Leben mit dem Krieg
Carolyn Nordstrom
Leben mit dem Krieg Menschen, Gewalt und Geschäfte jenseits der Front
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Leben mit dem Krieg
Carolyn Nordstrom
Leben mit dem Krieg Menschen, Gewalt und Geschäfte jenseits der Front
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn und Thomas Atzert
Campus Verlag Frankfurt/New York
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Shadows of war. Violence, power, and international profiteering in the twenty-first century« bei University of California Press, Berkeley and Los Angeles, California. Copyright © 2004 by the Regents of the University of California Die Teile 1, 2, 3 und 5 wurden von Andreas Wirthensohn, Teil 4 von Thomas Atzert übersetzt.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37722-5 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagfoto: Liberia nach Ankunft von Friedenstruppen und US-Soldaten © picture-alliance/dpa Satz: Andreas Wirthensohn, München Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Inhalt
Danksagung ............................................................................................................... 9
Erster Teil: Einleitung 1. Prolog ................................................................................................................ 17 2. Gespräch in einer Bar an der Front ............................................................... 33 3. Dinge unsichtbar machen ............................................................................... 39
Zweiter Teil: Krieg 4. Die Frontlinien finden .................................................................................... 59 5. Gewalt ............................................................................................................... 69 6. Macht ................................................................................................................. 87
Dritter Teil: Schatten 7. In den Schatten treten .................................................................................. 103 8. Eine erste, vorläufige Definition der Schatten .......................................... 121 9. Schattenkulturen: Fleisch, Kartoffeln, Diamanten und Gewehre des Alltags ............................................................................. 133
Vierter Teil: Frieden? 10. Die Institutionalisierung der Schattenwelten ............................................ 11. Die Autobiografie eines Mannes namens Frieden ................................... 12. Nicht Krieg, nicht Frieden: Die Zeit dazwischen ..................................... 13. Frieden ........................................................................................................... 14. Die Schwierigkeiten mit dem Frieden ........................................................
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INHALT
Fünfter Teil: Gefährliche Profite 15. Ironie der Schatten: Unsagbare Gewinne und ein Schlüssel für die Entwicklung ....................................................... 227 16. Warum interessieren uns die Schatten nicht? ............................................ 243 17. Epilog: Die zwei Seiten einer Medaille ....................................................... 259
Anmerkungen ...................................................................................................... 265 Literatur ................................................................................................................ 273 Verzeichnis der Abkürzungen ........................................................................... 279
Für Patricia Churchill, die mir, als ich fünf war, sagte, ich könne gehen, wohin immer ich wolle. Das Zuhause des Vagabunden…
Danksagung
Als ich 1996 eineinhalb Jahre lang im südlichen Afrika unterwegs war, begann ich einen Roman über einen Kriegswaisen zu schreiben. Gleich zu Anfang wies ich darauf hin, dass die Geschichte wahr sei, die einzige Möglichkeit, eine wahre Geschichte zu erzählen, aber in der Fiktion bestehe. Der Roman ermöglichte mir, das aufzuschreiben, wofür die akademische Welt kaum eine Lösung bereithielt: wahre Geschichten von echten Menschen, ohne sie (oder mich) damit in Gefahr zu bringen. Seitdem ist die Welt der Wissenschaft offener geworden für ein Schreiben, das besondere Empfindsamkeiten und Verantwortlichkeiten erfordert, und ich bekam allmählich Übung darin, eine Kriegsgeschichte zu erzählen, ohne sofort gleichsam »Name, Rang und laufende Nummer« angeben zu müssen. Meine Danksagung erweist sich deshalb als wichtiger und zugleich schwieriger, denn den meisten von denen, die dieses Buch ermöglicht haben, kann ich an dieser Stelle nicht unmittelbar danken. Dieses Buch handelt von Kriegsgebieten und Schattenökonomien: Meine Feldforschung beschäftigt sich mit den Hoffnungsvollen und den Hoffnungslosen, Folteropfern und Folterern, Schurken und Dieben, Schmugglern und Helden, Verängstigten und Mächtigen. Die meisten von ihnen wollen nicht, dass ihr Name gedruckt erscheint. Diese Menschen haben mir ihre Tür geöffnet und mir ihr Leben erzählt, ihre Ideen und ihr Essen mit mir geteilt und mich mit ihren Geschichten vertraut gemacht. Dieses Buch enthält viele von ihnen, sans noms. Manche haben große Mühen auf sich genommen, um mir ihre Geschichte zu erzählen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Autobiografie eines Mannes namens Frieden in diesem Buch. Er kam eines Tages auf der Straße zu mir und bat mich um eine Kamera. Zum ersten Mal hatte ich ihn als Straßenjungen getroffen, kannte ihn aber nicht besonders gut. Nun aber war er erwachsen und wirkte so hart wie die Straßen, auf denen er schlief. Ich zögerte einen Augenblick und überlegte, ob ich auf den »Markt« gehen sollte, um eine Kamera für ihn zu besorgen (wie das Buch zeigen wird, ist das »nicht Erhältliche« in einem Kriegsgebiet immer auf irgendeinem Markt zu haben, wie fern der Legalität er auch immer sein mag). Aber es war einfach eine Geschichte, ganz
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egal, was er mít der Kamera machte, ob er sie verkaufte oder tatsächlich Fotos damit machte. Nachdem ich ihm die Kamera gegeben hatte, wartete Frieden am nächsten Morgen bei Tagesanbruch auf mich. Er hatte die ganze Nacht damit verbracht, durch die Straßen der Stadt zu laufen und zu fotografieren. Er gab mir die Kamera und sagte: »Ich will, dass die Menschen verstehen, wie diejenigen leiden, die im Krieg und auf der Straße leben – wie sie wirklich leiden.« Unter höchstem Risiko hatte er fotografiert, wie die Polizei Straßenkinder schlug, Kinder Crack rauchten, Prostituierte den Mächtigen zu Diensten waren, todhungrige Kinder im Abfall nach Essbarem stocherten – die Geschichten der Nacht. Aus eigenem Entschluss hatte er viele dieser Menschen befragt und ihre Biografien aufgeschrieben, gleichsam als Beigabe zu den Bildern. Warum tat das jemand, der für die meisten nichts als ein gefährlicher Straßendieb ist? Vielleicht, weil es ihm nicht gleichgültig ist. Das Wichtigste, was ich bei meinen Forschungen gelernt habe, ist, dass selbst die schlimmste Gewalt den Funken Menschlichkeit bei den meisten Menschen nicht auszulöschen vermag. So wichtig die Geschichte von Frieden für mich ist, so habe ich doch in seiner Autobiografie alle Hinweise getilgt, durch die er identifiziert werden könnte. Frieden und Menschen wie ihm, die in diesem Buch vorkommen, möchte ich am nachdrücklichsten danken. Einige kann ich mit Namen nennen. Diese Forschungsarbeit wäre nicht möglich gewesen ohne ein eineinhalbjähriges Stipendium der John T. and Catherine C. MacArthur Foundation. Ich danke der Stiftung dafür, dass sie ein Projekt gefördert hat, das nicht der traditionellen Forschung folgt, und es mir damit ermöglichte, auf der Spur der Ströme von Menschen und Waren, die in diesem Buch vorkommen, begriffliche, politische und kontinentale Grenzen zu überschreiten. Überdies danke ich dem United States Institute for Peace: Meine Arbeit über außerlegale Ökonomien nahm vor mehreren Jahren ihren Anfang mit einem Stipendium des Instituts, das mir ethnografische Forschung in verschiedenen Kriegsgebieten erlaubte. Das Institute for International Studies an der University of California in Berkeley bot mir während dieser Forschungsarbeit eine institutionelle Heimstatt. Die University of Notre Dame unterstützte meine Arbeit sowohl finanziell als auch mit großzügig gewährter freier Zeit; meine Kollegen sorgten dafür, dass niemand unter meiner Abwesenheit zu leiden hatte. Die Universität Eduardo Mondlane in Mozambique und die University of Witswatersrand in Südafrika gewährten mir institutionelle und kollegiale Unterstützung. Ich danke Debi LeBeau für die wunderbaren Ausflüge, Ana LaForte für ihre Ratschläge, Joel Chiziane für seine Einblicke in den Krieg, Marissa Moreman und Leandro Lopes für ihre nie nachlassende Hilfe und Begleitung, Alexander Aboagye für
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seine Hilfe beim Verständnis nicht-formeller Ökonomien, Casimira Benge und Lidia Borba für ihre warmherzige Unterstützung in Angola, Crystal Prentice, der ein ausgezeichneter Assistent war, sowie Katia Airola, Alex Laskaris, Mary Pat Selvaggio, Carol Swayne, Justin Wylie, Sonha und John McKenna und all den Menschen bei »The Cottages«, die mich zu sich einluden und mir ihre Geschichte erzählten. In gleicher Weise geht mein aufrichtigster Dank an die Piloten, die mich endlose Kilometer durch Afrika flogen, sowie an die Menschen von AfricaCare, Concern, Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Christian Child’s Fund, UNICEF, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, InterOcean, Halo Trust und der UNO, die mich bei sich zu Hause, an ihrem Arbeitsplatz oder bei Feiern an manchmal ziemlich zerstörten Örtlichkeiten willkommen hießen. Sie ließen mich an abgelegenen Orten in ihren Büros übernachten, teilten ihre letzte Kartoffel mit mir und nahmen mich »nach draußen« mit – wo sie, oft unter hohem persönlichen Risiko, fern der Kameras von CNN und der öffentlichen Wahrnehmung ihre Arbeit tun. Ihnen ist der Epilog gewidmet. Ein ganz herzlicher Dank geht überdies an Leela, die eines Tages im Krieg verschwand, mir aber beibrachte, wie man sich wehrt. Abschließend möchte ich den Menschen danken, die dieses Buch möglich gemacht haben: Naomi Schneider und Rob Borofsky. Mögen ihre Träume von einer neuen, lebendigen Anthropologie in Erfüllung gehen. Und mögen alle Autoren so viel angenehme Zeit mit ihren Lektoren verbringen. Alle Fotos in diesem Buch stammen von mir – sie sind ein Zeugnis der Anthropologie, wie sie sein sollte und doch nicht häufig vorkommt: mit billigen Kameras aufgenommen in Situationen, in denen Kameras oft nicht gerne gesehen sind, und auf der Straße vor Ort entwickelt. Sie erzählen ihre ganz eigenen Geschichten.
Erster Teil Einleitung
Krieg und Schattenwirtschaft bilden ein seltsames Paar. Die Schatten des Krieges reichen weit; in den schlecht beleuchteten Gegenden werden Leben und Schicksale geprägt und sie gehen darin verloren. Wenn Nationen unter dem Banner des Fortschritts wachsen und unter der Last der Gewalt zusammenbrechen, erzählt jeder Bürger seine oder ihre Geschichte vom Überleben – mit Worten, in Bildern, tanzend oder mit Blut. All diese Geschichten berichten vom Wesen des Krieges und von den Aussichten auf Frieden, doch nur wenige gelangen ins Licht internationaler Aufmerksamkeit, die meisten bleiben im Schatten und gehen verloren. Die Ethnografie ist eine Meisterin der Vereinfachung: Sie reist mit dem Anthropologen an die Frontlinien, durch Licht und durch Schatten, um diese Geschichten zu sammeln; um seltsame Paare sichtbar zu machen und – offen gesagt – um sich zu kümmern. Dieses Buch ist dem Geschichtensammeln gewidmet, Geschichten von Krieg, Frieden und Schattenwirtschaft, die das Leben vieler Menschen prägen und die sich in Zonen des Krieges und des Friedens in ganz unterschiedlichen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten ereignen. Weder die Geschichten noch die Ethnografien des 21. Jahrhunderts sind an bestimmte Orte gebunden: Welche Muster zeigen sich über Kulturlandschaften, souveräne Grenzen und theoretische Annahmen hinweg? Als ein Waffenhändler ein Flugzeug besteigt, um von einem Kriegsgebiet ins nächste zu reisen, hört er einen Schuss, jemand sinkt getroffen zu Boden, eine Geschichte entspinnt sich. Als dieser Händler das Flugzeug einen Kontinent weiter verlässt, hört er wieder einen Schuss. Welche Muster der Politik, der Wirtschaft, des persönlichen Heldentums und der Tragödie bestimmen unsere Welt dort, wo Macht, Profitgier, Überleben und Menschlichkeit aufeinandertreffen – im Schuss aus einer Waffe? Welche Erfahrungen von den Fronten der Kriege und von der »Etappe« der Profiteure erfüllen diese Erkenntnisse mit Leben?
1. Prolog
Diese Menschen behaupten, der Krieg sei ein Krokodil, das stets hungrig ist. Es hat einen verschlagenen Blick und einen peitschenden Schwanz. Lautlos kriecht es heran, während du am Fluss wäschst, dein Getreide drischst oder sanft deine alte Mutter wiegst, die schon im Sterben liegt. Er ist immer da, der Krieg, und wartet nur darauf, dein Leben in die Luft zu jagen und dich ans Ufer eines Flusses zu schleudern, wo du sterben wirst. Der Krieg will den Tod, immer; der Krieg will, dass die Lieder deiner Mutter verstummen. Der Krieg will, dass du trauerst.1
»Krieg« ist eines dieser unmöglichen Wörter: Es verweist auf den Krieg, den ein Soldat im Sudan erlebt, den ein Kind in Sri Lanka erfährt, den ein Folteropfer in Argentiniens schmutzigen Kämpfen erlitten hat und in dem ein Grieche in Troja gestorben ist. Fünf Buchstaben, die Hunderttausende von Ereignissen über Jahrtausende hinweg umfassen. Wie lässt sich ein solches Phänomen überhaupt verstehen, wenn man gleichzeitig das vibrierende Leben im Blick behalten will, aus dem es besteht? Es gibt ein Bild vom Krieg, das ich seit gut zwanzig Jahren nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. Es scheint auf eine Art tieferen Sinn zu verweisen, auf etwas, das jenseits des bewussten Zugriffs liegt, oder vielleicht über den Verstand hinaus auf eine grundsätzlichere Vorstellung hindeutet – nicht nur von Krieg, sondern von etwas, das an den Kern dessen rührt, was es heißt, Mensch zu sein. Und dieses Bild, das auf eigenartige Weise verheerende Katastrophen mit dem Allerbanalsten verbindet, zeigt unter anderem eine Wassermelone inmitten eines der schlimmsten Gewaltausbrüche der letzten Jahrzehnte. Eine Bekannte aus Sri Lanka und ich waren im Juli 1983 zum religiösen Fest von Kataragama im Südosten Sri Lankas gefahren. Sie ist eine Frau mittleren Alters, lebt in der Hauptstadt Colombo, lacht gerne und strahlt einen mütterlichen Charme aus, der etwas Schelmisches an sich hat. Wir teilten uns ein Zimmer, und ich erinnere mich, wie sie am ersten Tag ihre Reisetasche auspackte; sie hatte ein Handtuch, Lebensmittel und andere nützliche Dinge
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dabei, an die ich nicht gedacht hatte. Lachend belehrte sie mich: »Nimm mit, was du brauchst.« Die Unruhen, in deren Verlauf innerhalb von sieben Tagen Tausende ums Leben kamen, brachen am letzten Abend dieses Festes aus.2 Niemand ahnte etwas von dieser bevorstehenden Gewalteruption, als man sich voneinander verabschiedete und auf die Heimreise machte. Zumindest kaum jemand. Denn eigenartigerweise hatten einige obdachlose »Geistesgestörte« an den beiden Tagen zuvor sehr bewegt von der nahenden Gewalt gesprochen. Einer von ihnen wandte sich mit seinem erregten Monolog an mich, vielleicht weil ich Ausländerin war. Als sich eine größere Menschenmenge um uns versammelte, begann er in aggressivem Ton die Gewalt zu schildern, die schon bald zum Ausbruch kommen werde, das Blut, das Straßen und Häuser des Landes tränken werde, die Schmerzens- und Angstschreie, die er schon hören könne, und die Verantwortung dafür werde in einem Kreislauf globaler Ungleichheit letztlich auf mein Land zurückfallen. Die Zuhörer um uns herum versuchten seine streitlustigen Äußerungen mit dem Verweis auf seine Verrücktheit abzutun, doch eine verstörende Klarheit in seinen Worten berührte uns alle. Kurz bevor meine Reisegefährtin und ich Kataragama verließen, entdeckte sie auf einem Markt eine Wassermelone und kaufte sie für ihre Familie zu Hause. Als sich unsere Wege trennten, wollte sie mich umarmen und musste lachen, als sie mit ihrem Koffer in der einen und der Melone in der anderen Hand jonglierte. Der Bus nach Colombo, den sie nahm, kam in eine Stadt, die ein Raub der Flammen geworden und vom Mob überrannt worden war. Als ich sie später wieder traf, erzählte sie mir von dieser Nacht: Wir kamen vom Kataragama-Fest, das die Welt zusammenführen soll, und fanden zu Hause eine Welt vor, die in Scherben zerfallen war. Wir gerieten in einen Alptraum, der schlimmer war als alles, was man sich je vorstellen konnte. Als der Bus Kataragama verließ, begann es schon zu dunkeln und das Schaukeln des Busses wiegte uns in den Schlaf, die Reisenden teilten ihr Essen miteinander und tauschten Erinnerungen an das Fest aus. Kurz nach Mitternacht, als wir uns Colombo näherten, öffneten wir die Augen und sahen eine Welt, die verrückt geworden war. Ganze Häuserblocks standen in Flammen und Menschen rannten brennend aus den Gebäuden. In den Straßen brannten Busse und Autos, aus einigen konnten die Insassen nicht mehr ins Freie. Menschen liefen massenhaft durch die Straßen, einige schrieen und schlugen auf andere ein, warfen Autos um und steckten sie in Brand, zerstörten Häuser und Geschäfte … andere wollten sich nur in Sicherheit bringen und rannten um ihr Leben. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Als Busse angehalten, die Fahrgäste herausgezerrt und getötet und die Fahrzeuge in Brand
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gesteckt wurden, hielt unser Fahrer sofort an, setzte uns alle auf die Straße und fuhr davon. Ein Busbahnhof war weit und breit nicht zu sehen und keiner von uns wusste, wo wir uns befanden. Das lässt mir bis heute keine Ruhe: Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, sie ist meine Heimat; ich kenne ihre Straßen und Alleen, ihre Geschäfte und Wahrzeichen. Doch in dieser Nacht wusste ich nicht, wo ich war und wie ich nach Hause kommen sollte. Ich erkannte die Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, nicht wieder. Oder besser gesagt: Es tat so unendlich weh, weil ich sie erkannte und gleichzeitig auch wieder nicht. Inmitten des Vertrauten spielte sich dieser Horror ab. Alles stand in Flammen oder war zerstört, die Toten und Verwundeten lagen überall herum, und wie aus dem Nichts tauchte immer wieder der Mob auf, überwältigte jegliche Vernunft und verschwand wieder. Die Polizei tat nichts oder vielleicht zu viel. Alles, was ich auf der Reise dabei gehabt hatte, trug ich bei mir, meine Handtasche, meinen Umhang, meinen Koffer und diese riesige Melone. Ich setzte mich einfach in Bewegung und versuchte nach Hause zu finden. Jede Straße, durch die ich kam, wirkte noch weniger vertraut als die vorhergehende. Der Schrecken nahm kein Ende. Überall Brände, wütende Mobs, Schläge, Mord. Ich konnte nicht begreifen, was ich sah: Wer tötete hier wen und warum? Wo war man sicher und wie kam man dorthin? Wie sollte man auf all das reagieren, an wen konnte man sich wenden? Kein Ausweg weit und breit. Stundenlang lief ich so dahin. Ich war inzwischen vollkommen erschöpft, und die Sachen, die ich mit mir herumschleppte, wurden immer schwerer. Irgendwann setzte ich meine Handtasche ab und ließ sie einfach stehen. Einige Zeit später wischte ich mir mit dem Umhang Schweiß und Schmutz aus dem Gesicht, hängte ihn an einen Zaun, nahm den Koffer und die Melone und schleppte mich mühsam weiter. Irgendwie dachte ich, ich würde am nächsten Tag zurückkommen und meine Handtasche abholen – ich glaubte tatsächlich, sie wäre dann immer noch da, wo ich sie abgestellt hatte. Das zeigt, wie schwer es ist, realistisch zu denken, wenn alles um einen herum völlig irreal ist. Pass und Geld ließ ich dort zurück und schleppte stattdessen diese unförmige Melone mit mir herum. Etwas später – ich hatte das Gefühl, als seien inzwischen Stunden oder gar Tage vergangen – wurde der Koffer so unerträglich schwer, dass ich auch ihn absetzte und stehen ließ. Doch die Melone habe ich nicht aus der Hand gegeben. Bis heute weiß ich nicht, warum. Ich schleppte sie die ganze Nacht durch all das Chaos und den Schrecken mit mir herum und kam schließlich mit diesem verdammten Ding nach Hause, während ich alles andere draußen zurückgelassen hatte. Alles Wichtige war, wie gesagt, in meiner Handtasche gewesen: mein Pass, mein Geld, meine Kreditkarten, meine Brille und andere Papiere. In meinem Koffer waren meine Lieblingssaris, meine Toilettensachen und Medikamente sowie Geschenke und geweihte religiöse Dinge für meine Familie. Ich galt seit jeher als dieje-
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nige in der Familie, die ihre Sachen in Ordnung hielt und zuverlässig war. Und nun hatte ich alles einfach auf der Straße stehen lassen und durch die schlimmsten Unruhen, die man sich nur vorstellen kann, ausgerechnet eine schwere Wassermelone nach Hause geschleppt. Ich werde mich immer daran erinnern, an den Willen, nach Hause zu kommen, immer weiter durch diese Hölle zu marschieren und diese Melone zu tragen. Wie es ist, das Unerträgliche zu überleben.
Dieses Bild hat sich mir eingebrannt: Was brachte meine Freundin dazu, ihre Taschen mit den vertrauten Dingen und den wichtigen Dokumenten völlig erschöpft und verstört stehen zu lassen und sich gleichzeitig an eine Wassermelone zu klammern? »Nimm mit, was du brauchst«, hatte sie in Kataragama gesagt. In den sieben Tagen des Aufruhrs beobachtete ich, wie Tausende von Menschen inmitten der Ereignisse agierten und reagierten, jeder auf seine ganz eigene Weise; und Hunderte dieser Reaktionen beeindruckten mich zutiefst. Jede Geschichte, jedes Verhalten war ein Teil des Puzzles, ein Aufruf, der Frage nachzugehen. Was aber war das Puzzle, wie lautete die Frage? Dass ich mich mit dem Krieg beschäftige, hat möglicherweise mit dieser Melone zu tun. *** Ich glaube, es wäre ihr nicht recht, wenn ich ihren wirklichen Namen verwenden würde. Ich unterhielt mich mit ihr eine halbe Welt entfernt und fast zwanzig Jahre nach den Unruhen in Sri Lanka. Aber die Geschichte mit der Wassermelone würde sie verstehen: Sie lebt in einem Kriegsgebiet, wo ein Drittel der Bevölkerung gezwungen wurde, ihre Heimat zu verlassen, und wo ein Zwölftel der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren im Krieg ums Leben gekommen ist. Sie hatte sich trotz aller Hektik Zeit genommen, sich mit mir über die Auswirkungen des Krieges auf das Alltagsleben zu unterhalten. Als unser Gespräch zu Ende war, dankte ich ihr und fragte, ob ich mich für ihre Freundlichkeit irgendwie erkenntlich zeigen könne. Ja, doch. Hier in der Gegend gibt es Zehntausende von Vertriebenen, die alles an den Krieg verloren haben. Sie übernehmen jede Arbeit, um sich etwas zu essen kaufen und ihre Familien am Leben halten zu können. Die größte Last haben dabei die Frauen zu tragen; wussten Sie, dass die Mehrzahl der Haushalte in den meisten Flüchtlingslagern hier von Frauen geführt werden? Frauen und Mädchen kratzen gerade genug zusammen, um etwas Essen und ein paar Waren verkaufen zu können; mit diesem Geld müssen sie dann ihre Familien ernähren. Und dann sehen Sie hier die Polizei und das Militär, die diesen kleinen Mädchen und den Frauen alles wegnehmen. Sie glauben, das stehe ihnen zu. Überall sieht man das: Eine Frau ist mit einigen Sachen unterwegs, die sie verkaufen will, und die
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Polizei oder die Soldaten gehen einfach hin und nehmen sie ihr weg. Sie verfügen über die Macht, und sie hat nun nichts mehr. Und ohne diese paar Sachen schafft sie es vielleicht gar nicht mehr – wie soll sie denn überleben? Was Sie für mich tun können? Erzählen Sie diese Geschichte. Schreiben Sie darüber. Berichten Sie die Wahrheit über den Krieg und über das, was mit Menschen wie diesen Frauen passiert, die auf dem schmalen Grat des Überlebens wandeln.
Für die Menschen auf diesem schmalen Grat zwischen Überleben und der Gefahr, Opfer des Krieges zu werden, haben solche Übergriffe existenzielle, vielleicht sogar katastrophale Folgen. Für die meisten Menschen auf dieser Welt aber bleiben diese Vorgänge unsichtbar. Denn unter militärischem Gesichtspunkt verletzt Krieg fast immer menschliche Empfindsamkeiten; logistisch gesehen, sind die Frontlinien kaum neutral zu dokumentieren; ökonomisch betrachtet, werden Vermögen auf alles andere als moralische Weise gemacht und verloren; und politisch verwischt die Macht alle Spuren. Mit den Frauen, die ihre paar Habseligkeiten der Polizei oder dem Militär überlassen müssen, ist diese Geschichte freilich noch nicht zu Ende. Sie bilden nur die unterste Stufe an zwei sich überschneidenden Fronten: der des Krieges und jener der unsichtbaren Ökonomien, die weltweit auf dem Vormarsch sind. So wie diese Soldaten von den armen Frauen Tribut verlangen, so müssen sie selbst an ihre Vorgesetzten zahlen. Und diese Vorgesetzten können in ihrer eigenen Sphäre weitaus größere Güter verlangen: Auf den obersten Machtebenen haben sie oft die Kontrolle über die nationalen Konzessionen für wertvolle Rohstoffe sowie über die Unternehmen, die diese Konzessionen nutzen, die Güter transportieren und die Gewinne überwachen. Man könnte von Korruption sprechen, wenn es auf die nationale Ebene beschränkt bliebe, doch diese Profitsysteme sind international. Im Schatten, jenseits der öffentlichen Wahrnehmung, können sich Kommandeure mit internationalen Spekulanten (wildcatters) zusammentun, die Konsumgüter – von Waffen bis Zigaretten – in Kriegsgebiete schaffen und im Gegenzug wertvolle Rohstoffe – von Diamanten bis zu Edelhölzern – auf alles andere als legale Weise in die urbanen Zentren schleusen. Weniger konspirativ können sie sich mit internationalen, mit staatlicher Unterstützung agierenden Händlern zusammentun, um an teure Waffen und Güter zu kommen – Exporte, die Länder in Friedenszeiten um der eigenen Profite willen gerne verkaufen, die den tatsächlichen Bedürfnissen des Käuferlandes und seines Krieges aber nur selten entsprechen. Diese Transaktionen sind auf unterschiedliche Weise getragen durch Systeme der Partnerschaft, der Zweckbündnisse, des Zwangs, der Abhängigkeit oder der offenen Verletzung; von der armen Frau, die ihr letztes Stück Brot
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dem einfachen Soldaten überlassen muss, bis hin zu den globalen Strömen, in denen Waffen und Rohstoffe für harte Währung gehandelt werden. In diesen Überschneidungsbereichen entsteht Macht im grundlegendsten Sinne des Wortes. Inmitten übergreifender politischer Systeme, in denen Unruhen und Kriege menschliche Landschaften zerstören und globale Ökonomien beeinflussen, lässt eine Frau ihre Taschen stehen und klammert sich an eine Wassermelone, als sie in einer vom Mob verwüsteten Stadt nach Hause zu gelangen versucht. Dies alles zusammen bildet den Körper des Krieges und die Hoffnung auf Frieden. Wie aber lässt sich das verstehen, und zwar nicht mit Hilfe abstrakter Schreibtischdefinitionen von der Gewalt des Krieges? Wie lebt man damit, wie erfährt man diese Gewalt, wie sieht sie aus, wie fühlt sie sich an, wie wirkt sie sich aus? Viele Wahrheiten über den Krieg verschwinden in Taten, die niemand preist, und in Handlungen, die niemand aufzeichnet. »Der Krieg sagt uns: Nichts ist so, wie es scheint. Und gleichzeitig macht uns der Krieg deutlich: Ich bin die Wirklichkeit, ich bin der Boden unter deinen Füßen, die Gewissheit, die allen Ungewissheiten zugrunde liegt.«3 Welchen Raum geben wir dem »Guten«, das sich in den Herzen so vieler findet, die ich an den Fronten des Krieges traf, welche aber nach gängiger Ansicht von Hobbesschen Kreaturen bevölkert sind? Vor diesem Hintergrund bleibt die grundsätzliche Frage nach dem, was Krieg ist. Oder genauer: »Warum beteiligen sich Menschen an einer der unerfreulichsten Aktivitäten, die man sich nur vorstellen kann – die in der Lage ist, die Menschen selbst auszulöschen?« Ich stellte bald fest, dass es keine Theorien des Krieges gibt bzw. – und das ist im Theoriegeschäft noch schlimmer – viel zu viele. Wenn man einen Wissenschaftler um eine Erklärung des Krieges bittet, mokiert er oder sie sich im Normalfall über die Naivität des Ansinnens, etwas so Beiläufiges und Undefiniertes überhaupt erklärt haben zu wollen. Wenn man dieselbe Frage Nichtfachleuten stellt, erhält man dagegen sofort ein halbes Dutzend Erklärungen, die im Brustton der Überzeugung vorgetragen werden. Als Gründe werden angeboten: die angeborene Aggressivität des Menschen oder des Mannes; Imperialismus und Habgier; Überbevölkerung und Ressourcenknappheit; Manipulation durch böse, blutrünstige Eliten. Oder es heißt, der Krieg sei schlicht und einfach ein Ausdruck des der Erkenntnis unzugänglichen Bösen. Ich merkte, dass die Meinungen über den Krieg heute ähnlich konfus und ungesichert sind wie vor rund zweihundert Jahren die Theorien der Krankheit.4
Die Fragen nach Wesen und Beweggründen des Krieges führten mich durch mehrere Kontinente und beschäftigten mein Forschungsinteresse zwei Jahrzehnte lang. Nach den Unruhen in Sri Lanka von 1983 begann ich mich mit diesem Phänomen zu befassen; als der Krieg in Sri Lanka eskalierte, erforschte ich paramilitärische und militärische Kriegsführung sowie den Guerillakrieg. Jede Untersuchung provozierte neue Fragen. Was passiert mit Frauen, weib-
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lichen Guerillakämpfern, Kindern und Helfern, die nicht nur Kriegswunden behandeln, sondern ganze Gesellschaften, die unter Angriffen auf ihre Kerninstitutionen und -werte zu leiden haben? Wie leben Zivilisten an der Front? Wer sind die wahren Händler des Krieges? Und des Friedens? Nachdem ich zehn Jahre lang in Sri Lanka geforscht hatte, begann ich 1988 mit vergleichender Feldforschung im südlichen Afrika, und hier vor allem in Mozambique, wo sich der Krieg – einer der zerstörerischsten dieser Zeit – gerade auf dem Höhepunkt befand. Als es dort zu einem erfolgreich ausgehandelten Frieden kam, richtete ich mein Augenmerk auf das »Gute«, das es gleichzeitig mit der Gewalt an der Front gibt und das letztlich überhaupt Frieden ermöglicht. 1996 begann ich in Angola zu arbeiten, einem Land, das in vielerlei Hinsicht Mozambique ähnelte, aber erst 2002 dauerhaft Frieden fand. Gewalt wird durch lokale Realitäten und Geschichte ebenso definiert wie durch international bestimmte Normen der Militarisierung: Ein ganzes Bündel von Netzwerken erstreckt sich über den gesamten Globus und reicht noch in die entlegensten Kriegsregionen, wo es alles bereitstellt, was die Kriegsparteien brauchen, von Waffen bis hin zu Ausbildungsplänen, Lebensmitteln, Medikamenten, Werkzeug und Computern. Ist der Krieg geprägt durch die Überschneidung von individuellen Handlungen, nationaler Geschichte und transnationalen Kulturen der Militarisierung und des ökonomischen Gewinnstrebens, so gilt dies gleichermaßen für die grundlegenden Fragen, die sich mit der Erforschung des Krieges verbinden: Was ist Macht? Was ist Gewalt? Was ist Unmenschlichkeit, was Menschlichkeit? Was heißt es, einen Konflikt zu lösen? Diese Beobachtungen brachten eine Reihe neuer Forschungsthemen in Gang: Ein Großteil des internationalen Handels in Kriegsgebieten spielt sich in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität ab. Bei der Arbeit an diesem Buch zeigte sich, dass die »außerstaatlichen« Tauschsysteme – also das, was ich hier als »Schattennetzwerke« bezeichnen werde – eine grundlegende Bedeutung für den Krieg haben und – so ironisch das klingen mag – eine zentrale Rolle bei den Entwicklungsprozessen spielen, ob nun zum Guten oder zum Schlechten. Gleichzeitig machten meine Forschungen deutlich, dass diese zentrale Stellung in den globalen Wirtschafts- und Machtsystemen mit einem absoluten Mangel an Wissen darüber einhergeht. Wie dieses Buch zeigen wird, durchläuft ein beängstigend großer Teil der gesamten Weltwirtschaft diese Schatten: In Angola sind es 90 Prozent der Volkswirtschaft, in Kenia, Italien und Peru 50 Prozent, in Russland zwischen 40 und 60 Prozent; und in den USA gehören zwischen 10 und 30 Prozent der Wirtschaft zu den außerstaatlichen Transaktionen. Der Anteil an Forschung und Publikationen, die sich mit diesem nicht-legalen Sektor befassen, entspricht dem keineswegs. Das provoziert natürlich die Frage, warum das so ist.
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Die Tatsache, dass außerstaatliche Realitäten im analytischen Schatten bleiben, hat weitreichende Auswirkungen. Billionen von Dollar und Millionen von Menschen zirkulieren heute außerhalb formaler rechtlicher Anerkennung um den Erdball. Diese ökonomischen und personellen Ströme reichen vom Banalen (Handel mit Zigaretten und raubkopierter Software) über den Schwarzhandel (mit Edelsteinen und Hölzern) bis zum Gefährlichen (Waffen und Drogen). Die Billionen, die in diesen außerlegalen Finanzimperien erwirtschaftet werden, müssen zu »sauberem« Geld gewaschen werden und fließen auf dunklen Kanälen in die globalen Finanzmärkte ein. Die Tatsache, dass Kriegsgebiete relativ unkontrolliert sind, verbindet sich mit den »Finanzkraftwerken« in den großen Metropolen auf eine Weise, dass Krieg und globaler Profit verschmelzen. Es gibt inzwischen komplexe Produktions-, Transport-, Vertriebs- und Konsumsysteme, mit denen Güter und Dienstleistungen durch die Schattenbereiche geschleust werden. Ausgeklügelte Bankensysteme sorgen für den Transfer der irregulären Gelder. Überwacht wird der außerstaatliche Handel von hochentwickelten Regulierungsmechanismen – von Anwälten bis hin zu Konfliktlösungsexperten. Die Gewinne wirken sich substanziell auf alle Volkswirtschaften dieser Erde aus. Und ein Großteil davon bleibt den formellen, staatlichen Kontrollsystemen und Theorien verborgen. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, wie sich Hunderte Milliarden von Dollar aus illegalen Waffengeschäften auf die europäischen Börsen auswirken; wie »gewaschene« Drogengelder die finanzielle Lebensfähigkeit kleinerer Staaten beeinflussen; wie sich die Marktmanipulation mit irregulären Gütern international auf Zinssätze und Währungskurse auswirkt. Wenn wir uns nicht näher mit den Schatten befassen, können wir zudem Krisen wie etwa den asiatischen Crash in den 1990er Jahren oder den Terrorangriff auf die USA am 11. September 2001 nicht vorhersehen. Die Schatten durchdringen diese Bereiche. Die außerstaatlichen Ökonomien spielen eine zentrale Rolle für die globale Machtverteilung. Wir haben uns an eine Welt gewöhnt, in der sich offizielle Texte zu militärischen oder wirtschaftlichen Fragen allenfalls am Rande mit dem Außerstaatlichen befassen. Das aber ist gefährlich: Welche Disziplin kann es sich leisten, nur einen Teil ihres Untersuchungsgegenstands zu verstehen? Die Folgen dieser Praxis manifestieren sich auf vielfältige Weise, wie die einzelnen Kapitel dieses Buches zeigen werden. An dieser Stelle mag ein Beispiel genügen: Die US-Geheimdienste mussten herbe Kritik einstecken, weil sie den Angriff vom 11. September nicht vorausgesagt und verhindert hatten. Doch ein Großteil der Anschlagsvorbereitungen verlief über Schattenkanäle. Trotz all ihres angeblichen Interesses an der unsichtbaren Welt fungieren die Geheimdienste in
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einem epistemologischen Universum, das noch immer vorwiegend auf die klassischen ökonomischen, politischen und militärischen Texte vertraut – also auf Texte, die ihre Definitionen aus dem Bereich des Formellen und Staatlichen beziehen. Hätte man genauere Kenntnis der außerstaatlichen und außerlegalen Netzwerke gehabt, wäre der bevorstehende Angriff – und die Aktivitäten derer, die ihn ins Werk gesetzt haben – deutlicher erkennbar gewesen. Wirkliche Lösungen beruhen darauf, dass man das Problem als Ganzes kennt, nicht nur die traditionell sichtbaren Teile. *** Dieses Buch ist sehr einfach aufgebaut: Krieg, außerstaatliche Realitäten, Frieden (beziehungsweise die Probleme damit); es reicht sozusagen vom Beginn bis zum Ende. Jedes Kapitel ist einer Stufe auf diesem Kontinuum gewidmet: den Anfängen politischer Gewalt; dem Höhepunkt des Krieges und den Gewalterfahrungen; dem Wesen der Macht; den schattenhaften Il/Legalitäten, die den Krieg in Gang halten; dem Schritt in Richtung Frieden; den Hindernissen auf dem Weg zu einer Lösung; schließlich dem Widerauftauchen der Schattenmächte und ihrem zentralen Einfluss auf In/Stabilität, Frieden und Entwicklung im globalen Maßstab. Mag sein, dass man früher das Lokale verstehen konnte, indem man den Blick ausschließlich darauf konzentrierte. Heute stellt es jedoch eindeutig keine Insel mehr dar, die umgeben ist von den ungeheuren und bewegten Fluten des geografischen Raums. Heute spüren die Menschen das Ziehen und Zerren gesellschaftlicher Wellen, die weit entfernt ihren Ursprung haben; sie haben Teil an den Strömungen und sogar an den Kabbelungen, die sich über riesige Entfernungen hinweg bewegen. So erhielten beispielsweise meine Erfahrungen in Sri Lanka eine viel allgemeinere Bedeutung, als ich mit meinen Erkundungen in Mozambique begann. Ich sah dort die gleichen Typen, die Waffen verkauften, zu den Kriegsgewinnlern gehörten und den Frieden aushandelten. Ich erkannte, dass diese internationalen Spieler ideologisch keineswegs zwangsläufig an Südasien oder das südliche Afrika gebunden waren, noch waren sie notwendigerweise aus spezifisch regionalen Gründen in ein nationales Drama verstrickt. Sie waren »international players«. Als ich den Netzwerken, die über Krieg und Frieden bestimmen, durch alle Unterscheidungen zwischen legal und illegal folgte, erkannte ich, dass sie sozusagen anthropologische Strömungen darstellen, die den gesamten Erdball sowohl physisch als auch epistemologisch umspannen – abhängig vom Lokalen und dem örtlichen kulturellen Wissen, aber zugleich jenseits davon miteinander verbunden. Was also ist Ethnografie?
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Auf diese Frage gibt es, je nach Standpunkt, verschiedene Antworten. Für mich aber – und im Zusammenhang dieser speziellen Untersuchungen – muss die Ethnografie in der Lage sein, der Frage nachzuspüren. Sie muss nicht nur die Lage eines Ortes, eines Volkes, das einen bestimmten Raum miteinander teilt und dessen einzelne Leben untereinander verbunden sind, erfassen, sondern auch, wie diese Orte und diese Menschen riechen und sich anfühlen, welche Emotionen sie hervorrufen. Sie muss zumindest einen Hauch der Träume spürbar machen, die die Menschen in sich tragen und die sie an ferne geografische wie geistige Orte bringen; sie muss der schöpferischen Imagination nachgehen, mit deren Hilfe die Menschen ihren Gedanken und ihrem Leben Substanz verleihen. Und sie muss ganz pragmatisch zu ergründen versuchen, warum ein Soldat im einen Falle den Abzug drückt und im anderen nicht; muss deutlich machen, wie sehr die Menschen unter Gewalt und Kummer leiden und wie sie gleichwohl in der Lage sind, humanitären Widerstand zu leisten; muss aufzeigen, wie ganz real Waffen gegen Diamanten und Macht eingetauscht werden und was diese Händler für Menschen sind. Diese Fragen lassen sich heutzutage nicht mehr beantworten, wenn man nur einen einzigen Schauplatz untersucht. Die Waffe, die in Mozambique zum Einsatz kommt, wurde in den USA, in Bulgarien, Brasilien oder China produziert. Sie wurde über ein riesiges Netzwerk von Agenten, »Beratern« und Bündnissen ins Land gebracht – jeder von ihnen hat ein Wörtchen dabei mitzureden, wie die Waffe benutzt werden soll: wer damit legitimerweise getötet werden darf (und wer nicht, allen voran natürlich die Waffenhändler) und wie sich das alles rechtfertigen lässt. Vielleicht wurde die Waffe über die legale Welt ins Schattenreich geschmuggelt und tritt nunmehr in ein anderes globales Bündnissystem ein. Der Soldat, der die Waffe in Anschlag bringt, hatte jahrelang trainiert: nicht nur, wie man tötet, sondern auch wie man Trennlinien, Hass, Angst und Rechtfertigungen erzeugt – eine Mischung aus kulturellem und militärischem Wissen, das sich aus lokalen Missständen ebenso speist wie von ausländischen Militärberatern, globalen Medien oder globaler Musik. All das überschneidet sich und prägt das Leben jedes Einzelnen, der in einen Krieg verwickelt ist, von der Elite der Entscheidungsträger bis zu den Kindersoldaten, die an wechselnden und oftmals undurchsichtigen Fronten kämpfen. *** »Wir haben hier einen toten Söldner, einen irischen Protestanten, wollen Sie seine Leiche sehen?«, fragte mich der Fünfzehnjährige, als er sein AK-47 gegen einen Baumstumpf lehnte, sich neben mich setzte und um eine Zigarette bat. Der Krieg in Mozambique befand sich gerade auf seinem Höhepunkt, und
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Europa und der Nordirland-Konflikt waren weit weg. Wir saßen in einer zerbombten Stadt mitten in Mozambique, hunderte Kilometer entfernt von der Hauptstadt und den urbanen Zentren. »Nein danke«, antwortete ich, »aber woher weißt Du, dass es sich bei dem Toten um einen Protestanten aus Nordirland handelt?« »Wir haben uns seine Papiere angeschaut«, sagte der Junge und schaute mich an, als wäre ich ein absoluter Trottel. Er war mager und trug nur eine zerlumpte Hose und ein T-Shirt. Sein Gewehr hing an einem alten Stück Stoff. Er war zum Militärdienst gezwungen worden und verließ seine Heimatgegend zum ersten Mal, als er als »Soldat« losmarschierte. Er setzte sich in die Sonne und begann zu erzählen. Wissen Sie, diese weißen Kerle sind oft ein ganzes Stück gemeiner als wir. Ich meine, wir kämpfen und töten und so weiter, aber bei diesen Weißen hat man das Gefühl, sie glauben, Töten sei die Antwort auf alles. Wir haben so viele Weiße hier, so viele Ausländer; sie bilden uns aus, schreien uns zusammen, kämpfen gegen uns und verdienen Geld mit uns. Einige sind ganz in Ordnung, ich war in diesem Ausbildungslager weit weg von hier, und da waren ein paar, die waren freundlich, sorgten dafür, dass wir genug zu essen hatten, und bemühten sich, uns was beizubringen. Leute von überall her. Hatten ziemlich komische Vorstellungen, die waren manchmal ganz nützlich, aber oft machte das überhaupt keinen Sinn, es war eher total kompliziert, die Dinge so zu machen, und gefährlich war es auch. Wie soll man denn so kämpfen? Bruce Lee (lacht), den sollten sie uns als Ausbilder schicken, das wäre der Richtige. Aber was soll’s? Die Wahrheit ist, ich glaube, den meisten von denen ist es völlig egal, ob wir siegen oder verlieren. Für sie ist das ein »Geschäft«. Irgendjemand verdient eine ganze Menge an diesem Krieg und ich bin das mit Sicherheit nicht.
Wollte ich diesen Krieg und die Erfahrungen dieses Jungen verstehen, welcher Geschichte sollte ich dann am besten nachgehen? Ich könnte seinen Wegen nachspüren; denen seiner Landsleute und der Ausländer, mit denen sie zu tun hatten; den Medien und den Filmen, die seine Vorstellungen bestimmten; den Kriegshändlern und Kriegsgewinnlern aus der ganzen Welt, die durch sein Leben, sein Land und seinen Krieg zogen; den verschiedenen Kulturen der Militarisierung, die überall auf der Welt von Kriegsgebiet zu Kriegsgebiet wandern; den riesigen internationalen Systemen ökonomischen Gewinns, die die politische Gewalt prägen. Dieser »lokale« Kindersoldat war alles andere als »lokal«. Der Krieg in Mozambique war in hohem Maße internationalisiert. Wo fängt ein Krieg an und wo hört er auf? Die Ethnografie muss dazu imstande sein, ein Volk und einen Ort in den Augen und Herzen derjenigen lebendig werden zu lassen, die nicht dort waren.
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Aber sie muss es auch schaffen, nicht einem Ort nachzuspüren, sondern der »Ortlosigkeit«, einem Warenstrom, einer Vorstellung, einer internationalen Kampfkultur, einem Schatten. Sie muss zeigen, wie diese ortlosen Wirklichkeiten sich mit anderen Orten und anderen ortlosen Kräften überschneiden und durch das Zusammenspiel mit diesen bestimmt werden. Und schließlich muss die Ethnografie in der Lage sein, nicht nur einen Ort sichtbar zu machen, sondern auch das Unsichtbare – das, was aus Gründen der Macht und des Profits unsichtbar gemacht wird. Macht zirkuliert in den Korridoren der Institutionen und im Schatten. Ich werde denn auch behaupten, dass die Ethnografie eine ausgezeichnete Möglichkeit darstellt, die Unsichtbarkeit der Macht zu untersuchen – eine Unsichtbarkeit, die zum Teil dadurch entsteht, dass man die Menschen davon überzeugt, sich nicht mit den Schatten zu beschäftigen, dass sich das Ortlose unmöglich darstellen lässt, dass es »keinen Ort hat«. Die Ethnografie verleiht allen menschlichen Bestrebungen allein dadurch Substanz und einen Ort, dass sie sich für den Alltag menschlichen Daseins interessiert. In einer Untersuchung wie der vorliegenden muss einiges im Schatten, unsichtbar bleiben. Und das wiederum erfordert neue Überlegungen, was die Ethnografie ausmacht. Die Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin wurzelte in der Feldforschung, sie benannte ihre Gegenstände und vermaß Orte. Im lokal begrenzten Umfeld, in dem Anthropologen arbeiteten, wurde jedes Zitat in ein Gewebe sozialer Beziehungen eingeflochten, sodass jeder wusste, wer zu wem warum sprach. Diese »Faktizität« (factuality) verlieh der Anthropologie eine Aura der Objektivität und brachte sie umgekehrt dazu, das Subjekt zu respektieren. Doch der Krieg und die Schatten verändern diese Gleichung. Lokales Wissen ist wichtig für das Verständnis, aber die örtlichen Informanten zu zitieren kann für sie den Tod bedeuten. Wo es zu Massakern, Menschenrechtsverletzungen, massiver Korruption und globalen Schiebereien kommt, kann es sogar gefährlich sein, Aussagen und Angaben im Hinblick auf Ort und Person überhaupt zu »lokalisieren«. Die Verantwortung des Wissenschaftlers besteht in diesem Falle darin, die eigenen Quellen zu schützen und sie nicht preiszugeben. Die traditionelle Lehre könnte angesichts dessen behaupten, das Weglassen von Namen und Orten mindere den Wert der Forschungsergebnisse. Diese Frage hat mich jahrelang umgetrieben, inzwischen bin ich anderer Meinung. Denn ein Grund dafür, warum so viele Aspekte des Krieges und des außerstaatlichen Agierens »unsichtbar« bleiben, liegt gerade in den Problemen und Gefahren dieser Forschungsarbeit: Man veröffentlicht lieber überhaupt nichts, als dass man seine Arbeit gefährdet, indem man nach dem »Unsagbaren« fragt. Dort, wo sich Krieg, Frieden und Schatten überschneiden, geht es möglicher-
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weise weniger um Benennungen und Lokalisierungen als vielmehr darum zu verstehen, wie sich diese Systeme menschlicher Interaktion im Leben des Einzelnen und in globalen Transaktionen niederschlagen. Die Systeme aus Wissen und Handeln, die den Realitäten in Krieg und Frieden zugrunde liegen, finden sich weltweit wieder. Den Namen des armen Bauern zu nennen, der mit ansehen musste, wie seine Familie umgebracht wurde, wirft keinerlei Licht auf die Umstände dieses Mordes, sondern gefährdet nur sein Leben; und den Namen des Generals preiszugeben, der vom Krieg profitiert, sagt nichts über die internationalen Netzwerke außerstaatlicher Ökonomie und Macht, sondern gefährdet allenfalls meine Möglichkeit, an den Ort meiner Nachforschungen zurückzukehren. Das heißt nicht, dass meine Untersuchung gleichsam in der Luft hängt. Die »Daten« stammen alle aus erster Hand. Doch statt einzelne Namen zu nennen, beleuchtet sie verschiedene Rollen, die sich in allen Konflikten finden; erfasst sie das Auf und Ab von Gewalt, Schattenmächten und Friedensbemühungen, das sich entlang miteinander verbundener Orte zu größeren transnationalen Mustern erweitert. Alle Zitate in diesem Buch stammen von Menschen, die sich inmitten dieser Realitäten befinden. Um sie zu schützen, habe ich lange überlegt, wie ich ihre Geschichte jeweils darstelle: In einigen Fällen situiere ich sie an einem spezifischen Ort, in anderen nur in einer Region und in den heikelsten Fällen habe ich auf jegliche Lokalisierung der Geschichte verzichtet. Diese Schichten und Ebenen miteinander zu verweben scheint mir im Augenblick die beste Möglichkeit zu sein, um die sichtbaren und unsichtbaren Realitäten von Krieg, Frieden und Schattenmächten im 21. Jahrhundert zu erkunden und darzustellen. *** Ich werde niemals wissen, warum meine Freundin in Sri Lanka ihre Handtasche, ihren Umhang und ihren Koffer am Straßenrand zurückließ und ausgerechnet eine Wassermelone mit sich schleppte, als sie sich inmitten der Unruhen nach Hause durchkämpfte. Sie sagt, dass sie es selbst vermutlich nie ganz verstehen wird. Dennoch haben wir monatelang darüber spekuliert. Weißt du, sagte sie, es scheint völlig unlogisch zu sein, ausgerechnet das zurückzulassen, was ich inmitten einer lebensbedrohlichen Nacht vermutlich am dringendsten brauche. Aber genauso unlogisch erscheint es doch, Menschen aufgrund ihrer Identität umzubringen: Bist du Tamile, Singhalese, Hindu, Moslem oder Buddhist? Es ist doch unlogisch, Menschen aufgrund ihres Jobs, ihrer Wahlregistrierung oder der Lage ihres Hauses anzugreifen. Meine Handtasche war voller solcher »Identi-
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tät«: Ausweise, Papiere, Adressen. Das alles kam mir in diesem Augenblick wie eine Lizenz zum Töten vor. Meine Brille, meine Schlüssel? Vielleicht wollte ich einfach nicht sehen, was vor sich ging; und Schlüssel sind doch nur noch eine Illusion von Sicherheit, wenn der Mob die Fenster zertrümmert und in die Häuser eindringt. Warum sollte ich mir in dieser Nacht Gedanken darüber machen, wenn ich mein Fenster einwarf, um ins Haus zu kommen? Das wäre sogar wunderbar, wenn ich einbrechen müsste, denn das hieße ja, dass mein Haus verschont geblieben ist. Mein Koffer? Er war schwer, und wenn dein Leben an einem seidenen Faden hängt, bedeuten dir all diese hübschen Saris und bequemen Schuhe überhaupt nichts. Aber ich glaube, es war mehr: Überall um mich herum plünderten die Leute die Sachen der Verstümmelten und Ermordeten, die brennenden Läden und die verlassenen Häuser. Was ist aus uns Menschen geworden, dachte ich vermutlich in dieser Nacht, dass wir uns für einen Fernseher oder irgendwelchen Plunder an den Toten vergreifen? Wann haben wir damit begonnen, Güter über das Gute zu stellen? Mein Koffer, der voller Dinge war, wurde mir in mehr als nur einer Hinsicht schwer. Ich habe sie stehen lassen. Ich habe die Geschenke stehen lassen, die ich für meine Familie gekauft hatte. Irgendwie verkörperten sie für mich das religiöse Eiferertum, das mein Land in dieser Nacht in Fetzen riss. Nur diese Wassermelone. Sie war schwer und unförmig und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich damit aussah, ein altes Mütterchen, das sich durch brennende Straßen kämpft, in seinen Armen eine Wassermelone. Aber das war etwas, was rein war von Gewalt; ein Geschenk für meine Familie, das niemanden das Leben kostete; etwas, das Vernunft und Hilfe zu verkörpern schien inmitten einer Welt, die verrückt geworden war. Eine Wassermelone trägt die Saat ihrer Zukunft in sich. Vielleicht ist es das, was ich versuchte.
Front-Markt: Bier und Kekse inmitten von Trümmern.
2. Gespräch in einer Bar an der Front
Unerwartet hatte ich einen Platz in einem Frachtflugzeug ergattert, das einen abgelegenen Teil der Front in Mozambique versorgte. Zu dieser Zeit, nämlich 1990, tobte der Krieg dort so heftig, dass die Menschen von den »killing fields« Afrikas sprachen. Seit Wochen hatte ich mich darum bemüht, in diese Provinz zu gelangen, die voller Widersprüche war. Nach afrikanischen Maßstäben war es ein absolut rückständiger Landstrich, in den die Menschen geschickt wurden, wenn sie entweder das Gesetz gebrochen oder sich bei der Regierung unbeliebt gemacht hatten. Gleichzeitig gab es dort ein starkes Pionierethos und eine ganze Reihe höchst lebendiger Kulturen. Von Seiten der Regierung kam wenig finanzielle Unterstützung und vielleicht hatten sich gerade deshalb starke grenzüberschreitende außerstaatliche Verbindungen zu größeren regionalen Netzwerken herausgebildet. Angesichts der Unwägbarkeiten des Krieges, der häufigen Überfälle auf die Handelsrouten und nicht zuletzt des Desinteresses der Regierung wusste man nie, ob es auf dem Markt drei Kartoffeln für die ganze Stadt geben würde oder in rauen Mengen ungewöhnliche Güter, die gerade erfolgreich über die Grenze geschmuggelt worden waren. Das Einzige, was es dort im Überfluss gab, waren Informationen. Denn die brauchte man zum Überleben. Gleich nach der Ankunft machte ich mich auf den Weg durch die Stadt, als mir plötzlich eine Frau über die Straße zurief: »Sind Sie die Anthropologin oder von der Gesundheitsorganisation?« Da ich mich schon lange nicht mehr fragte, woher die Menschen die Informationen bezogen, die mir absolut unzugänglich erschienen, antwortete ich knapp: »Die Anthropologin.« »Fein«, sagte sie, »ich bin die einzige Ärztin hier im Ort. Aber was wichtiger ist: Aus dem Nachbarland ist gerade eine Ladung Bier eingetroffen. Gehen wir.« »Wohin?«, fragte ich. »Auf ein Bier. So etwas gab es hier seit Ewigkeiten nicht mehr. Alle werden da sein. Wir können uns ja dort unterhalten.« Wir betraten die örtliche Bar – eine schlichte Konstruktion aus Bambus und Holz mit ein paar Plastiktischen und Bänken sowie einer Ansammlung einiger Bewohner des Ortes. Beim warmen, schalen Bier – eines der grauenhaftesten, das ich je getrunken habe – machten Geschichten die Runde.
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Ärztin: Was für eine Woche! Ich habe Tag und Nacht operiert. Der Krieg ist wieder heftiger geworden in dieser Woche. Carolyn, ich werde dir demnächst bestimmt mal das Krankenhaus zeigen, aber mach dich auf einiges gefasst: In der Stadt gibt es so gut wie keinen Strom und häufig haben wir nicht genug Benzin für den Generator. Kein fließendes Wasser. Fast keine Medikamente, und in dieser Woche gab’s nicht einmal Operationsfäden. Ich musste die Patienten mit meinen eigenen Beständen nähen. Und ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn die aufgebraucht sind. Journalist: Ja, der Krieg ist wirklich schlimm im Moment. Ich bin gerade von einer Reise in den Norden zurückgekommen, die ich mit einigen Soldaten unternommen habe. Wir sind ewig marschiert. Nicht genug zu essen, viele Kranke … Aber diese Jungs sind okay. Sie haben mir Geschichten aus ihren Heimatdörfern erzählt und davon, was sie vorhaben, wenn der Krieg vorbei ist. Einer vor ihnen ist auf eine Landmine getreten, sein Bein ist ziemlich übel zugerichtet. Wir trugen ihn zurück in die Stadt – das dauerte Tage, er versuchte stark zu sein und brüllte dann doch los, als er einfach nicht mehr konnte. Ärztin: Das war etwas! Als ihr ihn endlich zu mir gebracht habt, war er schon seit Tagen verwundet. Um sein Bein war ein riesiger blutiger Verband gewickelt. Als er eintraf, war er voll bei Sinnen, und ich hatte keinerlei Narkose, die ich ihm geben konnte. Ich nahm also den Verband ab, und wir beide starrten auf das, was von seinem Bein übriggeblieben war, alles war voller Maden. Er warf einen Blick auf sein Bein und ohne ein Wort zu sagen, versuchte er davon wegzukriechen, als würde es nicht zu ihm gehören. Man konnte es ihm ansehen: Er kannte seinen Körper, er sah nicht aus wie das da, dieses schreckliche Ding da unten an seinem Bein, das musste jemand anderem gehören. Doch als er sich auf den Operationstisch hievte, folgte ihm sein Bein und er versuchte immer wieder verzweifelt davon wegzukommen. Es war schrecklich: Mit einer Pinzette musste ich jede Made einzeln entfernen. Das dauerte Stunden. Aber ich hab ihn zusammengeflickt und er wird wieder werden. Zumindest soweit das geht, wenn einem Teile des Körpers zerfetzt worden sind. Journalist: Dort oben im Norden, ziemlich nah an der Grenze, liegt diese Gegend, wo die Menschen weitgehend unter sich bleiben. Welten entfernt. Aber großartig. Und sie haben es geschafft, inmitten des Krieges den Frieden zu wahren. Offenbar hat der Stammeshäuptling dort alle Macht, nicht die Regierung oder die Rebellen. Ein hoch anständiger Mensch, der sich um seine Gemeinschaft kümmert. Er ließ bestimmte Zeremonien abhalten, um seine ganz Gegend vor dem Krieg, vor den Soldaten und deren Gewalt zu schützen. Die Truppen wagen sich nicht in diese Region, sie entführen niemanden, vergewaltigen keine Frauen. Es ist einfach unglaublich, dorthin zu kommen – man spürt das vom ersten Augenblick an, die Menschen haben nicht diesen gehetzten, angstvollen
GESPRÄCH
IN EINER
BAR
AN DER
FRONT
Blick. Niemand stellt die Macht des Häuptlings in Frage – und im grenzüberschreitenden Handel erweist er sich als äußerst gerissen. Es gibt eine richtige eigene kleine Wirtschaft dort oben. Vor kurzem aber wurde diese Gegend angegriffen. Niemand konnte sich erklären, warum, nach so langer Zeit des Friedens und der Sicherheit. Dann aber kam es allmählich an den Tag – der Häuptling hatte offenbar Liebesprobleme. Und diese Schutzzeremonien funktionieren nur, wenn der Häuptling die zentralen moralischen Werte aufrechterhält. Er kann niemanden aus seiner Gemeinschaft missbrauchen, er kann sexuelle Beschränkungen nicht durchbrechen, er kann sich nicht einfach den Vergnügungen und der Faulheit hingeben, er kann sich nicht nehmen, was ihm nicht gehört. Durch seine Liebesaffäre ist er abgelenkt und verliert den richtigen Blick. Hängt herum, trinkt zu viel, versucht Sex zu haben, wenn er nicht sollte, und so weiter. Er vermasselt einfach alles. Von einem Häuptling erwartet man, dass er sich von einer Frau nicht so ablenken lässt, dass er die volle Kontrolle und Übersicht behält … Wenn er sein Liebesleben nicht unter Kontrolle hat, wie kann er dann für eine ganze Bevölkerung sorgen und sie schützen? Die Gemeinschaft beginnt jedenfalls nervös zu werden, und das mit gutem Grund. Eines Nachts wird die Gegend von Soldaten der Rebellen überfallen. Sie brandschatzen, töten einige Bewohner, plündern die Städte und verschleppen Menschen, damit die all das Beutegut tragen. Die Soldaten bleiben in der Gegend und fordern jeden Tag Essen, Medikamente, Vieh, Kleidung, Geld, Waren, Frauen, wonach ihnen eben gerade der Sinn steht. Die Menschen in der Stadt sind wütend und beschließen, zu ihrem Häuptling zu gehen und ihm zu sagen, warum sie angegriffen wurden: Er möge doch bitte seine Frauenangelegenheiten in Ordnung bringen und wieder wie ein Stammesoberhaupt handeln. Der Häuptling beherzigte diese Forderung, entledigte sich seiner Liebesprobleme und begann wieder mit den Schutzzeremonien, um den Krieg und die Besatzungssoldaten aus der Gegend zu vertreiben. Angeblich sind die Truppen vor kurzem wieder abgezogen. Das mag sein. Ich glaube aber, dass der Häuptling seinen Kampfeswillen wiederfand und sich damit auch sein Volk wieder sammelte. Ich vermute auch, dass er seine grenzüberschreitenden Allianzen nutzte und die Nachbarregionen zu Hilfe rief. Die Soldaten befürchteten wahrscheinlich Widerstand und neue Kämpfe und beschlossen, vorsichtshalber abzuziehen. Vielleicht ist es aber auch nicht so, sondern wie die Menschen sagen: Ihr Häuptling hat seine Liebesprobleme gelöst, sodass seine Schutzrituale wieder voll funktionieren. Aber wie auch immer, die Gegend ist jedenfalls wieder ein Hort der Ruhe und des Friedens inmitten des Krieges. Händler: Natürlich waren es seine schützenden Kräfte. Die und seine Beziehungen … Was glauben Sie, wie wir an dieses Bier gekommen sind. Angehöriger einer Hilfsorganisation: Scheiße!
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EINLEITUNG
(Alle Blicke folgen dem des Helfers und sehen, dass eine Gruppe von Luftwaffenoffizieren die Bar betreten hat.) Ärztin (flüstert mir zu): Er war in einem Umerziehungslager und hat noch immer Angst vor jeder Uniform. Helfer (der das zufällig gehört hat): Was, hier kennen noch nicht alle meine Geschichte? Nun gut, ich war in einem Umerziehungslager. (Wendet sich mir zu) Mein Vater war bei der Kolonialpolizei … Händler: Bei der Geheimpolizei. Helfer: … und als das Land unabhängig wurde, da waren einige von uns plötzlich außen vor, ohne große Möglichkeiten. Ich habe nichts Unrechtes getan, ich habe nur die Chancen ergriffen, die sich mir boten, aber ich war nicht patriotisch genug. Vor allem bei meiner Familiengeschichte. Also wurde ich in ein »Umerziehungslager« geschickt. Dieses Wort ist wirklich ein Witz. Es war eher ein Konzentrationslager. Händler: Chancen, ja? Du solltest jetzt besser vorsichtig sein, du und deine Chancen … Diese kleinen Dinger [Edelsteine], die du hier vertickst, werden dich wieder in die Scheiße reiten, wenn sie dich kriegen. Helfer: Was redest du da für einen Blödsinn? Aber egal, diese Offiziere sind jedenfalls die reine Gefahr. Dein Leben ist nichts wert, wenn sie in deine Richtung gucken. Sie kontrollieren dieses Land und sie werden alles tun, damit das so bleibt. Es gibt Regeln, ungeschriebene Regeln, man weiß einfach, welche Dinge man tut und welche nicht. Andernfalls ist dein Leben keinen Pfifferling wert. Autorin: Aber Luftwaffenangehörige haben doch überall auf der Welt dieses aufgeblasene Gehabe: Es ist ihr Beruf, hat aber zugleich diesen Hauch des Wilden – dieser Stolz des Kampfpiloten, niemandem verpflichtet zu sein. Muss man vor ihnen wirklich solche Angst haben? Helfer: Wenn Sie mir nicht glauben, sind Sie selbst schuld. Sie haben keine Ahnung, wenn Sie das nicht verstehen. (Einen Augenblick lang verstummen alle, aber ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass alle dieser Meinung sind oder ihnen das Thema unangenehm ist.) Ärztin: Eines weiß ich jedenfalls sicher. Die Sicherheitsleute sollten in betrunkenem Zustand ihre Waffen nicht tragen dürfen. Jedes Mal wenn eine Ladung Schnaps hier eintrifft und die Soldaten feiern, ballern sie offenbar wie wild herum. Das Militär hat entschieden, dass der Typ, der meine Gegend bewacht, ein Sturmgewehr braucht, und ihm diese Woche eins gegeben. In der folgenden Nacht wachte ich auf und hörte in nächster Nähe Gewehrfeuer. Ich schlüpfte in meine Schuhe, nahm meine Sachen und ging hinüber ins Krankenhaus, um dort auf die Verletzten zu warten: Ich wusste, dass mein Bewacher sich hatte voll laufen lassen und dann sein Gewehr geholt hatte. Was für ein verrückter Krieg.
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Das Gespräch ging noch stundenlang weiter. Es handelte von all den gemeinsamen Themen, die diese Kriegsjahre kennzeichneten: von den Toten, die diese Menschen in ihren Familien oder Gemeinschaften zu beklagen hatten; von der stets gegenwärtigen Suche nach Essen, Medikamenten und dem Lebensnotwendigen; von den Geschichten von Hoffnung und Freude, die diese Menschen aufrecht halten. Wenn es im Krieg um Soldaten geht, die auf Landminen treten, um Diamantenschmuggel und um die Angst, auf der falschen Seite geschnappt zu werden, so gehören zu ihm in gleichem Maße Gespräche in Bars und stille Akte individuellen Heldentums. Jeder Einzelne von denen, die an diesem Tag um den Tisch herum versammelt waren – mit Ausnahme des bei einer Hilfsorganisation Angestellten, der ein festes Gehalt bekam und zudem noch Edelsteine schmuggelte –, verfügte nur über ein kümmerliches Einkommen, das die eigene Familie mehr schlecht als recht über die Runden bringen konnte. Und jeder verbrachte jahraus, jahrein die meiste Zeit damit, seiner bzw. ihrer Gemeinschaft im Krieg so gut wie nur irgend möglich zu helfen. Alle verfügten über Fertigkeiten, die sie an sicherere und reichere Orte gebracht hätten, aber sie lebten in einer Stadt, welcher der Krieg die grundlegenden Annehmlichkeiten des Lebens genommen hatte, und sie arbeiteten unter schwierigen und manchmal lebensbedrohlichen Umständen. Sie bleiben nicht, um aus finanziellen, Macht- oder Prestigegründen zu helfen. Sie leben und arbeiten unter diesen Bedingungen, weil sie an ihre Gemeinschaften glauben. Auch das ist das Antlitz des Krieges.
Titus der Zauberer, zur Zeit der Unruhen in Sri Lanka 1983. »Ich bin«, so sagte er, »durch und durch Politik und zugleich frei von aller Politik.«
3. Dinge unsichtbar machen
Der mozambiquanische Soldat lehnte sich gegen den Baumstumpf, zündete sich eine Zigarette an und öffnete eine Flasche warmes Bier, das aus Malawi eingeschmuggelt worden war. Der Krieg in Mozambique befand sich auf seinem Höhepunkt und wir unterhielten uns in einem umkämpften Gebiet in der Mitte des Landes. Gestaltwandler; Menschen, die unter uns sind, die wir aber nicht sehen können – angeblich würden nur wir Afrikaner so etwas praktizieren. Aber glauben Sie das ja nicht, auch in Ihrem Land gibt es viele Gestaltwandler, überall auf der Welt. Die Europäer sagen, das sei Hexerei, aber das ist Unsinn. Es ist ganz einfach Macht. Wissen Sie, einige bezeichnen mich als Helden und für meine Tapferkeit im Kampf bin ich bekannt. Aber ich glaube, einige halten mich auch für einen Halunken. Klar, ich habe da so ein paar »Geschäfte« laufen. Aber wissen Sie, warum? Während ich hier mitten im Kampfgetümmel bin, machen die großen Jungs noch viel größere Geschäfte. Schauen Sie sich nur die South African Defense Force an, die ins Land kommt und von Krieg redet und anschließend säckeweise Diamanten mit nach Hause schleppt. Oder diese Typen, die aus der ganzen Welt mit ihren Frachtmaschinen hier ankommen und unter dem Vorwand, uns oder irgendjemanden zu unterstützen, mit allem handeln, von Gewehren bis zu Laptops. Ja, ich hab’ ein paar Geschäfte laufen, aber nur deshalb, weil die Welt an meinem Lagerplatz einen Basar errichtet hat. Und nun sagen Sie bloß, diese Leute seien keine Gestaltwandler: Diese Typen kommen aus der ganzen Welt und arbeiten nachts. Und sie sagen, nur Afrikaner würden an diese Fähigkeit glauben, unsichtbar zu werden.
Kriege und Unsichtbarkeiten Der Krieg und das Extralegale sind von Schichten der Unsichtbarkeit umgeben. Wie kommen diese komplexen Beziehungen zwischen Wahrheit, Unwahrheit und Schweigen zustande – und, vielleicht wichtiger noch, warum?
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Der eben zitierte Soldat mag Recht haben; zahlreiche Aspekte von Kriegsökonomie und transnationalen Profiten sind von unsichtbaren Netzen getragen. Aber das Leben der Menschen, die an den Fronten zu Hause sind, von den völlig Verarmten bis zu den Mächtigen, ist gleichermaßen der Auslöschung preisgegeben – es wird zerstört, weil die Wahrheiten des Krieges wenig mit den Mythen zu tun haben, die den Krieg begleiten. Bevor ich auf die Geschichte des Soldaten und seiner »Frontgeschäfte« zurückkomme, will ich zunächst die politischen Akte der Auslöschung erkunden, des »Ausstreichens« wichtiger Aspekte der Gewalt. »Die Welt ist verrückt geworden«, sagte mein Freund, sichtbar erschüttert von den Unruhen, die sich 1983 in Sri Lanka zutrugen. Es war eines der ersten Gespräche, das ich nach Ausbruch der Pogrome führte, und ich erinnere mich genau an die Worte dieses Mannes, mit denen er ein eindrucksvolles Bild von den Ereignissen zeichnete. Erst nach Tagen erkannte ich, dass jeder über eine andere Erfahrung verfügte, über andere Bilder der Gewalt und Verwüstung. An der Galle Road versuchte ich über die Straße zu kommen, die Gewalt, sie war überall. Diese Kinder, diese Teenager, sie begannen unmittelbar vor mir auf diese alte Frau einzuschlagen. Sie fiel zu Boden und sie traten weiter auf sie ein, riefen dabei irgend etwas von »Du verdammtes Ding«, was überhaupt keinen Sinn ergab, aber sie glaubten das. Es war scheußlich, wie sie da auf diese Frau einschlugen, als hätten sie das Recht dazu. Überall in der Stadt geht es so verrückt zu.
Für ihn standen die Gewalt der Jugendlichen und die Hilflosigkeit der alten Frau im Mittelpunkt. Wir alle trugen unterschiedliche, oft mehrere Schockbilder in uns. Mein erstes Bild zeigt einen brennenden Ochsenkarren inmitten der Galle Road südlich von Colombo City. An allen Hauptverkehrsstraßen waren Busse und Autos angehalten worden, die Insassen hatte man entweder herausgezerrt und geschlagen oder umgebracht oder sie waren bei lebendigem Leibe verbrannt, als man die Fahrzeuge ansteckte. All das waren absolute Horrorszenen. Aber irgendwie war es ausgerechnet dieser verbrannte Ochsenkarren – der schlichte Holzkarren eines Armen, die Waren, die er auf den Markt bringen wollte, brannten, der Mann war tot und der Ochse versuchte sich in rasender Panik von den Seilen zu befreien, die ihn an den sicheren Tod banden –, der für mich die Extreme der Gewalt symbolisierte. Das zweite Bild zeigt, wie sich der Mob zusammenrottete, der im Hauptbahnhof von Colombo sieben Tamilen tötete. Es waren die Bewohner des Stadtzentrums: Männer in Sarongs; Jugendliche in Jeans; Frauen in Röcken, Saris oder traditionellen Umhängen; Beamte in Anzügen; einige weißhaarige Ältere. Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, wie schnell sich der Mob bildete und wie wenig verbaler Kommunikation es dazu bedurfte. Der Mob
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war getrieben von einem nebulösen Gerücht: »Terroristen« kämen mit dem Zug in die Stadt und jedermanns Leben sei in Gefahr, wenn man sie nicht aufhalte. Ich bemerkte das eklektische Wesen des Mobs, die Menschen kamen aus allen Schichten und strömten aus Läden, Werkstätten und anderen Gebäuden entlang der Straße, um sich ihm anzuschließen – aber mir kam das erst ungewöhnlich vor, als in den Monaten nach den Unruhen die Rede davon war, die Gewalt sei von »organisierten Gruppen ausgegangen, die über Wählerlisten verfügten und systematisch Tamilen angriffen«. Mein Nachbar, ein Jugendlicher, erlebte einen ganz anderen Aufruhr. Völlig außer sich kam er zu mir herüber: »Wir haben einen«, sagte er. »Was für einen?«, fragte ich. »Einen Tamilen. Einen aus unserer Schule. Meine vier Freunde und ich waren mit ihm zusammen auf dem Nachhauseweg und unterhielten uns. Als wir zu der Baumgruppe kamen, wo es keine Häuser mehr gibt, begannen wir ihn anzubrüllen, die Tamilen würden unser Land ruinieren, sie wollten die Macht übernehmen und den Singhalesen ein Ende machen. Wir begannen auf ihn einzuschlagen. Dann stach ihn einer mit seinem Messer nieder. Anschließend zerrten wir ihn in die Büsche und ließen ihn dort liegen.« »Aber er war doch ein Schulkamerad von euch«, sagte ich entsetzt, »so ein Junge hat doch mit Politik oder Gewalt nichts zu tun; du weißt doch, dass er keine Bedrohung darstellt.« »Schon, aber er ist Tamile, und nun gibt es einen weniger, der versuchen kann, Sri Lanka zu übernehmen.«
In den Tagen und Wochen nach den Unruhen wurde mir bewusst, wie ungenau die Berichte waren über das, was passiert war. Die Jugendlichen, die Frauen, die Älteren und die Kinder verschwanden aus den Erzählungen und wurden ersetzt durch verschiedene Erklärungen, die sich auf erwachsene Männer konzentrierten. Die Regierung sprach unentwegt von der »unsichtbaren Hand«; die Intellektuellen kaprizierten sich auf »Männer mit Wählerlisten, die auf der Suche nach tamilischen Haushalten waren«; Regierungskritiker beklagten sich darüber, dass sich Teile der Armee und »private Söldnertruppen« von Regierungsmitgliedern beteiligt hätten. Keine dieser Erklärungen ist völlig falsch (mit Ausnahme der »unsichtbaren Hand«), aber sie enthalten allesamt nur Teilwahrheiten. »Die Singhalesen gehen auf die Tamilen los«, verkündeten die Schlagzeilen. Damit wurde der Eindruck erweckt, alle Singhalesen hätten sich beteiligt. Meine Erfahrungen zeichnen ein ganz anderes Bild. Um einigen Mobs in Colombo City aus dem Weg zu gehen, war ich ziemlich weit weg von meiner Unterkunft geraten. Die brutalen Schlägertrupps
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waren für den Augenblick nirgends zu sehen, ein paar Feuerwehrleute kämpften gegen die Flammen, und ich war gerade dabei, mich auf den Rückweg zu machen, als ein Rikscha-Taxi vorbeikam und signalisierte, dass es »frei« sei. Ich fühlte mich an einen Film von Fellini erinnert. Dankbar für die Mitfahrgelegenheit sprang ich in das Gefährt und fragte den Mann, warum um Himmels willen er seine Dienste ausgerechnet hier, inmitten all der ausgebrannten Autos, anbiete. »Haben Sie keine Angst?«, fragte ich. »Nein«, sagte er, »das Leben ist immer eine riskante Sache und meine Kinder brauchen etwa zu essen. Was glauben die Großkopferten denn eigentlich, dass wir Armen Geld auf die Seite gelegt haben für Tage wie diese? Wenn ich nicht arbeite, hat meine Familie nichts zu essen.«
Als er mich absetzte, fragte ich ihn, wie viel ich ihm schulde, und rechnete insgeheim mit einer Art Gefahrenzulage wegen der Unruhen. Er winkte ab und sagte, er wolle kein Geld. Aber er müsse doch seine Kinder ernähren, meinte ich. »Ich bin hier in die Gegend gekommen«, sagte er und zeigte auf all die ausgebrannten Gebäude und die zerstörten Straßen, »und habe eine Menge Menschen gesehen, die noch viel schlechter dran sind als ich. Menschen, die alles verloren haben, die vielleicht nicht einmal mehr irgendwelche Angehörigen haben, die sie mit Essen versorgen müssen. Ich habe beschlossen, zu helfen, wo ich kann.«
Ich betrachtete den Mann: Er entsprach eigentlich dem Stereotyp des rauen, harten Burschen, er hatte die klassische »Schlägervisage« und seine Kleidung signalisierte, dass er nicht übermäßig Wert darauf legte. »Die Singhalesen wüten gegen die Tamilen«, verkündeten die Rundfunksender. Aber doch nicht alle, nicht einmal die meisten, dachte ich. Ich musste mich hinüberbeugen und dem Mann etwas Geld in die Hemdtasche stecken, als er davonfuhr. Dieser Gewaltausbruch in Sri Lanka 1983 steht nicht nur exemplarisch dafür, wie bestimmte Akteure und Aktionen an vorderster Front aus den formellen Erzählungen und den »offiziellen Berichten« vom Krieg getilgt werden, sondern auch dafür, wie die alltägliche Realität des Lebens unter extremer Gewalt aus den allgemein »akzeptierten« Kriegsgeschichten verschwindet. Etwa am fünften Tag der Unruhen war ich in einer der Hauptstraßen Colombos unterwegs und blieb an einer Ecke stehen, um mich ein wenig auszuruhen und das zu verarbeiten, was ich gesehen hatte. Binnen kurzem war ich in mehrere Gespräche verwickelt, die ich im Folgenden wiedergebe. Für mich sind sie so etwas wie der wahre Kern der Gewalterfahrungen von Menschen – und es gibt noch unzählige mehr an allen Straßenecken in allen Städten Sri Lankas.
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Entlang des Häuserblocks hatte sich eine lange Menschenschlange gebildet, man stand vor einem verschlossenen und verrammelten Laden an. Die meisten waren Frauen unterschiedlichsten Alters und aus den unterschiedlichsten Schichten, aber so gut wie alle schienen den gleichen Gesichtsausdruck zu haben: eine eindrucksvolle Mischung aus Angst, Erschöpfung, Schmerz, Resignation und dem Willen, doch irgendwie weiterzumachen. »Was gibt es hier?«, fragte ich. Wir haben gehört, dieser Laden öffnet heute vielleicht und hat noch etwas zu essen. Wir haben alle die ganze Stadt durchstreift auf der Suche nach Essen. Es gibt einfach nichts mehr. Viele Läden sind abgebrannt, zahlreiche andere sind bis zum letzten Reiskorn geplündert worden. Die Ladenbesitzer, die bislang verschont geblieben sind, haben ihre Geschäfte verrammelt und trauen sich nicht zu öffnen, aus Angst vor dem Mob oder den Plünderern. Die Märkte sind leer. Wer wollte denn auch an einem Tag wie heute etwas auf dem Markt verkaufen? Niemand hat zu essen, unsere Kinder sind hungrig, und eine Lösung ist nicht in Sicht. Es sind nicht nur die Läden: Die Lagerhäuser sind niedergebrannt, die Container aufgebrochen und leergeräumt worden. Auf dem Flughafen treffen keine Lebensmitteltransporte ein, die Lastwagen, die noch nicht angezündet worden sind, stehen irgendwo versteckt herum, keiner bringt etwas in die Stadt, und selbst wenn, die Felder sind verbrannt und die Gärten verwüstet.
Während unseres Gesprächs wankte ein Mann mit blutigem Bein vorbei. Einige von uns versuchten ihm zu helfen. Er begann sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen: »Mein Kind ist krank, so krank, ich brauche eine Apotheke, die geöffnet hat, die noch die Medikamente hat, die mein Kind benötigt. Nichts ist geöffnet, nichts gibt es, niemand arbeitet.« Eine der Frauen in der Schlange pflichtete ihm bei: Es ist nicht nur das Essen. Es gibt auch nirgends Medikamente. Die Apotheken sind alle zerstört oder geplündert oder verrammelt. Meine kleine Tochter ist verwundet worden. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, aber die paar verbliebenen Ärzte und Pfleger waren völlig überfordert, weil Hunderte etwas von ihnen wollten. Wir fuhren deshalb in ein anderes Krankenhaus im Süden der Stadt, doch das war brechend voll mit Menschen, die Zuflucht gesucht hatten. Medizinische Betreuung gab es hier nicht mehr, dafür zahllose Menschen, die angegriffen worden waren, die ihr Zuhause verloren hatten oder vom Tode bedroht waren und hier nun ein wenig Sicherheit zu finden hofften. Also fuhren wir wieder zurück nach Hause, und mein Mann ist gerade in der Stadt unterwegs und sucht jemanden, der Medikamente verkauft, während ich etwas zu essen besorgen soll.
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Ein Jugendlicher kam heran, blieb an der Straßenecke stehen und begann mit einer Reihe von Aktionen, die er fast mechanisch ständig wiederholte: ein Bein heben, einen Schritt nach vorne tun, das Bein sinken lassen, stehen bleiben, sich strecken und das Ganze wieder von vorne. Armes Kind, sagte eine der Frauen, er hat seine Familie bei den Unruhen verloren. Irgendwie schaffte er es, mit dem Leben davonzukommen, aber seine Seele ist zerbrochen. Tag und Nacht wandert er durch die Straßen und nimmt die Gewalt um sich herum überhaupt nicht wahr. Wenn Sie ihn ansprechen, sagt er nur immer: »Ich finde nicht mehr nach Hause«.
Bevor ich Augenzeugin dieser Unruhen geworden war, hatten mich Medien und literarische Berichte glauben lassen, Gewalt zwischen Volksgruppen kenne nur »Aufrührer« und »Opfer« und Unruhen seien explosive Ein-Tages-Ereignisse. Diese Berichte verschwiegen jedoch die Tatsache, dass man den Unruhen nicht entkommt – niemand. Vorher hätte ich mir niemals vorstellen können, dass dazu auch die Suche nach Lebensmitteln und Medikamenten gehört, die längst zerstört und geplündert sind; dass Menschen »auf Seiten der Aufrührer« ihr Leben riskieren, um Menschen der »anderen Seite« zu schützen; dass kleine Kinder von Gewalt umfangen sind und sich mit viel zu weit aufgerissenen Augen fragen, was sie tun sollen und was mit ihrer Welt passiert – und dass all diese Erfahrungen genauso zum Fleisch politischer Gewalt gehören wie die Aufrührer, die ihre Opfer attackieren. In Sri Lanka leben etwa 15 Millionen Menschen und es gibt etwa ebenso viele Geschichten von politischer Gewalt, die alle gleich wichtig sind. Die meisten bleiben für immer ungehört. Einige werden bewusst zum Schweigen gebracht. Die Berichterstattung über die Unruhen in Sri Lanka hat sich im Laufe der Zeit kaum verbessert, die Stereotypen blieben bestehen: Aufrührer (erwachsene Männer) und Opfer (Massaker an Terroristen oder ganzen unschuldigen Familien, im Allgemeinen namenlos) – »die Singhalesen wüten gegen die Tamilen«. Schlimmer noch: Aus diesen Einseitigkeiten entstanden Einstellungen und politische Überzeugungen, die einen Kreislauf der Gewalt in Gang hielten. Anfangs dachte ich, die propagierten Ansichten seien auf einen Mangel an Information zurückzuführen. Wie sollte man denn auch inmitten des Gefechts unparteiische Untersuchungen anstellen? In der Zeit, als ich den Gewaltausbruch erlebte, der Tausende von Menschen das Leben kostete, hielten sich nur wenige an die Fakten, die meisten ergriffen Partei. Viele »offizielle« Versionen basierten auf einseitigen Interessen. Wer etwas über die Gewalt wissen wollte, wurde zumeist eingeflogen und führte ein paar Interviews, nachdem die Aggression abgeflaut und wieder relative Ruhe eingekehrt war. Es ist inzwischen ein Gemeinplatz, dass Menschen, die Aggression erlebt
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haben (ob aktiv oder passiv), ihre Erzählungen im Nachhinein von der Gewalt »säubern«. Wenige geben zu, dass sie das Haus ihres Nachbarn angezündet oder einen Unbewaffneten niedergestochen haben. Und die Opfer verschweigen die Wahrheit häufig aus Angst vor Vergeltung. Diese Schwierigkeiten schienen mir anfangs den falschen Informationen zugrunde zu liegen, die ich über die Ereignisse zu lesen bekam. Darüber hinaus glaubte ich, dass sich die Politik, die auf irrigen Annahmen aufbaute – und die scheitern musste, weil sie auf Fiktionen und nicht auf Fakten beruhte –, ändern würde, sobald sie genauere Erkenntnisse hatte. Doch als ich meine Forschungen zu der politischen Gewalt, die ich erlebt hatte, zum ersten Mal öffentlich vorstellte, begann ich die Dinge anders zu sehen. Einzelne Zuhörer standen wütend auf und stellten meine Ergebnisse in Frage. »Wie können Sie sagen, dass Priester an Gewaltakten beteiligt waren?« Andere nahmen es mir übel, dass ich gesagt hatte, Jugendliche und Frauen seien gewalttätig gewesen oder angesehene Mitglieder der Gesellschaft hätten Kinder verletzt. Und wiederum andere fühlten sich durch meine Behauptung getroffen, Soldaten hätten die Massaker an Zivilisten zugelassen oder sich sogar daran beteiligt. Dass ich diese Dinge persönlich erlebt hatte, dass ich mit den Betroffenen gesprochen hatte, spielte keine Rolle. Man nahm es mir übel, dass ich diese Dinge überhaupt ansprach. Die meisten Menschen sprachen dabei nicht aus einer Haltung des Wissens heraus, sondern des Privilegs und der Leidenschaft. Militärs wollten mit dem Vorwurf, Zivilisten getötet zu haben, nicht behelligt werden. Die Gläubigen wollten nicht wahrhaben, dass einige Priester die Stimmung angeheizt hatten. Akademiker, die fern aller politischen Konflikte lebten, wollten nicht glauben, dass andere wie sie (und möglicherweise künftig sogar sie selbst) Unschuldige ins Visier nehmen und zu Schachfiguren in hässlichen politischen Machtkämpfen werden konnten. Für viele war die schiere Barbarei der Gewalt unerträglich und musste deshalb in erträgliche Mythen gekleidet werden. Geschichten wie jene von meinem jungen Nachbarn, der mit anderen zusammen seinen Klassenkameraden getötet hatte, wollte man nicht hören. Mit Unruhen wird im Allgemeinen sinnlose Gewalt assoziiert. Sigmund Freuds Massenpsychologie vom ewigen Kind – Menschen werden auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert und sind willens, alles für eine Vaterfigur zu tun, wie irrational auch immer es sein mag – ist in der Gesellschaft weithin akzeptiert. Das Problem mit der Geschichte von meinem Nachbarn besteht darin, dass man glaubt, vernünftige, ökonomisch abgesicherte und gebildete Menschen würden solchen primitiven Emotionen nicht nachgeben: Es sind die Armen und Ungebildeten, die Ausgegrenzten und die Kriminellen, die man für irrationale Gewalt verantwortlich macht. Es sind Menschen wie der arme Rikschafahrer, denen
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man zutraut, dass sie die Flammen der Massengewalt schüren, nicht der nette Schuljunge von nebenan oder der allseits geschätzte Arzt. In diesem Zusammenhang wurde auch noch eine Reihe ganz anderer schmutziger Geheimnisse gewahrt. Unter dem Deckmantel der »Wahrheit«, wie sie die Schlagzeilen vom Aufruhr der Singhalesen gegen die Tamilen verkündeten, brannten Geschäftsleute die Läden der Konkurrenz nieder, setzten Nachbarn das Haus von jemandem in Brand, gegen den sie schon lange Groll hegten, und plünderten Tausende alles, was sie gerade in die Hände bekamen. Solche Akte der Aneignung und der Antipathie haben so gut wie gar nichts mit Ethnizität zu tun. Alte Rechnungen wurden beglichen, und unter dem Mantel des Aufruhrs wurden beträchtliche Vermögen verloren und gemacht. Mit der Zeit begann ich die Bilder vom Krieg zu verstehen, die in den Medien und in der Literatur präsentiert wurden. In ihnen kamen keine Priester und Frauen vor, keine Kinder und keine brutalen Soldaten, keine Altruisten aus der Unterschicht und keine Profiteure aus den oberen Schichten. Politische Gewalt gilt vielmehr als Terrain rationaler Militärs und zumeist rationaler Soldaten, welche die gefährlichen Elemente und die explosiven Risse innerhalb der menschlichen Gesellschaft unter Kontrolle halten. Das ist ein bequemes Bild, aber eben auch ein Mythos. Das gleiche Muster, dass nämlich die wirklich wichtigen Aspekte politischer Gewalt aus den öffentlichen Berichten getilgt sind, findet sich im Falle von Unruhen ebenso wie in »richtigen« Kriegen und reicht von Asien über Europa und den amerikanischen Kontinent bis nach Afrika. Die meisten Menschen, denen ich im Epizentrum eines Krieges begegnet bin, und die meisten Ereignisse, deren Zeugin ich wurde, tauchen in den öffentlichen Darstellungen politischer Gewalt niemals auf. In den Medien und in der Literatur zirkulieren weltweit zweifellos ernsthafte und repräsentative Berichte von der Wirklichkeit der Front. Doch in viel zu vielen tauchen die zentralen Akteure und die wirklichen Opfer nicht auf. Warum aber wird so viel Mühe darauf verwendet, die Wahrheiten über den Krieg auszulöschen? Eine einfache Antwort habe ich darauf nicht. Einerseits sehe ich mich vor die Frage gestellt, ob nicht wir, die allgemeine Öffentlichkeit, das volle Ausmaß des Leids, das die Menschen trifft, schlicht und einfach gar nicht erfahren wollen. So schreibt etwa Mattijs van de Port in seinem Buch über den Krieg im früheren Jugoslawien: »Ist es nicht völlig unsinnig zu glauben, man könne die Kluft zwischen der akademischen Welt und der des Krieges überwinden?«6 Ja, er frage sich sogar, ob wir wirklich »verstehen wollen, wie sich das ›Tier im Menschen‹ auf mysteriöse Weise mit den Zwängen und Motiven verbindet, die sich aus der gesellschaftlichen Realität ergeben, ob eine solche Fragestellung nicht gegen die stärksten Hindernisse anrennt. Sind wir bereit, unser nettes
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Bild von der Welt aufzugeben? … Wollen wir wirklich einen akademischen Text, der verstört?«7 Immer wieder kommt van de Port in seiner Ethnografie des jüngsten Balkankriegs auf diese Frage zurück und muss im Laufe seiner Erkundungen einsehen, dass die »Erfahrungen, die in der schrecklichen Realität des Krieges enthalten sind, dass diese Konfrontation mit den brutalsten Verletzungen der Integrität des menschlichen Körpers – Verletzungen dessen, was möglicherweise die eigentliche Geschichte darstellt, die wir über uns selbst zu erzählen haben: die besagt, dass wir mehr sind als nur Haut, Knochen, Blut und Gehirn – offenbar zu einer völligen Entfremdung führt«.8 Und auch für Arthur Redding zeugt Gewalt von einem »nie wirklich greifbaren, abstrakten und doch paradoxerweise uns zugehörigen Schrecken, von einem sich verändernden Gravitationsfeld, das sich auf die Gezeiten unserer kollektiven Ängste auswirkt«.9 Nicht zuletzt aus diesem Grund wird »Gewalt stets im Bereich des Außertextuellen situiert werden«.10 Das entspricht den Beobachtungen, die ich in Sri Lanka gemacht habe. Für Empörung sorgt nicht die Wirklichkeit der Gewalt, sondern dass man darüber spricht. Gewalt wird denn auch oft als »unaussprechlich« tituliert. Aber warum sollten wir daran glauben, dass die Schrecken des Krieges zu schrecklich sind, um davon zu sprechen, ja sogar um darüber nachzudenken? Warum verzichten wir auf das Erzählen und sorgen damit dafür, dass die dahinterstehenden Handlungen weitergehen können? Was ist es, das wir nicht erfahren sollen? Hier fallen einem verschiedene Dinge ein: In den Kriegen der heutigen Welt sind die meisten Opfer Zivilisten. Das hat sich vor allem in den letzten Jahren gezeigt, ist aber deshalb um keinen Deut annehmbarer geworden und wird vielleicht gerade deshalb oftmals von dem Mythos überlagert, Krieg bedeute Soldat bedeute Mann. Trotz der Tatsache, dass 90 Prozent aller Opfer heute Zivilisten sind, dass im Krieg mehr Kinder als Soldaten sterben und dass die Fronten geradewegs durch das Zuhause und das Leben der Durchschnittsbürger verlaufen, halten Texte zum Krieg, Museen, Kriegsromane, Kunstwerke und Denkmäler weiterhin die Vorstellung und das Ideal aufrecht, wonach es im Krieg um männliches Soldatentum gehe. Menschen, die im Krieg verwundet und getötet werden, sterben häufig einen unnötig grausamen Tod, oftmals von der Hand uniformierter Kräfte. Das spricht den Vorstellungen von Integrität und Ehre Hohn, die den Rechtfertigungen der Militärs weltweit zugrunde liegen. Gleichzeitig handeln viele Soldaten und Zivilisten inmitten der Gewalt höchst ehrbar, doch wenn die Realitäten der Front verschleiert werden, werden auch diese Akte unsichtbar. Hier kommt noch ein zweiter Aspekt ins Spiel: Wenn die Menschen erkennen, dass Zivilisten sterben, weil sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befinden, und nicht, weil sie gegen
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die Regeln des Krieges verstoßen, müssen sie davon ausgehen, dass auch sie Opfer der Gewalt werden können, ganz gleich, wie sie leben. Das Chaos – das Unvorhersehbare und Unkontrollierbare – verstört die meisten Menschen zutiefst. Der Mythos vom ordnungsgemäßen Krieg ist da viel leichter zu ertragen. Ganz gleich, wer auf wen schießt, es machen bestimmte Machteliten dabei Gewinn. Hinter diesem Befund steckt mehr, als man auf den ersten Blick glaubt. Der Mann, der mitsamt seinem Ochsenkarren verbrannte – namenlos und längst vergessen in der Liste der Kriegstoten, die allein in Sri Lanka Tausende umfasst und sich für das vergangene Jahrhundert weltweit auf Hunderte von Millionen beläuft –, scheint kaum geeignet, den Krieg und seine Tilgungen zu erklären. Doch dieser Mann ist eingebunden in ein Beziehungsnetz, das, verfolgt man es bis in seine globalen Vernetzungen, eine Geschichte ergibt, die ebenso auf den Krieg verweist (und ebenso namenlos ist) wie er. Die folgenden Kapitel werden danach fragen, wo genau wir nach dem Krieg suchen und welche Handlungen diesen »Alltag« des Krieges bestimmen. Diese Handlungen betreffen Soldaten und Zivilisten gleichermaßen, ob sie Waffen tragen oder ein Waisenhaus leiten, ob sie Drogen verkaufen oder sie selbst konsumieren, um die Schrecken des Krieges zu vergessen, ob sie Antibiotika und Lehrbücher auf dem Schwarzmarkt verkaufen und dabei gleichzeitig Gewinn machen und anderen helfen. Irgendwo inmitten von all dem lösen sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auf. Nicht nur inmitten des Lebens der Menschen, sondern auch in den Billionen von Dollar, welche die Kriegsindustrie jedes Jahr für die Menschen erwirtschaftet, die an friedlichen Orten ihre Arbeit verrichten; für Menschen, die über verschiedene Kanäle politischer Bündnisse und Antipathien Waren auf den Weg bringen; und für Menschen, die an den Fronten unterwegs sind und denen es dort mehr um ihren Profit als um den Feind geht. Diese Systeme des Handels und Profits sind weitaus größer als jedes einzelne Kriegsgebiet, und sie reichen weiter als jede einzelne Epoche des Krieges. Mitte der 1990er Jahre gaben die Regierungen legal 700 Milliarden Dollar für Rüstung aus. Das beinhaltet nicht die ungeheuren Summen, die über außerstaatliche Kanäle, Grauzonen und Schwarzmärkte geflossen sind. Allein der illegale Waffenhandel wird auf ein Volumen von einer halben Billion Dollar pro Jahr geschätzt.11 Hinzu kommen noch die Fahrzeuge und der Treibstoff, Uniformen und Verpflegung, Medikamente und Werkzeug, die technische Ausrüstung, Kommunikationssysteme, Computer und alles, was man sonst noch für den Krieg benötigt. Von den legalen Waffenverkäufen über Termingeschäfte mit Öl bis hin zum illegalen Diamantenhandel ist der Krieg in den kosmopolitischen Produktionszentren der Welt gut fürs Geschäft. Die Diamanten, das
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Öl, die Edelhölzer, der Fisch und die Arbeitskräfte, die aus Kriegsgebieten von Angola bis Birma kommen, sowie die Waffen, Güter und Dienstleistungen, die diese wertvollen Ressourcen den kosmopolitischen Industrien abkaufen, summieren sich zu beträchtlichen Einkünften. »Die internationale Gemeinschaft hat keine Lust, den Friedensprozess in Angola länger als nötig finanziell zu unterstützen, ist aber andererseits ganz versessen darauf, den Bürgerkrieg zu finanzieren und Gewinne daraus zu ziehen.«12 Angesichts der schwindelerregenden Gewinne, die sich aus dem Krieg ergeben, scheint mir die »Politik der Unsichtbarkeit« kein Zufall zu sein: Sie wird erzeugt, und zwar ganz bewusst und mit gutem Grund.13 Die Toten des Krieges fänden damit eine tragische Wahrheit in Charles Tillys Charakterisierung von »Kriegsführung und Staatsführung als organisiertem Verbrechen«.14 Der moderne Staat ist von den Gewinnen aus den Kriegsgebieten ebenso abhängig wie davon, diese Abhängigkeiten in den offiziellen Statistiken nicht aufscheinen zu lassen. Teile seiner Macht beruhen auf einer Optik der Täuschung: Man lenkt die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit militärischer Einsätze und verschleiert gleichzeitig die kriegsökonomischen Grundlagen souveräner Macht und den Preis an menschlichem Leben, der für diese Ökonomie der Macht zu entrichten ist. Der Zaubertrick besteht in der Schaffung einer unsichtbaren Sichtbarkeit.
Schatten und Unsichtbarkeiten Der mozambiquanische Soldat fuhr fort zu erzählen: Unsichtbarkeit: Es hat den Anschein, als wärt ihr aus dem Norden auch ganz gut darin. Sie wollen wissen, warum alles so reibungslos funktioniert. Weil die Leute ein gemeinsames Ziel haben: dass es ihnen irgendwie einigermaßen gut geht. Weil das Geschäftemachen zum Wesen des Menschen gehört. Weil wir genau das machen. Manche mögen mich für einen Gauner halten, weil ich ein paar Geschäfte am Laufen habe, aber in Wahrheit sind das Geschäfte, die den Menschen helfen und nicht ein paar arme Kerle umbringen und eine Witwe sowie hungrige Kinder hinterlassen. Kennen Sie die Typen, die sich von den Familien dafür bezahlen lassen, dass sie ihnen ihre Lieben wieder zurückgeben, die zum Militärdienst gezwungen wurden? Wir nennen sie »Schakale«. Gut, sie profitieren vom Leid anderer Menschen. Aber sie sind zugleich die einzige Möglichkeit, um Familienmitglieder zurückzubekommen, die sonst vielleicht getötet werden. Sie geben den Verzweifelten Hoffnung und sind oft ihre einzige Rettung. Die Menschen verachten die Schakale, weil
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sie ihr Hab und Gut verkaufen müssen, um diese Typen zu bezahlen, aber sie mögen sie auch. Sie sollten einmal die Gesichter der Familien sehen, wenn der Vater oder die Schwester aus dem Busch auftauchen; nach all dem, was sie durchgemacht haben, sehen sie aus wie lebende Tote, und plötzlich merken sie, sie sind wieder zu Hause. Klar, das ist ein Geschäft. Aber sollte der Schakal lieber zur Waffe greifen und töten? Und was ist das alles im Vergleich zu den Typen, die aus der ganzen Welt Waffen ins Land bringen? Selbst hier ist nichts unkompliziert. Einige sagen, sie haben Lebensmittel und Bibeln dabei, während sie in Wirklichkeit Waffen einfliegen, und andere sagen, sie würden Waffen transportieren und bringen in Wahrheit Lebensmittel und Bibeln. Aber ziemlich viele von denen haben Waffen dabei und machen sich dann mit Kriegsbeute wieder auf den Heimweg. Man kann hier draußen alles kaufen, wenn man weiß, wie man’s anstellen muss: von den aktuellsten Videos und Videoplayern über die für die Energieversorgung nötigen Generatoren und das dafür erforderliche Benzin bis hin zu einem Mercedes und den entsprechenden Ersatzteilen. Cadonga [irreguläre Waren] bekommt man jedenfalls leichter als Dinge von den legalen Märkten. Afrikaner, Europäer, Amerikaner, Asiaten – sie alle sind in dem Geschäft tätig und hier im Land.
Illegal. Informell. Schwarzmarkt. Grauer Markt. Außerstaatlich. Extralegal. Untergrund. Irregulär. Verstohlen. Heimlich. Schatten. All diese Wörter beschwören Bilder dessen herauf, was jenseits des Alltagslebens und der normalen Welt liegt. So wie es eine allgemein verbreitete Vorstellung vom »Krieg« gibt, so gibt es auch eine vom »Heimlichen«. Einer der verbreitetsten Mythen ist derjenige, wonach zwei Dinge nicht gleichzeitig an ein und demselben Ort existieren könnten. Dieser Mythos prägt unser Verständnis vom Krieg und trägt dazu bei, dass die Schatten unsichtbar bleiben. Es gibt die legale Welt und daneben die nicht legale »Subwelt« – zwei völlig unterschiedliche Bereiche. Doch dieses saubere Bild ist höchst ungenau. Denn die Schatten existieren inmitten der formellen staatlichen Gesellschaft und des konkreten Alltagslebens. Die Schatten sind integraler Bestandteil des Alltags und der globalen Politik, und sie stellen ein Koordinatensystem der Macht dar, das ebenso substanziell ist wie das zahlreicher Staaten auf dieser Welt. Michel de Certeau befasst sich mit den komplexen Zusammenhängen zwischen dem Nicht/Staatlichen und dem Außer/Legalen, die ich in diesem Buch näher betrachten werde. Er plädiert dafür, dass wir uns nicht mehr nur an abstrakte Bereiche der Epistemologie halten, sondern die Substanz in Aktion erforschen: »Die wortlosen Geschichten des Gehens, der Kleidung, des Wohnens oder des Kochens bilden Nachbarschaften im Namen des Abwesenden aus; sie spüren unseren Erinnerungen nach, die keinen Ort mehr haben … In
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Cafés, Büros und Gebäuden insinuieren sie andere Räume. Der sichtbaren Stadt fügen sie die ›unsichtbaren Städte‹ hinzu, über die Italo Calvino geschrieben hat. Mit dem Vokabular der Objekte und vertrauter Wörter schaffen sie eine andere Dimension, die fantastisch und abweichend ist, furchteinflößend und legitimierend.«15 Wenn annähernd die Hälfte der Volkswirtschaften in Ländern wie Italien, Peru, Kenia und Russland im Schatten verläuft, wenn die Hälfte aller Einkünfte aus dem Verkauf von Waffen, Software und Zigaretten über außerlegale Kanäle fließt, dann ist es empirisch vielleicht unmöglich, das »Außen« im Außerlegalen zu bestimmen. Doch die Trennlinie verläuft nicht zwischen dem normalen Leben und dem, was jenseits davon liegt. Vielmehr vermischen sich das Sichtbare und das Unsichtbare überall auf den Straßen und in den Cafés, in den Kaufhäusern und in den Regierungsbüros, in den Dingen, die wir lieben, und in den Menschen, vor denen wir uns fürchten. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf das, was Marc Augé als »nonlieu«, als »Nicht-Ort« bezeichnet hat, von Nutzen. Augé beschäftigt sich mit der Übermoderne und den riesigen Durchgangssphären, die sie schafft: Schnellstraßen und Kommunikationssysteme, Flughäfen und Imbissketten – die unterschiedslosen, willkürlichen Räume, die die kosmopolitische Gegenwart bestimmen. Er befasst sich nicht mit dem Schattenhaften, aber seine Theorien lassen sich sehr wohl auch auf diese Bereiche anwenden: »Die Welt der Übermoderne hat nicht dieselben Maße wie die Welt, in der wir zu leben glauben, denn wir leben in einer Welt, die zu erkunden wir noch nicht gelernt haben.«16 In akademischen Texten, in den populären Medien und in der Literatur wird die Welt zumeist als eine Welt von Orten dargestellt. Wir sind beseelte Wesen in einer Welt von Objekten, die gleichsam fest »verortet« sind. Unsere Geografien verfügen über Berge und Flüsse und Orientierungspunkte; unsere Zivilisation besitzt Hauptstädte, Regierungsbüros und Schulen, die auf Karten verzeichnet sind; unsere Geschäftstätigkeiten verfügen über Gebäude in Straßen, die einen Namen tragen. Ein Ort ist nicht gegeben, sondern wird gemacht. Menschen schaffen aus verschiedenen Gründen einen Ort: aus Gründen der Zugehörigkeit; der Politik; der Macht und der Kontrolle; des Sinns. Doch Menschen bewegen sich, Gedanken schreiten voran, Güter fließen: Wir leben in einer Welt subtiler Bewegung. Wenn ich den Krieg und hier insbesondere seine Schatten untersuche, habe ich es nicht mit einem festen Ort zu tun, sondern mit beweglichen Zielen. Die Schatten, wie ich sie in diesem Buch definiere, haben in erster Linie mit Bewegung zu tun, nicht mit Orten. Sie umfassen Nicht-Orte, um mit Marc Augé zu sprechen. Nicht zuletzt auf diese Weise werden sie unsichtbar
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gemacht. Sinn und Substanz verleiht man dem Ort, bevölkert ist das Lokale, »gesehen« wird die Örtlichkeit. Von diesen gleichfalls weitgehend fiktiven Welten könnte man sagen, dass es sich im Wesentlichen um Welten des Wiedererkennens handelt. Symbolische Welten haben die Eigentümlichkeit, dass sie für die Menschen, die sie als Erbe übernommen haben, eher ein Mittel des Wiedererkennens sind als ein Mittel der Erkenntnis: ein geschlossenes System, in dem alles Zeichen ist, ein Ensemble aus Codes, für das manche den Schlüssel besitzen und von denen sie die Gebrauchsweise kennen, dessen Existenz jedoch von allen anerkannt wird, partiell fiktive, aber effektive Totalitäten, Kosmologien, von denen man meinen möchte, sie seien erdacht worden, um den Ethnologen eine Freude zu bereiten.17
Das Wiedererkennen eines Ortes hängt oft vom Nicht-Erkennen eines NichtOrtes ab. Der Nicht-Ort ist das Anderswo, das von Schattengestalten in dunklen Mänteln bevölkert ist: die Bereiche, die gemeinhin als der Hort des Elends und der Gefahr gelten, die Obdachlosen, die Kriminellen, die Schwarzhändler, die Marginalisierten. Schlachtfelder werden als kurzzeitige Orte/Nicht-Orte unsterblich gemacht, sie werden idealisiert als etwas, das sich vom Alltagsleben und der »sicheren« Welt unterscheidet. Das Dunkle wird in Bereiche außerhalb bekannter Orte verbannt, außerhalb der Örtlichkeiten, die sich auf einer Karte finden lassen. In diesem Zusammenhang sind Stanley Cohens Untersuchungen über die »Zustände der Leugnung« aufschlussreich: Warum entscheiden sich Menschen oder Staaten dafür, über Gräueltaten, Leid und gefährliche Politik »nichts zu wissen«. Selbstverständlich, so Cohen, gibt es Systeme der Leugnung, die sowohl auf persönlicher als auch auf offizieller Ebene wirksam sind, wenn Regierungen die massiven staatlichen Ressourcen ins Spiel zu bringen versuchen. Darüber hinaus gibt es jedoch Systeme kultureller Leugnung, die »weder völlig privat noch vollkommen staatlich organisiert sind. Ganze Gesellschaften können in eine kollektive Form des Leugnens verfallen, ohne dass es eine wie auch immer geartete Form der stalinistischen oder Orwellschen Gedankenüberwachung gibt. Ohne dass man gesagt bekommt, was man zu denken (oder nicht zu denken) hat, und ohne dass man bestraft wird, wenn man die falschen Dinge ›weiß‹, gelangen Gesellschaften zu ungeschriebenen Vereinbarungen über das, was öffentlich erinnert und eingestanden werden darf.«18 Wie Augé unterscheidet auch Cohen zwischen Erkenntnis und Wiedererkennen. Menschen können gleichzeitig »wissen und nicht-wissen«. Informationen können verfügbar sein – Berichte über Kriegsgräuel, Leid und die Auswirkungen außerstaatlicher Märkte auf unser Leben finden sich überall in den Medien, Mythen und Gesprächen –, aber die Menschen erkennen sie möglicherweise nicht wirklich an oder reagieren nicht darauf. Dieser Prozess ist hochgradig komplex: Cohen zeigt, wie Juden es während des Zweiten Welt-
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kriegs trotz aller Hinweise auf den Genozid vermieden, die tödliche Gefahr, in der sie schwebten, zu »erkennen«; es gelang ihnen auch deshalb nicht, sich in Sicherheit zu bringen. Leugnung ist somit nicht einfach ein Prozess, bei dem man die Probleme »anderer« als nicht existent abtut, sondern kann auch die eigenen Probleme betreffen, die einen bedrohen. Im Zusammenhang mit der Frage, warum die deutschen Juden die Bedrohung durch die Nazis nicht erkannten, nennt Cohen das alte deutsche Sprichwort, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf.19 Eng verbunden mit dem Glauben, das moralisch Gefährliche oder Verwerfliche dürfe nicht sein (und existiere deshalb nicht), ist das, was Cohen als Leugnungszauber bezeichnet: »Die Zuwiderhandlung ist von der Regierung verboten, es konnte also nicht dazu kommen.«20 Dies wiederum verbindet sich mit Leugnungen, die dem Opfer vorwerfen, es sei parteiisch, die dem Reporter vorwerfen, er sei voreingenommen, und die dem Zeugen vorwerfen, nicht objektiv zu sein. Der »magische Realismus« erweist sich damit als »Methode, um zu ›beweisen‹, dass eine Anschuldigung gar nicht zutreffen kann, weil die entsprechende Handlung illegal ist«.21 Die unsichtbaren Städte, von denen de Certeau spricht, liegen eindeutig (und erkennbar) inmitten unseres alltäglichen Lebens: Geschäfte, die in Cafés gemacht werden und die edlen oder weniger edlen Zwecken dienen; legale wie illegale Waren, die ganz harmlos in den Straßen zirkulieren; Kaufhäuser und Läden, die verschiedenerlei Geschäfte auf dem Spektrum zwischen irregulär und regulär betreiben; Schwarzgeld, das durch ehrbare Praktiken gewaschen wird. David Hecht und Maliqalim Simone beschreiben die Überschneidung von Legalität, Illegalität und Magie in einer Welt, in der »Ort« ein besonders schattenhafter Begriff ist: Obwohl ein Großteil dieser Grenzökonomie illegal ist, wird er nur gelegentlich von der Polizei behelligt … Die Undurchsichtigkeit und die Ungewissheit der Grenze liefert einen Text, der von Zauberern entziffert werden muss – ist es Zeit zu kaufen, und wenn ja, welche Waren? Angesichts der wichtigen Rolle, die diese Zauberer in der Grenzökonomie spielen, werden sie auch von vielen Menschen aufgesucht, die gar nichts kaufen oder irgendwohin fahren wollen. Beide Seiten der Grenze sind oft voller Menschen, die kurz aus einem Land hinaustreten, ohne ein anderes Land betreten zu wollen. Die Menschen kommen, um Streitigkeiten beizulegen, um vom Fieber geheilt zu werden, um ganze Dörfer mit einem Fluch zu belegen oder die verlorene Jungfräulichkeit wiederzuerlangen. Mit dem Geld, das sie dabei verdienen, werden Zauberer oft zu Händlern und umgekehrt werden viele Händler zu Zauberern. Zauberer pflegen disparate Loyalitäten gegenüber der Grenzpolizei, wobei die nationalen Zuschreibungen häufig gar keine Rolle spielen. Die daraus resultierende Unordnung ist
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der einzige Schutz für Käufer und Verkäufer … Obwohl die Regierungen beider Länder wiederholt versucht haben, an der Grenze für Normalität und Ordnung zu sorgen, ist es schwierig für sie, eine Situation zu verändern, in der jeder einmal zu den Gewinnern zählen kann.22
Der Staat und das Außerstaatliche, das Legale und das Illegale, das Gewaltsame und das Friedliche verschwimmen in den Straßen und den Cafés, in den Büros und den Läden, in der Politik und in den Profiten und drücken der Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends ihren Stempel auf.
Zweiter Teil Krieg
Der berühmte chinesische Militärtheoretiker Sun-tzu beginnt sein Buch Die Kunst des Krieges mit den Worten: »Die Kunst des Krieges ist für den Staat von entscheidender Bedeutung. Sie ist eine Angelegenheit von Leben und Tod, eine Straße, die zur Sicherheit oder in den Untergang führt. Deshalb darf sie unter keinen Umständen vernachlässigt werden.« Jahrhunderte später sind wir dem Verständnis, warum Menschen mit einer Waffe aufeinander zielen (oder auch nicht) und um ihrer politischen Ziele willen den Abzug drücken (oder auch nicht), nur unwesentlich näher gekommen. Allein im 20. Jahrhundert kosteten über 250 formell erklärte Kriege mehr als 100 Millionen Menschen das Leben. Millionen weitere fielen politischer Unterdrückung, innergesellschaftlicher Gewalt und ethnisch motiviertem Genozid zum Opfer. Zu Beginn des dritten Jahrtausends sind ein Drittel aller Länder auf dieser Welt in die eine oder andere Form politischer Gewalt verstrickt. Überdies begehen schätzungsweise zwei Drittel der Sicherheitskräfte weltweit regelmäßig Menschenrechtsverletzungen. Kriege dauern heute länger und töten einen höheren Anteil von Zivilisten als in früheren Jahrhunderten. Solche Zahlen sagen freilich wenig darüber aus, wie Krieg erlebt, gefühlt und gestorben wird. Welche Worte begleiten einen Soldaten ins Gefecht; bringen einen Vierzehnjährigen dazu, ein Sturmgewehr zu tragen; verklingen, wenn eine Mutter an der Front stirbt; schreit ihre Familie hinaus, wenn sie Zeuge ihres Todes wird? Krieg wird unterschiedlich definiert: von den Siegern und den Geschlagenen; je nach historischer Perspektive; von Soldaten und Pazifisten – und in jedem dieser Fälle sind die Definitionen eher politisch aufgeladen als faktisch richtig. Krieg wird unterschiedlich empfunden von denen, die töten, denen, die angegriffen werden, und denen, die Zeuge all dessen werden. Das fünfjährige Kind, der Lehrer, der Soldat – für sie alle entfaltet sich eine einzigartige Welt, wenn sie sehen, wie mit einem Gewehr geschossen wird, und darauf warten, dass die Kugel trifft. Wenn wir Sun-tzu folgen und mehr über den Krieg erfahren wollen, müssen wir uns an die Fronten begeben, wo Überleben und Auslöschung unausweichliche Wahrheiten sind.
»Sich daran erinnern, dass man ein Herz hat«, sagte sie und meinte damit die Auswirkungen des Krieges. Angolanisches Mädchen in einem Flüchtlingslager.
4. Die Frontlinien finden
Im heutigen Afrika gibt es im Wesentlichen zwei Arten bewaffneter Konflikte: den politischen und den kriminellen. Sie sind letztlich nichts anderes als die Fortsetzung der alltäglichen Gewalt mit anderen Mitteln.1
1988 war ich zum ersten Mal in Mozambique. Das Land befand sich in einem Krieg, der nahezu eine Million Menschen das Leben gekostet hatte, die meisten von ihnen Zivilisten. Ich kann nicht sagen, auf welche Bilder vom Krieg ich zuerst zu stoßen erwartete, aber sicher ist, dass meine erste Begegnung mit der Gewalt völlig anders verlief, als ich mir vorgestellt hatte. Ich war vom namibischen Harare aus in die Hauptstadt Maputo geflogen und hatte am Abend mein Hotel bezogen. In meinem Zimmer hörte ich ein Klopfen und glaubte, es sei an meiner Tür. Als ich öffnete, sah ich, dass ein Mann an die Tür des Nebenzimmers pochte. Abrupt wandte er sich mir zu und meinte, ich solle zurück in mein Zimmer gehen und die Tür schließen. Das tat ich denn auch. Einige Zeit später ging ich in das gemeinsame Bad, um einige Sachen zu waschen. In der Badewanne fand ich einen blutüberströmten Mann, der sich an die Reste des Duschvorhangs klammerte. Als ich mich zu ihm hinabbeugte, sah ich, dass mehrmals auf ihn eingestochen worden war. Ich bat ihn auszuhalten, ich würde Hilfe holen. Ich lief hinunter zur Rezeption und sagte, in meinem Bad liege ein Mann, der dringend einen Arzt brauche. Als ich zurückkam, war er verschwunden. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, fragte ich das Hotelpersonal, wer der Mann gewesen sei, der letzte Nacht niedergestochen worden war, und wie es ihm gehe. Sie blickten mich verständnislos an und sagten: »Hier ist niemand niedergestochen worden.« Aber ich hätte den Mann doch gesehen, er sei in meiner Badewanne gelegen, antwortete ich. Wieder sagten sie: »Wirklich, hier ist niemand niedergestochen worden.« Ich versuchte anders zu fragen: »Okay, letzte Nacht ist hier niemand niedergestochen worden. Aber falls jemand hier niedergestochen worden wäre, wer hätte das sein können und wie würde es ihm gehen?« »Ahhh!«, die Züge des Personals entspannten sich. Lächelnd
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meinten sie: »Das wird bestimmt der Angolaner gewesen sein. Ein anderer Angolaner ist ins Land gekommen, sie haben hier ihren Krieg ausgetragen und der eine hat den anderen niedergestochen – unterschiedliche politische Vorstellungen, wissen Sie. Der Kerl ist verschwunden, vielleicht ist er voller Angst davongerannt oder er wurde weggebracht – jedenfalls ist er einfach verschwunden.« Inmitten des Krieges in Mozambique kommt der Krieg in Angola ins Spiel: nicht auf einem fernen Schlachtfeld, nicht in der Buschsavanne, nicht in abgeriegelten Straßen, sondern in einem Hotelzimmer, in meiner Badewanne. Und jeder Gewaltakt, selbst wenn er »nur« Angolaner betrifft, wirkt sich auf den Krieg in Mozambique aus, und die Erschütterungen können Grenzen und politische Lager so leicht überwinden wie Klangwellen. Aber wo genau sind die Schlachtfelder im Krieg und wer sind die Beteiligten? Bevor man sich wissenschaftlich mit dem Krieg beschäftigt, muss man entscheiden, wo man überhaupt danach suchen will. Viele Kollegen rieten mir, den Krieg in den Bibliotheken zu suchen, in den Berichten aus zweiter oder dritter Hand über die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Diese Bücher verorten den Krieg auf einflussreiche (und doch falsche) Weise. Die Militärtheorie macht ihn in den rationalen Handlungen der Soldaten aus, die Politikwissenschaft in den Handlungen meist rationaler politischer Eliten – und beide tun das in einer weitgehend irrationalen Welt. Wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit in Alfred Vagets Behauptung steckt, Militärgeschichte werde stets »in polemischer Absicht zur Rechtfertigung Einzelner oder ganzer Armeen und mit wenig Rücksicht auf gesellschaftlich relevante Tatsachen« geschrieben,2 dann wird eine Untersuchung, die sich auf die offiziellen Institutionen und deren Deutungen von Krieg und Politik beschränkt, wenig über die Realitäten von Krieg und Frieden aussagen. Selbstverständlich wirft auch eine institutionell ausgerichtete Analyse politischer Gewalt die Frage auf: Welche Institutionen, welche Führer und Anhänger, wessen Ideen und politische Vorstellungen stehen im Vordergrund? Die Männer und Frauen im Militär, denen ich begegnet bin und die ihre Heimat engagiert und professionell vor Gewalt schützen wollen? Die Truppen, die mit Drogen, Waffen und sogar Vieh handeln? Die Soldaten, die foltern, ganze Dörfer niederbrennen und sich besinnungslos betrinken, nachdem sie Frauen vor deren Kindern vergewaltigt haben? Die Kindersoldaten mit ihren Waffen, die größer sind als sie? Die freundlichen Veteranen, die Heime für Kriegswaisen einrichten? Die Truppen, die Dorfbewohner vor einem drohenden Angriff warnen, sodass sich diese in Sicherheit bringen können? Die Generale, die sich am Krieg bereichern, während andere alles verlieren? Diejenigen, die verrückt werden, oder die, die nach einer besseren Zukunft Ausschau halten?
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Viele glauben, wenn man Vertreter aus Politik und Militär in ihren Büros (also fern der Front) befrage, so ergebe sich daraus eine genaue Darstellung der tatsächlichen Ereignisse. Oftmals wird implizit angenommen, dass militärische und politische Führer nicht zugeben, dass unter ihrer Aufsicht bestimmte Formen der Kriegsführung stattfinden, aber doch davon wissen. Damit schreibt man ihnen möglicherweise mehr Kenntnis zu, als sie in Wirklichkeit haben. Nur wenige überschreiten so einfach die Grenzen zwischen Machtpolitik und den Realitäten an der Front. Die meisten einfachen Soldaten und Zivilisten haben keinen Zugang zu den Fluren der offiziellen Macht; und wenn doch, dann sprechen viele nur ungern offen über die Wahrheiten von der Kampffront, denn diese würden die sorgsam gehüteten Glaubenssysteme über »den Krieg«, die in der Gesellschaft in Umlauf sind, als Lügen entlarven. Und auf den höheren Ebenen beginnen die Menschen an ihre eigene Propaganda zu glauben. Diese Tatsache führte mir der mozambiquanische Fotograf Joel Chiziane vor Augen. 1988 gab es in Maputo so gut wie keine Konsumgüter und öffentlichen Dienstleistungen mehr; es gab aber eine Ausstellung mit Chizianes Fotos über den Krieg in seinem Land.3 Was mich an ihnen am meisten beeindruckte, war, dass Chiziane dem Krieg ein menschliches Antlitz gab. – Ein hungriges Kind auf dem nackten Boden einer Lehmhütte, in der der Krieg nur einen leeren Kochtopf über einer erkalteten Feuerstelle zurückgelassen hat. Das Kind hat ein Reiskorn gefunden, und in dem Moment, da es dieses Korn essen will, blickt es in die Kamera, und in seinen Augen spiegelt sich sein Wissen um das tiefe Leid und die große Hoffnung, die ein einziges kleines Reiskorn wecken kann. – Eine Mutter hat unter einem abgestellten Waggon zwischen den Gleisen ein »Zuhause« eingerichtet und versucht für ihre beiden Kinder ein Feuer anzuzünden, während sie zugleich eines von ihnen, das in Tränen ausgebrochen ist, tröstend an sich zieht. Dabei blickt sie auf und schenkt Joel ein ergreifendes Lächeln, eine Mutter, die inmitten eines schlimmen Tages weiter an familiäre Liebe und bessere Tage glaubt. – Ein junges Mädchen in einem Krankenhausbett, das beim letzten Angriff auf sein Dorf am ganzen Körper Verbrennungen davongetragen hat; sie blickt in die Kamera mit den Augen einer Erwachsenen und mit der Menschlichkeit des Kindes. Chiziane glorifiziert den Krieg nicht und wettert nicht gegen ihn, sondern zeigt schlicht und einfach die Wirklichkeiten an der Front auf eine Weise, der man sich nicht entziehen und die man nicht zu Propagandazwecken missbrauchen kann. Keine Bilder von Toten oder Tätern, sondern von lebendigen, atmenden Menschen und von den Tragödien des Todes. Ich fragte Chiziane,
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wie er zu dieser Ausstellung gekommen war. Er gehörte zu einer Handvoll Journalisten, die unter beträchtlichem Risiko an die Front fuhren, denn zu dieser Zeit hatten es die Streikräfte der Rebellen vor allem auf Menschen abgesehen, welche die schweren Menschenrechtsverletzungen in diesem Krieg öffentlich machten. »Die Regierung und die Menschen hier in der Hauptstadt wissen nicht wirklich, was der Krieg für die Menschen in diesem Land bedeutet. Sie müssen verstehen, wie es da draußen wirklich aussieht, ehe sie einen echten Friedensvertrag aushandeln können. Und diese Fotos sind für mich die beste Möglichkeit, ihnen die Wahrheit über den Krieg nahe zu bringen.« Chizianes Bilder lassen uns fragen, was man als das objektive Werk des Krieges auffassen soll. Woher stammen unsere Statistiken über Politik und Opfer des Krieges? Über Menschenrechte und deren Verletzung? Ich kenne niemanden, der von Schlachtfeld zu Schlachtfeld geht und die Toten zählt. Ich kenne keinen Soldaten, der inmitten von Feuergefechten, zerstörten Städten und Militärgefängnissen die Opfer dokumentiert oder überblicken kann, was seine Vorgesetzten mit den von ihm vorgelegten Berichten machen. Politische und militärische Führer wollen nicht, dass ihre eigene Verwundbarkeit oder ihre Verstöße gegen die Genfer Konvention öffentlich gemacht werden. Eines von Chizianes Bildern zeigt eine zerlumpte Frau, die in einer frisch ausgehobenen, mehrere Meter tiefen Grube steht und versucht, ein wenig von dem Wasser zu schöpfen, das sich dort unten angesammelt hat. Dahinter erstreckt sich bis zum Horizont eine dürre, von der Hitze versengte Landschaft, durchsetzt mit einzelnen Getreidehalmen, die keine Frucht mehr tragen. Kriege lassen sich nicht von anderen menschlichen Tragödien trennen, ja, sie rufen diese häufig erst hervor. Schon unter normalen Umständen kann eine Dürre für Mensch und Vieh tödlich sein; im Krieg jedoch werden selbst die wenigen Ressourcen den Menschen zusätzlich entzogen und kommen den Kriegsbemühungen zugute. In Mozambique starben so unzählige Menschen infolge der Dürre, was in Friedenszeiten bei funktionierender Infrastruktur und entsprechenden Ressourcen leicht zu verhindern gewesen wäre. Zudem kam es zu Todesfällen, weil die »andere Seite« die Versorgung mit dringend benötigten Hilfsgütern unterbrach, um den Rückhalt des »Feindes« in der eigenen Bevölkerung zu untergraben. Dürretote/Kriegstote – die Grenzen verschwimmen und lösen sich auf. Wie passen diese Menschen in das Bild von den Auswirkungen des Krieges und die Berichterstattung darüber? Diese Menschen, so befürchtet Chiziane, bleiben unberücksichtigt – ihr Leben taucht in den offiziellen Darstellungen nicht auf, und auch ihr Tod bleibt unsichtbar. Und doch bilden all diese Opfer den Kern des Krieges. Am Tag nach meiner ersten Begegnung mit Joel Chiziane traf ich mich mit einer Gruppe von Leuten, die im Tourismusministerium beschäftigt waren – und während des
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Krieges naturgemäß nicht viel zu tun hatten. Da ich offenbar einer Touristin doch ziemlich nahe kam, sollte ich sie auf eine mehrtägige Reise begleiten, bei der sie eine verfallende und weitgehend ungenutzte Hotelanlage auf einer Insel inspizieren wollten. Mittags aßen wir zu acht in einem Restaurant, das Platz für mehrere hundert Menschen bot. Ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte und der nicht mit uns unterwegs war, kam während des Essens an den Tisch und flüsterte Gella, einer Frau aus unserer Gruppe, etwas ins Ohr. In seinem Verhalten mischten sich Freundlichkeit und Drohung, und Gella schien völlig erschrocken in sich zusammenzusinken. Kurz ließ er ein Messer aufblitzen und ich hörte ihn sagen: »Ich kann dich aufschlitzen, ich kann mit dir das Gleiche machen.« Am verstörendsten aber war, dass er sich dabei wie ein alter Freund über sie beugte. Er lächelte und gab ihr einen Klaps auf den Rücken, sie wurde leichenblass und er trottete wieder hinaus. Alle versammelten sich um Gella, um ihr beizustehen; alle außer mir wussten genau, worum es ging. Als sie sich wieder beruhigt hatte, nickte sie einem der Männer zu, und er begann zu erzählen: Dieser Mann hat vor kurzem Gellas Bruder umgebracht. Er rammte ihm ein Messer in den Leib und warf ihn dann auf die Straße. Und jetzt bedroht er Gella, vielleicht damit sie den Mund hält oder auch nur, um seine Macht zu demonstrieren, vielleicht weil er sich in einer Welt der Gewalt bewegt. Er ist kein Soldat, aber irgendwie doch. Er gehört nicht zur Regierung, aber irgendwie doch. Auch wenn er keine Uniform trägt, hat er mächtige Freunde und gute Kontakte zum Militär, und sie decken ihn. Und auch in der Regierung hat er einflussreiche Verbündete. Er macht hier »Geschäfte«. Die Leute in der Regierung und im Militär profitieren von seiner Arbeit, von seinen »Geschäftsbeziehungen«. Er ist einer derjenigen, die sowohl zu den Korridoren des Tages als auch zu den Pfaden der Nacht Zugang haben. Er ist ein Kleinkrimineller, der den Krieg am Laufen hält. Gellas Bruder kannte ihn, sie waren Freunde. Vielleicht musste er sterben, weil dieser Mann eifersüchtig auf ihn war, weil ein Geschäft platzte, weil Gellas Bruder bei einer politischen Diskussion oder militärisch auf der falschen Seite stand oder vielleicht wegen all dem zusammen. Das Schlimmste aber ist, dass Gella ihm nicht entkommt. Jedes Mal, wenn sie ihn sieht, brechen die Trauer um ihren Bruder und ihre eigene Angst wieder auf wie eine frische Wunde. Das ist Gellas Krieg.
Für diese Gruppe gehörten der Tod von Gellas Bruder wie auch die Bedrohung von Gella in den Rahmen des Krieges. Es war der Krieg, der solche Tode und solche Bedrohungen möglich machte, und den Opfern war es ziemlich egal, ob die Bedrohung eine Uniform oder ein Parteiabzeichen trug. Tode wie diese finden sich in keiner Statistik des Krieges.
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Ich hatte den Eindruck gehabt, die Insel sei weitgehend verlassen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie dieser Killer überhaupt auf die Insel gelangt war. Als ich später am Abend auf einem »verlassenen« Inselpfad einen Spaziergang machte und versehentlich in ein Flüchtlingslager geriet, das zugleich ein Waffenbasar war, erlebte ich ein weiteres Beispiel dessen, was in einem Krieg »aus strategischen Gründen unerwähnt bleibt«: Die Insel beherbergte Tausende von Flüchtlingen, Soldaten (oder eher Quasi-Soldaten) und Schmugglern, verschiedene paramilitärische Organisationen, die mit QuasiGeschäftemachern in Verbindung standen, sowie andere Überlebende, die an den Ufern des Krieges gestrandet waren. Die ganze Nacht über war auf der Insel Gewehrfeuer zu hören, und am nächsten Tag wurde von Toten berichtet. Keiner aus der Gruppe fand das ungewöhnlich. Für sie war die Frage, wo die Front verlief, schon längst beantwortet; am nächsten Tag fuhr der Mann, der mir Gellas Geschichte erzählt hatte, fort: Die Frontlinien reichen von Gella und ihrem Bruder, vom Leid in ihrer Familie, über das Militär, über all die Truppen, Milizionäre, Söldner und bewaffneten Banditen, über die politischen Auseinandersetzungen und all die Ausländer, die ins Land kommen und den Krieg am Laufen halten, bis zum »Kriegsgeschäft« mit all den kleinen Gaunern und großen Bossen, den Abkommen mit verschiedenen Ländern, all dem Töten und dem Chaos und unvermeidlich wieder zurück in unser aller Zuhause und in unser Leben.
Zenos Paradox: Heimat vorne und hinten Wenn man sich mitten hinein in den Krieg begibt, um ihn zu erforschen, wo genau ist dieses Mittendrin? Bei den Mächtigen und beim Staat; oder bei den multinationalen Hegemonien und bei der globalen Politik und Wirtschaft? Bei den verschiedenen Akteuren an der Front, von den Truppen bis zu transnationalen Protagonisten? Bei den Körpern der Verfolgten, die in Folterkammern oder irgendwelchen Hinterhöfen verstümmelt wurden? Bei der Militarisierung des Geistes und den Leiden der Seele? Bei der Kreativität, welche die ganz normalen Menschen entwickeln, um den Krieg zu überleben und Frieden zu schaffen? Gehören dazu die Aktionen der Waffenschmuggler, die ständig nach neuen Wegen suchen, um Sanktionen zu umgehen; die Überzeugungen von kahlköpfigen Söldnern aus Deutschland und Serbien, die auf den Schlachtfeldern im Sudan und in Ruanda zu finden waren? Was ist mit der schrecklichen Situation von Kriegswaisen, die von internationalen Kriegsgewinnlern zur
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illegalen Kinderarbeit gezwungen werden? Fragen wir nach dem Privatleben der Generäle, um zu sehen, ob sie profitable Beziehungen zu Waffenproduzenten unterhalten, insgeheim Folter billigen oder sich an rassistischer oder frauenfeindlicher Gewalt beteiligen? Untersuchen wir die Bemühungen, die Zivilisten ohne politische Stimme an der Front unternehmen, um dem Blutvergießen ein Ende zu machen? Und wenn ja, wie finden wir diese Menschen und wie erhalten wir Zugang zu ihren Geschichten? Wie verleihen wir ihnen gleichzeitig menschliche Tiefe und empirische Bedeutung? Wie sorgen wir für unsere eigene Sicherheit bei unserer Forschungsarbeit an der Front? Selbst wenn wir die Frage, wo der Krieg stattfindet, am Stereotyp des (männlichen) Soldaten festmachen, machen die Realitäten, die das Leben dieser Person bestimmen, die Definition des Krieges zu einer höchst komplexen Angelegenheit. Wenn beispielsweise ein Soldat in einer Schlacht kämpft, so haben wir es eindeutig mit Krieg zu tun. Aber wenn ein Soldat nach Hause geht und mit seiner Familie und seinen Freunden, mit Geschäftspartnern und Feinden zu tun hat, muss auch das als konstituierender Teil der Kriegswirklichkeit gelten. Wenn er plündert, weil er über eine Waffe verfügt, oder Kriegswaisen Bücher und Hilfe zukommen lässt, ist das Teil des Krieges. Wenn er gestohlene Waffen verkauft, wenn sein Schwager Drogen gegen Waffen eintauscht oder seine Frau von anderen Soldaten verschleppt und gefoltert wird, so ist das Teil des Krieges. Wenn der Ex-Ehemann seiner Schwester in einer tausend Kilometer entfernten Stadt wohnt, die bombardiert wird, so ist das ebenso Teil der Kriegsgeschichte wie all die Geschichten der Zivilisten, die bei Angriffen getötet oder verstümmelt werden; der Piloten, welche die Einsätze geflogen haben; der Industrien, die die Flugzeuge und den Treibstoff und die Karten geliefert haben; der Kommandeure, die entschieden haben, gerade diese Stadt zu bombardieren; der Propagandisten, die die wahre Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung verschweigen; der Flüchtlinge, die entkommen; und schließlich sogar der Anthropologen, die diese Realitäten dokumentieren. Wenn diese Stadt deshalb bombardiert wird, weil sie über wichtige Ressourcen verfügt, die einen Millionen- oder gar Milliardengewinn versprechen, so gehört auch das zur Geschichte des Krieges. Nach einer Trennlinie zu suchen, anhand derer man Krieg und NichtKrieg unterscheiden kann, ist gerade so, als würde man in Zenos Paradox nach der Linie suchen, die Null von Eins trennt.4 »Für die Bürger, die in der so genannten demokratischen Friedenszone leben, ist die Welt leider nicht so fein säuberlich in friedliche und gewalttätige Zonen unterteilt. Das kann auch gar nicht anders sein und hat zum Teil mit den Verbindungslinien zwischen den beiden Welten zu tun, die durch die globale Waffenproduktion und den von Gewalt geprägten Drogenhandel geschaffen werden. Darüber hinaus stellen
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Massenmigration, Pauperisierung und Ressentiments sicher, dass Wurzellosigkeit, ethnische Spannungen und gewalttätige Gesetzlosigkeit Kennzeichen nahezu jeder Stadt in der entwickelten demokratischen Welt sind.«5 Nach solchen Trennlinien zwischen Krieg und Frieden, zwischen Barbarei und Zivilisation zu suchen ist ebensosehr ein Kampf um moralische Ansprüche wie Prätext zu einer Theorie; so schreibt Valentine Daniel im Hinblick auf die von ihm erlebte Gewalt in Sri Lanka: »Ich habe dies eher als Anthropografie der Gewalt denn als Ethnografie der Gewalt bezeichnet, denn hätte ich es als Letzteres bezeichnet, hätte ich damit die Gewalt eingeschränkt, sie einem spezifischen Volk und einem bestimmten Ort zugeschrieben. Zugegeben, die von mir beschriebenen Ereignisse beziehen sich auf ein bestimmtes Volk: Sri Lanker, Singhalesen und Tamilen. Aber die letztlich wichtigen Folgerungen meiner Arbeit als ethnografisch zu betrachten würde bedeuten, andere Menschen, die sich an anderen Orten in gleicher Weise an kollektiver Gewalt beteiligen, zu entschuldigen; schlimmer noch, es könnte diejenigen von uns, die in Ländern und Zeiten leben, die frei sind von solcher Gewalt wie jüngst in Sri Lanka, einlullen und glauben machen, wir oder unser Land oder unser Volk stehe über solchen Brutalitäten.«6 Das erinnert mich an ein Gespräch, das ich am Ende des Krieges in seinem Land mit einem Mozambiquaner führte. Er erklärte mir, warum so viele seiner Landsleute glaubten, von staatlicher Seite eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommissionen würden heikle Fragen aufwerfen: Wen aber wollen wir anklagen? Wie weit gehen wir mit der Assoziationskette, die den Krieg möglich machte und die Grausamkeiten Wirklichkeit werden ließ? Bis zu den regulären Soldaten? Natürlich. Aber auch zu den Oberbefehlshabern? Zu den Politikern, die diese Kriegspolitik betrieben haben? Bis zu unserem Präsidenten Chissano? Bis zu den militärischen und politischen Führern in anderen Ländern, die den Krieg mit Rat und Tat, Waffen und Soldaten unterstützten? Gar bis zu Ihren Präsidenten George Bush und Bill Clinton? Wo hört diese Verantwortungskette auf?
Wo also verorten wir die Untersuchung des Krieges? Beim Militär, keine Frage – aber unter welchen Gesichtspunkten? Bei den Zivilisten – aber wer gehört dazu? Die Geschäftsleute, die die Läden ihrer Konkurrenten anzünden und diese Tat den Rebellen zuschieben, sowie die Kriminellen, die ihren Handel über Frieden und Krieg hinweg betreiben und das Militär oder ihre Landsleute unterstützen oder ausbeuten können, je nach »Kriegsgeschick«. Diejenigen, die schwarz mit Waffen, Lebensmitteln und Medikamenten handeln? Und wie weit verfolgen wir ihre Spur? Bis in die kosmopolitischen Zentren auf anderen Kontinenten, in denen die Waffenfabriken stehen? Befragen wir gar die Manager dieser Firmen? Die Transporteure, die die Grenzen zwischen Legalität,
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Grauzone und Schwarzmarkt aufheben? Die professionellen Berater, die ihr Geschäft damit machen, anderen zu erklären, wie man Warenschmuggel betreibt? Die Forscher, die diese Waffen entwickeln, und die Debatten in Öffentlichkeit und Regierung darüber, ob es legal und moralisch vertretbar ist, diese Waffen einzusetzen? Die Antwort auf all das sollte »ja« lauten; und noch mehr.
Tägliche Realität der Gewalt: Panzer in einem Fluss an der Front. In der Nähe von Camacopa, Angola, November 2001.
5. Gewalt
1990, auf dem Höhepunkt des Krieges in Mozambique, fuhr ich in eine Stadt im Landesinneren. Sie war ziemlich abgelegen, aber gleichwohl von strategischer Bedeutung. Denn in dieser Gegend gab es nicht nur üppige Ländereien starker und unabhängiger Gruppen von Mozambiquanern, sondern auch Diamantenminen. Der Krieg war schon mehrere Male über diesen Landstrich hinweggezogen, und um das unbewohnte Stadtzentrum herum breitete sich ein wahres Meer aus hastig zusammengezimmerten Hütten aus, in denen die Ausgebombten und Vertriebenen hausten. Der Stadtkern, der völlig in Trümmern lag, hatte offenbar den wechselnden Besatzungstruppen jeweils als Lager und Ausgangspunkt gedient. Die nackten Wände, die von den ausgebombten Häusern noch übrig waren, waren übersät mit Graffitis, die die Geschichte des Krieges aus Sicht der jungen Buschkrieger erzählten. Es gab Skizzen von Schlachtplänen; Zeichnungen von Hubschraubern, die Dörfer und deren Bewohner beschossen; von Soldaten, die stolz die neuesten Waffentypen präsentierten. Es gab Bilder von den Tragödien des Krieges: von Soldaten, die Frauen vergewaltigen, und von Großmüttern, die Verwundete auf ihrem Rücken tragen.7 Vielleicht erfassen irgendwelche Zeichen auf zerstörten Mauern in irgendeiner fernen Stadt in Mozambique die Komplexitäten der inter/nationalen und außer/staatlichen Mächte, die den Krieg bestimmen, nur unzureichend. Vielleicht erfahren wir mehr, wenn wir fragen, warum diese Stadt bombardiert wurde. Die Wege aus dem Stadtzentrum heraus waren gesäumt von Unmengen schweren Geräts, das zu nutzlosem Schrott zerbombt worden war. Bergbaugerätschaften. Die Bilder und Erzählungen der Vertriebenen enthielten unzählige Hinweise auf Ausländer, die große Mengen an wertvollen Diamanten mitgenommen hätten. War die Kontrolle der einen Seite über die Gegend gefährdet, versuchte man durch Zerstörung zu verhindern, dass die Eroberer die Minen ausbeuten konnten. Dieser entlegene Fleck hatte erleben müssen, wie die eine und dann wieder die andere Seite in einem schier endlosen Kreislauf die Gegend eroberte, verlor und wieder zurückeroberte, und immer hatten sie jeweils eine ganze Reihe internationaler Akteure dabei. Die Menschen
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wussten genau Bescheid über die weitreichenden Netzwerke, die den Krieg am Leben hielten, und die Gewinne, die dabei abfielen. *** »Sie kommen an ohne Geld, dafür mit Geschichten, die auf das Pergament ihres Herzens geschrieben sind und die ihnen nicht leicht über die Lippen kommen. Es sind Geschichten, die aus den Winkeln der Bürgerkriege gekrochen sind und die sich im flatternden Wind zerstreut haben. Man kann die Worte in ihren Augen lesen, die voller Verzweiflung sind; in ihren Mündern, die vor Schreck verstummt sind. Sogar in ihrer zerlumpten und abgetragenen Kleidung kann man die Worte lesen.«8 Es ist gar nicht einfach herauszufinden, wie man über die Front schreiben soll. Jede Geschichte ist mit unendlich vielen und vielfältigen Verpflichtungen verknüpft: diejenigen zu schützen, die uns ihr Vertrauen geschenkt haben; die Leser nicht zu schockieren; an die eigene Sicherheit zu denken; die Geschichte zu erzählen, ohne so viel zu erzählen, dass es Probleme gibt. Und das Rätsel bleibt: Wie schreibt man eine ehrliche, aufrichtige Kriegsgeschichte? »Manche wahren Kriegsgeschichten kann man nicht glauben. Wenn Sie sie glauben, bleiben Sie skeptisch. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Oft ist das Wahnsinnige darin wahr und das Normale unwahr, weil das Normale nötig ist, um den wahrlich unglaublichen Wahnsinn glaubwürdig zu gestalten. Manchmal kann man eine wahre Kriegsgeschichte gar nicht erzählen. Manche lassen sich einfach nicht in Worte fassen.«9 Und ganz am Ende dieser Erzählung des Vietnamveteranen Tim O’Brien heißt es: »Letzten Endes geht es in einer wahren Kriegsgeschichte natürlich nie um den Krieg. Es geht um die Sonne. Es geht darum, wie die Morgendämmerung am Fluss aufzieht, wenn du weißt, dass du den Fluss überqueren, in die Berge marschieren und Dinge tun musst, vor denen du Angst hast. Es geht um Liebe und Erinnerung. Es geht um Kummer. Es geht um Schwestern, die nicht zurückschreiben, und um Menschen, die nicht zuhören.«10 Ähnliche Gedanken finden sich bei O’Briens einstigem Gegner, dem vietnamesischen Soldaten und späteren Autor Bao Ninh. In The Sorrow of War beschreibt Bao Ninh sein Alter ego Kien so: Jeden Abend, bevor er sich an den Schreibtisch setzt und sein Manuskript zur Hand nimmt, versucht er die passende Stimmung zu erzeugen, die richtigen Gefühle. Er versucht jedes Problem für sich zu betrachten, das Problem der Kapitel und der Seiten … In seinem Kopf plant er Handlungssequenzen. Was seine Helden tun und was sie in bestimmten Situationen sagen werden … Doch der Schreibakt verwischt seine schönen Entwürfe und wäscht sie schließlich ganz weg oder die Zeilen vermengen sich und die Handlungsfolge verliert ihre
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Ordnung. Wenn er sein Manuskript dann noch einmal liest, ist er erstaunt, schließlich erschrocken darüber, dass sich sein Held aus einem früheren Abschnitt nun quasi aufgelöst hat, oder schlimmer noch, dass seine Protagonisten inkonsistent und in sich widersprüchlich sind, und das beunruhigt ihn … Er wagt es nicht, sich den Gefühlen zu überlassen, und doch schreibt Kien in jedem Kapitel in ganz persönlicher Weise über den Krieg … Er kämpft noch einmal all seine Schlachten, erlebt noch einmal die Zeiten, als sein Leben bitter, einsam, surreal und voller Hindernisse und schrecklicher Fehler war. In ihm ist eine Kraft am Werk, der er sich nicht entziehen kann, es ist, als würde sie sich jeder gewohnten Haltung widersetzen und als wäre es nunmehr seine Aufgabe, die Realitäten des Krieges darzustellen und all die konventionellen Bilder beiseite zu schieben. Er befindet sich in einem gefährlichen Wirbel, der ihn hinausträgt über die üblichen Beschreibungsmethoden, in denen alles seine Ordnung hat. Kiens Helden sind keine steifen Figuren, sondern echte Menschen, deren Leben unterschiedliche und unerwartete Richtungen nehmen.11
Die meisten Menschen glauben, Gewalt »gibt« es einfach – fortwährend, unabänderlich, ewig. Wir sprechen über unterschiedliche Kriege, aber wir sprechen nicht über unterschiedliche Gewalt. Wir unterscheiden zwischen der Russischen und der Amerikanischen Revolution, aber nicht zwischen russischer und amerikanischer Gewalt. Wir machen einen Unterschied zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg, aber nicht zwischen der Gewalterfahrung im 17. und im 20. Jahrhundert. Gewalt wird entlang eines Kontinuums kategorisiert: von notwendig bis extrem, von zivilisiert bis unmenschlich – aber wie auch immer sie sich konkret manifestiert, immer trägt sie den gleichen grundsätzlichen Charakter. Aber tut sie das wirklich? Es gab eine Zeit, da studierten die Menschen den Krieg an vorderster Front und gleichsam hautnah. Journalisten, Dichter und Forscher machten sich auf an die Fronten des Krieges, wie etwa im amerikanischen Bürgerkrieg, um die Schlachten zu dokumentieren. Sie stellten Stühle auf und setzten sich mit Stift und Papier hin, um die Gewehrsalven und die Toten zu zählen. Dabei handelte es sich keineswegs um einen Akt lebensbedrohlichen Heldentums. Denn in diesen Zeiten blieben die Schlachten begrenzt. Oder zumindest einige. Doch die Dynamik des Krieges hat sich geändert. Heute begeben sich nur ein paar Verrückte direkt an die Front, um das Kriegsgeschehen festzuhalten. Kamerateams vermitteln uns flüchtige Einblicke in Leben und Sterben an der Front, und Journalisten, Literaten und Forscher versuchen noch immer das Wesentliche politischer Aggression zu erfassen, doch diese Beobachtungen bleiben ebenso begrenzt, wie der Krieg es einst war. Der Krieg selbst schwappt nun über die Land- und Stadtschaften des prosaischen Lebens. Das Bild der vollständigen Schlacht, die abseits des zivilen Lebens geschlagen wird, ist heute antiquiert, irreal.
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Die Bilder, die wir von irgendeinem Gegenstand in uns tragen, prägen unseren Zugang zu diesem Thema. Der Krieg bildet dabei keine Ausnahme. Und die Bilder vom Krieg, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte so sorgfältig weitergegeben wurden, prägen – so veraltet sie auch sein mögen – noch immer die meisten unserer Theorien. Was heißt das im Einzelnen? Zum Ersten ist schon der Ort, für den man sich entscheidet, um den Krieg zu erforschen, geprägt durch die jeweilige Vorstellung, was politische Gewalt ist und was nicht. Die Menschen, die früher den Krieg gleichsam von der Seitenlinie aus dokumentierten, begaben sich an die Schauplätze militärischer Auseinandersetzungen. Sie beobachteten unmittelbare und mitunter ungeheure physische Gemetzel. Eher selten spürten sie wohl den Umständen nach, die jeden der Akteure aufs Schlachtfeld getrieben hatten; fragten sie nach dem Leben der Soldaten jenseits der Schlacht. Sie verließen kaum die Orte des physischen Kampfes, um weniger ehrenhafte Aktivitäten zu dokumentieren: die Schiebereien unter den Kommandeuren, die Lügen und Täuschungen unter den Soldaten, die Folter hinter verschlossenen Türen. Sie hielten das Heroische und das Tragische fest. Und noch weniger interessant als das Leben der Soldaten war das ihrer Frauen und Kinder. Und selbst wenn sie gewollt hätten: Allein durch Beobachtung hätten sie niemals die Hoffnungen und Ängste, die komplexen Gefühle, von denen die Soldaten beherrscht wurden, festhalten können. Heute konzentriert man sich noch immer auf die Soldaten und auf das unmittelbare Kampfgeschehen, obwohl 90 Prozent der Kriegsopfer weltweit Zivilisten sind und die Schlachten inmitten des Zuhauses der Menschen toben. Das prägt auch unser Verständnis von Gewalt. Es besteht nach wie vor die Neigung, die Gewalt des Krieges darin zu sehen, dass ein Soldat auf einen anderen feuert; wenn hingegen ein Zivilist erschossen oder eine Frau von einem heimkehrenden Soldaten vergewaltigt wird, gilt das noch immer als peripher – als eine Art Unfall, als anormal. Der tote Zivilist und die Vergewaltigung stellen dieser Logik zufolge eine andere Gewaltordnung auf einem Kontinuum dar, das sowohl durch die Schwere als auch durch die A/Moralität bestimmt ist. Es hat fast den Anschein, als gäbe es im Krieg eine Hierarchie der Gewalt, bei der das, was Soldaten zustößt, und Aktionen von Uniformierten »echtere« Kriegshandlungen sind als das, was Zivilisten zugefügt wird. In diesen jahrhundertealten Modellen des Krieges gibt es freilich auch Aspekte, die schwerer in Frage zu stellen sind. So bilden Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch Folter, Plünderung oder Vergewaltigung noch immer den Bereich unmittelbaren und physischen Gemetzels. Die gleiche Art von Gewalt wurde auch von den Beobachtern vergangener Jahrhunderte »bezeugt«. Ihr akademischer Blick ruhte auf dem Blutvergießen und der Ver-
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stümmelung des menschlichen Körpers sowie auf dem Bezug, den dieser zur politischen Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden Parteien hat. Ohne Zweifel führt Krieg ganz grundsätzlich zu Schmerz, Verstümmelung, Tod und einer Politik des Zwangs. Aber Menschen führen nicht deshalb Krieg oder vermeiden ihn aufgrund der bloßen Tatsache von Tod, Verstümmelung und Politik des Zwangs. Das bloße Faktum des Todes ist an und für sich weitgehend bedeutungslos. Erst aufgrund seines emotionalen Gehalts bekommt es Bedeutung. Wir empfinden den Tod als bedeutungsvoll. »Wenn ich dich fragen würde, welche spezifische Sache man kennen muss, um dieses Land am besten zu verstehen, was würdest du dann sagen?«, fragte ich Mia, eine Krankenschwester im angolanischen Kuito, im November 2001. »Du musst den Tod verstehen«, antwortete sie. »Jeder hier ist bestens mit dem Tod vertraut, jeder hat jemanden Geliebten an den Tod verloren – der Tod begleitet die Menschen auf Schritt und Tritt.«
Menschen töten Soldaten und Zivilisten nicht deshalb, um die Bevölkerungszahl zu reduzieren; Kriege lassen sich damit nicht gewinnen. Kriege werden gewonnen und verloren, weil die Menschen den Tod fürchten, weil sie ungeheure Angst haben, verstümmelt zu werden, weil die Unterdrückung so sehr auf ihnen lastet, dass sie bereit sind, ihr Leben und ihre Gliedmaßen aufs Spiel zu setzen. Menschen kämpfen oder fliehen nicht wegen der bloßen Tatsache der Gewalt vor dem Krieg. Sie kämpfen oder fliehen vor dem, wie Gewalt sich »anfühlt«. Und wie fühlt sich Gewalt an? Wie wir sehen werden, wird sie als existenzielle Krise empfunden, als Hoffnungslosigkeit, als Verlust der Zukunft. Sie fühlt sich an wie Widerstand inmitten der Unterdrückung, wie Menschlichkeit inmitten des Terrors – unmögliche Widersprüche. Gewalt hat mit Un/Möglichkeit zu tun, mit der condition humaine und mit der Bedeutung des Überlebens. Deshalb werden blutige Kriege geführt, wird gefoltert und bleiben weder Gewalt noch Krieg auf das Gemetzel auf dem Schlachtfeld beschränkt. Für die Beobachter am Rande des Schlachtfelds war mit dem Ende des Kampfes auch ihre Aufgabe beendet. Mit dem unmittelbaren Gemetzel war auch der Krieg vorbei. Doch die Menschen an den Fronten erzählen eine ganz andere Geschichte. Gewalt wird mit dem physischen Kampf in Gang gesetzt, aber sie bleibt nicht darauf beschränkt. Gewalt verändert ihre Opfer und das soziale Milieu, dem sie angehören, von Grund auf.12 Sie ist kein vorübergehendes Phänomen, das für einen Moment ein stabiles System in Frage stellt, das eine Narbe hinterlässt, aber keine bleibenden Auswirkungen hat. Vielmehr prägt Gewalt die Wirklichkeit, wie Menschen sie zukünftig erfahren werden, in entscheidendem Maße.
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Wenn die Gewalt langfristige Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft hat, die das Leben nach dem Krieg ebenso prägen wie während des Krieges, dann müssen wir die Frage nach den Gewinnern und Verlierern sowie danach, was »Gewinner« und »Verlierer« angesichts dessen überhaupt bedeutet, neu überdenken. Im allgemeinen Bewusstsein herrschte lange das Bild von Militärführern vor, die über einen desolaten Trümmerhaufen befehlen – das Herrschaftsgebiet, das sie dezimiert haben, um die Kontrolle darüber zu erlangen. Das zeigt sich vielleicht nirgends so ausgeprägt wie im Fall des Atomkriegs. Es gibt freilich noch eine andere Realität, die sich nicht so leicht in gängige Bilder oder akademische Theorien fassen lässt, nämlich den Führer, der an der Spitze einer zerbrochenen und verstümmelten Gesellschaft steht, einer Gesellschaft mit deutlich reduzierter kultureller Stabilität, mit einer gequälten und traumatisierten Alltagswirklichkeit. Wir wissen bis heute nicht, wie sich ein kulturelles Trauma auf den politischen Körper auswirkt, ob kulturelle Wunden Zyklen sozialer Instabilität und Gewalt in Gang setzen. Eines ist sicher: Die gängigste Definition des Menschseins beschreibt den Menschen als kulturschaffendes Wesen, wobei mit Kultur nicht nur Produkte wie Rechtssysteme oder die Künste gemeint sind, sondern in einem grundsätzlicheren Sinne das, was unsere Lebenswelt und uns in ihr beseelt – das Wissen, mit dem wir uns selbst und die Welt erfahren und als sinnvoll erkennen. Werden unsere kulturellen Grundlagen ausgehöhlt, was passiert dann mit unserem Menschlichkeitsempfinden? Was bedeutet dann Gewalt? Die grundlegende Definition von Gewalt konzentriert sich auf die physische Verletzung des menschlichen Körpers. Doch das führt in die Irre. So erklärte mir jemand, der an der Front eines verheerenden Krieges lebte: Das Schlimme am Krieg ist nicht die körperliche Gewalt, am schlimmsten ist es, dass man der Gewalt ausgeliefert ist. Körperliche Verletzungen erleben die Menschen ihr ganzes Leben lang: Wir werden Zeugen von Unfällen, bei denen vielleicht ein Körper ganz schrecklich zugerichtet wird; wir sehen Krankheiten und Unglück, die verunstaltete und zerbrochene Körper hinterlassen. Gewalt aber ist mehr als das, wir haben Angst vor dem, was der Krieg aus uns gemacht hat, wir fürchten, unsere Menschlichkeit zu verlieren, wir fürchten uns vor dem, was aus Menschen im Krieg werden kann.
Wenn jemand bei einem Unfall verletzt wird, so bezeichnen wir den Unfall üblicherweise nicht als Gewalt. Gewalt kommt mit Absicht daher, mit der willentlichen Entscheidung, einen anderen zu verletzen. Und so wie Unfälle, bei denen Körper zerfetzt werden, keinen politischen Willen enthalten, so stellt auch der rein physische Akt der Verletzung eines anderen noch keinen Kampf
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um politische Herrschaft dar. Es ist die Absicht – und damit der emotive Kontext der Handlung –, die Gewalt und ihr Verhältnis zum politischen Willen bestimmt. Gewalt soll nicht mit der Verkrüpplung menschlicher Körper enden, sondern ist dazu gedacht, politische Fügsamkeit zu erzwingen; sie soll für Terror sorgen und damit für politische Trägheit; sie soll Hierarchien der Herrschaft und der Unterwerfung schaffen, die auf der Kontrolle über die Zwangsmittel beruhen. Oder wie Elaine Scarry es ausdrückt: Sie soll »die Welt auflösen«.13 Ein Beispiel für diesen sozialen und emotiven Kontext der Gewalt erlebte ich, kurz bevor ich mich an die Arbeit zu diesem Buch machte. In Angola (damals herrschte dort noch Krieg) war ich auf dem Weg in mein Appartement, als ein Mann an mich herantrat und wissen wollte, ob ich ihm etwas geben könne. Er sah aus wie ein Stadtstreicher: zerlumpt, zerzaust und seelisch traumatisiert. Ich war jedoch überrascht, als er plötzlich Englisch mit mir sprach, obwohl ich ihm in der Landessprache geantwortet hatte. Als ich genauer hinhörte, merkte ich, dass er mit einer sanften und förmlichen Korrektheit sprach, die nicht so recht zu seiner äußeren Erscheinung passen wollte. Während unseres Gesprächs sah ich, dass seine Hände ganz schrecklich verstümmelt und verunstaltet waren. Zuerst dachte ich, er habe Lepra. Als ich genauer hinblickte, sah ich, dass es sich nicht um Lepra handelte, konnte mir aber die fürchterlichen Entstellungen der Finger und Knöchel nicht erklären. Er bemerkte meinen fragenden Blick und sagte nur: »Ich hatte mit X zu tun« [er nannte den Namen eines Militärs]. »Ich übernachtete gewöhnlich in dem Hotel da drüben. Und in diesem Hotel fing es an. Sie [die Truppen der anderen Seite] folterten mich. Das ist es, was mit meinen Händen passiert ist.« Er schwieg für einen Augenblick und sah mir in die Augen. In den seinen sah ich einen klaren Geist und hatte das Gefühl, er blicke mich aus Jalousien heraus an, die sich für einen Augenblick geöffnet hatten und jederzeit wieder geschlossen werden konnten, falls der Schmerz der Realität zu heftig wurde. Die Folter schafft solche Jalousien. Es schien kaum vorstellbar, dass Hände so verunstaltet sein konnten und dass jemand mit einem solchen Trauma weiter durchs Leben gehen und reden konnte. Der Mann erklärte verschämt, sie hätten ihn überall gefoltert, und wie zum Beweis zeigte er mir die tiefen Narben auf seiner Brust und an seinen Beinen. Wir beendeten unser Gespräch, ich half ihm, etwas zu essen zu kaufen, und ging dann davon. Sobald ich außer Sichtweite des Mannes war, außerhalb des Bereichs, in dem ich ihn mit einer Reaktion auf seine Geschichte verletzen konnte, hatte ich das Gefühl, die Welt habe sich gleichsam um 180 Grad gedreht. Einen Moment lang konnte und wollte ich mir nicht vorstellen, in einer Welt zu leben, in der Menschen von anderen Menschen solch Schreckliches angetan
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wird. Das war kein flüchtiges Gefühl, sondern ein ganz existenzielles – die Welt war schlicht und einfach zu scheußlich, um in ihr zu leben, und das spürte ich im Herzen meines Seins. Als ich dann weiter die Straße entlanglief, spürte ich diesen Schatten der Angst: Was, wenn mir das passiert, oder Menschen, die ich kenne und liebe, oder dem Ort, den ich Zuhause nenne? Ich kenne dieses Gefühl, ich habe viel darüber geschrieben: Es ist der Grund, warum Menschen Gewalt anwenden – es wird benutzt, um ganze Bevölkerungen so einzuschüchtern, dass sie sich aus der Welt zurückziehen oder zumindest aus dem politischen und militärischen Teil, der mit Macht verbunden ist. Ich habe bewusst das Wort »Gefühl« verwendet – denn unser Handeln wird nicht bestimmt von der »Logik«, dass Folter möglich ist. Die Logik sagt mir, dass die Chance, an Malaria oder durch eine Landmine zu sterben, deutlich größer ist, als durch Folter umzukommen. Die Logik sagt mir, dass die Geschichte dieses Mannes nicht meine eigene ist. In vielerlei Hinsicht ist die Logik ein Schutzpanzer, mit dem wir uns umgeben. Folter und Gewalt entwickeln ihre Wirkungskraft, weil sich Gefühl mit Logik paart und daraus die Angst und der Widerstand entstehen, die sich überall an den Fronten finden lassen. Bei dem erwähnten Mann handelte es sich um einen Fremden in einem Land, das nicht meines war, in einem Krieg, von dem niemand aus meiner Familie betroffen war, und doch löste die an seinem Körper sichtbare Gewalt diese Reaktion bei mir aus. Wieviel stärker mussten dann erst die Landsleute dieses Mannes betroffen sein, seine Bekannten, seine Familie? Seine Folterung ist eine fortwährende Realität, die ein Leben lang anhält und riesige soziale Räume überspannt. Sie soll die Menschen immer und überall davon abhalten, die politischen und militärischen Autoritäten in Frage zu stellen: Sollte in meinem Land und zu meinen Lebzeiten ein Krieg ausbrechen, so hätte ich das Schicksal dieses Mannes im Kopf. Die Realität seiner Folterung würde mich dazu zwingen, meine eigene politische Rolle neu einzuschätzen: Was, wenn mir das passiert oder meinen Lieben? Der Schmerz eines unbekannten Mannes aus einem anderen Krieg, einer anderen Zeit und einem anderen Erdteil überdauert und beeinflusst andere Menschen, andere Kriege, andere politische Ereignisse. Als medizinische Anthropologin habe ich in den verschiedensten Krankenhäusern von Lateinamerika bis Asien gearbeitet und dort Körper gesehen, die durch Unfälle, Krankheit und Mikroben schwer gezeichnet waren. In diesen Fällen empfinde ich Mitleid, Sympathie und Traurigkeit darüber, dass Menschen so sehr leiden müssen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich die Welt um 180 Grad gedreht hat. Ich will nicht entfliehen aus einer Welt, die zu hässlich ist, als dass man das Leben darin gelassen betrachten könnte. Ich erlebe keine Krise von existenziellen Ausmaßen. Es ist die Gewalt, die ein
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Individuum willentlich einem anderen antut, die diese nachdrückliche Reaktion hervorruft. Das ist der emotionale Gehalt von Gewalt. Auch wenn dieses Kapitel vielen Formen von Gewalt gewidmet ist (von denen die physische Gewalt nur eine ist), sollte man erkennen, dass die körperliche Gewalt selbst schon soziopolitische Botschaften transportiert. An anderer Stelle habe ich das Vorgehen in Mozambique dokumentiert, wo man den Menschen Ohren, Nasen und Lippen abgeschnitten, sie aber bemerkenswerterweise nie geblendet hat.14 Die Botschaft, die dahintersteckt, ist nicht besonders subtil: »Du wirst nichts hören, von dem wir nicht wollen, dass du es hörst, du wirst nicht gegen uns aussagen, du wirst nichts riechen – aber du musst diesen Schrecken sehen, um ihn zu kennen.« Natürlich ist der Angriff auf die menschlichen Sinne ein Angriff gegen das Empfinden in seiner allgemeineren, geistigen Bedeutung. Menschen, die empfinden, sind politische Akteure, und Handeln hängt von der Verfügbarkeit aller Sinne ab. Die Empfindungslosen, so die (falsche) Vorstellung der Folterer, seien gezähmt wie eine Herde Vieh. Diese Analogie bekam ich an der Front oft zu hören: »Sie versuchen uns zu Tieren zu machen.« In Sierra Leone schnitten die Truppen den Menschen Hände und Arme ab und versuchten so einen Wahlboykott durchzusetzen.15 Die Wähler wurden gleichsam »entwaffnet«. Gleiches gilt für die technische Gewaltwirkung von Landminen. Abgesehen davon, dass ihnen vor allem Zivilisten – und hier besonders Frauen und Kinder – zum Opfer fallen, wurden viele »Antipersonen-Minen« so konstruiert, dass sie Gliedmaßen abreißen, aber nicht töten. Selbst im tiefsten Urwald, fern aller medizinischen Versorgung, überleben viele Minenopfer und kriechen oder humpeln auf Krücken durch den Rest ihres Lebens. Eine andere verbreitete Taktik ist die Verstümmelung der Genitalien, die zum Teil als symbolischer Angriff auf die Reproduktion politischen Widerstands gelten kann.16 Vergewaltigung ist ein besonders deutliches Beispiel für körperliche Übergriffe, die tiefer reichende, über das Physische hinausgehende Wirkungen zeitigen sollen. Ich habe Hunderten von Erzählungen über Vergewaltigungen zugehört, und nur wenige sprechen in erster Linie vom physischen Schmerz. Meistens ist vielmehr vom emotionalen Trauma die Rede, von der sozialen Schande und der verletzten Menschenwürde. Was die Vergewaltigung zu einem solch schmerzhaften Akt macht, ist also nicht nur der Angriff auf den Körper, sondern auch auf die Familie, die Würde, das Selbstwertgefühl und die Zukunft. Ich habe erlebt, wie Frauen bei Geburten entsetzlich litten oder sogar starben. Ich habe schlimmste Geschlechtskrankheiten gesehen bei Frauen, die an der Front monate- oder gar jahrelang von medizinischer Versorgung abgeschnitten waren. Der körperliche Schmerz ist dabei oft mindestens ebenso
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heftig wie bei einer Vergewaltigung, und die Trauer über die Verstorbenen und die Kranken ist so groß wie bei jedem anderen Kriegsopfer. Und doch lassen sich der Horror der Vergewaltigung und die Intention, die dieser Aggression zugrunde liegt, damit nicht vergleichen. Gegenmaßnahmen müssen sich mit den unzähligen Manifestationen von Gewalt auseinander setzen. Lange Zeit hat man geglaubt, seelische Gewalt könne ebenso verheerend sein wie körperliche Gewalt. Doch die Wirkung von Gewalt reicht weit über beides hinaus. Ich habe bemerkt, dass Menschen, die unmittelbar mit den Opfern des Krieges zu tun haben, genau über die Komplexitäten der Gewalt Bescheid wissen. So besuchte ich etwa einmal ein UNICEF-Büro in Angola, um mich dort nach den Programmen für kriegsversehrte und heimatlose Kinder zu erkundigen. Dieses Programm zum Schutz von Kindern wurde von zwei Angolanerinnen geleitet, Casimira Benge und Lidia Borba. Gleich nach Beginn unseres Gesprächs bemerkte Casimira, es gebe viele verschiedene Arten von Gewalt. Ich bat sie, das näher zu erläutern. Sie und Lidia redeten ohne Unterbrechung und ergänzten dabei die Gedanken der jeweils anderen: Natürlich ist Krieg Gewalt. Oder vielmehr sind es viele Gewalten. Physische Aggressionen sind nur am offensichtlichsten. Aber auch fehlende Unterstützung von Seiten der Regierung ist eine Form von Gewalt, und sie kann genauso bedeutsam sein wie körperliche Aggression. Krank oder verwundet zu sein und keine ärztliche Hilfe zu bekommen ist Gewalt; oder keine Impfstoffe zu erhalten, um so künftige Krankheiten verhindern zu können. Für Bildung zahlen zu müssen ist eine Form von Gewalt; diese armen Frauen in den Elendsvierteln wollen ihre Kinder in »kostenlose« Schulen bringen und dort sagt man ihnen, sie müssten für diese Aufnahmeprüfung und für jenen Text und so weiter zahlen. Und auch dass man für das Ausstellen eines Passes zahlen muss, ist Gewalt. Wer kein Geld hat, ist staatenlos und ohne Papiere völlig ausgeliefert. Sexuelle Ausbeutung ist eine Form von Gewalt. Kinderarbeit. Straßenkinder. Die Kriegswaisen, die bei Pflegeeltern leben müssen, von denen sie oft wie Sklaven behandelt werden. Und all diese Formen von Gewalt sind von einer Art Trauma begleitet. Wenn jemand vergewaltigt wird, so ist das Gewalt, aber beileibe nicht die einzige. Diese Frau lebt vielleicht in einem Umfeld, wo es kein Wasser, keinen Strom, nichts zu essen und kein Geld gibt. Sie wird vergewaltigt und muss an Orte zurück, wo sie nicht einmal minimal für sich sorgen kann. Das ist Gewalt. Und es ist auch Gewalt, wenn eine Gesellschaft den Menschen nicht beibringt, dass man auch anders als mit Gewalt leben kann. Wenn die Menschen glauben, Gewalt sei normal, dann ist das eine der schlimmsten Formen von Gewalt.
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Man könnte erwarten, dass sich die vom Krieg Heimgesuchten vor allem auf den physischen Tribut an die Gewalt konzentrieren, denn gerade sie leiden mehr als alle anderen unter Verwundung, Verstümmelung, Folter und Mord. Doch ihre Erzählungen von Gewalt loten die Tiefen menschlicher Erfahrung aus. Ihre Geschichten sind, ganz gleich ob sie von einem Bauern ohne Schulbildung oder von einem bekannten Dichter stammen, philosophische Erkundungen der condition humaine. Man denke an die Worte von Bao Ninh: Doch nur einige wenige seiner Helden würden von den ersten Szenen bis zu den letzten Seiten am Leben bleiben, denn er beobachtete sie, wie sie in mörderische Feuergefechte gerieten, in so schreckliche Kämpfe, dass jeder, der so etwas mitmacht, nur einen Wunsch hat, nämlich einen solchen Albtraum nicht noch einmal erleben zu müssen. Wo der Tod ihnen auflauerte, sie jagte und dann in einen Hinterhalt lockte. Sterben und Überleben waren nur durch eine dünne Linie voneinander getrennt; sie wurden entweder einzeln getötet oder alle zusammen; sie wurden entweder sofort getötet oder sie wurden verwundet und verbluteten jämmerlich; sie konnten möglicherweise überleben, doch die Albträume der weißen Explosionen würden bleiben und ihre Seelen zerstören und sie ihrer Persönlichkeit berauben.17
Baos Protagonist Kien erfährt diese dünne Linie zwischen Überleben und Tod, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Heute und Morgen am eigenen Leib: Als der Fahrer sah, wie Kien in seinem Essen herumstocherte, seufzte er und sagte: »Du hast da hinten geschlafen, mit fast fünfzig Leichen [Kien gehört einer Einheit an, die gefallene Soldaten aufsammelt], oder? Du hattest Albträume, stimmt’s?« »Ja, es war unglaublich schrecklich …« »Zweifellos«, sagte der Fahrer und beschrieb mit seiner Hand einen weiten Bogen. »Das ist der Wald der schreienden Seelen. Er sieht leer aus, aber in Wirklichkeit ist er voller Geister und Teufel, die alle über diesem Schlachtfeld schweben. Ich fahre jetzt seit 1973 für diese Leichensammlertruppe, aber ich habe mich noch immer nicht an die Passagiere gewöhnt, die aus ihren Gräbern kommen und mit mir reden wollen. Keine Nacht, in der sie mich nicht wecken und ein Schwätzchen halten wollen. Es erschreckt mich. Es sind alle möglichen Geister, junge Soldaten, alte Soldaten, sie stammen aus allen möglichen Divisionen, manchmal sind auch Frauen darunter und hin und wieder einige südliche Seelen aus Saigon.« Der Fahrer redete so, als sei das alles allgemein bekannt. »Hast du irgendwelche alten Freunde getroffen?«, fragte Kien. »Klar! Sogar ein paar aus meinem Heimatdorf. Kameraden aus meiner ersten Einheit. Einmal ist mir ein Cousin begegnet, der schon 1965 gestorben ist.« »Sprichst du mit ihnen?« »Ja, aber … einfach anders. So wie man in der Hölle spricht. Ohne Töne, ohne Worte. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist, als würde man träumen … Verstehst du, was ich meine?« »Wenn wir eine Möglichkeit fänden, ihnen von einem Sieg zu berichten, wären sie dann glücklicher?«, fragte Kien.
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»Ach was! Selbst wenn wir könnten, was würde das ausmachen? Die Menschen in der Hölle scheren sich einen Dreck um den Krieg. Sie erinnern sich nicht ans Töten. Töten ist etwas für die Lebenden, nicht für die Toten.«18
Bao versetzt uns in eine Welt, wo die Gewalt das, was man bisher als gegeben betrachtet hat, zerstört; die Unterscheidung zwischen Gestern und Heute, zwischen dem Augenblick und dem Ewigen. Die Zeit selbst wird zu einem Opfer des Krieges, und das hat schwerwiegende Folgen. In Baos Roman findet sich eine weitere Wahrheit über das Leben der Menschen in den Kampfgebieten, die ich in jedem Krieg, den ich bisher erlebte, zu hören bekam: die Fähigkeit der Gewalt, die Zukunft zu zerstören: »Jeder Angolaner spürt in seinem Körper und in seiner Seele die direkten und die indirekten Auswirkungen des Krieges. In Wahrheit tötet der Krieg, verstümmelt, macht arm, zerstört und erniedrigt und macht die Angolaner zu Menschen, die kein Morgen mehr haben.«19 Die Gegenwart hat Bedeutung, weil sie in eine Matrix aus vergangenen Realitäten und künftigen Möglichkeiten eingebettet ist. Unser Selbstgefühl speist sich aus Erinnerungen (Geschichte), die auf die (künftigen) Horizonte unseres Lebens projiziert werden. Sich für eine bestimmte Handlung (und nicht für eine andere) zu entscheiden heißt, sich für ein bestimmtes Ziel (und nicht für ein anderes) zu entscheiden; und damit eine Zukunft zu schaffen. Das Leben bekommt durch diese Entscheidungen einen Sinn – durch die Richtungen, für die wir uns entscheiden, und durch die Gründe für diese Entscheidungen; dadurch, dass wir das Hier-und-Jetzt mit dem Kommenden verbinden. Wir säen Getreide, um es zu ernten, wir werden schwanger, um unsere Familien zu bereichern, wir erzählen Geschichten, um kulturelles Wissen weiterzugeben, wir lachen, um Freunde zu gewinnen. Doch im Krieg, im Angesicht fortwährender Gewalt, wird die Zukunft selbst zum Opfer. Felder werden zerstört, Kinder getötet, Geschichten werden bedeutungslos und das Lachen erstirbt angesichts von Trauer und Schrecken. Getreide zu säen, Familien zu gründen, Geschichten zu erzählen – all das verleiht dem Leben ein gewisses Maß an Sicherheit. Der Krieg zerstört diese Sicherheit. Und dieser Mangel an Sicherheit zerstört das Gefühl für die Zukunft. Die Gewalt verändert das Gefühl dafür, dass die Lebensplanung zu einem sinnvollen Ergebnis führen wird. Und gerade in unserem Gefühl für die Zukunft, so haben mir die Menschen immer wieder gesagt, liegen unsere moralischen Grundsätze begründet. So erzählte etwa ein Mann in Angola, der den Krieg hautnah miterlebt hat: Glauben Sie wirklich, die Soldaten würden diese Grausamkeiten begehen, wenn sie ein Gefühl für das Morgen hätten? Nein. Der Krieg tötet diese Vorstellung von einem Morgen in den Soldaten ab. Würden sie darüber nachdenken, dass der Krieg eines Tages zu Ende ist, dass sie sich vor den Familien der Menschen zu verantworten
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haben, die sie getötet oder verwundet haben – oder schlimmer noch, dass sie von ihrem Gewissen gepeinigt werden, dass sie für ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen, dass sie in Anerkennung all dessen, was sie getan haben, im Frieden ein Leben aufbauen müssen, würden sie dann wirklich all diese Dinge tun? Nein. Aber der Krieg tötet genau dieses Gefühl für die Zukunft. Es ist eine Art lebendiger Tod. Und ihre Opfer? Für sie ist der Tod der Zukunft genauso schlimm. Wie können sie dem Krieg entkommen, wenn überall Krieg herrscht? Überall laufen sie dem Krieg in die Arme, und am Ende glauben sie, es sei ihre Schuld: Ich habe diese Entscheidung getroffen, die meine Familie getötet oder verwundet oder in den Hunger gestürzt hat. Nichts, was ein Mensch planen kann, hat irgendeine Bedeutung, denn der Krieg kann jederzeit kommen und alles zunichte machen, die besten Pläne und Absichten. Es gibt keine Zukunft. Die Wahrheit ist, dass gerade dieser Mangel an Zukunft töten kann.
Diese Zukunftsvergessenheit betrifft nicht nur die Soldaten auf dem Schlachtfeld und die Zivilbevölkerung an den Fronten, sondern auch die humanitären Hilfsorganisationen. 1996 besuchte ich ein Land (der Name tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache), das unter fortwährenden Zyklen politischer Gewalt zu leiden hatte. Der Leiter der UN-Hilfsorganisation beeindruckte mich mit seiner Vision, landesweit die Gesellschaft wieder aufzubauen: Wenn die Menschen kein Vertrauen in die Zukunft haben, werden sie nicht arbeiten, um irgendetwas zu schaffen. Wir können nicht nur die Hungernden versorgen, nicht nur Brunnen bohren, die Menschen müssen vielmehr wieder Vertrauen schöpfen, dass der Krieg einmal zu Ende geht, dass alles besser werden kann, dass ihr Handeln etwas bewirkt. Wenn man lediglich die Infrastruktur für eine traumatisierte Gemeinschaft zur Verfügung stellt, hat man am Ende nur eine Gemeinschaft, die diese Strukturen traumatisiert nutzt.
Zwei Jahre und zahlreiche Gewaltausbrüche später fand ich bei meiner Rückkehr mutlose UN-Helfer vor. Statt die Gesellschaft wiederaufzubauen, sorgte man nun für die humanitäre Grundversorgung. »Warum?«, fragte ich. »Was ist passiert?« Der Leiter des Programms antwortete: Weil es so aussieht, als sei alles, was wir gesagt haben, eine große Lüge gewesen. Wir wollten helfen, doch ganz gleich, was wir unternahmen, die politische Gewalt dauerte an, das Leiden ging weiter. All das Gerede, eine Kultur des Friedens schaffen zu wollen, wirkt wie eine einzige große Lüge. Ich glaube, wir haben selbst den Mut verloren, wir glauben nicht mehr daran, dass wir diese Dinge verändern können. Die Menschen sind es gewöhnt, in Kategorien des Krieges zu denken; es gibt so wenig Möglichkeiten, das zu ändern. Wir haben daran geglaubt, aber es hat nicht funktioniert. Jetzt beschränken wir uns auf das Nötigste.
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Es bringt nicht viel, darauf hinzuweisen, dass zwei Jahre eine recht kurze Zeit sind, um Probleme zu lösen, die im Laufe jahrzehntelanger politischer Feindseligkeiten entstanden sind, dass ein erneutes Aufflammen des Krieges nicht bedeutet, dass die humanitären Pläne nicht funktionieren oder gar Lügen gewesen sind. Nicht anders verhält es sich mit dem Hinweis, dass die ursprüngliche humanitäre Vision vielleicht die einzige Möglichkeit darstellt, die Schrecken des Krieges zu bewältigen, und dass man dem Krieg in die Hände spielt, wenn man der Hoffnungslosigkeit und Entmutigung nachgibt. Ein UNMitarbeiter brachte dieses Dilemma auf den Punkt: »Es ist schwer, irgendetwas zu planen, wenn man nicht weiß, was die Zukunft bringt.« Das Sterben der Hoffnung ist eine gleichermaßen traumatisierende Folge des Krieges. Grauenhafte Verhältnisse lassen sich nur dann ertragen, wenn man zumindest ein wenig daran glauben kann, dass sie ein Ende haben werden. Wie aber sollen die Menschen angesichts des unabsehbar Unerträglichen Mut fassen? Wie sollen sie sich eine Zukunft vorstellen, die nur noch mehr Gegenwart, und das heißt Bedrohung, Verarmung, Hunger, Brutalität und Gewalt, bereithält? Wenn man auf eine militärische Lösung hofft und der Krieg immer wieder das eigene Leben durchschneidet, beginnt man sich allmählich vor der Hoffnung auf eine Lösung zu fürchten, denn jedes Mal, wenn der Krieg wieder zurückkehrt, verzehrt einen der Schmerz über die zerstörten Hoffnungen. Man hofft, dass die Gewalt zumindest ein wenig nachlässt, damit man Zeit hat, die Ernte einzufahren, und die Kinder etwas zu essen bekommen; doch nach einem kurzen Moment, in dem einen die Gewalt einlullt und die Hoffnungen wieder größer werden, bricht sie erneut aus, und man kann wieder nichts ernten, die Kindern müssen weiter hungern mit diesem traurigen und hungrigen Blick in den Augen. Deshalb fängt man an, sich vor der Hoffnung zu fürchten, denn es tut so weh. Man hört allmählich auf zu hoffen. Das aber ist eine Art Tod. Die Menschen geben einfach auf, geben ihre Hoffnung einfach auf. Einige schwinden einfach dahin, wie lebende Tote. Auch Aggression ist eine Folge mangelnder Hoffnung. Die Menschen lassen alle Hoffnung fahren und beginnen blind gegen alles zu wüten – es gibt nichts mehr außer Gewalt und Hoffnungslosigkeit und es wird auch nichts anderes mehr geben. Die Menschen sehen keinen Ausweg mehr und werden genauso, sie bekämpfen die Hoffnung als eine Art gebrochene Antwort darauf, dass ihre eigenen Hoffnungen immer und immer wieder zerstört wurden.
Die Hoffnungslosigkeit dient auch dazu, den politischen Willen zu brechen. Eine Bevölkerung ohne Hoffnung, so glauben zumindest die Theoretiker des schmutzigen Krieges, wird politisch stillhalten. Die Folgen sind vielfältig.
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Wird jemand, der keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat, ein Feld bestellen? Wird er industrielle Produkte herstellen? Wird er anderen helfen, wird er Konflikte lösen wollen, wird er zerstörte Städte und Gesellschaften wieder aufbauen? Wird so jemand im Krankenhaus arbeiten, neue Schulen bauen und neue Handelsrouten eröffnen? Nein. All das hängt ab von einem Gefühl, dass sich die Dinge bessern, dass diese Handlungen in der Zukunft irgendeinen Nutzen haben. Die Menschen brauchen Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft. Ohne sie werden die Menschen nichts aufbauen, und es wird zerstört werden. Die Menschen hören auf zu arbeiten und die Gesellschaft stagniert.
Die Worte dieses Mannes – und die allgemeinere Erkenntnis, dass Gewalt die Grundlagen einer Gesellschaft untergräbt – verweisen noch einmal darauf, dass die westliche Theorie zwar viel über die physischen Formen von Gewalt nachdenkt, wir aber viel weniger über die kulturellen Wunden wissen, über soziale Entwurzelung und über die Zerstörung der epistemologischen und ontologischen Instrumente, mit deren Hilfe wir unsere Welt und unsere Stellung in ihr konstruieren. Eine letzte Beobachtung in Sachen Gewalt betrifft ihre Fähigkeit, sich ins Gewebe des Alltagslebens einzuschleichen und dort einzunisten. Die Vorstellung, Schlachtfelder seien abgegrenzte Zonen der Gewalt und das Leben außerhalb dieser eng umgrenzten Bereiche gehe normal weiter, ist ein wirkungsmächtiger Mythos, aber eben ein Mythos. Ganz normale Menschen in lebensbedrohlichen Situationen, aber auch Theoretiker wie Michael Taussig warnen uns davor, die Fähigkeit der Gewalt, sich selbst zu reproduzieren, zu unterschätzen.20 Angehörige von Folteropfern oder Ermordeten sind nicht zwangsläufig wie gelähmt vor Angst; häufig beteiligen sie sich, wie ich vielfach beobachten konnte, am Kampf gegen diejenigen, die ihren Geliebten das angetan haben, und fügen ihnen oder ihren Familien dieselbe Gewalt zu. Eines Abends Mitte der 1980er Jahre war ich in Sri Lanka von einer Familie, die ich kannte, zum Essen eingeladen. Einige andere Menschen aus der Stadt waren ebenfalls zugegen. Als wir uns zum Essen hingesetzt hatten, kam ein Mann herein. Er war höchst erregt. Ich hatte ihn noch nie gesehen und wusste im Gegensatz zu allen anderen nichts Genaueres über ihn. Aus ihren Worten schloss ich, dass die Familie des Mannes soeben »von der anderen Seite« massakriert worden war. Die Mörder wollten sowohl töten als auch Angst und Schrecken verbreiten: Die Frau war erstochen und dann mit einer brennenden Matratze bedeckt worden, auf die man dann ihr kleines Kind warf. Der Rest der Familie war ähnlich brutal ermordet worden. Als die Geschichte am Tisch die Runde machte, wurden alle immer erregter, und diese Erregung verwandelte sich in den Wunsch nach Rache. Bewegt von dem, was diesem
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Mann zugestoßen war, hatte ich zunächst mit Mitgefühl reagiert, stieß damit aber bei allen Männern auf schroffe Ablehnung. Im Geiste der Rache, so schien es, wollten die Menschen ihren Zorn nicht an den Schmerz verlieren. Vielleicht war der Schmerz in diesem Augenblick zu schwer zu ertragen, und der Furor der Rache stellte eine erträglichere Reaktion dar. Als das Essen beendet war, hatte sich die Wut in Aktion verwandelt. Die Männer am Tisch wollten sich sofort aufmachen und ebenso gewalttätig Rache nehmen. Sie begannen Waffen hervorzuholen und zu inspizieren. Als einzige Frau am Tisch nahm ich die Rolle der Nicht-Kämpferin ein und versuchte darauf hinzuweisen, dass eine solche Aktion einen Kreislauf der Vergeltung in Gang setzen werde, der den Tod vieler weiterer Menschen zur Folge habe. Es hatte sich herausgestellt, dass die Familie dieses Mannes aus Rache für einen früheren Mord an einer Familie der »anderen Seite« durch die »Seite dieses Mannes« ermordet worden war. Meine Worte stießen auf taube Ohren. Die Männer machten sich mit gezückten Waffen auf, um Rache zu nehmen. Diese Ereignisse führten mir wieder einmal die Widersprüche des Krieges vor Augen: Ich empfand tiefes Mitgefühl mit dem Mann, dessen Familie ermordet worden war, doch ebenso tief saß der Horror davor, dass er anderen Gleiches antun wollte. Es war ihm großes Unrecht geschehen und er war doch zugleich völlig im Unrecht. Mir wurde klar, wie schwer es war, tief verwurzelte Kulturen gewaltsamer Rache aufzubrechen. Und ich merkte, wie lächerlich die Annahme der Strategen des schmutzigen Krieges ist, eine Strategie des Terrors werde die Bevölkerung einschüchtern. So betrachtet, bekommt die gesamte Vorstellung von Gewinnern und Verlierern ganz neue und andere Aspekte. In gewisser Weise wird sie zu einer rein akademischen Frage. Sieger und Opfer stehen nicht nur auf einem gemeinsamen Schlachtfeld, sondern haben auch die gleichen Träume und Hoffnungen. Wenn die »Zukunft« dem Krieg zum Opfer fällt, so hat das nichts mit »Gewinnen« oder »Verlieren« zu tun, sondern beruht auf der bloßen Tatsache der Gewalt. Gesellschaften können ebenso wie Individuen zu »Krüppeln« werden. Wie die folgenden Kapitel zeigen, können Gesellschaften durch die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, geheilt werden oder aber auch zerfallen. Doch weder die Wirkung noch die Abschaffung von Gewalt ergibt wirklich einen Sinn, wenn Gewalt als rein physischer Akt begriffen wird. Ihre wahre Definition und ihren wahren Tribut erhält Gewalt erst in den weniger leicht fassbaren Bereichen des »Existenziellen«, des Lebenssinns. Hier muss man ansetzen, wenn man die Gewalt bekämpfen will.
»Fotografier mich«, befahl er und richtete sein Gewehr auf mich. Malange, Angola, 1999.
6. Macht
Es war eine ausgelassene Feier, die da 1985 im Süden Sri Lankas stattfand und auf der alles versammelt war, von den Mächtigen und Einflussreichen aus Politik und Wirtschaft bis hin zu den Hunger leidenden Künstlern, die auf eine ausgiebige Mahlzeit hofften. Der Krieg zwischen der Regierung und den tamilischen Separatisten war voll entbrannt, und Amnesty International bereitete gerade einen Bericht vor, in dem der Regierung Sri Lankas schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Ich war ein wenig überrascht, als sich mir ein hochrangiger Militär zugesellte; meine Beziehungen zur Staatsmacht waren nicht allzu ausgeprägt, ich wollte mich lieber auf den Kriegsalltag konzentrieren, auf die Gefolterten, die Verängstigten, die Rebellen, die Flüchtlinge, auf die Menschen zwischen den Fronten. Der Offizier gab Banalitäten zum besten, doch mit einer Eindringlichkeit und Ernsthaftigkeit, die etwas anderes verdeckte. Er war nervös, voller Energie – ob wir ein Stück gehen könnten, fragte er. Als wir außer Hörweite der anderen Gäste waren, begann er vom Krieg gegen die Tamilen im Norden des Landes zu erzählen: Es ist völlig verrückt. Ich habe meine Truppen nicht unter Kontrolle. Es ist schlimm dort oben. Einer der Soldaten [der Regierung, zumeist Singhalesen] wird von einem Guerilla-Kämpfer [Tamile] getroffen, oder sie treten auf eine Mine, oder eine Bombe explodiert und reißt sie in Stücke. Solche Vorfälle passieren immer öfter und jetzt spielen sie einfach verrückt. Die Guerillas sind schon längst dezimiert, und die Soldaten richten ihre Raserei auf das nächstbeste Ziel. Und das sind nun einmal Zivilisten. Sie eröffnen das Feuer auf jeden, zerstören alles, was ihnen in die Finger kommt, vergewaltigen und foltern die Menschen, die sie auf der Straße oder in ihren Häusern zu fassen kriegen, sie werfen Granaten in Schulen und Häuser, auf Märkte und Straßen. Ich habe versucht, ihnen Einhalt zu gebieten, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Es geht nicht. Keiner von uns Kommandierenden ist dazu in der Lage – und einige versuchen es nicht einmal. Die Soldaten legen einfach los und es gibt kein Halten mehr. Wir können sie nicht bestrafen. Wir können sie nicht entlassen – wenn wir das täten, hätten wir keine Armee mehr. Die Situation dort oben im Norden ist vollständig außer Kontrolle, und wir können überhaupt nichts machen.
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Der Offizier erwartete keine Antwort von mir; er hielt einen Monolog, der einen ganz bestimmten Zweck verfolgte. Ich verstand, was er sagte, war mir aber nicht recht im Klaren darüber, was er damit beabsichtigte. Doch fragen wollte ich ihn auch nicht. Ich habe etliche Soldaten getroffen, die unaufrichtig waren und machiavellistische Absichten verfolgten. Dieser Mann schien es mit seinen Worten und seinen Gedanken ernst zu meinen. Damals dachte ich, er wolle die erschreckenden Menschenrechtsverletzungen, zu denen es in den Tamilengebieten kam, stoppen. Er sagte, er wisse, dass seine Soldaten jedes Mal, wenn sie Unschuldige verletzten, neue Feinde schufen, neue Kämpfe, neue unmögliche Gegensätze. Militärisch betrachtet war das keine besonders kluge Strategie. Aber da war noch etwas Anderes. Ich vermutete, dass er das Töten und Verstümmeln Unschuldiger empörend fand. Um zu verstehen, warum er mir das alles erzählte – denn das waren Dinge, über die keineswegs offen gesprochen wurde, im Gegenteil –, fragte ich mich, ob er nicht einfach etwas loswerden wollte und zu diesem Zweck eine ausländische Frau die sicherste Möglichkeit bot. Erst später kam mir der Gedanke, dass seine Äußerungen vielleicht damit zu tun hatten, dass ich selbst im Norden des Landes gewesen war und die Menschenrechtsverletzungen unmittelbar erlebt hatte. Vielleicht antizipierte oder fürchtete er irgendeine Frage – oder vielmehr eine Anklage – meinerseits (beziehungsweise von allen, von denen er glaubte, sie würden ihn verurteilen) und musste darauf antworten. Vielleicht glaubte er, die ganze Sache werde durch die Berichte über die Gräueltaten internationales Aufsehen erregen, und wollte sich von der Verantwortung dafür distanzieren. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, er wollte ganz einfach nicht, dass die Leute glaubten, dass er so sei, dass er diese Art von Kriegsführung billige. Darüber hinaus jedoch begann ich die Ironien der Macht zu erkennen. Macht, so wollte es scheinen, war gar nicht das, was man gemeinhin dafür hält. Die Geschichte vom Krieg ist eindeutig die Geschichte von Macht. Macht ist, im grundlegendsten Sinne, die Fähigkeit, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Dazu gehört natürlich auch die Definitionsmacht darüber, was unter Macht zu verstehen ist. Größtenteils ist es so, dass die Privilegierten und die Eliten die Medien kontrollieren, mit denen sich Machtdefinitionen verbreiten lassen; nur wenige Bauern, Taxifahrer oder einfache Soldaten machen Rechtspolitik, veröffentlichen ihre Definitionen von Macht in wissenschaftlichen Publikationen oder führen Interviews für die Massenmedien. Steven Lukes’ inzwischen klassische Definition, wonach auch bei Abwesenheit manifester Konflikte ständig um Macht gekämpft wird, ist heute weithin akzeptiert.21 Meine Forschungen legen jedoch nahe, dass sie weitaus umkämpfter
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ist, als sogar Lukes annimmt. Wenn die Distanz zwischen den Institutionen und den Manifestationen von Macht so groß ist, wie ich in diesem Kapitel behaupte, so erfährt Lukes’ Annahme, Macht sei im Wesentlichen Kampf darum, eine ganz grundlegende Ironisierung. Macht ist kein monolithisches Konstrukt. Wie alle menschlichen Bestrebungen entsteht sie aus komplexen menschlichen Beziehungen: Sie wird ständig in Frage gestellt und umgestoßen, wird je nach Zeit, Raum und Interaktion immer wieder neu ausgehandelt. Begriffsbestimmungen fallen nicht ganz leicht. Folgt man den inzwischen klassischen Arbeiten von Michel Foucault und Antonio Gramsci, so sind sich die meisten Wissenschaftler darin einig, dass Macht in der und durch die Gesellschaft dezentriert ist.22 Vereinfacht ausgedrückt: In der gesellschaftlichen oder politischen Welt gibt es keine alleinige, oberste Quelle der Macht, und es gibt keine alleinige Macht, die von oben herab über Leben und Politik gebietet. Dieser Sichtweise zufolge wird Macht nicht nur durch die formellen Institutionen einer Gesellschaft ausgeübt, sondern auch mittels Kommunikation und Handeln sowie durch das zugrunde liegende kulturelle Wissen. Der dynamische Charakter der Macht wird besonders deutlich in Nietzsches Forderung, sich mit der Machtausübung (und nicht nur mit den Machtmitteln) zu befassen.23 Nietzsche war es nicht um die Institution, sondern um den Akteur zu tun, und die beiden sind nicht durch einfache Autoritätslinien miteinander verbunden. In Nietzsches Worten: »Das Thun ist alles.«24 Macht kommt in vielerlei Gestalt daher und drückt sich auf vielfache Weise aus. Da sie nicht nur in den institutionellen Zentren der »Macht-Makler« reproduziert wird, sondern auch in all den sozialen und ideologischen Beziehungen, die den Alltag der Menschen bestimmen, sind die machtkonstituierenden Prozesse voller konkurrierender und konfligierender Kräfte. Macht lässt sich deshalb nicht als vollkommen rationaler Prozess auffassen, aber auch nicht als völlig irrationaler. Denn Macht ist ein kulturelles Produkt – sie ist eingebettet in kulturelle Überzeugungen, zwischenmenschliche Handlungen und soziopolitische Beziehungen, die Gesellschaften im Krieg wie im Frieden antreiben. Diese Machtbeziehungen werden zum Großteil subjektiv ausgeübt und bestenfalls teilweise erkannt.25 Machtbeziehungen werden Teil und Bürde der als gegeben betrachteten Welt. Was aber geschieht, wenn man diese Theorien der Macht aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft auf die realen Frontlinien überträgt? Ich überdachte die Worte des Offiziers auf der Party im Lichte eines Besuchs in Jaffna, den ich einige Monate zuvor unternommen hatte. Obwohl sie nicht wussten, wer ich war und warum ich in den Norden der Insel gefahren war, wollten mir die Anführer der tamilischen Rebellen zeigen, wie sie auf der
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belagerten Halbinsel Jaffna und entlang der Route in die Stadt Trincomalee im Osten lebten – ich vermute, um den regierungstreuen Medien etwas entgegenzusetzen. In den letzten beiden Jahren seien nur ein BBC-Korrespondent und nun eben ich bei ihnen gewesen, und deswegen herrsche in der nationalen und internationalen Presse die regierungsamtliche Sichtweise vor. Als wir ein wenig auf Jaffna herumfuhren, so erinnere ich mich, habe ich das Wort »geschottert« geprägt und damit eine Reihe von Dörfern beschrieben, in denen Artilleriebeschuss und Granatwerfer alles, wirklich alles zerstört hatten und nichts geblieben war außer handflächengroßen Schotterbrocken. Häuser, Schulen, Krankenhäuser, Bäume, Fahrräder, Bücher, Fernseher – einfach alles. Als wir ins Stadtzentrum zurückkamen, eröffnete eine Patrouille der Regierungsarmee an einer Bushaltestelle unerwartet das Feuer; wir sahen, wie mehrere Zivilisten verwundet oder getötet wurden. Meine Begleiter wollten den Opfern ins Krankenhaus nachfahren, um zu klären, was geschehen war. Eigentlich erscheint es eher ungewöhnlich, wenn man als Fremder gebeten wird, an einer persönlichen Tragödie oder an politischen Spannungen teilzuhaben, doch manchmal wollen die Menschen, dass der Welt da draußen ihre wahre Geschichte mitgeteilt wird. Wenn sich nur Truppen in einem Kriegsgebiet aufhalten, werden Gräueltaten vertuscht und das Leid zum Schweigen gebracht. In diesem Fall wurden mir den ganzen Vormittag lang die Leichen gezeigt, ich hörte den Angehörigen zu und sprach mit den Verwundeten und deren Familien. Niemand von ihnen gehörte irgendeiner militärischen oder politischen Gruppe an. Als es zum Angriff kam, waren alle mit völlig unpolitischen Dingen beschäftigt. Weit und breit hatte es keinerlei Provokation gegeben. Die einzig mögliche Erklärung für diesen Angriff fand sich in der Äußerung eines Mannes, dass er, kurz bevor die Soldaten das Feuer eröffneten, die Fehlzündung eines Autos gehört habe. Vielleicht aber handelte es sich schlicht um eine völlig perverse Vorstellung von Macht. Das klassische Theorem von einer unmittelbaren Verbindung zwischen der Quelle und der Implementierung von Macht soll uns glauben machen, dass politische Führer eine Ideologie entwickeln, die ihr Handeln bestimmt, dass Militärbefehlshaber eine Strategie entwerfen, um diese politische Vision umzusetzen, und dass die Soldaten handeln, um diese Ziele zu erreichen. Ein hübsches, aber reichlich donquichottisches Szenario. Untersuchungen, die auf solchen heuristischen Konstrukten beruhen, verfehlen die Neigungen und Komplexitäten menschlichen Handelns, sozialer Interaktion, individuellen Wollens, persönlicher Vorlieben, kompetitiver Anrechte und der ständig bestehenden Spannung zwischen dem Intendierten und dem Unerwarteten. Sobald wir menschliche Akteure in diese Machtgleichung einsetzen, erkennen wir, dass Macht auf ihrem Weg vom Befehl zum Handeln ständig neu
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formuliert wird. Wo aber liegt dann die Macht des Krieges? Auf einer allgemeineren Ebene handeln militärische Befehlshaber gemäß nationalen taktischen und ideologischen Paradigmen sowie gemäß den transnationalen politisch-militärischen und ökonomischen Allianzen, auf die sie sich stützen. Schlachtfelder sind international, und die Vorstellungen von Macht werden entlang vielfältiger Linien von Allianz und Aggression transportiert (man denke nur an das breite Spektrum der am Kampf unmittelbar Beteiligten, das von regulären Truppen über Söldner und Privatarmeen bis hin zu Guerillakämpfern reicht). Nationale Bedürfnisse, Zwänge, Geschichte und Mythologie vereinen sich mit international geschaffenen Dogmen und bilden die handlungsleitende Ideologie des jeweiligen Militärs. Und was motiviert die Handlungen der einfachen Bodentruppen? Persönliche Vorstellungen von Gewalt, zwischenmenschliche Loyalitäten und Antipathien, individueller Nutzen und Reaktionen (oftmals spontan und unbegründet) auf plötzliche Bedrohungen spielen dabei eine größere Rolle als allgemeine, eher abstrakte politische Überzeugungen. In die militärische »Taktik« fließen somit die spezifischen Lebensgeschichten und Persönlichkeiten der Soldaten ein sowie die lokalen soziokulturellen Traditionen, vor deren Hintergrund sie operieren. Die Logik der Macht wird damit umgekehrt. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist die Antwort eines Kindersoldaten, als ich ihn fragte, warum er denn kämpfe. Er blickte mich völlig ernst an und sagte: »Das hab’ ich vergessen.« All die politische Kriegstreiberei, der Nationalismus, die Abkommen und Bündnisse, die sorgfältig ausgetüftelten militärischen Ideologien und Ausbildungspraktiken, all das Säbelrasseln der Machteliten – das ist nicht der Krieg. Dieser junge Soldat, der den Finger am Abzug hat – der Gewalt ausübt –, lässt den Krieg Realität werden. Seine Macht beruht nicht auf politischen Prinzipien, auf einem glühenden Nationalismus, auf einem militärischen Dogma, ja nicht einmal auf einer ganz schlichten Verteidigungsreaktion auf eine Bedrohung: »Das hab’ ich vergessen.« Was sagt uns das über die Logik der Macht? Über die Begründungen für einen Befehl? Über den Krieg? An der Front traf ich einen Soldaten, mit dem ich folgendes Gespräch führte: Soldat: Ich bin bei der Armee. CN: Warum [d.h. hat er sich freiwillig gemeldet oder wurde er eingezogen]? Soldat: Ich wollte mich den Truppen anschließen; ich will mein Volk beschützen. CN: Kämpfst du mit den anderen zusammen? [In dem Gebiet war es erst kürzlich zu größeren Kämpfen gekommen.] Soldat: Ja, dauernd wird um uns herum hier gekämpft, und ich kämpfe auch. Ich nickte fragend in Richtung seines Gewehrs.
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Soldat [hält sein Sturmgewehr in die Höhe]: Ich trage es immer bei mir, es gehört mir. CN: Woher hast du es? Soldat: Mein Kommandeur hat es mir gegeben und mir gesagt, ich solle schießen lernen. CN: Macht es dir nichts aus, dass du nicht viel zum Anziehen hast? [Der Soldat trug ein zerrissenes T-Shirt und eine kurze Hose, die ihm viel zu groß war.] Soldat: Nein, ich bin Soldat, was soll ich mit solchem Zeug? Ich bin hier, um für mein Volk zu kämpfen. CN: Gefällt dir das Soldatenleben? Soldat: Nein. CN: Hast du Angst vor dem Krieg? Soldat: Nein. [Sagt es leise und zögernd, mit großen Augen, die ganz anderes verraten.] CN: Wie alt bist du? Soldat: Elf.
Wenn, mit Clausewitz gesprochen, Krieg die Fortsetzung und Ausweitung der Politik ist, können wir dann davon sprechen, dass Politik mittels Waffen auf einen Elfjährigen ausgeweitet wird? Diese Frage ist keineswegs rhetorisch: Was genau sagt uns das über das Wesen von Macht? Von Zwang? Und von politischer Partizipation? Keine staatliche Verfassung auf dieser Erde erkennt heute ein Kind als erwachsenen politischen Akteur an. Welche Politik wird somit beim Kriegführen durch nicht-politische Akteure, durch Kindersoldaten ausgeformt? Nach Schätzungen der Vereinten Nationen stehen gegenwärtig etwa 300.000 Kindersoldaten unter Waffen.26 Der Krieg ist keineswegs ein Musterbeispiel für Camus’ Absurdes, das gleichsam Kinder und Soldaten umfasst, die noch immer kämpfen, obwohl ihnen der Grund, warum sie das tun, schon längst abhanden gekommen ist. Das ist viel häufiger der Fall, als Politik- und Militärwissenschaft sowie die nationalistischen Philosophien zugeben wollen. Das folgende Zitat bringt eine ziemlich geläufige Empfindung zum Ausdruck, die sich so oder ähnlich in vielen Kriegsgebieten dieser Welt finden lässt. Wir waren in einer Gegend unterwegs, die gerade heftig umkämpft war. Das Fahrzeug einer Hilfsorganisation hatte uns mitgenommen, und wir saßen hinten auf der Ladefläche und unterhielten uns. Er sagte: Sie wollen wissen, warum die Menschen sich an diesem Krieg beteiligen? Schauen Sie sich um. Da geht einer diese staubige Straße entlang und ein schickes neues Auto saust an ihm vorbei, das ihn in eine Staubwolke hüllt, und er denkt: »Warum er und nicht ich?« Und er weiß, die Antwort darauf lautet, dass der Kerl in dem Wagen
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politisch auf der richtigen Seite steht – auf der Seite, die die Waren unter ihrer Kontrolle hat. Und er weiß, er selbst ist auf der falschen Seite. Ganz egal, wie klug er ist, wie gut er arbeitet, wonach er strebt, er wird nicht dorthin kommen, wohin er will. Der Andere, der mit den Beziehungen zu den Mächtigen, wird den Job bekommen; der Andere, nicht er, wird die Chance auf eine höhere Bildung erhalten; der Andere, nicht er, wird das gute Stück Land bekommen, um es zu bestellen. Ganz gleich, wie sehr er es will oder verdient, er wird das Stipendium für ein Auslandsstudium nicht bekommen. Und diese Realität breitet sich vor ihm aus und betrifft sein ganzes Leben: Diese Politik wird sich nicht ändern. Er wird nie in diesem Auto sitzen; er wird für den Rest seines Lebens zu Fuß gehen. Und so frisst er den Staub, den der Andere aufgewirbelt hat, und denkt: »Warum schließe ich mich eigentlich nicht der Opposition an und kämpfe, das ist die einzige Möglichkeit, wie ich mein Schicksal verändern kann.«
Die Komplexitäten der Macht finden sich auch noch auf einer ganz anderen Ebene. Dabei geht es um die unausweichliche Tatsache, dass die Menschen in ihrem Leben zahlreiche Rollen besetzen. Kein Soldat ist nur Soldat. Er oder sie ist eingebunden in zwischenmenschliche Beziehungen, die jeweils eine ganze Reihe von Normen und Regeln, Anforderungen und Möglichkeiten enthalten, die das jeweilige Handeln bestimmen. Ein Soldat ist Familienmitglied mit Eltern, Geschwistern und Kindern. Ein Soldat hat Freunde und Feinde im Krieg, aber auch weit jenseits davon. Ein Soldat hat Schulkameraden und Geschäftspartner, Altersgenossen, Trinkkumpane und gefährliche Rivalen. All das spielt sich an den Fronten des Krieges ab. Sie sind ein veritables Füllhorn menschlichen Strebens. Ein Soldat hat noch ganz anderes zu tun als nur zu kämpfen. Egal, in welchem Kriegsgebiet man sich befindet: Überall sieht man Soldaten, die ihre Ausrüstung und Vorräte verkaufen; überall sieht man Soldaten, die Zivilisten mit der Waffe bedrohen, um von ihnen Essen, Geld, Waren, Arbeit oder Unterstützung im Kampf zu erpressen; überall sieht man Soldaten, die beim Wiederaufbau helfen und kranken Kindern vorlesen; überall sieht man, dass zahlreiche Kriegsschäden nicht vom Militär verursacht wurde, sondern von Geschäftsleuten, die im Kampfgetümmel das Haus oder den Laden der Konkurrenz angezündet haben. Kommandeure – und Hilfsorganisationen – kümmern sich mitunter um alles, von den Lagebesprechungen bis hin zum internationalen Waffenhandel, Diamantenschmuggel und Viehdiebstahl. An der Front werden Familienangelegenheiten geregelt; im Kampf kommen Klassen-, Clan- und Stammesloyalitäten zum Tragen; Profiteure schließen sich zusammen, um innerhalb der Truppen räuberische Gruppen zu bilden. Und die Gutherzigen bringen Waisen in neue Heime, helfen in Krankenhäusern und stehen den Bedürftigen und Traumatisierten bei.
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Diese Komplexitäten finden sich weltweit. Und es ist nur noch ein schönes Märchen zu glauben, reguläre Truppen und das Militär eines Landes würden sich aus Angehörigen dieses Landes zusammensetzen. In Angola beispielsweise sah die Wirklichkeit so aus: In Angola kursierte damals ein Witz. »Unsere Kubaner kloppen sich mit ihren Südafrikanern« – oder umgekehrt. Wir sprechen davon, hier herrsche Bürgerkrieg zwischen der MPLA [der Regierung] und der UNITA [den Rebellen] – aber zeitweise haben die südafrikanischen Truppen, die für die UNITA kämpften, und die kubanischen Soldaten, die auf Seiten der Regierung standen, mehr gegeneinander gekämpft als wirkliche Angolaner. Die Söldner der South African Defense Force, die einstmals für die UNITA kämpften, werden nunmehr von der Regierung angeheuert, um die UNITA zu bekämpfen. In der Zwischenzeit senden wir Truppen in den Kongo, um denen in ihrem Krieg zu helfen. Und von all den anderen, die hier in Angola zur Waffe gegriffen haben, von den Russen bis zu den Amerikanern, will ich gar nicht erst reden.
Doch zurück zu Nietzsches Wendung, das Tun sei alles. Das heißt, zu einem Krieg kommt es nur dort, wo es zu einer Aggression kommt, und dieser Akt der Aggression findet nicht in den Büros der Militärs oder der Politiker statt, sondern an den Frontlinien und wird üblicherweise von den Soldaten in den untersten Rängen verübt. Macht manifestiert sich im »Tun« des Krieges. Was aber ist dann Krieg, wenn ein Soldat aus einer wissenschaftlich nicht fassbaren Mischung aus persönlichen Überzeugungen, historischen Umständen, zwischenmenschlichen Loyalitäten und emotionalen Bedürfnissen heraus schießt? Genau darin liegt die grundlegende Ironie der Macht. Der Soldat erhält zweifellos die Legitimation (die Macht), aufgrund seiner Einbindung in eine ganze Reihe anerkannter politischer und militärischer Institutionen zu handeln. Ohne diese Legitimation würden die aggressiven Handlungen einer Person als individuelles Banditentum oder Verbrechen aufgefasst. Doch wenn die eigenen Ideale, Unkenntnisse und Interessen der Soldaten in ihren Handlungen im Vordergrund stehen und wenn im aktuellen Kontext des Krieges unter anderem ihre eigenen Persönlichkeiten, Traditionen und vermeintlichen Anrechte zum Tragen kommen – dann stellt dies die eigentliche Wirklichkeit der Machtausübung und der Kriegsführung dar. »Das Thun ist alles.« Wenn man die Kugel aus dem Gewehr nimmt und den Soldaten von der Front abzieht, verlieren die Machteliten ihre Kontrollmöglichkeiten und Macht wird zu einer leeren Übung. Auf einer grundlegenden Ebene wird um Macht ständig gestritten – durch die Wechselbeziehungen zwischen Soldaten, Regierungsoffiziellen, Zivilisten, bewaffneten Banden, paramilitärischen Einheiten, internationalen Verbündeten, Kriegsgewinnlern,
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Familienangehörigen, Freunden und persönlichen Feinden. Militärische Gewalt, Sadismus, Mildtätigkeit, Gier, Bestechung, Stammesloyalitäten, Familienbande, Freundschaften, sexuelle Beziehungen, geschäftliche Transaktionen, illegaler Handel, Neid, Liebe, Zorn, Mitleid, Verwirrung – all diese Kräfte bestimmen die Realitäten des Krieges, das Auf und Ab von Konflikt und Überleben, von Tauschhandel und Kontrolle, von Terror und Verhandlungen, von Frieden, Chancen und Macht. Der letzte und sichtbarste Aspekt der Ironie der Macht zeigt sich daran, wie Befehlshaber auf den individuellen Willen auf dem Schlachtfeld reagieren. Das zeigen die für einen hohen Militär ungewöhnlichen Worte, die ich zu Beginn dieses Kapitels zitiert habe. Nur wenige seiner Kollegen äußerten sich ähnlich. Die meisten redeten eher so wie ein anderer Offizier in Sri Lanka, der sowohl offene als auch verdeckte »Säuberungsaktionen« leitete. Zu dieser Zeit waren in diesen Militärkreisen Videos im Umlauf, die gezeigt wurden, um Unterstützung für den eigenen militärischen Auftrag zu gewinnen. Auf ihnen waren grauenvolle Massaker während des Kampfgeschehens wie auch – und sogar häufiger noch – bei Attacken gegen Zivilisten und zivile Zentren zu sehen – verübt sowohl von Regierungstruppen wie von tamilischen Rebellen. Der Kommandeur der Regierungstruppen und ich saßen in seinem Wohnzimmer, eines dieser Videos lief gerade. Die wahren Gräueltaten, so insinuierte er, würden von der »anderen Seite« begangen. Wie soll man dagegen vorgehen? Diese Art zu kämpfen, diese Art der Barbarei dieser Terroristen bedroht die Grundlagen unserer singhalesischen Nation. Wie kann man dem ein Ende machen? Wie können wir unsere Nation verteidigen? Indem wir danebenstehen und tatenlos zusehen, wie sie verstümmeln und töten, weil uns die Hände gebunden sind durch Politik und Konventionen und Diplomaten, die gar keine Ahnung haben, was sich hier wirklich abspielt? Indem wir seelenruhig zusehen, wie sie unsere Soldaten töten und dann in den Häusern und Schulen verschwinden und so tun, als könnten sie kein Wässerchen trüben? Unsere Truppen sind hier, um die Lage zu kontrollieren. Wir töten nicht wahllos; wir sind nicht hier, um gegen Zivilisten vorzugehen. Doch wenn diese vermeintlichen Zivilisten töten oder Mördern Unterschlupf gewähren, was bleibt uns dann anderes übrig, wenn wir unsere Nation schützen wollen? Unsere Soldaten reagieren mitunter ein wenig hitzköpfig, aber sie können damit umgehen. Diese Videoaufnahmen von einigen getöteten Tamilen – sie waren beteiligt und sollen allen anderen als Warnung dienen. Es ist ein schmutziger Krieg, aber sie haben damit angefangen und wir werden ihn beenden.
Die Ironie der Macht liegt also in der Tatsache begründet, dass die Machtmakler, ganz gleich ob aus Militär oder Politik, über die Option verfügen, entweder Verantwortung für Aktionen »ganz unten« zu übernehmen oder den
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Eindruck zu erwecken, sie hätten nicht alles unter Kontrolle und repräsentierten nicht die Quelle der Macht. Letzteres ist, zumindest im Kontext des Staates und des Militärs, undenkbar. Es verstößt gegen die fundamentalsten Prämissen, auf deren Grundlage Staat und Militär funktionieren: dass Regierungsstrukturen von oben nach unten verlaufen und dass Eliten den Hobbesschen Wolf der Massen zähmen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, sie hätten keine Macht, handeln Führer häufig lieber so, als wollten sie Basishandlungen (auch »offensive«) vollziehen. Das heißt, sie übernehmen lieber die Verantwortung für nicht akzeptable militärische Gewalt, als einzugestehen, dass sie ihre Truppen nicht unter Kontrolle haben – dass sie nicht die letzte Befehlsgewalt haben. Um so zu handeln, beschwören sie eine (mythologisierte) zeitliche Abfolge: Sie übernehmen die Verantwortung für die Aktionen, nachdem sie geschehen sind, »als ob« die Aktion in Wirklichkeit Ausfluss ihrer institutionellen Autorität gewesen wäre. Um Rudyard Kipling abzuwandeln: Wir haben es hier mit Als-ob-Geschichten zu tun. Seltsamerweise wird über Heldentaten, die sich der militärischen Kontrolle entziehen, nicht groß gesprochen (einen Kameraden zu retten gehört zur formalen Ethik des Krieges, eine Stadt vor dem Beschuss durch das Militär zu bewahren hingegen nicht; Zivilisten in Sicherheit zu bringen gehört zum militärischen Ethos, außerhalb des staatlichen Zuständigkeitsbereichs soziale Dienste einzurichten jedoch nicht). Altruismus, so scheint es, wird ebenfalls genauestens kontrolliert: Handlungen, die dazu angetan sind, die staatliche Autorität zu untergraben, sind, so positiv auch immer sie sein mögen, verdächtig. Der Staat, nicht das Individuum stellt »gesellschaftliche Güter« zur Verfügung – auch das gehört zur Machtgleichung. Der südafrikanische Anwalt Justin Wylie sagte einmal zu mir: Was ist der Unterschied zwischen einer Wirtshausschlägerei und einem Boxkampf? Keiner, außer dass der eine aufgrund bestimmter Fiktionen (niemand kommt zu Schaden und so weiter) als legitim gilt. Was ist der Unterschied zwischen der Cosa Nostra und staatlicher Souveränität? Keiner, außer dass die eine als legitim gilt, aber gleichermaßen auf einer Reihe von fiktiven Annahmen beruht. Darum hält man die Gewalt auf Distanz – die sorgfältig gepflegte Vorstellung, dass der Krieg sich auf dem »Schlachtfeld« abspielt und dass kriminelle Gewalt von Randgruppen ausgeht, die sich im Zaum halten lassen … die Illusion, dass Gewalt »außerhalb der Gesellschaft« stattfindet und dass der Staat der Gesellschaft, uns, Sicherheit bietet.
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Das gesamte Gewebe staatlicher und militärischer Führung wurzelt in der Überzeugung, die Strukturen der Regierungsmacht würden von oben nach unten verlaufen. Die raison d’être des Staates geht verloren, wenn Krieg und Frieden in irgendeiner Hinsicht »von unten« autorisiert werden, wenn Macht mittels Handeln ausgeübt wird, wenn der Staat nur mit Hilfe derer handeln kann, die sich seiner unmittelbaren Kontrolle entziehen. Und in all dem, in all den großen »Erzählungen« von Staat und Nation, kann die Macht bei jemandem liegen, der fast noch ein Kind ist und der vergessen hat, warum er in diesem Krieg kämpft.
Dritter Teil Schatten
»Legalität« erscheint auf den ersten Blick als ein einfach zu definierender Begriff. Was legal ist, lässt sich fein säuberlich von dem unterscheiden, was illegal ist; die Grenze zwischen beiden wird durch Regeln bestimmt, diese Regeln werden durch rechtliche Codes institutionalisiert, und mit Durchsetzungsmacht versehene Behörden wachen über die Rechtmäßigkeit. Es gibt jedoch keinen biologischen Imperativ, der uns verbrecherisches von legitimem Handeln unterscheiden lässt; die Grenzen zwischen der Welt des Lichts und der des Schattens sind rein begrifflicher Natur. Mit den Begriffen verändern sich auch die Grenzen. Und als kulturelle Kategorien stecken auch Grenzen voller moralischer Implikationen. Ist der – trotz Sanktionen betriebene – Verkauf von Waffen an die Armee eines befreundeten Landes ein ebenso schweres Verbrechen wie der Handel mit Nuklearkomponenten? Oder wie Menschenhandel? Wie lässt sich der Drogenschmuggel mit dem Einschmuggeln von Antibiotika für die verzweifelten Menschen in Kriegsgebieten vergleichen? Welche Beziehungen bestehen zwischen dem informellen Handel, der die Bevölkerung eines Landes in Kriegszeiten über Wasser hält, und den riesigen Gewinnen, die transnationale Unternehmen und Geschäftemacher aus der Asche politischer Gewalt ziehen? Darauf gibt es keine einfachen Antworten; sie sind in den Schatten verborgen; versteckt durch die Macht des Profits, verschwommen durch die sich ständig verändernden Grenzen zwischen legal und illegal. Aber es gibt Antworten. Die Wirtschaftswissenschaften oder Machtstudien betreiben üblicherweise keine Feldforschung an der Grenzen der Il/Legalität. Diese Feldforschung aber ruft eine schlichte Wahrheit in Erinnerung: Jede Handlung wird von einer Person ausgeführt; einer Person, die sich entsprechend einem komplexen Bündel von Werten und Orientierungen bewegt. Menschen durchwandern die Schatten, und sie erzählen ihre Geschichte. Und es gibt viele Geschichten zu erzählen: Jährlich werden Billionen von Dollar jenseits des legalen Bereichs umgesetzt; Millionen von Menschen sind daran beteiligt. Die meisten Länder dieser Welt verfügen über ein Bruttoinlandsprodukt, das weit darunter liegt.
Ein »Kollege von Joe«. Russischer Helikopterpilot für humanitäre Hilfsflüge. Mozambique, 1990.
7. In den Schatten treten
Ausgemusterte Kampfpiloten von der »Rebellenseite«, die für die Regierung in ihrem Kampf gegen die Rebellen Hilfsgüter fliegen. Hilfsflugzeuge, die von internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen bezahlt werden und mitunter Schwarzmarktgüter für einflussreiche Geschäftsleute transportieren. Hilfsflugzeuge der Regierung, die manchmal die Lager der Rebellen mit Nachschub versorgen … Das ist keineswegs die Handlung eines schlechten B-Movies, sondern Alltagsrealität im Krieg. Im Epizentrum des Konflikts spielen Hilfsflugzeuge eine Vielzahl von Rollen. Sie sind Lebensader für wichtige Nahrungsmittel, Dienstleistungen und Güter; sie bieten die Gelegenheit, frei von politischen Loyalitäten zu reisen; und sie überwinden problemlos Trennlinien zwischen dem Staatlichen und dem Außerstaatlichen. Abgesehen von den Militärtransporten sind sie häufig die einzige Möglichkeit, um an die Fronten eines Konflikts zu gelangen, nicht zuletzt angesichts der enormen Verminung der Landwege. Diese Hilfsflüge sind im Kern internationale Unternehmungen: Sie werden im Allgemeinen von internationalen Organisationen mit Hilfsgütern ausgestattet und von Personal aus aller Welt geflogen. Oftmals bekommen sie Hilfsgelder, sei es von staatlicher Seite oder von großen NGOs, die internationaler Allianzen bedürfen – solche Flüge sind teuer und finden im Überschneidungsbereich zahlreicher politischer, rechtlicher und technischer Entscheidungen statt. Eine alte DC-3, das älteste und vermutlich billigste »Arbeitstier«, das in diesem Bereich noch zum Einsatz kommt, verschlingt mehrere tausend Dollar je Flugstunde allein für Treibstoff und die verschiedenen Gebühren. Hinzu kommen noch der institutionelle »Überbau«, der Lohn für die Piloten und die Mechaniker, die Kosten für Ersatzteile und Ausrüstung und – natürlich nicht zu vergessen – die transportierten Güter. In einem Land wurde ich häufig von solchen Hilfsflugzeugen mitgenommen und die Piloten hielten mich auf dem Laufenden über Frachtflüge an Orte, von denen sie wussten, dass ich dorthin wollte. Eines Abends kamen die Piloten, die mich am nächsten Tag mitnehmen wollten, zu mir und teilten mir mit, dass der Flug ausfalle.
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CN: Was gibt es für Probleme? Ist jemand krank, gab es einen Unfall oder hat man sie abgeschossen? Piloten: Nein, nein, alles in Ordnung. Die Maschinen sind nicht abgeschossen worden. Wir fliegen morgen, wissen aber nicht, wohin. Sie können jedenfalls nicht mitkommen. CN: Wie kann das sein, dass Sie nicht wissen, wohin Sie fliegen? Sie müssen doch die Flugroute ausarbeiten. Piloten: Wir wissen es nicht, das wird erst morgen entschieden. CN: Ich würde den Ort aber sehr gerne besuchen, es wäre für meine Forschungen sehr wichtig. Kann ich morgen einfach am Flughafen vorbeikommen und sehen, wohin es geht, vielleicht kann ich ja doch mitfliegen. Piloten: Unmöglich. Das Flugzeug wird zu anderen Zwecken benötigt. CN: Zu welchen anderen Zwecken? Piloten: Keine Ahnung …
All das war höchst ungewöhnlich. Mag sein, dass es keine Routenplanungen gibt oder dass Piloten ohne Erlaubnis keine Anthropologinnen mitnehmen, aber Informationen werden üblicherweise freizügig ausgetauscht. Jedenfalls hatte mich das neugierig gemacht, und die Suche nach den wahren Gründen erwies sich als Lektion in Sachen Macht. Nachdem ich vorsichtig weitergebohrt hatte, kam die Wahrheit allmählich ans Licht. Nach einer beträchtlichen Menge Whiskey durchbrach endlich jemand die Mauern des Schweigens, auf die meine Fragen zuvor gestoßen waren: Eine Gruppe von Geschäftsleuten hat das Flugzeug für diesen Tag gebucht. Sie machen Geschäfte, große Geschäfte. Groß genug, um fünf oder sechs Hilfsflüge zu stornieren und das Flugzeug für eigene Zwecke zu verwenden. Dieses Mal bringen sie Waren ins Landesinnere. Es hat vielleicht den Anschein, als seien die Städte bis zum Gehtnichtmehr bombardiert worden, als bestehe die ganze Bevölkerung nur noch aus hungrigen Flüchtlingen, die sich nicht einmal die nötigsten Nahrungsmittel leisten können. Aber die großen Geschäftsleute, die nicht nur hier, in dieser Provinz oder diesem Land, groß sind, sondern auch international mithalten können, sie leben und arbeiten und machen Geschäfte überall im Land. Sie handeln so ziemlich mit allem, mit Telekommunikationsgeräten, kriegswichtigen Dingen, [gestohlenen] Autos, Videorekordern, Luxusgütern, wertvollen Rohstoffen, Lebensmitteln, Zigaretten, Schnaps, Benzin und so weiter. Du kannst einen tollen Mercedes kaufen oder, wenn dir das lieber ist, einen Landrover, und das hier im tiefsten Busch mitten in diesem Krieg. Du kannst die nötigen Ersatzteile bestellen, wenn du auf eine Mine gefahren bist und den Wagen reparieren musst. Wenn du dazugehörst.
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Diese Männer sind unglaublich reich; und mächtig. Jedenfalls mächtig genug, um diese Flugzeuge zu requirieren, wenn sie sie brauchen, und den Piloten zu befehlen, wohin sie fliegen sollen – ohne dass Fragen gestellt werden.
Diese Männer verfügen nicht nur über das Geld, um ein Transportflugzeug für persönliche Zwecke zu requirieren, sondern auch über die Macht sicherzustellen, dass die gesamte damit verbundene Maschinerie – von staatlichen bis zu intergouvernementalen Hilfsorganisationen – nichts davon mitbekommt. Nicht alle derartigen Flüge finden innerhalb eines Landes statt. Im Schutz der Dunkelheit überqueren »requirierte« Flugzeuge häufig auch die Grenze, laden Computer und Waffen ein und fliegen dann wieder zurück (meist auf irgendeine Militärbasis). Und dabei geht es nicht um ein paar Kilo Fracht, sondern um Tonnen. Solche irregulären Flüge geben einen Einblick in den hochgradig internationalen Charakter der außerstaatlichen Schattenaktivitäten und Machtsysteme. Ein Beispiel mag das belegen: Eine internationale Organisation unterhielt eine wichtige Luftbrücke in ein Krisengebiet, wobei Flugerlaubnis und Flugzeugregistrierung aus einem ganz anderen afrikanischen Land stammten. Finanziert wurde sie von staatlichen und nicht-staatlichen Spendern einer Supermacht (die mit ziemlicher Sicherheit keine Ahnung von den Nebengeschäften hatten), geleitet über ein Organisationszentrum in Europa von einem Europäer, der sowohl professioneller Helfer als auch internationaler Schmuggler war. Die Luftbrücke brachte eine Menge Geld ein, wenngleich nur wenige die genauen Zahlen kennen dürften. Die Flugzeuge brachten zwar in der Tat monatelang tonnenweise Hilfsgüter in das kriegsgebeutelte Gebiet, doch gleichzeitig fanden eine ganze Reihe weniger altruistischer Aktivitäten statt. Diese Transportflüge operieren im Rahmen von Waren- und Dienstleistungskreisläufen, und in der Geschäftswelt ist alles eine wertvolle Ware, ob nun eine Waffe, ein Diamant, ein Mercedes oder ein Sack Reis. Eine klare Trennlinie zwischen Geschäft und Nachschub für den Krieg lässt sich dabei nicht mehr ziehen. Ähnlich schwierig ist es, zwischen »Geschäftsleuten«, »Militärs« und »politischen Offiziellen« zu unterscheiden: Die Macht liegt oft in den Zusammenschlüssen zwischen diesen Rollen und Positionen. Ethnografie ist ein Puzzlespiel, und in der heutigen globalisierten Welt muss der Forscher dessen Teile über große Entfernungen und Zeiträume hinweg zusammensetzen. Jahre nach dem Forschungsaufenthalt, bei dem ich mit diesen Flügen Bekanntschaft machte, traf ich in einem Restaurant in Nairobi zufällig »Joe« wieder, einen der Piloten, die mich in den vorangegangenen Jahren immer wieder bei ihren humanitären Flügen mitgenommen hatten. Wie so viele Menschen, die international tätig sind, nahm Joe das Gespräch dort
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wieder auf, wo wir vor Jahren stehen geblieben waren, als wäre seitdem überhaupt keine Zeit vergangen. Nur eines hatte sich geändert. Früher hatte Joe selten etwas genauer erklärt, er machte allenfalls Andeutungen, dass es so etwas wie Schattenaktivitäten gab. Wenn die Zuhörer ausreichend informiert waren, um seine Hinweise zu verstehen, konnten sie damit machen, was sie wollten, solange sie ihn nur nicht mit weiteren Fragen behelligten. Ich erinnere mich, wie Joe eines Tages seine Fracht an einem Ort ablud, der kurz zuvor Ziel von Angriffen gewesen war und an dem ich gerade arbeitete, und mir anbot, mich mit zurück zu nehmen. Zufälligerweise waren wir beide allein an Bord und Joe sagte, ich solle doch als Co-Pilotin mitfliegen; er werde mir ein paar Flugstunden geben. Ich wusste, der Flug dauerte etwa eine Stunde, doch nach einer Stunde waren wir irgendwo fern unseres eigentlichen Ziels. Ich fragte, wo wir seien, doch er winkte ab. Einige Zeit später meinte er, er wolle mir beibringen, wie man abwärts kreist. Ich sah, dass wir uns über einer Stadt befanden, die völlig zerstört worden war. Hier musste ein verheerendes Massaker stattgefunden haben, fern aller Medien und Menschenrechtsbeobachter. Hier hatte sich ein stiller Tod ereignet, ein Tod im Schatten, verübt mit Waffen, über die aufgrund von Sanktionen eigentlich niemand verfügen durfte. Joe erwähnte niemals, was er entdeckt und mir gezeigt hatte. Doch an diesem Tag in Kenia, Jahre nach dem Ereignis, begann er plötzlich stundenlang zu reden: Wir haben tonnenweise Lebensmittel und Medikamente in diese ausgebombten Städte geflogen. Manchmal tauchte gleich nach der Landung das Militär auf und nahm uns alles ab; manchmal brachten die Mächtigen vor Ort alles an sich. Von den Hilfslieferungen lebte eine ganze Wirtschaft. Und dann waren da diese Flüge, die wir für die Geschäftsleute machen mussten. Eines Tages hieß es, unsere Flüge würden umgeleitet. Keiner fragt, keiner stört sich daran. Das alles ist eben einfach eine Nummer größer. Autos, Elektroartikel, Industriemaschinen, Computer, Haushaltsgeräte, große Dinge, kleine Dinge – ganze Vermögen bewegten sich über diesen Kriegsgebieten. Wir bekamen das gleiche Geld, ob wir nun Hilfsgüter in umkämpfte Städte flogen oder gestohlene Autos und Elektrogeräte auf diesen unangekündigten Routen. Das ist aber noch nicht die ganze Geschichte. Erinnerst Du dich, dass wir in einigen Nächten einfach losgeflogen sind? [Nachtflüge waren damals nicht erlaubt.] In diesen Nächten wurden die Flugzeuge beladen – mit Computern, Waffen usw. – und wir unternahmen einen unangemeldeten Flug in eines der Hauptcamps des »Feindes«, um unser Zeug dort abzuladen. Diese Sachen kamen aus der ganzen Welt, trotz aller Sanktionen und Gesetze. Du findest die ganze Welt dort draußen auf
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irgendeiner finsteren Landebahn, die auf keiner Karte verzeichnet ist, inmitten irgendeines Krieges. Hier hetzen wir uns halb zu Tode, um von morgens bis abends fünf oder sechs Ladungen des Nötigsten unter den guten Vorzeichen der einen Seite zu den hungernden Menschen zu bringen, und dann liefern wir in der Nacht Waffen und Vorräte an die andere Seite. Dieser Typ, der das Unternehmen leitete, das für die humanitäre Hilfe angeheuert worden war, bediente alle Seiten. Tagsüber Hilfslieferungen, mittags Warenlieferungen für Geschäftsleute und bei Nacht Flüge für die andere Seite. Und dabei ist er derjenige, der die Menschen da draußen an der Front wirklich mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Niemand sonst hat seinen Arsch riskiert, um das Zeug da rauszufliegen.
Während wir uns unterhielten, machte Joe mich mit mehreren Piloten von Executive Outcome bekannt, die zufällig vorbeikamen. (Executive Outcome ist die offizielle Söldnerorganisation, die von früheren Soldaten der Apartheid-Organisation South African Defense Force gegründet wurde und betrieben wird.) Joe kannte sie, konnte sie aber nicht besonders leiden; sie hatten unterschiedliche Arbeitsauffassungen. In ihrer Gegenwart war er plötzlich wieder wortkarg. Er gab mir einen Wink, und ich konnte ihm folgen, wohin ich wollte, solange ich keine Fragen stellte. Krieg und Schatten arbeiteten noch immer Hand in Hand: Er, die Piloten von Executive Outcome und die anderen privaten Piloten in diesem Restaurant warteten an diesem Tag allesamt darauf, dass es aufklarte, um in die Demokratische Republik Kongo zu fliegen. Das war der Brennpunkt dieses Tages, dort lagen für heute die Vermögen des Krieges. *** Ende 2001 wurde gemeldet, dass zwei privatisierte Staatsbanken in Mozambique – der Banco Commercial de Moçambique und der Banco Austral – 400 Millionen US-Dollar »verloren« hatten. Zwei Männer, die auf der Suche nach der Wahrheit hinter dieser Meldung waren, wurden ermordet: Carlos Cardosa, ein Journalist mit dem Spezialgebiet Korruption, und António Siba-Siba Macuácua, Interimsdirektor des Banco Austral, der gerade eine Rechnungsprüfung angeordnet hatte. Die Geschichte interessierte mich aus zwei Gründen. Zum einen war Carlos Cardosa einer der ersten Freunde, die ich nach meiner Ankunft 1988 kennen gelernt hatte. Er wollte mir helfen, den Krieg, der damals in seinem Heimatland tobte, zu verstehen – er wollte mir den Sinn dieses Krieges nahe bringen; und das gehe nur, indem er mir klarmache, dass ich den Krieg niemals verstehen würde, wenn ich versuchte, ihm einen Sinn beizulegen. Stundenlang sprach er über den Krieg. Und über die Korruption. Wann
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immer ich ihn in den folgenden Jahren traf, setzten wir dieses Gespräch fort. Als ich ihn zum letzten Mal sah, schrieben wir beide gerade über außerlegale Kriegsgewinne und er erzählte von seinen Nachforschungen über die Staatsbanken und ihre Beziehungen zu den »großen« Interessen. Und er sprach auch von dem bedrohlichen Umfeld, in dem er diese Nachforschungen betreibe. Der andere Grund lag darin, dass diese Nachricht für mich etwas symbolisierte, was meine Nachforschungen immer wieder zeigten: Korruption wird häufig als nationales Problem dargestellt, während sie in Wahrheit ein hochgradig internationales Problem ist. Die 400 Millionen Dollar, die von den beiden Banken in Mozambique »verloren« wurden, spielen natürlich eine Schlüsselrolle, wenn man die Schatten verstehen will, aber dieses Geld steht nicht isoliert da. Zusammen mit den Abermillionen und Milliarden, die auf ähnliche Weise weltweit von Banken, Industrien und politischen Institutionen abgezweigt werden, hat dieses Geld bestimmenden Einfluss auf lokale Chancen und die globale Wirtschaft, denn diese Mittel überschreiten ständig die Grenze zwischen Legalität und Illegalität. Diese Schattendollars beeinflussen Hegemonialbeziehungen, indem sie »gewaschen«, in Macht umgesetzt und auf unterschiedliche Art (sichtbar wie unsichtbar) in ökonomischer und politischer Münze zurückgezahlt werden. Carlos wurde nicht nur aus rein innermozambiquanischen Motiven ermordet – sondern weil diese Motive sich mit einem ganzen Bündel größerer Profitinteressen in internationalen Zusammenhängen verbinden. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, diese oder jene Länder/Regime/Führer seien korrupt. Eine solche Sichtweise lässt die größeren Verbindungslinien im Dunkeln, die den außerstaatlichen Aktivitäten erst die Macht verleihen, die sie haben. Wenn ich von den Schatten spreche, so interessieren mich dabei vor allem der internationale Charakter der außerstaatlichen Netzwerke sowie die Art und Weise, in der diese mit vielfältigen Regierungs-, Geschäfts- und Entwicklungsinteressen verquickt sind. Am Anfang stand dabei eine ganz grundsätzliche Frage: Wie kommen sowohl Regierungen als auch Rebellengruppen an extrem teure Waffen, Kommunikations- und Sicherheitssysteme sowie an alles, was man an Ausrüstung braucht, um Krieg zu führen, wenn sie nicht über ausreichend Steuergelder verfügen, um diese Waren (die überdies häufig mit Sanktionen belegt sind) bezahlen zu können? Und wie gelangen diese kriegsrelevanten Systeme von den Produzenten in den kosmopolitischen Zentren dieser Welt über alle bekannten Formen von Il/Legalität in die Hände der Soldaten und wie fließen die wertvollen Ressourcen, mit denen man diese Waren bezahlt, wieder zurück über ähnlich komplexe Linien zwischen Schatten und Licht? Wie gestaltet sich das Geschäft, lokal wie international, in diesen Gleichungen? Warum bewegen sich Drogen, Edelsteine, Waffen und Grundnahrungsmittel gleichzeitig entlang
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verworrener Linien und warum findet man in allen Kriegsgebieten dieser Welt den gleichen internationalen Haufen von Geschäftsleuten, Kriegsgewinnlern und Schwarzmarkthändlern? Die Antworten auf diese Fragen führen zu einer ganzen Reihe mächtiger ökonomischer, politischer und sozialer außerstaatlicher Netzwerke – also Netzwerke, die nicht-staatlich, nicht-legal und informell sind –, die den gesamten Erdball von den Großstadtzentren bis zu den hintersten ländlichen Außenposten umspannen und als Macht-, Finanz- und Entwicklungshilfenetze Krieg und Frieden gleichermaßen überziehen. In Zeiten des Krieges werden der Schwarzhandel mit Waffen, der illegale Drogenhandel, der außerlegale Handel mit Luxusgütern wie Edelsteinen oder Meeresfrüchten sowie der informelle Handel mit Nahrungsmitteln und Kleidung zu Geschwistern. Diese Bereiche der Schattenaktivität wohnen sozusagen im gleichen Haus und tragen den gleichen Nachnamen: Der Name lautet Profit und Überleben, und das traute Heim ist in diesem Fall der Krieg. Waffen müssen mit harter Währung bezahlt werden. Viele Kriege aber werden in Staaten ausgetragen, deren Währungen überhaupt nicht auf dem Weltmarkt gehandelt werden, sodass Luxusgüter und wichtige Rohstoffe als Zahlungsmittel herhalten müssen. Diese Waren können staatliche Angelegenheiten nur am Rande betreffen (wie etwa Drogen) oder eine zentrale Rolle für den weltweiten Geldmarkt spielen (wie etwa Gold). Sie umfassen die ganze Skala vom Handel mit lebenswichtigen Energieressourcen (wie Erdöl) bis hin zum Handel mit »menschlichem Fleisch« (etwa Zwangsprostitution und Zwangsarbeit). Selbst Länder, deren Währung auf den Weltmärkten gehandelt wird, haben Probleme, das, was man zum Kriegführen braucht, zu bekommen. Denn Kriegsgüter sind nun einmal sehr teuer, und die Steuereinnahmen reichen nur in wenigen Ländern, um die Kosten eines Krieges bezahlen zu können. So zeigten etwa die Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, in wie viele illegale Aktivitäten das Apartheidregime verstrickt war, um seine Militärausgaben begleichen zu können. Oder man nehme das Beispiel Türkei: Um die Kriege zu Hause und in der Fremde finanzieren zu können – vor allem den gegen die Kurden, der Mitte der 1980er Jahre jährlich 8 bis 10 Milliarden US-Dollar kostete –, erhielten parastaatliche Organisationen vom türkischen Staat grünes Licht und übernahmen im ganzen Land das milliardenschwere Geschäft mit Drogen und Spielcasinos. Diese Beispiele zeigen die Überschneidungen zwischen den nicht-staatlichen internationalen Schattennetzwerken und formellen staatlichen Institutionen und Amtsinhabern. Mitunter lässt sich zwischen Staat und Außerstaatlichem, zwischen legal und illegal überhaupt keine klare Abgrenzung mehr
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vornehmen. So schreibt Susan Strange: »Tatsache ist, dass die Finanzkriminalität enorm zugenommen hat, … gleichzeitig aber rechtlich wie moralisch in einer unbestimmten Grauzone bleibt. Nur selten lässt sich klar unterscheiden zwischen Transaktionen, die allgemein praktiziert werden, aber moralisch fragwürdig sind, und solchen, die schlichtweg kriminell sind … Die Nutzung solcher geheimen oder versteckten Finanzkanäle ist nicht auf das organisierte Verbrechen oder Wirtschaftskriminelle beschränkt, sondern betrifft terroristische und revolutionäre Gruppen ebenso wie viele Einzelpersonen und Wirtschaftsakteure, die nicht zwangsläufig illegale Geschäfte betreiben.«1 Diese verschiedenen Sphären legaler und illegaler Produktion und Distribution knüpfen gemeinsam sich überschneidende Netze von Austausch und Kontrolle. Die dabei zum Tragen kommenden Rollen – die Positionen, die jemand in der Gesellschaft einnimmt – sind oftmals komplex und vielfältig: Ein staatlicher Akteur kann auch als nicht-staatlicher Akteur, als Sockenproduzent oder als Schwarzhändler fungieren. Ein staatlicher Akteur kann Sanktionen gesetzlich festschreiben und sie gleichzeitig aus Macht- oder Profitgründen ignorieren. Ein Unternehmer kann sich über verdeckte Verkäufe beschweren und gleichzeitig von ihnen profitieren. Manuell Castells spricht davon, »dass es nur ein schmaler Grat sei, der kriminelle Machenschaften und offiziell unterstützten Handel voneinander trenne«.2 Für Castells wie für Strange ist das kein Zufall und auch nicht auf nichtkosmopolitische Orte beschränkt: »Komplexe Finanzpläne und internationale Handelsnetzwerke binden die kriminelle Ökonomie an die formelle Ökonomie an … Der flexible Zusammenhang dieser kriminellen Aktivitäten innerhalb internationaler Netzwerke bildet einen wesentlichen Bestandteil der neuen globalen Wirtschaft.«3 Ob legal oder illegal – das Öl und die Diamanten (oder das Holz oder die Edelmetalle), die aus dem südlichen Afrika herausgeschmuggelt werden, um damit militärische Güter zu bezahlen, kurbeln vor allem die Rüstungsindustrie in den globalen Industriezentren an, und hier ganz besonders in den Ländern, die zu den großen UN-Machtblöcken gehören (etwa den ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat). Ein Söldner, der ein automatisches Sturmgewehr benutzt, oder ein Folterer, der ein mit Solarenergie gespeistes Laptop verwendet, das an eine Satellitenschüssel angeschlossen ist, mögen von den Regierungen dieser Welt scheel angesehen werden, und mitunter treten dann Sanktionen in Kraft, die direkte Käufe von Waffen und Hochtechnologiegütern unterbinden sollen. Doch Söldnern und Folterern mangelt es nicht an Gewehren und Computern oder an all den anderen Dingen, die für einen Krieg vonnöten sind. Ganz gleich, wie viele Ebenen von Sanktionsbrechern und Schwarzhändlern die Käufer durchlaufen haben, um an ihre Waffen zu kommen, am
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Ende profitieren diejenigen, die diese Produkte herstellen. Ein verkauftes Gewehr ist eben ein verkauftes Gewehr.4 Sollte jemand wirklich glauben, dass Söldner und Menschenrechtsverletzer ihre Waffen nur aus »nicht-demokratischen Gegenden« beziehen, so kann jeder, der einmal in einem Kriegsgebiet war, bezeugen, dass dort alle möglichen Produkte der großen Händler dieser Welt zu haben sind. Die Minen, die von Halo Trust (einer britischen NGO zur Minenräumung) in Zentralangola auf einem Quadratkilometer beseitigt wurden, stammten aus 31 Ländern. *** Im südlichen Afrika fragte ich einen örtlichen Unternehmer: »Wer legt eigentlich die tatsächlichen Umtauschkurse fest – also die Kurse auf der Straße, die die Wirtschaft hier im Kern bestimmen?« »Geschäftsleute«, sagte er. »Die Gleichen, die auch die Hilfsflugzeuge benutzen?« »Was glauben Sie?«
Die Geschäftsleute, die Hilfsflüge für ihre eigenen Zwecke »abzweigen«, machen darüber hinaus ein weiteres internationales Machtgefüge sichtbar, nämlich im Hinblick auf die internationalen Devisenmärkte, auf die sie nicht unbeträchtlichen Einfluss haben. In Kriegsgebieten bricht der Devisenmarkt häufig zusammen, und an dessen Stelle treten als Norm Straßenwährungen. Wer den Devisenschwarzmarkt kontrolliert, kontrolliert somit auch die entscheidenden Wechselkurse. Infolge komplexer Berechnungsmodi ändern sich diese täglich. »Straßenkurse« sind außerstaatliche Berechnungen. Sie kommen nicht durch Banken und staatliche Einrichtungen des jeweiligen Landes zustande und sind doch so einflussreich wie formelle Institutionen: Sie legen die »wahren« Devisenkurse einer ganzen Nation fest. Diese Devisenmärkte sind hochgradig international. Die von den Geschäftsleuten berechneten Geldindizes beruhen nicht nur auf der Situation im Land, sondern auch auf einer ganzen Reihe globaler Marktfaktoren, die von der Verfügbarkeit von Waren und deren Wert bis zu internationalen Wechselkursen für harte Währungen reichen. Mozambique ist ein interessantes, aber keineswegs ungewöhnliches Beispiel für ein Land, in dem die »Straßenwährung« sowohl der offiziellen wie der informellen Wirtschaft als Basis diente. Am Ende des Krieges lautete der Rat eines Konsortiums aus internationalen Hilfsorganisationen und der Weltbank, Mozambique solle die Schwarzmarktkurse – und nicht die offiziellen Wechselkurse – als realen Wirtschaftsindikator verwenden. Die formelle Ökonomie
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war auf Gedeih und Verderb dem Verhältnis zwischen dem Schwarzmarkt und den offiziellen Kursen ausgeliefert: Näherten Letztere sich denen auf der »Straße« an (und nicht umgekehrt), ging man von einer Erholung der offiziellen Volkswirtschaft aus. Mozambique stimmte diesem Vorschlag zu. Worüber diese Organisationen jedoch nicht sprachen, war das riesige Netzwerk internationaler, politischer und wirtschaftlicher Verknüpfungen, das solche »schwarzen« Devisenmärkte überhaupt erst ermöglicht. Die Fähigkeit, globale Währungsindizes festzulegen, stellt einen wichtigen Machtfaktor auf der internationalen Bühne dar, und diese riesigen »Straßensysteme« sind konstituierende Aspekte von Schattenmacht. Diese Situation kann dazu führen, dass ganze außerstaatliche Bankensysteme entstehen. In Angola war der Bankensektor 1998 weitgehend zusammengebrochen; die staatlichen Banken verwalteten nur noch die Gehälter und Gelder des staatlichen Sektors und seiner Beschäftigten. Normale Bürger bekamen keinerlei Kredite mehr. Als ich fragte, wie denn die Durchschnittsbürger an das Geld kommen sollten, das sie brauchten, um Fabriken und Geschäfte zu eröffnen, zuckten die Bankangestellten nur mit den Schultern. »Jedenfalls nicht von uns.« Das offizielle Bankensystem hatte keine Antwort darauf. Lösen ließ sich das Ganze nur mittels der »informellen« Ökonomie, wobei »informell« hier ganz anderes bezeichnet als nur Subsistenzwirtschaft mit geringen Einkommen (wie von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO definiert). Ein »Geschäftsmann« erklärte mir, wie die ganze Sache funktionierte: Über das offizielle Bankensystem bekommen Sie heute überhaupt kein Geld mehr. Selbst wenn es Geld gäbe (was nicht der Fall ist), würden die meisten Menschen aufgrund der restriktiven Handhabung keinen Fuß in die Tür bekommen: Wer reinkommt, das ist die »In-group«, und der Rest wird mit unüberwindlichen Hürden, Regelungen, Gebühren und Zinssätzen entmutigt. Wie soll man angesichts dessen Geschäfte machen? Entwicklung sei der Weg, um den Krieg zu beenden, sagt jeder – aber wie soll man sich ohne Kredite und Banken entwickeln? Doch es entstehen Systeme, die Menschen kümmern sich einfach ums Geschäft. Wir kümmern uns um einander. Ich vergebe Kredite, und das nicht im kleinen Maßstab. Die Leute brauchen Geld, um ganze Geschäftszweige aufzubauen. Einige brauchen Gebäude und Maschinen, Fahrzeuge und Transportrouten. Es gibt ausgeklügelte Entwicklungssysteme hier, das läuft alles auf diese Art. Meistens läuft das ganz normal ab, über Verhandlungen und Bürgschaften, über Vertrauen und Gesellschaften. Die Leute wissen einfach: Wenn sie Geld brauchen, kommen sie zu Leuten wie mir. Das alles läuft weitgehend reibungslos ab, wir kennen alle die Spielregeln. Und es funktioniert: Wir halten das Land am Laufen.
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Die unregulierten Finanzsysteme lassen sich weltweit in verschiedenerlei Gestalt finden. Man denke etwa an die außerstaatlichen »Bankensysteme« in Asien. Dabei geht es keineswegs nur um illegale Finanzinteressen oder Geldwäsche, sondern um weitaus profanere und doch eminent wichtige Dinge. So wählt beispielsweise ein Kunde in einem asiatischen Land eine »informelle« Bank und kann von dort einen Geldbetrag an eine »Empfängerbank« in einem anderen Land schicken, die diesen dann an den gewünschten Empfänger auszahlt. Dieses System mag informell sein und die »Banken« nichts anderes als schlichte Ladentheken, doch das System ist gleichwohl riesig und wirkungsvoll, denn es überweist unzählige Vermögen entlang familiärer oder ethnischer Bindungen, zwischen Geschäftspartnern und irregulären Finanzgesellschaften. Ein solch informelles Bankensystem gibt es seit Jahrhunderten und lässt sich auf allen Kontinenten finden. Dieses alternative (oder parallele) Überweisungssystem ist jedoch seit kurzem im Zuge des »Krieges gegen den Terror« in den Blickpunkt gerückt. Das hawala, wie es gemeinhin genannt wird (in China spricht man vom »fliegenden Geld«), bewegt »gute« wie »schlechte« Gelder. In der Flut von individuellen hawala-Transfers hinterlassen die für eine Terrorgruppe bestimmten Finanzmittel oder der Transfer schmutzigen Geldes so gut wie keine Spuren. Doch den hawala-Händlern geht es nicht in erster Linie um die Finanzierung des Terrors. »Das große Geld kommt daher, dass Handelsregulierungen umgangen werden.«5 Denn, so eine Interpol-Studie, »eine hawalaTransaktion gilt als schneller und zuverlässiger als eine Banktransaktion«. Die alternativen Überweisungssysteme sind also deshalb so erfolgreich, weil sie kostengünstig, effizient, zuverlässig und unbürokratisch abzuwickeln und für Steuervermeidung oder -hinterziehung von Nutzen sind.6 Dem »Krieg gegen den Terror« wird es vermutlich nicht gelingen, die Milliarden von Dollar, die weltweit über weitgehend unsichtbare hawala-Kanäle fließen, wirkungsvoll zu beeinflussen. Doch ökonomische Märkte werden davon bestimmt. *** Der globale Charakter dieser Schatten wird in folgendem Zitat deutlich, das aus einem Gespräch mit einem Piloten und einem »Geschäftsmann« im südlichen Afrika stammt: Auf diesen »außerplanmäßigen« Frachtflügen findet man einen veritablen globalen Supermarkt vor. Heute beispielsweise haben wir Folgendes dabei: (deutsche) Autos und LKWs, die in der Hauptstadt oder in Nachbarländern gestohlen wurden; (französische und japanische) Industriemaschinen für ihre Fabriken; (russische) Waffen für die Milizen, die die Interessen der Händler wahren; (amerikanische) Computer und (chinesische) Elektrogeräte, die sie entweder selbst verwenden oder verkaufen;
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sowie Luxusgüter wie Alkohol (aus Europa), Zigaretten (aus den USA), Videos (aus Hollywood und aus Indien) oder (weltweit produzierte) Kleidung und Nahrungsmittel.
Wie viele solcher Netzwerke operieren gleichzeitig weltweit? Eindeutige Antworten lassen sich darauf natürlich nicht geben. Aber einige zentrale Beobachtungen sind möglich. Subsistenz-Märkte im kleinen Maßstab (von Lebensmitteln bis Benzin), informelle Ökonomien (von Kleidung bis raubkopierter Software), Schwarzmärkte im großen Stil (von Waffen über Luxusgüter bis zu Öl und Freon) sowie staatliche Industrien und Personal (von der Technik, um Sanktionen zu umgehen, bis zu korrupten Zöllnern) sind stärker miteinander verwoben, als neoklassische Theorien glauben. Die dabei erzielten Gewinne sind enorm. Am meisten bringen vermutlich »hochwertige« Güter wie Drogen, Waffen und Diamanten, aber auch die im Alltag benötigten Waren leisten einen erheblichen Beitrag. In Angola etwa sind ein Huhn oder eine Kiste Tomaten heute oftmals eine größere Rarität (und deshalb wertvoller) als automatische Waffen. Man erlebt es nicht selten, dass von einem LKW herab direkt an der Straße sackweise Kartoffeln und Tomaten verkauft werden, und dieser improvisierte Markt ist für die Fahrer oft einträglicher als der Handel mit Waffen oder anderen großen Gütern. Untersuchungen haben diese außerlegalen Waren bislang zumeist fein säuberlich in verschiedene Bereiche aufgeteilt (Drogen, Waffen, Hightech, Nahrungsmittel usw.) Und die neoklassische Wirtschaftstheorie unterscheidet bei diesen nicht-staatlichen Netzwerken zwischen Schmuggel, Korruption und informellen Subsistenzökonomien, die jeweils eigenen Bereichen zugeordnet werden. Das gesamte Spektrum der »außerstaatlichen« Austauschbeziehungen lässt sich in der Tat nur schwer auf einen Begriff bringen. Informelle Märkte werden meist als klein, ländlich und auf technisch niedrigem Niveau definiert und man übersieht, dass die Transaktionen sich auf mehrere Milliarden Dollar im Jahr belaufen können. Wenn sich politische Akteure an solchen außerstaatlichen Aktionen beteiligen, wird das einfach als »Korruption« bezeichnet, was jedoch den Komplexitäten der machtdefinierenden globalen Systeme und der Überschneidung zwischen legalen und nicht-legalen Systemen überhaupt nicht gerecht wird. Zwar gelten Waffen und Drogen oder Rohstoffe als klassische Beispiele für außerstaatliche Austauschbeziehungen, doch man sollte stets im Auge behalten, dass diejenigen, die außerhalb staatlich lizenzierter Kanäle mit Reis oder Zigaretten handeln, in gleichem Maße zu den Schattenunternehmungen gehören (und häufig genauso viel damit verdienen). Das Beispiel der Geschäftsleute, die Hilfsflüge für sich in Anspruch nehmen und internationale Währungskurse festsetzen, zeigt, wie sich Güter des täglichen Bedarfs und Luxuswaren innerhalb größerer internationaler Aus-
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tauschnetzwerke, die von Waffen über Computer bis zu wichtigen Energieressourcen reichen, miteinander verbinden. Die Grenzen zwischen staatlicher und außerstaatlicher Macht verwischen dabei leicht. Schmuggler können bei Nacht mit Sanktionen belegte Telekommunikationsgeräte oder gestohlene Autos einfliegen, während sie tagsüber aufrechte Bürger oder gar politische Offizielle ihres Landes sind. Ja, es ist vielfach sogar so, dass die Einkünfte aus solchen »Unternehmen« für den Reichtum, die industrielle Basis und den Einfluss sorgen, mittels derer man überhaupt erst ein politisches Amt erlangt. Zwar sind außerstaatliche Netzwerke nicht allumfassend – denn es gibt keine einzelne übergreifende kriminelle oder außerstaatliche Netzwerkmentalität –, aber sie sind doch komplexer, stärker verknüpft und von gemeinsamen Verhaltensnormen bestimmt, als man gemeinhin annimmt. »Verbrechen ist so alt wie die Menschheit. … Aber das globale Verbrechen, die Vernetzung mächtiger krimineller Organisationen und ihrer Partner in gemeinsamen Tätigkeiten auf der ganzen Welt, ist ein neues Phänomen, das tiefgreifende Auswirkungen auf die internationale und nationale Wirtschaft, Politik, Sicherheit und letztlich auf die gesamte Gesellschaft hat.«7 Die beteiligten Menschen empfinden es offenbar als erstrebenswert, zwischen den außerstaatlichen Netzwerken internationale Verbindungen herzustellen. So schicken etwa einige Drogenschmugglerringe, die in Lateinamerika oder Südostasien beheimatet sind, ihre Ware via Afrika nach Europa. Die Marktlogik und der gesunde Menschenverstand würden eine direkte Route nach Europa für das Beste halten, denn die Vielzahl an Transitpunkten birgt dieser Logik zufolge ein höheres Risiko. Und letztlich wird es nicht einfacher, die Drogen nach Europa zu schmuggeln. Warum also nimmt man den Umweg über Afrika? Zum Teil lässt sich das vielleicht damit erklären, dass der enorme Strom von wertvollen Mineralen und Edelsteinen, von Elfenbein, Waffen, Söldnern, Nahrungsmitteln und Medikamenten nach Afrika und aus Afrika heraus mehr Handelsrouten für andere Waren bietet, was von der Verknüpfung verschiedener Netzwerke zeugt. Teilweise aber hat es auch damit zu tun, dass die Zusammenführung außerstaatlicher Netzwerke (und ihrer Verbindungen zum Staat) produktiver und wirkungsvoller ist als kleinere, isolierte Koalitionen von Menschen und Profit. Wenn man Drogen via Afrika befördert, so verbindet dies Afrika mit den Waren und der Machtpolitik in Lateinamerika und Asien und versorgt letztere mit den reichhaltigen Ressourcen und der menschlichen Macht aus Afrika. Auch für Länder und Kontinente gilt also: Gemeinsam erreicht man mehr als auf sich gestellt. Dieses Phänomen ist freilich nicht auf den Drogenhandel beschränkt:
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Neu und höchst bedeutsam in der internationalen politischen Ökonomie ist das Netzwerk, das sich zwischen dem organisierten Verbrechen in verschiedenen Teilen der Welt ausgebildet hat. Ausgangspunkt dieser Vernetzung waren die sizilianische und die amerikanische Mafia … Doch inzwischen gibt es ein halbes Dutzend weiterer großer Verbrecherorganisationen, die transnational operieren … Die Ausweitung illegaler Märkte hat zu einer weiter gespannten und intensiveren Interaktion unter den großen organisierten Banden geführt. Drogen, Waffen oder illegale Einwanderer gehen oft durch die Hände von bis zu zehn oder zwölf verschiedenen Beteiligten, die verschiedenen nationalen Banden angehören. Auch der Tauschhandel mit illegalen Waren zwischen einzelnen Gruppen ist heute an der Tagesordnung, denn dadurch lassen sich die Gewinne noch leichter vor den staatlichen Behörden verbergen. Da verschiedene kriminelle Gruppen (ähnlich wie die multinationalen Unternehmen) ihre Aktivitäten auf Territorien außerhalb ihres Heimatlands ausgedehnt haben, haben sich die illegalen Märkte innerhalb der Staatsgrenzen horizontal zu einem einzigen Markt zusammengeschlossen.8
Gleichwohl sind Drogen ein gutes Beispiel für das komplexe Zusammenspiel zwischen legaler, Schatten- und Überlebensökonomie. Meistens denkt man dabei sofort an Marihuana, Kokain und Heroin sowie an die damit verbundenen Schmuggelpraktiken und riesigen Gewinne. Doch in den Kriegsgebieten mit ihrer kaputten Wirtschaft und im Alltagsleben der Menschen gibt es noch eine ganz andere »Drogen«-Ökonomie [die sich leider nur in der Bedeutungsvielfalt des englischen Ausdrucks »drugs« widerspiegelt, AdÜ]. Dabei geht es nicht um die Träume von Süchtigen, sondern um die schwere Last der Krankheit. Einige der wichtigsten »drug dealers« verkaufen heute Antibiotika, Krebsund Aidsmedikamente, Antibabypillen, Dialysegeräte und Operationsbesteck. Und gerade hier ist die Verflechtung zwischen offizieller und Schattenwirtschaft, zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Praktiken, zwischen lokalen und multinationalen Unternehmen am dichtesten. In den Straßen der meisten Großstädte kaufen die Menschen auf dem Schwarzmarkt nicht Cannabis oder Kokain, sondern Pillen mit den Logos der großen internationalen Pharmakonzerne. Soni, der im südlichen Afrika einen irregulären Markt für Medikamente und medizinische Geräte betreibt, erklärte mir die ganze Sache genauer: Natürlich kriegen wir das Zeug aus der ganzen Welt. Die meisten von uns versuchen echte Sachen zu bekommen. Wir sehen uns die Markennamen und die Produktionskennzeichnungen genau an, um Fälschungen erkennen zu können. Am besten ist es, wenn man die Sachen aus den hier ankommenden Containern bekommt. Oder an den Hinterausgängen der Krankenhäuser und Warenlager hier in der Stadt. Oder von Händlern, die man kennt und denen man vertraut. Wir haben alle unsere Lieblinge: Antibiotika aus Frankreich, für Leber- und Nierenerkrankungen chinesische Heilmittel, das neue Aidsmedikament aus Indien … Wir wissen, was auf der Welt so produziert wird.
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Natürlich gibt es hier überall in der Gegend Fabriken, in denen Fälschungen produziert werden, das ist eine riesige Industrie, mit der wir ebenfalls zusammenarbeiten. Mann, ich habe einen Ruf, ich habe eine Familie, ich will mich nicht davonmachen und verstecken und irgendwo einen neuen Laden aufmachen müssen, weil ich den Menschen schlechtes Zeug gebe und es ihnen nicht besser geht. Was habe ich davon, wenn ich den Menschen Müll verkaufe? Dann bin ich raus aus dem Geschäft. Klar, manche machen es trotzdem, aber die Folgen können ganz schön hart sein. Und deshalb stellen einige dieser Fabriken ordentliches Zeug her. Wir müssen halt nur wissen, welche es sind. Mann, das ist ein riesiges Geschäft. Ich? Ich bin nie zur Schule gegangen, aber viele Menschen sind mir dankbar, weil es ihnen besser geht.
Soni arbeitet auf lokaler Ebene. Er kauft seine Waren bei einem viel größeren »Geschäftsmann« – also bei jemandem, der Hilfsflüge für seine Zwecke chartert, Wechselkurse festlegt oder ein internationales Bankennetzwerk betreibt. Bei einem Mann wie Leo zum Beispiel. Leo gewährte mir einen kurzen Einblick in seine Welt, als ich ihn zufällig in einem kleinen, armseligen Laden in Mozambique traf, in dem ich mir eine warme Fanta kaufte. Wir saßen draußen vor der Tür auf wackligen Plastikstühlen, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatten, und tranken unsere schale Limonade aus der Flasche. Leo trug eine schlichte Freizeithose und ein offenes Hemd. Vor diesem ärmlichen Straßenladen sah er aus wie jeder andere auch, nicht wie jemand, der über ein Wirtschaftsimperium gebietet: Ich liebe dieses Land. Es hatte unter einem schrecklichen Krieg zu leiden, aber es ist meine Heimat. Also versuche ich dieses Geschäft aufzuziehen. Wissen Sie, was das bedeutet? Ich brauche Kabel aus China, Maschinen aus Europa, Software aus Indien, einen zuverlässigen Energieversorger und so weiter. Ich muss überall Vereinbarungen treffen, die oft nicht mit dem Gesetz in Einklang stehen. Überall bekomme ich von Freunden zu hören: »Hey, wir brauchen X, Y oder Z aus [einem anderen Land], kannst du das nicht mitbringen?«, und dann bringen wir alles ins Land, von Kugellagern über Software bis hin zu einer ganz neuen Weinpresse, mit der jemand hier ein Vermögen zu machen glaubt. Legal reinzukommen kann eine Art Todesstrafe sein. Die Steuern und all das ist schlimm genug, aber ehrlich gesagt habe ich keine Zeit für den endlosen Papierkram und was nicht noch alles. Ich muss meine Geschäfte vor Angriffen schützen, deshalb muss ich meine Wachen mit Waffen ausrüsten. Einmal habe ich bei der Armee um Schutz gebeten, und angesichts der Bedeutung meiner Unternehmungen für die »nationale Entwicklung« haben sie ungelogen mehrere LKW-Ladungen Waffen geliefert. Alte Waffen, neue Waffen, kaputte Waffen – sie haben einfach alles in die LKWs geworfen. Es hat Tage gedauert, bis wir dieses Durcheinander sortiert hatten. Sie haben sogar pan-
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zerbrechende Waffen geschickt – als wollten wir in einen richtigen Krieg ziehen. Sie haben jedenfalls genügend Waffen geschickt, dass ich meine Miliz ausrüsten konnte. Ich habe sie gebeten, etwa 90 Prozent des Ganzen wieder abzuholen, aber bis heute habe ich nichts von ihnen gehört. Natürlich lasse ich hier nicht einen Berg Waffen herumliegen, das würde ja geradezu einladen zu einem Angriff. Ich habe sie gegen einige Dinge eingetauscht, die ich dringend brauchte für meine Geschäfte. Ich könnte Ihnen noch viel erzählen. Es ist ein ständiges Hin und Her. Aber kommen Sie doch zum Essen vorbei, ich habe gerade eine Ladung russischen Kaviar bekommen.
Netzwerke sind wie die Märkte und die Politik, aus denen sie entstehen, Konstellationen ökonomischer, politischer, demografischer, historischer und kultureller Prozesse. Als solche sind sie dynamische und keine statischen Phänomene. Ähnlich wie die Konstellationen der Faktoren, welche die Netzwerke bestimmen, verändern sich auch die bestimmenden Merkmale der Netzwerke im Laufe der Zeit je nach äußeren Umständen. Vielleicht garantiert allein schon der außerstaatliche Charakter dieser Austauschsysteme ihren Erfolg. Die formellere Art staatlicher Systeme ist anfällig für bürokratischen Stillstand, während informelle Systeme leichter und flexibler auf die Nachfrage reagieren können. Ganz egal, wie man das bewerten will: Schlichte ethnografische Tatsache ist, dass diese nicht-staatlichen Netzwerke erfolgreich sind.
Laden im Norden Namibias, nahe der angolanischen Grenze, 2001, kurz vor Ende des Krieges in Angola.
8. Eine erste, vorläufige Definition der Schatten
Ich traf den Jungen in einer angolanischen Stadt, die während der heftigen Kämpfe 1993/94 völlig zerstört worden war. Die Kämpfe hatten sich mitten im Zentrum abgespielt; entlang der Hauptstraße verlief die Grenze zwischen den Streitkräften der MPLA-Regierung und den Truppen der UNITA.9 Zehntausende von Zivilisten kamen dabei ums Leben. Eines der schrecklichsten Vermächtnisse des Krieges sind die Waisenkinder. Eines Tages kam ich mit einem etwa zehnjährigen Jungen ins Gespräch. Er verkaufte ausländische Zigaretten und ich fragte ihn danach. »Einer der Geschäftsleute verkauft sie mir und ich verkaufe sie mit einem kleinen Gewinn auf der Straße weiter«, sagte er. »Und wie machst du das, wenn du noch überhaupt kein Geld hast, um welche zu kaufen?«, fragte ich. »Er gibt sie dir am Anfang umsonst, und du musst dann den Gewinn mit ihm teilen«, antwortete er. Ich hakte nach: »Und was ist, wenn du keinen Gewinn machst oder wenn dir irgendein anderes Straßenkind die Zigaretten wegnimmt.« »Dann kann dein Leben schnell zu Ende sein, so wie im Krieg.«
Er zeigte mir den Laden seines »Gönners«. In einem zerstörten Gebäude glänzten einem nagelneue Fernseher, Videorekorder und andere Luxusdinge entgegen. In einer Stadt, in der es an den nötigsten Lebensmitteln und an Strom fehlte, ganz zu schweigen von einem Tisch, auf den man den Fernseher stellen konnte, präsentierten sich die kosmopolitischen Träume aus den großen Städten dieser Welt den Passanten, die weder Hemd noch Schuhe besaßen. Aber irgend jemand musste über das nötige Geld verfügen, um diese Dinge zu kaufen und sie auch zu benutzen. Jemand, der nicht mit kwanza, der lokalen Währung, bezahlte. Ich blieb stehen und fragte den Jungen: »Du meinst, wenn du nicht Zigaretten für diesen Gauner verkaufen würdest, hättest du nichts zu essen?« »Für welchen Gauner?«, antwortete er.
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Diese Frage trifft den Kern der Sache in vom Krieg zerrissenen Gesellschaften. Die Rechte von Kindern, die in Friedenszeiten so eindeutig zu bestimmen sind, verlieren inmitten zerbrochener Welten ihre kristallene Klarheit. Und dieses Kind, das fern der globalen Wirtschaftszentren in Straßen voller Bombenkrater ausländische Zigaretten verkauft, verbindet sich mit den globalen außerstaatlichen Ökonomien, die jährlich Billionen umsetzen. Der Mann, der den Straßenkindern – von Angola bis Los Angeles – die Zigaretten gibt, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Art Bindeglied im Überschneidungsbereich von Schattentransaktionen, wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Macht. Wie die Geschäftsleute in Mozambique ist auch dieser Mann mit internationalen Netzwerken verbunden, die wertvolle Waren über internationale Grenzen transportieren können; er ist verbunden mit Netzwerken, die über die Rohstoffe verfügen, die sich in harte Währung verwandeln, mit der man dann diese Waren kaufen kann; und er ist als Geschäftsmann mit formellen staatlichen Systemen verbunden. Mit seinem finanziellen und geschäftlichen Erfolg verfügt dieser Mann auch über politische Macht. Er kann Politiker unterstützen, er kann über große staatliche Institutionen politische Vorschläge einbringen oder sich um ein politisches Amt bewerben. Er kann auch für internationale NGOs arbeiten, UN-Vertreter werden, in multilateralen Handelsausschüssen sitzen oder an Foren zum internationalen Recht teilnehmen. Seine außerstaatlichen Allianzen wird er vermutlich nicht aufgeben, wenn er eine offizielle staatliche Rolle übernimmt. Warum sollte er auch? Der junge Zigarettenverkäufer gemahnte mich daran, dass dieser Mann in erster Linie damit zu Geld und Macht gekommen ist. Es ist in der Tat ein schmaler Grat zwischen kriminellen Machenschaften und offiziellem Handel. *** Schatten, wie ich sie definiere, beziehen sich auf die ebenso komplexen wie vielfältigen ökonomischen und politischen Verbindungen zwischen Staaten, die außerhalb formell anerkannter staatlicher Kanäle verlaufen. Ich verwende den Begriff der Schatten (statt »kriminell« oder »illegal«), weil die Transaktionen, die diese Netzwerke bestimmen, nicht auf kriminelle oder illegale Aktivitäten beschränkt sind, sondern verschiedene Trennlinien zwischen legalen, quasilegalen und wirklich illegalen Aktivitäten überschreiten. Es geht hier nicht um einzelne Menschen, die im Schatten operieren, sondern um Netzwerke von Menschen, die weltweit Waren und Dienstleistungen bewegen – Netzwerke, deren Macht in vielen Fällen größer ist als die einiger Staaten auf dieser Welt. Ich bin auf dieses Forschungsgebiet gestoßen, als ich in verschiedenen Kriegs-
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gebieten unterwegs war, wo nicht-staatliche Akteure und Transaktionen vielleicht am deutlichsten sichtbar sind. Doch diese außerstaatlichen Netzwerke überspannen Krieg und Frieden gleichermaßen und alle Länder dieser Welt. Dabei geht es nicht nur um die Untersuchung solcher außerstaatlichen Transaktionen. Die Finanzkraft und die Macht dieser Schattennetzwerke zwingen uns auch dazu, unsere Theorien über Staaten, Souveränität und die »Orte« der Macht zu überdenken. Als zentrale Merkmale der Schatten, wie ich sie definiere, lassen sich dabei festhalten: (1) Außerstaatliche politische Ökonomien sind mehr als nur sich unkontrolliert ausbreitende, wertneutrale internationale Marktnetzwerke.10 Sie gestalten politische Chancen, verfügen über politische Macht und, wichtiger noch, bilden Kulturen aus, denn diese Macht- und Austauschnetzwerke werden durch Tauschregeln, Verhaltenskodizes sowie Abhängigkeits- und Machthierarchien, kurz: durch soziale Prinzipien und nicht nur durch das Gesetz des Dschungels »regiert«. (2) Die Netzwerke sind qua Definition international. Sie verwischen die Unterscheidungen zwischen klar abgrenzbaren Nationalstaaten und anerkannten politischen und nationalen Grenzen.11 Wir haben es mit Gesellschaftssystemen zu tun, die quer durch nationale, sprachliche und ethnische Kollektive verlaufen. (3) Diese Netzwerke sind stärker formalisiert, integriert und an Verhaltensregeln gebunden, als dies Untersuchungen zu grauen und schwarzen Märkten (vor allem für Waffen und Drogen) oder zu grundlegenden informellen Märkten (etwa für Lebensmittel) nahelegen. (4) Der Begriff »informell« meint nicht das Gleiche wie der Ausdruck »nicht-formell«, den ich zur Kennzeichnung der Schatten verwende.12 In vielen Definitionen bezieht sich der Begriff »informell« ausdrücklich auf ökonomische Aktivitäten im kleinen Maßstab, auf der Subsistenzebene, mit geringen Einkommen und geringer Technisierung. Die traditionelle Verwendung des Wortes »informell« hat das Verständnis des Verhältnisses zwischen Überlebensökonomien (im kleinen Maßstab), Korruption (im großen Maßstab) und außerstaatlichen Imperien (international) mitbestimmt. Mit Blick auf Mozambique hat Mark Chingono jedoch Folgendes beobachtet: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) … definierte die informelle Wirtschaft als ›einen Sektor der Armen‹, in dem ›das Motiv, in diesen Sektor einzutreten, im Wesentlichen ist, dass man überleben, und nicht, dass man Gewinn machen will‹ … Doch nicht alle an der Graswurzelökonomie Beteiligten waren arm noch ging es ihnen ums bloße Überleben. Korrupte Beamte und andere Berufsgruppen nutzten ihr Büro, ihren Einfluss und ihre Kontakte, um über die Graswurzelökonomie – beispielsweise durch Schmuggel, betrügeri-
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schen Export, Tauschgeschäfte, Spekulation, Bestechung oder Unterschlagung – an Geld zu kommen und damit in Immobilien, Hotels/Restaurants oder ins Transportwesen zu investieren. Aber auch korrupte Geschäftsleute, religiöse Führer, Angestellte internationaler Hilfsorganisationen, internationale Geschäftemacher und deren Mittelsmänner, Schmuggler, Geldhändler, Piraten, Sklavenhalter und Entführer zogen aus ihrer Beteiligung an der Graswurzelökonomie substanziellen Nutzen und wurden in vielen Fällen unverschämt reich.13
(5) Außerstaatliche Phänomene sind weltweit keineswegs von nur marginaler Bedeutung für Wirtschaft und Politik, sondern spielen eine zentrale Rolle. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass dabei insgesamt mehrere Billionen Dollar jährlich erwirtschaftet werden. Die folgenden Beispiele machen deutlich, um welche Summen es sich im Einzelnen handelt. Etwa 20 Prozent der weltweiten Geldeinlagen befinden sich bei unregulierten Banken und in Steueroasen.14 Die Vereinten Nationen schätzen den Wert der pro Jahr illegal gehandelten Drogen auf 500 Milliarden US-Dollar. Ähnliche Zahlen gelten für den Schwarzhandel mit Waffen.15 An dritter Stelle steht der Menschenschmuggel mit ebenfalls mehreren hundert Milliarden Dollar. Vergleichbare Gewinne streicht die Sex- und Pornoindustrie ein. Allein mit dem Schmuggel von Frauen, die als Prostituierte nach Japan, Deutschland oder Taiwan gebracht werden, werden in Thailand jährlich 3,2 Milliarden USDollar verdient.16 Oft konzentriert man sich vor allem auf die extrem kriminellen außerstaatlichen Aktivitäten und vergisst dabei, dass allein in den USA gerade einmal drei Formen der Wirtschaftskriminalität (Konsumentenbetrug, Unternehmenssteuerbetrug sowie Finanzvergehen von Unternehmen) jährlich zwischen 247 und 515 Milliarden US-Dollar kosten.17 In einem einzigen Land, nämlich Indien, wurde die Schattenwirtschaft Anfang der 1980er Jahre auf über 60 Milliarden US-Dollar geschätzt und sie ist seitdem deutlich angewachsen.18 In Peru arbeiten 48 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im »informellen Sektor«, in Kenia sind es 58 Prozent und in Russland liegt dieser Anteil möglicherweise noch höher.19 Das Apartheid-Regime in Südafrika war in Diamanten-, Gold-, Elfenbeinund Waffenschmuggel sowie Bankraub verwickelt. In kleineren Ländern kann ein einziger nicht-formeller Industriezweig enorme Summen erwirtschaften. So soll der außerstaatliche Handel mit Edelsteinen in Sierra Leone Ende der 1990er Jahre 500 Millionen US-Dollar jährlich eingebracht haben. Weltweit werden etwa 20 bis 40 Prozent aller Diamanten geschmuggelt.21 Und schließlich müssen illegale Einnahmen gewaschen werden, um verwendbares Geld zu erhalten. Michel Camdessus, ehemals Direktor des Internationalen Währungsfonds, schätzt, dass Geldwäsche zwischen zwei und fünf Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts ausmacht.21 Diese Zahlen erfas-
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sen jedoch nicht den wahren Umfang und die Reichweite der Geldwäsche, denn sie beruhen allein auf den dramatischsten illegalen Aktivitäten wie Waffen-, Drogen- und Menschenhandel. Andere weit verbreitete, aber weniger »aufregende« und deshalb auch weniger gut erforschte Einnahmen etwa aus dem Handel mit Lebensmitteln, Kleidung, Kunst, Mineralien, Informationstechnologie und Ähnlichem bleiben dabei unberücksichtigt. Die Schätzung, wie viel Geld genau jedes Jahr mit sämtlichen außerstaatlichen Aktivitäten erwirtschaftet wird, muss letztlich jedem selbst überlassen bleiben, aber insgesamt gesehen stellen sie in der heutigen Welt wichtige Geldund Machtfaktoren dar. Überdies wissen wir nicht, wie viele Menschen insgesamt daran beteiligt sind, aber ihre Zahl dürfte in die Millionen gehen. Die Macht, die die Lenker dieser außerstaatlichen Imperien besitzen, kann es durchaus mit derjenigen von Staatsführern aufnehmen, und diese Netzwerke können den Gang der internationalen Politik ebenso bestimmen wie der formelle Staatsapparat bestimmter Länder. Und dass diese Einkünfte über dem BIP einiger Länder liegen, wurde bereits erwähnt. Leider wissen wir nicht, wie sich diese riesigen Summen auf die globalen (Wertpapier-)Märkte, auf die wirtschaftliche Lage und auf politische Machtkonstellationen auswirken. Eines aber dürfte feststehen: Würden all diese Industrien über Nacht zusammenbrechen, würde das die Weltwirtschaft ins Chaos stürzen.
Überschneidungen und Il/Legalitäten Die Idee zum Roque-Markt entstand in einem Gespräch zwischen zwei Geschäftsleuten, die aus Luanda vertrieben worden waren. Zwei elende, marginalisierte Menschen, die sich nach vielen Schicksalsschlägen an einem verborgenen Ort nicht weit vom Meer trafen, um dort alles Mögliche zu verkaufen und damit ihre Familien über die Runden zu bringen … Von frischem Fisch über frisches Obst und Gemüse bis hin zu billigem Schmuck konnte man dort alles finden. Die Leute kamen von weit her, um einzukaufen, sie flohen vor der Enge der Stadt und der Gesellschaft mit all ihren Normen und Gesetzen, von denen sie gar nicht wussten, wie sie sie einhalten sollten, und vor den Vorurteilen, die sie nicht hinnehmen wollten. Die Vielfalt der Produkte sowie die bezahlbaren Preise lockten immer mehr Menschen aus der Umgebung an, die nicht nur kaufen, sondern auch das verkaufen wollten, was sie nicht mehr unbedingt brauchten. Schnell entstand daraus ein richtiger Markt, und weil sich die Menschen hier abseits der polizeilichen Überwachung trafen, kamen schon bald Produkte zum Verkauf, die heimlich aus den Nachbarländern importiert worden waren und nach kurzer Zeit sogar das Interesse der Hauptstädter weckten. Angelockt durch die »Vertraulichkeit« des Handels (es waren weit und breit keine Ordnungskräfte zu sehen), kamen
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schließlich auch Geschäftsleute, um Dinge zu verkaufen, die sie an ihrem Arbeitsplatz ehrlich oder auch unehrlich erworben hatten. Und irgendwann konnte man sogar Vertreter der Staatsmacht beobachten, wie sie hier einkauften und bewusst übersahen, was hier vor sich ging. Nach und nach war eine Oase der Freiheit entstanden, eine sozial, geistig und kommerziell freie Zone, ein Ort, um dem Druck zu entfliehen, den das Leben und seine Regeln auf so viele ausüben … Einige Menschen, die im Importgeschäft etwas aktiver waren und Beziehungen zu anderen, größeren Strukturen hatten, entdeckten, dass andere Kontinente wie etwa Europa bessere Chancen und Preise boten, und »eröffneten Handelswege« nach Asien, Amerika und in andere, stabilere afrikanische Länder. Und so wurde der Roque zu einem Ort, an den jeder kommen konnte, egal aus welchen Gründen, egal, ob vom Elend oder vom Gewinnstreben getrieben.22
Von Radios und Schulbüchern bis zu Ersatzteilen und Energiequellen – eine Gesellschaft braucht im Krieg wie im Frieden all das und noch viel mehr. Die Legalität dieser Waren ist oftmals fragwürdig. Doch stärker als der illegale Drogenhandel zeigen diese Güter des täglichen Bedarfs die enge Verwobenheit von formeller/staatlicher und nicht-formeller/nicht-staatlicher Wirtschaft und Macht. Eine einzige Ware überquert oft mehrmals in ihrem »Leben« die Grenzen zwischen Legalität, Schwarzmarkt und informellem Verkauf. Die Überschneidungen zwischen formellen und nicht-formellen Handelsrouten sind rätselhaft, und möglicherweise nutzen Händler diese Verbindungen, um das absolut Illegale zu »zähmen« – etwa wenn Drogen und Waffen sich entlang der fließenden Il/Legalität profaner Waren bewegen: Gewehre zusammen mit Getreidesäcken, kriegswichtige Software zusammen mit Videorekordern. Hoch kriminelle, informelle und banale Schwarzmarktwaren lassen sich in der Praxis nur schwer auseinander halten: Hinzu kommt alles, was Mehrwert genau deshalb erhält, weil es in einem bestimmten institutionellen Umfeld verboten ist: Schmuggel von allem und jedem von überall her nach überall hin, auch von spaltbarem Material, menschlichen Organen und illegalen Einwanderern; Prostitution; Glücksspiel; räuberische Kredite; Entführung; Schieberei und Schutzgelderpressung; Fälschung von Gütern, Banknoten, Finanzdokumenten, Kreditkarten, Personalausweisen; Auftragsmorde; Handel mit Geheiminformation, Technologie oder Kunstgegenständen; internationaler Verkauf gestohlener Güter; oder sogar das illegale Verschieben von Müll aus einem Land in ein anderes.23
Diese Überschneidungen von Macht, Il/Legalität, fragwürdiger Legitimität und dem Nicht/Formellen sind charakteristisch für Schattennetzwerke. Der Schmuggel von medizinischem Gerät ist ebenso Teil der Dynamik, die Schattenstaaten bestimmt, wie der illegale Drogen- und Waffenhandel. Zu verstehen, wie diese informellen, illegalen und legalen Netzwerke in Verbindung miteinander und über staatliche Grenzen hinweg weltweit entstehen und sich immer wieder reformieren, ist von entscheidender Bedeutung, um nicht nur
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die Prozesse des Krieges, sondern auch die des Wiederaufbaus nach dem Krieg sichtbar zu machen.
Entwicklung und außerstaatliche globale Netze Nicht-formelle Märkte haben einen weitaus größeren Anteil an der Weltwirtschaft, als formelle Indizes nahelegen. In Luanda sagten mir 1998 hochrangige Ökonomen der UNO und der Weltbank, dass Angolas Wirtschaft zu 90 Prozent informeller Natur sei. Angesichts der Tatsache, dass das Land durch politische Gewalt und Krieg völlig zerstört war und die Wirtschaft daniederlag, überrascht diese Zahl nicht. Doch das Beispiel Angola zeigt noch einen anderen Aspekt außerstaatlicher Transaktionen: Sie sind von fundamentaler Bedeutung – und politisch notwendig – für die Entwicklung in zerstörten Gemeinschaften. Das stellt die gängige Annahme auf den Kopf. Ihr zufolge nämlich sind außerstaatliche Transaktionen nicht erstrebenswert, da sie im Allgemeinen mit schwarz gehandelten Waren, kriminellen Netzwerken und entgangenen Steuereinnahmen assoziiert werden. Clement Jackson, Ökonom beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), drückte das so aus: »Entwicklung heißt vor allem, dass man für die Wirtschaft formelle staatliche Rahmenbedingungen schafft und nicht-formellen Aktivitäten ein Ende macht.«24 Für Länder wie Angola wäre es jedoch schlichtweg unmöglich, eine vom Krieg zerrissene Gesellschaft und Wirtschaft wieder zu kitten, ohne dabei in hohem Maße auf nicht staatlich gelenkte Entwicklung zu setzen. Diese Beziehung zwischen nicht-formeller Ökonomie, Übergangszeit nach einem Krieg und Entwicklung gilt freilich nicht nur für den afrikanischen Kontinent. Ein anderes Beispiel wäre etwa Kambodscha: Ende 1979 wollten die Kambodschaner nicht nur Reis. In den vorangegangenen zehn Jahren war unermesslich viel von ihrem nationalen und persönlichen Reichtum zerstört worden. Jede kambodschanische Familie hatte wesentliche Dinge des Lebens verloren. Nun begann sich das Land wieder einzudecken – auf einem einzigartigen Freiluftbasar entlang der Grenze zu Thailand in Orten wie Mak Moun und Nong Samet. Es dürfte sich dabei um den größten Freiluftmarkt weltweit gehandelt haben. Dort gab es so gut wie alles, was man sich nur vorstellen kann … Die Geldmengen, die dort den Besitzer wechselten, waren verblüffend und fast nicht zu glauben. An bestimmten Tagen flossen umgerechnet 500.000 US-Dollar aus Kambodscha über die Grenzen.25
Allgemein nimmt man an, dass die nicht-formellen Märkte in Osteuropa, in der ehemaligen Sowjetunion, in Afrika und Asien aus einer Kombination von
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sich verändernden politischen Regimen, sozialen Transformationsprozessen und ökonomischem Opportunismus resultieren. Sobald diese Länder eine normale staatliche Entwicklung nähmen, so die Theorie, würde auch ihre Wirtschaft zunehmend durch staatlich regulierte, formelle Strukturen bestimmt. Zwar geht man davon aus, dass es immer irgendwo Schwarzmärkte und mafiose Gruppen geben wird, sie würden die wahren globalen Machtstrukturen und die Weltwirtschaft jedoch allenfalls marginal beeinflussen. Ich fürchte, diese Annahmen gilt es gründlich zu überdenken. Noch in den abgelegensten Kriegsgebieten findet man so gut wie immer einen veritablen Supermarkt, dessen Waren entlang außerstaatlicher Linien ins Land und aus dem Land gelangen. Spürt man diesen Versorgungswegen nach, findet man große wie kleine Wirtschaftszentren: Das Laptop mit Satellitenverbindung (oder der Mercedes oder die Landmine) auf den Schlachtfeldern Afrikas wurde in einem der großen kosmopolitischen Zentren dieser Welt hergestellt, und das Gold, die Diamanten oder das Elfenbein, mit denen es bezahlt wurde, fließen über die gleichen Kanäle zurück in diese Zentren. Am Ende hat man den Eindruck, als würde diese nicht-formelle Wirtschaft in Deutschland, Japan oder den USA eine ebenso wichtige Rolle spielen wie in Gegenden mit rasanterem wirtschaftlichen und politischen Wandel.26 Statistiken taxieren Italiens außerstaatliche Wirtschaft auf 50 Prozent des BIP, die der USA auf 30 Prozent. In Kanada beteiligt sich ein Drittel der Bevölkerung an informellen Wirtschaftsaktivitäten. Das russische Arbeitsministerium schätzte 1995, dass 40 Prozent der Wirtschaftsaktivitäten im Land auf die Schattenwirtschaft entfielen, weitere 40 Prozent zwar über die offizielle Wirtschaft, aber an der Steuer vorbeiliefen und 6 Prozent nicht genau zu spezifizieren waren.27 Selbst die nicht-formellen Ökonomien entwickelter Länder erweisen sich somit als deutlich ausgeklügelter und ausgeprägter, als gemeinhin angenommen wird.
Staaten und/als organisiertes Verbrechen Die auf dem Staat basierende Ideologie unterscheidet streng zwischen legalen/staatlichen und nicht-legalen/nicht-staatlichen Aktivitäten. Kein Wunder, denn die raison d’être des Staates beruht zum größten Teil darauf, dass er im Gegensatz zu den »anarchischen« nicht-staatlichen Kräften für das Wohlergehen der Nation sorgt. Doch vielleicht definiert sich der Staat ja auch zum Teil über seine Überschneidungen mit dem Außerstaatlichen. In seinem Aufsatz über »War Making and State Making as Organized Crime« geht Charles
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Tilly davon aus, dass Krieg, Ausbeutung und Kapitalakkumulation bei der Herausbildung des Staates europäischer Provenienz zusammenwirkten, und behauptet, dass »Banditentum, Piraterie, Auseinandersetzungen in der Unterwelt, Polizei und Kriegsführung allesamt dem gleichen Kontinuum« bei diesem Prozess der Staatsbildung angehören.28 Unterscheidungen zwischen legitimen und illegitimen Kräften spielen dabei so gut wie keine Rolle. Staaten versuchen die Ausübung von Zwang gegenüber allen anderen zu monopolisieren – und was, so fragt Tilly, unterscheidet die von Staaten ausgehende Gewalt von der Gewalt, die jeder andere ausübt?29 Das staatliche Personal setzte die Gewalt sogar in viel größerem Maßstab ein, machte sie wirkungsvoller und effizienter, gewann in höherem Maße die Zustimmung der Bevölkerung und erhielt bereitwilliger Unterstützung von anderen Autoritäten, als dies beim Personal anderer Organisationen der Fall war. Doch es dauerte lange, bis sich diese Unterscheidungen überhaupt durchsetzten. Tilly befasst sich in seinem Aufsatz mit der Zeit, als sich in Europa Staaten herausbildeten, kommt jedoch auch im Blick auf die Gegenwart zu dem Schluss: »In unserer heutigen Zeit erweist sich die Analogie zwischen Staatenbildung und Kriegsführung auf der einen und dem organisierten Verbrechen auf der anderen Seite als in tragischer Weise zutreffend.«30 Möglicherweise sind die Verbindungen zwischen Kriegsführung, Banditentum und Ausbeutung notwendige Voraussetzung für den anhaltenden Erfolg des Staates.31 Denn eigentlich sorgen die politischen Institutionen eines Landes – und die sie bestimmenden Ideologien – zwangsläufig für stärkere politische Kontrolle, indem sie die Unterscheidung zwischen in/formeller Politik und il/legalen Aktionen aufheben, wenn dies politisch und militärisch ratsam erscheint. Damit werden außerstaatliche und kriminelle Aktivitäten in die alltägliche Arbeit der Regierungsinstitutionen eines Landes eingebettet. Das heißt nicht, dass jeder darin verwickelt ist, noch, dass die Institutionen im Grunde kriminell sind. Beides ist definitiv nicht der Fall. Ich würde jedoch behaupten, dass der moderne Staat im herkömmlichen Sinne auf der Formalisierung wie auf der Informalisierung ökonomischer und wirtschaftlicher Macht beruht. Damit stellt sich die Frage: Spielen die Millionen von Menschen und die Billionen von Dollar, die über nebulöse Demarkationslinien der Legalität fließen – wenn Güter, Menschen und Dienstleistungen an Zöllen und Kontrollen vorbeigeschleust werden und die damit erzielten Gelder gewaschen wieder in die formelle Wirtschaft gelangen –, eine zentrale Rolle für die grundlegenden Institutionen des Staates als solchem? Und verlaufen die Machtformationen außerstaatlicher Ökonomien parallel zu denen des Staates – bieten sie alternative Zugangswege zu sozialem Erfolg, Wirtschaftsimperien und politischer Macht?
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Staaten, Schatten und künftige Machtkonstellationen Unter politischen Beobachtern und Politikern, aber auch in der breiten Öffentlichkeit gelten Staaten sowie internationale Allianzen wie die Vereinten Nationen, einflussreiche internationale NGOs und multinationale Unternehmen als die einzig wirklichen Machtfaktoren, die die politischen Trends und die ökonomischen Realitäten bestimmen. Nicht-staatliche Organisationen werden nur insofern berücksichtigt, als sie ihre Aktivitäten über anerkannte Staaten und zwischenstaatliche Autoritäten betreiben. Nicht-staatliche Aktivitäten und Akteure, von Tauschgeschäften zwischen Armen bis hin zu großen internationalen Verbrecherkartellen, werden üblicherweise auf einer »substaatlichen« Ebene angesiedelt. Unabhängig von ihrem Einfluss gelten sie letztlich als marginal im Hinblick auf die Hegemonie des Staates. Anthropologen arbeiten seit langem mit vielfältigen Machtkonzeptionen, um jeden Einzelfall näher bestimmen zu können.32 Eines dieser Modelle ist der Staat: eine Form von Macht, die nach dem Mittelalter entlang territorial gebundener, rechtlich kodifizierter Linien entstand. Daneben bestehen über Raum und Zeit hinweg konkurrierende Systeme wie etwa die Schattenmächte, um die es uns hier geht. Kein einzelnes Machtsystem steht über anderen, keine ultimative Hegemonie bestimmt die Welt. Joel Siegel, Anwalt in Kalifornien, meinte, der Begriff »Schattennetzwerke« erinnere ihn an die Kaufleute im Mittelalter, die internationale Handelssysteme errichteten, welche königlicher Herrschaft enthoben sein sollten. Diese Kaufleute entwickelten Handelsvereinbarungen und Streitschlichtungsmethoden, die auf Schiedsverfahren beruhten, nicht auf Blutvergießen. An den Handelsplätzen richteten sie entsprechende Institutionen ein. Dies war für damalige Zeiten radikal, ja, es stand außerhalb königlichen Rechts. Und es bildet die Grundlage des Gewohnheitsrechts und des heutigen Handelsrechts. Die Kaufleute des Mittelalters trugen so zur Neugestaltung globaler Politik bei. Sie operierten international und in hohem Maße außerhalb der unmittelbaren Herrschaft der »Königtümer«. Die Handelsgesetze, die sie entwickelten, stellten die königliche Autorität grundsätzlich in Frage. Nachdem sie zu Reichtum und Macht gelangt waren, ebneten diese Kaufleute und Märkte den Weg hin zum modernen Staat und zum internationalen Recht, die an die Stelle traditioneller Monarchien traten. So betrachtet, sind die »Schatten« von heute möglicherweise Vorboten neuartiger Machtformeln, die erst schemenhaft am Horizont politischer und ökonomischer Möglichkeit zu erkennen sind. Man mag der Meinung sein, dass sich die Internationalisierung am stärksten in den kosmopolitischen Zentren dieser Welt manifestiert. Aber vielleicht sind Mozambique und Angola, Afrika
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und Asien die Orte, wo die neuen Machtkonstellationen, die die Welt prägen, am deutlichsten sichtbar sind.33 Denn hier prallen die Flexibilität, der Zusammenbruch der verfassungsmäßig festgeschriebenen Institutionen, die Politik des Überlebens und die Realitäten der Entwicklung am unmittelbarsten aufeinander.
Märkte aus der Asche. Kuito, Angola, 2001.
9. Die Schattenkulturen: Fleisch, Kartoffeln, Diamanten und Gewehre des Alltags
In dieser Geschichte geht es eigentlich um Fleisch und Diamanten, nicht um Kartoffeln. Aber es ist die Geschichte eines Anthropologen, und als solche entfaltet sie ihr ganzes »Aroma« erst im vollständigen Kontext. Haben Sie also Nachsicht mit mir. Die Geschichte hat vier Teile: Sie beginnt mit einer Kamera, beschäftigt sich mit einem Verrat, besucht eine Geburtstagsfeier und endet schließlich mit Fleisch und Edelsteinen. 1989 war ich zum zweiten Mal in Mozambique und besuchte dort erstmals die Küstenprovinz Zambézia. Der Krieg steuerte seinem Höhepunkt zu. Der Gesundheitsminister hatte mich gebeten, die curandeiros zu erforschen, die Stammesmedizinmänner: »Diese Form der Medizin und diese Heiler sind illegal, und wenn ich einen Mozambiquaner bitte, darüber zu forschen, könnte es ihnen politisch schaden, aber Sie kann ich fragen, Sie sind als Ausländerin von unseren internen politischen Auseinandersetzungen nicht betroffen.« Zu dieser Zeit wusste ich in der Tat noch nicht allzu viel über die Komplexitäten dieses Landes. Ich hatte einen Mann, der für eine bekannte internationale NGO tätig war, gebeten, mich bei den Interviews in Zambézia zu begleiten. Ich konnte zwar in der Landessprache arbeiten, dachte aber, dass es vielleicht hilfreich sein würde, jemanden dabeizuhaben, der der Stammessprachen mächtig war. Bei einem meiner ersten Interviews mit einer Gruppe von curandeiros fragte ich, ob ich sie fotografieren dürfe. Ein Mann trat auf mich zu und sagte, klar. Als ich fotografieren wollte, schnitt der Mann vor der Kamera alle möglichen Grimassen, und der automatische Fokus der Linse ging ständig auf und zu, sodass ich nicht fotografieren konnte. Ich lachte, er lachte und sagte: »Komm, mach das Foto.« Wieder Grimassen und das Auf und Zu der Linse, bis der Apparat schließlich ganz den Geist aufgab. Auf dem Rückweg in die Stadt meinte ich lachend zu meinen Begleitern: »Er hätte nicht unbedingt meine Kamera kaputtmachen müssen, um mir zu beweisen, was für ein mächtiger curandeiro er ist.« Am nächsten Tag flog ich mit der Frachtmaschine einer Hilfsorganisation in eine Stadt, die am Schnittpunkt der Frontlinien lag. Alle medizinischen Einrichtungen und Ressourcen waren zerstört und geplündert, und nur die
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curandeiros kümmerten sich um die kaputten Körper und Seelen. Der Mann von der NGO begleitete mich, verschwand aber gleich nach unserer Ankunft. Unterwegs sah ich, wie er von einem anderen Mann eine Tasche ausgehändigt bekam, und als er mich erblickte, versuchte er sie schnell zu verstecken. Wir verloren kein Wort über diese Tasche, aber wie sich später herausstellte, erzählte er jemandem anderen davon und gab der Geschichte dabei eine ganz andere Wendung. Zurück in der Provinzhauptstadt Quelimane, traf ich mich auf Empfehlung des Gesundheitsministeriums mit einigen Männern, die hier für die mozambiquanische Dachorganisation tätig waren, die alle Hilfsgelder und Hilfstätigkeiten koordinierte. Wir machten uns an einen der Orte auf, an dem sie tätig waren, doch einer der Männer hatte am nächsten Tag Geburtstag, und jemand hatte ihm von einem Schwein erzählt, das er für das Festmahl bekommen könne. Wir mussten einen Umweg machen, um Geld für das Schwein aufzutreiben, dann Benzin eintauschen, um in die nächste Stadt zu kommen, und schließlich den Besitzer des Schweins ausfindig machen, um mit ihm handelseinig zu werden. Als wir uns endlich auf den Weg zur Arbeit machten – mit dem lebenden Schwein im Gepäck –, musste dringend das »Notwendigste« fürs Abendessen besorgt werden. Wieder eine ganze Reihe von Umwegen. Etwa sechs Stunden später hörten wir von einigen Angriffen an der Küste und fuhren hin, um nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Als wir dort eintrafen, kam ein Mann mit einer Gitarre an, und ein anderer suchte etwas zum Trommeln, und schon bald hatte sich eine richtiggehende Band gefunden. Wir waren nicht im Entferntesten zu dem gekommen, was wir eigentlich vorgehabt hatten. Ich nahm schließlich Abschied von meinem Vorhaben und beteiligte mich an dem Tanzen und Singen, das bis spät in die Nacht dauerte. Am nächsten Tag wanderte ich allein durch die Straßen, denn mein Begleiter hatte mir die Nachricht hinterlassen, er sei in die Hauptstadt zurückgefahren. Einer der Männer vom Vortag kam verkatert zu mir und meinte: Du hast mit uns getanzt, und deshalb kann ich dir sagen, dass der Typ von der Hilfsorganisation unserem politischen Boss hier erzählt hat, du würdest Steine transportieren. Kann sein, dass du jetzt ein Problem hast.
Steine transportieren? Wann hatte ich »Steine transportiert« und was sollte das für ein Problem sein? Doch dann dämmerte mir, dass damit das Schmuggeln von Edelsteinen gemeint war. Da mir nichts Besseres einfiel, ging ich zu besagtem politischen Führer und fragte: »Ich habe gehört, ich hätte ein Problem. Was soll ich machen?« Er fragte, ob ich Edelsteine schmuggelte, und ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich das nicht tue, aber seine Besorgnis verstehen könne, denn er kenne mich ja überhaupt nicht. Lächelnd sagte er:
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Nein, ich glaube nicht, dass Sie hier irgend etwas Illegales treiben. Sie haben niemals eine Kamera dabei [ich hatte die kaputte Kamera tief unten in meiner Reisetasche verstaut] und machen keine unschicklichen Fotos. Ich habe entschieden, dass Sie bleiben und Ihre Arbeit hier fortsetzen können.
Bis heute denke ich an diesen alten curandeiro und daran, dass meine Kamera kaputtging. Doch als ich allmählich mehr über den Krieg und das Überleben wusste, bekam der Zwischenfall ganz andere Untertöne. Die Stadt, in die ich mit dem Mann von der NGO – der offenbar Edelsteine schmuggelte – gefahren war, lag deshalb am Schnittpunkt der Frontlinien, weil dort Diamantenminen lagen. Diese Edelsteine befinden sich inmitten ausgebombter Gebäude und Lehmhütten von Flüchtlingen in Mozambique, strahlen jedoch auf mächtige wirtschaftliche und politische Kreise in der ganzen Welt aus. Auch Schweine zirkulieren. Zum Überleben braucht man Fleisch und Reis, Treibstoff und eine Währung, mit der man Geschäfte machen kann. Die ökonomische Lebensfähigkeit kann davon abhängen. Informelle Transfers vollziehen sich jenseits formeller Wirtschaftsstatistiken. Häufig glaubt man, eine Frau, die Tomaten gegen Antibiotika eintauscht, sei zu »unbedeutend«, als dass sie nationale Wirtschaftsindizes ernsthaft beeinflussen könnte. Doch Alexander Aboagye, der von 1998 bis 2000 als Ökonom für das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) in Luanda tätig war, erzählte mir: Jeder denkt, mein Gott, eine Person, eine Tomate. Aber jeder hier überlebt, indem er mit solchen und ähnlichen Dingen handelt, und das macht insgesamt elf Millionen »Tomaten«. Denken Sie an all die Waren und Dienstleistungen, die jeden Tag in Umlauf sind, die sich ständig im Land und über die Grenzen bewegen. Elf Millionen Tomaten stellen eine ganz beachtliche Wirtschaftskraft dar; die Ironie jedoch ist, dass niemand die Gesamtsumme dieses riesigen Marktes wirklich realisiert, die Tatsache, dass er so etwas wie die Grundökonomie dieses Landes darstellt.
Die Schweine und die Tomaten, die Edelsteine und die Waffen sind Markttransaktionen – rational, wenn auch moralisch nicht immer einwandfrei. Doch das Leben inmitten der Schatten ist nicht nur von der Logik der Marktsysteme bestimmt. Damit niemand glaubt, bei diesen Macht- und Profitnetzwerken handle es sich lediglich um wertneutrale Transaktionen, sei explizit betont: Für denjenigen, der im Schatten agiert, besitzen Verrat, Kameradschaft und die nicht quantifizierbaren menschlichen Werte eine Bedeutung, die die Tiefen von Kultur und Identität auslotet. Dieses Kapitel wendet sich deshalb dieser umfassenderen ontologischen Welt der Schatten zu: den Träumen und Realitäten sowie den Gemeinschaften, die sich um diese fragilen Bestrebungen herum ausbilden.
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Auf der Spur der Diamanten Es gibt hier unendliche Geschichten von Diamanten, erzählte mir der Mann im angolanischen Kuito 2001. Nehmen Sie zum Beispiel Marra: Sie lebt am Fluss Kwanza, und dort finden sich auch Diamanten. Ihr Bruder arbeitet ein wenig im Bergbau – je nach Lage und Notwendigkeit in den Bergwerken einer der beiden Kriegsparteien –, um über die Runden zu kommen. Eines Tages findet er einen schönen Edelstein und behält ihn. Kurz darauf führt die Regierung einen Schlag gegen die UNITA, bei dem Marras Bruder getötet wird. Marra nimmt den Edelstein, versteckt ihn zwischen ihren Zähnen und flieht mit ihren Kindern und mit nichts sonst. Es ist eine humanitäre Katastrophe; aber die deslocados, die Flüchtlinge wissen, dass es in Kuito Essen und Hilfe gibt, und wer noch die Kraft dazu hat, marschiert weiter. Marra ist endlose Meilen und unzählige Tage unterwegs, ohne Decken, ohne Nahrung, ohne Geld. Sie und ihre Kinder ernähren sich von Pflanzen, die sie am Wegesrand finden. Sie hat nichts mehr. Aber sie behält den Edelstein; sie weiß zwar nicht, was er wert ist, aber sie weiß, dass er etwas wert ist. Decken und etwas zu essen sind das, was sie am dringendsten braucht. In Kuito gibt es Leute, die ein wenig Geld haben; sie besitzen vielleicht eine Bar oder einen Laden in der Stadt und haben ein Auto. Sie wissen, wann die Flüchtlinge in die Stadt kommen, und sie wissen, dass einige von ihnen wahrscheinlich Edelsteine und andere Wertgegenstände dabei haben. Sie geben Marra vielleicht 20 Dollar für ihren Stein. Anschließend müssen sie ihn verkaufen. Er ist noch immer nicht wahnsinnig viel wert, sie bekommen vielleicht ein paar hundert Dollar dafür. Der Stein muss »gewaschen« werden, damit er etwas wert ist, und das passiert denn auch. Der Stein wandert die Kette entlang, erst in die Hauptstadt Luanda und dann weiter nach Europa. Wie aber gelangt dieser Stein zu den europäischen Diamantenhändlern? Und was kommt dafür nach Kuito? Nahrungsmittel, und zwar vor allem aus Portugal, denn die alten Handelsrouten aus Kolonialzeiten sind noch immer vorhanden; man ist es so gewöhnt. Deshalb folgen die Steine dieser alten Route: Kuito – Luanda – Portugal – Europa. Das ist nur eine Geschichte, die von Marra. Ein Mensch, ein Edelstein, eine Route. Multiplizieren Sie das einfach.34
Um einen Diamanten aus einer Mine in Angola zu schaffen (oder Gold aus dem Amazonas; Tropenhölzer aus Südostasien; Drogen aus Afghanistan oder Kolumbien), bedarf es eines ausgedehnten Netzwerks von Menschen. Das beginnt mit dem Kumpel, der die Edelsteine abbaut, und setzt sich fort mit demjenigen, der das Werkzeug für den Kumpel produziert, dem Koch, der ihn oder sie versorgt, und den Lehrern, welche die Kinder des Bergmanns unter-
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richten. Es ist nämlich keineswegs so, dass Bergleute in Afrika marginalisiert, arm und ungebildet sind. In Sierra Leone etwa verfügte während des Krieges Mitte der 1990er Jahre eine beträchtliche Anzahl von Bergarbeitern über eine höhere Bildung (mitunter sogar über einen Universitätsabschluss) und dürstete geradezu nach internationalen Nachrichten und Waren.35 Von gleicher Bedeutung sind die Beziehungen der Einschüchterung und der Besteuerung, die zwischen den Soldaten und dem Kumpel, dessen Familie und der Gemeinschaft der Bergleute bestehen. Militärs nutzen Ressourcen, um an die ausländische Währung zu kommen, mit der sie Waffen und Vorräte kaufen, setzen jedoch auch ein ausgeprägtes Tauschsystem in Gang, das mit globalen Warenströmen verbunden ist. Weil diese Edelsteine das Land nicht als ordentlich versteuerte und staatlich kontrollierte Waren verlassen, bedarf es eines weiteren Netzwerks von Menschen, die sie mit einem Maximum an Profit und mit einem Minimum an Strafen durch die Grenzkontrollen bringen. Man braucht Fahrzeuge, um die Waren zu transportieren; und man benötigt Fahrer oder Piloten, Mechaniker und eine ganze Reihe weiterer Menschen, Güter und Dienstleistungen, um diese Edelsteine aus den Minen Afrikas etwa ins belgische Antwerpen zu bringen. Die letzte Stufe – das »Einspeisen« der inoffiziellen Diamanten in den Weltmarkt (die ersten beiden Stufen sind die Erlaubnis, die Diamantenregionen zu betreten, und die Gewinnung der Diamanten) – erweitert die Zahl der für außerstaatliche Tauschgeschäfte benötigten Helfer über Produktion und Transport hinaus. Es gibt heute ganz spezielle Berater, die davon leben, den Leuten zu zeigen, wie sie außerstaatliche und illegale Güter transportieren und »waschen«. Und es gibt sogar weltweit »Unternehmen«, die illegale (aber vollkommen verlässliche) Versicherungen anbieten, mit denen man sich gegen die Beschlagnahme oder den Verlust von Schmuggelware absichern kann.36 Andere bieten gefälschte Dokumente wie etwa Zollerklärungen oder Frachtbriefe an. Einige »begabte und zuverlässige« Fälscher haben sich einen internationalen Ruf erarbeitet und verfügen über transnationale Geschäftsbeziehungen und eigene Websites. Und schließlich bedarf es weiterer Netzwerke, welche die Edelsteine kaufen, sie in harte Währung umtauschen und gegen andere wertvolle Dinge eintauschen. Die gleiche Art von Netzwerken kauft Waffen und Nachschub und transportiert sie über die Grenzen zu den (außerstaatlichen) Käufern. Wer wird in solchen Ökonomien reich? Von den urbanen Zentren bis zu den entlegensten Winkeln gibt es Menschen, denen es unter diesen Bedingungen gut geht, die von der politischen Instabilität oder dem gesellschaftlichen Chaos profitieren, welches normative und rechtliche Beschränkungen reduziert. Mafiose Organisationen und internationale Kartelle funktionieren unter
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diesen Umständen reibungslos, ebenso multinationale Unternehmen und Konsortien, die bereit sind zu solch hoch spekulativen Geschäften. Diese nichtformellen Märkte und Händler laufen parallel zu Marktsystemen im »Kolonialstil« und machen sich diese sogar zunutze: simple Ausbeutung von Arbeitskraft und Ressourcen, die über ebenso schlichte Routen in die kosmopolitischen Zentren überall auf der Welt gelangen. Das ist die Grenz-Situation: der gefährliche Transport der dringend benötigten Alltagsgüter zu den Millionen Menschen, die darauf angewiesen sind; das wilde Spekulieren mit riesigen Vermögen; und die Schutz-, Zins- und Herrschaftssysteme, die diesen verschiedenen Unternehmungen zum Erfolg verhelfen. Von den freundlichen Frauen, die Tomaten gegen Medikamente verkaufen, über Syndikate, die mit Edelsteinen, Drogen und Computern handeln, bis hin zu gewalttätigen Waffenschmugglern, die für die Zeit nach dem Krieg Waffen an Großstadtkriminelle verkaufen – in diesen Zeiten des Übergangs tritt der nicht/formelle Sektor ins Rampenlicht.
Die soziale Welt des Schmugglers: Die Kultur der Schattennetzwerke Profiteure, Schmuggler und Schwarzmarkthändler sind keine isolierten Akteure, die nur lose über ein Netz des Profits miteinander verbunden sind. Zwar lässt der Begriff »Schmuggler« an ziemlich finstere Gestalten denken, die entweder allein oder mit anderen ihres Schlags arbeiten. Doch in Wahrheit haben die Bauern, die Schlafmohn anbauen, und die Bergleute, die Edelsteine einstecken, Familien und Kinder, für die sie sorgen müssen. Die LKW-Fahrer, die diese Waren transportieren, brauchen Reifen und Ersatzteile für ihre Fahrzeuge und müssen die Zahnarztkosten für sich und ihre Familie genauso bezahlen, als würden sie Cornflakes transportieren. Piloten, die an offiziellen Flugschulen ihre Lizenz erworben haben, fliegen Schmuggelware und tragen dabei häufig ihre Berufsuniform. Der Bankangestellte, der Gelder wäscht und eine mit geschmuggelten Diamanten besetzte Rolex-Uhr kauft, und der Student, der mit Drogen handelt, um sein Studium zu finanzieren, mögen nicht so recht zum Bild vom gefährlichen Drogenbaron passen, sind aber für das gesamte Unternehmen genauso wichtig wie die Bauern und die Transporteure. All diese Menschen sind zutiefst in die Windungen des alltäglichen zivilen Lebens verstrickt: Sie haben Familie; sie gehören Bürgervereinigungen an; sie haben Gemeinschaftsämter inne; und sie zahlen Rentenbeiträge für ihre Altersversorgung. (Die Söldnerorganisation Executive Outcome etwa zahlt ihren
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Soldaten eine Rente.) Von den zwischenmenschlichen Beziehungen bis zu den illegalen Transaktionen interagieren »Schmuggler« in sozialen Welten, die die Grenzen zwischen legal und illegal gemäß bestimmten Codes und Verhaltensregeln überschreiten, die ebenso hoch entwickelt sind wie diejenigen, an die sich die Menschen innerhalb der rechtlich anerkannten Institutionen einer Gesellschaft halten. Und sie selbst betrachten sich keineswegs als Schmuggler. Der Geschäftsmann Leo, den ich im vorangegangenen Kapitel zitiert habe, hält sich nicht für einen Schmuggler – obwohl er die internationalen Gesetze und Regelungen genau kennt, die den Waren- und Menschenfluss überwachen. »Ich helfe meinem Land«, sagt er und meint das ganz aufrichtig so. Wir versuchen alle inmitten endloser Behinderungen zu arbeiten. Kaputte Infrastruktur, Landminen, Korruption, exzessive Steuern, widersprüchliche Regelungen, eine langsame und ineffiziente Bürokratie, eine einseitige internationale Handelspolitik, Patronage – Sie geben dem allem einen Namen, wir haben damit zu kämpfen. Wenn Sie sichergehen wollten, dass ein Land sich nicht so recht entwickelt, würden Sie all das erfinden. Doch ohne Entwicklung stirbt dieses Land; die Menschen verhungern. Wir sorgen dafür, dass die Dinge funktionieren, wir bringen Waren, Industrie, Arbeitsplätze ins Land. Wir bauen Handelssysteme auf, kurbeln die Produktion an und bringen das Notwendigste herein. Wir sorgen für Arbeit und Jobs. Ehrlich gesagt sind die Systeme, mit denen wir arbeiten, deutlich besser organisiert als die Regierungen, mit denen wir zu tun haben.
Auch Piloten wie Joe, die humanitäre Hilfslieferungen in umkämpfte Frontstädte bringen und gefragt werden, ob sie nicht auch Schmuggelwaren und Nachschub für beide Kriegsparteien transportieren wollen, würden sich selbst nie als Schmuggler bezeichnen, auch wenn sie ganz genau wissen, dass sie Waren über alle möglichen legalen und internationalen Grenzen fliegen. Wir werden dafür bezahlt, ein Flugzeug zu steuern. Wir haben unsere Flugpläne. Das ist unser Job. Von Anfang bis Ende sind es nicht wir, die die Entscheidungen treffen – nicht, welche humanitäre Fracht wir an Bord nehmen, nicht, wo wir sie hinbringen, und auch nicht, wie oft wir pro Tag fliegen. Verdammt noch mal, wir haben bei jedem Hilfsflug ein oder zwei Tonnen zu viel an Bord, und nicht einmal daran können wir etwas ändern, das ist eben unser Leben. Wir arbeiten, wir fliegen, aber wir zählen nicht die Schüsse. Dir gefällt etwas nicht, du fliegst nicht, du arbeitest nicht. So einfach ist das. Schauen Sie, ich habe meine Streifen [auf der Uniform] – ich bin Pilot, das kann mir keiner nehmen. Wir fliegen in Gegenden, in die niemand fliegen würde, der noch alle seine Sinne beisammen hat, und wir halten die Menschen am Leben. Das ist es, was wir am Ende eines langen Tages mit nach Hause nehmen.
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Und auch der Mitarbeiter der Hilfsorganisation, der mich nach Zambézia begleitete und »inoffiziell« Edelsteine schmuggelte, würde sich nie als Schmuggler betrachten. Er kennt die Gesetze und die Strafen, die auf deren Übertretung stehen, doch der Krieg und die Entbehrungen und das Geld, das sich verdienen lässt, sind eine viel größere Kraft in seinem Leben. Als ich in die Hauptstadt zurückkehrte, stellte ich ihn zur Rede und fragte ihn, warum er Edelsteine schmuggelte und warum er die Geschichte erfunden hatte, ich würde Diamanten schmuggeln. Ich bin im Gefängnis gelandet dafür, dass ich im Krieg auf der »falschen Seite« stand. Sie haben es als Umerziehungslager bezeichnet, aber ich wurde gefoltert und schlecht behandelt. Als ich rauskam, floh ich in ein Nachbarland und lebte dort in ständiger Angst, eines Tages aus politischen Gründen mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden zu werden. Ich vermisste meine Heimat, und ich spürte das als körperlichen Schmerz. Mein Familie war dort, meine Frau und meine Kinder. Mein Leben, mein Land und all meine Erinnerungen lagen dort. Ich liebte meine Heimat und hatte zugleich Angst vor ihr. Also habe ich aus der Ferne zugesehen, zugehört und Fragen gestellt, und als es sicher schien, kam ich nach Hause. Aber seitdem ist mein Leben voller Angst und Wut. Sie haben einmal gesagt, die Polizei sei in vielen Ländern ähnlich, aber Sie haben keine Ahnung. Sie wissen nicht, was aus diesen Leuten geworden ist, was der Druck aus ihnen gemacht hat, was sie jemandem antun können, was mit jemandem passiert, der ihnen ausgeliefert ist. Und während sie uns nach und nach zerbrechen, werden die Reichen immer reicher. Und warum? Warum sie und nicht ich? Ich habe alles verloren. Zuerst, als ich auf der »falschen Seite« stand, dann im Lager, dann, als ich in einem anderen Land lebte, und schließlich hier, wo ich mich ständig umblicke. Wann sollte ich denn ein Haus bauen und für meine Familie sorgen? Eine gute Stellung bekommen? Wann sollte ich meinen Anteil bekommen? Ich sehe, wie meine Freunde auf der »richtigen Seite« ihre Kinder auf gute Schulen schicken, schöne Autos fahren, sich mit Freunden auf ein Bier treffen und sich entspannen, ohne ständig von Sorgen geplagt zu sein. Und ich sehe, dass meine Kinder in eine Schule gehen, in der es nicht genügend Stühle gibt, ganz zu schweigen von den Lehrern; ich gehe zu Fuß zur Arbeit und habe ständig Kopfschmerzen. Verstehen Sie, was ich meine? Die Welt ist ein rauer Ort, und ich werde tun, was ich tun muss, um zu überleben und für meine Familie zu sorgen.
Der hochrangige Militär, der durch irregulären Handel »Geld eintreibt« und davon profitiert, dass er rohstoffreiche Gegenden kontrolliert, ist keineswegs der Meinung, dass er gegen Gesetze verstößt, im Gegenteil: Was ich tue, tue ich um meines Landes willen. Wir befinden uns im Krieg. Dafür benötigen wir Rohstoffe, Nachschub, Infrastruktur. Die Regierung kann das alles nicht
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von sich aus leisten, welche Regierung kann schon einen Krieg ganz alleine führen? Jeder hat Verbündete. Was glauben Sie, wie wir an das Zeug kommen, das wir brauchen? Wie macht man das gemeinhin so? Um einen Krieg führen zu können, ist eine Grundvoraussetzung, dass die Regierung stabil ist. Und mein eigener Gewinn? Meine Kontrolle über den Zugang zu wichtigen »Geschäftsorten«? Damit behalten wir die Kontrolle, wir halten Menschen in Arbeit und die Probleme draußen. Es kann einfach nicht sein, dass jeder hier Geschäfte macht und Industrie ansiedelt. Möglicherweise machen die Falschen Gewinn und unterstützen damit diejenigen, die uns bekämpfen. Wer das Militär kennt, wer schon lange hier ist, der weiß, was läuft, wem er trauen kann und wem nicht. Wir haben einen Überblick über diese Dinge, und zwar aus dem einen Grund, um unser Land stabil zu halten.
Schließlich empfindet man auch in den kosmopolitischen Zentren – also dort, wo die Waffen produziert, die Rohstoffe für den Weltmarkt verarbeitet und das Geld deponiert werden – so gut wie keine Verantwortung für das, was geschieht. Waffenproduzent: Wir produzieren und verkaufen Waffen, wir haben jedoch keinen Einfluss darauf, wo diese Waffen letztlich landen und wofür sie benutzt werden. Diamantenhändler: Klar kommen hier »Blutsteine« an, und manche behaupten, sie könnten erkennen, aus welcher Mine ein Stein stammt, ob er dazu dient, Waffen zu kaufen. Das mag sein. Aber wenn es ein gutes Geschäft ist, dann ist es einem möglicherweise auch egal. Bankdirektor: Natürlich bereitet uns die Geldwäsche Sorge. Aber erwarten Sie allen Ernstes, dass wir die Einlagen bei uns bis zu ihrem Ursprung verfolgen, wenn das überhaupt möglich ist?
An der Front, wo die Rohstoffe abgebaut und die Waffen zum Einsatz kommen, schmuggeln die Mächtigen und die Elite; der Rest kämpft ums Überleben. Hier tauscht eine Frau ein Sturmgewehr gegen ein Huhn ein, um ihre Familie durchzubringen. Hier arbeitet ein Mann unter gefährlichen und harten Bedingungen im Bergwerk, weil er entweder vom Militär oder von Geschäftsleuten, die das Geld brauchen, dazu gezwungen wird oder weil er hofft, genug zu verdienen, um damit sein Schicksal zu verbessern. Ohne die Armen und die Machtlosen, die diese Arbeit tun, lassen sich weder das offizielle noch das Schattensystem aufrechterhalten. Meine Optionen? Erschossen zu werden, zu verhungern, oder diese Arbeit zu verrichten … Wofür würden Sie sich entscheiden?
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Vertrauen inmitten der Schatten Eine der interessantesten Fragen im Hinblick auf die internationalen ökonomisch-politischen Schattennetzwerke ist, wie diese ungeheuren Mengen an Waren und Geld, die solch hochkomplexen Austauschrouten und politischen Assoziationen folgen, so reibungslos fließen können. Anders ausgedrückt: Jonas Savimbis Edelsteine gelangten nach Antwerpen und von dort auf Ringe an unseren globalen Fingern, ohne dass dafür mehr Menschen ermordet oder mehr Verwüstungen angerichtet worden wären als bei staatlich organisierten Transaktionen. Die informellen Banken in Asien, über die Milliardensummen fließen, funktionieren in gewisser Weise wie staatlich geförderte Banken, denn in beiden verlieren die Kunden ihr Geld gewöhnlich nicht. Kurz gesagt: Das System funktioniert. Wie es funktioniert, ist eine ganz andere Sache. Viele Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, sagen, das System funktioniere deshalb, weil, wenn es das nicht täte, die Menschen schlicht ermordet würden. Das mag stimmen oder auch nicht; Tatsache ist, dass es sich um eine Vermutung handelt, denn die Menschen verfügen über keine repräsentativen Zahlen. Wir wissen schlicht und einfach nicht, wie diese ungeheuren Milliarden-bis-Billionen-Systeme im Alltag funktionieren. Eine der Antworten auf die Frage, warum diese internationalen außerstaatlichen Netzwerke so gut funktionieren, lautet, dass die Menschen in diesen Systemen im Allgemeinen darauf vertrauen, dass die Transaktion wie angekündigt ablaufen wird und dass ihnen dabei nichts geschieht.37 »Korruption«, schreibt Diego Gambetta, »erfordert Vertrauen.« Und weiter: Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Kausalität dieser Kooperationsformen vertieft darzustellen, die unabhängig von Vertrauen funktionieren, sondern es geht um die Tatsache, dass sich eine Beschränkung auf das Vertrauen als Strategie keineswegs so leicht verallgemeinern lässt, wie es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein hat, und dass man, falls es riskant ist, ganz auf Vertrauen zu setzen, zu scheitern droht, wenn man verstehen will, wie Vertrauen funktioniert, welche anderen Kräfte dabei am Werk sind und in welchem Verhältnis es zu den Kooperationsbedingungen steht. Angesichts der äußerst spärlichen Literatur zu diesem wichtigen Thema hat es fast den Anschein, als seien die Beschränkung auf das Vertrauen und die Beschränkung darauf, es zu verstehen, zu Unrecht aneinandergekoppelt.38
Ernest Gellner liefert einen interessanten Hinweis darauf, welche Rolle dem Vertrauen inmitten des Chaos zukommt: »Das Hobbes’sche Problem ergibt sich aus der Annahme, Anarchie, die Abwesenheit von Zwang, führe zu Misstrauen und sozialer Desintegration … Es finden sich jedoch eine ganze Reihe interessanter empirischer Belege, die auf das genaue Gegenteil hinweisen. So paradox es klingen mag: Es ist gerade die Anarchie, die Vertrauen oder,
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wenn man lieber einen anderen Ausdruck verwenden will, soziale Kohäsion schafft.«39 Es liegt eine gewisse Portion Ironie darin, dass sogar Hobbes erkannt hat: Netzwerke des Eigeninteresses wurzeln in kulturellen Codes des Vertrauens. Gellner zeigt, dass es darum geht zu verstehen, wie das, was man üblicherweise für Anarchie hält, sich mit Muster und Wert füllt. Als Beispiel mögen noch einmal die humanitären Hilfsflüge dienen, die für private geschäftliche Lieferungen aller möglichen Waren genutzt werden. Damit ein Geschäftsmann eine Fracht an Punkt X an Bord nehmen und nach Y fliegen kann, bedarf es einer ausgedehnten Assoziationskette, die ein gehöriges Maß an Vertrauen enthält. Unternehmer müssen darauf vertrauen, dass die Mittelsmänner in der Frachtkette ihren Namen nicht an die Behörden weitergeben oder die Ladung stehlen; sie müssen darauf vertrauen, dass die Grenzpolizisten und Zöllner ihre Günstlinge nicht verhaften oder die Ladung stehlen. Wir haben es hier mit internationalen Allianzen zu tun, sodass die Menschen nicht ausschließlich auf familiäre, ethnische und nationale Loyalitäten bauen können; sie müssen Assoziationen zwischen unterschiedlichen Sprachen und Identitätsgruppen schaffen. So schreiben Janet MacGaffey und Rémy Bazenguissa-Ganga in ihrer Untersuchung der »sekundären Ökonomie« Paris-Kongo: »Da die Händler kühn in fremde Länder fahren, brauchen sie Gastfreundschaft und Hilfe beim Kauf ihrer Waren. Sie sagen: ›Es ist schwierig, wenn man niemanden kennt; wir müssen uns gegenseitig helfen; man hilft uns und im Gegenzug helfen wir anderen.‹ Für diese Hilfe vertrauen sie auf persönliche Beziehungen, die mitunter auf familiären Bindungen beruhen, häufiger jedoch auf Bindungen, die auf Ethnizität, Nationalität, Religion oder Freundschaft gründen.«40 Das Vertrauensniveau bei Schattenaktivitäten nimmt von der Produktion über die Beschaffung bis zur Lieferung exponentiell zu: Überwachungsorganisationen müssen aus dem Informationskreislauf herausgehalten werden; die Behörden, die Transport, Inspektion und Grenzkontrollen überwachen, müssen bestochen oder anderweitig entschädigt werden; bei den Arbeitern muss man darauf vertrauen, dass sie ihre Arbeit verrichten, ohne Loyalitäten zu verletzen oder sich mit der Fracht aus dem Staub zu machen. Auf nationaler Ebene hat die Tatsache, geschäftlich in einem Kriegsgebiet tätig zu sein, das einzige Allradfahrzeug in der ganzen Stadt zu besitzen oder über die Mittel zu verfügen, um die Währungskurse in einer Region festzusetzen, zur Folge, dass man von den Behörden besonders gerne näher unter die Lupe genommen wird – und Gesetzesverstöße können Konfiszierung, Gefängnis oder die Todesstrafe nach sich ziehen. Geschäftsleute müssen darauf vertrauen, dass ihre Allianzen mit den Überwachungs- und Sicherheitsbehörden stark genug sind,
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um solche Konsequenzen auszuschließen. Sie müssen überdies darauf vertrauen, dass sie nicht an irgendeinem Punkt in dieser Transferkette von irgendjemandem einfach erschossen und ihrer Waren beraubt werden. Bei jedem Schritt auf diesem Weg überschneiden sich Schatten-, Grauzonen- und legale Institutionen: Mittelsmänner schaffen legal gekaufte Waren über nicht markierte Grenzen; Piloten, die in Euro oder Dollar bezahlt werden, unternehmen nicht registrierte Flüge mit nicht registrierter Ware; Unternehmer entziehen sich den Steuern, indem sie nicht lizenzierte Güter in legale Industrien einbringen; Regierungsbeamte erlassen Gesetze und fördern gleichzeitig den Zustrom von Schwarzmarktgütern in die für die Entwicklung wichtigen Industrien. Ohne Vertrauen – und ohne die Rolle, die Gewalt in der Schattenwirtschaft spielt, zu leugnen – sind solche riesigen Unternehmungen schlichtweg unmöglich und könnten die Netzwerke nicht funktionieren. Vertrauen aufzubauen ist eine geschäftliche Überlebensstrategie und bedarf der unablässigen Feinarbeit. In seinem Buch über den Krieg in Mozambique benennt Mark Chingono die Paradoxa, die in den komplexen Überschneidungen zwischen Il/Legalität und dem Staat zu Tage treten: Obwohl sie diesen Beschränkungen ausgesetzt war, funktionierte die Graswurzelökonomie des Krieges in vielerlei Hinsicht berechenbarer und rationaler als die offizielle Wirtschaft. Der illegale und nicht registrierte Handel lief keineswegs willkürlich ab, sondern war fest institutionalisiert und gehorchte einem System von Regeln, das allen Beteiligten bekannt war. Beispiele waren etwa die standardisierten Größen bei Tauschgeschäften, die festen Gebühren für Schmuggler, Vereinbarungen, die im Hinblick auf Klientelbeziehungen galten, sowie die wechselseitigen Verpflichtungen, die aus anderen persönlichen Bindungen erwuchsen. Die Organisation der Graswurzelökonomie beruhte in hohem Maße auf diesen gegenseitigen, persönlichen Verpflichtungen. Das Vertrauen, das auf persönlichen Beziehungen oder einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund gründet, sorgte für die Verlässlichkeit und die Berechenbarkeit, die der offiziellen Wirtschaft so offensichtlich fehlten. In gewissem Sinne bot die Graswurzelökonomie deshalb den Menschen nicht nur alternative ökonomische Chancen, sondern auch eine alternative Gesellschaft, wobei eigene religiös-ökonomische Institutionen parallel zu den offiziellen existierten.41
Ob in Zeiten des Krieges oder des Friedens – außerstaatliche Netzwerke sind keine willkürlichen Zusammenschlüsse von Menschen zu Ad-hoc-Gruppen, die wie Motten das Licht des Profits umschwirren. In zahlreichen Untersuchungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure findet sich implizit die Annahme, dass Staaten eine Art Übergemeinschaften darstellen, die aus einzigartigen Führungsinstitutionen hervorgegangen sind, die sich außerhalb der formellen staatlichen Institutionen nicht finden lassen. Ganz gleich, wie erfolgreich oder wie groß ein nicht-staatliches Unternehmen sei, es werde der moralischen Gemeinschaft des Staates niemals nahe kommen.
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Die praktische Realität verlangt freilich einen nuancierteren Zugang. Von Diamanten bis zu Drogen gibt es Herrschaftsbereiche, die gemäß Autoritätshierarchien, »Benimmregeln«, Strafen für Regelverstöße und Verhaltenscodes funktionieren. Innerhalb dieser Herrschaftsbereiche bilden sich Gemeinschaften, entwickeln sich Ideologien und entstehen weltweite Allianzen und Antagonismen. Diese transnationalen »Industrien« sollte man nicht mit Staaten gleichsetzen, doch auch sie verfügen über Regierungsgremien, Gesetze und Sicherheitskräfte. Sie schließen Handelsvereinbarungen, betreiben Außenpolitik und setzen Devisenkurse fest. Und sie schaffen Transportrouten, Kommunikationsverbindungen und Bankensysteme, die man braucht, um effektiv Handel betreiben zu können.
Schattengemeinschaften Den Verhaltensregeln, den Werten des Verbündetseins und des Austauschs sowie den Ideologien, von denen sie bestimmt sind, liegt die Schaffung einer Gemeinschaft im fundamentalsten anthropologischen Sinne zugrunde. Will man transnationale außerstaatliche Realitäten verstehen, bieten weder Erläuterungen zum Staat noch zum Markt ausreichende Erklärungen. Menschen überleben in Gemeinschaften. Peter Vale, Direktor des Centre for Southern African Studies an der University of the Western Cape, erklärte mir das bei einem Gespräch in Kapstadt so: Die Forschung über das südliche Afrika beruht weitgehend auf einer falschen Ontologie. Ausgangspunkt ist nach wie vor der Staat, doch das liefert kein adäquates Verständnis der Kräfte, die die politischen und ökonomischen Verhältnisse prägen. Es ist eine intellektuelle Herausforderung zu überlegen, wie man die von Macht und Profit gestellte Frage am besten beantwortet. Die Menschen wollen diese Herausforderung jedoch nicht annehmen, denn sie bedeutet harte Arbeit. Wir müssen uns in die finsteren Ecken der Gesellschaftstheorie vorwagen und dort hineinleuchten, wo die Menschen kein Licht haben wollen. Wir müssen unangenehme Fragen stellen über das, was Wissen und Erkenntnis überhaupt bedeuten. Wir müssen Möglichkeiten finden, um ehrlich über Identität zu sprechen – wir dürfen Identität nicht länger einfach über den Staat definieren. Wir müssen die schwierigen Beziehungen zwischen Staat und Kapital herausarbeiten. Und wir müssen unsere Erkenntnisse in einen dynamischen historischen Kontext einordnen. Wie die Lösung aussieht? Betrachten Sie die Gemeinschaft. Was ist denn der Kern einer Gemeinschaft? Betrachten Sie die Beziehungen, die zwischen Identität, Ökologie und Grenzen herrschen.
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Zweifellos gründen einige der Gemeinschaften, die sich im Kontext des Schattenaustauschs und der Schiebergeschäfte ausgebildet haben, auf Gewalt, Angst und Ausbeutung. Andere aber bemühen sich darum, geordnete Gemeinschaften und stabile Verhältnisse zu schaffen. In beiden Fällen ist es jedoch so, wie es Justin Wylie, Anwalt im Johannesburger Büro von Public Prosecutions, prägnant ausdrückte: »Das organisierte Verbrechen ist besser organisiert als der Staat.« Wodurch zeichnen sich, normativ betrachtet, Gemeinschaften aus, die sich im Schatten bewegen? In Südafrika sprach ich mit zahlreichen Menschen, von Staatsanwälten bis hin zu Straßenhändlern, und sie alle verwiesen auf den hochgradig komplexen Charakter der nicht legalen Gruppen und Netzwerke: Gangs – oder wie immer man sie bezeichnen will – verfügen über voll ausgebildete Gemeinschaftssysteme, von denen einige den legalen Systemen Konkurrenz machen. Jeder der folgenden Gesprächspartner bietet eine andere Perspektive auf das, was diese »Gemeinschaft« bedeutet, und das Spektrum reicht von »auf gefährliche Weise ausbeuterisch« bis hin zu »friedlich unternehmerisch tätig«. Zaais Van Zyl, stellvertretender Leiter von Public Prosecutions in Johannesburg, erzählte mir bei einem Interview 2002 in seinem Büro folgende Geschichte: Vor einigen Jahren wurde jemand im Gefängnis ermordet, und der Fall landete auf meinem Tisch. Der Mann, der umgebracht worden war, gehörte einer Gang an und hatte selbst zahlreiche Menschen auf dem Gewissen – ich hatte schon in einem früheren Verfahren mit ihm zu tun gehabt. Nun aber war er tot. Als die Wärter in seine Zelle kamen und ihn tot auffanden, lag eine Karte vor seiner Zelle. Ganz einfach, man ermordet jemanden und hinterlässt seine Visitenkarte mit dem Hinweis, man sei der Täter. Wir gingen also zur Zelle des Mannes, dessen Name auf der Karte stand, und der saß einfach ganz ruhig da und sagte: »Ich hab’s getan; ich war’s, Boss.« Dem Mord selbst ging ein komplizierter Prozess voraus. Zunächst hielten die anderen Häftlinge ein Femegericht ab, um den Mann zu verurteilen, und entschieden, dass er getötet werden sollte. Dann fügte sich ein anderer Häftling eine tiefe Schnittwunde zu und landete auf der Krankenstation, wo sie verbunden wurde. Als er in den Zellentrakt zurückkam, schritten sie zur Tat: Sie nahmen dem Verwundeten den Verband ab, schlangen ihn um den Hals des Verurteilten und strangulierten gemeinsam ihr Opfer. Andere Gangmitglieder saßen ringsum und sangen Lieder, sodass niemand etwas hörte. Der Häftling, der den Mord gestanden hatte, gehörte zu einer Gang namens »the 27s«. Sie wird auch als »Luftwaffe« bezeichnet, denn ihre Mitglieder sind als große Ausbrecher bekannt. Es war ein schwieriger Fall: Das Gericht entschied, dass
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seine Aussage – »Ich hab’s getan; ich war’s, Boss.« – kein ausreichendes Geständnis darstelle. Als sie den Mann hereinbrachten, konnte ich sehen, dass er schon lange saß; man konnte es riechen, man sah es an seiner Gesichtsfarbe. Ich versuchte mit ihm zu reden, aber alles, was er sagte, war: »Ich werde vor Gericht erzählen, was passiert ist, aber nicht jetzt.« Sie sehen, die Häftlinge verfügen in den Gefängnissen über ein voll ausgebildetes Rechtssystem. Bevor ein Häftling vor Gericht kommt, gibt es im Gefängnis einen Anwalt – einen anderen Gefangenen, der Recht studiert hat und die Rechtslage in- und auswendig kennt. Er war vielleicht nie auf einer Universität, aber seine Gruppe hat ihm die Bücher und alles andere verschafft, was man braucht, um sich mit dem Recht und dem Rechtssystem vertraut zu machen, und seine Aufgabe ist es nun, die anderen Gangmitglieder im Gefängnis zu »präparieren«. Diese »Anwälte« sind gut; einige sind sogar ausgezeichnet und besser als einige der Anwälte, die vor Gericht auftreten. Es wird also ein ganzer Fall von den Häftlingen im Gefängnis verhandelt. Sie bereiten den Gefangenen auf jede mögliche Wendung vor. Man muss den Hut davor ziehen, wie ausgefeilt dieser Prozess ist. Bedenken Sie, dass es hier in Südafrika Gangs gibt, die im Gefängnissystem wurzeln und über eine mehr als hundertjährige Tradition verfügen – Gangs, die älter sind als der jetzige Staat [der 1910 gegründet wurde]. Sie verfügen über Traditionen, die ausgefeilter, umfassender und stärker verwurzelt sind als diejenigen des Staates. Sie haben komplexe Gemeinschaften entwickelt mit ausgeklügelten Kommunikationsnetzwerken, anerkannten Ehrencodes sowie geheimen sozialen Praktiken und Symbolen, um die herum sie sich organisieren.
Ein anderer Anwalt erzählte mir die folgende Geschichte, die zeigt, über welche Arten von Macht Häftlinge verfügen: Hier im Gefängnis sitzt ein Mann, der wegen Mordes verurteilt wurde. Er ist einer der Anführer einer Gang. Er sitzt also ordentlich verurteilt hier im Gefängnis, kann es aber jederzeit verlassen und wieder zurückkommen. Die Menschen sehen ihn beim Tanzen mit seinen Freundinnen und mit anderen bei der Arbeit. Nachdem er sich draußen einen schönen Abend gemacht hat, kehrt er ins Gefängnis zurück. Wir haben – oder genauer: wir hatten – zwei Zeugen, die bereit waren, im Prozess gegen ihn auszusagen. Vor kurzem hat er das Gefängnis verlassen und einen von ihnen umgebracht. Und nun hat er das beste aller Alibis: »Wie kann ich jemanden umgebracht haben? Ich war doch im Gefängnis.« Er verfügt über mehr Macht in unserem Strafsystem als wir. Warum? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Die Gefängniswärter haben Angst vor ihm. Er ist ein wichtiger Mann, sie hingegen sind nur schlecht bezahltes Personal; er verlässt das Gefängnis und tötet einen Zeugen. Was würde er mit ihnen machen, mit ihrer Familie? Gleichzeitig herrscht im Strafvollzug hierzulande ein Höchstmaß an Korruption.
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Peter Gastrow, der das Institute for Security Studies in Kapstadt leitet und das organisierte Verbrechen im südlichen Afrika erforscht, berichtete von den banaleren Aspekten der Gemeinschaft als der wichtigsten Ressource zur Stärkung krimineller Vereinigungen: Die Untersuchungen zwingen uns dazu, das Verständnis dessen, was Wirtschaft ist, zu erweitern. Der aus den USA stammende Begriff des organisierten Verbrechens hat Forschung und Politik lange Zeit bestimmt: die Vorstellung von einer gut organisierten und strukturierten kriminellen Gruppe, die sich auf bestimmte illegale Bereiche spezialisiert – die Mafia. In Südafrika aber haben wir es mit einem anderen System zu tun: mit fließenden Netzwerken, die sich verändern und wieder neu zusammenschließen und dabei sich ständig verändernde Ziele verfolgen. Sie sind in hohem Maße miteinander verwoben, manchmal als Konkurrenten, häufig jedoch als Komplizen. Deshalb umfassen die Aktivitäten dieser kriminellen Netzwerke ein breites Spektrum von Transaktionen und Schwarzmarktgütern. Nehmen Sie zum Beispiel ein Auto, das in Johannesburg gestohlen wird. Dieser Diebstahl wird von jemandem verübt, der im kriminellen System über nicht allzu viel Macht verfügt und dann an die nächste Organisationsebene verkauft, die Zugang zu internationalen Märkten hat. Dort weiß man beispielsweise, dass jemand in Mozambique einen allradgetriebenen Luxuswagen sucht, und sorgt dafür, dass das Auto über die Grenze geschmuggelt wird. Aber damit noch nicht genug: Sie kommen zurück mit Mandrax [einer Droge], Sturmgewehren, Nike-Schuhen, US-Dollars, was der Markt gerade so hergibt. Das Ganze kann sogar noch komplizierter sein: Angenommen, sie glauben, dass die Kosten für das Schmuggeln über dem Preis liegen, der sich für den Wagen erzielen lässt, und nehmen noch ein paar Diamanten mit. Sie fahren also zu irgendeinem Typen nach Hause und erklären ihm, sie wollten mit dem Wagen einige Diamanten über die Grenze schaffen. Der Typ sagt: »Okay, kein Problem, aber bringt mir einen neuen BMW mit.« Der Fahrer nimmt also die Diamanten und klaut irgendwo einen BMW für den Diamantenhändler. Es gibt darüber hinaus auch noch informelle Systeme der Gastfreundschaft. Jedes Jahr werden etwa 50.000 gestohlene Autos aus Südafrika herausgeschmuggelt. Überall in der Region bestehen ausgezeichnete Netzwerkkontakte. So gibt es etwa in Maputo [in Mozambique] ein hübsches Haus, in dem die Fahrer übernachten können. Sie fahren über die Grenze und steigen in dem Haus ab. Entscheidend aber ist dabei, dass sie andere Leute von überallher treffen, die ebenfalls dort zu Gast sind, und so Netzwerke ausbilden. Sie sitzen dort herum, trinken etwas zusammen und erzählen sich Geschichten: »Also, ich kam bei XY über die Grenze und habe Joe 1.000 Rand bezahlt.« Ein anderer sagt: »Ich hab’ nur 500 Rand bezahlt, geh’ zu Sam und benutz’ diesen Übergang.« Wieder jemand anderer sagt: »Hab’ gehört, dass sie oben im Norden kleine LKWs brauchen, wer Lust hat, wende sich an XY.«
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Und der nächste lässt wissen: »Wenn ihr dorthin fahrt, nehmt ein paar Nikes oder Batterien oder Drogen mit, da oben gibt’s einen guten Markt dafür.« Und schließlich: »Oh, ihr fahrt nach Johannesburg? Wollt ihr nicht ein paar Zigaretten [Waffen, Leute usw.] mitnehmen?« So funktioniert das: nach Art traditioneller Herrenclubs und Geschäftsbeziehungen. Herkömmliches polizeiliches Vorgehen bringt hier gar nichts mehr, weil man noch nicht gemerkt hat, dass man erst die gesamte kriminelle Ökonomie verstehen muss, bevor man sie verändern kann.
Ein cleverer Straßenhändler, der im grenzüberschreitenden Handel tätig war, lehnte sich gegen einen Laternenpfahl und ließ mich Folgendes wissen: Ich komme vom Land. Wir hatten dort nichts. Mein Vater wurde krank, wissen Sie [Aids], und wir kamen kaum über die Runden. Ich dachte, wenn ich in die Stadt gehe, verdiene ich vielleicht ein wenig Geld und meinen Geschwistern zu Hause geht es besser, wenn ich ihnen helfen kann. Ob man hier in der Stadt einen Job bekommt, hängt vor allem davon ab, wen man kennt. Es ist nicht leicht, Arbeit zu finden, es ist nicht leicht, hier reinzukommen. Aber als ich nach und nach Leute kennen lernte, erklärten sie mir allmählich, wie das System funktioniert: »Ich kenne da jemanden, der braucht Hilfe beim Transport dieser Waren; jemand sucht einen, dem er eine LKW-Ladung anvertrauen kann«, solche Sachen. Es ist wie eine Gemeinschaft: Du weißt, an wen du dich wenden musst, wenn du ein Problem hast. Ich wäre schon längst verhungert, wenn ich weiter auf einen Job bei der Regierung oder in irgendeinem Büro gewartet hätte. Hier verdiene ich jetzt genug, um meine Familie zu Hause zu unterstützen.
Ähnliche Werte und Einstellungen finden sich bei Händlern aus dem Kongo, die in Frankreich tätig sind: »Händler in der sekundären Ökonomie haben ihr eigenes Regelsystem. Man darf niemanden töten, sondern nur materiellen Besitz mitgehen lassen, und sowohl Einbrüche als auch Straßenraub sind verboten. La débrouillardise [das ›Geschäft‹], so sagen sie, sollte sich von ›gewalttätigem‹ Geld fernhalten.«42 Wie Van Zyls oben zitierte Beobachtungen über Bandengewalt zeigen, sollte man Gemeinschaft keineswegs idealisieren. Gangs stellen die staatliche Kontrolle in Frage, indem sie Gewalt effektiv »managen« – und zwar in einer Art, die gar nicht so weit von derjenigen der Staaten entfernt ist, die ihre Bürger polizeilich überwachen und ihre Grenzen aufrechterhalten, indem sie die Mittel, die Definitionen sowie die Ausübung von Gewalt und Legalität kontrollieren. Doch wie bei jedem Zusammenschluss von Menschen ist nur ein bestimmtes Maß an Gewalt und Instabilität tolerierbar; wird ein bestimmtes Maß überschritten, bricht die Gemeinschaft zusammen.
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Laurie Nathan, Direktor des South Africa’s Center for Conflict Resolution, sagt, seine Vermittlungsarbeit zeige deutlich, dass Menschen, die in gewalttätige Verhältnisse verwickelt sind, vor allem nach friedlichen Lösungen, nach Stabilität und Vertrauen suchen – sie wissen nur nicht, wie sie das erreichen sollen. Bei vielen unregulierten Geschäften bestehe das Ideal darin, in die stabile, formelle und legale Wirtschaft und politische Sphäre zu gelangen. Denn nur hier sorgen Arbeitsplatz- und Produktionssicherheit dafür, dass man geschäftlich expandieren kann. Gleiches zeigte sich im Falle der kongolesischen Händler, die in der sekundären Ökonomie Frankreichs tätig sind: Sobald sie genügend Geld beisammen haben, um eine völlig legale Geschäftstätigkeit aufzubauen, entscheiden sie sich für eine solche. Meine Feldforschungen haben jedoch gezeigt, dass das nur zum Teil stimmt. Außerlegale Aktivitäten können sehr wohl innerhalb formeller Ökonomien gedeihen – Ebenen ineinander verwobener Geschäftsbeziehungen, die sowohl legale als auch außerlegale Geschäftsimperien auf höchstem Niveau und von größtem Umfang hervorbringen. Es gäbe keine massive Korruption auf staatlicher und zwischenstaatlicher Ebene, wenn ökonomische und politische Unternehmungen gleichsam teleologisch in Richtung staatlicher Legalität streben würden. Wie ich bereits weiter oben gezeigt habe, wird der Mann, der im kriegszerstörten Angola den ausgebombten Laden voller brandneuer Waren betreibt, irgendwann erkennen, dass er seine ökonomische Macht auch gegen politische Macht eintauschen kann; und wenn er das tut, wird er das (nichtformelle) Finanzsystem, das ihn in einer gewalttätigen und instabilen Kriegsökonomie überleben lässt und ihm Gewinn beschert, nicht plötzlich aufgeben. Ähnliches haben auch MacGaffey und Bazenguissa-Ganga erlebt: Mittels ihres Handels und anderer Aktivitäten protestieren und kämpfen die Händler dagegen, ausgeschlossen zu werden. Bei ihrer Suche nach gewinnbringenden Gelegenheiten kämpfen sie gegen verschiedenartige Hindernisse: rechtliche, räumliche und institutionelle sowie gegen die Bindungen kooperativen Verhaltens. Sie sind Individuen, die sich weigern, sich mit den Einschränkungen durch die globale Machtstruktur und ihre Allianzen zwischen dem multinationalen Kapitalismus, westlichen Regierungen und afrikanischen Diktatoren abzufinden. Sie kämpfen gegen die Institutionen und Normen sowohl afrikanischer als auch europäischer Gesellschaften, die ihr Streben nach Wohlstand und Status behindern. Sie widersetzen sich der Hegemonie und der Kontrolle der großen Entitäten, die die globale Szenerie beherrschen.43
Doch ökonomische Erfolge treiben die Menschen tendenziell in formelle Ökonomien – das reicht vom Eintritt in die Politik, um damit »Geschäftsinteressen zu wahren«, bis hin zur Geldwäsche, bei der zwangsläufig Gewinne aus der Schattenwirtschaft in formelle Unternehmen gesteckt werden. Der Erfolg rührt häufig daher, dass man diese Trennlinien überwindet und verwischt. »Wir
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vermeiden die Begriffe ›illegal‹ und ›legal‹, denn die Grenze zwischen beiden ist eine politische, die von den Mächtigen errichtet wird, damit sie ihre Macht und Kontrolle behalten.«44 So ist beispielsweise Mozambique zu einem Transitland für globale Drogenlieferungen geworden; aufgrund des hochgradig zerstörerischen Krieges ist das Land noch nicht wieder in der Lage, die Grenzen und »Geschäfte« wirkungsvoll zu kontrollieren. In einer dezimierten Volkswirtschaft bieten nichtformelle Warenströme überdies Zugang zu harter Währung und globalen Netzwerken, von denen sowohl formelle wie auch nicht-formelle Akteure profitieren können. Solchen Austauschprozessen liegt ein fundamentaler Widerspruch zugrunde. Der ungeheure Reichtum, der mit Drogen verdient wird, muss »gewaschen« werden – nicht-formelles Geld ist auf globalen Märkten völlig wertlos. Eine heutzutage sehr beliebte Methode der Geldwäsche stellt die Tourismusindustrie dar. Sie kann substanzielle Gewinne abwerfen, doch im Falle von Mozambique wurde sie im Zuge des Krieges völlig zerstört. Wenn man nun Unterkünfte und Infrastruktur für Touristen aufbaut, wird das Drogengeld so »gewaschen«, dass dadurch Arbeitsplätze, Dienstleistungen und Infrastruktur für Mozambiquaner geschaffen werden. Die dunklen Geschäfte ermöglichen einen gefährlich ungleichen Zugang zu Macht und Politik, der wiederum die formelle Entwicklung prägt. Diese Situation stellt für Entwicklungsstudien wie für die Sicherheitskräfte ein beträchtliches Dilemma dar. Die Ironien und Widersprüche – dass das gefährlich Illegale und das der wirtschaftlichen Entwicklung Förderliche in dieser Überschneidung der Il/Legalitäten gleichzeitig vorhanden sind – rechtfertigen das Außerstaatliche nicht, aber sie sind dessen bestimmendes Merkmal.
Vierter Teil Frieden?
Frieden ist nicht der Ruhepuls der Menschheit, der sich in dem Moment wieder einstellt, da ein Friedensabkommen in Kraft tritt. Frieden ist der Puls der Menschheit – aber ruhig ist er nicht: er ist wild, unregelmäßig, schwach, sanft und allzu oft unbestimmbar. Frieden ist nicht allein die Abwesenheit des Krieges im eigentlichen Sinn. Frieden ist ein Kind, das den Hunger des 21. Jahrhunderts nicht kennt; eine Frau, die nicht fürchten muss, von Freund oder Feind überfallen zu werden; ein Mann, der nicht länger Angst haben muss, aus Versehen auf eine Landmine zu treten. Der Frieden wartet nicht auf das Ende des Krieges, bevor er die Bühne betritt. Die eindringlichsten Definitionen stammen von vorderster Front. Einmal, während der Kriegsjahre in Angola, sagte mir ein verwaistes Straßenkind: »In meinem Herzen trage ich ein kleines Stück Frieden überall hin, und bei Nacht nehme ich es heraus und schaue es an.« Der Frieden beginnt mit dem Händler, der an vorderster Front dringend Benötigtes in eine belagerte Stadt bringt; er beginnt mit dem Lehrer, der neben der zerbombten Schule weiter Unterricht hält, obwohl Lehrer Angriffsziele abgeben; er beginnt mit den Liedern und Bildern der Künstler, in denen sich die Vorstellungen vom Ende des Krieges finden; er beginnt mit dem Glauben an ein besseres Morgen inmitten eines unerträglichen Heute. Doch die Gepflogenheiten des Krieges sind zählebig. Sie können abseits der Fronten und unter dem schwachen Puls des Friedens fortbestehen. Beginnt der Frieden mitten im Krieg, so dauern Momente des Krieges über die Friedensvereinbarungen hinaus an, berühren den Alltag einer Gesellschaft, bis man sie, Stück für Stück, abgetragen hat. Eine solche Arbeit ist nicht leicht: Manch einer hat in den Wechselfällen des Krieges Macht, Profit und militärische Gewalt als unwiderstehlichen Ansporn kennen gelernt.
Die Leiden der Straße: Ein obdachloser Kriegsvertriebener raucht Crack.
10. Die Institutionalisierung der Schattenwelten
Wenn die Wahrheit zu gefährlich ist, hören die Leute auf, sie zu erzählen. Stattdessen verpacken sie die Wahrheit in Geschichten. Ein offenes Gespräch über Waffengeschäfte und Korruption kann einen leicht hinter Gitter bringen, doch ist es wesentlich weniger wahrscheinlich, wegen einer Parabel über Brüder und Schwestern oder über Vögel Schaden zu nehmen. Aber wenn die Ohren gespitzt werden, »weiß« jeder, wer die Brüder und die Vögel sind, und auf diese Art kommen die Leute zu einem Wissen, das sie fürs Überleben brauchen. »Der Krieg geht jetzt zu Ende, Carolyn, und das bringt viele Veränderungen mit sich«, sagte mir 1991 eine Bekannte aus Mozambique. »Es gibt Dinge, die wir verstehen müssen. Kommen Sie später zu mir nach Hause. Meine Kinder wollen Ihnen eine Geschichte erzählen.« Später am gleichen Tag ließen wir uns im Wohnzimmer der Frau nieder. Ich war überrascht, dass sie in ihrem Wohnzimmer ein Sofa stehen hatte, denn ich wusste, dass sie und ihr Haushalt durch die Plünderungen alles verloren hatten und infolge des Krieges verarmt waren. »Ich habe es von einer Nachbarin geborgt«, sagte sie, als sie meinen Blick sah, und fügte lachend an: »Geschichten brauchen einen Platz zum Sitzen.« Ihre Kinder setzten sich dazu, bereit für das Geschichtenerzählen. Es war eine Geschichte, die es für alle, Kinder wie Erwachsene, zu verstehen galt. Es heißt, wir wären alle einmal Brüder und Schwestern im Wald gewesen. Vielleicht ist das wahr, aber das ist eine andere Geschichte. Dann gab es Veränderungen im Wald: Zeiten des Konflikts brachen an. Einige hatten mehr als andere: mehr Essen, mehr Wut, mehr Wünsche. Viele hatten weniger. Ein paar Brüder gingen eines Tages durch den Wald, als sie einen Vogel hörten, der auf dem Ast eines großen Baumes saß und sang: »Hier gibt’s Reichtümer, hier gibt’s Reichtümer, hier gibt es genug zu essen für alle.« Die Brüder folgten dem Ruf des Vogels und fanden einen prächtigen Schatz, der darauf wartete, dass ihn jemand mitnahm. Er schien niemandem zu gehören, der Schatz war für alle da. »Wenn wir uns den nehmen würden«, meinten die Brüder zueinander, »könnten wir den Laden aufmachen, von dem wir träumen.«
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FRIEDEN?
Ein kleines Buschschwein, das zufällig mit anhörte, was sie sprachen, sagte:»Aber hier gibt es doch genug für uns alle. Wenn ihr euch das hier nehmt, werden wir andern hungern, und wozu sollte das gut sein? Der Schatz gehört dem Wald, warum wollt ihr dem Schaden zufügen, der euch das gegeben hat?« Die Brüder steckten die Köpfe zusammen und flüsterten einander zu: »Was erzählt das kleine Buschschwein für einen Unsinn? Lasst uns nach Einbruch der Nacht zurückkommen und uns den Schatz holen.« Dass die Waldbewohner unter dem Verlust litten, wurde den Brüdern nicht gewahr. Ihr Geschäft ging gut, doch schließlich begannen sie, einander zu bekämpfen. Eines Tages sortierte der jüngste Bruder ihre wunderbaren Decken und sagte: »Ihr habt mir mehr genommen, als ihr mir gegeben habt; nur weil ich der Jüngste bin, glaubt ihr, ihr könntet mich übervorteilen.« »Du hast Unrecht«, sagten die älteren Brüder. »Komm, lass uns ein Stück gehen und die Sache aus der Welt schaffen.« Als sie in den Wald kamen, wurden sie handgreiflich und töteten den jüngsten Bruder. Sie wickelten ihn in eine Decke und begruben ihn. Doch als sie nach Hause kamen, begann ein Waldvogel zu singen: »Wer hat den jüngsten Bruder getötet? Wer nimmt sich eine Decke, nicht um sich zu wärmen, sondern um den Toten zu verbergen? Schaut im Wald nach.« Rasend vor Wut griffen die Brüder nach ihren Schrotflinten, um den Vogel abzuschießen. »Wie kann ein einfaches Waldgeschöpf es wagen, unseren Namen zu schmähen?«, riefen sie. Doch die Leute aus der Stadt folgten dem Vogel in den Wald, wo sie frisch aufgeworfene Erde fanden. Dort begannen sie zu graben. Dann sahen sie die Decke und darunter den Körper des jüngsten Bruders. Die Wahrheit war ans Licht gekommen, doch wie endet die Geschichte? Brach das Geschäft der Brüder unter der Last des Verbrechens zusammen und ging zugrunde? Oder florieren die Geschäfte, betreiben die Brüder immer noch große Läden und dienen ihre schönen Decken dazu, die Wahrheit zu verbergen? Wir leben in schweren Zeiten, schwer zu verstehen.
Die Erzählerin lehnte sich im Sessel zurück, griff in die Tasche, gab einem ihrer Kinder ein paar Münzen und sagte: »Lauf bitte zum Laden und hol ein paar Kekse, Schatz.« *** Wenn ein Krieg zu Ende ist, ist der Unterschied kleiner als man denken mag. Es existiert keine Alchemie, durch die Staat und Gesellschaft sich mit dem Zeitpunkt der Friedenserklärung »naturwüchsig« zu Vorkriegszuständen zurückverwandeln. Selbst wenn das Feuer eingestellt ist, bleibt der Krieg so lange in einem Land, bis die Institutionen und die Gepflogenheiten dort tatsächlich
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anderen Zielen dienen. In diesem Kapitel geht es mir darum, die Institutionalisierung von Gewalt und Korruption, wie sie in Kriegszeiten vorkommt, sowie die Probleme, diese Institutionen in der Nachkriegszeit zu verändern, zu dokumentieren. Das ist kein Thema, das sich auf einen einzelnen Krieg beschränken ließe oder lediglich lokaler Natur wäre; David Hesketh, der Leiter der Abteilung für internationale Kooperation des Britischen Zolls, sprach mit mir über das Fortbestehen und die Dynamiken der Illegalität. Soldaten schmuggeln. Aber sie sind Kanonenfutter. Bringen Sie Menschen in ein Kriegsgebiet, dann verlangen Sie von ihnen, dass sie andere töten – Schmuggel, nun, Schmuggel ist da ein Delikt, das nicht der Rede wert ist. Sie bringen diese Menschen in eine Umgebung, die auf Amoralität beruht: Alkohol, Drogen, Schmuggel, Töten. Wie schlimm ist das Schmuggeln, wenn man es neben das Töten stellt? Nun wird ein Friedensabkommen unterzeichnet und jemand sagt, alles ist vorbei – erwarten Sie, dass damit alles endet? Erwarten Sie, dass die Schmuggelrouten plötzlich zu sind und dass diese Menschen nach Hause gehen, hungrig und mit leeren Händen? Was also tun? Zollbehörden und Polizei einsetzen? Unternehmen einsetzen, die Verschiffungskontrollen durchführen? Um die Güter und die Transportdokumente umfassend zu inspizieren? Wenn im besten Fall, irgendwo auf der Welt, solche Kontrollen vielleicht zehn Prozent der Waren, die in ein Land oder in einen Hafen gelangen, erfassen? Wird das den Schmuggel beenden? Die Welt ist nichts, das man insgesamt kontrollieren könnte, das ist nicht machbar – es gibt einfach zu viele Faktoren. Hinzu kommt die Tatsache, dass alles sich jetzt im Maßstab des globalisierten Handels abspielt: Es gibt heute Unternehmen, die in einer Art über Geld und Macht verfügen, die früher nur Regierungen zukam. Schließlich fügt sich das alles ein in ein allgemeines kulturelles Phänomen, nämlich den Trend zur steigenden Akzeptanz illegalen Handelns. Die Menschen akzeptieren heute schlicht, dass illegales Handeln in ihrem Leben einen Platz einnimmt und eine Rolle spielt, wie sie das noch vor einer Generation nicht getan hätten.1
Es ist sehr schwer, die komplexen Verhältnisse in Gesellschaften oder Staaten zu definieren, die sich durch eine formelle Friedensregelung im Friedenszustand befinden, deren Funktionieren jedoch weiterhin auf im Krieg entstandenen Institutionen beruht (aufgrund von Rationalitäten, die im Konflikt eingeführt wurden und unverändert weiterbestehen). Dennoch können in solchen Übergangssituationen Antworten gefunden werden auf Fragen wie die, warum mit dem Krieg zusammenhängende Menschenrechtsverletzungen auch nach dem Krieg weitergehen oder warum Gewaltverbrechen und organisierte Kriminalität in Zeiten sprunghaft ansteigen, da ein Friedensabkommen unterzeichnet wird oder sich ein politischer Übergang vollzieht, der breite Unter-
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stützung genießt. In solchen Situationen zeigt sich die Komplexität der Macht, wenn alte und neue Formen von Herrschaftsverhältnissen zu hybriden und unerwarteten Formen der Regierung verschmelzen. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission – TRC) war eines der wenigen politischen Gremien, das öffentlich die Routinisierung von Gewalt und Korruption aufklärte, wie sie für Perioden bewaffneter politischer Konflikte kennzeichnend ist. Ich wähle dieses Beispiel nicht etwa deshalb, weil die Probleme dort schlimmer als in anderen Ländern der Welt wären – tatsächlich sind sie es nicht –, sondern weil die politische Entscheidung Südafrikas, Informationen über Militarisierung und Kriminalisierung offen zu legen, wichtige Hinweise gibt, während andere Länder diese Informationen nicht öffentlich gemacht haben. Allein aus diesem Grund sind die südafrikanischen Erfahrungen mit den Anhörungen der TRC in einer politischen Epoche, in der militärisch determinierte Politik und Ökonomie überall auf der Welt weitgehend undurchschaubar bleiben, bahnbrechend. Ich hielt mich 1996 zu Beginn der ersten Anhörungen der TRC in Südafrika auf. Von außerhalb Südafrikas ist das Ausmaß kaum vorstellbar, in dem das Land von den Anhörungen gefangen genommen wurde. Sie waren eine gewaltige psychologische, soziale und politische Evaluation sowohl der Vergangenheit wie der Zukunft. Aus der Distanz ebenso schwer vorstellbar sind die immensen Auswirkungen, die die Enthüllungen vor der TRC auf die südafrikanische Gesellschaft hatten. Einige der Geständnisse übertrafen bei weitem die schlimmsten Befürchtungen. 1997 kehrte ich im zweiten Jahr der Anhörungen nach Südafrika zurück, und die Aussagen vor der TRC erschütterten nach wie vor das Land in seinen Grundfesten, weil sie den Leuten vor Augen führten, zu welchen äußersten Furchtbarkeiten Menschen fähig waren. Die Zeit wird mir als »Zeit des Braai« unauslöschlich im Gedächtnis bleiben. Braai nennt man in Südafrika das Grillen, und mehrere Aussagen berichteten von Soldaten, die politische Gefangene folterten, indem sie sie anzündeten, während sie dabei waren, sich eine Mahlzeit zu braaien. Menschen, die auf diese Weise geliebte Angehörige verloren, und ebenso Menschen, deren liebe Angehörige solche Gräueltaten verübten, fanden ihre tiefsten Überzeugungen darüber, was ist und was sein kann, in den Grundfesten erschüttert und zerstört. Um zu verstehen, wie solche Gräueltaten die Politik nach Ende des Konflikts prägen, muss man gleichermaßen die Friedensprozesse untersuchen, die in der Zeit des Konflikts das spätere Aussehen der Wahrheits- und Versöhnungskommission vorzeichneten. Dem Fortbestand der Apartheid in Südafrika wurde in den frühen 1990er Jahren ein entscheidender Stoß versetzt, als zwischen den Konfliktparteien, also zwischen dem Apartheidregime und sei-
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nen Gegnern, eine Koalition zustande kam, die das »National Peace Accord« unterzeichnete, um die grassierende Gewalt im Land zu bekämpfen. Man bildete eine unabhängige, von allen Konfliktparteien anerkannte Kommission mit der Aufgabe, die Ursachen der Gewalt zu untersuchen. Ihr Vorsitzender war Richter Richard Goldstone, und er optierte für die uneingeschränkte öffentliche Transparenz des gesamten Prozesses. Goldstone ließ die Namen aller designierten Untersuchungsbeamten in lokalen Zeitungen veröffentlichen, um herauszufinden, ob es möglicherweise Einwände gegen einen der Kandidaten gab. Die Überlegung des Richters war, dass in einem Land, in dem die Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, jeder, der früher an solchen Rechtsverletzungen beteiligt gewesen war und nun in Verbindung zu seiner Kommission stand, deren Erfolgschancen untergraben würde. Vielleicht noch folgenschwerer war Goldstones Entscheidung, Material zu veröffentlichen, das während einer Razzia beim Oberkommando der Armee konfisziert worden war und aus dem hervorging, dass staatliche Sicherheitskräfte regelmäßig an Menschenrechtsverletzungen gegen Bürger beteiligt waren und dass diese Taten von höchsten offiziellen Stellen angeordnet worden waren. Angesichts dieser Beweise war die Regierung gezwungen, eine Reihe von Sicherheitsbeamten, darunter einige Generäle, ihrer Ämter zu entheben. Goldstone machte auch Ergebnisse der Kommission öffentlich, wonach ranghohe Polizisten, darunter der National Deputy Commissioner of Police, der zweithöchste Polizeibeamte des Landes, in Auftragsmorde gegen führende afrikanische Politiker verwickelt waren und darüber hinaus den Friedensprozess insgesamt störten. Als ich 1997 Richter Goldstone in Südafrika in der Zeit nach der Apartheid interviewte, standen der Verteidigungsminister der Apartheidregierung und eine Reihe von Kommandeuren der südafrikanischen Streitkräfte wegen Mordes und anderer Straftaten, darunter Betrugsdelikte, bei denen es um mehrere Millionen Rand ging, vor Gericht.2 Die Goldstone-Kommission setzte den Grundton und beeinflusste die Entscheidung, mit dem Ende der Apartheidregierung die Wahrheits- und Versöhnungskommission einzusetzen.3 Die TRC beruhte auf dem Grundsatz, dass eine politische und gesellschaftliche Versöhnung in der Zeit nach dem Ende der Apartheid es erforderte, die Wahrheit über die während der politischen Gewaltherrschaft der Apartheid von allen Seiten begangenen Menschenrechtsverletzungen und Straftaten öffentlich zu machen und gleichzeitig den Opfern und ihren Familien Wiedergutmachung anzubieten. Es hieß, die Wahrheit erlaube den Systemwechsel und sie sei selbst eine politische Strafe. Deshalb bot man allen, die vollständig und öffentlich gesetzwidriges Handeln eingestanden, eine Amnestie – ob es sich um Mord oder Folter, Raub oder
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Schmuggel handelte, man fasste alles unter der Rubrik politische Straftaten zusammen. Der relative Erfolg der TRC wird wahrscheinlich noch auf Jahre hinaus diskutiert werden. Viele gehen davon aus, dass der Amnestieprozess, zu dem die umfassende Offenlegung des kriminellen Handelns gehörte, notwendig war, um die in den formellen Steuerungsstrukturen der Gesellschaft verankerte Korruption aufzuklären, sodass Veränderungen möglich wurden. Andere halten dagegen, dass es der Gerechtigkeit nicht dient, wenn die Täter nicht bestraft werden. Wieder andere zeigen sich besorgt, dass der Amnestieprozess – in dem Verbrecher nichts anderes tun müssen, als ein öffentliches Geständnis abzulegen – in Wirklichkeit eine Kultur des Verbrechens stärkt, die durch die TRC gerade destruiert werden sollte. All diesen Argumenten kommt Bedeutung zu, nicht nur für Südafrika, sondern für eine Welt, die versucht, der eingefahrenen Kultur politischer Gewalt etwas entgegenzusetzen und die schwierige Aufgabe eines Wiederaufbaus in Nachkriegszeiten in Angriff zu nehmen. Die Goldstone-Kommission und die Wahrheits- und Versöhnungskommission führten deutlich vor Augen, dass das Ausmaß, in dem kriminelles Handeln und Gräueltaten sich in politisch-militärischen Strukturen institutionalisiert finden, viel größer ist, als die meisten Menschen in der Gesellschaft sich klar machen. Richard Goldstone sagte mir im Gespräch, dass die meisten in Südafrika von der Tragweite und der Schwere der durch die Sicherheitskräfte verübten Verbrechen nichts wussten und durch die Enthüllungen geschockt waren. Tatsächlich fällt der Ausdruck »schockierende Offenbarung« häufig im Zusammenhang mit Geständnissen vor der TRC. 1997 sprach ich mit einem Mann, der von Anfang an in der TRC gearbeitet hatte, und stellte fest, wie oft er die Wendung »schockierende Offenbarung« verwendete. Schließlich fragte ich ihn, ob er, also einer, der sein ganzes Leben in diesem Land gelebt und sich mit dem Problem politischer Gewalt beschäftigt hatte, der mitgeholfen hatte, die TRC aufzubauen, und der täglich für sie arbeitete, ob er die Offenbarungen tatsächlich für schockierend hielt. Er erwiderte: Wissen Sie, ich habe mich von Anfang an damit beschäftigt, ich weiß seit der Zeit, als ich ein Heranwachsender war, von schrecklichen politischen Gewalttaten und dachte, ich wäre auf alles vorbereitet. Doch selbst ich fand einen Teil der Enthüllungen dieser Männer schockierend. Männer mit Familie, Männer, die abends nach Hause gehen und mit ihren Kindern spielen würden, hatten tagsüber auf die schrecklichste Art und Weise Menschen gefoltert, verstümmelt und ermordet, und ihre Familien und Nachbarn sagten, sie hätten keine Ahnung gehabt, bis der Mann in einer Anhörung vor der TRC Einzelheiten seines Tuns preisgab.
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Es geht nicht darum, Südafrika als besonders amoralisch darzustellen; solche Taten werden überall auf der Welt verübt.4 Noch geht es darum, Teile der Öffentlichkeit als hoffnungslos uninformiert darzustellen, denn auch das passiert überall auf der Welt. Der springende Punkt ist, dass in dem Moment, da die Menschen sich zum größten Teil nicht im Klaren darüber sind, in welchem Ausmaß Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und kriminelles Handeln ins Funktionieren der politischen, ökonomischen, legalen und sozialen Strukturen ihrer Gesellschaft eingelassen sind, sie nicht in der Lage sein werden, das zu korrigieren. Wissen muss dem Handeln vorausgehen. Die Enthüllungen durch die TRC haben ein politisch-militärisches System der Apartheid gezeigt, dessen kriminelles Handeln das Ausmaß von Folterungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Brandstiftungen und Morden, das individuelle Menschenrechtsverletzungen meist kennzeichnet, weit übersteigt. – Angehörige der Sicherheitskräfte waren in Drogen-, Elfenbein-, Edelstein- und Edelmetallgeschäfte verwickelt, um Geld zu beschaffen und Waffen beziehungsweise militärisches Material zu kaufen. – Angehörige der Sicherheitskräfte waren an Banküberfällen, Unterschlagungen und Geldwäsche sowie an Aktenfälschungen, dem illegalen Verkauf behördlicher Genehmigungen und der Fälschung von Beweisen beteiligt. – Angehörige der Sicherheitskräfte schürten die Gewalt zwischen verschiedenen Fraktionen von Apartheidgegnern, indem sie sich beispielsweise als Mitglieder einer Partei verkleideten (oder ausgaben) und Mitglieder einer anderen ermordeten. – Richter und Gerichte fällten politisch und rassistisch motivierte Urteile. – Von den Schlüsselunternehmen des öffentlichen Dienstes waren einige in kriminelle Handlungen verwickelt; sie organisierten etwa Waffentransporte oder Geldwäsche und verfolgten eine rassistische Politik. Die Liste lässt sich fortsetzen.5 Kriminelles Handeln wurde Teil des alltäglichen Funktionierens der staatlichen Institutionen im Land. Das heißt nicht, dass jeder darin verwickelt gewesen wäre, noch heißt es, die Institutionen wären grundsätzlich kriminell gewesen – das waren sie nicht. Gesagt werden soll, dass dieses Handeln sich nicht außerhalb des Bereichs des normalen institutionellen Lebens abspielte: Wo es passierte, passierte es als ein wesentlicher Bestandteil der Art, »wie die Dinge laufen«. Das Gesellschaftliche zeigt sich in solchen Prozessen, und Letztere institutionalisieren sich. Es wäre pure Naivität zu glauben, solche weitverzweigten und untereinander verknüpften Systeme von politischen und ökonomischen Machtbeziehungen – tief verwurzelte Bürokratien – ließen sich durch eine Wahl oder durch einen Regierungswechsel über Nacht verändern. Die entscheidende Bürokratie
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in einem Land ändert sich tatsächlich mit einem Regierungswechsel nur wenig. Beamte in Schlüsselstellungen mögen ausgewechselt werden, doch das alltägliche Funktionieren der Institutionen – das Personal, das mit den Details der Politik, der Sicherheit, der Justiz, der Bildung oder der Wirtschaft zu tun hat – bleibt zum größten Teil ebenso wie die Gepflogenheiten und die Handlungsmuster, die in diesen Institutionen herrschen, unverändert. Wenn die Macht in andere Hände übergeht oder der Krieg an sein Ende gelangt, passieren zwei Dinge. Erstens verlassen die Leute, die der Machtwechsel möglicherweise marginalisiert – also häufig die, die am stärksten in kriminelle Handlungen verwickelt waren –, den formellen Sektor, fahren aber in vielen Fällen fort, ihre kriminellen Netzwerke zum eigenen Vorteil zu nutzen. Ein einfaches Beispiel: Ein Regierungsbeamter oder Soldat, der an der kriminellen Beschaffung von Geld für Waffenkäufe beteiligt war, kann nach einem Machtwechsel solche Geschäfte auch ohne Amt fortsetzen. Das führt vielleicht in die organisierte Kriminalität, oder es legt den Grundstock für erfindungsreichere politische Unternehmen, etwa die Bildung von Söldnerorganisationen wie im Falle der schon erwähnten Firma Executive Outcome, die von ehemaligen Angehörigen der südafrikanischen Streitkräfte gegründet wurde. In beiden Fällen steht das Personal weiterhin mit international operierenden, außerstaatlichen politischen und ökonomischen Netzwerken in Verbindung. Zweitens machen die meisten Leute im Land einfach weiter, ob sie an betrügerischen Geldgeschäften, illegalen Warentransfers, Rechtsbeugung oder Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Eine neue Regierung kann neue politische Vorgaben machen, aber die meisten Regierungen haben nicht die Mittel, neue Leute für alle Aufgaben in der Justiz, in der Exekutive oder im Bereich der Sicherheit einzustellen, um die politischen Vorgaben durchzusetzen. Ein einfaches Beispiel: Ein Richter, der während der Apartheid Menschenrechtsverletzungen deckte, wird seine Haltung wahrscheinlich auch nach einem Regierungswechsel nicht radikal ändern. Bei einer Neuwahl könnte der Richter als neutraler Amtsträger gelten, und man ließe ihn im Amt. Oder es gibt so wenige Richter im Land, dass die Alternative hieße, dieser oder keiner. Wie auch immer, alte Gepflogenheiten gehen in neue Strukturen ein. Das gilt für Regierungsämter, für die Streitkräfte, für das Bildungssystem und für mächtige wirtschaftliche Interessen. Der Journalist Derek Rodney schrieb über Südafrika nach dem Ende der Apartheid: Syndikate der organisierten Kriminalität nutzen zunehmend die verdeckten Strukturen aus der Zeit der Apartheid, um ihre Ziele zu verfolgen. Experten des staatlichen Geheimdienstes sind überzeugt, dass illegal operierende private Geheimdienste eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen. Die Situation ist so schlimm geworden, dass Linda Morris Mti, Geheimdienstkoordinator im National Intelligence Coordinating Committee (NICOC)
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eine umfassende Überprüfung der gesamten militärischen, polizeilichen und zivilen verdeckten Strukturen im Land zur Zeit der Apartheid forderte. Ziel der Aktion ist es, verbrecherische Strukturen aufzuspüren, von denen man annimmt, dass sie in zunehmendem Maße kriminell aktiv werden und mit geheimdienstlichen Mitteln politische Ziele verfolgen … Die laufenden Kosten dieser Frontorganisationen waren früher (zu Zeiten der Apartheid) im Staatshaushalt versteckt worden, doch von vielen nimmt man an, dass sie sich inzwischen selbst tragen. Ein Teil der verdeckten Strukturen verfolgt weiterhin die ursprünglichen Instruktionen, obwohl es eine direkte Führung oder ein unmittelbares Kommando nicht mehr gibt. Die Organisationen sind zu treibenden Kräften in einem Konflikt niedriger Intensität geworden, der darauf zielt, die (Post-Apartheid-)Regierung zu destabilisieren.6
Rodneys Anmerkung, wonach viele dieser Organisationen sich selbst tragen, ist entscheidend, um einige Probleme des Übergangs in der Nachkriegszeit zu verstehen. Wie die TRC zeigte, waren Kräfte aus der Apartheidzeit unter anderem an Banküberfällen, an Drogen- und Waffengeschäften, am Schmuggel mit Elfenbein und am Raub von Rohstoffen beteiligt. Die Politik und die Institutionalisierung des Verbrechens in einem Land sind dabei nicht allein nationale Phänomene, sondern sind in regionale und internationale Zusammenhänge tief eingelassen. Die Verbindung Südafrikas zum damaligen Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) ist ein Beispiel von vielen, das sich in den Wechselfällen politischer Instabilität findet. June Bearzi schrieb in der südafrikanischen Tageszeitung The Star: StarLine erfuhr 1988 zum ersten Mal von dem Schmuggelnetzwerk (Zaire – Südafrika) während Recherchen über organisierte »Schlachtfeste«, Expeditionen, bei denen die Rhinozeros- und Elefantenbestände Afrikas dezimiert wurden. Südafrika diente als Durchgangsstation für den Schmuggel der Hörner und des Elfenbeins in den Fernen Osten. StarLine deckte auch den Schmuggel mit Diamanten, Kobalt und Kupfer auf, das versteckt in großen Umzugslastwagen und Trailern von Zaire durch Sambia und Botswana nach Südafrika transportiert wurde. … Jahrelang haben die Schieber die Beute, deren Wert auf monatlich etwa 173 Millionen Rand (etwa 40 Millionen US-Dollar – die Rede ist hier nur von Diamanten) geschätzt wird, in verschiedenen Ländern, darunter Südafrika und Belgien, verkauft.7
Märkte verändern sich von einem Augenblick zum nächsten, und die Beweglichkeit von nicht legalen Netzwerken erlaubt es ihnen, sich ohne weiteres an neue und sich entwickelnde wirtschaftliche Bedingungen anzupassen. Im Jahr 2000, vier Jahre nach Bearzis Artikel, wurde das Mineralerz Coltan (ein Rohstoff, aus dem das Metall Tantal gewonnen wird, das in Mobiltelefonen, Laptops oder Sony PlayStations Verwendung findet) zur Ware des Monats, mit dem man in der Demokratischen Republik Kongo mehr verdiente als mit Gold. Mozambique und Südafrika sind zu Hauptumschlagplätzen für Drogen geworden, während Schwarzmarktdiamanten und undurchsichtige Ölgewinne sowohl den Krieg als auch den Friedensprozess in Angola finanzierten. Das
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sind die Themen, auf die die Medien scharf sind. Doch das tägliche Brot der Syndikate bleibt den Blicken der Öffentlichkeit weiterhin verborgen, auch wenn es näher am Alltagsleben ist. So recherchierte beispielsweise Victor Dwyer in Südafrika die Ausgabe gefälschter Fahrzeugpapiere an Autodiebe; damit ließ sich »beweisen«, dass ein Wagen nicht gestohlen war und somit legal verkauft werden konnte.8 Es geht bei diesem Delikt nicht um Kleingeld. Die so genannte Moldenhauer-Kommission in Südafrika deckte auf, dass die unbefugte oder illegale Ausgabe von Zulassungspapieren an Familienangehörige, an Freunde und an Leute, die gewillt waren, Schmiergeld zu zahlen, ein Geschäft mit einem Umsatz von vielen Millionen Rand nur allein in der Provinz Mpumalanga war.9 Und Derek Rodney fand für Südafrika insgesamt heraus: »Mindestens jede zehnte Frachtladung, die eine südafrikanische Grenze überquert, verletzt die Mehrwertsteuerbestimmungen für Exportgüter, was dazu führt, dass der Staat in den fünf Jahren seit 1992, als die Mehrwertsteuer eingeführt wurde, geschätzte 17 Milliarden Rand an Steuereinnahmen verloren hat.«10 Diese Zustände sind mit Beginn des 21. Jahrhunderts eskaliert. Peter Gastrow schreibt: Das internationale Interesse an der organisierten Kriminalität in Südafrika konzentriert sich auf den Drogenhandel. Doch Polizeibehörden in der Region halten diesen Bereich der organisierten Kriminalität für eine deutlich weniger ernst zu nehmende Gefahr als den Diebstahl von Kraftfahrzeugen und den Handel mit den gestohlenen Wagen. … Der Grund, warum diese Art von Delikten als so bedrohlich gilt, ist nicht nur, dass der Diebstahl von Kraftfahrzeugen weit verbreitet ist, sondern auch, dass diese Kriminalität eng mit dem Drogen-, Waffen- und Diamantenhandel beziehungsweise mit Geschäften mit anderen illegal erworbenen Gütern zusammenhängt. Gestohlene Fahrzeuge stellen im Austausch gegen eine Vielzahl von Schwarzmarktgütern eine gebräuchliche Währung dar. … Der Leiter des Regionalbüros von Interpol in Harare (Simbabwe) beschreibt die Operationen folgendermaßen: »Alle Staaten des südlichen Afrika haben Informationen gesammelt, die sowohl von Interpol als auch von den Staaten selbst ausgewertet wurden. Es zeigt sich, dass es zwischen Verbrechenssyndikaten in der Region unübersehbar Beziehungen und Verbindungen gibt. Es ist für die Strafverfolger kein Geheimnis, dass die Kriminellen im südlichen Afrika über eine bessere Kooperation verfügen als die Polizeibehörden. Erstere scheinen immer zu wissen, an wen sie sich wenden können, und wirtschaftliche Zwänge, Devisenknappheit, Visaprobleme oder fehlende Reisegenehmigungen wirken sich auf ihre Mobilität nicht einschränkend aus.«11
Südafrika leidet heute unter einer der höchsten Kriminalitätsraten der Welt. Sie resultiert zum Teil aus dem Grad, in dem in den Jahren der Apartheid und der politischen Gewalt das Verbrechen institutionalisiert wurde: »Es gibt eine eindeutige und entscheidende Verbindung zwischen der Übergangssituation in Südafrika und dem gleichzeitigen Anstieg der Kriminalität. Doch wäre es eine gefährliche Vereinfachung zu behaupten, die Kriminalität sei lediglich eine
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Konsequenz des Übergangs. Tatsächlich gibt es eindeutige Beweise, dass die Wurzeln der Kriminalität im Apartheidsystem zu suchen sind, das hinter sich zu lassen der Übergang versucht.«12 Mit Blick auf Waffengeschäfte schreibt die Soziologin Jacklyn Cock, das Niveau der Gewaltverbrechen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid sei direkt mit der bedenklichen Proliferation von Handfeuerwaffen verknüpft; diese explosive Kombination sei geeignet, einen Prozess zu untergraben, den manche das wichtigste Experiment in Sachen Demokratie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nannten: »Überlegungen, die einem engen legalen oder technischen Rahmen verhaftet bleiben, reichen analytisch nicht aus; das Problem berührt soziale Beziehungen, Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen und Identitäten. Die Nachfrage nach Handfeuerwaffen ist gesellschaftlich konstruiert, das Angebot ist gesellschaftlich organisiert. Letztlich verlangt das Problem der Waffenproliferation eine gesellschaftliche Lösung.«13
Die Institutionalisierung von Gewalt und Kriminalität: Ein Blick von Südafrika nach Brasilien Südafrika tritt heute aus der Ära der Apartheid heraus, das heißt aus der Ära einer Regierungsform, in der eine Minderheit herrschte, und der damit verbundenen politischen Gewalt. Das ist eindeutig positiv, doch birgt der Übergang seine eigenen Probleme. Brandon Hamber, der während der Jahre des politischen Übergangs für das Center for the Study of Violence and Reconciliation in Johannesburg arbeitete, vergleicht Südafrika und Brasilien und kommt zu dem Schluss, dass das gehäufte Auftreten von krimineller Gewalt und Polizeibrutalität, wie sie heute für Brasilien (und für viele lateinamerikanische Länder) charakteristisch sind, mit den militarisierten Übergriffen zusammenhängen, die während der Jahre der Militärdiktaturen und der politischen Unterdrückung als Verhaltensmuster institutionalisiert worden waren. »Neue Formen der Gewalt«, so Hamber, »folgen der Wende zur Demokratie.« Die Zeit der Militärherrschaft dauerte in Brasilien von 1964 bis 1985; während dieser Zeit wurden Tausende Opfer von Folter, 262 Menschen wurden ermordet und 144 gelten als vermisst. Diese Zahlen sind, wie Hamber anmerkt, nicht so hoch wie die der mehreren zehntausend »Verschwundenen«, von denen etwa aus Argentinien berichtet wird. Dennoch kommt ihnen genug Bedeutung zu, denn hier liegt der Ausgangspunkt eines Systems von Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei und des Militärs in Brasilien, das bis heute besteht. Ein Teil der Erklärung ist Hamber zufolge die General-
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amnestie von 1979, die sicherstellte, dass es keine offizielle Aufklärung über die Polizeigewalt geben würde, ebenso wenig wie Personen öffentlich zur Rechenschaft gezogen wurden. Hamber sieht den Sinn dieses Amnestiegesetzes zusammengefasst, wenn es aus den brasilianischen Streitkräften heißt: »Wir sprechen nicht mehr darüber, lasst uns einfach diese Seite der Geschichte streichen, als wäre nichts geschehen. Tritt die Amnestie erst einmal in Kraft, ist es möglich den verfassungsmäßigen Normalzustand wiederherzustellen.«15 Hamber beruft sich auf Cecilia Coimbra, wonach die Denk- und Handlungsweisen der Militärpolizei von heute auf das Militärregime von damals zurückgehen. Er weist darauf hin, dass die Militärpolizei 1992 allein in São Paulo 1.470 Menschen getötet hat. (Zum Vergleich: In jenem Jahr gab es in New York City 27 ähnliche Todesfälle.) In den meisten polizeilichen Untersuchungen werde weiterhin Folter angewandt, selten aber Beschuldigungen wegen Übergriffen nachgegangen.16 Die vielleicht erschreckendste Zahl entstammt einem von Hamber zitierten Bericht der Menschenrechtsorganisation Americas Watch, der für die Jahre 1988 bis 1991 den Tod von 5.644 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen fünf und 17 Jahren dokumentiert. In Brasilien wie anderswo sind meist Arme, Marginalisierte und Machtlose Opfer von Menschenrechtsverletzungen. In den Jahren des Militärregimes waren es neben den Armen auch Menschen aus der Mittelklasse, also etwa Akademiker und Journalisten, oder Gewerkschaftsaktivisten, die zu Zielscheiben wurden, doch die Übergriffe auf Leute aus der Mittelklasse endeten mit dem Ende der Militärdiktatur, während die gegen Arme und Machtlose unvermindert weitergehen. Hamber vergleicht den gegenwärtigen Zustand bewusst oder unbewusst mit einem »Krieg«. Das Ergebnis sind eine ganz besonders »unerbittliche« Art der Verbrechensbekämpfung und weitreichende Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und auch die Öffentlichkeit. Coimbra weist nach, dass Massaker, Lynchmorde und Selbstjustiz begünstigt werden (wenn auch versteckt) und dass Richter und Täter bei gesellschaftlichen Säuberungen zusammenwirken. In Brasilien, das im Wesentlichen auf struktureller Gewalt und sozialer Ungleichheit beruht, herrscht ein Krieg gegen die Armen, um die Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten und die ökonomischen Eliten zu schützen. Jeder Übergriff wird im Namen des Kampfs gegen eine angeblich überhand nehmende Kriminalität gerechtfertigt. Die Methoden verletzen die Menschenrechte genauso wie früher, auch wenn die »Verhältnisse« heute bezeichnenderweise andere sind.17
Die Institutionalisierung militärischer Gewalt durchdringt die staatlichen Strukturen auf vielen Ebenen. Werden sie durch einen Regierungswechsel ihres Postens enthoben, bleibt Militärs der direkte Weg in die Kriminalität. Doch häufig besetzen Militärs, die bekanntermaßen Menschenrechtsverletzungen begingen, weiterhin Machtpositionen. Hamber nennt das Beispiel eines folternden Mili-
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tärs, der Brasiliens Botschafter in Großbritannien wurde. Das Ende vom Lied ist, dass viele Militärs, die Menschenrechtsverletzungen begingen, heute profitable und politisch mächtige private Sicherheitsfirmen leiten und dort die gleichen Methoden anwenden wie früher als Amtsträger. Hamber verweist abschließend darauf, dass die beschriebenen Verhältnisse nicht auf Brasilien beschränkt seien. Ländern wie Südafrika, die aus einer Ära der Militärherrschaft hervorgehen, kann ein Verständnis der Institutionalisierung von Gewalt (und der Gegenmaßnahmen dazu) jedenfalls zugute kommen. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass Menschen nicht einfach anfangen, zu töten oder nicht zu töten, zu foltern oder nicht zu foltern.18 Eine komplizierte Reihe von Überzeugungen und Werten muss zusammenkommen, die darüber entscheiden (und die rechtfertigen), wer getötet werden darf und wer nicht, wie, von wem und unter welchen Bedingungen Menschen körperlicher Schaden zugefügt werden kann. All dies wird von der Berufung auf ethische und moralische Normen, auf Verpflichtungen und Pflichten begleitet und sanktioniert. Hamber führt eine Übersicht an, die in diesem Zusammenhang Anlass zum Nachdenken gibt. Es ist das Buch Brasil: Nunca Mais, in dem 283 Arten von Folter beschrieben werden, die während der Zeit zwischen 1964 und 1979 vom Militär angewandt wurden.19 Worin der Nutzen von Folter liege, wird heftig diskutiert. Manche glauben, Folter sei lediglich eine zweckmäßige Art, wichtige Informationen zu erhalten. Viele erkennen an, dass Folter wenig mit dem Erlangen von Informationen – denn viele Folterer stellen nicht einmal Fragen – und vielleicht eher mit dem Schaffen eines Klimas aus Terror und Repression zu tun hat.20 Schließlich gibt es Thesen, die Folterregimes in ihrem Kern auf eine Pathologie im Denken zurückführen, so wie beispielsweise während des »Schmutzigen Krieges« in Argentinien.21 Aber kann logisches Denken überhaupt 283 verschiedene Arten der Folter erfassen? So etwas liegt jenseits jeglicher Vorstellung von Informationsbeschaffung; jenseits sogar der verdrehten Logik der Herrschaft durch Terror und Repression; vielleicht sogar jenseits des Pathologischen, wenn das möglich sein sollte. Bei all dem wichtig bleibt ein Verständnis der politischen und militärischen Denkweisen, des strategischen und taktischen Handelns, die ein solches Vorgehen ermöglichten und es in den Köpfen der Verantwortlichen für die Erfindung von 283 Arten der Folter rechtfertigten. Wie kommt es zur Institutionalisierung von Denk- und Handlungsweisen? Welche Denk- und Handlungsweisen werden von Menschen, die diese Taten vollführten oder erlaubten, in eine Zeit transportiert, nachdem ihr Regime den Weg für ein neues freigemacht hat? Welche Art politischer Überzeugungen nehmen sie am Ende eines Tages mit, in die Öffentlichkeit, in ihre Nachbarschaft, nach Hause? Was genau bedeutet ihnen der Frieden?
Frieden inmitten des Krieges: Eine Hauswand gegenüber von Friedens Zuhause, einer öden und staubigen Erhebung in der Stadtmitte.
11. Die Autobiografie eines Mannes namens Frieden
Ich traf Frieden auf den Straßen Angolas, er war dort zu Hause. Ich hatte ihn ein paar Jahre zuvor kennen gelernt und jedes Jahr enthüllte er mir ein weiteres Stück seiner Lebensgeschichte. Als ich zum letzten Mal in Angola war, war Frieden Anfang zwanzig und hatte bereits mehrere Leben hinter sich: als Straßenkind, als Soldat, als Dieb, als Vater, als Visionär. Frieden besaß eine Gabe, die alle Anthropologen schätzen: Sein Blick reichte über das Offensichtliche hinaus, durch Sinnestäuschungen hindurch, ins Herz des Unbeschreiblichen hinein – und er konnte seine Beobachtungen in Worte fassen. Frieden und ich saßen des Öfteren an irgendeinem Straßenrand in Angola und unterhielten uns. Er meinte, ich solle »die Abgründe des Leids der Menschen auf den Straßen Angolas« verstehen. In der Nacht, bevor ich Angola verlassen musste, tauchte Frieden unerwartet in meiner Wohnung auf. Er sagte, er habe ein Geschenk für mich, etwas, das ich bestimmt lieben würde. Er übergab mir seine Autobiografie, ein Bündel in Portugiesisch mit der Hand beschriebenen Papiers.22 Es ist eine Geschichte von Krieg, Armut, Schattenwelten, Frieden und Hoffnung. Ich bin in der Provinz Benguela geboren und kam 1982 mit meiner Mutter nach Luanda. Das war auch das Jahr, als ich meinen Vater traf, der mit einer anderen Frau, einer mulata, zusammenlebte. Nach einem Jahr kam ich zu meinem Vater und bald danach in die Grundschule, die Jungo-Schule im Barrio Operário. Aus irgendeinem Grund zogen wir aus dem Viertel São Paulo ins Barrio K um. Wir lebten dort bei meiner Stiefmutter und meinem Halbbruder (vom gleichen Vater), weil mein Vater damals nicht in Luanda war. Mich an meine Stiefmutter zu gewöhnen war schwierig, doch weil sie nicht zu denen gehörte, die schwierig sind, ging alles gut, bis sie sich 1987 von meinem Vater trennte. Nach der Trennung, wurde mein Leben gefährlich, besonders da mein Vater frustriert war. Weil es keine Erwachsenen gab, bei denen ich hätte bleiben können, ging ich ins Kinderheim 11. November, wo ich auch in den Schuljahren 1987/88 und 1988/89 zur Schule ging, aber ich bin geflohen, weil ich mich nicht daran gewöhnen
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konnte, wie das Leben da lief. Danach ging ich ein Jahr nicht zur Schule und die Nachmittage habe ich damit verbracht, Rad zu fahren; das habe ich ziemlich gut gelernt – so gut, dass ich zu dem Namen »Frieden« kam. Ich war so bekannt, dass die Kinder mich, wohin ich kam, beim Namen riefen und ich fand eine Menge Freunde, und dann fing ich an, Arminda zu mögen, und sie wurde meine erste Freundin. Das war 1991. Sie ging in die siebte Klasse der Schule, die Juventude e Luta hieß. 1992 wurde ich verhaftet, weil ich in schlechter Gesellschaft war, und damals war es auch, dass ich anfing Zigaretten zu rauchen; auch wenn ich schon Marihuana probiert hatte, ich rauchte es nicht. Im Gefängnis traf ich viele andere junge Leute, die alle möglichen Dinge verbrochen hatten, aber auch andere, die nur drin waren, weil man ihre Fälle nicht sorgfältig untersuchte. Damals war ich 17. An Weihnachten gab es im Gefängnis weder Wasser noch Essen. Täglich gab es Besuch und die Verwandten mussten Essen und Wasser und Bettdecken und Matratzen mitbringen, die Betten da waren aus Zement. Was mir wirklich auffiel war, dass im Gefängnis alles verkauft wurde, von Alkohol bis zu Drogen. Manche [Gefangenen] verkauften ihre Kleider für Essen oder Zigaretten, weil sie Hunger hatten oder starke Raucher waren. Wirklich bestürzend war eine Geschichte, als ein 16-Jähriger eine Schüssel voll Essen mit Analsex bezahlte. Angesichts solcher Geschichten fragte ich mich: »Mein Gott, was ist das für ein Land? Das ist kein Ort, um Minderjährige umzuerziehen oder unter annehmbaren Bedingungen zu inhaftieren.« Als man mich entließ, hörte es auf, dass ich so traurige und unmenschliche Dinge mit ansehen musste. Ja, es hörte auf, dass ich Menschen an Hunger sterben sah. Es hörte auf, dass ich Menschen sah, die man ins Gefängnis warf, während ihre Familien von nichts wussten … und ein paar Tage später, wenn die Verwandten auftauchten, erfuhren sie, dass ihr Sohn oder Neffe drei Tage zuvor gestorben war. Als ich gerade entlassen worden war, spitzte sich die Konfrontation zwischen der UNITA und der MPLA zu. Das war sehr traurig. Ich kam zum Militär. Nach der Rekrutenzeit und neun Monaten Grundausbildung wurde ich einer Abteilung in der Nachschubkompanie des Oberkommandos zugewiesen. Ich nahm an der Befreiung von Caxito teil und wurde später zum Stabsunteroffizier befördert. Im Juni 1993 bat ich meinen Vorgesetzten, mir für ein paar Tage frei zu geben, weil ich gerade 18 Jahre alt geworden war und meine Familie und Freunde sehen wollte. Ich verließ daraufhin Funda [eine Ortschaft in der Provinz Bengo], wo meine Einheit stationiert war, und ging nach Luanda, um meine Freunde und meine Familie zu besuchen. In Luanda angekommen, war ich glücklich, denn es war mehr als ein Jahr vergangen, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Während der drei Tage Urlaub konnte ich Arminda, meine Freundin, und Dinho, meinen besten Freund aus Kindertagen, wiedersehen; mit ihm fing ich im gleichen Jahr, 1993, das Marihu-
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anarauchen an. Als der Urlaub zu Ende war, kehrte ich zu meiner Einheit zurück, bei der ich bis zur Befreiung von Kenza Norte blieb; dabei trafen mich zwei feindliche Kugeln und ich wurde daraufhin ins Militärhospital gebracht. Damals gab es mit der medizinischen Versorgung Schwierigkeiten, Gott sei’s geklagt, sie operierten mich am linken Oberschenkelknochen und ich brauchte ein paar Monate, um mich zu erholen; danach lief ich einen weiteren Monat lang an Krücken. Ich war verzweifelt und kehrte nicht zu meiner Einheit zurück, sondern blieb bei meinem Vater. Er hatte inzwischen eine andere Frau geheiratet, eine schwarze Frau, mit der ich ein paar Probleme hatte, weil ich mit ihrer jüngeren Schwester ausging. Die Situation führte zu großen Problemen und zu Familienkrach, schließlich zog ich aus und nahm mir ein Zimmer; von da an hatte ich nur noch sehr selten Kontakt zu meinem Vater oder zu den anderen zu Hause. In der Zeit hatte ich schon schlechte Angewohnheiten, was Zigaretten und Frauen anging. 1994 dann ging ich zurück in die Schule, in die achte Klasse, und dann fing ich aus Not, weil meine Eltern mich nicht mehr unterstützen konnten, an, hinter dem Hotel Pacifico Autos zu waschen. Es war immer mein Traum, eine gute gesellschaftliche Stellung einzunehmen, und ich frage mich noch heute, was ich im Leben falsch gemacht habe, dass ich nicht das habe, was andere haben. 1995, während ich noch zur Schule ging und keine Ahnung hatte, was mit mir geschah, fing ich dann an, mehr mit meinem Freund aus Kindertagen zu rauchen. Ein Jahr später wechselte ich zur Mittelschule am INE [Nationales Ausbildungsinstitut], und bei den Schwestern fand ich freundliche Aufnahme, denn das Gebäude gehört der katholischen Kirche. Am 3. März 1996 geriet ich betrunken in eine Schlägerei mit zwei Typen, von denen einer ein Taschenmesser hatte. Wehrlos floh ich und versteckte mich hinter der Klimaanlage des Hotel Pacifico, die auf der Terrasse im ersten Stock des Nachbargebäudes steht. Einer der Sicherheitsleute fand mich da, hielt mich fest und beschuldigte mich, ich hätte einen der Ventilatoren gestohlen. Ich wurde daraufhin unter Diebstahlverdacht inhaftiert und kam ins Zuchthaus Viana. Da, lieber Leser, das kannst du glauben, dachte ich, das wäre das Ende der Welt; ich sah ausgemergelte Jugendliche und Erwachsene, Männer, die im Gefängnis saßen, obwohl ihre Haftzeit seit einem oder zwei Jahren abgelaufen war, und die nicht wussten, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollten. Und wenn es etwas gibt, das ich nicht vergessen werde, dann waren es die vielen Toten dort, sei es infolge von Unterernährung oder weil Häftlinge versuchten zu fliehen. Es hat mich immer angestunken, dass man, wenn Inspektoren reinkamen, nur die Gefangenen zeigte, die in guter körperlicher Verfassung waren, und die »Biafras«, die Unterernährten, versteckte. Was die Umstände von Alltagskriminalität angeht – den Diebstahl eines Benzinkanisters, von ein Paar Hosen, einer Decke –, so sollten diese Fälle nicht ins Gefängnis führen; es dauert so lange, bis es eine Entscheidung gibt.
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Eine sehr lustige Geschichte war, als ich einmal ein paar Gefangene vor den Zellen gesehen habe und einer rief: »Wer tauscht eine Zigarette gegen farinha de musseque [Maniokmehl]?« Einer, der farinha brauchte und eine Zigarette hatte, rief: »Hier in Zelle 27!« Und dann machten sie das Geschäft. Ich fand die Pause immer sehr interessant wegen der Sonne, weil ich da stehen und die anderen beobachten konnte, wie sie sich wie gegrillte Fische bräunten. Einige hatten überall Hautinfektionen und andere Krankheiten. Als ich im Gefängnis war, starben drei oder vier Leute täglich vor Hunger oder an irgendeiner Krankheit. Sechs Monate später wurde ich freigelassen und schwor, nie wieder an diesen verdammten Ort zurückzukehren. Ich legte in der Kirche Zeugnis davon ab und schwor es auf die Bibel; viele Leidensgenossen, die auch dort gewesen waren, bewegte es, dieses Zeugnis in der Sonntagsmesse der Gemeinde der Pentecostal Assembly of God zu hören. In Freiheit hatte ich eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die mit der Zeit zusammenhingen, die ich hinter Gittern verbracht hatte. Manchmal fühlte ich mich, als ob die Erde mich unter sich begraben wollte. Andererseits war ich auch glücklich, als ich herausfand, dass ich einen Sohn hatte, denn bevor ich ins Gefängnis kam, hatte ich eine Freundin geschwängert. Zu jener Zeit war Arminda schon gestorben … Eine junge Frau, die ich so sehr geliebt habe und an die ich mich bis heute erinnere … Ich hatte viele Freundinnen, aber keine war wie sie. Ich fand keinen Job, also ging ich zurück, um hinter dem Hotel Pacifico Autos zu waschen. Ich traf dort viele Jungs und auch einen Typen, der als der »König« galt – er war der »König«, weil er alle verprügelte und daher alle Angst vor ihm hatten. Als ich zurückkam, änderte sich die Situation. Während ich stets nach einer vernünftigen Lösung suche, ist er einer, der, ob er im Recht ist oder nicht, den Leuten übel mitspielt. An einem bestimmten Punkt war seine Zeit abgelaufen; wir schlugen uns, weil er mich bei der Polizei angeschwärzt hatte. Nach unserem Kampf war sein Arm ausgerenkt, für ihn war das fürchterlich peinlich, er verschwand aus der Gegend und tauchte erst nach ein paar Monaten wieder auf. Aber so, wie die Dinge lagen, waren die Tage vorbei, wo er die Leute ausbeuten konnte. Er hatte immer andere Leute die Autos der Kunden waschen lassen und dann, wenn das Auto gewaschen war, den anderen nur drei Prozent von dem bezahlt, was er einnahm. Manchmal zahlte er überhaupt nicht, und wer sich beschwerte, wurde verprügelt … Deswegen hassten ihn alle. Alles in allem waren nach dem Sturz des »Königs« die Schwächeren, die keine Kunden hatten, erleichtert. Mit der Zeit änderte sich die Situation beim Autowaschen erneut, als die Polizei auftauchte, dort den ganzen Tag zubrachte und für jedes Auto, das wir gewaschen haben, abkassierte. Zu jener Zeit wechselte ich vom Tag zur Nacht. Ich verbrachte die Nacht als »Beschützer« von ein paar Freunden und Freundinnen, die als Prostituierte arbeiteten. Es war nicht so einfach, mich daran zu gewöhnen, aber schließlich schaffte ich es und machte mir eine Menge Freunde, auch Ausländer, weil ich ein
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bisschen Englisch spreche und deshalb in der Lage war, für ein paar Typen zu übersetzen, die Sex von den Mädchen wollten. Mein Leben wurde schlimmer, weil ich die Nacht über wach blieb, erst um vier oder fünf Uhr morgens schlafen ging, um dann um drei oder vier Uhr nachmittags wieder aufzuwachen. Ich war immer nett und es gab ein paar Leute, die sagten, sie würden mich gern sprechen hören. Als ich sie neugierig nach dem Grund fragte, antworteten sie, dass sie mir wegen meines Akzents gern zuhören. Das tat gut, ich fühlte mich glücklich in dem Wissen, dass alle mich mochten. Was meine Kollegen hinter dem Pacifico angeht, da gab es gute und schlechte, aber ich wusste immer, wen ich als Freund ansehen kann; die, mit denen ich am besten zurecht kam, waren J., Y., K. und N. – N. ist ein 16-jähriger Junge, den ich sehr mochte und mit dem ich später zusammenzog, weil ich wusste, dass er auf der Straße schlief. Was Liebesgeschichten angeht, so muss ich sagen, dass ich viele hatte; die mich am meisten berührte, war die mit Vanusa, einem Mischlingsmädchen. Sie berührte mich am meisten, weil sie gut war. Ich erinnere mich daran, dass ich eines Dienstags ohne Hemd und Schuhe auf dem Dach eines Generatorenhäuschens hinter dem Hotel Pacifico saß. Ich schaute nach rechts und sah eine mulata, den Körper eines Fotomodells, lange geflochtene Haare. Ich rief sie und sie sagte, ich solle herunterkommen. Als ich heruntergestiegen war, gab ich ihr die Hand und sagte ihr meinen Namen. Sie fragte mich, ob ich der Frieden sei, der am INE zur Schule geht. Ich antwortete mit »Ja«. Dann fragte sie mich, ob ich der Frieden sei, der Gras verkauft. Ich sagte wieder »Ja«, denn damals verkaufte ich Gras, also Marihuana, aber ich rauchte es nicht. Im weiteren Gespräch versuchte ich etwas über sie zu erfahren. Sie erzählte mir dann, dass sie keinen Freund hat und dass Männer eine Plage sind. Ich war von ihr betört und sagte, schau, sie sind nicht alle gleich; sie solle versuchen, einen anderen zu finden. Ich war noch nie zuvor so gefesselt von einer Frau – ich hätte sie entführen können! Die Zeit verging und schließlich verabschiedeten wir uns und sie versprach, am nächsten Tag wiederzukommen. Am Mittwoch tauchte sie gegen zwei Uhr nachmittags auf. Ich war gerade dabei, ein Auto zu waschen und bat einen Kollegen, das fertig zu machen. Ich wandte mich dem schlanken Mädchen zu und träumte davon, mit ihr wegzugehen, je weiter, desto besser, in ein Land, das ich allein, ich allein kenne. Der größte Glücksmoment war, als wir entdeckten, dass sie das gleiche Sternzeichen wie ich hatte; sie wollte rauchen und ich nahm sie deshalb mit an einen Ort, an dem ngansa [Pot] rauchen sicher war. Ich war schüchtern und hatte nicht den Mut ihr zu sagen, was ich für sie empfand. »Hey Mann, was guckst du mich so an?«,
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fragte sie. Ich antwortete: »Du bist sehr schön.« »Danke«, sagte sie, nahm einen Zug von dem Gras, und das war’s. »Ich warte auf den Fahrer«, sagte sie. Überrascht fragte ich sie, wer ihr Vater sei, und sie erklärte mir, dass ihr Vater der Chef einer Abteilung einer nichtstaatlichen Firma oder NGO und sehr gemein sei. Da bekam ich Angst, plötzlich tauchte der Fahrer auf und sie verschwand ohne zu sagen, ob sie am nächsten Tag vorbeikommen würde. Am Tag danach, einem Freitag, tauchte sie mit einer Cousine auf und erzählte mir, das Mädchen wolle anfangen Gras zu rauchen. Ich war neugierig, küsste sie auf die Wangen und wir stellten uns vor; ich fragte sie geradeheraus, ob es wahr ist, sie sagte Ja und dann gingen wir in mein Zimmer. Dort angekommen, rollte ich einen Joint und Jessica erhielt ihre »Taufe« – man sagt das so, wenn jemand anfängt Drogen zu rauchen. An dem Tag, und ich hatte keine Ahnung, dass sie eine Affäre mit mir anfangen wollte, blieb Vanusa in meinem Zimmer, nachdem Jessica gegangen war. »Vanusa, ich muss zur Arbeit«, sagte ich, damit sie auch geht. Und sie sagte: »Ich bleibe noch hier, weil ich noch nicht gehen muss.« Ich ging runter zum Hotel Pacifico, um Autos zu waschen. Als ich in mein Zimmer zurückkam, war Vanusa noch da. Um sieben Uhr abends fragte ich sie, ob sie nicht nach Hause gehen will. Ich soll mir keine Sorgen machen, sagte sie, und das machte mir Mut, ihr gegenüber direkter aufzutreten, und ich sagte: »Vanusa, da wir uns erst seit kurzem kennen, was würdest du davon halten, wenn ich dich mal was frage?« Sie antwortete darauf: »Du Dummer! Wenn ich von dir nichts wissen wollte, wäre ich dann noch hier?« Da küsste ich sie, sie umarmte mich stürmisch und zog mir mein Hemd aus. Sie hatte auch kein Hemd mehr an und ich fing an, ihre Ohrläppchen und ihre Brustwarzen zu küssen. Mit leiser Stimme stöhnte sie: »Oh, Frieden!« Es war gut, so gut, dass wir beinahe eine ganze Woche zusammen blieben. Es war fast wie Flitterwochen. Es ist traurig, weil wir uns nach sechs Tagen trennten und uns nie wieder sahen. Heute bin ich der Vater eines Sohnes und für ihn tue ich alles – mir geht es schlecht, aber ich ertrage es.
Ein verwundeter Junge in einer Behelfsklinik, die in einem buddhistischen Tempel in Sri Lanka eingerichtet wurde. Nach dieser Aufnahme im Jahr 1985 waren Tempel und Mönche Ziel eines Anschlags.
12. Nicht Krieg, nicht Frieden: Die Zeit dazwischen
Wir standen am militärischen Checkpoint, um durch das Niemandsland zu fahren. Es wird offiziell nicht so genannt; tatsächlich weiß ich nicht einmal, ob es einen amtlichen Namen für diesen gefährlichen Streifen Land gibt, den eine politische Laune entstehen ließ. Unser Checkpoint steht an der Grenze des von der MPLA-Regierung kontrollierten Gebiets. Vor uns lag ein »unregierter« Landstrich, ein paar Kilometer breit. Auf der anderen Seite gab es einen weiteren befestigten Checkpoint, bei dem man ins von den Rebellen der UNITA kontrollierte Gebiet gelangte. Ich werde mich nie daran gewöhnen oder gar dabei wohlfühlen, sagte ein Mann, mit dem ich damals reiste. Wir sind mitten im Nirgends, wir sind mitten im militärischen Sperrgebiet. Die Soldaten auf diesem gottverlassenen Außenposten hier sind das Gesetz. Es gibt bei uns einen Witz, der kein Witz ist: »Sie schießen erst und machen sich nicht mal die Mühe, danach noch Fragen zu stellen.« Die Grenzen hier sind schwer bewacht: Die Leute dürfen nicht einfach vom Regierungs- ins UNITA-Gebiet gehen, die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und man wird kontrolliert.
Das war im Jahr 1996, in Angola »herrschte Frieden«. Ich war mit einem Team von Landwirtschaftsspezialisten unterwegs, das die Genehmigung hatte, im Gebiet der UNITA die Ernteerträge verbessern zu helfen. Für die Regierung wie für die UNITA waren bessere Ernten entscheidend. Nach Schätzungen der Regierung wie von NGOs litt mehr als die Hälfte der Bevölkerung Angolas an Unterernährung. Die Anbaugebiete befanden sich zum größten Teil unter der Kontrolle der UNITA, doch allen politischen Spannungen zum Trotz wurde auf diesem Land die Nahrung produziert, die die gesamte Bevölkerung brauchte. Während unser Team den Soldaten noch die Reisepläne erklärte, schaute ich nach draußen ins Niemandsland. Unter normalen Umständen wäre die Gegend wunderschön gewesen. Nur eine einzelne Straße inmitten einer weiten Naturlandschaft – keine Häuser, keine Fabriken, kein Tagebau oder Holzeinschlag, keine Umweltverschmutzung, keine Leitungsmasten. Savanne, soweit das Auge reichte. Das Gebiet der UNITA war zu weit entfernt, als dass man es hätte einsehen können.
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Doch die natürliche Schönheit der Landschaft hatte einen existenziellen Schönheitsfehler. Die Checkpoints standen für politische Sphären: Regierungsherrschaft und UNITA-Herrschaft, Frieden und Nichtfrieden. Die Bewegung und der Verkehr von Menschen und Gütern durch diese Sphären und zwischen ihnen waren aus diesem Grund eingeschränkt. Natürlich war der Verkehr unerlässlich: Die Gebiete der UNITA waren die Getreidekammer des Landes, die von der Regierung kontrollierte staatliche Infrastruktur gewährte den Zugang zu notwendigen Industrieerzeugnissen. Jede Partei benötigte die Ressourcen der anderen. Während Friedensexperten weltweit darauf hinwiesen, dass die politisch voneinander getrennten Einflusszonen mit ihrer Kontrolle der Mobilität von Menschen und Gütern nicht allzu »friedlich« wirkten und eindeutig die Entwicklung des Landes hemmten, versuchte die Bevölkerung das Beste aus der Situation zu machen. Für viele bedeutete das, dem Niemandsland zu trotzen und mit den unentbehrlichen Dingen des Lebens Handel zu treiben. Das Niemandsland kannte keine Regeln. Es gehörte niemandem, denn die Einflusszonen der Regierung beziehungsweise der UNITA endeten an den jeweiligen Checkpoints. Beide lagen Kilometer voneinander entfernt und ein mehrere Hundert Kilometer langer Streifen verlief entlang einer politischen Grenzziehung. Doch was genau ist ein Staat? Die Frage zeigt, wie stark die Vorstellung im Alltagsdenken verwurzelt ist, dass jedem Stück Land auf der Landkarte eine Farbe zugewiesen werden kann und dieser Farbe wiederum der Name eines Souveräns. Doch hier war niemandes Land. Das verstieß gegen die Ontologie des Staates. Doch das Land war deswegen nicht von niemandem bevölkert. Unbewaffnete Händler durchzogen es in seiner natürlichen Schönheit; im unebenen Gelände der Staatenlosigkeit verbargen sich Soldaten vor feindlichen Soldaten im Konflikt darum, die Kontrollhoheit zu erlangen; vagabundierende Banden bewaffneter Räuber lauerten auf Beute; gestrandete Piraten fanden hier einen sicheren Hafen. Irreguläre Waren im Wert von Millionen Dollar überquerten diese Grenzen, wechselten die Besitzer, formten die Macht. Unzählige Leben wurden geopfert. Wenn es eine Schattenlandschaft war, bevölkerten sie Geister: Menschen mit unbekanntem Namen und unbekannter Herkunft; doch welcher Händler, welcher Soldat, selbst gegen die Grenzgesetze verstoßend, würde es wagen, das anzuzeigen? Die Geister waren zugleich real. Die Leute erzählen sich, dass ein Mensch, der allein sterben muss, für den es keine Totenfeier und kein Begräbnis gibt, umherirren wird, zornig und gepeinigt von Sorge. Das Niemandsland war voller solcher Geister. ***
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Es gibt eine politische Realität, für die es keinen Begriff gibt. In Angola habe ich Leute sie die Zeit des »weder Krieg noch Frieden« nennen hören. Im Wesentlichen ist es eine Zeit, in der Militäraktionen durchgeführt werden, die an und für sich »Krieg« oder »Kriegsführung niedriger Intensität« genannt werden müssten; aber man schreckt davor zurück, sie so zu nennen, weil sie parallel zu einem Friedensprozess ablaufen, dessen Scheitern einzugestehen niemand bereit ist. Kriegshandlungen werden »Polizeiaktionen«, »Banditentum« und »Zwischenfälle« genannt – oder aber man schweigt in der öffentlichen Debatte einfach über sie. Ein Ex-Soldat meinte mir gegenüber: »Wenn wir darüber reden« – er fuhr sich mit einem Finger zum Zeichen des Kehledurchschneidens über den Hals –, »reden wir nie wieder.« Eine weit gefächerte internationale Apparatur, eine weltweite Bürokratie wacht über die meisten Friedensprozesse. Diplomaten aus allen Winkeln der Welt richten Konferenz um Konferenz aus. Die Vereinten Nationen bieten alle verfügbaren Kräfte für Friedensmissionen auf, von hochrangigen Vertretern bis zu Blauhelmen inklusive der ungeheuren Infrastruktur, die die dafür benötigten Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellt. In Mozambique und Angola gaben die UN zur Vorbereitung der Wahlen eine Million USDollar täglich aus. Hunderte internationale NGOs sind der Sache des Friedens verpflichtet und verteilen ihr Personal und die Spendengroschen ihrer Landsleute, um zu helfen. Nicht dass man denkt, nur eine Hand voll internationaler NGOs arbeiteten zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort; im Allgemeinen findet man vor Ort in Afrika 200 und mehr, und in leichter zugänglichen Konfliktgebieten wie dem Balkan sind es mehr als 300. In den 1990er Jahren, als der Krieg endete, war Mozambique ein Land, in dem 180 nationale und internationale NGOs ihre Dienste zur Verfügung stellten. Im Leben dieser Leute, in ihrem Beruf (und für ihren Ruf) dreht sich alles um Frieden. Diese Leute arbeiten inmitten einer kriegsmüden Bevölkerung, für die es in der Regel unerträglich ist, daran zu denken, dass ein Krieg in eine neue tödliche Runde gehen könnte. »Krieg« wird zu einem Tabuwort. Offiziell existieren die Kriegstoten, die Flüchtlinge und die kämpfenden Soldaten nicht. »Illusionen« werden die Straßenkinder im nächsten Kapitel diese Vorstellungen nennen, die die Erwachsenen von der Macht hegen. Die Politik hat deshalb keine Antwort auf den Krieg, schließlich findet er ja nicht statt. Es gibt nur Frieden. 1996 war die Zeit, als die Vereinten Nationen im zweiten Anlauf versuchten, in Angola den Frieden zu erhalten. Der erste Versuch war kläglich gescheitert, als die demokratischen Wahlen, die unter UN-Beobachtung standen und ein Teil des Friedensprozesses sein sollten, 1992 in die heftigsten Kämpfe mündeten, die das Land seit der Unabhängigkeit erlebt hatte. Mit der
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Unterstützung einiger der mächtigsten Regierungen der Welt sollten die UN es diesmal »richtig machen«. Die Einhaltung der Lusaka-Vereinbarungen wurde überwacht und die Demobilisierung war eingeleitet.23 Es war eine merkwürdige Demobilisierung. Die UNITA kontrollierte weiterhin über die Hälfte des Landes, und Bevölkerungsteile wurden mit Gewalt unterworfen. Überall entstand Niemandsland. Die »Soldaten« der UNITA, die zur Demobilisierung in dafür eingerichteten Zentren auftauchten, waren häufig verdächtig jung oder alt, verdächtig untrainiert und mit verdächtig alten oder defekten Waffen ausgerüstet. Man mutmaßte, dass hier gewöhnliche Bauern »demobilisiert« wurden, während die eigentlichen Soldaten weiterhin in den von der UNITA besetzten Gebieten operierten. Alle Seiten waren argwöhnisch, doch größere Änderungen oder Widerspruch gab es nicht. Keiner sah eine Möglichkeit, die Situation anzugehen, ohne den »Friedensprozess« zu gefährden. Vielleicht war es auch nur eine zu große und zu komplexe Aufgabe. »Frieden« wird, wie Krieg auch, institutionalisiert, und Institutionen sind eine bekanntermaßen schwierige Angelegenheit. Alle erfüllten ihre Aufgaben; niemand wusste, wie es anders gehen könnte. Als ich 1997 versuchte, nach Angola zurückzukehren, war der so genannte Friedensprozess in vollem Gange. Die UNITA hatte einer Regierung der nationalen Einheit zugestimmt, und der politische Entschluss wurde als diplomatischer Sieg und als Durchbruch für die Demokratie gefeiert. Warum aber wurde ich zwei ganze Monate hingehalten, als ich versuchte, ein Visum zu bekommen? Laurent Kabila hatte gerade Kinshasa im Sturm genommen und erklärt, dass Zaire nun zur Demokratischen Republik Kongo geworden sei. Angolanische Regierungstruppen wurden an die kongolesische Grenze entsandt, »um die Flüchtlingsbewegung aus Zaire unter Kontrolle zu bringen, die Angola ins Chaos stürzt«, wie es von offizieller Seite hieß. Was nicht erwähnt wurde, war, dass der Einsatz die Truppen in von der UNITA kontrollierte Gebiete führte, Gebiete, in denen sich größere Diamantvorkommen befanden. Die UNITA behauptete im Gegenzug, dass die Regierung Krieg gegen sie führe. Nicht erwähnt wurde, dass zu Zeiten, als das Land noch Zaire hieß, Mobuto Sese Seko die UNITA unterstützt hatte, während Kabila mit der MPLA-Regierung Bündnisbeziehungen unterhielt. Der Sieg Kabilas in Zaire/Kongo versetzte die MPLA in die Lage, einen Trumpf gegen die UNITA auszuspielen und in Richtung der Diamantgebiete vorzurücken. In der Zwischenzeit wartete ich endlos auf mein Visum, von dem eine ganze Schar von Konsulatsbeamten behauptete, es müsse »jeden Tag« kommen. Schließlich erklärte mir eine mitfühlende Frau in einer angolanischen Botschaft in einem afrikanischen Land: »Geben Sie auf, Carolyn. Es ist zu heikel, jetzt Visa auszustellen, solange es dieses Kriegsproblem in Angola gibt.« Das »Kriegsproblem«: ein »offenes
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Geheimnis«, wie Michael Taussig Wahrheiten nennt, die allgemein bekannt sind, aber von niemandem öffentlich ausgesprochen werden.24 Ich gab meinen Versuch 1997 auf. Es gab kein Visum – auf Grund des Friedens. Ein Jahr später, 1998, bekam ich ein zwei Jahre geltendes Visum für Angola, das mir die mehrfache Ein- und Ausreise gestattete. Offiziell war Frieden, doch die Zeitungen in Südafrika titelten: »Wieder Krieg in Angola«. Die Leute in Luanda hatten begonnen, in Erwartung eskalierender Kämpfe Vorräte zu horten. Die im Land operierenden internationalen NGOs konnten in der Woche, als ich ankam, die Provinzhauptstädte nicht mehr verlassen: Es hatte zu viele Anschläge und Tote gegeben. Ich reiste in die Provinz Malange, in der, wie man mir sagte, die Spannungen zunahmen. Regelmäßig gab es in der Region Angriffe – offiziell war die Rede von »Banditenwesen«, aber die einfachen Leute in der Stadt kommentierten spöttisch: »Banditen, Militär, Soldateska, Krieg – bei uns gibt’s alles.« Eine der lokalen NGOs überließ mir einen Hinterraum in ihrem Büro, mit Unterkünften gab es Probleme (genau wie mit Elektrizität, Treibstoff, Haushaltsbedarf und eigentlich allem anderen). An jenem Abend kamen mehrere der vor Ort tätigen angolanischen Mitarbeiter und wir aßen gemeinsam zu Abend. Die Unterhaltung beim Essen war ungezwungen und unterschied sich von den alltäglichen Gesprächen während der Arbeitszeit. »Können Sie es spüren?«, fragten sie und schauten dabei hinaus in die Nacht. »Was spüren?«, fragte ich zurück. »Den Krieg. Er ist hier. Wir sollen eigentlich nicht darüber reden, aber jeder weiß es. Vor ein paar Jahren wurde Malange belagert, die Lage war verzweifelt. Wir hatten nichts zu essen, wir aßen Gras – nun, genau genommen nur die, die Glück hatten; viele lebten nicht mehr. Und jetzt spüren wir, dass er wiederkommt. Die Nahrungsmittel werden knapp, wir kriegen kein Benzin, keine Medikamente, keine Dinge, die wir brauchen. Und was passiert? Man sagt uns, wenn wir versuchen, die Dinge, die wir brauchen, im Tauschhandel aufzutreiben, hilft das dem Feind. ›Habt ihr gute Gründe, euch hier draußen rumzutreiben?‹, fragen die Soldaten – und meinen damit natürlich, dass es keine guten Gründe dafür geben kann. Je weniger wir eintauschen können, desto verzweifelter wird unsere Lage, desto mehr müssten wir wiederum eintauschen, desto verdächtiger wird das. Leute werden deswegen erschossen. Doch schauen Sie, tatsächlich fließt das Benzin, es gibt Lebensmittel, die Waren zirkulieren. Die Geschäfte gehen gut. Ausgezeichnet, würden manche sogar sagen. Doch es sind Soldaten, die sie machen. Uns erschießen sie für etwas, aus dem sie
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ein florierendes Geschäft machen. An der Front gehen mehr Waren hin und her als Granaten.«
Die gleiche Art Gewalt fand sich überall in Angola. Als ich von Malange nach Luanda zurückkam, begegnete ich einem Mann, der am anderen Ende des Flurs versuchte, mit seinen Taschen die Treppe hinauf zu seinem Zimmer zu kommen. Der Mann war freundlich, aber er zitterte so arg, dass er seine Taschen nicht die Stufen hochtragen konnte. Ich half ihm und fragte ihn, über was er sich so aufgeregt habe. »Ich arbeite für den Lutherischen Weltbund und wurde gerade unter heftigem Beschuss aus der Provinz Moxico evakuiert. Während der Flucht standen wir unter Geschützfeuer und wurden bombardiert. Ich musste über die Körper von Toten klettern. Das ganze Gebiet explodierte. Ich habe zwei Jahre dort gelebt und nie etwas Ähnliches gesehen. Es war grauenvoll, so viele Tote, so viele Leichname. Das Gebiet besetzt. Wir mussten in die DR Kongo fliehen, dann weiter hoch nach Kinshasa, und gerade bin ich hierher zurückgekommen. Ich komme aus Kamerun und ich kann Ihnen sagen: Ich habe eine Menge in meinem Leben gesehen, aber jetzt träume ich davon, nach Hause zu kommen. So etwas will ich nie wieder durchmachen.« »Um was ging es bei den Kämpfen in dem Gebiet?«, fragte ich ihn. »Kämpfe?« Er sah mich an und schüttelte den Kopf. »Kämpfe? In dem Gebiet? Das sind keine Kämpfe. Das ist Krieg. Die ganze verdammte Provinz befindet sich im Krieg. Die UNITA hat das ganze Gebiet besetzt, die ganze Provinz und auch Cubango im Süden. Die machen dort weiter. Und die Regierung eröffnet einen Angriff.« »Krieg«, bemerkte ich, »ist ein Wort, das hier niemand benutzt.« »Das stimmt. Aber ich frage mich, was all diese Toten sagen, woran sie gestorben sind.«
Jeder konnte Geschichten über Gewalt erzählen, über den Tod von Leuten, die man gekannt hatte. Und jeder kannte jemanden, der bei einer der Einberufungskampagnen des Militärs, die sich in den vergangenen Wochen in dramatischer Weise häuften, von der Straße weg zwangsverpflichtet worden war. Aus allen Teilen Angolas wurde von Kämpfen berichtet, und die Zahl der Flüchtlinge im Land war zu einem Strom angewachsen. Inmitten dieser Situation erzählte mir die nationale Vertreterin des katholischen Hilfsdienstes CRS, sie habe gerade aus der internationalen Zentrale die Nachricht erhalten, dass die Gefahrenzulage gestrichen worden sei. »Gestrichen?«, fragte ich sie überrascht. »Ja klar, wir haben doch Frieden«, erwiderte sie. »Der Friedensprozess gilt als erfolgreich.« Die Szene hilft zu verstehen, warum es in manchen Ländern ein ums andere Mal zu politischer Gewalt kommt; warum immer wieder Krieg »aus-
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bricht«. In Wirklichkeit ist es ein und derselbe Krieg, ein Krieg, der niemals, außer auf dem Papier, endete. Zu Beginn dieses Kapitels schrieb ich, dass eine weit gefächerte internationale Apparatur, eine weltweite Bürokratie einen Friedensprozess umgibt. Im Leben dieser Leute, in ihrer Arbeit dreht sich alles um Frieden; er ist ihre raison d’être. Der Friedensprozess wird bürokratisiert, global bürokratisiert. Die Diplomaten, ihre Regierungen, die Vereinten Nationen, die internationalen NGOs und die Zielländer werden zu miteinander verflochtenen Akteuren des Friedensprozesses. Dieses Netzwerk setzt letztlich Tausende von Menschen und Milliarden von Dollar in Bewegung, und es erringt ein nicht bezifferbares Ansehen. Gepflogenheiten entstehen, eine Routinisierung – ganz im Sinne Max Webers – setzt ein. Ziele werden in Übereinstimmung mit diesen Gepflogenheiten und bürokratischen Routinen formuliert. Werte kommen hinzu, die die Arbeit unterfüttern. Medien und Politik verkünden die Erfolge. Internationale Handelsabkommen werden aufgrund der behaupteten Stabilität abgeschlossen. Eine politische Kultur entsteht, eine politische Ökonomie nimmt Form an. Angesichts dieses weit gefächerten Netzwerks von Friedensmaklern, wie könnte man da zugeben, dass es nicht funktioniert? 1998 sagte der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen in Angola, Alioune Blondin Beye, der aus Mali stammte: »Nein, es ist in Friedenszeiten nicht normal, dass Nichtregierungsstreitkräfte mehr als die Hälfte des Landes kontrollieren.« Zwischenfälle häuften sich in alarmierendem Ausmaß. Dennoch blieben die merkwürdigen Gepflogenheiten des Friedensprozesses, die nur vorgetäuschte Demobilisierung und die Tatsache des Krieges selbst ausgeblendet. Die Menschen sahen die Schatten des Krieges, die ihr Leben verdunkeln würden, am Horizont aufziehen, und sie waren nicht gerüstet, sie aufzuhalten.
Eine merkwürdige Umkehrung Eine Zeit des »weder Krieg noch Frieden« ist für Angola charakteristisch, doch auch in anderen politisch erschütterten Ländern nicht ungewöhnlich.25 Manchmal jedoch entsteht eine Insel des Friedens in einem Land, das sich offiziell im Krieg befindet. Es ist dann der Frieden, der nicht anerkannt wird. Ein solcher Fall spielte sich seit den 1990er Jahren im Nordwesten Somalias ab – in der selbst ernannten Republik Somaliland. 1988 war ich in Somalia, als der damalige Präsident Siad Barre eine militärische Offensive gegen die Stadt Hargeysa und die sie umgebenden Gebiete im Norden des Landes lancierte. Der Angriff war für die Bevölkerung verheerend, zur damaligen Zeit fanden die Ereignisse jedoch wenig Erwähnung in internationalen Medien. Mit dem Ende
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des Regimes von Barre fiel der Süden in Fraktionskämpfe und Fehden zwischen Warlords, während der Norden sich entlang innovativ genutzter Traditionslinien neu konstituierte und eine stabile Nation mit eigener Regierung bildete. Ken Menkhaus berichtet: »In Somaliland gelang es Präsident Mohammed Ibrahim Egal nicht, die internationale Anerkennung seines Sezessionsstaates zu erreichen. Aber er ist verantwortlich für die Schaffung eines vernünftigen Regierungssystems, für den Wiederaufbau eines Teils der Infrastruktur in der Region, für einen Neubeginn im Schulsystem, für das Treffen weiser und rechtsstaatlicher Entscheidungen und für eine Wiederbelebung des Handels und der Wirtschaft.«26 Man könnte Somaliland »souverän« nennen, doch international ist es das nicht, und die aus eigener Kraft erreichten Erfolge finden wenig Anerkennung. Tatsächlich ist Somaliland ein beispielhaftes Studienobjekt, nicht für spontane Selbstzerstörung – die so häufig Gegenstand von Untersuchungen ist –, sondern für spontane Stabilität inmitten des politischen Chaos. Doch herrscht darüber merkwürdigerweise Stillschweigen. Wissenschaftliche Untersuchungen auf diplomatischem, politischem oder militärischem Gebiet zur Frage nichtstaatlicher Souveränität in der (Post-)Moderne sind selten. Teilweise vermutlich deshalb, weil die Welt auf die Ontologie des Staates baut. Annähernd alle formalen wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Strukturen der Welt basieren auf der Notwendigkeit des Staates. Wenn der Staat zusammenbricht und staatenlose »Massen« eine stabile politische Gesellschaft schaffen – wie das im Norden Somalias der Fall ist –, dann gerät die politische Philosophie als Philosophie des Staates ins Wanken. Die Haltung gegenüber Somaliland, der ich bei den Vereinten Nationen begegnete, illustriert solche Weltanschauungen. Als Somalia zusammenbrach und Somaliland sich als stabiles Gebiet entwickelte, sprach ich mit mehreren hochrangigen Vertretern der UN in Somalia. Sie waren richtiggehend erbost. Wir können es nicht glauben, aber es ist wahr: Wir können nicht hin. Die Leute in diesem Somaliland haben uns gesagt, sie wollen keine UN-Friedenstruppen da oben im Norden. Wir können nicht glauben, wie unverantwortlich das ist, wie gefährlich. Wissen die denn nicht, wie die Wirklichkeit aussieht? Wie können sie dieses Land, um das sie sich anscheinend so sorgen, solchen Gefahren aussetzen? Ich meine, so sieht es doch aus, ohne uns sind sie verloren. Wie können sie so eine Entscheidung treffen?
Mir war nicht klar, woher ihr Zorn kam, und ich wies darauf hin, dass Mogadischu, wo die UN im Einsatz waren, einen klassischen Fall »Westfälischer Anarchie« darstellte, während in Somaliland stabiler Frieden herrschte. Wozu sollten Kräfte von außen angefordert werden, um einen Frieden zu sichern,
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der bereits existierte? Bietet Somaliland nicht tatsächlich ein Modell, so fragte ich diese Beamten, um den Zusammenbruch eines Staates zu überleben? Könnte es nicht Hinweise liefern, wie auch in anderen Gegenden Frieden zu schaffen wäre? Niemand hörte mir zu. Meine Fragen hätten auch in einer unverständlichen Sprache gestellt werden können. Die Antwort der UN-Beamten blieb immer gleich. Das Land ist dabei zu zerfallen. Was denken diese Leute, wie kommen sie zu der Entscheidung, uns nicht hineinzulassen? Ohne unsere Hilfe ist das Land dem Untergang geweiht.
Somalia war zusammengebrochen und nur Staaten und auf Staaten beruhende internationale Organisationen waren in der Lage, es »wieder aufzurichten«. Wir stehen am Beginn des dritten Jahrtausends und Somaliland – das funktioniert und relativ stabil ist – wird weiterhin von den Nationen der Welt oder von den Vereinten Nationen nicht als souveräner politischer Akteur anerkannt. Die Welt besteht darauf, von »Somalia« zu sprechen, als gäbe es da einen Staat, und von den Kämpfen um Mogadischu so, als wären es Kämpfe um die Kontrolle über Somalia. Somalia ist ein Land, das durch »Krieg« definiert ist. So wie Angola ein Land war, das an der Wende zum 21. Jahrhundert durch »Frieden« definiert ist.
Die Definition des Krieges Offensichtlich ist die Definition von »Krieg« ein politischer Prozess. Die Verwendung des Ausdrucks zielt nicht darauf, bestimmte Tatsachen zu benennen, sondern entspricht spezifischen politischen Zielen. Die Ziele ändern sich und flugs ändern sich damit auch die Definitionen von Krieg und Frieden. Das Dilemma besteht darin, dass internationale Organisationen aufgrund diplomatischer Konventionen die realen Fakten nicht offen beim Namen nennen dürfen, ohne politische Empfindlichkeiten zutiefst zu verletzen, und sie können politische Empfindlichkeiten nicht berücksichtigen, wenn sie Aggressionen und Interessen beim Namen nennen. Für viele, die mitten in einem tatsächlichen Krieg oder Frieden ihr Leben meistern, sind die Definitionen leere Worte auf einem bedeutungslosen Stück Papier.
Kriegswaisen und Straßenkinder leben in der Kanalisation unter den Straßen von Luanda, Angola.
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Als ich mich 1990 zur Feldforschung in Mozambique aufhielt, gab es in der Nachbarschaft meiner Wohnung in Quelimane eine Gruppe von Straßenkindern, die der Krieg zu Waisen gemacht hatte. Jeden Abend, wenn ich heimkam, kamen sie zu mir, um zu erzählen, was passiert war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und um zu schauen, ob ich etwas zu essen für sie hatte. Ich erinnere mich lebhaft an ihre Schilderung, wie sie aufeinander aufpassen. Die meisten Kinder waren unter dreizehn, und sie hatten ganz ausgeklügelte Gruppenstrukturen entwickelt. Sie bildeten familienähnliche Kleingruppen, in denen ältere Kinder nach den jüngeren sahen. Neuankömmlinge wurden aufgenommen und die anderen achteten auf sie. Sie organisierten irgendwie das Notwendige an Kleidung und teilten die wenigen Lebensmittel, die sie hatten. Es war die gleiche bemerkenswerte Art, eine Gemeinschaft neu aufzubauen, die ich auch bei anderen ganz gewöhnlichen Leuten beobachtet hatte, die zwischen den Fronten alles verloren hatten, wenn auch weniger ausgeprägt. Es ist eine Geschichte voller Optimismus, und in all den Jahren habe ich sie nicht vergessen. Die Geschichte wiederholte sich in gewisser Weise, als ich 1998 in Luanda, Angola, eine ähnliche Gruppe von Kindern kennen lernte. In Luanda erzählten mir Leute von Kindern, die in der Regenkanalisation unter den Straßen der Stadt lebten. Man berichtete von dem merkwürdigen Anblick, der sich bot, wenn die Kinder den Gullys am Straßenrand entstiegen, aber niemand schien etwas über ihr Leben zu wissen. »Diese Kinder können gefährlich werden«, sagten die Leute kopfschüttelnd, teils mitleidig, teils ängstlich, »und sie sind gewalttätig.« Eines Nachts sah ich eine Gruppe von Kindern an einem Kreisverkehr auf einer der großen Stadtstraßen. Sie kochten irgendetwas, das wie Leim aussah, in einer alten Blechdose über einem kleinen offenen Feuer. Ich hielt an, hockte mich zu ihnen auf den Boden und begann ein Gespräch. Da stand ein Stück Plastik, das mal ein Stuhl gewesen sein mag, das boten sie mir an. Ich lehnte ab, weil es der Stuhl des »Chefs« war. Der »Chef«, ein kleiner Junge von vielleicht acht, schaute zu mir auf, nahm meine Hand und fragte, ob ich mit zu
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ihm nach Hause kommen wolle. »Klar«, erwiderte ich, woraufhin er mich über die Straße zog. Wir mussten Autos und Lastwagen ausweichen. Dann am Straßenrand kletterte er in einen Gully. Es war ein Gully, wie man ihn überall auf der Welt findet, eine kleine Öffnung in der Straßendecke. Für Straßenkinder bietet die Kanalisation eine Art natürlichen Schutz, denn ein ausgewachsener Mann passt hier nicht durch. Ohne einen Moment nachzudenken, quetschte ich mich hinter dem Kind durch die Gullyöffnung. Vor meinem geistigen Auge hatte ich, seit ich von Kindern gehört hatte, die unter den Straßen in der Kanalisation lebten, das Bild verfallener und schmutzstarrender Tunnel, in denen Kinder zusammengekauert unter trostlosen Bedingungen inmitten von Kloaken und Ratten vegetieren. Alle, die ich kannte, hatten die gleiche Vorstellung. Doch als ich in die Kanalisation kam, spürte ich, wie die Welt für einen Augenblick anhielt – und mein Bild der menschlichen Existenz erweiterte sich in diesem Augenblick grundlegend. In der Kanalisation hatten sich die Kinder gemeinsam ein Zuhause geschaffen. Es war blitzsauber. Ich erinnere mich, wie überrascht ich über den fehlenden Gestank war. Die Wände hatten die Kinder mit Illustriertenbildern tapeziert, nicht gerade wenig für Kinder, die kein Geld für Essen oder Kleidung, geschweige denn Kleister haben. Ein alter Schlauch aus einem Reifen diente als Sessel. Für den Boden hatten die Kinder Stoff und Teppichfetzen organisiert, die auf Pappkarton befestigt waren, was dem Fußboden eine Art wohnliche Behaglichkeit verlieh. Ein paar Meter den Kanal hinunter hatten sie eine Wand errichtet und dort ein Regal gebaut, auf dem die paar Habseligkeiten standen, die sie sich organisiert hatten. Auf einem Bord stand eine demolierte alte Vase mit einem Strauß Papierblumen, den die Kinder gemacht hatten. Kleine Kunstgegenstände, aus dem zusammengesammelt, was der Rest der Menschheit wegwirft, schmückten Regalbretter und kleine Tische. Die Kinder führten mich an der Hand bis ans Ende des Raums, wo ich neben einer alten Milchpulverdose Platz nahm, die mit einem merkwürdigen Gewirr von Drähten und kleinen Transistorplatinen verbunden war. Voller Begeisterung schalteten sie das Radio an. Sie hatten sogar einen Frequenzregler angebracht, sodass sie verschiedene Sender einstellen konnten. Eine Reihe Kabel führte zu etwas, das aussah wie ein Haufen weißen Styropors, in dem ein kleiner Berg ausgedienter Batterien lag, von den Kindern im Abfall gesammelt. Keine Batterie allein hatte noch ausreichende Kapazität, um irgendetwas mit Strom zu versorgen, doch zusammen machten sie die Musik. Mit einem Kloß im Hals fragte ich, wer das gebaut habe. Sie zeigten auf einen etwa achtjährigen Jungen, der sich nun in der Anerkennung sonnte und lächelte. Die Kinder bildeten im wahrsten Sinne des Wortes eine Gemeinschaft: Sie haben Verhaltensregeln eingeführt; sie teilen alles, was sie haben, zu gleichen
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Teilen. Diebstahl ist verboten und wenn jemand stiehlt, so haben die Kinder einen Selbstverwaltungsrat, in dem alle zusammenkommen und eine Lösung finden. Die Hausarbeit wird verteilt, manche waschen Kleidung und Bettzeug, andere kochen, wieder andere putzen. Sie haben sogar ein System zum Selbstschutz eingeführt: Wird eine oder einer von ihnen von der Polizei festgenommen, suchen sich die anderen Gelegenheitsarbeiten, gehen Autos waschen oder Schuhe putzen, oder sie begehen auch Diebstähle, um das Geld zusammenzukratzen und die Freundin oder den Freund aus dem Gefängnis auszulösen. Ich fragte die Kinder, ob sie sich nachts, wenn sie es sich alle in ihren »Betten« bequem machten und bevor sie schliefen, Dinge über ihre Vorfahren und ihre Geschichte erzählen würden. »Ja natürlich«, antworteten sie. Als ich gehen wollte, zogen sie mich zu einem schlafenden Jungen, der in eine Decke gewickelt war, und begannen, ihm vorsichtig die Decke wegzuziehen. Flüsternd bat ich sie, ihn nicht zu wecken, doch das war gar nicht die Absicht. Sie hoben die Decke an und zeigten mir vier kräftige, gesunde und sehr glückliche Welpen, die mit dem Jungen in die Decke eingewickelt schliefen. Die Kinder hatten das wenige Essen, das sie organisieren konnten, mit der Mutter der Welpen geteilt. Sie behandelten die Hündchen mit einer Zärtlichkeit, die sie selbst vielleicht nie gekannt haben. Ganz offensichtlich waren sie stolz auf ihre familienähnliche Gemeinschaft. Diese Kinder kamen aus ganz Angola nach Luanda, sie flohen vor dem Krieg und vor den Härten des Lebens oder aus unerträglichen familiären Verhältnissen. Sie sind Waisen, Opfer von Missbrauch oder stammen aus extremer Armut. Sie leben in einer ihnen im Großen und Ganzen feindlichen Umwelt: Ob in Luanda oder Manila oder New York, die so genannte zivilisierte Welt geht an ihnen vorüber, ohne sie zu sehen. »Manche Leute treten nach uns, wenn sie vorbeigehen«, erzählte mir ein Kind. Obwohl sie mit extremen Entbehrungen leben, haben sie eine Gemeinschaft gegründet, die nicht nur – im Sinn der Erwachsenen – funktioniert, sondern die zudem friedlich ist. Sie haben, so gut sie können, Familien und Unterstützungsnetzwerke geschaffen. Und sie haben gelernt, inmitten einer Welt von Gewalt Stabilität und Einklang herzustellen. Ein Jugendlicher sagte mir: In meinem Herzen trage ich ein kleines Stück Frieden überall hin, und bei Nacht nehme ich es heraus und schaue es an.
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Wo liegt die Quelle des Friedens? Finden wir sie, wenn wir Diplomaten begleiten, oder auf Straßen, unter denen das »Zuhause« jener Kinder liegt? Oder wo sonst? Beginnt ein Krieg, lange bevor der erste Schuss fällt, so setzt Frieden ein, lange bevor über Friedensabkommen verhandelt wird. Tatsächlich beginnt Frieden im Epizentrum der Gewalt. Das ist keine metaphorische Redeweise und kein philosophischer Kommentar zur menschlichen Existenz. Es ist eine Beobachtung, die aus der praktischen Forschungsarbeit kommt, eine Beobachtung über das Funktionieren von Macht und Wandel, über die Art und Weise, wie sich gesellschaftliche Veränderungen vollziehen. Nach Auffassung von Diplomatie und Militär wird Frieden formal zwischen Regierungsverantwortlichen und Armeestäben ausgehandelt. Diese Sichtweise verewigt die Vorstellung vom Primat des Staates. Diesem populären Fehlurteil zufolge sind die Massen nicht klug genug, Krieg zu führen oder Frieden zu schließen. Die »Massen« – undifferenziert und unberechenbar, wie sie sind – neigen zu ungezügelten Gewaltausbrüchen (in Unruhen oder Lynchmorden) oder zu gebannter Untätigkeit angesichts der Gefahr (Truppen beschützen die wegduckenden Zivilisten). Die Massen entwickeln keine Vorstellung von höherer Gesetzlichkeit oder Gerechtigkeit, von wissenschaftlichen Durchbrüchen, von Diplomatie und den Fortschritten der Zivilisation – sie sind deren Nutznießer. Dieser populären Sichtweise zufolge schlägt in unser aller Brust das Herz einer Bestie, eines Neandertalers, und die dünne Tünche der Zivilisation kann das nur bis zu einem gewissen Grad verdecken. Es ist Aufgabe der Visionäre und der Begabten (von denen jeweils nur wenige in einer Generation in die Spitze der Gesellschaft aufsteigen und sie führen), die Gesellschaft so zu gestalten, dass die Bestie so zahm wie möglich bleibt. Ohne die Führung dieser Elite und der Visionäre würde die Zivilisation untergehen und eine Degeneration wie in Goldings Herr der Fliegen einsetzen. Wenn die Leute von einem solchen Szenario überzeugt sind, werden sie auch überzeugt sein, dass der Staat und die in seinem Dienst Regierenden für das Überleben der Menschheit unabdingbar sind. Machtexzesse und Gräueltaten, die um des Staates willen begangen werden, sind mit dem Argument zu entschuldigen, dass man manchmal ein Dorf niederbrennen muss, um die Nation zu retten. Wie schlimm es auch sein mag, so die Begründung, ohne den Staat wäre das Leben unaussprechlich schlimmer. Es ist nicht ganz einfach, solche Vorstellungen wissenschaftlich zu untersuchen: Man würde kaum den Staatsapparat demontieren wollen, um wissenschaftlich zu erforschen, ob in den hemmungslosen Massen ein Herz der Finsternis schlägt. Allerdings ist die Erforschung menschlichen Zusammenlebens, das nicht
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durch formelle staatliche Institutionen geregelt wird, möglich. Die verheerenden Folgen der tödlichen Kombination moderner Technologie und unablässiger Kriege legen die staatlichen Strukturen im Großen und Ganzen in Trümmer. Viele Kriege des 20. und des 21. Jahrhunderts waren durch schiere Verwüstung definiert; den Gesellschaften bleiben keine staatlichen Institutionen, keine öffentliche Grundversorgung, keine landwirtschaftlichen Flächen, kein Handel, keine Güter und keine Normalität, wie die Leute sie kannten. Wie verhalten sich durchschnittliche Bürger unter solchen Umständen? Nach meiner Beobachtung sorgen diejenigen, die Waffen haben, für die Zerstörung der Gesellschaft, die ohne Waffen bauen sie wieder auf – das Gegenteil des Szenarios »Aufgeklärte Elite gegen dumpfe Masse«. An vorderster Front, wo diejenigen zu finden sind, die am meisten in einem Krieg, den zu führen sie nie gerüstet waren, verloren haben, ist jener Ursprung des Friedens und des gesellschaftlichen Wiederaufbaus am deutlichsten zu sehen. Er beginnt inmitten der schlimmsten Wirren des Krieges – getragen von durchschnittlichen Menschen. In Mozambique erzählte mir ein deslocado (ein Binnenflüchtling) während des Krieges: Hier unter den deslocados gibt es Leute von überall her, und man hört viele Sprachen nebeneinander. Ein paar von den Sprachen haben auch die Männer gesprochen, die mein Haus gestürmt und meine Lieben getötet haben. Aber auch diese Leute sind deslocados. Wir dürfen den Krieg nicht neu anfangen, egal wie schlecht es uns geht. In dem Krieg geht es nicht um Ethnizität. Wenn wir das glauben, verlieren wir. Wenn wir überleben wollen, müssen wir das bekämpfen. Wir müssen diese Vorstellung bekämpfen, dieses Vermächtnis der Kriegstreiber, dass Hass und Rache und Volk und Unterschiede entscheidend sind. Dass dieser Krieg wirklich ist. Dass es in ihm um etwas geht, das uns alle angeht. Wenn wir überleben wollen, ist der einzige Weg, solche Vorstellungen zurückzuweisen, Unterschiede zu ignorieren, uns zu weigern, im Kämpfen eine Lösung zu sehen. Die Gewalt besiegen wir, indem wir nicht kämpfen. Wir sitzen hier mit unseren Brüdern und Schwestern, egal welcher Sprache, im Dreck und haben Hunger; das Wenige, das wir haben, teilen wir.
Was machen die Leute, wenn sie alles verloren haben, was Heim und Herd oder Gemeinschaft bedeuten kann? Nur wenige, so habe ich herausgefunden, suchen bewaffnete Rache. Nach meiner Erfahrung bemühen sich die meisten, sicheres Ackerland zu finden, sie beginnen Handelsbeziehungen mit anderen Notleidenden, gründen Zentren, wo man sich um physische und psychische Schäden kümmert, und eröffnen Schulen für die Kinder. Diesen Schulen fehlt es oft an Gebäuden, Büchern und Material; sie funktionieren aufgrund der Initiative von Lehrern und Schülern; man schreibt auf dem blanken Boden.
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Die Menschen finden für Waisen und Kriegsvertriebene ein neues Zuhause und gewähren Flüchtlingen in ihren Gemeinschaften Zuflucht. Sie berufen Versammlungen (die oft auf traditionellen Autoritäten, Gruppen und Ältestenräten basieren) zur Beilegung von Streitigkeiten ein, lösen soziale oder Rechtskonflikte und versuchen, die Habgierigen daran zu hindern, das Land oder die Werkstätten der Ärmeren und Nicht-Mächtigen zu übernehmen. All dies geschieht selbstverantwortlich, ohne Unterstützung staatlicher Institutionen, die unter den harten Bedingungen des Kriegs zum größten Teil nicht oder nur in den großen städtischen Zentren funktionieren. Es gibt Menschen, denen es um Profit oder um Macht geht, manche begehen deswegen sogar schwere Verbrechen. Doch entscheidend ist, dass die meisten es nicht tun. Die Menschen beenden den Krieg, indem sie den Frieden schaffen, nicht indem sie besser, entschlossener oder gemeiner kämpfen. Im Schatten der Fronten sagte mir ein Mann, der, ohne jemals eine formale Ausbildung genossen zu haben, Philosoph war: Wenn du Gewalt ausgesetzt bist, wirst du gewalttätig. Es ist eine Reaktion, die man erlernt. Das ist so im Leben, nicht nur im Krieg. Der Krieg mag formal zu Ende sein, aber all die Menschen, die gelernt haben, gewalttätig zu sein – die gelernt haben, ihre Probleme, ihre Konflikte, ihr Durcheinander durch Gewalt zu lösen –, werden weiterhin Gewalt anwenden. Sie werden in ihrer Familie, ihren Freunden gegenüber und am Arbeitsplatz gewalttätig sein. Und sie sehen Gewalt als angemessene Reaktion auf jede politische Herausforderung an. Ist also der Krieg wirklich vorbei? Gehört die Gewalttätigkeit des Krieges mit der Friedenserklärung plötzlich der Vergangenheit an? Nein, die Gewalt lebt im Bauch der Menschen weiter und ruiniert die Gesellschaft, bis man die Gewalttätigen Frieden lehrt. Und Frieden muss wie Gewalt gelehrt werden, indem man die Leute ihm aussetzt, indem man ihnen friedliche Arten zeigt, auf das Leben und die Lebenden zu reagieren, auf die alltäglichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten, auf politische und persönliche Herausforderungen.
Während sie sich also um Nahrung, um Gesundheitsversorgung oder um Schulen kümmern, geht es den Leuten an vorderster Front zugleich auch um allgemeinere Fragen der menschlichen Existenz. Sie sehen, dass Infrastruktur nur wenig bedeutet, wenn eine Gesellschaft von Gewalt regiert wird, und gar nichts, wenn keine Hoffnung für die Zukunft besteht. Hoffnung für die Zukunft aber bedeutet auch, daran zu glauben, dass die Gewalt, der die Menschen ausgesetzt waren, nicht die Regel bleiben wird, dass die Welt besser sein kann, als sie ist. Das ist nicht gerade wenig, wenn geliebte Angehörige gefoltert oder ermordet wurden, wenn alles, was man besaß, zerstört wurde und kein Ende dieses Zyklus der Gewalt in Sicht ist.
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Üblicherweise wird gesagt, dass ein Krieg zuerst zu Ende sein müsse, dann könne man sich der Entwicklung des Friedens widmen, erst dann seien die Menschen in der Lage, ihre Energie dem Aufbau der Zukunft zu widmen. Doch meine Untersuchungsergebnisse rechtfertigen diese Schlussfolgerung nicht. Sie legen vielmehr nahe, dass der Frieden mitten in der Schlacht beginnt – und tatsächlich beginnen muss –, und zwar gerade unter denen, die kaum bewaffnet sind und denen häufig die meiste Gewalt widerfuhr. Diese Auffassung des Friedens ist nicht rein akademischer Natur. Sie fand sich nicht nur bei den Kindern in den Kanälen von Luanda, sondern auch beim Zusammentreffen von Menschen in der Öffentlichkeit. 2001 entdeckte ich in London eine Geschichte auf einem Stück Papier, das an eine Wand geklebt war, und zwar einen Tag, nachdem eine Bombe vor dem BBC-Gebäude explodiert war, in der Zeit, als die Spannungen in Nordirland eskalierten. Die anonyme Geschichte trägt den Titel »Wahrer Frieden«. Es war einmal ein König, und er setzte einen Preis aus für den Künstler, der den Frieden am besten malen konnte. Viele Maler kamen und versuchten es. Der König betrachtete all die Bilder, aber nur zwei gefielen ihm wirklich. Zwischen den beiden musste er sich entscheiden. Das erste Bild zeigte einen ruhigen See. Im See spiegelten sich die hohen Berge, die ihn umgaben. Über allem ruhte ein blauer Himmel mit weißen Federwölkchen. Jeder, der das Bild sah, dachte, es sei ein traumhaftes Bild des Friedens. Auch auf dem zweiten Bild sah man Berge. Doch die waren zerklüftet und kahl. Über ihnen war ein düsterer Himmel, aus dem der Regen fiel und in dem Blitze zuckten. Seitlich den Berg hinunter stürzte schäumend ein Wasserfall. Das wirkte durchaus nicht friedlich. Doch als der König genauer hinsah, entdeckte er hinter dem Wasserfall einen kleinen Busch, der in einer Felsspalte wuchs. In dem Busch hatte eine Vogelmutter ihr Nest gebaut. Dort, inmitten des herabstürzenden tosenden Wassers, saß die Vogelmutter auf ihrem Nest. Der König erklärte das zweite Bild zum Sieger. »Denn Frieden«, so der König, »bedeutet nicht, dass es keine Unruhe, keine Sorgen oder Strapazen gibt. Frieden heißt, inmitten all dessen zu bestehen und dennoch die Ruhe im Herzen zu bewahren. Das ist die wahre Bedeutung des Friedens.«
Krieg gründet auf Angst und Unterdrückung, auf dem Glauben an Stärke und auf der Bereitschaft zur Gewalt. Soldaten kämpfen im Krieg und Zivilisten unterstützen sie dabei, weil sie Angst davor haben, das zu verlieren, was sie haben, und weil sie zugleich hoffen, etwas zu gewinnen, was sie nicht haben. Krieg setzt darüber hinaus die Einordnung dieser Ängste und Hoffnungen in ein Raster voraus, das zwischen Freund und Feind unterscheidet, zwischen politischen Verbündeten und Gegnern. Solange Menschen diese Ängste und
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Hoffnungen teilen, solange sie bereit sind, in ihrem Namen Gewalt anzuwenden, besteht der Krieg fort. Frieden hingegen beginnt, wenn den Menschen Gewalt als schlimmste Bedrohung überhaupt erscheint. Damit verblassen die Ängste und der Glaube an Stärke; die Bereitschaft, gewalttätige Lösungen zu unterstützen, schwindet, die Suche nach nicht-aggressiven Lösungen nimmt zu. Dieser Prozess entwickelt sich inmitten des Alltagslebens. Befördert wird er durch einfache Gespräche und durch philosophische Debatten; gestaltet in der Kunst und in der Musik reproduziert; in Geschichten weitergegeben und in der Literatur ausgearbeitet. Sogar Kinder – vielleicht vor allem Kinder – nehmen diese Art von Dialog auf. 1998, als Angola am Rand des Krieges stand, führten die Straßenkinder in Luanda Gespräche, die alle daran erinnern sollten, die wenigen vorhandenen Mittel unter Gleichen zu teilen. Wollte eines der Kinder mehr als die anderen, wollte es den Herren spielen oder Kontrolle ausüben, dann sagten die anderen: Illusion. Einbildung. Du bildest dir etwas ein. Wie die großen Tiere mit ihren großen Autos und ihren großen Kanonen. Wie die, die uns in erster Linie diese Suppe eingebrockt haben. Du willst mehr sein als die anderen? Vergiss es. Das ist pure Einbildung.
Als ich darüber mit Lidia Borba sprach, einer Mitarbeiterin des UNICEFBüros für Kinder in Not in Angola, meinte sie: Diese Kinder verstehen die Machenschaften der Mächtigen ganz genau. Ich hätte nie gedacht, dass Kinder in diesem Alter solch komplizierte Sachverhalte verstehen würden. Aber sie tun es, und sie kritisieren es, als »Illusion«, als »Einbildung«.
Ein merkwürdiger Zufall ließ mich kurz nach diesem Gespräch ein Buch in die Hand nehmen, das mit den Worten beginnt: Die Vorstellung findet im Freien, häufig auf einem verdorrten Feld statt. Die Zuschauer bilden einen Kreis um den Zauberer, dem ein junges Mädchen – seine gehorsame Tochter – assistiert. Gegen Ende der Vorstellung packt der Zauberer plötzlich das Mädchen, zieht einen Dolch unter seinem Umhang hervor und schneidet ihr die Kehle durch. Blut spritzt, befleckt ihr Kleid und oft auch die Kleidung der Zuschauer. Der Zauberer steckt den Körper des Mädchens in einen Ballonkorb, den er bereits während der Vorstellung benutzte. Ist ihr Körper im Korb, bedeckt er ihn mit einem Tuch und murmelt Beschwörungsformeln. Schließlich zieht er das Tuch vom Korb und zeigt den Zuschauern, dass der Korb leer ist. Der Körper des Mädchens ist verschwunden. Doch im gleichen Augenblick hören sie hinter sich ein Rufen. Sie drehen sich um und erblicken das Mädchen, wie es fröhlich durch die Menge springt und sich dem Zauberer in die Arme wirft.27
Anhand dieser Geschichte bemerkte ich, dass in der Kritik der jugendlichen Straßenphilosophen aus Luanda noch eine weitere Ebene steckte. Für die
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Kriegswaisen, die in der Kanalisation unter der Stadt leben, bezieht sich »Illusion« auf die sehr realen und sehr gefährlichen Machenschaften der Mächtigen. Leute, die mit dem Krieg Geschäfte machen, sind immer bereit, einen Dolch zu zücken und eine Kehle durchzuschneiden, doch für das große Finale – Frieden – tun sie dann so, als ob in Wirklichkeit niemand gestorben und kein Unrecht geschehen wäre, als ob Kriegswaisen und Straßenkinder überhaupt nicht existierten. Ich hatte eine andere Gruppe von Straßenkindern in einem anderen Teil Luandas kennen gelernt. Die Kanäle, in denen sie wohnten, liefen übers offene Feld. Eines Nachts brannte die Polizei ihre Bleibe nieder. Ich kam unmittelbar nach dem Überfall dort an und fand die Kinder verzweifelt wegen des Verlusts. Wie die Gruppen aus der Regenkanalisation hatten sie viel Mühe aufgewandt, sich ein Zuhause zu schaffen, hatten Bilder aufgehängt, behelfsmäßig Möbel aus zusammengesuchten Dingen gemacht und sogar Pflanzen in zerbeulten Blechdosen gezogen. Die Polizeirazzia kam um vier Uhr morgens, die Beamten schlugen die Kinder, verbrannten sogar die mühsam gediehenen Pflänzchen und steckten mehrere der Kinder ins Gefängnis. »Was wollen sie von euch, was sollt ihr machen?«, fragte ich. »Verschwinden? Euch Flügel wachsen lassen und davonfliegen?« Ein Kind schaute mich traurig an und erwiderte: »Ja. Die Reichen wollen uns nicht anschauen müssen. In ihrer Welt sollen wir nicht existieren.« Illusion. Frieden heißt für so manch einen, dass kein Kriegswaise, kein Leid, keine Nachwirkungen brutaler Gewalt die (politische) Landschaft beeinträchtigen. Dieses »Verschwinden-Sollen« beschränkt sich nicht auf Kriegswaisen und Straßenkinder. Als ich in den späten 1980er Jahren die Feldforschung in Mozambique anfing, rauchte ich und kaufte die Zigaretten gewöhnlich von beinamputierten Kriegsinvaliden, die einzelne Zigaretten am Straßenrand feilboten. Normalerweise kaufte ich eine für den Verkäufer und eine für mich, dann setzten wir uns am Randstein nieder und ich hörte mir seine Geschichten vom Krieg und vom Überleben an. In einem Land, das so vom Krieg heimgesucht worden war, in dem es unzählige Landminen, aber kaum medizinische Einrichtungen gab, gehörten amputierte Straßenhändler zum alltäglichen Stadtbild. Doch als ich 1990 nach Mozambique zurückkehrte, waren nirgendwo mehr invalide Straßenhändler zu sehen. Ich fragte nach meinen Bekannten aus den Jahren zuvor, aber niemand konnte mir sagen, wohin oder warum sie verschwunden waren. Ich war verwirrt und wurde argwöhnisch. Aus der Stadt fuhr ich in die Dörfer und aufs Land, dabei fragte ich immer wieder, ob amputierte Kriegsinvaliden heimkehrten – gab es Leute, die aus der Stadt zuzogen? Nein, wurde mir geantwortet. Der Krieg war damals noch im Gange,
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tatsächlich war er noch genauso schlimm wie immer; er forderte mehr, nicht weniger Opfer und machte mehr Menschen zu Invaliden. Jahrelang fragte ich nach diesen Opfern. Niemand traute sich, mir eine Antwort zu geben. Vielleicht waren die Invaliden eine allzu deutliche Erinnerung an das wahre Gesicht des Krieges. Vielleicht »ermutigte« man die Invaliden wie die Kriegswaisen und Straßenkinder, aus den Augen der Öffentlichkeit zu verschwinden. Illusionen. *** Zu Beginn von Kapitel 6 schrieb ich von der Ironie der Macht. Gemeinhin nimmt man an, Macht würde, insbesondere wenn es um politische oder militärische Angelegenheiten geht, von einer Führungsgruppe ausgeübt und über eine Befehlskette an Untergebene weitergegeben. Doch wie dieses Kapitel zeigte und wie Nietzsche sagte: »Das Thun ist alles.«28 Das Handeln Einzelner, eingelassen in die lokale Geschichte, in die besonderen Umstände und ins unmittelbare Leben, hat einen bedeutenden Anteil an der Macht, mag er auch für Machttheorien »von oben« noch so unsichtbar sein. Machteliten ist es zuwider, zugeben zu müssen, dass sie keine Kontrolle über das Handeln »von unten« haben – tatsächlich ist ihnen das mehr zuwider als Gräueltaten zuzugeben –, und deshalb werden sie so tun, »als ob« das Handeln von unten von ihnen intendiert gewesen sei. Sie begeben sich im Nachhinein in die Rolle derer, von denen das Handeln ausging und somit an die Quelle der Macht, um den Anschein zu erwecken, von vornherein in dieser Rolle gewesen zu sein. Der klassische »Als-ob«-Effekt. Das Gleiche gilt für die Quellen des Friedens. Der Frieden kann nicht entstehen, wenn es kein Fundament gibt, auf dem er aufbauen kann. Krieg endet und Frieden beginnt nicht in einem linearen Prozess: Der Frieden wird vielmehr Schritt für Schritt hervorgebracht, bis endlich der Krieg unmöglich wird. Dagegen könnte man einwenden, was für Mozambique zutreffen mag, gelte sicher nicht für das Ende beispielsweise des Zweiten Weltkriegs: Damals waren es die Alliierten Streitkräfte und der Einsatz von Atomwaffen, die den endgültigen Sieg markierten. Doch erkennen heute viele an, dass gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Japan und Deutschland die materiellen und ideologischen Ressourcen ausgingen, um weiter Krieg führen zu können – die Nachschubrouten waren zu lang, die Kriegskasse war leer, die Moral der Zivilbevölkerung und die Unterstützung für die Kriegsanstrengungen ließen nach. Das Kriegsende war absehbar und hing nicht mehr von der Bombardierung ab. Frieden beginnt an vorderster Front, wenn die Möglichkeit geschaffen wird, das (durch Gewalt in Frage gestellte) Selbst und die (durch Massaker und
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Verwüstungen in Frage gestellte) Gesellschaft wieder aufzubauen. Ohne die Handelswege, die Schulen, die Kliniken, die Rückkehrprogramme für Familien, ohne Kunst, Literatur und Medien, die den Glauben an eine Lösung der Konflikte stärken, ohne das Gefühl, dass es eine Zukunft geben wird, kann Frieden nicht entstehen. Kein Friedensvertrag, den herrschende Gruppen ausgehandelt haben, wird funktionieren, wenn dieses Fundament, auf das aufgebaut werden kann, fehlt. »Das Thun ist alles.« Die Ironie der Macht taucht im Frieden wieder auf. Herrschende schließen Abkommen, »als ob« von ihnen der Frieden ausginge, als hätten sie die Macht dazu. Sie begeben sich in die Rolle derer, die, weil sie unter der Brutalität des Krieges am meisten zu leiden haben, die Institutionen von unten schufen – Institutionen, die aus dem Handeln Einzelner entstanden, eingelassen in die lokale Geschichte, in die besonderen Umstände und ins unmittelbare Leben. Ich will nicht behaupten, dass Macht nur in eine Richtung ausgeübt würde, nämlich nur von unten nach oben statt von oben nach unten. Das »Tun« von Herrschenden gehört ebenso zur Geschichte wie das »Tun« durchschnittlicher Bürger. Doch Herrschende werden versuchen, ihr Handeln beim Wiederaufbau wichtiger erscheinen zu lassen. Die Illusion der Macht liegt darum nicht im Vorgang des »Tuns« selbst, sondern im Versuch die Kontrolle darüber zu erlangen, wer als Urheber des »Tuns« gilt. *** Woher also, frage ich resümierend, kommt der Frieden? Da er sehr wohl von Orten seinen Ausgang nehmen kann, die die Forschung in der Regel eher selten damit in Zusammenhang bringt, wollen wir uns noch einmal den Gedanken der Kinder zuwenden, die auf den Straßen Angolas leben und eine Bleibe in der Kanalisation fanden. Diese Kinder sind der massive Einspruch gegen die weit verbreitete Behauptung, im Krieg geborene oder aufgewachsene Kinder gehörten einer »verlorenen Generation« an. Diese Formel ist von Angola über den Sudan bis in die Balkanländer und bis hinüber nach Birma zu hören. Sie soll eine Generation bezeichnen, die in Zeiten massiver politischer Gewalt aufwuchs, die eine gefestigte Gemeinschaft, stabile Familienverhältnisse oder schulische und kreative Erziehung entbehren musste, wie sie der Frieden gewährt. Doch impliziert eine solche Auffassung noch etwas anderes: nämlich die Annahme, diese Kinder seien tatsächlich verloren und neigten zu Gewalt, zu Labilität und zu aggressivem Vagabundieren; sie hätten nur sehr bedingt die Fähigkeit, eine bessere Zukunft zu planen und zu schaffen; und sie hätten dem Krieg ins Auge gesehen und könnten nur das reproduzieren, was sie dort gesehen haben.
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Einbildung, antworten die Kinder. Wir wissen, wie wir in dieses Leben gerieten. Wir können sehen, wer etwas hat und wer nicht, wer gibt und wer nimmt. Wir wissen, wir sorgen hier [auf der Straße] besser füreinander, als dort für uns gesorgt wurde, von wo wir weggelaufen sind. Wenn Sie uns sagen, wo wir in Frieden ein Zuhause finden, gehen wir noch heute hin. Aber die Leute mit den schönen Autos und den großen Häusern bitten uns nicht zu sich nach Hause. In der Zwischenzeit schaffen wir uns ein Leben, so gut es eben geht, und wir machen das ziemlich gut. Sie wollen wissen, was wir brauchen? Eine Schule. Es gibt eine Schule, die Straße runter, und wir sehen die normalen Kinder rein- und rausgehen, aber wenn wir fragen, ob wir auch rein dürfen, werden wir weggejagt. Wir brauchen einen Platz, wo wir unsere Sachen lassen können. Wenn wir ein Buch oder ein paar Kleider haben, wo sollen wir das lassen, hier auf den Straßen? Irgendwer kommt vorbei und nimmt die Sachen einfach mit. Wir brauchen eine Chance, einen Job, Leute, die an uns glauben.
Michael Comerford, ein in Angola arbeitender Priester und Wissenschaftler aus Irland, antwortete auf diese Geschichte mit der Frage: Wer ist da verloren? Die Kinder oder die, die über sie urteilen, ohne sie zu kennen?
An der Formel von der »verlorenen Generation« betrübt vielleicht am meisten, dass sie die schöpferische Gemeinschaft und die friedlichen Traditionen, die diese Kinder ausbilden, ignoriert. »Verlorene Generation« signalisiert Entbehrung und Gewalt, nicht Kreativität und Frieden. Die Vorstellung von der »verlorenen Generation« verweist auf die Gedankenwelt des Herrn der Fliegen. Und so wird der Glaube gefördert, dass es entweder Krieg oder Frieden geben kann: Wenn Kinder im Krieg aufwachsen, ist Leid und Gewalt alles, was sie kennen. Als ich mit Lidia Borba von UNICEF über diese Kinder und ihre Strategien des Friedens sprach, sagte sie: Es ist ganz natürlich, dass sie diese Dinge kennen. Bevor sie ihr Zuhause verloren, war Freundlichkeit für sie alltäglich. Sie wurden geliebt und um sie wurde sich gekümmert; sie sahen Leute zu Besuch kommen, denen man mit Respekt und Würde begegnete, sie sahen, wie ihre Familien sich darum sorgten, einander in guten wie in schlechten Zeiten beizustehen. Sogar auf der Straße sehen die Kinder die guten Seiten ihrer Gesellschaften: die Akte der Hilfsbereitschaft, die Stärke der Gemeinschaft, den tief verwurzelten Glauben an die Würde der Menschen. Überall gibt es Frieden inmitten des Krieges, in jedem Akt alltäglicher Fürsorge. Diese Kinder haben das gesehen, sie haben darüber nachgedacht, sie sind damit aufgewachsen, sie haben eine Kultur erfahren, die diese Werte in Ehren hält, und sie haben sie selbst in Ehren gehalten. Wissen Sie, das ist es, wie diese Kinder auf der Straße überleben, wie wir selbst diesen Krieg überleben, indem wir diese Tradition der Menschlichkeit alltäglich lebendig halten.
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Wenn Krieg, lange bevor der erste Schuss fällt, damit beginnt, von Aggression erfüllte Zwietracht zu schaffen, dann ist Frieden da, wo die Nicht-Aggression in der Kluft Wurzeln schlägt, die der Krieg aufgesprengt hat. Wie der Vogel, der neben dem tosenden Wasserfall nistet, macht der Frieden seine ersten zaghaften Schritte inmitten des wütendsten Sturmes.
»Kriegsgewinn«: Eine Ladenbesitzerin an vorderster Front zeigt ihre »Registrierkasse« voller Bargeld. Provinz Bié, Angola, 2001.
14. Die Schwierigkeiten mit dem Frieden
Er machte während des Zweiten Weltkriegs ein Vermögen mit Weizenschmuggel – ein Junge aus einer Familie, die nichts besaß. Ohne den Krieg wäre er immer noch arm und auch seine Kinder wären es. Nun ziehen die Leute den Hut vor ihm und fragen ihn nach Arbeit. Er hat politische Macht, man wählt ihn. Seine Familie ist in den Stand der Besitzenden aufgerückt. Sie wurden reich durch den Verkauf von Beutekunst während des Zweiten Weltkriegs. Millionen und Abermillionen von Dollars wechselten damals den Besitzer, für Kunst, die man aus den Privatsammlungen von Juden und von Opfern des Krieges, aus zerbombten Museen und unbewachten Galerien geraubt hatte. Vor dem Ende der Apartheid in Südafrika fuhren skrupellose Geschäftsleute während der Kriegsjahre nach Mozambique, um Kriegswaisen einzusammeln, sie nach Südafrika zu bringen und als Prostituierte oder Haushaltshilfen zu verkaufen. UN-Friedenstruppen machten ein Vermögen durch den Verkauf aller möglichen Güter, von Zigaretten und Alkohol über Heroin bis zu Panzerfahrzeugen, mit denen im ehemaligen Jugoslawien gehandelt wurde. Nach manchen Schätzungen bildeten diese Transaktionen in den unsicheren Kriegszeiten mehr als die Hälfte der Wirtschaftsaktivitäten. Edelsteinschieber fanden die politische Instabilität von Sri Lanka bis Angola profitabel – sehr profitabel. Wer kümmerte sich um Arbeitserlaubnisse, Zollbestimmungen, Grenzformalitäten oder Rechtswege? In Friedenszeiten Schwarzhändler, machten sie »Mordsprofite« im Krieg.
*** 1998, als ich mir erste Notizen für dieses Kapitel machte, war Sierra Leone wieder in den Schlagzeilen. Zu jener Zeit war ich in Angola. Die Geschichten aus beiden Ländern verband das Glitzern von Tränen und Diamanten. In Freetown übernahm die Sierra Leone People’s Party (SLPP) unter Tejan Kab-
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bah wieder die Regierungsgeschäfte, nachdem im Februar 1998 aus Nigeria kommende Eingreiftruppen der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOMOG) Paul Koroma und die Junta der Revolutionary United Front (RUF) vertrieben hatten. Der schwedische Journalist Peter Strandberg berichtete über die Geschehnisse.29 Als Strandberg im Juli 1998 mit Truppen der RUF nach Kailahun, Buedo und Pendembu kam, berichtete die BBC, dass nigerianische Einheiten diese Städte eingenommen hätten. Die RUF-Soldaten, die er begleitete, lachten nur höhnisch. Die RUF hatte den östlichen Teil des Landes fest in ihrer Gewalt, die Nigerianer erlitten schwere Verluste, von denen – wie nigerianische Kriegsgefangene Strandberg erzählten – weder die Familien der Soldaten noch die Presse erfuhren. Die Moral der nigerianischen Truppen war schlecht. »Warum für 150 Dollar pro Monat kämpfen?«, so die Soldaten. Doch sie kämpften weiter. Warum? Ehre, Treue, Angst, Ergebenheit und ein Mangel an Alternativen erklären teilweise die fortgesetzte militärische Pflichterfüllung, besonders auf fremdem Boden. Doch vielleicht lohnt sich bei der Suche nach einer Antwort der Blick auf eine geologische Karte: Die Nigerianer versuchten das von der RUF kontrollierte diamantreiche Gebiet rund um Koidu zu erobern. In den Minen von Sierra Leone werden jährlich Diamanten im Wert von bis zu einer halben Milliarde Dollar gefördert. Strandberg zitiert Sam Bockarie, einen der Gründer der RUF. Wir haben gegen viele Feinde gekämpft, gegen reguläre Truppen aus Nigeria und Guinea sowie gegen die Söldnertruppen der Executive Outcomes [deren Verträge hier wie in Angola eine Bezahlung in Diamanten vorsahen], von Sandline oder der nepalesischen Gurkhas, und nach acht Jahren haben sie uns immer noch nicht besiegt. Der ehemalige nigerianische Diktator Ibrahim Babangida besaß hier Minen. Heute sind es Sani Abacha und die britischen Minengesellschaften, die unser Land plündern wollen.
Der Chefredakteur des New African, Baffour Ankomah, schrieb dazu: »Vergessen wir die Söldner, vergessen wir die Nigerianer. Alle Indizien deuten auf eine klassische britisch-amerikanische Nummer in Sierra Leone.«30 Natürlich geht es nicht nur um Diamanten. Strandberg zitiert Zeugen aus der Bevölkerung, die beschreiben, wie nigerianische Soldaten Banken und Geschäfte plünderten, als sie in Freetown einmarschierten, und jeden erschossen, der sich ihnen in den Weg stellte. Dann beluden sie gestohlene Lastwagen und Schiffe, um ihre Beute nach Hause zu transportieren. Patrick Chabal und Jean-Pascal Daloz schreiben dazu: »Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Friedenstruppen in Ländern wie Liberia und Sierra Leone hat es den Vorwurf gegeben, dass manche ausländischen Kontingente wie beispielsweise die Nige-
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rianer die Internationalisierung des Schwarzhandels und der Kriminalität begünstigt hätten.«31 Es liegt eine Ironie darin, dass die Akteure, von den Nigerianern bis zu den internationalen Minenkonsortien, vorgeblich in Sierra Leone operierten, um Frieden und Stabilität zu befördern. Es scheint, als ob Diamanten in diesem Konflikt den Menschenrechten auf allen Seiten übel mitspielten. Die Verbindung von Militär und Profit kann sogar noch komplizierter und verwickelter werden. Deutlich wurde das an einem anderen Ort, der reich an Edelsteinvorkommen ist. In der folgenden Darstellung lasse ich Ort und Sprecher ungenannt. Wir wissen alle, dass auf der einen Seite des Flusses die Regierung schürft und auf der anderen die Rebellen, und dass beide Seiten sich einig sind, einander und die Transportwege nicht anzugreifen. Du kümmerst dich um dein Geschäft und ich kümmere mich um meines, und der Krieg geht seinen Gang. Natürlich gibt es Hinterhalte und Anschläge: Eine Seite sieht eine Chance, die andere auszuschalten und auf reicherem Minenland Fuß zu fassen. Oder sie sieht eine Chance, den eigenen Machtbereich auszudehnen. Doch weiß man dabei immer, sobald man das tut, öffnet man einem zukünftigen Angriff eine Flanke, und das stört die Möglichkeiten, sich »ums Geschäft zu kümmern«. Eine meiner Lieblingsgeschichten ist, wie man die eigene Seite ausschaltet. Ich habe das gerade erlebt. Ein Kommandeur der Regierungstruppen kontrolliert den Standort A und streicht die Profite aus den Minen dort ein. Ein anderer Kommandeur derselben Seite kontrolliert den Standort B und die Profite dort. Standort C wird von Rebellenstreitkräften kontrolliert. Kommandeur A hängt sich nun ans Satellitentelefon und ruft seinen Kollegen bei den Rebellen an – also nicht die eigene Seite, sondern den Feind – und sagt ihm: »Hör zu, greif doch mal B an. Der Kommandeur dort wird natürlich von mir Unterstützung anfordern, und wir werden auch kommen, aber uns Zeit lassen und langsam machen. Ihr werdet Zeit genug haben zu bekommen, was ihr wollt. Wenn wir dann kommen, zieht ihr euch nach C zurück. Wir werden dann die Minen in B übernehmen und euch eine Prämie zahlen.« Kommandeur A dehnt seinen Einflussbereich auf B aus und streicht auch die Gewinne aus den Minen dort ein – auf Kosten eines Kommandeurs aus den eigenen Reihen. Und sein Kumpel von der anderen Seite bekommt für seine Rolle bei diesem Coup Schmiergeld. Die Tragödie dabei ist, dass jedes Mal, wenn Truppen die Region B erobern, die Bevölkerung aus der Region flieht – ein Strom von Flüchtlingen mit nichts als ihren Kleidern am Leib. Etwa ein Drittel der Bevölkerung im Land sind Binnenflüchtlinge, und Hilfe erreicht nur ungefähr ein Drittel davon. Das Leben dieser Menschen ist ruiniert, und wofür? Für diese Spielchen der Militärs.
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Die Geschichte erinnert mich daran, wie ich zur Zeit des Krieges in Mozambique meine akademische Unschuld verlor. Dass Edelsteine dabei eine Rolle spielten, dürfte weniger überraschen. Hunderte von Kampfplätzen übersäten in Mozambique Stadt und Land, Hunderttausende verloren ihr Leben. Für das ungeübte Auge ist es nicht einsichtig, warum Kämpfe an einem bestimmten Flecken staubiger Savanne aufflammen und nicht an einem anderen. Meine Frage erledigte sich zumindest partiell, als ich eine Landkarte fand, die die mineralogischen Ressourcen in der Region zeigte. Als ich sie über die Karte legte, auf der die Orte der Kämpfe eingezeichnet waren, zeigte sich, dass Ressourcen und Kämpfe deckungsgleich waren. Nun stand noch die Frage, wen die Hilfe der internationalen NGOs erreicht, im Raum: Warum schafft es ein Flugzeug, das mit Nahrung und Hilfsgütern für eine notleidende, vom Krieg geschüttelte Bevölkerung beladen ist, zu einem Ort und nicht zu einem anderen, der vielleicht hundert Kilometer entfernt liegt? Auf diese Frage gibt es viele Antworten, in den meisten geht es um eine Einschätzung der Bedürftigkeit, um Landminen, um Kämpfe und um verfügbare Rollbahnen. In vielen Fällen, die ich erlebt habe, war purer Heldenmut ausschlaggebend. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Mitten im Krieg in Mozambique kam ich in eine Region, die vom Krieg derart verwüstet war, wie ich es noch nie erlebt hatte: Truppen der einen, dann der anderen Seite eroberten eine Stadt oder eroberten sie zurück, und das ging seit Jahren so. Ich hatte eine Fluggelegenheit mit einem Frachtflugzeug, das Hilfsgüter transportierte, ergattert. Nun hörte ich das Flugzeug erneut im Anflug und setzte gerade an, auf die Rollbahn zu laufen, um einen Flug zurück zu kriegen. Frauen, mit denen ich gesprochen hatte, kamen auf mich zu und fragten, ob ich pedras wollte. Im Portugiesischen, der Landessprache, heißt pedras einfach Steine (oder, wie wir sagen würden: »Kies«). Das Bild, das vor meinem geistigen Auge erschien, war, wie ich einen Sack Flusskiesel ins Flugzeug zerrte, vielleicht für den Garten daheim. Schön naiv. Die Frauen bedrängten mich. »Wollen Sie keine pedras? Die anderen Leute, die hier durchkommen, nehmen sie immer säckeweise.« Ich realisierte, dass der umgangssprachliche Ausdruck Edelsteine bezeichnete – Diamanten. »Danke, ich bin nicht an Steinen interessiert«, sagte ich. »Wollen Sie damit sagen, dass die anderen ausländischen Helfer hierher kommen und Edelsteine mitnehmen?« Es war mir bisher nicht untergekommen, dass es NGOs gab, die von der Diamanten-Krieg-Gleichung profitierten. »Ja«, sagte die Frau, mit der ich sprach, lächelnd, »ganze Taschen voll.« Das Ende der Unschuld. ***
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Im Jahr 2000 herrschte in Sierra Leone und in Mozambique ein stabilerer Friedenszustand; das rohstoffreiche und kriegsmüde Angola hingegen litt unter anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen. Im Oktober 2001 veröffentlichte der UN-Sicherheitsrat einen Bericht, der feststellte, dass die illegalen Diamantengeschäfte der UNITA trotz UN-Sanktionen Einnahmen in Höhe von einer bis 1,2 Millionen Dollar täglich einbrachten und so den Krieg fortgesetzt finanzierten. Dass sich Frieden und Geschäft nur schwer vertragen, ist für die meisten Angolaner offensichtlich. Als ich im Herbst 2001 nach mehrmonatiger Abwesenheit nach Angola zurückkehrte, hörte ich das in vielen ähnlich lautenden Kommentaren. Sie fragen, wie es hier jetzt ist? Nicht gut. Der Krieg geht einfach weiter. Die Reichen werden reicher und die Armen werden nicht bloß ärmer, sie verhungern und sterben. Wie viel Geld hier zu machen ist, ist jenseits jeglicher Vorstellung. Wer von denen, die das Sagen haben, sollte das für den Frieden aufgeben? Die Mächtigen können kriegen, was sie wollen, weil wir nicht in Friedenszeiten leben, wo das Recht regiert, sondern in Zeiten, in denen die Gewalt regiert.
Und die Zusatzinformation, die leise bei einem Bier geäußert wird: Sehen Sie, der Typ von der IO [Internationalen Organisation], er macht unter dem Deckmantel der Hilfe Diamantengeschäfte.
Eine sehr interessante Einschätzung kam von einem Mann, der als Kind Teile seiner Familie verloren hatte und gezwungen war, in Luanda auf der Straße zu leben. Vom Militär wurde er zwangsrekrutiert und kämpfte dann ein paar Jahre lang als Soldat, bevor er angeschossen wurde und man ihn daraufhin aus dem Dienst entließ. Da er weder Arbeit noch eine Wohnung finden konnte, lebte er erneut auf der Straße. Im Alter von sechzehn (er war bereits Kriegsveteran) wurde er wegen Diebstahls verhaftet und musste eine Gefängnisstrafe verbüßen. Heute lebt er von Gelegenheitsarbeiten (vielleicht nicht ganz legalen; einmal hielten mich Sicherheitskräfte an und wollten wissen, warum ich mit einem Straßendieb redete). Der Mann gehört zu den intelligentesten und nachdenklichsten Menschen, die ich interviewt habe. Bei einer Tasse Kaffee sagte er mir einmal: Frieden? Vergessen Sie’s. Hier lässt sich so viel Geld machen, Sie werden das nicht glauben. Wissen Sie, wir Soldaten haben es alle erlebt. Ich wurde in die östlichen Provinzen geschickt und zu meinen »militärischen Aufgaben« gehörte dort unter anderem, Diamanten zu schürfen. Wir hatten in diesem Krieg alle Hände voll zu tun, denn es ging ja darum, den Kommandeuren und der politischen Führung Reichtümer zu besorgen oder zu erobern. Man sieht all diese Dinge, die da hin- und wegge-
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bracht werden, und man merkt, diese Sachen bilden kein kleines Rinnsal, sondern einen gewaltigen Strom. Er zeigte auf die Straße: Sehen Sie sich die Autos an, die da vorbeifahren, die neuesten Mercedes’ und sündhaft teure Geländewagen; wenn sie die Straße runterfahren, weichen sie dem Müll und den Schlaglöchern aus, in denen das Wasser aus gebrochenen Wasserrohren steht, in dem sich die Kinder waschen. Schauen Sie sich an, wie diese Leute angezogen sind, wo sie hingehen, wie viel Macht sie haben. Nur der Krieg macht so etwas möglich. Und glauben Sie nicht, die wüssten das nicht. Glauben Sie, die könnten solche Autos fahren, sich so anziehen und solche Macht ausüben, wenn es Frieden gäbe in Angola? Frieden? Wenn Frieden käme, würde das Geld davonrennen, es würde am Horizont verschwinden, man bräuchte ein Fernglas, um irgendwo noch Geld zu entdecken, so klein und weit weg wäre es.
*** Im Verlauf meiner Untersuchung hat sich der Ausdruck »Krieg« für mich nicht nur mit militärischen Aktionen verknüpft, sondern gleichermaßen mit fragwürdigen und häufig illegalen Unternehmungen, mit der Okkupation von Land und mit internationalen Spekulationsgeschäften. Diese Sichtweise trifft sich mit Aussagen des Leiters der Entwicklungsforschungsabteilung der Weltbank, Paul Collier: Die meisten suchen die Ursachen eines Konflikts in der Artikulation von Unzufriedenheit. Eine sorgfältige Untersuchung müsste demzufolge Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen in der Geschichte eines Protests zurückverfolgen. Ein Ökonom betrachtet Konflikte anders. Wirtschaftswissenschaftler, die Rebellenbewegungen untersucht haben, sehen in ihnen letztlich nicht Protestbewegungen, sondern Manifestationen des organisierten Verbrechens … Rebellion ist eine räuberische Aneignung produktiven ökonomischen Handelns im großen Maßstab.32
Spekulation, wie ich den Ausdruck hier verwende, findet durch internationale Wirtschaftstransaktionen statt, die legal, sogar uneingeschränkt legal sein können oder aber durch und durch illegal – entscheidend ist, dass sie schnellen und häufig immensen Gewinn abwerfen, gewöhnlich im Kontext politischer Instabilität. Tony Hodges weist darauf hin, dass politisch instabile Verhältnisse in rohstoffreichen Ländern viermal häufiger anzutreffen sind als in Ländern, die weniger Rohstoffe besitzen.33 Spekulationsgeschäfte werden durch mangelnde staatliche Kontrollen, eine schwache Exekutive, laxe Gesetzgebung, Korruption und Hoffnungslosigkeit befördert. Während wir unsere Aufmerksamkeit auf Diamanten und Drogen richten, gibt es einen weltweiten Schattenhandel auch mit weniger auffälligen Gütern
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wie Lebensmitteln, Kleidung, Medikamenten oder Seife, und die Profite sind dabei genauso hoch. Christian Dietrich, der den Diamantenhandel in den Kriegsgebieten des südlichen Afrika beschrieb, sagte mir bei einem Gespräch in Antwerpen: Krieg perpetuiert geschlossene Gesellschaften. Im Notstand kontrollieren Regierung und Militär die Transportrouten zu Lande und in der Luft ebenso wie Import und Export. Sie überwachen und kontrollieren, häufig auch in finanzieller Hinsicht, die Produkte, die in die von ihnen regierten Territorien gelangen beziehungsweise dort konsumiert werden. Die Militärs lassen verlauten: »Wir müssen aus Sicherheitsgründen Flughäfen schließen, nur unsere Flugzeuge dürfen dort starten und landen [natürlich steckt der Vorbehalt dahinter, dass diese Flugzeuge die wichtigsten Handelswaren transportieren]. … Wir können keine Krankenhäuser bauen, weil Krieg herrscht – ist es nicht besser, uns – das Militär – hier zu haben als den Feind, diese Mörder?« Die Kriege drehen sich nicht per se um Rohstoffe. Doch Krieg vereinfacht es, Rohstoffe anzueignen. Und es geht nicht einfach um die Kontrolle etwa des Diamantenhandels, sondern um die Kontrolle des gesamten geschlossenen Kreislaufs, der die Ökonomie trägt und aufrechterhält: Benzin, Lebensmittel, Seife und so weiter. Es geht um »organisierte Knappheit«. In Kriegszeiten mögen es die Herrschenden nicht, wenn Getreide angebaut wird, denn das bedeutet, dass die Menschen sich selbst versorgen können. Man kann die Versorgung mit dem Nötigsten dann nicht kontrollieren. Die Frage ist nämlich: Sind es, unterm Strich, wirklich die Diamanten, mit denen die Gewinne gemacht werden, oder sind es die Seife, das Benzin, die Lebensmittel und all das, was für die Menschen unentbehrlich ist?
Dietrich verwies auf Tony Hodges Arbeiten über Angola, die zeigen, dass die politische und militärische Führungsschicht – ein sehr kleiner und exklusiver Kreis mit beträchtlicher Macht – die Rohstoffe ebenso wie die ökonomischen Möglichkeiten im Land mehrheitlich kontrolliert. Dietrich sagte: Nehmen wir das Beispiel diamantenreicher Länder. Es gibt Tausende von Leuten, die nach Edelsteinen schürfen. Regierungen wollen diesen informellen Sektor formalisieren, sie wollen, dass alle Edelsteine durch registrierte staatliche Firmen laufen. Aber soll wirklich eine räuberische staatliche Stelle die informelle Diamantenbranche regulieren? Hinter der formellen Regulationsbehörde stehen zwielichtige Leute mit weltweiten Verbindungen – zu Kartellen, zu Geldwäschern, zu fragwürdigen Geheimdiensten und zu Diktatoren und Militärs rund um den Globus. Sollen diese Leute die Diamantenbranche regulieren? Eine lebendige informelle Ökonomie würde ich einer hochgradig regulierten formellen, hinter der ein paar wenige Geschäftemacher stehen, vorziehen.
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Es gibt zahllose Beispiele für skrupellose internationale Unternehmen, die politische Konflikte begünstigen und schüren, um daraus oder aus der Beteiligung an der Macht Gewinn zu schlagen. Waffenschieber, Drogennetzwerke oder »Sicherheitsberater« sind allgemein bekannte Beispiele. Die klassische Wirtschaftstheorie geht davon aus, dass das Geschäft im Allgemeinen in einer geordneten, organisierten und stabilen Umgebung floriert und Unternehmen deshalb zu Standorten tendieren, die Stabilität aufweisen. Während das für viele, ja vielleicht für die meisten Geschäftszweige zutrifft, gibt es doch einige Branchen, denen die Frontmentalität und die brüchige Rechtsordnung in Kriegsgebieten als beste Umgebung für Profite gelten. Doch selbst traditionelle und etablierte multinationale Unternehmen können Nutznießer politischer Instabilität werden. Ein Gewährsmann, der ungenannt bleiben möchte, beschrieb es so: Die Konzession bekamen wir ganz unkompliziert. Der Krieg führte zu einem Flüchtlingsstrom, die Leute flohen vor den Kämpfen, die sich natürlich in den rohstoffreichen Gebieten abspielten. Dann rissen die großen Tiere aus Politik und Militär sich das Land unter den Nagel. Als der Krieg zu Ende war und die Flüchtlinge zurückkehrten, sahen sie ihr Zuhause, ihr Land und ihre Geschäfte in den Händen der Mächtigen des Landes. Während des Krieges und der Kämpfe waren, welch ein Zufall, die Amtshäuser abgebrannt, und alle Unterlagen waren vernichtet worden. »Sie behaupten, Herr Flüchtling, das war Ihr Land? Sie haben keine Unterlagen, die das beweisen? Nein?« Doch damit nicht genug. Damit das alles funktioniert, brauchen sie uns, die Ausländer. Wir gehen hin und entwickeln die Industrie. Wir tun uns mit den wirtschaftlichen Eliten zusammen, um Zugang zu den Ressourcen zu bekommen. Wir gehen dann dort hin und werben die armen Flüchtlinge an, deren Land es einmal war, und geben ihnen 50 Cents am Tag. Verdammt, ja, wir machen ein Vermögen. Mensch, mit uns ziehen Frieden und Entwicklung.
Global Witness und Wissenschaftler vom Institut für Sicherheitsstudien in Pretoria haben über die Ölprofite geschrieben, die den Krieg in Angola schürten.34 Angola verfügt über eines der reichsten Offshore-Ölvorkommen der Welt. Die Öllagerstätten sind durch ihre Lage größtenteils sicher vor dem Krieg. Hier bohren einige der größten Ölfirmen, besonders solche, die über die Mittel verfügen, Tiefseelagerstätten zu erschließen. Öl ist die Haupteinnahmequelle der angolanischen Regierung und das eingenommene Geld war notwendig, um den Krieg führen zu können. Obwohl es nie offen ausgesprochen wurde, spielte der Zusammenhang in Verkaufsverhandlungen eine Rolle: Wenn der Krieg nicht in einer zugespitzten Phase war und deshalb Devisen
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nicht dringend benötigt wurden, hatte die Regierung es nicht so eilig, weitere Bohrrechte zu verkaufen. Angola strich eine der höchsten Gratifikationen weltweit beim Verkauf von Ölkonzessionen ein (im Jahr 2000 rund 900 Millionen Dollar für drei Bohrabschnitte). Nicht alle Ölfirmen, die sich um Bohrrechte bewerben, spielen in der Branche international eine Rolle. Es gibt kleinere Firmen, die manchmal, anscheinend auf Geheiß der Regierung, eine Verbindung mit größeren suchen. Global Witness gibt an, dass es darunter Firmen gibt, die auch mit Waffen handeln, und mit Waffengeschäften verknüpfte Gebote für Ölkonzessionen spielen in den Verhandlungen eine wichtige Rolle. Die Tatsache, dass manche Firmen ihre Ölkonzession wieder verkauften, kurz nachdem sie den Zuschlag bekamen, und gleichzeitig die Regierung mit wichtigen Waffensystemen belieferten, stützt diese Behauptung. Global Witness fordert von der Ölbranche ein weiterreichendes Engagement, um im Umgang mit Regierungen angesichts von Korruption und fortwährendem Krieg Integrität zu entwickeln. Im Herbst 2001 sprach ich mit sechs Mitgliedern von Global Witness in London. Ihr Ziel ist es, die Unternehmen dazu zu bewegen, Transparenz zu einem zentralen Grundsatz ihrer Geschäftspraktiken zu machen, und zwar durch eine Reihe einfacher Richtlinien für mehr Verantwortlichkeit bei Geschäften zwischen Unternehmen und Regierungen sowie Maßnahmen gegen Korruption. Global Witness hat gezeigt, dass es möglich ist, die Geschäfte mit dem Krieg und die Korruption einzudämmen: Eine Kampagne der Organisation gegen die Korruption im Tropenholzgeschäft in Burma war einer ihrer ersten Erfolge. Ein Interview aus dem Jahr 2001 mit dem Direktor von Texaco für Angola, Martin Eldon, führte mir die komplexen globalen Realitäten vor Augen, denen sich einer der großen Industriekonzerne der Welt gegenübersieht. Eldon saß in der Filiale in Luanda, im obersten Stock aus Holz und Glas über einem Bienenstock emsiger internationaler Aktivitäten rund um eines der ergiebigsten Erdölvorkommen weltweit. Aus dieser Vogelperspektive erinnerte mich der Texaco-Chef daran, welche Rolle Erdöl weltweit in Gesellschaften des 21. Jahrhunderts spielt. Bei den allermeisten Dingen, die unseren Alltag angenehmer machen, ist in der einen oder anderen Weise Öl im Spiel. So gesehen schmiert tatsächlich Öl die Welt, wie wir sie kennen. Wir sehen natürlich das Problem, und wir kümmern uns darum. Aber wir tun hier nichts, was wir nicht überall tun. Überall auf der Welt bieten Firmen Gratifikationen, um an die Geschäftsabschlüsse zu kommen, die sie anstreben. Daran ist nichts illegal. Das Gleiche passiert beispielsweise auch in England: An die Regierung werden Gelder gezahlt, um bestimmte geschäftliche Interessen zu sichern. Und welche Firma in England kann kontrollieren, wohin die Gratifikationszahlungen wandern,
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was mit ihnen geschieht, ob die Königin sich etwas Geld zur Seite legt oder es für das Militär ausgibt? Können Sie sich ein Unternehmen in Großbritannien oder in den USA vorstellen, das der Regierung mitteilt, es wolle überwachen, wie seine Gelder verbucht, investiert, verteilt und ausgegeben werden? Ob etwas zweckentfremdend abgezweigt wird? Das ist schlicht undenkbar. Und doch gibt es Leute, die glauben, genauso hätten wir mit der Regierung hier zu verfahren. Warum sollte das an einem Ort passieren und anderswo nicht? Es ist das Gleiche. Ein Unternehmen ist einfach nicht in der Lage zu überwachen und zu kontrollieren, wie Regierungen mit ihren Einnahmen verfahren.
Ich fragte Eldon, ob der Krieg in Angola und der ungeheure Bedarf an Devisen seitens der Regierung nicht ein Segen für die Geschäfte hier ist. Er schaute mich verblüfft an und reichte mir dann einen Kaffee in einer wunderschönen Porzellantasse, gab aber keine Antwort. Er schien wirklich perplex: ob wegen meiner Frage, die der Firmenphilosophie zufolge ungestellt bleibt, oder wegen seines Widerwillens, mir zu antworten, weiß ich nicht. Wissen Sie, Carolyn, Ihr Interesse an der Schattenökonomie und am Schwarzhandel in allen Ehren – aber Öl ist eine der am stärksten überwachten und durch Gesetze geregelten Branchen, die es gibt. Wir führen Buch über jede Transaktion, über jeden Tropfen, über jeden Schritt, den wir tun. Es ist praktisch unmöglich, den extensiven Überwachungsprozess zu umgehen, den wir hier eingeführt haben. Das ist keine Ware, die sich so ohne weiteres zum Schmuggel, zu Schiebereien oder zum Schwarzhandel eignet. In vielerlei Hinsicht ist Öl das Paradebeispiel für eine auf die Spitze getriebene formelle Ökonomie.
Im Vergleich zu Diamanten, menschlicher Arbeitskraft, Meeresfrüchten oder Tropenholz mag das stimmen, aber ich erinnerte Eldon daran, dass Ölschmuggel in China zu einem Milliarden-Geschäft geworden ist. Für einen Manager, der für die Produktion zuständig ist, waren solche Fragen aus dem Vertrieb allerdings »außerhalb seines Geschäftsbereichs«. Sechs Monate nach diesem Interview sprach ich mit einem anderen Ölmanager in Angola, nach dessen Schätzung gut zehn Prozent der Ölgeschäfte – vielleicht viel mehr – sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens abspielen. Diese Machenschaften von Unternehmen finden sich nicht nur in Kriegszeiten. In der Nachkriegszeit sind Infrastruktur, Industrie und Handel eines Landes noch vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Viele Länder haben in der Nachkriegszeit Probleme durch hohe Arbeitslosigkeit, durch Inflation, rückläufige Produktivität und einen Mangel an wichtigen Gütern, und nur wenigen gelingt es, rasch Abhilfe zu schaffen. Sie sind ungeschützt gegenüber internationalen Firmen, die auf hochprofitable Konzessionen aus sind, ebenso wie
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gegenüber nationalen Machtgruppen, die ihre Vorteile daraus ziehen, solche Konzessionen zu gewähren. Solche mächtigen internationalen Geschäftsinteressen gewinnen häufig die Oberhand, auch wenn sie für ein Land und seine Bevölkerung im Allgemeinen von Nachteil sind. Zweckgefärbte Steuervergünstigungen, eine einseitige Entwicklung sowie Produkte und Profite, die aus dem Land abgezogen werden, sind typisch für Nachkriegsstaaten. In einem machtlosen Land sind die globalen Machteliten eher in der Lage, Wirtschaftsoder Außenpolitik zu beeinflussen – und eine Reihe tut es zu ihrem Vorteil. Für manche bedeutet politische Instabilität nicht nur gute Geschäfte, sondern auch gute Politik. Der Politologe Will Reno hat gezeigt, wie eine Gruppe, wenn sie an der Regierung ist, die Infrastruktur und die Rohstoffbasis des Landes so unterminieren kann, dass oppositionelle Kräfte diese nicht nutzen können, um selbst an die Macht zu kommen – an die Macht, jene aus dem Amt zu vertreiben, die es gegenwärtig besetzen.35 In solchen Fällen dienen Ressourcen als politische Instrumente: Sie unterstützen die Patronage, stärken politische Bündnisse und bieten Machtbasen. Wenn politische Führer willens sind, ihr eigenes Land zu plündern, was spricht dann dagegen, wenn ausländische und internationale Geschäftsinteressen andere Länder plündern?
Warum die Menschen, nachdem der Krieg zu Ende ist, immer noch nicht genug zu essen haben Ein afrikanischer Wirtschaftswissenschaftler erklärte mir, dass viele afrikanische Länder nach Kriegen vergleichbare Zyklen der Stagnation durchmachten. Für die meisten Zivilisten ist das Leben während des Krieges so elend, dass der Frieden zu einem Leuchtfeuer der Hoffnung wird: Mit dem Frieden wird der Schrecken ein Ende haben. Für viele gehören zu diesem Horror Hunger, Entbehrung, Erwerbslosigkeit, Obdachlosigkeit, das Fehlen öffentlicher Versorgung und gesellschaftliche Entwurzelung ebenso wie Angst, Gewalt und Übergriffe. Der Friede verspricht auf all diese Zwangslagen eine Antwort. Aber die Antwort ist schwer zu fassen. Schlimmer noch, zwölf oder fünfzehn Jahre nach der Unabhängigkeit gerät die Wirtschaft in vielen Ländern in eine wirklich ernste Depression.
Warum, so fragte er, lernen die Länder heute nicht aus diesen Mustern und setzen auf eine andere Politik, statt fortzufahren, die gleichen politischen Orientierungen zu implementieren und damit in die gleichen Zyklen wirtschaftlicher Probleme zu geraten?
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Ich fragte ihn: »Wenn Ihre Regierung Sie am Ende der Kolonialzeit oder am Ende der Apartheid um einen Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung gebeten hätte, was hätten Sie geraten?« Er antwortete: »Spontan würde ich sagen, die Länder müssten ihre Bevölkerung bitten, ein paar Jahre lang genauso weiterzuarbeiten wie bisher, bis die Wirtschaftspolitik vorsichtig umgestellt wurde, um neuen Standards zu genügen.« »Aber wie können Sie ihre Nachbarn, ihre Freunde und ihre eigene Familie bitten, chibalo (Zwangsarbeit) zu leisten und weiter eine mangelhafte medizinische Versorgung und Bildung in Kauf zu nehmen, während einige wenige aus der Oberschicht ihre Privilegien genießen?« »Ja, genau da liegt das Problem.«
Frieden wurzelt in der Hinterlassenschaft des Krieges. In Kriegszeiten entstehen notwendigerweise internationale und nationale Handelswege, um die Versorgung und den militärischen Nachschub zu sichern. Netzwerke wie diese verschwinden nicht – oder werden nicht entmilitarisiert – mit einer Unterschrift auf einem Friedensabkommen. Diese Art militarisierter Netzwerke sind zu bedenken, wenn es darum geht, Veränderungen und Entwicklungen in der Nachkriegszeit zu verstehen oder unbequeme Fragen zu beantworten, wie etwa: Warum gibt es für die Menschen keine Sicherheit vor Gewalttaten oder warum haben sie nicht ausreichend zu essen, nachdem ein Krieg zu Ende ist? Mit der Militarisierung werden bereits bestehende Handelswege militärischen Bedürfnissen angepasst sowie neue geschaffen, um den Erfordernissen des Krieges zu genügen. Wenn Gruppen durch einen beginnenden Konflikt isoliert werden – ob das jetzt die Karen in Burma oder Kroaten und Bosnier in Jugoslawien in der Zeit vor 1991 sind –, wird es zur Überlebensnotwendigkeit, eigene Versorgungsrouten zu schaffen, um die alltägliche Subsistenz zu sichern. Seit Menschengedenken existierende Handelswege werden an aktuelle Notwendigkeiten angepasst: So kommt Benzin nach Kroatien, Medikamente erreichen die Karen und Reis gelangt in den Norden Sri Lankas. Informelle Handelswege für den grauen Markt oder die Subsistenz sind den Erfordernissen des Krieges besonders leicht anzupassen: Sie sind gleichzeitig etabliert und flexibel, sie verbinden Alltagsökonomien, ohne dabei auf staatliche Institutionen angewiesen zu sein, und sie sind sehr stark mit internationalen Märkten verbunden. Diese Bedingungen kommen auch Regierungen zugute, wenn sie etwa militärische Güter an Sanktionen vorbei bewegen oder bei der Beschaffung und Bezahlung auf nicht staatliche Wege ausweichen. Der nicht inoffizielle Handel zwischen Ländern in Afrika südlich der Sahara soll seinem Umfang nach in etwa dem offiziellen entsprechen. Der Ökonom Stephen O’Connell schreibt:
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Ein nicht unerheblicher Anteil dieses Handelsvolumens steht in Zusammenhang mit Arbitragen zwischen unterschiedlichen nationalen Preisstrukturen für Güter, die mit gemeinsamen ausländischen Partnern gehandelt werden. Dieses Muster ist so alt wie die ihm zugrunde liegenden Unterschiede in der Besteuerung: Hopkins (1973) verweist aus den Jahren vor 1855 auf die Umleitung von Erdnüssen aus französischen Besitzungen durch Britisch-Gambia, um Senegals Exportzoll zu umgehen. In jüngster Zeit war es Kaffee aus Tansania und Uganda, der einen höheren Preis erzielte, wenn er über die kenianische Grenze geschmuggelt wurde; Kakao aus Ghana war lange Zeit viel mehr wert, wenn er an der Elfenbeinküste gehandelt wurde; subventioniertes Öl aus Nigeria, das für den Inlandsmarkt bestimmt war, brachte mehr Gewinn im benachbarten Togo. Das Phänomen findet sich auch bei Industrieerzeugnissen … Der relativ niedrige Einfuhrzoll für Autos in Togo bewirkt anhaltende Importe von Autos für den nigerianischen Markt, der höhere Zölle und höhere Preise hat; Nigerias Einfuhrverbot für Zigaretten erlaubt dem Zigarettenschmuggel aus Niger hohe Gewinne.36
Die Geschäfts- und Gewinnnetzwerke gehen über Afrika hinaus und verbinden es mit seinen Nachbarkontinenten. Der einfache Zigarettenschmuggel von Niger nach Nigeria bedarf eines komplizierten und durchdachten Netzwerks von Akteuren und Aktionen. Und Waffen und Computer der jüngsten Generation können über dieselben Routen geschickt werden wie Zigaretten oder die neuesten raubkopierten DVDs. Das ist die Militarisierung des informellen Handels: Sie erhöht den Einsatz. Bevor es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, sind informelle Handelsrouten, über die Subsistenzmittel bewegt werden, selten Ziel staatlicher oder militärischer Intervention; tatsächlich profitieren Regierung oder Militär häufig von der Schattenökonomie. Vor dem Krieg in Jugoslawien wurden Benzinschiebereien in Kroatien staatlicherseits nicht unterbunden; die burmesische Regierung ließ den Medikamentenhandel in die Karen-Gebiete ebenso zu wie das mehrheitlich singhalesische Militär Reislieferungen in den tamilischen Norden Sri Lankas. Letztlich kann der informelle Handel als wichtig für den Staat selbst angesehen werden. Staatliche Politik, was Zölle, das Bankenwesen, Devisen und Importe angeht, vereitelt offizielle Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern [Nigeria und Benin]. Unterdessen grassiert an der Grenze der Schmuggel, und Schwarzmärkte bieten vielen Menschen zwischen Lagos und Porto-Novo/Cotonou einen Lebensunterhalt. Der illegale Handel ist für die Ökonomien beider Länder unerlässlich. Offizielle Stellen sind gezwungen, ein Auge zuzudrücken oder zu riskieren, dass die prekäre Infrastruktur der Region weiter destabilisiert wird. Die illegalen Aktivitäten erschweren effektives Regierungshandeln und wirtschaftliche Entwicklung, doch gegenwärtig sind sie die Grundlage einer informellen wirtschaftlichen Integration in Abwesenheit einer formellen Integration, an der staatliche multilaterale Abkommen (wie beispielsweise die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten, ECOWAS, oder die Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft, SADC) bisher wiederholt scheiterten.37
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Doch wenn das Benzin Kampfpanzer und Truppentransporte antreibt, wenn Medikamente das Leben von Soldaten retten oder wenn Waffen denselben Weg wie Reislieferungen nehmen, werden die Subsistenzhandelsrouten militarisiert. Die Fahrzeuge, die vor dem Jugoslawienkrieg Treibstoff nach Kroatien brachten, und die Schiffe, die den benötigten Reis in den tamilischen Norden Sri Lankas transportierten – die verwendeten Transportmittel gehörten kleinen Schwarzhändlern, lokalen Mafiaorganisationen oder auch legalen Firmen –, wurden mit Beginn des Krieges als Mittel für den realen oder potenziellen militärischen Nachschub angesehen. Sie wurden zu Zielen. Dadurch wird der Fluss von Gütern, die die grundlegenden Lebensbedürfnisse der Zivilbevölkerung befriedigen, unterbrochen, was katastrophale Auswirkungen für das Leben der Menschen haben kann. Sobald die Menschen nach neuen Wegen suchen, um an die benötigten Güter zu kommen, werden auch diese Routen militarisiert, sowohl als Nachschubwege für die eigenen Truppen wie als Ziele für Angriffe gegnerischer Einheiten, die darauf zielen, die Zivilbevölkerung insgesamt zu treffen. *** Der Mann war mittleren Alters und saß für einen Plausch auf der Veranda vor dem Laden. Er kaute auf einem Streichholz, das er ab und zu in die Hand nahm, um mit einer Geste seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er war ein Händler und Familienvater, wie er im Buche steht: lässiges Hemd und weite Hosen, ein hilfsbereites und freundliches Lächeln und dazu ein gesunder Geschäftssinn, der seinen Leuten und seiner Familie zugute kommen sollte, denen, die ihm am meisten am Herzen lagen. Wir haben immer schon Menschen und Sachen über diese Grenze gebracht. Wir tun es, unsere Väter haben es getan und unsere Großväter auch, und das seit den Zeiten, da diese dumme sinnlose Grenze uns noch nicht entzweite. Mal ganz ehrlich, wie sollten wir sonst überleben? Es ist ja nicht so, dass die Regierung an unsere Tür klopft, um uns Reichtümer zu bringen. Mit dem Handel bleiben wir in Verbindung – mit unseren Leuten anderswo, mit Gruppen in anderen Regionen, zu internationalen Gütern und Märkten. Essen, Kleidung, Elektronik, Benzin, Maschinen, alles, was Sie wollen. Wenn nun der Krieg richtig heiß wird, dann kommen sie und wollen, dass wir auch Waffen transportieren. Dann müssen wir alle möglichen politischen Linien und Gefahren umschiffen. Und wir geraten immer tiefer hinein: Die Kommandeure fangen an, in ihren Gebieten auch den Handel zu kontrollieren, und dann müssen wir für Passierscheine, Transportpapiere oder Genehmigungen die Kommandeure
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schmieren. Irgendwie ist es, als würden wir für sie arbeiten. Der verdammte Krieg steht uns direkt auf den Füßen … Ja, der Krieg steht uns auf den Füßen, aber wie kriegen wir ihn da wieder weg? Die Kommandeure kontrollieren das »Geschäft«, ziehen aus dem Handel in der Gegend die Gewinne ab, überwachen den Verkehr und die Lieferungen, die die Region erreichen oder sie verlassen, und schnappen sich unter Kriegsrecht das beste Land. Werden sie es zurückgeben, wenn der Krieg zu Ende ist? Ich bezweifle das. Und all die Soldaten, die »im Einsatz« sind, um die Rohstoffe hier wegzunehmen und abzutransportieren – was werden die tun, wenn der Krieg zu Ende ist?
Männer wie er, deren Handelsnetzwerke seit Generationen bestehen, kennen den Wettbewerb und auch die Kooptation durch Militär und politische Eliten des eigenen Landes, aber auch aus anderen Ländern. Als ich 1997 in Namibia war, las man überall Geschichten über einen hochdekorierten Offizier der namibischen Luftwaffe, der unter anderem Kleidung, Medikamente, Nahrungsmittel, Bücher, Industriekomponenten und Elektronik mit Militärmaschinen nach Angola geflogen hatte und mit Diamanten zurückgekommen war. Der Ökonom Mark Chingono schreibt in diesem Zusammenhang über Mozambique: »Es sind die ›großen Fische‹, die richtigen Gangster in ihren schicken Anzügen und feinen Autos, nicht nur aus Mozambique, sondern auch aus anderen Ländern bis hinauf nach Zaire, Nigeria, Sierra Leone und sogar Deutschland, die wirklich an diesem Geschäft verdienen.«38 Es geht nicht um Einzelfälle. An der Wende zum 21. Jahrhundert ist das südliche Afrika bekannt dafür, Umschlagplatz für Drogen aus Lateinamerika und Südostasien, für Falschgeld, Devisenbetrug, Geldwäsche und Weltmarktwaren zu sein. In dieser Gegend agieren libanesische Händler, nigerianische Banden, russische Mafia, asiatische Konsortien und europäische oder nordamerikanische Kartelle; die Verbindungen von Geschäftsinteressen überall auf der Welt folgen klassischen Strategien der Globalisierung. Es bleibt das Problem: Wie gelingt es Gesellschaften, wieder normale Handelswege herzustellen, derer die formelle wie die informelle Ökonomie gleichermaßen bedürfen? Auch in Friedenszeiten braucht ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft für ihr Überleben die Schattenwirtschaft. Während der Krieg – dessen Ausbruch die ökonomische und rechtliche Infrastruktur dezimierte – noch nachwirkt, sind es häufig informelle Strukturen, auf die sich Subsistenz und Wiederaufbau stützen. Der Vertreter der Weltbank in Mozambique sagte mir vor ein paar Jahren: Wir können nicht wirklich darüber sprechen, aber sie ist da, um sie dreht sich alles: die Schattenwirtschaft. Das ist nicht gerade das, was wir als Entwicklungs- und Finanzexperten tun: den informellen Sektor abklopfen, seine Finanzierung stützen,
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sein wahres Ausmaß analysieren. Aber guter Gott, schauen Sie sich die Zahlen für dieses Land an: Es hat einen der niedrigsten Lebensstandards weltweit. Und dann schauen Sie sich das Land an, schauen Sie sich die Menschen an, es geht ihnen besser, als es die Zahlen vermuten lassen. Mozambique ist die Erfolgsgeschichte Afrikas: Das Land hat den Frieden gewahrt, es entwickelt sich mit einer deutlichen Wachstumsrate, die Wirtschaft expandiert in aufsehenerregender Weise, die Leute fangen an, es wirklich zu schaffen. Und wir können es nicht erklären, weil wir uns formell mit dem informellen Sektor nicht befassen. Denn natürlich kommen all diese Segnungen aus informellen Entwicklungen – sie sind etwas, was die Menschen selbst geschaffen haben, ganz ohne die Hilfe internationaler NGOs oder staatlicher Stellen. Mozambique ist im Wesentlichen ein Erfolg, und das teilweise wegen der umfangreichen Schattenwirtschaft.
Unglücklicherweise lösen sich die Tentakel der Militarisierung nicht spontan in Luft auf, sobald ein Friedensabkommen unterzeichnet ist.39 Ein Problem ist, dass Leute mit internationalen Kontakten und Zugang zu Gütern, Transportmitteln und -wegen, die zudem über Möglichkeiten verfügen, ihre Gewinne in Macht zu verwandeln, häufig in der einen oder anderen Art mit politischmilitärischen Interessen assoziiert sind. Diese Assoziationen bilden Netzwerke, die Zugänge schaffen; der formelle Sektor in Politik und Ökonomie ist durchzogen von informellen Prozessen. Ökonomische Beziehungen aus Kriegszeiten verfolgen die Märkte im Frieden. Kriegsgewinnler werden zu Führungsfiguren in Wirtschaft und Politik. Märkte sind nicht so frei, wie es den demokratischen Idealen zufolge sein sollte. Mark Chingono formuliert es so: »Folgt man Thukydides, Hobbes oder Rimmer, so zerstört der Krieg Märkte und Handelsbeziehungen; doch schafft er zugleich andere, wo zuvor keine existierten, und belohnt diejenigen, die bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen.«40 Am Ende eines Krieges finden sich häufig wertvolle Bodenschätze und Ländereien, Industriestandorte, Ämter und die Schlüsselpositionen im Handel in den Händen einer exklusiven Gruppe konzentriert – zu ihr gehören Führungspersonen aus Politik, Wirtschaft und Militär, die während des Krieges ihren persönlichen Machtbereich ausgedehnt haben. Wenn sie ihren Machtzuwachs unter den Wild-West-Bedingungen des Krieges konsolidieren konnten, kommen sie nun vielleicht zu dem Schluss, dass die Stabilität des Friedens ihnen bessere Profite bescheren könnte. Tatsache bleibt jedoch, dass das System unter Ausbeutungsbedingungen zustande kam, und einige werden in Friedenszeiten fortbestehen, so etwa unlautere Praktiken, was Einstellung, Arbeit und Entlohnung angeht, sowie eingeschränkte Rechte. Diese Bedingungen garantieren, dass politische, wirtschaftliche und politische Macht weiterhin in den Händen weniger bleibt.
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Doch selbst Geschäftsleuten, die moralische Grundsätze achten, legt die Nachkriegssituation beim Versuch, ihre Unternehmen ordentlich zu führen, Hindernisse in den Weg. Da wären zum Beispiel die Bedingungen, denen sich viele Nachkriegsgesellschaften gegenübersehen: Die Infrastruktur ist militarisiert und teilweise zerstört, die alte Währung und mit ihr das Bankensystem möglicherweise zusammengebrochen. Auf dem internationalen Markt ist eine neue Währung gegebenenfalls nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie gedruckt ist. Devisenkurse sind extremen Schwankungen unterworfen. Die Inlandsproduktivität ist wahrscheinlich erheblich geschmälert, was dazu führt, dass man in starkem Maße auf Importe angewiesen ist, was wiederum Devisen erforderlich macht. Eine antiquierte und militarisierte Gesetzgebung, Korruption, drückende Abgaben, Steuern und Zölle belasten die geschäftlichen Unternehmungen an allen Ecken und Enden. Auch die rechtschaffendsten Firmen können dazu gezwungen sein, sich Geld, Güter oder Dienstleistungen auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Ein erfolgreicher Unternehmer, der für seine Integrität bekannt war, merkte dazu an: »Wenn ich dem Buchstaben des Gesetzes folgen würde, wäre ich raus aus dem Geschäft. Punkt.« Das wirtschaftliche und politische System eines Landes bleibt militarisiert, doch die militärischen und politischen Führungsgruppen sind nicht die einzigen Gewinner. Militarisierung ist auch für globale Verkaufsgeschäfte von Vorteil, ebenso für die internationale Spekulation. Vorteile haben die Verkäufer von Informationen, Dienstleistungen und Technologien in den Metropolen der Welt, die ihre Waren gegen harte Währung eintauschen, nämlich gegen Öl, Drogen und Edelsteine. Ein weit gezogenes Netzwerk von Leuten machte mit solchen außerstaatlichen Geschäften ein Vermögen; sie werden kaum leicht davon zu überzeugen sein, sie für weniger lukrative aufzugeben.
Profite oder nur Gepflogenheiten der internationalen Bürokratie? Manchmal lässt sich nur schwer sagen, wie Profite zustande kommen. Ein Beispiel sind die Friedensmissionen der Vereinten Nationen. Wie bereits erwähnt, gab die UNO eine Million Dollar pro Tag aus, um 1994 in Mozambique demokratische Wahlen unter Friedensbedingungen vorzubereiten. Wer genau etwas von diesen Geldern hatte, wurde selten gefragt. Auch ich befasste mich nicht näher mit dieser Frage, bis ich mich freiwillig als Wahlbeobachterin zur Verfügung stellte und einige Tage vor der Wahl an einer Einweisung in Maputo teilnahm.
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Ich setzte mich neben meine Wahlhelferkollegin, eine Journalistin aus Kenia. Im Raum waren mehrere hundert Wahlbeobachterinnen und -beobachter und das war nur eines von mehreren Briefings innerhalb eines Zeitraums von mehreren Tagen. Als die Journalistin und ich während einer der Pausen ins Gespräch kamen, redeten wir darüber, dass die meisten Beobachter Europäer waren und nur sie eine der wenigen anwesenden Afrikanerinnen. Die Journalistin begann, das professionell nachzurecherchieren: Tatsächlich kamen die meisten aus Europa; wir beide hatten schon als Freiwillige Wahlen beobachtet, doch die meisten im Raum wurden von den Vereinten Nationen für ihre Tätigkeit bezahlt – Flugticket, Tagessatz von 100 bis 200 Dollar, Inlandsreisen, Unterkunft und volle Verpflegung. Das Briefing ging weiter und die Wahlausrüstungen (von den Wahlkabinen bis zu den Stimmzetteln) wurden gezeigt: Es waren technologische Wunderkisten, die den metropolitanen Herstellern, die dafür die Aufträge bekommen hatten, sicher Millionen einbrachten. Die gesamte Ausrüstung ließ sich zu einem kompakten Behältnis zusammenklappen, das sich, einmal in den Wahllokalen angekommen, als leichtgewichtige, städtisch anmutende, aus Metallgerüst und verstärkten Stoffbahnen bestehende Ein-Personen-Wahlkabine entpuppte, deren Design sowohl die geheime Stimmabgabe garantierte als auch den demokratischen Prozess symbolisierte. Mit UN-Flugzeugen, geflogen von europäischen Piloten und gewartet von westlichen Mechanikern, wurde die Ausrüstung landesweit verteilt, um schließlich auf Mercedes-Lastwagen zu den Wahllokalen transportiert zu werden. Selbst die Essenspakete und die Mineralwasserflaschen kamen aus den Industrieländern – alles war bis ins Kleinste durchdacht, es schien gleichermaßen übertrieben und unnötig für die Wahlbeobachtung. Jedes Portionspaket war eine Meisterleistung der Ingenieurskunst aus Karton, Styropor und Plastik. Eine (nach sehr europäischen Maßstäben) »nahrhafte« Auswahl von Lebensmitteln wurde angeboten – Sandwichs, Biskuits, Obst und Süßigkeiten – und jede Lebensmitteleinheit war individuell in Plastikfolie verpackt und ruhte in ihrem eigenen kleinen Abteil in der bunten Schachtel. Auch das brachte einem glücklichen metropolitanen Vertragspartner weitab von Mozambique sicher Millionen ein, weitere Millionen gingen an die Subunternehmer dieser Firmen, an die Makler und Spediteure, die die Sachen versandten, und an die Reedereien, deren Containerschiffe alles international beförderten. Von einer Million Dollar täglich, die man für die Wahlen in Mozambique ausgab, wurden nur wenige einheimische Waren oder Dienstleistungen gekauft. Das meiste Geld ging zurück in metropolitane Industrien – es floss durch Mozambique, ohne anzuhalten. Diese Erfahrung musste ich von Zeit zu Zeit erneut machen. Als ich mich 1996 im vom Krieg zerstörten Kuito in Angola aufhielt, konnten die UN-
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Extravaganzen mich immer noch in Erstaunen versetzen. Sinnbildlich verdichtet sich die Erfahrung für mich im exklusiven Importbier. Die brasilianischen Blauhelme, die ich traf, hatten nicht nur brasilianisches Essen, sondern sogar brasilianisches Bier, das nach Angola eingeflogen wurde. »Wie sonst sollten wir die Leute dazu bringen, hier zu bleiben, unter diesen Bedingungen, und ihre Aufgabe zu erfüllen?«, sagte mir dazu ein leitender UN-Beamter. Da stand ich, die ich im Büro von Africare auf dem Fußboden schlief, aß, was man auf dem Markt vor Ort organisieren konnte, und warmes einheimisches Bier trank. Ich dachte kurz daran, die Anthropologie gegen eine gemütliche UN-Friedensmission einzutauschen. Doch abgesehen davon, die Erfahrungen schärften meinen Blick für die internationalen finanziellen und personellen Bewegungen, die die Arbeit der Vereinten Nationen ausmachen. Die Ausrüstungen in den Bereichen Transport, Nachschub, Dienstleistungen, Kommunikation, Information und Sicherheit sind auf fortgeschrittenem industriellen Stand. Unterfüttert ist das ganze ausgereifte System von einer im wahrsten Sinne industriellen Welt »alltäglicher« Dinge: Seife, Decken, Essenspakete, Uniformen, Waffen und Freizeitartikel. Die Vereinten Nationen sind, für einige, ein gutes Geschäft.
Fünfter Teil Gefährliche Profite
Das Legale bedarf des Illegalen, damit es einen Sinn erfährt. Die Anarchie verdeutlicht die Grenzen, die den Staat in den Mittelpunkt rücken. Gemeinhin geht man davon aus, dass eine exakte Linie zwei Sphären voneinander trennt: das Staatliche vom Nicht-Staatlichen; das Legale, das die zerstörerischen Hobbesschen Wölfe unter Kontrolle hält, die nur darauf warten, die Zivilisation, wie wir sie kennen, in Fetzen zu reißen, vom Illegalen. Das ist ebenso einfach wie ungenau. Der Staat ist durchdrungen von Nicht-Staatlichem, vom Legalen ebenso wie vom Illegalen. Ob im modernen oder im postmodernen Staat: Macht und Politik erfordern Wohlstand. Zweifellos nutzen Konkurrenten um staatliche Macht in ihrem Streben nach Souveränität die Macht der Ökonomie in all ihren Formen. Irreguläres Geld kann ganze Nationen schaffen oder auch zerstören. Die Schatten erlauben buchstäblich unsagbaren Reichtum. Weltweit sind Billionen Dollar entlang nicht-staatlicher und nicht-legaler Linien unterwegs. Vielleicht sind Kriminelle und Terroristen auch deshalb so schwer zu fassen, weil einige innerhalb der staatlichen Struktur und zugleich im Schutz der Schatten die gleichen Kanäle benutzt haben. Macht verwischt ihre Spuren. Wer aber kontrolliert dann die Gewinne, die sich aus diesen Billionen von Dollar ergeben; und wie werden sie verwendet? Der Reichtum fließt heute mit Leichtigkeit über nationale und begriffliche Grenzen hinweg; eine der bestimmenden Fragen des 21. Jahrhunderts wird sein, wer diese Ströme lenkt.
»Sichtbare« Industrie in Trümmern; dahinter, in den Schatten, vollzieht sich Entwicklung. Provinz Bie, Angola, 2000.
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Ironie der Schatten: Unsagbare Gewinne und ein Schlüssel für die Entwicklung
Im Anschluss an eine Konferenz in Kroatien reisten meine Kollegin Linda Green und ich 1995 über Ungarn nach Rumänien. Ich war seit den 1970er Jahren nicht mehr in Ungarn gewesen; das Land mit seinen grauen und grünen Farbschattierungen hatte mich damals durch seine Ruhe und Nüchternheit beeindruckt. Am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben aber ist mir die Begabung der Menschen dort, Geschichten zu erzählen. Als ich eines Tages auf einer der Budapester Donaubrücken stand, erzählte mir ein Bekannter vom Einmarsch der russischen Truppen 1956. Er berichtete, dass die Menschen Angst gehabt hätten, über diese Brücke zu gehen, denn die Leichen von Freunden und Fremden, die flussabwärts trieben, seien nicht zu übersehen gewesen. »Der Fluss war damals ganz rot«, sagte er. »Wir nannten ihn den Fluss der roten Tränen.« Dieser Mann und einige andere erfüllten Budapest damals für mich mit Leben: die Donau, nicht blau, sondern rot; die Bars und Restaurants versteckt abseits der Hauptstraßen, wo es bei warmem Essen zu unterkühlten politischen Diskussionen kam und man stets die Eingangstür im Auge behielt; wo der Wein ungehinderter floss als der Busverkehr. Das Budapest zwanzig Jahre später war eine quirlige, farbige, kosmopolitische und mitunter ausgelassene Stadt; die Innenstadt war ein einziges Gedränge. Doch in Wirklichkeit war Budapest nicht für alle zugänglich, sondern nur für einige. Riesige Märkte, formelle wie informelle, brachten westliche Waren nach Osteuropa und »Ostprodukte« nach Westen. Von Nähmaschinen bis zu Prostituierten, von Industriegeräten bis zu Drogen bildet Ungarn eine wichtige Schnittstelle, die von allen möglichen Geschäftsleuten frequentiert wird. Einige seiner Bürger und Unternehmen haben es zu ungeheurem Reichtum gebracht, während viele andere Durchschnittsbürger still unter Hunger und Krankheiten leiden und über Jobs verfügen, für die auf kapitalistischen Märkten noch immer sozialistische Löhne gezahlt werden. Beim Anblick des Budapest der 1990er Jahre dachte ich an die amerikanische »frontier« im Westen: weit offene Ökonomien, in denen zahlreiche Optionen und wenige Kontrollen einige zu Millionären machen und andere verarmen lassen; wo neue Infrastruktur entsteht, bevor sie vom Staat kontrolliert werden kann; wo
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GEFÄHRLICHE PROFITE
»Schmelztiegel« die Mischung formeller, grauer und schwarzer Märkte meint sowie die internationalen Akteure, die kräftig in diesem Kessel aus Gold, Entbehrung und Gefahr rühren. Wenn ich an die zentrale Rolle dieser informellen Märkte in Osteuropa denke, fallen mir Janine Wedels Untersuchungen zu Kühlschränken in Polen ein. In den 1980er Jahren, als wir beide an der University of California in Berkeley studierten, war sie mit den in/formellen Volkswirtschaften Osteuropas befasst. In Polen untersuchte sie die Ströme der Alltagswaren, die formell in sowjetischen Betrieben hergestellt wurden, informell über politische, ökonomische und staatliche Grenzen vertrieben wurden und erst so den Weg in die Küchen der Arbeiterklasse (für die sie ja eigentlich gedacht waren) fanden. Wedel verfolgte den Weg der Kühlschränke, wie sie produziert wurden und wie sie dann der Bürokratie, »Abschöpfern«, schlechter Verarbeitung und schlechtem Material, Transportschwierigkeiten und dem ungeheuren sowjetischen Bedarf (verglichen mit der armseligen Wirklichkeit der dortigen Produktion) zum Opfer fielen. Wedels Untersuchungen zeigten, welche Bedeutung informelle Märkte für das Alltagsleben hatten, und sie machten deutlich, dass diese Netzwerke ebenso groß waren wie die formellen Märkte, vermutlich sogar besser organisiert und effizienter und mit Sicherheit von entscheidender Bedeutung für das Überleben einer Gesellschaft und ihrer Ökonomie.1 Wedels Kühlschränke fügen sich in einen breiten Horizont historischer und gegenwärtiger informeller Handelspraktiken, die sich in Jahrhunderten durch die Wechselfälle der Politik und die Zyklen von Überfluss und Armut herausgebildet haben. Diese Austauschsysteme sind häufig ebenso sorgfältig aufgebaut wie formelle Märkte; und sie verschwinden nicht, wenn sich Regierungen oder Wirtschaftsphilosophien ändern. Diese informellen Systeme waren in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges am Werk. Sie funktionierten in Sarajewo, als die dortigen formellen Regierungsinstitutionen im Zuge des Krieges zu Beginn der 1990er Jahre zusammenbrachen. Sie brachten Lebensmittel und Vorräte für die verzweifelten Zivilisten in die Stadt; schleusten Verbündete ein und Flüchtlinge hinaus; versorgten die Stadt mit Alkohol, Zigaretten, Prostituierten und Drogen; das geschah zum Teil über Netzwerke der UN-Friedenstruppen (über die sogar Panzer von Russland nach Serbien und Waffen aus Europa und Asien nach Bosnien gelangten).2 Und in der Nachkriegszeit sind sie noch immer aktiv. Wenn die formellen staatlichen Rahmenbedingungen aufgrund des politischen Umbruchs im Fluss oder reduziert sind, stellen diese nicht-formellen Netzwerke oft die einzigen funktionierenden Versorgungsnetzwerke dar. Als die frühere Sowjetunion in souveräne Staaten auseinanderbrach, zerfiel auch ihre zentralistische Wirtschaft. Wenn ein formelles Wirtschaftsregime
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endet und ein neues noch nicht an dessen Stelle getreten ist, klafft in den formellen Strukturen eine Lücke. Die Ukraine oder Tadschikistan können ihre Volkswirtschaften nicht über Nacht wieder in Gang bringen, nachdem sie von abhängigen Satellitenstaaten der Sowjetunion zu souveränen Staaten geworden sind, die sich nun selbst um ihre Infrastruktur kümmern müssen. Auch in Sarajewo oder Mozambique kam es mit dem Ende des Krieges zu einer ähnlichen Entwicklung formeller Intervention und Infrastruktur. Die vielbeschworene »Russenmafia«; die Nutzung von Häfen im südlichen Afrika für den Diamanten-, Drogen- und Waffenschmuggel; die riesigen Geldimperien, die sich in Südostasien hinter den formellen Sektoren verbergen – all das sind erwartbare und erwartete Ergebnisse des Nachkriegswandels und des politischen Übergangs. Von denen, die für Friedensabkommen und politischen Übergang verantwortlich sind, sollten sie deshalb von Anfang an in ihre Überlegungen mit einbezogen werden. In meinen Beobachtungen zu den Schattenrealitäten zeigt sich eine grundlegende Ironie. Der Bereich des Unregulierten bietet Chancen und Gefahren, dort sind große Vermögen ebenso möglich wie große Grausamkeit. Den Schatten wendet sich aber auch der Durchschnittsmensch zu, der in einer unsicheren Welt überleben will. Die Arena der Schatten ist ein Ort, wo um Macht gekämpft wird, wo neue Formen von Kapital, Zugang und Autorität entstehen – einige verschwinden, bevor sie wirklichen Einfluss auf globale Angelegenheiten gewinnen konnten, andere ersetzen alte Regime durch neue. Wären Schattennetzwerke lediglich Schwarzmarktsysteme, die auf schnellen und möglichst großen Gewinn angelegt sind, würden sie für die legalen Systeme keine wirkliche Herausforderung darstellen. Es ist jedoch gerade diese Ironie – dass nämlich außerstaatliche Systeme nicht nur die gefährliche Spekulation mit Ressourcen außerhalb staatlicher Kontrolle zulassen, sondern auch den Menschen, die nur wenig andere Überlebensmöglichkeiten besitzen, eine Entwicklungschance bieten –, die Schattenregime in der heutigen Welt zu einer ernst zu nehmenden Quelle der Macht werden lässt. Im Folgenden will ich einige Hypothesen zum Verhältnis zwischen Schattenökonomien, Macht und Entwicklung aufstellen. Doch zunächst stelle ich dieses Thema in den Kontext eines gängigen, alltäglichen Phänomens: den außerstaatlichen Handel mit »drugs«. Mich interessieren hier freilich nicht Kokain, Marihuana oder Heroin (das wäre zu einfach), sondern die andere Bedeutung des Wortes, nämlich Medikamente. Illegale Drogen werden von relativ wenigen Menschen konsumiert, aber so gut wie jeder braucht Arzneimittel und viele können sich diese nicht leisten. Ungeheure Mengen an Medikamenten überqueren die Trennlinie zwischen Illegalität und Legalität, häufig mehrmals, in globalen Strömen, bei denen es um Leben, Krankheit und Tod geht.
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Paisinhos Wunde Ein neuer Junge hatte sich zu den Straßenkindern gesellt, die sich in dem Wohnblock, in dem ich in Angola übernachtete, auf dem Betonboden ein Zuhause eingerichtet hatten. Ich kannte diese Gruppe von Jungen seit Jahren; ihr Anspruch auf diesen Straßenabschnitt bestand seit mindestens einem halben Jahrzehnt. Der neue Junge sagte, er heiße Paisinho. Es war mühsam, mit ihm ins Gespräch zu kommen; er wirkte wie ein Anhängsel der Gruppe und man hatte den Eindruck, er wollte sich in sich selbst abkapseln. Manush, mit seinen zwölf Jahren der Gruppenälteste und deshalb für deren Wohlergehen verantwortlich, erklärte mir: »Paisinho hat eine Wunde und wir glauben, sie muss medizinisch versorgt werden. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen, denn es wird immer schlimmer.« Ich fragte Paisinho, ob ich mir seine Wunde anschauen könne, und zögernd stimmte er zu. Es war, als würde er dadurch noch verwundbarer – Stärke ist ein zentraler Wert, wenn man auf der Straße lebt. Paisinho krempelte seine Hose nach oben und zeigte mir eine Wunde an seiner Wade, die so entzündet war, dass ich befürchtete, er würde sein Bein verlieren. Damit begann eine Odyssee ins Reich der Medikamente. Paisinho und ich suchten eine Klinik auf, wo die Krankenschwester mit den wenigen Arzneien, die ihr zur Verfügung standen, ihr Möglichstes tat, doch die Behandlung zeigte keinerlei Wirkung. Daraufhin schlug die Schwester vor, wenn ich mit Dollars bezahlen könne, werde sie mich zu einer Apotheke bringen, die die fünf oder sechs Mittel vorrätig habe, die zur Behandlung der Wunde nötig seien. Ich stimmte zu. Angesichts des Krieges und des damit verbundenen Problems, dass man die meisten Dinge importieren musste, die Einfuhrzölle Angolas aber hoch waren, führten die Apotheken nur ein begrenztes und sehr teures Sortiment an Arzneimitteln. Als ich die Apotheke endlich mit dem benötigten Mittel verließ, hatte ich ein Heidengeld bezahlt – einen Betrag, den sich allenfalls die wohlhabenden Leute in diesem Land leisten konnten. In den USA oder in Europa hätte ich dafür deutlich weniger bezahlt. Paisinhos Wunde heilte nur langsam, und das Medikament ging schon bald zur Neige. Ich wollte Nachschub besorgen. Doch diesmal erklärten mir die Kinder, es sei dumm, das Mittel in der Apotheke zu kaufen. Informelle Märkte für pharmazeutische Produkte sind keineswegs versteckt; die Straßen sind vielmehr voller Verkäufer, die in ihren Pappkartons eine breite Palette an Arzneimitteln anbieten und deren Tische voller Fläschchen und Schachteln sind. Auf dem Land scheinen einige Märkte mehr Medikamente als Lebensmittel im Angebot zu haben. Man bekommt das ganze Sortiment bekannter und weniger bekannter Pharmaunternehmen und Mittel gegen so gut wie jedes Gebrechen. Die Kinder kannten alle Straßenverkäufer in dieser Gegend und
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schleppten mich zu ihrem Lieblingshändler. Wir schauten uns seine Vorräte an und diskutierten, was wir brauchten. Wenn ich etwas erwähnte, was nicht im Angebot war, öffneten er und seine Freunde Säckchen voller Ware, und jedes Mal fand sich genau das, wonach ich gefragt hatte. Die Kinder und die Straßenverkäufer diskutierten eingehend über die verschiedenen Marken. Selbst Zehnjährige wussten über die Vor- und Nachteile der großen Marken und Wirkstoffe Bescheid. Die Straßenhändler erklärten in der Manier von Apothekern, was man bei der Anwendung zu beachten habe. Nach kurzer Zeit hatte ich alles, was ich brauchte (in der Apotheke hatte das viel länger gedauert), und zahlte dafür weniger als ein Zehntel dessen, was ich in der Apotheke ausgegeben hatte. Was dort 50 Dollar gekostet hatte, war hier für zwei Dollar zu haben. Die Kinder hatten gesagt, es sei dumm, in der Apotheke einzukaufen; für die meisten Angolaner ist es schlicht unmöglich. Da die Kinder weiterhin krank waren und von Antibiotika bis zu Malariamitteln alles Mögliche brauchten, kam ich immer wieder mit den »Straßenapothekern« ins Gespräch und erfasste erst jetzt die wahre Dimension dieses Handels. Es sind vier große Vertriebssysteme, über die ein verwundetes angolanisches Straßenkind mit dem milliardenschweren Weltmarkt für Arzneimittel verbunden ist. Der Handel damit ist vermutlich so einträglich wie der mit Kokain, Marihuana und Heroin, doch hergestellt (wenn auch nicht vertrieben) werden sie legal. Im Folgenden möchte ich jedes dieser Systeme mit Hilfe von Zitaten näher skizzieren, die allesamt von Menschen aus Paisinhos Heimatstadt stammen. 1. Containermedikamente Wir gehen einfach direkt zu den Containern [die in den Häfen ausgeladen werden] und zu den Lagerhäusern und kaufen die Medikamente. Wir haben uns auf Medikamente spezialisiert, dafür sind wir bekannt und das machen wir. Aber bei den Containern und in den Lagerhäusern kann man alles von überall auf der Welt bekommen. Wenn Sie wegen Medikamenten hier zu mir kommen und verlauten lassen, dass Sie zum Beispiel Glühbirnen oder den neuesten Allradjeep brauchen, kann ich Ihnen genau sagen, wo Sie das bekommen. Diese Leute, die die Container aus der ganzen Welt hierher bringen, sind ganz große Nummern. Sie haben überall ihre Beziehungen, weltweit ebenso wie hier zur Regierung und zum Militär. Sie können »Sachen bekommen« und Dinge werden für sie erledigt. Dieses Land entwickelt sich um sie herum. Wenn man sie kennt, ist alles möglich.
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Bei meinen Nachforschungen bin ich auf kein einheitliches, umfassendes Erklärungsmodell für diese Geschäftsleute gestoßen. Einige der Lagerbesitzer sind hochrangige Mitglieder der Gesellschaft und bemühen sich sehr darum, das Land so transparent wie möglich zu entwickeln. Anderen geht es vor allem um den Profit entlang der verschwommenen Trennlinien zwischen Illegalität und Legalität. Einige handeln aktiv im Schatten und haben sich auf nicht-legale Güter und Dienstleistungen spezialisiert. Sie alle halten das System am Laufen. Auf der ganzen Welt leben Regierungen von Einfuhr- und Ausfuhrsteuern, Abgaben, Zöllen, Gebühren und Bußgeldern, die allesamt die Geschäftsgewinne schmälern. Dabei werden sogar in den am strengsten überwachten Häfen etwa in den USA, in Europa oder in Hongkong nur ein bis fünf Prozent aller Schiffsladungen kontrolliert. Das heißt, sage und schreibe 95 bis 99 Prozent aller Container und Schiffe gelangen in irgendeinen Hafen, ohne dass sie vorher näher in Augenschein genommen worden wären. Wenn man auf der Straße Medikamente für zwei Dollar kaufen kann, die im offiziellen Handel 50 Dollar kosten, so besteht wohl kein Zweifel, dass diese Waren nicht über rein formelle Kanäle auf den Markt gelangt sind. Und man denke an all die Waren, die man sonst noch auf den »Straßenmärkten« finden kann. Paisinhos Medikamente kamen in einem Container mit einer ganzen Reihe anderer Dinge an, die das Land am Laufen halten, im Guten wie im Schlechten. 2. Militärmedikamente »Die Medikamente? Die sind von einem Militärtransporter gefallen.« Diese lapidare Erklärung eines Straßenhändlers lässt auf »reiches« Wissen schließen. Ein Entwicklungshelfer beschreibt das folgendermaßen: Hier gibt es eine Unmenge an Militärmedikamenten. Vorräte für die Armee kommen an, die Kommandeure übernehmen die Kontrolle darüber, verkaufen sie und stecken die Gewinne ein. Und sie beschränken sich keineswegs darauf, nur die üblichen Mengen zu verkaufen. Indem sie sich mit den Beschaffern zusammentun, können sie größere Mengen, spezielle Arten und teure Markenware bestellen. Dieses Geschäft weist unendlich viele Verzweigungen auf. Es ist keineswegs so, dass hier jemand ein kleines »Extra« in die eigene Tasche steckt. Der Kommandeur kann seine Gewinne wieder in Läden, Apotheken, Unternehmen oder was auch immer investieren. Aber er greift dabei nicht auf eigenes Geld zurück, sondern auf Geld, das er ohne Gegenleistung bekommen hat. Er besitzt auch nicht das gleiche Verantwortungsgefühl für das Geld wie jemand, der sich und seine Familie damit über die Runden bringen muss. Und für ihn gelten die Steuern, Zinsen und der bürokratische Kram der legalen Kanäle nicht. Hinzu kommt, dass der Handel diesen
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Kommandeur überhaupt nichts kostet. Er kann seine Waren für ein Zehntel des Marktwerts verkaufen und macht damit immer noch Gewinn. Niemand, der legal damit handelt, kann angesichts solcher Preise noch mithalten. Letztlich verfügt der Kommandeur also über ein veritables Monopol.
In einer vollkommenen Welt käme niemand auf die Idee, ein solches System als praktikablen Entwicklungspfad zu betrachten. Selbst im Krieg ist für Entwicklungsexperten klar, dass unfaire Geschäftspraktiken keine solide Grundlage bilden, auf der sich die sozioökonomischen Strukturen einer Gesellschaft errichten lassen. Doch diese unfairen und außerlegalen Praktiken versorgen eine verzweifelte Bevölkerung, in der sich kaum jemand die regulären Preise für lebensnotwendige Arzneien leisten kann, mit Medikamenten. Deshalb kann jemand wie Paisinho Antibiotika für zwei Dollar statt für 50 Dollar kaufen. Ich will diese Praktiken damit keineswegs rechtfertigen oder verharmlosen. Mir geht es jedoch um die schwierigen Realitäten, vor denen die Menschen in ihrem Kampf ums Überleben stehen. 3. Gefälschte Medikamente In der gesamten Region [des südlichen Afrika] gibt es Fabriken, die gefälschte Pharmazeutika herstellen, die in allen Ländern hier und vermutlich sogar auf der ganzen Welt in Umlauf sind. Sie können so gut wie jedes Medikament produzieren und so gut wie jede Marke fälschen. Die Medikamente sehen aus wie echt. Wir handeln natürlich nur mit Originalmarken. Ich meine, was glauben Sie, was passiert, wenn wir einer Frau aus der Gegend hier, die zwölf Kinder hat, gefälschte AntibabyPillen verkaufen, die nicht so gut sind wie das Original, und sie macht uns Ärger, weil sie wieder schwanger ist? Was bringt das fürs Geschäft? Wir können echte und gefälschte Ware unterscheiden, wenn wir uns die Markenzeichen und die Verpackung genau ansehen. Wir bekommen hier viele Medikamente aus Fabriken in Asien, die mit Sicherheit Fälschungen sind. Einiges davon ist in Wahrheit aber gar nicht so schlecht; manche Fabriken liefern billige Medikamente, die genauso gut wirken wie die teuren Markenprodukte.
4. Verbotene Medikamente Das Malaria-Mittel, das Sie letzten Monat in Angola genommen haben, ist hier in Europa verboten, sagte der Tropenmediziner in London, der mich nach einer weiteren Malariaattacke behandelte. Es wurde von der WHO auf die Verbotsliste gesetzt,
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denn es kann Herzanfälle verursachen. Trotzdem haben die Pharmazieunternehmen die Produktion nicht eingestellt. Sie haben das Mittel einfach nach Afrika exportiert. Es wird dort häufig verkauft; und dieses »Dumping« senkt natürlich die Kosten, sodass sicherere Medikamente vom Markt verdrängt werden.
Später, als ich diese Sache weiterverfolgte, ließ mich ein Vertreter der Weltgesundheitsorganisation wissen: Das ist keineswegs ungewöhnlich. Pharmaunternehmen stecken eine Menge Zeit, Aufwand und Geld in die Erforschung und Entwicklung eines neuen Medikaments. Wenn sie dann damit auf den Markt gehen, müssen sie die Produktion speziell auf dieses Medikament einstellen. Das bedeutet eine enorme Investition. Wenn sich dann zeigt, dass das Mittel gefährlich ist – oder sogar verboten wird –, ist das für einige eher finanziell als moralisch hart. Nun wieder von vorne anzufangen und ein ganz neues Medikament zu entwickeln – das am Ende möglicherweise ebenfalls verboten wird –, wieder einen Haufen Zeit und Geld zu investieren, bevor auch nur der geringste Gewinn zu erzielen ist … nun, dazu sind einige einfach nicht bereit. Also produzieren und verkaufen sie das Medikament weiter. Sie sagen sich, Mensch, es hilft gegen die Krankheit, und alle Medikamente haben doch Nebenwirkungen, oder? Sie machen anständig Gewinn, wenn sie sie in nicht-westliche Länder verkaufen. Das Gleiche gilt für Medikamente, deren Verfallsdatum bereits überschritten ist. Was glauben Sie, wo die landen?
Nur wenige Dinge im Leben sind so gewiss wie Gesundheit und Krankheit, und es ist deshalb kein Wunder, dass sich eine riesige außerstaatliche Industrie für pharmazeutische Produkte entwickelt hat. Überraschend allerdings ist, dass angesichts der weltweiten Sensibilität für illegale Drogen nur wenig von Schwarzmarktproduktion, Schwarzhandel und Dumping mit pharmazeutischen Produkten die Rede ist sowie von der Rolle, die diese Aktivitäten für die Weltwirtschaft spielen. Arzneimittel sind insofern interessant, als sie eine Reihe moralischer Komplexitäten aufweisen. Anders als illegale Drogen sind Arzneimittel von essenzieller Bedeutung für die Gesundheit. Medikamente, die aufgrund schwerer Nebenwirkungen verboten, abgelaufen oder in schlechter Qualität nachgemacht sind, können bei den Betroffenen dauerhafte Schäden zur Folge haben oder sie sogar töten. Die Moral des Außerstaatlichen bekommt genau hier ihren drängenden und potenziell explosiven Charakter, wo sich die Situation eines armen Straßenkinds, das an einer lebensbedrohlichen Verletzung leidet, und eine milliardenschwere Industrie mit den Interessen politischer, ökonomischer und militärischer Eliten weltweit überschneiden. Natürlich stellen sich diese komplexen
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Fragen auch bei vielen anderen außerstaatlichen Waren und Dienstleistungen: von denen, die von zentraler Bedeutung für die Entwicklung eines Landes sind, über Wasser- und Landwirtschaftssysteme bis hin zur Entwicklung und Aufrechterhaltung wichtiger Handelsnetzwerke. Von Bildungsmaterial bis zur Informationstechnologie fließt alles auf eine Art und Weise in arme und unterentwickelte Regionen, die zugleich ausbeuterisch und förderlich ist. *** Im Folgenden will ich einige Hypothesen zum Verhältnis von Schattenökonomien, Macht und Entwicklung näher ausführen. 1. Außerstaatlicher Handel ist auf zentrale Weise mit wirtschaftlicher Entwicklung verbunden. Damit Paisinho an seine Straßenmedikamente kommt, bedarf es eines komplexen Systems: Produktionsstätten, die sich für den außerstaatlichen Konsum nutzen lassen; Vertriebsnetzwerke, die Verladung, Beförderung und Transport umfassen; Handelsvereinbarungen, die dieses komplexe Frachtsystem aufrechterhalten; und Einkünfte, die weitere Investitionen nach sich ziehen. Ressourcen, die es im formellen Sektor nicht gibt, fließen in das Land und aus dem Land, und dazu bedarf es einer Infrastruktur. Entwicklung setzt zum Teil entlang nicht-formeller ökonomischer Linien ein. Dabei zeigt sich, dass herkömmliche Kategorien wie »informeller Sektor« oder »Schwarzmarkt« sowohl theoretisch als auch praktisch in die Irre führen. Der Kriegswaise, der Marlboro-Zigaretten verkauft, und die alte Frau, die auf informellen Wegen Tomaten in lebensmittelarme Gegenden bringt, gehören zum gleichen System wie der Mann, der Diamanten im Wert von 20 Millionen Dollar außer Landes schafft. Auf diese Weise, ob gut oder schlecht, kommen die Menschen an die Mittel, um Getreide anzubauen, Unternehmen zu gründen und Handelswege einzurichten. Vielleicht ist es gar nicht überraschend, wie sehr Entwicklung an das Außerstaatliche und Informelle gebunden ist. Maria Faria vom Welternährungsprogramm in Angola beschreibt diese Dynamik so: Ich habe nie verstanden, wie die Menschen hier überleben, aber sie haben gelernt, mit dem Krieg zu leben. Sie betreiben alle möglichen Geschäfte, verrichten alle möglichen Formen von Handel und Arbeit. Ich glaube, die Mentalität der Menschen ist der Schlüssel zu ihrem Überleben: Sie wissen, dass sie auf sich gestellt sind. Sie wissen, dass die Dinge nicht funktionieren, dass die Regierung nicht für sie sorgen kann, dass ihnen niemand gibt, was sie brauchen. Sie müssen also ihre eigenen Mittel und Wege finden, um an das Nötigste zu kommen. Sie umkreisen das Prob-
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lem des Überlebens auf die eine oder andere Weise, bis sie irgendwann einen Weg finden. Es geht um ihr Überleben. Es geht nicht um das der Regierung oder von Ausländern oder von NGOs oder anderen Organisationen. Die Menschen haben ein System geschaffen, um zu überleben. Sie haben sich ihre eigenen Lebens- und Überlebensadern geschaffen. Und dieses Überleben ist keine individuelle Angelegenheit: Menschen überleben eingebunden in ausgedehnte Familien und Gemeinschaften. Sie bilden landesweit und international Netzwerke verwandtschaftlicher Beziehungen. Jemand in Lubango hat einen Familienangehörigen – und wenn es nur die Tochter des Ehemanns einer Cousine ist – in Malange: Sie werden sich gegenseitig und anderen in diesem ausgedehnten Beziehungsgeflecht alles, was sie haben, zukommen lassen. Und sie überleben. Das ist Entwicklung.
Ich will das Nicht-Formelle keineswegs idealisieren. Vielmehr gilt es zu zeigen, dass dieser Handel, so gefährlich, illegal und ausbeuterisch er auch immer sein mag, oftmals die einzige Möglichkeit für die Menschen darstellt, um an die harte Währung zu kommen, mit der sie industriell Notwendiges, landwirtschaftliche Waren und Entwicklungsgüter kaufen können. Solche Schattenwaren bringen harte Währung ein, sie verschaffen Macht und sie erlauben Investitionen in Land, legale Industrien und politische Partnerschaften. Sie lassen subsidiäre Industrien entstehen, legale wie nicht-formelle, und halten diese am Leben. Und selbstverständlich folgen notwendige Alltagsgüter wie Kleidung, Lesebücher und Medikamente den gleichen Pfaden. Wenn es zu einer Entwicklung kommen soll, die nicht auf den Schwarzhandel mit gefährlichen Gütern vertraut, müssen Mittel und Wege gefunden werden, um Güter, Dienstleistungen und Geld unter diesen schwierigen Umständen verfügbar zu machen. Ironischerweise liefert das Nicht-Formelle in vielen rohstoffreichen und kriegsgeplagten Ländern mehr innerstaatliche Ressourcen als die formelle Ökonomie. Die folgenden Sätze habe ich fast wörtlich in zahlreichen Ländern zu hören bekommen: Das Geld, das in den Staat fließt, verschwindet oftmals in einem schwarzen Loch aus Korruption, persönlicher Bereicherung, Parteipatronage und Missmanagement. Der ungeheure Reichtum, über den Eliten verfügen, fließt nur selten zurück in die Wirtschaft und in die Entwicklung des Landes und seiner gesamten Bevölkerung. Das Geld wird aus dem Land in die Industrieländer geschleust; oder es fließt im Land in eine Luxusentwicklung, die nur einem ganz kleinen Kreis zugute kommt. Der Staat und die Zivilgesellschaft ringsum hingegen brechen zusammen.
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Eine grundlegende binnenstaatliche Entwicklung hingegen findet offenbar zumeist mit Geschäftsleuten statt, wie ich sie in den vorangegangenen Kapiteln zitiert habe: mit dem Mann, dessen Familie seit Generationen grenzüberschreitenden Handel betreibt und stark auf das eigene familiäre Wohlergehen oder das ihrer Gemeinschaft ausgerichtet ist, bis hin zu demjenigen, der Fernsehgeräte, Luxusautos und Industriegeräte an die Front bringt, um seiner Region zu wirtschaftlicher Entwicklung zu verhelfen. Maria Faria fuhr fort: Wir erkennen in dem Ganzen allmählich eine gewisse Normalität, die Menschen beginnen sich zu organisieren, um zu überleben, und das prägt die Entwicklung des Landes insgesamt. Doch das geht auf die Mittelschicht und auf die Armen zurück. Sie verdienen nicht international Vermögen und schaffen diese dann außer Landes. Sie sind gefangen in ihren Beziehungen, in ihrem Land. Sie lieben ihr Land aufrichtig, ganz gleich, wie sehr ihnen der Krieg die Hoffnung geraubt hat, sie lieben ihr Land und wollen es nicht verlassen. Was sie tun, tun sie somit hier, und sie investieren hier. Die Menschen beginnen sich gegenseitig und ihrem Land zu helfen; sie setzen die Entwicklung auf der mittleren und unteren Ebene der Wirtschaft in Gang. Und Angola wird es schaffen. Meine Mutter sagte zu mir, als ich noch klein war: Wenn du hier überleben kannst, kannst du überall überleben.
Diese Menschen, die am stärksten in ihre Gemeinschaften eingebunden sind, sind zugleich die unsichtbarsten Akteure der formell-staatlichen und internationalen Wirtschaft sowie in Sachen Entwicklung. 2. Außerstaatliche Netzwerke sind international ausgerichtet und verbinden lokale Ökonomien mit transnationalen und kosmopolitischen Produktionsstätten. In Paisinhos Heimatland gibt es keine formellen nationalen Pharmaunternehmen. Sämtliche Medikamente werden eingeführt. Die Regierung importiert nur eine begrenzte Auswahl, die nicht immer den Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht. Und doch kennt noch das ärmste und ungebildetste Straßenkind die Markennamen der großen Pharmaunternehmen weltweit – und eine breite Palette von deren Produkten ist erhältlich. Umgekehrt, auf der eher ausbeuterischen Seite, sind die großen multinationalen Pharmaunternehmen von den Krankheiten all der Paisinhos weltweit abhängig, und zwar auf eine Weise, die sie lieber nicht öffentlich machen. In einem grundlegenden ökonomischen Sinne ist der Straßenhändler für das Pharmaunternehmen ein Verkäufer und Paisinho ein Kunde. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine lineare Angelegenheit von Produktion im Zentrum und Konsum in der Peripherie, sondern um ein ganzes Bündel wechselseitiger Abhängigkeitsbeziehungen. Glaubt man der klassischen Wirtschaftstheorie, so verläuft die Wirtschaftstätigkeit linear-kontinuierlich vom Lokalen über das Nationale und
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Regionale hin zum Internationalen. Wenn diese linearen Typologien überhaupt jemals die Dynamik wirtschaftlichen Handelns erklären konnten, so tragen sie auf jeden Fall nur wenig zur Erhellung der gegenwärtigen Situation bei. Im 21. Jahrhundert besteht kein Widerspruch, wenn ein Kindersoldat in zerfetzten Hosen an irgendeiner fernen Front über ein satellitengestütztes Kommunikationssystem global vernetzt ist; wenn in China 97 Prozent aller Software Raubkopien sind; wenn asiatische Drogenkartelle, die ihre Ladungen über Afrika befördern, mit dem Rohstoff-Schwarzhandel zusammenhängen, der nach Europa fließt; wenn die Verzweifelten und Armen, die »Straßenmedikamente« kaufen, damit die Bilanz multinationaler Unternehmen beeinflussen. Es wäre irrig anzunehmen, die Menschen irgendwo auf dieser Welt, ganz egal wie weit weg oder wie arm, würden die neuesten kosmopolitischen Markennamen, die internationalen Arbeitsströme, die aktuellen Musikvideos sowie politische Träume und Albträume nicht kennen. Selbst in diesem internationalen Kontext bleibt der gewinnträchtige außerstaatliche Handel eng mit dem informellen Handel verbunden.3 Reiche transnationale, außerstaatliche Assoziationen bedürfen des Hungers der Durchschnittsmenschen – des Hungers nach Essen, nach Jobs, nach dem im Alltag Notwendigen, nach Überleben. In gewisser Weise, so könnte man sagen, bilden die informellen Netzwerke weltweit die Produktionsstätten der Schatten. 3. Regierungen und NGOs betrachten außerstaatliche Praktiken nicht immer als negativ. Einfach ausgedrückt: Den meisten Regierungen wäre es lieber, auf den Straßen ihres Landes würden nicht-formelle Medikamente verkauft, als dass all die Paisinhos mit ihren lebensbedrohlichen Krankheiten aufgrund fehlender Medikamente stürben. Wenn die Menschen auf unregulierten Wegen industrielle, landwirtschaftliche, Gesundheits-, Bildungs- und Transportgüter ins Land bringen und dadurch die Wirtschaft in Schwung kommt, verbessern sich die Werte des Human Development Index. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, um den Herausforderungen der Entwicklung gerecht zu werden, kann eine Regierung durchaus der Ansicht sein, dass der Nutzen der Schattenwirtschaft größer ist als das Risiko politischer Instabilität, zu der eine geschwächte Wirtschaft möglicherweise führt. Diese Realitäten werden in den Entwicklungsprogrammen unterschlagen: So gut wie jede Hilfs-, Entwicklungshilfe- und Wirtschaftsförderungsorganisation wirkt unmittelbar (und im Allgemeinen ausschließlich) über den formellen Sektor. Die große Mehrheit der Menschen erreicht man damit in Ländern wie Angola nicht. Ein Großteil der (Entwicklungs-)Gelder fließt über den formellen Sektor ins Land und dann wieder außer Landes, sei es über den Kauf ausländischer Güter und Dienstleitungen oder über Korruption.
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Letzteres ist von entscheidender Bedeutung: Die Korruption, die heute in Entwicklungshilfekreisen ein wichtiges Thema ist, findet sich vor allem im formellen Sektor – also dort, wo intergouvernementale Kredite und Hilfsgelder fließen. Gleichzeitig kommt die Hilfe möglicherweise gerade den Strukturen zugute, die wahrscheinlich für fortwährende Konflikte sorgen. 4. Außerstaatliche Transaktionen und deren Verknüpfung mit Entwicklung verbinden sich mit politischer Macht. Aus dem Straßenhändler mit seinen Medikamenten wird vermutlich kein einflussreicher Geschäftsmann werden; und der kleine Paisinho hat noch weniger Aussichten auf eine solche Karriere. Aber der Straßenhändler ist »Kanonenfutter, Frontsoldat«, wie Richard Flynn von Scotland Yard es ausdrückt. Dieser Händler ist abhängig von Menschen, die über die entsprechenden politischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen sowie über das Geld verfügen und damit an den verschwimmenden Grenzen der Il/Legalität operieren können, wenn sie Medikamente aus den kosmopolitischen Produktionsstätten über internationale Schiffsrouten und Grenzen zur lokalen Bevölkerung transportieren. Die dahinter stehenden Antriebskräfte sind vielfältige Geschäftsinteressen, internationale Kontakte und Reichtum, die sich allesamt in politische Macht »eintauschen« lassen. Erfolgreiche Geschäftsleute finden nicht nur bei Regierung und internationalen Organisationen Gehör, sie sind gewöhnlich die Regierung und internationale Organisationen. Menschen, die die Überschneidungsbereiche il/legaler Märkte geschickt manipulieren, investieren häufig national wie international in legale Unternehmen und politische Karrieren.4 Geld nämlich ist ziemlich nutzlos, wenn es sich nicht verwenden lässt, und eine Währung, ganz gleich wie sauber oder schmutzig sie ist, ist weitgehend wertlos, solange sie nicht in die legale Wirtschaft einfließt. Gewinne aus außerstaatlichen Transaktionen ermöglichen Investitionen in Landbesitz, legale Industrien und politische Partnerschaften. 5. Zwischen legal und illegal, staatlich und nicht-staatlich, national und international lässt sich oft nicht eindeutig unterscheiden; daraus ergeben sich moralische Fragen über die positiven und negativen Eigenschaften außerstaatlicher Phänomene. Noch einmal sei Susan Strange zitiert: »Tatsache ist, dass die Finanzkriminalität enorm zugenommen hat, … gleichzeitig aber rechtlich wie moralisch in einer unbestimmten Grauzone bleibt. Nur selten lässt sich klar unterscheiden zwischen Transaktionen, die allgemein praktiziert werden, aber moralisch fragwürdig sind, und solchen, die schlichtweg kriminell sind.«5 Eine der interessantesten und moralisch ambivalentesten Fragen in dieser Grauzone betrifft die Geldwäsche. Der Grad, in dem Geldwäsche il/legal ist, ist keineswegs so klar, wie die öffentliche Debatte es gerne hätte. Die USA beispielsweise erließen erst 1986 ein Geld-
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wäschegesetz, und in vielen Ländern gibt es solche Gesetze gar nicht oder sie erweisen sich als wirkungslos. Für Banken ist es denn auch schwer, überhaupt zu erkennen, dass sie stattfindet. Amerikanische Banken unterhalten beim Geldtransfer oft Hunderte von Geschäftsbeziehungen zu anderen Banken weltweit, und einige dieser Banken verfügen häufig nicht einmal über ein Büro, geschweige denn über ein Heimatland: »Mehrere US-Banken ahnten nicht, dass sie ausländischen Banken dienten, die nirgendwo ein Büro hatten, über keine ordnungsgemäße Lizenz verfügten, nie einer Überprüfung von offizieller Seite unterzogen worden waren und Konten bei amerikanischen Korrespondenzbanken für kriminelle Zwecke nutzten.«6 Geldwäsche kann sich ohne Zweifel schädlich auf das finanzielle und politische Wohlergehen eines Landes auswirken: »Wird ihr nicht Einhalt geboten, so kann Geldwäsche die Integrität der nationalen Finanzinstitutionen aushöhlen. Angesichts der hochgradigen Integration der Kapitalmärkte kann sich Geldwäsche auch negativ auf Devisenkurse und Zinsen auswirken. Letztlich fließt gewaschenes Geld in die globalen Finanzsysteme, wo es ganze Volkswirtschaften und Währungen in Schwierigkeiten bringen kann.«7 Gleichzeitig bringt Geldwäsche Millionen oder Milliarden von Dollar ins Land – Geld, das dann in legitime Unternehmen überführt werden muss. Damit wird es zu einer bedeutenden Wirtschaftskraft. So ist beispielsweise Mozambique seit dem Frieden und einer zunehmend stabilen wirtschaftlichen Entwicklung zu einem immer beliebteren Ort für Geldwäsche geworden. Eine der gängigsten Möglichkeiten dafür bietet die Tourismusindustrie. Das dort gewaschene Geld sorgt für Infrastruktur, schafft Arbeitsplätze und bringt Touristen-Dollar ins Land – und schafft damit möglicherweise die Stabilität, die nötig ist, um legitime ausländische Investoren ins Land zu locken. Wenn Geld zunehmend an nicht-westlichen Orten gewaschen wird, so vergrößern sich dadurch sowohl die negativen Auswirkungen als auch die Entwicklungschancen. »In einigen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern können diese dunklen Machenschaften die staatlichen Budgets übertreffen, was zur Folge hat, dass die Regierungen die Kontrolle über die Wirtschaftspolitik verlieren. In einigen Fällen ist die im Zuge der Geldwäsche akkumulierte Vermögensbasis so groß, dass sie sich für Nischenmärkte oder sogar richtiggehende kleine Volkswirtschaften verwenden lässt.«8 Der Erfolg eines Landes ergibt sich Arbeitsplatz für Arbeitsplatz, Unternehmen für Unternehmen. Die Infrastruktur erfährt erst mit jeder neuen Kommunikationsverbindung, Transportroute oder Bildungseinrichtung wirkliche Kohärenz. Nicht anders als legale Gewinne fließt auch gewaschenes Geld in den formellen Sektor, als Steuern in die Staatskasse, in Arbeitsplätze und Infrastrukturprojekte. Charles Goredema vom Institute for Security Studies in
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Kapstadt erklärte mir, dass einige Leute in den westlichen Ländern nicht wollen, dass Geld zu Geldwäschezwecken in aufstrebende Märkte wie Mozambique fließt, denn es bilde trotz aller »Unsauberkeit« einen enormen »cash flow«. 6. Die Überschneidungen zwischen offizieller Ökonomie und Schattenwirtschaft bestimmen die formellen globalen Märkte. Paisinho ist ein armes Straßenkind, das inmitten eines Krieges lebt. Die Medikamente, die er kauft, bleiben in der Weltwirtschaft unsichtbar. Doch »Ökonomie« gibt es nicht nur im Singular, und eine »Transaktion« besteht nicht aus einem einzigen Individuum. Die sechs Milliarden Menschen auf dieser Erde sind alle irgendwann einmal in ihrem Leben mit Krankheit konfrontiert, und die meisten werden sich irgendein Medikament dagegen besorgen. Den Volkswirtschaften ist es gleichgültig, ob die Paisinhos dieser Welt ihre Medikamente in legalen Apotheken oder auf der Straße kaufen. Eine verkaufte Tablette ist eine verkaufte Tablette – Gewinn ist Gewinn. Global hochgerechnet bedeutet das: Laut UN-Schätzungen bringen illegale Drogen jährlich eine halbe Billion Dollar ein. Die Zahl für Arzneimittel dürfte noch um einiges darüber liegen. Berücksichtigt man all die il/legalen Warenund Dienstleistungsströme weltweit, so lässt sich der Einfluss auf die globalen Finanzmärkte erahnen. All die Waren, die sich im Kreislauf von Produktion und Konsum außerhalb formeller staatlicher Kanäle bewegen, schaffen Gewinne für legale Geschäfte. Die 500 Milliarden US-Dollar beispielsweise, die jedes Jahr durch den Schwarzhandel mit Waffen verdient werden, stellen für die legale Waffenindustrie in den Industrieländern einen Gewinn dar. Wenn mit den Diamanten oder dem Öl aus Angola oder Birma in den Industriezentren Computer und Waffen (oder Kleidung und Medikamente) gekauft werden, so bestimmt auch dieses Geld die finanziellen Realitäten in diesen Zentren, ganz gleich, ob es auf formellem Wege oder auf dunklen Kanälen dorthin gelangt. All diese finanziellen Realitäten haben Einfluss auf den Absatz der Unternehmen, auf die Einnahmen der Banken, auf die Lebenshaltungskosten, auf das Bruttoinlandsprodukt und so weiter. »Die informelle Wirtschaft, so scheint es, ist von Dauer und wird vielleicht sogar zur Hauptstütze der Wirtschaft.«9
»Amor Mata Pessoa«, Liebe tötet – Graffiti an einem zerbombten Gebäude an der Front in Mozambique, 1991.
16. Warum interessieren uns die Schatten nicht?
John Kenneth Galbraith hat vermutlich gelächelt, als er folgenden Satz sagte: »Letztlich kann ein Großunternehmen seine eigene Außenpolitik betreiben.« Der Ökonom Galbraith, der für seinen Witz bekannt ist, äußerte dies im Gespräch mit Nicole Salinger für das 1978 erschienene Buch Almost Everyone’s Guide to Economics. G: Die großen Ölgesellschaften betreiben ihre eigene Politik im Umgang mit den Regierungen des Mittleren Ostens. Manchmal unterscheidet sie sich von der des amerikanischen Außenministeriums. Ist sie deckungsgleich, so hat das auch damit zu tun, dass diese Firmen beträchtlichen Einfluss auf das State Department haben. Lockheed etwa, das in Japan, Holland, Italien und anderswo seine eigene Außenpolitik betreibt, war, was die Destabilisierung von Regierungen angeht, erfolgreicher als die CIA, mit dem Unterschied, dass Lockheed nur gegen »freundliche« Regierungen vorging. Japanische Minister und holländische Prinzen sind eben nicht empfänglich für die Einflussnahme oder die finanziellen Ressourcen eines durchschnittlichen Großhändlers. S: In Frankreich sind wir zumeist der Ansicht, die Macht eines Großunternehmens beruhe auf seiner Fähigkeit, Beschäftigung zu schaffen oder abzubauen. Wenn es vor dem Konkurs steht, schaltet sich sofort die Regierung ein. G: Auch das ist eine Form von Einfluss. Das rettet eine Firma, die in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Bei uns ist überdies von großer Bedeutung, wo Waffen bestellt werden. Ein Unternehmen, das sonst dichtmachen müsste, bekommt besonderen Einfluss dadurch, dass es Bestellungen aus dem Pentagon erhält. Und vom Kongress. Sie haben mich gefragt, wie aus der politischen Ökonomie die Wirtschaftswissenschaft wurde. Sie sehen, dass die Großunternehmen nun wieder ein wichtiges politische Element in die Wirtschaftswissenschaft einbringen. S: Heißt das, dass die Lehrbücher einen Abschnitt über den politischen Einfluss von Unternehmen enthalten sollten? Über die Bestechung von Unternehmensseite? G: In höhersemestrigen Lehrveranstaltungen würden wir von den ökonometrischen Aspekten außerlegaler Funktionen sprechen. Dass diese Dinge in den Lehrbüchern
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nicht vorkommen, hat zum Teil damit zu tun, dass die Wirtschaftswissenschaft die politischen Aktionen von Unternehmen nicht so sauber darstellen kann. Nur wenige Ökonomen sind so weltfremd, die politische Macht des modernen Unternehmens, seine Bedeutung für das reale Leben zu leugnen. Aber es gibt keine elegante Theorie des unternehmerischen Gemauschels und der politischen Unterordnung, die sich an der Universität lehren ließe. Deshalb lässt man das Thema lieber außen vor.10
Ebenso wichtig wie die Aufdeckung der Dynamik außerstaatlicher Netzwerke ist vermutlich die Frage, warum es so wenig Datenmaterial über das NichtFormelle gibt und so wenig darüber diskutiert wird. Die meisten Menschen glauben, es gäbe diese Daten. Aber das lässt sich leicht widerlegen. Wie viele Lehrbücher und Seminare an Universitäten befassen sich mit außerstaatlichen Ökonomien und ihrem Einfluss auf Weltwirtschaft und Weltpolitik? Wie lässt sich die Auswirkung des Schwarzhandels mit Diamanten auf die europäischen Aktienmärkte berechnen? Über welche Wirtschaftsindikatoren verfügen wir, um – beruhend auf den Überschneidungen zwischen formellen und außerlegalen Transaktionen – vorherzusagen, wo es zu Wirtschaftskrisen wie etwa in Asien Ende der 1990er Jahre oder im Westen nach dem 11. September kommen wird? Wie lässt sich die gesamte Wirtschaft eines Landes beziffern, und inwiefern bestimmt das das Verhältnis dieses Landes zu anderen Staaten? Ein Beispiel. 1998 stattete ich den Büros des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) und der Weltbank in Luanda einen Besuch ab, um Zahlen über die 90 Prozent der angolanischen Wirtschaft zu erhalten, die damals nicht-formell waren, sowie über deren Verhältnis zu den 10 Prozent formeller Ökonomie – diese Angaben hatte ich von der UNO bekommen. Bei beiden Institutionen war darüber nichts zu erfahren. Im Gespräch mit leitenden Ökonomen von UNDP und Weltbank fragte ich, wie man denn eine wirkungsvolle Politik machen wolle, wenn die verwendeten Indikatoren nur wenig mit den ökonomischen Realitäten des Landes zu tun hätten: »Wie sollen Entwicklungsprogramme, die dem gesamten Land helfen wollen, greifen, wenn sie auf Zahlen beruhen, die nur für 10 Prozent der Wirtschaft gelten?« Der Leiter des Weltbank-Büros in Angola antwortete: »Wir beschäftigen uns einfach nicht mit diesen Dingen, mit diesen Fragen sind wir nicht befasst.« Ende der Diskussion. Alexander Aboagye vom UNDP-Büro gab eine etwas tiefergehende Antwort. Der Ghanaer, der sich sowohl mit klassischer Wirtschaftstheorie als auch mit »bodenständigen« Programmen auskannte, schätzte die Ironien der bestehenden Situation: Wir haben ein ernsthaftes Interesse daran, genau festzustellen, wie viele Menschen wirklich unter diesen scheinbar unmöglichen Umständen überleben; wie sich die in-
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INTERESSIEREN UNS DIE
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formellen Märkte auf die ökonomischen Realitäten des Landes auswirken; und wo das wahre Entwicklungspotenzial in der Wirtschaft liegt … Doch wie die meisten formellen Behörden sind wir gemäß unserem Mandat darauf beschränkt, uns mit der formellen Ökonomie zu beschäftigen. Diese Mandate werden auf der obersten Ebene der Organisation formuliert und erteilt. Kurz gesagt: Die klassische Wirtschaftstheorie ist schlicht und einfach nicht in der Lage, sich mit diesen Fragen zu befassen.
Einzelne Menschen untersuchen außerlegale Aktivitäten, doch wenn diese Untersuchungen nicht zu einer neuen Wirtschaftstheorie und zu globalen Indikatoren führen, welche die nicht/formelle Ökonomie insgesamt – in ihrem Einfluss auf nationale wie globale Entscheidungsträger – darzustellen vermögen, ändert sich in den Institutionen nichts. So führte ich beispielsweise 1999 ein Gespräch mit Emmanuel Dierckx de Casterlé, dem UNDP-Vertreter in Mozambique. Als ich ihn nach den nicht-formellen Ökonomien und ihrer Beziehung zur Entwicklung des Landes fragte, zeigte er sogleich Interesse. »Viele hier sind der Ansicht, dass die ökonomischen Erfolge in Mozambique nach dem Krieg eng mit der informellen Wirtschaft und ihrer Wechselwirkung mit der formellen Entwicklung verbunden sind«, sagte er. »Warum«, so fragte ich, »befassen Sie sich dann nicht eingehender damit?« Er schien wahrhaft perplex zu sein: »Aber wir interessieren uns doch dafür, wie ich schon gesagt habe.« »Warum«, bohrte ich weiter, »veröffentlichen Sie diese Arbeit dann nicht?« »Aber das tun wir doch!«, rief er. »Unsere UNDP-Berichte befassen sich mit diesen Fragen.«
Ich griff mir den mehrere hundert Seiten umfassenden UNDP-Länderbericht zu Mozambique, der gerade in Genf veröffentlicht worden war, und bat ihn, mir zu zeigen, wo diese Themen behandelt wurden. Er blätterte den Bericht durch. Dann nahm er einen anderen UN-Bericht aus seinem Regal und sah ihn ebenfalls durch. Schließlich sah er mich verlegen grinsend an und sagte: Das ist wirklich interessant, darüber steht in der Tat nicht viel in unseren Berichten, und auch in unseren Konferenzen findet sich kaum etwas dazu.
Um genau zu sein: Der umfangreiche UNDP-Bericht zu Mozambique erwähnt das Nicht-Formelle nur beiläufig in einigen wenigen Abschnitten. Trotz der zentralen Rolle, die das Nicht-Formelle und Außerstaatliche für den ökonomischen Erfolg der täglichen Entwicklungsarbeit vor Ort spielen, scheint sich das nicht in formellen organisatorischen Strukturen oder Erkenntnissen niederzuschlagen. Wie aber soll man genauer untersuchen, wie das Verhältnis
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von Formellem und Nicht-Formellem die Entwicklung in Mozambique oder irgendeinem anderen Land beeinflusst? Die Antwort darauf steht noch aus; von offizieller Seite, sprich: von UNO, IWF oder Weltbank ist dazu jedenfalls nichts zu erfahren. *** Warum nimmt ein Großteil der internationalen Wirtschaftswissenschaft einen Großteil der internationalen ökonomischen Realität nicht zur Kenntnis? Meine anthropologische Neugier war geweckt und ich beschloss, dasjenige »Volk« ethnografisch zu untersuchen, das die kulturellen Normen dessen produziert, was als »ökonomisch« angesehen wird – mein Forschungsfeld waren damit also Ökonomen und Entwicklungsexperten. Wie ich bald erkannte, erwies sich bereits die Fragestellung als problematisch, denn es gibt keinen eindeutigen Terminus für das, was ich hier als »Schattenökonomie« bezeichne. Informelle Märkte, so die gängige Auffassung, beträfen vor allem häusliche Industrie im kleinen Maßstab, die üblicherweise landwirtschaftliche Produkte liefert. Bei dem Wort »informeller Handel« denken die meisten nicht an internationale außerstaatliche, millionen- oder gar milliardenschwere Transaktionen im Bergbau oder in der Informationstechnologie. Man forscht über illegale Aktivitäten – Verbrecherkartelle, Drogenhandel, Geschäfte mit Elfenbein oder Waffen –, doch im Allgemeinen wird dabei scharf zwischen formellen und illegalen Unternehmen unterschieden, und man findet nur wenig darüber, wie diese illegalen Ökonomien die globalen Praktiken in Wirtschaft und Politik beeinflussen. Diese terminologische Frage stellte ich vor dem Kriegsende in Angola, als Jonas Savimbis UNITA noch höchst lebendig war, mehreren Ökonomen: Nehmen wir das Beispiel Savimbi, sagte ich. Er kontrolliert Diamantengeschäfte im Wert von über einer halben Milliarde Dollar pro Jahr. Das ist nicht wirklich illegal, denn er ist zwar nicht an der Regierung, aber er kann doch von sich behaupten, als politischer Bewerber einen Krieg zu führen und zu diesem Zweck Land und Ressourcen unter seiner Kontrolle zu haben. Es ist aber auch nicht wirklich legal, denn da er nicht an der Regierung ist, zahlt er keine staatlich anerkannten Steuern und als Führer einer Rebellenarmee ist er nicht an formelle internationale Handelsabkommen gebunden. Einige dieser Einnahmen fließen in die Ausrüstung seiner Truppen und in politische Aktivitäten. Die dafür benötigten Waren kommen über eine Vielzahl internationaler Verbindungen ins Land, über legale, außerlegale, graue und schwarze Märkte. Und wie es in kriegsgeplagten Gesellschaften so üblich ist, fehlt es der Mehrzahl der Zivilisten so ziemlich an allem, von Nahrungsmitteln über Kleidung und
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Schulbücher bis hin zu Medikamenten, und sie betreiben deshalb selbst einen kulturund grenzüberschreitenden Handel, um an das Notwendigste zu kommen. Zwischen diesen beiden Bereichen stehen Zivilisten, die aus der Verknüpfung von Diamantengeschäft, Waffenhandel und Handel mit Alltagsgütern beträchtliche Gewinne ziehen und mit allem Möglichen handeln, von Videorekordern bis hin zu gestohlenen Luxuskarossen und Benzin. Als was bezeichnen Sie das?
Die Antwort, die ich darauf zumeist erhielt, lautete: »informelle Ökonomie«. Doch in ihren eigenen Veröffentlichungen verwendeten die Ökonomen den Begriff des »informellen Sektors«, wie er 1972 von der ILO in ihrer Studie zu Kenia definiert worden war: »leichter Zugang, vertraut auf einheimische Ressourcen, Familienbesitz, kleinräumig aktiv, arbeitsintensiv und unter Einsatz übernommener Technologie, erfordert Fertigkeiten, die außerhalb des formellen Schulsystems erworben werden, gekennzeichnet durch unregulierte und kompetitive Märkte.«11 Ich unterhielt mich mit Dirk Hansohm, Ökonom am Namibian Economic Policy Research Unit (NEPRU), über seine Definition der »informellen Ökonomie«. Ihr zufolge werden etwa vier Prozent des BIP Namibias über die informelle Ökonomie erwirtschaftet: die kleinen Landwirtschafts- und Heimindustriebetriebe, die verarmte Menschen aufbauen, um zu überleben.12 Aber, so wandte ich ein, diese Definition und die Zahl von vier Prozent würden doch nicht die hoch profitablen und komplexen Märkte erfassen, die mit Diamanten handeln und dafür Waffen, Medikamente und teure Autos nach Namibia oder Angola schmuggeln. Am Tag zuvor hatte mir ein hochrangiger UN-Ökonom erzählt, in Namibia kreuzten sich aufgrund seiner politischen Stabilität und seiner entwickelten Infrastruktur viele große OstWest-Handelsrouten mit beträchtlicher Schmuggelware. Zudem sei Namibia eine wichtige Station in einem sehr lukrativen internationalen Netzwerk des illegalen Drogenhandels, das sich von Lateinamerika und Asien über Afrika bis nach Europa erstreckt. »Wenn das Teil des informellen Sektors ist«, fragte ich, »wie kann man dann behaupten, die informelle Ökonomie umfasse nur vier Prozent des BIP?« Diese Frage stürzt weder Akademiker noch UNDP-Ökonomen in Verlegenheit, sie erregt vielmehr Neugier und bietet Anlass zu Spekulationen. Viele gaben darauf die gleiche Antwort: »Die klassische Ökonomie und die Lehrbücher befassen sich nicht damit, wir verfügen über keine Untersuchungsmethoden, niemand hat die empirischen Komplexitäten dieser Ökonomien bislang erfasst … aber es ist ein faszinierendes Thema.« Und wenn ich frage, ob sich denn wenigstens große Konferenzen und Entwicklungsexperten mit diesen Schattenökonomien und der damit verbundenen Politik befassen, bekomme ich stets zu hören:» Selten, aber das scheint sich zum Glück zu ändern.«
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*** Bei dem Versuch, die Frage, warum »wir über diese Dinge nicht reden«, zu beantworten, ergeben sich drei Erklärungsebenen: eine praktische, eine kulturelle und eine politische. Sie verbinden sich zu einer Diskussion der umfassenderen Machtfrage. Beginnen wir mit der praktischen Antwort. Clement Jackson, UNDP-Ökonom in Windhoek, nennt mehrere Hauptgründe, warum es über die Ökonomien jenseits des formellen Sektors so wenig brauchbare Daten gibt: Zum Ersten lassen sich »unterirdische« Märkte nicht so leicht quantifizieren. Unsere ökonomischen Werkzeuge sind auf diese Art der Analyse nicht wirklich eingerichtet. Man müsste Feldforschung vor Ort betreiben, wir müssten die Kärrnerarbeit selbst machen, nämlich diesen Markt in seiner Alltagsökonomie quantifizieren und katalogisieren. Das wäre eine knifflige Herausforderung.
Ich warf ein, als Anthropologin würde ich Feldforschung weder als unvernünftig noch als besonders knifflig betrachten, vor allem wenn sie zu einem genaueren wirtschaftlichen Indikator führt. Jacksons Blick schien ausdrücken zu wollen, dass er die Anthropologie für eine seltsame, wenn nicht gar unrealistische Disziplin hielt, die sich kaum auf die Welt der Ökonomen übertragen ließ. Dann fuhr er fort: Zum Zweiten sind nicht-formelle Märkte durch fließende und sich verändernde Austauschmuster bestimmt, was Beobachtungen, Verallgemeinerungen und eine Quantifizierung erschwert. Die Wirtschaftstheorie verfügt über so gut wie keine Methoden, um diesem fließenden Charakter gerecht zu werden. Ein drittes ernsthaftes Hindernis schließlich stellen die engen Beziehungen zwischen nicht-formellen Märkten und kriminellen Aktivitäten dar.
Dirk Hansohm von der NEPRU nannte einen weiteren wichtigen Faktor. Er strich über seine Krawatte, zupfte am Ärmel seines Maßanzugs, lehnte sich in seinem sündteuren Sessel zurück, nahm einen Schluck Kaffee und lächelte: Sie müssen rausgehen und diese Daten sammeln. Sie müssen Feldforschung betreiben. Und die meisten wollen das schlicht und einfach nicht machen. Die Daten sind in diesem Fall eine Sache der Bequemlichkeit. Draußen ist es ungemütlich, heiß oder kalt und dreckig. Man schwitzt und holt sich Blasen. Man muss sich mit Menschen und all ihren Schwächen befassen, mit all den kleinen Händlern und Kriminellen und mit all dem bunten Völkchen, das da draußen seine Geschäfte macht. Es ist viel bequemer, im Büro zu sitzen und sich mit Dokumenten zu beschäftigen. Und diese Dokumente befassen sich ausschließlich mit formellen Öko-
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nomien: Sie kommen frisch aus dem statistischen Amt der Regierung. Wir sind so ausgebildet, wir glauben, ökonomische Forschung bestehe darin, ins regierungsamtliche Statistikbüro zu gehen. Und aus Bequemlichkeit glauben wir bereitwillig daran: Es ist viel angenehmer als rausgehen und – igitt! – Feldforschung betreiben zu müssen. Das wird durch eine bestimmte Bildungstradition befördert. Das ganze Bildungssystem bringt jungen Menschen bei, dass »Forschung« heißt, in die Bibliothek zu gehen. Und allmählich akzeptieren wir, dass wir uns nicht unsere eigene Meinung bilden, sondern von anderen lernen; wir fangen nicht bei Null an, sondern mit Daten und Theorien aus zweiter Hand, die bereits von anderen veröffentlicht worden sind. In Deutschland nennt man das »graue Theorie« – dass das, was man als Intellektueller denkt, das ist, was zählt, und nicht das, was auf der Welt tatsächlich passiert.
Das bringt uns zum zweiten Grund, warum sich die nicht-formellen Sektoren so leicht aus dem formellen Studium fernhalten ließen, nämlich dem kulturellen oder epistemologischen. Ökonomen haben ihr Augenmerk seit jeher auf formelle Märkte gerichtet. Die Tradition bestimmt die Epistemologie; wenn man so will, der wissenschaftliche Habitus.14 Die Frage, warum die formellen Indikatoren die ungezählten Billionen nicht berücksichtigen, welche die globalen Ökonomien außerhalb dessen bestimmen, was die Ökonomen für untersuchenswert halten, rührt an ein Tabu. Gleiches gilt für die Vermutung, Entwicklungspolitik scheitere, weil sie auf falschen Grundannahmen und Daten beruht. Stattdessen lautet die gängige kulturelle Antwort, Entwicklungspolitik scheitere aufgrund der Realitäten der Unterentwicklung, der Korruption, der schlechten Infrastruktur, der Hegemonie westlicher Eliten, des soziopolitischen Widerstands und an den Schwierigkeiten der Implementierung – sowohl bei den Entwicklungshilfeorganisationen als auch in den Empfängerländern. Doch die Schwierigkeiten setzen sich fort, wenn man fragt, warum diese Faktoren nicht bei den grundlegenden entwicklungspolitischen Gleichungen berücksichtigt werden, oder, wie weit diese Korruption reicht. So zahlte beispielsweise das amerikanische Amt für Entwicklungshilfe (USAID) in einem Land, in dem ich Daten sammelte, für die Versorgung mit dem Nötigsten und für die Entwicklung der Infrastruktur in einer vom Krieg betroffenen Region. Ich nehme an, USAID war sich der Tatsache nicht bewusst, dass die Ressourcen, die die Organisation zur Verfügung stellte und bezahlte, für nicht unbeträchtliche Geschäfte auf dem grauen und schwarzen Markt verwendet wurden, ja sogar zum Transport gestohlener Autos und Luxusgüter. Ich nehme an, USAID war sich der Tatsache nicht bewusst, dass der Manager der westlichen Firma, mit der man einen Vertrag abgeschlossen
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hatte, Gelder abzweigte und für verschiedene andere einträgliche Kriegsgeschäfte verwendete. Und doch bleibt die Frage, um wieder auf das allgemeinere Thema des kulturellen Habitus zurückzukommen: Wie kann es sein, dass sich offizielle Behörden dieser Realitäten tatsächlich nicht bewusst sind? Wie kann es sein, dass die Tabus in diesem Zusammenhang noch immer so wirksam sind? Die politische Antwort zeigt tiefergehende Bedenken auf. Ein hochrangiger Ökonom (dessen Namen ich aus »humanitären Gründen« nicht nenne) im europäischen UN-Hauptquartier nannte einen weiteren wichtigen Faktor, der mit Macht und Profit ebenso viel zu tun hat wie mit der Sphäre des Praktischen und Begrifflichen: Wir von der UNO müssen dem Mandat folgen, das uns erteilt wurde, und so wichtig es auch sein mag, die Ökonomien außerhalb des formellen Sektors zu untersuchen, so wichtig das für die Politik ist, so liegt es schlicht und einfach außerhalb unseres Mandats. Und damit können wir sie nicht näher erforschen. Basta. Und warum? Schauen Sie sich an, von wem wir unser Mandat erhalten: von den Staatsmännern, welche die UN-Politik bestimmen. Nehmen Sie beispielsweise all die Meerestiere, die vor den Küsten Afrikas illegal gefangen und dann auf der ganzen Welt verkauft werden. Wer, glauben Sie, betreibt diesen Fischfang? Wer, glauben Sie, verkauft all die Fische und isst sie? Die Bürger der Länder, von denen wir unser Mandat erhalten. Multiplizieren Sie diese Überlegungen, wenn es um Rohstoffe im südlichen Afrika geht. Und dann erweitern Sie diese Gleichung auf andere »nicht-formelle« Waren und Dienstleistungen weltweit.
Diese Antwort wirft ein Licht auf die Reaktionen, die ich meistens erhalte, wenn ich Ökonomen frage, warum es so wenig empirische Untersuchungen zu den außerstaatlichen Realitäten gibt: Diese Arbeit ist zu gefährlich. Es wird unterstellt, sie sei deshalb gefährlich, weil sie mit kriminellen Netzwerken zu tun haben kann, und diese sind qua Definition gefährlich. Wenn man Diamantenschmuggler oder Waffenhändler untersucht – ganz zu schweigen von korrupten Sicherheitskräften –, endet man möglicherweise als eines der statistischen Opfer, die man eigentlich untersuchen wollte. Die interessantere Frage aber lautet: »gefährlich für wen?« Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt habe, stellen diese Netzwerke der Macht, Dienstleistungen und Waren eine ernst zu nehmende Konkurrenz zu formellen staatlichen Strukturen dar; nicht-formelle Ökonomien sind nicht nur Geldangelegenheiten, sondern auch soziopolitische Kraftzentren. Dabei werden beträchtliche Vermögen angehäuft und verloren, und diese verbinden sich auf unentwirrbare Weise mit formellen Staaten und Ökonomien. Dabei sind die Trennlinien zwischen dem Nicht/Formellen und dem Außer/Staatlichen
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weitaus weniger ausgeprägt, als es der klassischen Theorie und der öffentlichen Meinung lieb ist. Damit aber sind unsere Vorstellungen von Macht und Ökonomie bedroht; unsere so sorgfältig ausgearbeiteten Theorien über das Verhältnis zwischen Staat, Individuum und Autorität.
Macht In allen drei Antworten – der praktischen, der kulturellen und der politischen – geht es auch um Fragen der Macht. Wenn es in Untersuchungen zum Krieg letztlich um die condition humaine geht, dann ist die Erforschung der Schatten im Grunde eine Erforschung von Macht. Damit will ich noch einmal das Thema des vorangegangenen Abschnitts über die Macht aufgreifen: dass Macht darin besteht, die Definitionen von Macht zu kontrollieren, sowie in der grundlegenden Ironie, dass Macht auf der bloßen Illusion beruht, dass es überhaupt Macht gibt. Warum also widmen wir uns den Schatten nicht im gleichen Maße wie den formellen Institutionen dieser Welt? Dazu möchte ich noch einmal auf Charles Tillys klassische Untersuchung zurückkommen.14 Das Formelle und das Schattenhafte verbinden sich sowohl zur Kriegsführung als auch zur Staatsbildung, und genau darin liegt ihre Macht, eine Macht, die fundamental mit der Kontrolle über die Ressourcenausbeutung, mit der Kapitalakkumulation und mit dem Gewaltmonopol verknüpft ist. Die Konsolidierung des modernen Staates im Europa des 17. Jahrhunderts, sein politischer und wirtschaftlicher Erfolg beruhen zum Teil auf der Erkenntnis, dass sich Souveränität nicht nur auf das Territorium, sondern auch auf die Weltmeere erstreckt; nicht nur auf legitime Unternehmungen, sondern auch auf die Piraterie und auf die Exzesse, über die sich der Kolonialismus definiert – wie sorgfältig auch immer diese Beziehungen aus der offiziellen Sprachregelung und Berechnung getilgt wurden. Doch der Staat war keineswegs der natürliche oder bevorzugte Gipfel des Fortschritts, von Reformation und Aufklärung, der allmählichen Befreiung aus königlicher Herrschaft oder irgendeiner anderen der zahlreichen Erklärungen, die den Staat als Höhepunkt menschlichen Strebens und menschlicher Vernunft begreifen. Der Staat war auch keineswegs das einzige Regime sozialer, ökonomischer und politischer Allianzen, das Ressourcenausbeutung, Kapitalakkumulation und Gewaltmonopol zu maximieren trachtete. Er war dabei, so Tilly, lediglich am erfolgreichsten. Nach gängiger Auffassung können nicht zwei Dinge gleichzeitig an einem Ort existieren, und dieser Mythos spielt eine zentrale Rolle dabei, die Vorgänge
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und Profite im Schatten unsichtbar zu machen. Er stützt die Überzeugung, wonach der Staat die vorherrschende Form der soziopolitischen und ökonomischen Beziehungen darstellt, welche die moderne Welt bestimmen. Wenn der Staat regiert, regiert er absolut; wenn er fällt, wird er durch etwas anderes ersetzt (nach Ansicht der meisten Theorien durch die Anarchie). Alle anderen konkurrierenden ökonomischen und politischen Vereinigungen spielen qua Definition allenfalls eine marginale Rolle. In Wirklichkeit jedoch gibt es zahlreiche konkurrierende Macht- und Akkumulationsregime, die sich auf vielfältige Weise gegenseitig behindern oder befördern. Das riesige Netzwerk an Schattenallianzen stellt nicht nur einen »illegitimen Sprössling« des Staates dar, sondern ein konkurrierendes Bündel von Akkumulations-, Kontroll- und Handlungsregimen. Diese Regime können mitunter für die staatlichen Strukturen und Autoritäten von Nutzen sein; mitunter können sie diese jedoch auch verdrängen. Falls sich diese nicht-staatlichen Netzwerke allmählich besser für die Kontrolle von Ressourcenausbeutung, Kapitalakkumulation und Machtlegitimation eignen als der Staat, werden sie Letzteren als primäre Autorität ablösen; wenn sie sich als weniger geeignet erweisen, werden sie verschwinden und durch neue Formen politischer und ökonomischer Beziehungen ersetzt werden.15 Und doch fehlt dabei noch immer etwas: Warum sind die bewusst geschaffenen Unsichtbarkeiten so komplex? Das vorangegangene Kapitel über Macht enthält ein weiteres Teil des Puzzles. Natürlich konstruieren Menschen und Regime, die auf Machterhalt bedacht sind, Rationalitäten so, dass sie zu ihren Gunsten ausfallen; natürlich versuchen sie ihren eigenen Zugriff auf Ressourcen und Gewalt zu verbessern; und natürlich versuchen sie die wahre Regierung beziehungsweise Gouvernementalität zu definieren. In dieser Gleichung taucht ein zusätzlicher zentraler Faktor auf. Regierungen existieren ähnlich wie das Militär nicht durch das nackte, rohe Faktum der Macht, sondern weil die Menschen an diese Macht glauben. Zehntausend Soldaten können nicht eine Million Menschen kontrollieren, wenn diese Menschen das Recht des Militärs nicht akzeptieren, über die Gewaltmittel und die Anrechte auf Macht zu verfügen. Deshalb ist man in hohem Maße darauf bedacht, die Illusion aufrechtzuerhalten, die Regierung und ihr Militär hätten nicht nur ein Recht auf Macht, sondern verfügten wirklich über Macht. Wenn sich Millionen von Bürgern einfach weigern, dieses Recht anzuerkennen, und sich anderen Möglichkeiten des Regierens zuwenden, hat eine spezifische Regierung schlicht keine Autorität mehr. Sie hört auf zu existieren. Regime verschwinden, so wie die monarchische Herrschaft dem modernen Staat weichen musste. Große Mühe wurde auf die Vorstellung verwendet, der Staat sei der Gipfelpunkt von Macht und Autorität in der modernen Welt.16 Doch auch der
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Staat ist nur eine weitere Erfindung, um Margaret Meads berühmte Worte über die Kriegsführung abzuwandeln. Nur eben eine zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt erfolgreichere Erfindung. Es ist keineswegs so, dass der Staat keine Konkurrenten hat. Die Billionen von Dollar, die im Schatten erwirtschaftet werden, sowie die Millionen von Menschen, die daran beteiligt sind, stellen ein System dar, das man durchaus als souverän betrachten kann.17 Die Unsichtbarkeiten, die um diese Schatten herum geschaffen werden, verbergen so einerseits ein wenig die immensen Gewinne, die Menschen, Industrien, soziale Gruppen und ganze Staaten aus außerstaatlichen Möglichkeiten schöpfen, andererseits aber auch die Tatsache, dass der Staat keineswegs die ultimative, oberste, konkurrenzlose Regierungsautorität in der modernen Welt darstellt. Schon allein die Macht, die in außerstaatlichen Systemen vorhanden ist – die Macht, globale wirtschaftliche und politische Realitäten zu beeinflussen –, zeigt deutlich den vorläufigen, »endlichen« Charakter staatlicher Autorität. Und das wiederum zeigt, dass die Macht des Staates nicht herausragt, sondern eine sorgfältig gehegte Illusion ist, die nur deshalb existiert, weil sich eine Bevölkerung dazu entschlossen hat, ihr Glauben zu schenken. Es gibt kein einzelnes Machtsystem, das absolut herrscht, die Welt wird nicht von einem obersten Hegemon bestimmt. Seit Foucault wissen wir, dass es in dem Augenblick zum Widerstand gegen eine einzige oder oberste Form von Autorität kommt, da Autorität ausgeübt wird, wobei vielfältige Formen sozialer, ökonomischer und politischer Beziehungen ins Spiel kommen. So wie der moderne Staat (der Aufklärung) durch die Realitäten der Globalisierung im 21. Jahrhundert eine grundlegende Neugestaltung erfährt, verändern sich auch die Knoten soziopolitischer und ökonomischer Macht. So wie die internationalen Netzwerke der Kaufleute zu Zeiten der Monarchie den modernen Staat vorbereiten halfen und deren Schiedsgerichte das heutige internationale Recht ankündigten, könnten die gegenwärtigen Schattennetzwerke Vorboten möglicher ökonomischer und politischer Machtformeln sein, die sich erst schemenhaft am Horizont abzeichnen. Ich will damit keineswegs behaupten, dass es sich dabei unbedingt um eine Veränderung zum Positiven handeln muss; Macht ist keineswegs ein teleologischer Prozess.18 Es mag bequem sein zu glauben, dass der Globalismus von den kosmopolitischen Zentren dieser Welt ausgeht und sich auf diese auch am stärksten auswirkt. Aber vielleicht sind gerade Mozambique und Angola, Afrika und Asien die Orte, an denen die neuen, bestimmenden Machtkonfigurationen dieser Welt am deutlichsten erkennbar sind.19 Denn hier vereinen sich die Flexibilität, der Zusammenbruch der alteingesessenen Institutionen, die Politik des Überlebens und die schöpferische Kraft der Entwicklung auf äußerst dynamische Weise.
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Genau darin liegt einer der Schlüsselaspekte der Überschneidung von offizieller und schattenhafter Macht. Die Angolaner beispielsweise sind mit den Wegen vertraut, auf denen reguläre und irreguläre Waren weltweit unterwegs sind. Sie haben erlebt, wie internationale Spekulanten aus der Asche des Krieges und politischer Unruhen beträchtliche Vermögen zogen. Mit diesen illegalen Geschäften werden Vermögen verdient, und aus diesen Vermögen entsteht politische Macht. Mit den Gewinnen werden Industrien geschaffen, und diese Industrien verschmelzen zu transnationalen Unternehmen als Machtfaktor auf die Weltmärkte und das internationale Recht Einfluss nehmen. Doch all das wird in westlichen politischen und ökonomischen Theorien nur unzureichend berücksichtigt (oder kommt gar nicht vor). Die »Politik der Unsichtbarkeit« ist freilich kein Zufall: sie wird gemacht, und das aus einem ganz bestimmten Grund. Andernfalls nämlich würde sich zeigen, dass der moderne Staat von den Schattenökonomien und den Kriegsgewinnen ebenso abhängig ist wie davon, diese Abhängigkeiten aus den offiziellen Statistiken herauszuhalten. Oder wie Jean-François Bayart es ausdrückt: »Die Matrix der Unordnung ist häufig die gleiche wie die der Ordnung.«20 Die gegenwärtige Wissenschaft ist stark von Theorien beeinflusst, welche die Machtverhältnisse in »Zentrum« und »Peripherie« unterteilt haben; das manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass man noch immer zwischen dem »Norden« und dem »Süden« unterscheidet: Ersterer gilt als entwickelt und (erfolgreich) globalisiert, Letzterer müsse sich erst noch entwickeln und globalisieren, um zu überleben.21 Dem liegt die (mitunter ein wenig arrogant wirkende) Annahme zugrunde, dass das »Zentrum« geografisch in den kosmopolitischen Zentren der Welt zu verorten sei. Kein Wunder, denn die Theorien stammen auch im Allgemeinen aus dem »Zentrum«. Im Hinblick auf unsere Thematik bedeutet das: Der Ressourcenreichtum Angolas, der Demokratischen Republik Kongo, Birmas und einer ganzen Reihe weiterer kriegsgeplagter Länder ist nicht einfach »nützlich« für die kosmopolitischen Zentren; er ist unabdingbar. Diese Länder bilden somit nicht die Peripherie des Wirtschaftssystems, sondern stehen in dessen Zentrum. Die Kombination aus formeller und außerstaatlicher Ökonomie in diesen Ländern macht sie zu »Brutkästen« der kosmopolitischen industriellen Zentren. Somit fließen High-Tech-Waffen, Kommunikationssysteme, medizinisches Gerät, Kleidung, Zigaretten und Jeans auf außerstaatlichen Wegen aus den kosmopolitischen Zentren in die Angolas dieser Welt. Zurück kommen auf ebenso verschlungenen Pfaden wertvolle Edelsteine, wichtige Rohstoffe und menschliche Arbeitskraft. Gleichzeitig halten formelle Einnahmen, etwa aus dem Ölgeschäft, die Kriege in einem Land, dessen Entwicklung und die globale Industrie am Laufen. Diese kriegszerrissenen Orte, so will es scheinen,
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sind keineswegs abgelegene Provinzen auf der globalen Landkarte. Sie und ihre Kriege sind von essenzieller Bedeutung für das kosmopolitische Geschäft. Das ist ein schmutziges kleines Geheimnis. Man verweist beispielsweise gerne darauf, dass Angolas »Wirtschaft« global nur eine unwesentliche Rolle spielt. Das ist einer der beliebtesten Zaubertricks in der gegenwärtigen ökonomischen Analyse. Wenn die Menschen »Wirtschaft« sagen, beziehen sie sich damit auf die »formell staatlich anerkannten Ökonomien« – im Falle Angolas also auf die 10 Prozent staatlicher regulierter Volkswirtschaft. Keines der großen transnationalen Unternehmen und keine der internationalen Organisationen, die über die Weltwirtschaft wachen, verzeichnen öffentlich die Gewinne, die sie im außerstaatlichen Bereich erwirtschaften. Im Hinblick auf Kolumbien würden dazu mit Sicherheit auch die vielen Milliarden Dollar gehören, die jährlich im Geschäft mit illegalen Drogen anfallen. Im Kongo beträfe das Gold, Zink, Koltan und andere wertvolle Rohstoffe. Und in Birma gehörten dazu die geplante transnationale Ölpipeline, Holz und die Sexindustrie an der Grenze zu Thailand. Die »Angolas« werden von den Analysten im »Zentrum« und denen, die von diesen lukrativen Verhältnissen profitieren, bewusst und auf höchst findige Weise im analytischen Schatten gehalten. Die Pfade des Profits sind zahlreich und gleichermaßen undurchsichtig. LKWs – in den industriellen Zentren hergestellt – transportieren nicht-legale Waren von den Produzenten zu den Konsumenten und verbrauchen dabei Treibstoff und werden von Profis gesteuert. Händler transportieren die Waren, Experten überprüfen sie, Finanzinstitute leihen und waschen Geld und nur schwach legitimierte Sicherheitskräfte sichern sich ihren Anteil, indem sie das Gesetz missachten und gleichzeitig so tun, als würden sie darüber wachen. Jeder Schritt in diesem unendlichen Gewirr von Transfers, mit dem eine Ware über Zeit, Raum, internationale Grenzen und die Grenzen des Rechts hinweg bewegt wird, verschafft zahlreichen Menschen Arbeit, erwirtschaftet beträchtliche Gewinne für das »Top-Management« und bringt diese undurchsichtigen Einnahmen weltweit in die ganz realen Märkte des Alltags ein. Kurz: Piloten, Mechaniker, Handelsvertreter und die Rechtsexperten, die sich auf außerstaatliche strategische Planung spezialisiert haben, werden ebenso reich wie die Produzenten in den Industrieländern. In einer wissenschaftlichen Untersuchung wäre es undenkbar, dass die Analyse und die daraus abgeleitete Politik auf Datenmaterial beruhen, das in wesentlichen Teilen lückenhaft ist. Doch genau das ist der Fall, wenn die klassische Ökonomie die nicht-legale und undurchsichtige Wirtschaftsaktivität sowie die damit verbundene Macht außer Acht lässt. Vielleicht sind das Illegale und das Schattenhafte letztlich zu wichtig, um offen darüber zu diskutieren. Krieg, Schatten, Regierungen und Unternehmen
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bleiben eng miteinander verzahnt. Multinationale Konzerne und transnationale Unternehmen überwinden nicht nur nationale Grenzen, sondern setzen sich auch über souveränes Recht hinweg, und in gleicher Weise globalisieren sich außerstaatliche Netzwerke und schaffen neue rechtliche und politische Konstellationen. Wenn es den Anschein hat, dass die Profiteure alle Trümpfe in der Hand haben, so ist dies ein gefährlicher Aspekt, der durch die bewusste Schaffung von Unsichtbarkeit, welche il/legalen Gewinn und Einfluss umgibt, verborgen bleibt. Wenn man für den Zugang zur Welt formeller und außerstaatlicher Macht lediglich formelle ökonomische und politische Instrumente verwendet, lässt sich weder der wahre Charakter der ökonomischen und politischen Realität, die unser Leben und unsere Welt bestimmt, erkennen noch der Anlass für Krieg und die Möglichkeiten für Frieden. Macht schafft sich ihre eigene Legitimation; Staaten entstanden, bevor sie legitimiert waren. Souveränität ist ein Produkt dieses Prozesses und nicht die natürliche Eigenschaft eines unantastbaren Bedürfnisses. Die Verbindungen zwischen Kriegsführung, Banditentum, Ausbeutung und Staatsbildung bestehen noch immer. Die Frage, wer künftig die Ökonomien und die Macht, sie zu schützen, am effektivsten mobilisieren kann, ist noch nicht beantwortet.22 Sie wird so lange rätselhaft bleiben, solange es uns an exakten und adäquaten Daten über die globalen Ökonomien insgesamt mangelt. Es wäre vermessen anzunehmen, dass außerstaatliche Aktivitäten die grundlegendsten Aspekte nationaler wie globaler Wirtschaft unbeeinflusst lassen: Aktien- und Devisenkurse, Marktstabilität und Lebensstandard. Und es ist vielleicht genauso verwegen, diese Prozesse im Unsichtbaren zu halten, sodass sich die Auswirkung außerstaatlicher Kräfte auf die Weltmärkte nicht feststellen lässt – und Krisen sich nicht erfolgreich vermeiden lassen, Entwicklung sich nicht in geeignetem Maße implementieren lässt und den auf politischer Gewalt beruhenden Gewinnen nicht wirksam Einhalt geboten werden kann.
»Niemandsland«: Eine Brücke markiert den Frontverlauf. Angola, 2001.
17. Epilog: Zwei Seiten einer Medaille
»Nichts auf dieser Welt ist von Dauer, außer der Tod!«, sagte er stirnrunzelnd. Hätte ich in diesem Augenblick gewusst, dass sein Leben kürzer ist, als er sich das je hätte vorstellen können, hätte ich alles mögliche und unmögliche an Worten aufgeboten. Vielleicht aber auch nicht.23
Die eine Seite Vor einigen Tagen habe ich erfahren, dass Charlie gestorben ist. Ich war soeben aus Kuito zurückgekehrt und auf eine Geburtstagsparty in Luanda gegangen. Dort traf ich den Leiter von Halo Trust, der Minenräumorganisation, die in Angola tätig ist. Wir kamen ins Gespräch und ich erwähnte, dass ich vor fünf Jahren zum ersten Mal in die zentralen Provinzen Angolas gefahren sei und mir dort von Halo Trust das Wichtigste in Sachen Minenräumung gezeigt worden sei. Lachend verwies ich auf die verbreitete Vorstellung, Minenräumer seien sowohl hoch professionell als auch gesellschaftlich schwer zu integrieren, und erwähnte, dass ich nach dieser Lektion in Sachen Minenräumung auf einer Geburtstagsfeier gewesen sei, auf der sich Charlie – und noch ehe ich meinen Satz beenden konnte, sagte der Leiter von Halo Trust: »kopfüber in die Geburtstagstorte stürzte«. »Genau!«, sagte ich. »Woher wissen Sie das?« »Das ist eine inzwischen fast legendäre Geschichte«, antwortete er. »Wussten Sie, dass Charlie letztes Jahr gestorben ist?« Ich wusste es nicht. Die Kriege rumpeln über den Erdball, angetrieben von Profiteuren, die Geschäfte machen, und Diplomaten, die um Frieden feilschen, und gleichzeitig leben und sterben zahlreiche Menschen in Kuito und all den Kuitos dieser Welt unbemerkt von der Öffentlichkeit. In der gleichen Gegend wurde »Blades« – wie der Pilot auch liebevoll genannt wurde – während eines Hilfsflugs zu eingeschlossenen Zivilisten abgeschossen. Als ich in Mozambique war, nahm er mich immer auf seine Flüge mit, damit ich meine For-
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schungen betreiben konnte. Die Geschichte von Blades war in doppelter Hinsicht tragisch: Sein Sohn machte sich zwei Tage später zum Ort des Absturzes auf, um etwas über seinen Vater in Erfahrung zu bringen, und wurde ebenfalls abgeschossen. Keiner von beiden hat überlebt. Kuito ist ein ebenso quälender wie faszinierender Ort, den ich lieb gewonnen habe. Die Provinzhauptstadt ohne Strom und Abwasserkanalisation stand im Zentrum der Gewalt in Angola. 1993 war Kuito Schauplatz verheerender Kämpfe: Die Streitkräfte der Regierung und der Rebellen kämpften um jedes Haus und mitunter um jedes einzelne Zimmer in einer Stadt, in der die Front zwischen den beiden Kriegsparteien genau entlang der Hauptstraße verlief. Als ich im November 2001 dort war, hatte sich die Stadt seit meinem ersten Besuch 1996 kaum verändert. Die Menschen leben und arbeiten inmitten ausgebombter Gebäude, verkaufen ihre Produkte und schlagen sich um Essen, Wasser und Energie. Überall begegnen einem Soldaten, Polizisten und Flüchtlinge. Unter normalen Umständen hätte Kuito einige zehntausend Einwohner. Doch als es Ende 2001 wenige Monate vor Kriegsende zu schweren Kämpfen kam, waren etwa 150.000 deslocados vom Land in die Stadt geflohen. Viele waren von den Regierungstruppen gezwungen worden, ihre Dörfer zu verlassen, denn man wollte, mit Mao gesprochen, kein Wasser, in dem sich die Rebellen wie Fische bewegen konnten. Andere flohen, als die Gewalt gegen Zivilisten von beiden Seiten zunahm. Wer Kuito erreichte, konnte sich glücklich schätzen. Die Menschen berichteten, in kleineren Städten außerhalb Kuitos seien Flüchtlinge vor Hunger auf den Straßen gestorben. Andere wagten sich, zu oft ohne Erfolg, auf der Suche nach ein wenig Nahrung für ihre Familien in vermintes Gelände. In Kuito leisten eine ganze Reihe internationaler und nationaler NGOs humanitäre Hilfe. Während des Krieges war es nicht leicht, dort tätig zu sein. Die meisten NGOs werden nur bei humanitären Krisen tätig; für mehr reichen die Ressourcen zumeist nicht aus. Die Organisation »Concern«, die mich während meines Aufenthalts in Kuito 2001 beherbergte und verpflegte, betreibt ein Programm für weibliche Minenopfer sowie allgemeine Gesundheits- und Landwirtschaftsprogramme für die riesige Menge von Flüchtlingen. »Ärzte ohne Grenzen« leistet medizinische Hilfe; daneben gab es 2001 in der gesamten Provinz nur eine einzige Ärztin, und die befand sich auf einer längeren Fortbildung. Minenräumkommandos von Halo Trust und Care arbeiten in einer der am stärksten verminten Gegenden dieser Welt. Die UNO, UNICEF und das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen bemühen sich um Hunderttausende von Betroffenen in einer Provinz, in der nur einige wenige Routen befahrbar sind und die Verzweifeltsten oftmals in abgelegenen Gegen-
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den leben. Lokale NGOs versuchen mit bescheidenen (oder häufig gar nicht vorhandenen) Ressourcen die notwendigsten sozialen Dienste zu gewährleisten. All diese Menschen arbeiten für wenig Geld sechs oder sieben Tage in der Woche. Die meisten arbeiten extrem hart und kümmern sich aus tiefstem Herzen. Sie alle sind wie die lokale Bevölkerung auch von Malaria, Parasiten und den allgegenwärtigen Landminen bedroht und finden sich (zumindest solange der Krieg andauerte) möglicherweise am Morgen beim Aufwachen plötzlich unmittelbar an der Front wieder. Von diesen Menschen hören wir nichts. Sie bleiben zumeist so unsichtbar wie diejenigen, die in den Kriegsgebieten dieser Welt Diamanten schmuggeln oder Geld waschen. Und doch spüren wir bei den Menschen, die in Kuito – in den Kuitos dieser Welt – leben und arbeiten, den Herzschlag menschlichen Überlebens. Ohne den einfachen Soldaten an der Front, der den Finger am Abzug hat, gibt es keinen Krieg. Und in dem globalen Strom von Billionen von Hilfsgeldern, die sowohl guten wie weniger guten Zwecken dienen, bilden der unbezahlte deslocado, der beim Wiederaufbau einer Gemeinschaft hilft, die lokale Krankenschwester, die für ein paar Dollar im Monat die Flut des Krieges wie das Blut aus den Wunden zu stillen versucht, und die schlecht bezahlten Mitarbeiter von NGOs, die ohne Unterlass arbeiten, so etwas wie die Frontlinien friedlicher Lösungen. Hier finden wir eine Gegenwirklichkeit zu den globalen Klagen in Politik und Hilfsorganisationen über »Spendenmüdigkeit«, die Amoralität von Bevölkerungen, die völlig von Hilfslieferungen abhängig seien, und die Hoffnungslosigkeit tief verwurzelter Kulturen der Gewalt. Das wurde mir bewusst, als ich mit Maria Faria vom Welternährungsprogramm in Angola sprach. Maria: Für die meisten von uns ist Hoffnung etwas sehr Flüchtiges, an das sich nur schwer glauben lässt. Wenn wir in diesem Land überhaupt ein Gehalt bekommen, dann reicht das nicht aus, um unsere Familien zu ernähren. Immer wieder hat man uns Frieden versprochen und immer wieder hat der Krieg diese Versprechen zunichte gemacht und allmählich haben wir sogar Angst davor zu hoffen. CN: Aber die Menschen können doch nicht leben, ohne an etwas zu glauben. Woran halten sich die Menschen hier fest, was bringt sie dazu, jeden Morgen überhaupt aufzustehen? Maria: Die Würde. Wir klammern uns an die Würde. Wir halten unsere familiären und freundschaftlichen Netzwerke aufrecht und wir kümmern uns um diese Netzwerke, denn mit ihrer Hilfe überleben wir. Unseren Lieben, unseren Freunden und Kollegen verleihen wir Würde; wir glauben noch immer an Menschen und daran, eine Gemeinschaft zu bilden. Wir vertrauen auf die Menschen. Der Glaube an
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GEFÄHRLICHE PROFITE
die Würde – an unsere eigene und an die derjenigen um uns herum – hält uns am Leben.
Wenn man die Parabeln der Macht in die Welt setzt, die nichts als »Als-ob«Geschichten sind, wenn man die Wahrheiten über die Gewalt zum Verstummen bringt und die Hinweise auf die ungeheuren Gewinne tilgt, die sich aus dem Krieg und aus dem damit verbundenen Leid ergeben – dann verschwinden auch die Geschichten von Hoffnung, menschlicher Würde und Frieden aus den offiziellen Berichten.
Die andere Seite Als ich auf der Heimreise aus Angola 2002 in Johannesburg Station mache, wird in den Gebirgsregionen und an den Tafelrunden weltweit gerade der »Krieg gegen den Terror« geführt. Mir ist es ein Rätsel, warum es so schwierig sein soll, Akte der Aggression vorherzusagen und »Terroristen aufzuspüren«. Nach zwanzig Monaten unterwegs, den Fängen des Krieges und seiner Schatten in den verschiedensten Ländern und im Leben vieler Menschen auf der Spur, habe ich vergessen, wie es ist, die Schatten nicht zu sehen. Ganz gleich, ob Menschen in einem staatlichen System arbeiten oder es bekämpfen, sie brauchen Waffen, Nahrungsmittel, Medikamente und Texte; sie brauchen Fahrzeuge, Benzin und Ersatzteile; sie brauchen elektronische Ausrüstung und Kommunikationssysteme. Die meisten wollen darüber hinaus Zigaretten, Alkohol oder Drogen. Sie brauchen harte Währung, um diese Dinge kaufen zu können, und sie brauchen Produkte, die sich in harte Währung umsetzen lassen. Sie brauchen Bankensysteme und die Möglichkeit, Finanzmittel zu überweisen, wie informell und ungeregelt dieser Transfer auch immer sein mag. Sie brauchen die Transportrouten, um an die Objekte ihres Verlangens zu kommen. Das sind die harten Tatsachen, die objektive Spuren – eindeutige Fußabdrücke – auf den ökonomischen, politischen und sozialen Pfaden dieser Welt hinterlassen. Diese Systeme sind nicht deshalb unsichtbar, weil es ihrem innersten Wesen entspräche, sondern weil wir sie nicht sehen wollen. Geht es uns wirklich darum, sie zu verstehen, fragt Mattijs van de Port. »Wollen wir wirklich einen akademischen Text, der verstört?«24 Diese Unwilligkeit, einen Blick in die Schatten zu werfen, mag zum Teil mit dem Ausmaß zu tun haben, in dem das Außerstaatliche und das Außerlegale in das Gewebe des Alltagslebens und formeller Institutionen eingefloch-
EPILOG: ZWEI SEITEN
EINER
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ten sind. Die Billionen von Dollar, die jährlich die Grenzen der Legalität überschreiten, fließen letztlich alle über formelle Ökonomien – ungewaschenes Geld ist nichts weiter als ein Stück Papier oder eine abstrakte Zahl, wenn es nicht finanzielle Anerkennung erlangt, und diese erhält es durch die Weltwirtschaft. Diese Überschneidungsbereiche sind wichtige Zonen für Profit und Macht. Sie zu erkennen, die Dynamik, die Krieg und Frieden bestimmt, zu verstehen, »Kriege gegen den Terror« zu gewinnen und ein exaktes analytisches Instrumentarium zu entwickeln, mit dem sich diese Überschneidungen erklären lassen – das alles heißt, den Blick auf die Ränder menschlicher Existenz zu richten und die Gesellschaften in ihrem Innersten zu betrachten, dort, wo sie ihr wirkliches Leben führen.
Globalisierte Symbolik in globalen Kriegen.
Anmerkungen
Erster Teil: Einleitung 1 2
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Pinnock 2000, 15. Die Unruhen spiegelten allgemeinere und seit längerem bestehende religiöse, ethnische und politische Spaltungen in Sri Lanka wider. Die dortige Bevölkerung setzt sich aus 80 Prozent singhalesischen (Singhalesisch sprechenden) Buddhisten und gut 12 Prozent tamilischen (Tamilisch sprechenden) Hindus zusammen. Die wichtigen Posten in Regierung und Militär sind weitgehend mit singhalesischen Buddhisten besetzt. Die Tamilen, von denen der Großteil im Norden des Landes lebt, streben seit langem danach, in Regierung und Politik stärker vertreten zu sein – entweder im Zuge eines demokratischen Prozesses oder durch Ausrufung eines eigenen Staates. 1983 reagierte eine bewaffnete tamilische Gruppe mit einem Guerillaangriff auf die Unterdrückung der Tamilen von Seiten der Regierung; dabei kamen 13 Soldaten ums Leben. Das war offenbar der Auslöser für die Unruhen: Einige Singhalesen (darunter Zivilisten, Soldaten, religiöse Führer und Regierungsangestellte) formierten sich zu Mobs und griffen Tamilen an. Die Tamilen ihrerseits enthielten sich einer gewaltsamen Reaktion gegen die Singhalesen. Die Gewalt erfasste das ganze Land und dauerte eine Woche an; dabei kamen Tausende von Tamilen ums Leben und ein Sechstel der Infrastruktur des Landes wurde zerstört. van de Port 1999, 30. Ehrenreich 1997, 7. Greif 1996. van de Port 1999, 27. Ebd., 28. Ebd., 102f. Redding 1998, S14. Ebd., 34. Alves/Cipollone 1998. Maier 1996, 59. Einen ausgezeichneten Überblick über Kriegsökonomien und die Politik des Unsichtbaren bietet Chingono 1996, 127. Tilly 1985, 169-191. de Certeau 1986. Augé 1994, 45f. Ebd., 42f. Cohen 2001, 10f.
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ANMERKUNGEN
Ebd., 141. Ebd., 105. Ebd., 108. Hecht/ Simone 1994, 91f.
Zweiter Teil: Krieg 1 2 3
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Chabal/Daloz 1999, 83. Vagts 1959. Einige dieser Bilder finden sich in meinen früheren Veröffentlichungen: Nordstrom/ Martin (Hrsg.) 1992; Nordstrom/Robben (Hrsg.) 1995; Nordstrom 1997a; Nordstrom 1998b. Laut Zenos Paradox muss man, um von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen, zunächst die Mitte zwischen diesen beiden Punkten erreichen; dann den nächstfolgenden Mittelpunkt und so weiter. Da es zwischen zwei feststehenden Punkten eine unendliche Zahl von Mitten gibt, ist eine eindeutige Bewegung vom einen zum anderen Punkt nicht möglich. Vgl. Sainsbury 2001. Keane 1996, 4. Daniel 1996, 7. Einige dieser Bilder finden sich in Nordstrom 1998b; Nordstrom/Robben (Hrsg.) 1995; Nordstrom 1997b. Pinnock 2000, 10. O’Brien 1999, 76. Ebd., 90. Ninh 1996, 48-50. Vgl. Daniel 1996; Feldman 1991; Green 2000; Nordstrom 1998a; Nordstrom 1999. Scarry 1992, 59. Nordstrom 1997a. Richards 1996. Suarez-Orozco 1992. Ninh 1996, 89. Ebd., 36f. Macieira 2001, 3. Taussig 1987. Lukes 1974. Foucault 1972; Foucault 1976; Foucault 1977; Foucault 1987; Gramsci 1980; Gramsci 1967; Gramsci 1991ff. Eine ganze Reihe von Beispielen aus dem globalen und afrikanischen Kontext bietet Ngugi wa Thiong’o 1995. Nietzsche 1968; Nietzsche 1930. Dieses Thema wurde für die heutige Zeit wieder aufgenommen und aktualisiert von Butler/Laclau/Žižek 2000. Nietzsche 1968, 293. Bourdieu 1976; Bourdieu 2001. UNICEF 2003; UNICEF 2002; Nordstrom 1997b.
ANMERKUNGEN
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Dritter Teil: Schatten 1 2 3 4
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Strange 1996, 117f. Castells 2003, 188. Ebd., 176. So sind beispielsweise von den 500 größten US-Unternehmen mit Ausnahme von zweien alle in irgendeiner Weise an der Waffenproduktion beteiligt. Die USA sind für 49 Prozent der weltweiten Waffenverkäufe verantwortlich. Selbst wenn diese Unternehmen im Einklang mit nationalen und internationalen Waffensanktionen agieren, so sind die 500 Milliarden US-Dollar, die pro Jahr im illegalen Waffenhandel umgesetzt werden, Bares in den Taschen der Produzenten und Vertreiber. Und auf legaler Ebene stellen sie für die Regierung eine wichtige Steuerquelle dar. Ganguly 2001, 21. Jost/Sandhu 2000 Castells 2003, 175. Strange 1996, 111f. Angola erlangte 1975 die Unabhängigkeit von Portugal, und schon ein Jahr später brach der Bürgerkrieg aus. Die Hauptrivalen in diesem Machtkampf waren die Regierung (MPLA, Movimento Popular de Libertação de Angola) unter ihrem Vorsitzenden José Edoardo dos Santos sowie die Rebellenbewegung UNITA (União Nacional para Independencia Total de Angola) von Jonas Savimbi. In den dreißig Jahren seit der Unabhängigkeit wurden mehrere Friedensabkommen geschlossen und wieder gebrochen. Der nach der Ermordung Savimbis 2002 in Kraft getretene Frieden hat bislang gehalten. Appadurai 1996. Vgl. dazu William Renos Untersuchungen der »Schattenstaaten«, also nationaler Machtund Patronagesysteme, die parallel zur staatlichen Macht existieren (Reno 1995; Reno 1998). Zwischen »formell« und »nicht-formell« lässt sich genau unterscheiden: »Formell« bezieht sich, im Hinblick auf den Staat, auf formell anerkannte, auf einem Staat beruhende Institutionen und die damit verbundenen Aktivitäten. »Nicht-formell« bezieht sich auf Institutionen und Aktivitäten, die jenseits der formellen staatlichen Strukturen und Prozesse bestehen. Das heißt freilich nicht, dass »formell« und »nicht-formell« zwei unterschiedliche loci der Macht und des Handelns bezeichnen. Ein Geschäftsmann oder ein Regierungsbeamter in Angola, der legale Ölverkäufe benutzt, um Waffen zu kaufen, agiert auf dem formellen Markt, doch wenn diese Personen außerhalb der öffentlichen Kanäle Öl oder Diamanten für militärische Ausrüstung oder zur persönlichen Bereicherung verkaufen, bewegen sie sich im Bereich der nicht-formellen Ökonomie. Wo ich einen Schrägstrich verwende, sind beide Bedeutungen gemeint: nicht/formell bedeutet formell und nicht-formell. Chingono 1996, 101. Lopez/Cortright 1988; Bureau for International Narcotics and Law Enforcement Affairs 1997. United Nations Research Institute 1995. Strange 1996, 115. Slapper/Tombs 1999.
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ANMERKUNGEN
18 Gupta 1992. 19 Greif 1996. 20 Persönliche Mitteilung von Clement Jackson, Ökonom des UNDP, Windhoek, Namibia, 1997; National Geographic, Diamonds of War, National Geographic/PBS-Dokumentation, 11. Februar 2002; persönliche Mitteilung von Alex Yearsley von Global Witness, 2002. 21 Zitiert in McDowell/Nevis 2001. 22 Neto 2001, 20f. 23 Castells 2003, 176. 24 Persönliche Mitteilung von Clement Jackson, Windhoek, Namibia, 1997. 25 Shawcross 1984, 236f. 26 Lippert/Walker (Hrsg.) 1997; Naylor 2002. 27 Zu Italien vgl. Rutherford 1992, 42; zu den USA vgl. Pozo 1996, sowie Greif 1996; zu Kanada und Russland vgl. Ayers 1996). 28 Tilly 1985, 170. Vgl. auch Gallant 1999. 29 Tilly 1985, 173. 30 Ebd., 186. 31 Vgl. Reno 1995; Reno 1998; Bayart 1993; Hibou 1999; Roitman 1998. 32 Comaroff/Comaroff (Hrsg.) 1999; Butler/Laclau/Žižek 2000; Hardt/Negri 2002; Vincent (Hrsg.) 2002; Ferguson 1990; Tambiah 1996; Bhabha 1994; Fabian 1990. 33 Ngugi wa Thiong’o 1995. 34 Vgl. dazu die Geschichte einer Frau aus dem Kongo, die in Angolas Diamentengebiet arbeitet, De Boeck 2000. 35 Richards 1996, 101f. Vgl. auch De Boeck 1999. 36 Gupta 1992. 37 Gambetta (Hrsg.) 1988. Vertrauen impliziert interpersonelle sowie – in diesen komplexen internationalen Netzwerken – kulturelle und kulturübergreifende Definitionen. 38 Gambetta (Hrsg.) 1988, 59. 39 Gellner 1988, 147. 40 MacGaffey/ Bazenguissa-Ganga 2000, 121. 41 Chingono 1996, 114. 42 MacGaffey/Bazenguissa-Ganga 2000. 43 Ebd., 3. 44 Ebd., 5.
Vierter Teil: Frieden? 1 2 3
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Persönliche Mitteilung von David Hesketh (International Assistance, Her Majesty’s Custom and Excise), London, 2002. Goldstone 1996, sowie im persönlichen Interview, Johannesburg, 8. Mai 1997. Der Vorsitzende war Desmond Tutu; 1996/97 bestand die Kommission aus drei Komitees: Eines befasste sich mit Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, eines mit Wiedergutmachungsleistungen und eines mit Amnestien. Nordstrom/Martin (Hrsg.) 1992.
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Die Beispiele stammen aus Akten, die im Verlauf der Anhörungen öffentlich gemacht wurden. Rodney 1997, 6. Bearzi 1997, 13. Smit 1997, 3. Vgl. Arenstein 1997, 1. Rodney 1997, 6. Gastrow 2001, 60, 58ff. Shaw 1998, 24. Cock 1998, 89. Hamber 1997, 14. Ebd.; vgl. auch Adorno 1995; Pinheiro 1994. Coimbra 1996, 4; Hamber 1997, 15; vgl. auch Pinheiro 1994; Poppovic/Pinheiro 1995. Hamber 1997, 17. Nordstrom 1997a. Vgl. Arns (Hrsg.) 1985. Vgl. Scarry 1992; de Certeau 1986; Timerman 1982; Taussig 1987. Vgl. Suarez-Orozco 1987; Suarez-Orozco 1992. Ich danke Melissa Moreman für ihre Hilfe bei der Übersetzung der Autobiographie. Personen- und Ortsnamen habe ich verändert oder weggelassen. Zu Angola vgl. Brittain 1998; Hart 1998; Hodges 2001; Human Rights Watch 1999; Maier 1996; Minter 1994. Vgl. Taussig 1987. Zur anhaltenden rassistischen Gewalt burischer Gruppen in Südafrika vgl. Cock 1998. Menkhaus1998, 21. Frost 1997. Nietzsche 1968, 293. Strandberg 1998, 14f.; vgl. auch Ohene 1998, 29. Ankomah 1998, 8. Chabal/Daloz 1999, 89. Collier 2000, 3. Vgl. Hodges 2001. Vgl. Global Witness 1999; Global Witness 2002; Cilliers/Dietrich (Hrsg.) 2000. Vgl. Reno 1995; Reno 1998. O’Connell 1997, 136. Hecht/Maliqalim 1994, 21. Chingono 1996, 106. Vgl. Green 2000; Richards, 1996; Nordstrom 2003; Kumar (Hrsg.) 1997; Colletta/Kostner/Wiederhofer 1996. Chingono 1996, 110.
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ANMERKUNGEN
Fünfter Teil: Gefährliche Profite 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
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Janine Wedels jüngstes Buch (Wedel 2001) stellt diese Fragen für ganz Osteuropa und schildert die Verstrickungen der westlichen Hilfe. Vgl. Fetherston/Nordstrom 1995. MacGaffey (Hrsg.) 1991; Transberg Hansen 2000; Reno 1995. Fiorentini/Peltzman (Hrsg.) 1995; Findlay 1999; Slapper/Tombs 1999; Castells 2003; Cock 1998; Reno 1998. Strange 1996, 117. Gustitus/Bean/Roach, 2001, 23-26. McDowell/Nevis 2001, 4. Ebd., 5. Chingono 1996, 115. Galbraith/Salinger 1978, 66f. Zitiert in Hansohm 1997. Ebd. Bourdieu 1976. Tilly 1985. Bei der Lektüre von Henrietta Moores Arbeit über die Anthropologie der »governance« (Moore 1996) ergaben sich für mich eine ganze Reihe neuer Überlegungen, die bei Moore nicht direkt thematisiert, aber doch implizit vorhanden sind. Sie fragt, welchen Platz ein »neo-Foucaultscher« Ansatz in der gegenwärtigen Anthropologie einnehmen könnte, in dessen Mittelpunkt die Art und Weise – die Kunst – steht, mittels derer Regierungspraktiken Bevölkerungen kontrollieren. Entscheidend ist, dass es sich dabei um eine Möglichkeit handelt, den Staat zu analysieren, diese aber nicht staatszentriert ist. Dieser Begriff der »Gouvernementalität«, so Moore, verweist auf »eine bestimmte Mentalität, auf eine spezifische Weise, über die Art von Problemen nachzudenken, derer sich spezifische Autoritäten mittels spezifischer Strategien zuwenden sollten« (S. 12). Die kritische Analyse dieser Formen von Rationalität, so Moore abschließend, würde in einer modernen Anthropologie mit Sicherheit eine zentrale Rolle spielen. Meine Erkundungen darüber, auf welche Weise staatliche und nicht-staatliche Akteure gleichermaßen von den künstlich geschaffenen Unsichtbarkeiten außerstaatlicher Netzwerke profitieren, rührt an diese Fragen der Gouvernementalität sowie an die Systeme von Wissen als Macht, die ihnen zugrunde liegen. Enloe 2000. Nordstrom 2000. Wirft man einen Blick auf die Geschichte – auf den weltweiten Aufstieg und Niedergang von Regimen über die Jahrtausende hinweg –, wäre es doch einigermaßen überraschend, wenn der Staat in seiner jetzigen Form in den kommenden Epochen immer noch Bestand hätte. Ob die Machtsysteme, die an die Stelle des Staates der Aufklärung treten, »gut« oder »schlecht« sind, hängt natürlich davon ab, wer über die Definitionsmacht verfügt. Wer sie hat, wird sie als gut bezeichnen, wer ausgeschlossen ist, als schlecht. Ngugi wa Thiong’o 1995. Bayart 1993, 209. Vgl. dazu Friedman 1999.
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22 Müsste ich auf der Grundlage dieser Untersuchung diejenige Form des Krieges vorhersagen, die das 21. Jahrhundert am stärksten bestimmen wird, so wäre das die der multinationalen und transnationalen Unternehmen (die freilich in nationalem souveränen Recht wurzeln), die von politischer Instabilität in rohstoffreichen Gegenden profitieren, wo diese Instabilität eine kosmopolitische Entwicklung verhindert. Das Versprechen immenser Gewinne gründet in der schwachen politischen Kontrolle in Kriegsgebieten; im Ruf nach Waffen, Vorräten und dem zum Überleben Notwendigen, der aus diesen Kriegsgebieten kommt; in der ständig im Fluss befindlichen, unregulierten Macht in Kriegsgebieten. In ressourcenarmen Gegenden sind Kriege selten. Überdies vermindert die politische Instabilität in rohstoffreichen Ländern das Potenzial dieser Länder, ihre Ressourcen eigenständig zu entwickeln und ihre eigenen Zentren politisch-ökonomischer Macht zu schaffen, die in der globalen Arena konkurrenzfähig sind. 23 Baptista 2000. 24 van de Port 1998, 28.
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Verzeichnis der Abkürzungen
BIP CRS ECOMOG ILO MPLA NEPRU NGO NICOC RUF SLPP TRC UNDP UNICEF UNITA UNO USAID
Bruttoinlandsprodukt Katholischer Hilfsdienst Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten Internationale Arbeitsorganisation Movimento Popular de Libertação de Angola Namibian Economic Policy Research Unit Nicht-Regierungsorganisation National Intelligence Coordinating Committee (Südafrika) Revolutionary United Front (Rebellenbewegung in Sierra Leone) Sierra Leone People’s Party Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission) in Südafrika Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Program) Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen União Nacional para Independencia Total de Angola Vereinte Nationen Amt für Internationale Entwicklung der USA