien sie auf einer Insel in einem Raum mit sechs Menschen, die gleichzeitig
drei verschiedene Unterhaltungen führten. »Casey war völlig aufgeregt, als sie gestern abend nach Hause kam. Danke, daß du dir Zeit für sie genommen hast.« »Es hat mir viel Spaß gemacht.« »Sie hat mir erzählt, ihr hättet zusammen gesungen.« »Haben wir, ein wenig.« »Ich nehme an, du hast ein richtiges Feuer in ihr entfacht.« »Ich glaube viel eher, daß das Feuer schon da war, ehe sie zu mir gekommen ist, wenn du dich also darüber aufregst...« »Wer sagt denn, daß ich mich aufrege?« »Nun ja, Momma hat mir eben erzählt, daß du es nicht magst, wenn sie in der Band singt.« »Das ist eine Bande von Rauschgiftsüchtigen und Schulverweigerern, deshalb bin ich dagegen. Teufel, niemand könnte Casey davon abhalten, zu singen, es sei denn, er legt ihren Kopf unter eine Guillotine.« »Habe ich da drüben meinen Namen gehört?« Casey kam zu ihnen hinüber. »Worüber unterhaltet ihr euch?« »Über gestern abend«, sagte Tess. Caseys überschäumendes Temperament zeigte sich erneut. , »Gestern abend, das war einfach cool! Es war der tollste Abend meines ganzen Lebens! Mann, ich konnte nicht einmal schlafen, als ich wieder zu Hause war!« »Ich auch nicht. Dieser Song ging mir nicht aus dem Kopf.« »Haben Sie schon eine zweite Strophe gefunden?« »Hm...« Tess drehte eine Hand hin und her. »Aber ich glaube, sie ist nicht so gut.« »Ich glaube, Sie können gar nichts Schlechtes schreiben.« »Oh, hör mal, ich habe schon so schlimme Dinge geschrieben, daß mein Produzent sich gewunden hat, als er es gehört hat.« »Ist er derjenige, der die Songs zuerst hört, nachdem Sie sie geschrieben haben?« »Normalerweise.« »Warum?« | »Na ja, weil er ein gutes Ohr hat und ein gesundes Urteils vermögen. Deshalb habe ich ihn ja auch eingestellt.« »Und was passiert, wenn ihm ein Song gefällt und Ihnen nicht?« »So etwas ist auch schon vorgekommen. Er hat mich einmal gebeten, mir ein Demoband anzuhören, und ich fand, daß es schrecklich war. Aber ich habe zugestimmt, es aufzunehmen, als ich das dann getan hatte, habe ich sehr schnell meine Meinung geändert. Ich stellte fest, daß es mir sehr viel besser gefiel, nachdem die Studiomusiker es sich erst einmal vorgenommen hatten. Und am Ende wurde es dann zu einer meiner am meisten verkauften Singles, die ich je produziert habe.« »Welche war es denn?« »Branded.« »Oh, die gefällt mir.« Kenny stand daneben und hörte seiner Tochter und Tess zu. Sie schienen
ganz vergessen zu haben, daß er überhaupt im Zimmer war. Er war offensichtlich überrascht von Tess' Verhalten Casey gegenüber, nach allem, was er mit ihr in der High-School erlebt hatte. Gestern hatte er ihr vorgeworfen, sie sei hochnäsig, doch heute, bei ihrer Unterhaltung mit Casey, war davon überhaupt nichts zu bemerken. Sie sprach mit dem Mädchen genauso, wie sie es mit ihresgleichen in Nashville getan hätte, und er mußte zugeben, die Dinge, über die sie sich unterhielten, waren verdammt interessant. Er bemerkte auch, daß Judy danebenstand und der Unterhaltung lauschte. Doch sie hielt sich bewußt abseits, als würde sie über den Dingen stehen. Sie lauschte zwar der Unterhaltung ihrer Schwester, beteiligte sich selbst aber nicht daran. Sie machte eher den Eindruck, als stünde sie über dieser Heldenverehrung und dem ganzen Durcheinander, das mit Tess' Erfolg zusammenhing. Tess sprach über die Dinge, über die der normale Radiohörer eigentlich nie etwas erfuhr, und als die Unterhaltung nach einiger Zeit auch die Aufmerksamkeit der anderen Besucher auf sich zog, unterbrach Judy grob, wechselte das Thema und zwang alle, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten als auf Tess. »Kenny, ich habe gehört, du hast gestern Mommas Rasen gemäht.« »Nun ja...« Er wollte sich nicht in den Mittelpunkt ziehen lassen, ganz besonders nicht in Anwesenheit von Tess. »Er hatte es nötig.« Mary unterbrach ihn. »Oh, Kenny, wie aufmerksam von dir. Ich habe Tess gesagt, sie solle Nicky Bescheid geben, aber sie hatte sicher zuviel zu tun.« »Es hat überhaupt keine Mühe gemacht«, erwiderte Kenny. »Ich mußte meinen eigenen Rasen auch mähen.« An die anderen Anwesenden gewandt, meinte Mary: »Die ser Junge sagt immer, es sei keine Mühe, aber ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun würde. Das habe ich gestern auch Tess gesagt.« Hochwürden Giddings war der einzige, der sich noch nicht : mit Tess unterhalten hatte. Er nutzte diesen Augenblick, um auf sie zuzugehen und streckte ihr die Hand hin. »Ich glaube, ich (hatte noch nicht das Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Er sah ein wenig unterernährt aus, hatte dünnes, rotblondes Haar und vorstehende Zähne, die seine Oberlippe ein wenig hochzogen, lch bin Sam Giddings, der Geistliche der Wintergreen-Methodistenkirche, seit Hochwürden Sperling in den Ruhestand gereten ist.« »Wie geht es Ihnen?« Tess lächelte ihn an. »Mutter hat viel von Ihnen gesprochen.« »Und meine Mutter hat von Ihnen gesprochen! Sie ist ein großer Fan von Ihnen. Genau wie meine Frau und der Rest unserer Kirchengemeinde. Die Leute hier in der Gegend sind sehr stolz auf Ihren Erfolg, junge Dame, und
ich gebe zu, ich gehöre auch dazu. Ich habe zwar nicht viel Freizeit, um mir Musik anzuhören, aber ich habe einige Male Ihre Platten aufgelegt und es sehr genossen, Ihnen zuzuhören.« »Vielen Dank.« »Meiner Frau wird die Nase aus dem Gesicht fallen, wenn sie hört, daß ich Sie getroffen habe. Natürlich haben alle die Gerüchte gehört, und Mary hat erzählt, daß Sie kommen werden, um für sie zu sorgen. Und heute morgen beim Frühstück hat meine Frau gemeint: >Wenn du zufällig Marys Tochter im 'Krankenhaus triffst, warum bittest du sie dann nicht, in der Zeit, während sie hier ist, bei uns im Chor mitzusingen.« Er hielt einen Augenblick inne, um zu sehen, wie seine Worte auf Tess gewirkt hatten, dabei schaukelte er auf den Absätzen vor und zurück und blickte zu Kenny. »Sie wissen sicher, daß Kenny unseren Chor dirigiert und daß Casey auch mitsingt. Ich wette, er wird eine ganz besondere Hymne für Sie finden, wenn Sie so freundlich wären, am Sonntag mitzusingen.« Diese verflixte Casey, dachte Kenny und blickte zu ihr hin über. Casey hob beide Hände in die Höhe wie ein Cowboy, dem man eine Pistole in den Rücken gedrückt hat. »Du brauchst mich gar nicht so anzusehen, Dad! Ich habe kein einziges Wort gesagt.« »Hochwürden Giddings«, begann Kenny zu erklären. »Miss McPhail hat nicht...« »Sie mag es, wenn man sie Mac nennt«, unterbrach Casey ihn. » Mac...«, wiederholte er mit nur mühsam unterdrückter Un geduld. »Ja... also, Mac ist schon von meiner Tochter daraufhin angesprochen worden, und das hat sie ein wenig in die Enge getrieben. Ich bin sicher, überall, wo sie hingeht, wird sie um solche Sachen gebeten, und ich denke, wir sollten sie damit nicht belästigen, während sie hier zu Hause ist.« »Ich kann mir nicht vorstellen, warum es eine solche Belästigung sein sollte, wenn sie ihre Stimme dazu benutzt, den Herrn zu loben. Er ist immerhin dafür verantwortlich, daß sie diese Stimme überhaupt hat. Mein Angebot halte ich aufrecht, Miss McPhail. Kenny wird Ihnen eine Hymne geben, und ich werde Sie ankündigen. Ich bin sicher, die Gemeinde wäre außerordentlich dankbar dafür. Und ganz zufällig findet am Sonntag in einer Woche unsere alljährliche Spendensammelaktion statt, ein wenig Ermunterung von Ihrer Seite könnte uns ein hübsches zusätzliches Sümmchen einbringen. Wenn Sie zustimmen würden, an diesem Tag mit uns zu singen, dann hätten wir noch genügend Zeit, es in unserer Sonntagszeitung zu veröffentlichen. Daswürde sicher den Kirchenbesuch an diesem Tag ansteigen lassen. Also, was sagen Sie?« Und während Tess und Kenny noch dastanden und es ganz offensichtlich war, was sie beide dachten, meldete sich Mary zu Wort. »Aber natürlich wird sie das tun, nicht wahr, Tess?« Tess hätte ihre
Mutter am liebsten mit ihrem Kathederschlauch erdrosselt. Sie warf Hochwürden Giddings einen hilflosen Blick zu, dann sah sie Kenny an und danach wieder den Geistlichen. »Nun ja... äh...« Ihre Blicke trafen sich mit denen von Kenny, und sie bedachte ihn mit einem matten Lächeln. Er sah aus, als fühle er sich genauso unbehaglich wie sie. »Ich denke schon.« Sie zuckte die Schultern. »Warum nicht?« sagte sie und lachte ein wenig gezwungen, doch damit konnte sie niemanden so recht überzeugen. Warum auch nicht! Es gab mindestens fünf gute Gründe, doch weder Tess noch Kenny konnten sie aussprechen, während der Geistliche danebenstand, grinste und außerordentlich zufrieden mit sich selbst war. Während der restlichen Besuchszeit hielten sie einen ausreichenden Abstand voneinander, denn beide waren von der Situation, in die sie manövriert worden waren, nicht gerade angetan. Schließlich verabschiedete Hochwürden Giddings sich. Im gleichen Augenblick, als sich d ie Tür hinter ihm schloß, entschied sich Casey, einige Dinge klarzustellen. »Hey, Mac! Ich hatte mit dieser Sache absolut nichts zu tun!« erklärte sie. »Sie glauben mir doch, nicht wahr?« Alle Augen im Raum richteten sich auf Tess. Sie h ätte ausgesehen wie ein Schuft, hätte sie ihre Hilfe verweigert, ganz besonders, wenn man bedachte, wie wenig Zeit und Mühe sie dafür aufwenden müßte und für was für einen guten Zweck sie das tat. »Hör zu, ich denke, es wird mich schon nicht umbrin gen.« »Aber ich würde Ihnen das nie antun!« bestand Casey auf ihrem Recht. »Nicht, nachdem Sie mir gesagt haben, daß dieser Gedanke Sie nicht gerade begeistert!« Mary mischte sich in die Unterhaltung ein. »Aber Tess, warum möchtest du nicht im Chor singen, wo du doch sowieso in die Kirche gehst?« »Können wir das Thema nicht einfach vergessen?« Sie hob resigniert beide Hände. »Ich werde es tun. Also, Ende der Dis kussion.« Doch auch wenn es das Ende der Diskussion war und Kenny und Casey sich kurz darauf verabschiedeten, so ärgerte Tess sich doch über die ganze Sache, selbst dann noch, als sie das Krankenhaus verlassen hatte. Auf dem Weg nach Hause überlegte sie, wem sie nun glauben sollte. Ganz sicher schien Casey die Wahrheit gesagt zu haben, und auch Kenny hatte bei dem Vorschlag des Geistlichen genauso unangenehm berührt ausgesehen wie sie selbst. Doch weigerte sie sich, im Zweifel zugunsten von Kenny zu entscheiden, weil er eben Kenny war. Aber was machte das denn noch für einen Unterschied? Schließlich war es nicht das erste Mal, daß sie zugestimmt hatte, für einen wohltätigen Zweck zu singen, obwohl sie lieber abgesagt hätte. Also mußte sie jetzt der schrecklichen Tatsache ins Auge sehen, im Chor des heiligen Kenny zu singen, von Angesicht zu Angesicht
mit ihm zu stehen, während er sie dirigierte. Dieser verdammte Giddings! Sie war noch immer mürrisch, als sie nach Hause kam und ins Haus ging, um die Lebensmittel, die sie gekauft hatte, wegzuräumen. Sie wusch ein paar Weintrauben und nahm eine Handvoll davon mit nach oben. Jedesmal, wenn sie sich in diesem verflixten Haus umdrehte, fiel ihr Blick aus einem der Fenster auf Kennys Haus. Angefangen vom Fenster oben an der Treppe bis hin zu dem Fenster über der Spüle in der Küche, hatte sie stets sein Haus vor Augen. Oben war es drückend heiß. Jetzt am Nachmittag war die Temperatur beinahe auf vierzig Grad gestiegen. Sie zog Baumwollshorts an und ging dann nach unten, um sich noch ein paar Weintrauben zu holen. Sie stand an der Spüle und wusch noch einige der Weintrauben, als ihr Blick auf die welken Tomaten im Garten fiel. Teufel, sie hatte gestern vergessen, den Garten zu sprengen! Sie lief nach draußen und dann in die Garage, wo sie eine gelbe Spritzdüse für den Gartenschlauch fand. Die steckte sie auf den Gartenschlauch und zog dann alles zusammen über den Gartenweg in den Garten. Sie hatte gerade das Wasser angestellt, als sie hörte, wie Kennys Hintertür zuschlug, und dann sah sie, wie er über seinen Hinterhof auf sie zukam. Faith Oxburys Wagen stand vor seiner Garage, Tess' Wagen vor der von Mary. Er ging um die beiden Wagen herum und stand dann vor Tess, die Wasser über die Tomatenpflanzen spritzte. »Nur um das klarzustellen«, sagte er, als er nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war. »Ich hatte nichts mit der Einladung von Hochwürden Giddings zu tun! Ich wollte das nur nicht vor deiner Mutter laut aussprechen.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Er hatte die Stirn gerunzelt und stand nur ein kleines Stück von ihr entfernt. Seinen Anzug hatte er ausgezogen, jetzt trug er ein Polohemd und eine Khakihose und sah so ordentlich aus, als hätte er gerade erst geduscht und sich gekämmt, zum zweiten Mal an diesem Tag. Der Kragen seines Hemdes war nach oben gedreht, und er trug moderne Top-Siders an den Füßen. Tess machte ein paar Schritte von ihm weg, zog den Schlauch hinter sich her und besprengte jetzt die Möhren. »Also möchtest du nicht, daß ich im Chor singe?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte dir nur erklären, daß ihn nicht dazu gebracht habe, dich einzuladen.« >Ich glaube dir«, sagte sie und weigerte sich, ihn anzusehen. Er schien verblüfft von ihrem schnellen Eingeständnis und stand einen Augenblick lang ratlos herum. Dann brummte er mürrisch: »Unsere Chorprobe ist am Dienstag. Wenn du mit uns singen möchtest, dann
kommst du besser in der nächsten Woche zur Probe.« Mit dem Daumen schloß Tess die Wasserzufuhr und warf dann den Schlauch auf den Boden. »Hör mal!« Sie ging die wenigen Schritte auf ihn zu und starrte ihn böse an. Seine Augen waren braun und blickten kriegerisch. Er hatte dichte Wimpern, wahrscheinlich das Schönste an ihm überhaupt. Seine Lippen waren auch nicht so schlecht, wenn er nur aufhören würde, sie zusammenzupressen. Mußte er sie so ansehen und eine so herausfordernde Haltung annehmen? Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und hob die Nase. »Du hast dich mir gegenüber beschissen benommen, seit dem Augenblick, als du in das Haus meiner Mutter gekommen bist und mich dort gesehen hast. Heute im Krankenhaus vor dem Geistlichen hast du dich wirklich sehr gut verstellt, aber wir wissen beide, daß du Magenschmerzen bekommst, wenn wir uns im gleichen Raum befin den! Also, möchtest du jetzt, daß ich in deinem Chor singe oder nicht? Denn mich kratzt das kein bißchen, ob ich singe oder nicht! Ich meine, ich brauche nicht zu singen, es ist nicht meine Kirche und auch nicht mein Geistlicher! Aber wenn du nicht genügend Mumm hast, um ihm zu sagen, daß du nicht willst, daß ich mitsinge, dann zeige wenigstens genug Mumm mir gegenüber und sage es mir. Denn ich habe nicht die Absicht, auf irgendeiner Chorempore zu stehen und Geld für deine Kirche zu sammeln, wenn ich dafür deinen Antagonismus und deine herablassende Art ertragen muß. Also, hör gefälligst auf damit, Mister.« »Du bist gerade die Richtige, von herablassender Art zu reden!« gab er wütend zurück. »Deine herablassende Art geht zurück bis ins Jahr 1976, nicht wahr?« »Oh, also darum geht es hier!« »Da hast du verdammt recht, daß es darum geht, und das weißt du ganz genau!« »Darum, wie ich dich in der High-School behandelt habe?« »Du warst grausam. Du hast dich über die Gefühle anderer Menschen lustig gemacht!« »Oh! Und was war mit meinen Gefühlen vor zwei Tagen, als ich nach Hause kam? Du kommst in das Haus meiner Mutter und behandelst mich, als hätte ich mir gerade vor den Augen der Königin in der Nase gebohrt, und dann willst du mir erklären, ich hätte deine Gefühle verletzt? Du hast noch nicht einmal die Höflichkeit besessen, mir guten Tag zu sagen!« »Und was für eine Höflichkeit war das, die du mir gezeigt hast, als wir in der High-School waren? Hast du etwa geglaubt, ich hätte nicht gewußt, wie diese Bande von Klugscheißern, mit denen du ständig zusammen warst, sich über mich lustig gemacht hat?« >Oh, Kenny, um Himmels willen, werde doch langsam erwachsen. Das war vor neunzehn Jahren. Die Menschen ändern sich.« »Ach ja, und du hast dich wirklich geändert! Du kommst hier angebraust
mit deinem 30 000-Dollar-Auto...« »Vierzig.« »... und deinem selbstgefälligen Nummernschild und trägst dieses Hemd, auf dem Boss steht. Lady, du hast mich wirklich beeindruckt.« »Ich hatte nicht die Absicht, dich zu beeindrucken, Kenneth. Dieser Wagen gehört mir. Ich habe dafür bezahlt, mit meinem eigenen Geld. Warum also sollte ich nicht damit fahren? Und zu die- ner Information, das Hemd habe ich auf einem Springsteen-Konzert gekauft.« »Oh, entschuldige bitte! Dann habe ich mich wahrscheinlich auch geirrt, als ich geglaubt habe, du hättest dich in der High-School damals über mich lustig gemacht!« Sie überlegte einen kurzen Augenblick, dann sagte sie ein wenig ruhiger: »Du bist aber sehr nachtragend, Kenny.« »Du hast es verdient, Tess«, antwortete er, ebenfalls ruhiger. Zum ersten Mal hatte er sie mit ihrem richtigen Namen angesprochen und nicht Mac genannt, mit diesem sarkastischen Unterton. Sie trat einen Schritt zurück. »Also gut, vielleicht habe ich es ja wirklich verdient, aber mußtest du ein solcher Schwachkopf sein?« »Siehst du? Deine Überheblichkeit! Habe ich dir nicht gesagt, du seiest überheblich? Das warst du damals , und du bist es auch heute noch.« »Darf ich dich daran erinnern, wie du damals dein Haar getragen hast? Und wie deine Brille immer auf deiner Nase gehangen hat? Hey, erzähle, bekommst du noch immer Nasenbluten?« »Nein. Und glaubst du noch immer, daß du die beste Sängerin in ganz Missouri bist?« »Ich weiß, daß ich es bin.« »Und schickst du noch immer anonyme Briefchen und unaufrichtige Valentinskarten an Jungen, von denen du glaubst, sie hätten ein Auge auf dich geworfen, nur um dann zu sehen, wie sie sich winden?« »Ich habe dir nie eine Valentinskarte geschickt!« »Und ich habe nie ein Auge auf dich geworfen. Ich habe dich gehaßt.« »Das ist nicht wahr. Du konntest deine Augen nicht von mir lassen.« »Du hast geglaubt, keiner der Jungen könnte das. Wahrscheinlich haben die meisten von ihnen geschielt.« »Oho, sehr komisch. Und was war auf der Reise mit dem Chor, als du in der oberen Klasse warst und ich in der unteren und du versucht hast, mit mir Händchen zu halten?« »Hey, ich habe nicht versucht, Händchen zu halten, ich habe versucht, dich zu befummeln. Ich hatte mit einer Gruppe von meinen Freunden gewettet, daß ich dich befummeln könnte.« »Kenneth Kronek! Du bist abscheulich!«
»Nun, dann passen wir ja zueinander. Kenny Kronek und das Mädchen, das ihm die Unterwäsche gestohlen hat und sie dann mit einem Lippenstift-Kuß darauf zurückgeschickt hat, nur um ihn in Verlegenheit zu bringen. Du warst das damals, nicht wahr?« »Rate mal.« »Und wen hast du dazu angestiftet, sie aus dem Umkleideraum der Jungen für dich herauszuholen?« »Rate mal.« »Du hast mich in große Schwierigkeiten gebracht, du kleines Luder. Das Päckchen kam, als ich in der Schule war, und meine Mutter hat es geöffnet.« »Super, Lucille!« Tess stieß siegesbewußt eine Faust in die Luft. »Gut so!« »Du warst zweifellos das schlimmste Mädchen in der ganzen High-School.« »Oh, hey, und was war mit Cindy Gallamore? Sie war viel schlimmer als ich.« »Wieso? Weil sie die Hauptrolle in dem Stück bekommen hat, die du haben wolltest? Junge, Junge, das hat dich wirklich umgeworfen, nicht wahr?« »Sie hat nie damit aufgehört, mir das unter die Nase zu reiben. Niemals!« »Und ich habe nie aufgehört, ihr dafür zu applaudieren.« »Weiß deine süße kleine Tochter eigentlich, daß du all diese verborgene Bösartigkeit in dir herumträgst?« »Nein, aber sie kannte die deinen. Ich habe ihr davon erzählt.« » Oh, wirklich, wie ?« »Sie weiß alles, über all die schlimmen Dinge, die du mir je angetan hast. Sie weiß, wie du mich geärgert hast, wie du mich an der Nase herumgeführt hast, wie du mir Briefchen geschrie ben hast, die begannen: »Lieber Kenny Crow Neck< - C-R-O-W-N-E-C-K -, und wie du mir ganz generell das Leben schwergemacht hast, wann immer du konntest.« »Jaaa, und trotzdem bewundert sie mich, nicht wahr?« »Das ist wahr. Also glaubst du, du kannst dein aufgeblasenes Ego in die Kirche schaffen und ihr auch noch einen Grund dafür geben?« »Wenn ich das wirklich tue, wirst du mich dann behandeln wie ein Insekt oder wirst du nett zu mir sein?« »Ich werde darüber nachdenken.« »Hm-hm«, meinte sie humorlos. Sie sahen einander einige Sekunden lang abschätzend an, doch die Luft zwischen ihnen war offensichtlich geklärt. Und dann wurde ihnen plötzlich klar, daß sie dieses kleine Wortgeplänkel genossen hatten. Sie waren wirklich gut gewesen.
»Hey, weißt du was?« sagte Tess nachdenklich und legte den Kopf ein wenig schief. »Was denn?« »Für einen Ex-Schwachkopf kannst du ganz schön schnell austeilen.« »Oh, danke, Tess. Das ist das Netteste, was du mir je gesagt hast, seit wir beide in den Windeln waren. Ich bin so erleichtert, zu wissen, daß es mir gelungen ist, mich in deinen Augen hochzuarbeiten.« Sie grinsten einander zwar nicht an, aber sie waren kurz davor. Es war erstaunlich erfrischend gewesen, ihren alten Groll auszusprechen und zu sehen, wohin er sie führte. Noch immer standen sie im Garten, und längst hatte Tess vergessen, die Pflanzen zu gießen. Sie forderten einander mit den Augen heraus, als auf der anderen Seite der Gasse sich plötzlich die Tür öffnete und Faith rief: »Kenny... bist du da draußen?« Er warf einen Blick über seine Schulter, dann trafen sich seine Blicke mit denen von Tess. Sie bückte sich, hob den Gartenschlauch hoch und machte sich daran, den Rhabarber zu gießen. »Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst«, sagte sie und grinste schadenfroh. »Deine Freundin ruft dich.« Er wandte sich um. Faith stand auf der Veranda und entdeckte die beiden, sie winkte überschwenglich. Doch war es ganz offensichtlich, daß ihre Begeisterung wohl eher daher rührte, daß sie den Superstar aus Nashville entdeckt hatte und nicht den Mann, mit dem sie so gut wie verheiratet war. Tess setzte ihr Lächeln auf, das sie für Fans reserviert hatte, und winkte zurück. Doch als sie Kenny dann nachsah, überlegte sie, wie Faith wohl sein mochte und ob die beiden wirklich schon seit acht Jahren ein Affäre hatten.
6. Kapitel Als Kenny auf seiner Veranda ankam, hielt Faith die Tür noch immer auf. »Du warst so lange weg«, sagte sie. »Ich habe mich gefragt, wo du wohl sein könntest.« »Ich habe nur mit Tess geredet.« Er ging vor ihr ins Haus, beide Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. »Ich dachte, du magst sie nicht.« »Tue ich auch nicht. Aber sie glaubt, ich hätte Giddings dazu gebracht, sie zu bitten, im Chor mitzusingen, und das wollte ich nur klarstellen.« »Oh.« Faith ließ die Tür hinter sich zufallen, während er stehenblieb und auf sie wartete. Er sah, daß sie tief in Gedanken versunken war, als sie jetzt innehielt und ihn betrachtete. Sie war eine Frau mit vielen Vorteilen - ihr Aussehen, ihre Figur und Intelligenz, ihr Stil und ihr Temperament. Faith besaß die homo gene Erscheinung der Frauen, die Kleidung in Katalogen für Rentner vorführten, Kataloge wie die, die seine Mutter früher immer
zugeschickt bekam. Sie war drei Jahre älter als er, neununddreißig, und sie färbte ihr Haar, obwohl es ihm nie gelungen war, herauszufinden, warum sie das tat. Die Farbe, die sie benutzte, war ein ganz gewöhnliches Braun und trug nur wenig dazu bei, ihr grau werdendes, brünettes Haar aufzufrischen. Ihr hübsches Gesicht besaß keinerlei Falten, und es zeigte auch fast nie Ärger. Doch meistens gab es dazu sowieso keinen Grund, denn sie kamen beide wunderbar miteinander aus. Sie trug fast immer Kleider oder Hosen - niemals Jeans oder Shorts —, und sie benahm sich immer wie eine Lady. Sie ist das perfekte Vorbild für Casey, dachte er, die eine Neigung dazu hatte, ein Wild fang zu sein und Ärger zu machen. Heute abend trug Faith noch immer das konservative selle riegrüne Jackenkleid, das sie zur Arbeit getragen hatte, mit einer Kette aus dicken weißen Perlen um den Hals und den passenden Ohrringen im Ohr. In all den Jahren, in denen er Faith jetzt kannte, hatte er sie nie mit baumelnden Ohrringen gesehen. Ganz bestimmt nicht mit solchen wie die glänzenden silbernen indianischen Ohrringe, die Tess McPhail im Augenblick trug. »Ich hatte eigentlich gehofft, sie kennenzulernen«, sagte Faith. »Tess?« fragte er überrascht. Warum?« »Nun ja, sie ist berühmt. Ich habe noch nie in meinem Leben einen berühmten Menschen kennengelernt.« »Hör mal, Faith, du würdest sie genausowenig mögen wie ich. Sie ist schnippisch und unehrlich, und sie glaubt, daß alle Menschen vor ihr auf die Knie fallen und ein Mantra murmeln müssen, wenn sie vorübergeht.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie so schlimm ist, mit einer Mutter wie Mary.« »Nun, glaube mir, sie ist es. Sie hat sich kein bißchen verändert.« Faith ging vor ihm in die Küche. »Trotzdem, sie ist nachHause gekommen, um für ihre Mutter zu sorgen. Das bedeutet doch, daß sie ein Herz hat.« In der Küche wartete Casey auf ihn und fiel gleich über ihn her. »Daddy, warum darf ich nicht rübergehen und mit Mac reden. Du hast das doch auch getan!« Ich will nicht, daß du die ganze Zeit bei ihr rumhängst und sie störst.« »Ich habe sie nicht gestört. Das hat sie dir doch heute imKrankenhaus selbst gesagt.« Du wirst nicht rübergehen.« Daddy!« Casey stampfte mit dem Fuß auf. »Nein!« »Aber wir schreiben doch einen Song zusammen!« »Sie schreibt einen Song. Und du hältst dich von ihr fern.«
»Arrr! Ich könnte schreie.« Casey versuchte noch einige theatralische Gesten und tat, als risse sie sich das Haar aus. »Wenn ich meinen Schulabschluß habe, dann werde ich hier so schnell verschwinden, daß ich ein Vakuum hinterlasse! Und weißt du, wohin ich gehen werde? Sofort nach Nashville! Und dann gibt es keine Möglichkeit mehr für dich, mich davon abzuhalten, die Leute zu sehen, die ich sehen möchte!« »Schön. Wenn du deinen Schulabschluß hinter dir hast, kannst du hingehen, wohin du möchtest«, erklärte er ruhig. »Aber heute abend wirst du zu Hause bleiben.« Sie schob ihr Gesicht genau vor seines und sagte mit weniger dramatischer Stimme. »Daddy, du bist ja ein solcher Schwachkopf! « Er lachte leise. »Das hat sie auch gesagt. Ihr beide würdet sicher viel Spaß daran haben, eure Meinung über mich zu vergleichen, wenn du nach Nashville gehst. Du riechst nach Pferd. Warum gehst du nicht nach oben und nimmst ein Bad?« »Arrr!« Sie drehte sich auf dem Absatz um und polterte nach oben. Eine Minute später begann ihre Gitarre so laut zu jaulen, wie es nur ging, und sie sang, so laut sie konnte, einen Song, den er noch nie gehört hatte. Doch kein Badewasser lief. Er stieß den Atem aus und murmelte: »Teenager.« Faith legte eine Hand auf Kennys Arm. »Sie is t gar nicht so schlimm. Und du mußt dich in ihre Lage versetzen, um ihren Ärger zu verstehen - gleich auf der anderen Seite der Gasse ist ein außergewöhnlicher Star aus Nashville, der sich mit ihr angefreundet hat, und sie muß hier im Haus bleiben, weil du es befohlen hast. Ich wette, du wärst auch wütend. Sei vorsichtig, Kenny, denn sonst könntest du ihr eine Chance verbauen, die für sie die ganze Welt bedeuten könnte.« »Was für eine Chance? Meinst du etwa wirklich, daß Tess möchte, daß sie bei ihr rumhängt?« »Was hat sie denn im Krankenhaus gesagt?« »Ja, aber...« »Du verabscheust diese Frau so sehr, daß es möglicherweise darauf abfärbt, wie du Casey behandelst.« »Du findest, ich sollte sie rübergehen lassen?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sorge nur dafür, daß du ein faires Urteil fällst. Und jetzt werde ich nach oben gehen und nachsehen, ob ich ihr zerzaustes Gefieder wieder glätten kann.« Sie tätschelte noch einmal seinen Arm, ehe sie in ihrer üblichen Unerschütterlichkeit das Zimmer verließ. Oben klopfte sie an Caseys Tür und fragte: »Casey? Darf ich reinkommen?« Casey hörte auf, auf ihrer Gitarre herumzuhämmern. »Ist mir egal.«
Faith betrat das Zimmer, schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Ein mit rotem Samt ausgeschlagener Gitarrenkasten lag auf dem Fußboden. Casey saß auf ihrem Schreib tischstuhl, schmollte und starrte auf ihren linken Daumennagel. »Weißt du was, Faith?« sagte sie. »Ich habe Daddy einen Schwachkopf genannt, aber in Wirklichkeit hätte ich am liebsten gesagt, er sei Scheiße.« Faith blieb ungerührt. »Gut, daß du es nicht gesagt hast. Du hättest seine Gefühle verletzt, und daß er wirklich nicht so ist, das weißt du selbst.« »Ich weiß«, gestand Casey ein wenig beschämt. »Du möchtest wirklich Sängerin werden wie Tess McPhail, nicht wahr?« Casey starrte noch immer auf ihren Daumen. Schließlich nahm sie die Hand von dem Instrument und sah Faith an. »Fin dest du, daß ich verrückt bin?« »Ganz und gar nicht. Vielleicht kann ich das nicht richtig beurteilen, aber ich finde, du bist gut genug.« »Aber Daddy meint das nicht, nicht wahr?« Faith setzte sich auf die Bettkante, schlug die Beine übereinander und stützte dann die Ellbogen auf die Knie. »Dein Dad hat wahrscheinlich ein wenig Angst, daß du wirklich erfolgreich sein könntest. Hast du je einmal darüber nachgedacht?« »Aber warum sollte er deswegen Angst haben?« »Weil dich das von ihm wegholen würde. Weil es ein hartes Leben für dich sein würde als erfolgreicher Star. Weil eine ganze Menge Musiker Drogen nehmen und ein wildes, zerstörerisches Leben führen - oder wenigstens hört man das immer wieder. Du kannst dir also einen Grund aussuchen.« »Aber er weiß doch, was die Musik für mich bedeutet.« »Hm-hm«, stimmte Faith ihr ruhig zu. »Und du weißt, was du für ihn bedeutest.« Casey wurde ruhiger. »Ich weiß. Er liebt mich. Aber ich kann doch nicht ewig hierbleiben. Was sollte ich schon in einer so kleinen Stadt erreichen?« »Ich glaube nicht, daß er von dir erwartet, daß du hierbleibst. Er kämpft ganz einfach nur einige seiner eigenen Schlachten und versucht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß du im nächsten Monat deinen Schulabschluß machen wirst und ihn dann verläßt, wohin auch immer du gehen wirst.« »Und ich glaube nicht, daß Tess McPhail ein wildes, zerstörerisches Leben führt. Ich glaube, sie arbeitet sehr hart an ihrem Erfolg.« »Da hast du sicher recht.« Casey und Faith waren schon immer gut miteinander ausgekommen. Faith' sanfte Natur schien der perfekte Gegenpol zu Caseys überschäumendem Temperament zu sein. Faith hatte sie niemals kritisiert
oder gedrängt, sich zu ändern. Da sie nicht mit Kenny verheiratet war, hatte sie auch nicht das Recht, sich wie ein Elternteil aufzuführen, und indem sie Casey ihre Freiheit ließ, hatte sie sich deren Vertrauen erworben. »Hey, Faith, kann ich dich etwas fragen?« »Natürlich.« »Wenn ich nicht mehr zu Hause bin, glaubst du, daß du Daddy dann heiraten wirst?« Faith saß noch immer nach vorn gebeugt da und einer ihrer Arme hing über die Knie. Jetzt fuhr sie mit dem Fingernagel ihres Ringfingers unter den Fingernagel ihres Daumens und betrachtete ihn dabei angelegentlich. »Ich möchte schon«, erwiderte sie nach einer Weile und sah Casey dabei in die Augen. »Aber ich weiß es einfach nicht.« »Aber ihr seid schon so lange zusammen.« »Vielleicht sogar schon zu lange. Wir haben inzwischen beide unsere Freiheit sehr schätzen gelernt.« »Du hast Angst, willst du das damit sagen?« »Nein, Angst würde ich es nicht nennen. Weisheit vielleicht.« »Ist es, weil du katholisch bist?« »Na ja... teilweise.« »Aber du und Daddy, ihr seht euch doch jeden Tag. Was wäre daran so anders, wenn ihr verheiratet wärt?« »Ich weiß, das ergibt vielleicht keinen Sinn für dich, aber dein Dad und ich haben das beste aus beiden Welten. Wir haben Freundschaft, aber gleichzeitig behalten wir auch unsere Unabhängigkeit. Ich gehe gern nach Hause in mein kleines Haus, in dem nur ich das Sagen habe.« »Wahrscheinlich deshalb, weil ich so laut und so aufsässig bin, daß du froh bist, wenn du mich nicht siehst.« Faith lächelte liebevoll. »Nicht so laut und so aufsässig, als daß ich dich nicht vermissen würde, wenn du nicht da bist.« »Hat Daddy... hat er dich gebeten, ihn zu heiraten?« Faith stellte beide Beine nebeneinander und legte die Hände auf die Matratze. »Schon seit langer Zeit nicht mehr.« »Oh.« Es wurde still im Zimmer, während Casey Faith betrachtete und versuchte, den Sinn ihrer Beziehung zu Kenny zu erfassen. Schließlich legte sie die Gitarre zurück in den Kasten, schloß ihn und stellte ihn dann in die Ecke neben den Schrank. Sie begriff nicht, warum Faith' Antwort sie traurig gemacht hatte. »Nun.« Faith holte tief Luft. »Ich denke, es ist Zeit, daß ich gehe. Geht es dir jetzt besser?« »Eigentlich nicht.« Faith stand auf, trat neben den Stuhl, auf dem Casey saß, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wenn du die Väter ganz allgemein betrachtest,
hast du einen sehr guten erwischt.« Casey nickte, sie starrte vor sich auf den Fußboden. »Ich mache dir einen Vorschlag. Du nimmst jetzt ein langes, entspannendes Bad und vergißt eine Zeitlang all diese Gedanken. Und wenn du dann fertig bist, wird dir alles viel weniger kompliziert erscheinen.« Wieder nickte Casey. »Möchtest du mit uns zusammen essen?« fragte Faith ganz nebenbei. Das war es, was Casey so an Faith liebte. Sie verstand, daß man manchmal allein sein mußte. »Nee. Fangt schon ohne mich an.« »Also gut. Aber warte nicht zu lange, um noch einmal mit deinem Dad zu reden. Je länger du wartest, desto schwieriger wird es werden, okay?« »Okay. Und danke, Faith.« An diesem Abend aßen Faith und Kenny allein, sie aßen im Haus und nicht draußen im Garten. Nach dem Essen bügelte Faith noch vier Hemden für Kenny und goß die alten Zimmerpflanzen, die noch von seiner Mutter stammten. Sie schrieb »Sprühstärke« auf seine Einkaufsliste und brachte den Müll nach draußen. Als sie schließlich nach Hause fuhr, war es schon halb neun, und draußen war es bereits dunkel. Kenny begleitete sie zu ihrem Wagen, der wie üblich in der Gasse stand. Langsam und niedergeschlagen gingen sie durch den Garten, in dem die Grillen zirpten und es nach Tau und Frühling duftete. Sie waren noch immer bedrückt wegen seines Streites mit Casey. Das Licht von der Veranda spiegelte sich auf der Oberfläche des Gartentisches und zauberte tiefe Schatten auf das feuchte Gras. Es warf einen hellen Streifen auf Faith' Auto, als sie um den Wagen herumgingen und er die Fahrertür für sie öffnete. Sie wandte sich noch einmal zu ihm um, ehe sie einstieg. »Ich denke, du wirst sie ausprobieren lassen müssen, was sie mit der Musik möchte.« Er seufzte tief, sagte aber nichts. Und als er dann endlich sprach, war seine Enttäuschung hörbar. »Warum konnte sie nicht einfach zum College gehen oder zur Handelsschule? Das wäre wenigstens etwas, worauf sie später immer wieder zurückkommen könnte“ »Sie würde sich elend fühlen im College, und wahrscheinlich würde sie sowieso keinen Abschluß machen.« Kenny hatte eine Hand auf die offene Wagentür gelegt und starrte auf seine Schuhspitzen, auf die ein schwacher Lichtschein fiel. »Ich habe im Fernsehen einmal ein Interview mit Henry Mancini gesehen«, erzählte Faith ihm. »Er sagte, daß sein Vater nie davon überzeugt war, daß Musik eine ernsthafte Beschäftigung sei, und selbst nachdem er so viele Hits komponiert hatte und sogar den Academy Award gewonnen hatte, hat sein Vater noch immer gefragt, wann er denn endlich einen richtigen Job bekäme. Ich fand das sehr traurig.«
Kenny antwortete nicht, er hatte noch immer die Hand auf der Wagentür und blickte vor sich auf den Boden. Ab und zu nickte er. »Nun, ich muß fahren«, meinte Faith. »Gute Nacht, Lieber.« Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange, und er murmelte: »Hm«, als hätte er es gar nicht bemerkt. Sie stieg in den Wagen, und er schlug die Tür zu. Sie kurbelte das Fenster herunter, während sie den Motor anstellte. »Bridge | bei den Hollingsworths morgen abend«, rief sie ihm in Erinnerung. »Ja, ich weiß.« Während der Wagen rückwärts von der Garageneinfahrt in die Gasse fuhr, stand er mit den Händen in den Hosentaschen da und folgte ihm mit den Augen, obwohl seine Gedanken ganz woanders waren. Die Scheinwerfer erfaßten ihn, und er hob eine Hand und winkte ihr abwesend zu. Als die Rücklichter von Faith' Wagen verschwunden waren, blieb Kenny noch lange stehen, er lauschte den Grillen und dachte über das nach, was sie über Henry Mancini gesagt hatte. Es kam einer Rüge näher als alles, was er bis jetzt von ihr zu hören bekommen hatte. Die gute alte Faith. Was würde er nur ohne sie anfangen? Ganz besonders, wenn Casey ihren Schulabschluß hinter sich hatte und von hier weggehen würde. Seine Blicke wanderten zur anderen Seite der Gasse, zu Marys Haus. In der unteren Etage waren die Lichter aus, doch das einzige Fenster unter dem Dach war erhellt. Ziemlich früh für eine Frau wie Tess, jetzt schon im Bett zu liegen, dachte er. Und auch wenn er kaum mitbekommen hatte, daß Faith weggefahren war, so empfand er doch bei dem Gedanken, daß Tess McPhail in seiner Nähe war, nur durch einen Garten von ihm getrennt, eine heftige körperliche Reaktion, ganz ähnlich wie damals, als er noch in der High-School war und sich in den Fluren herumtrieb, da er wußte, daß er sie zwischen den Stunden hier treffen würde. Er blickte zu ihrem Fenster und erinnerte sich wieder an das Streitgespräch, das sie vor ein paar Stunden im Garten geführt hatten, und er fragte sich, wie sie, selbst nach all den Jahren, noch immer so auf ihn wirken konnte. Und als dieser Streit im Garten vorüber gewesen war, hatten sie wirklich miteinander geflirtet, oder etwa nicht? Verdammt dumm, aber genau das hatten sie getan. Und warum? Er hatte für sich und Casey ein glückliches, angepaßtes Leben geschaffen. Er besaß alles, was er wollte: eine hübsche kleine Firma, die ihm genug Geld einbrachte, um ein komfotables Leben zu ermöglichen, einen Kreis guter alter Freunde und eine ganz besondere Freundin, Faith. Alles in allem war es ein ruhiges, sicheres Leben in einer Kleinstadt. Und dann war sie plötzlich zurückgekommen, und alles hatte sich verändert. Es gelang ihr nicht nur, ihm noch immer unter die Haut zu gehen, jetzt machte sie sich auch noch an Casey ran. Ganz gleich, was Faith auch gesagt hatte, er wollte nicht, daß seine Tochter mit Tess McPhail verkehrte. Casey war viel zu leicht zu beeindrucken, um dem Einfluß einer solchen Frau ausgesetzt zu werden. Und
was ihn selbst anging, es wäre wohl besser, wenn er sich endlich wie ein verantwortungsvoller Mann benahm, ein Mann, den Faith verdient hatte. Als er zum Haus zurückkam, war Casey in der Küche und strich Erdnußbutter und Gelee auf eine Scheibe Toast. Ihr Haar war noch naß, und sie trug ein knielanges Nachthemd mit einem Bild von Garfield. Sie leckte das Messer ab und hielt den Toast auf der flachen Hand. Als er die Küche betrat, sah sie ihm entgegen. »Nun...«, meinte er und blieb an der Tür stehen. »Du hast ein Bad genommen.« »Hm-hm.« »Bist du noch wütend auf mich?« »Hm-hm. Faith und ich haben miteinander geredet.« Er machte noch ein paar Schritte in das Zimmer. »Ich habe auch mit Faith geredet.« »Worüber habt ihr euch denn unterhalten?« »Über dich.« Sie legte das Messer beiseite. »Möchtest du auch einen Toast? Ich habe zwei gemacht.« »Das klingt verlockend.« Sie reichte ihm eine Scheibe, und sie lehnten beide an der Anrichte und verspeisten den Toast. »Unsere Streitereien dauern nie sehr lange, nicht wahr?« begann sie und balancierte dabei den Toast auf den Fingerspitzen. „Nein.« »Daddy, wenn ich nach meinem Schulabschluß nach Nashville gehe, kann ich dann Rowdy behalten, damit ich ihn reiten kann, wenn ich an den Wochenenden nach Hause komme?« »Es kostet eine ganze Menge Geld, ein Pferd in Pflege zu geben. Und wie oft, glaubst du, wirst du nach Hause kommen. Von Nashville hierher sind es fünf Stunden Fahrt.« »Aber würdest du ihn manchmal reiten, damit ich ihn nicht gleich verkaufen muß?« »Das könnte ich machen, denke ich.« Casey hörte auf zu essen. Kenny fühlte beinahe körperlich die Woge von Traurigkeit, die Casey einhüllte, als sie an all die Veränderungen dachte, die vor ihr lagen. Sie beide würden sich trennen müssen, sie würde weit weg leben, würde all die Menschen und Dinge verlassen, die ihr vertraut und lieb waren. Er erin nerte sich daran, wie es war, als sie noch ein Baby gewesen war, und jetzt wurde auch er traurig. Seine Erinnerungen waren so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen. Er streckte ihr einen Arm entgegen, und sie kuschelte sich an ihn, schob ihren Kopf unter sein Kinn. »Oh, Daddy, es ist so schwer, erwachsen zu werden.« »Es ist auch schwer für die Eltern.«
»Ich werde dich so sehr vermissen. Und wer wird für dich sorgen?« »Faith wird hier sein.« »Dann wirst du sie also heiraten?« »Na ja, ich weiß nicht. Vielleicht irgendwann einmal.« »Was ist das denn für eine Antwort?« Sie zog sich von ihm zurück und sah zu ihm auf, sprachlos, ihr Kampf gegen die Trä nen war vergessen. »Möchtest du denn nicht mehr heiraten?« »Ich weiß nicht. Mein Leben gefällt mir ganz gut so, wie es im Augenblick ist.« Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Darf ich dir eine Frage stellen, Dad?« »Das darfst du doch immer.« „Wirst du auch nicht wütend werden?« Sie stopfte das letzte Stück Toast in ihren Mund. »Normalerweise werde ich das nicht. Warum sollte ich jetzt wütend werden?« Auch er steckte den letzten Bissen Toast in seinen Mund. »Also gut. Los geht's.« Sie rieb die Hände gegeneinander. »Schläft Faith mit dir?« Kenny verschluckte sich an seinem Toast und begann zu husten. »Was ist das denn für eine Frage?« »Na ja, ich habe mich ganz einfach gefragt, ob sie das tut, weil ihr beide so... na ja, ich weiß nicht recht... ihr scheint euch wohl zu fühlen miteinander. Ich meine, es ist beinahe so, als wärt ihr schon fünfzig Jahre miteinander verheiratet. Es scheint so natürlich.« Kenny wurde über und über rot. »Casey, du bist unmöglich«, sagte er. »Das muß bedeuten, daß du es mir nicht sagen willst.« Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Ich denke schon, daß sie es tut. Ich meine, alle tun es irgendwann einmal. Es ist schon in Ordnung. Du kannst es mir ruhig sagen, ich werde nicht schockiert sein. Dann werde ich dir auch sagen, ob ich es schon einmal getan habe. Einverstanden?« »Casey Kronek!« »Nun ja, möchtest du es nicht wissen? Ich meine, immerhin bin ich schon siebzehn.« »Mit wem hättest du so etwas tun sollen? Du bist ja noch nie ernsthaft mit einem Jungen gegangen!« »Und wenn ich neugierig war? Wenn ich der Meinung war, daß ich wissen sollte, wie so etwas ist, weil all die anderen Mädchen davon erzählt haben?« Er runzelte die Stirn. »Hast du?« Dann kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. »Casey, du bist doch nicht etwa schwanger, oder?« Sie lachte laut auf. »Oh, Daddy, du solltest dein Gesicht sehen!« »Nun, du findest das vielleicht komisch, ich aber nicht.« »Ich wollte doch nur testen, wie schockiert du sein würdest.«
»Nun, ich bin schockiert, okay?« »Also denkst du sicher, daß auch ich schockiert sein würde, wenn ich herausfinde, daß du mit Faith schläfst.« »Du weißt sehr gut, daß sie niemals über Nacht in diesem Haus bleibt und daß ich noch nie über Nacht bei ihr geblieben bin.« »Ach, komm schon, Daddy, selbst ich bin nicht mehr so naiv, zu glauben, daß so etwas nur in der Nacht passiert, unter der Decke.« »Nun, ich werde dir etwas verraten, kleiner Schlaukopf. Was zwischen Faith und mir geschieht, geht dich gar nichts an, und es wäre ein Vertrauensbruch ihr gegenüber, mit dir darüber zu reden, findest du nicht auch?« »Ein Vertrauensbruch... sehr gut gesagt, Daddy. Vielleicht solltest du zusammen mit Mac die Texte für ihren Song schreiben.« »Mußt du unbedingt wieder von ihr anfangen?« ' »Oh, das habe ich ganz vergessen. Du magst sie nicht, weil sie dich in der High-School immer geärgert hat.« »Es ist viel mehr als nur das. Sie ist noch immer ziemlich überheblich.« »Nein, das ist sie nicht. Nicht, wenn du sie nicht als großen Star behandelst, sondern als das Mädchen, das im Nachbarhaus groß geworden ist.« »Ich bin absolut nicht daran interessiert, sie überhaupt als irgend etwas zu behandeln. Soweit es mich betrifft, ist es um so besser, je weniger sich unsere Wege kreuzen.« »Glaubst du, sie wird trotzdem kommen und mit uns im Chor singen?« »Keine Ahnung. Ich hoffe nicht. Ich war entsetzt, als Hochwürden Giddings sie gefragt hat. Wahrscheinlich glaubt sie, ich hätte ihn dazu angestiftet.« “Ich habe gemerkt, wie du mich angesehen hast, als hätte ich ihn dazu angestiftet. Ehrlich, ich hatte wirklich nichts damit zu tun. Aber wäre es nicht toll, wenn sie es tun würde? Donnerwetter.« Mit einem Anflug von Sarkasmus murmelte Kenny mehr zu sich selbst: »Jaaa... Donnerwetter.« Im nächsten Augenblick stand er allein in der Küche, während Casey nach oben ging und davon träumte, daß ihr Idol zusammen mit ihr im Kirchenchor sang. Jaaa, dachte er bedauernd. Genau das ist es, was wir hier brauchen. Als Tess am nächsten Tag in ihren Wagen steigen wollte, fand ' sie einen Zettel unter dem Scheibenwischer. Mit Bleistift war eine Notiz auf ein Stück Papier geschrieben, das aus einem Block gerissen war. »Mac«, stand darauf. »Ich habe eine Strophe gefunden, die wahrscheinlich passen wird. Versuchen Sie es einmal hiermit: Im Elternhaus lebt Mama, schon eine Ewigkeit. Das Haus ist alt und schäbig, ein Stück aus alter Zeit.
Die gleiche alte Uhr tickt an der verblich'nen Wand. Mama will nichts ersetzen, läßt alles im alten Stand. Mama freut sich sehr, doch sich zu ändern fällt ihr schwer.« Tess stand auf der schmalen Gasse und las die Strophe, leise sang sie die Worte vor sich hin. Es gefiel ihr! Es klang um so vieles besser als die Strophe, die sie selbst geschrieben hatte. Wie erstaunlich, daß ein siebzehnjähriges Mädchen die Begabung hatte, etwas so Gutes zu schreiben. Auf dem Weg zum Krankenhaus rief sie ihren Produzenten an. »Hör mal, Jack«, sagte sie. »Ich möchte, daß du auf dem neuen Album einen Platz reservierst für einen neuen Song, den ich gerade schreibe. Er ist noch nicht fertig, aber es wird nicht mehr lange dauern. Ich bekomme gute Hilfe dabei von einem Mädchen, das noch in der High-School ist und im Haus ge genüber von meiner Mutter wohnt. Du wirst es nicht glauben, Jack, aber sie ist gut. Sie ist wirklich gut.« »Ein Mädchen von der High-School! Tess, hast du den Verstand verloren?« »Ich bin ganz aufgeregt, Jack. Sie kann schreiben, und sie hat eine gute Stimme.« »Tess«, ermahnte er sie übertrieben geduldig. »Ich weiß, ich weiß. Aber sie ist wirklich etwas ganz Besonderes. Sie ist intelligent, und sie hat außerdem auch noch Talent. Ich möchte sie ermutigen und sehen, was sie kann. Es ist doch nur ein Song, Jack, okay? Wenn er nicht so wird, wie ich es mir vorstelle, dann können wir noch immer einen der Songs von den Demos nehmen.« Er seufzte wie ein Mann, der wußte, wann er die Schlacht verloren hatte. »Also gut, Tess. Wie heißt der Song?« »Kleinstadt-Mädchen.« »Eine Ballade?« »Ja, aber mit einem Beat. Ich arbeite gerade am Übergang zwischen den Strophen, dann wird die dritte Strophe ziemlich einfach sein. Ich gebe dir Bescheid, sobald der Song fertig ist.« »Und du wirst mir einen Entwurf schicken?« »Natürlich. Mit Klavierbegleitung.« »Okay, Mac, du bist der Star. Du weißt, was am besten ist.« »Jack, zum hundertsten Mal, du sollst so etwas nicht sagen. Das klingt, als wäre ich die einzige, die dafür verantwortlich ist, daß meine Aufnahmen Hits werden. Du weißt, daß du für mich unersetzlich bist.« Er lachte. »Okay, Mac. Und wie geht es deiner Mutter?« Tess' Mutter erholte sich gut, und nach einer Hüftoperation bedeutete das sehr langsam. Am dritten Tag war der Katheder entfernt worden, und als Tess ins Krankenhaus kam, war Virginia, die Physiotherapeutin, gerade bei ihr im
Zimmer und machte mit Mary einige Übungen, die den Blutkreislauf anregen sollten. Mary lag flach im Bett, bewegte die Füße, preßte die Pobacken zusammen und spannte die Oberschenkelmuskeln an. Doch als sie dann aufgefordert wurde, ein Handtuch als Schlinge zu benutzen, um das genesene Bein hochzuziehen, wurde die Sache schon schwieriger. Ein Krankenpfleger kam, Mary beim Aufstehen zu helfen, damit sie zum ersten Mal die Gehhilfe benutzen konnte. Es war eine sehr langwierige Prozedur, und Virginia zeigte ihr, wie sie einen Beinheber benutzen sollte, um ihr Bein zu unterstützen, während sie vom Bett aufstand, und sie erklärte ihr, daß sie die Hüfte nicht mehr als neunzig Grad biegen durfte. »Ich weiß, ich weiß«, erklärte Mary. »Ich habe das alles schon einmal mitgemacht.« »Alles, was wir wollen, ist, Sie zuerst einmal aufrecht hinzustellen. Wir brauchen uns nicht zu beeilen, wir haben genug Zeit. Versuchen Sie zuerst, sich einmal halb aufzusetzen und dann die Beine über die Bettkante hinunterhängen zu lassen, um dann das Gewicht auf den einen und dann auf den anderen Fuß zu verlagern.« Als sie sich aufgerichtet hatte, war es ganz offensichtlich, daß ihr schwindlig wurde. Sie schloß die Augen und griff nach den Armen, die sie hielten. »Lassen Sie sich Zeit, wir brauchen uns nicht zu beeilen.« Virginia ließ ihr eine Minute Zeit, dann sagte sie: »Okay?« Mary nickte zweimal, doch ließ sie die Augen geschlossen, ihre Nasenflügel blähten sich. Virginia wandte sich an Tess. »Bitte, passen Sie gut auf, denn Ihre Rolle wird es sein, sie zu ermutigen und zu unterstützen. Es wird ihr helfen, wenn Sie sie immer wieder daran erinnern, langsam und systematisch vorzugehen. Also, Mary, heute werden wir Ihnen helfen, aus dem Bett aufzustehen, doch zu Hause werden Sie sich mit beiden Händen vom Bett abstoßen, haben Sie gehört? Bleiben Sie in der Gehhilfe und sorgen Sie dafür, daß Ihre Füße innerhalb der Gehhilfe sind und daß die Gehhilfe nicht zu weit vor Ihnen steht, denn sie kann umkippen.« Mary nickte. Als sie sie schließlich mit vereinten Kräften aus dem Bett gehoben hatten, schwankte sie. »Ist Ihnen übel?« »Ich bin... es geht schon«, antwortete sie atemlos. »Wenn es Ihnen übel wird, dann sagen Sie uns Bescheid.« Wieder nickte Mary, dann zog sie scharf den Atem durch die Nase ein. »Ich weiß, Sie haben das alles schon einmal gemacht, aber ich will Sie noch einmal daran erinnern... alle vier Füße der Gehhilfe müssen auf dem Boden sein, ehe Sie den ersten Schritt machen. Zuerst kommt die Gehhilfe, dann Ihr operiertes Bein, dann das gesunde Bein. Sind Sie bereit?«
Mary öffnete die Augen und nickte. Tess war die schlechteste aller möglichen Krankenschwestern. Sie hatte ihre Mutter immer geliebt, aber jetzt bei ihren ersten zögernden Schritten neben ihr herzugehen war traumatisch für sie. Mit angehaltenem Atem sah sie ihrer Mutter zu, und ihr entgingen nicht die Fingerknöchel, die weiß hervortra ten, weil Mary sich so fest an die Gehhilfe klammerte. Sie sah das grimmig verzogene Gesicht, die feuchte Stirn und auch die Tränen des Schmerzes, die Mary nicht zurückdrängen konnte. Ihre Beine sahen aus wie kleine Fässer, eingewickelt in diese dicken, fleischfarbenen Stützstrümpfe. Alles an ihr erschien Tess fremd, und sie hatte das Gefühl, als würden ihr nie die richtigen Worte einfallen, mit denen sie ihre Mutter ermuntern konnte. Eine Menge von Zehntausenden von Menschen konnte sie unterhalten, aber bei ihrer Mutter, die Schmerzen hatte, fehlten ihr die Worte. »Du machst das ganz großartig, Mom«, versuchte sie zaghaft nach Marys ersten drei Schritten, dann wandte sie sich mit ängstlichem Gesicht an Virginia. »Macht sie das nicht großartig?« »Unbedingt. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, Mary. Lassen Sie sich Zeit.« Laß dir Zeit, laß dir Zeit, sagte Tess insgeheim vor sich hin und wünschte, sie wäre überall, nur nicht in diesem Krankenzimmer. »Verlagern Sie Ihr ganzes Gewicht auf die Gehhilfe, und sehen Sie nicht auf Ihre Füße. Blicken Sie nach oben«, befahl ihr Virginia. Mary ging beim ersten Mal eine Strecke von zwei Metern mit ihrer Gehhilfe. Jeder Schritt war mühsam, eine Wiederholung der Schmerzen, die sie schon vor zwei Jahren durchstanden hatte und von denen Tess bis jetzt nichts gewußt hatte. Sie war erstaunt über den Mut ihrer Mutter, dies auch noch ein zweites mal ertragen zu wollen, obwohl sie wußte, welche Schmerzen sie erwarteten, und sie ärgerte sich über ihre eigene Hilflosigkeit. Als die Patientin dann endlich wieder im Bett lag, war es schwer zu sagen, wer mehr erleichtert war: Mary oder ihre Tochter. Tess holte das Stützkissen und schob es ihr unter die Knie, sie deckte ihre Mutter zu, dann faltete sie das Handtuch zusammen, mit dem Mary ihr Bein hochhob, und legte es in die Schublade des Nachttisches. Mary sah erschöpft und zerbrechlich aus, und wieder suchte Tess verzweifelt nach einer Möglichkeit, sie abzulenken. Und die fiel ihr auch ein. •>Oh, ich habe dir deine Post mitgebracht!« erklärte sie übertrieben fröhlich und holte sie aus der großen grauen Tasche. «Sieht so aus, als hättest du einige Genesungswünsche bekommen. Soll ich sie für dich öffnen?« Mary lag mit geschlossenen Augen im Bett und atmete schwer. »In einer Minute.« Tess kam sich ziemlich dumm vor, diesen Vorschlag im ungünstigsten
Augenblick gemacht zu haben. Sie würde in einer solchen Situation nie natürlich reagieren können, so wie ihre Schwestern es taten. Sie beugte sich über ihre Mutter und wischte Mary mit der Hand die Schweißtropfen von der Stirn. Dann gab sie ihr einen Kuß auf die Stirn, und selbst der kam ihr erzwungen vor. »Natürlich. Wir haben später noch genügend Zeit dazu. Ruh dich einen Augenblick aus.« Renee kam ein wenig später an diesem Morgen und brachte ihre Tochter Rachel mit. Den beiden fiel es nicht schwer, die richtigen Dinge zu tun oder zu sagen. »Wie geht es dir heute, Momma?« Renee beugte sich über das Bett und küßte ihre Mutter. »Bist du aufgestanden und gelaufen?« »Ein paar Schritte.« »Und es war schrecklich, ich weiß. Aber heute nachmittag wird es schon bessergehen und morgen noch besser. Sieh einmal, wen ich dir mitgebracht habe.« Rachel trat an das Bett. »Hi, Großmutter.« »Rachel, mein Liebling.« Mary drehte sich zu ihr und lächelte matt. »Mom und ich haben Kekse für dich gebacken. Es sind Schokoladenkekse mit Puderzucker, die du so gern magst.« »Bergspitzen?« Sofort besserte sich ihre Laune, und sie machte Anstalten, sich aufzusetzen. »Wo sind sie?« Während Renee die Dose mit den Keksen auspackte, begrüßte Rachel ihre Tante. »Hi, Tante Tess, wir haben uns noch nicht gesehen.« »Hi, Rachel.« Sie umarmten sich ein wenig verlegen, da sie einander kaum kannten. »Wie steht es mit den Hochzeitsvorbereitungen?« »Es ist alles perfekt. Jetzt b rauchen wir nur noch Sonnenschein. Ich bin so froh, daß du dabeisein wirst.« »Oh, Tess, sieh dir diese Kekse an.« Seit ihre beiden Besucher gekommen waren, war Mary sichtlich aufgelebt. »Du mußt unbedingt einen versuchen.« »Nein, danke, Mom.« »Ach, was kann denn so ein kleiner Keks schon schaden?« Mary blickte in die Dose, während sie sprach. Renee wehrte ab. »Mom, du weißt doch, daß Tess so etwas nicht ißt«, und Mary hörte auf zu drängen. Je länger Tess zu Hause war, desto mehr wurde ihr klar, daß ihre Schwestern wahrscheinlich damit recht hatten, daß sie die Beziehung zu ihrer Familie verloren hatte. Sie hatte keine Ahnung, daß ihre Mutter dunkle Schokolade vorzog oder welches ihre Lieblingskekse waren. Sie wußte kaum genug über Rachel, um sich ungezwungen mit ihr unterhalten zu können. Nach der obligatorischen Umarmung blieb nur sehr wenig Gesprächsstoff, während Rachel und Renee eine Menge hatten, worüber sie sich mit Mary unterhielten. Kurz nachdem Renee und Rachel gekommen waren, erschien auch Faith
Oxbury, gekleidet in ein pastellfarbenes Kleid, mit Schmuck und in Pumps, und in der Hand trug sie ein große Vase mit Schwertlilien. »Hallo«, sagte sie fröhlich, als sie zur Tür hereinkam. »Ist hier vielleicht jemand mit einer brandneuen Hüfte?« »Faith«, sagten alle drei wie aus einem Mund. »Hallo!« Tess reckte sich ein wenig, um die Frau zu betrachten, deren Wagen beinahe jeden Abend auf der anderen Seite der Gasse stand. »Mary, Liebe, wie geht es dir? Die Schwestern haben mir erzählt, daß du bereits aufgestanden und ein paar Schritte gegangen bist. Ich wette, du bist froh, daß alles vorüber ist und du jetzt nur noch die Unterlagen an deine Krankenversicherung zu schicken brauchst.« Sie stellte die Blumen ab und gab der Patientin einen Kuß auf die Wange. Dann stand sie neben dem Bett, nahm Marys beide Hände und drückte sie. »Ich bin so froh, daß du das Schlimmste hinter dir hast. Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich gestern an dich gedacht habe.« »Oh, danke, Faith. Das bedeutet mir so viel.« »Kenny schickt liebe Grüße, und er hat mir gesagt, ich solle dir einen dicken Kuß geben, also, der ist von ihm. Und auch die Schwertlilien. Ich habe sie in seinem Garten gepflückt.« »Sie sind wirklich wundervoll. Noch einmal vielen Dank.« »Und von Casey soll ich dir etwas ausrichten: Sie sagt, sie kommt gleich nach dem Mittagessen.« Faith zog eine Karte aus der Tasche. »Die hat sie selbst gemacht.« Mary las laut vor: Einige Menschen hinterlassen ein Leuchten, Liebesstaub, wo immer sie hingehen, Lächeln und gute Laune und Glücklichsein. Komm schnell nach Hause und verbreite ein wenig davon. Alle murmelten Beifall, und die Karte wurde herumgereicht. Als Tess sie in der Hand hielt, las sie noch den Zusatz, den Casey darunter geschrieben hatte. »Krankenhäuser sind am schönsten, wenn man aus ihnen entlassen wird. Ich bin froh, daß Du bald wieder bei uns bist. Ich vermisse Dich! In Liebe Ca sey.« Als Tess die Karte weitergab, sagte Faith: »Mary, ich habe deine andere Tochter noch gar nicht kennengelernt, wir haben uns nur gestern abend einmal zugewunken.« Sie ging auf Tess zu und nahm ihre beiden Hände, so wie sie zuvor Marys Hände gehalten hatte. »Ich bin Faith Oxbury.« Tess drückte ihr die Hände und lächelte sie an. »Hi, Faith. Ich bin Tess.« »Und Sie sind genauso schön wie auf all den Fotos.« Faith besaß die seltene Gabe, offen und ehrlich zu sein, und Tess erkannte das sofort. Sie war wirklich eine besonders freundliche Frau. »Danke.« »Und auch genauso nett, wenn ich Casey glauben kann.« Tess lachte leise bei Faith' Worten. »Sie glaubt, daß Sie über das Wasser gehen können. Das ist alles, was wir
zu hören bekommen, seit Sie nach Hause gekommen sind - Mac, Mac, Mac. Sie haben dieses Mädchen absolut ins Strahlen gebracht.« »Nun ja, ich weiß gar nicht, wieso. Ich habe doch gar nichts getan.« »Sie haben ihre Musik respektiert, das genügt schon. «Ich glaube, Sie haben einen Fan für Ihr ganzes Leben gefunden.« Endlich ließ Faith Tess' Hände wieder los. »Sie hat Ihnen also erzählt, daß sie und ich zusammen einen Süng schreiben?«: »Uns erzählt? Das ist überhaupt alles, wovon sie spricht! Sie sitzt oben in ihrem Zimmer und spielt auf ihrer Gitarre und singt ununterbrochen, seit Sie hier sind.« »Ich wußte gar nicht, daß sie Gitarre spielt.« »O doch. Sie spielt schon, seit sie zehn Jahre alt ist und ihre Hände groß genug waren dafür.« »Nun, ich würde sie gern einmal spielen hören.« Das war etwas, was Tess nur sehr selten sagte, doch heute meinte sie diese Worte ernst. Ständig versuchten Menschen, die glaubten, sie seien unentdeckte Talente, für sie zu spielen, doch die meisten kamen erst gar nicht bis zu ihr durch. Doch Casey wollte sie gern anhören, aus Gründen, die ihr selbst noch nicht ganz klar waren. »Ich bin sicher, Sie brauchen ihr das nur zu sagen und sie wird vor Ihrer Tür stehen«, meinte Faith. »Ihr Vater macht sich Sorgen, daß sie Sie stört, wenn sie ständig zu Ihnen gelaufen kommt.« »O nein, absolut nicht. Und Sie können ihr sagen, daß mir ihre zweite Strophe sehr gut gefällt.« »Die zweite Strophe?« »Sie weiß schon, was ich meine.« Faith lächelte. »Ich werde es ihr sagen.« Tess mochte Faith Oxbury. Es gab nichts an ihr, was Tess nicht gefiel. Sie war ehrlich, herzlich und sehr freundlich zu Mary; Offensichtlich war sie eine genauso gute Freundin der Familie, wie Kenny es war, und sehr wahrscheinlich übte sie auch einen sehr guten Einfluß auf Casey aus. Was Tess jedoch störte, war, daß sie Faith nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtete, sondern nur die Tatsache sah, daß sie offensichtlich Kenny Kroneks langjährige Geliebte war.
7. Kapitel Um sieben Uhr an diesem Abend hatten Kenny und Faith das Haus für sich, während sie sich für ihren wöchentlichen Bridge-Abend vorbereiteten. Casey war mit ihrem rostigen Pick-up nach Poplar Bluff gefahren, um Mary im Krankenhaus zu besuchen, und Faith räumte gerade die Zutaten des Sandwiches weg, das sie zu Abend gegessen hatten. Sie klappte die Ge schirrspülmaschine zu, hängte das Geschirrtuch unter die Spüle und drückte
auf den Spender mit der Handlotion, der auf der Fensterbank stand. Sie verrieb die Creme, während sie durch das Wohnzimmer zu dem einzigen Schlafzimmer ging, das zu ebener Erde lag und das sie immer benutzte, um sich umzuziehen, wenn sie bei Kenny war. Es war früher das Schlafzimmer von Kennys Eltern gewesen, doch nachdem beide nicht mehr lebten, hatte er es nicht benutzen wollen. Er sagte immer: »Es gehörte ihnen. Ich erinnere mich daran, daß die beiden dort zu sammen waren. Mir gefällt es genausogut oben in meinem Schlafzimmer.« Seine Mutter war bereits Witwe gewesen, als Kennys Frau Stephanie urplötzlich erklärt hatte, daß sie nicht länger mit ihm verheiratet sein wollte. Sie hatte ihn und Casey verlassen, um eine Reise nach Paris zu machen. Sie hatte die Stadt schon immer sehen wollen, und wohin sie von dort weiterreisen würde, hatte sie noch nicht sagen können. Sie wußte nur, daß das Leben in dieser kleinen Stadt, in der sich nie etwas änderte und in der es ihr an Kultur mangelte, sie erdrückte. Es tat ihr leid, aber sie mußte einfach weg. Es war nur natürlich gewesen, daß Kenny in seinem Schock, mit seiner siebenjährigen Tochter allein zu sein, zurück zu seiner Mutter gezogen war, die sie beide versorgt hatte, bis sie einen Schlaganfall bekam und ihre linke Hand nicht mehr benutzen konnte. Danach hatten sie beide seine Mutter versorgt, bis diese vor zwei Jahren gestorben war. Sie alle waren gut miteinander ausgekommen. Seit ihrem Tod hatte sich in dem Haus nicht viel verändert. Es war Kennys Zuhause gewesen, und er mochte es so, wie es war, auch wenn es nur ein Badezimmer im Haus gab und dieses unten neben dem Schlafzimmer der Eltern lag. Das Badezimmer war riesig. Es war mit einer Tapete mit gelben Blumensträußen tapeziert und eine große Badewanne mit Klauenfüßen stand darin. Das Badezimmer hatte ein großes Fenster, das beinahe bis zum Fußboden reichte. Ungewöhnlich für ein Badezimmer, hatte Faith immer gedacht. Doch das Fenster ging hinaus auf einen riesigen Birnbaum, und die untere Hälfte des Fensters konnte mit einem weißen Fensterladen geschlossen werden, was bedeutete, daß man ungestört war. Außerdem gab es einen antiken Waschtisch, der aussah wie eine kleine Kommode und in dem Lucille die Handtücher aufbewahrt hatte. Daneben auf dem Handtuchhalter hingen noch immer zwei von Lucilles bestickten Leinenhandtüchern, die Faith zweimal im Jahr wusch und stärkte, wenn sie staubig waren. Faith holte gerade einen Waschlappen aus der Schublade des Waschtisches, als Kenny die Treppe heruntergepoltert kam und an der Tür des Badezimmers stehenblieb. Er sah ihr zu, wie sie den Waschlappen naß machte und sich dann damit das Gesicht wusch. Sie trug eine beigefarbene Hose, flache beigefarbene Schuhe und eine weiße Seidenbluse mit kleinen
Perlmuttknöpfen und Falten auf der Vorderseite. »Ich hoffe, ich bekomme heute abend nicht Midge Randolph als Partnerin«, meinte sie und hörte nicht auf, sich das Gesicht zu waschen. »Sie spielt immer so verbissen.« Kenny dachte an etwas ganz anderes. »Ich hatte gestern abend noch eine interessante Unterhaltung mit Casey, nachdem du nach Hause gegangen warst«, erzählte er ihr. »Worüber?« fragte sie, nahm eine Dose von dem gläsernen Regal über dem Waschtisch und öffnete sie. »Über eine ganze Menge Dinge. Hauptsächlich über dich und mich.« Faith puderte ihr Gesicht. »Was denn über dich und mich?« »Sie wollte wissen, ob wir beide je heiraten würden.« Faith schloß die Dose und öffnete eine andere. »Das hört sich genau an wie die Unterhaltung, die ich mit Casey hatte«, meinte sie und rieb mit einem Schwämmchen Rouge auf ihre Wangen. »Werden wir?« fragte Kenny leise. »Ich weiß es nicht, Kenny. Werden wir?« Er kam in das Zimmer und stützte sich mit einer Hand gegen den Handtuchhalter. »Wir haben eine ganze Weile nicht mehr darüber geredet.« »Ich habe angenommen, daß du nicht darüber reden wolltest« »Nun ja...«, begann er und hielt dann inne. Sie stellte das Rouge wieder auf das Regal zurück. »Nun ja...«, wiederholte sie im gleichen Ton. »Casey findet, wir sollten es tun.« »Hm...« Jetzt trug Faith rosaroten Lippenstift auf, und im Spiegel sah er, wie sie die Lippen öffnete und sie anspannte. Als sie mit dem Lippenstift darübergefahren war, preßte sie die Lip pen aufeinander, um die Farbe zu verteilen, dann legte sie den Lippenstift wieder weg. »Ich nehme an, Casey macht sich Sorgen um dein Wohlergehen, und es wäre ihr lieber, wenn du jemanden hättest, der für dich sorgt, wenn sie nicht mehr hier ist, um sich um dich zu kümmern.« »Das könnte stimmen. Aber ich habe ihr gesagt, du würdest dann noch immer da sein.« Im Spiegel lächelte sie ihn an. »Natürlich werde ich hier sein. Du liebe Güte, wo sollte ich wohl sonst sein nach all der Zeit?« Sie zupfte ein Kleenex aus der Box auf der Toilette, preßte die Lippen darauf und warf es dann in den Papierkorb. Dann zupfte sie sich ein paar Löckchen in das Gesicht und steckte ihre Kosmetika in eine kleine Tasche mit Reißverschluß. »Nichts hat sich verändert in der katholischen Kirche, und ich weiß, daß es dir sehr viel bedeutet, die Heilige Kommunion erhalten zu können.« »Ja, das ist wahr. Ich bin... na ja... ich bin ganz zufrieden mit der Situation,
wie sie im Augenblick ist, wenn du auch zufrie den bist.« »Ich bin einverstanden.« Kenny lehnte noch immer gegen den Handtuchhalter und sah ihr zu, wie sie mit einer Hand über ihre Hose strich und dann ihre Bluse ordentlich in den Hosenbund steckte. »Casey hat mich gestern abend noch etwas gefragt. « »Und was war das?« »Sie wollte wissen, ob du mit mir schläfst.« Faith wirbelte herum, sie versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, doch gelang es ihr nicht. Ein leises, damenhaftes Schnaufen kam über ihre Lippen. »Oh, du liebe Güte! Und was hast du ihr gesagt?« »Ich habe ihr gesagt, >bei Gelegenheit^« »Das hast du nicht gesagt.« Kenny zog die Hand vom Handtuchhalter und grinste, er machte ein paar Schritte auf sie zu und legte den Kopf ein we nig schief. »Nein, das habe ich nicht gesagt, aber wenn ich mich recht erinnere, tust du es wirklich ab und zu, nicht wahr?« »Kenneth«, schalt sie ihn, senkte den Blick und errötete wie eine Jungfrau. Er ging zu ihr und legte seine Arme um sie, während sie die Hände auf seine Schultern legte, sich ein wenig zurückbeugte und in sein Gesicht sah. »Es ist schon eine ganze Weile her«, meinte er. »Und wir haben das Haus für uns.« »Ich habe gerade mein Make-up aufgefrischt.« »Wir haben noch zwanzig Minuten Zeit, ehe wir zu Laurie Yale losfahren müssen.« Sie hob einen Arm und warf über seine Schulter einen Blick auf ihre Uhr. »Fünfzehn«, korrigierte sie ihn. »Aber... na ja... also gut.« Sie gingen in Kennys Zimmer, wo Faith ihre Hose und ihre Strumpfhose auszog und beides ordentlich über einen Stuhl legte. Er warf seine Hose und seine Unterhose auf das Bett und schlug vor: »Warum kommst du nicht hierher, an die Bettkante?« Gehorsam ging sie zu ihm und legte sich so hin, daß sie so wenig Unordnung wie möglich anrichten konnten. Sein Hemd war ihnen im Weg, und Faith schob es zur Seite. Als Kenny Anstalten machte, sie zum Orgasmus zu bringen, wehrte sie ab. »Dafür haben wir keine Zeit, Kenny«, und er gehorchte. Er grunzte leise, als er seinen Orgasmus erreichte. Das war der einzige Laut, der während des gesamten Vorganges zu hören war, obwohl sie einander anlächelten, als alles vorüber war. Dann küßte er sie zum ersten Mal an diesem Abend, und sie meinte: »Wir müssen uns beeilen, denn Laurie fängt gern pünktlich an.« Als sie zusammen das Haus verließen, war Faith genauso ordentlich und sauber, wie sie an diesem Tag zur Arbeit gegangen war. Um neun Uhr an diesem Abend a ß Tess gerade zu Abend - Fla denbrot mit
Kräutertomaten und Ziegenkäse überbacken. Sie saß barfuß am Küchentisch, mit ihrer Baseballkappe und in einem riesigen weißen Garth-Brooks-T-Shirt und blätterte im Katalog eines Versandhauses, der heute in der Post gewesen war. Das Radio auf dem Kühlschrank war auf einen Sender in Poplar Bluff eingestellt, und Trishia Yearwood sang »Thinkin' about You«. Draußen vor Kennys Haus parkte Casey ihren Pick-up, ging um das Haus herum zur Hintertür und rief: »Hey, Dad, bist du schon zu Hause?« Als sie keine Antwort bekam, warf sie einen Blick zu dem Haus auf der anderen Seite der Gasse. Es war ein warmer Frühlingsabend, die Grillen zirpten und die Obstbäume blühten und verbreiteten einen schwachen Duft im Garten. In Marys Küche brannte das Licht, und die Hintertür stand offen. Dieser Einladung konnte Casey nicht widerstehen. Sie h örte die Musik aus dem Radio, als sie die Hintertreppe hinauflief und dann ihr Gesicht an die Fliegentür drückte. Wenn sie ganz scharf nach rechts sah, entdeckte sie drei leere Küchenstühle. Tess, die auf dem vierten Stuhl saß, konnte sie nicht sehen. »Hi, Mac. Ich bin es, Casey!« Mac beugte sich vor. »Hey, Casey, komm rein!« Casey trat in die Küche. »Ich komme gerade vom Besuch bei Ihrer Mutter. Und als ich ins Haus gehen wollte, habe ich gesehen, daß hier noch Licht brennt.« »Wie geht es ihr?« »Sie haben sie noch einmal aus dem Bett geholt, als ich da war.« Casey verzog das Gesicht, als würde sie Mary noch einmal dabei zusehen. »Autsch.« »Ich weiß. Aber sie ist tapfer. Setz dich. Möchtest du etwas Fladenbrot?« »Was ist denn das?« »Dieses blasse Brot ohne Hefe. Es hat kein Fett. Man tut Tomaten und Käse drauf, überbackt alles und streut dann etwas frisches Basilikum darüber, und dann hat man ein großartiges Essen. Hier, probier mal.« Casey nahm ein Stück und biß hinein. »Was ist denn das weiße Zeug?« »Ziegenkäse.« Casey hielt mit dem Kauen inne und verzog das Gesicht. »Ziegenkäse?« »Hast du noch nie Ziegenkäse gegessen?« Tess legte sich noch ein Stück auf den Teller. »Er schmeckt lecker.« »Bah!« rief Casey. »Der schmeckt genauso wie Ziegenstall.« »Hm... die Welt ist groß. Und es gibt eine ganze Menge Dinge, die man ausprobieren kann.« »Ganz bestimmt.« Trotz ihrer Abneigung biß Casey noch einmal hinein. Immerhin, wenn die große Tess McPhail Ziegenkäse aß, dann würde Casey das auch t un. Das frische Basilikum war für Casey ein neuer und angenehmer Geschmack, und es dauerte nicht lange, da hatte sie ihr Stück Fladenbrot
aufgegessen. »Es schmeckt gar nicht so schlecht, wenn man es erst einmal probiert hat. Kann ich noch ein Stück haben?« »Aber sicher, bediene dich. Ich mache noch mehr.« Tess stand auf und brachte Casey eine Cola. »Deine zweite Strophe ist gut«, meinte sie. »Ich werde sie nehmen.« Casey blickte sie benommen an. »Sie machen Witze!« : »Nein, wirklich. Sie gefällt mir. Ich dachte, weil morgen Samstag ist, könntest du vielleicht rüberkommen und weiter mit mir arbeiten, vielleicht schaffen wir es, den Song fertig zu schreiben.« »Wirklich? Ich?« Wirklich. Du. Aber weißt du, was? Wenn der Song veröffentlicht wird, dann mußt du auch die Anerkennung als Texterin bekommen.« »Oh, Mac, meinen Sie das wirklich ernst?« »Aber natürlich. Ich habe meinen Produzenten angerufen und ihm gesagt, er solle einen Platz auf meinem neuen Album für den Song freihalten. Je schneller wir damit fertig sind, desto besser. Und dann finde ich, wenn wir schon zusammen arbeiten, solltest du auch du zu mir sagen.« Casey sah sie einen Augenblick lang verblüfft an, dann verschränkte sie beide Hände hinter dem Kopf und räkelte sich auf ihrem Stuhl, dabei blickte sie mit einem breiten Grinsen zur Decke. »Junge, Junge! Mein Dad wird mir das nicht glauben. Nie mand wird mir das glauben. Ich kann es ja selbst kaum glauben, daß du das für mich tust!« »Du bist diejenige, die das getan hat.« Casey stieß einen lauten Jubelruf aus, und Tess sah ihr voller Vergnügen zu. »Ich muß gleich morgen früh raus, um mein Pferd zu versorgen, aber sofort danach werde ich kommen.« »Großartig. Aber jetzt wollen wir erst einmal essen.« Das Fladenbrot war fertig, und Tess trug es zum Tisch. »Wir feiern jetzt unsere neue Partnerschaft - wir sind jetzt Co-Autoren.« Tess räkelte sich genauso auf ihrem Stuhl wie Casey, beide hatten die Füße auf den gleichen Stuhl gestützt. Während sie aßen, berichtete Tess: »Ich habe heute Faith kennengelernt. Sie ist eine sehr nette Frau.« »Ja. Faith und ich, wir kommen so gut miteinander aus wie Ricky Skaggs und seine Steelgitarre. Hey, bist du eigentlich Ricky Skaggs schon einmal begegnet?« »Aber sicher. Wir haben vor ein paar Jahren zusammen auf einigen Musikveranstaltungen der staatlichen Ausstellungsgesellschaften gespielt.« »Und wie ist es mit Alan Jackson? Bist du dem schon einmal begegnet?« »Aber sicher. Hast du schon einmal von Freer in Texas gehört?« »Nein.« »Dort findet jedes Jahr das große Rattlesnake Round-up statt. Sieht ganz so aus, als wären Alan Jackson und ich dieses Jahr dabei.«
Während sie zusammen das Fladenbrot aßen, fesselte Tess das Mädchen mit Geschichten über Konzerttourneen und Auftritte zusammen mit den großen Berühmtheiten. Sie aßen das ganze Fladenbrot und warfen dann ihre zerknüllten Servietten in die Pfanne. Casey stieß aus Versehen laut auf, und sie mußten beide über ihren entsetzten Gesichtsausdruck lachen. Travis Tritt und Marty Stuart sangen im Radio den Oldie: »The Whis key Ain't Working' Anymore«, und sie sangen laut mit wie ein paar Biertrinker in einer Bar. Und so traf Kenny die beiden an. Kurz nach zehn fuhr er den Wagen in seine Garage und schloß dann das Garagentor. Bis zu seiner Seite der Gasse konnte er die beiden singen hören und erkannte auch sofort Caseys Stimme, die so laut sang, wie sie nur konnte. War sie doch wieder dort drüben? Das Licht brannte in Marys Küche, und er ging durch den Hinterhof zur Hintertür und blieb dann lauschend auf der Treppe stehen. Sie jaulten beide ein Lied, in dem es um einen Honky-Tonk-Engel ging, und jemand schlug dazu mit dem Fuß den Takt auf den Boden, als Kenny die Treppe hinaufging und einen Blick in die Küche warf. Er konnte Caseys Rücken erkennen und auch ein Stück von Tess. Casey trug ihre Jeans und ihre Cowboystiefel, und soweit er sehen konnte, hatte Tess nichts anderes an als ein übergroßes T-Shirt. Beide klopften mit ihren Gläsern auf den Tisch, und Marys Topfpflanze zitterte im Takt der Musik. Der Song endete, und die beiden grölten und applaudierten, als wären sie auf dem Tanzboden. Tess sagte: »Mädchen, du und ich, wir werden wunderbar miteinander auskommen.« Kenny klopfte an die Tür und rief: »Ist das eine private Party, oder kann man mitmachen?« Tess beugte sich vor, um in den kleinen Flur sehen zu können. Casey wirbelte auf ihrem Stuhl herum. »Dad! Was tust du denn hier?« »Ich konnte euch bis drüben hören.« In einem ungewöhnlich glücklichen und überschwenglichen Ton lud Tess ihn ein. »Komm rein, Kenny. Wir essen gerade Ziegenkäse und ölen unsere Stimmbänder.« Er öffnete die Tür und trat in die Küche, an der Tür blieb er stehen und betrachtete die beiden. Tess hatte einen Tomatenfleck auf ihrem T-Shirt, und der Tisch stand voll mit schmutzigem Geschirr. Es sah aus, als wäre Casey schon eine Weile hier. »Von draußen hört sich das wie ein ziemliches Gegröle an. Wer ißt hier Ziegenkäse?«
»Ich!« erklärte Casey stolz. »Und er schmeckt sogar!« »Hier.« Mit dem Fuß angelte Tess einen Stuhl und schob ihn ihm hin. »Setz dich und probier auch ein Stück.« Kenny setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und betrachtete die beiden. Er dachte wieder daran, daß er Casey befohlen hatte, sich von diesem Haus fernzuhalten, und ihm war klar, daß ein konsequenter Vater sie jetzt dafür gescholten hätte, weil sie seinen Befehl mißachtet hatte. Doch nach Schelte stand ihm absolut nicht der Sinn, als er sich jetzt zurücklehnte und sich entschied, den Abend zu genießen. »Stell dir vor, Dad, Mac mag den Song, bei dem ich ihr geholfen habe«, erzählte Casey begeistert. »Sie wird ihn für ihr nächstes Album aufnehmen, und sie hat gesagt, daß sie mich als Co-Autorin aufführen wird! Stimmt das nicht, Mac?« »Jawohl, das stimmt.« »Wirklich?« Sein Blick huschte von seiner Tochter zu Tess. »Das heißt, natürlich nur, falls du nichts dagegen hast.« »Würde mir wohl nicht viel nützen, wenn ich etwas dagegen hätte, nicht wahr?« »Wahrscheinlich nicht.« Tess stand auf und legte das übriggebliebene Stück Fladenbrot in die Mikrowelle, dann holte sie eine Co la aus dem Kühlschrank. Als sie die Cola vor Kenny stellte, blickte er auf. »Danke«, sagte er und folgte ihr dann mit seinen Blicken, als sie zur Mikrowelle ging und das aufgewärmte Brot herausholte. Ihre Beine waren nackt, und unter dem T-Shirt trug sie keinen Büstenhalter. Er konnte deutlich ihre kleinen, aufgerichteten Brüste sehen. Der Tomatenfleck aufihrem T-Shirt machte sie menschlich, und Kenny mußte lächeln. Doch verbarg er dieses Lächeln, indem er schnell die Cola an den Mund hob. Es war schon sehr lange her, seit eine Frau in seiner Nähe so gelassen reagiert hatte, weil sie nur halb angekleidet war. Er wußte nicht einmal, was Faith nachts im Bett trug, weil er noch nie eine Nacht mit ihr zusammen verbracht hatte. Eines allerdings wußte er, er hatte Faith noch nie mit einer Baseballkappe gesehen. Die von Tess war rosa. Wailea stand darauf. Ihr Pferdeschwanz sah ziemlich mitleiderregend aus, Sie hatte ihn durch das Loch hinten an der Kappe gezogen, und er ragte hervor wie ein Bündel borstiges Gras. Endlich einmal hatte sie die baumelnden Ohrringe aus Silber und Türkisen abgelegt, die ihm überhaupt nicht gefielen. Ohne sie sah sie viel besser aus. Überhaupt sah sie heute abend in seinen Augen viel zu gut aus. Der Ziegenkäse war auch nicht schlecht, obwohl das Brot ein wenig zäh war, weil sie es noch einmal aufgewärmt hatte. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl, und allein das genügte, um ihn gehörig abzulenken. Er mußte sich zwingen, seine Aufmerksamkeit auf Casey zu richten, die weitererzählte.
»Mac und ich werden morgen wieder zusammen an dem Song arbeiten, einverstanden, Dad?« »Ich denke schon«, antwortete er ausweichend. »Sollen wir sagen, um die Mittagszeit, Mac?« Tess lächelte über die Begeisterung des Mädchens. »Einverstanden. Dann habe ich noch Zeit, am Morgen meine Mutter zu besuchen.« »Himmel, ich bin ja so aufgeregt! Ist das nicht toll, Dad? Ich kann nicht glauben, daß das alles wirklich passiert!« Ohne Luft zu holen, sprang Casey auf und erklärte: »Ich muß jetzt erst ein mal ins Bad, okay?« Sie wußte, wo es war, und lief davon, ohne auf eine Antwort zu warten. Die beiden blieben in der hellerleuchteten Küche zurück und versuchten, so zu tun, als wären sie nicht aneinander interessiert, indem sie eine unverfängliche Unterhaltung führten. »Danke für alles, was du für sie tust«, sagte Kenny. Tess winkte ab, als hätte es gar nichts zu bedeuten, und sie überraschte ihn, als sie sagte: »Weißt du, ich habe darüber nachgedacht ... ich würde wirklich gern in deinem Kirchenchor mitsingen. Macht es dir auch wirklich nichts aus?« Er verbarg seine Überraschung. »Nein, es macht mir nichts aus.« Er nippte an seiner Cola und sah sie über den Rand der Dose an. Sie war es gewöhnt, beobachtet zu werden. Sie blieb vollkommen ruhig sitzen und begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, trotz der unterschwelligen Spannung zwischen ihnen. »Die Chorprobe ist am Dienstag, richtig?« sagte sie. »Richtig. Um sieben Uhr. Möchtest du gern ein Solo singen?« »Das überlasse ich ganz dir. Ich möchte dir nicht mit deinem Chor die Schau stehlen.« »So gut ist mein Chor gar nicht. Da gibt es keine Schau zu stehlen. Wenn du ein Solo singen möchtest, werde ich ein entsprechendes Lied aussuchen.« »Das sollst du entscheiden.« Im Radio kam eine Werbeunterbrechung, und Kenny betrachtete Tess einen Augenblick schweigend. Dann räusperte er sich, setzte sich gerade hin und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Du hast also heute Faith kennengelernt?« »Ja, sie ist reizend.« »Das gleiche hat sie auch von dir gesagt.« »Wirklich?« »Ja, wirklich.« »Du darfst ihr nicht glauben«, wehrte Tess mit einem Grin sen ab. »Keine Sorge«, antwortete er, und auch er mußte grinsen. Einige Sekunden vergingen schweigend, während derer er sich fragte, ob
diese Herausforderung wohl immer zwis chen ihnen stehen würde, doch im Augenblick genoß er sie. Nichts würde je einfach sein zwischen ihnen - das wußten sie beide -, doch die ständige Spannung würzte ihre Begegnungen und ließ sie auch noch aneinander denken, wenn sie sich wieder getrennt hatten. Sie legte eine Hand auf den Versandhauskatalog und ließ abwesend die Seiten über ihren langen pflaumenblauen Daumennagel schnellen. Zzzt. »Also, seid ihr beiden nun verlobt oder was?« fragte sie. »Nein. Wir sind Freunde.« »Oh, Freunde.« Sie nickte, als würde sie darüber nachdenken. Zzzt. »Wie lange? Seit acht Jahren? Das hat Casey, glaube ich, gesagt.« »Das stimmt.« »Hm.« Zzzt. »Momma hat Faith natürlich in ihren Briefen erwähnt.« »Natürlich.« »Momma liebt sie.« »Und Faith hält sehr viel von deiner Mutter.« »Acht Jahre, das ist eine lange Zeit.« Zzzt. »Für was?« »Für was auch immer.« »Freundschaften sind in Kleinstädten dauerhafter. Das solltest du eigentlich wissen.« »Und was ist mit Caseys Mutter passiert?« Zzt. »Sie ist uns leid geworden und ist nach Paris abgehauen.« »Sie war dich leid - einfach so?« »Das hat sie gesagt.« »Donnerwetter! Was für ein Hammer.« »Ja, ein Hammer.« Zzt. »Und jetzt mißtraust du den Frauen, oder?« »Wieso sagst du das?« »Acht Jahre mit Faith und noch immer kein Ehering!« »Das ist unsere gemeinsame Entscheidung.« »Aha.« Zzt. Kenny deutete auf ihren Daumennagel und auf den Katalog. »Würdest du bitte aufhören damit? Es stört mich.« »Oh... Entschuldigung.« Sie verschränkte locker die Finger miteinander und drückte sie unter ihr Kinn, ihre eleganten Fingernägel, ihr Markenzeichen, bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrer Baseballkappe und dem zerzausten Haar. Es wurde still im Zimmer, während sie mit einem Fingerknöchel leicht die Unterseite ihres Kinns rieb. Schließlich sagte sie: »Das muß ganz schön hart gewesen sein für Casey, daß ihre Mutter so einfach weggelaufen ist.« »Sie hat es überwunden. Meine Mutter lebte damals noch, sie hat uns
geholfen.« »Aber du und Casey, ihr steht einander wirklich nahe, das kann man deutlich merken.« »Das würde ich auch behaupten.« »Und sie ist ganz verrückt nach Faith. Das hat sie mir selbst gesagt.« »Junge, ihr beide habt euch aber über eine Menge Dinge unterhalten. Was hat sie dir denn über mich erzählt?« »Daß du nicht möchtest, daß sie so wird wie ich, wenn sie erwachsen ist.« Er sagte nichts darauf, betrachtete sie nur schweigend und hatte nicht das Bedürfnis, ihre Bemerkung zu bestätigen oder abzustreiten. Das gefiel Tess. »Das ist auch verständlich«, sprach sie weiter. »In einem Leben, wie ich es führe, gibt es nicht viel Zeit für persönliche Beziehungen.« »Was willst du damit sagen? Daß du überhaupt keine hast?« »Fragst du mich etwa, ob ich einen Freund habe?« »Na ja, du hast mich ja auch nach Faith gefragt.« Sie überlegte einen Augenblick, ehe sie sich entschied, was sie ihm antworten würde. »Ja, ich habe einen, wenn du es genau wissen willst.« »Lebt er mit dir zusammen?« »Nein, er lebt sogar ziemlich weit weg. Im Augenblick ist er auf Tournee in Texas, und ich bin hier.« »Und wenn ihr beide in Nashville seid?« »Das war nur viermal der Fall, seit wir uns kennengelernt haben.« Es war nicht ganz klar, warum sie einander Grenzen setzten. Vielleicht wollten beide verleugnen, was wirklich zwischen ihnen geschah. Doch noch ehe sie die Möglichkeit hatten, ihre Motive zu prüfen, kam Casey zurück. »Weißt du, was, Dad?« sagte sie, als sie in die Küche kam. Was auch immer sie hatte sagen wollen, war nicht so wichtig wie ihre körperliche Anwesenheit, die die beiden abrupt in die Wirklichkeit zurückbrachte. Danach unterhielten sie sich über unverfängliche Dinge, und Casey hatte keine Ahnung, worüber die beiden sich unterhalten hatten, als sie nicht im Zimmer gewesen war. Kurz darauf verabschiedeten Kenny und Casey sich, und als sie auf der Hintertreppe standen, nahm Casey Tess impulsiv in den Arm. »Danke, Mac. Du machst für mich alle meine Träume wahr.« »Mir macht es auch Spaß«, wehrte Tess ab, und das stimmte. Einige Menschen, die sich um ihre Freundschaft bemühten, hinterließen keinen Eindruck bei ihr, bei anderen erkannte sie sofort den Wunsch, sie für ihre eigenen Zwecke ausnutzen zu wollen. Casey war da ganz anders. Sie erwartete von ihr keine Hilfe bei ihrer Karriere, und sie bat auch nicht darum. Doch bei ihrem überschwenglichen Wesen, gepaart mit ihrem Talent, machte
es Tess Spaß, ihr zu helfen. Sie war ein Mensch, mit dem Tess lachen und bierseelige Lieder singen konnte, und in Tess' Leben gab es nur sehr wenige solcher Freunde. Sie fühlte sich dem Mädchen näher als je zuvor, als sie ihr gute Nacht wünschte. „Bis morgen.« Als Casey mit ihrem Vater davonging, erkannte Tess im Licht der Lampe auf der Veranda, daß die beiden Händchen hielten. Als sie ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, hörte sie ihre, Stimmen, doch die Worte konnte sie nicht unterscheiden. Sie überlegte, daß nur sehr wenige Teenager ihre Eltern noch bei der Hand hielten. Hätte sie das im Alter von siebzehn Jahren noch getan? Sehr unwahrscheinlich. Doch irgend etwas in ihrem Inneren war erwacht, als sie den beiden nachgesehen hatte. »Siehst du jetzt, wie nett sie ist?« fragte Casey ihren Vater, als sie zusammen nach Hause gingen. »Ich muß zugeben, sie war sehr nett zu dir.« »Sie war auch nett zu dir.« »Es ist ganz einfach nur so, daß ich nicht möchte, daß du von Ruhm und Erfolg träumst und dann hinterher enttäuscht wirst.« »Aber Daddy, hast du mir nicht immer wieder gesagt, daß ich alles tun könnte, was ich mir in den Kopf gesetzt habe?« »Das stimmt, das habe ich gesagt.« »Aber warum hast du dann etwas dagegen, daß ich das mit ihr zusammen mache? Denn du hast etwas dagegen, das spüre ich. Auch wenn du es nicht laut aussprichst.« Er seufzte und antwortete ihr nicht. »Faith hat gesagt, du befürchtest, daß es die Trennung von dir bedeuten könnte, falls ich Erfolg habe und wenn ich mich wirklich entscheiden würde, in das Musikgeschäft einzusteigen.« »Da hat Faith wahrscheinlich recht. Es ist eine sehr beängstigende Art zu leben.« »Ach, Daddy«, schalt sie ihn sanft, als sie ihr Haus erreichten und die Hintertreppe hinaufgingen. Als er dann die Lichter löschte und die Tür abschloß, bedeutete dies das Ende ihrer Diskussion. Auch wenn sie zu keinem Schluß gekommen waren, so fühlte Kenny doch, wie er hilfloser wurde und es ihm nicht gelang, die ständige Verlockung von Ruhm und Reichtum, die Tess McPhail für seine Tochter bedeutete, abzuwehren. Und ihm war ebenfalls nicht geheuer, daß sie auch für ihn zu einer gefährlichen Verlockung wurde. Aber eines war ganz sicher, dieser Verlockung würde er nicht nachgeben, denn wenn er das tat, kam das in Caseys Augen einem Einverständnis gleich, und das wollte er auf jeden Fall vermeiden. Auch an Faith mußte er dabei denken, denn er fühlte sich ihr verpflichtet, ob sie nun miteinander verheiratet waren oder
nicht. Außerdem mußte er auch daran denken, sich selbst zu schützen. Tess würde zu ihrem Leben zurückkehren, sobald Marys Hüfte geheilt war, und er war viel zu klug, um sich noch einmal auf eine Sache einzulassen, die zu nichts führen würde. Es mochte Spaß machen, bei ihr zu sitzen und mit ihr ein Streitgespräch zu führen, so wie sie es heute abend getan hatten, aber wie auch immer er die Sache betrachtete, Tess McPhail war auch heute noch genauso unerreichbar für ihn wie vor neunzehn Jahren, und das wußte er ganz genau. Das Telefon in Marys Küche läutete um halb eins in der Nacht. Tess wachte mit einem Ruck auf und war erstaunt, daß sie bereits eine ganze Stunde geschlafen hatte. Sie knipste die Nachttischlampe an und lief dann schnell nach unten. »Hallo?« :»Tess?« »Burt?« »Endlich habe ich die Möglichkeit, dich anzurufen.« „Wo bist du?« »In Fort Worth. Bei Billy Bob. Die Jungen bauen schon ab, und ich sollte ihnen eigentlich helfen, aber zuerst wollte ich dich anrufen.« »Du klingst sehr müde.« »Ich bin das Herumreisen ganz einfach leid. Du weißt doch, wie es ist. Wie geht es denn bei dir? Was macht deine Mom?« »Es geht ihr ganz gut, denke ich. Sie ist noch im Krankenhaus.« »Wann kommt sie denn nach Hause?« »Übermorgen oder den Tag danach.« »Und wie steht es mit deinen Fähigkeiten als Krankenschwester?« »Schrecklich. Meine Schwestern können das alles viel besser als ich.« Er lachte leise und wartete einen Augenblick, ehe er das sagte, was ihn wirklich beschäftigte. »Ich habe dich heute abend vermißt. « »Ja ?« »Wir haben gesungen: >I Swear<, und bei dem Text mußte ich an unser letztes Zusammensein denken.« Das Lied war eine romantische Ballade über eine Liebe, die ein ganzes Leben lang andauert. » Oh, Burt, das ist süß von dir.« »Ich habe mich gefragt, ob mir auch je so etwas passieren wird.« »Möchtest du das denn?« »Ich weiß nicht. Und du?« »Nein, ich glaube nicht. Es ist viel zu schwierig in unserem Geschäft.« »Ja, das ist es ganz bestimmt.« »Ich habe meiner Mutter von dir erzählt. Ich habe ihr dein Bild auf meinem T-Shirt gezeigt.« »Ach ja? Und was hat sie gesagt?«
»Sie wollte wissen, ob ich dich heiraten werde. Ma klammert sich an jeden Strohhalm.« »Wir könnten deine Mutter in Begeisterung versetzen. Wie wär's? Hättest du Lust?« Tess wußte, daß er Spaß machte. »Oh, sicher. Werde wieder ernst, Burt.« »Ja, ich weiß, was du meinst.« Er seufzte. »Na ja, ich wollte nur deine Stimme hören.« »Und ich weiß, was du meinst. Mir geht es auch oft so. Wo fahrt ihr als nächstes hin?« »Irgendwo in Oklahoma. Ich kann mich an den Namen der Stadt nicht mehr erinnern.« Irgend jemand kam am Telefon vorbei und rief ihm etwas zu. Mit etwas lauterer Stimme sagte er: »Ja, ja, ich komme gleich!« Dann sprach er wieder zu Tess. »Hör mal, ich muß aufhören. Die Jungs machen mir die Hölle heiß. Sollen wir uns treffen, wenn wir das nächste Mal beide in Nashville sind?« »Sicher, gern.« »Dann nehme ich dich mit zu Stockyards auf eines dieser üppigen Cowboy-Steaks.« »Wenn du mir einen frischen Hummer anbietest, bin ich ein verstanden.« Er lachte leise, und Tess schlug ihm vor: »Hey, wann immer dir danach ist, mich anzurufen, dann tu es bitte, ja?« »Werde ich machen. Ich vermisse dich.« »Ich vermisse dich auch, Burt.« »Also, dann tschüs.« »Tschüs.« Nachdem Tess den Hörer aufgelegt hatte, stand sie in der dunklen Küche und starrte abwesend aus dem Fenster. Sie fühlte sich sehr einsam und isoliert von ihrem normalen Leben. Eine hübsche Romanze, die sie und Burt da hatten. Heute abend waren sie siebenhundert Meilen voneinander entfernt, und die Möglichkeit, daß sich ihre Wege in Nashville kreuzten, bestand vielleicht fünf- oder sechsmal im Jahr. Sie tastete im Dunkeln nach einem Glas, dann drehte sie den Wasserhahn auf und füllte das Glas. Während sie trank, betrachtete sie die Umrisse von Kennys Haus. Das schwarze Dach wurde von unten durch eine Straßenlampe irgendwo in einer Ecke erleuchtet, alle Fenster waren dunkel; drüben in dem Haus schliefen alle sicher in der Kleinstadt, deren Leben sie auch einmal geführt hatte. Kenny würde morgen in sein Büro gehen, wahrscheinlich würde er morgen abend zusammen mit Faith zu Abend essen, und danach würden sie vielleicht Karten spielen. Wie auch immer ihre Beziehung war, sie verband eine Freundschaft. Ge nau wie bei Kenny und Casey, und Tess konnte seine Sorge verstehen, seine Tochter an dieses unstete Leben zu verlieren, wo Beziehungen unter Druck gerieten
und ständige Trennung, durch den Erfolg und manchmal auch durch übermäßigen Reichtum. Ach, na ja... Sie seufzte und wandte sich vom Fenster ab, um nach oben zu gehen. Als sie wieder in ihrem Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Sie dachte an Burt und daran, wie er seine Instrumente ein packte, in den Bus stieg und zu schlafen versuchte, während der Busfahrer über den Highway zu irgendeiner Stadt in Oklahoma fuhr. Sie dachte an Kenny in seinem Bett auf der anderen Seite der Gasse. Sie dachte an Burt und sich selbst, an die wenigen Male, wo sie zusammengewesen waren, wo sie versucht hatten, in den wenigen hastigen Stunden eine Art Beziehung aufzubauen, obwohl sie wußten, daß mehr nötig war als nur ab und zu ein paar Tage, um eine wirklich wichtige Beziehung zu schaffen. In der kurzen Zeit, die sie mit Casey und Kenny verbracht hatte, hatte mehr Bedeutung gelegen als in jeder Beziehung, die sie in den letzten Jahren versucht hatte aufzubauen. Wieder dachte sie an Burt - daran, wie sie zusammen mit ihm . im Wohnzimmer auf dem Boden herumgerollt war, weil sie ihn so sehr mochte und weil es schön war, so etwas manchmal mit jemandem zu tun, dem man vertrauen konnte. Sex war etwas, ohne das man normalerweise auskommen mußte, wenn man alleinstehend war und ein Star. Alles andere war entweder gefährlich oder nicht ratsam. Oh, zum Teufel, warum dachte sie überhaupt darüber nach? Burts Anruf war natürlich schuld daran. Aber als sie sich dann auf den Bauch rollte und versuchte, all diese Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, damit sie endlich einschlafen konnte, war es nicht Burt, dessen Bild sich unter ihre geschlossenen Auenlider schob, es war das Bild von Kenny Kronek.
8. Kapitel Tess und Casey schrieben den Song am Samstag nachmittag zu Ende. Sie sangen ihn so oft zusammen, daß jede einzelne Note in perfekter Harmonie zueinander stand. Ihre Stimmen waren völlig unterschiedlich - Tess hatte einen vollen Sopran, Casey einen etwas rauhen Alt, doch die Kombination ergab eine fesselnde Mischung. Als Casey um fünf Uhr nach Hause ging, hatte Tess ein vorläufiges Demo aufgenommen. Sie rief Jack Greaves an. »Der Song ist fertig«, berichtete sie ihm. »Ich werde dir das Demoband am Montag per Expreß schicken, du solltest es also am Dienstag haben. Wenn du es dir anhörst, dann höre bitte ganz genau auf
die Sängerin, die die Be gleitung singt. Sag mir, was du von ihr hältst.« »Okay«, stimmte Jack zu. »Ich gebe dir dann Bescheid.« Nach dem Gespräch mit Jack saß Tess in der Küche und fühlte sich irgendwie entwurzelt. Es war der Samstag abend in einer Kleinstadt, und alle hatten etwas vor. Casey wollte sich mit einigen ihrer Freundinnen treffen. Renee und Jim aßen zu Abend mit ihrer Feinschmecker-Gruppe. Judy... na ja, Tess wollte nicht wirklich mit Judy zusammensein. Also was sollte sie tun? Das Haus putzen, weil Mary morgen nach Hause kam? Es war ein wunderschöner Frühlingsabend, und die Aussicht, das Haus zu putzen, schien ihr ziemlich trübe. Wäre sie an irgendeinem anderen Ort, würde sie jetzt arbeiten. Sie würde in einem Konzert oder in einem Club singen. Sie machte sich ein Sandwich mit Putenfleisch und Rosenkohl und stand gerade an der Spüle und aß es, als sie Kenny und Faith entdeckte, die aus Kennys Haus kamen und zu ihrem Wagen gingen. Also hatten auch die beiden etwas vor. Sie hatten sich fein gemacht, Faith trug ein rosa Kleid, er eine Sportjacke und einen Schlips. Er öffnete die Wagentür für sie, und einen kurzen Augenblick lang erinnerte Tess sich daran, daß ihr Daddy das auch für ihre Momma getan hatte. Kenny und Faith gingen wahrscheinlich zum Essen. Was sollten sie sonst an einem Samstag abend tun? Und warum fühlte sie sich noch einsamer, als sie die beiden zu sammen sah? Als Kenny um den Wagen herumging, fragte sich Tess, ob er wohl zu ihr herübersehen würde, doch das tat er nicht. Er hatte die Wagenschlüssel in der Hand und suchte nach dem richtigen Schlüssel, offensichtlich interessierte ihn Tess McPhail überhaupt nicht. Er stieg in Faith' Wagen, setzte ihn zurück, und die beiden fuhren davon. Was war das für ein schweres Gewicht, das auf Tess' Brust lag? War es Enttäuschung? Nur weil Kenny Kronek nicht nach ihrem Gesicht am Fenster Ausschau gehalten hatte? Sie wandte sich ab und fragte sich, was wohl mit ihr los war. War sie so gefangen in der Tatsache, daß alle sie als ihr Idol betrachteten, daß sie auch ihn erobern mußte? Wieder einmal? Sie versuchte, diesen Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, und machte sich mit Schwung daran, das Haus zu putzen. Sie bezog das Bett ihrer Mutter frisch, warf die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine, wischte Staub, staubsaugte den Boden, putzte das Bad und befolgte dann all die Anweisungen, die die Physiotherapeutin ihr gegeben hatte. Alle Teppichbrücken mußten entfernt werden, keine elektrische Schnur durfte im Weg lie gen, viele Hindernisse, an denen man mit einer Gehhilfe hängenbleiben konnte, mußten beseitigt werden. Sie fand auch die verschiedenen Hilfsmittel, von denen Mary gesprochen hatte und die sie holen sollte: eine Badebank, einen Schwamm mit einem Griff, eine Lehne für den Toilettensitz, einen Schuhanzieher mit einem langen Stiel. Aus dem
Keller holte sie einen dreistöckigen Teewagen, wischte ihn ab und legte all die Dinge darauf, die man gern in Reichweite hatte. Es war schon dunkel, als sie die Lampe auf der Veranda anknipste und in den Garten ging, um einige Tulpen und Schleierkraut zu pflücken. Es fiel ihr schwer, die Blumen hübsch in einer Vase zu arrangieren - Tess McPhail war es gewöhnt, Blumen zu bekommen, nicht, sie zu schenken. Sie warf den schrecklich vergilbten Plastikuntersetzer weg und stellte den Blumenstrauß mitten auf den Tisch auf einen hübschen muschelförmigen Unterteller, den sie oben im Schrank gefunden hatte. Dann ging sie noch einmal durch das Haus, betrachtete ihre Arbeit und stellte schließlich fest, daß sie todmüde war von der ungewohnten körperlichen Arbeit. Etwas sehr Seltenes und Wundervolles geschah in dieser Nacht. Tess schlief auf dem Sofa ein, während sie sich im Fernsehen die Zehn-Uhr-Nachrichten ansah. Als sie wieder aufwachte, war es mitten in der Nacht, draußen zirpten die Grillen. Benommen stolperte sie nach oben in ihr Bett und schlief wie ein Stein bis zur Morgendämmerung. Sie wachte auf und war erstaunt über das, was sie getan hatte. Auf der Uhr war es gerade zehn nach sechs, und sie fühlte sich herrlich. So herrlich, daß sie sofort aus dem Bett sprang, sich die Zähne putzte, das Teewasser aufsetzte und in den Garten ging, um die Pflanzen zu gießen. Dies war eine Tageszeit, die Tess nur sehr selten erlebte. Sie stand auf der Hintertreppe und band den Gürtel ihres kurzen jadefarbenen Kimonos zu, während sie gleichzeitig die Explosion von Farben am östlichen Morgenhimmel bewunderte. Es war ein herrlicher Tagesanbruch! Lebhafte Gelb- und Orangetöne zeigten sich am Himmel, breiteten sich aus bis hin zu den blassen, verwaschenen Farben über ihr. Tess legte den Kopf in den Nacken und suchte nach dem Mond, doch wenn er noch zu sehen war, mußte er auf der anderen Seite des Hauses stehen, denn sie konnte ihn nicht entdecken. Die Vögel lärmten unhöflich laut - gurrende Tauben, Spatzen, Spottdrosseln und Rotkehlchen versuchten einander zu übertreffen. Einige Minuten lang blieb Tess auf der Hintertreppe stehen, sie lauschte und genoß dieses Schauspiel, das sie so selten erlebte. Alles war frisch, die Tautropfen im Gras glänzten, die Bäume standen bewegungslos wie Ölgemälde. Die Sonne stieg hoch genug, um alles vor ihr in einen schwarzen Schatten zu hüllen. Tess mußte blinzeln, als die Sonne über das Dach der Garage stieg und den blühenden Pfirsichbaum in Kennys Garten anstrahlte - ein herrlicher orangefarbener Ball, vor dessen Helligkeit sie die Augen schließen mußte und der sie schließlich dazu zwang, die Treppe zu verlassen. Sie ging zum Wasserhahn, rollte den Gartenschlauch auseinander und zog ihn über das frische, feuchte Gras in den Garten, zwischen die Beete mit
Okra, wo sie den Sprenger anschloß. Dann ging sie zurück, um das Wasser aufzudrehen, und der Schmutz an ihren nackten Füßen blieb im Gras hängen. Der Sprenger sprühte mehr Wasser auf die Wiese als auf das Gemüse, sie mußte ihn also ein Stück zur Seite stellen. Sie lief zwischen den Gemüsebeeten hindurch und versuchte, den Augenblick abzupassen, wenn der Sprenger sich zur anderen Seite bewegte. Sobald er in ihre Richtung sprühte, lief sie wieder davon. Sie stand auf der Wiese und beobachtete den Sprenger, als sie hörte, wie auf der anderen Seite der Gasse eine Tür ins Schloß fiel. Sie wandte sich um und blickte hinüber. Und dort stand Kenny auf seiner Hintertreppe, hielt einen Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand und beobachtete sie. Er trug die gleiche Kleidung wie an dem Tag, als sie ihre Mutter ins Krankenhaus gefahren hatte, eine graue Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Doch heute war er barfuß, und selbst auf diese Entfernung war es offensichtlich, daß er gerade erst aus dem Bett gekommen war. Sie konnte deutlich erkennen, daß sein Haar auf der einen Seite noch flachgedrückt war, und er bewegte sich, als seien seine Gelenke noch nicht bereit, sich zu beeilen. Er trank einen Schluck Kaffee, betrachtete sie mit beunruhigender Eindringlichkeit und gab sich gar nicht erst die Mühe, so zu tun, als sei er wegen etwas anderem aus dem Haus gekommen. Schließlich setzte er den Becher ab und hob grüßend eine Hand. Auch Tess hob die Hand und verspürte dabei ein eigenartiges Gefühl in ihrem Inneren, eine Warnung. Nein, heiliger Kenny, dachte sie. Denk nicht einmal daran. Doch seine Blicke machten ihr überdeutlich bewußt, daß ihre langen Beine nackt waren, daß sie nur einen kurzen Seidenkimono trug und nur sehr wenig darunter anhatte. Sie wandte sich wieder dem Sprenger zu, der noch immer nicht an der richtigen Stelle stand. Sie mu ßte noch einmal zwischen den Beeten hindurchlaufen, ehe er dort stand, wo sie ihn haben wollte. Dabei trippelte sie mit ihren nackten Füßen zwischen den Reihen der Pflanzen entlang, und der Lehm bespritzte ihre Beine, während Kenny ihr zusah. Der Sprenger drehte sich, und das kalte Wasser traf ihren Rücken. Sie schrie leise auf und glaubte, ihn lachen zu hören, war sich aber nicht sicher. Vielleicht hatte sie sich das ja auch nur eingebildet in ihrer Verle genheit, vor ihm in ihrem Nachthemd herumzulaufen, während er mit nackten Füßen auf seiner Hintertreppe stand. Ihre Füße waren voller Lehm. Sie wischte sie im Gras ab und wartete noch zwei Drehungen des Sprengers ab, um sicherzugehen, daß das Wasser auch alle Pflanzen erreichte. Schließlich drehte sie Kenny den Rücken zu und ging über den Gartenweg zum Haus. Dabei hinterließ sie feuchte Fußspuren
auf dem Weg. Sie fühlte, wie er ihr mit seinen Blicken folgte, und als sie die Hintertreppe hinaufgegangen war und die Fliegentür halb geöffnet hatte, wandte sie sich zu ihm um. Sicher - er stand noch genau so da wie zuvor, hielt seinen Kaffeebecher in Brusthöhe mit beiden Händen fest und bemühte sich nicht, sein Interesse zu verbergen. Die Sonne warf einen hellen Schein auf die Stelle zwischen den Bäumen und seinem Haus, das Dach ihres Wagens glänzte und blendete sie. Doch sein Gesicht blieb unbeweglich. Er rührte sich nicht, betrachtete sie ganz einfach nur, und ihr Herz klopfte so laut, wie es seit Jahren nicht mehr geklopft hatte, und sie fragte sich, ob es wohl schon einmal einen Sonntagmorgen gegeben hatte, an dem Faith' Wagen hinter seinem gestanden hatte. Dumme Frau, dachte sie. Das geht dich doch gar nichts an. Doch als sie dann ins Haus ging, klopfte ihr Herz noch immer so laut. Um zwanzig vor zehn ging sie nach oben, um sic h für die Kirche anzuziehen. Aus dem Fenster sah sie Kenny und Casey, die aus dem Haus kamen und zur Garage hinübergingen. Während sie ihnen nachsah, wurde ihr klar, was sie da tat: Sie beobachtete das Kommen und Gehen dieser Menschen wie jeder andere neugierige Nachbar. Sie ging zum Zehn-Uhr-Gottesdienst der Ersten Methodistenkirche und hörte zum ersten Mal Kennys Chor singen. Sie waren recht gut, und sie konnte deutlich Caseys Stimme heraushören, beinahe so, als würde sie allein singen. Die Chorempore war im hinteren Teil der Kirche, und Tess widerstand dem Wunsch, den Kopf zu drehen und hinaufzusehen. Sie entdeckte viele bekannte Gesichter um sich herum, und es gab ihr ein Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Hochwürden Giddings erklärte von der Kanzel herab, daß sie am nächsten Sonntag im Chor mitsingen würde, und mindestens ein Dutzend Köpfe drehten sich zu ihr und lächelten sie an. Als der Schlußchoral begann, trat sie mit all den anderen aus der Bank, und viele Menschen begrüßten sie und ließen sie wissen, wie nett sie es fanden, daß sie wieder zu Hause war. Einige legten ihr die Hand auf den Arm, so wie schüchterne Bekannte es tun. Tess lächelte, dann blickte sie hinauf zur Chorempore und entdeckte Kenny, der seine Jacke ausgezogen hatte und den Chor in Hemdsärmeln dirigierte. Ihre Blicke begegneten denen von Casey, die ihr fröhlich zuwinkte. Draußen vor der Kirche kamen viele Menschen zu ihr, beglückwünschten sie zu ihrer erfolgreichen Karriere und fragten, ob sie eine formelle Autogrammstunde abhalten würde, während sie in der Stadt war. Einige dieser Leute kannte Tess, andere nicht. Viele erkundigten sich nach Mary und wünschten ihr eine baldige Genesung. Judy und Renee waren mit ihren Familien in dem früheren Gottesdienst gewesen, deshalb wartete Tess allein
auf Casey und Kenny. Sie kamen, als die Menschenmenge sich schon fast verlaufen hatte, und auch wenn Tess beide gleichzeitig entdeckte, so folg ten ihre Blicke doch Kenny. Er rückte gerade den Kragen seiner Jacke zurecht, und falls sie sich nicht irrte, suchte er die Menge nach ihr ab. Als sich ihre Blicke trafen, hielten seine Hände plötzlich mitten in der Bewegung inne, und dann strichen sie langsam über den Aufschlag seiner Jacke, als hätte er ganz vergessen, was er hatte tun wollen. Er kam sofort auf sie zu, und Casey folgte einen Schritt hinter ihm. »Nun, wie fandest du es?« »Recht respektabel. Die Musik hat mir sehr gut gefallen. Ich freue mich schon auf die Chorprobe am Dienstag.« »Hi, Mac«, begrüßte Casey sie, und sie umarmten sich. »Hi, meine Süße.« »Ich habe die ganze Nacht an unseren Song gedacht.« »Jack wird mich gleich am Dienstag anrufen, sofort nachdem er ihn sich angehört hat.« »Oh, großartig! Hör mal, einige meiner Freundinnen möchten dich gern kennenlernen. Würde dir das etwas ausmachen?« »Nein, hole sie ruhig her.« Casey holte zwei Mädchen, die auch im Chor sangen. Nachdem Tess sich einige Minuten lang mit ihnen unterhalten hatte, gingen die drei Mädchen, und Tess war allein mit Kenny. »Casey ist so aufgeregt wegen dem Song, den ihr zusammen geschrieben habt.« »Das bin ich auch.« Sie hatte erwartet, daß er ihr sagte, was er davon hielt, wenn sie Casey ermutigte, doch er schwieg. Dennoch schien seine Bemerkung sie verlegen gemacht zu haben, deshalb änderte er schnell das Thema, als wolle er sich die Chance nicht entgehen lassen, sich an diesem herrlichen Sonntagmorgen noch ein wenig länger mit ihr zu unterhalten, mit der Erinnerung an das, was am frühen Morgen geschehen war und woran sie beide dachten. »Also, du wirst Mary heute nach Hause holen.« »Ich habe schon ein paar Kissen auf den Rücksitz ihres Wagens gelegt.« »Nun, ich kann mir vorstellen, daß sie es kaum erwarten kann, nach Hause zu kommen.« »Die Wahrheit ist, ich kann es auch kaum erwarten. Ich habe mich gestern abend ziemlich einsam gefühlt, so allein im Haus.« Keiner von beiden sprach über den frühen Morgen, als er ihr von seiner Hintertreppe aus zugesehen hatte, während sie zwischen den Reihen von Kohl und Gemüse in ihrer Nachtwäsche herumgehüpft war.
»Also...« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Dann fahre ich jetzt besser. Ich kann sie gleich nach Mittag abholen, deshalb bin ich mit ihrem Wagen zur Kirche gekommen.« »Ja, und ich suche jetzt wohl besser nach Casey. Wir haben nämlich einen Schinken im Ofen.« Hinter der Kirche lag der Parkplatz. Als sie sich in diese Richtung wandte, ging er neben ihr her, beide Hände in den Taschen seiner Hose vergraben. Sie schlenderten mit langsamen Schrit-(1 ten um die Kirche herum, an einem blühenden Holzapfelbaum vorbei, und genossen die Sonne auf ihren Köpfen und die einfache Tatsache, an diesem wunderschönen Frühlingstag nebeneinander herzugehen. Er brachte sie zu Marys Ford, ein Stück weiter stand Casey und unterhielt sich mit ihren Freundinnen. »Tschüs, Mac!« rief sie, und sie winkten einander zu. Kenny öffnete die Fahrertür für Tess, genau wie er es gestern abend für Faith getan hatte. Er tat es ohne Eile wie ein Mann, der daran gewöhnt ist, einer Frau gegenüber höflich zu sein. Tess stieg ein und steckte den Schlüssel in die Zündung. Sie blickte zu ihm auf. »Danke.« Der Tag war schon jetzt so heiß, daß die Vögel aufgehört hatten zu singen. Die Hitze sammelte sich in dem geteerten Parkplatz und in den Kunststoffpolstern der Sitze des Wagens, und Tess suchte nach ihrer Sonnenbrille und setzte sie auf. Doch beeilte sie sich nicht sonderlich dabei. Sie ließ den Motor an. Doch beeilte sie sich nicht sonderlich dabei. Sie kurbelte das Fenster der noch offenen Tür herunter. Doch beeilte sie sich nicht sonderlich dabei. Sie blickte zu Kenny hoch, aber ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Zu ihrer Überraschung zögerte sie, ihn zu verlassen.Er benahm sich, als ginge es ihm genauso. Mit beiden Händen stieß er die Tür zu und sagte leise: »Bis dann.« »Ja, bis dann«, antwortete sie und stellte erst nach einem Blick in den Rückspiegel fest, daß die Mädchen sie beobachteten. Auf der Fahrt zum Krankenhaus mu ßte sie immer wieder an Kenny denken, an ihn und Casey und Mary und daran, daß Mary die beiden liebte. Sie dachte daran, wie es war, wieder zu Hause zu sein, und auch an die Lethargie, die sie an diesem Morgen fühlte. Es war viel einfacher, ihm immer wieder zu begegnen, als ihm aus dem Weg zu gehen. Und jedesmal, wenn sie ihm begegnete, verlor sie einige ihrer Vorbehalte ihm gegenüber. Manchmal jedoch war es mehr als eine zufällige Begegnung. Wie zum Beispiel heute morgen, als er mit seiner Kaffeetasse auf der Hintertreppe gestanden hatte. Und sie hatte auf ihn gewartet, bis er nach dem Gottesdienst aus der Kirche kam. Das waren keine zufälligen Begegnungen, sie waren sorgfältig geplant.
Und wozu? In Marys Auto war es so heiß wie in einem Glutofen. Natürlich hatte es keine Klimaanlage, und wieder einmal fragte sich Tess, was ihre Mutter wohl mit all dem Geld machte, das sie ihr schickte. Sie seufzte, wischte mit einem Finger den Schweiß unter der Nase weg und wünschte sich, sie könnte gleich heute abend zurück nach Nashville fahren. Das wäre wahrscheinlich viel besser für alle Beteiligten, überlegte sie, einschließlichKenny Kronek. Als sie im Krankenhaus ankam, war Mary bereits gebadet, hatte sich angezogen und konnte es nicht erwarten, loszufahren. »Hi, Mom.« Tess gab Mary einen Kuß auf die Wange. »Hi, Süße.« »Heute ist es also soweit, wie?« »Endlich. Bist du mit meinem Wagen gekommen?« »Er steht gleich am Eingang.« »Also dann... nichts wie weg hier.« Eine junge Schwester kam mit einem kleinen Rollwagen. »Für die Blumen«, erklärte sie und ließ ihn im Zimmer stehen. Tess begann, die Blumen daraufzustellen, doch Mary unterbrach sie. »Ehe du die Blumen runterträgst, sollst du noch ein paar Autogramme unterschreiben für die Schwestern, die keine Möglichkeit hatten, dich kennenzulernen. Ich habe ihnen gesagt, du würdest das gern tun.« Eigentlich konnte Tess es nicht erwarten, endlich hier herauszukommen. Ein Krankenhaus war ein entsetzlicher Ort an einem so wunderschönen Frühlingsnachmittag, doch dann schrieb sie die Autogramme für die Liste von Namen, die Mary ihr gab. Danach lud sie die Blumen auf. Sie war überrascht, als sie feststellte, daß mehrere Blumensträuße von Kenny und Casey dabei waren, abgesehen von den Blumen, die Faith mit gebracht hatte. Jeden Tag begriff sie mehr, wie sehr deren Leben mit dem Leben ihrer Mutter verbunden war. Mary auf den Rücksitz des Wagens zu setzen war mit Hilfe des Krankenhauspersonals nicht so schwierig. Man wies Mary an, die Hauptarbeit dabei allein zu tun - sie sollte sich auf ihre Hände stützen, das war sicherer, als sich von anderen helfen zu lassen. Als sie es sich in den Kissen bequem gemacht hatte und die Fenster heruntergekurbelt waren, fuhren sie los. Mary war begeistert vom Wetter, von dem herrlichen Tag und davon, endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden zu sein. Dann erzählte sie: »Kenny und Faith haben mich gestern abend besucht.« »Wirklich? Ich habe gesehen, wie sie weggefahren sind, doch ich dachte, sie würden essen gehen.« »Sie sind danach zum Essen gegangen. Weißt du eigentlich, wie oft
Kenny mich besucht hat?« »Wie oft?« »Viermal. Ist das nicht toll? Also, einige meiner Enkelkinder haben mich nicht ein einziges Mal besucht, und dieser Junge war gleich viermal bei mir. Dieser Kenny... ich sage dir... ich weiß nicht, womit ich ihn verdient habe, aber er ist für mich wie ein Sohn. Ich könnte ihn nicht mehr lieben, wenn er mein eigenes Kind wäre, und das ist, bei Gott, die Wahrheit.« An einer Ampel blieben sie stehen. »Momma, kann ich dich etwas fragen?« fragte Tess. Sie versuchte, im Rückspiegel Marys Gesicht zu sehen, doch es gelang ihr nicht. »Was hat er eigentlich für eine Beziehung zu Faith?« »Wie meinst du das?« »Du weißt genau, was ich meine, Momma. Schlafen sie mit einander?« »Tess, um Himmels willen! Was ist das denn für eine Frage?« »Ach, komm schon, Momma. Wir leben im Jahr 1995. Sogar unverheiratete Leute schlafen miteinander.« »Nun, ich würde es nicht wagen, eine solche Frage zu stellen.« »Das brauchst du ja auch nicht. Du brauchst nur festzustellen, ob ihr Wagen manchmal auch noch am Morgen vor seiner Garage steht.« »Auf solche Dinge achte ich nicht.« »Casey sagt, sie schlafen miteinander.« »Nun, Casey sollte besser den Mund halten! Ich kann einfach nicht glauben, daß sie so etwas tun sollten, wenn Casey in der Nähe ist. Und warum willst du das überhaupt wissen?« »Ich bin einfach nur neugierig, das ist alles.« Mary wechselte schnell das Thema. »Sieh mal, ist das nicht ein rosa Hartriegelbaum, der da drüben blüht?« Tess verstand, daß ihre Mutter nicht wollte, daß über ihren kostbaren Nachbarn etwas gesagt wurde, was nicht gerade ein Kompliment war. Als sie zu Hause ankamen, wartete eine Überraschung auf sie. Renee und Jim kamen aus dem Haus, winkten ihnen zu und lächelten. Es war das erste Mal, daß Tess Jim sah, seit sie wie der zu Hause war, und er nahm sie in den Arm, drückte sie und begrüßte sie freundlich. »Ist das nicht unsere gute alte Tess-ti-kel. Hi, meine Süße.« Sie lachten beide. Er hatte das netteste Lächeln, das Tess je gesehen hatte, und er hatte Lachfältchen um die Augen und nicht mehr viele Haare. Sie mochte ihn heute noch genauso, wie sie ihn schon immer gemocht hatte. »Jim, du großer, kahlköpfiger Kerl. Wann wirst du endlich aufhören, mich so zu nennen?« »Niemals. Eines Tages werde ich es dem National Enquirer verraten, und sie werden es als Schlagzeile verwenden.« Er trat einen Schritt zurück und
blickte sie prüfend an. »Himmel, du siehst gut aus, Kind.« Er legte die Hände auf die Knie und blickte durch die offene Tür in den Wagen. »Hi, Ma, wie geht es dir? Brauchst du vielleicht Hilfe, um die Hintertreppe raufzugehen?« »Jimmy, Jimmy, Jimmy«, schalt Mary. »Wirst du wohl aufhören, Tess bei diesem schrecklichen Namen zu nennen?« Tess holte die Gehhilfe aus dem Kofferraum, und sie standen alle recht hilflos daneben, als Mary aus dem Wagen stieg, sich am Wagendach festhielt und sich dann ganz langsam vorwärts bewegte. Der Weg zum Haus schien endlos zu sein, wenn man bedachte, wie langsam Mary mit ihrer Gehhilfe vorankam. Jede Bewegungen waren vorsichtig und behutsam. Ihre Familie blieb an ihrer Seite, bis sie schließlich an der Hintertreppe angekommen waren - drei sehr hohe Stufen, die vor Jahren angelegt worden waren. In diesem Augenblick kam Kenny über den Weg zwischen den beiden Häusern gelaufen. »Hey, wartet auf mich!« rief er. Sie begrüßten einander, und Kenny wandte sich an Jim. »Ge nau wie beim letzten Mal?« »Genau wie beim letzten Mal, okay, Mary? Wir wissen noch, wie es geht.« Die beiden Männer legten Marys Arme um ihre Schultern und hoben sie hoch und trugen sie über die Stufen ins Haus. Sie ließ sich den antiken Sessel aus dem Wohnzimmer holen, den mit dem hohen Sitz. Als ihre Töchter fragten, ob sie sich nicht lieber ins Bett legen und sich für eine Weile ausruhen wollte, widersprach sie. »Ich war lange genug von zu Hause weg, und ich glaube, ich rieche Kaffee aus der Küche. Niemand steckt mich ins Bett, wenn meine Kinder zu Besuch sind!« Vorsichtig setzte sie sich in den Lehnsessel und bereitete sich darauf vor, hofzuhalten. Renee hatte tats ächlich Kaffee gekocht, und sie berichtete, daß auch Judy und Ed unterwegs zu ihrer Mutter wa ren. Judy brachte einen Schokoladenkuchen mit, und alle blieben und probierten davon. Eds Begrüßung von Tess war weniger fröhlich. Er war ein ruhiger Mann, der Haushaltsgeräte repariert und meistens Befehle von seiner Frau entgegennahm. Dafür re vanchierte er sich, indem er geizig auf jeden Penny achtete und von ihr Rechenschaft über jeden einzelnen Dollar forderte, den sie ausgab, obwohl sie ihr eigenes Geschäft besaß und damit ihr eigenes Geld verdiente. Die Familie beschrieb Ed immer, indem sie die Geschichte erzählte, wie Ed sich nach langem Hin und Her schließlich einverstanden erklärt hatte, mit seiner Frau nach Hawaii zu reisen, und wie er sich dann geweigert hatte, das Geld für einen Mietwagen auszugeben, um die Insel wirklich kennenzulernen. Danach hatte er erklärt, daß er Maui nicht besonders mochte, denn wenn man nicht gerade ein begeisterter Schwimmer
war, gäbe es dort nicht viel zu sehen. Ed begrüßte Tess mit einer flüchtigen Umarmung. »Wie geht es dir?« fragte er, dann setzte er sich und erzählte Kenny ausführlich, wieviel Pfund Kupferabfall er bei seiner Arbeit hatte ergattern können und wieviel der wert war. Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis die drei Kinder von Judy und Ed kamen, und um etwa drei Uhr erschienen auch Rachel und ihr zukünftiger Ehemann Brent Hill, zusammen mit Renee und Jims anderem Sohn Packer. Packer hatte seinen Spitznamen im Alter von drei Jahren bekommen, als er so wütend auf seine Mutter gewesen war, daß er erklärt hatte, er wolle zu Hause ausziehen. Renee hatte ihn damals liebevoll gefragt: »Okay, mein Süßer, soll ich dir beim Packen helfen?« Sie hatte ihm geholfen, eine Tasche zu packen, die er auf sein rotes Rutschauto geladen hatte. Dann hatte sie ihm nachgesehen, wie er damit die Einfahrt hinuntergefahren war und sich dann an der Straße mit großen Krokodilstränen in den Augen zu ihr umgedreht hatte. Seit dieser Zeit hatte ihn die Familie Packer genannt. Zwischen Kaffee und Kuchen wurde die Geschichte noch einmal erzählt, und alle lachten darüber und noch über einige andere alte Geschichten. Die Cousins erzählten von ihrem Leben, und die Erwachsenen auch. Es war die typisch amerikanische Kleinstadt an einem Sonntag nachmittag, und es war das typische Familientreffen im Haus der Großmutter, und Tess sah, wie sehr ihre Mutter das genoß. Und als dann jemand meinte, daß die Familie ihr Haus gestürmt hätte und fragte, ob es ihr nicht zuviel wäre und sie vielleicht besser alle gehen sollten, protestierte sie: »Wagt es nicht!« Also blieben alle, auch Kenny. Die Küche war überfüllt. Nicht alle paßten um den Tisch. Kenny stand mit dem Rücken gegen die Spüle gelehnt, und Tess stützte sich mit einem Arm an dem Durchgang ab. Hin und wie der trafen sich ihre Blicke über den Köpfen der anderen, doch sie achteten darauf, daß es niemand bemerkte, indem sie einander nie zu lange ansahen. Die Unterhaltung wurde angeregter. Mittlerweile war die vierte Kanne Kaffee aufgegossen worden. Das Telefon läutete, und da Kenny am nächsten stand, nahm er den Hörer ab, ohne lange um Erlaubnis zu fragen. »Mary«, sagte er. »Es ist Enid Copley. Möchtest du mit ihr reden?« »Ich glaube nicht, daß ich es bis dort drüben schaffe«, sagte Mary, die auf der anderen Seite des Tisches saß. »Was will sie denn?« Er fragte Enid. »Sie will nur wissen, ob du gut zu Hause angekommen bist und wie es dir geht.« »Sag ihr, es geht mir gut, und ich werde sie morgen anrufen. Sag ihr, daß alle Kinder hier sind.« Als Kenny den Hörer wieder aufgelegt hatte, goß er sich noch eine Tasse Kaffee ein und stellte sich wieder an seinen alten Platz. Während er sich ein
wenig zurücklehnte, trafen sich seine Blicke mit denen von Tess, und diesmal hielten sie einander gefangen. Sie hatte ihm zugesehen, wie er telefoniert und sich dann Kaffee eingegossen hatte, genau wie alle anderen es getan hatten. Und erst jetzt wurde ihr mit aller Macht bewußt, daß er einen Platz in ihrer Familie hatte - nicht nur einen Platz inMarys Leben, sondern in der gesamten Familie. Er verhielt sich wie jemand, dessen Anwesenheit selbstverständlich war. Er kannte sie alle, kannte sie schon seit Jahren. Er mochte sie, und alle mochten ihn. »Sag ihr, daß die Kinder hier sind«, hatte Mary gesagt, und es war wirklich so, als wäre auch er eines davon. Ein wenig später stellte er seine Tasse ab und bahnte sich seinen Weg zwischen den Stühlen hindurch zur Toilette. Tess »lehnte noch immer am Durchgang und versperrte ihm so den Weg. »'tschuldigung«, sagte er und schob sich an ihr vorbei. Sie trat zur Seite, um ihn durchzulassen. Als er eine Minute später zurückkam, blieb er hinter ihr stehen, und Tess hatte das unbestimmte Gefühl, daß er nur zur Toilette gegangen war, um so unauffällig wie möglich in ihre Nähe zu gelangen. Sie blickte über ihre Schulter hinweg zu ihm. »Wo ist denn Casey heute nachmittag?« fragte sie - die ersten Worte, die sie direkt an ihn gerichtet hatte, seit er ins Haus gekommen war. »Sie reitet auf ihrem Pferd.« Weil alle anderen in der Küche sich miteinander unterhielten, blieb ihre Unterhaltung unbemerkt. »Pferde und Musik«, meinte Tess. »Das sind ihre beiden Vorlieben.« »Das stimmt.« Er erzählte ihr von seiner Unterhaltung mit Casey, als sie ihn gefragt hatte, ob sie ihr Pferd nach dem Schulabschluß behalten konnte. »Reitest du auch noch?« fragte er. »Ich habe keine Zeit mehr dazu. Vie le Leute in der Gegend von Nashville haben eigene Pferde, aber ich nicht. Ich lebe in der Stadt.« »Vielleicht möchtest du einmal mit Casey ausreiten, während du hier bist.« »Ich dachte, sie hätte nur ihr eigenes Pferd.« »Das stimmt, aber das Pferd steht b ei Dexter Hickey, und Dexter hat noch genug andere Pferde im Stall, und die müssen ständig bewegt werden. Wir können dort reiten, wann immer wir wollen.« »Das klingt sehr verlockend. Vielleicht, wenn Momma etwas sicherer auf den Beinen steht. Da wir gerade von Momma spre chen ...« Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich zu ihm um. »Ich habe gehört, du hast sie gestern abend noch einmal besucht.« »Na ja...« Er blickte vor sich. »Das Krankenhaus lag auf unserem Weg.« Tess war schon zuvor aufgefallen, daß er alles, was er für Mary tat,
herunterspielte. »Trotzdem.« Sie hielt einen Augenblick inne, dann sprach sie weiter. »Ich denke, ich habe mich noch gar nicht bei dir für all das bedankt, was du für sie getan hast.« »Das ist auch gar nicht nötig. Mary ist ein tolles Mädchen.« Er lächelte Mary an, doch die widmete sich im Augenblick ihrer Familie. »Faith ist auch sehr nett zu ihr.« »Ja... na ja... Faith ist eine gute Frau.« Natürlich war Faith eine gute Frau. Er wäre nicht mit ihr zu sammen, wenn sie das nicht wäre, soviel wußte Tess bereits. »Und wo ist Faith heute?« fragte sie. »Zu Hause. Die Sonntage haben wir für uns.« Also brauchte Tess kein schlechtes Gewissen zu haben. Der Sonntag war der Tag, an dem Kenny tun konnte, was er wollte. Das war seine Übereinkunft mit Faith. Tess dachte noch immer darüber nach, als sich die Hintertür öffnete und Casey hereinkam, noch immer in ihrer Reitkleidung. »Hey, ihr alle!« begrüßte sie alle. »Habe ich etwas verpaßt? Mary, du bist zu Hause! Oh, Kuchen! Lecker, lecker! Judy, hast du den Kuchen gebacken?« »Puh, Mädchen, du stinkst!« rief Renee. »Zieh dir diese Stie fel aus!« Casey paßte sich genausogut der Gesellschaft an wie Kenny. Sie stellte ihre Stiefel auf die Hintertreppe, nahm sich ein Stück Kuchen und stand dann auf Strümpfen herum und unterhielt sich mit den Cousins. Als sie sich das letzte Stückchen Kuchen in den Mund gestopft hatte, fragte sie: »Hey, Mac, können wir ihnen nicht unser Lied vorsingen?« »Was für ein Lied?« fragte jemand, und ein paar Augenblicke später waren alle im Wohnzimmer. Mary lag auf dem Sofa, mit einem Kissen unter ihren Knien, die anderen saßen auf Stühlen und auf dem Boden. Die einzige, die nicht ins Wohnzimmer gekommen war, war Judy, sie stand hinter Kenny auf dem Flur, damit es nicht auffiel, wenn sie nicht applaudierte. Tess und Casey setzten sich an das Klavier. Und während sie sangen, lauschten alle aufmerksam, und als sie ihren Song beendet hatten, klatschten alle, bis auf Judy. Sie war leise in die Küche gegangen und wusch die Tassen und die Teller ab. Kenny lehnte mit der Schulter an dem Durchgang, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, doch mit einem Finger strich er sich nachdenklich über seine Unterlippe, und der Ausdruck in seinen Augen, als er Casey zuhörte, war eine Mischung aus Begeisterung und Kummer. Zweifellos hörte er, daß seine Tochter Talent hatte. Doch dieses Talent würde sie schließlich auf einen Weg führen, mit dem er nicht einverstanden war. Sie würde eine eifrige Anhängerin ihres Idols werden, von dem auch er mehr und mehr fasziniert war. Als der Song beendet war, interessierte sich Tess
zunächst einmal für seine Meinung und sah zu ihm hin. Und als sie dann seine gerunzelte Stirn entdeckte, wußte sie, daß es eine Zeit geben würde, wo all seine unterschwelligen Gefühle hervorbrechen und er sie für die Rolle verantwortlich machen würde, die sie in Caseys Zukunft spielen würde. Doch das war noch nicht alles, denn sie spielten Katz und Maus mit dieser Anziehungskraft, die sie nicht verleugnen konnten, die sie aber nicht wollten. Und auch dieWorte des Songs kamen dazu - immerhin erzählten sie von einer Frau, die ihre Wertvorstellungen überdachte und auch die der Menschen, die sie liebte. Alle redeten auf einmal, und Lob und Überraschung mischten sich in den Worten der Zuhörer. »Donnerwetter, das ist gut!« wandte sich Packer an Casey. »Wirst du es mit ihr zusammen singen?« »Das habe ich bereits auf einem Demoband getan.« »Nein, ich meine wirklich.« »Nein, dafür hat Tess ihre Studiomusiker.« Kenny verließ den Durchgang und ging zu seiner Tochter hinüber. Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ist das der Song, an dem du gearbeitet hast, als du so wütend warst auf mich? Als nächstes werde ich dich wohl im Radio singen hören.« Er drückte sie an sich. Aber mit Tess wollte er erst sprechen, wenn sie allein waren. »Es ist sehr gut«, war alles, was er leise zu ihr sagte. Das war zwar kein überschwengliches Lob, doch wenigstens linderte es den Stich, den Tess verspürt hatte, als sie Judys offensichtliche Eifersucht bemerkt hatte. Als schließlich alle gingen, waren Teller und Tassen sauber gespült und standen bereits wieder im Schrank. Der Tisch war sauber, und Judy hatte den übriggebliebenen Kuchen wieder mitgenommen, als sie gegangen war.
9. Kapitel Nachdem alle gegangen waren, legte sich Mary in ihr Bett, um sich auszuruhen. Tess beschäftigte sich mit ihrer Fanpost und beantwortete Bitten um signierte Kopien ihrer CDs. In jeder Woche baten sie mindestens ein Dutzend Organisatoren von Wohltätigkeitsveranstaltungen um einen Beitrag für einen guten Zweck - Stadtbüchereien, Frauenhäuser, Schulen und Forschungszentren für alle Krankheiten, die es auf der Welt gab. Die meisten von ihnen veranstalteten jedes Jahr eine Auktion, und Tess schickte eine handsignierte CD an alle, die sie darum baten. Kelly hatte ihr die Fanpost der letzten Woche geschickt, zusammen mit einem Stapel CDs, die sie signieren sollte, und dazu einen Brief an die Vertreter aller Gruppen. Als Tess damit fertig war, packte sie alles in ein Expreßpaket und schickte es zurück an Kelly, die die Post dann weiterleiten würde.
Tess nahm sich auch die Zeit, einige der Fanbriefe persönlich zu beantworten. Auch wenn es in allen größeren Städten Fanclubs gab und in ihrem Büro in Nashville jemand saß, der nichts anderes tat, als die Aktivitäten dieser Fanclubs zu koordinieren, so gab es doch einige Fans, die ihr Geschenke schickten, die eine persönliche Antwort nötig machten. Andere baten um einen aufmunternden Brief für einen Angehörigen, der krebskrank war, oder für ein Unfallopfer, und dann gab es Menschen, die ihre tragische Lebensgeschichte in herzzerreißenden Einzelheiten berichteten und Tess um etwas ganz Besonderes baten, mit dem Zusatz: »Sie ist ein ganz großer Fan von Ihnen, und ein Brief von Ihnen würde ihr alles bedeuten.« solche Bitten konnte man nicht ablehnen, doch die Menge dieser Briefe war manchmal so überwältigend, daß es Tess erschöpfte. Sie wußte, daß sie mehr Glück hatte als die meisten anderen Menschen. Sie war reich und gesund, und sie konnte sich glücklicher schätzen als die meisten Menschen. Doch die Bitten nahmen kein Ende. Und die Menschen schienen auch nicht zu begreifen, daß sie einen frankierten Rückumschlag beilegen mußten, wenn sie eine Antwort haben wollten. Einige schienen nicht einmal zu verstehen, daß es lächerlich war, zu erwarten, daß ihre Wünsche erfüllt wurden, die manchmal sehr eigenartig sein konnten. Mit der heutigen Fanpost war ein Brief gekommen von einer Frau, die offen erklärte, daß sie es sich nicht leisten konnte, eine CD zu kaufen, und die darum bat, daß Tess ihr wenigstens zwei ihrer CDs schicken sollte. Eine andere Frau lud sie nach Coral Gables in Florida ein, um dort in einem Altenheim zu singen, denn all die Damen dort liebten Tess' Musik und würden sie schrecklich gern kennenlernen. Zwölf Briefschreiber wollten von ihr wissen, wie sie ihre Karriere begonnen hatte, zwei baten sie um den Namen ihres Agenten, einige wollten wissen, wo sie Tess' alte Platten kaufen konnten. (Hatten sie nie etwas davon gehört, daß man in jedem Plattenladen danach fragen konnte?) Eine Schreiberin schalt sie für den Text ihrer neuen Single »Cat-tin«, weil es darauf um lockeren Sex ging, der unmoralisch war. Eine Englischlehrerin aus Bloomer in Wisconsin rügte sie wegen all der doppelten Verneinungen in Country-Songs im allgemeinen. Es gab natürlich auch freundliche Worte in der Fanpost, doch die negativen Briefe blieben länger im Gedächtnis. Gerade hatte Tess sich über die Rüge der Lehrerin geärgert, als Mary aufwachte und sich beklagte: »Warum hast du mich nicht geweckt? Jetzt habe ich den Anfang der Sechzig-Minuten-Sendung verpaßt. Ich sehe mir immer die Sechzig Minuten an.« »Warum hast du mir das nicht gesagt, Momma? Woher sollte ich das denn wissen?« Vielleicht wäre Tess geduldiger mit ihr gewesen, hätte sie sich nicht
genau in diesem Augenblick beklagt. Als Mary schließlich auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat saß, sagte sie: »Und um sechs Uhr ist es auch Zeit für das Abendessen. Was kochst du denn?« »Hühnerbrust mit Reis.« ' »Nicht mit Kartoffeln?« »Nein, mit Reis, das habe ich doch gesagt.« »Aber ich mache immer Kartoffeln mit Geflügel.« »Die Hühnerbrust ist etwas anderes. Ich habe sie mariniert, und jetzt werde ich sie schmoren.« »Dann wird sie aber ganz trocken.« »Nicht, wenn man sie nicht zu lange schmort.« »Schmoren macht eine Hühnerbrust immer trocken. Ich mag sie lieber, wenn sie gebraten ist.« »Mutter, eine marinierte Hühnerbrust kann man nicht braten, entweder man schmort sie oder man grillt sie.« »Nun, ich habe keinen Grill, und außerdem mag ich den Geschmack nach Holzkohle nicht.« Tess seufzte. Auch wenn die Hausarbeit nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung war, so tat sie doch ihr Bestes . »Soll ich dir ein Stück Huhn kaufen, das ich dir dann braten kann?« »Es ist Sonntag abend, die Geschäfte sind zu.« »Dann könnte ich dir etwas in der Mikrowelle auftauen.« »Himmel, nein, ich will dir doch nicht die ganze Mühe machen.« »Aber du hast doch gerade gesagt...« »Nein, ich denke, ich werde es so essen müssen, wie du es kochst.« Doch als Mary dann am Tisch saß und ihr Abendessen aß, verzog sie angewidert das Gesicht. Während des Essens versuchte Tess, Judys Eifersucht anzusprechen, doch ihre Mutter wehrte ab. »Sei doch nicht dumm. Judy ist nicht eifersüchtig. Sie war in der Küche und hat gespült, während wir anderen unseren Spaß gehabt haben.« So war es jetzt immer beim Essen, Mary war nie einverstanden mit dem, was Tess auf den Tisch brachte, und wenn sie versuchten, sich miteinander zu unterhalten, waren sie immer gegensätzlicher Meinung. Der vergilbte Plastikuntersetzer stand plötzlich wieder auf dem Tisch und blieb auch dort. Tess konnte nicht glauben, daß ihre Mutter ihn aus der Mülltonne herausgefischt hatte, doch er stand wieder an seinem alten Platz, verbeult und vergilbt wie zuvor. Tess liebte ihre Mutter, sie liebte sie wirklich, doch sie begriff langsam,
daß Mary mit zunehmendem Alter in vielen Dingen streitsüchtig und kleinlich wurde. Sie wollte, daß alles auf ihre Art getan wurde. Vielleicht schmerzte ihre Hüfte, vielleicht vermißte sie auch ihre Unabhängigkeit, vielleicht war Tess ja auch nicht die beste Köchin der Welt, aber, verdammt, sie versuchte es wenigstens. Seit dem Montag schafften sie eine gewisse Routine. Jeden Tag half Tess ihrer Mutter bei der Physiotherapie. Jeden Tag goß sie die Pflanzen im Garten, sie holte und brachte, wusch die Wäsche, putzte das Haus, erledigte Aufträge für Mary. Nichts davon tat sie gern, und vieles, was sie tat, tat sie in Marys Augen nicht richtig. Jeden Tag schickte Kelly Mendoza ein Expreßpaket mit Dingen, um die Tess sich kümmern mußte, ob es nun Unterschriften waren, Entscheidungen, die zu treffen waren, Telefongespräche, die erledigt werden mußten, oder nur Unterlagen, die Tess durchlesen sollte. Es wurde schwierig, bei all dem noch Zeit zu finden, sich an das Klavier zu setzen, denn am Vormittag war Tess beschäftigt, und am Nachmittag sah Mary sich die Seifenopern im Fernsehen an. Und auch am Abend wollte Mary fern sehen, und wenn sie dann schließlich im Bett lag, wollte Tess das Klavier nicht benutzen, um Mary nicht aufzuwecken. Am Dienstag rief Jack Greaves an. »Der neue Song wird ein Hit, genau wie die Begleitstimme. Ist das etwa das Schulmädchen?« »Ja. Ihr Name ist Casey Kronek. Ich habe mir gedacht, daß dir ihre Stimme gefällt.« »Also, was hast du vor, Tess?« »Ich werde es dich wissen lassen.« Am Dienstag abend begann um halb acht die Chorprobe. Eine halbe Stunde vorher nahm Tess ein Bad, wusch sich das Haar, sprühte Jean-Louis -Scherrer-Toilettenwasser auf ihren Nacken und in die Kniekehlen, zog einen Jeansrock an und eine weiße Bluse und steckte ein paar silberne Ohrringe in die Ohren. Tricia sollte in der Zwischenzeit bei ihrer Oma bleiben, und sie kam, als Tess gerade letzte Hand an ihr Make-up legte. Sie lehnte an der Tür des Badezimmers. »Donnerwetter, Tante Tess«, staunte sie, »du siehst großartig aus.« »Danke.« »Du riechst auch gut.« »Das ist ein neues Parfüm, das ich im letzten Monat entdeckt habe.« Tricia sah ihr zu, wie sie die Umrisse ihrer Lippen mit einem Stift nachzog und sie dann mit einer kleinen Bürste ausfüllte. »Für eine Chorprobe gibst du dir aber viel Mühe.« Tess sah sich das Ergebnis im Spiegel an. Ihr Make-up war perfekt, ihre Lippen frisch. »Es geht darum, ein Image aufrechtzuerhalten. Die Leute erwarten von mir, daß ich so aussehe, wenn ich mich in der Öffentlichkeit zeige.« Doch darum ging es überhaupt nicht. Es ging darum, Kenny Kronek zu beeindrucken, obwohl Tess das vor sich selbst nicht zugeben wollte.
Fünfzehn Minuten vor der Zeit verließ sie das Haus, und sie hatte gerade die Hälfte des Weges zu ihrem Wagen zurückgelegt, als Kenny aus seinem Haus kam und in die gleiche Richtung ging. Als sie einander sahen, spürten sie eine Gemeinsamkeit, die ihre Schritte beschwingter machte. Ihre Blicke hielten ein ander gefangen, als sie auf ihre Wagen zugingen. »Hi«, begrüßte sie ihn fröhlich, als sie bei ihrem angekommen war. »Hi«, antwortete er. Sie war blendender Laune und verspürte den Wunsch nach einem kleinen Flirt. »Ich gehe zur Chorprobe, und wohin gehst du?« forderte sie ihn heraus. Er ging auf ihre Herausforderung ein und blickte prüfend zum Himmel. »Vollmond. Ich dachte, ich gehe los und beiße ein paar Leute in den Nacken.« »Bist du allein?« »Jawohl, Ma'am«, antwortete er gedehnt und öffnete die Tür seines Wagens. »Wo ist Casey?« »Sie ist schon weg. Sie holt noch Brenda und Amy ab.« Das waren die beiden Mädchen, die sie Tess am Sonntag vorgestellt hatte. »Es ist doch eine Schande, mit zwei Wagen zu fahren, wo wir den gleichen Weg haben. Möchtest du mit mir fahren?« Er schlug die Tür seines Wagens wieder zu und kam zu ihr hinüber. »Und ob.« »Und du wirst mich nicht in den Nacken beißen?« »Das werde ich vielleicht müssen, um deinen Wagen stehlen zu können.« »Steig ein.« Im Wagen legten beide ihre Sicherheitsgurte an und schmiegten sich in die Sitze wie Bobfahrer. Tess startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. »Junge, das ist toll, und diesmal ist es mir sogar ernst.« »Willst du damit sagen, das war es beim letzten Mal nicht?« »An dem Tag waren wir beide ziemlich hochnäsig, nicht wahr? Der Wagen ist wirklich unglaublich, Tess.« »Danke.« Während sie langsam die Gasse entlangfuhr, öffnete Kenny das Fenster und legte den Kopf ein wenig schief, um dem Motor zu lauschen. »Hör dir das an. Es brummt wie ein Löwe.« Er fuhr mit der Hand über den Sitz. »Echtes Leder.« »Unbedingt.« »Wie schnell ist er?« »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch nie ausgefahren.« Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Ich hätte nicht gedacht, daß du ein Geschwindigkeitsfanatiker bist.«
»Das bin ich auch eigentlich nicht, aber manchmal verspürt man den Wunsch, ganz besonders bei Vollmond.« Er warf ihr einen Blick zu. »Dieser verdammte Mond bringt dich dazu, alle möglichen Dinge zu tun, die man besser nicht tun sollte.« Heute abend schien er ein völlig anderer Mann zu sein, als hätte auch er diesem Treffen voller Erwartung entgegenges ehen. Das Wortgeplänkel mit ihm fiel ihr leichter als je zuvor. »Hey, Kenny, weißt du, was?« »Was denn?« »Heute ist gar kein Vollmond.« »Kein Vollmond?« »Nein, es ist gar kein Mond zu sehen. Er ist noch gar nicht aufgegangen. Und falls ich mich nicht irre, wird er, wenn er aufgeht, nur halb zu sehen sein.« »Wirklich? Dann ist es wohl etwas anderes, was mich heute abend umtreibt.« Sie warf ihm noch einen etwas längeren Blick zu. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, als interessiere sie ihn nicht sonderlich, so entspannt saß er neben ihr. Seine ganze Haltung drückte den Wunsch zum Flirt und zur Neckerei aus. Und auch seine Kleidung überraschte Tess. Zu einer korrekt gebügelten Khakihose trug er ein kurzärmeliges Hemd in wilden, bunten Sommerfarben, mit einem Muster aus Sonnenbrillen, Fischen und Seegras. Sehr modern und ganz und gar nicht das, was sie von ihm erwartet hatte. Er war frisch rasiert, und er duftete gut. Das hatte sie gleich bemerkt, als er in ihren Wagen gestiegen war. Und als er dann das Fenster geöffnet hatte, hatte sich dieser Duft im ganzen Wagen ausgebreitet. »Ein ziemlich wildes Hemd hast du an«, sagte sie und schaute wieder auf die Straße. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte er selbstgefällig. Sie bewegte das Lenkrad mit einem Ruck, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er rutschte nach rechts, stieß gegen die Tür und grinste. »Angeberin«, sagte er. »Aber das war ich doch schon immer, nicht wahr?« Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Was ist denn heute abend mit den riesigen Ohrringen geschehen?« „Diese hier passen besser.« »Ein großer Fortschritt.« »Vielen Dank«, antwortete sie sarkastisch. »Hey, weißt du, was? Ich habe gelesen, du hättest Sinn für Humor.« »Oh, du liest also über mich, wie?« »Manchmal.« »Das überrascht mich.« »Warum sollte ich nicht? Immerhin bist du eine alte Schulkameradin. Ein Mädchen aus meiner Heimatstadt. Marys Tochter.« »Der Fluch deiner Jugendjahre.«
»Auch das.« Sie waren vor der Kirche angekommen, einem roten Ziegelgebäude mit einem weißen Glockenturm und traditionellen Spitzbogenfenstern. Tess parkte den Wagen am Straßenrand, und zusammen gingen sie die Treppe vor der Kirche hinauf. Als Kenny die schwere Kirchentür öffnete, wurde es draußen langsam dunkel, und Tess trat in die dämmrige Eingangshalle. An der rechten Seite führte eine Treppe zur Chorempore hinauf. Ohne auf Kenny zu warten, ging Tess die Treppe hinauf, blieb oben stehen und blickte hinunter in das Kirchenschiff, während Kenny unten das Licht anknipste. Das Geräusch der Lichtschalter war laut in der Stille der Kirche, dann hörte sie seine Schritte auf der Holztreppe. In der Kirche roch es genauso, wie sie es in Erinnerung hatte, nach altem Holz und Kerzenrauch und nach Erinnerungen. Die leere Kirche gab ihr ein Gefühl des Friedens, des unterschwelligen Müßiggangs. Kenny blieb neben ihr stehen und blickte auf die Reihen der Bänke und den Altar, auf die Linien des Daches, der Fenster und der Pfeiler. Selbst der burgunderfarbene Teppich im Mittelgang schien zeitlos. »Kirchen ändern sich nie«, sagte Tess. »Nein.« »Wir haben immer dort drüben gesessen.« Sie deutete mit dem Finger auf die Stelle. »Ich erinnere mich daran, sonntags zum Gottesdienst gekommen zu sein, als Daddy noch lebte.« »Ich kann mich an deinen Dad auch noch gut erinnern. Er nannte mich immer Sonny. >Laß mal sehen, ob ich heute Post für dich habe, Sonny> sagte er immer, auch als ich noch viel zu jung war, um überhaupt Post zu bekommen. Dann gab er mir die Briefe für meine Mutter und ermahnte mich, keinen davon auf dem Weg ins Haus fallen zu lassen. Und einmal, als er den Bürgersteig entlangkam mit seiner großen ledernen Posttasche, saß ich gerade dort und versuchte, die Kette auf mein Fahrrad zu machen. Da ist er stehengeblieben, hat seine Tasche abgesetzt und hat mir die Kette aufgezogen. Glaubst du, so etwas machen Briefträger auch heute noch?« Tess lächelte ihn an. »Das bezweifle ich.« »Ein anderes Mal war er an dem Brennfaß in der Gasse und erbrach gerade einen Karton, so einen, in dem Flaschen transportiert werden, weißt du? Und dann hat er mir den Mittelteil davon geschenkt, damit ich damit Postamt spielen konnte. Ich habe ihn auf den Stufen vor unserem Haus aufgestellt und habe dann so getan, als wären meine Baseballkarten die Briefe, die ich in den Karton geworfen habe.« Es war ein wundervoller Augenblick, so beieinander zu stehen und sich zu erinnern. Ihre Stimmen kamen als gemurmeltes Echo zu ihnen zurück, während die Schatten unter ihnen im Kirchenschiff immer dunkler wurden. Was auch immer Kenny für ein Junge gewesen war, jetzt hier mit ihm
zusammenzusein erfüllte Tess mit tiefer Nostalgie. »Bist du immer in diese Kirche gegangen?« wollte sie wissen. »Ich kann mich gar nicht an dich erinnern. Ich erinnere mich an dich an vielen Orten, aber nicht hier.« »Wir haben immer da unten gesessen.« Mit dem Finger deutete er auf eine Kirchenbank. Unten wurde eine Tür geöffnet - laut ertönte das Echo, als sie ins Schloß fiel, dann hörte man Schritte auf der Treppe. Ein Junge erschien, groß und dünn, mit Sommersprossen und kurzem rotem Haar. »Das ist Josh«, stellte Kenny ihn vor. »Josh, das ist Tess Mc-Phail.« Josh Winkworth war in der Abendschulklasse der High-School, er spielte die Orgel, und als er jetzt Tess vorgestellt wurde, wurde er über und über rot. Er hatte lange, knochige Hände, und als er Tess die Hand schüttelte, war seine Handfläche feucht und es war deutlich zu sehen, daß er sehr verlegen war. Josh verschwand, um die Orgel aufzuschließen, und Kenny ging zur Chorempore und rückte dort die Notenständer gerade. »Ich weiß gar nicht, wer im nächsten Jahr für uns die Orgel spielen wird, wenn Josh nicht mehr da ist. Aber ich hoffe, daß bis dahin Mrs. Atherton wieder bei uns ist oder sonst jemand, der den Chor dirigieren kann.« Tess half ihm mit den Notenständern. Von unten erklangen Stimmen, und nach und nach erschienen die anderen Mitglieder des Chors. Casey und ihre Freundinnen kamen auch, und Tess freute sich, Casey die gute Nachricht erzählen zu können. »Ich habe mit Jack Greaves, meinem Produzenten, gesprochen. Ihm gefällt der Song, und er möchte ihn auf meinem neuen Album bringen. « »Ist das dein Ernst?« »Unbedingt. Du wirst als Songschreiberin genannt werden, und du wirst Tantiemen dafür bekommen.« Caseys Jubelschrei war vielleicht nicht gerade angebracht in einer Kirche, doch Casey die größte Freude ihres Lebens machen zu können, erfüllte auch Tess mit freudiger Erregung. Casey fiel ihr um den Hals und bedankte sich bei ihr, während Brenda und Amy ausriefen: »Oh, Casey, Wahnsinn! Auf einem richtigen Album!« »Ich weiß, ihr kennt alle Tess McPhail, ihr wißt, wer sie ist, also sorgt dafür, daß sie sich bei uns wohl fühlt, und bittet sie heute abend nicht um ein Autogramm, okay?« Mit diesen Worten versuchte Kenny die Situation zu entspannen. Alle lachten, und dann machten sie sich an die Arbeit. Kenny wärmte den Chor auf mit der alten Hymne: »Heilig, heilig, heilig«, und in dem Augenblick, als er die Arme hob, wurde er ein völlig anderer Mann. Er wurde
in jeder Hinsicht zu einem Führer, einem Mann, der mit Begeisterung und Ausdrucksstärke den Chor anleitete. Die Chormitglieder liebten ihn, und er liebte sie. Sie waren keine Profis, es waren Menschen, die gern sangen, und das zeigte sich in der Art, wie sie auf ihn reagierten. Von Kenny dirigiert zu werden war für Tess nicht die Prüfung, die sie erwartet hatte, als man sie zum ersten Mal bat, im Chor mitzusingen. Es machte ihr großen Spaß, und als dann ihre Stimme mit denen der anderen dreiunddreißig verschmolz, fühlte sie sich zurückversetzt zu den Sonntagen ihrer Kindheit, als sie regelmäßig im Chor mitgesungen hatte. Heute stand sie bei den Sopranstimmen, zur Rechten von Kenny, während Ca sey bei den Altstimmen stand, zu seiner Linken. Und manchmal, während des Singens, trafen sich ihre Blicke mit denen von Casey, und Tess hatte das Gefühl, daß das Schicksal sie nach Hause geführt hatte, nicht nur, um für Mary zu sorgen, sondern aus noch ganz anderen Gründen. Sie war hier wegen Casey. Und vielleicht auch wegen Kenny? Himmel, woran, um alles in der Welt, dachte sie nur? Heute abend war es genau eine Woche her, seit sie hier eingetroffen und er mit dem Sack Salz in Mommas Haus gekommen war. Eine Woche war doch noch nicht lange genug, um solch fatalistische Gedanken zu haben. Aber sie mußte zugeben, daß sie jedesmal, wenn sie ihm begegnete, eine neue Facette seiner Persönlichkeit entdeckte, und was sie sah, gefiel ihr mehr und mehr. Er hatte die bekanntesten Hymnen für seinen Chor ausgewählt. Für Tess hatte er zusätzlich dazu noch »Fairest Lord Jesus« ausgesucht. Sie war sehr damit einverstanden, genau wie der Chor, nachdem sie sie einmal gesungen hatten. Das wunderschöne alte, traditionelle Kirchenlied krönte ihre Chorprobe mit einer Feierlichkeit, die sie noch immer fühlten, als die Chorprobe vorüber war und sie sich voneinander verabschiedeten. Eine Frau in Marys Alter war eine der letzten, die ging. »Ich bin sicher, du erinnerst dich nicht mehr an mich«, sagte sie, als sie sich von Tess verabschiedete. »Ich bin Clara Ottinger, ich kenne deine Mutter schon mein ganzes Leben lang. Ich erinnere mich noch daran, als du so klein warst. Du hast damals immer auf der Treppe vor eurem Haus gestanden und allen Leuten, die an eurem Haus vorüber fuhren, so laut du konntest, vorgesungen. Ich habe damals schon gesagt: >Die Kleine wird sich noch einen Namen machen<, und das hast du auch getan.« Sie drückte Tess' Arm. »Wir sind stolz darauf, daß du zurückgekommen bist.« Schließlich waren alle weg. Es war schon nach neun Uhr, und die Kirchentür fiel mit einem lauten Hall hinter Mrs. Ottinger ins Schloß. Auf der Chorempore hob Kenny ein Stück Papier auf, das jemand fallen gelassen hatte, und legte es auf die Orgel. Er wandte sich um, und seine Blicke trafen sich mit denen vonTess, die etwa fünf Meter von ihm entfernt, hinter den
achtlos zurückgeschobenen Stühlen und Notenständern, dastand. Eigenartig, daß sie sich jetzt in der Stille deutlich wohler fühlte als zuvor. »Sie lieben dich«, sagte sie. »Sie lieben dich auch«, erwiderte er. Draußen war es dunkel, und das Kirchenschiff unter ihnen lag im Schatten. Zwei kleine Lampen hingen über der Chorempore an Ketten von der Decke und warfen einen goldenen Schein auf den Holzfußboden, doch Tess und Kenny standen im Schatten. Eine eigenartige Intimität lag über dem Ganzen und auch über ihrer Anwesenheit. Genau wie an dem Sonntag morgen, als er sie von seiner Hintertreppe aus beobachtet hatte, so fühlten sie auch jetzt, wie ihre wachsende Vertrautheit sie veränderte. Er wandte seine Aufmerksamkeit den Stühlen und den Notenständern zu, die er zurechtrückte. Tess tat das gleiche mit den Stühlen und Notenständern in der oberen Reihe. Irgendwo in der Mitte trafen sie sich dann. »Danke«, sagte er. »Gern geschehen.« Sie standen ganz nahe beieinander, und um sie herum herrschte Stille. Sie fühlten sich voneinander angezogen, kämpften jedoch dagegen an. Kenny wandte sich um und ging zur Orgel hinüber, Tess folgte ihm. Er setzte sich auf die Orgelbank und knipste das Licht über der Orgel aus, das Josh angelassen hatte, dann suchte er seine Noten zusammen, die verstreut auf der Orgel lagen. Während er sie geraderückte, war Tess hinter ihn getreten. »Kenny, ich muß mit dir reden«, sagte sie. »Gern.« Er steckte die Noten in eine flache Tasche und schloß den Reißverschluß. »Über Casey.« »Was ist mit ihr?« »Darf ich?« Sie deutete auf die Orgelbank. »Sicher.« Er rückte ein Stück zur Seite, und Tess setzte sich neben ihn, die Hände legte sie locker in ihren Schoß. Sie sammelte sich einen Augenblick, und ihr war klar, daß das, was sie ihm jetzt sagen würde, eine große Veränderung in seinem Leben und auch im Leben seiner Tochter bedeuten würde. Sie machte es sich nicht leicht. »Ich möchte Casey nach Nashville mitnehmen, sie soll im Hintergrundchor mit mir zusammen >Small Town Girl< singen.« Er saß so still, daß sie wußte, daß ihr Vorschlag ihm nicht gefiel. Doch er sah in ihre Augen und ließ sich Zeit, sich an das zu gewöhnen, was sie gesagt hatte. »Ich dachte mir, daß so etwas kommen würde.« »Aber ich würde sie nicht darum bitten, ohne zuerst mit dir darüber
gesprochen zu haben.« Er wartete lange, bis er ihr antwortete, dann flüsterte er leise: »Shit!« und hatte ganz vergessen, wo er war. »Du verstehst, wovon ich rede... von einer Plattenaufnahme bei einer der führenden Plattenfirmen.« »Ja, das habe ich verstanden.« »Das ist es, was sie sich wünscht, und sie ist gut genug dafür.« »Ich weiß. Es ist mir am Sonntag nachmittag klargeworden.« »Ich habe bereits Nachricht von meinem Produzenten bekommen, und ihm gefällt das, was er auf dem Demoband gehört hat.« Tess wartete, doch Kenny sagte nichts mehr, und er sah sie auch nicht mehr an oder ließ sich anmerken, daß er begriffen hatte, wovon sie sprach. Er starrte auf den leeren Notenständer der Orgel. »Hör mal, ich weiß, was du von mir denkst...«, begann Tess. Er winkte ab. »Das ist schon lange her, Tess, und das weißt du auch.« »Also gut, ich weiß, was du von mir gedacht hast, aber wenn du glaubst, ich würde zulassen, daß ihr etwas zustößt, dann irrst du dich. Ich werde bei ihr sein. Ich werde mich um sie kümmern, für sie sorgen. Und ich werde auch dafür sorgen, daß niemand sie übervorteilt.« »Das weiß ich, und das weiß ich auch zu schätzen. Aber was ist mit ihrem Leben?« »Glaubst du wirklich, daß mein Leben so schlecht ist?« »Es ist nicht normal - wenn man das so sagen kann. Die Hälfte der Zeit reist du herum, du hast keinen Mann, keine Kin der.« »Es ist ein sehr erfülltes Leben, wenn man das tut, was man liebt.« Er gab ein unwilliges Geräusch von sich und seufzte dann frustriert auf. »Aber es ist nicht das Leben, das ich mir für sie vorgestellt habe.« Sie wartete, bis er sich ein wenig beruhigt hatte, ehe sie ihm ruhig antwortete: »Es ist nicht deine Entscheidung, Kenny.« Verzweifelt starrte er sie an, dann sank er in sich zusammen. »Ich weiß«, gab er zu. Obwohl sie verstand, was er durchmachte, verspürte sie doch den Wunsch, sich auf Caseys Seite zu schlagen. »Sie würde die Möglichkeit bekommen, einige Studiomusiker kennenzulernen und vielleicht im Hintergrundchor bei einigen anderen Aufnahmen mitzusingen, wenn nicht sogar noch mehr. Aber Nashville ist eine kleine Stadt. Es wird sich sehr schnell herumsprechen, daß sie mein Schützling ist. Und dann stehen ihr alle Möglichkeiten offen. Ich möchte ihr diese Chance geben, Kenny.« Sie ließ ihm Zeit, über ihre Worte nachzudenken. Und schließlich begann er zu sprechen, und es war beinahe so, als führe er ein Streitgespräch mit sich selbst. Dabei strich er mit dem Daumennagel über die Bügelfalte seiner Hose.
»Das ist sehr schwer für mich, mußt du wissen. Sie ist mein einziges Kind, und wenn man nur ein Kind hat, dann denkt man an Enkelkinder und an einen Ort, an dem man sie besuchen kann, wenn man alt wird. Und dann begreift man, daß man egoistisch ist und daß man sich nicht auf andere verlassen sollte, um sein Glück zu finden. Aber es ist... es ist sehr schwierig, loszulassen.« Sie legte ihre Hand auf seinen nackten Unterarm. »Natürlich ist es das.« Er blickte auf ihre Hand und legte dann seine eigene Hand darüber, sanft rieb er über ihren Handrücken und spielte dann mit dem übergroßen indianischen Ring aus Silber und Türkisen, den sie an dem Finger trug, an dem die meisten Frauen einen Ehering trugen. Als ihm klar wurde, was er da tat, zog er schnell die Hand zurück, und auch Tess nahm ihre Hand von seinem Arm. »Sobald sie mit der Schule fertig ist, möchte ich, daß sie nach Nashville kommt. Das Album soll im September herauskommen. Sie haben bereits eine Single daraus veröffentlicht. Wir müßten im Juni ins Studio, um den Song aufzunehmen, dann bleibt noch genügend Zeit für das Mischen, das Zusammenschneiden und den Vertrieb.« »Wie lange müßte sie denn bleiben?« »Das liegt an Casey. Man kann einen Song an einem einzigen Tag aufnehmen. Manchmal braucht man allerdings zwei Tage, manchmal kann man sogar zwei Songs an einem einzigen Tag aufnehmen. Das hängt ganz davon ab. Aber wenn sie nach Nashville kommt, kann sie bei mir wohnen, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hat.« Kenny starrte sie an und dachte nach. »Ich kenne eine Menge Leute in Nashville«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »In Radiosendern, bei der Opry, in der ganzen Stadt. Sie wird keine Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden. Du kennst doch all die Geschichten - es gibt große Stars, die haben als Platzanweiser in der Opry begonnen. Kris Kristofferson zum Beispiel.« Doch noch immer sah er nicht so aus, als habe sie ihn überzeugt. »Oh Kenny...« Erneut legte sie eine Hand auf seinen Arm, überlegte es sich dann aber anders. »Wenn ich nicht wäre, würde sie es wahrscheinlich auch ohne mich schaffen. Aber ist es nicht besser, daß ich da bin und mich um sie kümmern kann?« Kenny blickte auf seine Hände, dann sanken seine Schultern nach vorn, und er betrachtete seine Knie. Sie konnte förmlich seine Gedanken lesen. »Wahrscheinlich denkst du jetzt: >Warum mußte Tess McPhail nur nach Hause kommen?<« »Ja«, gestand er ihr. »Genau das denke ich.« Ihre Blicke trafen sich, und sie saßen ganz still nebeneinander, weil ihnen beiden klar war, daß es mehr als nur einen Grund für diesen Gedanken gab. Schließlich
reckte er sich und richtete sich ganz langsam wieder auf. »Komm schon«, sagte er, stand von Orgelbank auf und zog sie mit sich. »Du kannst mich zu einer Spazierfahrt in deinem tollen Auto einladen und mich damit für alles entschädigen, okay?« Zusammen gingen sie nach unten, und Tess wartete, während er die Lichter im Vorraum löschte. Dann schob er die schwere Kirchentür auf, und sie ließen sich vom Schein des Mondes den Weg die Treppe hinunter bis zur Straße weisen, wo ihr Wagen wartete. Lichter glänzten in den Fenstern der Häuser um die Kirche herum, eine Straßenlaterne ein Stück weiter erhellte die Nacht, Sterne blinkten am Himmel. Doch der Mond war weit davon entfernt, voll zu sein. »Siehst du?« sagte sie und deutete zum Himmel. »Halbmond. Es ist gar kein Vollmond.« »Ahh... na ja, in diesem Fall ist dein Nacken sicher.« Sie stiegen in den Wagen und schlugen die Türen hinter sich zu. Tess startete den Motor, ließ jedoch den Fuß auf der Bremse. »Also, wohin möchtest du fahren?« fragte sie. »Ich dachte, wir fahren nach Hause.« »Und ich dachte, du wolltest spazierenfahren.« Er sah, wie sich das Licht des Armaturenbrettes in ihren Augen spiegelte. »Also gut... dann fährst du jetzt bis zum Stoppschild am Highway und biegst dann nach rechts ab.« Als Tess losfuhr, kurbelten beide die Fenster herunter und ließen die warme Frühlingsluft ins Innere des Wagens. Kenny lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloß die Augen. Nach einer Weile öffnete er sie wieder und betrachtete Tess beim Fahren. Sie war kleiner als er, ihr Sitz war weiter nach vorn gerückt, er konnte sie also ungestört ansehen. Wann immer es nötig war, sagte er ihr, wo sie abbiegen sollte. Die Luft um sie herum roch nach frischem Grün und nach Feuchtigkeit, und als sie erst einmal ein Stück aus der Stadt hinausgefahren waren, duftete es nach Weideland und staubigen Straßen. Und manchmal wehte ihr Duft zu ihm hinüber, ein Parfüm, das er nicht so recht ein ordnen konnte. Sie fuhr nicht sehr schnell, so konnten sie die Geräusche der Nacht hören. Insekten summten, kleine Stein chen schlugen gegen den Boden des Wagens, und der Wind rauschte in ihren Ohren. »Ich dachte, du würdest es lieben, schnell zu fahren«, meinte er nach einer Weile. »Ich glaube, du hast eine ganze Menge falscher Vorstellungen von mir.« »Nicht mehr als du von mir.« »Da hast du wahrscheinlich recht. Aber warum sollen wir uns beeilen? Es ist schön, eine Weile von zu Hause wegzukommen.« »Mary hat mir gesagt, daß ihr beide nicht sehr gut miteinander auskommt.« Sie warf ihm schnell einen Seitenblick zu. »Wann hat sie dir das denn gesagt?«
»Im Krankenhaus.« »Ich glaube, es ist ganz einfach der Altersunterschied.« »Mit meiner Mutter und mir ging es ganz genauso, als sie älter wurde.« »Und ich habe immer geglaubt, ihr hättet euch ganz wunderbar verstanden.« »Solange ich me inen Mund gehalten habe.« »Ist das nicht komisch«, sagte Tess nachdenklich. »Sogar in den kleinsten Dingen können sie deine Geduld auf eine harte Probe stellen. Kennst du diesen verbeulten, jämmerlichen Pla stikuntersetzer, der völlig vergilbt ist und den meine Mutter mitten auf dem Tisch stehen hat? Den habe ich weggeworfen, während sie im Krankenhaus war. Und sobald sie wieder zu Hause war, hat sie festgestellt, daß er nicht mehr da ist, und hat ihn aus dem Mülleimer geholt und abgewaschen, und jetzt steht er wieder mitten auf dem Tisch. Wahrscheinlich mußte sie mit ihrer Gehhilfe die schlimmsten Verrenkungen machen, um ihn aus der Mülltonne wieder herauszufischen, ohne dabei zu fallen, aber irgendwie ist es ihr gelungen, und ich habe es nicht einmal bemerkt.« Kenny lachte leise. »Und wir streiten uns ständig darüber, was ich kochen soll und wie ich es kochen soll. Du mußt wissen, daß ich in ihren Augen die schlechteste Köchin der ganzen Welt bin.« »Und das gefällt dir nicht?« »Nein«, erklärte sie leidenschaftlich. »Zu Hause habe ich eine Haushälterin, die für mich kocht. Und wenn ich im Studio bin, bringt eine Catering-Firma das Essen. Wenn ich für mich selbst kochen muß, dann mache ich meistens Hühnerbrust und Salat. Und wer kocht bei dir?« »Wir alle drei.« Die Erinnerung an Faith traf sie wie ein Erdrutsch. Sie fuhren schweigend noch ein Stück weiter und dachten beide daran, wie ihre Unterhaltung immer wieder zu Faith zurückkehrte. Schließlich meinte Tess: »Kann ich dich etwas fragen?« »Worüber?« »Über dich und Faith.« »Nein.« »Aber ich...« »Nein.« Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, doch er sah nicht zu ihr hin. Sie umklammerte das Lenkrad fester und entschied, daß sie genauso stur sein konnte wie er. Also gut, wenn du es so willst. Aber ich brauche dich eigentlich gar nicht zu fragen, nicht wahr, Kenny? Denn wir wissen beide,
daß du mit ihr schläfst. Keiner von beiden sprach mehr, bis er endlich sagte: »Biege hier ab.« Sie bogen in einen unbefestigten Weg, der von Bäumen gesäumt war und der auf einige Häuser zuführte. Ein großer Schuppen überragte all die anderen Häuser. »Wo sind wir?« »Bei Dexter Hickey. Dort drüben am Zaun kannst du anhalten.« Tess lenkte den Wagen zu der angegebenen Stelle und stellte dann den Motor ab. Sie stiegen aus und gingen langsam auf einen brusthohen Holzzaun zu, der im Schein des Mondes zu erkennen war. Auf der eingezäunten Weide dahinter standen etwa ein halbes Dutzend Pferde dicht beieinander. Einige hoben den Kopf, weil sie wach geworden waren, andere schliefen weiter. Aus der Masse der Pferdekörper löste sich ein Tier und kam langsam und mit hängendem Kopf auf sie zu. Kenny wartete. Die Arme hatte er auf den Zaun gestützt. Das Pferd kam zu ihm herüber und schnaufte dann leise. Die weiße Blesse auf seiner Stirn hob s ich deutlich von seinem dunkleren Fell ab. Kenny legte dem Pferd eine Hand zwischen die Augen. »Das ist Rowdy«, sagte er. »Hi, Rowdy«, sagte Tess leise und wartete, bis das Pferd ihren Geruch aufgenommen hatte. Es streckte ihr den großen Kopf entgegen und drückte dann seine Nüstern gegen ihre Hand. »Du riechst gut«, sagte Tess. Natürlich roch er nicht gut. Er roch nach Pferdekoppel, nach Mist und nach Pferd, doch es gefiel Kenny, daß Tess ein Mensch war, der den Geruch eines Pferdes liebte. Rowdy ließ sich von ihr die Nüstern streicheln. »Wie lange hat Casey ihn schon?« »Seit sie dreizehn ist. Aber sie hat sich ein Pferd gewünscht, seit sie fünf ist.« Rowdys Nase fühlte sich samtweich an. Tess glaubte, daß er wahrscheinlich wieder eingeschlafen war, denn er stand bewegungslos und atmete tief und gleichmäßig gegen ihre Hand. »Versuchst du etwa, mir Gewissensbisse zu machen, weil ich sie mitnehmen will?« »Vielleicht.« »Bist du immer so ehrlich?« »Das versuche ich.« Es war hell genug, daß sie einander in die Augen sehen konnten. Über dem Zaun berührten sich ihre Ellbogen fast. Auf der Koppel wieherte eines der Pferde leise, hinter ihnen tickte der Motor des Autos, der langsam abkühlte, und über ihnen verhinderte der Halbmond, daß er ihr in den Nacken biß. Und dann sagte sie ganz plötzlich etwas, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte, und sie sprach die Worte so ernsthaft aus, daß eine weitere Barriere zwischen ihnen verschwand. »Ich sehe, Kenny, daß du ein sehr guter Vater bist.« Er hatte vorhin doch recht gehabt, der Mond war dafür verantwortlich,
daß Menschen verrückte Dinge taten, ganz gleich, Vollmond oder Halbmond. Doch sosehr er sie auch küssen wollte, es wäre nicht klug. Er mußte an seine Beziehung zu Faith denken und daran, daß Tess nur für kurze Zeit hier sein würde. Er mußte an ihren Ruhm denken und daran, was dieser von ihr forderte. Vielleicht würde sie sogar glauben, daß der Ruhm und ihr Reichtum die Gründe dafür waren, daß er sich an sie heranmachte. Teufel, wer konnte das schon wissen? Vielleicht hätte sie sogar recht damit. Doch wenn er genauer darüber nachdachte, so war es das sicher nicht. Die Anziehungskraft, die von Tess ausging, fühlte er schon seit sehr langer Zeit, schon seit damals, als er auf einer Reise des Chors im Bus versucht hatte, sie zu begrapschen und sie ihn deswegen ausgelacht hatte. Sie jetzt zu küssen wäre der Höhepunkt der Dummheit, doch er stand vor ihr und konnte an nichts anderes mehr denken. Der Mond hätte vielleicht Erfolg gehabt, wenn Rowdy nicht in diesem Augenblick gewiehert, seinen großen Kopf geschüttelt und sie beide erschreckt hätte. Sie machten einen Schritt vom Zaun zurück. »Habe ich deine Erlaubnis, mit Casey zu sprechen?« fragte Tess. Er holte tief Luft, doch dann antwortete er: »Ja.« Wie zwei sehr vernünftige Menschen gingen sie zu ihrem Wagen zurück
10. Kapitel Sie fuhren durch die prickelnde Frühlingsnacht zurück nach Hause, und beide entschlossen sich, für den Rest der Zeit, in der Tess zu Hause war, ihre Begegnungen soweit wie möglich einzuschränken, einander nur noch zuzuwinken. Tess dachte daran, es ihm vorzuschlagen, doch dann stellte sie das Radio an, um einer weiteren Unterhaltung mit ihm auszuweichen. Auf dem halben Weg zurück zur Stadt wurde einer ihrer Songs im Radio gespielt. Es war >Cattin<. Kenny streckte die Hand aus und stellte das Radio lauter. Tess stellte es sofort wieder leiser. »Warum tust du das?« fragte er. »Du mußt es nicht lauter stellen, nur weil ich dieses Lied `singe.« »Ich habe es lauter gestellt, weil es mir gefällt.« Wieder stellte er das Radio lauter, und eines seiner Knie bewegte sich im Takt zur Musik. Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Es ist unmoralich.« »Was?« »Das Lied.« Er lachte laut auf - es war ein befreiendes, lustiges Lachen, und er hielt nichts zurück. Als er sie dann wieder ansah, erzählte sie ihm von dem Brief, den sie von einem wütenden Hörer bekommen hatte, der den Text des Liedes »schmutzig« genannt hatte. Sie erzählte ihm auch von den unmöglichen Forderungen, die ihre Fans manchmal an sie stellten, und von dem Ärger, den sie manchmal verspürte, weil sie so berühmt war, daß die Mensehen glaubten,
ein Stück von ihr gehörte ihnen und sie könnten ihr vorschreiben, wie sie sich zu benehmen hatte. Sie gestand auch ihr Schuldgefühl ein, weil sie solche Gefühle ihren Fans gegenüber hegte, die doch ihr Lebensblut waren und ohne die sie ein Nichts wäre. »Ich nehme an, solche Gefühle haben wahrscheinlich auch all die anderen Menschen, die berühmt sind«, erwiderte er. »Mach dir deshalb nicht so große Sorgen. Fans sind genau wie alle anderen Menschen auch, einige sind nett, andere nicht. Einige sind vernünftig und andere nicht. Das ist in jedem Geschäft, in dem man mit Menschen zu tun hat, das gleiche.« Sie waren so schnell wieder in der Stadt, daß Tess es kaum glauben konnte. Die Zeit war wie im Fluge vergangen, da sie sich auf dem ganzen Weg unterhalten hatten. Als sie schließlich in der Gasse anhielt und den Motor ausschaltete, blieben sie beide sitzen. Ohne das Radio war es plötzlich ganz still im Wagen. »Das Problem bei dir ist, daß man sich so gut mit dir unterhalten kann, Kenny.« »Ist das ein Problem?« »Du weißt schon, wie ich das meine. Ich kann mich nicht erinnern, daß es so war, als wir beide noch in der High-School waren.« »Ich auch nicht. Ich weiß nur noch, daß du ein hochnäsiger Snob warst.« Sie dachte eine Weile darüber nach. »Vielleicht sind wir gerade dabei, einige Mißverständnisse auszuräumen.« Es gelang ihnen mittlerweile, einander lange Zeit anzusehen, während das Schweigen die veränderte Situation zwischen ihnen beiden betonte und auch das Zögern, sich voneinander zu trennen. Doch in beiden Häusern brannte noch Licht, und ihr Zögern führte zu nichts. Er blickte zu ihrem Haus. Sie blickte zu seinem Haus. Sie mußte Tricia noch nach Hause fahren, und er sollte jetzt eigentlich ins Haus gehen und Faith anrufen, was er normalerweise an den Tagen, an denen sie einander nicht sahen, immer tat. »Sieht aus, als wäre Casey noch nicht ins Bett gegangen«, meinte sie. »Und deine Mutter auch noch nicht.« »Tricia ist bei ihr. Sie sorgt für Momma.« »Mußt du sie noch nach Hause fahren?« »Ja... und ich beeile mich besser, denn sie muß morgen früh |in die Schule.« »Nun ja...«, meinte er und öffnete die Tür. »Danke für die Spazierfahrt.« »Gern geschehen.« Sie lächelten einander in dem Halbdunkel des Wagens an, während der Halbmond durch das Rückfenster schien und die Schatten der Bäume auf den Garagendächern lagen. Es gab keinen Grund mehr, noch länger beieinander zu bleiben. Sie stiegen aus dem Wagen, schlugen die Türen zu und sahen sich dann über das Dach des Wagens hinweg an. »Gute Nacht«, sagte Kenny. »Gute Nacht.«
Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich endlich bewegten. Schließlich wandte er sich ab und ging langsam über den Weg davon. Tess sah ihm nach, bis er nur noch ein dunkler Schatten im Licht der Lampe auf der Veranda war. »Hey, Kenny«, rief sie ihm nach, weil sie ihn noch einen kurzen Augenblick lang aufhalten wollte. Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um. Sie wußte, daß auch er noch nicht ins Haus gehen wollte. »Es hat mir wirklich Spaß gemacht, mich heute abend mit dir zu unterhalten.« »Mir auch.« »Ganz besonders über die Dinge, die du über meinen Dad gesagt hast. Dafür danke ich dir.« »Dazu besteht kein Grund. Er gehörte auch zu meiner Kindheit.« »In Nashville haben alle meine Freunde mit der Musik zu tun. Mir scheint, daß wir uns über nichts anderes unterhalten. Aber hier zu Hause ist es... na ja, es tut gut, ein wenig über die Vergangenheit nachzudenken.« »Ja, na ja...« Er dachte daran, wie sehr sie sich in den wenigen Tagen, in denen sie jetzt zu Hause war, verändert hatte und wie sehr er seine Meinung über sie geändert hatte. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er jetzt einfach zu ihr zurückgehen und sie küssen würde. Aber dann dachte er wieder daran, wer sie war und wer er war und daß er dabei war, ins Haus zu gehen, um Faith anzurufen und ihr eine gute Nacht zu wünschen. »Noch einmal gute Nacht«, rief er und entschied sich für den richtigen Weg. »Wir sehen uns dann am Sonntag.« »Ja, wir sehen uns am Sonntag.« Nachdem Tess Tricia nach Hause gefahren hatte und dann bereit war, ins Bett zu gehen, löschte sie das Licht und stand dann noch ein paar Minuten am Fenster und blickte in den Garten. Auf der anderen Seite der Gasse brannte noch Licht in dem Zimmer, das früher Kennys Schlafzimmer gewesen war. Schlief er noch immer in diesem Zimmer? Oder war das jetzt Caseys Zimmer? Aber warum sollte sie überhaupt darüber nachdenken? Und dennoch dachte sie daran, selbst dann noch, nachdem sie ins Bett gegangen war und in der Dunkelheit noch einmal diesen Abend erlebte und daran dachte, wie schön er doch gewesen war. Mit ihm zu singen, mit ihm spazierenzufahren, das Pferd zusammen mit ihm zu streicheln, über die alten Zeiten zu reden... Es stimmte, was sie ihm gesagt hatte, als sie zurück zum Haus ging. Alle Freunde, die sie jetzt hatte, hatten irgendwie mit der Musikindustrie zu tun. Keiner hatte sie gekannt, als sie noch ein Kind war, niemand konnte mit ihr die Erinnerungen an die Vergangenheit teilen, doch Kenny erinnerte sich sogar noch an ihren Vater. Wie kostbar war seine Ge schichte über ihn doch gewesen, wie sehr hatte sie ihr das Gefühl gegeben, mit ihm verbunden zu sein, als wäre dieser Ort immer für sie da, mit der Familie u nd auch mit all den Geschehnissen von
früher. Das war die Macht der Erinnerungen, und ihr Verstand sagte ihr, daß sie verschwinden würden, sobald sie nach Nashville zurückkehrte. Aber in den Augenblicken, wo ihre Aufmerksamkeit nachließ, waren es diese Erinnerungen - und auch Kenny Kronek -, die sie daran zweifeln ließ, wohin sie gehörte. Im hellen Morgenlicht jedoch wußte sie ganz genau, wohin sie gehörte. Das tägliche Expreßpaket von Kelly Mendoza war angekommen, und es war voll mit Arbeit, die sie zwischen ihren Haushaltspflichten erledigen mußte. Sie rief Jack Greaves an. »Ich werde Casey Kronek fragen, ob sie im Hintergrundchor von >Small Town Girl< mitsingen möchte. Bist du damit einverstanden?« »Ich finde, eure Stimmen passen perfekt zusammen.« »Danke, Jack, das bedeutet mir wirklich sehr viel.« »Ich wette, bei weitem nicht so viel, wie es Casey Kronek bedeutet.« »Hör mal, du kannst die Aufnahme für die erste Juniwoche einplanen.« »Mache ich.« Sie ging zu Mary, um es ihr zu erzählen. Mary lag mit geschlossenen Augen im Bett und hielt die Kaffeetasse in beiden Händen, als wäre sie gerade eingeschlafen. Als Tess an der Tür stehenblieb und sie betrachtete, knarrte eine Diele des Fußbodens, und Mary wachte mit einem Ruck wieder auf. Ihre Hände fuhren hoch, und der Kaffee schwappte auf das Bett. »Oh, Tess... oje, sieh nur, was ich angerichtet habe. Die Laken sind voll.« »Das ist doch nicht schlimm, Momma, ich werde das Bett frisch beziehen.« Sie nahm Mary die Kaffeetasse aus der Hand und stellte sie auf den Nachttisch. »Ich muß dir etwas Aufregendes erzählen.« »Was denn?« »Ich werde Casey bitten, mit mir zusammen den Song zu singen, den wir beide geschrieben haben.« »Du meinst auf einer richtigen Schallplatte?« Sie korrigierte Mary nicht länger, wenn sie die Demobänder und die CDs als Schallplatten bezeichnete. »Ja, ich habe gerade mit Jack darüber gesprochen.« »Aber Kenny wird das gar nicht gefallen.« »Ich habe ihn gestern abend um Erlaubnis gebeten.« »Wirklich?« »Ich würde Casey nicht fragen, ohne seine Erlaubnis dafür zu haben.« Mary dachte einen Augenblick nach. »Nun, in dem Fall, du liebe Güte, das ist aber wirklich toll, nicht wahr? Casey wird ausflippen, wenn du es ihr sagst.« »Weißt du, was, Momma?« Tess setzte sich auf die Bettkante, bereit, vertraulich mit ihrer Mutter zu reden. »Es ist wirklich aufregend, jemanden
zu finden, der so viel Talent hat wie Ca sey, und dann noch in der Lage zu sein, ihr zu einem guten Start zu verhelfen. Und alles ist so perfekt, wir haben den Song zu sammen geschrieben, und der alte, anerkannte Star nimmt die junge Nachwuchskünstlerin unter seine Fittiche, und sie kommen beide aus der gleichen kleinen Stadt. Das wird einen riesigen Wirbel in der Presse geben, und außerdem werden Casey und ich viel Spaß miteinander haben, das weiß ich jetzt schon.« Mary drückte Tess' Hand. »Es ist wirklich nett von dir, daß du das für sie tust, Liebling.« »Ich glaube, daß ich genausosehr davon profitieren werde wie sie.« Dies war einer der glücklicheren Augenblicke, die Tess mit ihrer Mutter teilte. Sie saßen zusammen und hielten einander an den Händen, während Tess den Faden weiterspann. »Vielleicht werden wir eines Tages zusammen ein Konzert geben, und dann ^kannst du kommen und uns beide singen hören. Wäre das nicht toll?« . Mary hatte schon einige von Tess' Konzerten besucht, aber die Flüge dorthin strengten sie sehr an. In den letzten sechs Jahren hatte sie Tess nicht mehr auf der Bühne erlebt. »Nun ja...« Tess dachte an die viele Arbeit, die noch auf sie wartete. »Dann werde ich wohl besser erst einmal das Bett frisch beziehen, wie? Raus aus dem Bett, Momma, es sei denn, du möchtest mit in der Waschmaschine landen.« Die Stimmung zwischen ihnen beiden war zu schön, um wahr zu sein. Eine halbe Stunde später war die Bettwäsche gewaschen, und Tess ging in den Keller, um sie in den Trockner zu »stecken. Als sie in die Küche zurückkam, wartete Mary auf ihre Gehhilfe gestützt bereits auf sie. »Du hast sie doch nicht etwa in den Trockner gesteckt, oder?« fragte sie. Tess blieb verwirrt stehen. »Nun ja... ja... das habe ich getan.« »Bettwäsche zerknittert im Trockner. Ich möchte, daß du sie auf die Leine hängst.« »Was wird es schon schaden, wenn sie einmal in den Trockner kommt.« »Ich trockne meine Bettwäsche niemals im Trockner.« »Momma«, sagte Tess verärgert. »Sie riecht muffig, und die Säume ziehen sich zusammen.« »Ich habe sie auch am Samstag in den Trockner gesteckt.« »Ich weiß, und sie war ganz zerknittert. Hänge sie bitte raus in den Garten.« Tess verzog schmollend den Mund. »Ich weiß nicht, wie man . das macht.« »Nun, dann ist es an der Zeit, daß du es lernst.« Am liebsten hätte Tess laut geschrien. »Aber warum? Das ist eine
veraltete Methode, und ich werde das nie wieder tun!« »Außerdem«, fügte Mary hinzu, »ergibt es keinen Sinn, an einem so schönen Tag wie heute Strom zu verschwenden.« Tess hätte liebend gern die verdammte Stromrechnung bezahlt, doch wenn sie das jetzt sagte, würde es ihren Streit nur noch verschlimmern. Mary wandte sich um und humpelte zu einem Küchenstuhl. »Tue alles in einen Wäschekorb und bringe ihn dann nach oben. Ich werde dir zeigen, wie es gemacht wird.« Tess rannte in den Keller, die gute Laune von zuvor war verschwunden. In Nashville hatte sie eine Haushälterin, die sich um die Wäsche kümmerte, doch hier mußte sie die Wäsche für ihre Mutter machen. Und sie war der Überzeugung, daß sie ihre Sache recht gut machte, wenn man bedachte, wie wenig Erfahrung sie hatte. Konnte Mary es denn nicht akzeptieren, daß die Dinge in den zweieinhalb Wochen, in denen Tess noch zu Hause war, ein wenig anders erledigt wurden, als sie es gewöhnt war? Mary saß auf dem Stuhl und wartete darauf, Tess ihre Anweisungen geben zu können, als diese mit dem Wäschekorb nach oben kam und ihn neben ihrer Mutter auf den Boden stellte. Dann stand sie mit schmollend verzogenem Mund neben ihr und wartete. Mary dehnte die Seiten der Laken, faltete sie doppelt und dann dreifach. »Hier, halte sie so fest. Jetzt brauchst du nur noch die Wäscheklammern draufzustecken. Dann machst du es mit dem anderen Laken genauso, du brauchst nur die vier Ecken aufeinanderzulegen.« Das erste Laken draußen aufzuhängen war nicht schwierig. Das zweite Laken jedoch - es war, als würde sie mit einer Python ringen. Es war heller Morgen, und Tess hoffte, daß bei Kenny niemand zu Hause war, der sie vom Fenster aus beobachtete, während sie sich wie ein Dummkopf anstellte. Hier gab es wahrscheinlich noch Frauen, die keinen Wäschetrockner besaßen, während sie nicht einmal wußte, wie man ein Bettlaken aufhängte. Als sie endlich fertig war und zum Haus zurückging, stand sie kurz davor, zu explodieren. Mary hatte sie durch das Fenster beobachtet. »Du mußt zuerst die Ecken zusammenlegen, und dann hängst du sie auf«, meinte sie. Am liebsten hätte Tess sie angeschrien. »Wenn ich hier weg bin, werde ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens nie wieder ein Bettlaken aufhängen, also laß mich in Ruhe, Mutter! « doch statt dessen biß sie sich auf die Zunge und entschied sich, daß es die beste Art war, mit ihrer Wut fertig zu werden, wenn sie für eine Weile das Haus verließ. »Ich werde zum Stillmans Supermarkt gehen. Was möchtest du heute gern essen?« »Nun, wir haben schon eine ganze Weile keinen Rinderbraten mehr gegessen. Der ist nicht schwierig zuzubereiten.«
Einen fettigen Rinderbraten. Was hatte sie denn erwartet? Tess fuhr bei Renee vorbei und hoffte, einen Teil ihrer Fru stration bei ihrer Schwester loswerden zu können, doch Renee war mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, und ständig läutete ihr Telefon. Schließlich fuhr Tess wieder, aber auf dem Weg zur Tür nahm Renee ihre Schwester in den Arm. »Sie geht dir nicht absichtlich so sehr auf die Nerven. Es ist ganz einfach nur so, daß sie es nicht gewöhnt ist, jemanden um sich zu haben. Sie möchte, daß alles auf ihre Art getan wird, sie lebt schon sehr lange allein.« »Ich weiß«, gab Tess zu, und auch wenn ihr Besuch bei Renee nur kurz gewesen war, so hatte er ihr doch geholfen. Kurze Zeit später, als sie gerade im Supermarkt Weintrauben aussuchte, drehte sie sich um und stieß mit ihrem Einkaufswagen gegen den einer anderen Frau. »Oh, Entschuldigung.« »Tess?« fragte eine ihr bekannte Stimme. »Oh, du liebe Güte, du bist es wirklich! Ich habe gehört, daß du wieder zu Hause bist!« »Mindy Alverson!« »Ich heiße jetzt Mindy Petroski.« »Mindy Petroski, natürlich. Ich wußte das, aber du bist noch immer Mindy Alverson für mich. Ich freue mich so sehr, dich wiederzusehen!« Sie umarmten einander, die Einkaufswagen klirrten, als sie wieder gegeneinanderstießen. Schließlich packte Mindy Tess am Arm und schob sie ein Stück von sich, damit sie sie ansehen konnte. »Hey, du siehst phantastisch aus, Tess!« »Du aber auch.« Mindy war noch immer hellblond, sie trug noch immer Jeans, und ihre Augenbrauen waren über der Na senwurzel noch immer zusammengewachsen. Doch ihre Hüften waren breiter geworden, die Brüste schwerer, aber das schien sie nicht zu stören. »Momma hat mir erzählt, daß du jetzt wieder hier lebst und daß du zusammen mit deinem Mann ein Geschäft für Haushaltsgeräte führst.« »Gleich um d ie Ecke beim Stadtplatz, wo früher Moores Installateurgeschäft war.« »Oh, sicher, ich weiß, wo das ist. Hast du auch Kinder?« »Drei.« Mindy zog ihr T-Shirt über der Brust gerade. >Mütter regieren, wenn die Kinder sie lassen<, stand darauf. Sie standen mitten im Laden und unterhielten sich. Mindys Eltern hatten das Haus verkauft und lebten jetzt draußen am Lake Wappapello. Ihr Mann angelte gern, deshalb verbrachten sie viel Zeit dort draußen. Aber von den Klassenkameraden aus der Hight-School lebten nur noch sehr wenige hier in der Stadt.
»Da wir gerade von den Schülern aus der High-School reden«, meinte Mindy. »Die ganze Stadt spricht davon, daß du in Kenny Kroneks Chor mitsingen wirst.« »Neuigkeiten verbreiten sich schnell.« »Wenn es um Wintergreens berühmteste Bürgerin geht, ganz bestimmt.« »Woher hast du es erfahren?« »Wir spielen mit Kenny und Faith zusammen Bridge.« »Ah, Kenny und Faith. Ihr seid also gute Freunde.« »Ziemlich gute. Er macht die Steuern für unser Geschäft, und er hat mit mir zusammen in verschiedenen Komitees gearbeitet. Kenny ist einer dieser Männer, der die ehrenamtlichen Arbeiten tut, die sonst keiner machen will. So ist er auch Chorleiter geworden.« »Das habe ich gehört.« »Wenn du jemanden brauchst, der eine Parade zum Nationalfeiertag am vierten Juli organisiert oder einen Pfannkuchenverkauf für den Lions-Club, dann brauchst du nur Kenny zu bitten. Er kennt alle in der Stadt.« »Erstaunlich, wie die Menschen sich verändern können, wenn sie erst einmal die High-School hinter sich haben.« »Oh, Tess, erinnerst du dich noch daran, wie gemein wir immer zu ihm waren? Waren wir nicht einfach schrecklich?« »Ich glaube schon.« »Und er ist ein so netter Mann, wirklich.« »Meine Mutter ist überzeugt davon. Er ist ständig bei ihr und hilft ihr.« »Das ist typisch Kenny.« Tess legte eine Wassermelone in ihren Einkaufswagen. »Und wie paßt Faith in dieses ganze Bild?« fragte sie. »Faith? Oh, sie sind schon eine Ewigkeit zusammen.« »Komisch, daß sie nicht verheiratet sind.« »Ich glaube, er hat sich beim ersten Mal ganz schön die Finger verbrannt du hast doch sicher gehört, daß ihm seine Frau weggelaufen ist?« »Ja, davon habe ich gehört.« »Ich würde sagen, er wird nie wieder heiraten, weder Faith noch sonst irgendeine andere Frau.« Sie unterhielten sich noch eine Weile, und auch wenn Tess liebend gern mehr über die Beziehung zwischen Kenny und Faith erfahren hätte, so konnte sie doch kaum mitten im Supermarkt danach fragen, ohne daß später die ganze Stadt darüber geredet hätte. Und außerdem ging sie das ja auch nichts an. Wenn Kenny gewollt hätte, daß sie davon erfuhr, dann hätte er gestern abend ihre Frage beantwortet. Doch statt dessen hatte er schnell das Thema gewechselt. Als sie sich schließlich von Mindy verabschiedete, fragte diese:
»Du wirst doch sicher noch zur Hochzeit hier sein, nicht wahr?« »Du meinst Rachels und Brents Hochzeit? Aber natürlich.« »Großartig. Dann sehen wir uns dort.« Und so hatte Tess wieder etwas Neues über Kenny Kronek erfahren. Er wurde gemocht, respektiert und sogar hoch gelobt von den Mitbürgern in der Stadt, und niemand schien etwas dabei zu finden, daß er Faith Oxbury nicht geheiratet hatte. Am Ende des Nachmittags holte Tess gerade die Bettwäsche von der Leine, als Faith mit ihrem Wagen in die Gasse einbog und eine Tüte mit Lebensmitteln aus ihrem Wagen holte. »Hi, Tess.« Sie winkte ihr zu und kam dann zu ihr herüber. »Hi, Faith.« »Wie war denn die Chorprobe gestern abend?« »Großartig. Es hat mir wirklich Spaß gemacht.« »Kenny hat gesagt, Sie sind so gut, daß er das Gefühl hat, Ihrem Talent nicht gerecht zu werden.« Tess hätte nicht überraschter sein können. »Das hat er wirklich gesagt?« »Oh, er ist voller Bewunderung für Sie und für Ihre Kunst.« Eigenartig, daß Faith so etwas sagte. Kenny hatte Tess niemals auch nur den kleinsten Anlaß gegeben, zu glauben, daß er so dachte. »Ich bin nur ein Sänger unter vielen im Chor.« »Nein, für ihn ganz und gar nicht. Es fällt ihm sogar schwer, nachts zu schlafen, weil er sich Sorgen darüber macht, ob er Sie in den Chor auch richtig eingebunden hat, und er befürchtet, daß der Chor nicht gut genug ist für Sie. Ich habe gestern mit ihm telefoniert, und er war ziemlich brummig. Er hat gesagt, er hätte in der Nacht davor nicht gut geschlafen.« »Nun ja... das tut mir leid.« Sie blickte zu dem Fenster des Zimmers, in dem er früher geschlafen hatte. »Sagen Sie ihm...« Sagen Sie ihm, daß ich glaube, seine Schlaflosigkeit hatte einen ganz anderen Grund, genau wie bei mir. »Sagen Sie ihm, er solle ganz einfach vergessen, wer ich bin, und mich behandeln wie all die anderen auch.« »Sehen Sie? Genau das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe erklärt, daß Sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen ad daß er sich ganz unnötige Sorgen macht. Ich werde ihm erzählen, was Sie gesagt haben. Nun...« Sie hob die braune Papiertüte mit den Lebensmitteln auf ihre Hüfte. »Ich beeile mich besser, nach Hause zu kommen, damit ich diese Schweinekoteletts auf den Herd kriege.« Tess war es nicht entgangen, daß Faith Kennys Haus ihr Zuhause genannt hatte. Faith wandte sich um und ging, doch nach ein paar Schritten wandte sie sich noch einmal um. »Ich habe ganz vergessen, mich zu erkundigen, wie es Mary heute geht.« Sie bringt mich zum Wahnsinn. »Sie kann schon besser laufen.«
»Das ist großartig. Grüßen Sie sie von mir, und wenn Sie irgend etwas brauchen, rufen Sie einfach an.« »Das werde ich.«Es schien, daß überall in der Stadt, wohin Tess auch ging, die Leute von Kenny sprachen. Entweder das, oder sie begegnete im ständig, bis er nicht mehr aus ihren Gedanken verschwand, war es nun Notwendigkeit oder Neugier, die sie an diesem Abend um Viertel vor sieben zu seinem Haus trieb, nachdem sie den restlichen Braten weggeräumt und das Geschirr gespült hatte? Auch wenn sie sich einzureden versuchte, daß sie nur mit Casey reden wollte, so hätte sie das genausogut am Telefon erledigen können. Doch als dann das Geschirr wieder in den Schrank geräumt war und Mary vor dem Fernsehapparat saß, ging Tess ins Bad, frischte ihr Make -up auf, kämmte sich das Haar und ging dann zum Haus der Kroneks - zum ersten Mal seit achtzehn Jahren. Sie klopfte an und wartete dann. Wind und Sonne fingen sich in der Ecke hinter dem Haus, und sie fühlte, wie kleine Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten herabrannen. Sie versuchte, nicht in den Wintergarten hineinzusehen, aber wer kann schon neben einer Glaswand stehen und nicht hindurchsehen? Wo seine Mutter früher im Herbst die Gladiolenzwiebeln getrocknet und an Regentagen die Wäsche getrocknet hatte, war eine Sitzecke mit Korbstühlen und Pflanzen eingerichtet worden. Es sah sehr gemütlich aus. Sie fragte sich, ob Faith es wohl eingerichtet hatte. Plötzlich stand Casey vor ihr. »Hey, Mac, was für eine Überraschung!« Sie hielt die Tür mit dem Fuß auf. »Komm rein!« Sie wandte sich um und ging vor Tess her ins Haus. »Hey, Leute, es ist Mac!« In dem Augenblick, als Tess das Haus betrat, wurde ihr klar, daß sie für ihren Besuch die falsche Zeit gewählt hatte. Der Duft gebackener Schweinekoteletts sagte ihr, daß die drei noch beim Essen waren. Trotzdem folgte sie Casey, und als sie in die Küche trat, saßen Kenny und Faith am Tisch und aßen, ein Bild häuslichen Frie dens. Vor ihnen auf dem Tisch stand eine Ansammlung altmodischer Gerichte: Schweinekoteletts, Kartoffelbrei, Sauce, gebutterter Maisbrei und ein Gurkensalat mit Dill, wahrscheinlich genauso zubereitet, wie Kennys Mutter es gemacht hatte. Sie hatten gerade erst die Teller gefüllt, saßen mit dem Besteck in den Händen davor und blickten Tess entgegen. Casey ging zu ihrem Stuhl. »Komm und setz dich. Möchtest du ein Glas Eis tee?« »Oh, nein... es tut mir leid. Ich dachte, ihr wärt schon fertig mit Essen. Ich werde... ich werde später wiederkommen.« Faith stand sofort auf, voll gelassener Anmut. »Nein, nein! Bitte... kommen Sie doch rein, Tess. Wir sind ein wenig spät dran heute, weil Kenny nach der Arbeit noch eine Besprechung hatte, aber setzen Sie sich doch bitte. Ich hole Ihnen Eistee.« Kenny stand auf. »Ich hole ihn schon, setz dich nur, Faith.« Casey sagte: »Ich werde ihn holen. Bleibt beide sitzen.« In ihrem
ganzen Leben hatte Tess sich noch nie so als Eindringling gefühlt. Nach allem, was gestern abend zwischen ihr und Kenny gewesen war, war sie sicher gewesen, der Grund dafür, daß sie überhaupt hierhergekommen war, sei Neugier. Doch jetzt, als sie hier war und die häusliche Atmosphäre miterlebte, kam sie sich vor wie ein Dummkopf. Falls Kenny den Grund für ihr Kommen ahnte, ließ er sich nichts anmerken. Er hatte sich von der Überraschung schnell wieder erholt. »Bitte... setz dich doch, Tess«, forderte er sie auf. Casey stellte ein Glas Eistee vor den leeren Platz am Tisch, dann setzte sie sich wieder und aß weiter. »Danke, Casey«, sagte Tess und setzte sich. Sie stellte sofort fest, daß Faith gut zu Kenny paßte. Vielleicht wechselten die beiden sich ab mit dem Kochen, doch dieses Mahl hatte Faith gekocht, und es sah ganz so aus, als würde seine Mutter noch leben. Genauso ein Essen hätte Lucille auch gekocht, wahrscheinlich hätte sie sich sogar genauso gekleidet wie Faith. Faith hatte sich umgezogen, und sie trug jetzt eine pastellgrüne Baumwollhose und eine frische grünweiß bedruckte Bluse. Sie sah so frisch und so altmodisch aus wie ihr Gurkensalat. Selbst die Küche war noch unverändert: die gleichen weißen Wände, die gleiche blaue Plastikuhr an der Wand, noch immer der gleiche Tisch mit der Kunststoffplatte. Die Gardinen waren zwar neu, doch im gleichen Stil. Tess erkannte sogar das Geschirr wieder, von dem die drei aßen. Nachdem sie sich in dem Raum umgesehen hatte, kehrten ihre Blicke wieder zu Kenny und Faith zurück, die zögerten, weiterzuessen. Tess entschied, da sie nun einmal ihr friedliches Mahl gestört hatte, konnte sie auch gleich zum Zweck ihres Besuches kommen. »Ich wollte eigentlich mit Casey reden.« Casey schnitt gerade ein Stück von ihrem Kotelett ab, sie war die einzige, die weiteraß. »Sicher. Worum geht es denn?« »Ich möchte, daß du mit mir nach Nashville kommst und im Hintergrundchor mitsingst, wenn ich >Small Town Girl< aufnehme. « Caseys Augen waren so groß und so braun wie Kastanien. Messer und Gabel fielen ihr aus der Hand und landeten mit einem lauten Klirren auf dem Teller. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie. Dann schlug sie beide Hände vor den Mund. »Oh, mein Goooott.« Faith blickte unsicher von Tess zu Casey und wieder zurück, dann flüsterte sie: »O du liebe Güte.« Kenny legte schweigend das Besteck beiseite, er sah, wie sich die Augen seiner Tochter mit Tränen füllten. Ohne ein weiteres Wort stand Casey auf und ging zu Tess hinüber. »Komm her«, flüsterte sie mit rauher Stimme. Tess stand auf, und Casey nahm sie in den Arm. Es war mehr als nur eine Umarmung, es war Dankbarkeit und Sprachlosigkeit und ein Unvermögen, ihre Freude auf eine andere Art auszudrücken. Sie stand ganz einfach da und klammerte sich an ihr Idol, während Sternenstaub vom Himmel zu fallen
schien. Etwas Wunderbares geschah mit Tess, als dieses Mädchen sie in den Armen hielt. So muß es sich anfühlen, wenn man Mutter ist, dachte sie, wenn man jemanden hat, der einen bedingungslos liebt, weil er dich braucht, dich respektiert und dich als Vorbild ansieht. Ihr Herz schwoll vor Glück. »Das ist wirklich dein Ernst, nicht wahr?« brachte Casey schließlich hervor. Sie trat einen Schritt zurück und sah in Tess' Gesicht. »Ja, wirklich. Ich habe bereits mit meinem Produzenten gesprochen, und er wird den Termin für die Aufnahme in die erste Juniwoche legen, gleich nachdem du deinen Schulabschluß gemacht hast. Ich habe gestern abend mit deinem Vater darüber gesprochen, und er war einverstanden, daß du so lange bei mir wohnst, bis du in Nashville eine eigene Wohnung gefunden hast.« Casey wandte sich zu Kenny, Erstaunen spiegelte sich auf ihrem tränenüberströmten Gesicht. »Wirklich? Oh, Daddy, das hast du wirklich getan? Ich liebe dich so sehr!« Sie warf sich in seine Arme und umarmte ihn genauso heftig wie zuvor Tess. »Danke, danke!« Sie gab ihm einen schallenden Kuß auf den Mund, dann sprang sie auf, nachdem der erste Schock sich in Aufregung verwandelt hatte. »Oh, du liebe Güte, ich kann es nicht glauben! Ich werde nach Nashville gehen!« Sie nahm Faith' Gesicht in beide Hände und gab ihr einen schnellen Kuß mitten auf den Mund. »Ich werde nach Nashville gehen, Faith! Nashville! Ich werde zusammen mit Mac auf einer Platte singen!« Sie sprang in der Küche hin und her wie ein Gummiball. »Ich muß sofort Brenda anrufen und es ihr erzählen. Und Amy! Nein, Augenblick, ich glaube, ich setze mich erst einmal eine Minute lang hin... mein Magen fühlt sich ganz komisch an.« Sie sank auf ihren Stuhl und hielt sich mit beiden Händen den Magen, dann schloß sie die Augen, holte tief Luft und legte eine Hand auf ihre Brust. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie noch einmal. »Nashville.« Während Faith die Reaktion Caseys zu genießen schien, warf Tess einen Blick zu Kenny, der zu ihrer Rechten saß. Er lächelte, doch sein Lächeln war so bittersüß, wie es Tess noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. »Ich glaube, du hast meine Tochter irgendwie glücklich gemacht«, sagte er gespielt untertrieben. Alle lachten, und Faith füllte die Teegläser auf. »Ich denke, hierauf sollten wir trinken.« Alle vier stießen mit ihren Gläsern an, und Faith sagte: »Auf Wintergreens nächsten Star.« ' Leise fügte Kenny hinzu: »Und auf Tess, die das möglich gemacht hat.« Während sie tranken, trafen sich Tess' und Kennys Blicke über den Rand ihrer Gläser hinweg, doch schnell senkten sie die Blicke wieder, weil sie wußten, daß sie nicht allein waren. In die sem Augenblick jedoch begriff Tess,
was es ihn kostete, diese Worte auszusprechen, und sie bewunderte ihn dafür, daß er Casey ihre Freiheit gab, obwohl er so viele Vorbehalte hatte. Als sie die Gläser wieder absetzten, bemühten Kenny und Tess sich noch immer, einander nicht anzusehen. »Nun«, meinte Tess, »auf jeden Fall ist es mir gelungen, euch das Abendessen zu verderben, nicht wahr?« »Verderben!« rief Casey. »Du machst wohl Spaß?« Kenny schob seinen Teller zur Seite. »Wir können später essen.« »Aber sicher«, stimmte Faith ihm zu. »Aber ein Blaubeertörtchen mit Eiscreme müssen Sie noch mit uns essen, Tess.« »O ja, bitte«, rief Casey. »Du kannst mich jetzt nicht allein lassen. Ich habe eine Million Fragen, die ich dir stellen möchte!« Tess aß das Blaubeertörtchen, sie schob die Eiscreme beiseite und aß hauptsächlich die Beeren. Ab und zu trafen sich ihre Blicke mit denen von Kenny, unbewußt, doch sie schafften es beide sehr überzeugend, ihre Gefühle voreinander und auch vor den anderen zu verbergen. Nachdem das Törtchen gegessen war, bestand Casey darauf, daß Tess mit in ihr Zimmer kam und sich einen Song anhörte, an dem sie gerade schrieb. Nicht, daß sie erwartete, Tess würde ihn aufnehmen, erklärte sie ihr, aber würde Tess ihn sich bitte mal anhören. Denn wenn Casey schon nach Nashville ging, so wollte sie gleich jetzt feststellen, ob sie mehr als nur einen einzigen Song schreiben konnte oder ob sie nur das Zeug zu einem Song hatte. Tess verbrachte eine halbe Stunde in Caseys Zimmer, und in der Zeit wurde ihr klar, daß dieses Mädchen wirklich mehr als nur einen Song schreiben konnte. Sie stellte auch fest, daß Kenny noch immer sein altes Schlafzimmer benutzte und daß das untere Zimmer »Faith' Zimmer« genannt wurde. Auf ihrem Weg nach oben hatte Casey auf die Tür gedeutet. »Das ist Faith' Zimmer«, hatte sie so ganz nebenbei erklärt. Und als sie dann oben waren, deutete sie auf die Tür von Kennys altem Zimmer. Und das ist Dads Zimmer. Hier ist mein Zimmer.« Als Tess dann später durch die Küche das Haus verließ, waren Faith und Kenny gerade dabei, das Geschirr zu spülen ad es in den Schrank zu stellen. Sie wusch ab, er trocknete ab. Nun, ich werde nach Hause gehen. Casey sitzt oben in ihrem Zimmer und komponiert. Morgen früh wird sie wohl genügen M aterial zusammenhaben, um zwei eigene Alben aufzunehmen.« Faith stellte das Wasser ab, und Kenny legte das Geschirrtuch auf die Anrichte. »Ich bring dich raus«, meinte er. »Oh, nein, du brauchst dir keine Mühe zu machen.« »Es ist keine Mühe.« Sie gingen über die Veranda nach draußen und ließen Faith in der Küche
zurück. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß, und Kenny begleitete Tess zur Gasse. Sie gingen langsamer, als es nötig war, wenn man bedachte, daß seine Freundin hinter ihnen im Haus wartete und das Licht auf der Veranda hell genug war, um von dort aus alles zu sehen. »Nun, jetzt ist es geschehen«, sagte Kenny. »Sie wird nach Nashville gehen.« »Und ich habe das Gefühl, ich hätte dir einen Tiefschlag versetzt.« »Ich werde es überleben.« Tess fühlte die Wärme, die von seinem Körper ausging, und sie wußte auch, daß aller Wahrscheinlichkeit nach Faith sie aus dem Fenster neben dem Küchentisch beobachtete. »Wenn es dich tröstet - ich weiß, wie schwer das für dich ist, und ich bewundere dich für deine Haltung. « »Das ist nur ein schwacher Trost. Mir wäre es lieber, wenn sie etwas anderes machen würde.« »Ja, das weiß ich. Ich werde mein Bestes für sie tun, Kenny, das verspreche ich dir. Und danke, daß du sie gehen läßt.« Sie waren an der Gasse angekommen und als Tess sich umwandte, um ihn anzusehen, sorgte sie dafür, daß der Abstand zwischen ihnen groß genug war. Ihr war plötzlich kalt, als er ihr nicht länger nahe war. Er hatte beide Hände in die Hosentaschen geschoben, als müsse er sich Mühe geben, sie nicht zu berühren. »Faith ist wirklich wundervoll«, sagte sie, und ihre Worte waren ehrlich gemeint. »Ja, das ist sie.« »Ihr beide seht aus, als würdet ihr gut zueinander passen.« »Deshalb bist du gekommen? Um festzustellen, wie wir zu einander passen?« Tess wußte nicht, was sie darauf antworten sollte, doch schließlich entschied sie sich, einer klaren Antwort auszuweichen. »Und was wäre, wenn ich jetzt ja sagte?« »Dann würde ich dich sehr wahrscheinlich fragen, worauf du hinauswillst.« »Und ich würde dir sehr wahrscheinlich antworten, daß ich es nicht weiß, Kenny. Und das ist die Wahrheit. Ich weiß es nicht.« Er suchte in ihren Augen nach einer Antwort, während sie sich Sorgen machte, daß Faith sie beobachtete. Dabei dachte sie an all die Eigenschaften, die sie an ihm entdeckt hatte und die ihr gefielen. In dem Haus auf Tess' Seite der Gasse konnte man sie aus zwei Fenstern der unteren Etage beobachten. Kenny schob eine Hand in die hintere Tasche seiner Jeans, während die
Spannung zwischen ihnen ins Unerträgliche wuchs. Schließlich stieß er den lang angehaltenen Atem aus und ließ den Kopf hängen. »Himmel, ich habe das Gefühl, ich sitze wieder in diesem Schulbus.« Sie waren schon viel zu lange hier draußen. Sicher würde Faith sich wundern, warum sie so lange brauchten. »Hör mal, es ist wohl besser, wenn du jetzt wieder reingehst.« »Ja, ich gehe besser wieder rein«, wiederholte er mit einem ironischen Unterton in der Stimme. Er hob den Kopf. Doch keiner von ihnen beiden machte Anstalten, ins Haus zu gehen. Genau wie gestern abend im Auto, so zögerten sie auch diesmal, sich voneinander zu trennen, und blieben noch einen Augenblick stehen. Schließlich flüsterte er: »Was tust du mit mir, Tess?« Sie wußten beide, daß ihre Beziehung zu Casey sie auch mit einander verband. Es würde Zeiten in der Zukunft geben, wo er nach Nashville kommen würde, um seine Tochter zu besuchen. Tess trat einen zögernden Schritt zurück. »Ich muß gehen«, sagte sie. »Von jetzt an werde ich auf meiner Seite der Gasse bleiben. Es tut mir leid, Kenny.« Als sie sich umwandte, stellte sie fest, daß sie mit dem Rücken an Faith' Wagen stand. Sie mußte um den Wagen herumgehen, um die Gasse zu durchqueren.
11. Kapitel Die Woche verging. Jeden Tag nach der Schule kam Casey zu Tess, doch Tess vermied es, mit Kenny zusammenzutreffen, und sie ging auch nicht in den Garten, wenn sie wußte, daß er zu Hause war. Sie half Mary, bei ihrer Physiotherapie, und es schien, als würden sie über alles und jedes streiten. Burt rief am Freitag aus Omaha an. Southern Smoke hatte in Stillwater, Oklahoma, gespielt und in Wichita, Kansas, und sie würden in der gleichen Woche nach Nashville zurückkommen wie Tess. Sie verabredeten sich beide im Stockyard -Cafe für den Dienstag in der Woche, in der sie nach Hause kamen. Am Sonntag erklärte Mary, daß sie in die Kirche gehen wollte, um Tess singen zu hören. Sie war jetzt eine ganze Woche lang im Haus g eblieben, und es war Zeit, daß sie endlich einmal rauskam. Tess wollte gerade den Rollstuhl in den Wagen laden, als Kenny aus dem Haus kam. »Warte! Ich werde dir helfen!« rief er. Er war bereits angezogen für die Kirche, und er sah so umwerfend gut aus, daß ihr Herz schneller zu schlagen begann. »Ich habe geglaubt, du wärst schon weg«, sagte sie, als sie ihm zusah, wie er den Rollstuhl ohne große Mühe in den Kofferraum des Wagens hob.
»Nein, ich fahre immer erst um zwanzig vor.« Er schlug den Kofferraum zu und rieb dann seine Hände gegeneinander, dabei vermied er es, sie anzusehen. Statt dessen blickte er zum Haus. »Brauchst du Hilfe, um deine Mutter in den Wagen zu setzen?« »Nein, das macht sie ganz allein.« »Also gut. Dann sehen wir uns in der Kirche.« Er ging zu seiner Garage hinüber und pfiff schrill durch die Zähne. Casey kam aus der Hintertür gelaufen. »Beeil dich«, rief er ihr zu. »Wir kommen sonst zu spät!« »Hey, Mac!« rief Casey, als sie an ihr vorbeilief - und einen Augenblick später waren die beiden schon weg. Also, dachte Tess, Mister Eismann. Er konnte nicht widerstehen, aus dem Haus zu laufen, als er mich sah, aber er hat sich dafür gehaßt, also hat er es an mir ausgelassen. Zwanzig Minuten später sang Tess »Heilig, heilig, heilig«, während Kenny dirigierte. Ein Schauer lief ihr dabei über den Rücken und durchbrach die Barriere aus Eis, die er zwischen ihnen aufgerichtet hatte. Immer wieder begegneten sich ihre Blicke, und sie hielten einander zu intensiv gefangen, um gelassen bleiben zu können. Beide lernten sie an diesem Morgen, daß ein auf dieser Ebene gemeinsam erlebter Gottesdienst die Menschen enger aneinanderbindet, ob man es nun will oder nicht. Als Tess dann endlich »Beautiful Savior« sang, hatte Kenny die Jacke seines Anzugs ausgezogen, seinen Schlips gelockert und die weißen Ärmel seines Hemdes hochgerollt. Etwas Ge waltiges war zwischen ihnen geschehen, als sie ihr Solo sang. Etwas, das nicht wieder rückgängig gemacht werden konnte. Nach dem Gottesdienst wurde sie in der Eingangshalle von Menschen umringt. Die Nachricht, daß sie heute sang, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und die Anzahl der Kirchengänger war größer als alles, was die Gemeinde je erlebt hatte. Viele, die sonst andere Kirchen besuchten, waren heute hierhergekommen. Alle lobten Tess, sie fragten, ob sie auch auf der Hochzeit ihrer Nichte singen würde (das würde sie nicht), und sie wollten auch wissen, ob es stimmte, daß Casey Kronek auf einer ihrer Platten mitsingen würde. Diese Frage zu beantworten machte ihr viel Spaß. Casey stand neben ihr, selbst noch, nachdem Tess sich zu ihrer Familie gesellt hatte. Mary hatte man mit ihrem Rollstuhl über die breite Rampe vor der Kirche hinuntergerollt, auf den Platz, wo alle sich versammelt hatten. Einige Mitglieder der Familie besuchten sonst immer den frühen Gottesdienst, doch heute waren sie alle in den zweiten Gottesdienst gekommen, und Tess war gerührt von der Unterstützung, die sie ihr damit gezeigt hatten. Nichten, Neffen, Schwäger und Schwester, alle umarmten Tess mit Stolz in den Augen. Nur Judy, die nichts dagegen hatte, sich in dem Ruhm zu sonnen, eine
berühmte Schwester zu haben, konnte sich nicht dazu überwinden, ihr ein Kompliment zu machen. Statt dessen stand sie neben der Familie, die sich um Tess versammelt hatte, als Hoch würden Giddings zu Tess trat und ihr lange die Hand schüttelte. Er grinste so breit, daß seine Augen beinahe vollständig verschwunden waren. »Ich kann Ihnen nicht genug danken, junge Dame. Ausgezeichnete Arbeit. Ausgezeichnet! Sie haben wirklich die Leute in die Kirche gebracht.« Er beugte sich zu ihr und sprach etwas leiser. »Und falls ich mich nicht irre, gibt es hier in der Umgebung heute morgen einige recht leere Kirchen.« Nachdem er ihr noch einmal die Hand gedrückt hatte, sagte er zu jemandem, der hinter Tess stand: »Sehr gut gemacht, Kenny, und eine besonders sorgfältig ausgesuchte Musik heute morgen.« Tess hatte nicht gewußt, daß Kenny hinter ihr stand, doch als sie sich umwandte, schüttelte Hochwürden Giddings gerade seine Hand und legte die andere Hand auf seinen Arm. Wieder sprach der Geistliche leiser und wandte sich dabei an sie beide. »Wie ich gehört habe, ist der Kollektenteller heute morgen übergelaufen, das läßt ein gutes Ergebnis ahnen. Ich danke euch beiden dafür.« Obwohl sie von bekannten Gesichtern umgeben waren, sahen Kenny und Tess nur noch einander. Sie standen im Sonnenschein und waren einander so nahe, daß sie den Ausdruck in den Augen des anderen erkennen konnten. Er sah die schwarzen Pünktchen in ihren bernsteinfarbenen Augen, sie den grünen Ring in seinen braunen Augen. Er hatte seine Jacke wieder angezogen, doch sein Schlips war noch gelockert und der oberste Hemdknopf geöffnet. Tess trug einen dünnen Rock und eine Bluse aus ziegelroter Seide, die sich im leichten Wind an ihren Körper schmiegte. Sie standen so nahe beieinander, daß ihr Rock gegen seine Hosenbeine geweht wurde. Um ihren Hals trug sie an einer Kette eine winzige goldene Rose und kleine Rosenknospen in den Ohren, weil sie dachte, daß ihm diese Art von Schmuck besser gefallen würde. Die kleine weiße Tasche in ihrer Hand bot nicht einmal genug Platz für eine Sonnenbrille. Jetzt hob sie die Tasche hoch, um damit ihre Augen zu beschatten, und Kenny trat einen Schritt zur Seite, um ihr Schatten zu spenden. Es war sein Tag, den er nicht mit Faith verbrachte, ein Tag, an dem er tat, was er wollte. »Dies war wahrscheinlich der beste Sonntag, den ich je hatte, seit ich angefangen habe, den Chor zu leiten«, sagte er zuTess. »Warum?« »Deinetwegen.« Sie hatte nicht erwartet, daß er so direkt sein würde. »Irgend etwas hat mich getroffen... hier.« Sie legte eine Hand auf ihr Herz. »Das habe ich bemerkt.«
»Dir ist es auch so ergangen, nicht wahr?« »Ja. Mich hat auch etwas getroffen«, gestand er ihr. »So war das immer, als ich noch klein war... die Musik, meine Familie, die Kirche... ich weiß nicht.« »Jetzt begreife ich mehr als je zuvor, warum du einen so großen Erfolg gehabt hast. Du hast Charisma.« »Das schienst du aber heute morgen nicht zu glauben, als wir uns in der Gasse gesehen haben.« »Ach, das.« »Ich dachte, du seist böse auf mich.« »Das tut mir leid. Ich bin manchmal ein wenig mürrisch.« »Tu so etwas nicht wieder, okay? Du darfst mir gegenüber nicht so eiskalt sein.« »Es tut mir leid. Ich dachte, es wäre besser so, in Anbetracht von... na ja...« Er hielt sich gerade noch zurück, sonst hätte er gesagt: »Faith.« »Wir können einander doch begegnen und uns begrüßen, ohne einander weh zu tun, oder etwa nicht?« »Du hast recht. Es wird nicht mehr vorkommen.« Ohne jede Vorwarnung tat er, was er niemals tun würde, wenn sie allein waren. Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuß auf die Schläfe, »Es tut mir leid«, sagte er leise. Tess fühlte, wie ihre Körper kurz zusammenstießen, sie roch den Duft nach Sandelholz und fühlte seine Lippen an ihrem Ohr. »Danke, daß du heute gesungen hast, Tess. Das werde ich nie vergessen.« So schnell, wie er sie in den Arm genommen hatte, ließ er sie auch wieder los. Casey stand plötzlich zwischen ihnen und legte die Arme um sie beide. »Hey, Tess, möchtest du heute nachmit tag mit mir ausreiten? Es ist der richtige Tag dafür.« Verbunden durch das M ädchen, standen sie beieinander, während Tess zu verbergen versuchte, daß sie verwirrt war. »Herrjeh, ich weiß gar nicht, ob ich Momma allein lassen kann.« »Kann nicht jemand anders ein paar Stunden bei ihr bleiben? Du brauchst ab und zu auch mal eine Pause.« Noch ehe Tess antworten konnte, war Casey schon wieder verschwunden und sprach das erste Familienmitglied an, das ihr begegnete. Es war Renee. »Hey, Renee, kann nicht jemand heute nachmittag bei eurer Momma bleiben, damit Tess mit mir ausreiten kann?« »Sicher, das kann ich machen«, antwortete Renee. »Um wieviel Uhr soll es denn losgehen?« Tess wandte sich an Kenny. »Wirst du mitkommen?« fragte sie. Er sah sie an, und ihre Blicke hielten einander gefangen, doch dann räusperte er sich. »Nein, besser nicht«, antwortete er leise. Tess gelang es, ihre Enttäuschung vor ihm zu verbergen. Casey kam zu
ihr zurück. »Um wieviel Uhr möchtest du reiten?« fragte sie. »Wann es dir recht ist.« »Wie wäre es um ein Uhr? Ich muß so gegen vier wieder zurück sein.« Und so wurde es ausgemacht. Sie nahmen Caseys Pick-up, der so alt war, daß die hinteren Stoßdämpfer völlig abgenutzt waren. Jedesmal, wenn sie über eine Unebenheit fuhren, stieg Staub auf von all dem Krimskrams, der auf der Ablage lag. Doch das Radio funktionierte, und sie sangen zusammen Country-Songs oder unterhielten sich darüber, bis sie bei Dexter Hickey waren. Bei Tage sah es hier völlig anders aus. Der weiße Zaun mußte dringend gestrichen, die Wiese mußte gemäht werden, doch die Landschaft war noch immer atemberaubend. Die Ranch grenzte an ein weites Gebiet offenen Graslandes, das mit Apfelbäumen bestanden war, die die Pferde niedrig gehalten hatten. Wilde Butterblumen blühten als gelbe Flecken zwischen dem üppigen Gras. Nach Westen, Norden und Osten wurde das Tal von Bäumen begrenzt, und rostrote Wege, von den Pferden ausgetreten, führten in die Wälder. Das Innere des Stalles war sauber, der Sattelraum aufgeräumt. Dexter hatte eine Stute mit Namen Sunflower in einer Box für Tess bereitgestellt, mit der Anweisung, sie nach dem Reiten auf die Weide zu lassen. »Weißt du noch, wie man ein Pferd sattelt?« fragte Casey. »Es ist schon eine ganze Weile her.« »Kein Problem. Ich werde es für dich tun.« Als Sunflower und Rowdy gesattelt waren, stiegen die beiden Frauen auf und ritten durch den Stall. Die Hufe klapperten im Takt auf dem gepflasterten Boden, bis sie aus dem Stall auf den ausgetretenen Weg hinausritten, der sie zum Wald führte. »Wie fühlst du dich?« fragte Casey, die sich zu Tess umwandte. »So, als würde es morgen weh tun. Ich bin nicht mehr daran gewöhnt.« »Wir werden es langsam angehen lassen.« »Einverstanden.« Casey saß auf dem Pfe rd, als gehörte sie dort hin. Sie sah aus wie ein Landstreicher in ihren alten Jeans, den ausgetretenen Cowboystiefeln, einem verwaschenen karierten Hemd und einem fleckigen Cowboyhut. Sie saß gerade wie ein Stock auf ihrem Pferd, mit einer Hand auf dem Oberschenkel. Tess dagegen sah aus wie ein Neuling. Sie trug Jeans und ein lose hängendes T-Shirt, glänzende Cowboystiefel, eine Baseballmütze und ihre übergroße Sonnenbrille. Sie ritt, als sei sie nicht sicher, daß dieser Ausritt eine gute Idee gewesen war. Als sie bei dem ersten Fleck mit gelben Butterblumen angekommen waren, rief Casey: »Hey, Tess, weißt du was? Ich habe heute abend eine Verabredung.« »Wie schön für dich. Jemand Besonderes?«
»Nein, nur ein Junge, auf den ich im letzten Jahr ein Auge geworfen hatte. Er hat mich angerufen und mich gefragt, ob ich nicht mit ihm nach Poplar Bluff ins Kino fahren will. Wie mir scheint, bin ich plötzlich sehr begehrt, weil ich mit dir zusammen eine Platte aufnehmen werde. Ich habe überlegt, ob ich nein sagen soll, nur um mich an ihm zu rächen, weil er mich im letzten Jahr völlig ignoriert hat, aber dann dachte ich, was soll's. Eine Verabredung ist eine Verabredung.« »Als ich noch in der High-School war, hatte ich auch nicht viel Zeit für Jungen.« »Ich weiß auf jeden Fall, daß du nicht viel Zeit für meinen Dad hattest.« Als Tess nicht antwortete, senkte Casey das Kinn und sah sie über ihre Schulter hinweg an. Unter der Krempe ihres Hutes blitzten ihre Augen schelmisch. Schließlich fragte sie: »Sollen wir ein Stück traben?« »Warum nicht?« Sie trieb Rowdy zum Trab, und Sunflower folgte ihm. Nach fünfzig Yards fielen sie in einen leichten Galopp und ritten am Rand des Tales entlang in den Wald hinein, wo Casey Rowdy zügelte und auf Tess wartete. »Geht es dir gut?« fragte sie, als Tess bei ihr angekommen war und ihr Pferd ebenfalls gezügelt hatte. Sie hatte Tess' Unerfahrenheit richtig eingeschätzt und drängte sie nicht zu sehr. »So weit, so gut.« Die Pferde schüttelten ihre Köpfe, ihre Mähnen flogen und ihr Zaumzeug klirrte. »Wir lassen sie eine Weile ausruhen«, schlug Casey vor und tätschelte Rowdys Hals. Dann blieb sie ganz still sitzen und blickte hoch zu den Bäumen. Nach einer Weile legte sie ein Bein auf den Sattelknauf und stützte beide Hände auf den Rücken des Pferdes, noch immer blickte sie in das grüne Blätterdach über ihnen. Eine Pappel rauschte, die Nadeln einer Kiefer in der Nähe dufteten. Die beiden Pferde senkten die Köpfe und zupfen an den Grashalmen. Völlig unerwartet fragte Casey plötzlich: »Also, was geht da vor zwischen dir und meinem Dad?« Tess gelang es nicht, ihre Überraschung zu verbergen. »Nichts.« »Ich dachte, ich hätte da etwas Unterschwelliges gefühlt, als wir vor ein paar Tagen bei uns zusammen am Tisch saßen, und heute morgen vor der Kirche, da habe ich euch bei irgend etwas Unterbrochen. Das habe ich gespürt.« »Nein. Es ist nichts.« »Ihr habt miteinander geflüstert, und du bist rot geworden.« »Vor all diesen Menschen? Glaubst du etwa, wir beide würden miteinander flirten, wenn die ganze Stadt dabei zusieht? Das wäre wohl nicht gerade sehr intelligent.« »Nun, was war es dann? Er hat dich in den Arm genommen.«
»Er hat sich bei mir bedankt, daß ich heute morgen gesungen habe.« »Oh, war das alles?« fragte Casey ausdruckslos. Wieder blickte sie zu dem Blätterdach über ihr, als sei das Thema erledigt, doch dann fügte sie plötzlich hinzu: »Nun, er ist ein guter Mann. Du hättest dir einen wesentlich schlechteren aussuchen können.« Sie nahm das Bein vom Sattelknauf und griff nach dem Zügel, als wollte sie weiterreiten. Tess sagte: »Er ist Faith verpflichtet, und ich werde in zwei Wochen nach Nashville zurückfahren.« »Das heißt doch nicht, daß sich nichts tut zwischen euch. Und falls das so sein sollte, dann sollst du wissen, daß ich vollko mmen damit einverstanden bin. Ich fände es toll, wenn du und Dad eine richtige heiße Liebesaffäre beginnen würdet. Ich wette, du könntest ihm noch etwas beibringen.« »Casey!« »Na ja, Faith ist ganz in Ordnung, aber ich wette, sie zu küssen, das ist genauso, als würde man einen Menschen küssen, der im Koma liegt.« »Weiß dein Dad eigentlich, daß du so über sie sprichst?« »Himmel, nein! Wir müssen doch die alte Charlotte russe aufrechterhalten.« Gegen ihren Willen mu ßte Tess lachen. Casey lenkte ihr Pferd tiefer in den Wald, und als sie dann einen Blick auf die Wiese hinter ihnen warf, sagte sie: »Nun, nun... sieh einmal an, wer da kommt.« Tess reckte den Hals und drehte sich im Sattel um, und sie entdeckte Kenny, der hinter ihnen hergeritten kam. Er ritt einen kastanienbraunen Hengst, die Zügel hielt er in einer Hand, und die Krempe seines Strohhutes hatte er tief in die Stirn gezogen. Als er sie im Schatten der Bäume entdeckte, trieb er den Hengst zu einem leichten Galopp an. Auch wenn Tess auf diese Entfernung sein Gesicht nicht sehen konnte, so lag doch in seiner Haltung eine feste Entschlossenheit, als er auf sie zugeritten kam. Er ritt wie ein Mann, dessen zweite Natur es ist, auf einem Pferd zu sitzen. Er trug Jeans und ein blütenweißes T-Shirt, das der Wind gegen seinen Oberkörper preßte. Als er sie erreicht hatte, zog er die Zügel an und blieb stehen. Ich habe meine Meinung geändert«, erklärte er. »Zu Hause war es mir zu einsam.« Er hatte kaum einen Blick übrig für seine Tochter. Unter der Hutkrempe hervor betrachtete er Tess mit Blicken, die mehr verrieten, als ihm lieb war. Casey grinste breit. »Ich habe gerade zu Tess gesagt...« »Casey!« Tess warf ihr einen warnenden Blick zu. »Nichts«, versicherte sie schnell, zog ihr Pferd herum und ritt davon. » Ich bin froh, daß du gekommen bist, Dad. Wir machen langsam, weil Tess nicht mehr daran gewöhnt ist zu reiten.«
Sie ritten noch anderthalb Stunden weiter, sprachen nur wenig miteinander und genossen die Natur und diesen herrlichen Frühlingstag. Casey und Kenny hatten Tess zwischen sich genommen, und die Pferde benahmen sich vorbildlich. Un gefähr gegen vier Uhr ritten sie zurück zur Weide. Über ihren Köpfen hatten sich dicke Wolken aufgetürmt, und der Wind war wesentlich kühler geworden. »Wir werden Regen bekommen«, meinte Kenny. »Dem Garten wird das guttun«, antwortete Tess, eine Antwort, die ihr vor zwei Wochen noch nicht in den Sinn gekommen wäre. Casey grinste die beiden über ihre Schulter hinweg an. Sie reden über das Wetter wie ein paar alte Farmer. Doch mir können sie nichts vormachen. Sie sattelten die Pferde ab, Kenny kam zu Tess hinüber und half ihr, den Sattel herunterzuheben. Sie sah ihm nach, als er ihn in den Sattelraum trug und ihn dann über einen Holzblock legte. Seine Schultern waren breit , die Hüften schmal, das T-Shirt hatte er in die Hose gesteckt. Tess blickte auf die Stelle, wo es unter dem Gürtel der Jeans verschwand. Er wandte sich zu ihr um und erwischte sie dabei, daß sie ihn angestarrt hatte. Schnell drehte sie sich zu Sunflower hin und beschäftigte sich wieder mit ihr. Das Pferd war auf dem Gang zwischen den Boxen angebunden. Kenny trat neben sie. »Möchtest du mit mir zurück zur Stadt fahren, Tess?« fragte er. Sie sah zuerst zu Casey, dann zu ihm. »Oh, ich glaube, es wäre besser...« »Ist schon in Ordnung«, unterbrach Casey sie. »Fahre ruhig mit ihm. Ich muß unterwegs noch tanken, und außerdem habe ich es eilig. Ich habe nicht einmal mehr Zeit, Rowdy noch zu striegeln. Ich muß nach Hause, um mich für meine Verabredung fertigzumachen.« Sie führte Rowdy zur Tür und ließ ihn auf die Weide, dann kam sie zurück. Als sie an den beiden vorüberging, hob sie die Hand. »Hey, ihr beiden, viel Spaß. Wir sehen uns morgen, Dad. Wahrscheinlich werde ich erst nach elf Uhr zurückkommen, weil wir nach Poplar Bluff ins Kino fahren.« »Okay, sei vorsichtig.« Einen Augenblick später hörten Tess und Kenny, wie der Motor ihres Wagens gestartet wurde, und dann holperte der Wagen davon. Schweigend striegelten sie die Pferde, und während sie um die Pferde herumgingen, waren sie sich der Anwesenheit des anderen nur zu sehr bewußt. Schließlich legte Kenny die Bürste weg und kam zu Tess. »Das reicht. Ich werde sie nach draußen bringen.« Er führte Sunflower zur Tür und ließ sie hinaus, dann tat er das gleiche mit seinem Pferd. Schließlich nahm er die Bürsten und brachte sie in den Sattelraum, dann kam er zu Tess zurück und zog seine Handschuhe aus. »Wenn du dir die Hände waschen möchtest, hier drüben ist ein
Waschbecken.« »Oh... danke.« Seite an Seite standen sie und wuschen sich die Hände mit einem übergroßen Stück gelber Seife, die nach Petroleum roch. Tess betrachtete seine großen, kräftigen Hände und die behaarten Unterarme, als er sich bis zu den Ellbogen einseifte und dann das Wasser über seine Arme laufen ließ wie ein Arzt vor einer Operation. Und er betrachtete die helle, sommersprossige Haut ihrer Arme und ihre perfekt gepflegten, pflaumenblau lackierten Fingernägel, während sie ihre schlanken Hände wusch, sie abspülte und dabei darauf achtete, ihre teure Armbanduhr nicht naß zu machen. Sie betrachtete ihre Fingernägel und spülte die Hände dann noch einmal ab. Kenny nahm ein grobes blaues Handtuch von einem Haken an der Wand, und sie benutzten jeder ein Ende davon. Ab und zu sahen beide hoch, während sie sich die Hände abtrockneten. Als sie fertig waren, hängte er das Handtuch an den Haken zurück und nahm seine Handschuhe. »Laß uns gehen.« Sein Wagen war so sauber, wie der von Casey schmutzig war. Er fuhr ohne besondere Eile, die Fenster hatte er heruntergekurbelt, und der Wind blies in den Wagen, während der Himmel immer dunkler wurde und die Fichten am Straßenrand sich unter den Böen bogen. Tess nahm ihre Sonnenbrille ab und hängte sie in den Halsausschnitt ihres T-Shirts. Er warf ihr einen Blick zu, konzentrierte sich aber sofort wie der auf den unbefestigten Weg vor ihnen. »Bist du hungrig?« fragte er. »Halb verhungert.« »Was hältst du davon, wenn ein Junge vom Land aus Wintergreen dich zum Essen ausführt?« »In diesem Aufzug?« Er wandte sich ihr zu und grinste sie lässig an. »Da kenne ich genau den richtigen Ort.« Er fuhr mit ihr zum Sonic -Drive-in, und sie parkten unter einer langen Markise aus Metall, zwischen einem älteren Ehepaar, das Root-Bier trank, und fünfzehn leeren Plätzen auf der anderen Seite. Die Speisekarte und das Mikrofon, an dem man bestellte, waren auf Kennys Seite. Er stützte einen Ellbogen auf den Fensterrahmen und kniff mit der anderen Hand in seine Unterlippe. »Was möchtest du haben?« fragte er. »Ich kann die Speisekarte nicht sehen.« Sie löste den Sicherheitsgurt und rutschte auf seine Seite des Sitzes hinüber, eine Hand legte sie auf das Lenkrad, die andere auf die Kopfstütze seines Sitzes. Dann senkte sie den Kopf und studierte die Speisekarte. Auch er blickte darauf, und die Krempen ihrer Hüte waren nur einen Zentimeter voneinander entfernt.»Bist du das, der
so nach Benzin riecht, oder bin ich es?« fragte Tess. Er lachte, wandte den Kopf und kam ihr noch näher. »Benzin und Pferd, das ist eine verlockende Kombination, nicht wahr?« Tess schürzte die Lippen. »Sehr verlockend«, wiederholte sie. »Und?« »Einen Hamburger im Korb.« »Also gut. Dann rutsche bitte wieder auf deine Seite, wenn du weißt, was gut für dich ist.« Tess rutschte wieder auf ihren Sitz, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und zog ein Knie hoch, während Kenny den Rufknopf an dem Mikrofon drückte und ihre Bestellung durchgab. Nachdem er das erledigt hatte, rutschte auch er in die Ecke seines Sitzes und betrachtete Tess. Den Hut hatte er so weit in die Stirn gezogen, daß sie seine Augenbrauen nicht sehen konnte. Aus südwestlicher Richtung ertönte das erste Donnergrollen, doch sie hörten es kaum. Sie waren völlig ineinander versunken, als wären sie wieder Teenager - das Auto, das Drivein-Restaurant, ein Flirt. Nur zu gern überließen sie sich der Stimmung, die sie geschaffen hatten - auch wenn es vielleicht nicht klug war. In diesen wenigen ungestörten Stunden des Sonntagnachmittags ließen sie alle Vorsicht außer acht. Schließlich brach Tess das Schweigen. »Casey hat mich heutegefragt, was sich zwischen uns beiden abspielt.« »Und was hast du ihr gesagt?« Die Wahrheit: nichts.« Sie zupfte ein Pferdehaar von ihrer Jeans und schnippte es auf den Boden. »Dann hat sie gemeint, sie sei damit einverstanden, wenn wir etwas zusammen anfangen.« »Das hat sie wirklich gesagt?« Tess zuckte leicht die Schultern. »Du kennst doch Casey.« »Ja, ich kenne Casey.« »Aber da ist ja noch immer Faith.« »Ja, natürlich, Faith.« »Und ich werde in zwei Wochen wieder nach Nashville zurückfahren.« »Wo du hingehörst«, fügte er hinzu. »Wo ich hingehöre.« »Und ich bin nur ein Kleinstadt-Steuerberater, der dir nichts zu bieten hat, als ab und zu einen Hamburger im Sonic -Drive-in und einen mittelmäßigen Chor, mit dem du am Sonntag singen kannst.« Er machte während seiner Worte eine ausladende Handbewegung. Entweder mu ßten sie ihrem Verlangen nachgeben und einander küssen, oder sie würden vor Verlangen nacheinander sterben. Die Bedienung rettete sie, weil sie in diesem Augenblick das Tablett mit ihrer Bestellung brachte. »Könnten Sie das Fenster ein wenig hochkurbeln?« bat sie, und nachdem
Kenny das getan hatte, hängte sie das Tablett ein. »Zehn Dollar und siebzig Cents, bitte.« Er holte das Geld aus seiner Tasche. Tess sah ihm zu, wie er seinen Po ein wenig hochhob, um das Kleingeld aus der Vordertasche seiner Jeans und die Scheine aus der hinteren Tasche zu holen. Unter dem dünnen T-Shirt wurde sein Bauch dabei noch flacher. »Weißt du, was?« meinte Tess, als er ihr das Essen in einem roten Plastikkorb reichte. »Das ist die erste Verabredung, die ich in zwei Jahren hatte. Nein, in über zwei Jahren sogar.« »Und was ist mit diesem Sänger in Nashville?« »Nein, ich meine eine richtige Verabredung, wo ich mit einem Mann ausgehe und er mir etwas zu essen kauft und mich danach nach Hause bringt. Ich mache so etwas gar nicht mehr.« »Bist du dafür zu reich? Zu berühmt?« »Beides. Du hast keine Ahnung, aus welchen Gründen die Leute mir nachlaufen.« Ein neuer, glänzender Pick-up mit drei Teenagern hielt neben ihnen. Er hatte einen Überrollbügel aus Chrom, eine königsblaue Fahrerkabine, und das Radio dröhnte wie die Flugzeugmotoren bei der Schlacht im Pazifik im Zweiten Weltkrieg. Als es etwas leiser gestellt wurde, fragte Kenny: »Glaubst du das auch von mir? Daß ich hinter dir herlaufe?« »Nein. Ich glaube, du bist ganz einfach nur ein Zufall.« »Oh, das ist sehr schmeichelhaft.« »Du weißt genau, wie ich das meine.« »Na ja, es ist nett, nicht mit den Groupies in einen Topf geworfen zu werden.« »In Nashville nennen wir sie Bazillen. Aber glaube mir, du gehörst nicht dazu.« Die Hamburger waren saftig und schmeckten köstlich, sie unterbrachen ihren Flirt und aßen mit Genuß, die Fritten tauchten sie in Ketchup, und dazu aßen sie die Pickles. Tess schaffte es nicht, ihren Hamburger aufzuessen, und als sie ihn ablegte, fragte Kenny: »Bist du fertig?« »Ja. Möchtest du den Rest haben?« Er griff danach, und während er den Rest ihres Hamburgers verputzte, wischte sich Tess mit der Papierserviette den Mund ab und warf dann einen Blick zu dem Pick-up neben ihnen. »Oh-oh«, sagte sie dann. »Ich glaube, man hat mich erkannt.« Drei picklige Gesichter staunten sie mit offenen Mündern an und grinsten. »Bist du fertig?« Kenny steckte den Rest des Hamburgers in den Mund. »Los geht's«, sagte er. Er drückte auf die Hupe, und die Bedienung kam, um das Tablett abzuholen. Es begann zu regnen, als sie den Parkplatz verließen. Sie schlossen die
Fenster, Kenny schaltete die Scheibenwischer ein und bog auf die Main Street ab. Langsam fuhren sie die verlassene Straße entlang, denn keiner von ihnen beiden hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Es gab nur eine Ampel in der ganzen Stadt. Glücklicherweise war sie rot, und sie hatten noch ein wenig mehr Zeit miteinander. Sie starrten in den Regen, der über die Windschutzscheibe strömte und im Schein der roten Ampel wie Fruchtsaft aussah. Das Klopfen auf dem Wagendach wurde lauter, während sie darauf warteten, daß die Ampel umsprang, und Tess sich gegen das Gefühl wehrte, das sie schon den ganzen Nachmittag über geplagt hatte. Sie blickte zu Kenny. Er blickte zu ihr. Die Ampel sprang auf Grün, und sie fuhren weiter. »Faith wird wahrscheinlich erfahren, daß du mit mir zusammen warst«, meinte Tess. »Weißt du, ich bin es wirklich leid, daß du immer wieder von Faith anfängst.« »Entschuldigung«, murmelte sie leise und blickte aus dem Seitenfenster. Danach schwieg er wie eine Sphinx, genauso wie heute morgen, als sie sich vor dem Kirchgang in der Gasse getroffen hatten. Sie fuhren um den Stadtplatz herum und bogen dann nach Norden auf die Sycamore ein. Der Regen wurde noch stärker, und Kenny stellte die Scheibenwischer schneller. Je näher sie ihrem Zuhause kamen, desto angespannter wurde die Stimmung im Wagen. Als sie das südliche Ende der Gasse erreicht hatten, brach Tess das Schweigen. »Ich dachte, du hättest mir versprochen, so etwas nicht mehr zu tun.« »Was?« »Mir gegenüber so eisig zu sein.« Jetzt war er derjenige, der sich entschuldigte. »Tut mir leid.« Er bog in die Gasse ein, und in dem Regen und dem Sturm bildeten die Bäume einen verschwommenen grünen Schleier. Im Licht der Scheinwerfer tauchten die beiden Garagen auf. Vor seiner eigenen Garage hielt Kenny an, er drückte auf die Fern bedienung für das Garagentor und wäre hinein gefahren, wenn Tess ihn nicht aufgehalten hätte. »Bleib hier draußen stehen. Ich mag es, wenn es so regnet.« Er warf ihr einen Blick zu und erfüllte ihr den Wunsch. Er machte die Scheinwerfer und die Scheibenwischer aus und stellte dann den Motor ab. Schweigend saßen sie in dem feuchten, dunklen Wagen, während der Regen auf das Dach trommelte und es um sie herum donnerte und blitzte. »Nun, da wären wir«, sagte er. Tess blickte zu dem Licht im Küchenfenster ihrer Mutter. »Renee wird mich wahrscheinlich umbringen, weil ich so lange weggeblieben bin.« »Willst du etwa durch diesen Regen ins Haus laufen?« »Nein, ich warte noch einen Augenblick.«
Er blickte zu den dunklen Fenstern seines Hauses. »Die Kinder sind wahrscheinlich auf ihrem Weg nach Poplar Bluff von diesem Wetter überrascht worden.« »Sie werden sicher keine Probleme haben.« Es regnete noch heftiger, der Donner grollte, und sie wußten beide nicht, was sie noch sagen sollten. Die Fenster beschlugen von ihrem Atem, und ihre Kleidung schien ihnen am Körper zu kleben. Obwohl es erst sechs Uhr war, erschien die Welt düster und trübe unter den tief hängenden Wolken. Niemand im Haus konnte etwas von dem sehen, was hier vorging, und die beiden Menschen in dem Auto wußten das. Schließlich konnte Tess ihre Frustration nicht länger ertragen. »Hör mal, Kenny, das ist lächerlich! Ich bin eine erwachsene Frau, und ich spiele Spielchen mit dir, als wäre ich noch ein Kind. Du brauchst Faith ja nicht zu erzählen, daß ich das getan habe, okay?« Sie kniete sich auf den Sitz, beugte sich zu ihm, stützte eine Hand gegen die Fahrertür und küßte ihn. Unter seinem Strohhut fand sie seinen Mund, und sie tat das, was sie beide vermieden hatten, seit... seit wann? Es fiel ihr schwer, sich zu erinnern, wann sie dieses Bedürfnis zum ersten Mal verspürt hatte: Irgendwann zwischen dem Abend ihrer Ankunft, als er sie einfach übersehen hatte, und dem Abend der Chorprobe, als er mit ihr in ihrem Wagen gefahren war. Sie hatte ihn so überrascht, daß er sich im ersten Augenblick ein Stück von ihr zurückzog. Sie nutzte das und ließ sich Zeit, ihn zu küssen, während er sich noch fragte, ob er es wohl mit seiner Ehre vereinbaren konnte, sie zu küssen. Es war ein guter Kuß, ein Kuß, den beide Seiten auskosteten, und als er endete, hatte Kenny beide Hände unter Tess' locker fallendes T-Shirt geschoben. Tess zog sich ein winziges Stück von ihm zurück. Sein Atem ging schnell, seine Lippen waren noch geöffnet. Sie lächelte im Dunkel des Wagens. »Das war für damals, als ich dich im Schulbus geärgert habe. Und sieh das bitte so, daß es allein von mir kam«, fügte sie hinzu. »Ich spreche dich frei von jeglicher Schuld, mein lieber heiliger Kenny. Danke für einen wundervollen Tag.« Sie küßte ihn noch einmal, schnell, dann stieg sie aus dem Wagen und lief durch den kalten, peitschenden Regen ins Haus.
12. Kapitel Mary und Renee sahen sich gerade die Sechzig-Minuten-Sendung im Fernsehen an, als Tess ins Haus gestürmt kam. An der Hintertür blieb sie stehen. »Hey, könnte mir bitte jemand ein Handtuch bringen?« rief sie. Einen Augenblick später kam Renee und warf ihr ein Handtuch zu.
»Es wird auch langsam Zeit, daß du kommst. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« »Tut mir leid, ich hätte anrufen sollen.« Sie zog ihre Kappe vom Kopf, wischte mit dem Handtuch über ihr nasses Haar und dann über ihr nasses T-Shirt. »Du bist doch nicht etwa die ganze Zeit geritten? Nicht bei Blitz und Donner?« »Nein. Ich war noch mit Kenny im Sonic -Drive-in.« »Mit Kenny. Aha.« Tess setzte sich auf die Treppe und zog ihre Stiefel aus, während Renee ihr dabei zusah. »Ich dachte, du wärst mit Casey ausgeritten. Ich wußte gar nicht, daß Kenny auch dabei war.« Tess stand auf und stellte ihre Stiefel an die Wand. »Hey, hör mal, hast du es eilig, nach Hause zu kommen, oder kann ich einen Augenblick mit dir reden?« »Ich kann noch etwas bleiben.« Tess ging in die Küche und sagte dann so leise, daß Mary es nicht hören konnte: »Komm mit mir nach oben.« Als sie durch das Wohnzimmer ging, meinte Mary: »Da bist du ja wieder. Hattest du einen schönen Nachmittag?« Dann wandte sie sich wieder dem Fernsehprogramm zu. »Ja, den hatte ich.« Oben zog Tess ihre nassen Sachen aus, während Renee mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem alten Bett saß. »Genau wie früher, als wir noch junge Mädchen waren«, meinte sie. »Also, was ist los?« Tess zog sich einen Baumwollpullover an, nahm das Band aus dem Haar und setzte sich dann vor die Kommode, drehte sich zu Renee um und kämmte ihr nasses Haar. »Es ist wirklich bizarr«, begann sie. »Du wirst es mir nicht glauben.« »Offensichtlich hat es mit dir und Kenny zu tun.« Tess blickte auf den Kamm in ihrer Hand. »Kannst du mich nicht wieder zur Vernunft bringen?« bat sie. »Vielleicht sagst du mir zuerst einmal, was überhaupt los ist.« »Ich habe ihn vor fünf Minuten in seinem Auto geküßt. Er wollte mich nicht küssen, also habe ich ihn geküßt. Ziemlich blöd, nicht wahr?« »Und das ist alles? Nur ein Kuß?« »Ja. Aber, Renee, etwas ist mit mir geschehen, seit ich jetzt zu Hause bin. Ich begegne ihm immer wieder, und es hat sich herausgestellt, daß er der netteste Kerl ist, den ich seit Jahren getroffen habe, und ihr alle behandelt ihn wie einen Bruder, und er benimmt sich Momma gegenüber so, als wäre er ihr Sohn. Und dann kommt auch noch Casey dazu, und ich bin ganz verrückt nach diesem Mädchen, und ich sehe, was für ein guter Vater er ist. Und dann fahren wir auch noch zusammen zur Chorprobe, und heute nachmittag
erscheint er ganz plötzlich bei Dexter Hickey, und ich benehme mich wie ein liebeskranker Teenager. Renee, das sieht mir gar nicht ähnlich.« Renee dachte einen Augenblick über das nach, was Tess gesagt hatte. »Ist das der Grund, warum du Casey mit nach Nashville nehmen willst?« »Nein! Renee, was hältst du von mir?« »Bist du ganz sicher?« »Natürlich bin ich sicher. Diese Sache mit Casey hat begonnen, ehe ich noch ein einziges Wort mit Kenny gesprochen habe.« Renee betrachtete ihre Schwester und wägte ihre Worte sorgfältig ab, ehe sie sprach. »Und was ist mit Faith?« »Er wollte nicht über seine Beziehung zu ihr sprechen.« Renee sah aus, als hätte sie gründlich darüber nachgedacht. »Sie schlafen miteinander, da bin ich ganz sicher. Sie zeigen es nur nicht in der Öffentlichkeit, damit die Leute ihre Beziehung akzeptieren.« Tess starrte ihre Schwester an und war darüber unglücklich, daß diese ihre Vermutung bestätigt hatte. »Du mußt sehr vorsichtig sein, Tess, du darfst nicht mit den Gefühlen anderer Menschen spielen.« »Das tue ich doch gar nicht.« » Wirklich nicht ?« »Nein!« »Aber was soll denn bei der ganzen Sache herauskommen? Du wirst wieder nach Nashville fahren, und er wird hierbleiben, und wenn du seine Beziehung zu Faith zerstörst, dann wird er der Verlierer sein. Vielleicht hast du ja vergessen, was für ein großer Star du bist und wie sehr du einen Mann mit deiner Aufmerksamkeit beeindrucken kannst.« »Das habe ich nicht. Ich habe schon daran gedacht.« »Und Kenny hatte schon in der High-School ein Auge auf dich geworfen. Er hat keine Möglichkeit, sich gegen dich zu verteidigen, Tess.« Tess starrte auf ihren Kamm, während die Locken um ihr Ge sicht langsam trockneten und sich kräuselten. Sie dachte an den herrlichen Tag, den sie zusammen verbracht hatten. Jede andere Frau hätte ganz einfach das getan, was sie getan hatte, ohne danach den Wunsch nach einer Beichte zu verspüren. »Weißt du was, Renee? Manchmal kann es sehr einsam sein, Tess McPhail zu sein.« »Das glaube ich dir gern, aber suche dir jemand anderes aus, nicht Kenny.« »Wen denn? Die Fans, die am Bühneneingang herumlungern? Die Jungs aus der Musikbranche, die wahrscheinlich nur deshalb hinter mir her sind, um ihre eigene Karriere zu verfolgen? Einen anderen der großen Stars, der
wahrscheinlich gerade dann auf Tournee ist, wenn ich es nicht bin? Einen von den Jungs aus der Band?« Sie lachte bitter. »Das ist die beste Art, ein Mitglied der Band zu verlieren.« » Du hast dir diesen Lebensweg ausgesucht Tess, nicht ich.« Tess seufzte, dann drehte sie sich um und warf den Kamm auf die Kommode. Renee betrachtete sie. »Was ist denn mit dem Mann aus dieser anderen Band? Momma hat mir gesagt, du gehst mit ihm aus Sie sagt, er hat dich schon ein paarmal angerufen, seit du hier bist.« »Burt. Ja, er hat mich angerufen. Wir haben uns in Nashville verabredet, sobald wir beide wieder dort sind. Ich dachte, wenn ich etwas hätte, worauf ich mich freuen könnte, würde mich das von Kenny ablenken.« » Aber so war es nicht. Und deshalb bist du heute abend auf ihn losgegangen.« »Ich bin nicht auf ihn...« Tess hielt mitten im Satz inne, weil sie fühlte, wie falsch ihr Leugnen klang. Sie sprang auf und lief durch den Raum zum Geländer an der Treppe. Sie lehnte sich dagegen und konnte durch das Fenster und den peitschenden Regen die verschwommenen Lichter in Kennys Haus erkennen. In diesem Augenblick ging das Licht in seinem Schlafzimmer an. Hinter ihr sagte Renee: »Du wolltest, daß ich dich wieder zu Verstand bringe, also werde ich das auch tun. In der restlichen Zeit, in der du hier bist, solltest du dich von Kenny fernhalten. Überlasse ihn Faith, du wirst dir selbst später dafür dankbar sein.« Sie stand von dem Bett auf und legte Tess die Hände auf die Schultern. »Okay?« fragte sie. Tess nickte bedrückt. »Hey... komm her.« Renee drehte sie zu sich um und nahm sie in den Arm. »Bist du mir jetzt böse, weil ich gesagt habe, was ich denke?« »Nein.« Sie hielten sich einen Augenblick lang in den Armen, und Tess begann zu weinen. »Oh, warum mußte ich nur zurück nach Hause kommen und mein Leben durcheinanderbringen lassen? Ich liebe meine Arbeit! Und die meiste Zeit denke ich überhaupt nicht an das, was ich dafür aufgegeben habe!« »Aber manchmal kommt dieses große alte Gefühl zurück, hebt seinen Kopf und verlangt sein Recht, wie?« Trotz ihrer Tränen mußte Tess lachen, sie zog sich ein Stück zurück und wischte sich mit der Hand die Tränen aus dem Ge sicht. »Oh, verdammt. Und dich verfluche ich, weil du mich hierher zurückgeholt hast.« »Nun ja, ich hätte nie geglaubt, daß du heiß auf Kenny Kronek sein würdest«, sagte Renee und lachte. Sie nahm ein Taschentuch von der Kommode und reichte es Tess, die sich die Nase putzte.
»Ich bin nicht heiß auf Kenny Kronek«, leugnete Tess, doch Renee sah sie nur ermahnend an. »Na ja, also gut, vielleicht bin ich es, aber Faith hat ältere Rechte auf ihn. Ich werde ein bra ves Mädchen sein und mich von ihm fernhalten. Und wenn er nach Nashville kommt, um Casey zu besuchen, dann werde ich... dann werde ich...« »Du wirst was?« Tess sank in sich zusammen. »Teufel, ich weiß nicht, was ich dann tun werde.« »Weißt du, Tess, es gibt etwas, das du übersiehst.« »Und was ist das?« »Kenny selbst. Wenn er wirklich der Mann ist, für den ich ihn halte, dann wird er Faith niemals betrügen. Du hast selbst gesagt, daß er sich geweigert hat, dich zu küssen.« Einen Augenblick lang dachte Tess nach. »Du hast recht«, gab sie dann zu. »Und weißt du, was? Das is t nur ein Grund mehr, warum ich so viel von ihm halte.« Tess hielt sich an den Rat von Renee und nahm ihn sich zu Herzen. Sie entschied, daß es falsch gewesen war, Kenny zu küssen, und sie nahm sich vor, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um ihm aus dem Weg zu gehen. Obwohl ihr Körper von dem ungewohnten Ausritt schmerzte, mähte sie am Montag in der Mittagshitze den Rasen, damit sie es nicht tun mußte, wenn Kenny zu Hause war. An diesem Abend rief Casey an und fragte: »Nun, wie hat es geklappt mit Dad?« »Warum fragst du ihn nicht selbst?« »Das habe ich getan, aber er hat eine Laune wie ein verwundeter Eber, und er hat mich nur angefahren.« Verwundeter Eber? Tess nahm an, daß Kenny wahrscheinlich zum gleichen Schluß gekommen war wie sie, nämlich daß es besser war, einander aus dem Weg zu gehen. »Nun, es ist gar nichts geschehen«, log Tess. »Oh, Mist. Na ja, ich werde die Hoffnung nicht aufgeben.« Sie sah ihn natürlich immer dann, wenn er kam oder ging, aber sie blieb im Haus, wenn er im Hof oder im Garten war. Manchmal sah sie, wie er zu Marys Haus blickte, als hoffe er, Tess würde aus der Tür treten, doch sie versteckte sich vor ihm. Am Dienstag abend kamen vier von Marys Freundinnen zu Besuch, und Tess war damit beschäftigt, Kaffee zu kochen : und s ich mit den Frauen zu unterhalten. Doch immer wieder schweiften ihre Gedanken zur Chorprobe ab, auf der sie vor einer Woche gewesen waren. Sie hatte gesehen, wie Kenny um Viertel nach sieben aus dem Haus gekommen und neben seiner Garage stehengeblieben war, um zu ihrem Haus hinüber zu blicken, doch dann war er gegangen, ohne zu ihr zu kommen und zu fragen, ob sie mitkommen würde.
Am Mittwoch abend behauptete Mary, dringend frische Luft zu brauchen. Sie bestand darauf, ihren Abendspaziergang draußen zu machen. Es gelang ihr, mit ihren Krücken die Vordertreppe hinunterzusteigen, und dann ging sie, mit Tess an ihrer Seite, die Straße hinunter. Es war ein wunderschöner Abend. Die Tauben gurrten leise und Marys Nachbarn kamen aus ihren Häusern, um ihr Glück zu wünschen, als sie sie von ihren Fenstern aus sahen. Sie und Tess waren etwa einen Häuserblock von zu Hause entfernt, als Kenny an ihnen vorüber fuhr, den Wagen an den Straßenrand lenkte und anhielt. Er lehnte sich über den freien Beifahrersitz und rief aus dem offenen Fenster: »Das klappt aber schon recht gut, Mary.« »Ich übe, damit ich bei Rachels Hochzeit in die Kirche gehen kann. Von mir aus könnt ihr mich hinterher mit dem Rollstuhl hinausfahren, aber in die Kirche rein werde ich laufen.« Einen Augenblick herrschte Schweigen, während Tess und Kenny einander ansahen, dann begrüßte er auch sie. »Hallo, Tess, ich habe dich gestern abend bei der Chorprobe vermißt.« »Tut mir leid, ich hatte zu tun.« »Ich nehme an, das bedeutet, daß du nur diesen einen Sonntag mit uns gesungen hast.« »Ich glaube schon.« »Nun... das ist sehr enttäuschend. Die Leute haben nämlich alle nach dir gefragt.« Er hielt einen Augenblick inne, ehe er weitersprach. »Also, Faith hat in ihrem Garten einen abgestorbenen Busch, der ersetzt werden muß, da beeile ich mich wohl besser. Wir sehen uns noch.« Ohne Tess noch einen Blick zuzuwerfen, rutschte er wie der auf die Fahrerseite und fuhr davon. Tess fühlte sich ganz elend, als sie ihm nachsah, und ein dicker Kloß saß in ihrem Hals. Sie sehnte sich danach, ihm nachzulaufen und zu sagen: Laß uns darüber reden. Aber was gab es schon zu reden? Ihre Situation war hoffnungslos, und das wußten sie beide. Am Sonntag besuchte sie den frühen Gottesdienst, um zu vermeiden, im Chor mitsingen zu müssen. Kurz vor Mittag rief Casey an und fragte: »Hey, wo warst du heute?« »Ich war mit Rachels Familie im frühen Gottesdienst.« »Aber wir haben geglaubt, du würdest wieder mit uns im Chor singen!« »Nein, ich war ja auch nicht bei der Chorprobe.« »Aber Dad wäre dir deshalb doch nicht böse gewesen! Meine Güte, du bist Tess McPhail!« »Hör mal, Casey...« In Tess' Stimme lag die Bitte um Verständnis. »Es... es war wohl besser so, okay?« »Oh.« Nach einer kleinen Pause fügte sie leiser hinzu: » Okay... denke ich. Hey, ist etwas passiert zwischen dir und Dad am letzten Sonntag?«
»Nein, nichts.« »Oh, na gut. Hör mal, möchtest du heute wieder ausreiten?« »Nein, lieber nicht, Casey. Ich habe hier viel zu tun.« »Oh. Na gut... okay. Aber wann sehe ich dich wieder?« »Du kannst jederzeit rüberkommen. Und sonst sehen wir uns am nächsten Sonntag bei der Hochzeit.« »Okay, also, hey, nimm's leicht, und grüße Mary von mir.« Casey kam in dieser Woche noch ein paarmal herüber und berichtete, daß es immer schwieriger wurde, mit Kenny auszukommen. Casey meinte, daß er sich mit Faith gestritten haben mußte, und soweit sie wußte, hatten die beiden sich noch nie gestritten. Sechs Tage lang sah Tess ihn nur durch das Fenster, doch immer, wenn sie an den Samstag dachte, wo sie ihn bei der Hochzeit wieder treffen würde, wurde ihre Brust eng, und ihre Hände erstarrten mitten in der Arbeit. Drei Wochen seit Marys Operation waren vergangen. Jeden Tag wurde sie ein wenig kräftiger, und sie fühlte sich auch zunehmend besser. Je besser es ihr ging, desto weniger stritt sie mit Tess. Am Donnerstag war Tess der Meinung, daß sie jetzt das Thema anschneiden konnte, mit dem sie sich beschäftigt hatte, seit sie hier angekommen war. Mary hatte im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat zu Abend essen wollen, also hatte Tess einen Klapptisch vor Marys bequemen Sessel gestellt und für sich einen Küchenstuhl herbeigeholt. Schließlich hatten sie zu Abend gegessen, ohne sich zu streiten. Tess hatte etwas zu essen gefunden, das ihnen beiden schmeckte, einen Taco-Salat, bei dem sie auf ihrem Teller mit den Zutaten gespart hatte und dafür mehr davon auf Marys Teller gegeben hatte. Die Nachrichten waren vorüber, als Tess sich an Mary wandte. »Mom, ich habe eine Überraschung für dich geplant«, sagte sie. »Für mich?« Mary war bereits jetzt überrascht. »Am Samstag morgen um acht Uhr wird eine Friseurin hierherkommen, um dir das Haar für die Hochzeit zu richten. Niki wird alles tun, was du gern haben willst, sie wird dir das Haar färben, eine Dauerwelle machen, es schneiden - ganz wie du möchtest.« Mary sah sie erstaunt an. »Hier bei mir zu Hause?« »Richtig.« »Also, von so etwas habe ich noch nie gehört.« »Das gibt es aber. Ich dachte, du würdest für die Hochzeit gern eine hübsche Frisur haben.« »Diese Niki - arbeitet sie für Judy?« »Nein, das tut sie nicht. Judy und ihre Angestellten werden an diesem Morgen viel zu tun haben, denn alle Leute, die zur Hochzeit kommen, werden sich von ihr frisieren lassen wollen. Aber sie hat gesagt, Niki wird
dich gut bedienen.« »Als o... du liebe Güte.« Mary war wirklich überrascht. »Dann bist du also einverstanden?« »Aber sicher!« erwiderte Mary begeistert. »Und, Momma, da ist noch etwas, um das ich dich bitten wollte.« Dieses Thema war wahrscheinlich noch gewagter als die Friseurin, doch wenn sie jetzt nicht damit anfing, wann sonst sollte sie es tun? »Du erinnerst dich doch noch an den hübschen grünen Hosenanzug aus Seide, den ich dir im letzten Jahr aus Seattle geschickt habe. Hast du ihn eigentlich schon einmal getragen?« »Ich habe ihn anprobiert.« »Aber getragen hast du ihn noch nicht?« »Na ja, er war sicher schrecklich teuer - das konnte man sehen.« »Warum trägst du ihn nicht bei der Hochzeit? Das wäre doch perfekt, weil deine Beine sowieso in diesen häßlichen Stützstrümpfen stecken. Was meinst du dazu, Momma?« »Ich wollte diesen anderen Hosenanzug anziehen, den ich mir im letzten Frühjahr gekauft habe. Der ist ganz in Ordnung, und ich habe ihn auch erst ein paarmal getragen.« Tess' erste Reaktion war Zorn, sie stand auf und räumte das schmutzige Geschirr weg, während sie versuchte, den kleinen Kloß, der ihr im Hals steckte, hinunterzuschlucken. Sie hatte einen Stapel schmutziges Geschirr in der Hand, und ehe sie ihre Meinung ändern konnte, stellte sie alles auf den Tisch zurück und hockte sich dann neben Marys Sessel. »Mom, ich muß dir etwas sagen, doch ich bin nicht sicher, ob du mich verstehen wirst, aber...« Sie nahm Marys beide Hände in ihre und blickte in die alt gewordenen, braunen Augen ihrer Mutter. »Hör mir mal zu, Momma , ich weiß nicht, wie ich es dir sonst erklären soll. Ich bin reich. Darf ich dir das sagen, ohne gleich so zu klin gen, als wollte ich damit angeben? Es ist eine Tatsache, ich bin sehr, sehr reich, und es macht mir viel Freude, dir hübsche Dinge zu schicken. Hübsche Dinge aus Geschäften, die du nie zu sehen bekommst, weil du nicht die Möglichkeit hast, zu reisen, so wie ich es tue. Aber es tut mir weh, wenn ich sehe, daß du diese Dinge nie benutzt.« »Oh, Liebes... na ja... ich denke, so habe ich das noch nie gesehen. Ich habe nur immer gedacht, daß all diese Dinge für Wintergreen, Missouri, viel zu schade sind.« »Ich schicke sie nicht für Wintergreen, ich schicke sie für dich.« Mary saß eine Weile schweigend da und blickte traurig und irgendwie betroffen vor sich hin. Sie vermied es, Tess anzusehen, doch schließlich begegneten sich ihre Blicke. »Nun, da du ehrlich zu mir warst, will ich auch ehrlich sein. Manchmal,
wenn du mir Dinge schickst, dann denke ich, du tust das nur, weil du ein schlechtes Gewissen hast, weil du glaubst, du solltest mich eigentlich besuchen, aber zu viel zu tun hast, um dir die Zeit dazu zu nehmen. Denn wenn ich die Wahrheit sagen soll, lieber als all die schönsten Geschenke der Welt wäre es mir, wenn du bei mir wärst.« Marys Worte trafen Tess tief, denn sie waren die Wahrheit, und endlich konnte Tess dies vor sich selbst zugeben. Wie oft war sie durch ein Geschäft in einer weit entfernten Stadt gestreift und hatte etwas für Mary ausgesucht, doch während sie dann gewartet hatte, bis man den Betrag von ihrer Kreditkarte abrechnete, hatte sich ihr Schuldgefühl gemeldet. Du solltest sie statt dessen lieber besuchen. Aber es war doch soviel einfacher, ihr ein Geschenk zu schicken, denn das störte ihren überfüllten Terminkalender nicht. Es gab Menschen auf dieser Welt, die hatten keine Mutter und würden sich glücklich schätzen, eine liebende Mutter wie Mary zu haben, doch Tess sah Mary nicht nur sehr selten, sie nahm ihr auch ihre Launen übel und all den kleinlichen Verdruß, den sie aus Liebe eigentlich übersehen sollte. Und jetzt hockte sie hier und sah in Marys Gesicht, das ihr in diesem Augenblick viel älter vorkam. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch Marys Unbeholfenheit, denn sie saß steif mit weit gespreizten Knien in ihrem Sessel. Ihre Krücken lehnten an der Armlehne des Sessels, und ihr Gesicht war voller Traurigkeit. Tess erkannte an ihren Wangen und den Falten um ihren Mund und ihre Augen die Anzeichen des Alters, die sich später auch auf ihrem eigenen Gesicht zeigen würden. Ein ungewolltes Bild schob sich vor ihr inneres Auge, von der Zeit, wenn sie so alt ein würde wie Mary und Mary nicht mehr da wäre. Wer wußte schon, wie viele gemeinsame Jahre ihnen noch bleiben würden? »Es tut mir so leid, Mom«, sagte Tess leise. »Ich werde versuchen, mich zu bessern.« Mary streckte eine Hand aus und legte sie auf Tess' Kopf. »Du weißt doch, wie stolz ich auf dich bin, nicht wahr. Liebes?« Tess nickte, und Tränen standen in ihren Augen. »Und ich weiß auch, was es dich gekostet hat, um d orthin zu kommen, wo du jetzt bist. Aber, Tess, wir sind deine Familie, und du hast nur diese eine.« »Ich weiß«, flüsterte Tess leise. Sie blieben einen Augenblick so sitzen, beide akzeptierten das, was der andere gesagt hatte. Mary saß auf ihrem Sessel, Tess kniete neben ihr, die Überreste des Abendessens standen auf dem altmodischen Klapptisch, während die Sonne durch das Fenster schien. Draußen bellte ein Hund, jemand pfiff und brachte ihn zum Schweigen. An die Einzelheiten dieses Augenblicks würden sich die beiden Frauen immer wieder erinnern, denn nie
hatten sie sich einander näher gefühlt, seit Tess die High-School abgeschlossen und ihren Wagen vollgeladen hatte, um nach Nashville zu fahren. »Und jetzt sage ich dir, was du tun wirst«, meinte Mary und zwang sich zu einem fröhlichen Ton. »Du wirst zu meinem Schrank gehen und diesen hübschen Hosenanzug herausholen, den du mir geschickt hast. Und ich werde ihn für den Samstag bügeln, und wenn diese Niki mir das Haar gemacht hat, werde ich ihn anziehen, damit ihr Mädchen bei der Hochzeit stolz auf mich sein könnt. Wie findest du das?« Tess reckte sich und gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange. »Danke, Mom«, sagte sie und lächelte. Später an diesem Abend rief Tess Renee an, nachdem Mary schon im Bett war und schlief. »Ich habe Momma dazu gebracht, ihren alten Polyester-Hosenanzug im Schrank zu lassen.« »Oh, Tess, wirklich? Du kannst ja Wunder bewirken!« »Sie wird den Hosenanzug tragen, den ich ihr im letzten Jahr aus Seattle geschickt habe.« »Super! Er ist wirklich wunderschön. Rachel wird sich freuen, wenn sie das hört. Tess, dafür schulde ich dir etwas.« »Das ist noch nicht alles.« »Sag bloß nicht, daß sie einverstanden war, sich das Haar richten zu lassen!« »Genau das sage ich dir. Hier zu Hause. Ich habe jemand gefunden, der hierherkommt und sie frisiert.« Ohne Eifersucht erwiderte Renee: »Es muß schön sein, genug Geld zu haben, um so etwas tun zu können.« »Das ist es.« Es gab nur sehr wenige Menschen, mit denen Tess über Geld sprechen konnte. »Um Judys willen muß ich dir sagen, daß sie es versucht hat«, erzählte Renee. »Ich weiß gar nicht, wie oft sie Momma gesagt hat, sie könnte in den Laden kommen, wann immer sie wollte. Aber Momma ist so stolz. Sie fürchtet, hinzugehen und sich frisieren zu lassen und daß Judy ihr dann nicht erlauben würde, es auch zu bezahlen. Na ja, was immer du auch getan hast, um ihre Meinung zu ändern, ich danke dir dafür.« »Gern geschehen. Hör mal... wegen der Hochzeit. Wann soll sie in der Kirche sein für die Fotos?« »Die Hochzeit fängt um fünf Uhr an, also würde ich sagen, um vier. Der Fotograf möchte uns alle um drei Uhr in der Kirche haben, aber ich habe ihm gesagt, daß er die Bilder mit den Großeltern zum Schluß machen soll, damit sie nicht länger als nötig warten muß. Glaubst du, sie wird es schaffen, bis
nach dem Essen durchzuhalten?« »Ganz bestimmt. Sie besteht darauf, mit ihren Krücken in die Kirche zu gehen, aber wir nehmen auch den Rollstuhl mit, und wann immer sie dann nach Hause will, werde ich sie nach Hause bringen. Sie hat bei ihrer Physiotherapie wirklich erstaunliche Fortschritte gemacht. Und sie hat sich nie beklagt, ganz gleich, welche Schmerzen sie auch aushalten mu ßte. Sie ist so entschlossen.« »Nun... das ist wohl eine ganz andere Tess als die, die mir am ersten Tag gesagt hat, daß Momma sie zur Verzweiflung treibt.« »Ich nehme an, ich habe einfach zuviel von ihr erwartet. Und du hast recht: Sie wird wirklich alt. Ich glaube, das habe ich endlich akzeptiert.« »Also, sag mir... bist du noch immer böse, weil Judy und ich dich dazu gebracht haben, nach Hause zu kommen und für sie zu sorgen?« »Nein, nicht mehr. Im Augenblick denke ich, mein Produzent ist darüber wütender als ich.« »Also, Kleines, es ist schon spät, und morgen wird ein verrückter Tag werden.« »Tut mir leid, daß ich dich so lange aufgehalten habe.« »Noch eines. Hast du dich von Kenny ferngehalten, wie ich es dir geraten habe?« »Vollkommen.« »Gut. Dann sehen wir uns bei der Hochzeit. Ich bin froh, wenn alles vorbei ist und mein Leben wieder normal verläuft.« Das Wetter am Samstag hätte nicht besser sein können. Als Tess sich ankleidete, war es sonnig, und das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad. Tess hatte sich bei Barneys in New York ein neues Kleid gekauft, ein mitternachtsblaues, schlichtes enges Seidenkleid, dazu passende offene Pumps aus der gleichen Seide, mit winzigen blauen Straßsteinchen um die Zehen herum. Um den Hals trug sie eine Kette aus Platin mit einer diamantbesetzten Kugel, so groß wie eine Murmel. In die Ohren hatte sie kleine Mondsicheln gesteckt, ebenfalls mit Diamanten besetzt. Und obwohl sie sich zurückgehalten hatte, ihren Reichtum so offensichtlich zu zeigen, hatte sie doch entschieden, daß die Hochzeit eine besondere Gelegenheit war, wo ein wenig Prunk durchaus angebracht war. Das Kleid hatte ihr besser gepaßt, als sie es in New York anprobiert hatte. Sie holte tief Luft und zog den Bauch ein. Keine Hamburger und Fritten mehr im Sonic-Drive-in, und es wäre auch besser, wenn du jeden Tag joggen würdest, denn sonst brauchst du neue Kleider. Als sie zu Mary ins Schlafzimmer kam, starrte Mary sie an. »Stimmt etwas nicht?« fragte Tess und blickte an sich hinunter. »Du bist hier die ganze Zeit in Jeans und T-Shirts herumgelaufen, daß ich
ganz vergessen habe, daß du in Wirklichkeit ein großer Star bist. Mein lieber Gott, du bist wunderschön, Kind.« »Oh, Momma.« »Nein, das stimmt. Du bist Balsam für meine müden alten Augen. Sind das echte Diamanten?« Tess berührte ihre Ohren. »Findest du, es ist übertrieben?« »Ha! Trage sie ruhig. Du hast sie dir verdient.« »Danke, Momma.« Das Lob rührte Tess tief, und ganz besonders die Tatsache, daß Mary mit ihren Diamanten einverstanden war, wo sie doch selbst nie einen anderen Schmuck besessen hatte als ihren Ehering. Vielleicht war es das Recht aller Mütter, nur das Beste für ihre Kinder zu wollen und für sich selbst nichts zu erwarten. »Jeder Mann wird sich den Hals nach dir verrenken. Und die Hälfte der Frauen auch.« »Nun, und wie steht es mit dir? Warte nur, bis du den Hosenanzug angezogen hast - du wirst schon sehen.« Der Hosenanzug hatte die Farbe von Licht, das durch ein Glas Creme de Menthe schien, und das Oberteil wurde mit vier seidenen Schnallen geschlossen. Es machte Mary einige Mühe, ihn anzuziehen, doch zusammen schafften sie es schließlich. Als die Hose zurechtgerückt und das Oberteil geschlossen war, sagte Tess: »Ich möchte dir gern etwas Mascara auflegen, okay? Augenblick, ich hole dir einen Stuhl aus der Küche.« Eine altmodische Frisierkommode stand in Marys Schlafzimmer, doch der Hocker davor war zu niedrig für sie. Tess holte aus der Küche einen Stuhl und brachte ihn in Marys Schlafzimmer. »Oh, Tess, du brauchst dir doch nicht all die Mühe zu machen«, schalt ihre Mutter. »Nein, wir werden es so machen, wie es sein soll. Komm her und setz dich hin.« Als Mary vor dem Spiegel saß, puderte Tess ihr die Wangen, legte dann ein leichtes Rouge auf, und dann schminkte sie ihr die Augen. Danach benutzte sie Lipliner und füllte die Lippen mit einem kleinen Bürstchen aus. Niki hatte mit der Frisur gute Arbeit geleistet, Mary sah mindestens fünf Jahre jünger aus. Ihr graues Haar umrahmte in weichen Wellen ihr Gesicht, und die Haarspitzen über ihren Ohren waren leicht nach außen gefönt. »Jetzt fehlen nur noch Ohrringe, und da habe ich genau die richtigen.« Tess holte ein kleines blaßblaues Kästchen, das sie in New York gekauft hatte, und reichte es ihrer Mutter. Als Mary den Namen auf dem Kästchen las, hob sie den Blick und sah Tess im Spiegel ungläubig an. »Tiffany? Oh, Tess, was hast du getan?« »Mach es auf. Mit den besten Wünschen zum Muttertag, auch wenn es
dazu noch ein wenig früh ist.« Das Innere des blauen Kästchens war mit schwarzem Samt ausgeschlagen. Mary hob den Samt an, und darunter lagen ein paar tropfenförmige Ohrringe aus mit Diamanten besetzten Smaragden. Sofort füllten sich Marys Augen mit Tränen. »Oh, Tess...« Tess, die hinter Mary stand, strich ihr über die Arme und lächelte sie im Spiegel an. »Du wirst doch jetzt dein Make-up nicht ruinieren wollen. Zieh sie an.« »Aber Tess... Sie sind...« »Ja, ich weiß. Aber ich kann es mir leisten, Momma, und da ich dir kein neues Haus bauen durfte, wirst du statt dessen wohl die Ohrringe annehmen müssen.« Marys Hände zitterten, als sie die Ohrringe in ihre Ohren steckte. Danach starrte sie ihr Spiegelbild an: ihr stockte der Atem. Sie legte eine Hand auf ihr heftig klopfendes Herz. »Du meine Güte«, flüsterte sie. Tess beugte sich zu ihrer Mutter, schob ihren Kopf neben den ihrer Mutter und betrachtete sie beide im Spiegel. »Du bist auch schön, Momma.« Die Steine in Marys Ohrringen fingen das Licht der kleinen Lampe auf der Kommode ein. Doch die Veränderung wurde durch viel mehr bewirkt als nur durch die Ohrringe. Es war alles zusammen - die neue Frisur, das Make -up, der elegante Schnitt des seidenen Hosenanzuges, die leuchtenden Augen der vierundsiebzigjährigen Frau, die in ihrem Leben nur sehr wenig Gelegenheit hatte, sich so gut zu kleiden. Tess fühlte eine tiefe Befriedigung, als sie sah, daß ihre Mutter davon überzeugt war, wieder schön zu sein. Mary McPhail blickte in den Spiegel, und ihr Gesicht strahlte vor Freude. »Danke, Tess.« Sie streckte die Hand aus und strich sanft über Tess' Wange, und Tess lächelte sie im Spiegel an. »Gern geschehen. Und jetzt wollen wir alle umwerfen, nicht wahr, Ma?« Mary mußte lachen, und Tess meinte: »Ich werde die Autos aus der Garage fahren und dann deinen Rollstuhl in den Kofferraum packen. Warte hier bis ich dich hole, ehe du mit den Krücken versuchst, die Hintertreppe hinunterzugehen, okay?« »Okay.« Als Tess das Zimmer verließ, blickte ihre Mutter noch immer in den Spiegel. »Bei meinem Wort, ich kann das nicht glauben.« Tess schleppte den zusammengeklappten Rollstuhl die Treppe hinunter und schob ihn dann über den Gartenweg zur Garage. Als sie an ihrem Wagen ankam, gingen gerade ein paar Jungen mit Baseballkappen, die sie verkehrt herum aufgesetzt hatten, durch die Gasse und ließen einen Basketball vor
sich herspringen. Als sie bemerkten, daß Tess den Z aufschloß, blieben sie stehen. »Ist das Ihr Wagen?« fragte einer von ihnen. »Ja.« »Cool.« »Danke.« »Sind Sie nicht diese Country-Sängerin?« »Ja, die bin ich.« »Coo-ool.« Die Jungen blieben stehen und sahen ihr zu, wie sie in den Wagen einstieg und ihn dann zurücksetzte, danach gingen sie weiter und spielten mit ihrem Basketball. Tess holte Marys Wagen aus der Garage, fuhr ihren Wagen hinein, öffnete dann den Kofferraum des Wagens ihrer Mutter und wollte gerade den Rollstuhl hineinheben, als Kenny seine Hintertür öffnete und rief: »Hey, Tess, warte! Ich helfe dir!« Er kam über seinen Hinterhof auf sie zu, bereits für die Hochzeit gekleidet in einem blauen, gestreiften Anzug. Tess wartete vor dem offenen Kofferraum mit dem zusammengeklappten Rollstuhl. »Du bist ein wahrer Lebensretter, Kenny. Dieses Ding ist entsetzlich schwer.« Er lud ihn in den Kofferraum und schlug dann den Deckel zu. »Siehst du.« Er wandte sich um und rieb sich die Hände. »Danke.« »Ich kann doch nicht zulassen, daß du...« Seine Blicke glit ten zu ihren glitzernden Zehen und dann an ihrem Körper hinauf, während die Bewegungen seiner Hände langsamer wurden und dann ganz aufhörten. Er beendete seinen Satz nicht. »Hübsches Kleid«, sagte er dann ein wenig leiser. »Danke. Hübscher Anzug. Und das auf deiner Krawatte ist doch ein Druck von Norman Rockwell, nicht wahr?« Er blickte an sich hinunter. »Ja... danke.« Es dauerte einen Augenblick, ehe sie wieder sprechen konnten. Ganz sicher hatte er seine Kleidung nicht in Wintergreen gekauft, und er hatte auch keine Ahnung davon, wie sehr sein Aussehen dazu beitrug, ihr Blut in Wallung zu bringen. Er wußte, wie man eine Krawatte band und wie man die Krawatte einem Anzug anpaßte und diesen Anzug seinem Körper, und er wußte auch, wie er eine Frau ansehen mußte, damit sie all diese Dinge bemerkte, tief in ihrem Inneren auf einer Ebene, die sie eigentlich nicht wahrhaben wollte. Doch wenn sie es bemerkt hatte, so war auch ihm nicht entgangen, wie attraktiv und anziehend er für sie war. In ihrem Seidenkleid mit dem Schmuck und Make-up stand sie zum ersten Mal so vor ihm, wie er sie auf
den Titelseiten der Illustrierten und in den Country-Shows im Fernsehen gesehen hatte. Ihr Kleid in seiner schlichten Eleganz ließ sie jung und unschuldig aussehen. Es schmiegte sich nicht an ihren Körper, sondern fiel um ihren Körper wie der Wind, der um den Z strich. Der Ausschnitt zeigte nur einen Anflug ihres Schlüsselbeins, der Saum bedeckte züchtig ihre Knie. Die Diamanten in ihren Ohren glänzten im Sonnenlicht, und die Kugel zwischen ihren Brüsten sah noch außergewöhnlicher aus, weil sie auf der tiefblauen Seide ihres Kleides lag. Erst jetzt wurde ihnen beiden bewußt, daß sie einander angestarrt hatten. Schnell blickten sie zur Seite. »Nun«, meinte Tess schließlich, »ich gehe besser ins Haus zurück. Momma wartet auf mich.« »Braucht sie Hilfe?« »Nein, das glaube ich nicht. Alles, was ich für sie tun kann, ist, ihr die Tür aufzuhalten. Sie muß die Treppe ganz allein schaffen.« Trotzdem folgte er ihr zum Haus und beobachtete sie. Ihre Strumpfhose war mitternachtsblau, die hohen Absätze ihrer Schuhe unterstrichen noch ihre wohlgeformten Beine. Während sie ging, erhaschte er einen Blick auf die Straßsteine an ihren Zehen, und der Duft eines teuren Parfüms stieg ihm in die Nase. Es war das gleiche, das er auch am Abend der Chorprobe an ihr gerochen hatte. Ein leichter Wind preßte ihr das Kleid gegen den Körper, und Kenny war sich plötzlich ganz sicher, daß sie beide, noch ehe Tess nach Nashville zurückfahren würde, das fortsetzen würden, was sie in der Nacht im Ge witter in seinem Wagen begonnen hatten. Sie erreichten das Haus, und Tess ging hinein, während er an der Treppe wartete. Gleich darauf kam sie wieder heraus und hielt die Fliegentür für Mary auf, die mit ihren Krücken über die Schwelle kam, dann stehenblieb und erfreut lächelte. Von unten warf Kenny einen Blick auf sie. »Du lieber Himmel, sieh dir das nur an!« rief er. Seine Bewunderung war ehrlich, das sah man seinem Gesicht an. »Hi, Kenny«, begrüßte ihn Mary mit einem mädchenhaften Lächeln. Er lächelte so strahlend, daß Tess ihn am liebsten dafür geküßt hätte. Wenn Mary erfreut hätte herumwirbeln können, sie hätte es in diesem Augenblick getan. Doch jetzt konnte sie sich nur an ihre Krücken klammern, während er sie mit offener Bewunderung anstarrte. »Tess hat mich hergerichtet. Wie fin dest du es?« »Ich denke, wenn ich zwanzig Jahre älter wäre, würde ich mich Hals über Kopf in dich verlieben. Wenn ich es recht bedenke, werde ich es wahrscheinlich auch jetzt noch tun.« Kenny überschüttete Mary mit all seiner Bewunderung, und sie errötete
wahrhaftig unter seinen Blicken. Sie sah wie eine neugeborene Frau aus, als sie die Treppe hinunterhumpelte und Tess fürsorglich an ihrer Seite blieb. Dann nahmen Kenny und Tess sie in die Mitte, und zusammen gingen sie zu ihrem Wagen. Kenny öffnete die hintere Tür und wartete geduldig, bis sie eingestiegen war. Als sie bequem auf ihren Kissen saß, legte er die Krücken auf den Boden und schlug die Tür zu, dann ging er mit Tess um den Wagen herum, öffnete die Fahrertür für sie und sah ihr zu, wie sie einstieg. Er hielt die Fahrertür auf. »Wirst du keine Probleme haben, sie in die Kirche zu bekommen?« fragte er. »Es wird schon klappen, danke.« Sie sah zu ihm auf, und einen Augenblick lang hatte sie die Illusion, als wären sie Mann und Frau und würden Mary helfen, so wie sie es getan hatten, würden sie lieben, so wie sie es taten, und würden von ihr geliebt werden. Selbst die Art, wie er Tess zur Autotür gebracht hatte und jetzt darauf wartete, die Tür zuzuschlagen, verstärkte diese Illusion noch. Kenny war der erste, der sich wieder fing. »Na ja... ich gehe jetzt und versuche, Casey zur Eile anzutreiben. Du weißt doch, wie junge Mädchen sind, wenn sie sich fein machen wollen. Bis später.« Er schlug die Autotür zu, und Tess war klar, daß, ganz gleich, was sie Renee auch versprochen hatte, sie und Kenny sich auf einem schmalen Grat zwischen Verstand und einem Schritt bewegten, der ihrer beider Leben aus dem Gleichgewicht bringen würde. Und es schien sehr wahrscheinlich, daß sie diesen Schritt tun würden, noch ehe dieser Tag vorüber war.
13. Kapitel Kenny und Tess saßen in der Kirche auf der gleichen Seite, doch sie wurde eine paar Bänke weiter nach vorn geleitet, zu den Mitgliedern der Familie. Es war eine typische Kleinstadt-Hochzeit, die Orgel war zu laut, die Sängerin sang in einem durchdrin genden Sopran, der Vierjährige, der die Ringe tragen sollte, lief aus der Reihe, als er seine Mutter in einer der Bänke entdeckte, und ein Baby quengelte die ganze Zeit in einer der hinteren Bänke. Mary betrat auf Krücken die Kirche, dann saß sie in ihrem Rollstuhl, bei dem die Fußstützen bis ganz nach unten gestellt waren. Nach dem Gottesdienst schob Ed sie aus der Kirche, Tess und Judy folgten ihm. Die Braut wurde weniger beachtet als Tess. Für Tess waren solche Ereignisse unangenehm, alle Leute starrten sie an, als sie vorüberging, sie flüsterten einander zu, ihre Fans strahlten sie an und hofften, sie würde sie anlächeln, während sie ihre Blicke geradeaus auf die Tür gerichtet hatte. Nur eine Ausnahme machte sie, als sie an Kenny vorüberging. Er, Casey und Faith aßen nebeneinander wie eine typisch amerikanische Familie. Casey winkte mit einem Finger, als Tess vorüberging. Faith ächelte. Kenny sah sie
nur an mit diesen beunruhigenden brauen Augen, die sie noch vor kaum zwei Stunden in der Gasse so bewundernd betrachtet hatten. Mary gehörte zu denen, die im Vorraum der Kirche die Glückwünsche der anderen entgegennahmen, und deshalb konnte Tess nach draußen gehen. Der Wind war ein wenig aufgefrischt und hatte die Hitze des Nachmittags vertrieben, dicke weiße Wolken schoben sich über den blauen Himmel. Eine schwarze Kutsche mit zwei Appaloosa-Pferden stand am Straßenrand. Judy blieb zurück, um mit einer Bekannten zu sprechen. Selbst die Menschen, die so taten, als würden sie Tess nicht anstarren, blickten zu ihr hin. Doch niemand kam zu ihr. Keiner, bis Casey aus der Kirche kam. Sie lief direkt auf Tess zu. »Donnerwetter, du siehst bewundernswert aus, Frau! Wo hast du dieses Kleid gekauft? Und erst die Schuhel« »Casey, ich freue mich, dich zu sehen.« »Was ist denn los?« Tess beugte sich zu ihr und sprach ganz leise. »Ich bin mir vorgekommen wie ein Stück Abfall in einer Punschschüssel. Alle haben mich angesehen, aber niemand hat sich in meine Nähe gewagt.« Casey kicherte und sah sich um. Viele Leute standen um sie herum und beobachteten sie. »Wahrscheinlich haben sie Angst. Hey, dieses Kleid... Donnerwetterl So etwas sieht man in Wintergreen nie.« »Das Kleid habe ich bei Barneys in New York gekauft. Die Schuhe stammen von Nordstrom in Seattle.« »Killer!« Casey trat einen Schritt näher und flüsterte: »Verrate es Faith nicht, aber ich glaube, Dad hat dich während des Gottesdienstes die ganze Zeit angestarrt.« »Das bezweifle ich.« »Das hat er wirklich getan, aber ich wette, du bist daran gewöhnt, daß dich die Männer anstarren, nicht wahr?« »Ich würde lügen, wenn ich nein sagte, aber bei manchen Ge legenheiten ist es nicht so unangenehm wie bei anderen. Und heute fühle ich mich nicht gerade wohl dabei. Bleibe in meiner Nähe, okay?« Faith trat zu ihnen und nahm Tess' beide Hände in ihre. »Hallo, Tess. Himmel, Sie sehen wirklich umwerfend aus!« »Danke, aber das tun heute doch alle.« Kenny kam gleich hinter Faith her und bemühte sich, Tess mit höflicher Gleichgültigkeit zu behandeln. Sie sahen überallhin, doch vermieden sie es beide, einander anzusehen. »War das nicht eine schöne Predigt?« plapperte Faith weiter. »Ich hatte geglaubt, daß Sie heute in der Kirche singen würden.«
»Rachel hat mich darum gebeten, aber ich habe ihr gesagt, ich wollte heute ganz einfach nur ein normaler Hochzeitsgast sein.« »Sie war sicher enttäuscht.« »Sie hat es sehr gut aufgenommen.« Sie unterhielten sich, bis Judy zu ihnen trat, zusammen mit ihrer Tochter Tricia und noch einem anderen großen, schlanken und sehr hübschen Mädchen mit dunkelbraunen Augen. »Tante Tess? Meine Freundin Allison möchte dich gern kennenlernen. Sie ist ein großer Fan von dir.« Tess schüttelte dem Mädchen die zitternde, feuchte Hand. »Hallo, Allison.« Sie war ein sehr schüchternes Mädchen und wurde über und über rot und versuchte, ihre Zahnspange nicht zu zeigen. Doch es gelang ihr nicht, und sie enthüllte die rosa Zahnspange, als sie lächelte. Sie stammelte, was Tess schon von Tausenden ihrer Fans gehört hatte: »Du liebe Güte, ich kann es nicht glauben, daß ich Sie wirklich kennengelernt habe« und: »Sie sind so hübsch« und: »Ich konnte nicht glauben, daß Sie wirklich die Tante von Tricia sind.« Die ganze Zeit stand Judy daneben und betrachtete sie mit dem gleichen hochmütigen Gesicht wie damals im Krankenhaus. Kenny war einen Schritt zurückgetreten, er stand hinter Faith und beobachtete sie, und Tess spürte ein ganz neues Gefühl von Stolz, ein Star zu sein, obwohl sie sich gleichzeitig wünschte, heute ein ganz normaler Mensch sein zu können. Nur für diesen einen Tag wollte sie eine ganz gewöhnliche junge Frau sein, die mit jedem Mann flirten konnte, den sie sich aussuchte. Statt dessen wurde jede ihrer Bewegungen von Dutzenden von Menschen beobachtet. Die Menge um sie herum wuchs an und trennte sie von ihrer Familie. Viele machten Schnappschüsse von ihr, ohne sie vorher zu fragen, ob ihr das recht war. Jemand bat sie um ein Autogramm, und sie murmelte: »Im Augenblick nicht. Die Braut und der Bräutigam werden jeden Augenblick aus der Kirche kommen.« Eine übergewichtige Frau in einem gepunkteten Kleid bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Mac McPhail, mein Gott, Sie sind es wirklich!« trompetete sie laut. »Oh, meine Liebe, darf ich Ihnen die Hand schütteln?« Und als wäre das noch nicht genug, zog sie Tess in ihren Arm und drückte sie. Tess haßte es, von fremden Menschen in den Arm genommen zu werden. Über die Schulter der dicken Frau trafen sich ihre Blicke mit denen von Kenny, und sie warf ihm einen Blick hilfloser Verzweiflung zu, auf den er mit einem mitleidigen Augenzwinkern reagierte. Danach verschwand er in der Menge, und - ob sie es nun wollte oder nicht sie war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Als endlich die restlichen Hochzeitsgäste aus der Kirche ka men, entdeckte sie Kenny wieder. Er schob Marys Rollstuhl die Rampe hinunter, die von der Seitentür der Kirche führte. Braut und Bräutigam traten ins Freie,
und der Wind hob den Schleier der Braut hoch. Sie hielt ihn mit einer Hand fest, während die Gäste Reiskörner warfen und die Glocken über ihnen laut dröhnten. Dann war plötzlich Casey neben Tess. »Dad bringt deine Morn zu ihrem Wagen. Er hat gesagt, du sollst dir ruhig Zeit lassen.« »Was ist aus Ed geworden?« »Tricia muß den Gästen den Punsch servieren, deshalb hat er sie schon zu dem Restaurant gefahren, in dem der Empfang stattfindet.« »Und wo ist Faith?« »Sie steht dort drüben und unterhält sich mit ihrer Schwester. Hör mal, ich verschwinde jetzt. Wir sehen uns auf dem Emp fang! « Casey verschwand mit ihren Freundinnen, und gleich darauf ging Tess zum Parkplatz, wo Kenny neben Marys Auto auf sie wartete. Mary saß bereits im Wagen, doch die Tür war noch offen. Es war eine Erleichterung, endlich mit Kenny allein zu sein. »Danke, daß du meine Arbeit getan hast.« »Ich habe gesehen, daß du ziemlich beschäftigt warst.« Sein Grinsen sagte ihr, daß er die Frau in dem getupften Kleid meinte. »Sie hat dich doch nicht etwa erdrückt, oder?« »Nicht ganz. Hat sie Make-up-Flecken auf meinem Kleid hin terlassen?« Er nutzte die Gelegenheit, sie zum ersten Mal zu berühren, seine Finger glitten über die blaue Seide an ihrem Hals. »Nein, nicht, soweit ich es feststellen kann.« »Wer ist sie überhaupt?« »Lenore Jeetes. Sie sitzt im Stadtrat.« Mary meldete sich vom Rücksitz des Wagens. »Eine vorlaute Kuh, die ohne jede Mühe ganz ohne Mikrofon die Ansage beim Superbowl machen könnte. Sie versucht ständig, mich dazu zu bringen, daß ich mit dir rede, damit du für irgendwelche Wohltätigkeitsveranstaltungen nach Hause kommst, Tess. Ich würde das nicht tun, selbst wenn ich glaubte, daß du einverstanden wärst, aber ich weiß, daß du dafür sowieso keine Zeit hast.« Tess beugte sich hinunter und lächelte ihre Mutter an. »Danke, Momma. Dafür schulde ich dir noch etwas. Wie geht es dir? Bist du müde?« »Mir geht es hervorragend, allerdings könnte ich jetzt etwas zu essen brauchen. Ich hätte nichts dagegen, wenn du mich zu diesem Empfang bringen würdest, ehe ich vor Hunger tot umfalle.« Kenny schlug die Wagentür zu, und einen Augenblick lang waren er und Tess allein, und sie fühlten beide wieder diese starke Anziehungskraft, die sie zueinander hinzog und der sie nicht nachgeben durften. »Ich meine das ernst, Kenny. Danke, daß du dich um Momma gekümmert hast... wieder und wieder und wieder.« Jetzt berührte sie ihn... sie legte eine Hand auf seinen Arm und strich dann darüber, als sie sich langsam von ihm wegbewegte. Ihre Finger verschränkten sich miteinander - es war ein schneller, intimer Druck,
dann ging Tess um den Wagen herum. Der Empfang wurde auf dem Land abgehalten, in einem Re staurant mit dem Namen Current River Cove. Vor Jahren war hier eine Rollschuhbahn untergebracht gewesen und danach ein Lager für Zwiebeln. Dann hatte jemand das Haus gekauft, eine Wand eingerissen und vier große Fenster eingebaut, dazu eine breite Terrasse mit Blick über den Fluß, eine Küche installiert und das Haus so zu dem beliebtesten Ziel für Empfänge im ganzen Ripley-Bezirk gemacht. Der Teppichboden war bunter als eine Ölpfütze auf dem Boden, der Raum war mit Plastiktischen und stapelbaren Stühlen möbliert, und der Saal roch wie die Kantine einer Schule, als die Hochzeitsgesellschaft ankam. Eine Band baute in einer Ecke des Raumes ihre Instrumente auf, währenddessen lief vom Band Countrymusik. Über zweihundert Gäste füllten den Saal und warteten auf die Ankunft von Braut und Bräutigam. Und auch wenn sie sich vor der Kirche noch von Tess ferngehalten hatten, so schien doch die Tatsache, daß sie jetzt Cocktails tranken, zu rechtfertigen, daß sie sich ihr näherten und sich mit ihr unterhielten. Tess kam es so vor, als hätte sie in der halben Stunde, ehe das Essen serviert wurde, mit jedem einzelnen der Gäste gesprochen. Mit allen, bis auf Kenny Kronek, der sich mit allen anderen unterhielt, sich aber wohl entschieden haben mußte, einen gewissen Abstand zwischen sich und Tess zu bringen. Aber Tess hatte eine Art Radar entwickelt, denn sie wußte immer, wo er sich in dem großen Saal aufhielt, in jedem Augenblick. Beinahe jeder fragte sie, warum sie auf der Hochzeit nicht gesungen hatte und ob sie es während des Tanzes später tun würde. »Nein«, antwortete sie immer wieder. »Ich bin heute hier nur Gast. Die Braut und der Bräutigam sind heute die Stars.« Hunderte ähnlicher Situationen hatte sie während ihrer Karriere bereits erlebt, und sie hatte sehr gut gelernt, wie sie es machen mußte, als Ehrengast in den Hintergrund zu treten, ohne ihre Fans zu verärgern. Als Braut und Bräutigam endlich kamen, wurde das Essen serviert. Tess und Mary saßen an einem runden Tisch, der für acht Leute gedeckt war, zusammen mit Judy, Ed und Tricia, die mit ihrem Punschausschank fertig war. Als sie sich gerade hingesetzt hatten, kam Faith zu ihnen hinüber. »Sind die Plätze hier besetzt?« fragte sie. »Nein«, antwortete Judy. »Setz dich nur. Meine anderen beiden Kinder waren Brautjungfern, deshalb sitzen sie am Tisch des Brautpaares.« »Haben Sie etwas dagegen?« fragte Faith Tess höflich. Etwas dagegen? Zusammen mit Kenny an einem Tisch zu sitzen? Es war vielleicht nicht gerade sehr klug, aber was hätte Tess sonst sagen können? »Nein, ganz und gar nicht. Ich wollte sowieso mit Casey reden.« Oh, gut, dann hole ich Kenny.« Während Faith gegangen war, kam Casey atemlos
angelaufen und ließ sich auf den Stuhl neben Tess fallen. »Junge, Junge, ich habe mit einigen Mitgliedern der Band gesprochen. Sie werden wunderbar spielen!« »Kennst du sie?« »Zwei von ihnen. Wir haben früher ein wenig zusammen gespielt mit unseren Gitarren.« Während sie sich unterhielten, kam Faith mit Kenny im Schlepptau zurück, und die beiden setzten sich auf die freien Stühle direkt gegenüber von Tess. Und da jeder jeden kannte,war die Unterhaltung locker und gelöst. Das Essen war eine schmackhafte Kombination von Hähnchen und Kräuterkäserollen mit Spargel, in Teig gebacken, mit einer leichten Sauce aus Tarragona-Creme. Die Weine waren hervorragend, ein feuriger Pinot Noir und ein fruchtiger Zinfadel wurden gereicht, mit dem sie einander zuprosteten. Und Tess und Kenny nutzten die erhobenen Weingläser, um die Blicke dahinter zu verbergen, die ein wenig zu oft zu ihrem Gegenüber huschten. Faith war es schließlich, die Marys Ohrringe bemerkte und sie sich dann ein wenig genauer ansah. Mary berührte sie leicht und erklärte dann: »Sie sind echt. Tess hat sie mir heute nachmittag geschenkt.« Sechs Leute bewunderten und lobten sie. Die siebte schürzte die Lippen und stieß dann ihren Mann mit dem Ellbogen an. »Gib mir noch etwas von dem Wein, Ed.« Mary sagte: »Ja, mir auch, Ed.« »Du nimmst Medikamente, Mama«, schalt Judy. »Du sollst keinen Alkohol trinken.« »Weißt du, was, Judy, wenn du einmal zwei neue Hüften bekommen hast und dann auf der Hochzeit deiner Enkeltochter bist, dann wollen wir doch mal sehen, ob du nicht auch den Wunsch hast, ein wenig zu feiern. Ich habe heute morgen meine Tabletten nicht genommen, und ein paar Gläser Wein werden mich nicht umbringen. Also, fülle mein Glas, Ed.« Alle wurden immer fröhlicher, nur Judy nicht. Während des Essens schnitt Tricia das Thema an, daß Tess Casey mit nach Nashville nehmen würde. Sie erzählte, daß die ganze Stadt über nichts anderes mehr sprach. »Ist sie nicht wundervoll?« Casey strahlte Tess ein wenig beschwipst an. »Sie sorgt dafür, daß all meine Träume wahr werden. « Tess wehrte ab. »Das ist noch kein Plattenvertrag, Casey, es ist nur der Backgroundgesang bei einem einzigen Song.« »Ich weiß. Aber ich werde nach Nashville fahren, Mac! Da von habe ich schon mein ganzes Leben lang geträumt!« Mary hatte ihr zweites Glas Wein ausgetrunken und sah aus, als wäre sie
mit der ganzen Welt zufrieden. Ed, der auch ein we nig unter Alkoholeinfluß stand, meinte: »Gut gemacht, Casey. Aber du wirst dich anstrengen müssen, wenn du in Tess' Fußstapfen treten willst.« Faith mischte sich in die Unterhaltung ein. »Ich denke, es wäre angebracht, wenn wir auf unseren zukünftigen Star trin ken würden«, sagte sie. Alle hoben die Gläser, auch Judy, die gar nicht anders konnte, weil sie sonst wie ein Dummkopf ausgesehen hätte. Doch sobald die Gläser wieder abgestellt waren, stand sie auf und floh auf die Toilette. Tess sah ihr nach, legte die Serviette beiseite und sagte ganz eilig: »Entschuldigt mich bitte. Ich muß mit Judy reden.« Im Vorraum der Toilette schloß sie die Tür von innen ab. In dem Raum gab es drei Toiletten und zwei Waschbecken. Judy hatte ihre Handtasche auf eine Anrichte zwischen den beiden Waschbecken gestellt und rückte sich das Haar zurecht. Tess stellte ihre Handtasche daneben und wandte sich dann Judy zu. sah sie von der Seite an und vermied es, im Spiegel in ihre Augen zu sehen. »Also gut, Judy, laß uns darüber reden.« »Laß mich in Ruhe.« »Nein, denn ich kann es nicht länger ertragen.« »Was kannst du nicht länger ertragen?« »Deine Eifersucht. Ich bin jetzt seit drei Wochen wieder zu Hause, und jedesmal, wenn ich dich in dieser Zeit gesehen habe, hat es irgend etwas gegeben, das dich verärgert hat. Entweder war es jemand, der mich um ein Autogramm gebeten hat, oder jemand, der mich gebeten hat zu singen, oder etwas, das ich Momma geschenkt habe.« »Du liebst es, uns das immer wieder überdeutlich zu machen, nicht wahr?« beschuldigte Judy sie. Dann äffte sie einen gezierten Tonfall nach. »Seht doch nur mich an, den reichen, berühmten Star, der nach Hause kommt und den armen Tagelöhnern zeigt, wie elend ihr Leben ist!« »Verdammt, Judy, das ist nicht fair! Ich habe nie mit meinem Erfolg oder meinem Geld geprahlt, und das weißt du sehr gut!« »Angefangen mit deinem Wagen und mit der Kleidung, die du heute trägst, und deinem Handy.« Sie sprach das Wort aus, als wäre es ein Schimpfwort. »Der Yuppie-Country-Star fährt in die Stadt ein und telefoniert dabei, er beeindruckt junge Mädchen, die davon träumen, auch einmal ein Star zu werden.« »Ich erledige meine Geschäfte von hier aus. Und du hast dir doch für diese Hochzeit auch ein neues Kleid gekauft, oder etwa nicht?« Judy antwortete ihr nicht. »Also, und genau das habe ich auch getan. Und was Casey betrifft, ich hätte ihr nicht meine Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß sie Talent hat. Aber sie hat Talent, und wenn ich ihr dabei helfen kann, es weiterzuentwickeln, warum sollte ich das dann nicht tun?« »Du hast dafür gesorgt, es so zu verkünden, damit auch alle wissen, wie
großmütig du bist, nicht wahr?« »Ich habe es nicht verkündet. Ich habe es Casey vor einer Woche gesagt, bei ihr zu Hause, ganz privat. Jemand anders hat heute abend davon gesprochen, und noch jemand anders hat den Toast vorgeschlagen. Aber du konntest es kaum ertragen, dein Glas zusammen mit den anderen zu heben, nicht wahr? Du kannst dich nicht einmal für Casey freuen. Und in Mommas Haus, an dem Tag, als sie aus dem Krankenhaus kam, als alle uns gebeten haben zu singen, was hätte ich denn da sagen sollen? Hätte ich ablehnen sollen? Weil meine Schwester Judy es nicht ertragen kann? Weil sie sonst in die Küche gehen muß, um zu schmollen? Denn das hast du getan, Judy, und das hat mir weh getan. Es tut mir immer weh, wenn du mich behandelst, als müsse ich mich für das entschuldigen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Weißt du eigentlich, daß du noch nicht ein einziges Mal gesagt hast: >Meinen Glückwunsch, Tess< oder >Hübscher Song, Tess< oder >Ich habe eine deiner Platten gekauft, Tess
»Warum gehst du nicht dahin zurück, wo du hergekommen bist?« fragte sie bissig. »Wir können Momma auch allein versorgen, und wir machen es bei weitem besser als du.« Sie schloß die Tür auf, die gegen die gekachelte Wand flog, so heftig hatte Judy sie aufgerissen, als sie hinausstürmte. Tess blieb stehen und versuchte, sich zu beruhigen. Und obwohl sie am ganzen Körper zitterte und Tränen sich in ihre Augen drängten, lächelte sie die beiden Frauen an, die den Raum betraten und sie neugierig ansahen. Doch als sie erkannten, wer sie war, gingen sie nicht auf die Toilette, sondern machten sich vor dem Spiegel zu schaffen. Tess holte Lippenstift und Puder aus ihrer Tasche und frischte ihr Make-up auf. Hochrote Flecken hatten sich auf ihren Wangen gebildet, und auch ihr Hals war unnatürlich gerötet. »Ihre Schuhe gefallen mir«, sagte eine der Frauen. »Danke.« »Werden Sie heute abend singen?« wollte die andere wissen. »Nein, tut mir leid.« »Ach, schade.« Tess steckte ihre Make-up-Utensilien in die Tasche zurück und lächelte, um sich nichts anmerken zu lassen. Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, sagte ihr Lächeln, während sie die übliche Antwort gab, die sie für solche Gelegenheiten bereithielt. »Sie können mich auf den Platten von MCA immer hören.« Als Tess an den Tisch zurückkam, hatte die Band zu spielen begonnen, und Judy und Ed waren verschwunden. Auch die anderen saßen nicht mehr am Tisch, bis auf Mary, die ihr fragend entgegensah. »Was ist denn auf der Toilette passiert?« wollte sie wissen. »Judy hat Ed beinahe den Arm ausgerissen, um ihn dazu zu bringen, mit ihr zusammen zu verschwinden.« »Ich habe ihr nur gesagt, was ich von ihrer Eifersucht halte, und Momma, wenn du nur noch ein einziges Mal sagst, daß Judy nicht eifersüchtig ist, dann werde ich dir deinen Wein wegnehmen, was ich wahrscheinlich sowieso tun sollte!« »Da kommst du zu spät. Kenny und Faith haben mir bereits verboten, noch mehr zu trinken.« »Wo sind die beiden denn?« »Sie tanzen. Alle tanzen. Ganz plötzlich entschieden sich alle, auf die Tanzfläche zu gehen, als Judy wie ein verwundetes Nashorn aus der Toilette gestürmt kam und ihre Familie nach Hause geschleppt hat. Was haben Hochzeiten nur an sich, daß sie so viele Familienstreitigkeiten auslösen?« Tränen des Zorns traten in Tess' Augen. »Momma, ich war nur nicht länger bereit, noch mehr von diesem Mist zu ertragen, den Judy sich erlaubt. Sie ist auch deine Tochter, und ich weiß, daß du sie liebst, und ich verlange ja
auch nicht von dir, daß du etwas tust. Aber sie hat mich schon so viele Male verletzt, und das alles nur, weil sie so wenig Selbstachtung besitzt, daß sie mit meinem Erfolg nicht leben kann. Sie findet es in Ordnung, wenn sie aufsteht und den Raum verläßt, wenn mich jemand wie einen Star behandelt, aber es ist nicht in Ordnung, wenn ich sie deswegen zur Rede stelle, weil mich das egoistisch aussehen läßt! Und Momma, ich habe es bis jetzt ertragen, ohne ein Wort zusagen, aber damit ist Schluß! Heute abend ist sie dir ins Wort gefallen, als du dich über deine Ohrringe gefreut hast, und dann hat sie das gleiche noch einmal getan, als Casey sich darüber gefreut hat, daß sie nach Nashville geht. Und jetzt frage ich dich, wer ist hier kleinlich?« Mary seufzte, dann strich sie über die geballte Faust von Tess, die auf dem Tisch lag. »Ich habe darüber nachgedacht, seit dem ersten Sonntag, als du zu Hause warst und als all ihr Kinder wieder zusammengekommen seid, und ich weiß, daß du recht hast, sie hat das Zimmer verlassen, in dem Augenblick, als du und Casey angefangen habt zu singen. Und ich habe auch andere Zeichen gesehen, die ich zuerst nicht wahrhaben wollte. Du mußt wissen, daß Judy schrecklich lieb zu mir ist.« »Natürlich ist sie das, Momma, aber hier geht es nicht darum, ob sie lieb zu dir ist oder nicht.« »Nein... nein, darum geht es nicht.« »Weißt du, was ihr helfen würde? Sie sollte sich ein gutes Programm suchen, um abzunehmen, und dann sollte sie ein wenig mehr Wert auf ihre äußere Erscheinung legen.« »Ich weiß, aber wer soll ihr das sagen?« »Ich nicht.« »Ich auch nicht.« »Ich war nahe daran, ihr das vor fünf Minuten auf der Toilette zu raten.« »Sie sah hübsch aus heute abend«, meinte Mary. »Sie sah sogar sehr hübsch aus. Aber sie würde noch viel besser aussehen, wenn sie abnehmen würde.« Renee unterbrach sie in diesem Augenblick, die atemlos von der Tanzfläche kam, und stützte beide Hände auf den Tisch. Sie sah bezaubernd aus in ihrem aprikosenfarbenen Kleid, mit einem spitzenbesetzten Oberteil und einem weiten, fließenden Rock. »Was ist denn mit Judy und Ed geschehen?« wollte sie wissen. »Das war mein Fehler«, gestand Tess. »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Judy in der Toilette, du weißt schon, weshalb.« »Und sie ist nach Hause gestürmt?« »Und Ed und Tricia hat sie mitgenommen. Es tut mir leid, Renee.« Renee richtete sich auf, hob ihr Haar im Nacken hoch und meinte dann: »Hey, weißt du was? Das ist Judys Problem, nicht das unsere. Und ich werde nicht zulassen, daß sie meiner Tochter die Hochzeit verdirbt. Also, hör mir mal zu. Braut und Bräutigam schicken mich, um mit dir zu reden. Sie haben
so viele Bit ten von den Gästen gehört und haben mich gebeten, dich zu fragen, ob du wenigstens einen einzigen Song mit der Band sin gen würdest. Und sie haben mir gesagt, wenn du zustimmst, werden sie dir ihr erstgeborenes Kind dafür geben.« »Genau das, was ich brauche.« »Was meinst du?« »Ich habe heute abend allen erklärt, daß ich nicht singen werde.« »Auch nicht, wenn Braut und Bräutigam dich darum bitten? Es würde ihnen soviel bedeuten, Tess, komm schon«, drängte Renee. Tess blickte zur Tanzfläche. Rachel und Brent tanzten zwar miteinander, sie verrenkten sich aber den Hals, um Tess mit hoffnungsvollen Blicken anzusehen. Tess wußte, daß, wenn sie heute sang, ihre Hochzeit die ganze Saison über das Stadtgespräch im gesamten Ripley-Bezirk wäre. »Ich nehme an, einer der Gründe, warum du nicht singen wolltest, war Judy«, sagte Renee. »Aber jetzt, wo sie nicht mehr da ist, hast du keinen Grund mehr, nicht zu singen.« »Ist die Band denn damit einverstanden?« »Du machst wohl Witze! Welche Band würde nicht von sich sagen wollen, daß sie Tess McPhail begleitet hat?« »Also gut. Aber nur einen Song.« Renee zeigte Braut und Bräutigam ihren hocherhobenen Daumen, und die beiden umarmten sich begeistert. Dann warf Rachel Tess einen Kuß zu, ging zu der Bühne, auf der die Band saß, und sprach mit dem Gitarristen, der sein Spiel dabei nicht unterbrach. Als das Lied vorüber war, trat der Mann an das Mikrofon. »Alle wissen, daß wir heute abend einen berühmten Star aus Nashville unter uns haben«, sagte er. »Sie ist die Tante der Braut, und sie hat zugestimmt, zu uns heraufzukommen und einen Song mit uns zu singen. Hey, ihr alle, begrüßt mit uns... Tess McPhail!« Die Leute traten zur Seite, und Tess ging mit sicheren Schrit ten zur Bühne. »Könnt ihr mir >Cattin< in G geben?« fragte sie die Musiker. »Aber sicher, Mac«, antwortete der Drummer und schlug einen Vierviertel-Beat auf dem Rand seiner Melodysaite. Und als Tess dann nach dem Mikrofon griff, hatte sie auf der Stelle zweihundert Herzen gefangen, Die Hochzeitsgäste applaudierten so laut, daß die ersten zwölf Takte in dem Lärm untergingen, dann tanzten sie alle weiter, doch ohne Tess dabei aus den Augen zu lassen. Tess gab Wintergreen etwas, worüber noch die nächsten zehn Jahre geredet wurde. Sie spreizte die Beine so weit, wie ihr Kleid es zuließ, dann zuckte ihr Knie im Rhythmus der Musik, und die Straßsteine an ihren Schuhen sandten blaue Blitze aus. Sie vergaß Judy und wurde eins mit ihrem
Publikum, sie bot ihnen einen Auftritt voller Energie und Rhythmus. »Cattin« hatte einen Rock Beat, und der Text war ein wenig gewagt. Sie benutzte ihre Hände und ihre langen, glänzenden Fingernägel wie eine Zauberin, um das Publikum zu verhexen. Sie besaß einen Sinn für die Schauspielkunst, und sie spielte mit ihrem Publikum, sie setzte Augenkontakt und Koketterie ein, um jedem Zuschauer das Gefühl zu geben, daß sie nur für ihn allein sang. Ganz plötzlich stand Kenny vor ihr, er tanzte mit Casey, und beide lächelten sie an. Sie deutete auf Casey: »... werde mich in Seide kleiden...« Und dann auf Kenny: »... werde ausgehen und herumstreunen mit dir.« Sie blinzelte ihm zu, und er lachte, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gäste. Sie wußte, wie sie ihre Augen vielversprechend aufleuchten lassen konnte, wie sie das Mikro fon halten mußte, ganz nahe an ihren Lippen, um alle Männer glauben zu lassen, daß sie nur für sie sang, damit alle Frauen glaubten, auch sie wären so verlockend und voller Selbstvertrauen wie Tess McPhail. Es gab Songs, die sang sie für Frauen, doch dieser hier gehörte nicht dazu. Aber die Frauen im Publikum schien das nicht zu stören. Als der Song zu Ende war, applaudierten sie genauso heftig wie die Männer. Casey steckte zwei Finger in den Mund und pfiff wie ein Viehtreiber. Renee rief: »All right, Schwesterchen!« Braut und Bräutigam klatschten und nahmen die Glückwünsche von allen um sie herum an, während die Menge zu rufen begann. Mac! Mac! Mac!« Der ganze Saal schien zu beben. Tess verbeugte sich und suchte dann die Blicke ihrer Mutter. Mary applaudierte voller Stolz, sie saß noch immer in ihrem Rollstuhl am Tis ch, und der Stolz, den Tess in ihren Augen las, tat ihr gut. Sie blickte die Gäste an und entdeckte Menschen, die sie ganz vergessen hatte - ehemalige Lehrer, Geschäftsleute, Freunde von Renee und Judy, alte Nachbarn, Leute aus der Kirche, sie alle applaudierten noch immer und baten um mehr. Braut und Bräutigam bahnten sich einen Weg durch die Menge bis zur Bühne. »Bitte noch ein Lied, Tante Tess... bitte!« bat Rachel sie. Tess sang noch ein Lied, ein langsames für das frisch verheiratete Paar. »Diesen Song habe ich noch nicht auf Platte aufgenommen«, erklärte sie. »Aber ich habe ihn schon immer gern gesungen, ganz besonders auf Hochzeiten. Rachel und Brent, dieses Lied ist für euch.« Sie sang eine bewegende Fassung von: »Darf ich diesen Tanz für den Rest meines Lebens mit dir tanzen« und beobachtete dabei die Paare, die an ihr vorübertanzten. Renee tanzte mit Jim. Der Bräutigam hatte seine Braut im Arm. Packer tanzte mit einem der Brautmädchen. Mindy Alverson Petroski schwebte mit ihrem Mann vorüber, dem Besitzer des
Haushaltswarengeschäftes. Und Kenny tanzte mit Faith. Das Publikum hätte Tess liebend gern noch länger auf der Bühne gesehen, doch nach dem zweiten Song bedankte sie sich bei der Band, winkte dem Publikum noch einmal zu und steckte dann das Mikrofon wieder in den Ständer. Ein Dutzend Leute gratulierten ihr auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch, und viele kamen zu ihr, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte. Marys Gesicht war vor Stolz gerötet. »Liebling, du hast sie umgehauen«, meinte sie. »Ich weiß gar nicht, woher du eine solche Stimme hast, aber ganz sicher hast du sie nicht von mir.« Einer nach dem anderen kamen die Gäste zu ihr, bedankten sich bei ihr und gaben die üblichen Sprüche von sich. Enid Copley und eine Gruppe von Marys Freunden kamen an den Tisch, und schon sehr bald stand Mary im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, als Mutter, deren Tochter es geschafft hatte. Doch ein Phänomen, das Tess schon oft nach ihren Auftritten erlebt hatte, trat auch jetzt wieder ein. Als sie erst einmal gesungen hatte, wurde sie für die Menschen zu einem so großen Star, daß sie sich davor fürchteten, sie zu belästigen, und sich von ihr fernhielten. Sie kamen zu ihr, sagten schnell etwas, damit sie später erzählen konnten, daß sie mit ihr gesprochen hatten, dann verschwanden sie wieder und ließen sie in der Menschenmenge allein. Casey war am anderen Ende des Saales, zusammen mit den Jugendlichen, die in ihrem Alter waren. Renee und Jim amüsierten sich herrlich. Wenn Ed hier gewesen wäre, hätte sie mit ihm tanzen können, doch er war weg. Nie mand bat die berühmte Tess McPhail um einen Tanz, also blieb sie bei Mary sitzen, die sich nicht über einen Mangel an Gesellschaft beklagen konnte. Zwei Teenager kamen zu ihr und baten sie schüchtern darum, ihnen auf einer Serviette ein Autogramm zu geben. Sie erfüllte ihnen den Wunsch. Mrs. Perry, die ihnen gegenüber gewohnt hatte, als Tess noch klein war, richtete ihre Aufmerksamkeit von Mary auf Tess und rief ihr wieder ins Gedächtnis, wie sehr sie ihre englischen Toffees geliebt hatte, die sie immer zu Weihnachten machte. Sie erzählte, wie Tess einmal Mary in Verlegenheit gebracht hatte, als sie einfach an die Tür von Mrs. Perry geklopft und gefragt hatte, ob sie ein Toffee haben könnte. Es war eine alte Geschichte, die Mrs. Perry ihr immer wieder erzählte, seit Tess in die Schule gekommen war. Sie sprachen über Mrs. Perrys Kinder, was sie taten, wo sie lebten, doch dann wandte sich Mrs. Perry wieder der Gruppe um Mary zu. »Mom, du sagst mir doch Bescheid, wenn du nach Hause möchtest«, meinte Tess. »Bald«, antwortete Mary, doch sie und Enid Copley und Mrs. Perry und die anderen unterhielten sich weiter. Ein Song endete, ein neuer begann, und Kenny verließ allein die
Tanzfläche, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Tess. Er sah ein wenig erhitzt aus vom Tanzen. Seine Anzugjacke hatte er geöffnet und seine Krawatte ein wenig gelockert, der oberste Hemdknopf war offen. Er griff nach seinem Glas, trank einen großen Schluck daraus, dann stützte er einen Ellbogen auf den Tisch. »Eine großartige Hochzeit«, meinte er. »Es sieht ganz so aus, als würdest du dich amüsieren.« »Das tue ich auch.« »Wo hast du denn Faith gelassen?« »Sie tanzt mit ihrem Schwager. Warum tanzt du denn nicht?« »Mich hat noch niemand um einen Tanz gebeten.« Er blickte sich um, dann sah er sie an. »Nun, das können wir doch nicht zulassen«, sagte er. »Möchtest du tanzen?« »Sehr gern.« Er nahm ihre Hand und zog sie zur Tanzfläche. Die Band spielte gerade »The Chair«, und er zog sie in seine Arme, in die traditionelle Tanzhaltung. »Danke, daß du mich errettet hast«, flüsterte sie in sein Ohr. »Was ist denn bloß los mit den Männern hier?« »Sie haben Angst. Das passiert mir immer wieder. Du bist ein guter Tänzer.« »Danke. Du auch. Und eine verteufelt gute Sängerin. Sie haben dich geliebt.« »Danke. Ich habe dich und Casey von der Bühne aus beobachtet. Es ist nett, Vater und Tochter zuzusehen, wie sie sich zusammen vergnügen.« »Ich werde sie vermissen, wenn sie nach Nashville geht.« »Das weiß ich.« »Aber Himmel, Tess, du hast sie so glücklich gemacht. Das weißt du doch, nicht wahr?« Er beugte sich ein wenig zurück, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Das macht mich auch glücklich.« »Danke für all das, was du für sie tust.« »Es fällt dir sicher schwer, das zu sagen.« »Das ist einer der Stolpersteine, wenn man ein Kind hat. Vielleicht bin ich ein wenig erwachsener geworden, seit du nach Hause gekommen bist.« Sie gönnten sich noch einige angenehme Augenblicke, in denen sie einander so nahe waren, sich ansahen, miteinander flirteten, und das alles vor den Augen von zweihundert Menschen. Doch als es dann zu auffällig wurde, zog er sie eng an sich, bis ihre Körper einander berührten und sie ihre Schläfe gegen sein Kinn drückte. Sie roch den Duft seines After-shaves und dachte an Renees Warnung, sich von ihm fernzuhalten. Sie hatte nur noch selten Gelegenheit zu tanzen. Ironischerweise war es so, daß sie die Musik schuf, zu der die anderen tanzten, und ihr dies die Gelegenheit nahm, es selbst zu tun.
»Ich muß mich bei dir auch für etwas bedanken«, verriet sie ihm. »Für das, was du zu meiner Mutter gesagt hast, als du sie heute nachmittag gesehen hast. Ich hatte ihr kurz zuvor das gleiche gesagt, doch aus deinem Mund hat es ihr viel mehr bedeutet.« Kenny blickte über die Köpfe der Menschen hinweg zu Mary. »Sie sieht wirklich großartig aus, nicht wahr?« »Siehst du? Genau das habe ich damit gemeint - deine Worte waren so ehrlich, daß sie gestrahlt hat wie ein Weihnachtsbaum. Sie ist vierundsiebzig Jahre alt, hat zwei neue Hüften bekommen, ihr Gesicht wird langsam faltig und ihr Haar wird dünner, aber als du zu uns an die Tür gekommen bist und dir vor Erstaunen die Luft wegblieb, da fühlte sie sich wunderschön.« »Aber eigentlich war das dein Verdienst, du hast ihr geholfen bei ihrem Make-up, du hast für die neue Frisur gesorgt und hast ihr die Ohrringe geschenkt. Diese Ohrringe sind wirklich etwas ganz Besonderes, Tess.« »Das ist meine Momma auch.« Er umfaßte sie noch fester, als wolle er damit sagen: Ich bin froh, daß du das endlich begriffen hast, und dann wirbelte er sie herum. Sie paßte sich seinen Bewegungen an, und sie spürten das erhebende Gefühl zweier Tänzer, die einander ebenbürtig sind und die den körperlichen Kontakt genießen. »Hey, Kenny«, sagte sie leise an seinem Ohr. »Hm?« Ich habe immer geglaubt, du seiest der unbeholfenste Klotz In der ganzen Schule. Was ist passiert?« Er lachte und lächelte dann in ihr Haar. »Rede nur weiter so, dann werde ich vielleicht zulassen, daß du deinen Willen bekommst.« Er hatte sie so eng an sich gezogen, daß sie es hätte fühlen müssen, wenn er eine Münze in seiner Hosentasche gehabt hätte. »Haben wir in der High-School eigentlich je zusammen getanzt?« fragte sie. Ich glaube nicht. So nahe hast du mich nie an dich rangelassen.« »...zu schade«, murmelte sie. Er lehnte sich ein wenig zurück, damit er in ihr Gesicht sehen konnte. Sie wurden unvorsichtig, und ihre Augen und ihr Lächeln sagten einander sehr viel, ihre eng aneinandergepreßten Körper sagten den Rest. Eine Frau weiß, wenn ihr Tanzpartner an mehr denkt als nur an den Tanz, und ein Mann weiß, wenn ihre Gedanken in die gleiche Richtung gehen. Kenny und Tess wußten es beide. »Sind das vielleicht Monde in deinen Ohren?« fragte er und grinste, als die Diamanten das Licht der Lampen auf seine Schulter warfen. »Ja, aber es sind keine Vollmonde.« »Ich glaube, ich habe etwas entdeckt«, verriet er ihr. »Und was ist das?«
»Es genügt schon wesentlich weniger als ein Vollmond, um Menschen dazu zu bringen, verrückte Dinge zu tun.« Er kam ihr wieder näher und summte dann die Melodie mit, die die Band spielte. Sie lächelte und genoß es. »Stell dir das nur vor... ein Mann singt für mich.« »Ich bin wahrscheinlich der einzige Mann, den du kennst, der sich von deinem Erfolg nicht beeindrucken läßt. Wenn ich den Wunsch habe zu singen, dann singe ich.« »Ich auch.« Sie beendeten den Tanz, indem sie einander etwas vorsangen, aber das oberflächliche Wortgeplänkel hielten sie aufrecht, um ihre offensichtliche Freude über den Kontakt ihrer Körper nicht zu deutlich werden zu lassen. Als der Song zu Ende war, ließen sie einander sofort los, weil sie wußten, daß die Leute um sie herum sie wahrscheinlich beobachteten. Mac McPhail wurde immer beobachtet. Sie wandte sich um und wollte zu ihrem Tisch zurückgehen, doch er hielt sie fest. »Bleib, Tess... noch einen Tanz.« Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, zuzustimmen, sie stellte sich so nahe neben ihn, damit niemand bemerkte, daß sie einander an den Händen hielten, bis der nächste Song begann. Der Rhythmus der Musik änderte sich. Die Band spielte George Straits »Adalida«, und Tess und Kenny lächelten und lachten dann, weil sie es so sehr genossen, miteinander zu tanzen. Einmal rief sie ihm über die Musik zu: »Ich habe solchen Spaß!« »Ich auch!« rief er zurück. Als der Song endete, waren sie erhitzt, und ihre Gesichter waren gerötet, als sie zu Marys Tisch zurückgingen. »Nun, ihr beiden seht ganz so aus, als hättet ihr so etwas schon früher getan.« »Aber nicht zusammen«, sagte Tess. Enid Copley und die Gruppe von Marys Freunden waren verschwunden. Marys Weinglas war leer, und ihre Tasche lag auf ihrem Schoß. »Ich weiß, es ist noch sehr früh, aber ich fürchte, ich mu ß nach Hause, Tess. Es tut mir leid, daß ich dich schon jetzt hier wegholen muß, aber du kannst ja später zurückkommen, nicht wahr?« »Aber natürlich kann ich das. Ich bringe dich sofort nach Hause.« »Ich komme mit und helfe dir«, bot Kenny an. Tess vermied es, ihn anzusehen, aber sie wußte genau, daß er dieses Angebot nicht ohne Hintergedanken gemacht hatte. Lie bende finden immer einen Weg. Und sie hatten ihren Weg gefunden. »Oh, danke, Kenny«, sagte Mary. »Das wäre wirklich sehr nett. Tess hat dieses hübsche Kleid an, und diese verflixte Vorrichtung ist so schwer.« Sie
meinte natürlich den Rollstuhl. »Ich sage nur Faith Bescheid, dann komme ich zurück.« Tess schob den Rollstuhl zum Ausgang und wartete, während Kenny nach Faith suchte. Faith blickte zu ihnen hin und winkte Mary und Tess zu. Kurz darauf war Kenny zurück und schob den Rollstuhl nach draußen. Nachdem Mary auf dem Rücksitz saß und der Rollstuhl im Kofferraum verstaut war, fragte er: » Soll ich fahren ?« »Ja, gern«, stimmte Tess zu und reichte ihm den Wagen-Schlüssel. »Ich habe ein wenig mehr getrunken, als ich eigentlich sollte. Sollte ich angehalten werden und die Zeitungen bekommen Wind davon... na ja, du kannst dir sicher vorstellen, was dann passiert.« Sie brauchten eine Viertelstunde, um zur Stadt zurückzufahren, dann dauerte es noch einmal eine Viertelstunde, bis Tess Mary ins Bett gebracht hatte. Kenny wartete währenddessen in der Küche, lauschte den Stimmen der beiden Frauen, trank ein Glas Wasser und setzte sich dann an den Küchentisch und wartete geduldig auf Tess und darauf, was zwischen ihnen geschehen würde, denn daß etwas geschehen würde, hatten sie schon den ganzen Tag über gefühlt. Seit er sie in diesem blauen Kleid gesehen hatte, hatte er gewußt, daß es heute geschehen würde. Daß sie irgendwie einen Augenblick finden würden, in dem sie allein sein konnten. Sie kam in die Küche, und er stand von seinem Stuhl auf. »Ist alles in Ordnung?« »Ja.« Aus dem Schlafzimmer rief Mary: »Gute Nacht, Kenny! Danke, daß du geholfen hast!« »Gute Nacht, Mary«, rief er zurück. Er blickte zu Tess, und sie dachten daran, zu dem Fest zurückzufahren. Und dann dachten sie an das, was sie wirklich wollten. Er hatte seine Krawatte abgenommen und sie in die Tasche gesteckt, die obersten beiden Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet. Sie standen ganz nahe voreinander und warteten darauf, wer wohl den ersten Schritt tun würde, dabei waren sie ganz sicher, daß es jetzt geschehen würde. »Möchtest du das Licht ausmachen?« fragte er. »Nein, laß es an, für später, wenn ich nach Hause komme.« Er trat einen Schritt zurück, und sie ging an ihm vorbei aus dem Haus. Im Garten war es dunkel, selbst in Kennys Garten brannte kein Licht. Sie waren im hellen Tageslicht von zu Hause weggefahren, und niemand hatte daran gedacht, das Licht draußen anzumachen. Tess ging vor ihm her die Hintertreppe hinunter, eine Hand lag auf dem Geländer, ihre hochhackigen Schuhe klapperten auf der Treppe. Er folgte ihr über den schma len
Gartenweg, bis sie die Hälfte des Weges zur Gasse zurückgelegt hatten. »Tess, warte«, sagte er und griff nach ihrem Arm. Diese eine kurze Berührung war alles, was sie brauchte. Sie wandte sich in einer schnellen Bewegung um und warf sich in seine Arme. Auch er wußte, was er wollte, und er schlang die Arme um sie und preßte sie an sich, seine Lippen warteten darauf, sich auf die ihren legen zu können. Sie standen mitten auf dem Weg, geborgen in dem dunklen Garten, während Tess ihre Lippen seiner suchenden Zunge öffnete. Sie standen eng aneinandergepreßt, einer seiner glänzenden schwarzen Schuhe hatte sich zwischen ihre glitzernden blauen Schuhe geschoben. Sie war kleiner als er, und als er sich zu ihr hinunterbeugte, legte sie eine Hand in seinen Nacken und hielt ihn fest, während sie ein ander küßten und küßten, und keiner von beiden sich zurückhielt und sie sich ganz der Lust hingaben, die sie zu überwältigen drohte. Alles, was sie sich vorgestellt hatten, ließen sie jetzt aufleben. Ihr Kopf sank gegen seine Schulter, er verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken, während sie einander immer weiter küßten, als würde die Hochzeitsfeier und all die Menschen, die sie dort zurückgelassen hatten, gar nicht existieren. Ihre Lippen wurden feucht, ihr Atem ging heftig, und das Kleid zerknitterte unter seinen Händen. Sie schlang beide Arme um seinen Ha ls, und er hob sie hoch, so daß ihre Füße nicht länger den Boden berührten. Er hielt sie an sich gedrückt und hörte nicht auf, sie zu küssen. Dann wandte er sich um und trug sie über das Gras zu der Stelle, an der die Schatten am dunkelsten waren; in die Nähe der Hintertreppe. Dort, neben den Hortensienbüschen, zum Zirpen der Grillen, küßten sie sich weiter, und zuerst stand sie mit dem Rücken an der Wand, dann er. Doch es war besser, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stand. Er war stärker, er konnte mehr Druck ausüben, also drehten sie sich wieder um, und er drängte sie mit den Hüften gegen die Wand. Einmal stützte er beide Hände gegen das Haus, beugte sich zu ihr hinunter und bedeckte ihren Hals mit Küssen und dann ihr Ohr, ehe ihre Lippen sich wieder fanden. Und einmal schob sie ihre Hände unter seine Anzugjacke und fühlte seinen warmen Rücken, fuhr mit den Fingernägeln über den dünnen Stoff des weißen Hemdes. Ein Schauer lief durch seinen Körper, seine Hüften bewegten sich und er seufzte an ihrem Mund. Dann zog er sie mit sich auf das Gras, er sank zu Boden und zog sie mit sich auf das kühle, weiche Gras. Er hatte die Beine leicht gespreizt, und sie lag auf ihm. Ihr Haar fiel über sein Ge sicht, und er schob es zurück, als er sich herumrollte und sich dann halb auf sie schob. Seine Hand lag unterhalb ihrer Brust. Er hätte ihre Brust umfassen können, und sie hätte es vielleicht auch
zugelassen, doch irgendein unausgesprochenes Einverständnis sagte ihnen, daß einander zu küssen alles war, was sie sich an diesem Abend erlauben würden. Doch die Lust, einander zu küssen - angefacht noch durch das Mondlicht -, war erregend genug. Sie würden diesen Umstand ausnutzen und ihm all das Glück abgewinnen, das sie sich vorgestellt hatten, sie würden die Versuchung um der Versuchung willen genießen. Mit offenem Mund und Körpern, die zueinander strebten, bewegten sie sich auf dem schmalen Grat, auf dem der Genuß und und die Zurückhaltung die Oberhand behielten. Und als es so aussah, als würde die Lust die Oberhand bekommen und sie zu einem Punkt führen, von dem es kein Zurück mehr gab, ließ er sie los und sank neben ihr ins Gras. Schweigend lagen sie nebeneinander, der Gesang der Grillen dröhnte in ihren Ohren. Es dauerte lange, bis einer von ihnen sprach. Schließlich atmete Kenny tief aus. »Donnerwetter!« »Das kannst du sagen«, brachte Tess heraus. Ihren linken Arm hatte sie ausgestreckt und er lag unter seinem Arm. Sie bewegte den Daumen, um den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten, und rieb damit über den Stoff seines Anzuges. Sie lächelte, dann wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Was tun wir überhaupt?« Er blickte noch immer zu den Sternen. »Ich glaube, so etwas nennt man Necking. Damals, in den fünfziger Jahren, war es recht bekannt.« »Mir gefällt es.« »Mir auch.« Sie setzte sich auf, matt und benommen, und strich sich das Haar aus dem Gesicht, dann hob sie ihr Gesicht zum Himmel. Auch er, setzte sich auf, Seite an Seite blieben sie sitzen und dachten daran, was sie getan hatten. Noch immer genossen sie die Nachwirkung dessen, was den inneren Rhythmus ihrer Körper verändert hatte. »Wahrscheinlich hast du jetzt Grasflecken auf deinem Kleid.« »Ich werde es reinigen lassen.« »Aber was ist, wenn du zu dem Fest zurückgehst?« »Komisch... dazu habe ich eigentlich gar keine Lust mehr.« »Ich auch nicht.« Er zog die Knie an und schlang die Arme darum, dann streckte er den Kopf nach vorn und strich sich das Haar glatt. Tess fuhr mit der Hand über seinen Arm und dann auch über seine Hand, sie schob ihre Finger zwischen seine und bewegte sie wie eine Katze, die ihre Krallen an einem Teppich wetzt. »Hey, wenn wir schon so etwas tun, dann habe ich auch ein Recht, es zu erfahren - schläfst du mit Faith?« »Ja.« Tess hielt mitten in der Bewegung inne und blieb ganz still sitzen. Dann
legte sie sich wieder auf den Rücken und verschränkte die Hände vor dem Bauch. Sie blickte zu den Sternen. »Nun, sie kann sich sehr glücklich schätzen«, meinte sie leise. »Ich muß sagen, ich bin nicht mehr so geküßt worden, seit...« »Seit wann?« »Ich weiß es nicht. Ich mache so etwas nicht oft.« Er legte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf seine Faust. Die andere Hand legte er auf ihre Rippen, und dabei berührte sein Daumen die Unterseite ihrer Brust. »Ich auch nicht.« Tess legte ihre Hand auf seine, sie genoß es, seine Wärme durch den dünnen Stoff des Kleides zu fühlen. »Aber warum glaubst du dann, haben wir das getan?« »Sieh mal«, sagte er. »Ich bin nicht verheiratet mit Faith. Schon seit der High-School hatte ich eine Schwäche für dich, und diese Ge legenheit wollte ich mir ganz einfach nicht entgehen lassen. Wir haben beide gewußt, daß so etwas passieren würde.« »Aber sie wird es nicht erfahren, nicht wahr?« »Nein.« »Und Casey auch nicht.« »Nein.« »Es gibt auch keinen Grund, warum einer von den beiden etwas davon wissen sollte, weil es nicht mehr ist als nur ein verrückter Anfall von Übermut. Wahrscheinlich geht das vielen Menschen so bei einer Hochzeit.« »Wahrscheinlich.« Er bewegte den Daumen und berührte ganz leicht den Stoff ihres Kleides. Tess schob alle anderen Gedanken von sich, dann streckte sie die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen durch das Haar an seiner Schläfe. Es war sehr fein und kurz und ein wenig gelockt. Ihr wurde klar, wie sehr sie es vermißt hatte, einen Mann zu haben, dessen Haar sie berühren konnte, wann immer sie wollte, einen Mann, der sie küssen würde und bei dem sie sich als Frau fühlen konnte, der sie nicht nur wegen ihres Talentes besitzen wollte. Sie zog seinen Kopf zu sich hinunter. »Dann küß mich noch einmal«, flüsterte sie. Er erfüllte ihren Wunsch, und sein Knie schob sich über ihre Beine und mit dem Ellbogen stützte er sich im Gras ab. Sechs Minuten später, nachdem sie noch einmal ausprobiert hatten, wie stark ihre Fähigkeit war, sich zurückzuhalten, löste er seine Lippen von ihren, gab ihr noch einen Abschiedskuß auf den Mund, dann auf den Hals, dann auf ihre rechte Brust, nur eine kurze Berührung durch ihr Kleid, ehe er sich von ihr zurückzog und ihr ins Gesicht sah. »Ich glaube, wir müssen jetzt zurück zu der Feier.«
»Hm...« »Wenn wir das nicht tun, dann werden alle darüber reden und sich fragen, warum wir nicht zurückgekommen sind.« Sie seufzte und setzte sich dann auf, mit den Händen stützte sie sich nach hinten ab wie ein Mädchen auf einem Strandlaken. »Du hast recht.« Er saß so, daß er ihr ganz nahe war, sein linker Arm lag auf seinem hochgezogenen Knie, die andere Hand stützte er hinter ihr auf dem Gras ab. Er brauchte nur den Kopf ein wenig zu bewegen, damit ihre Lippen einander berührten, damit er, auch ohne sie zu küssen, sanft darüber reiben konnte, um ihr zu zeigen, welche Intimitäten sie noch erwarteten. »Aber ich möchte nicht zurück«, murmelte sie leise und schmeckte seinen Atem auf ihren Lippen. »Ich auch nicht.« Sie blieben sitzen, ihre Lippen nur einen Hauch voneinander entfernt. Mit den Fingerspitzen streichelte er sanft ihren Hals, so sanft, daß sie die Berührung kaum fühlte. »Aber wir müssen zurück. Komm.« Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Füße. Sie blieben noch einen Augenblick stehen und rückten ihre Kleidung zurecht. Tess wischte sich das Gras von ihrem Kleid, er öffnete den Gürtel seiner Hose und steckte sein Hemd ordentlich hinein. Dabei drehte er sich nicht um, und er ließ sie zusehen, wie er mit den Händen in seine Hose glitt und den Gürtel dann wieder schloß. Als sie beide wieder ordentlich aussahen, küßten sie sich noch einmal, es war ein sanfter Abschiedskuß, und sie berührten einander dabei nicht. Es war schön, sagte dieser Kuß, und wir werden es beide niemals vergessen. »Ich werde fahren«, sagte sie, und wie in Zeitlupe wandte sie sich um zu dem Wagen. »Bist du sicher?« »Ja, ich bin jetzt vollkommen nüchtern.« Mit jedem Schritt, den sie dem Abschied näher kamen, wurden ihre Schritte zögernder. Das Geräusch der sich schließenden Wagentür war wie eine Explosion in der stillen Nacht, und als Tess den Motor startete, dröhnte er wie Donner in ihren Ohren. Kenny blickte zu Marys Haus, in dem alle Fenster dunkel waren. »Deine Mutter fragt sich wahrscheinlich, warum wir erst jetzt losfahren.« »Meine Mutter schläft wahrscheinlich längst.« Sie dachten darüber nach, während sie zurück nach Current River Cove fuhren, und sie fragten sich, wie die Zukunft aussehen würde, wenn Tess zurück war in Nashville und Kenny sein Leben mit Faith wiederaufnehmen würde - würden sie sich dann an diese Nacht erinnern und bei dieser Erinnerung lächeln? Als sie etwa die halbe Strecke zurückgelegt hatten, sagte Tess ohne jede Vorwarnung: »Wenn ich nach Nashville zurückkomme, habe
ich eine Verabredung mit meinem Freund Burt. Ich dachte, das würde mir vielleicht helfen.« Kenny war in seinem Sitz zusammengesunken, ein Bein hatte er über das andere gelegt, sein Knie gegen das Fenster gestützt. Er drehte den Kopf und sah sie an. »Wobei soll dir das helfen?« »Dich aus meinen Gedanken zu vertreiben.« »Es freut mich zu wissen, daß ich in deinen Gedanken war«, antwortete er. Sie erreichten Current River Cove, und der Wagen schaukelte, als sie auf den mit Kies bestreuten Parkplatz fuhren. Tess lenkte den Wagen bis vor die Eingangstür, und das Licht aus dem Haus erhellte das Innere des Wagens. »Kommst du nicht mit rein?« fragte er. »Ich glaube nicht. Ich denke, es ist besser, wenn ich gleich wieder zurückfahre. Wenn jemand nach mir fragt, dann kannst du ja sagen, daß ich dachte, ich sollte besser bei Momma zu Hause bleiben.« Ihre Blicke hielten einander gefangen, doch waren sie beide entschlossen, nicht traurig zu werden. »Komm morgen in die Kirche und singe mit uns«, ermunterte er sie. »Es ist besser, wenn ich das nicht tue.« Er betrachtete sie einen Augenblick, dann entschied er, daß sie wahrscheinlich recht hatte, denn dann würden sie sich nur wünschen, hinterher den Tag miteinander verbringen zu können. »Also gut. Wann wirst du nach Nashville zurückfahren?« »Am Dienstag.« »Sehen wir uns vorher noch einmal?« »Ich bin sicher, wir werden uns in der Gasse begegnen.« »Ja, das scheint immer so zu sein, nicht wahr? Na ja...« Einige der Hochzeitsgäste kamen aus dem Saal, sie lachten und gingen an ihnen vorbei zum Parkplatz. »Ich fahre jetzt besser«, meinte Tess. Ein kleiner Kuß schien angemessen zu sein, doch die Hochzeitsgäste waren noch nahe genug, um in den Wagen sehen zu können, deshalb verzichteten beide darauf. Ihre unausgesprochene Abmachung, nicht rührselig zu werden und sich nicht an einander zu klammern, wankte nicht. Sie würden einige herrliche Erinnerungen behalten und nichts bedauern. Lächelnd würden sie voneinander Abschied nehmen. »Nun, es hat Spaß gemacht«, sagte er und öffnete die Wagentür. »Bis dann, Tess.« »Ja... bis dann, Kenny.« Er stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu, und Tess sah ihm nach, wie er auf das Haus zuging. Als er die Tür öffnete, blieb er einen Augenblick
stehen und sah zu ihr zurück. Jetzt lächelte er nicht mehr. Tess konnte die Musik der Band hören, und sie sah das Licht, das hinter ihm aus dem Saal kam, dann schloß sich die Tür, und er war gegangen. Zurück zu Faith.
14. Kapitel Am Sonntag ging Tess Kenny aus dem Weg, indem sie wieder den früheren Gottesdienst besuchte. Am Nachmittag fuhren sie und Mary zu Renee, wo Braut und Bräutigam ihre Hochzeitsgeschenke öffneten. Schließlich blieben sie auch noch zum Abendessen und kamen erst spät am Abend nach Hause. Am Montag morgen, kurz nach zehn, rief Tess Manager Dane Tully an. »Tess, wo bist du nur gewesen? Ich habe das ganze Wochenende über versucht, dich anzurufen.« »Meine Nichte hat geheiratet, und ich war auf der Hochzeit. Was ist denn passiert?« »Papa John ist gestorben. Morgen ist die Beerdigung.« »Oh, nein...« Tess sank gegen die Anrichte und schlug die Hand vor den Mund. Papa John Walpole war ein alter, wettergegerbter Promoter mit einem ständig mürrisch verzogenen Ge sicht, jedoch mit einem liebevollen Herzen, der seit über dreißig Jahren eine kleine Spelunke mit Namen Mudflats führte. Man behauptete, daß in den letzten zwanzig Jahren jeder erfolgreiche Künstler aus Nashville irgendwann einmal auf einer der improvisierten Dienstagspartys im Mudflats gespielt hatte, ehe er einen Vertrag mit einer der bedeutenden Plattenfirmen bekam. Wenn Papa John nicht gewesen wäre, hätte Tess niemals Jack Greaves kennengelernt oder Dane und auch nicht die Leute, die ihr einen Vertrag bei MCA verschafft hatten. An einem heißen Tag im Juli 1976 war sie in das Mudflats gekommen als kesse Alleswisserin, sie hatte Papa John angesehen und behauptet: »Ich habe keine andere Wahl, aber geben Sie mir fünf Minuten Zeit und ein G, und dann brauchen Sie mir nichts anderes mehr zu zeigen. Ich werde es Ihnen zeigen!« Achtzehn Jahre und viele Platinplatten später hatte sie es ihm so oft gezeigt, daß man es nicht mehr zählen konnte. Immer wieder war sie ins Mudflats zurückgekehrt und hatte dort gesungen, wann immer sie einen Abend frei hatte, nie hatte sie eine Gage haben wollen, und jedes Mal hatte sie ohne Vorankündigung gesungen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Was ist passiert?« wollte sie wissen. »Ein Kerl mit einem Nylonstrumpf über dem Kopf kam zur Hintertür herein, als Papa John gerade die Tageseinnahmen zählte. Er hielt ihm eine Pistole an den Kopf und verlangte das Geld. Papa John hat ihm gesagt, er solle sich verpissen.«
Trotz ihrer Tränen mußte Tess laut lachen. »Das klingt so ganz nach Papa John. Von ihm hätte ich nichts anderes erwartet. Hat man den Kerl gefaßt?« »Und ob. Eine Kellnerin war noch im Schankraum, sie hat alles mit angehört. Sie hatte gerade den Polizeinotruf gewählt, als die Pistole losging, und glücklicherweise war ein Streifenwagen gleich in der Nähe.« »Oh, mein Gott, Dane, ich kann nicht glauben, daß er tot ist.« »Niemand in Nashville kann das glauben. Er wird verbrannt, aber morgen um zehn Uhr gibt es einen Gedenkgottesdienst, und jeder, dem er je geholfen hat, wird dort singen. Es wird wohl der größte Chor sein, den es in dieser Stadt je gegeben hat. Kannst du es schaffen, bis dahin hier zu sein?« »Ich muß es schaffen.« »Geht es deiner Mutter gut?« »Sicher. Und ich habe ja schließlich noch zwei Schwestern, die hier leben. Es wird wohl noch ein paar Stunden dauern, bis ich gepackt und ein paar Telefongespräche erledigt habe, aber um die Mittagszeit werde ich wohl losfahren können. Um ehrlich zu sein, Dane, ich kann es kaum erwarten, endlich hier wegzukommen. Wir sehen uns dann morgen.« Sie rief Renee an. »Oh, Tess, das tut mir so leid«, sagte ihre Schwester. »Aber ja, du kannst ruhig losfahren. Und wenn ich noch nicht dasein sollte, wenn du losfährst, dann werde ich kurz darauf kommen. Mach dir keine Sorgen um Momma. Es gibt genug Leute hier, die sich um sie kümmern werden und sie überallhin fahren werden, wohin sie will.« Mary war enttäuscht. Sie hatte sich darauf gefreut, Tess noch einen Tag länger bei sich zu haben, und war ganz aufgeregt, als Tess ihr sagte, daß sie sofort abreisen mußte. Auch wenn sie ihr nicht nach oben folgen konnte, so blieb sie doch unten am Fuß der Treppe stehen, während Tess ihre Sachen packte. »Soll ich dir ein Sandwich machen für unterwegs? Kannst du auch wirklich allein die ganze Strecke fahren, Tess? Du bist schrecklich aufgeregt.« Als Tess schließlich mit ihrem Gepäck nach unten kam, wartete Mary schon auf sie. Vor einer Woche waren die Fäden von der Operation gezogen worden, und jetzt brauchte sie statt ihrer Krücken nur noch zwei Stöcke, ein Anzeichen dafür, daß sie viel beweglicher geworden war. Doch jetzt schien sie ganz gefangen in ihrer Traurigkeit, und Tess nahm sie in den Arm. »Du wirst Renee oder Judy anrufen, wenn du etwas brauchst. Und wenn sie nicht kommen können, werden sie eines der Kin der schicken. Versprichst du mir das?« »Ich bin doch kein Baby mehr. Ich mache mir keine Sorgen um mich selbst, ich mache mir Sorgen um dich. Du wirst diese ganze lange Strecke fahren müssen, und dabei wirst du dir die Augen ausweinen.« »Ich werde mir nicht die Augen ausweinen. Ich bin ganz in Ordnung.«
»Bestimmt? Ich begreife nicht, warum du nicht erst morgen früh losfahren willst. Du könntest früh genug losfahren, damit du um zehn Uhr dort bist.« Momma, es ist Zeit, daß ich hier verschwinde.« »Na ja... also... ich nehme an, du hast recht. Ich dachte nur... ich könnte mein kleines Mädchen noch einen Tag länger bei mir haben.« Es hatte sich eine Menge verändert, seit Tess nach Hause gekommen war, aber dies würde sich wohl niemals ändern: Mary würde Tess immer ihr kleines Mädchen nennen. »Ich muß los, Momma«, flüsterte sie und zog sich von ihr zurück. Mary humpelte hinter Tess her in die Küche und nahm eine Tüte mit einem Sandwich von der Anrichte. »Hier. Es ist nur Schinken und Käse, es wird dir unterwegs sicher gut schmecken.« Schinken und Käse. Ein paar hundert Kalorien, dachte Tess wehmütig, und ihr war klar, daß es nicht ein Schinken- und Käse-Sandwich war, was sie mit auf die Reise nahm, sondern ein Sandwich der Liebe. »Danke, Momma, das wird es ganz sicher. Na ja... dann werde ich wohl losfahren.« Beide Frauen hatten Tränen in den Augen. »Hör mal, du brauchst nicht mit nach draußen zu kommen. « »Natürlich werde ich mit nach draußen kommen.« » Aber Momma...« Mary bekam ihren Willen und sie folgte Tess zur Hintertür und blieb dann auf der Treppe stehen. Mit ihren beiden Stöcken hielt sie die Balance und lehnte sich an das Treppengeländer, während Tess das Gepäck in ihren Wagen lud, ihre Sonnenbrille aufsetzte und dann in den Wagen stieg und den Motor anließ. Sie warf über die Schulter einen Blick zurück. Die Mittagssonne ließ Marys Haar wie gekochter Kürbisbrei aussehen. Die alte Hose war eingelaufen, man konnte ihre Knöchel sehen und die Stützstrumpfhose, die sie noch immer tragen mußte. Das Haus mußte dringend gestrichen, und der Rasen mußte gemäht werden. Aber die Kohlköpfe im Garten hatten in der Zeit, in der Tess hiergewesen war, ihre Größe verdoppelt. Durch das offene Fenster rief Tess ihrer Mutter zu: »Sei nicht traurig, Momma, hörst du?« Mary hatte einen ihrer Stöcke gegen das Treppengeländer gestellt und wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. »Oh, mach, daß du wegkommst«, rief sie und machte eine Handbewegung, als wolle sie Tess wegscheuchen, dann wischte sie sich wieder über die Augen. »Ich liebe dich, Momma!« »Und bleib nicht wieder so lange weg!« »Das werde ich ganz bestimmt nicht.«
Tess ließ den Motor aufheulen, zweimal trat sie auf das Gaspedal - ein vergeblicher Versuch, die Stimmung ein wenig zu heben. Der Auspuff dröhnte, und Mary preßte das Taschentuch gegen ihr zitterndes Kinn. Tess schob eine Kassette in den Re corder, drehte die Lautstärke hoch, bis ihr Trommelfell beinahe platzte, dann fuhr sie rückwärts in die Gasse und mit laut aufheulendem Motor davon, und ihre eigene Stimme dröhnte aus dem Radio als Abschied für die kleine Frau auf der Hintertreppe mit dem kürbisfarbenen Haar. Vom Haus ihrer Mutter bis in die Stadt fuhr Tess nur ungefähr eine Meile. Sie weinte den ganzen Weg über, teilweise um ihre liebevolle und einsame Mutter, die sie zurückgelassen hatte, teilweise um Papa John und teilweise auch wegen sich selbst und weil sie Kenny Kronek verlassen mußte. Sie wollte sich nicht von ihm verabschieden, was würde das schon nützen? Aber der Gedanke, einfach wegzufahren, ohne ihm auf Wiedersehen gesagt zu haben, verursachte einen heftigen Schmerz in ihrer Brust. Es war beinahe so, als würde eine andere Macht ihren Willen kontrollieren, als sie schließlich vor Kennys Büro anhielt, die Sonnenbrille ablegte und nach einem prüfenden Blick in den Rückspiegel feststellte, daß die Tränen ihr das ganze Make-up von den Augen gewaschen hatten. Sie versteckte ihre Augen wieder hinter der Sonnenbrille, stieg aus ihrem Wagen und blieb dann einen Augenblick lang vor dem Haus stehen. Es hatte eine graue Fassade, in der Mitte befand sich eine Tür und zu beiden Seiten der Tür war ein Fenster. In den weißen Blumenkästen vor den Fenstern blühten rote Geranien. Das sah ganz nach Faith aus. Sie zog die Hosenbeine gerade und ging dann auf die Glastür zu. Kenny Kronek, staatlich geprüfter Steuerberater, stand darauf. Ihr Verstand ließ sie hoffen, daß er zum Mittagessen gegangen war, doch ihr Herz sehnte sich danach, sich von ihm verabschieden zu können. Sie trat in das Büro, und dort saß er an seinem Schreibtisch, hinter der offenen Tür eines Büros, das sich über den ganzen hinteren Teil des schmalen Gebäudes erstreckte. Der kleine Empfangsraum, in dem normalerweise seine Sekretärin saß, war leer, er war ganz allein in seinem Büro. Er blickte auf, und seine Finger hielten mitten in der Bewe gung über den Tasten der Rechenmaschine inne. Langsam nahm Tess die Sonnenbrille ab und starrte ihn an, während die Zeit stillzustehen schien und keiner von beiden sich bewegte. Schließlich schob er seinen Stuhl zurück und stand auf, seine Blicke hielten die ihren gefangen, während er durch die Tür in den Empfangsraum trat und hinter dem leeren Stuhl seiner Sekretärin stehenblieb. Er trug eine graue Hose, ein weißes Hemd, in dessen Tasche ein Stift steckte, und eine bunte Kra watte mit einem Pferdemuster darauf. Er hatte die Ärmel seines Hemds ein Stück hochgerollt, doch die Krawatte war ordentlich
gebunden. Tess war genauso gekleidet wie an dem Tag, als sie in die Stadt gekommen war mit Cowboystiefeln, Jeans und dem Southern-Smoke-T-Shirt, dessen Ärmel sie aufgerollt hatte. »Hi«, begrüßte er sie. »Hi«, antwortete sie, und sie erkannte an der Art, wie er die ses eine Wort ausgesprochen hatte, daß ihr Erscheinen in ihm die gleiche Unruhe ausgelöst hatte wie sein Anblick in ihr. »Was ist passiert?« »Ich muß noch heute nach Nashville zurück. Etwas ist ganz plötzlich dazwischengekommen.« »Du hast geweint.« Sie schob die Sonnenbrille wieder über ihre Augen. Durch die dunkle Brille sahen sein Gesicht und seine Kleidung grau aus. »Ein wenig, ja... aber es ist... ich bin ganz in Ordnung.« Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. »Komm mit in mein Büro.« »Nein.« Sie suchte in ihrer Tasche herum, weil sie sich ablenken wollte. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich abreise, damit du es Casey sagen kannst. Und ich wollte dir meine Visitenkarte geben, damit du...« Er kam um den Schreibtisch herum und packte sie am Arm. »Komm mit in mein Büro, Tess.« »Kenny, ich bin nicht hierhergekommen, um...« »Meine Sekretärin ist in der Mittagspause, aber sie kann jeden Augenblick zurückkommen.« Er zog sie mit sich in sein Büro und schloß die Tür, dann standen sie einander gegenüber, verwirrt und verzweifelt. Im gleichen Augenblick, als sich die Tür hinter ihnen schloß, ließ er ihren Arm wieder los. »Was ist geschehen?« fragte er. »Ein Mann, der mir beim Start meiner Karriere geholfen hat, ist von einem Räuber getötet worden.« »Wer?« » Sein Name war John Walpole. Wir nannten ihn Papa John.« »Ja, ich habe von ihm gehört. Ich kann mir vorstellen, was er dir bedeutet hat. Es tut mir so leid, Tess.« »Du kennst ihn?« »Ich habe davon gelesen, was er für dich getan hat, viele Male, in Artikeln in den Illustrierten.« »Das hast du gelesen?« Ihre Trauer über Papa John und ihre Traurigkeit, weil sie sich von ihrer Mutter hatte verabschieden müssen - und von Kenny -, wurde einen Augenblick lang zurückgedrängt, weil sie sich über diesen Mann wunderte. Sie hatte so viele Eigenschaften an ihm kennengelernt, daß es sie eigentlich nicht wundern sollte, was sie jetzt von ihm erfuhr.
Ohne ein Wort ging er zu einem Aktenschrank hinüber, öffnete eine Schublade mit dem Buchstaben M. und zog einen Aktendeckel heraus. Er warf ihn auf den Schreibtisch, und der Inhalt fiel heraus. Tess blickte auf die Ansammlung von Zeitungsausschnitten - Fotos und Artikel aus Magazinen. Sie öffnete den Aktendeckel und entdeckte ein Foto von sich selbst und eine Überschrift aus USA Today, daneben einen kleineren Artikel aus der Wintergreen Free Press, in dem darüber berichtet wurde, daß sie in der Methodistenkirche gesungen hatte, zusammen mit dem Chor, der von Ken Kronek geleitet wurde. Sie schloß den Aktendeckel und sah Kenny in die Augen. Er erwiderte ihren Blick, ohne verlegen zu sein. »Also gut«, meinte er. »Jetzt weißt du es.« Sie war benommen. »Wie lange sammelst du das schon?« wollte sie wissen. »Vom Anfang deiner Karriere an bis zur letzten Woche. Es gibt noch zwei solcher Akten in der Schublade.« »Aber wozu das alles?« »Vielleicht ohne Grund, ich weiß es nicht. Vielleicht auch, weil du ein Mädchen aus unserer Stadt bist, das es geschafft hat, jemand, der mich inspiriert hat, jemand, den ich einmal im Schulbus küssen wollte. Teufel, ich weiß es nicht! Eine alte Vernarrtheit vergeht nicht so schnell.« Er nahm den Aktendeckel vom Tisch und legte ihn in den Aktenschrank zurück. Als er die Schublade geschlossen hatte, wandte er sich nicht gleich wieder zu ihr um. Er legte beide Hände an den Gürtel seiner Hose und holte tief Luft. Sie betrachtete den Rücken seines weißen Hemdes, seine breiten Schultern, das ordentlich geschnittene Haar über dem Hemdkragen - er war um so vieles konservativer als die Musiker in Nashville, mit denen sie zu tun hatte. Und er konnte nicht anders, als ihr zu gestehen, daß ihm der Abschied von ihr wesentlich schwerer fiel, als sie beide erwartet hatten. Und wenn es ihm schwerfiel, so erging es ihr nicht anders. »Hör mal, Kenny, ich muß los«, sagte sie ruhig und versuchte, ihre Stimme ganz natürlich klingen zu lassen. »Ich wollte dich nur bitten, daß du Casey erklärst, wie leid es mir getan hat, daß ich vor meiner Abreise nicht mehr mit ihr reden konnte, aber hier ist meine Karte. Darauf steht meine Telefonnummer, die du in keinem Telefonbuch finden wirst, und sie kann mich jederzeit anrufen. Und du sollst wissen, daß ich sehr gut auf sie aufpassen werde, wenn sie nach Nashville kommt. Sie wird erst einmal eine Zeitlang bei mir wohnen, und sobald sie einen Job hat, werde ich ihr helfen, eine eigene Wohnung zu finden. Ich werde versuchen, sie zu überreden, sich im Herbst in das Vanderbilt College einzuschreiben, damit sie etwas hat, auf das sie zurückgreifen kann, falls es mit ihrer Musikkarriere nicht klappen
sollte. Und selbst wenn es klappt, wird sie es später nie bedauern, das College besucht zu haben. Ich werde sie mit den richtigen Leuten zusammenbringen, und ich werde immer für sie da sein, du brauchst dir also wirklich keine Sorgen zu machen, Kenny.« Jetzt erst wandte er sich zu ihr um, und sie erkannte, daß die unterdrückten Gefühle, die sich auf seinem Gesicht widerspie gelten, die gleichen waren, die auch sie fühlte. Und dann sprachen sie beide plötzlich gleichzeitig. »Tess...« »Kenny...« Sie hatte kaum seinen Namen ausgesprochen, da lag sie auch schon in seinen Armen. Er küßte sie nicht, sondern zog sie ganz fest an sich, hielt sie in einer schmerzlichen Umarmung. Sie klammerte sich an seine Schultern, ihre Visitenkarte wurde geknickt, der Stift in der Tasche seines Hemdes drückte sich gegen ihre Brust. Er roch so vertraut und fühlte sich so stark und verläßlich an, er war der Fels, an den ihre Mutter sich schon gelehnt hatte, lange bevor Tess erfahren hatte, was für ein wundervoller Mann er war. »Ich werde dich vermissen«, flüsterte sie. »Ich werde dich auch vermissen.« Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, und sie zogen sich ein wenig voneinander zurück. Ihre Augen brannten. Nach einer Weile legte er eine Hand auf ihren Hinterkopf und drückte ihre Stirn gegen seinen Hals, ganz fest, so daß sie nicht zu ihm aufsehen konnte. Als er dann sprach, klang seine Stimme gepreßt. »Am Samstag...« begann er und schluckte, als könne er nicht weitersprechen. »Als ich deiner Mutter sagte, daß ich mich sowieso verlieben würde, da habe ich von...« »Nein, nicht.« Sie zog sich zurück und legte ihm die Hand auf den Mund. »Sag es nicht. Es stimmt sowieso nicht. Das war nur ein... ein verrückter Anfall von Übermut auf einer Hochzeit - wir waren uns doch beide einig, nicht wahr?« Er griff nach ihrem Handgelenk und zog ihre Hand von seinem Mund. Dann legte er ihre Hand auf sein Herz, während sie einander tief in die Augen sahen, sich mit den Augen auf Wie dersehen sagten und gleichzeitig wußten, daß ein anderes Ende nicht möglich war. »Ja«, flüsterte er traurig. »Wir waren uns beide einig.« Als sie einander dann küßten, weinte Tess, und seine Brust schmerzte so sehr, daß er das Gefühl hatte, sich eine Rippe gebrochen zu haben. Es war ein bittersüßer Kuß, und als er vorüber war, hielten sie einander noch einen Augenblick in den Armen. »Paß auf Momma auf«, flüsterte sie.
»Das werde ich«, versprach er ihr flüsternd. Dann, trat Tess einen Schritt zurück, ihre Hände glitten über seine Arme, bis sie schließlich nur noch seine Fingerspitzen berührten. Sie versuchten beide, zu lächeln, doch beide versagten sie kläglich. »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie. »Auf Wiedersehen«, sagten seine Lippen, doch aus seinem Mund kam kein Ton. Sie trat noch einen Schritt zurück, und dann berührten sie ein ander nicht länger. Er streckte die Arme aus und ließ sie dann kraftlos sinken. Tess öffnete die Tür seines Büros, dann sah sie sich noch ein mal zu ihm um, sah ihm noch einmal tief in die Augen, ehe sie aus seinem Leben verschwand und in ihr eigenes Leben zurückkehrte.
15. Kapitel Um Viertel vor fünf kam Tess in Nashville an, bog vom Highway ab und fuhr dann in Richtung auf die Music Row, südöstlich des Stadtzentrums. Ihr Zuhause konnte warten. Zunächst einmal brauchte sie das, was sie in den letzten Wochen vermißt hatte, die Vitalität und die Energie, die von den zwölf Häuserblocks südlich der Vidision Street ausgingen, wo das Geschäft mit den Platten den Herzschlag der Music City bedeutete. Und während das Lebensblut der Stadt ihren Körper zu neuem Leben erweckte und sie antrieb, fühlte sie sich plötzlich wie neu geboren, als sie sich dem Haus näherte, in dem ihr Büro lag. Am Beginn der Demonbreun begrüßte sie ein übergroßes Bild von Randy Travis an einer roten Ziegelwand. Touristen drängten sich vor den Souvenirläden und gingen die Rampe hinauf in die Country Music Hall of Fame. Vor dem Sony-Gebäude wurde auf einer großen Reklametafel Mary Chapin Carpenters neuestes Album angekündigt. MCA pries Vince Gills Album an. Auf dem ganzen Music Square, sowohl in östlicher als auch in westlicher Richtung, reihten sich zu beiden Seiten der Straße Firmen aneinander, die mit der Musikindustrie zu tun hatten: Anwaltsfirmen, Aufnahmestudios, Videoproduktionen, Musikverlage, ASCAP und BMI, die über Radionutzung verhandelten und Lizenzgebühren eintrieben, Agenturen für den Kartenvorverkauf, Büros der bekanntesten Countrystars Amerikas und viele Restaurants, wo die Erfolgreichsten unter ihnen immer wieder ausgesuchte Partys feierten. Tess' Büro lag in einem hundert Jahre alten, im viktorianischen Stil errichteten Gebäude auf dem Music Square West, es war ein monströses, dreistöckiges Gebäude, das in verschiedenen Gelbtönen gestrichen war. Gleich daneben gab es einen Parkplatz, über den vier riesige Lindenbäume, die so alt waren wie das Haus selbst, ihren Schatten warfen. Vor dem Haus hing an einem Pfosten ein ovales Messingschild, auf dem
»Wintergreen-Handelsgesellschaft« stand. Diesen Namen hatte Tess gewählt, um immer wieder daran erinnert zu werden, wie weit sie es gebracht hatte aus dieser kleinen Stadt in Missouri bis zur Spitze der Country-Hitparade und zu ihrem Platz als respektierte Geschäftsfrau in einer Industrie, die seit vielen Jahrzehnten von Männern dominiert worden war. Unter dem Dach der Wintergreen-Handelsgesellschaft gab es verschiedene erfolgreiche Firmen, und jede von ihnen war aus einer Notwendigkeit heraus oder aus Vernunft gegründet worden. Ihren Musikverlag hatte Tess gegründet, als ihr klargeworden war, wie viele talentierte Songschreiber ihr ihre Songs anboten. Viele davon hatten sich das Urheberrecht an ihren Songs noch nicht gesichert, und die Songs waren auch noch nicht veröffentlicht worden. Warum also soll ich einem anderen Musikverlag Lizenzgebühren bezahlen, wenn ich die Songs selbst verlegen kann, hatte sie sich gefragt. Ihre Bekleidungsfirma fertigte Kostüme für Bühnenauftritte an, und zwar nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere Künstler. Vor fünf Jahren, als sie auf ein unerwartetes Lieferhindernis gestoßen war und nicht gewußt hatte, ob ihre Buttons und Poster noch rechtzeitig vor ihrem Konzert fertig werden würden, hatte sie eine kleine Druckerei gekauft, die Poster, Buttons, Briefe für Fanclubs und Konzertprogramme für sie herstellte und auch höchst ertragreiche Verträge mit einigen anderen Künstlern abgeschlossen hatte. Und dann gab es noch die kleine Flotte von Jets, die sie selbst benutzte und an andere vermietete. Doch all diese Firmen arbeiteten im Hintergrund, die Hauptsache war der außergewöhnlich erfolgreiche Betrieb, der dafür sorgte, daß Tess McPhail an der Spitze der Country-Hitparaden blieb. Diese Firma plante etwa hundertzwanzig Konzertauftritte pro Jahr und lieferte die notwendige Organisation, die es Tess erlaubte, ihre neuen Platten und Videos zu produzieren, in diesen Videos aufzutreten, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, in Kontakt mit den Fanclubs in allen großen Städten in Amerika zu bleiben und die Gehälter von über fünfzig Angestellten zu bezahlen, die nötig waren, um eine solch umfangreiche Organisation aufrechtzuerhalten. Und Tess McPhail überwachte jede einzelne dieser Tätigkeiten höchstpersönlich. Als sie die Wintergreen-Handelsgesellschaft betrat, betrat sie gleichzeitig das Zentrum ihres Erfolges. Kühle Luft wehte ihr entgegen, als sie die Hintertür öffnete und durch ihren Privateingang durch die Küche das Haus betrat. Die Küche wurde jetzt als Kopierraum und Kantine benutzt. Sie ging an der früheren Dienstbotentreppe vorbei, über die sie normalerweise ihr Büro im ersten Stock des Hauses erreichte. Als sie dann die Halle betrat, hörte sie Stimmen. Das Innere des Hauses war in einem sanften Cremeton gestrichen, die
Fußböden waren aus Holz, und vor den Fenstern gab es weiße Fensterläden, die die glühende Sommerhitze Nashvilles fernhielten. Countrymusik ertönte leise aus einer eingebauten Musikanlage, als sie die Halle betrat, an deren Wänden übergroße Nachbildungen ihrer Plattencover hingen. Die Empfangsdame an ihrem Schreibtisch saß mit dem Rücken zur Treppe, ihr blondes Haar hatte sie im Nacken hochgesteckt, doch an den Schläfen fiel es ihr bis auf die Schultern. »Hey, Jan, ich bin wieder da.« Jan Nash drehte sich mit ihrem Stuhl langsam um und lächelte dann. Sie war Mitte Dreißig, so hübsch wie eine Barbiepuppe und auch mit einer solchen Figur. Jan sah einfach umwerfend aus in ihrem schwarzen enganliegenden Kleid, dem schmeichelhaften Make-up und mit den silbernen Ohrringen in ihren Ohren. Ohne Eile schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf, an den Füßen trug sie schwarze, hochhackige Stiefel. »Hey, Mac, willkommen zu Hause. Wir haben dich alle vermißt.« Sie sprach mit einem ausgeprägten Südstaatenakzent. »Danke, Jan. Es ist ein großartiges Gefühl, wieder hier zu sein. Ich kann es gar nicht erwarten, wieder zu arbeiten.« »Das mit Papa John tut mir so leid.« »Ist es nicht schrecklich?« Andere hatten Tess' Stimme gehört und kamen aus den Büros im Erdgeschoß, um sie zu begrüßen. Bald danach ging Tess nach oben in ihr Büro. Es nahm die ganze hintere Breite des Hauses ein und lag nach Osten im sanften grünen Schatten der Lindenbäume. In einem kleineren Büro daneben telefonierte gerade Kelly Mendoza; sie wandte sich um und lächelte, als sie ihre Chefin durch die Verbindungstür der beiden Büros entdeckte. Kelly war Kubanerin, neunundzwanzig Jahre alt, einen Meter fünfundsechzig groß und stattlich, mit dichtem, langem, schwarzem Haar, das wie Tinte glänzte. Heute hing es in wilden Locken um ihr Gesicht. Ihre Augen waren mandelförmig, und ihre Haut so zart und dunkel wie eine Nußschale. Sie trug ein seidenes Jackenkleid in der Farbe von grünem Tee mit einem bunten Seidentuch unter dem Kragen. »Mac... willkommen zu Hause.« »Es tut gut, wieder hier zu sein.« Nach sieben Jahren der Zusammenarbeit umarmten die beiden Frauen sich, doch nur kurz. Sie waren beide bestrebt, an einem einzigen Arbeitstag mehr Arbeit zu erledigen als die meisten Menschen an zwei Tagen. »Das mit Papa John tut mir leid«, sagte Kelly. »Es tut uns allen leid. Hast du nähere Einzelheiten über die Beerdigung?« »Morgen früh um elf Uhr am Ryman. Die Sänger versammeln sich schon eine Stunde vorher für eine kurze Probe.«
»Gut. Was gibt es sonst noch?« »Ich habe in deinem Namen Blumen geschickt und auch welche im Namen der Wintergreen-Handelsgesellschaft, aber die Beileidskarte solltest du selbst unterschreiben, sie liegt auf deinem Schreibtisch. Burt Sheer hat heute schon dreimal angerufen, und Jack möchte, daß du ihn sofort anrufst, sobald du angekommen bist. Er hat das Aufnahmestudio für Mittwoch reserviert, und er möchte mit dir darüber reden, wen du als Hintergrundsänger haben möchtest. Peter Steinberg von Disney World hat angerufen und gefragt, ob du daran interessiert bist, irgendwann im nächsten Jahr dort einen Tess-McPhail-Tag zu veranstalten. Das würde einen kurzen Auftritt einschließen, eine Teilnahme an der Parade auf der Main Street, eine Autogrammstunde und noch einige andere Dinge. Er hat darum gebeten, daß du ihn anrufst. Cathy Mack hat fünf Entwürfe für Kleider, die du dir ansehen sollst, und Ralf möchte mit den Pro ben für die Konzerte beginnen, sobald du das Gefühl hast, daß du den Kopf über Wasser hast.« Kelly ging mit Tess in deren Büro und deutete auf die drei Stapel Korrespondenz auf dem kleinen Tisch neben dem Schreib tisch. »Ich habe Notizen gemacht von all den Dingen, die ich dir gesagt habe. Um diesen Stapel hier mußt du dich sofort kümmern, dieser andere Stapel kann noch ein paar Tage warten, und um diesen habe ich mich bereits gekümmert. Oh, und noch was - und das ist keine gute Neuigkeit: Carla hat einen Termin bei einem Halsspezialisten. Das Problem mit ihrer Stimme ist noch immer nicht gelöst.« Tess runzelte betroffen die Stirn. Carla hatte nicht nur im Hintergrundchor auf einigen ihrer Alben gesungen, sie sollte auch mit auf Konzerttournee gehen. »Noch immer nicht?« Kelly nickte ernst. »Ist es schlimmer geworden?« »Nein, schlimmer nicht, aber auch nicht besser. Sie macht sich große Sorgen, das merkt man.« »Das ist nicht verwunderlich. Sie hat ja schon die letzten sechs Monate damit zu tun gehabt.« »Ich würde sagen, sie kämpft schon beinahe ein ganzes Jahr damit.« Das Telefon trillerte leise, und Kelly nahm den Hörer ab. »Es ist Burt.« Sie reichte Tess den Hörer und ging dann in ihr eigenes Büro zurück, damit Tess ungestört sprechen konnte. »Hi, Burt.« Tess ließ sich in den ledernen Schreibtischstuhl sinken. »Da bist du ja wieder. Ich dachte mir schon, daß du sofort zurückkommen würdest, wenn du von Papa John hörst. Hey, das tut mir wirklich leid, Tess.« Sie unterhielten sich eine Weile, dann meinte Burt: »Ich habe dich
wirklich vermißt, mein Schatz.« Seine Stimme weckte in ihr nicht die Sehnsucht, die sie verspürt hatte, als er sie in Wintergreen angerufen hatte, ehe sie den Mann geküßt hatte, der auf der anderen Seite der Gasse wohnte. Sie sagte ihre Verabredung mit Burt ab und benutzte den Todesfall von Papa John als Entschuldigung. All die Gefühle, die sie je für Burt Sheer gehabt hatte, waren von den Erinnerungen an Kenny Kroiiek in den Hintergrund gedrängt worden. Und schon eine Stunde nachdem sie zurück war, wurde ihr klar, daß sie recht gehabt hatte, daran zu zweifeln, daß es für Kenny einen Platz in ihrem Leben geben könnte. Diesen Platz gab es nicht. Auch wenn sie sich manches Mal in den letzten vier Wochen gefragt hatte, wohin sie eigentlich gehörte, so hatte es genügt, ihre Geschäfte dort wiederaufzunehmen, wo sie sie verlassen hatte, um ihr deutlich zu machen, daß ihr Platz hier war. Sie gehörte hierher nach Nashville - unbedingt -, hierher, wo ihre Karriere auch während ihrer Abwesenheit weitergegangen war, wo ihre Angestellten ihre Bedürfnisse kannten, noch ehe sie sie ausgesprochen hatte, und wo ihre Zukunft deutlich vor ihr lag. Der neueste Gavin Report lag auf ihrem Tisch, darunter lag Billboard und Radio & Record. Ihre nächste Single sollte Mitte Juni herauskommen und dann noch eine im August (hoffentlich die, die sie zusammen mit Casey singen würde!), ehe im September die neue CD erschien. Man nahm an, daß sie dafür Platin bekommen würde, vielleicht sogar doppeltes Platin, denn vier Millionen Fans warteten nur darauf, ihre Songs kaufen zu können. Der Produzent der Halbzeitshow der Super Bowl wollte wissen, ob sie in anderthalb Jahren auftreten könnte. Ihr Haupts ponsor, Wrangler, hatte angerufen, um einen Fototermin anzusetzen an einem Ort, der San-Blas-Inseln hieß. Dort wollte man sie in einer ihrer Jeans in der Brandung fotografieren. Die Anzeigenkampagne sollte zur gleichen Zeit anlaufen, in der ihre neue CD in die Geschäfte kam. Und Nissan hatte irgendwie herausgefunden, daß sie einen Wagen von ihnen fuhr, und sie wollten mit ihr über die Möglichkeit eines Vertrages für ihre Fernsehwerbung verhandeln. Es gab keinen Platz in ihrem Leben für einen Mann. Doch sollte ein ganz bestimmter Mann anrufen, dann wollte sie diesen Anruf auf keinen Fall verpassen. »Kelly?« »Ja?« Kelly kam an die Tür. »Anrufe von entweder Casey Kronek oder Kenny Kronek sollen sofort zu mir durchgestellt werden, ganz gleich, was ich gerade mache, und wenn ich nicht hier sein sollte, dann sorge bitte dafür, daß ich die Nachricht so schnell wie möglich bekomme, okay?«
»Mache ich.« »Casey macht gerade den Schulabschluß in meiner Heimatstadt, sie wird im Juni eine Weile bei mir wohnen und soll bei einem meiner Songs mitsingen.« »Die Glückliche«, sagte Kelly. »Sie ist ein sehr talentiertes Mädchen. Sie hat mir geholfen, den Song zu schreiben.« »Donnerwetter!« Die Überraschung spiegelte sich auf Kellys Gesicht und machte es noch anziehender. Ohne eine weitere Frage zu stellen, ging sie in ihr Büro zurück und notierte sich die beiden Namen. Wieder einmal war Tess erstaunt über ihre Tüchtigkeit und über ihre Fähigkeit, sich aus Tess' persönlichen Angelegenheiten herauszuhalten. Bei einer Arbeit wie der von Tess war ein solches Ausmaß an Diskretion Gold wert. Tess arbeitete bis acht Uhr und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß nach einem Monat Aufenthalt bei ihrer Mutter ihre in nere Uhr um sechs Uhr das Abendessen verlangte. Sie ignorierte ihren Hunger, bis es nicht mehr länger ging, und als sie sich dann schließlich auf den Weg nach Hause machte, hatte sie Magenschmerzen vor Hunger. Aber sie fuhr an all den Schnellrestaurants vorbei, da sie sich nach ihrem Zuhause sehnte, und lenkte ihren Wagen in südwestliche Richtung. Sie lebte in Brentwood, in einem Vorort mit Namen Wood-way. Man erreichte Brentwood durch einen beeindruckenden Torweg, der zu beiden Seiten von einer Ziegelsteinmauer begrenzt wurde. Kunstvoll beschnittene Büsche und rote, weiße und blaue Blumen standen zu beiden Seiten des vergoldeten Schildes an dem großen Tor. Als Tess ihrem Zuhause näher kam, kurbelte sie die Fenster des Z hinunter und atmete tief die warme, feuchte Luft des Südens ein, etwas, das sie noch vor einem Monat, als sie hier weggefahren war, nicht für möglich gehalten hätte. Noch vor einem Monat wäre sie die Straße entlanggebraust, die getönten Fenster geschlossen, und hätte kaum etwas von ihrer Umgebung mitbekommen. Doch heute abend sah sie alles, und sie wußte es zu schätzen. Es war einer dieser Abende, wo die Dämmerung nur langsam einsetzt, und als ihr Wagen den Heathrow Boulevard hinauffuhr, bildeten die Eichen und Ulmen ein schwarzes Dach vor dem buttergelben Himmel, der in der Nähe der Baumspitzen pfirsichrot aufleuchtete. Vor der Tür eines der Nachbarhäuser hatte Mr. Ruddy gerade seine klassische 68er-Corvette poliert. Er winkte ihr zu, als sie vorüberfuhr, doch sie begegnete ihm so selten, daß sie nicht einmal seinen Vornamen kannte. Sie glaubte, daß er bei der Nations Bank arbeitete, aber sicher war sie nicht. Zwei Jungen kamen auf
ihren Fahrrädern den Berg herunter, und sie ließ sie vorbei, ehe sie in die Einfahrt zu ihrem Haus einbog. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß sie keinen der beiden kannte, eigentlich kannte sie gar keine Kinder in ihrer Nachbarschaft und auch keinen der Hausbesitzer. Ihr fiel wieder Mrs. Perry ein, die auf der Hochzeit davon erzählt hatte, wie Tess als kleines Mädchen zu ihr gekommen war und um englische Toffee gebettelt hatte. Sie dachte an die Aussicht aus dem Küchenfenster ihrer Mutter und daran, wie sie von diesem Fenster aus das Kommen und Gehen in dem Haus auf der anderen Seite der Gasse beobachtet hatte. Hier war alles so anders. Der Erfolg isolierte die Menschen. Ihr großes Wohnzimmer lag zur Straße hinaus, und Tess konnte von draußen erkennen, daß Maria eine Lampe hatte brennen lassen. Die Garagentür öffnete sich nach einem Druck auf die Fernbedienung, und zu ihrer Überraschung stellte Tess fest, daß Marias kleiner blauer Wagen noch in der Garage stand. Sie nahm ihre Tasche und ihren Koffer und betrat das Haus durch den Hintereingang. »Maria, sind Sie noch da?« rief sie. »Miss Mac, willkommen zu Hause!« Maria war in der Küche und goß gerade Wasser in eine Vase mit roten Zinnien, die sie dann mitten auf den Tisch stellte. Tess ließ ihr Gepäck fallen. »Um alles in der Welt, was tun Sie denn noch hier?« »Ich habe auf Sie gewartet. Niemand kommt gern in ein leeres Haus.« »Aber ich komme doch immer in ein leeres Haus, wenn ich von der Arbeit komme.« »Aber doch nicht, wenn man so lange weg war. Ich werde Ihr Gepäck nach oben bringen, Miss Mac.« »Danke, Maria, aber das kann ich auch allein.« »Unsinn. Geben Sie schon her.« Maria war Mexikanerin, Mitte Fünfzig, mit spindeldürren Beinen und einer zierlichen Gestalt. Ihr Haar hatte graue Strähnen, und sie hatte es zu einem schlichten Knoten aufgesteckt. Und obwohl sie so kräftig aussah wie ein zehnjähriger Junge, so machte es ihr doch keine Schwierigkeiten, Tess den Koffer aus der Hand zu nehmen. »Also gut, dann werden wir beide das Gepäck tragen«, gab Tess nach und griff nach der Reisetasche. »Aber Ihre Familie wartet doch sicher auf Sie.« »Ich habe ihnen gesagt, daß es heute ein wenig später werden könnte. Ich wußte ja nicht, um wieviel Uhr Sie kommen würden. Wie geht es Ihrer Momma?« »Es geht ihr sehr gut, sie geht jetzt mit einem Stock und genießt es, Wein auf Hochzeiten zu trinken.« »Und wie geht es Ihren Schwestern?«
»Auch gut. Ich habe sie oft gesehen, als ich bei meiner Mutter war. Maria, danke, daß Sie auf mich gewartet haben.« Maria winkte ab, als wäre das nichts Besonderes, dann gingen sie zusammen die offene Treppe hinauf, die in einem Bogen in den ersten Stock führte, von wo aus man von einem halb runden Söller hinunter in das Wohnzimmer blicken konnte. Die Gästezimmer lagen direkt vor und rechts von ihnen. Tess wandte sich nach links und betrat durch eine Doppeltür ihr Schlafzimmer. Im Gegensatz zu Marys Haus war hier alles neu, hell und alles paßte zusammen und die Farben waren neutral, mit einigen wenigen Farbklecksen hier und da. Maria hatte überall die Lampen angezündet, und Tess blieb stehen und betrachtete das schwarze Metallbett mit dem Betthimmel, über den viele Meter weißer Gaze bis zum Fußboden fielen. Außer dem Betthimmel und einigen bunten Kissen auf dem Bett war die Einrichtung des Zimmers spärlich, vor den Fenstern hingen keine Gardinen, die Wände waren elfenbeinfarben gestrichen, der Teppich und das Sofa waren weiß. Große Doppeltüren, die jetzt allerdings geschlossen waren, führten auf einen Balkon, von dem aus man den Swimmingpool sehen konnte. Tess stellte ihre Tasche auf eine gepolsterte Bank am Fuß des Bettes, und direkt daneben standen ihre brandneuen M.-L.-Leddy-Stiefel. Sie waren aus grünem Straußenleder, und Tess lächelte, als sie sie entdeckte - alles hier war perfekt, so ganz anders als in Marys Haus. Hier wurde alles für sie getan. Sie setzte sich auf die Bank und probierte die Stiefel an. »Ich habe die Schachtel aufgehoben, falls Sie sie zurückschicken müssen«, meinte Maria. Sie ging durch das Zimmer und zog die Jalousien zu. »Danke, Maria.« »Soll ich Ihnen beim Auspacken helfen?« »Nein, danke, dazu ist morgen noch Zeit genug. Sie können jetzt nach Hause gehen.« »Ich gehe nach Hause, wenn ich das für richtig halte«, erwiderte Maria, wandte Tess den Rücken zu und ging dann nach unten. Tess lächelte und wanderte in ihren neuen Stiefeln durch das Schlafzimmer und dann in das mit weißem Marmor verkleidete Bad und in ihr Ankleidezimmer. Sie lächelte beim An blick der Vase mit einer einzigen, pfirsichfarbenen Rose, die Maria auf die Anrichte gestellt hatte. Frische lachsfarbene Handtücher lagen auf einem Regal, und ihren Lieblingsmorgenmantel entdeckte sie auf einer Bank in der Ecke. Auch wenn Tess sehr gern allein lebte, so war sie doch außerordentlich glücklich, heute abend die redselige Haushälterin hier zu haben, die ein wenig Lärm machte und die sie so freundlich begrüßt hatte. Sie ging durch ihr Schlafzimmer zurück auf den großen Balkon und blickte von dort hinunter in das Wohnzimmer. Die Decke des Wohnzimmers war fünf
Meter hoch, und das Zimmer war in verschiedenen Weißtönen eingerichtet, von Schnee- bis hin zu Austernfarben, und nur bei den Möbeln gab es einen Hauch von Pfirsich. Ein cremefarbener Flügel - einer von zweien im Haus stand vor einem der riesigen Fenster. Neben dem Kamin, gemauert aus weißen Ziegeln, waren zu beiden Seiten Bücherregale eingebaut, die bis zur Decke reichten. Eine große dicke Glasscheibe, die auf zwei niedrigen weißen Stucksäulen lag, diente als Couchtisch zwischen zwei Sofas, die im rechten Winkel zum Kamin einander gegenüberstanden. Dieses Haus unterschied sich so sehr von den Häusern in Wintergreen wie ein Picasso von einem Renoir. Der Kontrast traf sie mit unverminderter Macht, und sekundenlang verspürte sie eine eigenartige Leere in ihrem Inneren. Sie beugte sich über das Geländer. »Hey, Maria, hat jemand angerufen?« rief sie nach unten. »Nein«, rief Maria aus der Küche zurück. »Nur Miss Kelly hat heute nachmittag angerufen und mir gesagt, daß Sie zurück sind.« »Niemand mit Namen Casey hat angerufen?« »Nein.« »Casey Kronek?« »Nein.« »Vielleicht jemand, der Kenny heißt?« »Nein.« »Oh«, sagte Tess leise zu sich selbst und war enttäuscht. Sie beugte sich noch einmal über das Geländer. »Sollte einer von beiden anrufen - wann auch immer -, dann stellen Sie das Ge spräch sofort zu mir durch. Casey oder Kenny Kronek - haben Sie verstanden?« »Ich habe verstanden, Miss Mac.« Ebenso wie Kelly wußte auch Maria sich aus Tess' Privat leben herauszuhalten. Sie tat ihre Arbeit, klatschte nicht und stellte keine Fragen. Und wenn sie während ihrer täglichen Arbeit im Haus etwas erfuhr, so behandelte sie es vertraulich. Zu Weihnachten bekam sie einen Bonus, der viele Geschäftsleute vor Neid hätte erblassen lassen. Oben wusch Tess sich das Gesicht, zog ihre Jeans aus und schlüpfte in einen einteiligen Baumwollanzug. Dann ging sie hinunter in die Küche, einem gefliesten Raum, in dem Kupferpfannen über der Kochinsel mitten im Raum hingen und Glastüren einen Erker bildeten, von dem aus man auf eine verglaste Veranda trat. Ohne daß sie es Maria aufgetragen hatte, hatte diese einen Caesar-Salat angerichtet, dazu gab es gegrilltes Cajunhühnchen. Ein kobaltblaues Glas mit Wasser stand bereit, ein kleineres Glas mit Magermilch und ein einladender Teller voller frischer Früchte. Alles stand auf einem blauen Set auf dem Tisch aus Fichtenholz, wo Tess aß, wenn sie
allein war. Mitten auf dem Tisch stand die Vase mit den Zinnien, wahrscheinlich aus Marias eigenem Garten. »Maria, Gott schütze Ihre Seele«, sagte Tess, setzte sich an den Tisch und machte sich mit großem Appetit über das Essen her. »Sieht ganz so aus, als hätten Sie ein paar Pfund zugenommen«, bemerkte die Haushälterin. »Aber ich werde Sie bald wieder in Form bringen. Ich habe Ihr mitternachtsblaues Jackenkleid für die Beerdigung morgen gebügelt. Wirklich schade, was mit Papa John passiert ist.« »Danke, Maria. Werden Sie denn jetzt endlich nach Hause gehen?« »Ja, Miss Mac. Ich glaube, das werde ich tun. Wenn Sie fertig gegessen haben, können Sie das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler stellen.« »Das werde ich ganz bestimmt machen.« Maria holte ihre Jacke und ihre Tasche. »Nun, dann wünsche ich eine gute Nacht. Es ist schön, daß Sie wieder zu Hause sind. Im Kühlschrank steht frisch ausgepreßter Orangensaft, und im Schrank sind Brötchen für morgen früh.« »Noch einmal danke, Maria.« Nachdem die Hintertür hinter Maria zugefallen war und Tess hörte, wie sich das Garagentor schloß, war es plötzlich ganz still. Sie hörte auf zu essen und lauschte dem Summen des Kühlschrankes. Dann blickte sie zu den Kupferpfannen über dem Herd und zu der aufgeräumten Anrichte - überall herrschte perfekte Ordnung - und saß bewegungslos auf ihrem Stuhl. Sie genoß die Stille am Abend eines norma len Werktags in einem Eineinhalb-Millionen-Dollar-Haus, das groß genug war für acht Menschen, jedoch nur von einer Person bewohnt wurde. Sie hatte dieses Haus eigentlich gar nicht kaufen wollen, doch ihr Steuerberater h atte ihr dazu geraten, mit der Begründung, daß sie ihre Investments breiter streuen sollte. Und da Immobilien eine gute Anlage waren, warum also sollte sie nicht den Komfort eines hübschen Hauses genießen und gleichzeitig durch die Steuerersparnisse ihr Vermögen vergrößern? Zu dieser Zeit damals hatte sie gerade ihr erstes Flugzeug gekauft und konnte viel öfter zu Hause sein, selbst während der Konzertsaison, also hatte sie gedacht, warum nicht? Doch als sie dann ihren Teller abspülte und ihn in den Ge schirrspüler stellte, wünschte sie sich zurück in ihre kleine Wohnung auf dem Belmont Boulevard, wo sie den Ton des Fernsehgerätes des Hauseigentümers durch die Wand hören konnte und ab und zu Stimmen durch das offene Fenster. Sie löschte das Licht in der unteren Etage und ging nach oben, um den Whirlpool in der Marmorbadewanne anzustellen, die groß genug war für zwei Personen, in der sie bis jetzt aber immer allein gesessen hatte. Während sie das sprudelnde heiße Wasser genoß, läuteten die Telefone - es gab sieben, im ganzen Haus verteilt -, und sie griff nach dem Hörer des Telefons am
Fußende der Badewanne. »Hallo«, meldete sie sich und stellte gleichzeitig die Düsen des Whirlpools ab. »Hi, Mac, ich bin es, Casey.« »Oh, Casey, es ist schön, deine Stimme zu hören!« Ein heißes Gefühl der Freude durchströmte sie, und erst jetzt wurde ihr klar, wie einsam sie sich gefühlt hatte. »Einen kleinen Augenblick bitte.« Sie stieg aus der Wanne und schlüpfte in einen dicken weißen Frotteebademantel, dann ging sie ins Schlafzimmer und nahm den Hörer des Telefons, das neben ihrem Bett stand. Sie warf ein paar der Kissen auf den Boden und schob sich dann die beiden großen Kissen in den Rücken. »Casey? Ich bin wieder da. Hör mal, mein Schatz, es tut mir leid, daß ich so plötzlich aus Wintergreen abreisen mu ßte, ohne dir vorher Bescheid sagen zu können.« »Das ist schon in Ordnung. Dad hat mir das von deinem Freund erzählt. Das tut mir wirklich leid, Mac.« »Ich will gar nicht tapfer sein und so tun, als wäre er für mich nicht wichtig gewesen, denn das war er wirklich.« »Ich weiß. Dad hat mir erzählt, daß du geweint hast.« »Ja, na ja...« Sie hatte nicht nur wegen Papa John geweint, andern auch, weil sie Kenny verlassen mußte. »Es ist schön, wieder zu Hause zu sein. Ich habe schrecklich viel zu tun, und das lenkt mich ein wenig ab.« »Arbeitest du etwa noch immer?« »Nein, für heute bin ich fertig. Ich habe gerade gegessen und ein Bad genommen.« »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß ich dich zu Hause angerufen habe.« »Natürlich nicht.« »Ich weiß, deine Nummer steht nicht im Telefonbuch, aber Dad hat gesagt...« »Es ist wirklich in Ordnung, Casey, du kannst mich jederzeit anrufen. Ich habe sowohl Maria als auch Kelly gesagt, daß sie dich jederzeit sofort zu mir durchstellen sollen.« »Großartig. Also, hör mal, ich wollte dir eigentlich nur sagen, daß ich an dich gedacht habe. Ich kann kaum erwarten, daß endlich Juni ist. Und jetzt will Dad auch noch etwas sagen... ich rufe bald wieder an. Tschüs, Mac.« Ehe sie sich darauf vorbereiten konnte, ertönte Kennys Stimme durch den Hörer, ein wenig leise und gedämpft, ein wenig rauh wie bei seinem Abschied heute morgen. »Hi«, sagte er und sonst nichts, nur dieses eine, einsame Wort. Es erfüllte ihr Herz mit einem Ansturm von Gefühlen, während sie in ihrem großen leeren Bett saß und sich nach ihm sehnte, sich wünschte, sie könnte sein Gesicht sehen, es berühren, mit ihm reden, lachen und vielleicht zusammen
mit ihm zu Dexter Hickey fahren und ein paar Pferde streicheln. »Hi«, brachte sie schließlich heraus und fühlte, wie alles in ihr zu ihm strebte, selbst über eine Entfernung von zweihundertfünfzig Meilen hinweg. Sekunden vergingen, in denen keiner von beiden etwas sagte, sie stellten sich beide die Szene in seinem Büro vor, als sie einander zum Abschied geküßt hatten. Schließlich sagte Kenny: »Bist du gut nach Hause gekommen?« »Ja, es war alles in Ordnung.« »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« Es gab M änner, die sich jeden Tag Sorgen um sie machten - ihr Produzent, ihr Manager, ihr Agent -, aber die wurden schließlich dafür bezahlt. Niemand bezahlte Kenny Kronek, damit er sich Sorgen um sie machte. Allein dieser Gedanke genügte, um ihren Hals eng werden zu lassen, und sie verspürte einen eigenartigen Druck auf ihrer Brust. »Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen, Kenny.« »Aber du hattest geweint.« »Nein, das ist nicht wahr.« »Doch, es stimmt. Warum willst du das nicht zugeben?« »Also gut, ich habe geweint, aber nicht lange. Ich habe eine Kassette in den Recorder gesteckt und habe es mi r so aus dem Körper getrieben.« »Was hast du dir aus dem Körper getrieben?« »Dich«, gestand sie ihm. Am anderen Ende der Leitung hörte sie nur seinen Atem, und sie dachte, wie nützlos das alles war. »Ist es das, was du hören wolltest, Kenny?« Er antwortete nicht, nur das leise Summen aus dem Telefon war zu hören, und dann räusperte Kenny sich. »Ich laufe hier im Haus herum und sehe immer aus dem Fenster, zum Haus deiner Mutter. Mir scheint, ich sollte einfach rübergehen und anklopfen, und dann wirst du mir die Tür aufmachen.« »Kenny, das wird nie so sein, nicht... nicht so wie in diesem letzten Monat.« »Ich weiß«, antwortete er, und seine Stimme klang so leise und so verloren, daß sie sich vorstellen konnte, wie er mit gesenktem Kopf am Telefon saß. »Es war nur ein verrückter Anfall von Übermut auf einer Hochzeit, nicht mehr. Wir waren uns doch beide einig, das weißt du doch.« »Jaaa...« Er räusperte sich noch einmal. »Ja, richtig, wir waren uns einig.« Wieder schwiegen sie beide, und dieses Schweigen war erfüllt von unnützen Wünschen. »Na ja, hör mal... ich bin ziemlich müde, und morgen wird ein harter Tag werden, deshalb sage ich jetzt besser gute Nacht.«
»Sicher...«, antwortete er. »Also paß auf dich auf. Ich vermisse dich.« »Ich vermisse dich auch. Bestell Casey noch einen Gruß von mir.« »Werde ich tun.« »Brennt bei Momma noch das Licht?« »Nein, drüben ist alles dunkel.« Sie lächelte. Dann schloß sie die Augen. Und erst jetzt merkte sie, daß Tränen an ihren Wimpern hingen. »Ich habe ganz vergessen, sie anzurufen und ihr zu sagen, daß ich gut angekommen bin.« »Ich werde es ihr morgen früh sagen, ehe ich zur Arbeit fahre.« »Danke, Kenny.« Der liebe Kenny, immer kümmert er sich um Mary. »In Ordnung. Also... schlaf gut, Tess.« »Du auch.« Als sie den Hörer aufgelegt hatte, blieb sie im Bett. Ihr Herz war schwer, das Telefon stand noch auf ihrem Bauch, und sie war noch immer in den weißen Bademantel gehüllt. Sie war sich ihrer Nacktheit darunter bewußt und sehnte sich nach Sex, sie wünschte, sie hätte zugelassen, daß Kenny am letzten Samstag mit ihr geschlafen hätte. Tränen rannen über ihre Wangen, und sie wischte sie mit dem Gürtel des Bademantels ab, schnüffelte ein wenig und setzte sich dann auf. Ob Faith wohl heute abend bei Kenny gewesen war? Hatten sie zusammen zu Abend gegessen wie eine ganz normale Familie? Hatte er sie zur Begrüßung geküßt? Dieser Gedanke machte Tess gleichzeitig wütend und traurig. Sie fragte sich, ob er sie wohl oft anrufen würde - eigentlich hatte sie gar nicht erwartet, daß er anrufen würde. Würde er seine vergeblichen Versuche, sie zu umwerben, fortsetzen, obwohl sie zu nichts führen konnten, zu nichts führen durften? Ob er Casey wohl nach Nashville bringen würde, wenn die Zeit gekommen war, oder ob sie allein mit ihrem Wagen hierherfahren würde? (Etwa mit diesem klapprigen Pick-up? Auf keinen Fall.) Wenn er also kommen würde und wenn sich die Gelegenheit ergab, würden sie dann diese unglückliche Affäre im Bett fortsetzen, so wie sie es sich beide wünschten? Sie seufzte, lehnte den Kopf gegen das schmiedeeiserne Kopfteil des Bettes und schloß die Augen. Es gab keine Antwort, natürlich nicht, es gab nur das enorme Ausmaß ihrer Verpflichtungen, den ruhigen Luxus ihres Hauses und die Verwirrung in ihrem Herzen.
16. Kapitel Sie beerdigten Papa John, doch die Erinnerung an ihn hielten sie lebendig - Tess McPhail und die Gruppe der Trauernden, eine Liste wie aus dem Who's Who der Country-Musik: Garth, Reba, Vince, Alan, John Michael und viele andere.
Sich mit Gleichgesinnten zu treffen, mit ihnen zusammen zu singen, auch wenn es aus einem traurigen Anlaß war, zeigte Tess, daß sie sich schon viel zu lange vom Fluß der Ereignisse ferngehalten hatte. Doch jetzt war sie zurück. Es gab Musik zu machen, Arbeit zu erledigen, Arbeit, die sie liebte. Und es wäre besser, wenn sie das alles in Angriff nahm, ohne Kenny Kronek nachzutrauern. Und genau das tat sie in den nächsten Tagen. An ihrem ersten Arbeitstag hatte sie eine anstrengende sechsstündige Sitzung mit ihrem Manager Dane Tully, wobei sie all das besprachen, was sich in ihrer Abwesenheit angesammelt hatte. Sie traf sich mit Ross Hardenberg, Ralph Thornleaf und Amanda Brimhall, ihrem Tourmanager, dem Produzenten ihrer bevorstehenden Tournee und ihrer Kostümdesignerin, um die Einzelheiten der Show zu besprechen, ehe die Proben begannen. Sie ging ins Studio und nahm die Änderung für »Tarnished Gold« auf, damit Jack Greaves die Vokalversion des Songs fertigstellen konnte. Später kam sie noch einmal zurück, um ihre endgültige Zustimmung für den fertigen Song zu geben. Zusammen mit Jack suchte sie die Hintergrundsänger und Studiomusiker für »Old Souls« aus, dem neuen Song von Ivy Britt, und sie verbrachte einen ganzen Tag im Studio, um den Song aufzunehmen. Sieben Verantwortliche von der Plattenfirma – angefangen vom Präsidenten der Firma bis hin zum Vizepräsidenten der Marketingabteilung - kamen vorbei, um sich das Album anzuhören, das gerade in Arbeit war. Tess und Jack trafen sich mit ihnen, um über das Foto für das Plattencover zu sprechen, über das Design des Covers und über die Daten für die Veröffentlichung einiger Singles des Albums. Tess erklärte, daß sie noch einen Song für das Album aufnehmen wollte und daß dieser Song der Titelsong werden sollte - konnten sie noch so lange warten, bis dieser Song fertig war? -, denn sie glaubte, daß daraus das beste Video des ganzen Albums gedreht werden konnte. Sie hörten sich den Entwurf für »Small Town Girl« an, den sie in Marys Wohnzimmer gemacht hatten, und stimmten zu, zu warten, bis der Song aufgenommen und fertig gemischt worden war, ehe sie sich für den Titel des Albums entscheiden würden. Sie und Jack besprachen die Sequenz (die Reihenfolge, in der die Songs auf dem Album erscheinen sollten), die alle für den Erfolg eines Albums für sehr wichtig hielten. Tess traf sich mit Sheila Sardyk, der Frau, die Verbindung zu all ihren Fanclubs hielt, damit Sheila das nächste Rundschreiben für die Fans aufsetzen und an die Leiter der Fanclubs in allen Städten Amerikas schicken konnte. Sie verbrachte zwe i Tage damit, für Fotos zu posieren, für die der Fotograf, sein Assistent und eine Stylistin extra von New York eingeflogen wurden. Als sie mit den Aufnahmen fertig waren, lud Tess sie alle zum Essen ein.
Sie hatte ihre vierteljährliche Besprechung mit ihrem Steuerberater, um sich einen Überblick über ihr Einkommen und die vierteljährlich zu zahlenden Steuern zu verschaffen und sich über die neuesten Gesetze für die Zahlungen der Rentenversicherung für ihre Angestellten zu informieren. Sie sprach mit ihre m Berater bei Merrill Lynch, ihrer Bank, über längerfristige Investitionen und über die ständige Diversifikation des Portfolios der Wintergreen-Handelsgesellschaft. Sie erhielt ein Drehbuch für ein Video, das sie durchlas und das ihr nicht gefiel, dann rief sie die Marketingabteilung bei MCA an und unterbreitete ihnen ihre eigenen Vorstellungen. Sie gab der Illustrierten Good Housekeeping ein Interview für einen Artikel, der im September gleichzeitig mit der Veröffentlichung ihres neuen Albums erscheinen sollte. Zwei Stunden lang ließ sie sich von den Fotografen der Zeitung fotografieren, dann spielte sie die Gastgeberin für die Mannschaft von Good Housekeeping in ihrem eigenen Haus, ehe sie alle wieder zurück nach New York flogen. Sie unterschrieb über dreihundert Autogrammkarten (in sechs Stapeln) und zusätzlich dazu noch Fotos für Fans, die sie schriftlich darum gebeten und diese Bitten durch die Fanclubs an sie weitergeleitet hatten. Und dann begannen die Proben für die Konzerte. Sie suchte den Arzt auf und beklagte sich über Müdigkeit. Er nahm ihr Blut ab und riet ihr dann, mehr rotes Fleisch zu essen. :Sie erhielt einen reizenden Brief von Mindy Alverson, in dem diese ihr ein Kompliment machte für die Songs, die sie bei der Hochzeit gesungen hatte. Mindy war entschlossen, den Kontakt diesmal nicht wieder abreißen zu lassen, sie lud sie zum Essen ein, wenn Tess das nächste Mal nach Wintergreen kam. Tess beantwortete Mindys Brief handschriftlich, sie nahm die Einla dung zum Essen an, für den November (nachdem die Tournee vorbei war), und bot Mindy Freikarten an für sie und ihren Mann, wann immer sie diese haben wollten, in jeder Stadt, die sie wollten. Sie verlor die fünf Pfund Gewicht wieder, die sie in Wintergreen zugenommen hatte. Sie sorgte dafür, hi re Mutter jeden zweiten Abend anzurufen und Renee an den Wochenenden. Sie erhielt eine Einladung zur Abschlußfeier von Casey - sie sollte am Freitag vor dem Memorial Day stattfinden —, doch die Antwort darauf schob sie immer vor sich her. Am liebsten hätte sie sich in ein Flugzeug gesetzt und wäre hingeflogen, auch um Momma und Kenny wiederzusehen, doch leider hatte sie keine Zeit dazu. Burt war wieder in der Stadt, rief sie an, und schließlich stimmte Tess zu, mit ihm auszugehen. Sie trafen sich im Stockyard und saßen in einem der kleinen intimen Eßzimmer, die den früheren Büros der Viehbörsen nachempfunden waren. Burt bestellte sich einen Cowboy, ein herzhaftes Steak mit gebratenen Zwiebeln, und Tess entschied sich für einen Hummer aus Maine, den sie aus einem Becken mit lebenden Hummern auswählte. Sie
prosteten einander mit Wein zu, erzählten sich, was sie in der Zwischenzeit erlebt hatten, und nach dem Essen gingen sie hinunter in die Bull Pen Lounge und tanzten zur Musik der Hauskapelle, bis einige Touristen, die Tess schon die ganze Zeit angestarrt hatten, den Mut faßten, zu ihr zu kommen und sie um ein Autogramm zu bitten. Danach verließen Tess und Burt das Lokal. In Tess' Haus setzte Burt sich im Wohnzimmer an den Flügel und sagte: »Ich habe einen Song für dich geschrieben. Komm her, dann werde ich ihn dir vorsingen.« Sie setzte sich neben ihn auf die cremefarbene Klavierbank und sah zu, wie seine derben Finger über die Tasten glitten, während er ihr ein Lied vorsang, das die Herzen der meisten Frauen hätte höher schlagen lassen. Es hatte den Titel: »Ich möchte dasein, wenn du nach Hause kommst«, und als es zu Ende war, nahm Burt Sheer Tess in seine Arme und küßte sie. In seinen Kuß legte er so viel Ge fühl, daß Tess ein leiser Schauer durch den Körper lief. Doch während er sie küßte, stellte sie sich vor, daß er Kenny Kronek war. Sie zwang sich, nicht länger an Kenny zu denken, und erwiderte Burts Kuß, versuchte, ihn zu küssen, wie er es sich vorgestellt hatte. Doch sein Bart gefiel ihr nicht mehr, obwohl er weich war. Und auch wenn sein Kuß recht angenehm war, so war es doch nicht der Kuß, nach dem sie sich sehnte. Und sein wunderschöner Song wurde, auch wenn er sie anrührte, ausgelöscht durch die liebevolle Fürsorge, die ein anderer Mann ihr selbst und ihrer Mutter hatte angedeihen lassen. Burt legte eine Hand auf Tess' Brust, und sie dachte daran, wie wunderschön diese Hand die Musik auf dem Flügel gespielt hatte, sie dachte daran, daß er Sänger war genau wie sie, und daß er auch ein Teil der Musikfamilie von Nashville war. Wie einfach wäre es doch, ihrer beider Leben miteinander zu vereinen, sie waren zwei Menschen, die den Lebensstil eines Künstlers kannten und ihn akzeptierten, zusammen mit all den Anforderungen und Einschränkungen. Doch bei Burts Berührung regte sich nichts in Tess. Tief in ihrem Inneren, wo sie nach ihrer langen sexuellen Enthaltsamkeit eigentlich heftig auf diese Berührung hätte reagieren müssen... geschah nichts. Sie umfaßte sein Handgelenk und zog seine Hand von ihrer Brust weg. »Nein, Burt«, sagte sie. Er zog sich ein wenig zurück und sah in ihre Augen. »Ich dachte, du wolltest es auch.« »Das dachte ich auch, aber... es tut mir leid.« Er legte seine Hand auf ihre Taille. »Als wir das letzte Mal zu sammen waren, da dachte ich, daß dies der Weg sei, den wir zu sammen einschlagen würden«, sagte er. »Beim letzten Mal war es vielleicht auch so. Aber es geschehen Dinge...«
»Dinge?« Sie schob seine Hand weg und senkte dann den Blick. Schweigend saßen sie nebeneinander auf der Klavierbank. »Du hast jemanden kennengelernt«, sagte er. »So könnte man es sagen.« Er betrachtete ihr Gesicht, dann legte er beide Hände auf die Kante der Klavierbank und sank in sich zusammen. »Ist es etwas Ernstes?« »Nein.« »Also, wenn es nichts Ernstes ist, was ist dann los mit dir?« »Es ist ein Mann, den ich schon kannte, als ich noch klein war. Jemand aus meiner Heimatstadt. Er ist so eine Art Freund der Familie.« Burt betrachtete sie schweigend und nachdenklich. Dann hob er beide Hände und schlug damit auf seine Knie. »Na ja... wie kann ich mit so jemandem konkurrieren? Wir beide haben keine gemeinsame Vergangenheit.« »Aber das Abendessen mit dir war nett und auch das Tanzen hinterher.« Ihre Worte waren nur ein schwacher Trost, und das wußten sie beide. »Na ja...« Burt seufzte, dann stand er auf. »Ich weiß, wann es an der Zeit ist, zu verschwinden.« Sie brachte ihn zur Tür. Ihr Abschied war ein wenig gezwungen, bis Burt ihre Hände in seine nahm und sie, während er dann sprach, eindringlich ansah. »Wahrscheinlich glaubst du, daß jeder ehrgeizige Musiker, der dir begegnet, sich fragt, wie du seiner Karriere nützlich sein könntest. Ich wollte dir nur sagen, daß ich nicht dazugehöre.« Mit diesen Worten wandte er sich um und ging, und Tess begriff, daß er die Wahrheit gesagt hatte und daß es eigentlich schon seit Jahren so gewesen war. Bei jedem ehrgeizigen Musiker, der ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, wurde Tess aus genau den Gründen mißtrauisch, die Burt gerade ausgesprochen hatte. Und auch wenn sie insgeheim das Gefühl gehabt hatte, daß Burts Motive ehrenhaft waren, wie, um alles in der Welt, konnte sie sicher sein, wo sie doch weit mehr als zwanzig Millionen Dollar wert war? Immerhin war sie in der Lage, mit nur einem einzigen Wort den richtigen Leuten einer Plattenfirma gegenüber eine Karriere in Gang zu setzen. Doch Kenny hatte keine Karriere als Musiker vor sich. Er wollte weder ihr Geld noch ihren Ruhm oder ein Haus in Nashville. Er wollte nur das, was er in Wintergreen hatte. Das hatte er ihr gesagt, und deshalb hatte sie ihn auch nicht angerufen und hatte auch Caseys Einladung nicht beantwortet. Sie fürchtete sich davor, daß er vielleicht den Hörer abnehmen würde, wenn sie Casey anzurufen versuchte, und daß sie dann wieder weich werden würde. Sie schob den Anruf immer weiter hinaus, so lange, bis es nicht mehr ging.
Caseys Schulabschlußfeier sollte am Freitag sein. Um neun Uhr am Tag davor war Tess erschöpft. Sie hatte gerade noch einmal hundert Autogrammkarten unterschrieben und einen Kramp f in der Hand. Außerdem litt sie unter den Symp tomen ihrer monatlichen Regel und war demzufolge schlecht gelaunt. Auch war sie nicht gerade begeistert von dem Haarschnitt, den die Stylistin aus New York ihr verpaßt hatte. Kelly hatte heute früher gehen müssen, weil sie einen Termin beim Zahnarzt hatte, und Tess, die deshalb heute ihre Telefongespräche selbst wählen mußte, war bei einem der Gespräche von einer neuen Sekretärin auf die Warteschleife geschaltet und dort vergessen worden. Kurz darauf hatte Carla Niles angerufen und ihr berichtet, daß ihr Hausarzt festgestellt hatte, daß mit ihrer Stimme alles in Ordnung sei. Doch da sie noch immer heiser war, hatte sie einen Termin mit einem Halsspezialisten vereinbart. Bis dieser festgestellt hatte, was ihr fehlte, hingen die Proben für die Konzerttournee in der Schwebe. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatte Tess das Haus verlassen müssen, um sich zum Mittagessen ein Sandwich zu holen. Auf dem Weg dorthin war der Schulterriemen ihrer heißgeliebten, großen grauen Handtasche in der Wagentür eingeklemmt worden, war die ganze Zeit über den Boden geschleift und jetzt durchgerissen. Als sie wieder im Büro war, machte sie den Fehler, einen Brief aus ihrer Fanpost zu lesen, in dem ein Fan sie beschimpfte, daß sie die Hälfte der Frauen in der Welt beleidigt hatte, weil sie in einem ihrer Songs eine Frau als »nur eine Hausfrau« beschrieben hatte. Glaubte sie etwa, eine Hausfrau zu sein wäre einfach? Wenn das so war, warum versuchte sie es nicht einmal und stellte dann fest, was wirkliche Arbeit überhaupt war! Alles in allem hatte sie einen schrecklichen Tag hinter sich, als sie um neun Uhr an diesem Abend den Telefonhörer in die Hand nahm, um Casey anzurufen. Wie sie es befürchtet hatte, nahm Kenny den Hörer ab. »Hallo?« Vielleicht arbeitete sie zu hart, vielleicht war auch die mo natliche Regel der Grund dafür, aber was es auch war, als sie Kennys freundliche Stimme hörte, gab ihr das den Rest. Ohne die leiseste Vorwarnung begannen die Tränen zu fließen. Und weil sie nicht wollte, daß er das hörte, antwortete sie nicht gleich. »Hallo?« fragte Kenny noch einmal, diesmal ein wenig schärfer. Und dann wurde er ungeduldig und brüllte in den Hörer: »Hallo, wer ist denn da?« »Kenny, hier ist T-Tess«, brachte sie mühsam heraus. »Tess, was ist passiert?« Die Verärgerung aus seiner Stimme war verschwunden, jetzt klang sie besorgt.
»N-nichts«, stotterte sie, doch dann lenkte sie ein. »Alles. Teufel, ich weiß es nicht. Es war ganz einfach ein schrecklicher Tag, das ist alles.« »Tess«, sagte er mit einer Stimme, als wolle er ein Kind beruhigen. »Hey, komm schon, Schatz. Es ist nichts so schlimm, daß es nicht besser wird, wenn man darüber redet. Ich bin hier, du kannst mit mir reden.« Sie fühlte sich schon jetzt besser und entschied sich, seine Fürsorge noch ein wenig länger zu genießen, weil es etwas war, das ihr nur selten zuteil wurde. »Hey, Kenny, könntest du mich noch einmal >mein Schatz< nennen? Das hört sich so wundervoll an.« »Mein Schatz«, antwortete er. »Und jetzt sag mir alles. Was war denn heute so schrecklich?« Also redete sie. Sie gestand Kenny, daß ihr Reich, das sie sich geschaffen hatte, ihr langsam über den Kopf zu wachsen drohte, wenn sie nicht bereit war, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Doch es gab so viele Geschichten über große Stars, deren Unternehmen wegen schlechter Geschäftsführung zusammengebrochen war, deren Agenten oder Manager sie betrogen hatten und einige ihrer Kollegen beinahe ruiniert hätten. »So etwas wird mir nicht passieren!« beteuerte sie. »Und der sicherste Weg, daß so etwas passiert, ist, die Kontrolle über meine Gesellschaft einem anderen zu übertragen. Deshalb überprüfe ich auch alles sorgfältig.« Und als Kenny dann nachfragte, gestand sie ihm, daß sie sich die Kontrolle über mehr Dinge vorbehielt, als es einem einzelnen Menschen möglich war, und daß sie das schon seit achtzehn Jahren tat, während ihre Gesellschaft immer weiter gewachsen war. »Du mußt lernen, Aufgaben zu delegieren«, riet ihr Kenny. »Dafür bezahlst du die Leute doch.« »Ich weiß. Aber sieh doch nur, was mit Willy Nelson geschehen ist. Wahrscheinlich gibt er noch immer Konzerte, nur um seine Schulden abzubezahlen.« »Gibt es denn jemanden unter deinen Angestellten, dem du nicht traust?« l »Na ja...« Sie überlegte eine Weile. »Nein.« »Also«, meinte er. »Dann liegt es an dir und nicht an deinen Leuten. Du weißt doch, Tess, es besteht die Möglichkeit, daß du ich selbst als allmächtig ansiehst, und wenn du dieser Sache auf den Grund gehst, ist das eine ziemlich egoistische Eigenschaft, nicht wahr? Hast du dir schon einmal überlegt, daß du ihre Stellung untergräbst, wenn du ihnen nicht traust? Wenn du ihnen dein volles, uneingeschränktes Vertrauen schenkst, wirst du wahrscheinlich viel mehr Leistung aus ihnen herausholen können, viel mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit und ganz sicher Stolz auf ihre Arbeit, was alles ihr Selbstvertrauen stärken wird. Und du weißt doch, was passiert, wenn man das Selbstvertrauen eines Menschen stärkt.«
Tess wußte, daß er recht hatte, sie wußte auch, daß die meisten Menschen nicht den Mut gehabt hätten, einer Tess McPhail so etwas zu sagen. Sie respektierte ihn für seine Ehrlichkeit und auch für seinen vernünftigen Rat. »Wieso bist du nur so weise, Mr. Kronek?« fragte sie und fühlte sich schon viel besser; ihre Frustration und auch ihre Erschöpfung waren wie durch ein Wunder verschwunden. Er lachte leise. »Das bin ich geworden, seit ich in meiner Zwei-Personen-Firma in einer so zermürbenden Routine arbeite, daß uns beide nichts mehr erschüttern kann. Das letzte Mal, als wir beide einander überrascht haben, war, als Miriam von der Toilette kam und aus Versehen ihren Rock in ihre Strumpfhose gesteckt hatte.« Tess lachte laut auf, während Kenny weitererzählte. »Sie drehte mir den Rücken zu, um sich an ihren Schreibtisch zu setzen, und ich sah durch die offene Tür meines Büros, hob einen Finger, als wollte ich sagen: >Hey, Miriam, rat mal, was passiert ist?<, doch hast du schon je einmal versucht, deiner Sekretärin zu erklären, daß du gerade einen hervorragenden Ausblick auf ihren Hintern hattest? Es wäre ja nicht so schlimm gewesen, wenn es ein hübscher Hintern gewesen wäre, aber du hast Miriam doch kennengelernt, nicht wahr?« »Nein, das habe ich nicht.« Tess lachte noch immer. »Du hast s ie nicht kennengelernt? Na ja, Miriam ist eine Frau, bei der du, wenn du ihr in einer Bar begegnen würdest, sagen würdest: >Hey, Miriam, zieh dir ein paar Stühle heran, dann gebe ich dir einen Drink aus!<« Wieder mu ßte Tess laut lachen, und auch Kenny stimmte in ihr Lachen ein, und eine Zeitlang genossen sie es, über eine Entfernung von ein paar hundert Meilen hinweg miteinander fröhlich zu sein. Und als sie dann aufhörten zu lachen, hatte Tess sich beruhigt. Sie atmete tief durch, streckte sich in ihrem Schreibtischsessel aus und fuhr sich mit der Hand über ihr Haar. »Himmel, ich fühle mich schon viel besser.« »Aber natürlich tust du das«, meinte er selbstgefällig. »Ich bin eben gut für dich.« »Das bist du wirklich, Kenny. Zu gut.« Sie ließen den Gedanken einen Augenblick zwischen sich in der Luft hängen, dann fragte Kenny: »Also, erzähl mal - wo bist du im Augenblick?« »Ich bin noch immer in meinem Büro in der Music Row.« »Meinst du nicht, es sei an der Zeit, Feierabend zu machen?« »Doch. Eigentlich bin ich auch ziemlich müde und entsetzlich schlecht gelaunt. Wenigstens war ich das, ehe ich mit dir gesprochen habe.« Sie waren beide betroffen von der Bedeutung, die hinter ihren Worten lag, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder sprachen. »Ist Faith heute abend bei dir?« fragte Tess dann. Er zögerte einen Moment, ehe er antwortete. Seine Stimme klang ein
wenig bedrückt. »Nein, nur Casey und ich sind hier.« »Eigentlich habe ich angerufen, um mit Casey zu reden. Ich habe ihre Einladung zur Abschlußfeier am Samstag bekommen. Ich wünschte, ich könnte dabeisein, aber... ich fürchte, das wird nicht gehen.« Ihre Enttäuschung war ihr anzumerken. »Ich wünschte auch, du könntest hier sein.« Tess wußte, daß es besser wäre, die Unterhaltung jetzt zu beenden und ihn zu bitten, mit Casey sprechen zu dürfen, doch das brachte sie einfach nicht fertig. Irgendwo piepste ein Faxgerät und begann dann zu rattern, während Tess sich vorzustellen versuchte, daß im Garten in Wintergreen die Grillen zirpten, daß Kenny am Telefon in der Küche stand und Casey in ihrem Zimmer auf der Gitarre spielte und daß dieser sanfte Sommerabend sich mit blauen Schatten auf den Garten senkte. Sie stellte sich die Häuser vor, die sich Rückseite an Rückseite gegenüberstanden, den schmalen Gartenweg, der sie zueinander gebracht hatte, wenn sie sich auf der Gasse begegnet waren. Mit unglaublicher Intensität sehnte sie sich dorthin, sie wollte auf die Hintertreppe im Haus ihrer Mutter treten und ihn in der warmen Mainacht auf sich zukommen sehen. Sie wollte sich in seine Arme schmiegen, wollte ihn noch einmal fühlen, riechen und schmecken. Doch statt dessen konnte sie ihn sich nur vorstellen und sich fragen, ob er wohl das leichte Beben in ihrer Stimme hörte, ob er verstand, wie vergeblich sie versuchte, nicht eifersüchtig zu sein, zu verstehen, was zwischen ihnen geschehen konnte und was nicht. »Ich nehme an, Faith wird die Party für Casey ausrichten.« »Ja. Sie hat schon eine Einkaufsliste gemacht und einiges bestellt. Und die beiden haben schon in allen Fotoalben herumgesucht, um eine Pinnwand mit alten Bildern zusammenzustellen.« Tess hatte sich nie danach gesehnt, Mutter zu sein, doch in diesem Augenblick hätte sie liebend gern mit Faith Oxbury den Platz getauscht. Auf Tess' Schreibtisch standen Bilder von ihren Nichten und Neffen, den einzigen »Kindern«, die sie wahrscheinlich je haben würde. Jetzt blickte sie auf diese Bilder, und dann stieß sie noch einen weiteren Dorn in ihr eigenes Fleisch mit der Frage, die sie schon eine ganze Weile mit sich herumtrug. »Kenny, darf ich dich etwas fragen?« »Sicher.« Eigenartig, wie ein einziges Wort die Gefühle eines Mannes verraten konnte. »Wenn Casey auszieht, wird dann Faith bei dir einziehen?« Kenny ließ sich Zeit mit der Antwort, und Tess stellte fest, daß sie die Luft anhielt und jeden einzelnen Schlag ihres Herzens zählte, während sie auf seine Antwort wartete. »Das glaube ich nicht, Tess. Wir leben in einer kleinen Stadt. Und ein solches Zusammenleben würde von den Mitbürgern sicher mit gerunzelter
Stirn betrachtet.« Langsam stieß Tess den angehaltenen Atem wieder aus, sie schloß die Augen und umklammerte den Hörer, während sie in dem nun folgenden Schweigen all den Worten lauschte, die unausgesprochen geblieben waren. Es war sowohl Qual und Glück, zwischen den Zeilen zu lesen, zu erfahren, daß auch er sie vermißt hatte, und sich zu fragen, wie weit sie in ihrer Unterhaltung wohl gehen würden, die mittlerweile gefährlich intim zu werden drohte. Doch schließlich, als der Kloß in ihrem Hals sie zu ersticken drohte, legte Tess eine Hand auf ihre Stirn und murmelte: »Himmel, ich vermisse dich so, Kenny!« Ähnlich den Pausen in einem Musikstück, war das Schweigen in ihrer Unterhaltung genauso wichtig geworden wie die gesprochenen Worte. Das Schweigen, das ihren Worten folgte, schnürte ihnen beiden den Hals zu. Und als Kenny dann endlich sprach, klang aus seiner Stimme eine leichte Verärgerung. »Ich habe dir schon gesagt, daß ich dich auch vermisse, Tess, aber was willst du von mir? Ich kann nicht wegen dir aufhören, mein Leben zu leben!« »Ich weiß. Ich weiß! Das erwarte ich ja auch gar nicht von dir. Aber was ist, wenn... was ist, wenn...« Schweigen. Ein großes, schmerzhaftes Schweigen senkte sich über sie beide. »Was ist, wenn was?« fragte er schließlich. »Ich weiß nicht.« Tess zögerte. »Ich möchte... ich möchte... mit dir zusammensein... irgendwann einmal... das ist alles. Ich möchte ganz einfach einmal mit dir zusammensein, verstehst du?« »Wozu? Willst du eine Affäre mit mir?« »Nein!« Ein wenig ehrlicher fügte sie dann hinzu: »Ich weiß nicht, aber ein Stück meines Herzens ist in Wintergreen geblieben, und ich habe das Gefühl, als hätte ich es bei dir gelassen, damit du gut darauf aufpaßt. Nichts ist mehr so, wie es war, seit ich wieder in Nashville bin, aber ich würde sterben ohne all dies hier, Kenny. Ich würde ganz einfach sterben. Das ist mein Lebenl Und trotzdem sterbe ich ohne dich. Ich bin völlig durcheinander.« Sie dachte eine Weile nach, suchte nach einer Lösung und fand doch keine. Schließ lich brach Kenny das Schweigen. »Vielleicht liebst du mich, Tess. Hast du schon einmal darüber nachgedacht?« »Ja, das habe ich.« . »Aber du hast es mir nicht sagen wollen, ehe du abgereist bist, und du wolltest auch nicht, daß ich es dir sage.« »Es ist viel zu beängstigend. Es würde viel zu viele Komplikationen mit
sich bringen.« »Für wen? Für dich oder für mich?« »Für uns beide.« »Und du willst es auch jetzt nicht sagen.« »Weil ich mir nicht sicher bin!« »Aber du möchtest, daß ich meine Beziehung zu Faith beende - warum?« »Das habe ich nicht gesagt!« »Nein, aber du hast es angedeutet. Du scheinst nicht zu verstehen, daß auch ich ein Leben habe, während du in Nashville deine Karriere und dein Leben hast, und Faith ist ein wichtiger Teil davon.« »Schon gut, schon gut! Ich will mich nicht mit dir streiten, und außerdem ist es sowieso dumm, denn wir würden über etwas streiten, was nicht einmal logisch ist. Ich meine, ich bin hier, und du bist dort, du hast deine Firma, ich habe meine Karriere, und ich bin etwa hundertzwanzig Tage im Jahr unterwegs! Jemand mit auch nur einem Fünkchen Verstand würde sofort begreifen, daß wir uns in einer logistischen Sackgasse befinden, also weiß ich nicht einmal, warum wir uns über dieses Thema überhaupt unterhalten!« »Weil wir einander vermissen, das ist der Grund. Und weil wir uns vielleicht - nur vielleicht - ineinander verliebt haben. Also stellt sich die Frage, laufen wir vor dieser Tatsache weg oder stellen wir uns ihr?« »Kenny, ich habe nur angerufen, um meine Antwort auf die Einladung zu Caseys Abschlußfeier zu geben. Wieso ist unsere Unterhaltung so kompliziert geworden?« »Ich möchte ganz einfach, daß du verstehst, daß es nicht nur für dich kompliziert ist, sondern auch für mich. Und weißt du, was? Wir beginnen wirklich, uns zu streiten, also sollten wir einander lieber eine gute Nacht wünschen, und ich werde Casey ans Telefon rufen. Wir können ein andermal darüber reden.« »Einverstanden«, gab Tess mit einem störrischen Unterton in der Stimme zurück. Und dann passierte gar nichts. »Also, ruf Casey ans Telefon!« befahl Tess. »Okay«, entgegnete er heftig. »Aber eines möchte ich noch klarstellen. Es war viel mehr, als nur im Gras herumzurollen, und das wissen wir beide!« Es gab ein klirrendes Geräusch im Hörer, dann hörte sie ihn rufen: »Hey, Casey, hier ist Tess für dich!« Casey kam schnell ans Telefon, an ihrer Stimme hörte man, daß sie lächelte. »Hey, Tess! Es dauert noch nicht mal mehr eine Woche, dann bin ich bei dir!« »Ich weiß. Ich kann es kaum erwarten.« »Ich werde am Sonntag nachmittag kommen - nein, warte! Am Montag.
Am Memorial Day.« »Dein Zimmer wartet schon auf dich. Ich werde leider nicht zu deiner Party am Samstag kommen können. Es tut mir leid, Schatz.« »Ach, macht nichts. Das wußte ich sowieso«, wehrte Casey fröhlich ab. »Aber ich wollte dir trotzdem eine Einladung schicken.« »Ich hätte schon viel früher anrufen sollen, aber ich habe versucht, einen Weg zu finden, trotzdem kommen zu können.« »Es ist schon in Ordnung.« »Ich habe auch überlegt, was für ein Geschenk ich dir zum Schulabschluß schicken könnte, aber du mußt mir versprechen, es für dich zu behalten.« »Was ist es denn?« »Wie würde es dir gefallen, die neuen Songs von meinem neuen Album zu hören, ehe sonst jemand außerhalb von Nashville sie zu hören bekommt?« »Oh, du liebe Güte, Mac, meinst du das wirklich ernst? Das willst du mir schicken?« »Ich kann es kaum erwarten, daß du sie hörst, aber du mußt mir versprechen, sonst niemanden das Band hören zu lassen. Jack würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er dahinterkommt. Versprichst du mir das?« »Nicht einmal Dad darf es hören?« Casey schien enttäuscht zu sein. »Na ja... vielleicht dein Dad, aber sonst niemand. Nicht einmal Faith oder Brenda oder Amy oder sonst jemand. Nur du und dein Dad, okay?« »Das verspreche ich dir, Mac.« »Also gut. Und wir beide sehen uns am nächsten Montag, und dann werden wir deinen Schulabschluß noch einmal feiern.« »Das werden wir. Und wann gehen wir ins Studio?« »Am Dienstag. Jack hat schon alles geplant.« »Himmel, ich kann es einfach nicht glauben! Es ist viel zu wunderbar, um wahr zu sein.« »Du solltest es lieber glauben. Aber jetzt muß ich auflegen. Es ist schon spät, und ich bin noch immer im Büro. Ich möchte jetzt nach Hause.« »Okay... noch sechs Tage, Tess!« »Sechs Tage. Wir sehen uns bald.« Diese sechs Tage vergingen wie im Flug. Tess schien es, als würde sie nur einmal mit den Augen zwinkern, und schon wie der war ein Tag vorüber. Sie schickte per Express ein Band ihres neuesten Albums an Casey, ließ Maria eines der Gästezimmer herrichten und füllte den Kühlschrank mit Nahrungsmitteln, die einem Teenager schmecken würden. Sie versuchte, nicht an Kenny zu denken, und die meiste Zeit gelang ihr das auch. Es gab viele wichtige Dinge, mit denen sie sich beschäftigen mußte, und das
wichtigste davon waren die Halsprobleme von Carla Niles. Niemand hatte noch vor einem Monat darüber ernsthaft nachgedacht, als ihre Stimme heiser zu werden begann. Eine Er kältung, hatten alle geglaubt, oder eine Erkrankung der oberen Atemwege. Aber als es nicht besser wurde, hatte sie begonnen, Sprechunterricht zu nehmen, weil sie hoffte, daß die richtige Atemtechnik ihr vielleicht helfen würde. Doch als das Problem auch nach einigen Wochen Sprechunterricht noch nicht behoben war, hatte sie ihren Arzt aufgesucht, der ihr erklärt hatte, mit ihrer Stimme sei alles in Ordnung. Also hatte sie weitergesungen, und das hatte sich am Ende als das Schlimmste herausgestellt, was sie überhaupt hatte tun können. Schließlich war Carla zu einem Halsspezialisten gegangen, dessen Untersuchungsbericht am Freitag nachmittag eintraf. Er erklärte Carla, daß bei ihr eine hypothyroide Erkrankung vorliege. Das bedeutete, daß ihr Körper nicht länger thyroide Hormone produzierte und daß sich das auf ihre Stimmbänder auswirkte. Der Arzt riet ihr, mit dem Singen aufzuhören und für mindestens einen Monat ihre Stimme nicht mehr zu benutzen - nicht einmal, um zu flüstern! Danach, so meinte er, würde es mit der richtigen Behandlung und der richtigen Medizin bis zu zwei Jahre dauern, ehe Carlas Stimme wieder normal funktionieren würde. Diese Neuigkeit versetzte die Truppe um Tess McPhail in hektische Aktivitäten. Die Proben für die Konzerttournee hatten bereits begonnen, und Jack Greaves, Dane Tully, Ross Hardenberg und Tess saßen zusammen und überlegten, wen sie als Ersatz für Carla bekommen konnten. Die Stadt war voll von Sängerinnen, die in den kleinen Clubs sangen und nur darauf warteten, einen Plattenvertrag zu bekommen und ein Einsatz als Hintergrundsängerin für Tess McPhail würde ihrer Karriere zu einem schnellen Start verhelfen. Ross machte eine Liste der in Frage kommenden Sängerinnen, und an der Spitze dieser Namen stand eine Zweiundzwanzigjährige mit Namen Liza Lyman, die Tess schon einmal singen gehört hatte und die ihr gefallen hatte. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ihre Stimmlage richtig ist«, überlegte Tess. »Wir können sie doch vorsingen lassen und es ausprobieren«, schlug Ross vor. »Denk über das Wochenende mal darüber nach, Tess, und dann werden wir uns am Dienstag noch einmal darüber unterhalten.«
17. Kapitel Es war ein heißer, strahlender Nachmittag, an dem Tess Casey erwartete. Maria hatte an diesem Wochenende frei, also hatte Tess das ganze Haus für sich allein. Wenn man bedachte, wie riesig dieses Haus war, so war es wirklich eine Schande, daß es so selten Gäste beherbergte, und vor allem war
noch nie ein anderer Gast mit solcher Ungeduld erwartet worden. Tess war glücklich und ängstlich zugleich, als sie noch ein letztes Mal durch das Haus ging und nachsah, ob auch alles bereit war. Sie hatte das hellblaue Zimmer für Casey ausgewählt, das mit Möbeln aus Naturkiefer eingerichtet war. Auf dem Bett lag eine weiche Decke mit großen blau-weißen Karos, und die vielen Fenster, deren Läden geöffnet waren, ließen den Himmel von Tennessee in das Zimmer. Tess warf noch einmal einen Blick in das Zimmer: Blumen standen auf der Kommode, im Bad lagen blaue Handtücher, Shampoo und Seife waren in der Dusche, auf der Wanne stand das Schaumbad. Sie stellte die Musikanlage an und knipste zwei Lampen im Schlafzimmer an, damit alles noch einladender wirkte. Der Flügel mit den Gästezimmern bestand aus drei Suiten, und vielleicht war Tess ja dumm, aber sie hatte auch ein Zimmer für Kenny vorbereitet. Er hatte nichts davon gesagt, daß er Casey begleiten würde, und Tess hatte ihn auch nicht darum gebeten. Jetzt bedauerte sie das. Warum hatte sie ihn nicht gefragt? Vielleicht hatte sie sich davor gefürchtet, daß er ja sagen könnte und ihr so das freudige Gefühl der Erwartung nehmen würde. Das Zimmer, das sie für Kenny vorbereitet hatte, nannte sie das dunkelblaue Zimmer, obwohl es eigentlich gar nicht dunkel war. Die Wände und die Fensterläden waren eierschalenfarben gestrichen, die Decke auf dem Bett hatte ein dunkelblaues Paisley-Muster. Es war ein mehr männlich anmutendes Zimmer mit Möbeln im Stil der Missionsära und in Terracottafarben. Am Freitag war sie in die Stadt gefahren, in ein kleines Geschäft im Distrikt, und hatte dort Talkumpuder und Seife gekauft, die in braunem Papier verpackt war und ein wenig nach Wald duftete - ein Duft, der einem Mann gefiel. Und sie hatte eine gelbe Lilie aus dem Strauß in Caseys Zimmer herausgenommen und sie in eine schmale Vase neben die dunkelblauen Handtücher in Kennys Bad gestellt. Jetzt stand sie an der Tür zu seinem Schlafzimmer, knetete ihre Hände und fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn sie ihn einlud, über Nacht zu bleiben, ehe er nach Wintergreen zurückfuhr. Sie war überrascht, als ihr bewußt wurde, daß sie sich wünschte, er würde ihr Haus sehen. Mit eigenen Augen sollte er feststellen, was sie alles erreicht hatte, welchen Lebensstil ihr Erfolg ihr ermöglichte - dieses kühle, sachliche, geräumige Haus voller Annehmlichkeiten, die sie erst jetzt richtig zu schätzen begann. Jetzt erst wünschte sie sich dieses Haus, damit sie ihm zeigen konnte, daß sie in der Lage gewesen war, ein solches Haus auszusuchen, es einzurichten und es zu ihrem Zuhause zu machen. Sie ging noch ein letztes Mal in das Zimmer und schaltete die Musikanlage neben dem Bett ein. Am Fenster, das nach Westen ging, richtete sie die Jalousie so, daß sie das Licht ins Zimmer ließ, die Nachmittagssonne
allerdings abhielt. Bring sie, Kenny, dachte sie. Bitte, bringe sie persönlich hierher. Doch um halb drei, als ein roter Ford Bronco in ihre Auffahrt bog, sah Tess sofort, daß nur eine Person in dem Wagen saß. Sie hatte an ihrem Flügel gesessen und gespielt, weil sie von dort aus das Fenster im vorderen Teil des Hauses sehen konnte. Und als jetzt Casey allein aus dem Bronco stieg, wurde Tess' Herz schwer. Er war nicht gekommen. Es war nur Casey, die jetzt die Wagentür zuschlug und auf das Haus zukam. Sie trug Shorts, eine Sonnenbrille und einen Cowboyhut und lächelte glücklich. Aber Tess war eine Schauspielerin, oder etwa nicht? Um Caseys willen würde sie sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen, sie würde sie genauso überschwenglich willkommen heißen, wie das Mädchen es erwartete. Noch ehe Casey den Finger auf die Türglocke legen konnte, hatte Tess die Tür schon geöffnet. »Hey, mein Honigkind, da bist du ja!« Casey warf sich in ihre Arme, und als die beiden einander umarmt hatten und glücklich lachten, weil sie sich endlich wiedersahen, fragte Tess: »Woher hast du denn den Bronco?« »Dad hat mich damit zu meinem Schulabschluß überrascht! Kannst du das glauben?« »Sehr schön.« »Er meinte, mein alter Pick-up hätte die Strecke bis hierher niemals geschafft, und wenn ich schon auf eigenen Füßen stehen wollte, brauchte ich wenigstens ein vernünftiges Fortbewegungsmittel. Er ist ein großartiger Vater, nicht wahr?« »Ja, ziemlich großartig. Nun, komm rein, dann werde ich dir das Haus zeigen. Danach holen wir dein Gepäck und bringen es in dein Zimmer.« Beim Anblick des Wohnzimmers blieb Casey wie angewurzelt stehen und rief in einem übertriebenen Missouri-Akzent aus: »Oh, du liebe Güte, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Wunderschönes gesehen! Gütiger Himmel, Tess, hier/wohnst du?« »Hier wohne ich.« »Und dieser Flügel...« Casey ging darauf zu, als sei sie geblendet von seinem Anblick, sie streckte die Hand aus und berührte das glänzende, elfenbeinfarbene Holz, als wolle sie sich versichern, daß er echt war. »Und diese Fenster.« Sie blickte nach oben. »Und sieh dir das nur an! Ich wette, du kannst von da oben dem lieben Gott ins Wohnzimmer sehen.« Sie folgte Tess in das Eßzimmer, dessen Decke der überhängende Balkon bildete, von dem aus man ins Wohnzimmer sehen konnte. Dann gingen beide
in die Küche und von dort aus durch die Glastür auf die verglaste Veranda, von wo aus man einen Blick auf den Swimmingpool im Garten hatte. Danach sahen sie sich Tess' Büro an, das hinter der Garage lag, und dann gingen sie wieder zur Vorderseite des Hauses und die geschwungene Treppe zum ersten Stock hinauf. Die ganze Zeit über stand Caseys Mund nicht still, sie bewunderte das Haus und begeisterte sich für alles. Du liebe Zeit, dieses Mädchen konnte reden. Ununterbrochen! Aber Tess genoß es, und sie genoß auch das Ge fühl, mitzuerleben, wie dieses Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben einen solchen Luxus sah. In der offenen Tür zu dem Schlafzimmer ihrer Suite blieb Casey stehen. »Willst du sagen, daß ich hier wohnen soll?« »Dies ist dein Zimmer. Und da drüben ist dein Bad.« »Mein eigenes Bad?« »Richtig... sieh dir nur alles an.« Casey betrat das Zimmer, als sei es ein Heiligtum. An der Tür des Badezimmers blieb sie stehen und sah sich die Duschkabine mit den Glaswänden an, die Marmorbadewanne und den langen Waschtisch mit dem riesigen Spiegel. »Dieses Badezimmer ist größer als mein Zimmer zu Hause. Meine Güte, Mac, glaubst du, ich könnte auch eines Tages ein solches Haus besitzen, wenn ich groß herauskomme?« »Eines Tages vielleicht. Warum denn nicht? Ein großer Teil des Erfolges liegt darin, daß du glaubst, du kannst es schaffen.« Casey sah sich noch einmal um. »Ich wünschte, Dad könnte das alles sehen«, sagte sie. »Er würde es nicht glauben.« Sie ging wieder in das Schlafzimmer und sah sich die getäfelte Wandverkleidung neben dem Bett an. »Was ist das?« »Eine Musikanlage.« Sie hatte die Country-Radiostation eingeschaltet, und die leise Stimme von Wynonna kam durch den Lautsprecher. »Willst du damit sagen, du hast das ganze Haus damit ausgestattet?« »Na ja, immerhin bin ich Musikerin.« Tess machte eine ein ladende Handbewegung. »Da muß man doch Musik im Haus haben. Die Anlage steht im Wohnzimmer, in einem Einbauschrank neben dem Kamin.« »Was spielt da gerade? Radio?« »Ja.« »Kannst du auch CDs oder Bänder oder sonstwas über die Anlage abspielen?« »Alles.« »Und warum läuft dann nicht gerade deine neueste Platte?« »Das läßt sich machen, es dauert nur eine Sekunde.« »Na los, stell sie an!« Sie liefen die Treppe hinunter, und Casey meinte:
»Dein neues Album liebe ich. Vielen Dank, daß du es mir geschickt hast. Es wird ganz sicher ein Hit werden. Platin, würde ich sagen! Doppeltes Platin! Dad hat das auch gesagt, und ich habe sie niemand anderem vorgespielt, nur ihm, genau wie du es gewollt hast.« Tess stellte das Band an. »Lauter!« befahl Casey. Und als die Musik aus den Lautsprechern dröhnte, begann Casey mitzusingen. Auch Tess sang mit. Die ganze Zeit über sangen sie, während sie die Haustür öffneten und Caseys Gepäck aus dem Bronco holten, die Sachen nach oben trugen und dann Caseys Kleidung in den Schrank hängten und einige Kartons in einer Ecke des Zimmers stapelten. Das Band war zu Ende, und Casey rief laut: »Laß es noch einmal laufen! Ich liebe es!« Tess war unten in der Küche und holte die Hähnchen-Enchiladas aus dem Kühlschrank, die Maria vorbereitet hatte. Sie gab noch etwas Salsa und Käse darauf und stellte dann alles in die Mikrowelle. Casey kam in die Küche. »Was kann ich tun?« wollte sie wissen. »Du kannst uns Eiswasser machen.« Die Musikanlage hatte auch einen Lautsprecher in der Küche, und sie sangen beide, während Casey Eiswürfel und Wasser mischte. Das Wasser kam aus einem Hahn an der Tür des Kühlschrankes. »Hey, cool!« rief Casey. Tess machte in der Zwischenzeit den Salat. Sie sangen, während Tess Zwiebeln schnitt und Casey den Schrank zeigte, wo sich Servietten, Besteck und Geschirr befanden, und sie sangen noch immer, als Casey den Tisch deckte. Sie sangen, während sie das dampfende mexika nische Gericht auf den Tisch stellten, sich ihre Stühle heranzogen und sich setzten, ihre Gabeln in die Hand nahmen und... Und dann mu ßten sie aufhören zu singen, um zu essen. Ihr Zusammensein machte genausoviel Spaß wie damals in Marys Küche, an dem Abend, als sie festgestellt hatten, daß sie einander mochten. Manchmal brachte die Musik Casey dazu, mit vollem Mund mitzusingen. Dann versuchte Tess es auch, und das Essen fiel ihr aus dem Mund. Sie lachten beide, und Casey sagte mit vollem Mund: »Sehr schlechte Manieren, wie?« Tess antwortete kauend. »Hm-hm. Meine Momma würde mir den Hintern versohlen!« »Mein Dad auch, aber was die beiden nicht wissen, wird ihnen nicht schaden.« Nachdem sie die Enchiladas gegessen hatten, verspeisten beide eine Banane als Nachtisch. Es war einfacher, zu singen, wenn man eine Banane aß, und manchmal benutzte Casey ihre Banane dazu, zu dirigieren, als wäre es ein Taktstock. Die Erkenntnis traf Tess, als sie gerade die Hälfte ihrer Ba nane verspeist hatte: Casey kannte jedes einzelne Wort jedes einzelnen Songs auf dem Band!
Sie vergaß völlig, ihre Banane zu Ende zu essen, statt dessen starrte sie Casey nachdenklich an. Casey dirigierte und sang gleichzeitig, doch sang sie nur die Worte, die die Hintergrundsängerinnen sangen. »Hey, Casey, wie oft hast du dir dieses Band in den letzten sechs Tagen angehört?« »Himmel, ich habe keine Ahnung. Vielleicht fünfzig oder sechzig Mal. Ich habe nicht mitgezählt.« »Du kennst alle Texte, nicht wahr?« »Ja, ich glaube schon.« »Leg deine Banane weg und singe mit mir zusammen, so wie du eben gesungen hast.« Gerade lief einer der schnelleren Songs, »Last Chance to Boogie«, mit schneller Wortfolge. Sie saßen nebeneinander am Küchentisch, rückten ein wenig mit ihren Stühlen vor, sahen einander an und sangen den Song bis zum Ende. Dann stand Tess auf, ging zum Lautsprecher in der Küche und stellte ihn leiser. Im Haus war der nächste Song in voller Lautstärke zu hören, als Tess sich wieder an den Tisch setzte. »Warum hast du nicht die Melodie der Leadsängerin gesungen?« fragte sie Casey. »Nun ja... ich weiß nicht.« Casey sah ein wenig verwirrt aus, als fürchte sie, einen Fehler gemacht zu haben. »Du bist doch die Leadsängerin.« »Aber alle singen doch die Melodie der Leadsängerin, wenn man bei einem Song im Radio mitsingt, oder etwa nicht?« Casey zuckte die Schultern. »Ich nicht, nehme ich an... ich singe Alt im Chor.« Ein bizarrer, aufregender Gedanke kam Tess, doch war es noch zu früh, ihn einem siebzehnjährigen Mädchen vorzuschlagen. Donnerwetter, sagte sie sich, halte dich zurück! Du hast sie ja noch nicht einmal im Studio gehört! Aber da Carla mindestens einen Monat ausfiel, vielleicht sogar für Jahre, brauchte Tess dringend einen Ersatz für die Tournee, die Ende Juni beginnen sollte. »Was ist denn los?« fragte Casey und runzelte die Stirn. Tess entspannte sich. »Nichts«, antwortete sie. »Aber du bist erstaunlich, du hast dir sehr schnell den ganzen Text eingeprägt. « »Teufel, ich kenne den Text aller deiner Lieder.« »Wirklich?« »Ja. Einige deiner Platten höre ich schon seit der Zeit, als es noch gar keine CDs gab.« »Du kennst alle Texte?« »Wieso? Bezweifelst du das etwa? Glaubst du mir nicht, daß du mein Idol warst, seit ich alt genug war, einen Plattenspieler bedienen zu können ?«
Tess entschied, dieses Thema ruhen zu lassen. »Komm.« Sie stand auf. »Wir stellen das Geschirr in den Geschirrspüler, dann möchtest du vielleicht deine Sachen zu Ende auspacken oder dich ein wenig ausruhen. Vielleicht möchtest du ja auch schwimmen.« »Schwimmen! Donnerwetter! Wirklich? Das wäre großartig!« Casey trug die Teller zum Geschirrspüler. »Aber zuerst sollte ich Dad anrufen. Ich habe ihm versprochen, ihn anzuru fen, sobald ich angekommen bin.« »Na, dann los. In deinem Zimmer gibt es auch ein Telefon, falls du lieber allein sein möchtest.« »Warum sollte ich allein sein wollen?« Casey ging zu dem schnurlosen Telefon in der Küche, wählte die Nummer, und Tess hörte ihrer Unterhaltung zu, während sie den Tisch abwischte. Es war eine ganz normale Unterhaltung, bis Casey meinte: »Hey, Dad, du solltest dieses Haus sehen. Es ist wie ein Palast! Alles ist entweder elfenbeinfarben oder weiß gestrichen. Sie hat einen cremefarbenen Flügel im Wohnzimmer stehen, und es gibt eine Musikanlage mit Lautsprechern in jedem Zimmer des Hauses. Und dann gibt es da noch diesen riesigen Balkon, von dem aus man von oben ins Wohnzimmer sehen kann, und ich habe mein eigenes Bad, und Tess hat Blu men in mein Schlafzimmer gestellt, und im Bad gibt es all diese tollen Dinge - du weißt schon, kleine Fläschchen mit allen möglichen Sachen. Und sie hat einen Swimmingpool! Und weißt du, was? Ich spreche von einem schnurlosen Telefon! Mensch, Dad, das alles ist ja so cool.« Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann sagte Casey: »Ja, sie ist hier. Hey, Mac, Dad möchte gern mit dir sprechen.« Auch wenn Casey nicht den Wunsch gehabt hatte, allein zu sein, so wäre Tess doch jetzt gern allein gewesen. Aber das hätte komisch ausgesehen, wenn sie sich jetzt zurückgezogen hätte, um mit Kenny zu reden. Deshalb nahm sie den Hörer und sprach mit Kenny, während Casey ihr zuhörte. »Hi, Kenny«, sagte sie fröhlich und versuchte, sich vor Casey nichts anmerken zu lassen. Es war ihr erstes Gespräch seit ihrem Streit am Telefon. »Hi, Liebling«, sagte er, und ihr Herz machte einen erleichterten Sprung. »Bist du mir noch böse?« »Nein.« »Nun, das ist schon besser. Meiner Tochter gefällt dein Haus.« »Ja, aber sie ist sehr leicht zu beeindrucken.« »Das klingt ja ganz so wie Lebensart der Reichen und Berühmten bei euch.« »Ich denke, das ist es auch. Ich hatte geglaubt, du würdest Casey herbringen und dir alles ansehen.« »Das hätte ich getan, wenn ich eingeladen worden wäre.«
Tess wußte nicht, was sie darauf sagen sollte, deshalb wechselte sie das Thema. »Einen hübschen Bronco hast du dem Mädchen gekauft.« »Sie hat ihn bis unters Dach voll beladen. Ich habe ihr gesagt, daß sie viel zuviel Zeug mitnimmt - sie sollte warten, bis sie eine Wohnung gefunden hat. Aber du kennst ja Teenager. Sie sagte, es seien alles Sachen, ohne die sie nicht leben könnte.« »Ich habe hier genügend Platz, du brauchst dir also keine Ge danken zu machen.« Casey ging hinüber ins Wohnzimmer, deshalb fragte Tess: »Wie geht es dir, Kenny? Ich meine, jetzt, wo sie nicht mehr da ist?« Er zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete, und seine Stimme klang ernst. »Es war der schlimmste Tag meines Lebens.« Tess fühlte eine Woge von Mitleid mit ihm, und sie sah wie der das Bild vor sich, wie er mit Casey zu seinem Haus ging, den Arm um ihre Schultern gelegt. »Das kann ich mir vorstellen.« »Ich muß immer wieder in ihr Zimmer gehen, und dann sehe ich all die leeren Stellen. Ihre Gitarre ist nicht mehr da, und all die Sachen von ihrer Kommode hat sie mitgenommen. Himmel, sie hat sogar ihr Kopfkissen eingepackt.« »Ist Faith bei dir?« »Nein, heute abend nicht.« »Warum rufst du sie nicht an und gehst eine Weile zu ihr?« »Weil mir danach nicht der Sinn steht, bei Faith zu sein. Das komische ist, daß mir immer weniger der Sinn danach steht, seit du nicht mehr da bist. Ich habe daran gedacht, Mary zu besuchen. Vielleicht hat sie Lust, mit mir Karten zu spielen oder so.« »Das würde sie sicher gern tun. Nun ja, ich... ich sollte wohl jetzt Schluß machen. Casey und ich wollen vielleicht noch schwimmen.« »Ja«, antwortete er traurig. »Ich bin sicher, sie wird dich morgen anrufen, nach dem ersten Tag im Aufnahmestudio. Sie will dir sicher alles erzählen.« »Ich habe ihr gesagt, daß sie mich immer anrufen kann, als R-Gespräch. Ich werde ihr eine Telefon-Kreditkarte schicken, die ich schon bestellt habe, aber sie ist noch nicht angekommen. « »Das ist nicht nötig, Kenny. Sie kann dich von hier aus anru fen, wann immer sie will.« »Nein, nein, du hast schon genug für sie getan. Du läßt sie bei dir wohnen, du hilfst ihr bei ihrem Start in der Musikbranche. Sie soll nicht auch noch deine Telefonrechnung belasten.« »Darüber wollen wir uns nicht streiten.« Casey war in die Küche zurückgekommen und hörte der Unterhaltung jetzt wie der zu. »Wenn sie irgend etwas braucht, dann laß es mich wissen, ja?« bat
Kenny. »Natürlich. Und jetzt entspann dich und bleibe nicht allein in deinem Haus. Ich gebe Casey noch einmal den Hörer, damit sie sich von dir verabschieden kann.« »Hey, Tess, warte!« Casey stand direkt neben ihr und wollte gerade den Hörer nehmen, als Kenny ohne Vorwarnung sagte: »Ich liebe dich.« Tess war so erschrocken, daß sie wie erstarrt stehenblieb und Casey anstarrte, während seine Worte sie mitten ins Herz trafen und ihr eine heiße Röte ins Gesicht trieben. Ganz einfach so, in einem Augenblick, in dem sie es am wenigsten erwartet hatte. »Ich liebe dich.« Genauso, als hätte er gesagt: »Bis bald.« Sie umklammerte den Telefonhörer und war nicht in der Lage, mit den gleichen Worten zu antworten. Es waren keine Worte, die man leichtfertig aussprach oder die man sagte, ohne sich absolut sicher zu sein. Und Tess würde ihm diese Worte nicht sagen, wenn seine Tochter nur wenige Schritte neben ihr stand. Sie bemühte sich, eine passende Antwort zu finden, ohne zu verra ten, wie sehr er sie erschüttert hatte. »Ich glaube, das sagst du nur, weil du dich einsam fühlst, Kenny. Mit der Zeit wird es schon besser werden.« »Hört Casey zu?« . »Ja, sie steht direkt neben mir.« »Also gut. Ich hoffe nur, daß du, wenn ich dir diese Worte noch einmal sage, mir mit den gleichen Worten antworten wirst.« Was sollte sie darauf sagen? Sie wählte den leichtesten Ausweg. »Hier ist Casey...« Casey sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Was ist los?« wollte sie wissen. »Nichts«, murmelte Tess, reichte ihr den Hörer und wandte sich dann ab. Es fiel Tess schwer, ihre aufgewühlten Gefühle vor Casey zu verbergen, während sie sich gleichzeitig wünschte, mit ihr über die Situation reden zu können. Aber dazu war es noch zu früh. Sie schwammen und freuten sich auf den nächsten Tag, und Tess beantwortete ungezählte Fragen darüber, wie die Arbeit in einem Aufnahmestudio vor sich ging. Sie gingen wieder ins Haus und spielten Musik anderer Country-Sänger, deren CDs Tess bei einer Musikmesse geschenkt bekommen hatte. Sie erzählte Casey, wie diese Art von Werbung gemacht wurde und wie es einer Karriere dienlich sein konnte, auf einer solchen Messe die richtigen Leute kennenzulernen, die die Platten dann vertrieben. Sie unterhielten sich darüber, wann und wo Casey sich um eine eigene Wohnung bemühen sollte, und sie sprachen über die Fanmesse, die bald stattfinden sollte. Tess erzählte ihr von ihrer bevorstehenden Konzerttournee, wann sie beginnen sollte und in welchen Städten sie auftrat. Aber sie erwähnte nicht die Möglichkeit, daß Casey auf dieser Tournee
vielleicht im Hintergrundchor mitsingen könnte. Um elf Uhr gingen sie ins Bett, und erst jetzt, wo alles im Haus still und dunkel war und Tess hellwach in ihrem Bett lag, dachte sie an das, was Kenny gesagt hatte. Sie holte seine Worte wie Edelsteine in ihrer Erinnerung hervor, und dabei stand das Bild seines Gesichtes vor ihrem inneren Auge, so wie sie ihn zum letztenmal in seinem Büro gesehen hatte. »Hey, Tess, warte!... Ich liebe dich.« Wieder hörte sie seine Worte durch das Telefon, die er so ganz nebenher ausgesprochen hatte und die sie so unerwartet getroffen hatten. In ihrer Vorstellung küßte sie ihn, und dann fragte sie sich, ob das wohl Liebe war, dieses Gefühl der Leere in ihrem Inneren, das sie jeden Tag fühlte, den sie ohne ihn verbringen mußte, das Gefühl des Jubels, wenn sie seine Stimme am Telefon hörte, der Drang, in ihren Erinnerungen zu suchen, sie hervorzuholen und noch einmal zu betrachten, um sie dann wieder aus ihren Gedanken zu verbannen bis zum nächsten Mal. Hey, Kenny... vielleicht liebe ich dich auch. Oder machte sie sich nur ein Idealbild von ihm, weil er diese Worte ausgesprochen hatte? Das glaubte sie nicht, denn sie war eher Realist. Also realistisch gesehen -, wie standen die Chancen für eine Beziehung zu Kenny, wenn er sich weigerte, sich von Faith zu trennen? Wenn Tess sich ganz ihrer Karriere verschrieben hatte und er sich der seinen? Wenn sie an zwei verschiedenen Orten lebten und zwei vollkommen unterschiedliche Arten von Leben hatten? Und wie stand es um den Unterschied in ihrem Einkommen? Bestand auch nur die entfernteste Möglichkeit, daß er sich an sie heranmachte, nur weil sie reich und berühmt war? Nein - dessen war sie sich absolut sicher. Aber vielleicht war es ja genau das Gegenteil. Vielleicht war er ein Mann, dessen Stolz es ihm nicht erlauben würde, vom Einkommen seiner Frau zu leben. Und hatte sie das Recht, das von ihm zu verlangen? Sie hatte noch nicht einmal vor sich selbst zugegeben, daß sie ihn liebte, und schon litt sie unter einigen der Qualen, über die sonst nur die Dichter schrieben. Ihre Enttäuschung heute, als er nicht zusammen mit Casey gekommen war, war dumm und völlig uncharakteristisch für sie, denn sie war absolut nicht der Mensch, der sich etwas einbildete und dann enttäuscht war, wenn nicht alles so lief, wie er es sich erträumte. Ihre Gedanken beunruhigten sie, und sie rollte sich in ihrem Bett auf den Bauch. Der Mond schien und warf einen bläulichen Schein auf die Fensterrahmen, es war die gleiche Farbe wie die Iris, die im Garten ihrer Mutter wuchsen, als Tess noch ein kleines Mädchen war. Und in Wintergreen schien genau dieser Mond jetzt auch auf das Haus von Kenny... und auf das von Momma. Hatten die beiden heute abend zusammen Karten gespielt? Und war er jetzt wieder in seinem Haus? Vielleicht lag er auch wach und fühlte
die Leere im Haus, weil Casey nicht mehr da war. Vermißte er Tess McPhail und fragte sich, wie sie seine kühne Lie beserklärung aufgenommen hatte? Wartete er auf eine Antwort von ihr? Um Viertel nach elf konnte sie nicht länger widerstehen. Sie nahm den Telefonhörer und rief ihn an. Er antwortete sofort beim ersten Läuten mit einer Stimme, die ihr verriet, daß er noch nicht geschlafen hatte. Der Klang seiner Stimme genügte, um einen Aufruhr in ihrem Inneren hervorzurufen, den sie aber sorgfältig vor ihm verbarg. »Hi, habe ich dich aufgeweckt?« »Nein, ich war noch wach.« »Ich auch.« »Ist Casey im Bett?« »Ja. Wir sind geschwommen, haben uns unterhalten und einige CDs angehört, und sie hatte Tausende von Fragen darüber, wie es morgen im Studio sein wird. Hast du mit Momma Karten gespielt?« »Ja. Sie hat mich in drei von vier Spielen geschlagen, dann hat sie mir Rhabarberkuchen zu essen gegeben und Eiscreme und hat mich dann nach Hause geschickt.« »Hast du dich besser gefühlt, nachdem du aus dem Haus gegangen bist?« »Eine Weile schon. Es ist schrecklich still im Haus.« Sie schwieg einen Augenblick und stellte sich ihn in seinem altmodischen Schlafzimmer im ersten Stock vor, dessen Fenster auf den Garten und die Gasse hinausführte. »Kenny, was du da heute gesagt hast...« Sie hatte gar nicht überlegt, was sie ihm sagen sollte, deshalb schwieg sie jetzt. »Das ist mir so herausgerutscht«, gestand er ihr. »Stimmt es denn?« »Ja.« »Bist du sicher, daß der Grund dafür nicht nur deine Einsamkeit heute abend ist?« »Ein wenig vielleicht, aber es war schon so, ehe Casey abgereist ist.« »Dann ist der Grund dafür vielleicht, daß ich anders bin als F'aith, und vielleicht auch, weil ich deiner Tochter helfe und weil ich reich und berühmt bin und sozusagen unerreichbar und...« »Natürlich ist es das!« unterbrach er sie verärgert. »All diese Dinge sind der Grund dafür! Wenn du von mir erwartest, daß ich meine Worte widerrufe, dann muß ich dich leider enttäuschen, aber ich kann natürlich die Tatsache nicht abstreiten, daß du berühmt bist und erfolgreich. Aber wenn du glaubst, daß es das ist, worin ich mich verliebt habe - in Mac, die Frau im Licht der Öffentlichkeit -, dann irrst du dich! Und übrigens, wenn du glaubst, es ist
einfach, wenn ein normaler Kerl sich in einen Multimillionär-Star verliebt, dann irrst du dich schon wieder. Es ist verdammt beängstigend, aus genau den Gründen, die du mir vorgeworfen hast. Aber ich habe ein wenig Seelenforschung bei mir selbst getrieben, ich habe meine Motive untersucht, und immer wieder zeigt alles darauf hin, daß ich eine überwältigende Leere fühle, seit wir uns in meinem Büro voneinander verabschiedet haben. Tess, es ist, als ob... Teufel, ich weiß auch nicht.« Sein Ärger war verflogen, jetzt klang seine Stimme regelrecht gequält. »Ich muß mich zwingen, am Morgen zur Arbeit zu gehen, und der Tag scheint überhaupt keinen Sinn zu haben. Jeder Tag ist gleich - keine Höhepunkte, keine Tiefen, kein Lachen, keine Erwartung. Ich vermisse dich. Und jeden Tag denke ich daran, nach Nashville zu fahren und dann an deiner Tür zu läuten. Und dann wiederum denke ich, daß es dumm wäre, denn was käme danach?« »Dann würden wir wahrscheinlich zusammen ins Bett gehen, und das würde das Problem auch nicht lösen, nicht wahr?« »Nein, aber es wäre sicher ein verdammt gutes Gefühl.« Schweigen herrschte in d er Leitung, und sie waren sich beide klar, daß sie einander ihre Wünsche offenbarten. »Ich habe dir gar nicht erzählt«, gestand Tess ihm, »daß ich mich mit dem Mann getroffen habe, mit dem ich schon ein paarmal ausgegangen bin. Burt Sheer heißt er, und ich habe versucht, ihn zu küssen, weil ich gehofft habe, daß ich dich damit aus meinen Gedanken vertreiben könnte, aber es hat nicht geklappt. Ihn zu küssen war schrecklich, verglichen mit deinen Küssen, und ich weiß auch nicht, was ich dagegen tun kann, genausowenig wie du.« Sie lag im Dunkeln und starrte an die Decke, sie fürchtete sich davor, die Worte auszusprechen, doch war es unfair, es ihm nicht zu sagen. Ihr Herz klopfte so laut, daß sie das Gefühl hatte, er müsse es hören. Doch die Worte auszusprechen bedeutete, ihr Leben in Unordnung zu bringen. »Ich... ich fühle genau wie du, als wäre mein Leben ein Akkord, in dem eine Note fehlt, die zuvor noch da war. Ich habe immer geglaubt... daß mir meine Karriere genügt, daß sie mich auf so viele verschiedene Arten befriedigt, daß ich dadurch so vielen faszinierenden und talentierten Menschen begegne, daß ich mich nicht an einen einzigen Menschen klammern müßte. Aber seit ich wieder zurück in Nashville bin... es ist...« Der Kloß in ihrem Hals war so dick, daß sie kein weiteres Wort herausbrachte. »Seit du wieder zurück in Nashville bist...«, drängte er. »Ich vermisse dich, Kenny.« »Aber du hast es immer noch nicht ausgesprochen.« Nein, das hatte sie nicht. Sie hatte eine Todesangst davor, die Worte aus ihrem Herzen zu lassen, denn wenn sie sie erst einmal ausgesprochen hatte, würden auch die unerträglichen Tagträume wieder beginnen. Und wenn nun
alles nicht so kam, wie sie es sich vorgestellt hatte? Wie war es überhaupt möglich, daß es so wurde, wie sie es sich vorstellte? »Also gut«, sagte er und seufzte. »Ich werde dich erlösen. Es hat sowieso nichts zu bedeuten, wenn du es unter Zwang sagst. Also... es ist schon spät. Wir sagen jetzt besser gute Nacht.« Tess legte eine Hand über die Augen, sie fühlte, wie die Trä nen kamen, und sie haßte sich dafür, daß sie die Worte zurückgehalten hatte. Sobald er erst einmal den Hörer aufgelegt hatte, würde alles noch viel schlimmer werden, wahrscheinlich würde sie in ihr Kissen schluchzen, und dabei war ihr Leben bisher doch genauso verlaufen, wie sie es gewollt hatte. So hatte sie es sich erträumt, als sie noch in der High-School war! Mac! Der Superstar! Die Millionärin mit vollkommener Kontrolle ihrer Karriere und ihrer Zukunft! Mac, die sich nicht von einem Ehemann ablenken lassen wollte und auch nicht von einer Heirat oder einer Familie oder von all den Belastungen, die damit zusammenhingen. »Kenny, ich möchte dir nicht weh tun.« »Es ist in Ordnung, das habe ich doch gesagt.« »Aber ich fühle mich so entsetzlich.« »Hey, du weinst doch nicht etwa? Doch, du weinst wirklich, nicht wahr?« Sie hörte das traurige Lächeln in seiner Stimme. »Na ja, das ist wenigstens etwas.« »Kenny...« Ihre Stimme klang flehend, doch wußte sie nicht, worum sie flehte, was also sollte er ihr antworten? »Du hattest schon recht. Es ist Zeit, daß wir gute Nacht sagen.« »Gute Nacht, Tess«, sagte er. »Ich liebe dich.« Dann klickte es in der Leitung, und Tess rollte sich herum und tat genau das, was sie befürchtet hatte. Mac... Superstar... Millionärin... mit ihrem so geschätzten Leben, das vor ihr lag, schluchzte in ihre Kissen.
18. Kapitel Es war Viertel vor zwei am nächsten Nachmittag, als sie bei Sixteenth Avenue Sound ankamen, einem umgebauten Bungalow, nicht weit von der Music Row entfernt. Tess führte Casey durch den kleinen Empfangsbereich in ein Zimmer mit Sofas, Tischen und Stühlen, aber ohne Fenster. Ein Pepsi-Automat warf ein rotes Licht über den Raum, der als Kantine diente, und die Kaffeemaschine roch nach verbranntem Kaffee. Countrymusik ertönte leise aus nicht sichtbaren Lautsprechern. Ein riesiger Mann mit einer beginnenden Glatze, einem wallenden grauen Bart und einem grauen Pferdeschwanz saß auf einem der Sofas, zog eine elektrische Baßgitarre aus der Hülle und pfiff leise zu der Musik aus dem Lautsprecher. »Hey, Leland! Wie geht es dir?« begrüßte Tess ihn. »Du mußt unbedingt
dieses hübsche junge Mädchen kennenlernen, das heute zusammen mit mir singen wird.« Ihr berühmter Südstaatenakzent zauberte ein Lächeln auf Lelands Gesicht. »Das ist Casey Kronek. Leland Smith.« Während die beiden einander die Hände schüttelten, kam ein rothaariger Mann von etwa dreißig Jahren aus der Toilette. Sein Haar war genauso geschnitten wie das von Johnny Carson, und er trug Jeans und ein Polohemd. Er war der Keyborder, Dan Fontaineau, und auch er begrüßte Casey. »Komm«, meinte Tess. »Ich stelle dich Jack vor.« Jack Greaves war schon im Kontrollraum am Mischpult, einem viereinhalb mal anderthalb Meter großen, mit Elektronik gespickten Brett mit so vielen Knöpfen, Schiebern und flackernden orangefarbenen Lichtern, daß es wie das Kontrollzentrum eines Space Shuttle aussah. Neben ihm stand der Toningenieur und entschied gerade, welche der sechsundfünfzig Spuren er benutzen wollte, während sein Assistent daneben saß und die Bandmaschine vorbereitete. Durch ein riesiges Fenster konnte man in das Aufnahmestudio sehen, ein grauer Würfel mit gedämpftem Licht, in dem einige Studiomusiker sich gerade aufwärmten, ihre Instrumente stimmten und einige Noten spielten, die man über die Lautsprecher an den Wänden, zusammen mit ihren Stimmen, hören konnte. Einige der Männer entdeckten Tess und winkten ihr durch das Fenster zu. »Hey, Mac.« Sie beugte sich vor, drückte auf einen Knopf des Mischpultes und sagte: »Hey, Jungs.« Jack, ein schlanker, mittelgroßer Mann mit sorgfältig geschnittenem, braunem Haar, einem Bart und einem Schnurrbart wandte sich in seinem Drehstuhl zu ihr um. Auch wenn er lächelte und Tess einen Kuß auf die Wange gab, als er sie begrüßte und sie ihm dann Casey vorstellte, war es deutlich, daß er an die Arbeit dachte und keine Zeit verschwenden wollte. Als Plattenproduzent kontrollierte er die Aufnahme, die Tess ziemlich viel Geld kostete. Er selbst verdiente etwa dreißigtausend Dollar für jede Aufnahme plus Tantiemen; die Miete für das Studio kostete zweitausend Dollar am Tag; der Toningenieur bekam achtzig Dollar die Stunde, sein Assistent fünfundzwanzig; die Studiomusiker - alles ausgesuchte Spitzenleute - verlangten jeder über fünfhundert Dollar für eine dreistündige Aufnahme. Und da sie an diesem Tag sechs Stunden arbeiten würden, kostete diese Aufnahme, noch ehe sie zusammengeschnitten und gemischt war, über zehntausend Dollar. Jack Greaves war schon lange genug im Geschäft, um zu wis sen, daß jede Minute Geld kostete. Er verschwendete deshalb keine Zeit und fragte Casey: »Haben Sie schon Ihre AFTRA-Karte unterschrieben?« Casey sah ihn verwirrt an. »Wie bitte?« fragte sie. »Gewerkschaftssachen«, erklärte Tess. »American Federation of Television
and Radio Artists; sie bestehen darauf, daß alle Sänger erfaßt werden.« Sie wandte sich an Jack. »Sie braucht sie nicht, weil heute ihr erster Tag hier ist. Sie hat eine Aufnahme frei, dann hat sie noch dreißig Tage Zeit, um Mit glied zu werden. Mach dir keine Sorgen«, sagte sie zu Casey. »Meine Sekretärin wird dir später helfen, Verbindung mit der Gewerkschaft aufzunehmen.« Jack kam sofort zum Geschäft. »Möchtest du eine Box oder zwei, Tess?« »Eine, denke ich. Für Casey wird es beim erstenmal einfacher sein.« »Hast du verstanden, Carlos?« fragte er den Toningenieur, während Leland ins Studio ging und begann, seine Baßgitarre zu stimmen. Tess beugte sich zu Casey und flüsterte ihr zu: »Laß dich von Jack nicht aus der Ruhe bringen. Wenn er hier im Studio ist, denkt er nur noch an eines. Komm, wir setzen uns und sehen uns unsere Noten einmal an.« Eine Reihe hochlehniger Sessel standen hinter einem Tisch, und von dort aus hatte man einen guten Blick auf das Mischpult und das Fenster. Sie setzten sich, und Casey flüsterte: »Was ist eine Box?« »Die Zelle für die Aufnahme - siehst du?« Tess deutete durch das Fenster auf zwei Türen, die auf der linken Seite des Studios in zwei winzige Zimmerchen mit schwarzen Wänden führten. »Diese isolierten Zellen dienen dazu, die einzelnen Tonspuren der Aufnahme nicht ineinanderfließen zu lassen. Wir können eine oder zwei der Boxen benutzen, aber bis wir aufeinander eingespielt sind, denke ich, daß es besser ist, wenn wir nur eine benutzen. Weißt du, manchmal kann man sich besser aufeinander einstellen, wenn man engen Kontakt zueinander hat.« Jack ließ die Gegensprechanlage eingeschaltet, also konnten sie die Unterhaltungen mithören, während sie zwischen den beiden Räumen hin und her gingen. Die Musiker stimmten ihre Instrumente, ab und zu spielten sie ein kleines Stück, um sich aufzuwärmen und sich aufeinander abzustimmen und den Rhythmus aufzunehmen. Etwa sechzehn bis zwanzig Takte spielten sie zusammen, dann brachen sie wieder ab und lachten. Die Unterhaltungen wurden in einer Sprache geführt, die nur Musiker verstanden - es waren kurze, lebhafte Sätze, die für jemanden, der nichts mit Musik zu tun hatte, keinen Sinn ergaben. Jemand fragte zum Beispiel: »Hörst du dieses Schweinekotelett, das in Lees Bass brutzelt?« »Da haben wir eine Brummfliege.« »Versuche es auf einer anderen Spur.« »Okay, ich stelle dich auf sechzehn, Lee.« Und nachdem Leland einen Akkord gespielt hatte: »Teufel, es ist noch immer da.« »Versuche es mit einer anderen Saite.« Der Assistent des Toningenieurs verließ den Raum und erschien dann auf der anderen Seite des Fensters, um die Saite der Gitarre auszutauschen.
Leland spielte noch einmal. »Jetzt ist es besser«, erklärte der Toningenieur. Der Drummer steckte seine Kopfhörer in den Stecker, strich mit den Stöcken über die Sangsaiten, schlug auf die Zymbeln und versuchte ein paar Schläge auf dem Baß. Zwei der Gitarristen stimmten geräuschlos ihre Gitarren mit einem elektronischen Stimmer. Der Klavierspieler, der hinter einem schwarzen Flügel saß, schlug einige schnelle Takte eines Gershwin-Liedes an, das dann in einen Boogie-Woogie überging, dann spielte er eine schnelle Folge von Noten, bei denen seine Finger nur so über die Tasten flogen. Ein anderer Mann, der vor einem elektronischen Keybord saß, ließ die Töne wie Glocken klingen. Le land war noch immer mit seiner Baßgitarre beschäftigt. »Die Feuchtigkeit hat heute meine Axt geschärft. Ich kriege es nicht weg«, beklagte er sich. Ein Saxophonist hatte seinen Notenständer im Zwischenraum zwischen den beiden Kabinen aufgebaut, und durch die offene Tür vereinten sich die Noten seines Blues klagend mit all den anderen Geräuschen. »Hat jemand die Charts gemacht?« fragte Jack. »Ja, ich«, rief der Klavierspieler. »Ich habe sie hier.« »Was meint ihr, sollen wir sie uns ansehen und dann einmal hören, wie es klingt?« Casey lauschte aufmerksam, und ihre ersten Erfahrungen in einem Aufnahmestudio faszinierten sie. Noch immer war sie darüber verwundert, daß sie jetzt dazugehören sollte. Sie starrte den Leadgitarristen an, dann flüsterte sie Tess zu: »Du liebe Güte, das ist ja AI Murphy! Ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Und Terry Solum ist am Keybord! Er hat doch mit John Denver gespielt!« »Diese Männer sind schon eine ganze Weile im Geschäft. Du wirst ihre Arbeit lieben, wenn du sie erst einmal hörst. Die Musiker, die mit auf Tournee gehen, kopieren hauptsächlich - sie schaffen es, genau die Musik zu spielen, die auf der Platte zu hören ist. Aber diese Kerle hier - die Studiomusiker - sind es, die der Platte ihre Originalität geben. Und wir verpflichten nur die besten von ihnen. Jeder dieser Männer hier ist ein Spitzenmusiker, und sie gehören alle zu den Doppelgrößen. Warte, bis du sie erst einmal hörst.« » Doppelgrößen?« »Sie verdienen das Doppelte der normalen Musiker und auch das Doppelte von dem, was die Gewerkschaft verlangt.« Alle Musiker kamen jetzt aus dem Studio und drängten sich in den kleineren Kontrollraum. Casey strahlte, als sie ihnen vorgestellt wurde. Der Pianist verteilte Kopien der Charts - ein Nummernsystem, das in Nashville entwickelt worden war und mit dem Töne aufgeschrieben wurden, eine
Eselsbrücke für Musiker, die manchmal keine Noten lesen konnten. Das Nummernsystem war in den fünfziger Jahren von einem Mitglied der Jordanaires erfunden worden und erlaubte es den Musikern, zu improvisieren, ohne daß gleich die ganzen Charts umgeschrieben werden mu ßten. Casey sah sich die Reihen der Einser, Vie rer, Cs und Vs an, und Tess deutete darauf und erklärte ihr, was sie zu bedeuten hatten. Der Assistent des Toningenieurs ließ das Demoband laufen, und noch ehe der halbe Song zu Ende war, hatte Casey das System verstanden. Die Tonarten hatten Namen. Zahlen zeigten an, wieviel Zeilen in dieser Tonart gespielt wurden. V bedeutete »Vers«, C stand für »Chor« und B bezeichnete »Brücke«. Es war, als betrachte man den Bauplan für ein Haus, ehe die Wände eingesetzt wurden: Die Struktur des Songs wartete nur darauf, daß die Musiker ihre Arbeit taten, mit all den Improvisationen, die ihnen dazu einfie len. Das Demoband endete, und einige der Musiker drückten ihre Zustimmung aus. »Hey, hübscher Song. Ihr beide habt ihn zu sammen geschrieben? Ihr solltet öfter zusammenarbeiten. Dieser Song wird ein Erfolg. Laß ihn uns noch einmal anhören.« »In welcher Tonart werden wir ihn aufnehmen, Tess?« »In F«, antwortete sie. Alle schrieben F über ihre Charts, nahmen sie dann mit zurück ins Studio, wo sie sich das Demoband noch ein paarmal anhörten, während sie mit ihren Instrumenten experimentierten. Dabei achteten sie zuerst nicht aufeinander und suchten ihre eigene Musik zu dem Song, doch schon bald gingen sie aufeinander ein, unterhielten sich über die endgültige Form, über die Einleitung und den Verlauf des Songs. Reden und spielen. Spielen und reden. Es klang wie ein großes Durcheinander. Währenddessen beugten sich Tess und Casey über ein Blatt mit den Worten des Songs, und in die Zwischenräume schrieben sie, wer welche Zeile singen sollte. Manchmal klang aus dem Studio ein Teil des Songs in einer ganz neuen Form, er entwickelte sich, während die Musiker langsam ihren individuellen Zugang zu der Musik fanden. »Komm«, meinte Tess. »Wir gehen rein.« Sie führte Casey durch das Studio in eine der Aufnahmeboxen, die schwarze Wände hatte und schalldicht verkleidet war. Zwei Notenständer mit Lichtern darüber standen darin, und zwei Mikrofone auf Ständern. Über jedem Notenständer hing ein Kopfhörer von der Decke. »Wir machen einen Soundcheck«, sagte der Toningenieur, und die beiden Frauen setzten die Kopfhörer auf. Es dauerte einen Augenblick, ehe der Toningenieur die richtige Lautstärke eingestellt hatte, dann sangen sie beide den Text einmal durch, stimmten sich aufeinander ab und machten auf ihren Textblättern Notizen.
Nach einigen Minuten übernahm Jack Greaves die Kontrolle. »Okay, hört alle zu«, meldete er sich über die Lautsprecher. »Wir werden jetzt den Song einmal zusammen durchspielen und feststellen, wie es sich anhört.« Tess sah, wie nervös Casey war. »Entspann dich und singe einfach so wie damals bei Momma zu Hause«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen. »Wir werden das Lied noch viele Male singen, ehe wir mit der Aufnahme beginnen.« Der Drummer gab den allgemeinen Rhythmus vor, dann begann das Vorspiel. Tess sah, wie Caseys Gesicht aufleuchtete, als sie in ihrem Kopfhörer die Instrumente hörte, die jetzt zusammenspielten. Toll, formte ihr Mund das Wort, ohne es laut auszusprechen, und Tess lächelte und begann zu singen. Ganz plötzlich unterbrach Jacks Stimme die Musik im Kopfhörer. »Oh-oh, was ist los? Wir haben Stimmen auf der Spur des Saxophons. Wie kann das passieren?« Die Musiker hörten auf zu spielen, und der Toningenieur schlug vor. »Wir versuchen, den direkten Sound aus der neunzehn herauszufiltern.« Es gab einigen Aufruhr um das Mischpult herum, und dann war das Problem gelöst. »Okay, noch einmal von vorn«, sagte Jack, und sie begannen noch einmal. Tess fiel in die Musik ein, und als dann Casey auch zu siegen begann, klang es über die Kopfhörer großartig. Ihre beiden Stimmen vereinten sich wie glatte Schokolade und rauhe Erdnuß, und zusammen klangen sie süß in den Ohren, und Tess wußte, daß sie und Casey noch viele, viele Songs zusammen aufnehmen würden. Als sie Caseys Gesicht beobachtete, die zum erstenmal mit diesen außergewöhnlich talentierten Musikern sang, mußte Tess lächeln. Der Song, den sie zusammen geschrieben hatten, erwachte zum Leben, und es war unglaublich, so etwas mitzuerleben. Tess erinnerte sich an das erste Mal, und in Caseys Gesicht erkannte sie ihre eigene Aufregung wieder, d ie sie vor so vielen Jahren gefühlt hatte, als sie als Anfängerin zum ersten Mal ein Aufnahmestudio betreten hatte. Das Mädchen war wirklich gut. Sie hatte ein natürliches Gespür dafür, welche Worte sie singen und wann sie sich zurückhalten mußte. In Nashville gab es eine schlaue, oft zitierte Antwort, wenn jemand danach fragte, ob ein Musiker Noten lesen konnte. Nicht genug, um einen Song zu ruinieren. Und genauso war es bei Casey. Tess hatte es in Wintergreen festgestellt, und ihre Einschätzung wurde jetzt bestätigt. Sie beendeten den ersten Probedurchgang, und Casey war begeistert. »Toll! Das ist wirklich unglaublich, Mac! Wann bin ich eigentlich gestorben? Denn wenn das nicht der Himmel ist, dann weiß ich nicht, was es sonst sein könnte!«
»Es wird noch besser.« »Besser? Du machst wohl Spaß! Es kann gar nicht mehr besser werden!« Tess lachte leise, dann sagte sie: »Nein, ich meine die Musik. Wir müssen noch einige kleinere Unstimmigkeiten ausbessern. Ich dachte, hier, wo wir in die Brücke übergehen...« Sie besprachen die Musik, genau wie die Musiker es auch taten. Über den Lautsprecher kam Jacks Stimme. »Das klang sehr gut, meine Damen. Was würdet ihr davon halten, wenn ihr die letzte Note der zweiten Strophe noch für ein paar Takte in Micks Solo hinein halten und sie dann langsam ausklingen lassen würdet?« Und so machten sie es. Jack diskutierte mit jedem, und alle dis kutierten mit ihm und untereinander, sie probten die verschiedensten Stellen des Songs, experimentierten mit dem Rhythmus und der Technik. Die hochgradigen Talente im Studio machten die Arbeit schöpferisch und lebhaft, während der Song langsam Form annahm. Das leere Band für die Aufnahme kostete allein schon dreitausend Dollar, und Jack wollte es nicht verschwenden, indem er den Song aufnahm, wenn er noch nicht vollkommen ausgefeilt war. Doch nachdem sie etwa zehn Minuten lang experimentiert und noch einen zweiten Probedurchlauf gemacht hatten, der schon viel besser klang als der erste, sagte er: »Okay, sollen wir denn jetzt mit der Aufnahme beginnen?« Dan Fontaineau meldete sich. »Teufel, ja, immerhin sind wir Profis. Wir schaffen das schon.« »Okay, Tess, Casey...?« »Wir sind bereit.« Dan gab den Einsatz, und der zweite Ingenieur ließ das Band laufen. Der Toningenieur bediente das Mischpult, und Jack konzentrierte sich auf die Musik. Einen Finger hatte er an den Mund gelegt, und seine Stirn war gerunzelt - so sah er immer aus, wenn er sich konzentrierte. Die Musik klang sehr gut, doch leider fiel Dan in der Hälfte des Songs der Kopfhörer aus dem Ohr, und er hörte auf zu spielen. Die Musik wurde undeutlich und erstarb dann. Natürlich machten ihm die anderen - die viel Sinn für Humor hatten die Hölle heiß. »Hey, großartig, Dan!« »Ja, ja, wir Profimusiker«, ahmte ihn jemand nach. »Wir schaffen das schon.« »Du solltest dir den Ohrhörer so fest in dein Ohr stecken, daß er drinbleibt.« »Hat jemand vielleicht Klebstoff?« Alle lachten, doch Jack rief sie sehr schnell wieder zur Ordnung. »Wir behalten das, was wir aufgenommen haben, und fangen noch mal von vorne
an. Du fängst an, Dan, wenn du fertig bist.« Diesmal beendeten sie den Song, alles war aufgenommen, und danach drängten sich alle in den Kontrollraum, um sich die Aufnahme anzuhören. Tess und Casey saßen auf den Lederhockern und stützten die Ellbogen auf den Tisch. Die Männer versammelten sich um das Mischpult, und während sie zuhörten, zupften einige von ihnen an ihren Gitarren, andere starrten auf den Boden, wieder andere sangen lautlos die Worte mit. Alle im Raum bewegten entweder das Knie, einen Fuß, den Kopf oder eine Hand zum Takt der Musik. Das Band endete, und alle begannen gleichzeitig zu reden. »Es ist ein ordentlicher Song.« »Wir haben eine frische Ballade, die zu Herzen geht.« »Ein guter Song für den Beginn deiner Karriere, Casey.« Doch obwohl ihnen gefiel, was sie aufgenommen hatten, so war es doch noch ein weiter Weg bis zu dem fertigen Song. Sie tauschten erst mal ihre Meinungen aus. »Findest du, das Solo war zu sehr Las Vegas... Im vierten Takt der Einleitung spielt das Saxo phon viel zu schnell... ich frage mich, ob wir nicht sowieso das Tempo ein wenig zurücknehmen sollten.« So arbeiteten sie die nächsten zweieinhalb Stunden und liefen zwischen dem Studio und dem Kontrollraum hin und her. Wieder wurde aufgenommen, wieder hörten sie sich das Ergebnis an - Aufnahme, Anhören, Aufnahme, Anhören. Schließlich schien eine Aufnahme bei allen Beteiligten einen ganz besonderen Funken zu entfachen. Sie hatten es geschafft: Alle fühlten es, und die veränderte Atmosphäre war greifbar, als das Band endete. »Diese Aufnahme hat das gewisse Etwas.« ; »Wir haben es endlich geschafft.« Dies war die beste Aufnahme gewesen, und alle fühlten die nachlassende Spannung, und ein Gefühl der Zufriedenheit ergriff sie. »Zeit, etwas zu essen«, sagte Greaves. »Um sieben Uhr machen wir weiter.« Während sie gearbeitet hatten, war eine Cateringfirma gekommen und hatte auf einem Tisch in der Eingangshalle ein Büfett aufgebaut. Bevor alle hinausgingen, fragte Mick Mulhall Jack: »Kann ich mir noch ein mal die Zeile vornehmen, wo Tess singt: >Sag ade, Tränen tun weh
Spaß gehabt!« Die anderen erinnerten sich nur zu gut daran, wie es beim ersten Mal gewesen war, wie sie sich zum erstenmal auf einer fertigen Platte gehört hatten, und sie hörten ihr gutgelaunt zu. »Hey, Mac, du wirst sie wohl festbinden müssen, denn sonst fliegt sie gleich los, so high ist sie.« Tess lächelte. »Du solltest jetzt etwas essen, Casey. Es liegen nämlich noch drei Stunden Arbeit vor uns, ehe wir fertig sind.« Mick hatte sein Spiel beendet, und zusammen mit Jack kam er in die Eingangshalle. Jack war so angespannt, daß er keine Zeit hatte, etwas zu essen. »Wir haben noch einige kleinere Pro bleme mit dem Gesang. Möchtest du morgen noch mal kommen, um eine neue Aufnahme zu machen für alle Fälle?« »Sicher, wenn du meinst, es ist nötig. Und was ist mit Casey?« »Casey auch. Ich denke, wir werden einen reineren Klang bekommen, wenn wir beide Boxen benutzen. Bist du einverstanden, Casey?« Die Augen des Mädchens waren vor Erregung weit aufgeris sen, da sie kaum glauben konnte, daß man sie bat, noch ein mal wiederzukommen. »Ja, sicher... Teufel, ja!« »Wir werden kommen«, sagte Tess. Sie saßen zusammen, aßen gegrillte Shrimps, Reispilaf, Salat, Weintrauben und Wassermelone, und all das wurde auf herkömmliche Weise serviert, schließlich war es ein normaler Arbeitstag und keine Party. Es war wichtig, zum Essen im Studio zu bleiben, um die Stimmung aufrechtzuerhalten. Wenn sie das Studio verlassen hätten, um auswärts zu essen, so hätte das ihre Energie gestört, und das wußten alle. Und wenn so etwas passierte, dann war es hinterher auf der Aufnahme zu hören. Jack aß kaum etwas. Er blieb im Kontrollraum und arbeitete mit dem ersten und dem zweiten Toningenieur an den Aufnahmen, die sie bereits gemacht hatten. Sie hörten sich alles ganz genau an, um festzustellen, ob irgendwo etwas geändert werden mußte. Tess ließ Casey bei den Musikern zurück und ging in den Kontrollraum, um mit Jack zu reden. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Jack?« »Sicher.« Er wandte sich vom Mischpult ab, zog mit dem Fuß einen Stuhl für sie heran und bedeutete ihr, sich zu setzen. Der Toningenieur und sein Assistent gingen hinaus, um etwas zu essen, und ließen die beiden allein zurück. »Ich möchte deine Meinung hören, Jack«, begann Tess, als sie beide allein waren. Er merkte an der Art, wie sie sprach, daß sie ihn bat, ihr bei einer
wichtigen Entscheidung behilflich zu sein. »Dafür werde ich bezahlt.« »Es geht nicht um die Platte, es geht um die Konzerttournee. Carlas Problem mit der Stimme wird noch länger dauern. Ich möchte Casey bitten, mit auf die Tournee zu kommen und im Hintergrundchor mitzusingen.« Er überlegte einen Augenblick. »Sie ist noch sehr jung«, wandte er dann ein. »Aber sie hat Talent. Und sie kennt alle meine Songs. Jack, wir haben gestern bei mir zu Hause meine alten Platten gespielt, und sie konnte bei jeder einzelnen die Hintergrundmusik mitsingen. Jede einzelne Note - genau wie auf den Platten! Ich weiß, daß sie noch keine Erfahrung hat, aber wir haben nicht mehr viel Zeit für die Proben, und manchmal ist es doch so, daß diejenigen, die hungrig sind auf eine Chance, bereit sind, härter zu arbeiten als diejenigen, die genug Erfahrung haben. Außerdem mag ich sie sehr, und wir beide kommen wunderbar mit einander aus. Was meinst du?« »Solltest du nicht besser mit Ralph darüber reden?« Als ihr Produzent für die Roadshow würde Ralph Thornleaf das letzte Wort haben. »Das werde ich, aber ich möchte vorher deine Meinung hören. Gestern abend ist mir der Gedanke gekommen, und ich hatte noch nicht die Möglichkeit, mit ihm darüber zu sprechen. Also, was meinst du?« »Du weißt genau, was ich dazu zu sagen habe, Tess. Ich vertraue deinem Instinkt. Wenn ich das nicht tun würde, dann würde ich dich nicht als Coproduzent deiner Platten arbeiten lassen. Mir gefällt die Stimme des Mädchens.« »Wie würde sie sich mit der Stimme von Diane vertragen?« Diane Abbington war eine der beiden anderen Sängerinnen, die zusammen mit Tess auf der Bühne standen. »Ihre Stimme ist der von Diane sehr ähnlich. Ich glaube, sie würden gut zueinander passen.« »Und Estelle?« Estelle Paglio war die andere Sängerin. »Estelle kann sich jeder Stimme anpassen. Ich könnte versuchen, die beiden morgen hierher zu bestellen, wenn du zu sammen mit Casey kommst, dann können wir ja irgendeinen Vorwand finden, die drei zusammen singen zu lassen. Dann weißt du wenigstens Bescheid. Wenn du möchtest, könnte ich die drei für ein wenig Hintergrundgesang für >Old Souls< einsetzen. Ich habe schon eine ganze Weile darüber nachgedacht, wir könnten vielleicht an einigen Stellen eine dreistimmige Harmonie einsetzen und so dem Song einen etwas tieferen Klang geben. Was meinst du?« »Ich finde, das ist eine gute Idee. Und da wir gerade dabei sind - ich werde dafür sorgen, daß Ralph zufällig vorbeikommt, dann können wir uns anhören, wie es klingt, wenn wir alle vier zusammen singen. Es wäre eine
gute Gelegenheit für ihn, Casey kennenzulernen.« Tess ging zurück in die Eingangshalle. Der Saxophonspieler ging nach Hause, ein Geiger kam, um beim nächsten Song mit zuspielen. Alle gingen zurück ins Studio zur nächsten Aufnahme. »Don't Leave Me High« war der letzte Song, der Reservesong für das neue Album. Diese Aufnahme verlief nach dem gleichen Schema wie die vorige - Charts, Demo, Arbeit an den einzelnen Teilen des Songs, Aufnahme der verschiedenen Spuren, bis dann endlich um neun Uhr letzte Hand angelegt wurde und Jack erklärte, daß die Aufnahme beendet ist. Auf der Fahrt nach Hause meinte Casey: »Soviel Spaß habe ich noch nie zuvor in meinem Leben gehabt.« Das Adrenalin pulsierte noch immer durch ihren Körper, das merkte Tess. Casey bog den Kopf zurück und streckte sich auf ihrem Sitz aus. »So etwas möchte ich tun, bis ich neunzig Jahre alt bin.« Tess lachte. »Wenn du so lange arbeiten willst, brauchst du wohl einige Ersatzteile in deinem Körper. Zum Beispiel einen neuen Kehlkopf und eine neue Lunge.« »Im Augenblick fühle ich mich unsterblich! Ich könnte die ganze Nacht so weitermachen! Tess, ich liebe dich!« »Nun, das ist gut. Ich liebe dich auch.« »Wie kann ich dir das jemals wiedergutmachen?« »Die Wahrheit ist, bei mir wirst du es nicht gutmachen. Irgendwann einmal, wenn du vierzig bist und ein Superstar, dann wirst du einem anderen Anfänger die Möglichkeit zum Start einer eigenen Karriere geben und so die Tradition weitergeben. Auf diese Art zahlen wir alle unsere Schuld ab.« »Daran werde ich mich erinnern, wenn es soweit ist, das verspreche ich dir.« Als sie zu Hause angekommen waren, rief Casey sofort ihren Vater an. Sie benutzte das Telefon in der Küche, während Tess sich die Post ansah, die Maria auf die Anrichte gelegt hatte. »Himmel, Dad, es war großartig! Weißt du, als ich die Musik über die Kopfhörer gehört habe, das war, als ob - Donnerwetter -, weißt du, diese unwahrscheinliche Hochstimmung? Und wir haben den Song immer wieder neu aufgenommen, und alle waren schrecklich nett zu mir. Dad, die Studiomusiker sind die gleichen, die auch mit Ricky Nelson und Graham Nash zusammengespielt haben, all die großen Namen, die du dir nur denken kannst! Die besten Talente in der ganzen Stadt, und sie haben mich behandelt, als wäre ich...« Casey redete weiter und weiter, während Tess von der Küche in ihr Büro ging und wie der zurück. Nach ungefähr zehn Minuten hörte sie Casey rufen: »Hey, Tess, Dad möchte mit dir sprechen!« Tess saß gerade in ihrem Büro und nahm dort den Hörer ab.
»Hi.« Sie grinste. »Wie geht es deinem Ohr?« Er lachte. »Sie ist wirklich schrecklich aufgeregt.« »Hey, ich wünschte, du hättest dabeisein können. Sie hat ihre Arbeit großartig gemacht. Unsere Stimmen klingen wirklich gut zusammen.« »Ich weiß. Sie hat es mir erzählt, wieder und wieder.« Jetzt mu ßte auch Tess lachen. Im Wohnzimmer ließ Casey eine CD laufen, und der Klang von Tess' Stimme war im ganzen Haus zu hören. »Augenblick...« Sie drehte sich mit ihrem Stuhl und stellte die Lautstärke am Lautsprecher in der Wand leiser. »So, das ist besser. Deine Tochter liebt die Musik laut, und sie scheint sich hier schon wie zu Hause zu fühlen.« »Hey, wenn sie zu...« »Nein, mach dir keine Sorgen«, unterbrach Tess ihn. »Casey und ich kommen sehr gut miteinander aus.« »Also, noch einmal danke für den heutigen Tag und für alles, was du für sie tust.« »Kenny«, sagte sie und beugte sich in ihrem Stuhl vor. Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf den Schreibtisch. »Ich habe vor, morgen etwas auszuprobieren. Wir müssen morgen noch einmal ins Studio, um noch eine Gesangsspur aufzunehmen, und dann werde ich Casey zusammen mit meinen beiden anderen Mädchen singen lassen, die mit mir auf der Bühne stehen. Es gibt da noch ein drittes Mädchen, Carla, aber die hat Pro bleme mit ihrer Stimme, und es könnte bis zu zwei Jahre dauern, bis diese Probleme behoben sind. Um es kurz zu sagen, wenn Caseys Stimme zu den beiden anderen so gut paßt, wie ich es glaube, dann möchte ich sie bitten, mit mir auf Konzert tournee zu gehen, die Ende Juni beginnt.« Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Schließlich fragte Tess: »Hast du etwas dagegen, Kenny?« »Meinst du nicht, daß das alles ein wenig schnell geht?« »Ja«, gestand Tess ehrlich und wartete auf seine Antwort. »Das macht mir angst, Tess.« »Das kann ich mir gut vorstellen.« »Es ist zuviel in zu kurzer Zeit.« »Sie kennt jedes Wort von all den Songs, die ich je aufgenommen habe, und nicht nur das, sie kennt auch bis in alle Ein zelheiten die Noten der Hintergrundsängerinnen. Die Wahrheit ist, sie würde mir einen Gefallen tun, wenn sie mitsingen würde, denn dann brauchte ich mir nicht die Mühe zu machen, aus vielen Bewerberinnen ein anderes Mädchen auszusuchen und sie auszubilden und wir könnten in einer oder zwei Wochen alle Proben hinter uns bringen.« Wieder schwieg Kenny, und diesmal unterbrach Tess das Schweigen nicht.
Nach einer langen Zeit hörte sie, wie er am anderen Ende der Leitung tief durchatmete... doch noch immer sagte er nichts. »Wir beginnen unsere Tournee im Arrowhead Pond in Anaheim am achtundzwanzigsten Juni. Das erste Konzert ist bereits ausverkauft, deshalb haben wir zugestimmt, am neunundzwanzigsten ein zweites Konzert zu geben. Kannst du dir vorstellen, daß deine Tochter in einem Saal singt, wo achtzehntausend Zuschauer die Ränge füllen? Ich habe da ein Bild vor meinen Augen, Kenny, und das sieht so aus: Du sitzt in der ersten Reihe in Arrowhead bei Caseys erstem öffentlichen Auftritt, und danach kommst du hinter die Bühne, u m ihr zu gratulieren, und du trinkst Champagner mit uns. Was hältst du davon?« Wieder atmete er tief auf, dann lachte er ein wenig unsicher. »Du hast mich ein wenig überrascht mit deiner Ankündigung.« »Denk einmal darüber nach. Ich werde dir Karten für die Prominentenloge schicken. Vielleicht kannst du ja Momma mitbringen. Sie läßt sich sicher überreden, mitzukommen, wenn sie mit dir und Faith reisen kann.« »Faith auch? Du möchtest, daß Faith mitkommt?« »Nun ja... nein, eigentlich nicht, aber wie könnte ich dir eine Karte schicken und ihr nicht?« »Tess, hör mal, es ist... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Außerdem hast du ja noch gar nicht gehört, wie Caseys Stimme klingt, wenn sie mit den anderen zusammen singt.« »Nein, aber ich habe ein Ohr dafür. Ich glaube, ich weiß schon jetzt, wie es sein wird. Gib mir deine Zustimmung, Kenny, damit ich sie fragen kann, ob sie einverstanden ist. Mir wäre das sehr wichtig.« »Also gut, ich sage ja. Teufel, was tue ich da eigentlich?« Tess lächelte, denn jetzt wußte sie wenigstens, wann sie ihn wiedersehen würde! »Also gut«, meinte sie, und in ihrer Stimme war ihre Aufre gung zu hören. »Dann halte dir den achtundzwanzigsten Juni frei, und wir sehen uns dann in Anaheim!« »Tess, warte!« »Ja, was ist?« »Ruf mich morgen abend an. Sag mir, wie es gelaufen ist im Studio.« »Natürlich. Möchtest du noch einmal mit Casey sprechen?« »Nein, sag ihr, ich wünsche ihr eine gute Nacht. Und noch etwas...« »Was denn?« »Ich glaube, ich liebe dich. Gestern abend war ich mir sicher. Heute abend bin ich nicht so sicher... das kommt ganz darauf an, was mit meiner Tochter geschieht deinetwegen.«
Sie lachte. »Ich werde schon aufpassen, daß ihr nichts zu stößt«, versicherte sie ihm. »Ich liebe dieses Mädchen.« »Oh, du liebst sie und mich nicht?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Dann liebst du mich also auch?« »Das habe ich auch nicht gesagt. Gute Nacht, Kenny.« »Gute Nacht, Tess.« Sie lächelte noch immer, als sie den Hörer aufgelegt hatte. Denn eigentlich war sie sich ziemlich sicher, daß sie ihn liebte.
19. Kapitel Der zweite Tag im Aufnahmestudio verlief genauso, wie Tess es erwartet hatte. Caseys Stimme paßte so gut zu den beiden anderen, daß kein Zweifel daran bestand, daß sie der richtige Er satz für Carla sein würde. Als sie alle zusammen sangen, sprang der Funke über. Am Ausdruck der Augen von Diane und Estelle sah Tess, daß auch ihnen gefiel, was sie hörten. Als der Song zu Ende war, meinte Diane mit ehrlicher Begeisterung: »Junge, Junge, du bringst es zum Kochen, Mädchen!« Nach der Zustimmung von Jack und Ralph fragte Tess Casey gleich im Studio, ob sie mit auf die Konzerttournee kommen wollte, die Ende Juni begann. Es machte Spaß, Caseys erschrockenes Gesicht zu beobachten. »Du machst wohl Witze«, meinte sie. »Ich?« »Ja, du.« »Aber... aber warum?« »Weil du meine Songs kennst. Weil deine Stimme zu den anderen paßt. Und weil man gut mit dir auskommen kann.« Casey sank auf einen Stuhl. »Du heiliger Strohsack«, flüsterte sie vor sich hin. Und so begann der arbeitsreichste Monat in Tess' Leben. Der Juni war sowieso ein verrückter Monat in Nashville: er begann mit dem Sommerlicht-Festival — einem dreitägigen Straßenfest um das Kapitol - und mit einem Softballturnier im Greer Stadion, bei dem nur berühmte Persönlichkeiten mitspielten. Da nach wurden die Preise des Music City Awards vom Sender TNN verteilt, und dann folgte die Woche, in der die Stars den engsten Kontakt zu ihren Fans bekamen, etwas, das es sonst nirgendwo auf der Welt gab, nämlich die Fanmesse, wo vierundzwanzigtausend Fans Eintrittskarten für das Tennessee-State-Messegelände kauften, um ihre Idole aus nächster Nähe bewundern zu können. An Ständen konnten sie ihren Stars die Hand schütteln, konnten Schnappschüsse mit ihnen machen, ihnen selbstgebackenen Kuchen bringen und ihnen erzählen, daß sie ihre Kinder nach ihnen genannt hatten.
Sie konnten T-Shirts mit Abbildungen ihrer Stars kaufen, Kappen, Kaffeebecher und Platten, und all das konnten sie von ihren Stars signieren lassen, signieren, signieren und signieren! Es gab Tage während der Fanmesse, an denen Tess neun oder zehn Radiointerviews machte, zusätzlich zu der dreistündigen Anwesenheit an ihrem Stand und manchmal auch am Stand ihrer Plattenfirma. Sie gab Interviews für Zeitungen und für das Fernsehen, Autogrammstunden an den Ständen der Plattenfirma und der Musikgeschäfte, und natürlich trat sie auch auf. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ein DJ ihr das Mikro fon eines Kassettenrecorders vor das Gesicht hielt und sie bat, zu sagen: »Hallo, ihr alle! Hier spricht Tess McPhail für den Sender KMPS, Seattle!« Oder vielleicht auch für einen Sender aus Tulsa oder Albuquerque oder Sweetwater in Oklahoma. Wo auch immer die DJs herkamen, wenn sie während der Fanmesse darum baten, ihnen eine Botschaft mitzugeben für die Fans bei ihnen zu Hause, dann machte man das. Es gab Treffen mit den Leitern der Fanclubs von ganz Amerika, und für einige von ihnen gab es sogar besondere Preise. Man aß zusammen mit Diskjockeys und traf sich mit den Managern der großen Plattenläden. Es war eine anstrengende Woche, doch Casey war immer in Tess' Nähe, und dafür war Tess dankbar. Sie erledigte Aufträge, holte Tess kalte Getränke, verkaufte T-Shirts, erledigte Telefongespräche, machte Schnappschüsse mit den Kameras der Fans, die gern ein Bild zusammen mit Tess haben wollten. Doch was das Wichtigste war: sie lächelte immer und half mit ihrer grenzenlosen Energie Tess, wenn sie am Ende eines achtzehnstündigen Tages am liebsten vor Erschöpfung in Tränen ausgebrochen wäre. Für Casey war alles neu und aufregend. Jede neue Erfahrung war für sie ein Grund zur Freude, immerhin bekam sie aus erster Hand einen Einblick in die Arbeit eines Stars der Country-Musik, und sie entschied, daß es genau das war, was sie in ihrem Leben erreichen wollte. Als die Fanmesse vorüber war, begannen die Proben für die Konzerttournee. Macs Bühnenshow war ein beeindruckendes Spiel von Licht, Kostümen und Ausrüstung, und sie brauchten ein Dutzend LKW-Anhänger, um ihre ganze Ausrüstung zu transportieren, und fünfzig Leute zum Bühnenaufbau, dazu noch zwanzig Helfer aus der jeweiligen Stadt, in der das Konzert stattfand. Alle arbeiteten hart und bereiteten sich auf die Tournee vor, und auch Casey machte da keine Ausnahme. Da die Zeit knapp war und der Arbeitstag sehr lang, wohnte sie noch immer bei Tess. . Jeden Abend rief sie ihren Vater an, oder er rief sie an, und am Ende ihrer Unterhaltung bat er immer, noch mit Tess sprechen zu dürfen. Oft
unterhielten die beiden sich länger, als er mit seiner Tochter gesprochen hatte, und es schien, daß es ihnen nie an Gesprächsstoff fehlte. Er berichtete ihr von seiner Firma. Sie erzählte ihm von ihrer. Er sprach über den Kirchenchor. Sie beschrieb die Proben für die Tournee. Er paßte auf Mary auf. Sie achtete auf Casey. Er sagte, daß er sich ein neues Auto bestellt hätte. Sie erklärte, daß sie ihren Roadmanager gebeten hatte, drei Karten in der Prominentenloge für ihn, Faith und ihre Momma für das Konzert in Anaheim zu reservieren, obwohl Mary noch nicht zugestimmt hatte, mitzukommen. Dann fragte sie: »Du wirst doch kommen, nicht wahr?« Er zögerte einen bedeutungsvollen Augenblick lang, ehe er antwortete: »Ja... ich werde kommen.« Plötzlich schien sie nicht genug Luft zu bekommen, und das, was sie sagen wollte, war viel zu bedeutsam. Dennoch sprach sie es aus. »Und was ist mit Faith?« »Ich habe Faith nicht gefragt.« »Du hast sie nicht gebeten, mitzukommen?« »Nein.« »Warum?« Während der vielsagenden Pause, ehe er antwortete, fühlten beide, daß sich zwischen ihnen etwas geändert hatte. An seinem Ende der Leitung lehnte sich Kenny gegen die Anrichte in der Küche und starrte vor sich auf den Fußboden. Tess lag auf ihrem Bett und starrte auf ihren Zeigefinger, den sie in eine Schlaufe in der Telefonschnur gesteckt hatte. Beide dachten an den Abend der Hochzeit. Und als Kenny dann endlich sprach, klang seine Stimme ein wenig rauh und leiser als zuvor. »Ich glaube, du weißt, warum, Tess«, sagte er. Wieder schwiegen sie und fühlten die Intimität dessen, was unausgesprochen zwischen ihnen lag. Zum ersten Mal wußten sie nicht, was sie miteinander reden sollten. »Tess?« fragte er schließlich, als befürchte er, daß sie nicht mehr da war. »Ich bin froh«, gestand sie ihm. Dann hörte sie, wie er tief durchatmete, als hätte auch ihm der Atem gestockt. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. »Ich werde dir ein Zimmer im Beverly Wilshire bestellen, wo auch Casey und ich übernachten. Von Anaheim ist es eine Stunde Fahrt bis nach L. A., aber ich möchte dir den Rodeo Drive zeigen und Momma zum Essen zu Ivy ausführen - wenn ich sie
dazu bringen kann zu kommen -, und ich möchte dir etwas Hübsches kaufen bei Battaglia. Mein Roadmanager wird sich um alles kümmern - um einen Wagen, die Karten, um einen Passierschein, damit ihr hinter die Bühne kommen könnt, um alles. Kenny, ich bin ja so glücklich.« »Ich auch«, entgegnete er. »Und ich werde versuchen, Mary zu überreden.« »Ja, tu das. Also, es... es ist schon spät.« »Ja.« »Ich denke, wir sollten auflegen, nicht wahr?« »Ja, das sollten wir.« »Also dann... gute Nacht.« »Gute Nacht.« »Kenny, warte!« Er wartete. »Ja, ich bin noch da.« »Wegen Faith...« Sie fügte schnell hinzu: »Du mußt dir ganz sicher sein.« »Ich bin mir sicher.« »Also gut. Dann bis bald.« »Gute Nacht.« »Gute Nacht, Kenny.« Endlich legten sie beide den Hörer auf, zögernd nur wie immer. Die Tage flogen nur so dahin, und das Konzert in Anaheim rückte immer näher. Beinahe jeden Tag telefonierte Tess mit ihrer Mutter, sie versuchte, sie dazu zu bringen, mit Kenny zu dem Konzert zu kommen. »Ich werde sehen, wie es mit meiner Hüfte geht«, wich Mary ihr aus. »Es ist eine lange Flugreise.« »Momma, bitte.« »Also, Tess, ich habe es dir doch gesagt. Ich werde abwarten müssen.« Das sagte sie noch an dem Tag, an dem Tess in ihrem eigenen Hawker-Sidley-Jet nach L. A. flog. Sie nahm Casey mit, denn es achte ihr noch immer Spaß, zu sehen, wie aufgeregt und begeistert das Mädchen war, und ihr zu zeigen, wie ihre eigene Zukunft aussehen könnte, wenn sie hart arbeitete und den großen Durchbruch schaffte. An dem Abend, ehe Kenny nach L. A. flog, war er mit Faith zum Kartenspielen verabredet; es war das übliche Spiel am Dienstag abend. Die Bridgegruppe hatte sich heute bei Faith getroffen, und Kenny hatte sehr schlecht gespielt. Auch wenn Faith nicht mit ihm geschimpft hatte, so hatte sie ihn doch ein paarmal über ihre Karten hinweg mißbilligend angesehen, als sie gemerkt hatte, wie wenig er bei der Sache war. Doch sie hatte sich auf die Zunge gebissen, nichts gesagt und ihn nur bekümmert betrachtet. Um zehn Uhr hatte sie einen warmen Pfirsichkuchen serviert, und um Viertel vor elf waren alle gegangen bis auf Kenny. Er half ihr, die Küche und den
Kartentisch aufzuräumen und die Klappstühle wegzustellen. Alles wurde in dem kleinen Garderobenschrank in ihrem Flur verstaut, und als er danach in die Küche zurückkam, legte Faith gerade das gute Silberbesteck in den Besteckkasten. Er nahm die Dessertteller und räumte sie in den Schrank. »Kenny«, sagte sie und betrachtete dabei angelegentlich die Gabeln, die sie in den mit Samt ausgeschlagenen Kasten legte. »Vielleicht sollten wir uns einmal über diesen Fehler unterhalten, den du machen willst.« »Über welchen Fehler?« »Kenny, ich bin nicht von gestern. Ich weiß, warum du mich nicht gebeten hast, mit dir nach L. A. zu kommen.« Sie schloß den Besteckkasten, wandte sich zu ihm um und sah ihn an. »Tess hat mir die Karten geschickt, Faith, und es waren nur zwei Karten.« »Kenny... bitte«, sagte sie, als hätte er ihre Intelligenz beleidigt. Sie trug den Kasten ins Wohnzimmer, und Kenny wartete, bis sie zurückkam. Als sie wieder in die Küche kam, zog sie ihre Schürze aus, faltete sie und legte sie in eine Schublade. Dann blickte sie in die offene Schublade und vermied es, ihn anzusehen. »Ich glaube, ich habe es gewußt, seit sie etwa zwei Wochen wieder zu Hause war. Ich kenne dich gut genug, um genau zu wissen, wann du ihr verfallen bist. Aber, Kenny, denk doch nach...« Sie hob den Kopf und sah ihn an, eine Hand lag auf der Anrichte. »Was wird sie mit dir machen, wenn das alles vorüber ist?« Er dachte einen Augenblick nach, dann antwortete er ehrlich: »Ich weiß es nicht.« Daß er es so schnell zugegeben hatte, erschreckte Faith. Ihr Gesicht wurde ausdruckslos, und ihr Kinn hob sich ein wenig. Sie hatte erwartet, daß er leugnen würde, daß zwischen ihm und Tess etwas war. Doch als er das genaue Gegenteil tat, wußte sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Schließlich meinte sie: »Du bist bereit, alles, was wir haben, für diese hoffnungslose Affäre aufzugeben?« »Alles, was wir haben? Was haben wir denn, Faith?« »Wir haben acht Jahre der Treue!« antwortete sie, und ihre Stimme klang ein wenig bestürzt. »Wenigstens ich bin dir treu gewesen.« »Und wie oft haben wir in dieser Zeit darüber gesprochen, zu heiraten, und uns dann beide entschieden, es nicht zu tun?« »Ich dachte, dir würde unsere Beziehung so gefallen, wie sie ist.« »Wir sind einander zur Gewohnheit geworden, Faith, gib es zu.« »Na und, was ist denn daran so schlecht?« fuhr sie hoch. Er ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn, ohne etwas zu sagen. Faith trat einen Schritt näher. »Ich möchte dich nicht verlie ren, Kenny. Und genau das wird geschehen, wenn du nach L. A. fährst und mit dieser
Frau noch einmal ins Bett gehst.« Jetzt zeigte er den ersten Anflug von Verärgerung. »Eines wollen wir doch klarstellen, Faith. Ich bin nie mit ihr im Bett gewesen.« »Nein, vielleicht nicht, aber du hast es vor, nicht wahr?« Und als er ihr nicht sofort antwortete, wiederholte sie ein wenig lauter: »Nicht wahr?« »Faith, hast du dir eigentlich je überlegt, daß in den letzten acht Jahren alles auf diesen Tag hinausgelaufen ist und daß bis jetzt nur keiner von uns beiden den Mut hatte, unsere Beziehung zu beenden? Ich will nicht siebzig Jahre alt werden und mich die Hälfte meines Lebens mit dir verabredet haben. Ist dir denn nicht klar, wie lächerlich das sein würde?« Faith reckte sich ein wenig. »Nun, ich sehe, du hast nicht die Absicht, deine Meinung zu ändern.« Sie ging durch die Küche und löschte das Licht; nur eine kleine Lampe über der Spüle brannte jetzt noch. »Nein«, antwortete er. »Das werde ich nicht.« »Du wirst also hinfahren, und du... du wirst eine Affäre mit ihr beginnen.« »Ich glaube, ich liebe sie, Faith.« »Oh, mach dich doch nicht lächerlich«, erwiderte sie mit einer so geringschätzigen Stimme, wie sie noch nie mit ihm gesprochen hatte. »Du findest mich lächerlich?« »Ja, wenn du dir einbildest, sie würde sich in dich verlieben. Klingt das denn nicht wirklich lächerlich, Kenny? Eine Frau wie sie - so reich und berühmt -, wie kannst du da nicht an ihren Beweggründen zweifeln?« Faith war von Natur aus nicht grausam, doch ihre Bemerkungen trafen ihn tief. Sah sie in ihm etwa einen Mann, der für einen anderen Menschen keinen Wert hatte, besonders nicht für eine Frau wie Tess McPhail? Faith fuhr fort, ihn anzugreifen. »Und hast du dich einmal gefragt, warum sie plötzlich ein so großes Interesse an Casey hat? Vielleicht will sie Casey ja dazu benutzen, sich an dich ranzu machen. Ich finde, es sieht ganz danach aus, nicht wahr?« Sie hielt einen Augenblick lang inne. »Und wenn sie dann mit dir fertig ist, wird sie dann auch fertig sein mit Casey? Oh, Kenny, begreifst du denn nicht, wie sehr sie dem Mädchen damit weh tun könnte? Sie ist Tess McPhail noch mehr verfallen als du.« Ganz plötzlich stieg Wut in ihm auf. Er hielt sich jedoch unter Kontrolle, als er sprach. »Weißt du, Faith, wir beide sind all die Jahre zusammengewesen und haben uns kaum einmal gestrit ten... aber du gehst mir im Augenblick wirklich unheimlich auf die Nerven. Also, ehe ich jetzt etwas sage, was mir hinterher leid tut, verschwinde ich lieber von hier.« Er ging zur Tür, und über seine Schulter erklärte er: »Ich werde morgen nach L. A. fliegen, und ich werde drei Tage wegbleiben. Vielleicht solltest du in der Zeit deine Sachen aus meinem Haus holen und mir dann deinen Schlüssel auf
den Küchentisch legen.« Sie sah ihm benommen zu, wie er mit beiden Händen die Flie gentür aufstieß und sie dann hinter sich zufallen ließ. »Kenny!« rief sie und lief hinter ihm her. »Kenny, warte!« Doch auf der Treppe änderte sie ihre Meinung, blieb stehen und blickte ihm nach, und seine Gestalt wurde schon bald von den Schatten der Nacht aufgenommen. »Kenny, bitte, können wir nicht darüber reden?« rief sie ihm nach. »Geh nicht weg.« »Ich muß weg, Faith«, rief er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Kenny, das ist doch Unsinn! Wir können doch nicht einfach alles beenden, ohne darüber geredet zu haben!« »Die Nachbarn werden dich hören, Faith. Geh zurück ins Haus.« Einige Zeit später, nachdem er weggefahren war und sie ein fach stehengelassen hatte, ging sie benommen ins Haus zurück. Ihr war ein wenig schwindlig, als sie daran dachte, welche Wendung ihr Leben in den letzten Minuten genommen hatte. Sie hätte ihn nach L. A. fahren lassen sollen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Vielleicht hätte er dann seine Schwäche für TessmM cPhail überwunden, ohne überhaupt zu wissen, daß sie etwas vermutete. Sie legte einen Finger an die Lippe und sah sich in der Küche um, als suche sie nach etwas. Aber alles war ordentlich und aufgeräumt, alles stand an seinem Platz. »Oh, Kenny«, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück, bis sie gegen die Anrichte stieß. »Sie wird dir sehr weh tun.« Aber was sie wirklich sagen wollte, war, mir wird es sehr weh tun.
20. Kapitel Das Konzert in Anaheim sollte um acht Uhr am n ächsten Abend beginnen. Um sieben Uhr sah es hinter der Bühne des Arrowhead aus wie bei der NASA - für ein ungeübtes Auge war alles ein großes Durcheinander, aber für diejenigen, die Bescheid wußten, ergab alles einen Sinn. Der Soundcheck war schon am Nachmittag gemacht worden, doch überall liefen noch immer Techniker herum, zogen Kabel und verständigten sich über Walkie-talkies. Der Boden sah aus wie ein Dschungel, bedeckt mit elektrischen Kabeln wie Baumstämme, die übereinanderlagen; einige der Kabel waren so dick wie ein Männerarm. Die Vorhänge waren geschlossen. Gedämpftes Scheinwerferlicht warf von oben von den Metallgerüsten, die von der geschwärzten Decke hingen, Lichtflecke auf die Bühne. Zu beiden Seiten der Bühne wurden riesige schwarze Lautsprecher aufgetürmt, so groß wie Häuser, und überall flackerten kleine rote Lichter. Mitglieder der Band stimmten zum letzten Mal ihre In strumente. Überall war ein schwaches elektrisches Brummen zu hören,
unterbrochen durch die eiligen Schritte auf der Bühne. Einige der Männer trugen Kopfhörer mit Mikrofonen vor ihren Lippen wie bei der Telefonvermittlung. Andere hatten Werkzeuggürtel umgebunden. Wieder andere liefen im Anzug und Krawatte herum. Einige leuchteten mit Taschenlampen in die dunklen Ecken. Auf der rechten Seite der Bühne führte zwischen den Vorhängen ein Korridor durch all das Durcheinander hindurch zu einem fensterlosen Raum, der vollständig mit weißem Stoff ausgeschlagen war, der vom Boden bis zur Decke die Wände bedeckte. An einer Wand stand auf einem langen Tisch eine Vase mit großen weißen Lilien. Diese Lilien - Dutzende mochten es sein, zusammen mit reinweißen Löwenmäulchen und Wolken von Schleierkraut, erfüllten den Raum mit ihrem überwältigenden Duft. Neben dem Tisch standen schwarz gekleidete Angestellte der Catering-Firma und warteten darauf, ob jemand noch etwas bestellte, was nicht bereits auf dem Tisch angerichtet war. Es gab kalte Getränke auf Eis, Wasser, eine Auswahl an Sodagetränken, Fruchtsäfte und Milch, doch keinen Alkohol. Dutzende von unterschiedlichen Häppchen waren angerichtet, einschließlich der Lieblingsgerichte von Tess und den Mitglie dern der Band, angefangen von Lachssandwiches auf Dillbrot bis hin zu kleinen Quiches. Es gab Beerenobst und in Würfel geschnittene Früchte und ein Tablett mit herrlichen Keksen und heißem Kaffee. Doch niemand aß etwas. Ein halbes Dutzend Reporter drängten sich in einer Ecke des Raumes, wo eine Stehlampe rötliches Licht auf die weißbespannten Wände warf. Zwei große weiße Sofas waren leer, doch in ihrer Nähe standen die Manager von MCA mit ihren Ehefrauen. Eine Gruppe von DJs wartete neben ihnen, und zu beiden Seiten der Tür standen bewaffnete Wachmänner, die ihre Hände vor dem Bauch verschränkt hatten. Eine Frau mit einem Klemmbrett in der Hand betrat den Raum und sah sich um, dann ging sie wieder hinaus und blieb vor der Tür stehen. Eine andere Frau - jünger als die erste und in einem schwarzen, schulterfreien Lederkleid, mit hochhackigen Schuhen und einem Gürtel mit Straßsteinen, der tief auf ihrer Hüfte saß - trat auf die Frau mit dem Klemmbrett zu. »Hi«, begrüßte sie sie. Die Frau lächelte. »Hi, Casey.« »Ist sie da drin?« »Ja, geh nur rein.« »Danke.« Casey ging zwischen den Wachmännern durch, die sie anlächelten und ihr zunickten und sich ein wenig entspannten. »Wie läuft es?« fragte sie nervös und warf einen Blick auf den Tisch, als sie daran vorbeiging. »Hey, das sieht ja toll aus, nicht wahr?« Sie deutete auf das eine Ende des Tisches.
»Ist das etwa Pizza?« Einer der Männer von der Catering-Firma, der froh war, daß sich jemand für seine Arbeit interessierte, antwortete: »Ja, Pilze - und Salami-Miniaturpizza... bitte, bedienen Sie sich doch.« »Oh, ich könnte jetzt nichts essen.« Sie preßte eine Hand auf ihren Magen und verzog das Gesicht. »Dazu habe ich viel zu viel Angst. Vielleicht hinterher.« In einer der mit Stoff bespannten Wände befand sich eine Tür. Sie hatte ein kleines Messingschild, darauf stand »Mac« in der gleichen Schrift, in der ihr Name auch auf dem Plattencover erschien. Casey klopfte an die Tür, öffnete sie einen Spalt und steckte den Kopf hinein. »Darf ich reinkommen?« Tess saß an einem Toilettentisch und wurde frisiert. Ihr Ge sicht war für die Bühne geschminkt - eine Arbeit von fünfunddreißig Minuten, die Cathy Mack mit Pinseln und einer Palette erledigt hatte wie ein Künstler, der ein Ölgemälde malt. Die Sommersprossen waren unter einer Lage Alabastergrundierung verschwunden. Ihre Lippen waren perfekt nachgezogen und ein wenig vergrößert. Die Lippen selbst waren pflaumenblau geschminkt. Ihre Augen, die mit Mascara umrahmt und so hervorgehoben waren, daß sie größer erschienen, begannen zu strahlen, als sie Casey im Spiegel entdeckte. »Natürlich darfst du reinkommen. Du siehst umwerfend aus!« »Du aber auch.« Und das stimmte auch. Caseys Haar lag in glänzenden weichen Locken um ihr Gesicht, und an einer Seite war es hinter das Ohr gesteckt. Tess' Frisur war genauso wie auf dem Plattencover ihrer nächsten CD, ein sexy aussehender Wuschelkopf, der wirkte, als wäre er überhaupt nicht frisiert, für den Cathy aber dreißig Minuten gebraucht hatte. »Stillhalten«, befahl Cathy, »Nur noch eine Minute.« Tess gehorchte und folgte Caseys Bewegungen mit den Augen. »Hat man sich gut um dich gekümmert?« »Alle waren wirklich reizend zu mir.« »Das Kleid sieht großartig aus.« »Jetzt weiß ich, wie Rowdy sich fühlt, wenn ich ihm den Sattel auflege.« Sie legte eine Hand auf ihren Magen, in dem die Schmetterlinge flatterten. »Hast du Angst?« fragte Tess und lächelte. »Entsetzliche Angst.« Tess lachte und lockerte die angespannte Atmosphäre ein wenig. »Das ist ganz in Ordnung. Wenn du erst auf der Bühne stehst, ist das alles vergessen.« »Ich weiß. Hast du nachgesehen, ob Dad oder Mary schon da sind?« »Nein, noch nicht.« Wo bist du Kenny, wo bist du?
»Du liebe Güte, sie werden doch wohl nicht ihr Flugzeug verpaßt haben, oder was denkst du?« Jetzt war die Anspannung wieder da, obwohl Tess versucht hatte, sie vor Casey zu verbergen. »Wenn das so wäre, dann hätten sie längst angerufen.« Aber obwohl sie versuchte, Casey zu beruhigen, flatterte ihr Magen, und jedesmal, wenn jemand zur Tür hereinkam, zuckte sie zusammen. »Glaubst du, daß Mary mitkommt?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Sie wollte sich absolut nicht festlegen.« Beeile dich, Cathy. Ich will perfekt aussehen, wenn er hereinkommt, ich will nicht auf diesem Stuhl hier gefangen sein. Tess summte ein paar Zeilen der Eröffnungsnummer vor sich hin, um sich zu entspannen und sicherzugehen, daß ihre Stimme in Ordnung war. Endlich erklärte Cathy: »Das Haar und das Make-up sind fertig. Jetzt zu dem Kostüm.« Tess stand auf und Cathy nahm einen Hosenanzug aus weißer Seide vom Bügel. Tess schlüpfte aus ihrem Morgenrock und zog die Hose an. Sie war an den Seiten beider Beine mit einem Streifen glänzender Goldzechinen besetzt. Die Jacke des Anzuges hatte einen übergroßen Kragen, in der Taille lag sie eng an, und sie war über und über mit glänzenden Zechinen besetzt, die bei jeder Bewegung glitzerten. »Ohrringe«, sagte Cathy und reichte Tess ein paar Ohrringe aus weißen Reiherfedern, die mit den gleichen glänzenden Zechinen besetzt waren. , »Schuhe.« Cathy reichte ihr die Schuhe, die extra zu diesem Anzug angefertigt worden waren. Auch sie glitzerten bei jeder Bewegung. Als Tess fertig angezogen war, stellte sie sich vor den Spiegel, der von Lampen umrahmt war. Also gut, Kenny, komm jetzt... bitte! Casey trat neben sie. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. »Donnerwetter, super, wie?« meinte Casey. »Wir sind ein wirklicher Blickfang, nicht wahr?« scherzte Tess. »Ich würde eher sagen, wir sehen aus wie ein paar Nutten am Samstag abend.« Sie lachten beide, als sich plötzlich die Tür öffnete und Tess' Herz einen kleinen Sprung machte. Doch es waren nicht Kenny und Momma, sondern die Frau mit dem Klemmbrett trat in das Zimmer. »Noch zwanzig Minuten«, sagte sie. Zwanzig Minuten... wo kann er nur sein? Und dann war es, als würden plötzlich alle auf einmal hereinkommen. Estelle und Diane, die beide schwarze Lederkleider trugen, die aber anders aussahen als das von Casey, kamen in das Zimmer. »Wir wollten dir nur Hals - und Beinbruch wünschen, Mac. Dir auch, Casey.« Und hinter Estelle
betrat Charlotte Carson das Zimmer, Tess' Pressevertreterin. »Die Presse und einige Leute von MCA warten draußen, und wenn du soweit bist, kannst du ja rauskommen.« »Okay, ich komme gleich. Cathy, etwas kratzt mich am Rücken, kannst du einmal nachsehen, was das ist?« Cathy untersuchte gerade den Rückenausschnitt der Jacke, und der Raum war voller wild durcheinanderredender Menschen, als es an der Tür klopfte und Ross Hardenberg seinen Kopf hineinsteckte. »Da ist jemand ganz Besonderes für dich, Mac.« Und dann traten Kenny und Momma in die Garderobe. Es war anders, als Tess sich ihr Wiedersehen vorgestellt hatte, sie hatte nicht mit gesenktem Kopf dastehen wollen, während Cathy mit der Schere an ihr herumschnippelte und sie festhielt. Nicht ein halbes Dutzend Menschen sollten in ihrer Garderobe stehen und noch mehr draußen auf sie warten. Es sollte nicht ein solches Durcheinander herrschen! Sie hatte ihm entspannt und ausgeglichen gegenüberstehen wollen, lächelnd hatte sie auf ihn zugehen und ihm beide Hände entgegenstrecken wollen. Statt dessen mußte sie mit gesenktem Kopf stehenbleiben und konnte nichts anderes erkennen als den schwarzen Seidenstreifen an seiner Hose und daneben Mommas grüne Seidenhose. Ein Smoking? Er hatte einen Smoking angezogen? Endlich erklärte Cathy: »Okay«, und Tess war frei. Sie sah auf, und sein Anblick traf sie wie ein Schlag. Ihr stockte der Atem. Ein Wirbel von Freude, Erleichterung und Er wartung hüllte sie ein. Heute nacht werden wir uns lieben. Sie wußten es in diesem Augenblick beide, als ihre Blicke sich in dem überfüllten Raum trafen, und Tess fragte sich, wie, um alles in der Welt, sie heute abend würde singen können, wenn alles in ihrem Inneren in Aufruhr war. Dann ging sie auf ihn zu, auf beide zu - Momma zuerst, rief sie sich ins Gedächtnis. »Momma, du bist doch gekommen!« »Kenny hat darauf bestanden.« »Und du siehst so hübsch aus!« »Du aber auch, mein Schatz. Das ist ein tolles Kostüm.« Nur halb wurde Tess bewußt, daß die Leute sich zurückzo gen, während sie ihre Mutter umarmte und Kenny und Casey einander in den Arm nahmen. Sie sah, daß Mary den grünen Hosenanzug trug und die Smaragdohrringe, die sie ihr für die Hochzeit geschenkt hatte, und daß Mary sich ihr Haar beim Friseur hatte richten lassen und daß sie wirklich hübsch aussah. Aber all das war nur zweitrangig neben dem Mann, der neben ihr stand. Sie konnte es kaum erwarten, ihn zu berühren.
Endlich reichte sie ihm die Hände und lächelte ihn an. »Kenny«, sagte sie mit einer Stimme, die ihre unterdrückten Ge fühle verriet. Der Blick aus seinen Augen sagte ihr, ich habe dich vermißt, ich kann nicht glauben, daß ich dich wirklich berühre, es ist eine Qual, dich nicht küssen zu können. Und, oh, er sah so elegant aus, sein Gesicht war ein wenig gerötet, und es hob sich ab von dem weißen Hemd und der schwarzen Fliege seines Smokings. »Hi, Tess«, war alles, was er sagte. Aber er brach ihr beinahe die Finger, so fest hielt er ihre Hand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen keuschen Kuß auf die Wange, vorsichtig, um ihr Make -up, ihre Frisur und auch die Zechinen auf ihrer Jacke nicht durcheinanderzubringen. »Danke, daß du sie mitgebracht hast«, flüsterte Tess ihm zu und hinterließ einen Hauch von Lippenstift auf seiner Wange. Tief atmete sie den Duft nach Sandelholz ein, der von ihm ausging. »Danke, daß du alles arrangiert hast. Du siehst wunderschön aus.« »Du auch. Der Smoking ist famos.« Mehr wagten sie einander nicht zu sagen, weil sie wußten, daß sie beobachtet wurden. Tess trat einen Schritt zurück, sie sehnte sich danach, seinen Arm zu packen und ihn hier hinauszuziehen, weit weg von ihren Verpflichtungen und all den Menschen, weg von den Leuten von der Presse und all dem verrückten Durcheinander - irgendwohin, wo sie beide allein sein konnten. Statt dessen sagte sie: »Jemand wird euch nach dem Konzert wieder hierherbringen. Ihr braucht nur auf euren Plätzen zu warten.« »Noch zehn Minuten«, warnte eine Stimme sie, und sie drückte noch einmal Kennys Hand, ehe sie ihn freigab. Kenny und Mary wurden zu ihren Plätzen gebracht, alle anderen wurden weggeschickt, und Tess führte man in den Vorraum, wo die Leute von der Presse, die DJs und die Verantwortlichen von der Plattenfirma auf sie warteten. Sie schüttelte allen die Hände, strahlte sie mit ihrem berühmten Lächeln an, und sie erinnerte sich sogar an ein paar Namen der DJs, beantwortete einige Fragen, bezauberte alle und fragte sich wieder einmal, wie sie heute abend würde singen können, wo doch ein dicker Kloß in ihrem Hals saß. »Drei Minuten«, sagte leise jemand neben ihr. Ihr Showproduzent, Ralph, brachte sie immer bis zur Bühne, genau wie Cathy Mack, die noch einmal einen prüfenden Blick auf ihre Frisur warf, ihr vielleicht noch einmal die Nase puderte. Doch als sie heute abend hinter der Bühne stand, fühlte Cathy, daß Tess angespannter war als sonst. Sie trat hinter Tess, glitt mit den Daumen unter den Kragen ihrer Jacke und massierte
sie schnell. Tess schob alle Gedanken weit von sich, ihre Schultern entspannten sich, und sie verdrängte die Anspannung in ihrem Inneren. »Zwei Minuten«, hörte sie die Stimme in einem Ton, der sie beruhigen sollte. Es gab noch etwas, das sie tun mu ßte. »Danke, Cathy«, sagte sie, dann ging sie an den schwarz-silbernen Würfeln vorüber, hinter denen die Mitglieder ihrer Band auf verschiedenen Ebenen saßen, zu dem Platz, an dem die drei Hintergrundsängerinnen standen. Sie drückte Caseys Hand. »Genau wie in Mommas Wohnzimmer, okay?« sagte sie, dann zwinkerte sie Casey noch einmal zu und ging zurück hinter die Bühne. Die gleiche ruhige Stimme sagte: »Okay... es kann losgehen.« Tess holte noch einmal tief Luft, schloß die Augen und ließ die Luft langsam aus ihrer Lunge entweichen und öffnete dann die Augen wieder. Der Drummer wartete auf seinen Einsatz. Sie nickte ihm zu, und er begann ein gleichmäßiges tak -tak -tak auf dem Rand seiner Sangsaite. Hinter dem geschlossenen Vorhang begann die Musik zu spielen. Die Menschenmenge applaudierte so laut, daß man den Drummer kaum noch hören konnte, und als sich dann der Vorhang hob, ertönte eine wohlklingende Männerstimme: »Ladies und Gentlemen... Amerikas führende Dame der Couhtry-Musik... Tess McPhail\« Tosender Applaus brandete auf, als sie die Bühne betrat. Der Beat der Musik wurde schneller, Scheinwerfer blendeten auf. Tess' schnurloses Mikrofon steckte auf dem Mikrofonständer. Sie griff danach und begann dann den Menschen das zu geben, wofür sie gezahlt hatten. Aufgedonnert schnurre ich am Samstag abend, Schleiche durch die Gassen, auf das Licht auf deiner Veranda zu Woo-oo (sangen die Mädchen) Mi-auu (sie schwangen mit den Hüften) Ich werde mich in Seide kleiden Ich werde ausgehen und herumstreunen Mit dir. Über das Playback kam ihre eigene Stimme zurück zu ihr, als sie für ein Publikum sang, das sie nicht sehen konnte. Hinter den blendenden Lampen unten am Ende der Bühne konnte sie nichts erkennen. Doch während der Proben hatte sie sich die Stelle eingeprägt, wo Mary und Kenny sitzen würden, und als sie den Refrain des Liedes sang, deutete sie mit ihrem langen Fingernagel auf die Stelle, wo er sein mußte, genau wie sie es bei der Hochzeit getan hatte: Mit dir. Sie wünschte, sie könnte sein Gesicht sehen. Doch er konnte ihr Gesicht sehen, und es war ein berauschendes Gefühl, zu wis sen, daß er da war, daß er
sie ansah, während sie ihn vor achtzehntausend Fans ihre Absichten wissen ließ. Noch nie hatte sie ein Konzert ohne eine gewisse Angst begonnen. Das war normal. Und auch wenn es zugegebenermaßen heute abend noch schlimmer war, so fühlte sie doch auch heute wieder, wie die Musik sie packte, wie sie sie kontrollierte, und etwa nach der Hälfte der ersten Nummer hatte sie alles andere um sich herum vergessen. Der Song war zu Ende. Sie streckte die Arme über den Kopf, während die Menge tobte. Sie stand vorn an der Bühne und wünschte sich mehr als alles andere, sie könne Kenny und Momma sehen. Doch auch wenn sie sie nicht sehen konnte, so feuerte sie doch das Wissen um ihre Anwesenheit an wie nie etwas zuvor, und es schenkte ihr eine Befriedigung, die alles überstieg, was sie bisher bei ihrer Arbeit gefühlt hatte. Die einzelnen Songs gingen nahtlos ineinander über. Tess' Er fahrung gewann die Oberhand, sie unterhielt ihre Fans, doch wußte sie gleichzeitig ganz genau, was auf der Bühne geschah. Casey machte ihre Arbeit erstaunlich gut, wenn man bedachte, wie wenige Proben sie gehabt hatte. Tess konnte die Show auf einem kleinen Bildschirm beobachten, der an einem Steg über dem Publikum hing. Sie war erfreut über das, was sie dort sah. Die Beleuchtung war einfallsreich, rhythmisch und effektiv auf ihr glänzendes Kostüm gerichtet. Die drei Hintergrundsängerinnen bewegten sich in vollkommener Übereinstimmung, und auf dem stumpfen schwarzen Leder ihrer Kleider unterstrichen die mit Straßsteinen besetzten breiten Gürtel jede ihrer Bewe gungen, wenn das Licht darauf fiel. Es gab ein kaltes Publikum und ein warmes. Das Publikum heute abend war warm: Während der Songs war es höflich und ruhig» und danach explodierte der Applaus. Als die Band während des ersten Kostümwechsels das Publikum unterhielt, wartete Ralph Thornleaf schon hinter der Bühne auf Tess. Er hob den Daumen. »Du hast sie, Mädchen! Du bist Dynamit!« Cathy Mack half ihr aus dem weißen Anzug in ein grünes, mit Perlen besetztes Kleid, das eine Assistentin schon bereithielt. Sie reichte Tess eine viertel Flasche kaltes Wasser, Tess trank die Hälfte aus und stieg dann in einen Stutz Bearcat, der sie für den nächsten Auftritt auf die Bühne fuhr. Es gab noch sechs weitere Kostümwechsel und noch sechs weitere Flaschen kalten Wassers. Tänzer traten auf, und auf die große Leinwand auf der Bühne wurden graphische Effekte projiziert. Es gab eine Diaserie von Bildern von Tess in allen Altersstufen, die von den alten Fotos in Marys Album gemacht worden wären. Alle Plattencover von Tess' Platten wurden gezeigt, dazu wurde die Leinwand in neun große Quadrate unterteilt wie auf einem Tic-Tac-Toe-Brett, und die Cover wurden abwechselnd eingeblendet wie bei
einer Spielshow. Nach der Hälfte der Show stellte Tess die Mitglieder ihrer Band vor, die Vorstellung Caseys hob sie sich bis zum Schluß auf. Dann erzählte sie dem Publikum: »Dieses junge Mädchen hier ist etwas ganz Besonderes. Sie stammt aus meiner Heimatstadt Wintergreen, Missouri, und heute steht sie zum ersten Mal mit mir auf der Bühne. Wir haben einen Song zusammen geschrieben, und unsere erste gemeinsame Arbeit wird der Titelsong meines neuen Albums werden, das im September herauskommt. Sie werden diese junge Frau in den nächsten Jahren noch oft zu sehen bekommen, denn ich habe das Gefühl, sie wird nicht für immer bei mir im Hintergrundchor singen. Bereiten Sie bitte ihrer Karriere einen großartigen Beginn... hier ist Casey Kronek!« Das Publikum antwortete mit einem enthusiastischen Applaus, und Tess fühlte Caseys Aufregung, die sich in ihrem Ge sicht widerspiegelte, als der Applaus nur ihr allein galt. Als das Publikum sich wieder beruhigt hatte, trat Tess ganz nah an den Rand der Bühne und sprach mit einem solchen Ernst in ihr Mikrofon, daß plötzlich alles völlig ruhig war. »Heute ist ein ganz besonderer Tag für mich, denn es sind einige Menschen hier, die ich liebe. Menschen aus meiner Heimatstadt.« Einer der Beleuchter schien nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben, denn sofort richtete er seinen Scheinwerfer auf die erste Reihe. Und jetzt sah Tess auch Mary und Kenny. Ihre Blicke ruhten für einen Augenblick auf Kenny, ehe sie dann ihre Mutter ansah. »Einer dieser Menschen steht für mich über allen anderen wegen dem, was sie mein ganzes Leben lang für mich getan tat. Diese Dame saß auf der Treppe vor dem Haus, und ich habe für sie gesungen, als ich sechs Jahre alt war. Sie hat mir ein Klavier gekauft und hat den Klavierunterricht für mich bezahlt, als ich sieben war. Sie hat meine schlechten Noten in all den anderen Fächern außer in Musik ertragen, sie hat mir erlaubt, in einer kleinen Band zu singen, als ich noch viel zu jung war, um es dem Gesetz nach zu dürfen. Sie hat all die schrecklichen Proben in unserem Wohnzimmer über sich ergehen lassen, ehe es überhaupt einen Plattenvertrag gab. Und sie hat mir zugesehen, als ich meinen Koffer packte, um nach Nashville zu fahren, in der gleichen Woche, in der ich meinen Schulabschluß hinter mich gebracht habe. Sie hat ihre Tränen vor mir verborgen und die Befürchtungen nicht ausgesprochen, die sie ganz sicher hatte. Immer hat sie zu mir gesagt: >Mein Schatz, ich weiß, du kannst es schaffen. Daran zweifle ich keinen Augenblick.« Ihre Blicke ruhten voller Zärtlichkeit auf Mary, dann sagte sie: »Momma, würdest du bitte aufstehen, damit diese Menschen dir ihre Ehre erweisen können?« Mary machte einen vergeblichen Ve rsuch aufzustehen, denn ihre Hüften
waren noch ein wenig ungelenk, doch dann nahm Kenny ihren Arm und half ihr auf die Beine. Sie stellte sich nicht einmal aufrecht hin, sie hob eine Hand und winkte ab, dann setzte sie sich schnell wieder, als wollte sie sagen, warum soviel Aufhebens wegen einer alten Frau. Doch das Publikum hatte ihre Verlegenheit, im Rampenlicht zu stehen, mitbekommen, es lachte und applaudierte. Tess gestand: »Momma hat zwei neue Hüftgelenke bekommen, und der Flug hierher war nicht so ein fach für sie. Danke, daß du gekommen bist, Momma.« Sie wartete, bis der Applaus vorüber war. »Und neben ihr sitzt noch jemand aus meiner Heimatstadt, der für mich etwas ganz Besonderes bedeutet. Er ist der stolze Vater von Casey Kronek und ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Kenny... ich bin so froh, daß du hier bist.« An das Publikum gewandt, erklärte sie: »Sowohl Kenny als auch Momma kennen die Entstehungsgeschichte des nächsten Songs. Sie haben ihn im Frühjahr zum erstenmal gehört, in Mommas Wohnzimmer, in der Woche, in der Casey und ich ihn geschrie ben haben. Ich habe extra für den heutigen Abend noch eine neue Strophe hinzugefügt^ eine Strophe, die sie noch nicht kennen... sie kommt aus meinem Herzen. Es ist der Titelsong meines neuen Albums, von dem ich schon gesprochen habe, und heute trage ich ihn zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vor. Er heißt >Small Town Girl<.« Es hatte schon viele Höhepunkte in Tess' Karriere gegeben und immer wieder Songs, die ihr mehr bedeuteten als andere. Doch dieses Lied zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zu sin gen, war der emotionale Höhepunkt ihres Lebens. Die Worte schienen ein Band zu knüpfen zwischen ihr und Casey und Momma und Kenny, das sie unzertrennlich miteinander verband für immer. Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr. Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her. Sie hat die Welt gesehen, jetzt ist sie zu Haus'. Der Kleinstadt fehlt so vieles, alles sieht anders aus. Eine Rückkehr ist ihr verwehrt, das hat sie das Leben gelehrt. Im Elternhaus lebt Mama schon eine Ewigkeit. Das Haus ist alt und schäbig, ein Stück aus alter Zeit. Die gleiche alte Uhr tickt an der verblich'nen Wand. Mama will nichts ersetzen, läßt alles im alten Stand. Mama freut sich sehr, doch sich zu ändern fällt ihr schwer.
Wie wir uns verändern, wenn wir flügge sind, wie sich alles wendet, was wir gewußt als Kind. Alle heute reden über den Jungen von nebenan. Er gehört zu dem Gestern, das ich nicht mehr sehen kann. Die Fügungen des Lebens haben uns achtzehn Jahr' getrennt. Nur eine Nacht mit ihm beruhigt mein Herz, das brennt. Sag' ade, Tränen tun weh. Ohne zurückzuschauen, verläßt das Mädchen die Heimatstadt. Tief in ihrem Innern weiß sie, daß sie sich geändert hat. Mit Augen voller Tränen blickt sie zu der verblich 'nen Wand und flüstert dann ganz leise: Mama, laß bitte alles im alten Stand. Ich kehre zurück, muß noch viel lernen für mein Glück Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr... Als der Song zu Ende war, hatte Tess Tränen in den Augen, und eine große Faust schien ihr Herz zu umklammern. Die Reaktion des Publikums war überwältigend. Mit einer ausladenden Handbewegung deutete Tess auf Casey im hinteren Teil der Bühne, damit auch sie ihren Anteil am Applaus bekam. Casey lächelte und verbeugte sich. Sie erlebte den berauschendsten Augenblick ihres Lebens, und Tess fragte sich, wann sie jemals selbst einen so perfekten Augenblick erlebt hatte. Der Rest des Konzertes verlief dagegen beinahe ruhig. Auch wenn das Programm lautere Songs enthielt, schnellere Songs und Songs, mit denen sie ihre Karriere aufgebaut hatte und die dem Publikum viel bekannter waren, so hinterließ doch keiner den Eindruck, den die neue Ballade hinterlassen hatte, denn damit hatte sie dem Publikum gezeigt, wie es in ihrem Herzen aussah. Sie gab noch zwei Zugaben, und als der Vorhang dann zum letzten Mal fiel und die Lichter angingen, fühlte Tess sich herrlich. Noch immer floß das Adrenalin durch ihr Blut, als die bewaffneten Wachmänner sie durch einen Schwärm von Menschen in den mit weißem Stoff ausgeschlagenen Raum führten, in den hundertfünfundzwanzig Menschen nach dem Konzert zu einem Champagnerempfang eingeladen worden waren. Tess ging sofort in
ihre Garderobe, wo Cathy schon mit einer neuen Flasche kühlen Wassers auf sie wartete. Sie half ihr, das Kostüm auszuziehen, und Tess schlüpfte in einen maßgeschneiderten Hosenanzug und eine Seidenbluse in ihrer Lieblingsfarbe Mitternachtsblau. Nicht ein einziger Straßstein oder eine Zechine waren daran. Cathy hielt auch ihre Pumps mit den niedrigen Absätzen bereit und ihre Tasche mit dem Make-up. Sie deckte Tess' erhitztes Gesicht mit Puder ab, fuhr ihr mit dem Lippenstift über die Lippen und band dann ein Seidentuch unter den Kragen ihrer Jacke. »Fertig für deine Gäste«, sagte sie. Es gab nur zwei Gäste heute abend, für die Tess sich wirklich interessierte, und als sie aus ihrer Garderobe trat, suchten ihre Blicke sofort den Raum nach ihnen ab. Mary saß auf einem der weißen Sofas, umringt von Reportern, die ihr endlose Fragen stellten. Kenny reichte ihr gerade ein Glas Champagner, und Casey stand mit zwei Tellern voll Essen in der Hand daneben. Einen reichte sie Mary, dann setzte sie sich neben sie. Kenny blieb neben den beiden stehen und nippte an seinem Glas mit Champagner. Tess ging sofort zu ihnen hinüber. »Hey, Momma«, begrüßte sie ihre Mutter, beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuß. »Oh, mein Schatz, da bist du ja. Also, das war ja wirklich ein tolles Konzert. Ich bin richtig froh, daß Kenny mich gezwungen hat, mitzukommen.« »Ich auch.« Sie legte Kenny einen Arm um die Taille und lächelte ihn an. Er sah ihr tief in die Augen. »Ich bin von Ehrfurcht ergriffen«, sagte er ganz leise, so daß es alle anderen Leute im Raum ausschloß. Sein leise ausgesprochenes Kompliment war alles, was Tess in diesem Augenblick brauchte. Das und sein Arm, den er ihr um die Schultern legte. Doch ihre Verpflichtungen warteten auf sie. Leise sagte sie zu ihm: »Ich habe noch einige Dinge zu erledigen, doch wir werden später zusammen in die Stadt fahren, geh also bitte nicht weg.« »Ich werde warten.« Später, versprach sein Blick. Wenn doch die Zeit nur schneller vergehen würde, sagte der ihre. Laut sagte Tess dann, damit es auch alle anderen hören konnten: »Casey, Schatz, du warst sensationell.« Sie beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuß. »Versprich mir, daß du keinen Plattenvertrag unterschreibst, ehe ich wieder da bin, okay?« Dann umfaßte sie Caseys Gesicht mit beiden Händen. »Bist du glücklich, meine Süße?« fragte sie. »Oh, Mac, das kannst du dir gar nicht vorstellen.« »Ich auch.« Dann zögerte sie einen Augenblick. »Ich muß unbedingt mit einigen dieser Leute reden, und dann muß ich noch einmal raus, das übliche, für die Fans. Wenn du mitkommen möchtest, dann kannst du das gern
machen. Ich werde dafür sorgen, daß es heute abend nicht zu lange dauert.« Sie griff nach Kennys Hand. »Paß noch einmal für mich auf Momma auf, ich bin gleich wieder da. Es dauert höchstens eine halbe Stunde.« »Beeil dich«, sagte er und gab ihre Hand nur zögernd frei. Es gab Menschen, um die mu ßte sie sich ganz einfach kümmern, und Führungskräfte der Plattenfirma standen dabei an erster Stelle. Dann kam der Bürgermeister von Anaheim, die Chefetage von Wrangler, ihrem Sponsor, Kolumnisten und Konzertkritiker. Tanya Tucker war da und Clint Black mit seiner Frau, Lisa Hartman Black. Emmylou Harris, Kevin Costner, die Mitglieder ihrer Band, die geholfen hatten, den heutigen Abend zu einem großen Erfolg zu machen. Doch inmitten all dieser Gratulanten sah sie immer wieder auf und stellte fest, daß Kenny sie beobachtete, ihre Blicke trafen sich über die Köpfe der Menschen hinweg, hielten einander gefangen, und sie teilten sich die unausgesprochene Botschaft mit: Später, heute nacht. Und es fiel Tess schwer, ihre Blicke von ihm loszureißen und darauf zu achten, was die Menschen zu ihr sagten. Doch nachdem sie ihre Pflichten hinter der Bühne erfüllt hatte, warteten noch immer ihre Fans auf sie. Es war üblich, daß die aktiven Mitglieder ihrer Fanclubs nach der Vorstellung im Zuschauerraum blieben, um von Tess persönlich begrüßt zu werden. Diese Männer und Frauen bildeten das Herzstück ihrer Anhänger, und sie verdienten die Aufmerksamkeit, die sie ihnen schenkte. Sie nahm Casey mit, um ihr die sen Teil ihrer Arbeit zu zeigen. Doch das war zum Teil auch sehr selbstsüchtig, denn Kenny zu verlassen, wenn auch nur für eine halbe Stunde, bedeutete für sie ein Opfer. Wenn sie allerdings Ca sey an ihrer Seite hatte, dann schien es ihr nur halb so schlimm. Mitternacht war vorüber, ehe Tess all ihre Verpflichtungen erfüllt hatte und sie alle schließlich durch den Bühnenausgang zu der Limousine gingen, die bereits auf sie wartete. Tess sank neben ihrer Mutter auf den mit Leder gepolsterten Sitz, Kenny und Casey saßen ihnen gegenüber. Der Fahrer hatte das Licht im Fahrgastraum angelassen. Champagner, Wasser und Softdrinks standen gekühlt bereit, Gläser warteten in Halterungen auf sie, während der Wagen nordwärts fuhr. Casey war noch immer aufgeregt. Sie plapperte unentwegt, brachte alle zum Lachen, und Kenny legte einen Arm um sie. Mary, die Champagner getrunken hatte, wurde langsam schläfrig. Tess ließ Casey reden, sie genoß die Gegenwart von Kenny und die Tatsache, daß sie sich endlich nach Herzenslust ansehen konnten. Er streckte ein Bein aus und berührte absichtlich ihren Knöchel. Sie rieb ihren Knöchel an seinem Bein, dann lehnte sie den Kopf zurück und schloß die Augen, denn sie war durch diese Berührung mit ihm verbunden.
Als sie endlich vor dem Regent Beverly Wilshire vorfuhren, war es schon nach ein Uhr nachts. Das Hotel schien ruhig und verlassen, zu beiden Seiten des Eingangs wachten die Türsteher. Mary, die eingeschlummert war, stolperte an Kennys Arm die Treppe vor dem Hotel hoch, Tess ging an der anderen Seite neben ihr her. Sie stöhnte ein wenig. »Oh, danke, Kinder«, sagte sie. »Du meine Güte, bin ich müde.« Sie gingen durch die Eingangshalle, an dem leeren Restaurant vorüber, an den hell erleuchteten Vitrinen vorbei, in denen Schmuck und Kleidung der teuren Geschäfte des nahen Rodeo Drive kunstvoll ausgestellt waren. Dann fuhren sie mit dem Aufzug zur vierten Etage, in der Marys Zimmer lag. »Wohnst du auch auf dieser Etage?« fragte Mary Tess. »Nein, Casey und ich haben unsere Zimmer im sechsten Stock.« »Und mein Zimmer ist gleich gegenüber von deinem, Mary«, beruhigte Kenny sie. »Aber ich werde die Damen nach oben begleiten.« Sie wünschten Mary eine gute Nacht, und als sich die Tür hinter ihr schloß, fuhren die drei mit dem Aufzug zur sechsten Etage, wo sie zuerst vor Tess' Zimmer stehenblieben. Kenny gab ihr einen brüderlichen Kuß auf die Wange, bedankte sich noch einmal bei ihr, und sie dankte ihm, weil er Mary überredet hatte, mitzukommen. Danach umarmte Casey sie. »Solange ich lebe, werde ich diesen Abend nie vergessen«, versprach sie ihr. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich je in meinem Leben so etwas tun würde. Ich danke dir noch einmal, Mac.« »Eines Tages wirst du selbst ein Star sein, Casey«, erwiderte Tess. »Da bin ich ganz sicher. Und du darfst nicht vergessen, daß es mir großen Spaß gemacht hat, dich ins Musikgeschäft zu bringen. Bis morgen früh, mein Schatz.« Sie steckte ihre Karte in das Schloß und sagte dann: »Gute Nacht, Kenny.« »Gute Nacht.« Als Tess die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte Kenny einen Arm um Caseys Schulter und brachte sie in ihr Zimmer. Dort verabschiedete er sich von ihr und fuhr dann mit dem Aufzug in den vierten Stock zurück.
21. Kapitel In Tess' Suite brannte neben dem Sofa im Wohnraum eine einzelne Lampe. Sie ließ sie brennen u nd ging dann ins Schlafzimmer hinüber, wo das Zimmermädchen das Bett aufgedeckt hatte. Die Tagesdecke war beiseite gelegt, und die Bettdecke war zurückgeschlagen worden wie ein Papierflugzeug. Auf jedem Kissen lag ein Betthupferl: zwei in Goldfolie gewickelte Schokoladenmünzen. Der Anblick des Bettes, das auf sie wartete und bereit war, weckte eine angenehme Anspannung in Tess, eine sexuelle Ungeduld, die drängend war
und Kennys Bild vor ihrem inneren Auge aufsteigen ließ - Kenny in seinem eleganten schwarzen Smoking, der sie über die Köpfe der Menschen hinweg in einem überfüllten Raum ansah und aus dessen Blick ihr das gleiche unterdrückte Verlangen entgegenleuchtete, das auch in ihren Augen gelegen haben mußte. Wie Wasser, das über den Rand einer Tasse fließt, so fühlte sie, wie die widerstreitenden Gefühle in ihrem Inneren das überstiegen, was ein Mensch in sich verborgen halten konnte. Sie zitterte und stand kurz davor, überzufließen, als sie das Make-up von ihren Wangen wusch, sich duschte, ihr Haar wusch, es dann in ein Handtuch hüllte und es trockenrieb, als sie sich mit Toilettenwasser mit Fresienduft besprühte und dann in dem Spiegel über dem Waschbecken in ihre großen, etwas erstaunt blickenden Augen starrte. Sie berührte die zarte, mit Sommersprossen übersäte Haut zwischen ihren Brüsten, legte die Hand auf ihren zitternden Magen... und versuchte, sich durch seine Augen zu sehen, denn sie wollte ihm gefallen. Heute nacht, dachte sie. Sie zog den dicken weißen Bademantel an, der im Bad hing, dann nahm sie das Handtuch von ihrem Haar und kämmte mit den Fingern die feuchten Locken. Ungeduldig wartete sie auf ihn. In seinem Zimmer hängte Kenny die Jacke seines Smokings in den Schrank, zog die Fliege aus, wusch sich das Gesicht und setzte sich dann mit einer Zeitschrift auf das Sofa und warf einen Blick auf seine Uhr. Zehn Minuten Zeit würde er ihr geben, ehe er zu ihr nach oben ging. Sechs Minuten lang hielt er es aus, ehe ihm klar wurde, daß er kein einziges Wort gelesen, keine Seite umgeblättert hatte. Er warf die Zeitschrift beiseite, stand auf, steckte die Schlüsselkarte ein und verließ sein Zimmer. Die Suiten im Regent besaßen Türklingel. Als er an Tess' Tür läutete, war es genau ein Uhr siebenundzwanzig - eine ungewöhnliche Zeit, um jemandem den Hof zu machen, dachte er, doch Tess' Lebensstil war nun einmal ungewöhnlich. Er fragte sich, wie er sich wohl einfügen würde, wenn sie erst einmal verheiratet waren. »Kenny?« hörte er ihre leise Stimme hinter der Tür. »Ja.« Die Tür wurde geöffnet, und sie stand vor ihm mit nackten Füßen und einem übergroßen weißen Bademantel. Ihr feuchtes Haar umrahmte in weichen Locken ihr sauber gewaschenes Ge sicht, ein Duft nach Blumen hüllte sie ein. Ohne all das künstliche Make-up, das sie heute abend getragen hatte, war sie in seinen Augen noch schöner. »Ich dachte schon, du würdest nie kommen«, begrüßte sie ihn, und er trat in das Zimmer, berührte sie und versuchte gleichzeitig, die Tür hinter sich zu schließen. Ihre Umarmung war wie ein Zusammenprall. Tess stand auf Zehenspitzen, und er schlang die Arme um sie und hob sie hoch, bis ihre
Füße den Boden nicht mehr berührten. Ihr erster Kuß war voller verzweifelter Sehnsucht - sie küßten einander wie zwei verdurstende Menschen, als versuchten sie, die lange Zeit, in der sie getrennt gewesen waren, wieder gut zu machen. Dann stellte Kenny sie wieder auf die Füße, und sie umschlangen einander wie zwei Hälften, die zu einem Ganzen verschmolzen. Ihr Kuß wurde ein dringlicher, sinnlicher. Tess stöhnte leise auf, sie reckte sich ihm entgegen, als wäre sie ihm nicht nahe genug. So viele Worte waren zwischen ihnen noch nicht ausgesprochen, doch ihre Lippen lösten sich kaum voneinander. »Ich dachte, ich würde sterben, so sehr habe ich auf dich gewartet«, war alles, was Tess zwischen seinen Küssen herausbrachte. »All die vielen Menschen...« »Und ich habe die ganze Zeit über nichts anderes tun wollen als das hier.« Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, sanft knabberte er an ihrer Oberlippe, küßte ihre Nase, ihre Augenbrauen und all die verrückten kleinen Stellen, die nur ein verliebter Mann zu schätzen weiß. »Ich hätte sie am liebsten alle hinausgeworfen!« schimpfte er. »Jeden einzelnen von ihnen. Ich habe immer gedacht, sie haben kein Anrecht auf dich! Du gehörst zu mir, nicht zu ihnen!« Tess lächelte und liebte ihn dafür, daß er genau das gleiche gefühlt hatte wie sie. Doch dann hatten sie genug geredet. Erneut bedeckten seine Lippen die ihren, er schmeckte sie und hielt sich nicht zurück. Er strich über ihren Rücken, umfaßte dann ihren Po und zog sie an sich, damit sie fühlte, wie erregt er war. Der Überschwang ihrer Gefühle überwältigte sie; es war beinahe mehr, als sie ertragen konnten. Langsam gab Kenny sie wieder frei, sie rückten ein Stück voneinander ab und ihre Blicke trafen sich. Einer von ihnen lachte leise, es war Kenny, dann murmelte er: »Wir sind schrecklich, nicht wahr?« Jetzt mu ßte auch Tess lachen. »Ja, nicht wahr, und es ist wundervoll.« Er hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt und sie sahen einander an, etwas, wozu sie sich zuvor nicht die Zeit genommen hatten. Voller Liebe hielten ihre Blicke die des anderen gefangen. Dann küßten sie einander wieder, sanfter jetzt, denn die erste, verzweifelte Sehnsucht war gestillt. Sie begannen einander zu erforschen. Tess strich über den weichen Stoff seines Hemdes, während er unter seinen Fingern den Frotteestoff des Bademantels fühlte. Sie lernten sich kennen und erregten einander mit einfachen Berührungen. Die Zeit flog dahin, während sie noch immer an der Tür standen, im schwachen Licht der Lampe, die auf der anderen Seite des Zimmers brannte. Kenny griff nach dem Gürtel des Bademantels und wollte ihn öffnen, doch Tess hielt seine Hand fest und sah ihm dann tief in die Augen. »Ich muß zuerst Bescheid wissen«, flüsterte sie. »Über dich und Faith.«
Ohne zu lächeln, doch auch ohne Bedauern in der Stimme, sagte er: »Ich habe sie gebeten, ihre Sachen aus meinem Haus abzuholen. Zwischen uns ist alles vorbei.« »Wirklich? Alles vorbei?« »Ich würde dich niemals anlügen, Tess, ganz sicher nicht in dieser Sache.« Doch dann fügte er hinzu: »Ich würde dich wegen gar nichts anlügen, Tess.« Sie wußte, daß er die Wahrheit sagte. Er war ihr gegenüber immer ehrlich gewesen, hatte ihr immer gesagt, wie er zu Faith stand, gleich von Anfang an. Sie ließ seine Hand los, und einen Augenblick später hatte er den Gürtel des Bademantels geöffnet. Er berührte mit beiden Händen ihre warme Haut. Ihr Duft stieg ihm in seine Nase, als er sie um ihre Taille faßte und mit den Handgelenken den Bademantel beiseite schob. Sanft zog er sie an sich, und sie schmiegte sich in seine Arme, bog den Kopf ein wenig zurück, so daß sie einander in die Augen sehen konnten. Ihr Körper war weich und nachgiebig, sie streckte die Arme aus und schlang sie um seinen Nacken, beugte sich zurück und schwankte ein wenig. »Du riechst so gut«, murmelte er. Seine Hände lagen noch immer um ihre Taille, als wolle er sie hochheben und in eine Kutsche setzen. Doch es wartete keine Kutsche auf sie, nur das Bett im Nebenzimmer. Aber sie taten so, als gäbe es dieses Bett gar nicht. »Ich habe extra für dich Toilettenwasser benutzt. Fresien.« »Fresien. Und wohin hast du es gesprüht?« »Überallhin.« Sie ließen sich Zeit, miteinander zu flirten, während sie ein ander in den Armen hielten. Tess glaubte, daß er sich zu ihr beugen würde, um sie zu küssen, vielleicht zwischen ihre Brüste, doch er zog sie noch näher an sich, barg sein Gesicht an ihrem Hals und schob die Arme noch weiter unter den Bademantel. Er streichelte ihren warmen Rücken, dann strich er über ihre Seiten, und seine warmen Hände erregten sie, als er mit den Handflächen über ihre Wirbelsäule glitt und dann mit seinen Händen ihren Po umschloß. Dann hob er eine Hand und legte sie auf ihre Brust, hob sie leicht an und hielt sie, als sei sie eine kostbare, von der Sonne gewärmte Frucht. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, in der Tess sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, wenn er ihren nackten Körper berührte. Und jetzt war es endlich soweit, und ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihr aus und weckte das Verlangen nach ihm. Lange blieben sie so stehen, genossen beide diesen Augenblick und hielten ganz still, als wollten sie sich diesen Moment für immer einprägen. Dann bog Tess den Kopf zurück und schloß die Augen, sie vergrub beide Hände in seinem Haar und hielt seinen Kopf fest, während sich sein bekleideter Körper gegen ihren nackten Körper drückte.
»Ich habe dich so sehr vermißt«, gestand sie ihm. »Ich habe dich auch vermißt«, flüsterte er, und mit der anderen Hand begann er sie zu streicheln. »So sehr...« »Nachdem ich aus Wintergreen abgereist war, war es...« Er bewegte seinen Daumen, und ein Schauer lief durch Tess' Körper, dann sank sie gegen ihn. »Es war...« Sie fand keine Worte mehr. »Es war...« »Es war die Hölle«, flüsterte er an ihrer Stelle. »Ja... es war die Hölle.« Sie hatte die Stirn gegen sein Kinn gelegt und fühlte seinen Atem in ihrem Haar. Dann hob sie eine Hand und strich damit über den Wollstoff seiner Hose, fühlte seine Erregung und berührte ihn. »Tess...«, hauchte er, doch dann schwieg er wieder. Es war ganz still um sie herum, während er staunend begriff, daß seine Träume endlich wahr geworden waren, daß er mit dieser Frau hier stand, daß er ihre Hände auf seinem Körper fühlte, nach all den Jahren, in denen sie für ihn unerreichbar gewesen war, so weit entfernt von ihm. »Bring mich ins Bett, Kenny«, flüsterte sie. Er war völlig benommen von dem Wunder, und ihm war klar, wer sie war: die Tess aus seiner Vergangenheit. Und er begriff auch, was aus ihr geworden war: Mac, der Superstar, bewundert von Millionen von Menschen. Und er sah, was aus ihm geworden war: der Mann, nach dem sie sich so sehr sehnte, wie er sich nach ihr sehnte. Sie fühlte, daß etwas in seiner Haltung sich verändert hatte, und sah zu ihm auf. »Kenny?« flüsterte sie. »Was ist los?« »Nichts, es ist nur...« Er schien einen Augenblick lang verwirrt zu sein. »Ich habe nur gerade begriffen, wo ich bin und mit wem ich hier bin und was du gerade gesagt hast... und ich bin nur ein Mensch, deshalb bin ich ein wenig verwirrt von all dem, das ist alles.« »Sei bitte nicht zu verwirrt«, murmelte sie leise. »Ich bin es, Tess.« »Du, Tess, das Mädchen aus dem Schulbus. Aber dann wurdest du Mac, die Frau, die so weit außerhalb meiner Reichweite war, daß ich nichts anderes tun konnte, als deine Bilder aus der Zeitung auszuschneiden. Und jetzt bist du wieder Tess, und du willst mit mir ins Bett gehen. Ich glaube, du begreifst gar nicht, wie unglaublich das für mich ist.« »Nicht unglaublicher als für mich. Kenny Kronek, der Junge von nebenan. Wer hätte das geglaubt?« Sie lächelte, dann wiederholte sie noch einmal: »Bring mich ins Bett, Kenny... bitte.« Er hob sie hoch, und wie ein Bräutigam seine Braut trug er sie in das hell erleuchtete Schlafzimmer. Tess hatte die Arme um seinen Hals gelegt und preßte ihren Mund gegen seinen Hals. Seine Haut roch nach Sandelholz. Sie
leckte ein wenig daran, schmeckte es und hinterließ einen kleinen feuchten Fleck auf seiner glattrasierten Haut. »Du schmeckst so gut«, gestand sie ihm. Er grinste. »Du bist mir schon ein Stück voraus«, beklagte er sich. »Hm-hm murmelte sie und meinte damit: Nein, das bin ich nicht. »Und ich weiß, wovon ich rede, Mr. Kronek.« Er grinste noch immer, als sie ihr Ziel erreicht hatten und er sie wieder freigab. Tess kniete am Fuß des Bettes und hob dann die Hände, um die kleinen schwarzen Onyxknöpfe seines Hemdes zu öffnen. Während er die Manschettenknöpfe löste, strichen seine Fingerknöchel sanft über ihre Brüste, und sie mußten beide lächeln. Er gab ihr einen Kuß auf ihr Haar, dann bückte er sich und zog die Schuhe aus. »Wir wußten beide, daß es heute nacht passieren würde, nicht wahr, Kenny?« »Ja, wir wußten es.« Er holte ein Kondom aus seiner Hosentasche und warf es auf das Bett. Tess öffnete den Verschluß seiner Hose, er zog den Reißverschluß herunter, und zusammen befreiten sie ihn von all seinen Kleidungsstücken bis auf seine Unterhose. Sie war aus Seide, aus grüner Seide mit orangefarbenen Katzen darauf. »Du trägst seidene Shorts?« fragte sie ihn, überrascht und gleichzeitig erfreut und rückte ein Stück von ihm ab, um ihn besser betrachten zu können. »Mit Katzen darauf?« »Sie sind neu. Ich dachte, so etwas sollte ein Mann tragen, wenn er mit Tess McPhail ins Bett geht.« »Sprich das nicht so aus, als hätten alle Männer sich so etwas vorgestellt, denn sehr viele hat es in meinem Leben noch nicht gegeben.« »Darüber werden wir später reden, Tess, okay?« Er zog sie zu sich hoch, um sie zu küssen. »Es gibt noch eine ganze Menge Dinge, über die wir später werden reden müssen.« »Hm-hm.« Und dann war er nackt, und auch sie war beinahe nackt, als er sich mit einem Knie auf das Bett stützte und sein Gesicht gegen sie drückte, um auch sie zu schmecken. Er ließ sich Zeit, den Bademantel über ihre Schultern hinunterzuschieben, und dann fiel er mit ihr in den Armen auf das Bett. Sie sanken im gleichen Augenblick auf das Bett, in dem sie sich zum ersten Mal intim berührten, und es schien alles gleichzeitig zu geschehen. Danach war nur noch ihr heftig gehender Atem zu hören. Und dann erforschten sie einander mit einem Anflug von Verwunderung, zuerst mit den Augen, dann küßten sie einander mit geschlossenen Augen,
sanft und zärtlich, bis ihr Kuß eindringlicher wurde und wild und sie sich nicht länger kontrollieren konnten. Einmal flüsterte er: »Oh, Tess...«, weil er keine anderen Worte fand für das, was er fühlte. Und sie antwortete auf die gleiche Weise, immer wieder flü sterte sie seinen Namen. »Kenny... Kenny...«, denn auch sie fand keine anderen Worte. Viel später flüsterte er: »So?« Und sie hauchte: »Ja...« und bog ihm ihren Körper entgegen. Und noch ein wenig später berührten ihre Hände das Kondom, das noch immer auf dem Bett lag. »Zieh es jetzt an«, bat sie. »Bitte...« Und dann sah sie ihm zu, wie er es überstreifte. Als er sich auf das Bett kniete, streckte Tess die Hand aus und strich über das Haar an seinen Schläfen. Sie verspürte den Wunsch, diesem Mann die Worte zu sagen, die sie noch zu keinem anderen gesagt hatte. »Laß es mich jetzt sagen, Kenny... ich liebe dich.« Sie sah den Ausdruck, der bei ihren Worten sein Gesicht überzog: Freude und Ungläubigkeit, nachdem sie sich so lange geweigert hatte, diese Worte auszusprechen. »Sag es noch einmal, Tess.« »Ich liebe dich«, wiederholte sie, und das Wunder dieser Liebe erfüllte ihre Seele; sie war benommen von der Macht dieser Worte, die sie endlich ausgesprochen hatte. »O Gott, es ist wahr, ich liebe dich!« jubelte sie. Er nahm ihre Hand und drückte einen Kuß in ihre Handfläche. Tränen standen in Tess' Augen, als er dann ganz langsam in sie eindrang und sie beide zu den höchsten Höhen führte. Tief, ganz tief, drang er in sie ein, nicht nur in ihren Körper, sondern auch in ihre Seele und in ihr Herz. In Tess' ganzem Leben hatte es noch nie einen Augenblick gegeben, der so herrlich war wie dieser. Nie zuvor hatte sie diese Worte ausgesprochen und sie auch ehrlich gemeint, und noch nie hatte sie auf eine so perfekte Art ihre Liebe ausgedrückt. »Ich liebe dich«, flüsterte er rauh, dann begann er, sich in ihr zu bewegen, und beendete das, was sie an einem dunklen Frühlingsabend auf der Wiese begonnen hatten. Es war Viertel nach zwei. Sie lagen im Schein der Lampe, müde, doch nicht bereit, es zuzugeben. Keine einzige Minute dieser Nacht wollten sie verschwenden. Ihre Köpfe lagen auf einem Kissen, ihre Körper waren noch immer miteinander verbunden. Tess betrachtete die Stelle unter seinen Augen, wo sich in späteren Jahren eine Falte bilden würde. Sie strich sanft mit der Fingerspitze darüber und wiederholte die Worte, die er zuvor ausgesprochen hatte. »Kenny Kronek, der Junge von nebenan - wer hätte das gedacht?«
»Ich nicht«, flüsterte er mit geschlossenen Augen. »Nicht in tausend Jahren. Nicht mit Tess McPhail.« »Ich bin auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut wie alle anderen Menschen auch.« »Nein, nicht wie alle anderen Menschen.« Er öffnete die Augen. »Nicht für mich. Ich habe dich schon so lange geliebt, daß ich mich gar nicht mehr an eine Zeit erinnern kann, als ich dich nicht geliebt habe.« Sie dachte an den Ordner mit den Zeitungsausschnitten in seinem Büro und glaubte ihm. »Oh, Kenny.« »Es ist wahr. Ich habe dich niemals vergessen.« »Es tut mir leid, daß ich nicht auch das gleiche von mir behaupten kann. Aber ich habe erst in diesem Frühling herausgefunden, wie wunderbar du bist, und selbst dann habe ich mich noch geweigert, mich in dich zu verlieben.« Mit dem Finger strich sie über seine Unterlippe und rieb dann sanft darüber. »Soll ich dir etwas verraten?« »Hm?« »Nachdem ich aus Wintergreen abgereist war, mußte ich immer wieder an den Abend der Hochzeit denken, als wir in Mommas Garten waren. Und ich habe mir gewünscht, wir wären viel weitergegangen.« »Du auch?« antwortete er gedehnt. »Ich habe immer gedacht, Mann, warum warst du nur so dumm. Warum hast du es nicht getan, solange du die Möglichkeit hattest. Tess, in dieser Nacht hatte ich solche Sehnsucht nach dir.« »Ich wollte dich auch.« »Und dann warst du plötzlich weg, und ich hatte meine Chance vertan. Als du weg warst, habe ich immer wieder zum Haus deiner Mutter hinübergesehen und mich so verdammt einsam gefühlt, weil du nicht mehr da warst.« Sie seufzte. »Und immer, wenn mein Telefon geläutet hat, hat mein Herz einen kleinen Sprung gemacht, weil ich glaubte, du würdest anrufen. Und wenn du es dann nicht warst, war ich unendlich enttäuscht. Dieses Gefühl war so neu für mich... bei- nahe überwältigend. Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben einen Menschen so sehr vermißt.« »Warum hast du mir das nicht gesagt?« »Ich weiß nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Ich denke, ich hatte ganz einfach Angst wegen der Eindringlichkeit meiner Gefühle. Ich habe daran gezweifelt, daß sie echt waren.« »Für mich war das ganz anders. Ich wußte es bereits, kurz nachdem du nach Hause zurückgekommen warst.« »Obwohl du noch mit Faith zusammengelebt hast?« »Faith und ich hatten uns ganz einfach aneinander gewöhnt. Sie hat mir
die Hemden gebügelt, ich habe ihr den Rasen gemäht. Aber man kann nicht eine lebenslange Bindung auf Be quemlichkeit aufbauen. Wenigstens ich kann das nicht. Ich wußte, daß ich irgendwann einmal mit ihr würde brechen müssen, und als du dann nach Hause kamst, wurde mir klar, daß ich mit Faith diesen Teil... daß der Sex mit ihr... na ja... es war...« »Sprich nur weiter. Du kannst es aussprechen. Du kannst mir alles sagen.« »Also gut. Unbefriedigend. Es war... na ja, mechanisch geworden.« »Mechanisch«, wiederholte Tess laut. Er dachte daran, daß es Faith gegenüber vielleicht ein Vertrauensbruch war, und entschied, daß er Tess nur noch gestehen konnte: »Sie mochte es nicht, wenn ich sie unordentlich machte.« Seine Offenheit überraschte Tess. Sie fühlte, daß sich ihre Mundwinkel zu einem Grinsen hochziehen wollten, doch hielt sie sich zurück. Doch auch wenn sie nicht lachen wollte, so konnte sie es doch nicht verhindern, daß ein leises Schnaufen aus ihrem Mund kam, und schnell legte sie eine Hand vor den Mund, um es zurückzuhalten. Doch ihre Augen blitzten schelmisch, und schließlich sagte sie: »Die Frau weiß nicht, was ihr entgangen ist.« Im ersten Augenblick dachte sie, sie hätte ihn beleidigt, doch dann begann auch er zu lachen - er lachte laut auf, und dieses Lachen bewirkte noch mehr. »Oh, Himmel, du darfst nicht lachen!« warnte sie ihn und versuchte, ihn in sich festzuhalten. Doch es war zu spät. Der Kontakt zwischen ihnen war unterbrochen, und sie waren gezwungen, ins Bad zu gehen. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie wieder im Bett waren. Sie kuschelten sich in die Kissen und deckten sich zu. Tess schmiegte sich gemütlich in Kennys Arm, ein Knie hatte sie hochgezogen und über sein Bein gelegt. Hinter ihrer Schulter packte Kenny das letzte Stückchen Schokolade aus, er ließ sie beißen und steckte dann den Rest in seinen Mund. »Also gut«, meinte er und warf das Stückchen Goldfolie auf den Nachttisch. »Und wie steht es mit dir?« »Was willst du denn wissen?« »Ich frage dich nach deinem früheren Sexleben. Wie viele Männer gab es vor mir?« »Muß ich das wirklich sagen?« »Nein.« Sie blickte zu ihm auf, denn seine Antwort hatte sie überrascht. »Vier.« »Vier!« »Alle, noch ehe ich achtundzwanzig war. Das war das Jahr, in dem ich meinen Durchbruch schaffte und mir klar wurde, daß ich ein wenig
vorsichtiger werden mußte. In dieser Hinsicht arbeitet der Erfolg gegen dich. Man weiß nie, welche Absichten die Männer haben. Man wird... sehr einsam.« »Hatten einige dieser Männer ernste Absichten?« »Nein.« »Und was ist mit diesem Musiker, mit dem du in letzter Zeit ausgegangen bist?« »Die Wahrheit ist, er hat es versucht, aber das war, nachdem ich von zu Hause zurückgekommen war und ich gesehen hatte, wie gut du zu Momma warst, nachdem ich in deinem Chor gesungen hatte und mit dir zusammen im Garten im Gras gelegen hatte. Danach schienen mir alle anderen Männer unerträglich.« »Unerträglich?« Er grinste über ihre Wortwahl. »Und das lag nur an mir?« Er zog sich ein wenig zurück, um auf sie hinuntersehen zu können, doch konnte er nur ihren Kopf sehen. »Auf jeden Fall.« »Willst du damit etwa sagen, daß du noch nie vorher verliebt gewesen bist?« »Ich hatte gar keine Zeit, mich zu verlieben. Ich mußte reisen, mußte etwas erreichen. Und dann habe ich alles erreicht und...« Abwesend rieb sie über seine Brust, ehe sie mit nachdenklichem Gesicht weitersprach. »Es ist komisch... ich habe immer geglaubt, mein Leben sei ausgefüllt, auch ohne das hier, ohne dich. Und doch habe ich nie gewußt, daß ich mir selbst etwas vorgemacht habe. Ich dachte immer, ich hätte alles... bis jetzt.« Die Schokolade hatten sie aufgegessen, und eine Weile lagen sie nebeneinander, glücklich und zufrieden im Glanz ihrer Liebe. Sie fürchteten sich vor dem Sonntag, weil sie sich dann wieder voneinander trennen mußten. Doch sie hatten noch den ganzen morgigen Tag und das Konzert am morgigen Abend, aber danach mußte Kenny zurück nach Wintergreen und Tess zurück nach Nashville. Und was kam dann? Eine Affäre über eine so weite Entfernung hinweg? Kenny war der erste, der von dem zu sprechen begann, woran sie beide dachten. »Was glaubst du wohl, würde es klappen, wenn wir heiraten würden?« Tess reagierte ohne jede Überraschung: sie blieb in seinen Armen liegen, als wäre dies nicht die wichtigste Unterhaltung ihres ganzen Lebens. »Ich weiß nicht, aber ich habe auch schon darüber nachgedacht. « »Ich habe an nichts anderes mehr gedacht, aber es gibt dabei so vieles zu bedenken.« »Wo würden wir leben?« fragte Tess. »InNashville.«
»Und in Wintergreen?« »Wie meinst du das? Wir können nicht an zwei Orten gleichzeitig leben.« »Warum denn nicht? Wir können es uns leisten.« »Ich habe nie daran gedacht, beide Häuser zu behalten.« »Aber das könnten wir, wenn Casey das möchte. Wenigstens für eine Weile, bis sie sich an den Gedanken gewöhnt hat, daß das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, verkauft werden soll. Wir müssen da sehr vorsichtig sein.« »Ja, das denke ich auch.« »Wir könnten in deinem Haus wohnen, wenn wir zu Besuch zu Momma fahren. Aber was wird aus deiner Firma?« wollte Tess wissen. »Die würde ich verkaufen und würde mich um deine Ge schäfte kümmern.« »Das würdest du tun?« Jetzt war sie wirklich überrascht. Sie rückte ein Stück von ihm ab und starrte ihn an. »Der Gedanke ist mir gekommen, als wir uns am Telefon unterhalten haben und du mir erzählt hast, daß es so viele Einzelheiten gibt, um die du dich kümmern mußt, und wie riskant es für dich ist, deine finanziellen Angelegenheiten zu delegieren. Da dachte ich - hey, das könnte ich für Tess erledigen! Ich habe eine natürliche Begabung für so etwas, Tess. Ich bin staatlich geprüfter Steuerberater. Wer könnte sich also besser um deine finanziellen Angelegenheiten kümmern?« Sie setzte sich auf und sah ihn mit offenem Erstaunen an. »Du meinst, das würdest du wirklich tun? Du würdest wirklich deine Firma aufgeben, um mich zu heiraten?« »Aber natürlich würde ich das tun.« »Und du würdest nach Nashville ziehen? Ohne mit der Wimper zu zucken?« »Aber sicher.« »Würdest du dir keine Sorgen darüber machen, daß die Leute vielleicht sagen könnten, ich würde dich aushalten?« Kenny brach in lautes Lachen aus, dann zog er sie wieder in seine Arme. »Ohne dir zu nahe treten zu wollen, Tess, aber das ist die dümmste Frage, die ich je gehört habe. Ich weiß, wieviel Arbeit auf mich wartet, und glaube mir, ich würde mich auf keinen Fall von dir aushalten lassen. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, daß ich viel mehr Stunden arbeiten muß, als ich es jetzt tue, nach allem, was ich über den Erfolg deiner Handelsgesellschaft gehört habe.« »Du hast wirklich über alles nachgedacht, wie?« »Überlege doch mal - die Arbeit, die ich bis jetzt den ganzen Tag über mache, ist die gleiche Arbeit, für die du bis jetzt jemand anderen bezahlt hast. Warum also sollte ich diese Arbeit nicht für dich tun und dir damit das Leben
ein wenig leichter machen?« Tess überlegte. Es klang alles viel zu schön, um wahr zu sein. »Junge, Junge, wäre es nicht wunderbar, wenn ich das ganze Management der Gesellschaft auf deine Schultern laden und mich nur noch auf die kreative Seite meines Geschäftes konzentrieren könnte?« »Ich könnte mich um deine Steuern kümmern, um die Ge haltszahlungen, deine Rechnungen, deine Lizenzgebühren. Ich könnte den Pensionsfonds für deine Angestellten verwalten und die Versicherungen und all die finanziellen Einzelheiten, die nötig sind, um deine Shows zu produzieren. Wer macht das denn jetzt alles für dich?« »Eine Buchhalterin mit Namen Sue.« »Sue«, wiederholte er nachdenklich, und dann dachten beide daran, daß Sue dadurch wahrscheinlich ihren Arbeitsplatz verlieren würde. »Sie könnte mich in dein Computersystem einarbeiten und mir am Anfang helfen. Gäbe es denn genug Arbeit für uns beide?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht.« Doch das war nur ein kleines Hindernis. Er strich über ihren Arm. »Du könntest mir vertrauen, Tess«, sagte er leise. »Oh, Himmel, das weiß ich. Das weiß ich schon, seit du an dem Abend, als du das Salz für Momma gebracht hast, das Wechselgeld so peinlich genau abgezählt hast. Du hast es ihr bis auf den letzten Penny zurückgegeben.« Die Erwähnung ihrer Mutter brachte sie auf einen anderen Gedanken. »Oje, Momma würde dich wirklich sehr vermissen, wenn du aus Wintergreen wegziehen würdest.« »Wir könnten sie oft besuchen. Viel öfter, als du sie bis jetzt besucht hast. Dafür würde ich schon sorgen.« Sie dachten eine Weile darüber nach, und das Bild begann Formen anzunehmen. »Was wird denn aus Casey?« fragte Tess. »Möchtest du, daß sie bei uns lebt?« »Ich weiß nicht. Was möchtest du denn?« Tess dachte einen Augenblick darüber nach. »Ich liebe dieses Mädchen wirklich sehr«, erwiderte sie. Er küßte sie auf das Haar und schloß dann müde die Augen. »Ich weiß. So hat die ganze Sache ja angefangen, nicht wahr? Und das ist auch einer der Gründe, warum ich dich so sehr liebe.« »Aber ich muß dir gleich sagen, daß ich keine eigenen Kinder haben möchte. Dafür ist mir meine Karriere zu wichtig.« »Dann ist Casey eben unser Kind. Das ist doch perfekt.« Er gähnte. Sie stellte sich vor, wie es sein würde, Casey als ihr Kind zu haben, und der Gedanke gefiel ihr. »Ich denke, ich würde wollen, daß sie bei uns lebt,
wenigstens für eine Weile. Ich bin ihrer noch lange nicht überdrüssig.« Er lachte leise und rieb seine Wange an ihrem Haar. Es war mittlerweile getrocknet und hatte sich zu unzähligen Löckchen gekräuselt. Noch einmal gähnte er, und seine Stimme wurde immer leiser, während sie sich weiter unterhielten. »Ich möchte gern, daß du mein Haus siehst, Kenny. Es ist wirklich wunderschön. Es hat zwei Etagen mit einem herrlichen überhängenden Balkon und einem Flügel vor einem riesigen Fenster.« » Hm...«, murmelte er. »Ich habe dort auch ein Büro, und Casey hat ihr eigenes Schlafzimmer. Unser Schlafzimmer hat eine herrliche Aussicht auf den Swimmingpool.« Unser Schlafzimmer, wiederholte er im stillen und lächelte, schon halb vom Schlaf übermannt. »Wann wirst du mich besuchen und es dir ansehen, Kenny?« fragte Tess, doch sie bekam keine Antwort. »Hey, Kenny?« Sie rückte ein Stück von ihm ab und stellte fest, daß er eingeschlafen war. Lächelnd betrachtete sie sein Gesicht, das jetzt völlig entspannt war. Sie liebte diesen Anblick, stellte sich dieses Ge sicht für den Rest ihres Lebens auf dem Kissen neben ihr vor und wußte, daß es genau das war, was sie sich wünschte. »Kenny « sagte sie noch einmal, nur um seinen Namen auszusprechen, dann zog sie das zweite Kissen hinter seinem Kopf weg und warf es auf den Boden. Er bewegte sich ein wenig, als sie ihm den Rücken zudrehte und sich an ihn schmiegte. Er murmelte einige unverständliche Worte, dann legte er einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Tess lächelte, schloß die Augen und dachte, daß sie jetzt alles habe. Bei Tagesanbruch erwachte Tess genauso, wie sie eingeschlafen war - in Kennys Armen, eng an seinen Körper geschmiegt. Es war der herrlichste Platz auf der ganzen Welt, und sie schloß die Augen wieder und wartete darauf, daß er aufwachte. Als er sich bewegte, rollte sie herum und sah ihn an, sie zog die Beine an und legte die Füße über seine Knie. »Hi«, flüsterte sie, und er öffnete ein Auge. »Hi«, sagte er mit liebevoll rauher Stimme. »Hast du noch Achtung vor mir?« Er schloß das Auge wieder. »Hm-hm.« »Und willst du mich noch immer heiraten?« »Hm-hm.« »Willst du mir noch immer die Bücher führen?« »Nicht unbedingt jetzt gleich.« Sie kicherte und gab ihm einen Kuß auf das Kinn. Seine Augen blieben geschlossen. Tess steckte ihm einen Finger in den Mund, dann sagte sie:
»Wir rufen jetzt am besten den Zimmerservice an und bestellen ein Frühstück für vier. Dann sagen wir Momma und Casey, sie sollen zu uns raufkommen und erzählen ihnen, was wir vorhaben.« Er biß auf ihren Finger, aber noch immer hielt er die Augen geschlossen. »Mm-kay«, murmelte er. »Aber muß ich mir etwa jeden Morgen ein so zudringliches Benehmen gefallen lassen?« Die Worte klangen ein wenig undeutlich, dann spuckte er ihren Finger aus. »Nein«, meinte sie. »Es wird viele Morgen geben, wenn ich nicht da bin, wenn ich in irgendeiner weit entfernten Stadt singen werde - wer weiß, wo? Vielleicht bin ich sogar in China -, und dann wirst du dich einsam fühlen und dir wünschen, ich würde dich belästigen.« Er lächelte, schob ihre Knie beiseite und schob sich über sie. »Liebling«, sagte er und verschränkte seine Finger mit ihren. »Du kannst mich belästigen, wann immer, wo immer und wie immer du möchtest.« Sie nahm ihn beim Wort. Später taten sie genau das, was Tess vorgeschlagen hatte: Sie riefen die beiden Menschen an, die ihren Herzen am nächsten waren, und luden sie ein, zusammen mit ihnen in Tess' Suite zu frühstücken. Dann duschten sie, zogen sich an und versuchten, sich ihre Aufregung vor Casey und Mary nicht anmerken zu lassen. Pünktlich um zehn Uhr läutete es an der Tür, und Kenny öffnete. »Zimmerservice, Sir.« Ein weißgekleideter Kellner rollte einen Tisch vor das Sofa, klappte ihn aus und stellte dann vier Stühle außen herum. »Möchten Sie, daß ich den Champagner jetzt schon öffne, Sir?« »Ja, bitte.« Der junge Mann schlang eine weiße Serviette um die Flasche Champagner und öffnete sie. »Soll ich eingießen, Sir?« »Nein, danke. Damit werden wir warten, bis unsere Gäste hier sind.« Der Kellner stellte den Champagner in den silbernen Sektkühler, und Kenny ging mit ihm zur Tür. Als er die Tür öffnete, wollten Mary und Casey gerade läuten. »Heyyy... guten Morgen!« begrüßte er die beiden gutgelaunt und gab beiden einen Kuß auf die Wange. »Wie habt ihr geschlafen?« Casey warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Junge, Junge, du bist heute morgen aber gut gelaunt.« »Und ob.« Er klatschte in die Hände und schloß dann die Tür hinter ihnen. Tess begrüßte die beiden mit einem Kuß und führte Mary zum Sofa. Casey warf einen Blick auf den Sektkühler. »Champagner? Um zehn Uhr am Morgen? Was hat denn das für einen Grund?« »Setz dich, mein Schatz«, war alles, was Kenny darauf sagte. »Tess?« Er
rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich dann selbst. Casey betrachtete die beiden mißtrauisch, während Mary die Deckel von den silbernen Schalen hob und tief den Duft des Es sens einatmete. »Was ist das denn? Es sieht köstlich aus.« »Ein Käse-Schinken-Omelett«, antwortete Tess und hoffte, daß sie richtig geraten hatte. »Wer möchte Champagner?« fragte Kenny und holte die Flasche vom Eis. »Ich nicht«, erklärte Casey. »Ich mag das Zeug nicht.« »Ich auch nicht. Ich werde so schnell beschwipst«, wehrte Mary ab. »Aber ich möchte Kaffee.« Kenny goß ihnen allen Kaffee ein, und Casey betrachtete ihn noch immer voller Mißtrauen, als er nach ihrer Tasse griff. »Dad, was ist denn nur los mit dir? Du weißt doch, daß ich keinen Kaffee trinke.« »Oh!« Er hielt mitten in der Bewegung inne und stellte dann die silberne Kaffeekanne ab. »Na ja... dann trinkst du eben deinen Orangensaft, denn Tess und ich möchten mit euch anstoßen. « Er setzte sich und nickte dann Tess zu. Tess hob ihr Champagnerglas. »Momma... Casey...« Sie stieß mit ihrem Glas gegen das von Kenny, gegen Caseys Orangensaftglas und Mommas Kaffeetasse. »Ich möchte einen Toast aussprechen auf uns alle hier und auf unser zukünftiges Glück. Wir haben euch beide hierher eingeladen, um euch zu sagen, daß Kenny und ich heiraten werden.« Mary sah so verwundert aus, daß Tess glaubte, sie würde ihre Kaffeetasse fallen lassen. Casey rief: »Ich wußte es!« »Woher has t du das denn gewußt?« fragte Kenny. »Na ja, du hast noch immer die Hose von deinem Smoking an, Dad.« Sie sprang auf und umarmte ihn. »Oh... ja, das ist wahr.« »Es ist also ganz offensichtlich, daß du gestern abend nicht sehr viel Zeit in deinem Zimmer verbracht hast. Oh... tut mir leid, Mary.« »Ihr wollt heiraten?« stammelte Mary. »Aber... aber wann ist das alles denn passiert? Ich dachte, ihr beiden... o du liebe Güte... oh, es ist nicht zu fassen...« Sie begann zu weinen. »Momma, was ist denn los?« »N-nichts. Ich bin nur so glücklich.« Sie hob die Serviette vor das Gesicht. »Wirst du wirklich Kenny heiraten?« »Ja, das werde ich.« Tess legte ihre Hand auf die ihrer Mutter, während Mary sich mit der Serviette unter die Brille fuhr und sich die Augen wischte. Dann umarmten sie einander. »Oh, du liebe Güte, das ist zuviel.«
Als nächstes umarmte Casey Tess, und beide fühlten, wie ihnen der Hals eng wurde. »Also, ihr beide...«, meinte Casey und konnte kaum weitersprechen. »Ihr wißt schon, wie ihr ein Mädchen glücklich machen könnt.« Als die Gefühle sie zu überwältigen drohten, suchte sie Zuflucht in einem Scherz. »Soll das etwa heißen, daß ich dich Mutter nennen muß, Mac?« »Mutter Mac? Oh, bitte nicht.« Sie lachten alle vier, doch alle hatten Tränen in den Augen. Dann meinte Mary: »Kenny, komm her« und streckte ihm die Arme entgegen. Er stand auf, ging zu ihr hinüber, beugte sich zu ihr, und sie legte liebevoll die Arme um ihn, während er sich neben ihren Stuhl kniete. »Oh, Kenny«, flüsterte sie, doch mehr konnte sie nicht sagen. Sie fühlte, wie erneut die Tränen über ihre Wangen rollten, während er sie fest im Arm hielt. . »Ich liebe sie so sehr«, flüsterte er. »Beinahe so sehr, wie ich dich liebe.« Er zog sich ein wenig von ihr zurück und sah sie an, dann drückte er ihre Hände. »Es ist ganz einfach unglaublich.« »Es ist... ich weiß.« Mary löste eine ihrer Hände aus den seinen und reichte sie Tess. »Du und Kenny«, sagte sie. »Aber das Schlimmste kommt noch«, warnte Tess sie. »Ich werde ihn dir wegnehmen.« »Oh, sei doch nicht dumm.« Mary hatte ihre Fassung wiedergefunden, sie ließ die Hände der beiden los und wedelte ungeduldig mit der Serviette. »Ich komme ganz gut auch ohne ihn zurecht. Immerhin habe ich zwei Schwiegersöhne und große, kräftige Enkel. Sie können mir helfen, wenn ich etwas brauche.« »Aber du wirst ihn vermissen.« »Natürlich werde ich ihn vermissen. Aber - oje - wie glücklich habt ihr beide mich gemacht.« Ganz plötzlich kam Casey ein Gedanke. »O du liebe Güte!« rief sie aus. »Dann bist du ja meine Großmutter, Mary!« »Also, das ist ein Gedanke, der mir gefällt!« Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich endlich ihrem Frühstück widmen konnten. Wer dachte schon ans Frühstücken, wenn man so glücklich war, daß alle anderen Dinge unwichtig wurden? Doch schließlich bemerkte jemand, daß das Essen langsam kalt wurde, und sie deckten die Schüsseln auf und begannen zu essen. Casey hielt plötzlich inne und sprach das aus, was alle fühlten. »Hey, wißt ihr, was? Es wird absolut perfekt sein - ich meine, daß wir vier eine Familie sind. Es ist beinahe so, als wäre es vorherbestimmt gewesen.« So war es ganz sicher, und sie lächelten.
Es war vorherbestimmt.
22. Kapitel Nicht einmal zwei Monate später heirateten Tess und Kenny in der Kirche, in der Tess in Kennys Chor gesungen hatte. Die Hochzeit sollte um ein Uhr an einem Mittwoch nachmittag stattfinden, weil die Kirche für alle Wochenenden in diesem Monat ausgebucht war, genau wie die Braut. Sie hatte am vergangenen Wochenende ein Konzert in Va ncouver gegeben, und am nächsten Wochenende sollte sie in Shreveport singen. Doch an diesem Tag - einem heißen Spätsommertag, an dem die Temperaturen über dreißig Grad stiegen und die Zikaden in den Gärten sangen - würde sie nicht ihren Fans gehören, sondern nur ihrem Mann. Eine Stunde, bevor die Zeremonie in der Kirche beginnen sollte, war Mary in ihrer Küche, bereits fertig angezogen, als sie hörte, wie Tess und Renee die Treppe hinunterkamen. Sie hatte die beiden schon den ganzen Morgen lachen und reden hören, und sie waren im Haus hin und her gelaufen. Jetzt kamen sie herunter, denn endlich waren auch sie fertig. »Nun, Momma, hier bin ich«, sagte Tess und blieb an der Tür stehen. Die alte Frau legte die Hand an den Mund. »O Gott... o du meine Güte... ich glaube, das ist der glücklichste Tag in meinem ganzen Leben. Ich glaube, ich bin heute glücklicher, als ich es an meinem eigenen Hochzeitstag war.« »Fange jetzt nur nicht an zu weinen, Momma, nachdem Renee und ich dich so schön geschminkt haben.« Mary riß sich zusammen und machte dann eine Handbewe gung. »Dreh dich um, laß mich dich ansehen.« Tess vollführte eine Drehung und zeigte ihr Brautkleid. Es war sehr schlicht, aus weißem Leinen, mit angesetzten Ärmeln, einem viereckigen Ausschnitt und einem schmalen Rock, dessen Saum mit Spitzen aus Durchbruchstickerei besetzt war, die etwa zehn Zentimeter über ihre Knöchel reichten. An den Füßen trug sie weiße Leinenpumps und auf dem Kopf statt eines Schleiers einen Kranz aus Schleierkraut um ihr hoch aufgetürmtes Haar. Ihr einziger Schmuck waren ein paar kleine Saphirohrringe, die zu dem Ring paßten, den Kenny ihr geschenkt hatte: einem Saphir, mit Diamanten besetzt. »Sieht sie nicht großartig aus?« fragte Renee, die am Türrahmen lehnte. »Gütiger Gott«, sagte Mary. Die Braut war sicher das Hübscheste in dieser Küche, die sich überhaupt nicht verändert hatte. Die gleiche häßliche Uhr hing noch immer an der Wand, auf dem altmodischen Tisch stand noch der gleiche verbogene Plastikuntersetzer. Auch die Arbeitsplatte war noch immer genauso zerkratzt wie zuvor.
Doch das Haus war kühl, denn Tess hatte erklärt: »Momma, wenn du möchtest, daß ich in der Ersten Methodistenkirche heiraten soll, dann wirst du mir erlauben müssen, eine Klimaanlage im Haus einzubauen. Denn wenn du glaubst, daß ich mich mitten im Sommer unter dem Dach ankleiden werde, dann irrst du dich. Ich werde schmelzen wie ein Eisbällchen, und du wirst mich so nicht in die Kirche bekommen!« Also hatte Mary Clarence Spillforth in der Heizungsfirma in der Stadt angerufen und gesagt: »Clarence, ich möchte, daß du hierherkommst und mir eine Klimaanlage in mein Haus ein baust, denn meine Tochter Tess wird hier heiraten. Sie heiratet Kenny Kronek, und er zieht mit ihr nach Nashville, um sich um ihre Geschäfte zu kümmern. Seine Tochter Casey? Nun, weißt du denn nicht, daß sie auf Tess' letzter Platte mitgesungen hat? Also, Clarence, wann kannst du kommen?« Alle in der Stadt wußten, was in einer Stunde in der Ersten Methodistenkirche geschah. Es würden eine ganze Menge Re porter vor der Kirche sein, und Tess hatte nicht den Wunsch, ihrem Ehemann zum erstenmal gegenüberzustehen, wenn aus allen Richtungen die Fotoapparate klickten. Also hatten sie und Kenny einen geheimen Plan gemacht. Sie nahm Marys Hand. »Du verstehst das doch, nicht wahr, Momma? Kenny und ich wollen nur ein paar Minuten allein sein, ehe wir in die Kirche gehen.« »Aber natürlich. Du hast das Recht, deinen Hochzeitstag so zu gestalten, wie du es möchtest. Ich hole meine Tasche, dann können wir gehen.« Während sie in ihr Schlafzimmer ging, nur noch ein leichtes Hinken war zu erkennen, lächelten Tess und Renee einander gerührt an. »Danke, daß du heute morgen bei mir geblieben bist«, sagte Tess und nahm Renee in den Arm. »Ich hätte es um nichts in der Welt missen mögen.« »Bist du mir auch ganz bestimmt nicht böse, daß ich dich nicht gebeten habe, meine Brautführerin zu sein?« »Ganz und gar nicht. Du hast schon die richtige ausgesucht.« »Danke, daß du so verständnisvoll bist.« »Ich bin soweit«, erklärte Mary, die aus ihrem Schlafzimmer kam. »Laß uns gehen, Renee, und die beiden tun lassen, was auch immer es ist, was sie tun wollen.« An der Hintertür blieb Renee noch einmal stehen und sah sich nach Tess um. »Es ist der glücklichste Tag ihres Lebens, also ist es auch kein Geheimnis mehr, wer von jetzt an ihr Lieblingsschwiegersohn sein wird. Wir alle freuen uns darüber, Tess.« »Danke, Schwesterchen.« Sie gingen, und im Haus wurde es still. Draußen in der Gasse fielen
Autotüren zu, ein Motor wurde angelassen, dann verschwand das Geräusch in der Ferne. Der einzige Laut in der Küche war das Ticken der Uhr. Tess ging zum Fenster an der Spüle und sah hinaus. Der Rasen war ordentlich gemäht worden. Dicke rote Tomaten hingen an den Stöcken im Garten. An der Seite von Kennys Garage rankte eine große Clematis, die über und über mit leuchtendroten Blüten bedeckt war. Die Sonne schien auf seine Veranda, auf der sie beide zusammen gespielt hatten, als sie noch Kinder waren. Seine Garagentür war offen, und im Inneren konnte sie den brandneuen Mercedes sehen, den sie ihm als Hochzeitsgeschenk gekauft hatte. Es war ein guter Kauf, hatte er ihr erklärt, denn sie konnte ihn als Ge schäftskosten von der Steuer absetzen, da er jetzt der neue Vize präsident der Wintergreen-Handelsgesellschaft war. Sie lächelte und dachte daran, wie perfekt sich sein Leben dem ihren angepaßt hatte und wie sehr er ihr in Zukunft helfen würde. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und holte ihren Brautstrauß, eine einzelne Gardenie, aus dem Kühlschrank. »Also, es geht los«, flüsterte sie und ging zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen und warf einen Blick zurück auf die Küche ihrer Mutter, zum letzten Mal als unverheiratete Frau. Sie hatte keine Ahnung, warum sie noch einmal stehenblieb und zurückblickte, aber als sie es tat, überkam sie ein überwältigendes Gefühl der Nostalgie. Bitte, gib, daß sie hier nie etwas verändert, dachte sie. Laß mich immer wieder nach Hause kommen und es so vorfinden wie jetzt, mit dem Plastikuntersetzer und auch mit allem anderen. Draußen auf der Treppe brannte die Sonne, und Tess blieb stehen und warf einen Blick hinüber auf die Gasse. Es dauerte nicht einmal fünf Sekunden, ehe auch Kenny auf seiner Hintertreppe erschien. Er trug einen grauen Smoking mit einer Jacke mit Rockschößen und einem gefältelten weißen Hemd. Selbst aus dieser Entfernung ließ sein Anblick ihr Herz schneller schlagen, dieser Mann, von dem sie bis jetzt immer geglaubt hatte, er sei konservativ, der sie aber immer wieder mit seiner Kleidung überrascht hatte. Einen Augenblick lang blieben sie stehen und sahen einander über die beiden Gärten hinweg an. Sie erinnerten sich an einen Sonnenaufgang, an dem die Sonne hinter ihm über den Bäumen aufgegangen war, und an den Sprenger im Garten, um den Tess herumgesprungen war, und an Kenny, der sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand beobachtet hatte, während seine nackten Zehen sich um die oberste Treppenstufe gekrallt hatten. Heute gab es keine nackten Zehen. Statt dessen gab es zwei verzauberte Menschen in Hochzeitskleidung, die eine Zeremo nie nach ihrer eigenen Vorstellung schufen. Langsam gingen beide die jeweiligen Treppen hinunter, durch die Gärten,
über das sommerliche Gras. Statt einer Orgel zirp ten die Zikaden ihr Lied irgendwo zwischen den Rhabarberblättern. Statt der Brautjungfern flatterten ein paar weiße Kohlmotten vor Tess herum. Statt eines Kirchenschiffs gab es nur einen rauhen Steinweg und statt eines Altars eine Gasse. Auf dieser Gasse trafen sie sich, genau in der Mitte zwischen seinem Haus und dem ihren, wo sie sich in den vergangenen Wochen sooft getroffen hatten, wo sie sich verliebt hatten. Die Sonne warf ihr Licht auf Kennys dunkles, ordentlich gekämmtes Haar und zauberte kleine Flämmchen in ihre roten Locken. Sie ließ seine Augen aufleuchten und warf ihr Licht auch in Tess' Augen, aus denen ihm die Liebe entgegenstrahlte. Er nahm ihre Hand, und die einzelne, übergroße Gardenie fiel über ihr Handgelenk. »Hallo«, sagte er leise. »Hallo.« »Einen glücklichen Hochzeitstag wünsche ich dir.« »Ich wünsche dir auch einen glücklichen Hochzeitstag.« »Du siehst...« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Strahlend siehst du aus.« »Ich fühle mich auch, als ob ich strahle. Und du siehst ausgezeichnet aus.« »Ich fühle mich wie der glücklichste Mann auf der ganzen weiten Welt.« Sie lächelten einander an. Dann fragte Kenny: »Bist du bereit? « »Ja.« »Ich auch. Dann fang an.« Sie senkte den Blick für einen Augenblick, sammelte sich und sah dann in seine Augen. »Ich, Tess McPhail...« »Ich, Kenneth Kronek...« »Nehme dich, Kenneth Kronek...« »Nehme dich, Tess McPhail...« »Zu meinem geliebten Ehemann für den Rest meines Lebens.« »Zu meiner geliebten Ehefrau für den Rest meines Lebens.« »Dich zu lieben, wie ich dich heute liebe...« »Dich zu lieben, wie ich dich heute liebe...« »Allen anderen zu entsagen...« »Ganz bestimmt allen anderen zu entsagen...« »Und wir werden miteinander teilen, was wir haben, und was wir haben werden... die Freuden und die Sorgen, die Arbeit und das Spiel, die Probleme und das Schöne... und deine Tochter... und meine Mutter... und all die Liebe und die Pflichten, die wir brauchen, um sie die kommenden Jahre über zu
begleiten ...« »Und wir werden immer freundlich zueinander sein...« »Ja. Und voller Respekt...« »Und ich schwöre, dich zu lieben, dich zu unterhalten, dir Kraft zu geben und Erleichterung, wenn du sie brauchst.« »Und ich werde das gleiche für dich tun.« Sie überlegten, ob sie noch etwas vergessen hatten. Ihm fiel noch etwas ein. »Und ich entsage jeglicher Eifersucht... deinen Fans und all den Anforderungen gegenüber, die an dich gestellt werden.« Sie lächelte. »Wirklich, Kenny, das ist sehr lieb von dir.« »Das wird wahrscheinlich das schwierigste sein«, gestand er ihr. Sie streichelte seine Hand. »Für mich auch«, antwortete sie. »Es wird mir sehr schwerfallen, von dir getrennt zu sein.« Erneut hielten sie inne und sahen einander ernst an, denn dieser Augenblick war viel zu kostbar, um ihn mit einem Lächeln zu entweihen. »Ich liebe dich, Kenny.« »Ich liebe dich, Tess.« »Für immer.« »Für immer.« Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen zärtlichen Kuß, während Fliegen um sie summten und die grelle Sommersonne den Duft ihrer Gardenie mit dem Geruch der staubigen Gasse vermischte. Als er sich wieder von ihr löste, lächelten sie beide strahlend. »Ich fühle mich so verheiratet wie nur möglich«, gestand sie ihm. »Ich auch. Also, dann wollen wir es jetzt auch für all die anderen tun.« Zur Überraschung vieler war es eine der bescheidensten Hochzeiten, die je in der Ersten Methodistenkirche abgehalten worden waren. Einige hatten Lichtgestalten der Plattenindustrie erwartet, die bei der Hochzeitsfeier singen würden. Statt dessen sang nur der Chor der Ersten Methodistenkirche, dirigiert von Mrs. Atherton, die die Leitung des Chors wieder selbst übernommen hatte. Einige hatten eine ganze Reihe von Brautführern erwartet, doch es gab nur zwei. Andere wieder hatten erwartet, daß es männliche und weibliche Brautführer geben würde, doch man hatte alle Tradition in den Wind geschlagen. Nur Casey Kronek und Mary McPhail schritten strahlend durch das Kirchenschiff. Und als dann endlich die Braut erschien, hatten alle erwartet, daß sie ein Kleid tragen würde, das einige tausend Dollar wert war und sie wie eine duftige Wolke einhüllen würde. Statt dessen trug sie ein schlichtes weißes Kleid und einen noch schlichteren Kranz aus mädchenhaft weißen Blüten in ihrem Haar. Sie lächelte Kenny an, als sie durch das Kirchenschiff auf ihn zukam. Er wartete am Altar mit Hochwürden Giddings, und als Giddings fragte: »Wer
übergibt diese Frau, damit sie mit diesem Mann verheiratet wird«, antwortete Mary mit fester Stimme: »Ich.« Und Casey sagte: »Ich.« Auch wenn hinter ihnen einige Leute äl chelten und man eine leise Belustigung in der Gemeinde hörte, dachten doch alle, wie perfekt es war, daß diese beiden öffentlich ihren Segen zu dieser Hochzeit gaben. Denn alle in der Kirche wußten, wie sehr Kenny Mary liebte, wie er sich um sie kümmerte und wie sie praktisch die Großmutter seiner Tochter Casey geworden war, nachdem Caseys eigene Großmutter gestorben war. Und wer anders als die berühmte Tess McPhail hätte es gewagt, zwei Frauen als Brautführer bei ihrer Hochzeit auszuwählen? Und noch einmal mißachtete sie die Tradition bei der traditionellen Überreichung der Rosen. Normalerweise erhielten die Eltern des Brautpaares die Rosen. Doch als Kenny eine Rose Mary reichte, gab Tess eine Rose Casey, und als sie dann Wange an Wange legten, wurden die Augen der meisten Gäste in der Kirche feucht. Die Hochzeitsgäste erwarteten noch mehr Überraschungen, denn nach dem Austausch der Hochzeitsschwüre nahm die Braut das Mikrofon und sang für ihren Ehemann. Und als dann Casey auch ein Mikrofon nahm und die zweite Stimme zu dem Lied sang, hätte es sie eigentlich nicht mehr überraschen dürfen. Immerhin, was an dieser Hochzeit erfüllte schon die althergebrachten Vorstellungen? Außerdem hatte sich herumgesprochen, daß dieser Song von dem neuen »Mutter-Tochter«-Duo gemeinsam geschrieben worden war und daß er der Titelsong der neuen Platte sein würde, die im Herbst herauskam. Allerdings gab es auf der Kronek-McPhail-Hochzeit doch einigen Glanz. Unter den Gästen befand sich eine Gruppe von Tess' Freunden, die von Nashville gekommen waren. Ihre Namen waren allen bekannt, und ihre Gesichter kannte man überall. Es war die Creme de la Creme der Country-Musikszene in Nashville, es waren die Stars, die Tess zu ihren Freunden zählte. Als Braut und Bräutigam freudestrahlend aus der Kirche tra ten und durch das Spalier der Gäste gingen, reihten sich diese Stars ein, genau wie alle anderen, und auch sie gratulierten dem frisch verheirateten Paar, während die Leute aus Wintergreen begeistert waren, Seite an Seite mit ihnen zu stehen. Und auch wenn ihre Anwesenheit bei der Hochzeit denkwürdig war, so wurde doch die Anwesenheit eines anderen Gastes genauso beachtet. Faith war gekommen. Die Frage war gestellt worden, ob man sie einladen sollte oder nicht, doch am Ende hatten Kenny und Tess entschieden, daß sie ganz bestimmt eingeladen werden sollte, denn immerhin war sie ein wichtiger Teil
von Kennys Leben gewesen. Sie war ganz Dame, und sie verhielt sich völlig korrekt, als sie sich in die Reihe der Gratulanten einreihte, Tess die Hand reichte und sie anlächelte. »Meinen Glückwunsch, Tess, du siehst bezaubernd aus. Danke, daß ihr mich eingeladen habt.« Auch Kenny reichte sie die Hand, sie lächelte noch immer und zeigte nichts anderes als die Freude, dabeisein zu dürfen, ganz gleich, wie sehr ihr Herz auch gebrochen war. »Kenny, ich hoffe, du und Tess werdet sehr glücklich miteinander.« Braut und Bräutigam fuhren in einer weißen Limousine nach Current River Cove hinaus, wo der Empfang sich nur sehr wenig von den Hunderten von Feiern unterschied, die bis jetzt dort stattgefunden hatten: Das knusprige Hähnchen zum Essen schmeckte wie hausgemacht, der Tanz nach dem Essen jedoch war noch ein ganzes Jahr lang das Stadtgespräch. Tess' eigene Band spielte auf, und die Stars aus Nashville traten, einer nach dem anderen, auf die Bühne und sangen ihre Hits für die Tänzer. Mitten in dieser spontanen Show stand Judy beleidigt auf und ging zur Toilette, um ihr Haar zu richten und ihrer Verärgerung Luft zu machen. »Sie gibt an, mit all ihren berühmten Freunden« zischte sie den beiden anderen Frauen zu, die gerade vor dem Spiegel standen und sich die Lippen nachzogen. »Das macht mich ganz krank.« Judy würde niemals die Tatsachen in Tess' Leben akzeptieren: viele ihrer Freunde waren berühmt, genau wie sie selbst. Viele waren für andere ein Idol, ihre Bilder fanden sich auf Plattencovern, genau wie das Bild von Tess. Viele von ihnen waren Millionäre. Doch wenn Tess sie am heutigen Tag nicht eingeladen hätte, wäre das eine sehr unhöfliche Geste gewesen. Und es zeugte von ihrer Zuneigung zu Tess, daß sie ihre Termine so gelegt hatten, daß sie heute hier sein konnten. Vince Gill und Reba McEntire sangen zusammen den alten Klassiker »Oklahoma Swing«, als Judy in den Saal zurückkam. Tess und Kenny tanzten zusammen, und Tess entdeckte sie. »Da ist Judy«, sagte sie zu ihrem frischgebackenen Ehemann. »Sie ist mal wieder in einer ihrer eifersüchtigen Stimmungen. « Er drehte sie geschickt so, daß sie Judy den Rücken zudrehte. »Weißt du, was, mein Liebling?« meinte er. »Du wirst Judy niemals ändern können.« »Mittlerweile habe ich das begriffen.« »Und du wirst dir doch davon deinen Hochzeitstag nicht verderben lassen, oder?« Sie lächelte ihn aufrichtig an. »Ganz sicher nicht.« Sie hatte Judys Unsicherheit begriffen, die die Wurzel ihrer Eifersucht war, und anstatt böse auf sie zu sein, empfand sie nur Mitleid für ihre Schwester. Und dort, auf der anderen Seite der Tanzfläche, tanzte ihre Schwester Renee mit Jim, und
Renee machte all die Eifersucht Judys mit ihrer echten und beständigen Liebe wieder gut, die hinter all den Ruhm und den Reichtum blickte. Und dann war da ja auch noch Momma... Sie flirtete mit Alan Jackson! Momma saß am Tisch, umgeben von all ihren Freunden, die sich um sie kümmerten und die genug Gesprächsstoff sammelten für ein ganzes Jahr Unterhaltung am Kartentisch. »Sieh dir nur Momma an«, sagte Tess. Kenny blickte zu ihr hinüber und lachte leise. »Ich glaube, sie hat wieder zuviel Champagner getrunken.« »Vor sechs Monaten noch wäre ich wahrscheinlich zu Alan gegangen und hätte mich für sie entschuldigt, aber jetzt sehe ich keinen Grund, mich für irgend etwas zu entschuldigen, was Momma tut. Sie ist, was sie ist, und ich liebe sie.« Und das sagte sie auch Mary, als sie sich von ihr verabschiedeten, um sich dann heimlich, ohne sich von ihren Gästen zu verabschieden, davonzustehlen. Mary sagte: »Also, Kinder, und ihr werdet dafür sorgen, daß ihr sooft wie möglich nach Hause kommt.« »Das versprechen wir.« »Und ich werde mich um Casey kümmern, wenn sie hier ist.« Casey sollte noch eine Woche in Wintergreen bleiben, ehe sie mit Kennys neuem Mercedes zurück nach Nashville fuhr. »Danke, Momma.« Sie gab ihrer Mutter einen Kuß. »Danke, Momma«, sagte auch Kenny, und Mary war völlig überwältigt von ihren Gefühlen, denn zum ersten Mal hatte er sie so genannt. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Du Lieber«, sagte sie. »Ich wette, deine eigene Momma lächelt gerade in diesem Augenblick vom Himmel auf uns herunter. Und jetzt geh, nimm deine Frau und verschwinde.« Sie fanden Casey und sagten ihr, daß sie heimlich verschwin den würden. Kenny gab ihr den Wagenschlüssel. »Sei vorsichtig mit meinem neuen Mercedes«, riet er ihr. Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Sei vorsichtig mit meiner neuen Mutter«, entgegnete sie, dann wandte sie sich an Tess. »Ts chüs, Mac, ich wünsche euch schöne Flitterwochen.« Auf dem Weg zum Flughafen geriet ihre Limousine doch wahrhaftig hinter Conn Hendricksons schwerfällig polternden Heizölwagen. Tess bog den Kopf zurück und lachte laut. »Was ist denn so komisch?« »Es ist genauso wie an dem Tag im letzten April, als ich nach Hause kam. Da fuhr ich auch um den ganzen Stadtplatz herum hinter Conns Wagen her.
Das war der Tag, an dem ich dir begegnet bin.« »Hm... nicht so ganz«, fügte er hinzu. »Wieder begegnet«, korrigierte sie sich. »So ist es schon besser.« Ihr Privatjet wartete am Three Rivers Airport, und sie flogen damit nach Nashville, wo am Flughafen ihr Z auf sie wartete. Sie grinste ihren Mann schelmisch an, dann fragte sie: »Möchtest du gern fahren?« »Donnerwetter«, antwortete er gespielt überrascht und nahm die Autoschlüssel. »Das ist wirklich die wahre Liebe, nicht wahr?« Viele hätten wohl angenommen, daß eine Millionärin wie Tess McPhail Kronek ihre Hochzeitsnacht in der herrlichsten Hochzeitssuite der exotischsten Stadt der Welt verbringen würde, doch sie hatte schon so viele Nächte in Hotels verbracht, daß der Gedanke an ihr eigenes Zuhause ihr wie ein Luxus vorkam. Außerdem war Kenny, obwohl seine Sachen sich bereits in ihrem Haus befanden, noch nicht bei ihr eingezogen. Sie hatten sich aus den verschiedensten Gründen dafür entschieden, daß er erst in der Hochzeitsnacht dort schlafen sollte. Einer der Gründe war Casey, auf deren Respekt er noch immer gro ßen Wert legte. Ihr Zimmer war nur ein paar Türen weiter, und er wollte ihr kein schlechtes Beispiel geben, ganz gleich, was er an dem Morgen in L. A. für eine Hose getragen hatte. Ein anderer Grund waren die Paparazzi und der Klatsch. Leute, die so berühmt waren wie Tess, konnten ihnen nicht entgehen, denn immer waren sie bereit, eine schmutzige Überschrift in der Zeitung zu veröffentlichen. Doch noch wichtiger waren Tess und Kenny selbst, die sich entschieden hatten, eine Hochzeitsnacht zu verbringen mit all der Erwartung, die dazugehörte. Als sie vor Tess' Haus angekommen waren, fragte Kenny: »Darf ich dir die Ehre erweisen, Mrs. Kronek?« Und Tess antwortete: »Ich würde es gar nicht anders haben wollen, Mr. Kronek.« Als er sie über die Schwelle trug, ertönte aus den eingebauten Lautsprechern im Haus leise Musik — keine Country- oder Rock-Musik sondern Debussys »Träumerei«. Im Flur blieb er stehen und küßte sie, ehe er sie auf die Füße stellte, und dann betraten sie das Haus. Maria hatte Walnußhühnerbrust in Brandysauce zubereitet, die nur noch im Ofen aufgewärmt werden mußte, dazu gab es frische französische boule und einen Salat aus Artischockenherzen. Der Tisch war für zwei gedeckt, mit Kerzen und einer einzelnen weißen Rose, die in einer Glasschale schwamm. Im Wohnzimmer lagen Hochzeitsgeschenke auf der Klavierbank und oben waren die Doppeltüren des großen Schlafzimmers geöffnet, und ein Strauß
Rosen erfüllte den Raum mit seinem Duft. Kenny blieb an der Tür stehen und griff nach Tess' Hand. Er war überwältigt von einem Gefühl des Überschwangs, das ihm einen Moment den Atem nahm. »Ich kann nicht glauben, daß ich in diesem Haus mit dir leben werde.« »Manchmal kann ich es selbst auch kaum glauben.« »Daß wir beide so viel Glück haben... daß all das uns gehören soll.« »Und dazu auch noch Liebe. Es scheint ein wenig viel zu sein, nicht wahr?« Doch es gehörte alles ihnen, und sie traten in das Zimmer, um ihr gemeinsames Leben zu beginnen. Später, als sie ihre Zusammengehörigkeit auch im Bett gefestigt hatten und nachdem sie Marias köstliches Walnußhühnchen gegessen hatten und im Swimmingpool geschwommen waren und die Hochzeitsgeschenke geöffnet hatten, saßen sie schließlich zusammen auf dem Fußboden, zwischen dem Papier der geöffneten Geschenke, und nur noch ein kleines Päckchen hatten sie nicht geöffnet. »Momma hat gesagt, das sollten wir bis zum Schluß aufheben«, sagte Tess. »Also, mach es auf«, drängte Kenny. Sie begann, das Klebeband abzureißen. »Was glaubst du, könnte da drin sein?« »Ich habe keine Ahnung.« Es war nicht größer als ein Geld beutel. Nachdem sie das Papier abgerissen hatte, öffnete Tess den Deckel einer kleinen Pappschachtel. Etwas fiel in ihre Hand, als sie sie ein wenig schräg hielt: ein Bilderrahmen mit einer Fotografie von Tess und Kenny, als sie etwa zwei und drei Jahre alt gewesen waren. Sie saßen auf der Hintertreppe von Marys Haus und aßen zusammen Wassermelo nen. Ihre Knie stießen gegeneinander, ihre Füße waren nackt, die Zehen hatten sie um die Treppenkante gekrallt, ihre Ge sichter waren von der Sonne gebräunt und schmutzig, als hätten sie den ganzen Tag gespielt, ehe das Foto gemacht worden war. Tess' Reaktion auf das Bild war genauso gefühlvoll, wie die von Mary gewesen war, als sie ihr erklärt hatten, daß sie heiraten wollten. »Oh«, sagte sie, legte eine Hand an den Mund, und Tränen traten in ihre Augen, als sie ihm das Bild reichte. »Oh, sieh doch nur...« Er sah sich das Bild an, und ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals. »Hast du dieses Bild schon einmal gesehen?« wollte sie wis sen. »Ich glaube nicht.« Liebevoll rieb sie mit dem Ärmel ihres Kleides über das Glas. »Ich frage mich, wo es all die Jahre gesteckt hat.«
»Im Schrank deiner Mutter, nehme ich an. Sie hat es sicher zusammen mit all den kleinen Kostbarkeiten aufbewahrt, an denen Mütter so hängen.« »Glaubst du, sie haben das alles hier damals schon geplant, als sie uns zugesehen haben, wie wir zusammen gespielt haben?« »Vielleicht haben sie etwas gewußt, was wir nicht wußten.« Sie küßten einander und fühlten sich als etwas ganz Besonderes, weil sie wußten, daß sie Liebe nicht nur voneinander bekamen. Wie durch ein Wunder schien das Schicksal sie zu diesem Tag geführt zu haben. »Wie spät ist es?« fragte Tess. »Beinahe elf Uhr.« »Ach, das ist mir egal. Ich werde Momma anrufen.« Kenny strahlte, er stand auf und zog sie zu sich hoch. »Ja, das wollen wir tun!« Sie nahmen das Bild mit, und dann gingen sie zusammen zum Telefon, um Mary aufzuwecken und sich bei ihr zu bedanken und ihr zu erzählen, wie glücklich sie waren. Und dann mußten sie auch noch Casey anrufen, um ihr eine gute Nacht zu wünschen und ihr zu sagen, daß sie sie liebten. Als sie danach schließlich nach oben gingen, nahmen sie das Bild mit und stellten es auf den Nachttisch neben dem Bett, wo es noch stehen würde, wenn sie am Morgen wieder erwachten. Und am Morgen danach und am Morgen danach. Und immer, wenn sie es in den kommenden Jahren ansehen würden, würden sie die Worte aussprechen, die Casey an dem Morgen im Hotel gesagt hatte: »Es ist beinahe so, als wäre es vorherbestimmt gewesen.« Und der andere würde lächeln. Denn eine Antwort darauf war nicht nötig.
Dateiname: Spencer, Lavyrle - Melodie des Lebens Verzeichnis: F:\ in arbeit\,elodie des lebens Vorlage: C:\Dokumente und Einstellungen\ulrike steffens\Anwendungsdaten\Microsoft\Vorlagen\Normal.dot Titel: Thema: Autor: ulrike steffans Stichwörter: Kommentar: Erstelldatum: 28.09.2003 1:33 Änderung Nummer: 2 Letztes Speicherdatum: 28.09.2003 1:33 Zuletzt gespeichert von: ulrike steffans Letztes Druckdatum: 28.09.2003 1:34 Nach letztem vollständigen Druck Anzahl Seiten: 308 Anzahl Wörter: 104.581 (ca.) Anzahl Zeichen: 658.863 (ca.)