Pakt mit dem Jenseits John Sinclair Nr. 1748 von Jason Dark erschienen am 10.01.2012 Titelbild von Deko Nur wenn sie es...
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Pakt mit dem Jenseits John Sinclair Nr. 1748 von Jason Dark erschienen am 10.01.2012 Titelbild von Deko Nur wenn sie es schaffte, das andere Ufer zu erreichen, blieb sie am Leben. So einfach war das. Aber auch so schwer. Indira wollte nicht sterben und ruderte um ihr Leben. Sie wusste genau, dass die Verfolger ihr auf der Spur waren, auch wenn sie diese in den vergangenen Minuten nicht gesehen hatte. Das hatte nichts zu sagen. Es waren Menschen, die niemals aufgaben... Sinclair Crew
Das Gewässer, über das sie ruderte, war tief und zudem geheimnisvoll. Es gab nicht wenige Menschen, die es als Falle bezeichneten. Als einen Hort für Unholde, die in der Tiefe lauerten, um an Beute zu gelangen. Die Menschen erzählten sich, dass der kleine See schon einige Opfer geholt und auch nicht wieder freigegeben hatte. Was daran stimmte, wusste Indira nicht. Sie hatte im Moment andere Sorgen. Und so pullte sie weiter. Die beiden Ruderblätter schlugen auf die Wasserfläche, tauchten ein, wurden durchgezogen, und das Klatschen, das entstand, kam ihr wie ein Beifall vor, der allein ihr galt, weil sie wieder den einen oder anderen Meter geschafft hatte. Wie tief der See hier in der Mitte war, wusste sie nicht. Es herrschte eine ungewöhnliche Atmosphäre vor. Eine mit Dunst gefüllte Dämmerung. So hatte es am Ufer nicht ausgesehen. Erst in der Mitte des Gewässers war es zu diesem Umschwung gekommen. Indira kämpfte sich voran. Sie atmete nicht mehr, sie keuchte bei jeder Ruderbewegung. Ihr Gesicht war verzerrt. Der Mund stand immer offen, und manchmal verwandelte sich das Keuchen in ein regelrechtes Pfeifen. Indira spürte, dass ihre Kräfte allmählich nachließen. Der Schwung des Anfangs war längst dahin. Immer mehr Kraft musste sie aufwenden, um die Ruderblätter durch das Wasser zu ziehen. Während sie ruderte, suchten ihre Blicke die Wasseroberfläche ab, denn sie musste davon ausgehen, dass die Gefahr aus der Tiefe kam und nicht aus der Luft. Es war auch müßig, sich Vorwürfe zu machen. Das Schicksal hatte es nun mal so gewollt, und dagegen konnte sie sich nicht wehren. Und so ruderte sie weiter. Trotz allem von der Hoffnung beseelt, das rettende Ufer zu erreichen, obwohl sie nicht sicher war, dass sie sich dort außer Lebensgefahr befand. Sie wollte nicht sterben. Nein, sie war noch zu jung, obwohl sie das Sterben schon als einen faszinierenden Gedanken bezeichnete, denn vor dem Tod hatte sie keine Angst. Er würde etwas Neues bringen, worauf sie schon gespannt war. Die dünnen Nebelschleier wichen nicht. Sie wurden sogar dichter, und für Indira hatten sie sich in Gespenster verwandelt, die sie belauerten. Sie wollten nicht weichen, und sie war plötzlich der Meinung, dass es keine normalen Nebelfetzen waren, denn diese hier waren mit seltsamen Lauten erfüllt. Sie hörte das geheimnisvolle Wispern und Flüstern, weil es lauter klang als das Klatschen des Wassers, wenn sie die Ruderblätter eintauchte. Was war das? Hatte sie es mit den Boten aus einer anderen Welt zu tun, die bereits auf sie warteten? Eine Antwort konnte Indira nicht geben. Sie dachte daran, das Flüstern zu ignorieren, doch das war nicht möglich. Es blieb, es war nahe bei ihr. Es störte sie und versuchte, sie von ihren eigentlichen Fluchtgedanken abzubringen. Weiter! Sie musste weiter. Das andere Ufer wartete und dort möglicherweise die Freiheit. Niemand lauerte in ihrer Nähe. Das Wasser war dunkel, man hätte es auch als Eingang in die Hölle bezeichnen können, wo der Teufel und all seine Schergen lauerten, um sich die Seelen der Menschen zu holen. Ja, Indira glaubte an die Hölle. Aber sie glaubte auch an den Himmel. Und das noch viel, viel stärker. Der Himmel war für sie die Offenbarung. Sie wusste zwar nicht, wie sie sich ihn vorzustellen hatte, aber als Kind hatte sie immer gedacht, dass er eine unendliche Fläche war. Gefüllt mit einem herrlichen Licht, in dem es nur das Glück gab und das von den wunderbaren Engeln getragen wurde. Die Engel, das war es. Daran glaubte sie fest. Und besonders an einen bestimmten Engel, an den Schutzengel. Sie ging davon aus, dass es ihn gab und dass er sogar auf sie wartete. So kam ihr das Sterben nicht ganz so schlimm vor. Im Moment wollte sie nur leben, und sie kämpfte sich voran. Ihre Kleidung war durchschwitzt, das braune Haar klebte an ihrem Kopf und weiterhin zischte der Atem aus ihrem Mund, wenn sie
sich vorankämpfte. Wo war das Ufer? Sie sah es nicht. Der Nebel war zu dicht, und sie konnte es auch nicht fühlen. So etwas gab es ja, das traf schon zu. Manche Menschen besaßen diese Sensibilität, die ihr leider nicht gegeben war. Weiter – oder? Nein – auch wenn es ihr nicht gefiel. Irgendwann war Schluss. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie war zu schlapp. Keine Kraft mehr in den Armen. Die Schultern schmerzten, und ihr ganzer Körper war von einem heftigen Zittern erfasst worden. Ein Schluchzlaut verließ ihren Mund. Sie zog die beiden Ruderstangen ein und lehnte sich zurück. Ihr Rücken schmerzte aufgrund dieser ungewohnten Tätigkeit. Es war alles so anders geworden, kein Vergleich mehr zu dem optimistischen Start zu Beginn der Flucht. Jetzt spürte sie ihre Endlichkeit. Eine Pause wollte sie einlegen. Nicht unbedingt lang, aber so lang, bis sie sich besser fühlte und wieder normal atmen konnte, ohne dass es in den Lungen stach. Allmählich verstummte das Keuchen. So kehrte für sie wieder die Normalität zurück. Doch die Anspannung in ihr war geblieben, ebenso der Nebel, der sie mit seinen unzähligen Armen umkreiste und ihr das Gefühl gab, als würde sie laufend von feuchten Tüchern gestreichelt. Es war alles okay. Niemand tat ihr etwas. Die Natur um sie herum hatte sich wieder beruhigt. Sie atmete tief durch und hörte, dass es nicht still war. Um sie herum waren Laute. Es war das Wasser, das die Laute abgab. Es klatschte gegen die Außenwand des Kahns, und es kam eigentlich nie zur Ruhe. Sie schloss die Augen. Nur einen kurzen Moment wollte sie sich ganz der Umgebung hingeben. Sie hatte vor, eins mit ihr zu werden, und möglicherweise vergaß sie die Gefahr dabei. Aber darauf konnte sie nicht setzen, obwohl sie es versuchte und sich dabei Auswege ausmalte. Wie lange sie mit geschlossenen Augen im Kahn gesessen hatte, wusste sie selbst nicht. Aber Indira fühlte sich jetzt kräftig genug, den Rest der Strecke an das andere Ufer zu rudern. Sie griff nach den Ruderstangen. Sie wollte weiter – und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung. Etwas hatte sie gestört. Sie hatte etwas gehört. Indira wusste nicht, was es gewesen war. Sie riss die Augen weit auf und drehte sich auf ihrer Sitzbank um. Dabei senkte sie den Blick, um über die wellige Wasseroberfläche zu schauen, wobei ihr Herz plötzlich mehrere Sprünge machte. Etwas stimmte mit den Wellen in ihrer Nähe nicht. Sie hatten sich verändert, sie waren schaumiger geworden. Als wäre etwas dabei, aus der Tiefe an die Oberfläche zu stoßen. Indira saß erstarrt in ihrem Boot und hatte das Gefühl, von einem Eispanzer umgeben zu sein. Das Wasser schäumte weiter. Sogar noch heftiger, als wollte ihr der See zeigen, was er in der Tiefe für sie bisher verborgen gehalten hatte. Sie wollte es nicht glauben, aber sie sah es trotz der Dunkelheit immer deutlicher. Etwas hatte sich an die Wasseroberfläche vorgearbeitet. Es war kein Fisch, das wusste sie, dieser Gegenstand war länger. Er bewegte sich zuckend, er schimmerte sogar, als er die Wasseroberfläche durchbrach und Indira auf eine Sauerstoffflasche schaute, die sich auf dem Rücken eines Tauchers befand. Indira wollte schreien, denn in diesem Moment wusste sie, dass sie es nicht mehr schaffen würde, das andere Ufer zu erreichen. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken, denn jetzt tauchte auch der zweite Mann auf, dessen Gesicht sie nicht sah, weil es hinter der Taucherbrille nicht zu erkennen war. Der eine schwamm an der rechten, der andere an der linken Seite des Kahns. Es gab keinen Zweifel mehr. Die Falle war endgültig zugeschnappt!
*** Nach wie vor lag der unsichtbare Eispanzer um ihren Körper. Indira konnte sich nicht bewegen. Sie hörte das Klatschen des Wassers, als es bewegt wurde. Im nächsten Augenblick begann der Kahn zu schaukeln, weil sich Hände um beide Seiten klammerten und sich die Taucher hochzogen, wobei sie das Boot im Gleichgewicht behielten. Was würden sie tun? Noch hatte sie die vage Hoffnung, dass sie es nicht schafften, zu ihr ins Boot zu kommen, aber die schwand, als sie sich stark festklammern musste, weil auf der linken Seite das Boot von einem der Taucher geentert wurde. Er kletterte hinein. Sein Begleiter blieb draußen, er aber schaffte es. Seine Taucherbrille nahm er nicht ab, nur das Mundstück verließ seinen Mund, sodass er sprechen konnte. Zuerst lachte er. Dieses Lachen löste bei Indira die Starre, brachte sie aber zugleich zum Zittern. Einen Ausweg gab es nicht. Sie würde es nicht schaffen, vor diesen beiden gefährlichen Männern zu fliehen. »Das hast du nicht gedacht, wie?« Jetzt hätte sie eine Antwort geben müssen, aber sie brachte es nicht fertig. Ihre Kehle war zu. Dann produzierte sie ein Geräusch, das sich kratzig anhörte, und sie hörte erneut das Lachen. Die Stimme des Tauchers drang an ihre Ohren. »Hast du schon mal was von einem nassen Grab gehört? Wenn nicht, wirst du es bald erleben, das kann ich dir versprechen.« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte, das – das – können Sie doch nicht machen. Ich habe Ihnen nichts getan – und ich werde auch den Mund halten, das verspreche ich.« »Zu spät.« »Aber ich schwöre es.« »Darauf geben wir nichts. Du hast etwas gesehen, was du nicht hast sehen sollen. Jetzt musst du dafür den Preis zahlen, und wir wollen dabei sicher sein.« Sie senkte den Kopf. Plötzlich lösten sich Tränen aus ihren Augen. Den Blick hielt sie auf ihre Knie gerichtet und sie dachte daran, wer diese beiden Männer waren. Indira kannte sie nicht mal mit Namen. Sie hatte nur gesehen, was sie getan hatten, und das war grausam gewesen. Der zweite Mann blieb im Wasser. Aber er schaute über den Rand des Kahns hinweg, um alles unter Kontrolle zu halten. Er wollte sehen, was mit der Zeugin passierte. »Wir sind die Jäger«, hörte sie die Stimme des Mannes vor ihr. »Ja, wir sind die Jäger und haben jetzt unsere Beute fest im Griff.« Was der Typ damit meinte, bewies er in den nächsten Sekunden, denn da sorgte er dafür, dass seine Hand in die Nähe seines Rückens gelangte, um dort etwas hervorzuholen. Wenig später sah sie, was es war. Ein länglicher Gegenstand aus Metall, dessen vorderes Ende auf sie gerichtet war. »Ich werde dich eliminieren, meine Teure. Wir können es uns nicht leisten, dich am Leben zu lassen, denn du weißt zu viel. Wir sind hier auf dem Wasser, und zum Wasser gehört eine Harpune. Damit bewaffnen sich die Jäger, und da wir uns als solche sehen, haben wir uns für die Harpune entschieden.« Indira war nicht fähig, etwas zu erwidern. Sie starrte auf die Harpune, und ihr wurde plötzlich kalt, als hätte der Sensenmann schon seine Klauen nach ihr ausgestreckt, um sie in sein Reich zu zerren. Der Sensenmann war es nicht. Der Tod hatte eine normale menschliche Gestalt. Und er grinste. Er lachte auch, und dann vernahm sie ein ungewöhnliches Geräusch. Es klang wie ein unterdrücktes Pfeifen, das sie noch hörte, als der Pfeil traf. Zwischen Bauchnabel und Herz rammte er in ihren Körper. Indira spürte zunächst nichts. Nur
einen Hieb hatte sie mitbekommen. Doch als sie ihren Blick senkte, da sah sie, dass diese Harpune tief in ihren Körper eingedrungen war. Dann kam der Schmerz. Er biss zu. Sie hörte sich stöhnen, doch sie bekam nicht mit, dass sich der Mann vor ihr bewegte. Er sagte auch etwas, nur verschwammen seine Worte wie hinter einem dichten Vorhang. Zwei Hände umfassten ihre Schultern. Aus dem Wasser meldete sich der zweite Mann. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, ich habe sie gut getroffen. Den Rest wird uns der See abnehmen.« »Das ist gut.« Indira hing noch immer im Griff des Mannes, der sie jetzt zur Seite drückte. Dann wurde sie gekippt! Einen Herzschlag später tauchte sie in den kalten See und sank langsam nach unten...
*** Fühlt sich so der Tod an? Es war schon ungewöhnlich, dass sie sich diese Frage stellte. Das Wasser war über ihr zusammengeschlagen, ihr Körper sank langsam der Tiefe entgegen, die immer dunkler wurde und dort endete, wo kein Lichtstrahl mehr hin reichte. Sie bewegte sich nicht mehr. Kein Schlagen mit den Armen, kein Treten mit den Beinen. Die See wurde zu einem Schlund, der sie verschluckte. Nein, ich bin nicht tot! Ich kann fühlen, ich kann denken. Um mich herum ist alles anders, aber das ist nicht der Himmel. Die Augen hielt sie offen, dennoch hatte sie keine Chance, etwas zu erkennen, und da ihr Mund nicht geschlossen war, war das Wasser in ihre Lungen gedrungen. Jetzt hätte sie den Todeskampf erleben müssen. Die Qual, sich gegen das Ersticken oder das Ertrinken zu wehren, doch nichts dergleichen trat ein. Sie sank immer tiefer. Die Dunkelheit nahm zu und hätte noch stärker werden müssen, was auch nicht geschah, denn etwas tauchte in diese Dunkelheit hinein. Sie wusste nicht, woher der helle Schein gekommen war. Aber er war plötzlich da. Er zeigte sich nicht nur an einer Seite, sondern überall um sie herum. Und er kam näher, immer näher. Er war nicht gefährlich, denn er erreichte sie und gab ihr ein gutes Gefühl. Während sie immer tiefer sank, fühlte sie sich wie von starken Armen aufgefangen und hatte den Eindruck, sich in Sicherheit zu befinden. Aber was war das für eine Sicherheit? Noch konnte sie denken, und sie dachte daran, dass alles, was um sie herum geschah, alles andere als normal war. Etwas wehte durch das Wasser auf sie zu, und sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Musik... Wäre sie normal gewesen und hätte sie sich auch in einer normalen Situation befunden, sie hätte nur gelacht. Das tat sie jetzt nicht, das konnte sie nicht, denn sie trieb weiterhin durch das Wasser. Jemand hatte sie aufgefangen, um sie zu beschützen. Und jetzt schoss ihr zum ersten Mal ein Begriff durch den Kopf, an den sie zuletzt nicht mehr gedacht hatte. Engel! Oh – wie hatte sie daran geglaubt. Wie hatte sie sich nach ihnen gesehnt. Besonders nach ihrem Schutzengel, von dem sie sicher war, dass er sie an der Schwelle zum Jenseits erwarten würde. Genau das war stets ihr Traum gewesen, und jetzt schien er sich zu erfüllen. Verglich man die Engel nicht mit Lichtwesen? Genauso waren sie immer beschrieben worden, und was hier in der
Tiefe auf sie zuschwebte, das hatte mit dem Licht zu tun. Es war hell, es hob sich von dem dunklen Hintergrund deutlich ab. Es war das Wunder unter Wasser, und Indira hatte nicht mehr das Gefühl, dicht vor ihrem Ende zu stehen. Sie erlebte das Gegenteil, sie fühlte sich geborgen, als hätte man auf sie gewartet. Es war wie ein Wunder, und das Licht um sie herum nahm immer mehr an Helligkeit zu. Es strahlte sogar... Sie konnte es nicht fassen. Dass sie im Wasser dem Grund entgegen sank, das war alles vergessen, denn für sie hatte sich etwas Neues geöffnet. Das Licht umgab sie jetzt von allen Seiten. Er war hell, nur nicht so hell wie die Gestalten, die darin schwebten. Man konnte sie als körperlos bezeichnen, obwohl sie Umrisse zeigten wie Menschen. Engel! Jetzt war es ihr überdeutlich klar. Sie stand an der Schwelle zum Jenseits oder sogar zum Paradies, wo man auf sie wartete, um sie in Empfang zu nehmen. Glitt sie auf die Erscheinung zu oder kamen sie, um sie in ihren Kreis aufzunehmen? Indira wusste es nicht. Sie dachte nur daran, wie glücklich sie war und wie geborgen sie sich fühlte. Der Tod war etwas Schönes, aber zugleich wusste sie auch, dass es nicht das Sterben eines normalen Menschen war, das sie hier erlebte. Das Licht rückte immer näher. Sie sah ihre neuen Freunde, die auf einmal bei ihr waren, und dann zerplatzte die Welt in einer Ansammlung von Licht und Sternen. In diesem Augenblick hatte Indira den Übergang geschafft...
*** Auch der zweite Mann war in das Boot geklettert, er hockte mit seinem Kumpan zusammen. Beide schauten auf die Stelle, wo der Körper der Frau versunken war. »Das sieht gut aus.« »Genau.« Der Mörder lachte. »Dabei hat sie gedacht, uns entwischen zu können. Ihr Pech. Sie hätte eben nicht da sein sollen, wo wir waren. Na ja, das ist vorbei.« Der andere gab keinen Kommentar ab. Er blickte in die Tiefe und schien über etwas nachzudenken. Sein Partner schüttelte den Kopf. Ihm gefiel die Reaktion nicht. »He, was hast du?« »Ach, nichts weiter.« »Doch, du hast was.« »Kann sein.« »Und was?« Der Mann stöhnte auf. »Ich weiß es selbst nicht«, gab er zu. »Ehrlich nicht. Aber es ist schon komisch.« »Was denn?« Der andere löste seinen Blick nicht von der Oberfläche. »Ich kann es dir nicht sagen. Es ist ein blödes Gefühl. Ich kann mir vorstellen, dass hier einiges nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen.« »Wie das?« »Ich weiß es nicht. Die Frau hat auf mich einen seltsamen Eindruck gemacht.« »Und welchen?« Der Mann zog die Nase hoch. »Eigentlich hätte sie wissen müssen, was auf sie zukam. Sie hätte große Angst haben müssen, aber das hatte sie nicht. Sie war irgendwie gefasst, zu gefasst.« »Und weiter?« »Nichts weiter. Es kann sogar sein, dass sie sich auf den Tod gefreut hat.« Dem Mörder blieb die Spucke weg. »Wie kommst du denn darauf, verdammt?«
»Nase.« »Haha, und das soll ich dir glauben? Nein, alter Freund, so was gibt es nicht. Wir haben sie ins Wasser geworfen. Wir haben gesehen, wie sie in die Tiefe sank. Das kann keiner überleben. Da gebe ich dir Brief und Siegel.« »Ja, kann sein. Und trotzdem stimmt etwas nicht.« »Ach? Hast du Angst davor, dass sie wieder hochkommt?« »Nicht wirklich. Aber es ist schon etwas geschehen, mit dem ich Probleme habe.« »Was denn?« »Mann, sieh doch mal genauer hin! Beug dich vor und sieh in die Tiefe.« »Kann ich nicht. Es ist zu dunkel.« »Das ist es eben nicht.« Der Killer schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben, was sein Kumpan ihm da gesagt hatte. Aber um des lieben Friedens willen tat er ihm den Gefallen und beugte sich vor. Dass Wasser in sein Gesicht spritzte, ärgerte ihn nicht wirklich. Er wischte die Tropfen weg, die Sicht wurde besser, und dann sagte er erst mal nichts. »Und?«, fragte sein Partner. »Du hast recht, Karim. Da stimmt was nicht. Da ist es hell. Als hätte jemand am Grund des Sees ein Licht eingeschaltet.« Karim nickte zufrieden. »Endlich hast du auch was bemerkt. Das ist hier völlig unnatürlich. Oder?« »Ja, das kann sein.« Der Mörder richtete sich wieder auf. »Glaubst du, dass es Pflanzen gibt, die in der Tiefe leuchten?« »Klar glaube ich das.« »Und was ist das?« »Das sind aber nur Pflanzen oder Tiere in der Tiefsee. Ich habe mal in der Glotze einen Bericht darüber gesehen. Geheimnisse des Meeres oder so ähnlich. Da sind sie mit einer Kamera Tausende von Metern in die Tiefe getaucht und haben so seltsame Erscheinungen entdeckt, was sie gar nicht hatten entdecken wollen, weil sie mehr nach Bodenschätzen Ausschau hielten.« »Die gibt es hier nicht.« Karim lachte. Es war mehr ein Glucksen. »Klar, die gibt es hier nicht. Aber ich denke mehr an ein anderes Phänomen.« »Und an welches?« »Keine Ahnung. Allerdings ist es schon komisch. Du kennst mich als Realisten. Es gibt für alles eine Erklärung. Für fast alles«, schränkte er ein. »Aber was ich hier erlebe, das ist der Hammer. Hier blüht nichts. Da unten verfault wohl etwas, aber das gibt kein Licht ab.« »Im Moor sieht man schon so etwas.« »Ja, weiß ich auch. Aber das hier ist ein See. Das ist Wasser und kein Land. Und ich sage dir auch, dass da unten nichts brennt.« »Weiß ich selbst.« Karim richtete sich wieder auf. Er schaute seinen Kumpan fest in die Augen. »Ich denke, dass wir so schnell wie möglich verschwinden sollten. Das hier ist mir nicht geheuer.« »Du hast Schiss, wie?« »Nicht direkt. Aber freudig erregt bin ich auch nicht, das kannst du mir glauben.« »Dann hauen wir eben ab.« Die beiden Männer sprachen noch darüber, wie sie es bewerkstelligen sollten. Als der Vorschlag kam, zurückzurudern, schüttelte Karim den Kopf. Er sagte: »Ich will so schnell wie möglich das Ufer erreichen. Wenn wir schwimmen, sind wir schneller.« »Aber dann musst du ins Wasser.« »Weiß ich selbst. Wir werden uns aber an der Oberfläche halten oder dicht darunter.« »Und das Phänomen da unten?«
»Es wird unten bleiben. Außerdem werden wir uns beeilen.« »Okay, wie du willst.« Um den Kahn kümmerten sie sich nicht mehr. Er konnte hier draußen schwimmen, bis er verrottete. Beide klemmten sich die Mundstücke zwischen die Lippen, atmeten einige Male tief ein, waren zufrieden und ließen sich zugleich in das grünschwarze Wasser gleiten...
*** Beide Männer waren gute Taucher. Sie glitten schräg in die Tiefe, aber sie blieben nahe der Oberfläche. Besonders Karim warf hin und wieder einen Blick in die Tiefe. Er hatte das ungewöhnliche Licht nicht vergessen und wollte herausfinden, ob es blieb. Das war der Fall. Seine Hoffnung, dass es verschwinden möge, erfüllte sich nicht. Bei Karim steigerte sich die Unruhe. Er hatte zudem den Eindruck, dass dieses Licht sie verfolgte. Es bewegte sich, denn eigentlich hätten sie es bereits hinter sich gelassen haben müssen. Auch für ihn war es wichtig gewesen, dass diese Frau starb. Sie war eine Zeugin. Dafür hatte sie bezahlen müssen. Sie hätte längst auf dem Grund des Sees liegen müssen, aber er wollte plötzlich nicht mehr daran glauben. Den Grund kannte er selbst nicht, es war mehr ein Gefühl. Erneut schaute er in die Tiefe. Das Licht war noch da! Und nicht nur das. Er hatte den Eindruck, dass es heller geworden war. Das konnte nur bedeuten, dass es sich von seiner ursprünglichen Stelle am Boden gelöst hatte und nun in die Höhe schwebte. Besorgnis stieg in ihm hoch. Er spürte einen Druck im Magen und etwas würgte in seiner Kehle. Er schwamm trotzdem weiter. Mit seinem Kumpan nahm er keinen Kontakt auf. Er wollte nur so schnell wie möglich das andere Ufer erreichen. Die Helligkeit näherte sich weiter. Langsam und doch stetig stieg sie vom Boden her in die Höhe, und sie zielte genau auf die beiden Schwimmer. Das sah auch der Killer. Seine Bewegungen verlangsamten sich, hörten schließlich ganz auf, bis er sich umdrehte und Karim ein Zeichen gab, indem er mit beiden Händen in die Tiefe zeigte. Karim nickte. Dann hob er die Schultern und die Arme, um anzudeuten, dass er auch keine Erklärung wusste. Danach änderte er wieder seine Richtung und wies hin zum Ufer. Sie schwammen wieder los. Diesmal legten sie noch an Tempo zu. Karim wusste, dass auch sein Kumpel sich das Licht-Phänomen nicht erklären konnte. Und es kam. Karim sah es zuerst daran, dass der Körper seines Kumpans von einem hellen Schein umspielt wurde. Und das war nicht das Licht seiner Unterwasserleuchte, das ihn traf. Es war der Schein, der von unten kam und ihn erfasst hatte. Dabei blieb es nicht. Bevor sich Karim weitere Gedanken darüber machen konnte, erwischte es auch ihn. Er spürte keine körperlichen Schmerzen, trotzdem erschrak er über die Helligkeit, die stärker war, als er sie erwartet hatte. Um ihn und seinen Kumpan herum war es plötzlich taghell geworden. Der Mörder vor ihm schwamm nicht mehr, und Sekunden später erwischte es auch Karim. Da war es ihm nicht mehr möglich, sich nach vorn zu bewegen. Er ruderte mit den Armen, kam aber nicht von der Stelle. Beide Männer waren sich so nah, dass Karim die Angst in den Augen seines Freundes sehen konnte. Der versuchte verzweifelt, sich von seinen unsichtbaren Fesseln zu befreien, was ihm ebenso wenig gelang wie Karim. Sie beide waren und blieben Gefangene.
Das konnte nicht gut gehen. Sie schauten in die Runde und sahen das Licht jetzt deutlicher. Sie mussten erkennen, dass sie es nicht einfach mit einem Lichtphänomen zu tun hatten, sondern mit etwas anderem, denn innerhalb des Lichts gab es Bewegungen von Gestalten, die sich dort schwach abmalten. Das verstanden sie nicht. Aber es machte ihnen Angst, denn sie spürten, dass etwas durch ihre Taucheranzüge kroch. Es war Kälte, es war Eis, einfach nicht zu erklären. Die Kälte ließ sie erstarren. Dass sie noch Wasser traten, kam ihnen selbst wie ein kleines Wunder vor. Aber sie wussten auch, dass es nicht mehr lange anhalten würde. Der Mörder versuchte es. Er wollte sich bewegen. Schneller treten, auch seine Arme einsetzen. Er schaffte es nicht. Alles an ihm war schwerfällig geworden. Er kam nicht von der Stelle, und Karim schaute zu, wie die Bewegungen des anderen Mannes immer schwächer wurden und dann ganz aufhörten. Weitere Gedanken konnte er sich darüber nicht machen, denn jetzt erwischte es auch ihn. Es war ein wahrer Kälteschock, der ihn plötzlich erreichte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hielt für einen Moment die Luft an und riss die Augen weit auf. Aus dem Licht hervor schwebte ihm etwas entgegen. Zuerst dachte er an einen hellen Nebelstreif, was aber nicht zutraf, wie er beim zweiten Hinsehen erkannte. Was da auf ihn zukam, war eine Gestalt und zugleich so etwas wie ein Phänomen. Ein Mensch? Ja, ein Mensch, der fast durchscheinend war und aussah, als wäre er im Wasser gezeichnet. So eine Gestalt war für ihn nicht zu begreifen. Und doch fing sein Herz an, schneller zu schlagen, denn eine Welle brachte die Gestalt noch näher an ihn heran. Hatte sie ein Gesicht? Das glaubte er sogar zu erkennen. Es gehörte einer Person, die er kannte. Sogar einer Toten, und deren Name würde er nie vergessen. Indira! Karim war nicht sicher. Er sah sich auch nicht mehr als normal an. Seine Bewegungen froren immer mehr ein, was sich auch bei seinem Herzschlag bemerkbar machte. Das Herz schlug noch, aber längst nicht mehr so wie gewohnt. Es tat sich schwer. Er war in seinem Taucheranzug zu einem Eiszapfen geworden, und dieses Schicksal hatte auch sein Kumpan erlitten. Beide lebten noch, doch es war kein Leben mehr, wie man es sich vorstellte. Das Herz schlug noch. Schwer, immer schwerer. Und die Kälte näherte sich ihm. Sie würde es umfangen und zur Bewegungslosigkeit verdammen. Karim erlebte jeden einzelnen Schlag. Er war stets mit einem neuen Schmerzstoß verbunden. Unter der Taucherbrille hatte er bisher noch normal atmen können. Auch das war jetzt vorbei. Er bekam keine Luft mehr. Hinzu kam die Kälte, die schweren und langsamen Herzschläge, deren Echos in seinem Kopf widerhallten. Vor ihm schwebte ein Gesicht. Aber war es wirklich das Gesicht der toten Indira? Es sah so aus. Es wirkte sogar entspannt, glücklich. Das war bei ihm nicht der Fall. Die Todesangst vermischte sich mit der Kälte, die zudem Veränderungen an seiner Haut verursacht hatte. Noch ein Herzschlag. Erneut und schwer wie der letzte Schlag einer Glocke. Danach kam nichts mehr. Es war aus und vorbei. So starb Karim wie sein Freund in der Tiefe
des Sees...
*** Unseren letzten Fall hatten wir abgeschlossen, aber irgendwie spukte er noch in unseren Köpfen herum. Es war um die Halbvampire gegangen, die ihre Führerin Justine Cavallo vermissten und nun auf sich allein gestellt waren. Auch unter Justine Cavallo wären sie auf Blutjagd gegangen, aber nicht so wie jetzt. Sie hätten sich einem Plan unterordnen müssen, denn die Cavallo tat nichts, ohne an die Folgen zu denken. Das war den Halbvampirinnen nicht möglich. Sie waren sogar so frustriert gewesen, dass sie ihre neue Existenz rückgängig hatten machen wollen, was nicht geklappt hatte. Selbst als sie sich Kreuze auf die Stirn gelegt hatten, war das einzige Ergebnis gewesen, dass sie jetzt ein Brandmal auf der Stirn trugen. Sie waren Halbvampire geblieben. Sie brauchten weiter Menschenblut, um existieren zu können. Das hatten Suko und ich vereitelt. Dabei hatten wir auch geglaubt, eine Spur zu Justine Cavallo zu finden, was uns leider nicht gelungen war. Die stark geschwächte Blutsaugerin blieb verschwunden, weil sie in ihrer Gier das Blut einer Heiligen und Zauberin getrunken hatte, die jetzt übergangsweise bei den Conollys lebte. Die Halbvampire waren zwar keine richtigen Vampire, aber dennoch gefährlich. Wenn man sie traf, musste man sie vernichten, denn sie jagten Menschen, um deren Blut zu trinken. Wie viele dieser Halbvampire noch unterwegs waren, das wussten wir nicht. Wir hofften nur, dass sich ihre Zahl in Grenzen hielt, denn sie waren noch ein Erbe des Supervampirs Dracula II, der auch Will Mallmann geheißen hatte. Dieser Fall war erledigt und wir befanden uns auf dem Weg zu einem neuen. Das jedenfalls mussten wir jetzt noch denken. Sicher war es nicht, ob uns dieses Phänomen überhaupt anging, aber Sir James hatte uns losgeschickt. Vor uns lag ein Ziel, an dem wir uns niemals freiwillig aufhalten würden. Es war ein Leichenschauhaus, verbunden mit einer Pathologie. Wir kannten diese Umgebung, denn oft genug hatten wir dort vor unbekannten Toten gestanden. »Der richtige Job für einen Morgen«, hatte uns Sir James Powell gesagt und danach genickt. »Schauen Sie sich die Toten an. Man hat sie mir als eiskalte Leichen beschrieben.« »Und was ist daran so besonders?«, hatte ich gefragt. »Das werden Sie herausfinden müssen.« Mehr hatte er uns nicht mitgeteilt. Wir befanden uns auf dem Weg zu einem eigentlich düsteren Ziel, das im krassen Gegensatz zu dem Wetter stand, das uns begleitete. Es war Oktober. Und es war ein goldener Oktober, der über die Stadt und den gesamten Südwesten der Insel gekommen war. Sonnenschein, ein hoher Himmel, der ein herrliches Blau zeigte, auf dem mächtige Wolken wie riesige Schiffe schwammen. Um den Tag allerdings genießen zu können, hätte man den Verkehr wegzaubern müssen, denn London war mal wieder dicht, und so quälten wir uns voran. Wir sprachen noch weiter über die Halbvampire und natürlich über die Cavallo. Beide waren wir davon überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis wir wieder was von ihr hörten. Wir glaubten nicht daran, dass sie für immer schwach bleiben würde, und dann würde sie auf Rachetour gehen, ob mit oder ohne Halbvampire als Helfer. Zunächst mal hatten wir ein anderes Problem und waren gespannt auf die beiden Leichen, die auf uns warteten. Der Pathologe, mit dem wir zusammentreffen würden, war uns bekannt. Er hieß Miller und hatte den akademischen Grad eines Professors vor seinem Namen. Auch der dickste Verkehr gab uns mal frei, und so erreichten wir unser Ziel, dessen Räume in einem alten Backsteinbau untergebracht waren. Dazu gehörte ein Hof, auf dem wir den Rover abstellen konnten.
Wir kannten auch den Seiteneingang, durch den man das Gebäude ebenfalls betreten konnte. Es gab eine Klingel, die ich drückte. Danach schwang die Tür auf, und wir sahen links von uns eine kleine Portierloge, in dem ein Mann saß und sein Sandwich aß, wobei er jetzt seinen Kopf drehte und nicht mehr auf den Monitor schaute. Er kannte uns. »Na, mal wieder hier, die Herren?« »Wie Sie sehen.« »Haha, ein kleiner Flirt mit den Leichen. Das ist es doch – oder?« »Klar. Wer keine feste Freundin hat, versucht es eben damit.« Er fing an zu kichern. »Aber das sind wohl Männer, wie ich gehört habe.« Ich zwinkerte ihm zu. »Man muss heutzutage eben flexibel sein.« »Da sagen Sie etwas.« Wir kannten den Weg und gingen weiter. Es konnte Einbildung sein, und sicherlich gab es Räumlichkeiten, die ebenso aussahen wie diese hier, aber hier hatte man stets den Eindruck, dass die Präsenz der Leichen überall zu spüren war, auch wenn sie nicht zu sehen waren und zumeist in den Kühlfächern verborgen lagen. Auch Suko schien es so zu ergehen, das sah ich an seinem Gesichtsausdruck. Schweigend schritt er neben mir her, und gemeinsam steuerten wir den Bereich des Professors an. Wir fanden ihn in seinem Büro. Zusammen mit einer jungen Kollegin, die er über ein medizinisches Problem aufklärte und dabei immer wieder schmunzelte. Wir mussten uns schon bemerkbar machen. Nach meinem Räuspern drehte er sich um und klatschte in die Hände. »He, unsere Toten bekommen mal wieder hohen Besuch. Ich habe Sie schon erwartet, Geisterjäger.« »Na, da bin ich aber froh. Ich dachte schon, wir müssten uns erklären.« Nach dieser Antwort grinsten wir beide. Danach stellte er uns der jungen Kollegin vor, die etwas verkrampft lächelte, um danach zu erklären, dass sie schon von uns gehört hätte. »Hoffentlich nur Gutes«, sagte ich. Der Professor schielte mich von der Seite an. »Wollen Sie darauf wirklich eine Antwort haben?« »Ja, sonst bin ich frustriert. Das ist auch nicht Sinn der Sache – oder?« Ich schaute mich um. »Es reicht doch schon, wenn ich weiß, was ich jenseits dieses Büros vorfinde.« »Genau dort gehen wir jetzt hin!« Ich war einverstanden, lächelte der Frau im weißen Kittel kurz zu, und das war vorerst die letzte positive Reaktion, die ich von mir gab, denn eine Tür weiter betraten wir das eigentliche Reich des Professors, die Pathologie. Eine andere Welt, in der die Lebenden nur Randfiguren waren, die Toten aber eine Hauptrolle spielten. Es war kalt. Irgendjemand von den Mitarbeitern hatte das Radio angestellt. Ein viereckiger Kasten, der auf einer Fensterbank stand. Musik von Mozart wehte durch die kalte Luft. Für mich unpassend. Es ging um zwei Tote. In einem Nebenraum wurden sie aufbewahrt. Sie lagen in einem Kühlschrank, und der Professor zog zwei Laden auf, die uns entgegen schwangen. Beide Körper waren abgedeckt, aber wir sahen schon ihren Gesichtern an, dass mit ihnen nicht alles stimmte. Die sahen anders aus als die von normalen Toten. »Dann wollen wir mal«, sagte Miller und schlug beide Tücher zugleich zurück. Jetzt lagen die Toten frei bis zu ihren Bauchnabeln. Miller nickte uns zu und trat zurück, damit wir uns einen Eindruck verschaffen konnten. Wir sagten nichts und schauten nur. Bis Suko seinen Blick abwandte und einen geflüsterten Kommentar abgab. »Das ist alles andere, nur nicht normal.«
Ich stimmte ihm durch mein Nicken zu. Was hier vor uns lag, waren zwei nackte Leichen, deren Haut weiß geworden war. Aber nicht mit dem Leichenweiß zu verwechseln, denn auf ihren nackten Körpern lag eine Schicht, die man als zweite dünne Haut bezeichnen konnte. Sie fing an der Stirn an und setzte sich über den Körper fort. Ich wandte mich an den Professor. »Jetzt müssen Sie etwas sagen. Wir können nur staunen.« Hinter der Brille funkelten Millers Augen. Seine Lippen verzogen sich. »Ja, das ist schon ungewöhnlich mit diesen beiden Freunden hier.« »Wieso?« Er grinste mich an. »Sie sind erfroren, so einfach ist das.« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Auch Sukos Gesichtsausdruck zeigte Skepsis. »Das müssen Sie uns erklären, Professor«, sagte er. »Weil Sie es sind.« Er deutete auf die Toten. »Normalerweise müsste diese Schicht aus Eis bestehen, weil sie eben erfroren sind. Aber das ist nicht der Fall. Diese weiße Haut besteht aus einem ungewöhnlichen Stoff, aus Gaze.« Ich schüttelte den Kopf. »Bitte?« »Ja, aus Gaze.« Er räusperte sich. »Eigentlich ist Gaze ja so etwas wie Garn, das auch für medizinische Zwecke verwendet wird. Oder auch als feines Garn für Gardinen und Stoffdruckereien. Aber hier habe ich schon meine Probleme.« »Warum?« Er warf mir einen knappen Blick zu. »Dieses Zeug ist kein Stoff im eigentlichen Sinne. Es besteht aus etwas anderem. Wir haben es noch nicht analysieren können, aber ich gehe davon aus, dass es etwas Organisches ist.« »Interessant. Und dieses Zeug soll die beiden Männer umgebracht haben?« »Es sieht so aus. Sie wurden damit eingesponnen. Es hat dafür gesorgt, dass sie erfroren sind. Dafür haben wir noch keine Erklärung. Wir wissen nur, dass es ungewöhnlich ist, und deshalb sind Sie beide jetzt hier.« »Schön«, kommentierte Suko, »und Sie meinen, dass wir in der Lage wären, Sie darüber aufzuklären?« »Nein.« Miller winkte ab. »Das auf keinen Fall. Ich kenne Sie beide ja. Sie sind die Menschen, die gewissen Rätseln auf der Spur sind. Das ist ein Rätsel, und wenn ich Gaze sage, dann komme ich auf etwas zurück, worüber wir schon mal gesprochen haben, das allerdings etwas länger zurückliegt.« »Und das wäre?« »Es geht um eine Séance. Um Verbindungen mit dem Jenseits. Ich erinnere mich, dass Sie davon sprachen, dass ein Medium plötzlich dieses Zeug produziert hat, das ähnlich aussah wie Gaze. Oder sogar ebenso. Was hier aus dem Mund gequollen ist, das kann man nicht als die Gaze bezeichnen, die für Verbände benutzt wird. Das ist schon etwas anderes.« »Das Sie aber nicht haben analysieren können.« »Sie sagen es.« »Nun gehen Sie davon aus, dass es so etwas wie Ektoplasma ist. Oder sehe ich das falsch?« »Sehr gut, John Sinclair, sehr gut. Gefrorenes Ektoplasma, durch das die beiden Männer ums Leben gekommen sind.« »Nicht schlecht.« Er lächelte. »Welche Erklärung haben Sie, John Sinclair? Ich bin kein Biologe und kann über den Stoff nicht viel sagen. Ich kann ihn nur als äußere Schicht vieler Einzeller erklären, aber das würden Sie wohl nicht akzeptieren.« »Ja, da haben Sie recht.« »Und wohin gehen Ihre Überlegungen dann?« »In eine Richtung, die zwischen den beiden Polen Diesseits und Jenseits liegt. Ich möchte in
diesem Fall das Ektoplasma als einen Verbindungsstoff bezeichnen, der zwischen den beiden Polen liegt. Das ist es.« »Und damit ist es auch Ihr Fall. Ich kann mir nicht erklären, woher es stammt. Von den beiden Toten jedenfalls stammt es nicht. Es ist außen an sie herangetragen worden und hat die Männer erfrieren lassen. Im Wasser, wo man sie fand, muss es geschehen sein, aber das Wasser trägt nicht die Schuld an diesem Vorgang. So sehe ich das.« Suko und ich nickten, als hätten wir uns abgesprochen. Bei uns hatte ein starkes Nachdenken eingesetzt, und ich fragte mich, in welche Lage die Männer geraten sein könnten. Im Moment fiel mir keine Lösung ein. Mir war klar, dass es auch sehr schwer werden würde, eine zu finden. »Wissen Sie mehr über die beiden Toten?«, fragte Suko. »Kennen Sie vielleicht Namen?« »Nein, die kenne ich nicht. Da müssen Sie sich schon mit den Kollegen unterhalten, die nicht wissen, dass ich Sie angerufen habe. Aber dieser Fall ist einfach zu ungewöhnlich, um ihn auf sich beruhen zu lassen.« Da stimmten wir zu. Es war schon ein Phänomen, mit dem wir uns beschäftigen mussten. Und es war auch schwierig, weil es keinen Anhaltspunkt gab. »Können Sie denn sagen, wie lange die Leichen schon im Wasser gelegen haben?« Der Professor lachte. »Nein, das kann ich leider auch nicht. Durch diese Schicht waren keine genauen Untersuchungen möglich. Ich habe sie allerdings an einer Stelle etwas abgekratzt, um eine Probe nehmen zu können. Da ist mir aufgefallen, dass sie schon mehrere Tage im Wasser gelegen haben müssen. Das sage ich nur Ihnen. Einen Bericht habe ich darüber noch nicht verfasst.« »Ist auch besser, wenn Sie ihn vorerst zurückhalten.« »Dann sind wir uns einig.« Er schob seine Brille wieder zurück. »Aber was denken Sie jetzt, Mister Sinclair? Ist das eine Sache, der Sie nachgehen werden?« »In Absprache mit den Kollegen schon. Ich will ihnen auf keinen Fall ins Handwerk pfuschen.« »Verstehe. Aber sie sollten eigentlich froh sein, wenn sie Unterstützung erhalten.« »Das denke ich auch.« »Dann wäre hier alles erledigt. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.« »Es hat schon gereicht, uns neugierig zu machen.« Ich warf einen letzten Blick auf die beiden Toten, deren Haut von einer Schicht Gaze bedeckt war. Welches Geheimnis hatten sie mit ins Jenseits genommen? Ich wusste es nicht, war mir aber sicher, dass es für uns viel Arbeit geben würde...
*** Es geht vielen Menschen auf den Wecker, wenn ich über den katastrophalen Londoner Verkehr schreibe, doch in diesem Fall kam er mir entgegen. Da wir nur langsam vorankamen, blieb mir genügend Zeit, mit unserem Chef zu telefonieren. Ich legte ihm dar, was wir erfahren hatten, und auch er war der Meinung, dass wir uns um dieses Phänomen kümmern sollten. Das war schon ein guter Ausgangspunkt für meine Bitte, die ich ihm vortrug. Da sein Einfluss nicht eben gering war, sollte er doch bitte versuchen, sich mit den zuständigen Stellen in Verbindung zu setzen, um mehr über den Fall zu erfahren. Er dachte nicht lange nach und stimmte zu. Dann fragte er, ob wir etwas über die Toten wussten, doch da musste ich passen. Wir hatten nur mit dem Mediziner gesprochen und mit keinem Kollegen von der Mordkommission. »Sie sind auf der Fahrt zum Büro?« »Genau, Sir.« »Dann sprechen wir uns da. Ich denke, dass ich bis dahin schon etwas mehr weiß.« »Das hoffe ich.«
Suko warf mir einen schrägen Blick zu. »Hast du denn eine Idee, wer die beiden sein könnten?« »Ja und nein.« Wir mussten wieder mal anhalten. »Dann raus damit.« »Ich denke daran, dass man keine Papiere bei ihnen gefunden hat.« »Und was sagt dir das?« »Es könnte sich also um Leute handeln, die keinen Wert auf eine Identifizierung legten. Oder siehst du das anders?« »Nein, daran habe ich auch schon gedacht.« »Super. Dann könnten es Männer gewesen sein, die einem besonderen Job nachgingen. Ich will nicht gleich behaupten, dass es Mörder sind, aber nicht weit davon entfernt. Vielleicht Auftragskiller. Auch Terroristen, die Anschläge geplant haben. Das wäre für mich eine Möglichkeit. Ich kann aber auch ganz falsch liegen.« Suko schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, John. Ich denke auch in diese Richtung.« »Und warum sind sie tot?« »Weiß ich nicht.« Ich gab meine Antwort. »Sie müssen in irgendetwas hineingeraten sein, das über ihre Vorstellungskraft ging. So wie es aussieht, haben sie sich auf ein Gebiet gewagt, in dem andere Gesetze herrschen.« »Da stimme ich dir zu.« »Dann ist es gut.« Es brachte uns nicht weiter, wenn wir uns die Köpfe zerbrachen. Es kam nichts dabei heraus, und so blieb unser Chef unsere große Hoffnung. Wir erreichten knapp zwei Minuten später Scotland Yard. Der Wagen verschwand unter der Erde, wir fuhren hoch bis zu unserem Stockwerk und gingen nicht in unser Büro, sondern klopften bei Sir James an, dessen kräftige Stimme uns herein bat. »Es war mal wieder viel Verkehr, Sir«, sagte Suko und sah, dass unser Chef abwinkte. »Weiß ich. Nehmen Sie Platz.« Ich versuchte aus dem Gesicht unseres Chefs zu lesen, ob er mit seinen Forschungen Erfolg gehabt hatte, aber es blieb neutral. Erst als wir saßen, fing er an zu sprechen. »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich gehe mal davon aus, dass Sie in ein Wespennest gestochen haben. Zumindest könnte das so sein.« Jetzt wurden wir hellhörig. »Dann könnte dieser Fall schon einiges nach sich ziehen?« »Das will ich nicht in Abrede stellen.« Suko wollte auf den Punkt kommen und fragte: »Was haben Sie denn erfahren, Sir?« Seine Antwort bereitete uns eine Enttäuschung. »Leider nicht die Namen. Die kannte niemand. Oder wollte niemand kennen. Aber ich habe erfahren, dass die beiden Männer nicht nackt waren, als man sie in diesem See fand.« Er machte es spannend und legte eine kleine Pause ein. »Sie waren angezogen.« Auch den Satz hatte er in einem Tonfall gesprochen, der uns aufmerksam werden ließ. »War das alles?«, fragte ich. »Nein, John. Die beiden Männer trugen keine normale Kleidung, sondern Taucheranzüge. Sogar die Pressluftflaschen befanden sich noch auf ihren Rücken.« Jetzt waren wir an der Reihe, erstaunt zu sein. Suko schüttelte den Kopf, bevor er sagte: »Dann sind die beiden Taucher gewesen.« »Davon müssen wir ausgehen.« »Und sie sind in einem bestimmten See getaucht.« »Ja.« »Was haben sie dort gesucht?« Sir James runzelte die Stirn und hob die Schultern. Dann sagte er: »Da ist noch etwas, das
Rätsel aufgibt. Man hat auf dem kleinen See ein herrenloses Ruderboot gefunden. Ob das mit den beiden Tauchern in Verbindung zu bringen ist, weiß niemand.« »Und man weiß auch nicht, wer sie sind?« »Genau, John, man weiß es nicht, ich wiederhole mich. Oder man will es nicht wissen.« Das konnte auch sein, und ich fragte: »Wer hätte es denn nicht wissen wollen?« Der Superintendent lächelte. »Das kann ich nicht sagen. Man könnte aber raten. Da die Männer nichts bei sich trugen, was sie hätte identifizieren können, gibt es einige Möglichkeiten, unter anderem, dass sie eventuell für den einen oder anderen Dienst gearbeitet haben.« »Nicht schlecht gedacht, Sir.« In diese Richtung musste man immer denken. Auch wir hatten unsere Erfahrungen mit den Geheimdiensten machen müssen. Die waren nicht immer positiv gewesen, denn die Dienste kochten ihre eigene Suppe. Das war schon immer so gewesen, das würde auch immer so bleiben, und es war ungemein schwer, von ihnen eine Auskunft zu erhalten, selbst für einen Mann wie Sir James. »Hat man denn etwas über die Kleidung und die Sauerstoffflaschen in Erfahrung gebracht?« »Nein, auch nichts über den am Ufer gefundenen Wagen, der gestohlen war. Er wird noch untersucht. Ich glaube nicht, dass man etwas Konkretes findet. Ebenso wie bei der Kleidung, die man in diesem Fahrzeug fand. Das sind schon Profis gewesen, aber auch sie hat es erwischt, und zwar nicht auf die normale Art und Weise.« »Ja«, bestätigte Suko, »sie sind erfroren. Und das ist nicht normal. Sie waren eingepackt in diese Gazemasse oder in erstarrtes Ektoplasma, so genau steht das noch nicht fest. Ist für uns aber der Beweis, dass sie eventuell Kontakt mit einer anderen Welt gehabt haben könnten.« Sir James dachte einige Sekunden nach, bis er eine Antwort gab. »Ja, das würde ich unterschreiben. Hier ist etwas passiert, um das Sie sich kümmern sollten. Und ich denke, dass Sie am besten zum Schauplatz oder Fundort fahren sollten.« »Dann müssten wir wissen, wo dieser See liegt.« »Die Antworten bekommen Sie, John. Es ist ein Gewässer nördlich von London. Der nächste Ort heißt Turnford, ein Kaff mit wenigen Häusern. In der Umgebung gibt es mehrere Gewässer, hat man mir gesagt. Der See, in dem man die beiden fand, ist nicht besonders groß. Aber das können Sie sich selbst anschauen, der Tag ist noch lang.« Das stimmte. Uns stand mal wieder eine Fahrt auf das Land bevor, wie beim letzten Fall. »Mehr kann ich für Sie bisher nicht tun«, erklärte unser Chef. »Ich werde jedoch dranbleiben und versuchen, noch mehr über die Toten herauszufinden.« Damit waren wir einverstanden. Bevor wir das Büro verließen, versprachen wir, ihn auf dem Laufenden zu halten, dann drückten wir die Tür hinter uns ins Schloss. Beide waren wir nachdenklich und blieben auf dem Gang stehen. Suko stellte die entscheidende Frage. »Wer oder was könnte die beiden getötet haben?« »Keine Ahnung. Nicht die geringste. Nur was uns Sir James gesagt hat, könnte auf eine Aktion irgendeines geheimen Dienstes hindeuten.« »Glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Wer irgendwelche Mitwisser loswerden will, der bringt sie auf eine normale Art und Weise um und nicht durch eine Methode, die mehr als ungewöhnlich ist. Da man ihr Auto gefunden hat, gehe ich mal davon aus, dass sie unterwegs waren, um einen Job auszuführen. Dabei hat es sie dann erwischt.« So ganz wollte ich ihm nicht folgen. »In einer Gegend wie der? Für diese oder ähnliche Aktionen ist doch eher die Großstadt zuständig. Ich denke dabei an London.« »Kann auch sein.« »Egal, wir fahren hin.« Erst mal fuhren wir nicht, sondern gingen. Und zwar in das Vorzimmer unseres Büros, wo Glenda Perkins die Stellung hielt. Das war auch an diesem Tag so. Es roch natürlich nach
frischem Kaffee, als hätte sie geahnt, was ich jetzt brauchte. »Und?« Ich schaute sie an. Glenda trug einen bunten Rock in Herbstfarben und dazu einen grünen Pullover mit V-Ausschnitt. »Wir werden gleich verschwinden, aber zuvor möchte ich mir noch eine Tasse Kaffee gönnen.« Sie war neugierig und fragte: »Was hat es denn gegeben?« »Frag Suko.« »Himmel, was bist du heute wieder gesprächig.« »Das liegt an deinem Kaffee. Er lockt mich, denn wir haben noch eine Reise vor uns.« »Da bin ich mal gespannt.« Ich ging zur Maschine und hörte, dass Suko mit Glenda sprach und sie über den neuen Fall aufklärte. Ich machte mir bereits Gedanken über die Zukunft und hatte kein gutes Gefühl dabei. Irgendetwas kam da auf uns zu, und das würde kein Spaß werden...
*** Wir verließen London, passierten den Motorway 25 und fuhren auf Cheshunt zu. Bevor wir die Außenbezirke der Stadt erreichten, mussten wir nach rechts abbiegen, um dann in den Bereich der Gewässer zu gelangen, eben den Seen in unterschiedlicher Größe, von denen uns jedoch nur einer interessierte. Es war der kleinste, und er zählte noch zu dem Außenbezirk des kleinen Orts Turnford. An ihm fuhren wir ebenfalls vorbei, was kaum zwei Minuten in Anspruch nahm, danach waren wir von einer Landschaft umgeben, die Ruhe ausstrahlte und zum Durchatmen einlud. Auch hier wohnten Menschen. Sie hatten ihre Häuser auf großen Grundstücken gebaut. Manche lagen so weit voneinander entfernt, dass sich die Nachbarn gegenseitig nicht sahen. Manche Häuser waren hinter Bäumen verborgen, die zwar noch ihr Laub trugen, das sich jedoch allmählich einfärbte und wie ein bunter Flickenteppich aussah. Sattgrüne Wiesen luden dazu ein, sich ins Gras zu legen und sich auszuruhen. Spaziergänger konnten sogar bis dicht an das Ufer des Gewässers gehen, das unser Ziel war. Wir suchten nach einer günstigen Gelegenheit, von der Straße abzubiegen. Ein Hinweisschild gab es nicht, aber das brauchten wir auch nicht, denn wir fanden so etwas wie einen Feldweg, der auf den See zulief. Das jedenfalls hofften wir, und Suko lächelte, als er den Rover in die entsprechende Richtung lenkte. »Was ist los?«, fragte ich. »Nichts. Mir gefällt diese Idylle.« »Die wahrscheinlich keine bleiben wird.« »Warten wir es ab.« Unterwegs hatte ich noch mal mit unserem Chef telefoniert, um mir letzte Informationen zu holen. Es gab keine neuen. Er kannte auch die genaue Stelle nicht, an der man die Leichen entdeckt hatte. Und so setzten wir auf unser Glück. Das Wetter hielt sich nicht nur, es hatte sich sogar noch gebessert, denn die mächtigen Wolkenschiffe waren verschwunden. So lag der Himmel in einem strahlenden Hellblau über uns. Der Rover rumpelte über den nicht gerade ebenen Feldweg auf das Gewässer zu. Wir sahen es jetzt besser. Die Herbstsonne verlieh ihm einen fast überirdischen Glanz. Da sich nur ein leichter Wind über das Land bewegte, wurde das Wasser an der Oberfläche kaum gekräuselt und kam uns vor wie ein in verschiedenen Farben leuchtender Spiegel. Meist in einem Farbton zwischen Grün, Grau und Blau. Es gab hier auch Überschwemmungen. Die waren zwar jetzt nicht zu sehen, aber wir merkten es an der Beschaffenheit des Untergrunds. Je weiter wir fuhren und damit näher an den See herankamen, umso weicher wurde es unter den Reifen.
»Ich denke, wir halten mal an«, bemerkte Suko. Dagegen hatte ich nichts. Wir stoppten an einem Platz, wo der Boden noch einigermaßen fest war. Steine hatten sich an die Oberfläche gedrückt. Wir stiegen aus. Der Blick war frei. Jetzt sahen wir das Ufer besser und stellten fest, dass es zwar flach war, aber in seiner unmittelbaren Nähe Büsche wuchsen, die aber auch hohes Unkraut sein konnten. Suko hatte sich schon auf den Weg gemacht. Sein Blick war nach unten gerichtet, als würde er etwas suchen. Ich sprach ihn darauf an. Er blieb stehen. »Schau selbst. Hier sind Autos hergefahren. Man kann die Reifenspuren noch deutlich sehen.« Das stimmte, und wir hatten Glück gehabt, denn wir glaubten, dass wir den See an der Stelle erreicht hatten, wo die beiden Leichen angeschwemmt worden waren. Es dauerte nicht lange, dann standen wir am Ufer. Auch hier war der Boden weich. Wenn wir unsere Füße anhoben, sickerte Wasser in die Trittstellen hinein. Wir hörten das Gluckern der Wellen. Der schwache Wind erreichte die Gräser und bog sie zur Seite. Vögel huschten durch die Luft, wobei sich einige dicht über der Wasserfläche sammelten und eine kleine Schar bildeten, die sich anschließend in den Himmel schraubte und wegflog. Trockene Stellen gab es hier nicht. Aber der Boden war auch nicht so weich, als dass Wasser in unsere Schuhe gesickert wäre. Wir blieben dort stehen, wo das Gras niedergetrampelt worden war und sich noch nicht wieder aufgerichtet hatte. Beide schauten wir über das Wasser und sahen auch das andere Ufer. Das war bewaldet. Dort standen die Bäume dicht an dicht. Den Kahn, den man gefunden hatte, sahen wir nicht. Den hatten die Kollegen zur Spurensicherung mitgenommen. »Sieht ja alles normal aus«, meinte Suko und sprach das aus, was auch ich dachte. Ich nickte. Dann murmelte ich: »Was ist hier passiert? Hier auf oder in dem See? Warum trugen die beiden Typen Taucherausrüstung? Wer ist mit dem Boot hinaus auf den See gefahren, und wer hat die Taucher umgebracht?« »Keine Ahnung. Frag lieber mal, wer sie vereist hat. Das ist doch das Phänomen.« »Genau.« »Ich sehe kein Eis im Wasser.« »Das ist auch kein Eis gewesen, Suko.« »Ich weiß! Wir reden hier von Ektoplasma. Aber davon mal ganz abgesehen, hast du schon davon gehört, dass Ektoplasma jemanden einfrieren kann?« »Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass wir schon mit diesem Zeug zu tun hatten und es nicht immer angenehm gewesen ist. Wie dem auch sei, hier muss es eine Spur geben, obwohl ich im Moment keine finde.« »Vielleicht muss man tauchen. Die Männer haben das schließlich auch getan.« »Richtig. Aber hast du Lust, ins Wasser zu gehen?« »Nur im Sommer und nicht freiwillig.« »Eben.« Was blieb uns anderes übrig, als hier zu warten? Ich konnte mir auch vorstellen, dass sich über dem Wasser Nebel bildete, wenn die Sonne mal verschwunden war und die Feuchtigkeit Überhand gewann. Dann würden die grauen Schwaden auch die Ufer erreichen, die leer waren, abgesehen von dem unterschiedlich hohen Bewuchs, der sich besonders rechts von uns ausbreitete. Dort sahen wir noch mehr. Da stand ein Haus. Es war uns bisher nicht aufgefallen. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich es. Suko hatte es noch gar nicht gesehen, und so machte ich ihn darauf aufmerksam. Als er es dann sah, hob er die Schultern. »Ja, John, das ist ein Haus. Und?«
Ich wiegte den Kopf. »Da stellt sich doch die Frage, ob es bewohnt ist oder nicht.« »Das allerdings.« »Und wenn es bewohnt ist, wäre es doch möglich, dass jemand von dort aus etwas gesehen hat.« »Und du meinst, dass die Kollegen dort noch nicht nachgefragt haben?« »Keine Ahnung. Gehört haben wir nichts in diese Richtung. Da hätte Sir James schon etwas erwähnt.« »Davon kann man ausgehen.« Wir überlegten, ob wir den Bewohnern jetzt schon einen Besuch abstatten sollten oder lieber erst ein paar Schritte am Ufer entlang gehen und uns wie Spaziergänger benehmen sollten. Es war komisch, und ich hatte auch nicht mit Suko über das Gefühl gesprochen, aber ich hatte inzwischen den Eindruck, dass dieser See etwas Besonderes war. Er sah normal aus, und trotzdem hatte er etwas, das ich nicht fassen konnte. Deshalb war es auch nicht zu erklären, nur zu spüren. Ich zog meine Schultern hoch wie jemand, der friert. Die Geste war Suko nicht verborgen geblieben, und er fragte: »Hast du irgendwelche Probleme?« »Nein, das nicht.« »Aber du siehst so aus.« »Das ist wohl richtig. Ich fühle mich auch nicht wohl«, murmelte ich. »Irgendwas stört mich.« »Aber du kannst es nicht erklären.« »Genau das ist es.« »Hängt es mit dem See zusammen?« »Ja, verdammt, es hängt mit dem See zusammen. Er sieht normal aus, aber ich habe den Eindruck, dass etwas damit nicht stimmt.« Er hob nur die Schultern. Wir kannten uns lange genug. So wusste Suko auch, dass es Momente gab, wo es besser war, wenn er mich nicht störte. Ungefähr zwei Schritte weiter hielt ich an. Wieder glitt mein Blick über das Wasser, aber es war nichts zu sehen. Und doch gab es so etwas wie einen Kontakt. Nur war der nicht sichtbar und spielte sich woanders ab, und zwar in meinem Kopf. Nein, ich war nicht durcheinander. Ich glaubte jedoch, mich nicht geirrt zu haben. Da war eine Macht, die versuchte, Kontakt mit mir aufzunehmen, und ich konnte sagen, dass es sich nicht schlimm anfühlte. Es war nur fremd, und so etwas war ich nicht gewohnt. Bisher bestimmte ich noch immer selbst, was ich dachte, und ließ mich nicht von einer anderen Seite manipulieren. Der See lag still da. Nur schwache Wellen kräuselten die Oberfläche. Die Vögel zogen ihre Kreise. Ein idyllisches Bild. Meine Blicke wanderten der Mitte des Gewässers zu, und da hatte ich den Eindruck, dass das Wasser dort dunkler war als an den Ufern. Und zwar viel dunkler, sodass es sogar auffiel. Normal oder nicht? Nachdem ich keine Antwort auf meine Fragen bekommen hatte, tastete ich nach meinem Kreuz. Es war so etwas wie ein kleiner Hilferuf der besonderen Art, denn ich wollte wissen, ob mein Talisman den Strom ebenfalls aufgefangen hatte. Das hatte er nicht. Das Silber blieb normal. Es gab nicht die geringsten Anzeichen einer Erwärmung. Ich hätte jetzt sagen können, mich geirrt zu haben, aber das stimmte nicht. Diese Veränderung im Kopf hatte ich mir nicht eingebildet. Da hatte etwas Fremdes versucht, in meine Gedanken einzudringen, und das war schon ungewöhnlich. Rechts neben mir raschelte es. Suko kehrte zu mir zurück und schaute mich fragend an. »Tut mir leid, aber ich kann dir nichts Konkretes sagen.« »Gut. Wie würdest du es dann ausdrücken?« »Vielleicht, dass sich eine andere Macht hier in der Nähe etabliert hat.«
»Feindlich oder nicht?« »Das weiß ich eben nicht. Aber als Angst einflößend habe ich den Kontakt nicht erlebt.« »Gut, dann müssen wir uns entscheiden. Sollen wir noch länger hier am Ufer bleiben oder vielleicht doch dem Haus einen Besuch abstatten? Sehr weit ist es ja nicht entfernt.« »Ja, das machen wir. Erst mal schauen, ob es bewohnt ist.« Ich blieb noch am Ufer stehen, um einen letzten Blick über das Wasser zu werfen. Suko ging bereits in Richtung des Hauses, doch Sekunden später schon hörte ich seine Bemerkung. »Wir bekommen Besuch.« Das war eine Überraschung. Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er mit dem rechten Arm nach vorn wies, wo sich das Haus befand. Der Besucher kam genau auf uns zu. Es war keine Frau, auch kein Mann, sondern ein Junge von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren. »Jetzt bin ich mal gespannt«, sagte Suko leise und hatte mir damit aus der Seele gesprochen...
*** Der Junge musste noch ein paar Schritte gehen, bis er uns erreicht hatte. Es war also Zeit genug, ihn genauer zu betrachten. Er trug das Haar recht lang und hatte es nach hinten gekämmt. Bekleidet war er mit einer grauen Hose, einem grünlichen Hemd und einer braunen Weste. Sein Gesicht zeigte keinen Argwohn. Sogar ein Lächeln lag auf seinen Lippen. In Sprechweite von uns entfernt hielt er an. »Hi«, sagte er. Wir nickten ihm zu, und Suko fragte: »Wo kommst du denn her?« »Meinen Sie das echt?« »Sonst hätte ich nicht gefragt.« »Das könnte ich Sie fragen.« »Okay, ich gebe dir eine Antwort. Wir kommen aus London. Reicht dir das?« Er legte seinen Kopf schief. Im Mund ließ er seine Zunge wandern, so beulte er seine Wangen aus. »Das ist recht weit entfernt.« »Stimmt.« »Ich wohne hier.« Jetzt waren wir beide überrascht. Suko fragte: »Wo wohnst du denn?« »In dem Haus dort drüben.« »Nun ja, sehr nett, aber auch einsam.« Er lachte. »Ich wohne ja nicht allein dort.« Suko ging vor und reichte ihm die Hand. »Ich heiße übrigens Suko. Das ist mein Freund John Sinclair.« »Und ich bin Jason Monkford. Ich wohne mit meinen Eltern dort im Haus.« »Das haben wir uns schon gedacht.« Suko deutete auf den See. »Und was machst du hier?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich gehe gern spazieren. Hier ist es so schön ruhig.« Da hatte er wohl recht. Ich wunderte mich trotzdem über sein Verhalten. Was er tat, das passte irgendwie nicht zu einem Jungen in seinem Alter. Die gingen nicht um Ufer spazieren, die vergnügten sich anders und hockten oft genug vor dem Computer. Er aber lief hier am See entlang. »Was sagen denn deine Eltern dazu?«, fragte ich. »Nichts. Sie halten mich nicht zurück, ich mag den See. Er ist mein Freund, obwohl dort meine Schwester Indira verschwunden ist. Einfach so, vor einigen Tagen.« Da klingelten bei mir schon die Alarmsirenen. Er hatte von einer im See ertrunkenen Person gesprochen, die seine Schwester war. Und dann gab es noch zwei Männer, die hier ertrunken waren. Allmählich bekam der Fall ein Gesicht, auch wenn es nur schwach war. »Sie ist wirklich ertrunken und tot?«
Er nickte zum Wasser hin. »So genau weiß ich das nicht, wenn ich ehrlich bin.« »Wie meinst du das denn?« »Nun ja...« Er druckste herum und senkte den Kopf. »Eigentlich ist sie ja auch tot. Aber nicht so richtig, sage ich immer. Sie ist jetzt etwas anderes.« »Sehr schön. Kannst du uns auch sagen, wer oder was deine Schwester jetzt ist?« »Klar. Ein Engel.« Er hatte die wenigen Worte mit einer derartigen Überzeugung ausgesprochen, dass mir beinahe die Luft wegblieb. Suko hob seine Augenbrauen an und überließ mir das Feld, denn damit kannte ich mich besser aus. »Ein Engel also?« »Genau.« »Und woher weißt du das?« »Ich weiß es eben.« »Gut«, sagte ich, »das will ich mal glauben. Aber wer hat sie denn zu einem Engel gemacht?« Jetzt wurde der Blick des Jungen traurig. »Das weiß ich nicht«, sagte er leise. »Aber bevor sie zum Engel wurde, hat sie auch schon Angst gehabt.« »Gab es denn einen Grund?«, hakte ich nach. »Kann sein. Ich kenne ihn nicht.« Was sollte ich da noch sagen? Suko übernahm das Wort. »Und sie ist hier im See ertrunken?« »Ja!« Es überraschte uns beide, dass wir diese Antwort erhalten hatten. Und sie hatte sehr sicher geklungen. Da war es schon besser, wenn wir nachhakten. »Woher weißt du das denn? Soviel uns bekannt ist, hat man hier zwei andere Tote gefunden, Männer. Und Indira ist eine junge Frau gewesen. Ich gehe mal davon aus, dass man auch sie hätte hier finden müssen. Oder meinst du nicht?« Er nahm meinen scharfen und leicht fragenden Blick wahr. »Das kann sein, aber sie ist noch im Wasser.« »Aha. Und deshalb bist du hergekommen?« Jason Monkford nickte. »Klar, ich warte immer auf sie. Ich will sie sehen.« »Dann musst du tauchen?« Da schüttelte der Junge den Kopf. »Nein, das muss ich nicht«, erklärte er voller Überzeugung. »Ich weiß genau Bescheid. Ich kenne mich aus.« Er deutete mit beiden Händen auf das Wasser. »Ich weiß, dass sie hier irgendwo ist. Sie ist anders geworden.« Er nickte sehr ernst. Ich sagte darauf nichts, ließ aber meinen Gedanken freie Bahn und kam zu einem Punkt, den ich keinesfalls außer Acht lassen wollte. Dabei erinnerte ich mich daran, dass auch ich vor Erscheinen des Jungen etwas gespürt hatte. Es war so anders gewesen, und ich hatte es nicht einschätzen können. Als hätte sich hier in der Nähe etwas aufgehalten, das nicht in diese Welt gehörte. Es konnte mehr dahinterstecken, als wir zu sehen in der Lage waren. Ich sprach wieder den Jungen an. »Du bist nicht zum ersten Mal hier, denke ich.« »Genau.« »Und wie verhältst du dich, wenn du hier stehst und über den See schaust?« Er lächelte. »Ich tue nichts. Ich – ich – warte.« Die Antwort kannte ich bereits. Dennoch frage ich weiter. »Worauf wartest du denn?« »Auf Indira. Auf meine Schwester.« »Die Tote also?« »Ja.« Sein Gesicht verschloss sich. »Ihr denkt immer falsch. Ich weiß es besser. Indira ist tot und lebt trotzdem. Das weiß ich sehr genau.«
»Schön und weiter? Was passiert denn dann?« Er zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich war ich bei meiner Fragerei nicht sensibel genug vorgegangen, jedenfalls sah er aus, als wollte er nichts mehr sagen. Er schaute zu Boden, hob danach den Kopf ruckartig wieder an, und das war so etwas wie ein Startsignal, denn er blieb nicht mehr stehen. Jason ging einfach weiter. Er schob sich an mir und Suko vorbei und tat so, als wären wir gar nicht vorhanden. »Er scheint sauer zu sein«, flüsterte Suko mir zu. »Kann sein.« »Aber irgendetwas hat er vor«, murmelte Suko. Da mochte er richtig liegen. Wir hatten uns beide umgedreht und schauten auf den Rücken des Jungen, der noch ein paar Schritte ging und dann am Ufer anhielt. Von hier blickte er über den See hinweg bis hin zum anderen Ufer, wobei ich mir vorstellen konnte, dass er dies gar nicht mal so wahrnahm, denn er hielt den Kopf um eine Idee gesenkt. »Der starrt auf die Seemitte«, meinte Suko. »Klar, er wartet auf etwas.« »Denkst du an seine Schwester?« »Woran sonst?« Suko zog ein Gesicht, als könnte er mir nicht glauben. Ich dachte da anders. Der Junge kam mir nicht vor wie ein Spinner und auch nicht wie jemand, der unter dem Tod seiner Schwester so gelitten hatte, dass er einen geistigen Defekt abbekommen hatte. Dahinter steckte schon mehr und zwar etwas Ernstes. Es blieb weiterhin ruhig in dieser Gegend. So gelang es uns, das Flüstern zu hören, das nicht von irgendwelchen Windgeräuschen stammte, sondern aus dem Mund des Jungen drang. Es war für uns nicht zu erkennen, mit wem er sprach. Er schickte seine Worte über das Wasser, als sollten sie dort jemanden erreichen, der nur für ihn existent war. Es wurde spannend. Wir blieben stehen und wagten nicht, ihn zu stören. Ich spürte, dass sich etwas tun würde. Wir hatten es hier wirklich mit einem Phänomen zu tun, und dies zeigte sich in den folgenden Sekunden. Es bezog sich auf das Wasser, das an einer bestimmten Stelle eine andere Färbung annahm. Nicht nahe am Ufer, sondern mehr in der Mitte des Sees. Bisher hatte auch ich nicht so recht daran glauben wollen, dass mit der toten jungen Frau etwas nicht stimmte, doch nun begann mein Umdenken. Was ich da mit ansah, das war nicht normal. In einem bestimmten Gebiet in Richtung Seemitte war die Veränderung zu erkennen. Das Wasser blieb, doch es verlor seine Färbung. Das Dunkle verschwand und machte dem Platz, was aus der Tiefe an die Oberfläche drang und für uns kaum zu erklären war. Wir sahen nur, um was es sich handelte. Es war ein heller Schein, für den man auch ein anderes Wort einsetzen konnte. Licht... Ja, hier stieg aus der dunklen Tiefe etwas in die Höhe und breitete sich kreisförmig aus. Ich wusste nicht, worum es sich handelte. Der Junge jedoch sah das anders. Wie ein kleiner Magier streckte er seine Arme aus, als wollte er dem Element Wasser befehlen, nur das zu tun, was er für richtig hielt. Wir schoben uns noch näher an ihn heran und sahen jetzt, dass er die Lippen bewegte. Er sagte etwas, was wir nicht verstanden, doch das änderte sich. Er fing an zu sprechen, und wir bekamen ganz große Ohren. »Indira!«, rief er leise. »Bitte, Indira, komm zu mir. Ich weiß, dass du da bist...« Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Er hatte tatsächlich seine Schwester gerufen...
***
Es war alles normal in unserer Umgebung geblieben. Dennoch hatte sich etwas verändert, was nicht sichtbar war. Es war schwer zu erklären, doch dachte ich daran, dass ein gewisser Zauber in der Luft lag. Ja, so und nicht anders war es. Es war zu spüren, ich merkte auch, dass sich auf meinem Gesicht eine zweite Haut gebildet hatte, und warf Suko einen Blick zu. Auch der hatte etwas gespürt. Er stand starr auf dem Fleck und hatte die Stirn in Falten gelegt. Ansprechen wollte ich ihn nicht, um die Atmosphäre nicht zu zerstören. Der Junge hatte uns völlig vergessen und rief erneut nach seiner Schwester. »Bitte, Indira, ich weiß, dass du da bist. Bitte, du musst zu mir kommen. Ich liebe dich...« Das Licht blieb. Ob sich allerdings in seinem Mittelpunkt etwas zeigte, sahen wir nicht. Unsere Sichtperspektive war einfach zu schlecht. Wir mussten uns weiterhin auf die Helligkeit verlassen, die wie ein Schirm auf der dunkleren Wasserfläche lag. Zeigte sich Indira? Ja, das tat sie. Zumindest für den Jungen, der plötzlich anfing zu sprechen. »Da bist du ja, Indira. Ich wusste es. Bitte, ich will dich zurückhaben. Du hast mal versprochen, dass der Tod nicht das Ende ist. Du hast darauf gewartet, ein Vogel zu sein. Und das glaube ich nun. Du bist bei ihnen...« Seine Stimme verklang. Suko und ich warteten atemlos, was als Nächstes passieren würde. Noch tat sich nichts. Nur das Wasser blieb weiterhin hell. Ich tastete nach meinem Kreuz und spürte dort keine Veränderung. Das konnte ich durchaus als positiv ansehen, es war also nichts passiert, was uns gefährlich werden konnte. Die Stille blieb. Sie war noch immer anders, denn sie lockte uns, noch eine Weile zu bleiben. Es war durchaus möglich, dass wir noch eine Überraschung erlebten. Darauf setzte ich. Das sagte mir auch das Verhalten des Jungen. Es passierte dann sehr schnell. Und alles begann mit einem leisen Jubelschrei. Zuerst war ich irritiert. Wenig später sah ich, dass der Junge sich nicht grundlos gemeldet hatte, denn aus dem Wasser hervor stieg etwas in die Höhe. Es löste sich dabei von der Oberfläche, und wieder musste man von dem Begriff Licht ausgehen. Nur hatte sich die Helligkeit hier für eine andere Form entschieden. Sie sah aus wie eine Säule, die in die Höhe glitt und an ihrem unteren Ende noch so wirkte, als hinge sie dort fest. Der Junge starrte sie an. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Für ihn gab es nur dieses Bild, und es war zu befürchten, dass er den Ort hier verlassen würde, um in das Wasser zu gehen. Er tat es nicht, denn auch vom Ufer aus sahen wir, was sich da auf der Seemitte tat. In der Lichtsäule zeichnete sich etwas ab. Es war dunkler als die Umgebung. Eine Gestalt, die tatsächlich menschliche Umrisse hatte. War das der Geist der Schwester? Es gab keine andere Erklärung. Wer sonst sollte sich dort zeigen? Und hatte Jason Monkford nicht von einem Engel gesprochen, zu dem seine Schwester geworden war? Nun schienen sich seine Ahnungen zu bestätigen. Hier war tatsächlich etwas passiert, für das es keine normale Erklärung gab. Genau das waren wir gewohnt und sahen es als richtig an, dass wir uns hier aufhielten. Innerhalb der Lichtsäule war zwar eine Gestalt zu sehen, aber man musste sie als Umriss bezeichnen, denn mehr sahen wir nicht von ihr. Es gab kein Gesicht, auch Arme und Beine waren für uns nicht zu erkennen. Ich atmete tief durch. Allmählich hatte ich mich an den Anblick gewöhnt. Ich spürte kein Gefühl der Angst. Hier war zwar einiges aus dem normalen Ruder gelaufen, doch ich erlag dabei dieser Faszination. Zudem wusste ich, dass es Engel gab. Mit ihnen hatte ich schon die außergewöhnlichsten Dinge erlebt. War sie ein Geist? War es der Geist der toten Schwester? Diese Frage stellte ich mir, als es
passierte. Die Lichtsäule sank zusammen, und damit verschwand auch die Gestalt, die wir so zittrig gesehen hatten. Es war vorbei. Das Wasser nahm wieder seine normale Färbung an. Die Helligkeit verschwand, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Keiner sprach. Jetzt hörte ich sogar das leise Säuseln des Windes. Und wir sahen, dass sich der Junge langsam umdrehte und nickte. Es sah nicht uns, es sah vielmehr aus, als wollte er sich selbst bestätigen. Einige Sekunden blieb er noch in der nachdenklichen Pose stehen. Dann gab er sich einen Ruck und ging auf uns zu. Sein Gesichtsausdruck hatte sich leicht verändert. Er wirkte zufriedener. So sah ein Mensch aus, der eine Bestätigung dafür erhalten hatte, woran er schon immer geglaubt hatte. Als er merkte, dass wir ihm im Weg standen, stoppte er. »Wie geht es dir?«, fragte ich leise. Er sah mich an. Er lächelte. »Mir geht es gut. Ich weiß jetzt endgültig Bescheid. Es gibt Indira noch. Das ist wunderbar. Sie ist tot, aber trotzdem da.« Da konnten wir ihm nicht widersprechen. Sie war da. Aber nicht in unserer Welt, sondern in einer anderen, von der aus es eine Verbindung zu dieser normalen Welt gab. Das hatte sie geschafft, und ich war gespannt, wie es weiterging, denn auf keinen Fall würden Suko und ich den Rückzug antreten. »Als was siehst du deine Schwester denn?«, wollte Suko wissen. »Als Geist, als Engel, als Botin. Und auch als Beschützerin unserer Familie. Für Mutter, für Vater und für mich. Wir haben es gewusst, dass sie einen besonderen Tod gestorben ist. Ich habe sie jetzt gesehen, aber ich will nicht, dass es so bleibt. Das ist uns zu wenig.« »Wie sollen wir das denn verstehen?«, fragte Suko. »Es ist nicht schwer, gar nicht schwer. Wir werden dafür sorgen, dass es sich verdichtet. Was ich erlebt habe, war nur ein Vorspiel. Alles andere kommt noch.« »Und was?« Jason Monkford schaute uns an und schüttelte den Kopf. »Ihre Rückkehr natürlich. Weg vom Jenseits und wieder hinein in diese Welt. Davon sind wir überzeugt.« »Gut«, lobte ich. »Aber kannst du mir auch sagen, wie ihr das anstellen wollt?« Er überlegte kurz. »Es gilt, einen Pakt mit dem Jenseits zu schließen. Und das werden wir tun.« »Wo?« »Bei uns im Haus. Alle sind bereit. Mein Vater, meine Mutter und auch er.« Ich hob die Augenbrauen. »Er? Wer ist er?« »Unser Medium. Er soll den Kontakt mit dem Jenseits herstellen.« Suko und ich tauschten einen knappen Blick. Wir wussten mit der letzten Antwort nicht viel anzufangen. Suko wollte wissen, ob das Medium auch einen Namen hatte. »Ja, er heißt Zacharias.« Wieder schauten wir uns an. Bekannt war uns die Person nicht. Zum Glück sprach Jason weiter. »Zacharias ist bekannt. Er wird immer geholt, wenn Menschen Probleme mit dem Jenseits haben. Er kann sie lösen, denn er stellt die Verbindung zu den Toten her.« »Und das wird bei euch heute geschehen?« »Ja, Mister Sinclair. Zacharias befindet sich bereits in unserem Haus, um alles vorzubereiten.« So etwas machte uns neugierig. Abzusprechen brauchten wir uns nicht. Ich wusste, dass Suko und ich der gleichen Meinung waren. Deshalb wandte ich mich direkt an den Jungen. »Ich denke mal, dass wir dich ins Haus begleiten. Oder hast du etwas dagegen?« Die Bitte hatte ihn schon wie ein kleiner Überfall erwischt. Er war zunächst sprachlos und wollte uns auch nicht vor den Kopf stoßen, und so sagte er: »Ihr könnt es ja mal versuchen. Ich weiß nicht, was meine Eltern dazu sagen werden.« »Da kann ich dich beruhigen, Jason. Du kennst zwar unsere Namen, aber du weißt nicht, wer
wir in Wirklichkeit sind.« Ich sprach von Scotland Yard, und dann zeigten wir ihm sogar unsere Ausweise. Er schaute sie an. Besonders beeindruckt war er nicht davon. Als er sie uns zurückgab, hörten wir auch seinen Kommentar. »Wir können es ja mal versuchen.« »Das wäre schön.« Jason Monkford warf einen letzten Blick des Abschieds über den See hinweg. Danach flüsterte er: »Dann lasst uns gehen. Zu lange dürfen wir nicht warten.« Das sahen Suko und ich ebenso...
*** Es war ja nicht weit bis zum Haus, das etwas weiter vom Ufer entfernt lag. Es stand natürlich frei, denn hier gab es keine Nachbarn, aber dass es trotzdem nicht ganz zu sehen war, lag an den hohen Bäumen, die es umstanden. Es gab keinen normalen Weg, der hinführte. Wir gingen über die Wiese und schaufelten mit den Schuhen das erste Laub hoch, das bereits am Boden lag und eine braune Farbe angenommen hatte. Es roch nach Herbst, die Luft war klar, und als ich einen Blick über den See warf, da sah ich keinen Dunst mehr. Wir schritten von der Seite her auf den normalen Eingang zu. Über seine Familie hatte uns der Junge nichts verraten. Umso gespannter waren wir auf sie. Es war ein recht großes Haus. Stattlich. Mit großen Fenstern und mehreren Gauben. Die breite Eingangstür bestand aus Holz. Eine halbrunde Treppe mit drei Stufen musste überwunden werden, bevor der Besucher an die Tür gelangte. An der rechten Seite des Hauses war der Boden vom Gras befreit worden. Auf der grauen Erde standen drei Autos, für die ich mich nicht näher interessierte. Der Wind hatte bunte Blätter auf die Treppe gefegt. Auf einem Schild war der Name Monkford zu lesen, und der Junge wollte sich durch Läuten bemerkbar machen, als die Tür bereits geöffnet wurde. Eine Frau stand vor uns. »Hallo, Mutter.« Die Frau nickte nur. Sie trug ein hellrotes Kleid, dessen Farbe allerdings ein wenig blass wirkte. Das hellbraune Haar wurde von einem Reif gehalten. Sie hatte ein nettes Gesicht, in dem die großen blauen Augen auffielen. Die Frau schüttelte den Kopf. Dann fragte sie mit leiser Stimme: »Wen bringst du denn da mit, Jason?« Der Junge brauchte uns nicht vorzustellen. Das tat ich selbst. Dabei beobachtete ich die Frau, doch ich sah in ihrer Haltung keine Ablehnung, nachdem sie erfahren hatte, dass wir vom Yard waren. Sie reichte uns die Hand und stellte sich als Lilian Monkford vor. Ich fiel jetzt mit der Tür ins Haus und erklärte ihr, weshalb wir ihren Sohn begleitet hatten. Ein leichtes Erschrecken war bei ihr nicht zu übersehen, bevor sie fragte: »Sie wissen hoffentlich, worauf Sie sich eingelassen haben?« »Keine Sorge, Madam, wir sind informiert. Auch über Dinge, die es normalerweise nicht geben kann oder soll. Es ist unser Beruf, dem nachzugehen.« »Ja, das ist gut. Ich weiß nur nicht, was mein Mann dazu sagen wird. Und auch Zacharias.« »Wir werden ihn schon nicht stören.« Jetzt stand Jason uns bei. »Außerdem haben die beiden das Licht auf dem See gesehen. Indira hat sich gemeldet. Sie will den Kontakt, aber der muss noch stärker werden.« »Ich weiß.« Wenig später gab Lilian Monkford die Tür frei, und so konnten wir das Haus betreten. Wir
betraten eine große Diele, in der es trotz der recht breiten und hohen Fenster schon dunkel war. Es lag auch an den Bäumen draußen, die einiges an Licht schluckten. Mrs Monkford bat uns, zu warten. Sie verschwand durch eine dunkle Tür. »Jetzt sagt sie meinem Vater Bescheid«, erkläre Jason. »Und«, fragte ich, »wie wird er wohl reagieren?« »Keine Ahnung. Er hat ja mit Zacharias sprechen wollen. Mal sehen, was dabei herausgekommen ist.« »Klar. Du hast deine Schwester wohl sehr geliebt?« »Das kann man sagen, Mister Sinclair. Obwohl sie ein paar Jahre älter war, waren wir ein Herz und eine Seele. Aber dann wurde sie getötet.« »Da bist du dir sicher?« »Klar.« »Kann es nicht auch sein, dass sie Selbstmord verübt hat? Ich meine, es ist für dich eine schreckliche Vorstellung, aber rechnen muss man mit allem.« »Nein, nein!« Plötzlich war er zornig und trat mit dem Fuß auf. »Das hätte ich gewusst. Man hat sie getötet.« »Aber warum?« »Ich habe keine Ahnung.« Das musste ich ihm glauben. Aber ich würde die Fragen auch dem Vater stellen, vielleicht wusste er mehr. Wir hörten, dass im Hintergrund eine Tür geöffnet wurde. Dann klangen Schritte auf dem Holzboden, und durch den schwachen Schein der Wandleuchten bewegte sich sehr aufrecht ein Mann, der einen dunkelbraunen Anzug trug, dessen Haar zudem etwas schütter war, um dessen Mund aber der glatte Bart einen Kreis bildete. Er kam uns entgegen. In seinem Blick flackerte Misstrauen, als er sagte: »Die Polizei im Haus? Das hörte ich von meiner Frau. Wie komme ich zu der Ehre?« »Ich werde es Ihnen erklären«, sagte ich. »Moment. Sie gehören nicht zu den Leuten, die den Tod der beiden Männer aufklären wollen?« »So ist es.« »Was treibt Sie dann hierher?« Ich musste ihm die Wahrheit sagen, wollte es aber nicht so drastisch tun. Auch Suko mischte sich ein, als wir erklärten, dass wir von einer Sonderabteilung des Yards kamen, die sich um ungewöhnliche Falle kümmerte. Um den Mann noch mehr zu beruhigen, zeigten wir ihm unsere Ausweise. »Ja, gut.« Er räusperte sich. »Aber Sie wissen auch, was hier passiert ist und was wir vorhaben?« »Eine Séance«, sagte Suko. »Genau. Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen, aber ich sehe da einen Hoffnungsschimmer. Ich weiß, dass beim Tod meiner Tochter nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Dass es da noch ein Geheimnis gibt, das gelöst werden muss.« »Das denken wir auch«, erklärte Suko. »Ich weiß ja nicht, wann die Séance beginnt, aber wir würden uns gern noch ein wenig mit Ihnen unterhalten.« Er schaute uns an und ließ sich Zeit mit der Antwort, auch sein Sohn sprach für uns mit. »Ich würde da zustimmen, Dad. Die beiden Männer sind in Ordnung, das weiß ich.« »Ich bin Peter Monkford«, stellte er sich vor. »Und ich denke, dass Jason recht hat. Der Junge hat einen Blick für Menschen, das habe ich schon immer gesagt.« »Danke, dass Sie so reagieren, Mister Monkford«, sagte Suko. »Wo können wir uns unterhalten?« »Ach, in diesem Haus ist Platz genug. Kommen Sie mit in die Bibliothek. In dem anderen Zimmer werden Vorbereitungen getroffen.«
»Dieser Zacharias?« Monkford blieb stehen und schaute Suko an. »Ach, hat mein Sohn auch über ihn gesprochen?« »Er hat ihn erwähnt.« »Und wie stehen Sie dazu?« »Wir werden uns überraschen lassen, denn wir sind nach allen Seiten hin offen.« Monkford schüttelte den Kopf. »Ich finde es schon seltsam, dass ich zwei völlig fremden Menschen vertraue. Das ist mir noch nie zuvor passiert.« »Sie begehen damit keinen Fehler«, sagte ich. »Das will ich hoffen.« Wir gingen an der Treppe vorbei. Auf halber Höhe sahen wir Lilian Monkford stehen. Sie stand dort wie eine Statue und sagte zudem kein einziges Wort. Auch mir war nicht nach Reden zumute, ich fragte mich nur, was uns in diesem Haus noch alles erwartete...
*** Die beiden Männer hatten den Wagen angehalten, wo noch die Straße entlanglief und einen halben Meter weiter das Gelände begann. Sie brauchten keine Angst zu haben, schnell entdeckt zu werden, denn eine hohe Buschwand gab ihnen Schutz. Einer der Männer war ausgestiegen und hatte sein Fernglas mitgenommen. Er beobachtete das Haus am See, dessen Fassade teilweise hinter den Bäumen verschwand. Der zweite Mann saß im Wagen. Er trank aus einer schmalen Kanne warmen Kaffee und schaute ebenfalls nach vorn. Seelenruhig wartete er auf seinen Kumpan. Er hieß Eric Green. Jedenfalls trug er den Namen seit zwei Jahren. Der Mann draußen hörte auf Spiro Atkins, aber auch das war nicht sein richtiger Name. Sie waren diejenigen, die man kaum zu Gesicht bekam. Nur ihre Taten fielen auf, denn als Profikiller hinterließen sie immer Leichen. Nach einer geraumen Weile kehrte Spiro Atkins zurück und kletterte auf den Beifahrersitz. Sein Gesicht sah nicht so aus, als würde er sich freuen. »Und?« Atkins wusste nicht, ob er grinsen sollte. Seine Lippen zuckten nur. Den Blick hielt er weiterhin nach vorn gerichtet. »Es gefällt mir nicht. Da gibt es etwas, womit wir nicht gerechnet haben.« »Ach ja?« Spiro nickte. »Zwei Männer haben mit dem Jungen gesprochen. Sie standen dabei am Seeufer. Jetzt sind sie zu dritt im Haus verschwunden.« Eric Green nahm die Antwort hin. Er wollte nur wissen, ob sein Kumpan einen der Männer erkannt hatte. »Nein, das habe ich nicht.« Er schwächte seine Aussage ab. »Es ist auch möglich, dass ich zu weit entfernt war. Das Glas ist nicht das allerbeste.« »Es ist trotzdem nicht gut.« Spiro nickte. »Das weiß ich. Wir haben zwei Gegner mehr.« Green seufzte. »Die wir ausschalten müssen.« Er schaute auf seine Hände. »Das stand nicht zur Debatte. Wenn sie mit den anderen befreundet sind, könnten sie durchaus eingeweiht sein. Man wird über den Tod der Tochter reden. Man wird sich nicht mit ihrem Verschwinden zufriedengeben.« Die Augen des Mannes verengten sich, als er nachdachte. »Möglicherweise gehören die beiden zu einem Hilfstrupp, den die Familie engagiert hat.« »Bullen?« »Private.« Spiro Atkins dachte nach. »Das kann sein. Private Schnüffler. Ich denke aber, dass wir besser sind. Die Mitglieder der Familie sollen sterben. Unsere Auftraggeber gehen davon aus, dass sie
zu viel wissen. Da geht man lieber auf Nummer sicher. Würde ich auch an deren Stelle.« Green fragte. »Sollen wir uns erst noch das Okay holen?« »Nein, wir ziehen es durch. Wir legen sie alle um.« Er warf einen Blick auf den Rücksitz. Unter einer Decke verborgen lagen die Waffen. Genügend Munition war auch vorhanden. Jetzt ging es nur noch darum, wann sie angreifen sollten. »Lange bleibt es nicht mehr hell«, meinte Atkins. »Wir schleichen uns in der letzten Dämmerung heran. Ich glaube nicht, dass die Monkfords Wachen aufgestellt haben.« »Davon gehe ich auch aus.« Es war alles gesagt worden. Die Männer warteten in ihrem Fahrzeug. Nervös waren sie sich. Sie waren einfach zu abgebrüht. Zu lange übten sie den Job bereits aus. So leicht brachte sie nichts aus der Ruhe. Die Familie musste sterben. Daran ging kein anderer Weg vorbei. Man hatte ihnen auch gesagt, dass zwei ihrer Vorgänger ihr Leben verloren hatten. Sie waren auf eine ungewöhnliche Art und Weise umgekommen. Nicht erschossen, nicht erschlagen, sondern erfroren. Um sich das vorzustellen, brauchte man schon jede Menge Fantasie. Dass vor ihnen ein mehrfacher Mord lag, das kümmerte sie nicht. Sie waren zwar nach außen hin Menschen, tatsächlich aber gefühllose Roboter, die kein Mitleid mit anderen Menschen kannten. Sie sahen nur ihren Vorteil. Dafür gingen sie über Leichen. Spiro Atkins schloss die Augen. Er war der Mann mit dem Dutzendgesicht. Einer, der nie auffiel, der von Zeugen kaum beschrieben werden konnte. Genau der richtige Mann für den Killerjob. Und beiden machte es nichts aus, wen sie töteten. Für sie war einzig und allein wichtig, dass die Kasse stimmte...
*** Peter Monkford führte uns in die Bibliothek. Seine Frau und sein Sohn blieben zurück. Er wollte mit uns allein sprechen. Wir erreichten einen recht großen Raum, in dem sofort die hohe Holzdecke auffiel und natürlich die mit Büchern gefüllten Regale, die bis an die Decke reichten. In der Mitte hing eine Lampe, die schon als kleiner Kronleuchter bezeichnet werden konnte. Der allerdings gab kein Licht ab. Für Helligkeit sorgten Wandleuchten, und mir fiel auf, dass es sogar Spotlights gab, die auf bestimmte Stellen gerichtet waren. Das weiche Licht reichte aus, um sich orientieren zu können. Ein Teppich dämpfte unsere Schritte. Wir gingen vorbei an einem großen Holzschreibtisch, der aufgeräumt aussah. Auf ihm stand kein modernes Gerät. Dafür war ein zweiter, kleinerer Schreibtisch vorhanden, aber auch ihn passierten wir, denn unser Ziel war eine Sitzgruppe, die aus vier schweren Ledersesseln bestand. »Bitte, setzen Sie sich.« Wir taten es, bekamen Wasser serviert, und dann ließ sich auch der Hausherr nieder. Er begann auch die Unterhaltung, indem er sagte: »Es geht um meine Tochter, denke ich.« »Ja.« Ich nickte ihm zu. »Mein Kollege und ich wollen herausfinden, weshalb sie verschwunden ist und auch warum man zwei Tote im See gefunden hat.« »Das bereitet auch mir Sorgen. Ich weiß es nicht, meine Herren. Ich weiß auch nicht, wo sich meine Tochter befindet. Man hat sie nicht gefunden, obwohl der See durchsucht wurde. Und wenn Sie eine zweite Suche einleiten wollen, ich habe nichts dagegen.« »Das kann ich mir denken«, stimmte ich zu, »aber wir forschen in eine ganz andere Richtung.« »Aha. In welche?« »Wir fragen uns, welchen Zusammenhang es zwischen Ihrer Tochter und den beiden angeschwemmten Leichen gibt. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht?« Das Gesicht des Mannes verschloss sich. »Ich habe über vieles nachgedacht und keine
Erklärung gefunden, aber ich gehe davon aus, dass meine Tochter nicht mehr am Leben ist, sich aber trotzdem in einer besonderen Situation befindet, und deshalb haben wir das Medium engagiert, um durch es einen Kontakt mit Indira aufzunehmen. Sie soll gezwungen werden, sich zu melden. Und wenn das eintritt und sie ihre Aussagen macht, sehen wir weiter.« »Und Sie glauben daran, dass es klappt?«, fragte Suko. »Ja, daran glaube ich. Ich habe es zwar noch nicht probiert, aber ich habe darüber gelesen und ich kann mich dabei auf meine Mitstreiter verlassen, besonders auf meinen Sohn Jason. Er ist davon überzeugt, dass wir den Kontakt schaffen.« »Und woher stammt seine Überzeugung?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er glaubt einfach daran. Er und seine Schwester haben sich immer gut verstanden. Sie haben zusammengehalten wie Pech und Schwefel. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass es zwischen ihnen noch ein Band gibt. Und ich weiß, dass der nahe See darin eine wichtige Rolle spielt. Indira ist oft an sein Ufer gegangen und hat lange über das Wasser geschaut. Sie war immer ganz versunken in diesen Anblick. Man hätte meinen können, dass sie einen Kontakt mit irgendwelchen Wassergeistern gesucht hat. Aber das war es nicht.« »Was war es dann?«, fragte ich leise. Peter Monkford beugte sich vor. »Ich wage kaum, es auszusprechen, denn es ist beinahe lächerlich. Aber das wiederum trifft auch nicht zu, wenn man näher darüber nachdenkt. Es geht um Engel, meine Herren, ob Sie es glauben oder nicht.« Wir schauten ihn nicht mal überrascht an, was ihn schon wunderte, er aber nichts sagte. Er hörte nur Sukos Frage, der wissen wollte, wie man sich das genau vorzustellen hatte. »Ach Gott, da sagen Sie was. Ich habe wenig mit ihr über das Thema gesprochen. Aber wenn wir redeten, dann hat sie immer gesagt, dass sie nach ihrem Tod zu einem Engel werden würde, und zwar zu einem besonderen. Und so hat sie nicht mal zu große Angst vor einem Ableben gehabt.« »Gab es Gründe, weshalb sie zu den Engeln tendierte?« »Keine Ahnung. Sie war einfach nur vor ihnen begeistert. Ich glaubte nur nicht, dass irgendwelche Engel für ihren Tod gesorgt haben. Das waren andere Kräfte.« »Wer und warum?« »Ich weiß es nicht. Indira war ein seltsamer Mensch. Sie hat immer ihr eigenes Leben geführt. Aber sie hat sich zu viel vorgenommen, und jetzt ist sie tot. Nur habe ich den Eindruck, dass sie trotzdem auf irgendeine Art und Weise noch immer unter oder zwischen uns ist.« »Wie kommen Sie darauf?« »Das ist meine Wahrnehmung, Mister Sinclair, ich glaube, dass sie noch Kontakt mit uns hält. Mehr mit Jason.« »Das kann ich bestätigen«, sagte ich. »Wir haben ja mit ihm gesprochen. Dabei hat er sich ähnlich geäußert.« »Sehen Sie.« Ich wunderte mich drüber, wie cool der Vater den Tod seiner Tochter verarbeitete. Da musste man innerlich schon sehr gefestigt sein oder sich auch schon häufiger gedanklich mit dem Ende und seinen Begleitumständen beschäftigt haben. Mich aber interessierten andere Dinge. Ich wollte das Motiv wissen, weshalb dieses junge Leben ausgelöscht worden war. Das war mir bisher nicht genannt worden. Ich fragte Peter Monkford direkt. »Wer hätte Ihre Tochter töten sollen? Wer hätte Interesse daran gehabt?« Er musste nicht lange nachdenken, um eine Antwort zu geben. »Das weiß ich nicht. Da kann ich mir auch nichts vorstellen. Das ist mir ebenso fremd wie ein Suizid. Ich meine, wenn sie ihr eigenes Leben vernichten will...« Suko wusste, was ich weiterhin fragen wollte. Er kam mir zuvor. »Haben Sie denn nichts
bemerkt? Hat sich Ihre Tochter in der letzten Zeit verändert? Ist sie bedroht worden? Hat sie Anzeichen von Angst gezeigt?« Monkford wischte über seine Stirn. »Es ist schwer, darauf eine Antwort zu geben. Da müssten Sie meine Frau fragen oder meinen Sohn. Sie hatten einen besseren Kontakt zu Indira, aber verändert hatte sie sich schon. Das fällt mir jetzt ein. So weiß ich, dass sie mit mir mal über die Grausamkeiten der Menschen gesprochen hat. Dass es Menschen gibt, die anderen Menschen gegenüber keine Gnade kennen und sie einfach töten. Darüber haben wir gesprochen.« »Und weiter?« Er schaute mich an. »Ich kann Ihnen nicht viel dazu sagen. Nicht nur Indira war geschockt, ich war es ebenfalls, denn ich bin es nicht gewöhnt gewesen, mit ihr über ein derartiges Thema zu sprechen. Aber sie hat es immer wieder angeschnitten. Selbst bei den gemeinsamen Mahlzeiten.« »Sie haben nicht nachgehakt?« Monkford verzog die Lippen. »Ja, das habe ich versucht. Aber meine Frau wollte es nicht. Sie mochte das Thema nicht. Sie war geschockt, denn Indira sprach entweder von den Engeln oder von bösen Menschen, den Mördern.« »Wie ist sie darauf gekommen?« »Das weiß ich nicht. Indira kam mir manchmal vor, als hätte sie sich der Welt entfremdet. Sie ging auch keinem Beruf nach. Sie wohnte hier, war da, aber nur vorhanden, denn sie war stets in Gedanken versunken. Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass sie etwas erlebt oder herausgefunden hat, das sie so veränderte. Und sie war davon überzeugt, nach ihrem Ableben zu einem Engel zu werden. Das konnte man ihr nicht ausreden. Das war ihre feste Überzeugung.« »Gut, dann wissen wir ja etwas mehr.« Monkford hob die rechte Hand. »Über die beiden Toten kann ich Ihnen nichts sagen. Es gibt zahlreiche Theorien, die auch von Ihren Kollegen aufgestellt wurden. Auch sie zogen Verbindungen vom Verschwinden meiner Tochter zu diesen beiden gefundenen Leichen. Aber einen Zusammenhang haben wir nicht herausfinden können. Da muss ich passen.« »Aber Sie wollen wissen, was mit Indira geschah«, sagte Suko. »Das versteht sich. Ich bin schließlich ihr Vater.« »Und deshalb heute diese Séance?« Peter Monkford verzog das Gesicht. Er winkte ab. »Ja, ich habe zugestimmt. Es war eine Idee meiner Frau, denn sie leidet stark unter Indiras Verschwinden. Sie hat diesen Zacharias aufgetrieben. Fragen Sie mich nicht, wie sie das geschafft hat. Jedenfalls ist der Typ hier. In einem der Nebenzimmer trifft er seine Vorbereitungen.« »Dürfen wir die Séance miterleben?« »Klar, Mister Sinclair. Ich habe nichts dagegen. Ich weiß nur nicht, ob dieser Zacharias begeistert sein wird. Aber er muss es wohl akzeptieren. Er wird schließlich von uns bezahlt.« Der Mann schaute auf seine Uhr. »In ein paar Minuten geht es los.« »Danke.« Ich nickte dem Mann zu. »Das wird uns möglicherweise helfen.« Von der Tür her hörten wir das Klopfen. Wenig später eine leise Frauenstimme. »Könnt ihr bitte kommen?« »Klar, Lilian.« Peter Monkford stand auf. Auch wir blieben nicht mehr sitzen. Nebeneinander gingen wir auf die Tür zu. Sie stand noch offen. Auf der Schwelle wartete Lilian Monkford. Sie wirkte nicht locker, sondern angespannt. Ihre Lippen zuckten, ohne dass sie etwas sagte. Peter Monkford legte einen Arm um ihre Schultern. »Wie weit ist Zacharias? Hast du mit ihm gesprochen?« »Ja, wir können kommen.« »Jetzt sofort?« »Das ist ihm wohl egal.« »Okay.« Monkford schaute uns an. »Sind Sie bereit, meine Herren?« Suko sprach für mich mit. »Sicher sind wir das.«
Die beiden Monkfords gingen vor. Lilian hatte sich bei ihrem Mann eingehakt. So gingen sie vor uns her. Sie sprachen nicht und wanderten wie ein Schattenpaar durch den düsteren Flur, an dem die wenigen Wandleuchten nur schwaches Licht abgaben. Dann sahen wir eine Bewegung in diesem rötlich-gelben Schein. Aus einer Nische trat eine Gestalt und stellte sich uns in den Weg. Es war Jason Monkford, der uns aus großen Augen anblickte. Er sah alles andere als glücklich aus. »Was hat denn mein Vater gesagt?«, wollte er wissen. Ich nickte ihm beruhigend zu. »Wir sind gut mit deinem Dad zurechtgekommen.« »War er nicht gegen Sie?« »Nein.« »Hatte er denn eine Erklärung?« »Auch nicht«, erwiderte Suko. »Wie denn?« »Ja, das ist schwer, wenn man nicht bestimmte Wege geht, so wie meine Schwester. Ich kann das beurteilen, denn ich habe oft genug mit ihr darüber gesprochen. Und jetzt ist sie tot, aber nicht richtig. Sie ist ein Engel.« Wir erwiderten nichts darauf, weil wir alles auf uns zukommen lassen wollten. Aus der Entfernung hörten wir Lilian Monkfords Stimme. »Kommt ihr, bitte?« »Ja, Ma, wir sind unterwegs.« Ich hielt den Jungen fest. »Moment noch, Jason. Ihr habt Besuch von diesem Zacharias bekommen. Kennst du den Mann?« Er senkte den Blick. So leicht fiel ihm die Antwort wohl nicht. »Ich habe ihn nicht geholt, das ist meine Mutter gewesen. Woher sie ihn kennt, weiß ich nicht.« »Du hast ihn aber schon gesehen?« »Das stimmt.« »Und wie findest du ihn?« Er winkte ab, schüttelte den Kopf. Das war seine Antwort. Dann ging er weg. »Dieser Zacharias scheint nicht Jasons Freund zu sein«, bemerkte Suko. »Das meine ich auch.« »Dann bin ich mal gespannt, was uns in den nächsten Minuten erwartet...«
*** Wir waren die Letzten, die das Zimmer betraten. Nein, eigentlich taten wir das nicht. Auf der Türschwelle blieben wir stehen, um einen Blick in den von seinen Möbeln befreiten Raum zu werfen. Er musste leer sein, weil Platz gebraucht wurde. Die drei Monkfords hatten sich nahe der Wand aufgestellt. Sie schauten nicht zur Tür, sondern sahen den Mann an, der sich ihnen gegenüber aufgebaut hatte. Das war der große Zacharias! Ob er es nötig hatte, seine Klienten zu beeindrucken, das wusste ich nicht. Doch sein Outfit ließ darauf schließen. Er trug eine taillierte grüne Jacke, eine sehr enge Hose, beinahe schon Leggings, und hatte seine dunklen Haare streng nach hinten gekämmt. Sie wuchsen bis in den Nacken hinein. Sein Gesicht sahen wir im Moment von der Seite und zumindest ich kam zu dem Schluss, dass er hochnäsig oder arrogant wirkte. Die leicht gekrümmte Nase, die hochgezogenen Brauen, der arrogante Zug um seine Mundwinkel. Hinzu kamen seine Bewegungen. Er hatte uns noch nicht gesehen, schien uns aber gehört zu haben, denn er drehte sich langsam um und stoppte seine Bewegung erst, als er uns sah. Wir wichen seinem Blick nicht aus. Seine dunklen Augen wirkten in den Pupillen leblos. Man konnte den Eindruck haben, dass sie künstlich waren. Er sagte kein Wort, nur in Höhe seiner Mundwinkel zuckte es einige Male.
Peter Monkford sah sich genötigt, das Wort zu übernehmen. Er sprach mit leiser Stimme. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass wir Besuch erhalten haben. Das sind John Sinclair und Suko. Bekannte von uns, die sich sehr interessiert zeigen. Sie werden also bei der Beschwörung dabei sein.« Zacharias nickte. »Ja, das habe ich gesehen. Ich will noch mal betonen, dass es nicht abgesprochen war.« »Die Dinge haben sich eben geändert.« Zacharias schien uns erst jetzt richtig wahrzunehmen. Er schaute uns an. Es war kein normales Schauen. Mir kam es vor, als würden wir Stück für Stück abgetastet werden, regelrecht seziert, und der scharfe Blick schien sogar bis in unsere Seele dringen zu wollen. Wir hielten dem Blick stand. Ich spürte, dass wir keine Freunde werden würden. Der Mann sagte zwar nichts, aber das war auch nicht nötig. Zwischen uns gab es keine Gemeinsamkeiten. »Ja, Sie können bleiben.« Ich verkniff mir eine Antwort. Dafür schloss Suko die Tür, und jetzt schauten wir uns im Zimmer um, das schon recht geräumig war. Platzangst mussten wir nicht haben. Wichtig war die Zeichnung auf dem Holzboden. Von der Lampendecke her fiel das Licht wie ein heller Fächer auf sie. Und zwar auf einen großen Kreis, in den zwei ineinander verschlungene Dreiecke gezeichnet worden waren, ein Druidenstern. An den Rändern des Kreises entdeckten wir Symbole, die aus verschiedenen Mythen stammten. Mir war es egal. Wenn dieser Zacharias die Symbole brauchte, war das einzig und allein seine Sache. Die Familie stand zusammen. Wir hatten unseren Platz ihr gegenüber eingenommen, und zwischen uns hielt sich das Medium auf, das jetzt darum bat, das Licht zu dämpfen. Die Aufgabe übernahm Suko, denn er stand dem Schalter am nächsten. Das Licht wurde nicht völlig ausgeschaltet. Er dimmte es. Jetzt erreichte nur noch ein schwacher Schein den Boden, aber der helle Kreis war deutlich zu sehen. Zacharias schaute noch mal in die Runde, dann nickte er und begann mit seiner Beschwörung. Er wollte die Verbindung zwischen dem Jenseits und dem Diesseits herstellen. Da sollte ein Pakt geschlossen werden, und Zacharias begann mit leiser und monoton klingender Stimme zu sprechen. Ich spitzte meine Ohren, um zu hören, was er sagte. Es war nicht möglich. Er redete in einer Sprache, die mir fremd war. Sie konnte irgendwo im Orient ihren Ursprung haben, aber sicher war ich mir da nicht. Es spielte auch keine Rolle, wichtig war einzig und allein der Erfolg. Keiner von uns Zuschauern tat oder sagte etwas. Wir verhielten uns so, als hätten wir zuvor Regeln aufgestellt und versprochen, uns daran zu halten. Selbst unsere Atemgeräusche hatten wir reduziert. Ich schaute nicht auf den Mann, sondern auf den magischen Kreis auf dem Boden. Wenn etwas geschah und die beiden Seiten zusammentrafen, dann musste es zu der Entladung kommen. Ich wollte zwar nicht von großen Erfahrungen bei mir sprechen, aber einige dieser Séancen hatte ich schon mitgemacht. Sie verliefen irgendwie immer gleich und waren trotzdem jedes Mal anders, wobei sie mit einer Überraschung endeten, wie ich hoffte. So wenig sympathisch mir der Mann war, ich musste zugeben, dass er mit dem Klang seiner Stimme schon Menschen in seinen Bann ziehen konnte. Auch wenn er flüsterte, verlor sie ihr besonderes Timbre nicht. Er blieb auch nicht auf dem Fleck stehen. Manchmal beugte er sich vor, dann wieder ging er einen Schritt zurück und hob die Arme an, als wollte er eine Beschwörung durchführen. Was passierte? Konnte überhaupt etwas passieren? Im Moment sah ich nichts. Der Kreis blieb, wie er war. Es gab keine Veränderung, und auch außerhalb des Kreises war nichts zu entdecken. Ich spürte nichts Fremdes und Gefährliches in meiner Nähe. Aber ich wusste auch, dass die Normalität immer mehr abgelöst wurde. Die Luft veränderte sich. Ich hatte den Eindruck, dass sie schwerer zu atmen war, und wollte sehen, ob es
den anderen Zuschauern auch so erging. Ich warf einen Blick über den Kreis hinweg auf die andere Seite, wo die Familie beisammen stand. Den Jungen hatten sie in die Mitte genommen. Alle drei nahmen keine normale Haltung ein. Sie standen wie auf dem Sprung und sahen aus, als wollten sie jeden Moment in den Kreis hineinlaufen. Ihre Gesichter wirkten wie Masken, es bewegte sich nichts darin. Ich hörte die Stimme des Mediums. Sie war wirklich etwas Besonderes. Wer sich konzentrierte, der konnte der Stimme verfallen. Ähnlich wie die eines Hypnotiseurs nahmen sie und die finsteren Worte, die aus der Kehle des Mediums drangen, die Zuhörer gefangen. Noch war nichts Sichtbares geschehen. Nur die Atmosphäre hatte sich verdichtet. Ich ging davon aus, dass etwas unterwegs war, das wir bald zu Gesicht bekommen würden. So kam es auch. Es fing mit dem Licht an, das plötzlich flackerte. Niemand von uns war daran beteiligt, es war eine andere Kraft, die dafür sorgte. Und dann war es dunkel! Schlagartig erwischte uns die Finsternis. Da die beiden Fenster verhängt waren, sickerte auch von draußen nichts durch. Wir standen in der Schwärze, hörten diesen Zacharias sprechen – und erlebten ein Phänomen. Es wurde wieder hell! Nur strahlte das Licht nicht mehr von der Decke. Es hatte eine andere Quelle, die dafür sorgte, dass sich zumindest meine Augen weiteten. Das Licht drang aus dem Boden. Und dort aus der Zeichnung, die auf den Bohlen aufgemalt worden war. Ein helles Strahlen richtete sich in die Höhe und tupfte gegen die Decke. Lilian Monkford gab einen leisen Ruf von sich, bevor sie sich gegen ihren Mann drängte. Suko und ich blieben stehen, wo wir standen. Ich warf einen Blick über den Kreis hinweg und konzentrierte mich auf Jason. Auch seine Augen waren groß geworden. Er starrte auf den magischen Kreis. Er wusste, dass dieses Licht nicht normal war, und er bewegte seine Lippen, ohne dass ich etwas hörte. Ich war mir allerdings sicher, dass er den Namen seiner Schwester flüsterte. Urplötzlich verstummte die Stimme des Mediums. Zacharias bewegte sich nicht mehr. Seine Arme sackten nach unten, und für einen Moment stand er da wie ein Zinnsoldat. Dass die Beschwörung nicht beendet war, lag auf der Hand. Ich war gespannt, was noch passieren würde, und spürte, wie sich mein Magen leicht verkrampfte. Ich dachte zudem an mein Kreuz und daran, dass es sich möglicherweise bemerkbar machen würde, was aber nicht eintrat. Nicht der geringste Wärmestoß glitt über meine Haut. Zacharias stand dicht vor dem Kreis. Warum er wartete, wusste ich nicht. Kurze Zeit später hörten wie seine Stimme. Er musste wohl den letzten Rest des Wegs gehen, um das zu erfüllen, was er sich vorgenommen hatte. Er sprach erneut. Nur diesmal verstanden wir seine Worte. »Du bist da, Indira. Ich spüre dich, ich habe bereits Kontakt mit dir aufgenommen. Du bist nicht nur da, du bist auch sehr nahe. Ich weiß deshalb, dass du dich auch zeigen willst. Und ich sage dir, dass wir darauf warten. Zeige dich! Kläre uns auf, was mit dir geschehen ist. Was hat man dir angetan?« Es war nicht zu sehen oder zu hören, ob er eine Antwort erhielt. Wenn ja, dann galt sie ihm allein, wir waren nicht mit einbezogen worden. Das änderte sich kurze Zeit später. Und wieder war der magische Kreis der Mittelpunkt. Das Licht darin fing an zu zucken. Es wurde dabei noch heller und breitete sich bis dicht an den Rand aus. »Ja, du bist unterwegs!«, rief Zacharias. »Ich spüre dich. Du bist sehr, sehr nahe gekommen...« Er war ein sensibler Mensch. Und er hatte sich nicht geirrt, denn wir bekamen etwas zu sehen, das uns schon zum Staunen brachte. Es war wieder das Licht, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zog, denn jetzt verdichtete es sich.
Es gab wohl keinen, der nicht den Atem anhielt. Das Licht ballte sich zusammen, und dann nahm es Formen an. Sie reichten von einem Rand des Kreises bis zum anderen, und genau diese Form ähnelte dem Körper eines Menschen. Noch sahen wir nur das Licht. Aber der Mensch, der sich möglicherweise dahinter verbarg, war nicht zu übersehen. Oder aber auch ein Geistwesen? Zacharias übernahm wieder das Wort. Er sprach die Person jetzt direkt an. »Du bist da, Indira, du bist da. Jetzt wollen wir dich sehen. Hier gibt es Menschen, die dir nahestehen und dich lieben. Sag uns, woher du kommst! Was hast du im Jenseits erlebt?« Ich musste mir gegenüber zugeben, dass auch mich dieser Spannungsbogen erfasst hatte. Dabei hatte ich schon darüber nachgedacht, den Kreis zu betreten, was ich noch ließ. Und plötzlich war die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits überwunden. Oder die zwischen der Engel- und der Menschenwelt. Das Licht verdichtete sich nicht mehr, es veränderte sich. Es entstand etwas Neues. Eine nackte Gestalt. Eine Frau. Und es war Jason Monkford, der den Namen rief. »Indira...«
*** Ja, es war Indira, die Tote, die jetzt nicht mehr so tot aussah. Sie war nackt, sie wirkte wie eine Puppe, jeder konnte einen Blick auf ihren wunderbaren Körper werfen, der wie ein Kunstwerk wirkte. Den Kopf hatte sie zur Seite gedreht. Ihr Mund stand offen. Die Augen waren halb geschlossen. Sie atmete nicht, denn sie brauchte nicht zu atmen. Sie war tot. Oder nicht? Ich war mir nicht sicher. Als ich Suko anschaute, erkannte ich, dass es ihm nicht anders erging. Sein Blick war entsprechend. Aber was war diese Frau wirklich? Eine Tote oder ein Engel? Ich erinnerte mich daran, dass Jason Monkford sie als Engel bezeichnet hatte. Er war davon überzeugt gewesen, in ihr einen Engel zu sehen, und auch Suko und ich hatten das Phänomen bemerkt, als wir am Ufer des Sees gestanden hatten. Und jetzt? Keiner tat etwas. Die Zuschauer standen unter Schock. Das Ehepaar Monkford sah aus, als wollte es zurückweichen, aber da war nur die Wand. Keiner konnte seinen Blick abwenden, bis auf Zacharias, das Medium. Der Mann stand nicht mehr. Er war bis zur Wand gegangen und hatte sich dort auf den Boden gesetzt, um sich Ruhe zu gönnen. Die Beschwörung musste ihn große Kraft gekostet haben. Jason Monkford wusste nicht, wie er sich zu verhalten hatte. Er schien in einer Startposition eingefroren zu sein. Er ging nicht auf den Kreis zu. Etwas hielt ihn davon ab. Ich kannte diese Skrupel nicht. Bevor ich ging, nickte ich Suko kurz zu. »Okay, versuche es!«, flüsterte er. Niemand hielt mich davon ab. Ich sah nur, dass es in den Gesichtern der Familie zuckte, und rechnete damit, einen Protest zu hören, was jedoch nicht geschah. Aber ich bereitete mich auch vor. Das Kreuz wollte ich nicht mehr vor meiner Brust lassen. Ich holte es heraus und steckte es zunächst in die Tasche. Noch befand ich mich außerhalb des magischen Kreises, mit dem nächsten Schritt aber war das vorbei. Jetzt stand ich innen. Die nackte Indira lag direkt vor meinen Füßen. Ich musste mich nur bücken, um sie anfassen zu
können, aber davon hielt mich etwas ab. Das war nicht sie, es war etwas, das sich in der Umgebung manifestiert hatte. Innerhalb des Kreises gab es Strömungen, die auch an mir nicht vorbeigingen. Ich kam mir schon ein wenig von der normalen Welt entfernt vor, und das wollte ich genauer wissen. Ich drehte mich um, weil ich einen Blick außerhalb des Kreises werfen wollte. Sie waren alle noch da. Aber ich sah sie nicht mehr so klar, sondern wie durch einen Schleier. Das war kaum zu fassen, und ich hatte dafür auch keine Erklärung, aber ich bildete mir auch nichts ein. Die Klarheit der Sicht gab es nicht mehr. Wenn ich näher darüber nachdachte, befand ich mich in einer Zone zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, wo ich eigentlich nicht hingehörte. Es lag die Tote vor mir. Noch immer hatte ich sie nicht berührt, obwohl es so einfach war. Der Körper mit der hellen Haut lockte förmlich, aber ich hielt mich noch zurück. Ich hörte die Stimme des Jungen. Was er genau sagte, verstand ich nicht. Nur das Wort Engel kam mehrmals vor. War Indira wirklich zu einem Engel geworden? Hatte sie die Verbindung mit der anderen Welt tatsächlich geschafft? Es wäre ein Phänomen gewesen, und ich wollte es genau wissen und bückte mich. Dabei streckte ich meine Hand aus. Sie war leer, denn das Kreuz wollte ich als letzten Trumpf noch stecken lassen. Ich legte die Hand auf den Bauch der ungewöhnlichen Toten. Wäre sie ein Geist gewesen, ich hätte keinen Widerstand gespürt. Aber das war sie nicht. Ich erlebte einen Widerstand, aber schon Sekunden später drehten sich meine Gedanken in eine ganz andere Richtung. Es war wirklich mehr als seltsam, denn ich hatte nicht das Gefühl, eine normale Haut zu spüren. Die hier war anders. Die Haut war nicht kühl, sondern völlig neutral. Das verkraftete ich schnell. Mein nächster Blick galt dem Gesicht. Ich wollte herausfinden, ob diese Person etwas von meiner Berührung mitbekommen hatte. Nein, das hatte sie nicht. Im Gesicht war keine Veränderung zu sehen. Es blieb so starr. Allmählich wurde ich unsicher. Ich nahm die Hand wieder zurück und merkte, dass sich auf meiner Stirn ein Schweißfilm gebildet hatte. Gab es eine Erklärung? Es musste eine geben, die mir leider nicht einfiel. Ich hatte schon oft mit Engeln zu tun gehabt. Ich kannte sie als körperlich und auch als Geistwesen. Ich hatte sie auch angefasst, doch nie das Gefühl gehabt wie hier. Ich wusste nicht, woraus Indiras Körper bestand. Noch hatte ich mein Kreuz nicht eingesetzt. Mir war klar, dass ich ein Risiko einging, wenn ich es tat, doch ich wollte alle Möglichkeiten ausschöpfen. Die Stimme des Jungen hielt mich zurück. »Was haben Sie denn jetzt vor? Sie dürfen ihr nichts tun.« »Das will ich auch nicht.« »Dann gehen Sie doch weg!« »Das werde ich auch, Jason. Aber willst du nicht auch wissen, wer sie wirklich ist? Ob es sich bei ihr um einen Engel handelt? Oder ist dir das nicht mehr wichtig?« »Doch, schon, das ist mir wichtig. Sehr wichtig sogar. Aber ich habe auch Angst um sie.« Ich schaute ihn an. Noch immer sah ich ihn leicht verschwommen. »Ist es dir denn gelungen, Kontakt mit ihr aufzunehmen?« »Nein, nicht hier«, antwortete er in einem jämmerlichen Tonfall. »Genau das müssen wir ändern. Wir müssen sie aus der Reserve locken. Deshalb werde ich sie jetzt testen.« Nach diesem Satz holte ich das Kreuz hervor und hielt es so, dass die Zuschauer es auch sahen. Es war ein Symbol, das keine Angst hervorrufen konnte, wenn man auf der richtigen Seite stand. Und dass Indira dazu gehörte, daran glaube ich fest.
Das Kreuz schwebte über ihrem nackten Körper. Ich wollte es nicht einfach auf sie fallen lassen, sondern damit etwas erreichen. Mein Wunsch war es, den direkten Kontakt zwischen uns herzustellen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es klappen würde. Dann lag das Kreuz auf der Haut. Es war der Moment, den ich mit Spannung erwartet hatte, und hoffte auf eine Reaktion. Ich wurde nicht enttäuscht. Es tat sich etwas. Allerdings anders, als ich es erwartet hatte, denn plötzlich hatte ich das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben...
*** Es war nicht zu fassen, aber der Körper, der so starr und tot vor mir gelegen hatte, fing an, sich aufzulösen. Es war auch für mich ein Phänomen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Daran trug einzig und allein das Kreuz die Schuld. Genau dort, wo es den Körper berührte, begann die Auflösung. Die seltsame Haut weichte nicht nur auf, sie verschwand. Es gab plötzlich keinen Widerstand mehr, dafür aber Schlieren, die sich bis zum Kopf hin zogen. Es sah aus, als wäre ein anderes Material entstanden. Das wollte ich nicht glauben. Der Stoff musste der gleiche sein, er war nur nicht mehr fest und hatte seinen Zustand verändert. Er war gasförmig geworden, obwohl das auch nicht so recht stimmte, denn er war zugleich sichtbar, und jetzt sprang mich der Gedanke förmlich an. Ektoplasma! Genau das musste es sein. Nur hatte sich der Körper nicht in Ektoplasma aufgelöst, er war es schon zuvor gewesen, nur eben in einem festen Zustand. Das hatte ich noch nie erlebt, und ob es sich bei der Person um einen Engel handelte, musste ich einfach infrage stellen. So richtig glaubte ich nicht daran. Erleichtert fühlte ich mich nicht. Es war alles anders geworden. Ich hatte plötzlich den Eindruck, überlistet worden zu sein, wobei ich keine Einzelheiten wusste und dem Phänomen im Kreis stehend einfach nur nachschaute. Noch schwebte das Ektoplasma durch die Luft, aber es war schon dabei, sich aufzulösen wie Nebel in der Sonne. Denn plötzlich war es verschwunden. Ich wusste nicht, ob diese Aktion eine Niederlage oder ein Sieg gewesen war. Wie dem auch sei, ich würde es erst später feststellen. Langsam drehte ich mich und stand so, dass ich die Familie anschauen konnte. Die Eltern taten nichts. Sie sprachen nicht, sie bewegten sich auch nicht, denn sie standen noch immer unter dem Einfluss des Geschehens. Wie auch ihr Sohn. Nur verhielt sich Jason anders. Er weinte. Aber er weinte stumm. Das Tränenwasser quoll aus seinen Augen und rann in Streifen an den Wangen entlang. Er zog dabei seine Nase hoch, und als er bemerkte, dass ich ihn anschaute, da schrie er wütend auf. »Du hast sie getötet!«, hielt er mir vor. »Du hast sie endgültig vernichtet!« »Nein, das habe ich nicht.« »Aber sie ist weg!«, schrie er. »Ich weiß, Jason. Nur ist Wegsein etwas anderes als getötet zu werden. Wäre sie ein dämonisches Geschöpf, dann hätte ich dir recht gegeben, aber das ist sie nicht, das weiß ich genau. Sie ist wunderbar. Du kannst noch jetzt stolz auf deine Schwester sein.« »Hol sie zurück!«, verlangte er. »Ich will sie sehen. Sie hat mir bestimmt noch was zu sagen.« Das hoffte ich stark, denn auch ich wollte in Kontakt mit ihr treten, um Auskünfte zu erhalten. Und vielleicht war das ja über das Kreuz möglich. Peter Monkford hatte sich bisher kaum gerührt. Jetzt war er es leid. Er fasste nach seinem Sohn und zog ihn zu sich heran. »Bitte, Jason, hör jetzt auf. Es war ein Versuch, und ich glaube nicht, dass alles vorbei ist.«
Der Junge wollte etwas erwidern, aber er schaffte es nicht. Er schloss die Augen und presste seinen Kopf gegen den Körper des Vaters. Die Sache war entschärft, aber im Prinzip hatte der Junge schon recht. Wir hatten bei dieser Aktion wenig gewonnen, und das ärgerte mich schon. Ich tröstete mich allerdings damit, dass es so etwas wie ein Beginn gewesen war. Auch ich verließ den Kreis. Mit Suko würde ich später reden, erst mal war jemand anderer an der Reihe. Es war das Medium Zacharias. Noch immer hockte er auf dem Boden und hatte seinen Rücken gegen die Wand gepresst. Sein Gesicht zeigte einen stumpfen Ausdruck. So wie er sah jemand aus, der total durcheinander war. »Hören Sie mich?« Er nickte nur. »Können Sie denn aufstehen?« »Ich will es versuchen.« »Dann bitte.« Er quälte sich hoch. Das Licht brannte wieder normal. Von dem arroganten Ausdruck in seinem Gesicht war nichts mehr zu sehen. Er sah mehr aus wie ein erschöpfter Mensch, der nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Mit einem Tuch wischte er über sein Gesicht. »Sie wollen eine Erklärung, wie?«, flüsterte er mir zu. »Das wäre gut.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, die kann ich Ihnen nicht geben. Ich weiß selbst nicht, was da passiert ist.« »Aber Sie haben es eingeleitet. Sie sind das Medium gewesen. Oder irre ich mich?« »Nein, Sie irren sich nicht, ich war das Medium, ich habe alles in die Wege geleitet.« Jetzt lachte er. Das Geräusch klang wie ein Kreischen. »Aber was ich hier erlebt habe, ist mir noch nie passiert. So etwas gibt es nicht. Daran habe ich nie gedacht.« »Warum denn nicht?« »Dass sich ein Geist zeigte oder was immer diese Frau auch gewesen sein mag.« Ich tat verwundert. »Ach, Sie haben so etwas noch nie erlebt?« »So ist es.« »Aber Sie bieten Ihre Dienste an. Das können Sie nicht bestreiten.« »Will ich auch nicht. Aber das ist nicht echt, das ist Hokuspokus. Ich bin eigentlich Schauspieler, und ich habe auch nie einen Geist gesehen. Ich habe so getan, als würde ich mit den Toten sprechen, und habe dann deren Botschaften überbracht und immer nur das, was die Leute hören wollten. Dass es den Verstorbenen gut geht und sich die Lebenden keine Sorgen mehr zu machen brauchen.« »Okay, dann weiß ich Bescheid.« Er schluckte und starrte mich an. »Das war mein letzter Job hier. Ich gehe wieder zurück zur Bühne. So etwas ist ja furchtbar. Ich habe mich gefürchtet wie selten in meinem Leben, denn an so etwas habe ich nicht im Traum geglaubt.« »Aber Sie haben erlebt, dass es Dinge gibt, die Sie nicht beeinflussen können. Ich kann nur sagen, dass sie uns über sind.« »Das glaube ich Ihnen jetzt.« Suko hatte die Tür geöffnet. Es drang endlich frische Luft ins Zimmer. Wir verließen es auf Wunsch des Hausherrn hin. Er wollte über das Geschehene sprechen, was verständlich war. Auch er wusste nicht, was mit seiner Tochter wirklich passiert war. Sie hatte zwar wie eine lebende Person gewirkt, aber sie war kein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen. Es gab einen großen Wohnraum, in den uns Peter Monkford führte. Er war der Hausherr. Er hatte die entsprechenden Fragen und wollte auch Zacharias nicht außen vorlassen. Suko hielt sich beim Weg über den Flur dicht an meiner Seite. »Hast du auch eine Meinung zu allem?« »Klar, Alter. Ich bin fest davon überzeugt, dass es noch nicht vorbei ist. Diese Gestalt, was
immer sie auch sein mag, wird noch mal erscheinen, und zwar ungerufen. Davon bin ich überzeugt.« »Wäre ja nicht schlecht.« »Du sagst es. Diesmal würde ich alles versuchen, um sie zu halten.« »Was liegt dir so daran?« »Das ist ganz einfach: Informationen. Bisher wissen wir so gut wie nichts, was da im Hintergrund gelaufen ist. Warum starben die beiden Männer auf diese Art und Weise? Wenn Indira irgendwie damit zu tun gehabt hat, habe ich schon meine Probleme. Erinnere dich, die Männer sind praktisch erfroren. Ich habe damit gerechnet, einen eisigen Leib zu berühren, als ich Indira anfasste. Das war nicht der Fall, ich habe bei ihr so gut wie gar nichts gespürt und mir erst im Nachhinein überlegt, dass dieser Stoff so etwas wie Ektoplasma gewesen ist.« »Es kann sein, dass dich das Kreuz geschützt hat.« Ich blieb dicht an der Wand und neben einer Lampe stehen. »Meinst du damit, dass sie eventuell auf der anderen Seite steht?« »Das könnte zutreffen.« »Nein, Suko, daran glaube ich nicht. Diese seltsame Tote ist nicht böse. Sie ist kein Dämon in welcher Art und Weise auch immer. Sie ist etwas anderes, etwas Neues. Vielleicht sogar eine Gestalt, mit der wir es noch nie zu tun hatten.« »Kein Widerspruch, John. Allerdings frage ich mich, warum man sie getötet hat.« »Das kann ich dir auch nicht sagen.« Ich tippte ihn an. »Und genau das möchte ich herausfinden.« »Sehr schön. Und wie?« Ich hatte mir schon etwas durch den Kopf gehen lassen und rückte jetzt damit raus. »Indem ich wieder zurück in den Raum gehe, aus dem wir gekommen sind. Ich kann mir vorstellen, dass dieser magische Kreis so etwas wie ein Auslöser ist.« Suko lächelte. »Okay, ich kann dich nicht aufhalten. Ich bleibe bei der Familie.« »Das ist eine gute Idee.« Wir klatschten uns ab und gingen in verschiedene Richtungen davon. Ich war mir ja selbst nicht sicher, ob ich das Richtige tat. Aber ich musste etwas unternehmen. Ich konnte die Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Ich wartete, bis Suko im Wohnzimmer verschwunden war, wo sich auch die anderen aufhielten. Wenig später war der Gang leer. Dann stand ich wieder in dem leeren Zimmer. Das Licht war nicht gelöscht worden. Ich dimmte es noch weiter herunter. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht. Unterschiede waren zu erkennen und ich sah auch die Stelle, wo der magische Kreis auf den Boden gezeichnet worden war. Das war mein nächstes Ziel. Ich ging hinein. Auch wenn Zacharias es noch nie geschafft hatte, eine Brücke zwischen den beiden Reichen aufzubauen, so hatte er sich an die Regeln gehalten und wusste genau, was alles dazugehörte. Ich stand da und wartete. Verlässlich war eigentlich nur mein Kreuz. Durch es hoffte ich, einen Kontakt herstellen zu können. Möglicherweise war es in der Lage, die Atmosphäre aufzuladen. Ich sah mich ja nicht als Feind der anderen Seite an. Ich wollte mit ihr kooperieren. Ich wollte einiges herausfinden, denn noch immer war unklar, warum Indira hatte sterben müssen. Ich wartete. Ich kannte auch keine Formeln oder Worte, um Indira zu locken. Nur die Hoffnung war da, dass sie mich annahm. Als wäre ich so etwas wie ein Opfer. Froh war ich darüber, dass Suko sich in der Nähe aufhielt. Er würde dafür sorgen, dass ich meine Aktivitäten in Ruhe durchführen konnte, obwohl sie im Moment allerdings eingeschränkt waren. Es war nichts zu hören. Das Kreuz hatte ich um den Hals hängen, aber es war jetzt zu sehen, denn es hing außen und lag auf meiner Hand. Irgendwann, wenn eine Verbindung dicht bevorstand, würde es sich melden, da war ich mir sicher.
Noch geschah nichts. Ich blieb mit mir und der Stille allein. Ein Zeitlimit hatte ich mir nicht gesetzt, nur wollte ich keine Stunden hier verbringen. Es hatte auch keinen Sinn, nach der Verstorbenen zu rufen. So hatte es Zacharias gemacht. Ich wartete darauf, dass sich die andere Seite von allein meldete. Dann hatte ich Glück. Es war nichts zu hören, nur etwas zu spüren. Und das war nicht normal. Ich hatte keinen Menschen gesehen. Auch die Tür blieb geschlossen. Trotzdem war etwas da. Ich hielt den Atem an. Mein Herzschlag war zu hören. Es war nicht einfach für mich, die Konzentration auf das Neue zu schärfen, doch dann hatte ich Glück. Ich erlebte es sehr deutlich. Woher es kam, war mir nicht klar, es interessierte mich auch nicht. Es war einzig und allein der kalte Luftzug, der meinen ganzen Körper vom Gesicht bis zu den Füßen erfasste...
*** Eric Green und Spiro Atkins, die beiden Profikiller, waren nicht mehr in ihrem Van geblieben. Die Dämmerung hatten sie noch abgewartet. Als sie verschwand und die Dunkelheit das Land überfiel, wollten die beiden näher an das Haus heran. Die Strecke dorthin mussten sie zu Fuß gehen. Das Licht wies ihnen den Weg. Es fiel nur aus den unteren Fenstern. In den oberen beiden Etagen war alles dunkel. Die Haustür war während ihrer Wartezeit nicht geöffnet worden. So konnten sie davon ausgehen, dass sich die Leute dort weiterhin im Haus aufhielten. Auch die beiden Fremden hatten sie nicht wieder zu Gesicht bekommen, aber es stand fest, dass sie sterben mussten. Es sollte keine Mitwisser geben. Das hatte ihr Auftraggeber ihnen eindeutig befohlen. Und sie wussten auch, dass sich noch ein einzelner Besucher im Haus aufhielt. Den Mann kannten sie nicht. Er war noch vor Einbruch der Dämmerung gekommen und hatte das Haus ebenfalls nicht mehr verlassen. Sicher würde das für die Killer kein Problem sein. Jeder war mit einer Pistole der Marke Luger ausgerüstet. Nach der Tat würden die Waffen auf Nimmerwiedersehen verschwinden. So hatten sie es immer gehalten. Keine Polizei der Welt war ihnen bisher auf die Schliche gekommen. Die freie Fläche hatten sie hinter sich gelassen und mussten nur noch ein paar Schritte gehen, um die ersten Bäume zu erreichen. Dort legten sie eine Pause ein. Warum die Menschen im Haus sterben mussten, wussten sie selbst nicht. Nur dass es ihr Auftraggeber recht eilig damit hatte. Möglicherweise ging es um wichtige Aussagen von Zeugen, aber das interessierte sie nur am Rande. Sie nutzten den Schutz der Bäume aus, um sich dem Haus zu nähern. Einen Plan hatten sie sich noch nicht zurechtgelegt. Sie wollten alles auf sich zukommen lassen. Den Menschen im Haus allerdings hatten sie nur eine gewisse Zeit gegeben. Sollte sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts getan haben, dann würden sie in das Haus eindringen. Es war nicht nur dunkel, sondern auch kälter geworden. Zudem feuchter. Die Luft roch nach Regen. Spätestens in den frühen Morgenstunden würde er über das Land herfallen, dann war es vorbei mit dem schönen Herbstwetter. Eric Green hatte sich gegen einen Baumstamm gelehnt. Er behielt die Haustür im Blick, die ein so wunderbares Zielobjekt war, weil beide Außenleuchten rechts und links der Tür ihren Schein abgaben. Spiro Atkins schob sich an seinen Killerkumpan heran. »Und? Wie sieht es aus?« »Gut.« »Sollen wir reingehen?« »Nein.« Green schüttelte den Kopf. »Lass uns noch zehn Minuten warten. Wenn sich dann
nichts tut, legen wir los.« »Ist okay.« Nichts störte die abendliche Stille. Nicht mal die Blätter, die sich hier und da von den Bäumen lösten, nach unten trudelten und sich dann auf den feuchten Boden legten. Spiro schaute auf die Uhr. »Die Zeit ist in zwei Minuten vorbei.« »Okay, dann geht es los.« »Ganz normal?« »Ja, wir klingeln.« »Super.« Mehr mussten sie nicht sagen. Sie waren ein aufeinander eingespieltes Team. Wenn der eine etwas tat, wusste der andere genau, wie er sich verhalten musste. Beide kontrollierten ihre Waffen und waren zufrieden. Einen Fehlschuss konnten sie sich nicht leisten. Bei ihnen musste alles blitzschnell und kompromisslos geschehen. Sie verließen den Schutz der Bäume und bewegten sich noch im Dunkeln auf das Haus zu. Bis das Licht sie erreichte, würde es noch etwas dauern. Sie würden dann normal schellen, den Menschen anlächeln, der geöffnet hatte und der dann Sekunden später mit einem Loch in der Stirn zusammenbrechen würde. So war es vorgesehen, so würde es ablaufen, und beide konnten sich nicht vorstellen, dass etwas schiefgehen könnte. Und dann passierte doch etwas...
*** Suko fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, als er sich der Familie gegenübersah. Sie alle schauten ihn an und warteten auf eine Erklärung. Nur Zacharias nicht. Der hatte sich auf einen Stuhl neben einem Fenster gesetzt, starrte auf seine Hände und sprach hin und wieder flüsternd mit sich selbst. Suko stand. Ab und zu lächelte er, wobei sein Lächeln nicht erwidert wurde. Die Mitglieder der Familie warfen ihm immer wieder Blicke zu. Es sah so aus, als wollten sie ihn etwas fragen. Nur wagte es niemand, den Anfang zu machen. Bis sich Peter Monkford ein Herz fasste. »Darf ich Sie etwas fragen, Inspektor?« »Bitte sehr.« »Wie schätzen Sie die Lage ein? Gehören wir zu den Verlierern oder zu den Gewinnern?« »Sorry, Mister Monkford, da muss ich passen. Ich kann es leider nicht sagen. Es steht noch auf der Kippe, aber mein Kollege wird sich schon darum kümmern.« »Was kann er denn tun, was wir nicht tun können?« »Er wird zumindest versuchen, Licht in das Dunkel zu bringen.« Monkford lachte. »Da müsste auch die andere Seite mitspielen. Glauben Sie daran?« »Möglich ist alles. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, und zwar nicht mit einem feindlichen. Wobei ich mir noch immer die Frage stelle, warum Ihre Tochter sterben musste. Wir müssen davon ausgehen, dass sie irgendetwas getan haben muss, das die Mörder auf den Plan rief. Sie hat ja versucht, ihnen zu entkommen. Das gelang ihr nicht, aber sie ist wohl normal gestorben, aber dann einen besonderen Weg gegangen.« »Ja!«, rief Jason. »Sie ist zu einem Engel geworden. Wir haben sie doch alle gesehen, wie sie da im Kreis lag. Da hat sie wie ein Engel ausgesehen.« »Nein, mein Junge, sie war tot!« »Mum, was redest du da? Sie ist zu einer besonderen Person geworden, und das haben wir alle gesehen. Ich bin doch nicht blind. Sie ist tot und nicht tot, und sie hat noch etwas zu erledigen. Daran glaube ich fest. Da könnt ihr alle den Kopf schütteln.« Das tat keiner. Dafür fragte Suko: »Hast du denn irgendeine Idee, was passieren könnte? Ich
meine, du bist der Bruder. Du hattest einen guten Kontakt zu ihr und...« »Weiß ich. Ich will ihn auch jetzt nicht abbrechen lassen. Aber vielleicht haben wir einen Fehler gemacht. Es wäre besser gewesen, wenn ich allein gewesen wäre, aber es waren zu viele Menschen um mich herum. Ich weiß nur, dass sie kein Geist ist. Sie ist etwas Besonderes, und das auch unter den Engeln. Sie kann fest sein, aber auch so – so – wie Nebel. Ich weiß, dass sie sich noch melden wird.« »Das hoffe ich auch«, gab Suko zu. »Und was macht Ihr Kollege? Wartet er auf sie, um sie wieder zu vertreiben?« »Nein, Jason, so ist das nicht. Eher das Gegenteil davon. John steht auf ihrer Seite, und das weiß sie.« »Woher denn?«, höhnte der Junge. »Woher kann sie das wissen?« »Sie muss nur sein Kreuz sehen, dann weiß sie, zu wem er wirklich gehört. Oder auf welche Seite.« Jason sagte nichts mehr. Er sah auch aus wie jemand, dem nichts mehr einfiel, aber er wollte wieder zurück in das Zimmer und dabei sein, wenn seine Schwester wieder erschien. Suko gab dazu keinen Kommentar ab. Auch er dachte daran, dass John schon ziemlich lange weg war, und hoffte, dass er Erfolg haben würde, damit auch die letzten Rätsel aufgeklärt wurden. In der Ecke war eine Bewegung zu sehen. Zacharias ging drei Schritte vor, dann blieb er stehen. Sein Blick war halb zu Boden gerichtet. Die Finger spielten nervös mit dem Jackensaum. Schließlich raffte er sich auf und sagte: »Meine Zeit hier ist abgelaufen. Ich werde Sie jetzt verlassen.« Er wedelte mit beiden Händen. »Ich muss das alles hier verkraften, und das kann ich nur an einem neutralen Ort. Deshalb werde ich mich in mein Auto setzen und fahren.« Auch Suko hatte die Sätze gehört und fragte sich, ob es gut war, wenn dieser Zacharias jetzt ging. Okay, er hatte seinen Job gemacht und eine riesige Überraschung erlebt. Dass es ihm jetzt nicht besonders gut ging, war erklärlich. Suko hatte das Gefühl, dass es besser war, wenn der Mann blieb. Das sagte er Zacharias auch, der ihn nur anschaute und wieder einen arroganten Gesichtsausdruck bekommen hatte. »Sie wollen, dass ich bleibe?« »Zunächst mal.« »Warum?« »Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Für mich ist es besser, wenn der Kreis nicht zerstört wird. Wir haben gemeinsam den Anfang durchgemacht und werden nun auch das Ende erleben. Einer allein ist immer schutzlos.« Der Schauspieler zeigte sich irritiert. Er suchte nach einer Antwort, fand aber keine. Dann hatte er sich entschieden. Er richtete sich dabei kerzengerade auf, als wollte er auf die Bühne treten, um einen besonderen Auftritt hinzulegen, was er auch tat, aber anders, als Suko es sich vorgestellt hatte. »Ich werde gehen!«, erklärte er und nickte. »Ja, ich werde dieses Haus verlassen.« Der näselnde Ton in einer Stimme war nicht zu überhören. »Meine Pflicht habe ich getan. Dass hier das richtige und echte Unheil regiert, habe ich nicht wissen können. Ich fühle mich bedrängt, ich – ich – habe Probleme mit dieser Umgebung. Mein Auto steht in der Nähe. Ich werde hingehen, mich hineinsetzen und wegfahren.« Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, man hätte lachen können, denn Zacharias hatte seinen Entschluss vorgetragen wie einen Bühnenmonolog. Zum Abschied nickte er in die Runde, drehte sich auf der Stelle um und schritt zur Tür. Lilian Monkford meldete sich. »Wollen Sie es sich nicht doch noch mal überlegen?« Beim Gehen hob der Mann die rechte Hand. Er schüttelte zudem den Kopf, um den Anwesenden klarzumachen, dass sie nicht mehr mit ihm rechnen konnten. Er verließ den Raum und betrat den Bereich der Eingangshalle. Die schwache Beleuchtung ließ
ihn den Weg zur Tür erkennen. Er ging ihn sehr aufrecht, was besonders Suko auffiel, denn er war dem Mann gefolgt. Den Grund wusste er selbst nicht. Es war mehr ein Gefühl, das ihn dazu verleitet hatte. Er sprach ihn nicht an, um ihn von seinem Plan abzubringen. Die Reaktion erlebte er von dem Schauspieler selbst. Der schaute noch mal zurück, bevor er die Tür öffnete. Er wollte eben seinen Abgang haben und auch mit einem Zuschauer. Er sah Suko und sagte: »Ich werde gehen!« »Bitte.« Zacharias öffnete die Tür. Nicht normal, sondern ruckartig, wobei er sich schon anstrengen musste. Danach trat er ins Freie und wurde vom Licht der beiden Außenlampen erfasst. Im Bereich des Eingangs stand er wie eine Zielscheibe. Dieser Vergleich wurde leider zur brutalen Wirklichkeit, denn in diesem Augenblick fielen die Schüsse, und die Kugeln hieben in den Körper des Schauspielers...
*** Sie war da! Davon ging ich einfach aus. Ich erlebte die Kälte wie einen Strom, der mich durchfuhr und der auch nicht abreißen wollte. Ich schaute auf mein Kreuz, aber dort war keine Veränderung zu sehen. Es stellte sich nicht gegen diesen Angriff. Ich senkte den Blick. Der Kreis sah normal aus. Hier tat sich nichts, kein Glühen, keine farbliche Veränderung, aber die andere Seite hatte sich gemeldet, und ich wusste, dass es der Geist der toten Indira war, wobei nicht klar war, ob man sie als Geist einstufen musste. Meines Erachtens war sie etwas Ungewöhnliches. Wir hatten sie als Körper erlebt, der sich hatte auflösen können, und jetzt würde sie wieder erscheinen, was ich hoffte. Und sie kam tatsächlich. Am Rande des Kreises war die Gestalt zu sehen. Ich hatte damit gerechnet, sie wieder als festen Körper zu erleben, doch das war ein Irrtum. Sie war zunächst nur eine Erscheinung, die sie auch blieb. Nicht durchscheinend, aber auch nicht fest, eben dieses fließende Ektoplasma, das nur die Umrisse nachzeichnete und in der Mitte sehr dünn war. Sie nahm mit mir keinen Kontakt auf, was ich eigentlich wollte. Und so versuchte ich, selbst einen Kontakt mit ihr herzustellen, indem ich mein Kreuz anhob. Ich wollte wissen, wie sie dazu stand. Was tat sie? Durch ihre Gestalt lief ein Zittern. Auch ich erlebte am Kreuz eine Veränderung. Ich hatte das Gefühl, eine Vibration zu spüren, die sich auf meine Hand übertrug. Ich sprach sie an und sagte: »Du bist Indira. Du bist die junge Frau, die man getötet hat. Und ich möchte wissen, warum man dich umgebracht hat.« »Ich bin nicht tot...« »Das sehe ich, aber du zählst auch nicht mehr zu den Lebenden.« »Ich bin ein Engel«, flüsterte sie mir entgegen. Laut konnte sie offenbar nicht sprechen. »Ich habe die Engel immer sehr geliebt, und sie haben mich auch geliebt. Ich wusste genau, dass ich in ihren Kreis aufgenommen werden würde. Das ist passiert, ich bin neu erschaffen worden, und ich habe meine Mörder der gerechten Strafe zugeführt.« »Stimmt. Sie sind tot.« »Sie haben nichts anderes verdient. Sie erfroren unter einer Schicht, die ich ihnen beibrachte. Sie werden nie mehr zurückkehren, denn sie sind nicht zu Engeln geworden, ganz im Gegensatz zu mir.« »Das sehe ich.« »Und wer bist du, Mann mit dem Kreuz?« »Nur ein Polizist.«
»Nein, du bist mehr.« »Gut, Indira, du kannst mich auch Sohn des Lichts nennen. Auf keinen Fall bin ich dein Feind.« »Ja, das habe ich schon gespürt.« »Aber du hast Feinde gehabt. Das ist auch mein Problem. Ich frage mich, warum man dich töten wollte. Oder warum hat man dich getötet? Was hast du den Männern getan?« »Nichts, gar nichts. Ich kannte sie nicht mal, habe sie nie zuvor gesehen.« Das nahm ich ihr sogar ab. Typen wie sie waren Profikiller, die man mieten konnte. Aber auch dafür musste es einen Grund geben. Was hatte Indira getan, dass man sie getötet hatte? Ich wollte es herausfinden und war gespannt, ob sie es selbst wusste. »Kannst du mir denn den Grund nennen, weshalb man dich töten wollte? Den muss es doch geben. Man geht nicht einfach hin und erschießt einen Menschen ohne Grund.« Ich hatte es auf den Punkt gebracht und erwartete eine Antwort, die allerdings nicht kam. Sie blieb ruhig, und ich wurde allmählich ungeduldig. »Weißt du es nicht?« »Doch, es ist mir bekannt.« »Sehr gut. Und weiter?« Die Stimme war plötzlich überall im Raum. Ich vernahm sie von allen Seiten. Sie füllte meinen Kopf aus, und dann hörte ich jedes Wort überdeutlich. »Ich habe etwas gesehen, was ich nicht sehen sollte. Einen Mord. Den Mord an einem berühmten Mann. Er wurde auf einer Parkbank erstochen, als er dort saß. Ich war zufällig dort und...« Ich unterbrach sie. »Wie hat der Mann ausgesehen? Kannst du mir das sagen?« »Seine Haare waren rot.« »Danke, das reicht.« Ich musste schlucken, denn einen Verdacht hatte ich bereits nach den ersten Worten gehabt. Es gab diesen Mord auf der Parkbank. Er lag noch nicht lange zurück. Er war ein Diplomat aus dem Osten gewesen. Aus Weißrussland. Und hier in London war er umgebracht worden. Die Polizei und auch ein Sonderkommando hatten die Mörder nicht stellen können. Dafür hatte es eine Zeugin gegeben, und sie war leider gesehen worden. Klar, dass die Killerseite sie nicht mehr am Leben lassen konnte. Man hatte ihr zwei Mörder geschickt, und die hatten ihre grausame Arbeit getan. Nur hatten sie nicht wissen können, wen sie da getötet hatten. Indira hatte als Engel zurückgeschlagen und zwei Tote hinterlassen. »Danke, dass du es mir gesagt hast. Aber wissen es auch deine Eltern oder Freunde?« »Nein, und ich weiß auch nicht, ob sie es je erfahren werden. Ich kann nicht mehr zu ihnen zurück, ich bin zu einer anderen geworden. Ich war eine Rächerin, denn ich habe meinen eigenen Tod gerächt. Jetzt aber bin ich eine Beschützerin. Und das muss ich auch sein, denn es ist sehr dringend.« Die letzten Worte hatten mich ein wenig irritiert. »Wie kommst du darauf?« »Sie geben nicht auf.« »Wer?« »Man weiß Bescheid über mich. Zwar nicht alles, aber was sie wissen, das reicht ihnen. Sie haben Angst, dass alles ans Tageslicht kommt. Dass ich als Tote noch rede und es meiner Familie erzähle. Deshalb werden sie nicht aufgeben und wieder Killer schicken, die sich dann meine Familie vornehmen. Das kann ich nicht zulassen.« Es war wirklich interessant, so etwas zu hören. »Kannst du sagen, wann die Killer zuschlagen werden?« »Nein, nicht genau. Aber es wird noch heute Nacht passieren. Sie sind in der Nähe, das habe ich bereits gespürt, und ich werde sie auch finden.« »Willst du sie töten?«
»Das muss ich.« Mir gefiel das nicht. Es war vielleicht besser, wenn ich sie lebend erwischte. Dann konnte ich unter Umständen von ihnen erfahren, wer ihre Auftraggeber waren, doch ich wusste auch, dass es schwer war, mit ihr einen Kompromiss zu schließen. Sie würde immer ihren eigenen Weg gehen wollen. Der Zustand blieb. Sie zeigte sich nicht mehr als gehärtetes Ektoplasma. Aber sie verschwand auch nicht. Ich glaubte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte. »Was stört dich noch?«, fragte ich. »Du störst mich.« Da war ich überrascht. »Wie kommst du darauf, dass ich dich stören könnte?« »Ich weiß nicht, wer du bist. Du bist ein Mensch, aber ich spüre das Besondere an dir. Es ist wohl das Kreuz, das mir so vorkommt, als hätten Engel an ihm etwas hinterlassen.« Nicht schlecht gesagt!, dachte ich. Sie bekam eine Antwort. »Ja, das kann man wohl sagen. Das Kreuz ist etwas Besonderes, und es ist von vier Erzengeln geweiht worden.« Ich zählte die Namen langsam auf und wartete anschließend auf ihre Reaktion. Die erfolgte auch. »Es sind die Erzengel«, flüsterte sie. »Ja, ich habe ihre Namen schon gehört. Die Mächtigsten der Mächtigen...« »Genau«, bestätigte ich. »Und sie stehen auf meiner Seite. Dieses Kreuz enthält einen Teil ihrer Kraft. Ich stehe also auf deiner Seite, aber ich möchte schon anders handeln als du.« »Wie denn?« »Der Tod ist nicht immer die beste Lösung. Ich glaube dir, dass die andere Seite, wer immer sie auch sein mag, neue Killer geschickt hat. Für mich wäre es besser, wenn ich sie lebend in die Hände bekomme. Dann können sie verhört werden, und ich glaube nicht, dass du dir danach noch Sorgen um deine Angehörigen machen musst.« Es waren Worte, die sie zum Nachdenken brachten. Zwischen uns wurde es ruhig. Niemand sagte etwas. Ich spürte die andere Atmosphäre wieder voll. Auch umgab mich diese ungewöhnliche Kälte, die mit einer normalen nichts zu tun hatte. Sie kribbelte auf meinem Körper. Ich hielt den Blick auf die Gestalt gerichtet und hoffte, dass sie sich wieder einen festen Körper geben würde. Doch da hatte ich mich getäuscht, denn sie löste sich auf, und auch die Kälte zog sich immer weiter zurück. »Du musst dir keine Sorgen machen«, sprach sie mich noch mal an. »Auch wenn du mich nicht siehst, ich bin trotzdem da. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen...« Zuerst hatte sie noch normal gesprochen. Dann wurde die Stimme leiser und leiser, bis sie dann gar nicht mehr zu hören war. Ich stand im Kreis, und ich stand auch in der Stille. Es gab hier für mich nichts mehr zu tun, deshalb wollte ich zu den anderen gehen. Indiras Warnungen waren bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich wusste jetzt Bescheid. Die andere Seite hatte erneut zwei Killer rekrutiert und sie geschickt. Sie waren unterwegs, und ich musste damit rechnen, dass sie das Ziel bereits erreicht hatten. Ich verließ das Zimmer auf leisen Sohlen. Ich öffnete die Tür, um in den Gang zu treten, der mich in den Bereich des Eingangs brachte, da passierte es. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was da zu hören war. Schüsse! Ab jetzt war für mich klar, dass die Killer schon da waren...
*** Es war ein Bild, mit dem Suko nie im Leben gerechnet hatte. Hinzu kam das Licht, das seinen
Schein auf den Körper des Schauspielers warf, der von zwei Geschossen erwischt worden war. Die Kugeln hatten ihn nicht zu Boden geschleudert. Er stand auf der Stelle, und ein Zucken rann durch seine Glieder. Plötzlich warf er die Arme hoch, torkelte einen Schritt zurück und brach auf der Türschwelle zusammen. Geschossen wurde nicht mehr. Auch die Echos waren verklungen. Die Stille des Todes breitete sich aus. Suko dachte daran, dass er Glück gehabt hatte. Wäre er hinter dem Mann hergelaufen, hätte es auch ihn erwischen können, denn gegen Kugeln aus dem Hinterhalt war auch er nicht gefeit. Wie sollte er reagieren? Suko wusste nicht, ob die andere Seite ihn gesehen hatte. Und ihm war auch nicht klar, wie viele Killer vor der Haustür lauerten. Er ging von zweien aus, es konnten aber auch mehr sein, die alle, die sich im Haus aufhielten, töten wollten. Suko zog sich zurück, nachdem er noch einige Zeit gewartet hatte. Er öffnete die Tür zum Zimmer, wo man auf ihn wartete und man auch die Schüsse gehört hatte. Lilian Monkford kam auf ihn zu. Sie war erregt und atmete heftig. »Kann es sein, dass wir Schüsse gehört haben?« Suko nickte. »Ja, das ist so.« »Und?« Er ging auf die beiden männlichen Monkfords zu, wobei Lilian an seiner Seite blieb. »Wer hat geschossen?«, fragte Peter Monkford. »Und auf wen?« »Ich weiß nicht, wer geschossen hat. Jedenfalls haben wir Besuch von eiskalten Killern bekommen. Und geschossen haben sie auf Zacharias, der es leider nicht überlebt hat.« Alle drei erlebten einen Schock. Sie schauten sich an, konnten nichts sagen, und Jason schlug sogar die Hände vor sein Gesicht. »Aber der Mann hat keinem etwas getan«, flüsterte Lilian Monkford. »Warum erschießt man ihn dann?« »Es ist schwer zu begreifen«, gab Suko zu. »Ich denke, dass die Killer den Auftrag haben, jeden zu töten, der sich hier im Haus aufhält.« »Und warum das?«, fragte Peter Monkford. »Ich weiß es nicht.« Suko hob die Schultern. »Möglicherweise geht es um Zeugen. Aber das sollte uns egal sein. Wir müssen uns darauf konzentrieren, diesen Angriff zu überleben.« »Haben Sie denn eine Idee?« Suko schaute Peter an. »Nein, ich denke noch nach.« Den Vorschlag machte dann Monkford. »Wie wäre es denn, wenn wir den Raum hier verlassen und woanders hingehen?« »Gibt es eine zweite Tür?« »Nein.« Suko winkte ab. »Dann hat es keinen Sinn, wenn wir das tun. Ich gehe davon aus, dass die Killer das Haus bereits betreten haben. Wir würden nur in ihr Feuer laufen. Deshalb ist es besser, wenn wir den Raum hier nicht verlassen.« »Aber die werden doch auch herkommen«, flüsterte Lilian. »Davon gehe ich aus.« Suko hatte ruhig gesprochen. »Ich denke mal, dass sie das Haus durchsuchen werden. Das müssen sie einfach tun.« »Und dann werden wir hier erschossen?« Suko lächelte Lilian zu. »Nicht, wenn wir uns entsprechend verhalten.« »Wie meinen Sie das denn?« »Wir werden uns eine Deckung suchen. Die Sessel sind dick und breit. Ich meine schon, dass sie einen Schutz bieten.« »Ha, gegen diese abgebrühten Killer und ihre Kugeln?« Suko lächelte, bevor er sagte: »Vergessen Sie nicht, dass ich auch noch da bin.«
»Ja, wie Ihr Kollege, aber von dem ist nichts zu sehen.« Peter Monkford rückte bereits einen Sessel zurecht. »Das können Sie auch als positiv ansehen. Mit ihm wird die andere Seite nicht rechnen. Ich kenne meinen Kollegen. Der weiß genau, was er tut. Verlassen Sie sich darauf.« »Und es gibt noch Indira«, meldete sich Jason, »ich weiß, dass sie uns nicht im Stich lässt.« »Hör auf!«, rief sein Vater. »Indira ist tot!« »Nein, das ist sie nicht. Meine Schwester ist zu einem Engel geworden, und der wird uns helfen.« »Okay, meinetwegen. Du aber gehst erst mal mit in Deckung. Und dann kannst du beten.« Suko war froh darüber, dass sich die Familie so gut in der Gewalt hatte. Keiner drehte durch. Natürlich fürchteten sie um ihr Leben, aber es gab auch das Vertrauen. Suko musste noch für sich eine gute Deckung finden. Er wollte nicht offen zu sehen sein, wenn die Killer das Zimmer betraten. Und das würde geschehen, davon ging er aus. Die Männer suchten nach ihnen, das war ihr Job. Die Sessel kamen für Suko nicht mehr infrage. Er dachte daran, dass es vielleicht besser war, wenn er keine Deckung hatte, sondern sich nur in den toten Winkel der Tür stellte. Die beiden Killer würden ihn nicht so schnell sehen, und so würde er die nötige Zeit haben, einzugreifen. Suko hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da setzte er ihn auch schon in die Tat um. Er wollte sich an die Wand drücken und war auf dem Weg dorthin, als er etwas sah. Die Klinke der Tür wurde nach unten gedrückt. Sie waren da. Suko hielt den Atem an. Auch die Monkfords verrieten sich nicht. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet, und zwei bewaffnete Männer betraten den Raum...
*** Ich bewegte mich wie auf rohen Eiern. Den größten Teil der Strecke hatte ich geschafft. Ich ging dorthin, wo es etwas heller war, und schon bald sah ich die Eingangstür vor mir. Durch die offene Tür wehte die kühle Nachtluft ins Haus. Der tote Schauspieler lag auf der Schwelle. Sonst war niemand zu sehen. Oder doch? Ich hörte ein schlurfendes Geräusch und begriff, dass es sich dabei um vorsichtig gesetzte Schritte handelte. Deshalb musste ich noch weiter vor, um den gesamten Bereich des Eingangs überblicken zu können. Jetzt sah ich sie! Es waren zwei Männer. Eiskalte Killer, die den Schauspieler Zacharias gnadenlos abgeknallt hatten. Sie waren jetzt dabei, den Bereich des Eingangs zu durchqueren und verhielten sich entsprechend vorsichtig. Aufgrund ihrer Kleidung konnte man sie auch als schwarze Phantome bezeichnen. Selbst die Mützen auf den Köpfen waren dunkel. Sie schlichen wie Raubkatzen weiter, und ihre Blicke waren überall, denn sie bewegten stets die Köpfe. Mich hatten sie zum Glück noch nicht entdeckt. Ich hatte mich mit dem Rücken gegen die Gangwand gepresst und hielt den Atem an. Etwas hatte sich bei mir schon verändert, denn jetzt umklammerten die Finger meiner rechten Hand die Beretta. Ich war bereit, sofort zu reagieren, wenn es sein musste. Sie sprachen nicht. Sie verständigten sich durch Handzeichen, was auch klappte, sodass ich davon ausging, dass sie schon so etwas wie ein eingespieltes Team bildeten. Es war klar, dass sie das Haus durchsuchen wollten. Sie hatten mehrere Türen zur Auswahl und waren sich noch unsicher. Auch ich wusste nicht genau, wo sich die Monkfords aufhielten. Vielleicht waren sie nach oben
gegangen, dann jedoch fiel mir die zackige Bewegung des größeren der beiden Killer auf. Und er deutete auf eine Tür, die in seiner Richtung lag. »Sicher?«, hörte ich den anderen raunen. »Ja.« Er deutete nach vorn. »Ich habe ein Geräusch gehört. Wir nehmen uns das Zimmer zuerst vor.« Der zweite Mann hatte nichts dagegen. Er blieb an der Seite seines Kumpans, ließ diesem aber kurz vor dem Ziel den Vortritt. Ich entspannte mich wieder. Jetzt schaute ich auf die Rücken der Männer und brauchte mich nicht mehr so hart gegen die Wand zu pressen. Finger, die in einem Handschuh steckten, legten sich auf die Klinke. Es vergingen kaum zwei Sekunden, da hatte er sie nach unten gedrückt. Ein kurzes Nicken zu seinem Helfer, dann stieß der Mann die Tür auf, und beide Männer glitten in den Raum. Genau da löste auch ich mich von meinem Platz...
*** Die Tür war offen, die Killer betraten den Raum, und Suko hoffte, dass sich die Monkfords ruhig verhielten und kein Geräusch verursachten. Das trat auch ein, und Suko entspannte sich sogar ein wenig. Er rührte sich noch nicht, aber er hatte seine Haltung verändert und eine Hand in die Jacke geschoben, wo in seiner Innentasche der Stab steckte, dessen Kraft vieles verändern konnte. Die beiden dunkel gekleideten Killer schauten in ein großes und leeres Zimmer. Jetzt hätten sie eigentlich kehrtmachen können, doch das taten sie nicht. Sie blieben stehen, und Suko erkannte von seinem Platz aus, dass sie unsicher wirkten. Sie hatten wohl etwas anderes erwartet. Sie drehten sich auch nicht um, was für Suko nicht schlecht war, denn so war er nicht zu sehen. »Hier ist nichts, Eric.« »Doch, ich habe was gehört. Ich bin doch nicht taub. Außerdem kann ich sie riechen. Ja, verdammt, ich rieche es einfach, wenn Menschen in der Nähe sind.« »Und wo sind sie?« »Da hinten stehen Sessel, die sind aufgebaut wie eine Wand. Ich hätte dort Deckung gesucht.« »Nicht schlecht gedacht.« Der mit Eric Angesprochene wollte es genau wissen. Er richtete seine Waffe auf die Sessel und musste nicht mal laut sprechen, um gehört zu werden. »Wer immer sich dahinter versteckt hält, ich würde euch raten, die Deckung zu verlassen und zu uns zu kommen. Wir finden euch doch, und dann wird es für euch grausam.« Suko betete fast darum, dass die Monkfords den Mund hielten, und sie taten ihm tatsächlich den Gefallen. Sie sagten nichts, sie bewegten sich auch nicht. Sie blieben völlig ruhig, was beiden Eindringlingen nicht gefiel. »Okay«, sagte Eric, »dann werden wir euch holen.« Er setzte sein Versprechen augenblicklich in die Tat um und ging einen langen Schritt nach vorn. In dieser Sekunde rief Suko das magische Wort. »Topar!«
*** Ab jetzt stand die Zeit für fünf Sekunden still. Keiner, der dieses magische Wort hörte, war in der Lage, sich zu bewegen. Nur der Besitzer des Stabs erlebte keine Veränderung. Und er hatte eben diese fünf Sekunden Zeit, um alles zu seinen Gunsten zu verändern. Nur töten durfte er seine Feinde in dieser Zeitspanne nicht. Suko hatte Erfahrung im Einsatz des Stabs. Er wusste, dass er sehr schnell sein musste. Die beiden Killer standen in ihrer Starre nicht weit vor ihm, und doch musste er eine gewisse
Entfernung überbrücken, um sein Ziel zu erreichen. Suko hetzte los. Er schien über den Boden zu fliegen. Er erreichte die beiden Kerle, als ungefähr die Hälfte der Zeit vorbei war. In den restlichen Sekunden musste es ihm gelingen, sie zu entwaffnen. Dem ersten Typ drehte er die Luger aus der Hand. Bei dem zweiten half ein brettharter Schlag gegen den Unterarm. Es war genau der Moment, an dem die beiden Killer aus ihrer Starre erwachten, aber sie waren noch nicht sofort wieder voll da. Sie brauchten ein wenig Zeit, um sich zurechtzufinden, und das war Sukos Glück. So konnte er die zweite Waffe wegkicken, die auf dem Boden gelandet war. Er selbst huschte zurück und bedrohte die Killer mit der Luger des einen. »Und jetzt will ich, dass ihr euch flach auf den Boden legt. Sonst sieht es übel für euch aus...«
*** Es war mal wieder die Zeit der großen Überraschungen gekommen. Besonders für die beiden Killer. Mochten sie noch so abgebrüht sein, in diesem Fall hatten sie ihre Probleme, denn dass sie plötzlich ohne Pistole dastanden, damit hatten sie nicht gerechnet. Dementsprechend ungläubig waren auch ihre Blicke, denn sie schauten sich an, als wären sie völlig von der Rolle. »Jetzt spielt hier die Musik«, sagte Suko. »Und ich will, dass ihr euch bäuchlings auf den Boden legt und die Hände hinter dem Kopf zusammenfaltet wie zum letzten Gebet.« Sie taten es wieder nicht. Der Mann, der Eric hieß, stieß die Luft scharf aus, bevor er fragte: »Wie hast du das geschafft, Mann? Wieso...« Suko unterbrach ihn. »Ich bin eben der große Zauberer. Und jetzt zu Boden mit euch.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte eine zweite Männerstimme. Durch die offene Tür betrat noch jemand den Raum...
*** Der Mann war ich. Ich hätte schon früher eingegriffen, aber da war mir Suko mit seiner Magie zuvorgekommen, denn das bestimmte Wort hatte auch mich starr werden lassen. Natürlich war ich gehört worden, und die Gesichter der beiden Killer richteten sich auf mich. Ich zielte mit der Beretta auf sie, schaute sie an und wusste, dass ich sie nicht kannte. »Es wird nichts mehr mit eurem Job. Überhaupt ist er ab jetzt beendet. Wer immer euch engagiert hat, er hat sein Ziel nicht erreicht. Er muss die Dinge so hinnehmen, wie sie sind. Hier werden keine eventuellen Zeugen mehr gekillt.« Sie hatten jedes Wort verstanden, doch sie gaben keinen Kommentar ab. Allerdings war ihnen der Frust anzusehen, denn in ihren Gesichtern arbeitete es. Und dann passierte noch etwas. Die drei Monkfords hielten es in ihrer Deckung hinter den Sesseln nicht mehr aus. Als hätten sie sich abgesprochen, so schoben sie sich hinter den dicken Rückenlehnen hervor und schauten sich das Geschehen an. Peter Monkford konnte nicht mehr an sich halten. Er musste reden und schrie seine Worte. »Warum, zum Teufel? Warum wollen Sie uns töten? Wir haben Ihnen nichts getan! Hat es nicht schon gereicht, dass meine Tochter sterben musste? Haben Sie noch immer nicht genug, verflucht noch mal?« Die Killer standen da wie Ölgötzen. Antworten gaben sie nicht. Das konnte ich sogar verstehen, denn sie waren nur zwei Vasallen, die einen Auftrag hatten und nicht mehr. Persönliche Dinge spielten dabei keine Rolle. Ich gab Peter Monkfort die Antwort. »Sie werden keine Erklärungen bekommen. Das hier sind zwei Mietkiller, die keine Fragen nach irgendwelchen Gründen stellen. Sie treten auf, sie
schießen, sie töten. So müssen Sie diese Männer einschätzen.« »Aber es bleiben doch Fragen offen!«, rief Peter Monkford. »Ich will wissen, warum das alles passiert ist!« »Das kann ich Ihnen sagen, Mister Monkford«, sagte ich. Monkford kam einen Schritt vor, nachdem er den Platz hinter dem Sessel verlassen hatte. »Woher wollen Sie das denn wissen?« Auf eine lange Diskussion wollte ich mich mit dem Mann nicht einlassen. »Gehen Sie einfach davon aus, dass ich es weiß. Wir werden später reden.« Er wollte nicht, aber Lilian zog ihn zurück. Sie übersah die Lage besser. Für uns war es wichtig, dass sich die Killer endlich zu Boden legten, denn ich sah ihren Augen an, dass sie nach einer Möglichkeit zur Flucht suchten. »Runter mit euch!« Endlich sahen sie ein, dass ihnen nichts anderes übrig blieb. Sie tauchten ab und lagen wenig später auf dem Boden. Und zwar so, wie wir es haben wollten. Die Hände hatten sie am Hinterkopf übereinander gelegt. So waren sie praktisch wehrlos. Es reichte, dass dieser Zacharias sein Leben hatte verlieren müssen. Wenn man den beiden Killern sonst nichts nachweisen konnte, bei diesem Mord war das anders. Suko legte den Kerlen Handschellen an. Ich hatte ihm auch meine Acht gegeben. Beide Killer rührten sich nicht, denn sie wussten, dass ich sie bei der Aktion mit der Waffe bedrohte. Die Monkfords hatten ihren Schock überwunden. Diesmal fasste sich Jason ein Herz, als er flüsterte: »Und was passiert jetzt mit diesen Mördern?« Die Antwort erhielt er von mir. »Das ist ganz einfach. Wir leben in einem Rechtsstaat. Sie werden vor Gericht gestellt und hinter Gittern landen. Ich denke nicht, dass sie noch weitere Morde begehen können, darauf kannst du dich verlassen.« »Ja, das ist gut. Aber wissen Sie auch, was mit meiner Schwester geschehen ist?« »Ich habe vorhin mit ihr gesprochen.« »Was?« Das eine Wort hatte Peter Monkford geschrien. Seine Frau sagte nichts. Sie schaute mich nur aus schockweiten Augen an, während Jason anfing zu lächeln. »Dann ist sie noch da?«, fragte er. »Ja.« »Und weiter? Wie geht es mit ihr weiter?« Da konnte ich ihm leider keine Auskunft geben, was auch nicht sein musste, denn es trat eine andere Person auf. Jetzt kam ihr Auftritt, wobei wir sie zunächst nicht sahen, dafür spürten. Wieder traf mich der kalte Hauch. Er glitt auf mich zu, erfasste meinen Kopf, meinen Körper, huschte weiter und näherte sich dem Jungen. Der wusste sofort Bescheid, wer sich in seiner Nähe aufhielt. »Indira«, flüsterte er, »du bist es, nicht?« »Ja, ich.« Und dann zeigte sie uns, wozu sie fähig war. Sie hatte sich selbst als einen Engel bezeichnet, womit sie leben konnte. Und jetzt bildete sich im Raum die Ektoplasma-Wolke, die nicht fest war, sondern einem Nebel glich, der sich in langen Schlieren zeigte und wenig später die Form eines Körpers annahm. Es war eine Erscheinung, die alle Anwesenden in Atem hielt. Es gab niemanden, der etwas sagte. Selbst die beiden Killer gaben keinen Kommentar ab. Sie lagen auf dem Boden, hatte die Köpfe aber leicht angehoben, um sehen zu können, was passierte. Es war recht simpel. Eine Tote kehrte zurück. Aber nicht als Menschen vernichtender Zombie, sondern als eine Gestalt, die für sich den Namen Engel in Anspruch nahm. Ich beließ es dabei. Ich wollte nicht über die verschiedenen Engel nachdenken, die ich kannte.
Sie war eben auch in diesem Reigen etwas Besonderes. Noch war ihr Körper mehr ein Gespinst. Aber er verdichtete sich, wurde kompakter, und wohl in uns allen stieg die Erinnerung an den Kreis hoch, in dem wir sie zum ersten Mal so gesehen hatten. Auch jetzt wurde das Ektoplasma wieder fest, was Jason sofort testen musste. Er fasste seine Schwester an. Dabei riss er den Mund auf und rief: »Du lebst!« Eine Antwort erhielt er auch. Sie musste ihn enttäuschen. »Nein, ich lebe nicht mehr so wie ihr. Aber ich bin aufgefangen worden. Die Engel und die reinen Geister haben mich erhört und mir die Chance für eine kurze Rückkehr gegeben.« »Was?«, rief der Junge. »Du willst nicht bleiben?« »So ist es. Ich gehöre nicht mehr hierher. Meine Welt ist jetzt woanders.« »Und wo ist sie?« »Fern von hier. Sehr weit weg, mein Lieber. Aber von dort werde ich dich immer sehen können. Ich werde dich beschützen, denn du sollst nicht so enden wie ich.« Jason nickte. Er konnte nichts mehr sagen, was auch an seinen Tränen lag, die aus den Augen rannen. Seine Schwester hatte noch etwas anderes vor, und sie ging zu den liegenden Killern hin. Niemand hielt sie auf. Auch ich sagte nichts, aber ich ahnte, dass ihr Besuch noch nicht beendet war. Indiras Stimme hallte in meinem Kopf wider, als sie sagte: »Ihr habt sie gefangen, aber das soll nicht ihr Schicksal sein.« »Was dann?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte. »Sie sollen nicht länger auf dieser Erde sein. Sie haben das verdient, was sie anderen Menschen zufügten.« »Du willst sie töten?« »So nennst du es. Ich will sie erlösen. Sie sind Geschöpfe, die in die Hölle gehören. Sie haben keine Seele mehr, und deshalb haben sie kein Recht, noch länger zu leben. So musst du das sehen, auch wenn du anders darüber denkst.« »Das stimmt. Ich will sie vor Gericht bringen.« »Werden sie dann sterben?« »Nein.« »Das ist es. Ich will, dass sie sterben. Wer immer sie auch geschickt hat, der soll erkennen, dass es für ihn und seine brutalen Helfer Grenzen gibt.« »Was willst du tun?« »Überlasse sie mir.« Ja, das hätte ich tun können. Aber wollte ich das auch? Meine Entscheidung fiel mir schwer. Ich warf einen Blick zu Suko hin, der ihm nicht auswich und ein Nicken andeutete. »Und was hast du genau mit ihnen vor?«, erkundigte ich mich. »Überlasst sie mir!« »Ich will wissen, was...« »Hat man nicht schon zwei Mörder gefunden?«, fuhr sie mich an. »Dann weißt du auch, welches Schicksal ihnen blüht. Sie werden erfrieren. Sie werden erleben, dass auch Engel richten können. Ich will, dass sie keinem Menschen mehr etwas zuleide tun.« Was sollte ich tun? Ich warf einen Blick auf die beiden Männer, die noch bewegungslos auf dem Boden lagen. Es wunderte mich, dass sie sich nicht gemeldet hatten. Sie schienen alles gelassen hinzunehmen, und selbst ihre Köpfe hatten sie nicht mehr angehoben. Suko sagte etwas, das mich elektrisierte. »Einer der beiden hat Schaum vor den Lippen. Sieh dir das mal aus der Nähe an.« Ich tat es. Nicht nur einer hatte Schaum an seinen Lippen kleben. Der zweite Killer ebenfalls. Da ich mich gleichzeitig gebückt hatte, nahm ich auch den Geruch wahr, der nach bitteren Mandeln roch. Jetzt war alles klar.
Ich richtete mich auf und sagte ein Wort so laut, dass es alle Anwesenden hörten. »Zyankali...«
*** Das Problem war damit gelöst. Weder Indira noch ich konnten uns als Sieger fühlen. Die Killer hatten keine Chance mehr gesehen und sich selbst gerichtet. Das kam nicht oft bei Menschen wie diesen vor. Hin und wieder aber schon. »Sie sind tot...« Ich erhielt keine Antwort. Auch Indira hielt sich mit einem Kommentar zurück. Dafür sprach ich sie an. »Jetzt musst du keine Angst mehr haben, dass sie vor ein menschliches Gericht gestellt werden. Sie sind jetzt woanders.« Die Gestalt nickte. Sie sagte nichts mehr zu mir, drehte sich weg und sprach in den Raum hinein. »Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich kehre zurück in die andere Welt, zu der ich gehöre.« Das wollte Jason nicht akzeptieren. Er rief: »Willst du in die Totenwelt? Ins Jenseits?« »Du kannst es so nennen, Brüderchen. Ich nenne es die Welt der Engel, und die ist wunderbar...« Es reichte ihr als Antwort, denn bereits beim letzten Wort begann sie sich zu verändern. Ihr Körper weichte auf. Das feste Ektoplasma zog sich zusammen. Es wurde fast zu einem Nebel, auch wenn es recht dick war. Aber es dünnte immer mehr aus. Wir nahmen noch die Kälte wahr, die über unsere Haut strich, dann war es vorbei. Es gab keine Indira Monkford mehr und nur noch drei Mitglieder aus ihrer Familie...
*** Natürlich gab es Fragen, denen ich mich stellte. Ich erzählte den Monkfords, dass ihre Tochter Zeugin eines besonderen Mordes gewesen war und deshalb hatte sterben müssen. Lilian Monkford presste ihre Hände gegen die Wangen. »Himmel, warum hat sie denn nichts gesagt?« Darauf konnte ihr keiner eine Antwort geben. Selbst ihr Sohn nicht, der auf einer Sessellehne saß und ins Leere schaute. Hin und wieder zog er die Nase hoch, eine Folge seines schwachen Schluchzens. Ich ging zu ihm. »Auch wenn es dir nicht gefällt, Jason, aber es ist besser so, wie es kam. Du kannst dich von nun an darauf verlassen, dass dich immer jemand im Auge behält.« »Meinen Sie?« Ich sah ihm in die Augen. »Bestimmt.« »Dann glauben Sie an Engel?« »Klar. Und manchmal sieht man sie sogar. Wie heute. Denk immer daran, dass es sie gibt und dass auch für dich ein Engel bereit steht, den du sogar gesehen hast.« »Ja, Sir, ja. Dann muss ich wohl keine Angst mehr haben?« Ich strich über sein Haar. »Nein, das musst du nicht...«
ENDE